Was sich nicht sagen lässt: Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion 9783050089553, 9783050049014

Die Welt ist alles, was wir in unseren naturwissenschaftlichen Theorien beschreiben können – so eine weit verbreitete Üb

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German Pages 820 Year 2010

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Was sich nicht sagen lässt: Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion
 9783050089553, 9783050049014

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WAS SICH NICHT SAGEN LÄSST DAS NICHT-BEGRIFFLICHE IN WISSENSCHAFT, KUNST UND RELIGION

WAS

SICH NICHT SAGEN LÄSST DAS NICHT-BEGRIFFLICHE IN WISSENSCHAFT, KUNST UND RELIGION

HERAUSGEGEBEN VON JOACHIM BROMAND UND GUIDO KREIS

Akademie Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft Abbildung auf dem Einband: Lucas Cranach der Jüngere: Lucretia (Ausschnitt), Residenzmuseum/Staatsgalerie Bamberg, © Wikimedia Commons

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-05-004901-4 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2010 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden.

Redaktion: Guido Kreis, Joachim Bromand und Jaroslaw Bledowski Lektorat: Mischka Dammaschke Satz: Joachim Bromand und Jaroslaw Bledowski, Bonn Einbandgestaltung: Petra Florath, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Für Wolfram Hogrebe

Die Zeichnungen zu Beginn der einzelnen Kapitel dieses Buches stammen von IMI KNOEBEL

Inhalt

EINLEITUNG Begriffe vom Nichtbegrifflichen: Ein Problemaufriss Joachim Bromand & Guido Kreis I. P R O P O S I T I O N A L E S W I S S E N U N D SEINE G R E N Z E N Gedanken, Sätze, Sachverhalte. Über den Zusammenhang von Denken, Sprechen und Weltbezug Oswald Schwemmer Kennen und Erkennen Gottfried Gabriel Das Nichtbegriffliche in der Logik Joachim Bromand Kritik der Urteilsform Josef Simon Die Welt als konstitutiver Entzug Markus Gabriel Nichtpropositionalität und Propositionalität: Alternative oder komplementäre Formen des diskursiven Denkens? Antonio Cota Marqal & Guilherme F. R. Kisteumacher Eine philosophische Collage nichtdiskursiver Erkenntnis Ernest Wolf-Gazo II. N I C H T B E G R I F F L I C H E A S P E K T E IN W I S S E N S C H A F T UND P H I L O S O P H I E Wissen händeln. Bemerkungen zur Konstitution wissenschaftlichen Wissens Olaf Breidbach Verstehen als Grenzphänomen der Propositionalität. Eine Überlegung im Anschluss an die Erklären-Verstehen-Kontroverse Andrzej Przyl§bski

8 Zwischen Anschauung und Denken. Zur epistemologischen Bedeutung des Graphismus Sybille Krämer

INHALT

173

Terminus und Kontext. Aporien der philosophischen Fachsprache Christoph Kann

193

Über die Nützlichkeit des Geisteswissenschaftlers Jürgen Mittelstraß

209

III. F O R M E N N I C H T B E G R I F F L I C H E R E R F A H R U N G Erfahrung ohne Begriffe Andreas Bartels

219

Die soziale Logik der Anschauung Pirmin Stekeler-Weithofer

235

Grenzen des propositionalen Gedächtnisses: H. Bergson und M. Halbwachs Dieter Teichert

257

Der nicht-propositionale Gehalt von Emotionen. Eine mittelalterliche Fallstudie Dominik Perler

277

Stufen des Wahns. Über Mantik und Psychopathologie Kai Vogeley

297

IV. DAS N I C H T B E G R I F F L I C H E IN P R A X I S , P O L I T I K UND R E C H T Knowing How. Eine scheinbar unergründliche Wissensform Günter Abel

319

Ahnung und Übung Peter Janich

341

Die Freisetzung einer Philosophie der Orientierung durch Friedrich Nietzsche Werner Stegmaier

355

Moralisches Handeln und ästhetische Erfahrung. Überlegungen zu Friedrich Schiller Hans-Joachim Pieper

369

Öffentlichkeit. Die nicht-begriffliche Grundlage des Politischen Jakub Kloc-Konkolowicz

391

Erkenntnis und Wahrheit in der europäischen Rechtsprechung Mathias Schmoeckel

409

INHALT

9

V. B I L D E R UND A N D E R E S Y M B O L S Y S T E M E Vierzehn Forscher Anke Doberauer

435

Die Matrix des Unbestimmten. Ein bildtheoretisches Exempel Gottfried Boehm

443

Die Erkenntniskraft der Plötzlichkeit. Hogrebes Szenenblick und die Tradition des Coup d'Oeil Horst Bredekamp

455

,ßilder sind". Zur Ontologie des Bildes im Diskurs um 1800 Birgit Sandkaulen

469

Kommunikation und Präzision. Überlegungen zum Projekt „Sprachen der Kunst" Annemarie Gethmann-Siefert

487

Ästhetische Wahrheit Guido Kreis

501

„Das sagt sich nicht". Ausgestaltungen des Unsagbaren in Wagners Musikdramen Jochen Hörisch

521

Ästhetische Thaumaturgie. Die Geburt der Literatur aus der Alltagskommunikation Gottfried Willems

533

„The green-eyed monster": Eifersucht im Drama der Shakespearezeit Uwe Baumann

555

Ernst Stadlers lyrischer Zyklus Der Aufbruch als begriffsfreies expressionistisches Programm Wolfgang Harms

581

VI. DAS U N S A G B A R E IN DER R E L I G I O N .Nicht ist irgendeine Behauptung die meine' Volker Beeh

603

Nichtwissen: Eine chinesische Perspektive Wolfgang Kubin

623

Die Sehnsucht zum Wahren im Sufismus Aliasghar Mosleh

633

10 Vernunftglaube. Das Vorrationale und Nichtpropositionale der menschlichen Vernunft TheoKobusch Religiöse Ahnungen unter Aufklärungsdruck Gereon Wolters

INHALT

647 661

VII. H I S T O R I S C H E M O D E L L E DES N I C H T B E G R I F F L I C H E N Das Andere des Apeiron. Zur Dialektik der Konstitution von Erkenntnis in Piatons Theaitetos Thomas Sören Hoffmann Plotin als Denker des Nichtpropositionalen Jens Halfwassen

673 691

Die Frage nach der inkommensurablen Einheit im Traktat De Coniecturis des Nikolaus von Kues Theodoros Penolidis

709

Zwischen Corpus Aristotelicum und Studia humaniora: Melanchthon in Tübingen (1512-1518) Sänke Lorenz

725

Vorpropositionales Wissen und Diskursverweigerung: Schellings Behauptung eines privilegierten Wahrheitszugangs Klaus-M. Kodalle

749

Schelling über die Grenzen der Subjektivität Dieter Sturma

763

Die Versuchung des Sokrates Jürgen Goldstein

775

ÜBER DIE A U T O R E N

791

NAMENREGISTER

805

Einleitung: Begriffe vom Nichtbegrifflichen. Ein Problemaufriss JOACHIM BROMAND & GUIDO KREIS

1. Vom Begrifflichen zum Nichtbegrifflichen Wer eine Erfahrung (oder einen Fall von Wissen, eine Repräsentation oder Ahnliches) nichtpropositional nennt, hebt sie auf diese Weise negativ von propositionalen Erfahrungen ab. Wer eine Erfahrung (oder einen Fall von Wissen, eine Repräsentation oder Ähnliches) propositional nennt, schreibt ihr damit in der Regel einen bestimmten Inhalt und diesem eine bestimmte Struktur, nämlich die Struktur einer Proposition, zu. Der Ausdruck Proposition wird allerdings auf verwirrend vielfache Weise verwendet. In der philosophischen Tradition meinen propositio (lat.) und proposition (engl.) in der Regel soviel wie Satz, Aussage oder Aussagesatz, in bestimmten Kontexten auch Lehrsatz. Im Kontext der modernen Analyse der Sprache erhält der Terminus Proposition dagegen häufig einen anderen Sinn. Er meint dann in der Regel den Inhalt oder die Intension bedeutungsgleicher Aussagesätze, also solcher Sätze, die dasselbe ausdrücken oder dasselbe besagen. Wer in drei verschiedenen Sprachen behauptet, dass Kant ein bedeutender Philosoph ist, äußert zwar drei unterschiedliche sprachliche Gebilde, drückt aber dennoch in allen drei Sätzen ein und dasselbe aus, nämlich dass Kant ein bedeutender Philosoph ist. Eine Proposition in diesem Sinne ist das, was Frege einen Gedanken genannt hat. Propositionen sind im Unterschied zu den Sätzen, mit denen sie ausgedrückt werden, selbst keine konkreten sprachlichen Gebilde, sondern abstrakte Bedeutungseinheiten. Wir können sie sprachlich durch Ausdrücke der Form dass ρ repräsentieren. Insbesondere können sie die Eigenschaft haben, wahr oder falsch zu sein, und manche Philosophen behaupten sogar, dass ausschließlich Propositionen diese Eigenschaft haben können. Über die Eigenschaften, die Existenzweise und die Zusammensetzung von Propositionen gibt es seit der Auseinandersetzung von Frege und Russell (vgl. Frege 1976) derart unterschiedliche Auffassungen, dass sich eine einheitliche philosophische Theorie von Propositionen kaum abzeichnen dürfte. In einem zentralen Punkt allerdings, der in unserem Zusammenhang ausschlaggebend ist, besteht weitgehend Einigkeit. In den einfachsten Fällen von Propositionen wird von einem gewissen Gegenstand eine Eigenschaft prädiziert: dass Kant ein bedeutender Philosoph ist oder dass Schnee weiß ist. Die Grandstruktur einer einfachen Proposition besteht also darin, dass ein Begriff auf ein Individuum angewandt und dieses unter jenen subsumiert wird. Dass etwas unter einen Begriff fällt, hat Frege als „die logische Grundbeziehung" bezeichnet (Frege

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1983, S. 128); der Ausdruck „a fällt unter den Begriff F" gibt „die allgemeine Form eines beurtheilbaren Inhalts" wieder (Frege 1884, S. 83). Wenn wir eine Erfahrung prepositional nennen, dann sagen wir damit, dass wir ihren Inhalt in dieser begrifflichen Struktur wiedergeben können. Das hat Konsequenzen fur ihre Zuschreibung. Derjenige, dem wir eine propositionale Erfahrung zuschreiben, muss über Begriffe verfügen und die Anwendung von Begriffen beherrschen. Propositionale Erfahrung, propositionales Wissen und propositionale Repräsentation gehören also ausnahmslos in den epistemischen Kontext wahrheitswertbezogener Begriffsverwendungen und ihrer Logik. Der sinnvolle Gebrauch der Ausdrücke nichtpropositional oder nichtbegrifflich setzt dann voraus, dass es Fälle von Wissen, Erfahrung und Repräsentation gibt, die nicht oder doch wenigstens nicht wesentlich in diesem epistemischen Kontext stehen. Dass das Nichtbegriffliche zunächst nur negativ definiert ist, hat zur Folge, dass die Phänomenbereiche des Nichtbegrifflichen ausgesprochen vielfältig und heterogen sind. Die philosophische Tradition kennt zwei prominente Standardfälle für nichtbegriffliche Erfahrung: die spezifisch sinnliche Erfahrung in Empfindung, Wahrnehmung und Anschauung einerseits und die ästhetische Erfahrung nichtbegrifflich organisierter Kunstwerke andererseits. Die moderne Diskussion über nichtbegriffliches Wissen ist durch die Unterscheidung von Wissen und Können, dem propositionalen knowing that und dem nichtpropositionalen knowing how, initiiert worden. Das Projekt einer syntaktischen und semantischen Analyse von symbolischen Repräsentationsmedien aller Art schließlich hat die Aufmerksamkeit auf genuin nichtbegriffliche, ästhetische und nichtästhetische Repräsentationen in Bildern, Literatur, Musik und so fort gelenkt.

2. Grenzen des propositionalen Wissens und nichtbegriffliche Aspekte der Wissenschaft Die Herausforderung, die das Nichtbegriffliche darstellt, legt es nahe, auch die Bedingungen, unter denen propositionales Wissen ausgedrückt werden kann, noch einmal von Grund auf zu untersuchen. Wittgenstein hatte im Tractatus behauptet, dass es etwas gibt, das sich nicht sagen lässt, wozu er auch die Semantik unserer Sprache zählt (vgl. Bromand 2000). Der Ausgangspunkt für Wittgensteins Überlegungen waren die sogenannten semantischen Paradoxien, die sich in bestimmten Fällen dann ergeben, wenn semantische Prädikate im Rahmen selbstbezüglicher oder ähnlicher Sätze angewendet werden (vgl. Brendel 1992, Bromand 2001). Damit ist die Frage nach den nicht lediglich kontingenten, sondern strukturbedingt notwendigen internen Grenzen des propositional Ausdrückbaren gestellt (vgl. Bromand 2001). Darüber hinaus enthalten alle wissenschaftlichen Theorien Elemente, die zwar notwendige Bedingungen für die begriffliche Strukturierung von Sätzen, Gesetzesaussagen und Hypothesen darstellen, die aber deshalb selbst weder begrifflich noch wahr-

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heitswertbezogen sein können. Das könnte einerseits für die Definitionen, für die eigene Adäquatheitskriterien gefunden werden müssen (vgl. Gabriel 1972; Schildknecht 2002, S. 63-81), andererseits aber auch für die kategorialen Grundunterscheidungen gelten, die nur mit Hilfe von Erläuterungen aufgezeigt, nicht aber prepositional behauptet und begründet werden können (vgl. Klein 2000). Schließlich lassen sich auch andere nichtbegriffliche Aspekte der Wissenschaft thematisieren: Wissenschaftliche Theorien stehen in pragmatisch orientierten Handlungskontexten (vgl. Janich 1992, 2005), und sie verwenden nichtpropositionale Repräsentationsformen, etwa Graphen und Diagramme, computergenerierte Visualisierungen und bildgebende Verfahren (vgl. Breidbach 2005; Krämer 2008; Krämer & Bredekamp (Hrsg.) 2003).

3. Formen nichtbegrifflicher Erfahrung Die Formen der sinnlichen Erfahrung scheinen auf den ersten Blick paradigmatische Fälle von Erfahrung mit nichtbegrifflichem Inhalt zu sein. Dahinter steht die Intuition, dass unser begriffliches Wissen eines nichtbegrifflichen „Inputs" bedarf. Die empiristische Tradition hat dem mit der Annahme entsprochen, dass die Basis unseres empirischen Wissens von elementaren sinnlichen Daten oder Informationen gebildet wird, die uns durch den kausalen Kontakt mit unserer Umwelt gegeben werden. Sie sind ihrer Natur nach nichtbegrifflich und gehen erst durch Anwendung begrifflicher Leistungen in propositionale Gehalte ein. Außerdem schreiben wir auch Kleinkindern oder Tieren, die offensichtlich nicht über Begriffe verfügen, Wahrnehmungen zu, so dass die Beherrschung begrifflicher Leistungen keine Voraussetzung dafür zu sein scheint, Wahrnehmungen zu haben. Auf den zweiten Blick fällt die Antwort auf die Frage nach dem Gehalt unserer Wahrnehmungen aber keineswegs eindeutig aus. Konstruktionen der Form ich sehe, dass ρ legen die Vermutung nahe, dass zumindest die Gehalte einiger unserer Wahrnehmungen prepositional sind (vgl. Künne 1995). An einer prominenten Stelle hat Kant behauptet: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind" (.Kritik der reinen Vernunft, A 51/B 75). Seit John McDowell in einer Variation dieser kantischen These behauptet hat, dass unsere sinnlichen Erfahrungen grundsätzlich einen begrifflichen Inhalt haben (McDowell 1994, Vorl. III), hat sich eine lebhafte und insgesamt offene Debatte über den Gehalt der Wahrnehmung entwickelt (vgl. zum neueren Stand Gunther (Hrsg.) 2003; Schildknecht 2003; Gendler & Hawthorne (Hrsg.) 2006; Bartels 2007; Bermüdez 2007). Versteht man sinnliche Erfahrung im weiteren Sinne, dann lässt sich der Bereich des Nicht- oder Noch-nicht-Begrifflichen vielfaltig ausdifferenzieren. Heidegger hat existenzielle Stimmungen wie Langeweile oder Furcht als zentrale Bereiche der „vorprädikativen Erschlossenheit" der Welt gedeutet (Sein und Zeit, §§29f.). Die neuere Debatte über Emotionen hat sich darauf konzentriert, die Rationalität auch von Gefühlen oder Leidenschaften zu untersuchen (vgl. De Sousa 1987, Damasio 1994, Wollheim 1999;

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zum Stand Solomon (Hrsg.) 2003; Döring (Hrsg.) 2009). Weitere Kandidaten für nichtbegriffliche Erfahrung sind das phänomenale Bewusstsein davon, wie es ist oder wie es sich anfühlt, etwas zu tun oder zu erleben (vgl. Lanz 1996; Pauen & Stephan (Hrsg.) 2002), und, eng damit zusammenhängend, das Selbstbewusstsein (Schildknecht 2002), das von einigen Autoren auch als elementares Selbstgefiihl gedeutet wird (Frank 2002). In einer Reihe von Untersuchungen hat Wolfram Hogrebe eine differenzierte Topographie vorprädikativer und „subsemantischer" Phänomene entworfen, in denen Ahnungen, Resonanzen und Intuitionen und, damit verbunden, mantische und hermeneutische Deutungsweisen des Menschen im Mittelpunkt stehen (Hogrebe 1992, 1996, 2006). Der Bereich, in dem diese Phänomene wirksam sind, wird von Hogrebe als Inbegriff des Szenischen verstanden (Hogrebe 2009).

4. Das Nichtbegriffliche im Handeln Der klassische Fall von nichtpropositionalem Wissen ist das praktische Können, das Gilbert Ryle als knowing how von dem propositionalen knowing that abgegrenzt hat (Ryle 1949, Kap. II; Ryle 1971). Im Gegensatz zum propositionalen Wissen ist das knowing how nichts, was man erfolgreich als Antwort auf eine Frage angeben könnte. Es zeigt sich stattdessen in der erfolgreichen Beherrschung einer Praxis. Tätigkeiten wie Skifahren und Klavierspielen können nach Ryle als Ganze und in allen ihren Momenten nie als Befolgen einer Handlungsanweisung, die durch bewusste rationale Subsumption unter begriffliche Prinzipien zustande kommt, beschrieben werden. Zwar sind Skifahren oder Klavierspielen regelgeleitet, aber die Regeln werden in der jeweiligen Praxis selbstverständlich, intuitiv und implizit beherrscht; es ist nicht erforderlich, dass sie explizit formuliert werden können. Daher kann man die betreffenden Aktivitäten nur lernen, indem man sie einübt und ausführt, nicht aber durch die Vergegenwärtigung von begrifflichem Wissen über diese Tätigkeiten allein. Weil die rationale Überlegung im Kontext des propositionalen Wissens selbst eine Tätigkeit ist, die praktisches Können und Urteilskraft verlangt, das praktische Können aber umgekehrt nicht auf propositionales Wissen zurückgeführt werden kann, ist das knowing how für Ryle das basalere Wissen (Ryle 1949, S. 30fF.). Ryles Theorie des praktischen Könnens ist in einer Reihe von Untersuchungen aufgenommen und fortgeführt worden (vgl. Wieland 1982; Lewis 1990; Abel: im Erscheinen); sie ist allerdings nicht unwidersprochen geblieben. Jason Stanley und Timothy Williamson haben gegen Ryles ursprüngliche Intention das knowing how als Spezialfall von knowing that behandelt (Stanley & Williamson 2001); an diesen Versuch der Reintellektualisierung hat sich eine kritische Diskussion angeschlossen (vgl. Rumfitt 2002; Schiffer 2002; Koethe 2002; Snowdon 2003; Noe 2005; Rosefeldt 2004; Bengson & Moffett 2007; Sgaravatti & Zardini 2008; Bengson, Moffett & Wright 2009; Stanley: im Erscheinen; Devitt: im Erscheinen).

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5. Bilder und andere Symbolsysteme Viele Repräsentationen, die wir in alltäglichen und wissenschaftlichen Kontexten kompetent und erfolgreich verwenden, sind ihrer Natur nach nichtbegrifflich. In den Untersuchungen von Nelson Goodman sind diese Arten der Repräsentation erstmals zum Gegenstand einer philosophisch-semantischen Analyse geworden. Goodmans Gedanke besteht darin, die Semantik der natürlichen und formalen Sprachen auf eine Semantik der Symbolsysteme jeglicher Art auszudehnen und damit die sogenannten Sprachen der Kunst (und der nichtästhetischen nichtbegrifflichen Repräsentationen) zu erfassen. Ein Symbolsystem ist nach Goodman jedes syntaktisch geordnete Repertoire von Ausdrücken oder Zeichen, das semantisch interpretiert werden kann und das auf diese Weise eine spezifische Wirklichkeit repräsentiert. In seinen Sprachen der Kunst hat Goodman unter anderem piktorale Repräsentationen (Goodman 2 1976, Kap. II), musikalische und andere Notationen sowie Auffuhrungen (ebd., Kap. IV) untersucht; darüber hinaus behandelt er das Problem des Stils (Goodman 1978, Kap. II) oder die Sprache der Architektur (Goodman & Elgin 1988, Kap. II). Insbesondere die Untersuchungen zur piktoralen Repräsentation haben fruchtbare Ausarbeitungen erfahren (vgl. Scholz 2 2004, Wiesing 1997). In der Zusammenarbeit von Kunstgeschichte, Philosophie und anderen Disziplinen ist in den vergangenen beiden Jahrzehnten eine Wendung zum Bildlichen (in Anlehnung an die Wendung zum Sprachlichen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts) ausgerufen worden. W. J. T. Mitchell hat von einem pictorial turn gesprochen (Mitchell 1992), Gottfried Boehm von einem iconic turn (Boehm 1994, S. 11-38). Daraus sind zahlreiche Untersuchungen hervorgegangen, die die Präsenz und die Logik der Bilder in unseren verschiedenen ästhetischen, praktischen, politischen, wissenschaftlichen oder religiösen Kontexten beleuchten (vgl. Mitchell 1994, 2008; Maar & al. (Hrsg.) 2004; Boehm 2007; SachsHombach (Hrsg.) 2005, 2009; Curtis (Hrsg.) 2010); während Hans Belting die Semantik der Bilder in eine Bildanthropologie integriert hat (Belting 2001), hat Horst Bredekamp die Umrisse einer Theorie des Bildakts entworfen (Bredekamp 2004). Eine Analyse literarischer Sprachformen, die den Ansatz der Sprachen der Kunst vor allem unter Rückbezug auf die Sprachphilosophie Freges fortfuhrt, findet sich in den Arbeiten von Gottfried Gabriel (vgl. Gabriel 1975 und 1991). Seit einiger Zeit gibt es auch Versuche, den semantischen Ansatz auf die Analyse von Musikstücken und ihrer Aufführung und Interpretation fortzuführen, wobei der Topos von der Musik als einer besonderen Sprache des Menschen, die die Defizite der propositional orientierten Wortsprache zu kompensieren vermag, sich bis ins achtzehnte Jahrhundert zurückverfolgen lässt (vgl. Becker & Vogel (Hrsg.) 2007; Wellmer 2009).

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6. Zur Verhältnisbestimmung von Begrifflichem und Nichtbegrifflichem Ihrer Definition nach sind nichtbegriffliche Zustände der Erfahrung und des Wissens keine Fälle der expliziten Erfahrung und des expliziten Wissens davon, dass etwas Bestimmtes der Fall ist. Dazu müssten wir die nichtbegrifflichen Fälle von Erfahrung, Wissen und Repräsentation in begriffliche Prädikationen übersetzen. Daran schließen sich aber weitreichende Fragen an. Ist es überhaupt möglich, Nichtbegriffliches in Begriffliches zu übersetzen? Kann dies angemessen und vollständig geschehen? Oder gibt es Aspekte nichtbegrifflicher Fälle von Erfahrung und Wissen, die sich der angemessenen und vollständigen begrifflichen Übersetzung widersetzen? Werde ich jemals das delikate Gleichgewichtsgefühl, das ich beim Fahrradfahren erlebe, oder eine ästhetische Landschaftserfahrung vollständig und angemessen in Begriffen denken und in Worten ausdrücken können? Oder muss das Nichtbegriffliche, oder wenigstens ein signifikanter Teilbereich, seiner Natur nach undenkbar und unsagbar bleiben? Lassen sich Grade oder Stufen der Unausdrückbarkeit in den verschiedenen Bereichen des Nichtbegrifflichen unterscheiden? Und: Ist die begriffliche Übersetzung eine Verfälschung des Gehaltes der nichtbegrifflichen Fälle von Erfahrung und Wissen, oder trägt sie nicht umgekehrt zu seiner bewussten, expliziten und artikulierten Erschließung bei? Viele der einschlägigen Beispiele legen die Vermutung nahe, dass Nichtbegriffliches eine notwendige Voraussetzung für begriffliches Wissen ist. Wenn wir in keiner Weise unmittelbare sinnliche Erfahrungen unserer Umwelt machen könnten, dann würden wir offenbar zögern, unseren Überzeugungen den Status des empirischen Wissens zuzuschreiben. Es scheint auch so zu sein, dass wir in unserer Umwelt bereits handeln, uns bewegen und uns orientieren können müssen, bevor wir zu ihr die theoretischen Einstellungen des Glaubens, Meinens und Wissens einnehmen können. Bilden die nichtbegrifflichen Fälle von Erfahrung und Wissen also die lebensweltliche Basis des Begrifflichen? Muss von daher nicht umgekehrt der Anspruch der empirischen Wissenschaften, alle Bereiche der Welt erklären, bestimmen und vorhersagen zu können, als eine Form von überzogenem Rationalismus gewertet werden, der über sich selbst und seine eigenen Grundlagen nicht hinreichend aufgeklärt ist? Sind die elementaren nichtbegrifflichen Handlungsvollzüge und das basale nichtbegriffliche Erleben die Herausforderung des Begrifflichen? Man könnte das Problem auch in der Weise zuspitzen, dass man den Primat des Nichtbegrifflichen oder Begrifflichen gegenüber dem jeweiligen Gegenstück behauptet. Manche Philosophen deuten den basalen lebensweltlichen Charakter der sinnlichen und pragmatischen Formen des Nichtbegrifflichen als Ort einer authentischen Welterschließung, der gegenüber eine propositionale Verwissenschaftlichung notwendig sekundär bleiben muss. Andere Philosophen behaupten im Gegenteil, dass die nicht- oder vorpropositionalen Erfahrungsformen der letztlich wissenschaftlich orientierten Rationalisierung bedürfen, weil uns nur so die Welt in einer methodisch reflektierten und epistemisch gesicherten Weise zugänglich werden kann. Gegenüber diesen beiden Ex-

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trempositionen scheint es allerdings sinnvoll zu sein, eine integrative Gesamttheorie der propositionalen und der nichtpropositionalen Erfahrungsformen ins Auge zu fassen (vgl. Kreis 2010, S. 183ff.). In ihr könnte man anerkennen, dass die propositionale Erfahrung einen methodischen Vorrang hat, und dennoch die nichtpropositionalen Erfahrungsformen derart konzipieren, dass sie auf begriffliche Erfahrung irreduzibel bleiben. Man könnte dann nicht einseitig behaupten, es seien entweder die begrifflichen oder die nichtbegrifflichen Erfahrungsformen, die uns die Welt so zeigen, wie sie „in Wahrheit" oder „eigentlich" ist. In einer ausgewogenen Verhältnisbestimmung zeigt sich stattdessen, dass wir stets unerschöpflich mehr erfahren, als sich denken lässt, dass wir aber alles, was wir davon wissen, nur insofern wissen, als wir es denken und aussagen können. Die Beiträge dieses Bandes setzen die begriffliche Arbeit am Nichtbegrifflichen in exemplarischen Einzeluntersuchungen fort. Die Beiträge stammen aus der Wissenschaftstheorie, der Psychiatrie, der Rechtswissenschaft, der Kunstgeschichte, der Literaturwissenschaft und der Philosophie. Wir freuen uns besonders über die Beiträge von Anke Doberauer und Imi Knoebel, die zeigen dürfen, was die anderen nur zu sagen versuchen. Der Band ist Wolfram Hogrebe zum 65. Geburtstag gewidmet. Die Herausgeber sind ihm in herzlicher Dankbarkeit für die Gestaltung der wohl freiesten und inspirierendsten geistigen Atmosphäre verbunden, die sich denken lässt. Darüber hinaus danken die Herausgeber Jaroslaw Bledowski herzlich für die Mitarbeit an diesem Band. Literatur Abel, G: Knowing-How. Die Logik praktischer Fähigkeiten, Berlin & New York (im Ersch.). Bartels, Α.: „What is Non-Conceptual Content?", in: Müller, Th. & Newen, A. (Hrsg.): Logik, Begriffe, Prinzipien des Handelns, Paderborn 2007. Becker, A. & Vogel, M. (Hrsg.): Musikalischer Sinn, Frankfurt a. M. 2007. Belting, Η.: Bild-Anthropologie,

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Ι. Propositionales Wissen und seine Grenzen

Gedanken, Sätze, Sachverhalte. Uber den Zusammenhang von Denken, Sprechen und Weltbezug OSWALD S C H W E M M E R

Das Verhältnis zwischen Sprache und Denken auf der einen und Sprache oder Denken und Wirklichkeit auf der anderen Seite benennt zwei zentrale Themen der Philosophie seit ihren Anfangen. Ist unser Denken ein stummes Reden, wie Piaton meinte und nach ihm sehr viele andere meinen zu können glaubten, oder sind Denken und Reden zwei verschiedene Bereiche und Formen unseres geistigen Lebens? Können wir unser Denken oder Reden mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung bringen, oder bleibt eine letztlich unüberbrückbare Distanz zwischen beiden Bereichen bestehen? Oder, beide Fragen in eine zusammengeschlossen: Wie verhalten sich Gedanken, Sätze und Sachverhalte zueinander?

1. Was sind Sätze? 1.1 Sprachliche Struktur und dialogische Funktion Der Versuch einer unmittelbaren Antwort muss scheitern. Denn vorher müssen andere Fragen gestellt und beantwortet werden: Was sind überhaupt Gedanken, Sätze und Sachverhalte? Am einfachsten scheint die Frage nach den Sätzen. Wo wir überhaupt eine grammatisch geordnete - und d. h. im allgemeinen: über eine Schrift fixierte Sprache haben, wissen wir, was Sätze sind: sprachliche Wortverbindungen, die eine Antwort ermöglichen und in diesem Sinne vollständig, nämlich hinreichend für das Geben einer solchen Antwort und für die Anerkennung der gegebenen Antwort als einer Antwort auf die sprachliche Wendung sind. Letztlich ist damit nicht eine interne sprachliche Struktur, sondern die dialogische Funktion das Definiens für einen Satz. Dies ermöglicht es, auch grammatisch unvollständige Wendungen noch als Sätze anzuerkennen. Dass nicht die Struktur, sondern diese Funktion das ist, was Sätze charakterisiert, gründet in einem allgemeinen Sprachverständnis, das Sprache primär als ein Kommunikationsmedium sieht und nicht als ein System - möglichst streng und eindeutig - geregelter Zeichenkonfigurationen. Für dieses Verständnis kann sogar der Fall auftreten, dass die korrekte Regelanwendung die Kommunikation erschwert oder sogar verhindert. Wenn nämlich eine Sprache erst einmal durch eine Terminologie streng geregelt ist - grammatische Regelungen scheinen hier eher randständig wirksam zu sein dann kann sie für „Laien", die diese Terminologie nicht beherrschen, völlig unverständlich

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werden und für die Fachleute eine Sicht auf das mit ihr Formulierte befestigen, die das Gesagte nur noch aufruft, ohne weitere Verstehensbemühungen einzufordern. Die fertige Terminologie verführt dadurch oft zum innersystemischen Umgang mit vorgefertigten Fragen und Antworten: einem Umgang, der zumindest einem kreativen Fortschritt nicht sehr forderlich erscheint. 1.2 Sprachentwicklung im Umgang miteinander Schon diese knappe Überlegung zeigt, dass selbst bei dem für uns Selbstverständlichen bei näherem Hinsehen Fragen auftauchen, die unter dem als selbstverständlich Unterstellten verdeckt blieben. Gehen wir aber noch einen Schritt weiter: Wie kommt es überhaupt dazu, dass sich Sätze ausbilden, dass sich eine ganze Sprache entwickelt, denen diese Sätze zugeordnet werden können? Dabei scheint eines sicher: Die Sprache muss schon einen langen Weg hinter sich haben, bevor es zu Sätzen kommt. Bevor die Einheit eines Satzes sich ausbilden kann, muss schon gesprochen, muss miteinander geredet worden sein. Und wenn miteinander geredet wird, muss dieses Reden mit anderen Gemeinsamkeiten verbunden, in diese eingebunden sein. Denn woher sonst sollten die Wörter oder Wendungen, sollte das sprachliche Handeln insgesamt seine Verständlichkeit, seinen Sinn im Austausch und Miteinander der Redenden gewinnen? Mit Maurice Merleau-Ponty gesagt: „Das erste Wort fand seinen Sinn im Kontext von Verhaltensweisen, die bereits gemeinsam waren." 1 Diese Gemeinsamkeit ist nicht mit Gleichheit zu verwechseln. Sie schließt vielmehr das wechselseitige aufeinander Bezugnehmen ein, das sich aufeinander Abstimmen oder auch sich miteinander Auseinandersetzen, das aufeinander Zugehen oder auch voneinander Abwenden. Entscheidend ist dabei immer, dass überhaupt Beziehungen zueinander, von welcher Art auch immer, aufgebaut werden, selbst wenn aufgebaute Beziehungen - in deren Aufkündigung - wieder abgebaut werden. Außerhalb eines solchen Feldes vielfältiger Bezüge wäre Reden unverständlich. Damit Sprache ihren Sinn gewinnen und damit allererst Sprache werden kann, muss sie in die vielfaltigen Verschränkungen des Umgangs der Sprechenden miteinander eingebunden sein. So kann sie am Anfang ihres Weges nicht schon ein eigenes, sich selbständig entwickelndes und ordnendes System sein, sondern muss sie sich immer wieder und an vielen Orten als besonderer, nämlich lautlicher, Ausdrucksakzent an das Tun und Leiden der miteinander umgehenden Sprecher heften. Sie entwickelt sich als eine Vielfalt lautlicher Ausdrucksakzente in Verbindung mit anderen Ausdrucksformen und -akzenten und erhält damit ihren Sinn immer wieder von neuen aus der Verknüpfung von und mit dem Ganzen dieses anderen Ausdrucks- und Austauschgeschehens. In einem Bild gesprochen: Sprache in ihrem Entstehungsprozess lässt sich darstellen als eine Ansammlung leuchtender Orientierungspunkte, die sich in wechselnden Konfi-

1

Merleau-Ponty (1984), S. 64.

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gurationen und ständig wachsender Ausdehnung auf der Oberfläche des gesamten anderen - ebenfalls sich ständig erweiternden und dichter verschränkenden - Ausdrucks· und Handlungsgeschehens bewegen. Obwohl diese Ansammlung schon Formen und Formationen erkennen lässt, schließt sie sich noch nicht zum Ganzen eines in sich geordneten Feldes zusammen, sondern bleibt ein Oberflächengeschehen, das sich sozusagen von Fall zu Fall sortiert und konfiguriert. 1.3 Schematisierungen In solchen Anfangsphasen bilden sich, wie die Geschichte uns lehrt, Schematisierungen heraus, die sich sowohl auf die sprachlichen Äußerungen als auch auf die Verhaltensweisen beziehen und dadurch auch zu einer Schematisierung unserer Wahrnehmungen und selbst unserer Gefühle fuhren. Man wird hier wohl keine festen Abhängigkeitsverhältnisse postulieren können. Es reicht die Feststellung, dass sich überhaupt Schematisierungen im Weltverhältnis der miteinander umgehenden Akteure herausbilden, die sich durch die Verknüpfung der schematisierten Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen mit den anderen Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen auch auf deren Schematisierung auswirken. In Bezug auf die Herausbildung von Mythen und Riten haben die Ethnologen immer wieder auf diese Schematisierungen und deren Verknüpfung miteinander hingewiesen. Klassisch sind hier Ernst Cassirers Darstellungen des mythischen Denkens ζ. B. in seiner Philosophie der symbolischen Formen,2 dem Essay on Man und seinem letzten Buch über den Myth of the State4 1.3.1 Zwischenbemerkung: mythische Schematisierungen (Ernst Cassirer). Eine Zwischenbemerkung mag Cassirers Darstellung der charakteristischen Wirkweise mythischer Schematisierungen vor Augen fuhren: Cassirer geht bei dieser Darstellung von dem Ort aus, der fur uns die Zone des intensivsten Ausdruckserlebens ist: vom menschlichen Gesicht. Kein Ausdruck berührt uns tiefer als die Miene eines Menschen. So ist es verständlich, dass Cassirer mit anderen Autoren für den Anfang der menschlichen Bewusstseinsgeschichte - nämlich im Zeitalter der Mythos - diese Ausdruckstiefe überall gegenwärtig sieht. Für diese Zeit des Mythos hat alles ein Gesicht. Die Welt zeigt eine vielgesichtige Präsenz, einen allgegenwärtigen Ausdruck „des Lockenden oder Drohenden, des Vertrauten oder Unheimlichen, des Besänftigenden oder Furchterregenden".5 Diese physiognomische Weltwahrnehmung dramatisiert das Weltgeschehen und führt zu einer dramatischen Weltgliederung. In ihr erfasst der mythische Mensch das Weltgeschehen als ein Insgesamt von Ausdrucksmomenten, die ihn zutiefst berühren und ihn 2

3 4 5

Zweiter Teil: Das mythische Denken, in: ECWBand 12; Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, in: ECW Band. 13. In: ECW Band 23. In: ECW Band 25. ECWBand 13, S. 74.

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in ein Drama hineinstellen, in dem ihm Rollen zugewiesen sind und von ihm übernommen oder abgelegt werden: Die Welt wird ihm „zur Gesamtheit möglicher Ausdruckserlebnisse und gleichsam zu ihrer Bühne und ihrem Schauplatz".6 In diesem Drama ereignet sich immer wieder das überwältigende Ergriffenwerden von dem, was als Ungewöhnliches, aus der Beherrschung des alltäglichen Lebens Hinausfallendes, erfasst wird. Cassirer sieht es als „die Vorbedingung für alles mythische Denken und alles mythische Gestalten" an, dass solches Ergriffenwerden von einem übermächtig Erscheinenden in einem Augenblick sich - immer wieder - ereignet.7 In einer tieferen Schicht des mythischen Bewusstseins hat diese Bedingung ihren Grund in dem Charakterzug des mythischen Denkens, den Cassirer die mythische Metamorphose nennt. Die „Ausdruckswerte und Ausdrucksmomente" der mythischen Erfahrung - also „die Züge des Düsteren oder Heiteren, des Erregenden oder Sänftiο

genden, des Beruhigenden oder Furchteinflößenden" - besitzen, wie Cassirer betont, noch keine Stabilität. Vielmehr herrscht hier die ständige Möglichkeit der „Metamorphose", „als ob das,Gesicht' der Welt noch in einem rastlosen Wechsel begriffen sei".9 Es ist diese ständige Möglichkeit des jähen und unvermittelten Umschlags, der den Menschen das plötzliche Erscheinen des Ungewöhnlichen als ein schreckliches und faszinierendes Ereignis zur ständigen, wenn auch verdeckten Gegenwart ihres Lebens macht. Die mythische Metamorphose definiert die Situation des mythischen Bewusstseins, die conditio humana am Anfang der Kulturentwicklung. Diese immanente Gliederung führt dann zu bestimmten äußeren Gliederungen der Welt wie der in Orte des Heiligen und Profanen, in Ursprungs- und Abstammungsgeschichten, in die Verschmelzung von Selbstgefühl und Gemeinschaftsgefühl. Und schließlich lässt sich für Cassirer auch noch eine Identitätsgrammatik ausmachen, nach der es verschiedene Formen der Identität gibt: Da ist zum eine die Identität von Symbol und Symbolisierten: „Wo wir ein Verhältnis der bloßen ,Repräsentation' sehen, da besteht für den Mythos [...] ein Verhältnis realer Identität. Das ,Bild' stellt die ,Sache' nicht dar - es ist die Sache; es vertritt sie nicht nur, sondern es wirkt gleich ihr, so daß es sie in ihrer unmittelbaren Gegenwart ersetzt".10 Kurz: ,,[D]er Tänzer ist der Gott, wird zum Gott."11 Mit dieser Identität von „Bild" und „Sache" ist ein weiterer Aspekt des Identitätsdenkens verknüpft, die Identität von Grund und Begründetem, nämlich in der ,,bloße[n] Hingabe an den Eindruck selbst und seine jeweilige Präsenz'."12 In dieser Präsenz 6

8 9 10 11 12

ECW Band 13, S. 95. Ernst Cassirer: Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen, in ders.: Aufsätze und kleine Schriften 1922-1926, in: ECW Band 16, S. 257. ECW Band 13, S. 81. ECW Band 13, S. 119. ECW Band 12, S. 47. ECW Band 12, S. 48. ECW Band 12, S. 43.

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fehlt die Tiefendimension, die durch die Scheidung des ,Grundes' vom ,Begründeten' eröffnet wird. Und schließlich gehört zu diesem Identitätsdenken das ineinander" der Dinge: Das Ganze und seine Teile sind ineinander verwoben, sind gleichsam schicksalsmäßig miteinander verknüpft - und sie bleiben es, auch wenn sie sich rein tatsächlich von einander gelöst haben. [...] Die gesamte Phänomenologie der Magie' geht [...] auf diese eine Grundvoraussetzung zurück.13

Fasst man diese Darstellung unter dem Aspekt der Schematisierung zusammen, dann zeigt sich letztlich die besondere Emotionalisierung aller Weltverhältnisse als die Quelle der mythischen Schematisierungen: Die Ereignisse und Dinge der Welt wie das Tun und Leiden der Menschen werden in einer Art mythischer Prägnanz erfasst: Durch die emotionale Steigerung der Weltwahrnehmung über die physiognomischen Ausdrucksmomente und die Erfassung des Weltgeschehens in dramatischen Szenen, der menschlichen Situation in der Welt gegenüber einer ständig möglichen Metamorphose, der Gegenwartsgewissheit des Heiligen und Göttlichen und des Bewusstseins in ein umfassendes Welt-Ganzes jederzeit und unausweichlich eingeschlossen zu sein - durch all dies werden auch alltägliche Sachverhalte über ihre dramatischen Elemente identifiziert. Diese bilden „hervorstehende Merkmale", die alles übrige verblassen lassen und so eine Prägnanz erzeugen, in der - wie die Gestaltpsychologie sagt - sozusagen „Figur und Hintergrund" sich voneinander abheben und nur noch die Figur, wie Henri Bergson sagt, „mit einem verworrenen Gefühl der hervorstechenden Eigenschaft"14 die Wahrnehmung erfüllt. In dieser Prägnanzerzeugung bilden sich dann die Schematisierungen aus, die etwas als dieses oder jenes von seinen wechselnden konkreten Erscheinungen in der Welt heraus lösen und es als dieses oder jenes immer wieder erfassen lassen. 1.4 Der „anonyme Geist" und die Universalisierung der Sprache (M. Merleau-Ponty) Die Prozesse solcher Schematisierungen in allen Feldern unseres Wahrnehmens, Darstellens und Handelns fuhren, was die Sprache angeht, zu einer immer stärkeren Herauslösung des Redens aus dessen Einbindung in konkrete Situationen und damit in die

13

14

ECWBand 12, S. 64. Bergson (1991), S. 154: „Es scheint also demnach, daß wir weder mit der Wahrnehmung des Individuums noch mit dem begrifflichen Erfassen der Art anfangen, sondern mit einer dazwischen liegenden Erkenntnis, mit einem verworrenen Gefühl der hervorstechenden Eigenschaft oder der Ähnlichkeit: dieses Gefühl, gleichweit entfernt von der völlig begriffenen Allgemeinheit wie von der deutlich wahrgenommenen Individualität, erzeugt sie beide durch eine Dissoziation. Die gedankliche Analyse läutert es zum Allgemeinbegriff; das unterscheidende Gedächtnis verdichtet es zur Wahrnehmung des Individuellen." Im französischen Original ist das verworrene Gefühl der „hervorstechenden Eigenschaft" „un sentiment confus de qualite marquante". (Hervorhebung von Bergson)

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konkret erfassten und im Umgang zu bewältigenden Weltverhältnisse. Das „Ich" des Sprechers trägt in sich selbst den „Keim der Entpersönlichung" der Sprache.15 Die Sprache verselbständigt sich dann mehr und mehr zu einem in sich gegliederten Artikulationsfeld, in dem wir uns sprechend bewegen. Sie wird, wie Merleau-Ponty es sagt, zur „universellen Sprache", inmitten der ihr „anonymer Geist" „eine neue Ausdrucksweise erfindet". 16 Diese Verselbständigung zu einem in sich geordneten und in gewisser Weise sich selbst ordnenden Artikulationsfeld bedeutet nicht, dass sich die Sprache zu einem eigenständigen System entwickelt. Denn natürlich muss die Sprache - sei es sprechend, sei es schreibend - benutzt werden. Jede sprachliche Äußerung ist ein eigenes Geschehen, das sich zwar in dem vorgegebenen sprachlichen Feld ausbildet und damit einer bestimmten allgemeinen Sprache zugehört, gleichwohl aber immer auch ein individuelles Artikulationsprodukt ist. Als solches kann es eine neue oder mehr oder weniger unerwartete Äußerung sein oder aber auch die Wiederholung einer üblichen Wendung. In jedem Falle aber existiert eine Sprache nur in ihrem Gebrauch, in dem ständig an ihren verschiedenen phonetischen, orthographischen, semantischen und syntaktischen Strukturen gearbeitet wird. Es ist daher ein Irrtum, wenn man die Sprache als ein festes Beziehungsgefüge darstellt, dessen Regeln in seinem - mündlichen oder schriftlichen - Gebrauch lediglich instanziiert bzw. verwirklicht werden. Die Gebrauchswörterbücher und -grammatiken wie für das Deutsche der Duden zeigen eindrucksvoll die Wandlungen der Sprache und dies für jede ihrer Dimensionen: von der phonetischen bis hin zur syntaktischen Dimension. Die schlichte Tatsache, dass die Duden-Grammatik immerhin in der 8. Auflage (2009), der Duden für die Rechtschreibung aber bereits in der 25. Auflage (2009) vorliegt, zeigt bereits in aller Deutlichkeit, dass die Sprachwissenschaftler der Entwicklung der Sprache in ihrem Gebrauch hinterher laufen.

2. Was ist Denken? 2.1 Die Verschränkung von Denken und Reden Wie können wir mit einem solchen Sprachverständnis den Bezug zwischen Denken und Sprechen, zwischen Gedanken und Sätzen verstehen? Zunächst dies: Wenn wir auch unsere Gedanken gewöhnlich in Sätzen artikulieren, so gehören Gedanken und Sätze doch verschiedenen Dimensionen unseres geistigen Lebens an. Während wir es bei den Sätzen mit einigermaßen klar identifizierbaren Gegenständen zu tun haben wenn auch die Sprache insgesamt, wie wir gesehen haben, nicht in dieser einfachen

15 16

Merleau-Ponty (1984), S. 42. Ebd., S. 58.

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Weise auf Sätze reduzierbar ist ist dies bei den Gedanken nicht der Fall. Versuchen wir gleichwohl eine Charakterisierung des Denkens. Nehmen wir ein literarisches Beispiel. Wir hören jemandem zu - es handelt sich wieder um Maurice Merleau-Ponty der uns erklärt: „wenn etwas gesagt werden soll, 17

so darf es nie ganz gesagt sein." Das widerspricht nicht nur unserem alltäglichen Verständnis vom üblichen Sinn und Zweck des Redens, sondern auch der üblichen und von der Philosophie immer wieder geforderten Klarheit und Verständlichkeit, um die wir uns bei unserem Reden bemühen sollten. Tatsächlich haben wir aber zu bedenken, dass unser Reden - wie auch unser Schreiben - das Ergebnis eines Artikulationsprozesses ist, der nicht als bloße Wiedergabe eines Wahrnehmungs- oder Denkvorgangs verstanden werden kann. In ihm verschränken sich vielmehr verschiedene und verschiedenartige Dynamiken, die nur in dieser ihrer Verschränkung unser Denken und Reden sich entwickeln lassen. 2.2 Die immanente Idiomatik der Sprache Da ist zunächst die Eigendynamik der Sprache, in der wir reden. Wir müssen im allgemeinen nicht nach jedem Wort - und das auch noch in seiner grammatisch korrekten Form - suchen, wenn wir reden. Selbst im stockenden und immer wieder nach dem passenden Ausdruck suchenden Reden „fließt" unsere Rede - wenn auch nicht gleichmäßig und ungehindert. Wir folgen in unserem Reden einer immanenten Idiomatik der Sprache, in der sich Wortfügungen gleichsam „abrufen" lassen und unser Reden als eine Verkettung dieser Wortfügungen sich voranbewegen lassen. An den Grenzen dieser Wortfügungen müssen eigene Impulse diese Bewegung ausrichten: ihr eine neue Wendung geben oder sie noch einmal in ihrer Richtung, wenn vielleicht auch mit anderen Wortfügungen, wiederholen, sie an bereits Gesagtes anschließen oder mit überhaupt noch nicht Gesagtem in ein anderes idiomatisches Feld verlagern.18 2.3 Die idiomatische Entwicklungsdynamik des Sprechens und die Interventionen des Denkens Damit ist nicht gemeint, dass die in unserem Reden wirksam werdenden Wortfügungen wie Fertigteile eines Baukastens benutzt und miteinander kombiniert werden. Vielmehr ist zu sehen, dass oft nur ein bestimmter Aspekt einer Wortfügung das voranbewegende Element in einer Rede ausmacht. So kann etwa die Rhythmik einer Wortfügung oder ihre charakteristische Lautung unsere Rede organisieren - und dies wiederum lediglich in der Kleinteiligkeit einer Wortfügung. Entscheidend ist, dass die Idiomatik der Sprache Entwicklungsdynamiken des Sprechens bietet, die über die Einheit von Wörtern

17

18

Ebd., S. 58. Vgl. dazu ausführlicher Schwemmer (2010), Drittes Kapitel: Was ist sprachliches

Denken?

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hinausgehen und sich auch nicht in festgefugten Wendungen fixieren müssen. Es sind vielfaltige Dynamiken, die sich in der Idiomatik einer Sprache verbinden und dem Verlauf unseres Redens immer wieder Impulse geben. Das Denken zeigt sich in dieser Perspektive nicht mehr als eine sich aus sich selbst heraus gliedernde kontinuierliche Entwicklung, sondern viel eher als eine Folge von Interventionen in den idiomatisch voranbewegten Verlauf unseres Redens. Dem entspricht auch unsere Erfahrung - jedenfalls dann, wenn es um sprachliches Denken bzw. um das Verhältnis von Sprechen und Denken geht. Die Erfahrung der eigenartigen Unartikuliertheit unseres Denkens, die Denken als Prozess so schwer fassbar macht, lässt sich in dieser Perspektive besser verstehen: wenn wir etwa am Anfang oder Neuanfang eines Textes, den wir schreiben wollen, stehen und wir lediglich einem „Sinndruck", wie Arnold Gehlen im Anschluss an Julius Stenzel19 sagt, verspüren. 2.4 Die „Intention auf die Sache " (Arnold Gehlen) Ähnlich wie im Bezug auf den idiomatischen Charakter der Sprache und damit auf die Rolle der Wortfügungen schreibt Gehlen: Der Gedanke ist die im Wort verlaufende Intention auf die Sache, aber indem der Wortgedanke an der Sache Widerstand findet, fallt er auf sich selbst zurück (Reflexion) und erfaßt, daß das verklingende Wort ihn nicht ausschöpft; so schlägt er zurück, um sich in einem anderen Wort wiederzuerzeugen. Allein in der Reflexion setzt sich der Gedanke als unerschöpft vom Worte ab und ist bloßer „Sinndruck", bis er sich wieder im Worte faßt.20

Was Gehlen über die bisher versuchte Beschreibung hinzufügt, ist der Widerstand der Sache, den der „Wortgedanke" findet. Mit Blick auf Arnold Gehlens Formulierung lässt sich das Verhältnis von Gedanke und Wort bzw., prozessual ausgedrückt, von Denken und Sprechen, darstellen als Verhältnis zwischen den Richtungsimpulsen des dabei autonomen Denkens und den dynamischen Anreizen der idiomatischen Sprache. Die „Intention auf die Sache" ist dann eine Gerichtetheit des Denkens auf die „Sache", d. i. das Thema, Problem oder die Aufgabe des Denkens. Der „Widerstand", den das Denken dabei findet, ergibt sich zwangsläufig aus der strukturellen Differenz zwischen Sprache und Gedanke: Die idiomatische Organisation der Sprache ist zwar einerseits die Bedeutung dafür, dass das Denken überhaupt eine Richtung findet, erschwert dem Denken zugleich aber auch seine Eigenentwicklung. Denn Denken - auch wenn es im wörtlichen Sinne lediglich Nach-Denken ist - kann sich nur als Selbst-Denken realisieren. Eben dies heißt es ja zu denken: sich selbst mit etwas auseinandersetzen, was als geistiger Sachverhalt erfasst worden ist - sei es als Unterstelltes oder Fragwürdiges, als Gebotenes oder Behauptetes, als Angedeutetes oder Dargestelltes oder als sonst in irgendeiner Weise geistig präsent Gewordenes. Bloßes Nachreden ist ebenso wenig mit

19 20

Stenzel (1934). Gehlen (1986), S. 248.

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dem Denken verbunden wie das bloße Daherreden. Da aber dieses Selbst-Denken der Sprache bedarf, um sich überhaupt zu artikulieren, also auf ein nicht Eigenes, auf ein Anderes zurückgreifen muss - nämlich auf die Wortfügungen, die schon da sind und ihre eigene innere Gliederung besitzen kann es seine Eigenständigkeit nur bewahren oder gewinnen, wenn es sich mit der Widerständigkeit dieses Anderen auseinandersetzt: im Kampf mit den Wörtern, deren es sich nur in bleibender Differenz bedient. In diesem „Rückfall auf sich selbst", den Gehlen als „Reflexion" vorstellt, wendet sich das Denken auf seine eigene innere Intentionalität zurück und kann sich daher auch nur in einem nicht schon in Worte gefassten „Sinndruck" erfahren, der dann aber in Worten zu artikulieren ist.

3. Die Darstellung der Wirklichkeit im Denken Diese kleine Geschichte eines Gedankens oder auch nur Gedankensplitters sollte die Unterschiedlichkeit und gleichzeitige Verwobenheit des Denkens und Sprechens deutlich machen. Darüber hinaus lässt sich diese Geschichte aber auch als ein Hinweis auf strukturelle Unvollständigkeit sowohl des Denkens als auch der Sprechens lesen. Beide - Denken wie Sprechen - sind ergänzungsbedürftig, wenn sie unsere Welt- und Selbstverhältnisse erfassen sollen. Wer glaubt, etwas „ganz aussagen" zu können - und damit sind wir wieder bei Merleau-Ponty - , nimmt das zu Ergänzende für das Ganze. Das Ganze des Denkens und Sprechens ist seinerseits aber wiederum nur ein Teil unseres Welt- und Selbstverhältnisses. Es ist unsere Reaktion auf das, was auf uns einwirkt und in uns vorgeht: auf den gefühlten Zustand unserer Umgebung und unseres Körpers und auf all das, was wir fühlen, wahrnehmen, denken und zum Ausdruck bringen wollen. Wir konzentrieren uns dabei auf einen kleinen Ausschnitt all dessen, was unsere „Wirklichkeit" ausmacht, und nehmen diesen Ausschnitt als Gegenstände oder Sachverhalte oder als Gedanken, Behauptungen oder sonst einen geistigen Tatbestand wahr. Unser Welt- und Selbstverhältnis ist damit als ein durch unser Denken geformtes Verhältnis charakterisiert. Dabei ist unser Denken in einem weiten Sinne zu verstehen, in dem es unsere ganze mentale Verfassung vom Fühlen und Wahrnehmen bis zum Wollen, Erwägen und Erdulden einschließt. Unser denkender Wirklichkeitsbezug, so können wir zusammenfassen, schließt eine fokussierende Auswahl und eine denkende Selbststrukturierung ein. Die sprachliche Darstellung unserer Wirklichkeit wäre daher als Bezeichnung von Gegenständen oder Vergegenwärtigung von Sachverhalten nur unzureichend erfasst. Wenn wir sie als designative oder repräsentative Bedeutungstheorie verstehen, unterschlagen wir den Auswahl- und Strukturierungscharakter und unterstellen wir der Sprache eine sozusagen natürliche Bezeichnungs- und Vergegenwärtigungsfunktion.

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3.1 Designatives und repräsentatives versus kontingentes

Sprachverständnis

Interessant ist hier Ludwig Wittgensteins Versuch, im Tractatus eine solche Sprache zu konstruieren. Diese designativ und repräsentativ eindeutige und klare Sprache sollte unmittelbar zeigen, was sie sagt. Dies gelingt aber nicht über das Erschließen von Bedeutungen, sondern nur in einem System binärer Disjunktionen, das - gleich ob wir von wahr/falsch oder 1/0 reden - nicht mehr zu unserem Reden gehört. Im Grunde haben wir es mit einer Digitalisierung avant la lettre zu tun, die nur noch zeigt und nicht redet. Was eine solche „Sprache" zeigt, ist nicht aussprechbar. Wir können in dieser „Sprache" in der Tat nur zeigen und schweigen, weil wir in ihr nicht reden können.21 Dem designativen und repräsentativen Sprachverständnis möchte ich ein kontingentes Sprachverständnis entgegenhalten. Das Kontingente ist von seiner Wortbedeutung her zunächst einmal das, was zusammen da ist, was sich in diesem Zusammendasein berührt, aber so, wie es zusammen da ist und sich berührt, nicht zusammen da sein und sich berühren muss. Und so erfahren wir viele der sprachlichen Vorfälle. Es entsteht eine Situation und wir reagieren - in höchst unterschiedlichen Weisen - darauf. Ein solches kontingentes Sprachverständnis sieht die Sprache zunächst einmal als ein Ensemble sprachlicher Vorfälle, die sich mit anderen Vorfällen anderer Art verschränken. Ähnlich wie bei den geschilderten idiomatischen Wortwendungen und gedanklichen Interventionen finden wir uns auch hier wieder in vielfach „idiomatisierten" bzw. eingebürgerten Situationen vor, in denen wir mit unserem Reden auf diese Situationen, also auf unsere Wirklichkeit, reagieren. Da mag eine Familie zum Abendessen am Tisch sitzen. Die Kinder ereilt die allabendliche Aufforderung: „Hände auf den Tisch!" Die zögernd hervorgehobenen Hände zeigen sich wie üblich in einem höchst suboptimalen Zustand. Worauf der zweite Befehl herausgefordert und erwartet wird: „Erst Hände waschen!" Hier geht es an keiner Stelle um ein Bezeichnen. Die Eltern, die Kinder um den Tisch auf ihren Stühlen, Teller und Besteck vor sich, von den Düften des gekochten Essens in Erwartungshaltung versetzt - all dies ist zusammen da: und darunter auch die beiden Aufforderungen. Alle Elemente der Situation bilden ein in sich verständliches Ganzes und beziehen die sprachlichen Äußerungen in die Gesamtverständlichkeit ein. Sie, die sprachlichen Äußerungen, gehören - jedenfalls heute, wo die Kinder draußen spielen waren - dazu: sie gehören auf kontingente Weise dazu. Die wechselseitige kontingente Zugehörigkeit zu dieser Situation schafft die Verständlichkeit für die dazu gehörenden Teilnehmer. In den Aufforderungen werden keine Gegenstände bezeichnet, wohl aber erwähnt. Und erwähnt werden sie überhaupt, weil die Situation so ist, wie sie ist. Im Grunde könnten die Szenen in diesem Falle, wo sie sich auf bereits Vorgekommenes und Eingeübtes beziehen, auch sprachfrei ablaufen: Wieder dieser Blick, dieses Essen, die ungewasche-

Vgl. dazu Schwemmer (2010), Zweites Kapitel: Wittgensteins Traum von der Klarheit der Sprache.

GEDANKEN,SÄTZE,

33

SACHVERHALTE

nen Hände - das Zusammenkommen der situativen Gegebenheiten und der körperlichen Reaktionen alleine könnten hier einen sprachfreien Ablauf in Gang setzen, der aus der kontingenten Verschränkung aller Elemente seine Verständlichkeit gewönne. 3.2 Sprachliche

Bedeutung als koloristische

Akzentuierung

Diese vorfallsbezogene Sicht auf die Sprache und die damit verbundene Theorie einer kontingenten Bedeutung schließen das Bezeichnen und Vergegenwärtigen nicht aus. Aber im Unterschied zum designativen und repräsentativen Bedeutungsverständnis wird durch das Bezeichnen und Vergegenwärtigen in der Sicht der kontingenten Bedeutungstheorie ein Gegenstand oder ein Sachverhalt nicht identifiziert, sondern lediglich in seiner besonderen Mit-Anwesenheit oder Vergegenwärtigung akzentuiert.

Dieser

Unterschied ist entscheidend. Denn mit ihm ist in der Tat eine Umkehrung dessen verbunden, was Sprache leistet. Während sie designativ und repräsentativ konstitutiv ist für unser Weltverständnis und Gegenstandsbewusstsein, bringt sie als kontingent verstanden lediglich einige - und durchaus wechselnde - Aspekte zum Ausdruck, die unsere bereits vorhandene Welterfassung akzentuieren. Man könnte dies auch koloristisch nennen: Sie färbt uns die Welt, in der wir leben, in ihrer, also der sprachlichen, Weise, ein. 3.2.1 Zwischenbemerkung:

Das Tractatus-Bild der Sprache

(Ludwig

Wittgenstein).

Es zeigt sich, dass dieses Verhältnis zwischen Sprechen, Denken und Weltbezug nicht durch die geradlinige Zuordnung erfasst werden kann, die in Wittgensteins Tractatus vorgenommen wird. Dieses Tractatus-Bild der Sprache sei hier kurz - durch Zitate aus meinem angegebenen Buch - vorgestellt: Statt von inneren geistigen Gehalten oder Vorstellungen will Wittgenstein nur von äußeren Verhältnissen reden und eine sprachliche Darstellung dieser äußeren Verhältnisse entwerfen, die Deutungen weder benötigt noch zulässt. Um dieses Ziel zu erreichen, beschränkt sich Wittgenstein in seiner „zeigenden" Sprache zunächst auf zwei Elemente: auf Namen und Zeichenkonstellationen für Beziehungen zwischen den Namen. Die Namen beziehen sich auf Gegenstände und Zeichenkonstellationen stehen für Beziehungen zwischen diesen Gegenständen. Das besondere an dieser minimalistischen Sprachkonstruktion ist, dass die Gegenstände ohne Eigenschaften gedacht werden. Der Gegenstand ohne Eigenschaften wird lediglich als ein identifizierbares Etwas behandelt, das zu anderen Gegenständen, die in gleicher Weise unbestimmt, aber identifizierbar bleiben, in äußeren Beziehungen steht. Als Beispiel kann man sich eine solche Beziehung als eine räumliche vorstellen, als ein Nebeneinander, Hintereinander usw., das jeweils eine Lage j m Raum angibt, das aber über die Gegenstände, die zueinander diese Lagen einnehmen, keine weiteren Angaben macht. Ob es sich um Menschen, Steine, Pflanzen oder Tiere handelt: All dies bleibt unbestimmt. Statt innerer Eigenschaften werden nur äußere Beziehungen angegeben. Charakterisiert werden kann ein Gegenstand in einer solchen Sprache der äußeren Beziehungen alleine dadurch, dass man die möglichen Beziehungen angibt, in die dieser Gegenstand zu anderen Gegenständen treten kann. Er ist dann ζ. B. ein räumlicher Gegenstand, wenn er in alle möglichen räumlichen Beziehungen zu anderen Gegenständen eintreten kann. Die äuße-

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Oswald Schwemmer ren Beziehungen, in die Gegenstände zueinander treten können, nennt Wittgenstein Sachverhalte oder auch Sachlagen. „Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen (Sachen, Dingen)." (2.01). Wittgenstein kann dann auch sagen, dass die Gegenstände oder auch Dinge dadurch charakterisiert werden können, dass sie „Bestandteil eines Sachverhaltes sein können" (2.011). 22

4. Die Verschränkung von Weltbezügen und unserem Denken und Sprechen Statt einer solchen Zuordnung gilt es, die prozessualen Verschränkungen zu sehen, die zwischen unserem Denken, Reden und unseren Weltbezügen bestehen. Sieht man die Prozessualität dieser Verschränkungen, dann müssen auch die dabei sich herauskristallisierenden Bezüge zwischen Denken und Sprechen, zwischen Denken und Wirklichkeit und zwischen sprachlichen Darstellungen und Wirklichkeit als Geschehnisse betrachtet werden - so wie William James es auf den Punkt gebracht hat: This thesis is what I have to defend. The truth of an idea is not a stagnant property inherent in it. Truth happens to an idea. It becomes true, is made true by event. Its verity is in fact an event, a process: the process namely of its verifying itself, its veri-fication. Its validity is the process of valid-ationP

4.1 Wirk- und Sinnverhältnisse als Reize und reaktive Transformationen Eine solche prozesstheoretische Sicht steht vor der Frage, wie das Verhältnis zwischen Wirk- und Sinnfeldern zu begreifen ist. Inmitten der Ereignisse, die unsere Welt, zu der auch wir selbst als ein Teil gehören, ausmachen, sind wir stets dabei, uns gegenüber dieser Welt zu positionieren. Oder anders gesagt: Unser Bild von der Welt entsteht inmitten in dieser Welt. Diese Welt ist das Insgesamt aller Wirkverhältnisse, von denen wir ein Teil, in die wir eingebunden und denen wir ausgesetzt sind - und die wir uns gleichwohl als Objekt unseres Wahrnehmens und Denkens und dadurch vermittelt auch unseres Handelns gegenüberzustellen versuchen. In der philosophischen Tradition ist vornehmlich und vielfach ausschließlich dieser Objektivierungsprozess bedacht worden. Tatsächlich zerschneidet eine solche Beschränkung auf den Objektivierungsprozess den Zusammenhang, in dem überhaupt diese Objektivierung sich ereignen kann. Diese Objektivierung, belassen wir sie in ihrer Verknüpfung mit den Wirkverhältnissen der Welt, ist nicht als eine Darstellung von einer unabhängigen Warte aus zu verstehen, sondern als eine Reaktion auf diese Wirkverhältnisse und in ihnen:

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Die Passagen in Anführungszeichen sind Zitate aus dem Tractatus, dessen Nummerierung in Klammern angegeben wird. James (1978), S. 97.

GEDANKEN, SÄTZE,

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SACHVERHALTE

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auf sie, weil sie etwas Eigenes ist, eine Antwort, die sich in ihrer eigenen - ζ. B. sprachlichen - Gliederung ausformt;

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in ihnen, weil sie in ihrer Entwicklung diese Wirkverhältnisse sich gleichsam, wie Pierre Bourdieu sagen könnte, „einverleibt" und aus dieser „Einverleibung" heraus ihre eigene Gliederung gewinnt.

Man kann dies durch einen Blick auf unsere Wahrnehmungen verdeutlichen. Wenn wir etwas sehen, ist unser Blick ein Geschehen zwischen optischen Reizen und deren Formierung. Fehlen diese Reize, sehen wir nichts - wenn wir nicht gerade irgendwelchen Halluzinationen unterliegen - oder etwas anderes, das sich auf andere Reize bezieht. Denn optische Reize sind immer da, auch im Dunkel der Nacht. Ergibt sich keine Formierung des Sehens, sehen wir auch nichts und auch nichts anderes. Eine extreme Grenzsituation ergibt sich, wenn man keine Differenzierung mehr erkennen kann: in einer absolut gleichmäßigen Verteilung feinster Schneepartikel, wie sie etwa in der Antarktis auftreten kann und den Seheindruck absoluter Dunkelheit bzw. Blindheit - und nicht der Dunkelheit einer Nacht, die j a in sich differenziert bleibt - hervorrufen können. Bleiben wir bei den Normalfällen, so können wir unsere Wahrnehmungen als Transformationen der auf uns einwirkenden Reize charakterisieren, die durch eben die transformierten Reize in Gang gebracht werden, aber sie nicht darstellen oder gar abbilden. Und ein ähnliches Verhältnis können wir zwischen den Wahrnehmungen und unserem Sprechen und Denken annehmen. Auch hier wird im Sprechen und Denken nichts abgebildet oder dargestellt, sondern es wird in einer sprachlichen und gedanklichen Artikulation etwas zum Ausdruck gebracht. Wie sich dabei die idiomatische sprachliche und die intervenierende gedankliche Artikulation zueinander verhalten, ist in einigen wenigen Bemerkungen oben bereits skizziert worden. Wollen wir aber nicht nur die elementaren Anfänge dieses Verhältnisses, sondern auch dessen weitere Entwicklung, nämlich die gesellschaftliche Sedimentierung zu einer allgemeinen Kultur der gedanklichen und sprachlichen Artikulationsmuster charakterisieren, dann müssen wir die Eigenentwicklung dieser Artikulationsmuster und deren Prägung unseres Weltbezugs ins A u g e fassen.

5. Verselbständigungsformen unseres Sprechens Was dabei zu sehen ist, sind die verschiedenen Formen der Verselbständigung, die unsere Artikulationsprozesse durchlaufen können. A m deutlichsten wird dies in unserem Sprechen. Einmal in der gemeinsamen Welt des Umgangs miteinander entwickelt gewinnt unser Sprechen mehr und mehr eigendynamische Aspekte, die sich von den rhythmischen und klanglichen Elementen der Lautung bis zu den Verknüpfungsmustern einer gefügten Satzkonstruktion sozusagen von selbst ergeben. Rhythmen, Klänge

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Oswald Schwemmer

und Übergänge tragen sich in einem gewissen Sinne selbst, nämlich in dem Sinne, dass sie sich nicht einer vorausgehenden Intention verdanken, sondern im Vollzug ereignen und zu wiederholender Befestigung fuhren. Eben dies können wir als den Prozess der oben dargestellten Idiomatisierung beschreiben. Auf der anderen Seite sind unsere Reden, anders als unsere Wahrnehmungen - und anders auch als unsere Gefühle - unsere Erzeugnisse, die wir im Prinzip, wenn wir nur überhaupt wach sind, jederzeit und wo wir nur gehen und stehen, hervorbringen und im Prinzip sogar völlig willkürlich - formen und verformen können. Reden können wir - wiederum im Prinzip - immer und überall und dies auch dann, wenn wir noch etwas anderes tun, wozu wir unsere Stimme nicht benötigen. Diese leichte Verfügbarkeit und dadurch mögliche Beherrschbarkeit des Redens lädt uns, wie die Geschichte zeigt, zu den strengsten Regulierungen ebenso wie zu den abseitigsten Eigenwillligkeiten ein. Und eben diese innere Tendenz zur Vielfalt sprachlicher Wendungen scheint unser Reden von unserem Weltbezug - bis auf die äußeren Bedingungen unseres Redens überhaupt - unabhängig zu machen. Nimmt man beide Aspekte unseres Redens - seine immanente Gliederung und seine Verfügbarkeit - zusammen, so ergibt sich in der Tat eine besondere Form der Selbständigkeit, die anderen Formen der Artikulation nicht zukommt: Wir verfügen über unser Reden, indem wir uns von den Idiomatisierungen und ihren Variationen, die sich in deren Vollzug ergeben, gleichsam treiben lassen und zugleich dadurch eine Mühelosigkeit des Weiter- und manchmal auch Daherredens erreichen, die unseren Verfügungsspielraum für das Reden ausweiten. Und eben diese Mühelosigkeit und Formbarkeit unseres Redens und die Sedimentierung dieses Redens in einer gemeinsamen Sprache bieten die Gelegenheit zu allen Arten von einfallsreichen Darstellungen, neuen Perspektiven und abseitigen Verstiegenheiten. Chancen auf Gewinne und Gefahren von Verlusten liegen in nächster sprachlicher Nähe zueinander. Daher stellt sich die Frage, ob es nicht doch so etwas wie Kriterien gibt, an die zu halten es sich lohnt, wenn man denn Sinn, tragenden Sinn, in die Seinsverhältnisse bringen will.

6. Sinn und Verweisung Was aber ist Sinn, und wann ist etwas sinnvoll? Eine erste Antwort bringt Sinn- und Verweisungsverhältnisse zusammen - und dies schon in unseren Wahrnehmungen: Wir sehen eine Linie, eine steil abfallende oder aufsteigende Linie. Aber wir sehen nicht nur diese Linie. Wir sehen sie als die Kante eines Felsen, im Faltenwurf eines Kleides, im Sturzflug einer Seeschwalbe und wo überall steil Stürzendes oder Steigendes sich zeigt. Dieses „Liniensehen" schafft Verweisungen, optische Verwandtschaftsverhältnisse, die ein Wiedererkennen ermöglichen, ein Beziehen aufeinander, einen Gewinn an Vertrautheit mit der gesehenen Welt. Und dies bringt Sinn in die Welt hinein. Wir kön-

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G E D A N K E N , S Ä T Z E , SACHVERHALTE

nen uns orientieren, weil wir das, was wir sehen, auf etwas beziehen können, was wir gesehen haben. Allgemein formuliert und nicht mehr bloß auf das „Liniensehen" beschränkt können wir sagen, dass es Formverhältnisse sind, Konfigurationen, die wir wahrnehmen und die uns die Welt erkennbar und wiedererkennbar machen und die sie auf diese Weise mit Sinn erfüllen. Sinn kommt durch Form in die Welt. Aber die orientierende Vertrautheit mit der Welt, die dieser Sinn durch Formverweisung uns gewährt, gibt uns zwar Auskunft, wo wir sind, aber nicht auch darüber, wohin wir gehen und woher wir gekommen sind. Dieser Sinn ist Sinn in reiner Präsenz, Präsentationssinn, der Antwort gibt auf die Frage nach dem Was, nicht aber nach dem Warum oder Wozu. Mit diesen Fragen aber beginnt das Denken, das über die Wahrnehmung hinausgeht.

7. Denken in Wirk- und Sinnverhältnissen Denken - so können wir in der räumlichen Metaphorik sagen - will „weiterkommen". Wo die Wahrnehmung uns das Gegenwärtige - wenn auch in seinem Verlaufscharakter, seiner Verbindung mit dem unmittelbar Vergangenen und unmittelbar Erwarteten24 erschließt, will Denken über das Gegenwärtige hinaus Verbindungen und Übergänge zum Nicht-Gegenwärtigen entdecken, Verbindungen und Übergänge der unterschiedlichsten Art: zum Vergangenen und Zukünftigen, aber darüber hinaus auch überhaupt zum Anderen und sei dies auch nur ein gedachtes Anderes. 7.1 Denken als „Hinführen " (William

James)

Eine nähere Charakterisierung des so verstandenen Denkens verlangt eine normative Entscheidung. Sie gründet in der philosophischen Tradition des europäischen Denkens. Diese sieht Denken - seit und mit Piaton - als λόγον διδόναι, als Angeben des rechten Verhältnisses, in dem etwas zu etwas anderen stehen soll.25 Dieses „rechte Verhältnis" ist durchaus unterschiedlich verstanden worden. Im allgemeinen galt und gilt aber, dass mit der Angabe des rechten Verhältnisses ein gedanklicher Zusammenhang entwickelt werden soll, der einsichtig ist. Und einsichtig werden gedankliche Zusammenhänge, wenn man sie als einen gedanklichen Weg vorstellen kann: auf dem man Schritt für Schritt zum Ziel geführt wird. Als solche Wege und Schrittfolgen können Erzählungen als begriffliche Ableitungen, können bildliche Konfigurationen zum Aufbau von Ordnungen usw. genutzt werden. Entscheidend ist, dass sie alle zu etwas hinführen. William James sieht in einem solchen „Hinführen" das Wesen der Erkenntnis. So schreibt er im Zusammenhang der Frage, ob es ein Bewusstsein gibt: Es versteht sich von selbst, dass hier an Husserls Analysen des Zeitbewusstseins und dessen Gliederung in Urimpressionen, Retentionen und Protentionen erinnert werden soll. Vgl. dazu Schwemmer (2003).

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Oswald Schwemmer I could perfectly well define, without the notion of 'consciousness,' what the knowing actually and practically amounts to - leading-towards, namely, and terminating-in percepts, through a series of transitional experiences which the world supplies.26

Und in einem anderen Zusammenhang schreibt James: In such a world transitions and arrivals (or terminations) are the only events that happen, though they happen by so many sorts of path. The only experience that one experience can perform is to lead into another experience; and the only fulfilment we can speak of is the reaching of a certain experienced end?1

Ohne hier die empiristische Konzeption im Ganzen zu diskutieren, geht es mir hier um den Grundgedanken des „Hinführens" in einer „Welt der Übergänge und Ankünfte" (transitions and arrivals) und der „Übergangserfahrungen" (transitional experiences). Solche „Übergänge und Ankünfte" sind dabei die vielfach bereits verfügbaren Entwicklungsschritte, die das „Hinführen" ermöglichen. Solche Entwicklungsschritte waren bei der Darstellung des Verhältnisses von Sprechen und Denken bereits angeführt worden: nämlich die idiomatischen Wendungen, die unser Sprechen voranbringen und deren Kleinteiligkeit gleichwohl die Intervention des Denkens einfordern, um das denkende - Sprechen weiter voranzubringen. Mit William James können wir nun solche Entwicklungsschritte ausweiten und in unserem Wahrnehmen bzw. Erfahren und Handeln verorten. 7.2 Stimmigkeit: Denken in szenisch situierten Episoden 7.2.1 Situationen und Stimmigkeit (Wolfram Hogrebe). Mit Wolfram Hogrebe können wir diese Entwicklungsschritte paradigmatisch als Episoden im Szenischen verstehen.28 Mit der Ausweitung paradigmatischer Entwicklungsschritte über die sprachliche Idiomatik hinaus auch auf die szenisch geprägten Episoden in unseren Erfahrungen und Handlungen, gewinnt das Verhältnis von Sprechen, Denken und Weltbezug eine neue Dimension hinzu. Dies wirkt sich vor allem für unser Denken aus, das ja bisher noch ohne eigene Richtung und lediglich durch den „Sinndruck", den Arnold Gehlen postuliert, charakterisiert ist. Dieser Mangel erklärt sich daraus, dass das Reden sich gegenüber unseren Weltbezügen und Wirkverhältnissen aus diesen Bezügen heraus bewegen und verselbständigen kann. Es gibt sozusagen keine Kriterien, wenn man nicht über die Situierung des Redens in seine Weltbezüge diesem Reden bestimmte Auflagen des Angemessenen erteilt. Solche Auflagen treten aber in unser Sichtfeld, wenn wir uns den welteingebundenen Episoden und Szenen zuwenden. Situationen schaffen einen Rahmen des Stimmigen - des Passenden oder Angemessenen - für unser Handeln und Reden. Und selbst unsere Wahrnehmungen fügen sich

26 27 28

James (1976), S. 14. [Kursivierung von mir] Ebd., S. 32. [Kursivierung von mir] Vgl. dazu jetzt Hogrebe (2009), insb. S. 46-58, S. 70-76, S. 98-102.

G E D A N K E N , S Ä T Z E , SACHVERHALTE

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in den Situationsrahmen ein, wenn sie auch nicht in gleicher Weise wie unser Handeln und Reden durch ihn geprägt sind. In diesem Rahmen bilden sich bestimmte Formen von Episoden, Idiomen und - wie man mit Wolfram Hogrebe noch hinzufugen kann Attitüden aus. Das „rechte Verhältnis" ergibt sich - wenn auch durchaus unterschiedlich in der jeweiligen Partizipantenperspektive aus der Stimmigkeit der Elemente einer Situation, in einer Episode und Attitüde. 7.3 Stimmigkeit und Stil (Ernst Cassirer) Diese Stimmigkeit zeigt sich darin, dass etwas in eine Situation hinein oder mit etwas anderem in dieser Situation zusammen passt. Stimmigkeit in diesem Sinne ist keine inhaltliche Kategorie, sondern eine stilistische. Es geht mit ihr um die Form des Auftretens, Sprechens, sich Präsentierens, miteinander Umgehens usw. Mit Ernst Cassirer kann man kulturelle Sachverhalte überhaupt durch ihren Stil charakterisieren. So erklärt Ernst Cassirer lapidar: „Kultur- Wissenschaft ist Stil-Wissenschaft".29 Und weiter: Und die gesamte Kulturwissenschaft] besteht zuletzt in der Gewinnung solcher Stilbegriffe, durch deren fortschreitende Anwendung wir ein individuelles Gebilde bestimmen. 30

Ernst Cassirers Resümee: „Die Begriffe, die wir brauchen, sind immer Stilbegriffe",il Als Stil ist Stimmigkeit - sei es des Denkens, Sprechens oder der Situationsentwicklung - ein dynamisches Korrespondenzverhältnis der verschiedenen gedanklichen, sprachlichen und weltbezogenen Elemente, die in eine Situation eingehen. Dieses Korrespondenzverhältnis lässt sich durch Wechselverhältnisse charakterisieren, die wir in unserer Welt finden: paradigmatisch ζ. B. als Spiegelung oder Resonanz, als Variation und Rückbezug. Eine so verstandene Stimmigkeit fügt sich keinen im Voraus festgelegten Regeln sie verhält sich höchstens zu diesen. Wir verbleiben mit ihr in der Konkretion des Individuellen, des tatsächlichen Geschehens. Ein Denken, das sich auf die konkrete Tatsächlichkeit des Geschehens einlässt, ist nicht im Voraus schon als „richtig" abgesichert. In seiner „riskanten Lebensnähe" - um noch einmal Wolfram Hogrebe aufzugreifen - geschieht ihm das Geschehen, auf das es sich einlässt, ebenso wie es dieses Geschehen zu etwas „hinführen" kann. Mit der stimmigen Situationsentwicklung ergibt sich sozusagen zwischen unserem Denken, Sprechen und Welt- bzw. Situationsbezug eine Richtung. Das Denken folgt nicht mehr bloß einem unbestimmten „Sinndruck", der etwa darin bestehen könnte, überhaupt etwas zu artikulieren. Denken, das diesen Namen verdient, ist auf Stimmigkeit aus.

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ECNBand5, S. 142. Ebd., S. 168. ECN Band 3, S. 236.

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Oswald Schwemmer

Drei Anmerkungen dazu mögen hier klärend sein. Erstens: Stimmigkeit ist nicht mit einer Harmonisierung zu verwechseln. Auch Konflikte und Disharmonien können - zumindest für die Akteure - stimmig zu einer Situationsentwicklung passen. Zweitens: Stimmigkeit muss nicht umfassend sein. Stimmige Entwicklungen können partiell bleiben: auf bestimmte Gebiete des Handelns und Wissens beschränkt sein. Drittens: Stimmigkeit muss nicht endgültig sein. Als eingebettet in die Situationsentwicklung bleibt sie vorläufig. Es ist dies das Signum des Historischen, das die menschliche Existenzform durchzieht. Ernst Cassirer bemerkt denn auch: „Alle GestaltbegrifFe, Stilbegriffe 32

sind provisorisch". Gedanken, Sätze, Sachverhalte - sie sind keine klar definierten und deutlich voneinander abgegrenzten Entitäten. Sie sind Konstruktionen, um ihrer philosophischen Handhabbarkeit in die Welt gesetzt. Wir können sie kritisch reflektieren und als Darstellung unseres Denkens, Redens und Weltbezugs ablehnen. Trotzdem brauchen wir sie. Wir brauchen sie nämlich, um uns von ihnen abzusetzen und eben dadurch selbst besser zu verstehen.

Literatur Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, mit einer Einleitung von Erik Oger, übersetzt von Julius Frankenberger, Hamburg: Felix Meiner 1991. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil: Das mythische Denken, in: Ders.: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. von Birgit Recki, Hamburg: Felix Meiner Verlag (= ECW) Band 12, 2002. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, in: ECW Band 13, 2002. Cassirer, Ernst: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, in: ECW Band 23, 2006. Cassirer, Ernst: The Myth of the State, in: ECW Band 25, 2007. Cassirer, Ernst: Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen, in ders.: Aufsätze und kleine Schriften 1922-1926, in: ECW Band 16. Cassirer, Ernst: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hrsg. von Klaus Christian Köhnke, John Michael Krois und Oswald Schwemmer (= ECN), Band 3: Geschichte. Mythos, mit Beilagen: Biologie, Ethik, Form, Kategorienlehre, Kunst, Organologie. Sinn, Sprache, Zeit, hrsg. von Klaus Christian Köhnke, Herbert Kopp-Oberstebrink und Rüdiger Kramme, Hamburg: Felix Meiner 2002. Cassirer, Ernst: ECN Band 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929-1941, hrsg. von Rüdiger Kramme unter Mitarbeit von Jörg Fingerhut, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2004.

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ECN Band 5, S. 169.

GEDANKEN, SÄTZE, SACHVERHALTE

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Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden: Aula Verlag 13 1986. Hogrebe, Wolfram: Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, Berlin: Akademie Verlag 2009. James, William: Pragmatism. A New Name for Some Old Ways of Thinking, in ders.: Pragmatism and The Meaning of Truth, Cambridge (Mass.) & London: Harvard University Press 1978. James, William: Essays in Radical Empiricism, Cambridge (Mass.) & London 1976. Merleau-Ponty, Maurice: Die Prosa der Welt, München: Wilhelm Fink Verlag 1984. Schwemmer, Oswald: Europäische Rationalität und philosophisches Formdenken, in: Elm, Ralf & Takayama, Mamoru (Hrsg.): Zukünftiges Menschsein. Ethik zwischen Ost und West, Schriften des Zentrum für Europäische Integrationsforschung, hrsg. von Ludger Kühnhardt, Bd. 55, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2003, S. 37-71. Schwemmer, Oswald: Das Ereignis der Form. Zur Analyse des sprachlichen Denkens, München: Wilhelm Fink Verlag 2010. Stenzel, Julius: Philosophie der Sprache, München & Berlin: R. Oldenbourg Verlag 1934.

Kennen und Erkennen GOTTFRIED GABRIEL

Die Anerkennung nicht-propositionaler Erkenntnis ist nach wie vor umstritten. Umstritten ist allerdings weniger die Wahrheit einer Aussage als vielmehr die Angemessenheit einer Unterscheidung. Dies sollte jedoch nicht verwundern. Philosophische Wissensbildung vollzieht sich auch sonst wesentlich in Explikationen von grundlegenden, d. h. kategorialen Unterscheidungen, so dass philosophisches Wissen zu einem großen Teil geradezu in Unterscheidungswissen besteht. Was auf den ersten Blick als Begründung einer Wesens aussage daher kommt, erweist sich meistens als Begründung einer Wesens definition, und diese wiederum stellt sich dar als Begründung einer normativen Unterscheidung bzw. einer Norm, einen bestimmten Begriff (das Definiendum) im Sinne eines bestimmten Definiens zu verwenden. Reiches Material für diese Deutung liefern bereits die Platonischen Dialoge. Kurzum, die Frage, ob es nicht-propositionale Erkenntnis gibt, läuft letztlich auf die normative Frage hinaus, wie der Erkenntnisbegriff zu bestimmen ist. Von deren Antwort hängt einiges ab, insbesondere das Verständnis der Philosophie selbst. Soweit der philosophische Diskurs in der Begründung von Unterscheidungen und nicht in der Begründung von Aussagen besteht, sind dessen Ergebnisse selbst nicht-propositional. Definitionen sind lediglich grammatisch betrachtet Aussagen, aber keine Aussagen im sprechakttheoretischen Sinne, da für sie die Wahrheitsfrage entfällt. Definitionen gelten gerade unter wissenschaftstheoretischen Propositionalisten zu Recht als Gebilde, die nicht als wahr oder falsch zu beurteilen sind. Indem der Propositionalist Erkenntnis auf die Wahrheit von Aussagen reduziert, gräbt er sich daher selbst das philosophische Wasser ab: Die Bindung des Erkenntnisbegriffs an den Wahrheitsbegriff hat zur Folge, dass einem Kernbereich der Philosophie, der Explikation kategorialer Begriffe, der Erkenntniswert abgesprochen wird. Eine solche Konsequenz mag den Dekonstruktivisten erfreuen, aber wohl kaum den philosophischen Propositionalisten. Vermieden wird sie, indem der Erkenntniswert von Definitionen zur Anerkennung gebracht wird. Natürlich sind dabei nicht terminologische Festlegungen oder Abkürzungen im Blick, sondern relevante Unterscheidungen, die eine vor-propositionale Ordnung der Dinge schaffen und - sofern es sich um kategoriale Unterscheidungen handelt - die Strukturen dieser Ordnung fest- bzw. freilegen. Eine Erweiterung des Erkenntnisbegriffs durch Rechtfertigung der kategorialen Unterscheidung zwischen propositionaler und nicht-propositionaler Erkenntnis ist also von zentraler Bedeutung für die Philosophie.

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Gottfried Gabriel

Die Erweiterung des Erkenntnisbegriffs zieht eine Erweiterung des Begründungsbegriffs nach sich. Die Akzeptanz einer Unterscheidung kann nicht erzwungen, sondern nur angesonnen werden. Dementsprechend ist die Begründung ihrer Angemessenheit (Adäquatheit) nicht beweisend, sondern au/weisend. Diese Einsicht ist der erste Schritt zur Anerkennung eines Methodenpluralismus in der Philosophie, der sich in der Anerkennung unterschiedlicher Darstellungsformen niederschlägt. Dieser Pluralismus ist kein Relativismus, sondern ein Komplementarismus, der davon ausgeht, dass unterschiedliche Erkenntnisziele auch unterschiedliche Darstellungen verlangen, die also nicht miteinander im Streit liegen, sondern einander ergänzen. Die Betrachtung des Unterscheidungswissens, das sich ja gerade auf Begriffsverhältnisse erstreckt, macht im Übrigen deutlich, dass nicht-propositionale Erkenntnis nicht mit nicht-begrifflicher Erkenntnis, nämlich - gemäß üblicher Auffassung - Anschauung oder Intuition gleichzusetzen ist. Dabei ist ohnehin fraglich, ob es überhaupt begriffslose Anschauungen geben kann. Wenn etwa in der gegenwärtigen Qualia-Debatte geltend gemacht wird, dass wir Farbnuancen unterscheiden können, für die wir keine Ausdrücke zur Verfügung haben, so spricht dies zwar dafür, dass unsere Anschauung reicher als unsere Sprache ist. Daraus folgt jedoch nicht, dass wir es mit begriffsloser Anschauung zu tun haben. Die Unterscheidung von Farbnuancen verlangt, dass wir diese wiedererkennen können, und die Wiedererkennbarkeit von Objekten ist das Kriterium für den Besitz entsprechender klarer Begriffe. Es mögen uns deutliche Begriffe für die Farbnuancen fehlen, weil wir die Unterschiede in ihrem Sosein nicht auf Begriffe bringen können, es fehlen uns aber nicht Begriffe überhaupt. 1 Sprachlosigkeit impliziert nicht das Fehlen jeder Begrifflichkeit. Insofern wir im Wiedererkennen ein Identitätsurteil fällen, haben wir es auch mit propositionaler Erkenntnis zu tun; denn es ist wahr oder falsch, ob wir es mit demselben zu tun haben. Das Objekt selbst in seinem anschaulichen Sosein, ζ. B. die sinnliche Qualität einer Farbnuance, ist damit aber noch nicht auf den Begriff gebracht. Das Objekt muss begrifflich erfasst sein, um identifiziert werden zu können. Es bleibt aber ein anschaulicher Überschuss. In Abwandlung eines bekannten Satzes von Kant wird man also sagen können: Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit Begriffen anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus Begriffen. Anschauung wird nicht erst seit der Qualia-Debatte als Beleg fur eine der begrifflichen entgegen gesetzte Erkenntnisart herangezogen, wobei dann häufig außer auf die sinnliche auch auf die problematischere intellektuelle Anschauung verwiesen wird, wie etwa in Absetzung von Kant im Deutschen Idealismus. Eine Neuauflage hat diese Diskussion in der Auseinandersetzung neukantianischer Autoren mit der Lebensphilosophie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gefunden. Diese Auseinandersetzung werde

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Zur Unterscheidung z w i s c h e n klaren und deutlichen Begriffen (und Erkenntnissen) siehe Leibniz (1965), S. 422f.

KENNEN UND ERKENNEN

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ich im folgenden beleuchten, weil sie lehrreiche Anhaltspunkte für eine systematische Klärung des Begriffs der nicht-propositionalen Erkenntnis bietet. Um Propositionalisten die Anerkennung nicht-propositionaler kognitiver Leistungen näher zu bringen, habe ich wiederholt darauf hingewiesen, dass hier eine Unterscheidung zwischen Kennen und Erkennen bzw. Kenntnis und Erkenntnis hilfreich sein könnte. Ein zentrales Motiv, die Möglichkeit nicht-propositionaler Erkenntnis zu verteidigen, war und ist, den Emotivismus in der Kunst- und Literaturtheorie zu überwinden und Kunst und Literatur einen kognitiven Wert zu sichern. Um dem Verdoppelungs- oder Trivialitätseinwand zu entgehen, dem man sich aussetzt, wenn man es hier bei einem propositionalen Erkenntnisanspruch belässt, gilt es, den Begriff der nichtpropositionalen Erkenntnis stark zu machen. Die durch Kunst und Literatur erbrachte Erkenntnisleistung lässt sich genauer als Vergegenwärtigungsleistung charakterisieren. Sie besteht insbesondere darin, dass wir mit Dingen, Situationen, Lebensformen, Gefühlen und Einstellungen als Aspekten der conditio humana imaginativ bekannt gemacht werden.2 Das Kriterium für eine gelungene Vergegenwärtigung ist nicht Wahrheit, sondern abermals Adäquatheit. Es versteht sich aber, dass eine adäquate Vergegenwärtigung von Situationen etwas ganz anderes ist als eine adäquate Explikation von Begriffen. Da es letztlich darauf ankommt, die imaginative Vergegenwärtigungsleistung als kognitive Leistung anzuerkennen, ist es weniger wichtig, wie diese terminologisch gefasst wird. Offensichtlich fallt es Propositionalisten schwer, ,Kognition' wörtlich mit ,Erkenntnis' zu übersetzen. Dies möchte daran liegen, dass sie mit dem Begriff der Erkenntnis den Gedanken verbinden, dass etwas von (oder über) etwas ausgesagt wird, so dass sie Erkenntnis bereits aus begrifflichen Gründen als propositional fassen. Um diesem Unbehagen zu begegnen, bietet es sich an, die kognitive Leistung von Kunst und Literatur als Vermittlung nicht-propositionaler Kenntnis (statt Erkenntnis) zu bestimmen. B. Russells Gegenüberstellung von ,knowledge by acquaintance' und ,knowledge by description' aufgreifend, lässt sich unterscheiden zwischen der Erkenntnis von (objektbezogenen) Sachverhalten durch propositionales Beschreiben und der Kenntnis von (subjektbezogenen) Situationen durch nicht-propositionales Bekanntmachen. Dementsprechend haben wir es dann genauer zu tun mit (propositionaler) Erkenntnis, dass etwas der Fall ist, und (nicht-propositionaler) Kenntnis, wie es ist oder wäre, sich in der-und-der Situation oder Stimmung zu befinden. Nicht-propositional ist solche Kenntnis mit Blick darauf, dass es ihr nicht um die Wahrheit von Aussagen, sondern um die Angemessenheit ästhetischer Vermittlung geht. Kennen setzt Wiedererkennen voraus und damit - wie bereits hervorgehoben klare, wenn auch keine deutlichen Begriffe. Wiedererkennen ist eine auf die Feststel-

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Vergegenwärtigung lässt sich als eine Form der .Inszenierung', als ein In-Szene-Setzen der conditio humana bestimmen. Die anthropologische Bedeutung des Szenischen hat Wolfram Hogrebe (2009) herausgearbeitet.

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Gottfried Gabriel

lung von Identität eingeschränkte Art des Erkennens. Es geht darum, etwas als dasselbe zu erkennen. Was ich nicht wiedererkenne, kenne ich auch nicht. Wenn jemand auf die Frage „Kennen Sie Wolfram Hogrebe?" antworten würde „Ich kenne ihn, aber ich würde ihn nicht wiedererkennen", so würden wir dies nicht als ein wirkliches Kennen akzeptieren. (Leibniz spricht hier von dunkler Erkenntnis, also immer noch von Erkenntnis.) Jemanden mal getroffen zu haben, heißt noch nicht, ihn zu kennen. Jemanden zu kennen, indem man mit ihm bekannt ist, impliziert nicht, ihn in seinen Eigenschaften beschreiben zu können. Zwei Personen miteinander bekannt zu machen, indem man sie einander ,vorstellt', erfordert nicht eine prädikative Charakterisierung der Personen.3 Die Vermittlung von Bekanntschaft durch literarische Vergegenwärtigung ist dagegen nicht ohne prädikative Beschreibungen möglich. Hier besteht ein kategorialer Unterschied zu Vergegenwärtigungen in den darstellenden Künsten. Soweit sich literarische Vergegenwärtigungen der grammatischen Form des Aussagesatzes bedienen, ist deren Funktion aber nicht, wahre Aussagen zu machen. Der Sprachgestus ist nicht aussagend, sondern aufzeigend.4 Der Vorschlag, in der angegebenen Weise zwischen Kennen und Erkennen zu unterscheiden, versteht sich sozusagen als terminologisches Friedensangebot' an hartgesottene Propositionalisten, die gleichwohl bedenken sollten, dass es offensichtlich durchaus sprachgemäß ist, von ,knowledge by acquaintance' zu sprechen. Warum sollte man also nicht von ,Erkenntnis' sprechen dürfen, wenn sogar von , Wissen' die Rede ist? Nun werden die Begriffe ,Kenntnis', ,Kennen' und ,Bekanntschaft' in der philosophischen Tradition häufig in Verbindung gebracht mit dem Gedanken der Unmittelbarkeit. So in der bereits erwähnten Kritik der Neukantianer am Erkenntnisbegriff der Lebensphilosophie, in der es insbesondere darum geht, zwischen Kennen und Erkennen eine kategoriale Trennlinie zu ziehen. Bemerkenswert ist, dass auch B. Russell Bekanntschaft als unmittelbaren epistemischen Kontakt mit den Dingen versteht: „Ich sage, daß ich mit einem Objekt bekannt bin, wenn ich in einer unmittelbaren kognitiven Relation zu diesem Objekt stehe, d. h. wenn ich mir des Objekts unmittelbar bewußt bin."5 Als Objekte, mit denen wir in diesem Sinne bekannt sind, führt Russell außer Sinnesdaten und dem Eigenpsychischen überraschenderweise auch „viele Universalien" an.6 Russells logischem Atomismus zufolge haben wir dagegen zu materiellen Objekten und dem Fremdpsychischen nur durch Beschreibung Zugang. Es ist hier nicht der Ort, über den Begriff der Unmittelbarkeit nachzudenken, dessen Problematik in Verbindung mit dem Begriff des Gegebenen vielfach diskutiert worden 3

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In einem anderen Sinne sagt man freilich auch „Ich kenne Sie doch gar nicht" und meint damit, dass man über den anderen nichts weiß, mit ihm nicht,vertraut' ist. Hier möchte sich ein Vergleich mit G. Mischs Unterscheidung zwischen „rein diskursiver" und „evozierender" Aussage lohnen (Misch 1994, S. 524ff.). Für Misch bilden diese beiden Sprachformen „Pole" (S. 433), so dass es auch Zwischenformen gibt. Russell (1976), S. 66. Russell (1976), S. 81.

KENNEN UND ERKENNEN

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ist. Soweit Sinnesdaten als das unmittelbar Gegebene ausgegeben werden, darf man eine solche Auffassung wohl bezweifeln. Lebensweltlich sind uns eher Gegenstände im Sinne des ,naiven Realismus' gegeben, während Sinnesdaten sich dagegen als das Ergebnis einer gezielten Abstraktion ausnehmen. Von hier aus fällt auch Licht auf den Begriff der Intuition als dem Vermögen der Unmittelbarkeit. In einem bestimmten, harmlosen Sinne können wir von den meisten Erkenntnissen sagen, dass sie unmittelbar oder intuitiv gewonnen werden. So spricht sogar ein logischer Empirist wie Rudolf Carnap von einem „in der Erkenntnis vorwiegend intuitiv vollzogenen Aufbau der Wirklichkeit",7 und der Begründer des Wiener Kreises, Moritz Schlick, charakterisiert ,jene ahnende Vorwegnahme eines Erkenntnisresultates, die bei allen großen Entdeckungen der gedanklichen Ableitung vorherzugehen pflegt", als „,intuitive Erkenntnis' im empirischen Sinne".8 Diese Rede von .intuitiv' gehört in die Abteilung Heuristik der Erkenntnis. Selbst logisches Schließen vollzieht sich intuitiv, und wir erkennen auch unmittelbar oder intuitiv, ob logische Schlüsse, die selbst als Prototypen mittelbarer Erkenntnis gelten,9 korrekt sind oder nicht, selbst wenn wir dafür keine Begründung liefern können und den Nachweis der logischen Schlüssigkeit schuldig bleiben. Das Faktum solcher unmittelbarer intellektueller Einsichten wird niemand als Indiz einer höheren Erkenntnisfähigkeit, der Intuition im Sinne intellektueller Anschauung anfuhren wollen. Vielmehr wird man sagen, dass wir in unserem Schließen implizit Regeln folgen, die uns vielfach gar nicht bewusst sind, so wie wir auch grammatischen Regeln folgen, ohne diese explizit auf den Begriff gebracht zu haben. Anders gesagt: Von diesen Regeln haben wir eine klare, aber keine deutliche Erkenntnis. Unmittelbarkeit besagt hier nur, dass es sich um die Abkürzung eines komplizierten Verfahrens handelt. Der Terminus ,intuitiv' charakterisiert dabei lediglich den Weg, nicht aber die Art der Erkenntnis, die ohne weiteres als propositional einzustufen ist. Von diesem Begriff ist der emphatische Begriff der Intuition zu unterscheiden, der auf intellektuelle Anschauung, Wesensschau oder mystische Vereinigung abzielt. Da ich davon gesprochen habe, dass die Vergegenwärtigungsleistungen von Kunst und Literatur darin bestehen, uns mit Grundsituationen des Menschen imaginativ bekannt zu machen, ist hier Unmittelbarkeit von vornherein ausgeschlossen. Vor allem für die Literatur gilt ganz im Gegenteil, dass sie sich komplexer sprachlicher Darstellungsmittel bedient, um ihre Vergegenwärtigungsleistung zu erbringen. Mit einer , Schau' haben Kunst und Literatur nur insoweit zu tun, als deren Darstellungsmodus ein Aufzeigen, ein im wörtlichen bzw. übertragenen Sinne ,Vor-Augen-Stellen' ist. Wirkliche Bekanntschaft im Sinne der Präsenz wird dadurch nicht erreicht. Positiv

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Carnap (1961), § 100. Schlick (1926), S. 155. Jedenfalls gilt dies für Schlüsse aus mindestens zwei Prämissen. Schlüsse aus einer Prämisse heißen in der Tradition unmittelbare Schlüsse'.

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gesagt: Sie bleibt uns auch erspart. Ästhetische Vergegenwärtigung strebt kognitive Empathie an. Eine Situation imaginativ adäquat zu vergegenwärtigen, führt aber nicht dazu, dass der andere wirklich weiß, wie es ist, sich in dieser Situation zu befinden. Wie es ist, eine Depression zu haben, weiß wohl nur derjenige, der selbst in einer solchen Situation gewesen ist, die Depression am eigenen Leibe erlebt bzw. in der eigenen Seele gefühlt hat. Dann erst kennt man sie wirklich. Auf der anderen Seite fehlt uns in der Situation der wirklichen Bekanntschaft die reflexive Distanz, diese zu ,begreifen'. Dazu verhilft uns erst die imaginative Vergegenwärtigung der Situation eines anderen, in der wir unsere eigene Situation wiedererkennen. Die Sehnsucht nach Unmittelbarkeit ist sicher ein Motiv, das hinter vielen Versuchen steht, Erkenntnis nicht nach Maßgabe propositionaler Wahrheit zu bestimmen. Dies gilt, um nur zwei Beispiele zu nennen, sowohl fur Bergsons Begriff der Intuition als auch für Heideggers Versuch, Wahrheit als „Unverborgenheit" zu deuten und damit die Bindung des Wahrheitsbegriffs an den propositionalen Erkenntnisbegriff zu lösen.10 Letztlich scheint auch hinter den Bemühungen der Dekonstruktion, diskursive Erkenntnis immer wieder zu unterlaufen, eine negative Mystik der Unmittelbarkeit zu stehen. Offensichtlich ist eine solche Verbindung bei einem Vorläufer der Dekonstruktion, dem Sprachkritiker Fritz Mauthner, bei dem sich bereits alle Pointen und Übertreibungen der Dekonstruktion ausmachen lassen.11 Im Gegensatz zu den genannten Auffassungen ist dem hier vertretenen Komplementarismus der Erkenntnisformen eine Abwertung, Zurückstellung oder gar Dekonstruktion des propositionalen Wahrheitsbegriffs völlig fremd. Die nicht-propositionale Erkenntnis (oder Kenntnis) wird nicht über die propositionale Erkenntnis gestellt oder gar als eigentliche Erkenntnis ausgegeben, sondern der propositionalen Erkenntnis als unverzichtbar an die Seite gestellt. Aus dieser Perspektive heraus soll nun die bereits erwähnte Abwehr nicht-propositionaler Erkenntnisformen von Seiten neukantianischer Autoren erörtert werden, eine Abwehr, die noch für die gegenwärtige Debatte von Belang ist. Einmal mehr zeigt sich, dass die in der analytischen Philosophie vorgebrachten Argumente Variationen oder gar Dubletten zu Argumenten liefern, die sich bereist in der kontinentalen Philosophie finden. Im vorliegenden Fall geht es um die Kritik H. Rickerts und M. Schlicks12 am „Intuitionismus" der Phänomenologie (Husserl, Heidegger) und der Lebensphilosophie (H. Bergson). Rickert diagnostiziert bei Heidegger im Ausgang von dessen Deutung der Wahrheit als Unverborgenheit einen Primat der Anschauung gegenüber dem Begriff, wobei er diese Auffassung auf den schlechten' Einfluss der Phänomenologie Husserls zurückfuhrt: „Der radikale Intuitionismus zeigt sich bei ihm [Heidegger] nur dort, wo er ver-

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Heidegger (1979), S. 32ff., 219ff. Vgl. Gabriel (1997), 3. Kap., besonders S. 64ff. Schlick ist zwar nicht im engeren Sinne dem Neukantianismus zuzurechnen, Kantianische Einflüsse sind aber unverkennbar.

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sucht, den Zusammenhang mit der Phänomenologie zu rechtfertigen."13 In erster Linie wendet sich Rickert aber allgemein gegen das Ansinnen, Erkennen auf „bloße Anschauung zurückzuführen", ein Ansinnen, als dessen Motor er das (falsche) Ideal ausmacht, Erkenntnis (bzw. Wahrheit) als „die durch keine Konstruktion gefälschte Unmittelbarkeit der Anschaulichkeit" zu bestimmen.14 Im Sinne der Kantischen Lehre von den „zwei Stämmen" der Erkenntnis gesteht Rickert zwar zu, dass für die Gegenstandserkenntnis sinnliche Anschauung notwendig sei,15 besteht aber darauf, dass Anschauung ohne begriffliche Arbeit keine Erkenntnis sei. Unter Bezug auf den bekannten Ausspruch Hegels („Unsere Kenntnis soll Erkenntnis werden. Wer mich kennt, der wird mich hier erkennen."16) macht Rickert den Unterschied am Begriffspaar Erkennen vs. Kennen terminologisch fest, wobei er Kennen lediglich als eine Vorstufe zur eigentlichen Erkenntnis auffasst. Für den Erkenntnisbegriff nimmt er sodann die klassische propositionalistische Engfuhrung vor, indem er als dessen Grundlage den Begriff der Aussagen- bzw. Urteilswahrheit bestimmt und diese obendrein auf die Wissenschaft mit der Begründung beschränkt, dass der „Begriff des Erkennens" sonst „zu unbestimmt und vieldeutig wird".17 So kommt er schließlich zu dem Ergebnis: „Nur Aussagen oder Urteile tragen in der Wissenschaft einen Wahrheitscharakter."18 Der Beschränkung des wissenschaftlichen Wahrheitsbegriffs auf den Begriff der propositionalen Wahrheit ist hier nicht zu widersprechen, problematisch ist aber die Bindung des Erkenntnisbegriffs an einen solch engen Wahrheitsbegriff. Damit läuft Rickerts Explikation des Erkenntnisbegriffs geradezu auf eine Erschleichung dessen hinaus, was gerade in Frage steht. Sie ist insofern lehrreich, weil man sich in gegenwärtigen Diskussionen um die Erweiterung des Erkenntnisbegriffs ähnlichen argumentativen Manövern ausgesetzt sieht, wobei es stets darum geht, das offensichtlich tief verwurzelte Junktim von propositionaler Wahrheit und Erkenntnis zu ,knacken'. Rickerts Abwehrreaktion wird verständlich, wenn man bedenkt, dass zu seinen Zeiten die Disjunktion zur Debatte stand, ob Erkenntnis entweder intuitiv oder diskursiv ist. Zuzugestehen ist, dass es nicht angeht, die Anschauung über den Begriff und damit die Intuition über die Diskursivität zu stellen. Hier sitzt man in der Tat einem falschen Ideal der Unmittelbarkeit auf. Insofern geht es gar nicht darum, „ob sich das Erkennen in

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Rickert (1934), S. 142, Anm. Rickert (1934), S. 143. Rickert (1934), S. 146. Rickert schreibt tendenziös „sein" statt „werden". Vgl. den Reprint des von W. Hensel angefertigten Hegel-Porträts mit Hegels handschriftlichem Eintrag in Wundt (1932), S. 280/281. Hegels Formulierung dürfte so zu verstehen sein, dass Kenntnis durch „die Arbeit des Begriffs" in Erkenntnis zu überführen ist, womit der Kenntnis ihr kognitiver Status natürlich nicht bestritten wird. Rickert (1934), S. 143. Rickert (1934), S. 150.

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bloße Anschauung oder in eine durch Intuition gewonnene Kenntnis auflösen läßt".19 Das Ziel muss vielmehr sein, neben der propositionalen wissenschaftlichen Erkenntnis andere Formen kognitiver Welterschließung zu erkunden. Während Rickert die Unterscheidung zwischen Kennen und Erkennen zu Ausgrenzungszwecken einführt, läuft mein Vorschlag, die kognitiven Vergegenwärtigungsleistungen von Kunst und Literatur als Vermittlung von Kenntnis zu bestimmen, auf eine komplementäre Erweiterung hinaus. Im Unterschied zu Rickert, der das Kennen als bloßes Kennen abwertet, erkennt Schlick es als bedeutsam an, besteht aber ebenfalls auf einer strikten kategorialen Differenz zum Erkennen, wobei er die Besonderheit des Kennens - wie schon Rickert am Beispiel der sinnlichen Anschauung erläutert. Insofern stehen die Ausführungen von Schlick und Rickert in einer Traditionslinie, die von Russells Erörterung der Bekanntschaft mit Sinnesdaten zur gegenwärtigen Diskussion um den Status von „Qualia" als Objekten von „perceptual knowledge" führt.20 Schlick hält daran fest, dass Erkenntnis an das diskursive Urteil gebunden ist. Sinnlicher Wahrnehmung wird das Recht bestritten, Erkenntnis genannt zu werden. Richtig daran ist, dass Wahrnehmungserkenntnis nicht bereits durch bloße Perzeption gegeben ist, sondern zumindest eine „Apperzeption" verlangt, also erst bei wiedererkennender Subsumtion unter Begriffe vorliegt.21 Dies gilt auch für sinnliche Kenntnis in unserem Sinne. Schlicks Kritik gilt in erster Linie der Auffassung, dass es „zwei Arten des Erkennens" gebe, „das begriffliche, diskursive und das anschauliche, intuitive".22 Im Blick hat er dabei, obwohl auch Husserl erwähnt wird, vornehmlich H. Bergson, der selbst von dem Gegensatz zwischen den Methoden der „Analyse" und der „Intuition" spricht, die „sich gegenseitig ergänzen müssen".23 Wenn Schlick Bergson soweit entgegen kommt, die Intuition als ein bedeutsames „Kennen" anzuerkennen, so möchte man meinen, damit sei der Schritt zur Akzeptanz eines kognitiven Zugangs zum Nicht-Propositionalen bereits vollzogen. Auffällig ist aber der terminologische Schachzug, bereits die elemen-

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Rickert (1934), S. 144. Vgl. zu dieser Diskussion Schildknecht (2002), hier besonders Kap. 3 und 4 zu „perceptual knowledge". Während ich der Gleichsetzung „phenomenal knowledge is knowledge by acquaintance" zustimme (S. 212, Anm. 763), habe ich Bedenken gegen die anschließende Begründung der Nicht-Propositionalität phänomenalen Wissens auf Grund seiner Nicht-Begrifflichkeit („nonconceptual and hence nonpropositional"). Wiedererkennbarkeit setzt zumindest klare Begriffe voraus (s. o). Schlick (1918), S. 72f.; vgl. bereits Schlick (1913), S. 480. Schlick (1918), S. 68. Bergson (1985), S. 180, Anm. 1. Diese Formulierung zeigt an, dass die Philosophie Bergsons durchaus eine gesonderte kritische Würdigung aus komplementaristischer Perspektive verdient, zumal die intuitive Erkenntnis insbesondere ästhetischer Art ist. Insofern darf Bergson in die Reihe der Komplementaristen aufgenommen werden, die eine wechselseitige Ergänzung von wissenschaftlicher und ästhetischer Erkenntnis fordern.

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taren Wahrnehmungsinhalte (die „Empfindungen"24) „Erlebnisse" zu nennen und ζ. B. von dem „Erlebnis des Rot" zu sprechen.25 Was ich erlebe, gehört der Sphäre des Lebens an, und das Leben setzt Schlick dem Erkennen entgegen. Schlick beschreibt das Erlebnis der Farbe Blau so, dass „ich zum wolkenlosen Himmel aufschaue und mich ganz und gar der Blauempfindung hingebe".26 Damit deutet er trefflich einen kontemplativen Aspekt in der Farbwahrnehmung an, wie er von modernen Künstlern (Barnett Newman und Yves Klein) ästhetisch in monochromen Gemälden vergegenwärtigt worden ist. Sogleich bestreitet er aber der kontemplativen Einstellung ihren kognitiven Wert, indem er hinzufügt, dass das „Wesen des Blau" nur physikalisch erkannt werden könne.27 Letztlich versteigt sich Schlick zu der Auffassung, dass Qualitäten insgesamt als Objekte der Erkenntnis ausscheiden und wird so zu einem Vertreter der von G. Th. Fechner so genannten „Nachtansicht" der Welt. Im weiteren geht Schlick über die exemplarische Betrachtung der sinnlichen Anschauung weit hinaus, indem er andere Formen des Schauens bis hin zur unio mystica einbezieht. Obwohl er dem Versuch Bergsons, in der Intuition eine Erkenntnis eigenen Rechts zur Anerkennung zu bringen, entschieden widerspricht, fällt seine Kritik insgesamt wohlwollender aus, als man dies auf den ersten Blick von einem logischen Empiristen erwarten würde. Er verwirft die Intuition nicht als mystifizierenden Unsinn, sondern grenzt sie lediglich aus der Sphäre der Erkenntnis aus und weist sie stattdessen dem „Erleben" und dem Leben selbst zu: „Durch Erleben, durch Schauung begreifen und erklären wir nichts. Wir erlangen dadurch wohl ein Wissen um die Dinge, aber niemals ein Verständnis der Dinge."28 Schlick gesteht Bergson hier sogar ein intuitives Wissen zu und bindet somit nur den Erkenntnisbegriff, aber nicht den Wissensbegriff an den propostionalen Wahrheitsbegriff. Dabei trifft er dieselbe Unterscheidung wie Bergson, allerdings in Verkehrung der traditionellen Terminologie, der gemäß die cognitio circa rem als Erkenntnis ,um' das Ding (in seinen Beziehungen zu anderen Dingen) und die cognitio rei als die Erkenntnis des Dings selbst verstanden wird. So charakterisiert Bergson, diese Unterscheidung aufgreifend, die Differenz zwischen wissenschaftlicher und intuitiver Erkenntnis mit den Worten: „Die erste geht gleichsam um ihren Gegenstand herum, die zweite dringt in ihn ein."29 Den Forderungen des Lebens versucht Schlick nicht dadurch Genüge zu tun, dass er in der Erkenntnistheorie auf das Leben zurückgeht und sich um eine lebensphilosophische Grundlage der Wissenschaft bemüht, sondern dadurch, dass er eine strikte Grenze 24 25 26 27 28 29

Schlick (1918), S. 72. Schlick (1926), S. 146. Schlick (1913), S. 479. Schlick (1913), S. 480. Schlick (1918), S. 69. Bergson (1985), S. 180. Die Unterscheidung zwischen cognitio circa rem und cognitio rei ist in der Lebensphilosophie auch sonst von zentraler Bedeutung. Siehe besonders Misch (1994). Vgl. dort die Stellenangaben und wichtigen Hinweise im Vorbericht der Herausgeber, S. 37f.

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zwischen Erkenntnis und Leben zieht, der zufolge das Leben als Sphäre der Erkenntnis ausscheidet. Dabei gesteht Schlick dem Menschen sogar die Möglichkeit eines unmittelbaren Kontakts mit den Dingen zu, dass er sich nämlich „den Gegenständen dieser Welt [...] inniger vermählen kann" als es in der Wissenschaft möglich ist. Diese Unmittelbarkeit biete aber nur das Leben. Wem sie zuteil wird, „der steht im Leben, nicht im Erkennen". Erkenntnis verlange dagegen eine Distanz zu den Dingen, von der aus der Erkennende „ihre Beziehungen zu allen anderen Dingen überblicken kann".30 Anders als Bergson geht Schlick somit nicht von einer Komplementarität gegensätzlicher Erkenntnisformen im Leben, sondern von einem Gegensatz zwischen dem Erkennen und dem Leben selbst aus. Das Verhältnis zwischen Kennen und Erkennen läuft somit nicht auf eine gegenseitige Ergänzung, sondern auf eine wechselseitige Exklusion hinaus, die noch dadurch verschärft wird, dass Schlick meint, „der Gegensatz von Kennen und Erkennen" decke sich mit „dem Gegensatz des Nichtmitteilbaren und des Mitteilbaren".31 Schlicks Position stellt sich - überraschend genug - als eine Radikalisierung oder Überbietung der Lebensphilosophie dar, indem geradezu von einer Kluft zwischen Leben und Erkenntnis ausgegangen wird. Wir haben es hier mit einem ähnlichen Phänomen wie im Falle Rudolf Carnaps zu tun, bei dem man lange den nachhaltigen Einfluss der Lebensphilosophie übersehen hat. Die Übereinstimmung kommt besonders in der Einschätzung der Metaphysik zum Tragen, wobei in beiden Fällen sicher auch der Einfluss von Wittgensteins Tractatus erkennbar ist. Die spezifische Wendung, dass die Metaphysik den verfehlten Versuch darstelle, ein „Lebensgefiihl" - so Carnap32 - oder ein „Erleben" - so Schlick33 - propositional mitzuteilen und zu begründen, verweist aber auf einen lebensphilosophischen Hintergrund. Schlick geht sogar so weit, das „Welterlebnis" über die „Welterkenntnis" zu stellen.34 Daran wird deutlich, dass sein Ausgrenzungsversuch keineswegs mit einer Abwertung verbunden ist, sondern geradezu ein Reservat von Unmittelbarkeit außerhalb der Erkenntnissphäre zu sichern sucht. Bei Carnap besteht eine ähnliche Tendenz. In der Beurteilung seiner Metaphysikkritik wird häufig übersehen, dass diese sich weniger gegen bestimmte Inhalte der Metaphysik, die Carnap in der Kunst aufgehoben sieht, als vielmehr gegen deren Darstellung in propositional-argumentativer Form richtet. Schlick und Carnap sind daher gegen den Vorwurf eines bornierten Szientismus in Schutz zu nehmen. Szientistisch ist zwar ihr Erkenntnisbegriff, nicht aber ihre Einstellung zur Welt und zum Leben. Problematisch ist allerdings die absolute Disjunktion zwischen Leben und Erkenntnis sowie Kunst

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33 34

Schlick (1918), S. 66. Schlick (1926), S. 146. Carnap (1931), Abschnitt 7 (S. 238-241): „Metaphysik als Ausdruck des Lebensgefühls". Der Ausdruck „Lebensgefiihl" ist ein zentraler Terminus der Diltheyschen Lebensphilosophie. Schlick (1926), S. 156. Vgl. Carnaps Rede von „Elementarerlebnissen" (Carnap 1928, §§ 67f.). Schlick (1918), S. 150.

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und Wissenschaft mit der Konsequenz, dass nicht nur die Funktion der Kunst rein emotivistisch bestimmt wird, sondern auch kein Raum ftir kognitive Zwischenformen bleibt, die vielmehr als zwitterhafte ,Begriffs-Dichtung' abgelehnt werden.35 Exemplarisch deutlich wird dies an der Behandlung des Realitätsproblems, an der ich abschließend die kognitive Relevanz beschreibender (deskriptiver) Vergegenwärtigung erläutern möchte. Ohne hier eine strenge Grenze ziehen zu wollen, lässt sich diese von der erzählenden (narrativen) Vergegenwärtigung unterscheiden. In beiden Fällen haben wir es mit Formen sprachlicher Vergegenwärtigung im Unterschied zu bildlicher (ikonischer) Vergegenwärtigung zu tun. Schlick und Carnap betrachten das Problem der Realität der Außenwelt und der Existenz des Fremdpsychischen als zentrale Beispiele einer propositional verfehlten Metaphysik. Bei Schlick heißt es dazu: „Diese Fragen kommen aber dadurch zustande, daß das, was nur Inhalt eines Kennens sein kann, fälschlich für den möglichen Inhalt einer Erkenntnis gehalten wird, das heißt, dadurch, daß versucht wird, das prinzipiell nicht Mitteilbare mitzuteilen, das nicht Ausdrückbare auszudrücken."36 Konsequent hat Carnap die These vertreten, dass das Realitätsproblem ein sinnloses „Scheinproblem" sei, weil Idealisten und Realisten hinsichtlich des empirischen Wirklichkeitsbegriffs übereinstimmen und es keine Möglichkeit gebe, einen darüber hinausgehenden Anspruch in Sachen Realismus oder Idealismus argumentativ einzulösen.37 Diese Beurteilung setzt freilich das gängige Verständnis voraus, dass beide Positionen einander propositional widersprechen. Carnap selbst hat jedoch bereits den Hinweis gegeben, dass die Differenz gar nicht innerweltliche Sachverhalte betrifft, sondern Ausdruck unterschiedlicher Einstellungen oder „Lebensgefuhle" ist, die fälschlicherweise in diskursiver Form zum Austrag kommen. Dies mag eine zu einseitige emotivistische Sicht sein, zumal Carnap die Frage damit praktischer Dezision überantwortet. Der nicht-propositionale Charakter der Positionen impliziert nämlich nicht, dass jeder kognitive Zugang zu ihnen versperrt ist. So lassen sich Idealismus und Realismus als kognitive Einstellungen deuten (oder umdeuten), die sich nicht auf Sachverhalte in der Welt erstrecken, sondern für Sichtweisen von Welt stehen, von Sichtweisen, welche die Welt als Ganzes betreffen. Die Frage ist dann nicht mehr, ob entweder der Realismus oder der Idealismus Recht hat. Vielmehr können beide als Sichtweisen nebeneinander bestehen, ohne sich auszuschließen: als einander ergänzende Aspekte der conditio humana, etwa als komplementäre Einstellungen von realistisch-pragmatischem ,In-der-Welt-sein' und idealistisch-kontemplativem ,Aus-der-Welt-sein'. Wenn das Realitätsproblem auch insofern ein Scheinproblem ist, als weder die Position des Realismus noch die des Idealismus (Solipsismus) propositional begründbar ist, so können beide doch als Einstellungen zur Welt kognitiv vergegenwärtigt werden. Es

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Schlick (1918) verwendet diesen Ausdruck explizit (S. 158). Schlick (1918), S. 147. Carnap (1928).

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lässt sich vermitteln, wie es ist, die jeweilige Einstellung zur Welt einzunehmen. Wenn Wittgenstein schreibt: „Was der Solipsismus nämlich meint, ist ganz richtig, nur läßt es sich nicht sagen, sondern es zeigt sich", 38 so ,sagt' er damit in einer Hinsicht zu viel, indem er nämlich die solipsistische Einstellung ,richtig' nennt, in anderer Hinsicht aber zu wenig, indem er betont, dass sich der Solipsismus nur zeigen könne. Die solipsistische Einstellung können wir (eine Zeit lang) einnehmen, ohne damit die anderen Einstellungen als unrichtig oder falsch abzulehnen, und die solipsistische Einstellung kann beschreibend vergegenwärtigt werden - in einer Sprachform zwischen Sagen und Zeigen, die zwar prädikativ, aber nicht argumentativ ist, die nicht propositional beweisend, sondern nicht-propositional aufweisend verfährt. Eine solche Vergegenwärtigung ist Schopenhauer in seiner Beschreibung des Ichs als „Weltauge" gelungen, einer Beschreibung, auf die Wittgensteins eigene Auffassung des Ichs („Ich bin meine Welt."39) als perspektivischer Fluchtpunkt eines kontemplativen Solipsismus zurück geht. Der deskriptiven Vergegenwärtigung können bildliche zur Hilfe kommen. Denken wir etwa an R. Magrittes Gemälde La Condition Humaine (Die Beschaffenheit des Menschen, 1934), das schon im Titel in Anspruch nimmt, die Situation des Menschen zu vergegenwärtigen, die Situation nämlich, dass unser In-der Welt-sein ein /«-sein ist, für das unentschieden bleiben muss, ob ,hinter' dem empirischen (phänomenalen) Außen ein Außen-an-sich besteht. Das Realitätsproblem ist nicht damit ,erledigt', dass es als propositional nicht entscheidbares Scheinproblem entlarvt wird. Es bleibt der Philosophie die Aufgabe, die Einstellungen des Realismus und Idealismus (Solipsismus) kognitiv zu vergegenwärtigen. Hier öffnet sich zudem ein weites Feld für eine deskriptive Phänomenologie der Einstellungen, Sichtweisen und auch Stimmungen, 40 die das Ziel hat, mit der conditio humana bekannt zu machen und diese in ihrer Komplexität kennen zu lehren.

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38 39 40

Wittgenstein, TLP 5.62. Wittgenstein, TLP 5.63. Zur Phänomenologie der Stimmungen verweise ich auf die grundlegende Studie von Bollnow (1980).

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K E N N E N UND ERKENNEN

Carnap, Rudolf: „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache", Erkenntnis 2 (1931), S. 220-241. Gabriel, Gottfried: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung, Paderborn 1997. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen ,5 1979. Hogrebe, Wolfram: Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, Berlin 2009. Leibniz, Gottfried Wilhelm: „Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis" (1684), in: ders., Philosophische Schriften, hrsg. v. Carl I. Gerhardt (1880, repr. Hildesheim 1965), Bd. 4, S. 422-426. Misch, Georg: Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens, hrsg. v. Gudrun Kühne-Bertram und Frithjof Rodi, Freiburg/München 1994. Rickert, Heinrich: „Kennen und Erkennen. Kritische Bemerkungen zum theoretischen Intuitionismus", Kant-Studien 39 (1934), S. 139-155. Photomechanischer Nachdruck in: Flach, Werner; Holzhey, Helmut (Hrsg.): Erkenntnistheorie und Logik im Neukantianismus, Hildesheim 1980, S. 525-541 (unter Mitfuhrung der Originalpaginierung). Russell, Bertrand: „Erkenntnis durch Bekanntschaft und Erkenntnis durch Beschreibung", in: ders., Die Philosophie des Logischen Atomismus. Aufsätze zur Logik und Erkenntnistheorie

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Das Nichtbegriffliche in der Logik JOACHIM BROMAND

1. Einleitung: Stufen der Unausdrückbarkeit Viele unserer Ausdrucksgrenzen sind kontingenter Natur. Wir haben etwa kein Prädikat für eine bestimmte Farbnuance, die wir aber sehr wohl wiedererkennen können. Solchen Ausdrucksbeschränkungen kann leicht abgeholfen werden, indem einfach ein entsprechendes neues Prädikat gegebenenfalls mit Hilfe einer ostensiven Definition festlegt wird. Insbesondere im Falle nicht regelmäßig verwendeter Fälle (etwa von Farben) ist zu erwarten, dass uns die Begriffe ausgehen, da unsere sprachlichen Mittel sich nach unserer ,Lebenswelt' und den in ihr vorkommenden Objekten richten, die für unsere Lebensweise relevant sind. Ändert sich unsere Lebenswelt, ist unsere Sprache in der Regel flexibel genug, um den geänderten Umständen durch Begriffs- oder Bedeutungswandel angepasst zu werden. Ausdrucksschwierigkeiten, die weniger einfach zu umgehen zu sein scheinen, werden oftmals bei der Vermittlung praktischer Fähigkeiten vermutet. Wissen, wie man Rad oder Ski fährt, so genanntes knowing how, scheint man nur durch praktisches Einüben bzw. durch das eigene Erleben bestimmter Erfahrungen und nicht etwa durch die Lektüre eines Textes erwerben zu können. Ein Spezialfall des Wissens, wie scheint dabei das Wissen, wie es ist zu sein, eine bestimmte (Sinnes-)Erfahrung zu machen oder eine bestimmte Empfindung zu haben. Der spezifische phänomenale Gehalt etwa, der meine heutige Migräne von der gestrigen unterscheidet, scheint sich nur in grober metaphorischer Annäherung in Worten ausdrücken zu lassen. Wenn auch die Behauptung, dass sich solches ,Wissen' nicht sprachlich artikulieren lässt, hohe Plausibilität besitzt, ist sie doch nicht unstrittig. So wurde vermutet, dass es sich in den fraglichen Fällen sozusagen nur um ein Problem der Eloquenz handelt und wir eventuell durchaus in der Lage sein könnten, unser Wissen um eine Fähigkeit wie Rad fahren vollständig zu artikulieren, wenn wir dazu auch eine große Anzahl von Propositionen etwa mit feinmotorischem Inhalt benötigten.1 Hierbei handelt es sich um eine Debatte, die mir durchaus nicht entschieden zu sein scheint und die an dieser Stelle freilich auch nicht entschieden werden kann. Für das Folgende ist hier nur von Belang, dass es sich bei der Unmöglichkeit, phänomenale Gehalte zu vermitteln, und vermutlich auch bei der Unmöglichkeit, Fähigkeitswissen zu kommunizieren (wenn beides denn überhaupt unmöglich ist), um Unmöglichkeiten handelt, die sich aus unserer kognitiven Beschaffenheit erge-

1

Vgl. etwa die Diskussion in Grundmann (2008), S. 74-86.

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ben: Wären unsere Empfindungen etwa nicht privat und so auch anderen Personen zugänglich, könnten wir sie anderen auf ähnlich ostensive Weise kundtun wie im obigen Farbenbeispiel. Die Unmöglichkeit, phänomenale Gehalte oder Fähigkeitswissen zu kommunizieren, könnte man daher als kognitive Unmöglichkeit bezeichnen, die eventuell auf biologische oder physikalische Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen ist. Es wäre somit fiir uns bzw. menschenxmmögWch, phänomenale Gehalte oder Fähigkeitswissen zu kommunizieren, nicht aber unmöglich in einem stärkeren, etwa im logischen Sinne. Über diese Ausdrucksschranken hinaus finden sich in der Philosophie aber auch des öfteren Behauptungen, es gäbe ,Dinge', die unmöglich ausgedrückt werden können in einem stärkeren Sinne von ,unmöglich' als dem obigen. In diesem Sinne scheint etwa Wittgenstein in seinem Tractatus zu behaupten: „Es gibt allerdings Unaussprechliches [...]. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen" (TLP 6.522/7). Dem könnte die These zugrunde liegen, es gäbe Ausdrucksbeschränkungen schon aus rein logischen Gründen, so dass es logisch unmöglich ist (und somit unmöglich im stärksten Sinne des Wortes), das Unsagbare auszudrücken. Wie im obigen Falle ist aber auch diese Behauptung durchaus umstritten. Im Folgenden soll ein Blick auf den aktuellen Stand dieser Debatte geworfen werden. Dazu soll zunächst die Frage erörtert werden, welche logischen Motive für Ausdrucksgrenzen sprechen. Das wichtigste Motiv stellen hier die so genannten semantischen Paradoxien dar, die im nächsten Abschnitt (2.) vorgestellt werden. Im 3. Abschnitt soll dann der Frage nachgegangen werden, ob es neben den semantischen Paradoxien noch weitere logische Motive für Ausdrucksgrenzen gibt. Abschnitt 4. befasst sich dann mit den besten zurzeit vorliegenden formalen Ansätzen zur Vermeidung der semantischen Paradoxien und geht auf die Frage ein, ob diese Ansätze Ausdrucksgrenzen vollständig vermeiden können. In Abschnitt 5. wird dann ein Fazit zum Stand der gegenwärtigen Debatte gezogen und ein Ausblick gewagt auf deren möglichen Ausgang.

2. Semantische Paradoxien Welche logischen Gründe könnten für die Existenz von Ausdrucksbeschränkungen sprechen? Der gewichtigste Grund dürfte in den semantischen Paradoxien bestehen, von denen die berühmteste die so genannte Lügnerparadoxie ist. Diese ergibt sich aus der scheinbar harmlosen Annahme, der Wahrheitsbegriff erfülle alle Instanzen des von Alfred Tarski so genannten W-Schemas: (W)

,/?' ist wahr genau dann, wenn ρ

Die meisten Instanzen dieses Schemas wie ,„Schnee ist weiß' ist wahr genau dann, wenn Schnee weiß ist" oder „,Gras ist grün' ist wahr genau dann, wenn Gras gün ist" scheinen uns aufgrund der Bedeutung des Wahrheitsprädikats unmittelbar einleuchtend zu sein. Tatsächlich ist Tarskis W-Schema vom Standpunkt der allermeisten Wahrheits-

D A S N I C H T B E G R I F F L I C H E IN DER L O G I K

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theorien aus akzeptabel. Problematisch wird es nun aber, sobald man den so genannten Lügnersatz Λ im Schema für „ ρ " einsetzt. Der Satz Λ besagt von sich selbst, dass er nicht wahr ist, und kann demnach identifiziert werden mit dem Satz: „A ist nicht wahr". Nach dem W-Schema ergibt sich nun aber: ,λ ist nicht wahr' ist wahr genau dann, wenn λ nicht wahr ist Da nach dem soeben Gesagten ,λ ist nicht wahr' identisch mit Λ ist, ergibt sich der folgende Widerspruch: Λ ist wahr genau dann, wenn λ nicht wahr ist Die ,klassische' Reaktion auf diese Paradoxie besteht in der Unterscheidung von Objekt- und Metasprache, allgemeiner in der Sprachstufenhierarchie Alfred Tarskis (Tarski 1935). Die Grundidee ist dabei, den Wahrheitsbegriff nur für solche (Objekt-)Sprachen zu definieren, die nicht ,semantisch abgeschlossen' bzw. ,semantisch universal' sind, was besagt, dass solche Sprachen nicht über das Vokabular verfugen, um ihre eigene Semantik auszudrücken; insbesondere verfügen sie nicht über den eigenen Wahrheitsbegriff. Dieser wird vielmehr erst in einer ausdrucksstärkeren Metasprache eingeführt. Somit kann der Lügnersatz in der Objektsprache gar nicht mehr formuliert werden, da diese nicht über das dazu erforderliche Wahrheitsprädikat verfügt. Soll nun die Lügnerparadoxie nicht auf der Stufe der Metasprache erneut auftreten, darf auch diese nicht semantisch abgeschlossen sein und insbesondere auch nicht ihr eigenes Wahrheitsprädikat enthalten. Letzteres kann wiederum erst auf der Stufe der Metametasprache definiert werden, woraus sich eine prinzipiell unendliche Hierarchie von immer ausdrucksstärkeren Sprachen ergibt. Diese Sprachstufenhierarchie führt aber unmittelbar zu Ausdrucksbeschränkungen: Wollte man etwa für alle Sätze einer solchen Sprachstufenhierarchie behaupten, sie seien wahr oder falsch, ließe sich diese Behauptung nicht im Rahmen einer der Sprachen der Hierarchie selbst vornehmen, da diese nicht über ihr eigenes Wahrheitsprädikat verfügt und somit auch keine Aussagen über die eigenen Sätze machen kann. Wären auch natürliche Sprachen im Sinne von Tarskis Sprachstufenhierarchie beschaffen, ließen sich viele logisch-semantische Prinzipien wie das soeben erwähnte Bivalenzprinzip nicht einmal formulieren. Dasselbe Schicksal teilen andere hierarchische Ansätze, die zur Vermeidung der semantischen Paradoxien ersonnen wurden. Insbesondere gilt dies für die ersten formallogischen Ansätze, die nach der Entwicklung der modernen Logik durch Gottlob Frege zur Vermeidung der semantischen Paradoxien entwickelt wurden, wie die so genannte Typentheorie Bertrand Russells. Auch Frege selbst vertrat einen der Typentheorie ähnlichen hierarchischen Ansatz und nahm die sich aus diesem Ansatz ergebenden expressiven Beschränkungen in Kauf. Überraschenderweise kam Frege zu diesem hierarchischen Ansatz und den resultierenden Ausdrucksbeschränkungen aber unabhängig von den semantischen Paradoxien. Dies legt die Vermutung nahe, es gäbe weitere, von den semantischen Paradoxien unabhängige logische Gründe für Ausdrucksgrenzen. Bevor die semantischen Paradoxien weiter verfolgt

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werden, soll daher ein Blick auf Freges Überlegungen geworfen und hinterfragt werden, ob es tatsächlich von den semantischen Paradoxien unabhängige logische Motive dafür gibt, an Ausdrucksgrenzen zu glauben.

3. Gibt es weitere logische Motive für Ausdrucksschranken? Frege und Wittgenstein Frege war mit dem Problem der semantischen und vor allem mit dem in vielerlei Hinsicht analogen Problem der mengentheoretischen Paradoxien bestens vertraut. Frege verstrickte sich in Letztere im Rahmen seines logizistischen Programms, in dem er in erheblichem Maße mengentheoretische Begriffe heranzog. Dabei vertrat Frege jedoch nicht die so genannte iterative oder kumulative Mengenkonzeption, die der modernen axiomatischen Mengentheorie etwa Zermelo-Fraenkels zugrunde liegt. Vielmehr griff Frege auf die logische Mengenkonzeption zurück, der zufolge Mengen Extensionen von Begriffen sind. So nahm Frege an, dass es zu jedem Begriff eine entsprechende Extension gibt, also die Menge aller Objekte, die unter den Begriff fallen. Dies besagt im Wesentlichen das berühmt-berüchtigte unbeschränkte Komprehensionsaxiom. Bekanntlich erwies Bertrand Russell dieses Prinzip als widersprüchlich: Gibt es zu jedem Begriff eine Extension, so auch zum Begriff Menge, die sich nicht selbst enthält. Gäbe es zu diesem Begriff eine entsprechende Extension, die so genannte ,Russellsche Menge', enthielte diese sich nach dem Komprehensionsaxiom genau dann selbst, wenn sie unter den Begriff Menge, die sich nicht selbst enthält fiele, also genau dann, wenn sie sich nicht selbst enthält. Die Russell'sehe Paradoxie ist dabei strukturell analog zur Paradoxie Greilings, die sich um den Begriff der Erfüllung dreht und somit zu den semantischen Paradoxien zählt.2 Frege dürfte somit nicht nur mit den mengentheoretischen, sondern auch mit den semantische Paradoxien sehr gut vertraut gewesen sein. Während Russell als Reaktion auf die mengentheoretischen Paradoxien die so genannte einfache Typentheorie entwickelte, die er dann zur verzweigten Typentheorie erweiterte, um auch die semantischen Paradoxien erfassen zu können, war Freges Hierarchiekonzeption überraschenderweise keine Reaktion auf die Paradoxien: Als Russell die Entdeckung der heute nach ihm benannten Paradoxie Frege im Jahre 1902 mitteilte, hatte Frege schon längst seine eigene Hierarchiekonzeption etwa in den Schriften Funktion und Begriff (Frege 1891) und Über Begriff und Gegenstand (Frege 1892) ausgearbeitet. Frege kam zu sei2

Greilings Paradox ergibt sich ausgehend vom Begriff heterologisch, der auf ein Begriffswort Β genau dann zutrifft, wenn die durch Β ausgedrückte Eigenschaft auf Β selbst nicht zutrifft (so ist etwa das Begriffswort zweisilbig heterologisch, da es selbst dreisilbig ist und so die von ihm ausgedrückte Eigenschaft nicht erfüllt; nicht heterologisch ist hingegen dreisilbig). Die Paradoxie Greilings ergibt sich nun aus der Frage, ob das Begriffswort heterologisch auf sich selbst zutrifft oder nicht: Nach der Definition trifft heterologisch genau dann auf sich selbst zu, wenn es die durch heterologisch ausgedrückte Eigenschaft nicht besitzt, also genau dann, wenn es nicht auf sich selbst zutrifft.

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ner Hierarchiekonzeption also in Unkenntnis der Paradoxien. Wodurch wurden Freges Konzeption und die damit einhergehenden Ausdrucksprobleme aber dann motiviert?3 Eine Quelle für Freges Ausdrucksprobleme besteht in seiner Ontologie, welche die Gesamtheit der Entitäten in zwei vollständig disjunkte Klassen aufteilt: zum einen in die Klasse der Funktionen, von denen einige die Bedeutungen von prädikativen Ausdrücken sind (entsprechende Funktionen nennt Frege auch Begriffe), und zum anderen in die Klasse der Gegenstände, auf die mit singulären Termen referiert werden kann. Dies führte Frege etwa zur Behauptung „der Begriff Pferd ist kein Begriff', 4 da mit einem singulären Terminus wie ,der Begriff Pferd' eben nur auf Gegenstände, nicht aber auf Begriffe referiert werden könne. Auf welchen Gegenstand man auch immer mit der Bezeichnung ,der Begriff Pferd' referiert - es ist kein Begriff Demnach ist es aber nicht möglich, sich - wie im Falle von Gegenständen - auf Begriffe zu beziehen, um von ihnen etwas auszusagen. Darüber hinaus kam Frege sogar zu dem Schluss, Bezeichnungen wie ,der Begriff Pferd' bezeichneten gar nichts. So vermerkt etwa Hans D. Sluga: The solution to the puzzle is to be found in a posthumously published fragment written between 1892 and 1895, i.e., shortly after the essay O n Concept and Object'. In that fragment Frege says [...] that the expression 'the concept Λ' is illegitimate; he no longer holds it to refer to anything.5

Bezeichnen aber Kennzeichnungen wie der Begriff,Pferd' nichts, sind auch Sätze, die solche Kennzeichnungen enthalten, nach Frege bedeutungslos. Die Auswirkungen dieser Haltung auf Freges eigene Schriften sind aber fatal; wollte man alle entsprechenden Sätze aus Freges Werk streichen, bliebe kaum etwas - wenn nicht sogar überhaupt nichts - Nennenswertes übrig. Frege kannte zwar das Problem, spielte dessen Reichweite aber stets herunter oder war sich ihrer nicht bewusst: Der Verständigung mit dem Leser steht freilich ein eigenartiges Hindernis im Wege, daß nämlich mit einer gewissen sprachlichen Notwendigkeit mein Ausdruck zuweilen, ganz wörtlich genommen, den Gedanken verfehlt, indem ein Gegenstand genannt wird, wo ein Begriff gemeint ist. Ich bin mir völlig bewußt, in solchen Fällen auf ein wohlwollendes Entgegenkommen des Lesers angewiesen zu sein, welcher mit einem Körnchen Salz nicht spart.6

Das Entgegenkommen, von dem Frege hier spricht, erinnert an Wittgensteins Einleitung zum Tractatus, in der er feststellt, dass sein Buch nur der verstehen könne, „der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind - oder doch ähnliche Gedanken - schon selbst einmal gedacht hat."7 Dass Frege mit den gleichen Schwierigkeiten wie der Tractatus zu

3 4 5 6

7

Die folgenden Überlegungen dieses Abschnitts stammen aus Bromand (2001), Kap. 9, §3. Frege(1892),S.71. Sluga (1980), S. 142-143. Frege (1892), S. 79, vgl. ebd., S. 72, Fn. 11; Vgl. auch Freges Behauptung, die Begriffe Funktion und Gegenstand seien undefinierbar, s. etwa Frege (1891), S. 30, und Frege (1904), S. 89-90; vgl. Frege (1892), S. 80. TLP Einleitung, S. 2.

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kämpfen hat und dass anstelle von einem Körnchen Salz eher vom Versalzen die Rede sein sollte, bestätigen auch wohlwollende Interpreten wie Michael Dummett: Clearly, if there were no escape from this dilemma - brought to light by Frege himself - this would be a reductio ad absurdum of Frege's logical doctrines.8

Was ist nun aus heutiger Perspektive zu Freges Problem zu sagen? Ein Vorzug von Freges Vorgehensweise ist sicherlich, dass sie die Selbstanwendung eines Begriffs nicht mehr ohne Weiteres zulässt. Damit könnte Frege u. U. diejenigen semantischen Paradoxien vermeiden, die sich um den Begriff der Erfüllung drehen, wie das Paradox Greilings. Wie bereits erwähnt dürften die semantischen Paradoxien aber nicht das Motiv für die Überlegungen Freges gewesen sein, die ihn dazu führten, Ausdrucksgrenzen zu akzeptieren. Tatsächlich scheint ein gravierender Grund für Freges These, auf Begriffe könne man sich nicht mit Namen beziehen, nicht auszumachen zu sein. Künne (1996), S. 336, fragt daher auch: „Handelt es sich hier wirklich um eine Zwangslage der Sprache, oder ist es nicht vielmehr eine der Fregeschen Theorie?" und schlägt vor, Freges These aufzugeben, daß Begriffe nur die Bedeutungen von Prädikaten sein können. Auch dann kann man die Unterscheidung zwischen Begriffen und Gegenständen in aller Schärfe aufrechterhalten, indem man sagt: Von Begriffen und nur von ihnen gilt, daß sie auch (und sogar primär) die Bedeutungen von Prädikaten sind. (Künne 1996, S. 336)

Somit scheinen für Freges These, auf Begriffe könne nicht mit Namen referiert werden, keine triftigen Gründe zu sprechen - ebenso wenig wie fur die aus dieser These resultierenden Ausdrucksbeschränkungen. Freges expressive Probleme haben aber auch noch eine weitere Ursache, auf ich nun eingehen möchte. Freges expressive Notlage wird dadurch verschärft, dass zum Problem, nicht auf Begriffe referieren zu können, noch ein zweites hinzukommt. Selbst wenn Referenz auf Begriffe möglich wäre, bliebe aufgrund dieses weiteren Problems Freges Semantik nach eigenen Maßstäben unausdrückbar. Das zweite Problem ergibt sich aus Freges Ansicht, dass Objekte aus verschiedenen Stufen seiner Hierarchie von Gegenständen, Begriffen 1. Stufe, Begriffen 2. Stufe usw. jeweils paarweise kategorial verschieden sind. Dabei sind χ und y kategorial verschieden hinsichtlich einer Sprache S genau dann, wenn es keinen prädikativen Ausdruck von S gibt, der sinnvoll sowohl von (Bezeichnungen von) χ als auch von y prädiziert werden kann.9 Gibt es aber, wie Frege meint, katego-

8 9

Dummett (1973), S. 212. Für den Rest dieses Abschnitts wird dabei angenommen, dass auf jeden Gegenstand mit Hilfe einer Bezeichnung referiert werden kann. Ohne diese Voraussetzung müsste die obige Definition modifiziert werden, da anderenfalls jeweils zwei namenlose Gegenstände zu verschiedenen Kategorien gehörten. Die obige Definition lehnt sich an diejenige Gilbert Ryles an (vgl. Ryle 1938, S. 180-1), der etwa in The Concept of Mind (Ryle 1949) für die kategoriale Verschiedenheit von psychischen und physischen Zuständen plädiert. Allerdings gehören nach Ryle zwei Gegenstände bereits dann zu ver-

DAS NICHTBEGRIFFLICHE IN DER LOGIK

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riale Unterschiede hinsichtlich einer Sprache S (welche zumindest über prädikatenlogische Ausdrucksmöglichkeiten verfügt), lässt sich leicht zeigen, dass sich diese Unterschiede bzw. die entsprechende Relation der kategorialen Verschiedenheit nicht in S ausdrücken lassen: Angenommen, es gibt kategoriale Unterschiede hinsichtlich einer Sprache S und die Relation der kategorialen Verschiedenheit lässt sich durch einen Relationsausdruck „x φγ" der Sprache S ausdrücken (d. h., der Satz „a ψ (3" ist wahr genau dann, wenn α und β kategorial verschieden hinsichtlich S sind - „ Q " und seien dabei Namen für α und ß). Aufgrund der Annahme gibt es ein hinsichtlich S kategorial verschiedenes Paar r, π. Da die Sätze „ - > ( τ φ τ ) " und „->(π ^ π)" wahr sind, gibt es einen prädikativen Ausdruck der Sprache S (nämlich ,,-ι(χ φ χ)"), der sowohl von r als auch von π sinnvoll (und sogar wahrheitsgemäß) ausgesagt werden kann. Daher können r und π nicht kategorial verschieden hinsichtlich S sein, was der Annahme widerspricht! Neben der Relation der kategorialen Verschiedenheit sind auch andere zentrale Begriffe in Freges Semantik aufgrund der kategorialen Natur von Freges Unterscheidungen zwischen Begriffen verschiedener Stufen und Gegenständen nicht adäquat ausdrückbar. So können keine Eigenschaften ausgedrückt werden, welche Begriffe und Gegenstände zu unterscheiden erlauben: Ausdrücke wie χ ist eine Funktion oder χ ist ungesättigt können nicht gleichermaßen von Gegenständen und Begriffen sinnvoll prädiziert werden, selbst dann nicht, wenn mit singulären Termen auf Begriffe referiert werden könnte. Auf derartige Schwierigkeiten weist bereits Sluga hin: Let us now call any distinction between two items a categorial distinction when there exists no predicate that can meaningfully be predicated o f each. Frege's system o f distinctions between objects, first-level, second-level, and third-level functions is then clearly a system o f categorial distinctions. It is a peculiarity o f categorial distinctions that they cannot be stated in the theory in which they obtain. [ . . . ] The s a m e conclusion can be reached for any other theory in which categorial distinctions are made. Russell's theory o f types in the form in which it is developed in Principia Mathematica (as a semantic rather than a merely syntactic theory) is a case in point. Kurt Gödel w a s the first to notice that this theory cannot be formulated in accordance with its own principles. The unstatability o f categorial distinctions does not make such distinctions illegitimate. It merely poses a problem o f how they can be explained and justified. 1 0

Zu Recht weist Sluga in diesem Zusammenhang auch auf Russells Typentheorie hin. Im Falle Russells können die kategorialen Unterscheidungen zunächst dadurch gerecht-

schiedenen Kategorien, wenn es einen B e g r i f f gibt, der nicht sinnvollerweise von beiden prädiziert werden kann. Ryle hatte dabei wohl im Sinn, dass etwa der Unterschied von Personen und Zahlen kategorialer Natur ist, da Sätze wie Caesar ist eine Primzahl sinnlos sind. Im Sinne Freges gehören aber sowohl Personen als auch Zahlen zur Kategorie Gegenstand, so dass Ryles Definition in diesem Zusammenhang unpassend ist. Ryles B e g r i f f von kategorialer Verschiedenheit hat zudem mit äußerst gravierenden Schwierigkeiten zu kämpfen; ein kurzer Überblick findet sich bei Kemmerling (1976), S. 781-783. 10

Sluga (1980), S. 143.

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fertigt werden, dass sie ermöglichen, die Paradoxien zu vermeiden. Im Gegensatz dazu ist die von Sluga in der zuletzt zitierten Passage aufgeworfene Frage, wie solche kategorialen Unterscheidungen zu rechtfertigen sind, im Falle Freges nicht mit einem Hinweis auf die Paradoxien zu beantworten, da die Paradoxien bei Freges Überlegungen zur Unterscheidung von Begriffen verschiedener Stufen und Gegenständen wie bereits erwähnt wohl gerade keine Rolle gespielt haben dürften. Daher stellt sich auch hier die Frage, ob Freges kategoriale Unterscheidungen berechtigt oder nicht lediglich mehr oder weniger willkürliche Artefakte seiner semantischen Überlegungen sind. Wie bereits im Falle von Freges These, auf Begriffe könne man nicht mit Namen referieren, scheint auch Freges zweites Motiv für die Anerkennung von Ausdrucksgrenzen letztlich einer sachlichen Grundlage zu entbehren. Frege scheint somit keinen wirklich guten Grund gehabt zu haben, an Ausdrucksgrenzen zu glauben. Wie steht es diesbezüglich mit Wittgenstein? Dieser setzte sich in seinem Tractatus wohl am vehementesten für die Existenz von Unausdrückbarem ein: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich. Es ist das Mystische." (TLP 6.522) Die Gründe, die Wittgenstein zu dieser Behauptung führten, sind allerdings (wie die meisten Fragen der Wittgenstein-Exegese) höchst strittig. Dass Wittgenstein zur Überzeugung gelangte, es gäbe Unausdrückbares, ist wenig verwunderlich, wenn man bedenkt, dass sowohl Frege als auch Russell mit ähnlichen Problemen rangen, also gerade die beiden Philosophen, die Wittgenstein während der Arbeit am Tractatus wohl am nachhaltigsten beeinflussten und deren Einfluss Wittgenstein als einzigem in seinem Vorwort Anerkennung zollte. Oft wird so auch Wittgensteins Behauptung als Konsequenz seiner Auseinandersetzung mit Freges Überzeugungen gedeutet. Wie soeben gezeigt werden sollte, unterstellte man Wittgenstein aber somit, dass seiner Behauptung von Ausdrucksgrenzen keine triftigen Gründe zugrunde liegen. Wohlwollender (und auch nachweislich eher im Sinne Wittgensteins) wäre demgegenüber eine Interpretation, die Wittgensteins Behauptung als Reaktion auf seine Beschäftigung mit Russells Typentheorie und somit letztlich als Reaktion auf die semantischen Paradoxien deutete. Eine solche Interpretation wurde etwa von Griffin (1964) vorgeschlagen und in Bromand (2001) detaillierter ausgearbeitet. Trifft diese Interpretation zu, gibt es auch nach Wittgenstein neben den semantischen Paradoxien keine weiteren Gründe, an Ausdrucksgrenzen zu glauben. Im Zusammenhang mit den ,frühen' Überlegungen zu Ausdrucksbeschränkungen bei Frege, Russell und Wittgenstein sei abschließend noch auf eine Besonderheit dieser hingewiesen. Im Gegensatz zu moderneren Überlegungen im Zusammenhang mit den semantischen Paradoxien scheinen Frege, Russell und Wittgenstein sich mit Grenzen des sprachlichen Ausdrucks abgefunden zu haben oder diese als nicht allzu gravierend oder rätselhaft empfunden zu haben. Eine Ursache dafür mag darin bestehen, dass alle drei Autoren meinen, dass das, was durch die wörtliche Rede nicht mitgeteilt werden kann, auf anderem Wege vermittelbar ist. Hier ziehen alle drei Autoren weniger direkte Ausdrucksformen als die wörtliche Rede zu Hilfe. Während Wittgenstein in radikaler Weise auf eine nichtsprachliche Informationsquelle in Form des Zeigens baut, glauben Frege und Russell sich auf weniger direkte und vermeintlich defizitäre Formen des

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sprachlichen Ausdrucks verlassen zu können. Während es sich bei Russell um die systematisch mehrdeutige Rede handelt (systematic ambiguity), ist es bei Frege die metaphorische Rede, die einen Ausweg aus dem expressiven Problem liefern soll. Wenn nach Frege etwa die Begriffe Gegenstand und Begriff unausdrückbar sind, meint er doch, dass es möglich ist, „darauf hinzudeuten, was gemeint ist" (Frege 1891, S. 30). In diesem Sinne räumt Frege auch ein, dass es sich bei Begriffen wie ungesättigt, die er zur Erläuterung der Diskrepanz von Gegenständen und Begriffen heranzieht, „nur [um] bildliche Ausdrücke" handelt, um dann fortzufahren: „aber ich will und kann hier ja nur Winke geben" (Frege 1892, S. 80). In einem entsprechenden Kontext vermerkt Frege: Ich muß mich darauf beschränken, durch einen bildlichen Ausdruck auf das hinzuweisen, was ich meine, und bin dabei auf das entgegenkommende Verständnis des Lesers angewiesen. (Frege 1904, S. 90)

Freges Bemerkungen legen nahe, dass er glaubt, dasjenige, was er nicht wörtlich ausdrücken kann, dem Leser dennoch auf eine ,bildliche' Art, etwa durch den Gebrauch metaphorischer Rede (wie im Falle von „ungesättigt") übermitteln zu können. Wie der erfolgreiche Gebrauch von Metaphern eine Interpretationsleistung auf Seiten des Hörers erfordert, ist auch Frege auf das „entgegenkommende Verständnis des Lesers" angewiesen. Frege scheint somit sein expressives Problem dadurch lösen zu wollen, dass er neben der wörtlichen Rede eine nicht-wörtliche bzw. metaphorische Redeweise postuliert, von der er zudem annimmt, dass es Sachverhalte gibt, die nur im Rahmen dieses metaphorischen bzw. nicht-wörtlichen Sprachgebrauchs ausgedrückt werden können.11 Während keine Zweifel daran bestehen, dass wir über metaphorische bzw. nicht-wörtliche Ausdrucksmöglichkeiten verfügen, ist allerdings die Existenz von Sachverhalten, die nur metaphorisch ausgedrückt werden können, mehr als umstritten.12 Vermutlich aufgrund von entsprechenden Überlegungen spielen solche weniger direkten Ausdrucksformen als die wörtliche Rede keine Rolle mehr in modernen Auseinandersetzungen mit den semantischen Paradoxien, auf die wir im Folgenden zu sprechen kommen wollen.

4. Neuere Entwicklungen: ParaVollständigkeit vs. Parakonsistenz oder: „The ghost of Tarski is still with us" Die Diskussion um die semantischen Paradoxien in den letzten Jahren wurde insbesondere durch die Arbeiten von J. C. Beall, Spandrels of Truth (2009), Hartry Field, Saving Truth from Paradox (2008), Tim Maudlin, Truth and Paradox (2004) sowie Graham Priest, Doubt Truth to be a Liar (2006b) bestimmt. Dabei hat sich die Debatte auf die

Siehe zur Erläuterung der ,Winke' bei Frege und zur Notwendigkeit eines entgegenkommenden Verständnisses auf Seiten der Leser auch Hogrebe (2001). Freges These scheint etwa John Searles Prinzip der Ausdrückbarkeit zuwiderzulaufen: ,,[d]as Prinzip, daß man alles, was man meinen, auch sagen kann" (Searle 1969, S. 34).

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Auseinandersetzung zwischen den so genannten paravollständigen und den parakonsistenten Ansätzen zugespitzt. Beide Ansätze ziehen aus den semantischen Paradoxien die Konsequenz, dass zentrale logisch-semantische Prinzipien aufgegeben werden müssen. Im Falle der paravollständigen Ansätze (wie im Falle von Field 2008) handelt es sich um das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten, dem zufolge jeder Satz der Form ρ oder nicht-p wahr ist. Parakonsistente Ansätze (wie Beall 2009 und Priest 2006a, 2006b) wollen demgegenüber das Prinzip ex contradictione quodlibet aufgeben, dem zufolge aus einem Widerspruch jeder beliebige Satz folgt. Dies ermöglicht es, einige Widersprüche, wie diejenigen, die sich aus den semantischen Paradoxien ergeben, einfach zu akzeptieren, ohne dabei gleich jeden Satz und somit auch jedes widersprüchliche Satzpaar akzeptieren zu müssen. Insbesondere Graham Priest vertritt die Position des so genannten Dialetheismus, dem zufolge es wahre Widersprüche gibt, also Sätze ρ derart, dass sowohl ρ als auch dessen Negation nicht-p wahr sind.13 Während die Position des Dialetheismus auf den ersten Blick absurd erscheinen mag, ergibt sie sich doch aus einleuchtenden semantischen Überlegungen, wie sie etwa in den späteren Werken Ludwig Wittgensteins (den Philosophischen Untersuchungen und den Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik) angestellt werden.14 Gemeinsam ist Fields paravollständigem und Priests parakonsistentem Ansatz, dass sie im Gegensatz zu Tarski Sprachen zulassen können, die über ihr eigenes Wahrheitsprädikat verfügen. Dies gelang bereits Saul Rripke in seiner Arbeit Outline of a Theory of Truth (1975). Kripke bemerkt in dieser Arbeit aber selbst, dass es ihm nicht gelungen sei, eine semantisch abgeschlossene Sprache zu konzipieren. So ist in einer der von Kripke ersonnenen Sprachkonzeptionen etwa der Lügnersatz wahrheitswertlos; dies kann in dieser Sprache allerdings nicht wahrheitsgemäß ausgedrückt werden. Insbesondere kann Kripke die metasprachlichen Begriffe, die er zur Beschreibung seiner Sprachkonzeptionen zum Teil neu konzipierte, nicht innerhalb der konzipierten Sprachen selbst ausdrücken, da andererseits neue, so genannte verstärkte Lügnerparadoxien drohen, die Gebrauch von Kripkes neu eingeführtem Vokabular machen. Somit hat es den Anschein, dass Kripke das Ausgangsproblem nur verschoben und nicht gelöst hat: Auf Tarkis Unterscheidung von Objekt- und Metasprache kann auch er nicht verzichten, was er in seiner viel zitierten Bemerkung „The ghost of Tarski is still with us" auch einräumt (Kripke 1975). Fields und Priests Arbeiten stellen gegenüber Kripkes Überle-

Grundlegend für die parakonsistente Logik ist die Einsicht, dass einige .gutartige' Widersprüche akzeptiert werden können, ohne dass dies zu einem trivialen logischen System führen muss. In einem solchen trivialen System wäre jeder Satz der zugrunde liegenden Sprache herleitbar — solche Systeme werden absolut inkonsistent genannt. Allerdings gibt es auch im Falle der parakonsistenten Logik ,bösartige' Widersprüche, die es zu vermeiden gilt (mehr davon später). Ist in einem Kalkül sowohl α als auch -ta herleitbar, heißt dieser einfach inkonsistent. Während im Rahmen der klassischen Logik absolute und einfache Inkonsistenz äquivalent sind, da dort die syntaktische Variante des ex contradictione quodlibet (α Λ -ία I- β) gültig ist, sollen parakonsistente Kalküle zwar einfach inkonsistent, aber nicht absolut inkonsistent sein. Vgl. diesbezüglich Bromand (2009), Kap. III.

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gungen nun insofern einen deutlichen Fortschritt dar, als sie erlauben, etwa den semantischen Status des Lügnersatzes angemessen in der Objektsprache zu beschreiben. Fraglich ist aber, ob sie das Ziel der semantischen Universalität erreichen oder ob sie nicht doch zur Vermeidung neuer verstärkter Lügnersätze die bei der Beschreibung ihrer Sprachkonzeptionen erforderlichen Begriffe ausschließlich in einer ausdrucksstärkeren Metasprache ausdrücken können. Im Falle von Fields Ansatz argumentiert Graham Priest (2005) für diese These. Im Falle von Priests Ansatz schien die entsprechende Behauptung u. a. durch Bromand (2002) erwiesen zu sein. Priest hat inzwischen versucht, diese Kritik zu entkräften (siehe Priest 2006a, Kap. 20.3). Im Folgenden möchte ich diese Kritiken Priests erörtern, um so zum gegenwärtigen Stand der Debatte zu kommen. Damit dieses Vorhaben verfolgt werden kann, müssen zunächst einmal die Umrisse von Priests parakonsistentem Ansatz kurz skizziert werden. Bei dem System LP („Logic of Paradox") nach Graham Priest handelt es sich um eine mehrwertige Logik im Sinne der sog. starken Kleene'sehen Wahrheitstafeln mit dem Unterschied, dass die wahrheitswertlosen Sätze der Kleene'sehen Wahrheitstafeln hier als wahr und falsch interpretiert werden. Eine Konjunktion ist so etwa wahr, wenn beide Konjunkte wahr sind, und falsch, wenn mindestens eines der Konjunkte falsch ist. Wahr und falsch ist eine Konjunktion, wenn beide Konjunkte wahr, mindestens eines der Konjunkte aber auch falsch ist (wie ζ. B. im Falle des Lügnersatzes). Da im Rahmen von LP Sätze mehr als nur einen Wahrheitswert besitzen können, beschreibt man die Semantik mit Hilfe einer Bewertungsrelation R anstatt mit einer Bewertungs/wn/ction; so werden die obigen Wahrheitsbedingungen der Konjunktion etwa folgendermaßen wiedergegeben: R{raAßn,

1)

R ( r a Λ / Γ , 0)

( r a n , 1) und R ( r / T , 1) R ( r a n , 0) oder R(rßn,

0)

Hinsichtlich der logischen Folgerung gilt: Σ Ν α genau dann, wenn für jede Bewertungsrelation R gilt: Wenn für alle β e Σ gilt, dass R( r /3 n , 1), dann gilt R ( r a n , 1). Damit gilt nicht für alle α, β: α Λ - Ί Α I=LP β· Problematisch im Rahmen dieser Semantik ist das materiale Konditional D. Fasste man α D β auf als ->α V ß, liefe der modus ponens auf den sog. disjunktiven Syllogismus hinaus und wäre somit nicht gültig'. ->α V β, α also β. Daher ergänzt man LP um einen (relevanten) konditionalen Junktor —> mit Mögliche-Welten-Semantik. Im Rahmen von LP kann nun das Wahrheitsprädikat sowie der Lügnersatz ausgedrückt werden und der resultierende Widerspruch stellt keine Gefahr dar. Allerdings sind nicht alle Widersprüche in LP gleichermaßen harmlos: Ein Beispiel ist der Satz „1 = 0" (wobei 1 wie üblich mit dem Wahrheitswert wahr, 0 mit falsch identifiziert wird). Da im Rahmen von LP jeder Satz (zumindest) einen der beiden Werte 1 und 0 besitzt, folgte mit 1 = 0 , dass jeder Satz wahr und falsch ist. Damit würde die beschriebene Sprache trivial, was der Dialetheist mit dem Verzicht auf die klassische Logik zugunsten einer parakonsistenten Alternative gerade vermeiden wollte.

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Sind im Rahmen von LP nun aber alle Ausdrucksschwierigkeiten beseitigt? Wie sich zeigen lässt, hat Priest das Problem nur verschoben und nicht gelöst. Zwar können wir das Wahrheitsprädikat in der zugrunde gelegten Sprache ausdrücken, zur Beschreibung der Sprache haben wir aber von weiteren Begriffen Gebrauch gemacht wie nur wahr oder nur falsch - und gerade diese Begriffe können in der Sprache von LP nicht ausgedrückt werden. Dies lässt sich durch einen indirekten Nachweis zeigen: Wäre es möglich, diese Begriffe auszudrücken, könnte ein verstärkter Lügnersatz gebildet werden, der von sich selbst besagt, er sei nur falsch. Mit Hilfe dieses verstärkten Lügnersatzes lässt sich dann der auch im Rahmen von LP nicht akzeptable Widerspruch herleiten, dass 1 = 0 ist bzw. dass jeder Satz wahr und falsch ist. Damit liefe der Dialetheismus auf die absurde Position hinaus, dass jede Aussage wahr ist. Der fragliche verstärkte Lügnersatz sagt von sich selbst aus, dass er nur falsch ist, und entspricht formal A+: (λ+)

Rel( r A + n , 0) Λ V* [Rel( r A +n , x)

* = 0]

Zur Herleitung von 1 = 0 wird nun lediglich das Prinzip benötigt, dass jeder Satz in LP nur wahr, nur falsch oder nur wahr undfalsch ist, im Folgenden kurz (*): (*)

( R e l ( r a n , 1) Λ Vjc [Rel( r a \ je)

* = 1]) V

( R e l ( r a n , 0) Λ Vx [Rel( r a n , x)

* = 0]) V

( R e l ( r a n , 1) Λ Rel( r aP, 0) Λ Vx [Rel(rQp, jc) -» {x = 1 V χ = 0)]) Nun kann ausgehend von diesem Satz mit Hilfe von A+ der Satz 1 = 0 hergeleitet werden: (*) hLp 1 = 0 (Bromand 2002). Dieses Ergebnis ist für LP fatal. Es zeigt, dass man auch im Rahmen einer entsprechenden formalen Sprache zwischen Objekt- und Metasprache unterscheiden muss und dass entscheidende Begriffe wie nur wahr oder nur falsch, die man zur Beschreibung der Sprache braucht, nur in einer ausdrucksstärkeren Metasprache ausgedrückt werden können. Damit hat Priests Ansatz aber sein Hauptziel verfehlt, nämlich die Ausdrucksschwierigkeiten der widerspruchsfreien Ansätze zu umgehen. Priest hat nun diesen Kritikansatz seinerseits einer Kritik unterzogen. Priests Einwände sind, wie sich zeigen wird, allerdings nicht erfolgreich. Zunächst einmal wendet Priest ein, dass nichts dafür spräche, (*) als Axiom zu akzeptieren: [Bromand] endorses (*) [...] If one does this, then the argument of course goes through; but there is no reason why one should endorse such an axiom. (Priest 2006a, S. 290)

Tatsächlich spricht wenig dafür, (*) als Axiom zu akzeptieren, wie Priest ganz richtig bemerkt. Allerdings ist (*) auch nicht als Axiom gedacht, sondern soll lediglich die wahre Aussage über Priests LP-Semantik zum Ausdruck bringen, dass dort jeder Satz nur wahr, nur falsch oder wahr und falsch ist. Priest selbst schlägt zur Formulierung dieses Prinzips demgegenüber das von ihm so genannte Trichotomie-?rmzip vor (Priest 2006a, S. 287): ((Τ( Γ α π ) Λ - i F ( r a n ) ) V ((Τ( Γ α π ) Λ F ( r a n ) ) V ( ( - Τ ( Γ α π ) Λ F ( r c f ) )

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Da das Trichotomie-Prinzip nicht ausdrückt, dass wahr (1) und falsch (0) die einzigen Wahrheitswerte sind, will Priest (2006a), S. 289, es ergänzen um das folgende Prinzip: Vx [Rel( r aP, x)

(x = 1 V * = 0)]

Selbst wenn aber das derart ergänzte Trichotomie-Prinzip adäquat ausdrückte, dass alle Sätze in LP nur wahr, nur falsch oder wahr und falsch sind, zeigte dies nicht, dass das stärkere Prinzip (*) falsch ist. Dabei müsste Priest sogar zeigen, dass (*) nur falsch ist, da man ausgehend von (*) auch dann „1 = 0" als wahr erweisen könnte, wenn (*) wahr und falsch ist. Es ist aber alles andere als klar, warum (*) nur falsch sein sollte (ein entsprechender Argumentationsansatz Priests scheitert offenkundig, wie wir gleich sehen werden). Selbst wenn Priests eigener Formulierungsversuch der Tatsache, dass jeder Satz in LP nur wahr, nur falsch oder wahr und falsch ist, also adäquat sein sollte (wogegen ich im Folgenden noch argumentieren werde), ist damit also keineswegs die Kritik in Bromand (2002) entkräftet. - Kommen wir nun zu Priests zweitem Einwand: Bromand notes that dialetheists are committed to the claim that every sentence is true only, false only, or both true and false; and he suggests that this is what (*) expresses. It does not; it is Trichotomy that expresses this fact. (Priest 2006a, S. 290)

Der Einfachheit halber betrachten wir nicht das von Priest erwähnte Trichotomie-Prinzip, sondern beschränken die Diskussion auf einen speziellen Fall: Beispielsweise drückt nach Priest etwa R e l ( r a n , 1) Λ Vx [Reife* -1 , *)

= 1]

nicht aus, dass α nur wahr ist, sondern: R e l ( r a n , 1) A -.Rel( r a~\ 0) Λ Vx [Rel( r a~\

=

Priest formalisiert „a ist nur wahr" hier aber in einer sehr unüblichen Weise: Seine Formulierung besagt „a ist wahr, nicht falsch, aber wahr oder falsch". Tatsächlich könnte man im Rahmen der klassischen Logik daraus den Schluss ziehen, dass α im obigen Sinne nur wahr ist. Allerdings ist die hier verwendete Schlussregel - der oben erwähnte disjunktive Syllogismus - im Rahmen von Priests Logik LP wie gesagt gerade nicht gültig. Wieso sollte man dann aber Priests Formulierung als adäquate Formalisierung von „a ist nur wahr" akzeptieren? Wie deviant Priests Formalisierung ist, zeigt etwa auch ein Vergleich mit der Kennzeichnungstheorie Bertrand Russells. Hier wird G[(w)Fx] (also „dasjenige x, das F ist, ist G") üblicherweise gelesen als: 3x [Fx Λ Vy (F'y —> χ = y) Λ Gx]. Auch hier wird die so genannte Eindeutigkeitsbedingung „nur χ ist F" formalisiert als Vy (Fy —> χ = y) und nicht im Sinne Priests. Priests Entgegnung auf die Kritik scheint mir somit ad hoc zu sein und sein eigener Formulierungsversuch von „a ist nur wahr" schlichtweg inadäquat. Priest versucht drittens zudem zu zeigen, dass die in Bromand (2002) verwendete Formulierung von „a ist nur wahr" (d. h. das erste Disjunkt von (*) oben) inadäquat ist, da sie falsch ist, wenn man sie auf einen wahren Satz ξ anwendet:

70

Joachim Bromand B y 'is only true', here, Bromand means V* [ R e l ( r » n , x) = [...] Indeed, it is not true for ξ by dialetheic lights. Since R e l ( r £ n , 1) is true and 1 = 0 is not, the conditional R e l ( r £ n , 1) — > 1 = 0 , and so Vx [ R e l ( r a n , x ) ^ x = 0], is not true. (Priest 2006a, S. 290)

Dieser Kritik liegt aber eine harmlose Verwechslung zugrunde: Priest verwechselt hier die formale Entsprechung von „a ist nur wahr" (ix [Rel( r aP, x) χ = 1]) mit der formalen Entsprechung von „a ist nur falsch" (Vx [Rel( r a n , χ) —> χ = 0]). Irrtümlicherweise findet sich im obigen Zitat die Letztere, obwohl Erstere gemeint ist. Setzt man für Letztere im obigen Zitat die adäquate erste formale Entsprechung ein, stellt sich das von Priest formulierte Problem nicht. In Bezug auf Priests Einwand gegen die Kritik in Bromand (2002) kann also festgehalten werden, dass Priests Einwände nicht erfolgreich sind: Nach allem, was wir bislang wissen, kann so auch LP keine semantisch universale Sprache ohne Ausdrucksgrenzen gewährleisten.

5. Fazit Zusammenfassend kann somit festgehalten werden: Von einem logischen Standpunkt aus betrachtet bilden die semantischen Paradoxien das triftigste bislang bekannte Motiv, um an Ausdrucksgrenzen zu glauben. Die Frage, ob die semantischen Paradoxien aber zwingende logische Gründe für die Existenz von Ausdrucksgrenzen darstellen, ist dabei jedoch noch nicht entschieden. Auf der einen Seite stellen die Versuche seit Tarski, sich mit den semantischen Paradoxien auseinanderzusetzen, stetige Verbesserungen und immer weitere Annäherungen an semantische Universalität dar. Auf der anderen Seite ist zu konstatieren, dass es nach wie vor keine Möglichkeit gibt, alle Ausdrucksbeschränkungen, die sich aus den semantischen Paradoxien ergeben, zu umgehen. Und die Vielzahl der gescheiterten Versuche, semantisch universelle Sprachen zu entwickeln, könnte als Evidenz - wenn auch induktiver Art - dafür gewertet werden, dass das Ziel der semantischen Universalität nicht erreicht werden kann. Jedoch bleibt der Zweifel bzw. die Hoffnung bestehen, dass alle bislang vorgeschlagenen Versuche, semantisch universelle Sprachen zu entwickeln - so verschieden sie auch sein mögen - , doch eine gemeinsame Charakteristik besitzen, die semantische Universalität verhindert. Ein nicht aussichtsloser Ansatz könnte etwa in der Verbindung verschiedener Ideen des paravollständigen und des parakonsistenten Ansatzes bestehen. Erste Überlegungen in eine solche Richtung finden sich etwa in Kapitel V, §10.4, von Bromand (2009). Allerdings sind weitere Untersuchungen erforderlich, um beurteilen zu können, ob mit dem dort skizzierten Ansatz oder anderen die Ausdrucksbeschränkungen, die sich aus den semantischen Paradoxien ergeben, letztlich überwunden werden können.

D A S N I C H T B E G R I F F L I C H E IN D E R L O G I K

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(1921/

Kritik der Urteilsform JOSEF SIMON

In der europäischen Philosophie gilt im allgemeinen das Urteil als Form der Wahrheit. Urteile gelten als das, was wahr oder falsch sein kann. Dieser Ansatz und die auf seiner Grundlage entstandene Wissenschaft versuchen vom Gegebenen in Urteilen oder Aussagesätzen zu sagen, was es in Wahrheit sei, indem sie, der grammatischen Form des Satzes gemäß, vom Subjekt als dem, was uns unter einer gewissen Bestimmung gegeben ist, zum Prädikat als seiner definitiven begrifflichen Bestimmung weitergehen. Die Kopula „ist" steht fur diesen Bezug auf das Sein. Dagegen spricht Kant von der Kopula des Urteils nur noch als von einem „Verhältniswörtchen", durch das „gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen" seien, so dass das Verhältnis empirischer Anschauungen zu einer Erkenntnis wird, die im Urteil objektive Gültigkeit gewinnt (KrV Β 141 f.). Die Kantische Kritik beruht auf der für sich trivialen Einsicht, dass es nicht möglich sei, Vorstellungen mit einem Gegenstand außerhalb unserer Vorstellungen zu vergleichen, d. h. mit etwas, von dem wir keine Vorstellung haben und das uns insofern nichts angeht. Schon wenn man fragt, was „Vorstellung" sei, kann die Antwort wieder nur eine Vorstellung sein. „Denn man müsste, was Vorstellung seil doch immer wiederum durch eine andere Vorstellung erklären." (Logik, S. 34) - Bezeichnend für diesen Zusammenhang ist dann auch die Position Wittgensteins. Der frühe Wittgenstein ging noch davon aus, dass der einzelne Satz für sich genommen objektiv gültig, also wahr oder falsch sein könne, aber unter der Voraussetzung, dass „die Welt [...] in Tatsachen" zerfalle (TLP 1.2). Der spätere Wittgenstein kritisiert diese Position ausdrücklich. In diesem Aufsatz geht es um die Differenz zwischen dem ontologischen bzw. propositionalen Verständnis der Wahrheit und der Kritik an diesem Verständnis. Dabei steht nicht die philosophiehistorische Entwicklung im Vordergrund, sondern der systematische Zusammenhang. Die entsprechenden philosophiehistorischen Positionen werden daher nur soweit zur Sprache kommen, wie es für die systematische Fragestellung notwendig ist. Am Anfang steht Nietzsche. Er formuliert seine Kritik an dem auf das Sein bezogenen Verständnis der Wahrheit in einer Radikalität, die sich, als Kritik an jedem Wahrheitsftegri/f, der rationalen Überlegung verschließt. Nietzsche spricht von einer Philosophie der Grammatik, die immer nur innerhalb eines bestimmten sprachlichen Rahmens als Form der Wahrheit verstanden werden kann. Dabei bezieht er sich auf Besonderheiten der Grammatik indoeuropäischer Sprachen (JGB, S. 34), die von

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der europäischen Philosophie statt nur als einzelsprachliche grammatische Formen, als Formen eines auf das Sein bezogenen Denkens verstanden worden seien. Nietzsche „definiert" Wahrheit, direkt oder indirekt, auf vielfache Weise, u. a. als „die Art von Irrthum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte" (N 11, S. 506). Das „vernünftige Denken" wird als ein Interpretieren nach einem mit der einzelsprachlichen Grammatik vorgegebenen ,JSchema" verstanden, „welches wir nicht abwerfen" könnten (N 12, S. 194). Die Bildung, als das persönliche sich Einbilden in kulturelle und sprachliche Schemata oder Lebensformen verstanden, ist dann die besondere Art der Lebensbewältigung. „Der Werth fur das Leben entscheidet zuletzt." (Ν 11, S. 506) Dieser Wert und nicht die Wahrheit wird zum leitenden Gesichtspunkt. Wir hörten nach Nietzsche auf „zu denken, wenn wir es nicht in dem sprachlichen Zwange thun wollen, wir gelangen gerade noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehn" (N 12, S. 193). Wegen der Notwendigkeit, im Denken wie im Sprechen sprachlichen Strukturen zu folgen, befürchtet Nietzsche sogar, wir würden „Gott" - als Inbegriff reiner Wahrheit gedacht - „nicht los, weil wir noch an die Grammatik" glaubten (GD, S. 78). „Gerade die Philosophen" wüssten sich, weil es ihnen um die Wahrheit gehe, „am schwersten" von dem „Glauben frei zu machen, daß die Grundbegriffe und Kategorien der Vernunft ohne Weiteres schon ins Reich der metaphysischen", d. h. allgemein bestimmenden „Gewißheiten" gehörten. Das schadete dem Leben am meisten. Von „Alters her" glaubten sie eben „an die Vernunft als an ein Stück metaphysischer Welt", und gerade in der Philosophie, die Vorurteilsfreiheit erstrebt, käme „dieser älteste Glaube wie ein übermächtiger Rückschlag immer wieder" zum Vorschein (N 12, S. 237f.). Nietzsche fragt in diesem Zusammenhang, ob aber nicht gerade „die Welt, die uns etwas angeht", „eine Fiktion" sei, und wenn einer fragte, ob zur Fiktion nicht ein Urheber gehöre, „dürfte dem nicht rund geantwortet werden: Warum? Gehört dieses ,Gehört' nicht vielleicht mit zur Fiktion?", und sei es „denn nicht erlaubt, gegen Subjekt, wie gegen Prädikat und Objekt nachgerade ein Wenig ironisch zu sein? Dürfte sich der Philosoph nicht über die Gläubigkeit an die Grammatik erheben?" (JGB, S. 54) - Schon die vorsokratischen Eleaten unterlagen nach Nietzsche „der Verführung ihres Seins-Begriffs: Demokrit unter Anderen, als er sein Atom erfand" (GD, S. 78). - Demnach wäre auch das Atom keine Realität, sondern eine Erfindung, die ohne den Glauben an die Grammatik mit ihrer Subjekt-Prädikatstruktur nicht möglich gewesen wäre. Die Voraussetzung einer allgemeinen Vernunft der Sprache wäre dann die größte Unvernunft. Damit stellt sich die Frage, wie und unter welchen Gesichtspunkten „der Philosoph" dies darstellen solle. Auch er muss sich in seinem Denken und in seinen Äußerungen einer besonderen Sprache mit ihren individuell erworbenen Gestaltungsmöglichkeiten bedienen. Der Mathematiker, Physiker und Philosoph Johann Heinrich Lambert geht in seinem 1764 erschienenen Neuen Organon von der pragmatischen Funktion der Sprache aus. Da die „wirklichen Sprachen" „so philosophisch nicht sind", dass in ihnen definitive Begriffsbestimmungen möglich seien, kann man nach Lambert nur „das hypothetische

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in der Bedeutung der Wörter" aufsuchen und zusehen, „wie die Bedeutung" festzusetzen sei, „weil dieses bey den sogenannten Nominaldefinitionen nothwendig wird", „die nicht ins unendliche können fortgesetzt werden" (Org I, Vorrede). Um zu einer vollständigen Definition zu gelangen, müssten auch die definierenden Wörter wiederum definiert werden, und man geriete dabei ins Unendliche. Jede Sprache biete uns aber nur „eine gewisse Anzahl Wörter an, mit deren mannichfaltigen Verbindung[en] wir uns lebenslang beschäftigen" (Org II, S. 5). Lambert teilt die Wörter in drei Klassen ein, deren erste „einfache Begriffe" enthält, die „gar keine Definitionen" fordern, „weil man die Sache selbst im Ganzen vorzeigen, und folglich Wort, Begriff und Sache unmittelbar mit einander verbinden kann". Die zweite Klasse umfasst die Wörter, die die der ersten „metaphorisch" machen, und erst die dritte Klasse enthält Wörter, die definiert werden sollen, „so fern man die Wörter der beyden ersten Classen dazu gebrauchen kann" oder „die Wörter der dritten Classe, die auf diese Art definirt sind, selbst wiederum zu Definitionen gebraucht" (Org I, Vorrede). Dass die „Anzahl der Wörter", über die wir verfügen, „ziemlich bestimmt" ist, „setzet unserer Erkenntniß" „gewissermaßen Schranken, und giebt derselben eine ihr eigene Form oder Gestalt, welche allerdings in die Wahrheit selbst einen Einfluß hat" (Org II, S. 5). Dieser individuelle Gebrauch lässt Lambert die Sprache mit einer „Democratic" vergleichen, „wo jeder dazu beytragen kann, wo aber auch alles, gleichsam wie durch die Mehrheit der Stimmen, angenommen oder verworfen wird" (Org II, S. 6). Auch bei Kant findet das Definieren seine kritische Grenze. Am Ende der Vorrede zur Kritik der Urteilskraft, seiner dritten und letzten Kritik, heißt es: Hiemit endige ich also mein ganzes kritisches Geschäft. Ich werde ungesäumt zum doktrinalen schreiten, um wo möglich meinem zunehmenden Alter die dazu noch einigermaßen günstige Zeit noch abzugewinnen. (KU, S. X)

Das „kritische Geschäft" hat einerseits die Funktion, die Grenzen objektiver Erkenntnis aus reiner Vernunft aufzuweisen und andererseits darauf zu verweisen, dass die Philosophie keinen Halt fände, wenn sie nicht bestimmte Definitionen ihrer Begriffe als definit bestimmt ansehen würde. Kant selbst bestimmt die philosophischen Begriffe nur soweit, wie es für das doktrinale Geschäft auf dem Boden der Kritik nötig ist. Die Philosophie wimmelt von fehlerhaften Definitionen, vornehmlich solchen, die zwar wirklich Elemente zur Definition, aber noch nicht vollständig enthalten. Würde man nun eher gar nichts mit einem Begriffe anfangen können, als bis man ihn definiert hätte, so würde es gar schlecht mit allem Philosophieren stehen. Da aber, soweit die Elemente (der Zergliederung) reichen, immer ein guter und sicherer Gebrauch davon zu machen ist, so können auch mangelhafte Definitionen, d.i. Sätze, die eigentlich noch nicht Definitionen, aber übrigens wahr und also Annäherungen zu ihnen sind, sehr nützlich gebraucht werden. In der Mathematik gehört die Definition ad esse, in der Philosophie ad melius esse. Es ist schön, aber oft sehr schwer, dazu zu gelangen. Noch suchen die Juristen eine Definition zu ihrem Begriffe vom Recht. (KrV Β 759 Anm.)

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Schon in seiner frühen Schrift Über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral schreibt Kant, „daß nichts der Philosophie schädlicher gewesen sei als die Mathematik, nämlich die Nachahmung derselben in der Methode zu denken, wo sie unmöglich kann gebraucht werden" (S. 283). Definitionen haben demnach ihren Wert in ihrer Nützlichkeit. Das gilt dann auch für Kants WahrheitsbegrifF. Auch das Wort „Wahrheit" ist zunächst nur ein „reizender Name" (KrV Β 294), der in der begrifflichen Offenheit seiner Bedeutung „viel zu denken" veranlasst (KU §49)/ Der Name steht hier, wie später auch bei Hegel, „für" einen Begriff, der nicht allgemeingültig zu Ende definiert werden kann und der dem Denken gerade dadurch seinen Spielraum lässt. Eingegrenzt wird dieser Spielraum innerhalb systematischer Zusammenhänge, in denen Begriffe als allgemeingültig definiert anzusehen sind. Kant bezeichnet es als „Unfug", Wörter, die ζ. B. innerhalb der Kritik der reinen Vernunft „selbst nicht wohl durch andere gangbare zu ersetzen sind", „auch außerhalb derselben zum öffentlichen Gedankenverkehr zu brauchen" (MS, S. 208). Bei allen Versuchen einer weiteren begrifflichen Bestimmung des Gegebenen muss es bei der Vorstellung einer Annäherung bleiben. Das setzt zumindest eine Analogie des angestrebten Begriffs zu dem zu begreifenden Gegenstand voraus bzw. „etwas", an das sich die Begriffe ad melius esse annähern sollen. Aber auch das ist unsere Vorstellung. Sie führt in die Problematik zurück, wie ein als transzendent gedachter Gegenstand überhaupt zu begreifen sein soll. Die kritische Philosophie schränkt den Begriff des Gegenstandes deshalb auf das ein, was uns an ihm etwas angeht und mit dem wir es zu tun haben. Insofern uns etwas unter einem bestimmten Begriff zu seiner besseren, dem aktuellen Zweck angemesseneren Bestimmung gegeben ist, kann es „Anschauung" genannt werden. Man kann aber auch sagen, es sei uns so gegeben, dass es uns etwas angeht, d. h. uns affiziert und zu einer Bestimmung motiviert, die uns als besser erscheint als die, unter der es uns unmittelbar gegeben ist. „Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, es ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselbe unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung." (KrV Β 33) Kant geht davon aus, dass wir zwar nicht wüssten, aber auch nicht zu wissen brauchten, „was die Dinge an sich sein mögen", weil uns „doch niemals ein Ding anders als in der Erscheinung vorkommen" kann (KrV Β 332f.). „Dinge" kommen mir, als Anschau-

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In diesen Zusammenhang stellen Wieland und Hogrebe die zentrale Stelle aus der Kritik der Urteilskraft über die ästhetische Idee bzw. das ästhetische Urteil. Darunter versteht Kant „diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann" (§49). Ästhetische Urteile sind daher, im Unterschied zu logischen, nicht „bivalent", d. h. nicht wahr oder falsch, sondern „monovalent". Das ästhetische Urteil ist ohne jeden Begriff zureichend, während das logische sich in seiner begrifflichen Vorläufigkeit wesentlich als unzureichend erweist. Vgl. Wolfgang Wieland (2001), S. 121, und Wolfram Hogrebe (2009), S. 87.

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ungsgegenstände, überhaupt nur in demselben Raum und in derselben Zeit vor, „darinnen ich mich befinde", (KrV Β 38) so dass mein Denken von meinem Standpunkt in Raum und Zeit aus auf Gegenstände bezogen ist. Ohne diesen Bezug auf unsere Befindlichkeit in Raum und Zeit gingen „Gegenstände" uns nichts an. „Denn alles unser Begreifen ist nur relativ, d. h. zu einer gewissen Absicht hinreichend, schlechthin begreifen wir gar nichts." (Logik, S. 65) „Ein allgemeines materiales Kriterium der Wahrheit" ist nach Kant „nicht möglich; es ist sogar in sich selbst widersprechend" (Logik, S. 50). Die semantische Unterscheidung von „Name" und „Begriff' wird in den folgenden Überlegungen wichtig. Die unter den gegebenen Umständen als hinreichend erscheinende Bestimmung eines Namens als eines vorläufigen Begriffs kann zur Orientierung „nützlicher" sein als ein als definit angesehener Begriff, der in den Dogmatismus führt, wenn nicht mit bedacht ist, dass seine Festlegung immer auch subjektiv bedingt ist. Der Versuch, einen Begriff dadurch als rein objektiv definiert zu beweisen, dass auch die definierenden Begriffe rein objektiv definiert werden, führte ins Unendliche. Jede Definition muss deshalb an einem als zweckmäßig erscheinenden Punkt subjektiv abgebrochen werden, nämlich dann, wenn sie unter den gegebenen Umständen als hinreichend deutlich erscheint. Auch die Kategorien des reinen Verstandes kann Kant unter kritischem Gesichtspunkt nicht rein objektiv definieren wollen. Wie er schreibt, überhebt er sich „geflissentlich" ihrer weiteren Definition, obgleich er „im Besitz derselben sein möchte". Er will diese Begriffe nur „bis auf den Grad zergliedern, welcher in Beziehung auf die Methodenlehre", die er bearbeite, „hinreichend" sei (KrV Β 108f.). Die „transzendentale Methodenlehre" der Kritik der reinen Vernunft handelt von den Definitionen unter der Voraussetzung der Kritik. Wenn wir ζ. B. verstehen wollen, wie synthetische Urteile a priori, also die Formen unserer sich auf Objekte beziehenden Urteilsbildung, als objektiv gültig zu denken seien, müssen wir „sagen", dass es so sei, wie der oberste Grundsatz aller synthetischen Urteile es voraussetzt. Wir müssen „sagen: die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt" seien „zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a priori" (KrV Β 197). Damit, dass wir dies sagen, verlassen wir nicht den sprachlichen Bereich, innerhalb dessen sich die philosophische Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori überhaupt stellt. Das gilt für die reinen Verstandesbegriffe und damit für die reinen Formen der Urteilsbildung. Von den empirischen Begriffen einer „besonderen Naturlehre", also von einer Einzelwissenschaft gilt, dass sie „abgesonderte, (obzwar an sich empirische) Begriffe" (MAN, S. 472) für ihren Bereich axiomatisch festlegt. Mit der Absonderung von der Bewegung der Begriffe im allgemeinen Sprachgebrauch ist vorausgesetzt, dass sie ihre wissenschaftlich definite Bedeutung nicht verändern. Sie stehen in ihrem empirischen Gehalt „für" ihre Bedeutung und werden damit zu Grundbegriffen der besonderen Wissenschaften. Daher ist nach Kant in einer empirischen Wissenschaft auch nur „so viel eigentliche Wissenschaft", „als darin Mathematik anzutreffen ist" (MAN,

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S. 470). Die objektive Gültigkeit mathematischer Begriffe beruht hier auf ihrer Konstruktion in reiner Anschauung. Die Philosophie bleibt dagegen offen für die Abgrenzung besonderer Gegenstandsbereiche der einzelnen Wissenschaften. Hegel schreibt dazu in seiner Logik, dass das „Einzige, um den wissenschaftlichen Fortgang zu gewinnen", „die Erkenntnis des logischen Satzes" sei, dass „das Negative ebensosehr positiv ist, oder daß das sich Widersprechende sich nicht in Null, in das abstrakte Nichts auflöst, sondern wesentlich nur in die Negation seines besondern Inhalts". Die bestimmte Negation erweist sich als „der höhere, reichere Begriff als der vorhergehende", weil sie „dessen Negation oder Entgegengesetztes" enthalte. In dieser Bewegung „hat sich das System der Begriffe überhaupt zu bilden" (Logik I, S. 35f.). Zu wissen, dass etwas ein bestimmtes anderes nicht ist, ist auch ein Wissen. Hegel stellt dann, im Anschluss an Kant, seiner „Logik" die Frage voraus, „womit" „der Anfang der Wissenschaft gemacht werden" müsse (Logik I, S. 51), d. h. wie man in die Bewegung hineinkomme, in der Begriffe ihre hinreichend bestimmte Bedeutung erhalten. Er kommt zu dem Ergebnis, dass mit dem Anfang anzufangen sei: Womit wir auch anfangen, es ist immer nur zufällig und nur für uns ein Anfang, und es ist deshalb zunächst „nur ein leeres Wort und nur Sein; dies Einfache, das sonst keine weitere Bedeutung hat" (Logik I, S. 63). „Bedeutung" findet es erst in dem System, dessen Anfang es ist. Auch in erkenntniskritischen Überlegungen müssen wir mit „etwas" anfangen, von dem wir noch keine Begriffe haben, sondern immer nur die Namen „für" oder „anstelle" der Begriffe. Unsere Anschauung ist, wie alles Empirische, standpunktgebunden. „Einer verbindet die Vorstellung eines gewissen Wortes mit einer Sache, der andere mit einer anderen Sache; und die Einheit des Bewußtseins, in dem, was empirisch ist, ist in Ansehung dessen, was gegeben ist, nicht notwendig und allgemein geltend." (KrV Β 140) Da wir aber auch von den Vorstellungen der anderen wiederum nur unsere Vorstellungen haben können, muss sich immer erst zeigen, ob die vorausgesetzte Einheit des Bewusstseins gegeben ist. Das hat praktisch-philosophische Konsequenzen. „Ohne noth" soll man nach Kant nicht urteilen (N 2588), auch wenn der „Hang zu urteilen" uns zum Urteilen verleitet. Nur wenn man „aus moralischen Gründen ein Urtheil fällen muß und nicht in suspenso bleiben darf: so ist dieses Urtheil nothwendig" (N, 2446). Kant unterscheidet die moralisch gebotene praktische Handlung des Urteilens von theoretisch notwendigen Urteilen, die aus axiomatisch vorausgesetzten Sätzen logisch abgeleitet werden, und dem „Hang zu urteilen". „Die Natur hat uns zwar viele Kenntnisse versagt", „aber den Irrthum verursacht sie doch nicht. Zu diesem verleitet uns unser eigener Hang zu urtheilen und zu entscheiden" (Logik, S. 54). Hegel fragt dann, ob man, wenn die „Besorgnis" bestehe, „in Irrtum zu geraten", nicht ebenso gut „umgekehrt" ein Misstrauen in das Misstrauen setzen solle. Die „Furcht zu irren" könnte selbst schon der Irrtum sein (Phän, S. 64). Ihr wäre, im Sinne der Aufklärung, der „Mut" entgegenzusetzen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen (WiA, S. 36). Selbst der Skeptiker kann die Sprache, über die er spricht, nicht zugleich

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in Frage stellen. Auch er muss sich mit abgebrochenen Begriffsbestimmungen, d. h. mit Namen im Hegeischen Sinne zufrieden geben, nach deren Bedeutung er unter den gegebenen Bedingungen nicht gefragt wird. Name und Begriff finden ihre Bedeutung bei Hegel in ihrer systematischen Unterscheidung. „Es ist in Namen, daß wir denken" (Enz, §462), und nicht in bereits festbestimmten Begriffen, die wir unseren Urteilen zugrunde legen könnten. Die „Form des Satzes oder bestimmter des Urteils" ist nach Hegel „ungeschickt, das Konkrete" auszudrücken, „und das Wahre" ist als solches „konkret". Das Urteil, in dem die Namen als Begriffe, also mit dem Anspruch auf Objektivität verbunden sind, ist bereits „durch seine Form", und nicht erst durch einen bestimmten Inhalt „einseitig und insofern falsch" (Enz, §31). Nach Hegel lässt sich die Wahrheit nicht im einzelnen Urteil darstellen, sondern erst in der Bewegung, in der sich einzelne Urteile zu einem System zusammenfugen, in dem sie - vorläufig - ihre Bedeutung finden. Die Zeichen und die bezeichneten Sachen gehen „einander nichts an", so dass sich im Gebrauch der Zeichen die Freiheit der Um- oder Weiterbestimmung erhält. In diesem Sinn ist der Name ein Sprachzeichen. Es ist „irgend eine unmittelbare Anschauung, die einen ganz anderen Inhalt vorstellt, als den sie für sich hat". Im Zeichenverstehen verschwindet die „unmittelbare Anschauung" ebenso unmittelbar, wie sie gegeben oder da ist. Sie kommt als solche überhaupt nicht zur Vorstellung. Das Zeichen ist „da", indem es, als unmittelbare Anschauung, unmittelbar verschwindet. Damit lässt es Raum für ein anderes Verstehen. Die Intelligenz gibt den Zeichen unmittelbar „einen andern Inhalt zur Bedeutung" (Enz, §458), so dass es von einem Standpunkt aus anders als von einem anderen Standpunkt aus verstanden werden kann. Damit ist es überhaupt erst ein Zeichen, das über die Differenz der Verstehenden hinweg verstanden werden kann. Ein Blick auf Humboldt könnte das verdeutlichen: „Keiner denkt bei dem Wort gerade und genau das, was der andre" dabei denkt. Jeder hat, auch vom Verständnis des anderen, immer nur sein eigenes Verständnis. „Erst im Individuum erhält die Sprache ihre letzte Bestimmtheit" (Humboldt, S. 65), und damit ist die „Wirksamkeit des Einzelnen" auch immer eine „abgebrochene" (Humboldt, S. 32). Die Sprache „baut wohl Brücken von einer Individualität zur andren und vermittelt das gegenseitige Verständniss; den Unterschied selbst aber vergrössert sie eher, da sie durch die Verdeutlichung und Verfeinerung der Begriffe klarer ins Bewußtseyn bringt, wie er seine Wurzeln in die ursprüngliche Geistesanlage schlägt" (Humboldt, S. 169). Das Zeichenverstehen ist hier zugleich die „zeichenerschaffende Tätigkeit" des individuellen Gedächtnisses, das es „überhaupt nur mit Zeichen zu tun hat" (Enz, §458). Das Ich bildet und erhält sich im Verstehen der Zeichen, indem es sich auf der Grundlage dessen, was es im Gedächtnis bewahrt, um eine für sich jetzt passendere Bestimmung bemüht. Die Bedeutung der Zeichen „haben" wir immer nur in anderen Zeichen, die wir entweder unmittelbar verstehen oder nach deren Bedeutung wir fragen. Die Antwort erhalten wir dann in anderen Zeichen, die zuletzt wieder unmittelbar verstanden werden müssen, wenn die Erklärung ein Ende und einen praktischen Sinn haben

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soll. Die Frage nach der Bedeutung kommt aus dem Nichtverstehen. Unmittelbar verstandene Zeichen haben keine, d. h. keine von ihnen verschiedene Bedeutung. So kann Hegel vom „Aufheben jenes Unterschiedes der Bedeutung und des Namens" sprechen (Enz, §463). Die als arbiträr verstandene Zeichenrelation hat ihre Bedeutung nicht in der Beziehung auf außersprachliche Gegenstände, von denen wir nichts wissen können und auch nichts zu wissen brauchen, sondern findet sie im Gedächtnis, in dem die Zeichen in ihren möglichen Beziehungen aufeinander aufbewahrt sind. „Das Gedächtnis ist auf diese Weise der Übergang in die Tätigkeit des Gedankens, der keine Bedeutung mehr hat, d. i. von dessen Objektivität nicht mehr das Subjektive ein Verschiedenes ist" (Enz, §464). Von daher ist dann auch Hegels eigentümliche Rede von einem Begriff zu verstehen, den das Bewusstsein nicht „hat", sondern der es selbst „ist". Nach diesem im System entwickelten Begriff vom Begriff, der sich als solcher nicht auf Objekte, sondern auf Personen und deren Verständnis von Objekten bezieht, ist der Begriff „individuelle Persönlichkeit". „Ich habe wohl Begriffe, das heißt" mehr oder weniger „bestimmte Begriffe; aber Ich ist der reine Begriff selbst, der als Begriff zum Dasein gekommen ist" (Logik II, S. 220). „Ich" ist die begrifflich nicht zu fassende Instanz, die die Bestimmtheit der Begriffe sowohl setzt wie in Frage stellt. Es kann selbst nicht definitiv begriffen, sondern nur bei seinem Namen genannt werden. Durch sein nur deiktisch zu bestimmendes Dasein, in dem es als Individuum anschaut und angeschaut, aber nicht begriffen wird, negiert es die Definitheit seines Denkens und seines Verstehens. Indem es sich selbst auf seine raumzeitlich begrenzte Befindlichkeit, auf seinen Standpunkt in Raum und Zeit bezieht, erfährt es die Vorläufigkeit jedes Denkens und aller Bestimmungen. Jede die Namen erklärende Explikation kann unter veränderten Umständen auch wieder „resümiert" werden, wenn das, ζ. B. der Verständigung wegen, einer besseren Übersicht über das Ganze hilft (Enz, §459). - „Das Einzige, um den wissenschaftlichen Fortgang zu gewinnen", ist auch in diesem Kontext „die Erkenntnis des logischen Satzes, daß das Negative ebensosehr positiv ist, oder daß das sich Widersprechende sich nicht in Null, in das abstrakte Nichts auflöst, sondern wesentlich nur in die Negation seines besondern Inhalts" (Logik I, S. 35f.). Insofern versetzt sich das „Ich" in die Freiheit einer weiteren Bestimmung der Namen, ad melius esse, ohne dabei ad esse, d. h. zu einer definitiven Begriffsbestimmung zu gelangen. Das Urteil ist nach Hegel die „Diremtion des Begriffs durch sich selbst" (Logik II, S. 266), seine ursprüngliche Teilung. Als analytische Aufteilung bzw. Auseinanderlegung ist sie „die am Begriffe selbst gesetzte Bestimmtheit desselben". Mit der grammatischen Unterscheidung von Subjekt und Prädikat teilt sich der Begriff auf: Das Subjekt sagt, wovon die Rede ist und das Prädikat, was hier und jetzt darüber ausgesagt wird. Rein für sich genommen ist der Begriff das „Abstrahieren" von dieser analytischen Funktion, so dass man sagen kann, das Urteil sei seiner logischen Form nach die Wahrheit des Begriffs. Es ist die Explikation der Bedeutung der in ihm verknüpften Begriffe, die, als „Fortbestimmung des Begriffes", zugleich auch ein „Fortgang des Urteils in die

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Verschiedenheit der Urteile" ist. „Das Urteil kann daher die nächste", aber doch nicht die letzte Realisierung des Begriffs genannt werden" (Logik II, S. 264). Insofern enthält es in sich „die beiden Selbständigen", welche in der Anlehnung an die Grammatik „Subjekt und Prädikat heißen". Damit sind sie aber noch nicht unter diesen Bezeichnungen begriffen. Es ist nach Hegel „passend und Bedürfnis, für die Urteilsbestimmungen diese Namen, Subjekt und Prädikat, zu haben; als Namen sind sie etwas Unbestimmtes, das erst noch seine Bestimmung erhalten soll; und mehr als Namen sind sie daher nicht" (Logik II, S. 265). Die Logik des Urteils bedient sich also selbst der Namen. Sie nimmt die grammatischen Termini Subjekt und Prädikat „für" die logische Analyse des Urteils. Das kann „passend und Bedürfnis" sein. Aber es ist deshalb noch keine objektive Bestimmung. Wir denken in Namen, die auch ohne Definition nützlich sein können, aber nicht in Begriffen. Der Begriff des Begriffs ist in diesem Kontext ein Grenzbegriff. Die Unterscheidung von Name und Begriff - und damit die Aufnahme des Namens in die philosophische Systematik im Unterschied zum Begriff - ist fur Hegel grundlegend. Schon das Subjekt des Urteils ist „zunächst nur eine Art von Name". Aber den ,J3egriff, oder wenigstens das Wesen und das Allgemeine überhaupt gibt erst das Prädikat, und nach diesem wird im Sinne des Urteils gefragt". Hegel verdeutlicht die systematische Bedeutung und die Reichweite dieser Unterscheidung in einem grundlegenden Beispiel: „Gott, Geist, Natur oder was es sei, ist daher als das Subjekt eines Urteils nur erst der Name; was ein solches Subjekt ist, dem Begriffe nach, ist erst im Prädikate vorhanden." Wenn jedoch „gesucht wird, was solchem Subjekte für ein Prädikat zukomme, so müßte für die Beurteilung schon ein Begriff zum Grunde liegen; aber diesen spricht erst das Prädikat selbst aus". Das Subjekt ist erst ein Name, dessen „Bedeutung" nicht mehr als eine vorausgesetzte „Vorstellung" ist. Gemäß der Arbitrarität der Zeichenrelation ist es „zufällig und ein historisches Faktum", „was unter einem Namen verstanden werde oder nicht". Streitigkeiten darüber sind dann „nichts mehr als Wortstreitigkeiten" (Logik II, S. 266). - Der Begriff ist im Urteil ursprünglich geteilt. Wenn das Prädikat über seine grammatisch unterscheidende Funktion hinaus begrifflich bestimmt werden soll, wird es im „Fortgang des Urteils in die Verschiedenheit der Urteile" zum Subjekt des folgenden Urteils. Mit dieser „Fortbestimmung" fügt sich das Urteil der Bewegung des Begriffs. Die praktische Bedeutung dieser philosophischen Reflexion zeigt, dass „das Wahre nicht [nur] als Substanz, sondern eben so sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken" sei (Phän, S. 19). Der Nominalismus ist in diesem Zusammenhang dadurch, dass sich die objektive Gültigkeit in der Negation vorgegebener Bestimmungen darstellt und das sich Widersprechende sich „nicht in Null, in das abstrakte Nichts auflöst", zugleich Realismus. „Das Prädikat, welches dem Subjekte beigelegt wird, soll ihm auch zukommen", unabhängig davon, dass es ihm subjektiv „beigelegt" wird. „Durch diese Bedeutung des Beilegens wird der subjektive Sinn des Urteilens und das gleichgültige äußere Bestehen

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des Subjekts und des Prädikats wieder aufgehoben." Dem folgt im Text eine überraschende Wendung: Hegel nennt „diese Handlung", also das nicht bloß als subjektiv, sondern zugleich als objektiv verstandene Verbinden von Subjekt und Prädikat schlechterdings „gut". Das ist ein /»raMsc/i-philosophischer Begriff. Als solcher bezieht er sich auf die Handlung, die das Zeichen verstehende Subjekt den „Begriffen" zuschreibt, die aber eigentlich erst durch die mit dieser Handlung des Subjekts vorausgesetzte Beziehung auf Objektivität Begriffe werden. Der Satz wird damit zum Begriffe verbindenden Urteil. Nur im grammatischen Sinne hat jenes subjektive", dem Zuschreiben entstammende „Verhältnis, in welchem von der gleichgültigen Äußerlichkeit des Subjekts und des Prädikats ausgegangen wird, sein vollständiges Gelten; denn es sind Worte, die hier äußerlich verbunden werden" (Logik II, S. 267). Die Zeichen haben, für sich genommen, mit dem Bezeichneten nichts zu tun und können deshalb auch nicht objektiv verbunden sein. Keine als wesentlich verstandene Begriffsbestimmung und damit auch keine Beurteilung von etwas kann demnach eine letztgültige Bestimmung der Wörter zu Begriffen sein. Deshalb kann nach Hegel auch „keine Philosophie" widerlegt werden. Was widerlegt wurde, sei „nicht das Princip dieser Philosophie, sondern nur dieß, daß dieß Princip das Letzte, die absolute Bestimmung sey" (SW, S. 67). Nach Hegels „Logik" besteht die Wahrheit des Urteils in der in ihm angelegten Form eines umfassenderen Zusammenhangs von Urteilen, sie sich gegenseitig bestimmen. Ihrer reinen Form nach bilden sie den logischen Schluss. Im Schluss tritt an die Stelle der „leeren" Urteilskopula der die Prämissen verbindende inhaltliche Mittelbegriff. Er ist „die erfüllte, oder inhaltsvolle Copula des Urteils" und damit die „wieder hervorgetretene Einheit des Begriffs" (Logik II, S. 308). Vorausgesetzt ist, dass die Bedeutung des Mittelbegriffs und der Prämissen identisch ist. Dadurch wird das Urteil zum Schluss. Im Mittelbegriff des Schlusses ist die formale Funktion der Kopula der einzelnen Urteile inhaltlich erfüllt. Das Subjekt schließt die logische Form mit seiner Vorstellung der äußeren Realität, in der es sich befindet, zusammen. Es sind zwar immer noch „Worte, die hier äußerlich verbunden werden" (Logik II, S. 267), aber Worte können so expliziert werden, dass davon ausgegangen werden kann, dass sie in der Verschiedenheit ihrer Bezeichnung „dasselbe" bedeuten. Die Differenz der Individuen und damit auch seine eigene Individualität erfahrt das Bewusstsein als „Entfremdung", die, wie es bei Hegel heißt, „allein in der Sprache" geschieht, die in dieser Funktion sogar „in ihrer eigentümlichen Bedeutung" auftritt (Phän, S. 362). Also nicht in der Mitteilung gleicher Vorstellungen, die wir nicht miteinander vergleichen können, sondern in der Entfremdung von der nicht aufzuhebenden Voraussetzung einer ursprünglichen Gleichheit liegt nach Hegel die „eigentümliche Bedeutung" der Sprache. Hegel spricht hier vom „Wort der Versöhnung": Es ist die Versöhnung unter Individuen, die als solche nicht davon ausgehen können, dass sie im Vernehmen bestimmter Wörter „dasselbe" verstehen. Es geht hier vielmehr darum, dass um des gemeinsamen Lebens und Handelns willen ad melius esse die passende Aus-

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drucksweise gefunden wird. Diese Einsicht gehört zum „Wesen" der sprachlichen Kommunikation. Nicht inhaltlich gleiche Vorstellungen, für die es kein allgemeines Kriterium geben kann, sondern das „Wort der Versöhnung ist der daseiende Geist, der das reine Wissen seiner selbst als allgemeinen Wesens in seinem Gegenteile, in dem reinen Wissen seiner als der absolut in sich seienden Einzelheit anschaut, - ein gegenseitiges Anerkennen, welches der absolute Geist ist." (Phän, S. 471) In diesem Geist kommt es nicht darauf an, dass die Einzelnen „dasselbe" verstehen. Hegel spricht daher auch vom gegenseitigen „Anschauen" und „Anerkennen". Es geht hier also nicht mehr, wie in allen vorausgehenden Stufen des Bewusstseins, um ein Anerkennen des einzelnen unter bestimmten Voraussetzungen, wegen besonderer Eigenschaften oder sozialer Funktionen, wie sie in der Phänomenologie des Geistes abgeleitet und systematisch überwunden werden, sondern um deren Aufliebung im Begriff eines absoluten und daseienden Geistes, in dem der Einzelne in seiner „in sich seienden Einzelheit" unterhalb des untersten Begriffs angeschaut und als Person anerkannt wird. Das Individuum bleibt „ineffabile". Die Welt, in der wir leben, ist die Welt, die uns etwas angeht. Da wir in einer gemeinsamen Welt leben und handeln, kommt es darauf an, dass wir trotz der unterschiedlichen Standpunkte und Vorverständnisse davon ausgehen können, dass wir dasselbe verstehen. Darauf beruht die Logik. Das kann jedoch immer nur eine Voraussetzung sein, die sich im gemeinsamen Handeln bestätigen oder auch aufheben kann. Das gegenseitige Anerkennen ist ein Anerkennen der Individualität der Einzelnen in ihrer Verschiedenheit unterhalb des untersten Begriffs. Im Sinne der Kritik des sich in der Form des Urteils darstellenden Wahrheitsbegriffs bedeutet der Begriff der Nichtpropositionalität die bestimmte Negation der Propositionalität. Er hebt sie in sich auf, und an die Stelle des Wahrheitsbegriffs, demgemäß die Formen des Urteilens als die Formen der Wahrheit gedacht und vorausgesetzt sind, tritt ein Wahrheitsbegriff, demgemäß „Wahrheit" sich in dem Geist dokumentiert, in dem die gegenseitige Anerkennung der „absolute Geist" ist. Die absolute Idee ist der „objektive Begriff, der als Person undurchdringliche, atome Subjektivität ist" und „in seinem Andern seine eigene Objektivität zum Gegenstande hat". Der andere ist, ebenso wie „ich", Person. Damit ist die absolute, d. h.: unbedingte Einheit von Subjektivität und Objektivität im Denken erreicht. „Alles übrige" sei „Irrtum", „die absolute Idee allein" ist „Sein" und „alle Wahrheit." (Logik II, S. 484) - Hegel ist sich jedoch dessen bewusst, dass auch dies seinen Ort und seine Zeit hat und dass die „Begriffe" in ihrem Gebrauch in Bewegung bleiben.

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Literatur Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, hrsg. v. Johannes Hoffmeister, Leipzig 1949 (= Phän). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Die Wissenschaft der Logik, hrsg. v. Georg Lasson, Erster Teil, Leipzig 21951, Zweiter Teil, Leipzig 1948 (= Log I, II). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen burg 1959 (= Enz).

Wissenschaften von 1830, Ham-

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Sämtliche Werke, hrsg. v. Hermann Glockner, Bd. 17, Stuttgart 1959 (= SW). Hogrebe, Wolfram: Riskante Lebensnähe, Berlin 2009. Humboldt, Wilhelm von: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1903-1936, Bd. VII. Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA Bd. VII (= Anth). Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff. (= AA). Kant, Immanuel: Handschriftlicher Nachlaß, AA Bd. XVI (Logik) (= N). Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (= KrV). Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft (= KU). Kant, Immanuel: Logik, hrsg. v. Gottlieb Benjamin Jäsche, AA Bd. IX (= Logik). Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten, AA Bd. VI (= MS). Kant, Immanuel: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, AA Bd. IV (= MAN). Kant, Immanuel: Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral, AABd. II. Kant, Immanuel: Was ist Aufklärung?, AABd. VIII (= WiA). Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon, in: Philosophische Schriften, Bd. I und II, hrsg. von H. W. Arndt, Hildesheim 1965 (= Org). Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung, KSA Bd. 6 (= GD). Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, KSA Bd. 5 (= JGB). Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli & Mazzino Montinari, 15 Bde., Berlin & New York: de Gruyter 1988 (= KSA) Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente, KSA, Bde. 11 und 12 (= N). Wieland, Wolfgang: Urteil und Gefühl, Göttingen 2001. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, in: Schriften, Frankfurt a. M. 1963 (= TLP).

Die Welt als konstitutiver Entzug MARKUS GABRIEL

Wolfram Hogrebes verschieden gelagerte Entwürfe einer Theorie des Nichtpropositionalen, von seinem frühen Ausgang von einer Theorie der spekulativen Dynamik archäologischer Bedeutungspostulate über seine wegweisende Schelling-Deutung bis hin zu seiner Mantik, die er jüngst im Hinblick auf den Begriff der szenischen Existenz des Menschen hin bereichert hat, zeichnen sich insgesamt durch einen kritischen Impetus aus.1 Gegenstand der Kritik ist jeglicher Versuch, einen bestimmten Gegenstandsbereich oder gar den „Bereich aller Bereiche"2, die Welt, vollständig begrifflich zu explizieren. Auf die eine oder andere Weise, so Hogrebe, bleibe immer ein nicht einholbarer, nicht explizierbarer Rest, dessen konstitutiver Abwesenheit sich die Dynamik der Strukturbildung eines begrifflich explizierbaren Bereichs erst eigentlich verdanke. In seinem gleichnamigen Aufsatz hat er dafür den - kaum zufällig nicht metaphernfrei darzustellenden - Begriff der „orphischen Bezüge" geprägt.3 Orphische Bezüge sind solche, die nur dadurch zustande kommen und aufrechterhalten werden können, dass man sich ihnen nicht reflexiv vergewissernd eigens zuwendet. In diesem Sinne scheint etwa Selbstbewusstsein ein orphischer Bezug zu sein: Die Struktur unserer Zuwendung zu Gegenständen, d. h. Bewusstsein im Sinne der klassischen Theorien der Intentionalität, lässt sich nicht selbst vollständig als Gegenstand unter anderen abbilden, da das dadurch zustande kommende Bild des Bewusstseins seinerseits unter Bedingungen seiner Aufrechterhaltung steht, die zum Gegenstand einer wiederum höherstufigen Theoriebildung gemacht werden müssten usw. ad infinitum. Und dennoch sind wir imstande, uns unserer selbst als Wesen zu vergewissern, die auf Gegenstände Bezug nehmen, ohne dass wir jemals vollständig explizieren könnten, unter welchen Bedingungen dies möglich ist und ob diese Bedingungen auch nur in einem einzigen Fall erfüllt sind. Die Bedingungen unserer Bezugnahme auf Gegenstände, die freilich je nach Gegenstandsbereich durchaus differieren, lassen sich nicht zum Gegenstand einer Bezugnahme machen, welche die Bedingungen unserer Bezugnahme einschließlich der Bedingungen ihrer selbst explizierte. Dennoch sind wir vemittels unzähliger nichtbegrifflicher Formen der Selbstzuwendung mit uns selbst vertraut. Dazu gehört insbesondere die Kreation von Selbstbildern im Medium der Kunst, das Hogrebe stets beschäftigt hat. Denn im Kunstwerk begegnen wir uns selbst, unseren histo-

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Vgl. Hogrebe (1977), (1989), (1992a), (2009). Heidegger (2004), S. 270. Hogrebe (2006), S. 144-155.

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risch gewachsenen Bedingungen der Bezugnahme auf Gegenstände, die einem ständigen Wandel unterworfen sind, im Kunstwerk aber gewissermaßen zur Welt kommen, ohne deswegen begrifflich explizit zu sein. In meinem Beitrag zu Ehren von Hogrebes Schaffen möchte ich anhand des Weltbegriffs zeigen, dass es Gegenstände überhaupt nur unter der Bedingung eines konstitutiven Entzugs gibt. Dieser konstitutive Entzug lässt sich in keiner bestimmten Begrifflichkeit einholen. Im Medium wissenschafitlicher oder an formaler Logik orientierter Begrifflichkeit zeigt sich der konstitutive Entzug der Welt allenfalls als Paradoxie. Paradoxien zeigen häufig an, dass unsere diskursive Rationalität spätestens dort an ihre eigenen Grenzen stößt, wo sie sich in der Anstrengung einer ultimativen Selbstvergewisserung auf sich selbst richtet.4 Nicht zufällig entspringen viele berühmte Paradoxien etwa der Mengenlehre, der Semantik oder der Erkenntnistheorie genau dann, wenn die Operation der Selbstanwendung zugelassen wird. Diese lässt sich dann zwar ad hoc verbieten, aber letztlich nicht vermeiden, da die Paradoxie-generierenden Funktionen isoliert zulässig sind und ihre Kombination nur deswegen ausgeschlossen wird, weil sie unerwünschte Resultate zeitigt.5 Im folgenden werde ich mich von XXKXKWtot her« see the verschiedenen Seiten dem Thema des Nichtpropositionalen am Beispiel des Weltbegriffs nähern. Zunächst (1.) möchte ich zeigen, dass das Außenwelt- ein ungleich gewichtigeres Innenweltproblem impliziert und dass beide Probleme auf eine Paradoxie des WeltbegrifFs verweisen. Sodann (2.) werde ich daraus einige Konsequenzen für den postmetaphysischen Status der Welt ziehen; (3.) werde ich mit einigen Mutmaßungen über die Welt und die Anderen enden. seeim to b e constructed ( w t * n you can Older front t h e p a n s not yet read and t h e locations nut yet seen.

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Dies habe ich am Beispiel skeptischer Paradoxien ausfuhrlich zu zeigen versucht in: Gabriel (2008). Vgl. dazu neuerdings ausführlich Koch (2006).

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1. Außenwelt, Innenwelt, Welt Viele zeitgenössische Erkenntnistheoretiker betrachten das Außenweltproblem als Grundproblem der Erkenntnistheorie.6 Dieses resultiert von der Antike an bis hin zu allen neuzeitlichen Wiederauflagen seit Descartes aus der Frage, wie eine begrifflich und mithin durch semantische Regeln bestimmte Vorstellung mit einem nicht-begrifflich bestimmten Gegenstand in der sogenannten Außenwelt „übereinstimmen" kann bzw. wie wir sicherstellen können, dass eine solche „Übereinstimmung" auch nur in einem einzigen Fall tatsächlich besteht. Die Einseitigkeit der Fragestellung wird bereits daraus ersichtlich, dass weder der Unterschied von Außen und Innen hinreichend geklärt oder auch nur thematisiert wird noch - und darin sehe ich mit Kant das tieferreichende Problem - der Weltbegriff in Frage steht, der nun einmal im Begriff einer Außen weit enthalten ist. Kant hat als erster deutlich darauf hingewiesen, dass unsere Formen der Zuwendung zu Gegenständen (welcher Art auch immer diese sein mögen, spielt dabei gar keine Rolle) diese bereits auf eine bestimmte und d. h. nicht alternativenlose (und mithin kontingente) Weise in unseren Horizont einblenden.7 Menschen sind mit bestimmten, konstitutiv endlichen Registraturen ausgestattet, die ihnen Gegenstände immer nur in einer bestimmten Form erschließen. Diese - bereits wohl nicht paradoxiefrei artikulierbare - Beobachtung gilt auch für unsere Projekte im Bereich der Selbsterkenntnis. Denn für wen wir uns jeweils selbst halten, wie wir uns in den Wirklichkeiten einer Außen- und Mitwelt erfahren und d. h. begrifflich verorten, zeigt jeweils nur an, wie wir uns erscheinen, nicht aber notwendig, wie wir an uns selbst sind. Das Selbst wird damit bekanntlich von einer substantielle Einheit garantierenden Seele za einem verfehlbaren Gegenstand unter anderen degradiert. Die erkennbare Welt und das erkennbare Selbst werden zu epistemisch gleichberechtigten Gegenständen der Bezugnahme und d. h. zu umständlichen Konfigurationen von Sachverhalten, zu denen wir keinen Wahrheit garantierenden Zugang haben können. Damit wird die Cartesische epistemische Asymmetrie von Geist und Welt aufgehoben. Die Innenwelt des Geistes ist uns nicht bekannter (notior) als die Außenwelt, sondern wir sind uns selbst ebenso ein Rätsel wie alles andere.8 Kant hat also gezeigt, dass das Außenwelt- ein Innenweltproblem nach sich zieht, indem er darauf hingewiesen hat, dass auch die Struktur unserer Bezugnahme auf Gegenstände qua Gegenstand der Bezugnahme impliziert, dass wir uns selbst nur als Erscheinungen, nicht aber als Dinge an sich erkennen können.9 Daraus hat er allerdings 6 7

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Paradigmatisch und einflussreich ist die Studie von Stroud (1984). Zur Unabdingbarkeit der Kontingenz unserer Registraturen bei Kant vgl. ausfuhrlicher: Gabriel (2010) (i. Ersch.). Dagegen war es bekanntlich das Beweisziel der 2. Meditation, dass die mens humana notior quam corpus sei. KrV, Β 69. Vgl. auch KrV, Β 153-159; Β 428-432, wo Kant „die Lehre von unserer Selbstanschauung, als Erscheinung" verteidigt.

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noch nicht geschlossen, dass auch die transzendentale Reflexion möglicherweise keine Kategorien an sich entdeckt, sondern ebenfalls nur Kategorien, wie sie uns erscheinen. Diese zusätzliche Reflexion hat wohl Hegel als erster angestellt. Als ein systematisch relevantes Ergebnis im Geiste der Kantischen Revolution lässt sich festhalten, dass wir uns auf Gegenstände überhaupt nur dann beziehen können, wenn ein Objektivitätskontrast zwischen Bezugnahme und Gegenstand besteht. D. h. Wahrheit und Fürwahrhalten müssen potentiell divergieren können, wenn wir uns auf einen Gegenstand zu beziehen beabsichtigen.10 Aus diesem Grund muss ein „transzendentales Objekt" als „unbekanntes Etwas" (KrV, Β 312) angenommen werden, damit die für Objektivität konstitutive Lücke zwischen Bezugnahme und Bezugsgegenstand eröffnet werden kann.11 Diese Lücke gilt offensichtlich nicht nur für unsere Bezugnahme auf Gegenstände in der sogenannten Außenwelt, sondern eben auch für unsere Bezugnahme auf uns selbst, auf unsere mentalen Zustände sowie für die Erkenntnis der Struktur von Bezugnahme überhaupt. Eine infallible Theorie der Intentionalität, die mit unverbrüchlicher Gewissheit etwa durch logische Analyse des Begriffs der Intentionalität darlegen wollte, was Intentionalität eigentlich ist, kann prinzipiell nicht gelingen, weil sie gar keine Theorie mehr wäre. Ihr fehlte jeglicher Anhalt an einem Gegenstand, weil ihr Fürwahrhalten mit ihrer eigenen Wahrheit zusammenfiele. Vor dem skizzierten Hintergrund sieht man, dass die gegenwärtige Erkenntnistheorie das Außenweltproblem nicht nur überbewertet, sondern die eigentlichen Konsequenzen des Problems gar nicht im Blick hat. Das Problem ist nicht so sehr, wie es möglich ist, aus unseren privaten Episoden aussteigen zu können, um diese mit an sich bestehenden, raumzeitlich ausgedehnten Gegenständen zu vergleichen, sondern vielmehr, welche justifikatorischen Standards wir jeweils für hinreichend halten, um zu sagen, wir hätten in diesem oder jenem Fall optimal wahrheitsfahige Überzeugungen über einen Gegenstand oder Gegenstandsbereich. Das eigentliche Problem besteht also darin, dass uns die eingespielten Standards und Regelsysteme, die einen Gegenstandsbereich freigeben, in ipso actu operandi und d. h. in unserer gegenständlichen Ausrichtung gar nicht verfügbar sind.12 10 11

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Vgl. dazu Gabriel (2008), §§9f. Vgl. etwa KrV, A 250f.: „Alle unsere Vorstellungen werden in der Tat durch den Verstand auf irgend ein Objekt bezogen, und, da Erscheinungen nichts als Vorstellungen sind, so bezieht sie der Verstand auf ein Etwas, als den Gegenstand der sinnlichen Anschauung: aber dieses Etwas ist in so fern nur das transzendentale Objekt. Dieses bedeutet aber ein Etwas = x, wovon wir gar nichts wissen, noch überhaupt (nach der jetzigen Einrichtung unseres Verstandes) wissen können [...]. Dieses transzendentale Objekt lässt sich gar nicht von den sinnlichen Datis absondern, weil alsdenn nichts übrig bleibt, wodurch es gedacht würde. Es ist also kein Gegenstand der Erkenntnis an sich selbst, sondern nur die Vorstellung der Erscheinungen, unter dem Begriff eines Gegenstandes überhaupt, der durch das Mannigfaltige derselben bestimmbar ist". Dies ist m. E. auch der Grundgedanke von Wittgensteins Über Gewißheit. Wittgenstein verwischt die Grenze zwischen empirischen und apriorischen Sätzen, indem er darauf hinweist, dass es Sätze gibt, die ein bestimmtes Überzeugungssystem regulieren, relativ auf welches sie deshalb a priori sind, die aber relativ auf ein anderes Überzeugungssystem fragwürdig erscheinen. Diesen

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Das Außenwelt- führt also auf ein Innenweltproblem in dem Augenblick, in dem wir einsehen, dass die Formulierung des einen die Formulierung des anderen ermöglicht. Doch damit nicht genug. Es gilt, darüber hinaus an eine Beobachtung Heideggers zu erinnern, die bisher in der Erkenntnistheorie systematisch kaum fruchtbar gemacht worden ist. Heidegger weist in seiner Destruktion des Cartesianismus darauf hin, dass die Erkenntnistheorie insgesamt das Weltphänomen „überspringt".13 Dies ist umso merkwürdiger, als sie sich einem Außenwe/iproblem konfrontiert sieht, das sie seit Descartes zu lösen bzw. aufzulösen sucht. Heideggers Beobachtung lässt sich unabhängig von seinen eigenen Konklusionen folgendermaßen systematisch rekonstruieren und fruchtbar machen. Alles, was es gibt, ist für uns nur dadurch etwas Bestimmtes, dass wir ihm Prädikate zuschreiben. Prädikate teilen einen logischen Raum in einiges ein, was unter sie fällt, und schließen anderes aus, was nicht unter sie fällt. Auf diese Weise generieren sie einen Gegenstandsbereich. Ζ. B. generiert das Prädikat ... ist eine brasilianische Großstadt den Gegenstandsbereich brasilianischer Großstädte, der sich offenkundig von der Flora und Fauna des Amazonas, der argentinischen Literatur oder der Farbe Lila unterscheidet. Alles, was es gibt, alles, was existiert, kommt in einem oder mehreren Gegenstandsbereichen vor. Deswegen stimme ich mutatis mutandis Freges Beobachtung zu, dass Existenz keine Eigenschaft von Gegenständen, sondern von Begriffen ist, nämlich die Eigenschaft, nicht mit der leeren Menge identisch zu sein.14 Existenz ist die Eigenschaft eines Gegenstandsbereiches, dass einiges in ihm vorkommt. Doch damit nicht genug, existieren offensichtlich nicht nur Gegenstände, sondern eben auch Gegenstandsbereiche. Es gibt den Gegenstandsbereich der Physik, das raumzeitlich ausgedehnte Universum ebenso wie den Gegenstandsbereich der Kunstgeschichte, etwa die neapolitanische Malerei des Seicento. Aus diesem Grund kann man auch nicht dabei bleiben, dass die Welt oder die Außenwelt die „Gesamtheit des Räumlichen"15 oder die Gesamtheit aller Dinge ist. Denn es gibt nicht nur Dinge, wie der Außenweltbegriff mit seiner Annahme von Beobachter-unabhängig herumstehenden Gegenständen im Weltbehälter suggeriert, sondern auch und v. a. Gegenstandsbereiche, Gedanken hat Quine bekanntlich in Two Dogmas of Empiricism gegen die synthetisch/analytisch-Distinktion ins Feld geführt. Vgl. etwa Sein und Zeit, §14. Vgl. dazu etwa Frege (2001), S. 1-22, bes. S. 3: „In den Sätzen ,Es gibt Menschen' und ,Es gibt keine Zentauren' findet auch eine Klassifikation statt. Sie klassifizieren aber nicht das Ding, das in dem einen Falle gar nicht da ist, in dem anderen nicht in eine von zwei Klassen eingereiht wird, sondern Sie klassifizieren die Begriffe ,Mensch' und ,Zentaur', indem Sie den einen in die Klasse von Begriffen bringen, unter die etwas fallt, den anderen von dieser Klasse ausschließen. Deshab meine ich, daß in diesen Sätzen die Begriffe die sachlichen Subjekte sind". Dies ist Freges beiläufige Erklärung des Begriffs der „Außenwelt" in Frege (1990), S. 99: „Die Zahlgesetze werden nicht [...] eine praktische Bewährung nöthig haben, um in der Aussenwelt anwendbar zu sein; denn in der Aussenwelt, der Gesammtheit des Räumlichen, giebt es keine Begriffe, keine Eigenschaften der Begriffe, keine Zahlen. Also sind die Zahlgesetze nicht eigentlich auf die äussern Dinge anwendbar: sie sind nicht Naturgesetze".

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ohne die es gar keine Dinge gäbe, da Existenz eine Eigenschaft von Gegenstandsbereichen, nicht aber von Dingen ist. Deshalb ist - beiläufig gesagt - die Welt auch nicht mit dem Universum identisch, mit welcher Einsicht sich jeder naturalistische Übergriff auf den Geist und die Geisteswissenschaften eigentlich erübrigen sollte. Dinge kommen in Gegenstandsbereichen vor und sind dadurch bestimmt. Gegenstandsbereiche kommen in der Welt vor und sind dadurch bestimmt. Nun sieht es also so aus, als ob die Welt der „Bereich aller Bereiche" wäre, um Heidegger noch einmal meine Stimme zu leihen. An diesem Punkt stellt sich allerdings die Frage, wie es sich mit der Welt selbst verhält? Kann man von der Welt sagen, sie existiere? Existierte die Welt, so käme sie ex hypothesi in einem Gegenstandsbereich vor. Damit wäre ein höherstufiger Gegenstandsbereich individuiert, in dem die Welt neben irgendetwas Anderem, irgendeinem anderen Gegenstandsbereich vorkäme. Doch die Welt kann in keinem höherstufigen Gegenstandsbereich vorkommen, weil sie bereits der Bereich aller Bereiche ist. Folglich existiert die Welt selbst nicht. Diese paradox anmutende Einsicht kann man mit dem Slogan zum Ausdruck bringen, dass die Welt in der Welt nicht vorkommt. Wir spezifizieren die Welt nicht im Unterschied zu irgendetwas Anderem, es sei denn, man wollte das Nichts als irgendetwas Anderes gelten lassen, worauf ich mich vorerst nicht einlassen möchte.16 Und selbst wenn man versuchen wollte, die Welt als allumfassende Menge aufzufassen, um sie damit von der leeren Menge zu unterscheiden, ergäbe sich immer noch das Problem, dass es die leere Menge gibt, dass sie in der Welt vorkommt und mithin nicht von der Welt unterschieden werden kann.17 Die Welt existiert also nicht. Auch darin unterscheidet sie sich offensichtlich vom Universum, dem Gegenstandsbereich der Physik. Damit man vom Universum sagen kann, es existiere, muss es sich von anderen Gegenstandsbereichen unterscheiden lassen können, es muss also in diesem Sinne in der Welt vorkommen. Auf diese Weise impliziert die Beobachtung, dass die Welt nicht existiert, alles Existierende aber dennoch allererst freigibt, u. a. das Scheitern des Physikalismus. Versteht man nämlich unter „Physikalismus" die These, dass alles, was es gibt, letztlich in den Gegenstandsbereich der Physik fällt, so ergibt sich, dass der darin enthaltene Reduktionismus übersieht, dass er das Universum mit der Welt verwechselt und folglich die Existenz desjenigen Gegenstandsbereiches, auf den er sich zu beziehen beabsichtigt, selbst unterminiert. Das raumzeitlich ausgedehnte Universum, dessen strukturbildende Gesetze Gegenstand 16

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Diese Option entspricht Heideggers Begriff der „Transzendenz" als „Sichhineinhalten in das Nichts". Vgl. Heidegger (1998), S. 72: „Nur wenn das Gegenstehenlassen von [...] ein Sichhineinhalten in das Nichts ist, kann das Vorstellen anstatt des Nichts und innerhalb seiner ein nichtNichts, d. h. so etwas wie Seiendes begegnen lassen, falls solches sich gerade empirisch zeigt." Darüber hinaus hat Alain Badiou unter Rekurs auf Cantors Begriff des Transfiniten plausibel gemacht, dass es keine allumfassende Menge geben kann, da sich zu jeder Menge, auch zu einer unendlichen, eine Potenzmenge bilden lässt, die im Sinne Cantors mächtiger als die unendliche Ausgangsmenge ist. Deswegen fasst Badiou „Sein" als transfinite Proliferation auf Vgl. dazu Badiou (1988).

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naturwissenschaftlicher Theoriebildung sind, kann gar nicht in den Rang eines singulare tantum erhoben werden, ohne dadurch als Gegenstandsbereich aufgehoben zu werden. Ohne Pluralität von Gegenstandsbereichen gibt es überhaupt keine Gegenstandsbereiche. Diese Pluralität setzt gleichzeitig einen Bereich voraus, in dem sich die vielen Gegenstandsbereiche voneinander unterscheiden und damit aufeinander beziehen können. Hogrebe hat dafür den Terminus „Distinktionsdimension" geprägt. Er führt damit einen Raum ein, „den jede Unterscheidung, die wir treffen, spaltet". Jede Einführung von basalen Unterscheidungen nimmt diese Distinktionsdimension in Anspruch. Sie lässt sich daher von anderen Räumen nicht mehr unterscheiden, ja kann überhaupt nicht positiv gekennzeichnet werden, und doch brauchen wir sie, weil wir sonst kein Universum durch unsere Unterscheidungen erzeugen könnten. Sie ist der semantisch völlig diaphane Hintergrund aller semantischen Kontraste, transzendentale Bedingung ihrer Möglichkeit. 18

An diesem Punkt stellt sich nun nicht nur ein Darstellungsproblem ein, weshalb Hogrebe immer wieder auf Gestalten informellen Wissens unterhalb der begrifflichen Bestimmtheit zurückgreift. Denn wie kann man überhaupt von der Distinktionsdimension sprechen, ohne sie dadurch bereits zu einem Gegenstand und mithin zu etwas unter anderem zu machen? Wäre die Distinktionsdimension aber etwas unter anderem, so wären wir lediglich einem weiteren Gegenstand begegnet. Deshalb gibt Hogrebe auch immer wieder „Winke" verschiedener Art, um auf diese Weise dem konstitutiven Entzug Rechnung zu tragen, der sich in immer anderen Gestalten zeigt, in keiner einzigen aber fixiert werden kann. Philosophische Bezeichnungen für diesen ultimativen Hintergrund sind ζ. B. ,das Absolute', ,das Sein', ,das Nichts', ,das Eine', ,Sinn', ,Εη-Sof, etc., aber diese Worte sind im Grunde belanglos, da sie nichts mehr regulär bezeichnen, sondern wie Variable, mit Frege gesprochen, nur noch unbestimmt andeuten, wovor wir nur bezeichnen können.19

Neben dem Darstellungsproblem, das sich einstellt, sobald man auf etwas stößt, dem allenfalls das paradoxe „Prädikat der Prädikatlosigkeit"20 zugesprochen werden kann, stellt sich auch noch die Frage, ob die Welt/Distinktionsdimension der Pluralität der Gegenstandsbereiche vorhergeht oder ob sie erst nachträglich, retroaktiv dadurch generiert wird, dass es verschiedene Gegenstandsbereiche gibt. Es stellt sich also die Frage nach dem transzendentalen Status der Welt, d. h. danach, was es bedeutet, dass die Welt eine transzendentale Bedingung der Möglichkeit von Gegenstandsbereichen ist.

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Hogrebe (2006), S. 317f. Hogrebe (2006), S. 166. Vgl. dazu auch die Frege-Deutung in „Frege als Hermeneut", in: ebd., S. 67-84. Vgl. dazu Schelling, SW, VII, S. 407.

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2. Nachträglichkeit: Der transzendentale Status der Welt Die spätestens seit Heidegger virulente Standardkritik an der traditionellen Metaphysik - die sich freilich genau besehen im Deutschen Idealismus, Kant eingeschlossen, bereits nachweisen lässt - moniert, dass diese eine stabile Einheit (das Sein, das Eine, das Subjekt, Gott als ens perfectissimum usw.) annehme, die der Pluralität der Erscheinungen konstitutiv als Prinzip vorhergehen soll. Übersetzt man dies in den Kontext der hier angestellten Überlegungen, so könnte man sagen, die traditionelle Metaphysik nehme an, dass es die Welt gibt, d. h. dass es eine stabile Distinktionsdimension immer schon gibt, in die dann - mehr oder weniger zufällig - Unterschiede eingetragen werden. Die stabile Einheit besteht demnach immer schon, sie wird als notwendig und ewig charakterisiert, sie hängt nicht von der Existenz des Vielen ab, das deshalb als bloßes Derivat, als Ektyp eines im philosophischen Denken erfassbaren Prototyps erscheint.21 Es verhält sich aber vielmehr umgekehrt. Die Identität und Differenz der Gegenstandsbereiche und verschiedenen Beschreibungen der Welt, d. h. die Existenz von Weltversionen im Sinne Goodmans, generiert nachträglich die Einheit einer Welt. Denn die Einheit einer Welt ist nur in der Besinnung darauf zugänglich, dass es verschiedene Gegenstandsbereiche allein unter der Bedingung gibt, dass es die Welt selbst nicht gibt. Die Nicht-Existenz der Welt kommt nur in dieser Reflexion als ihr eigener konstitutiver Entzug zur Erscheinung. Wendet man ein, dass damit nur ein epistemologisches Problem, nämlich das Problem unseres Weltzugangs, nicht aber auch eine ontologische Paradoxie angesprochen sei, so übersieht man, dass sich Epistemologie und Ontologie auf dem Niveau des Weltbegriffs gar nicht unterscheiden lassen. Die Welt ist nämlich kein Gegenstand, den man entweder erfassen oder verfehlen kann. Überdies kommt unser „Weltzugang" in der Welt im hier angepeilten Sinne selbst vor. Der Weltzugang gehört zur Welt selbst. Wir beziehen uns nicht von außen auf eine immer schon bestehende Welt aus „ready-mades". Auf eine solche Welt könnte man sich ohnehin nicht beziehen, da sie gar nicht begrifflich bestimmt sein könnte. Wäre sie begrifflich bestimmt, so bestände sie gar nicht aus immer schon bestehenden „ready-mades", sondern u. a. aus einer potentiellen oder aktualen Pluralität von Zugangsweisen. Begriffliche Bestimmtheit vollzieht sich nämlich in einem nicht zu eliminierenden Spielraum der Kontingenz: Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich auch anders sagen. Da begriffliche Bestimmtheit die kompetente Befolgung semantischer Regeln voraussetzt, diese Regeln aber keine notwendigen, „bis ins Unendliche gelegte Geleise" (PU, 218) sind, ist alle begriffliche Bestimmtheit kontingent.22

An anderer Stelle habe ich freilich versucht zu zeigen, dass bereits Plotin mit diesem Paradigma bricht. Allerdings bleibt auch Plotin durchaus im Rahmen der traditionellen Metaphysik, verändert aber durch seinen Begriff einer absoluten Hervorbringung, άπόλυτος ποίησις, sowie durch seine These, dass das Eine nicht existiert, die Spielregeln. Vgl. dazu Gabriel (2009a), §11. Vgl. dazu die Wittgenstein-Deutung Crispin Wrights in Wright (2001).

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Die Welt kommt zur Erscheinung, indem sie sich unserem Zugriff entzieht. Sie ist gar nichts anderes als dieser Entzug, der zur Reflexion selbst gehört. Hogrebe verhandelt diese autoepistemische Struktur in seiner bahnbrechenden Schelling-Auslegung in Prädikation und Genesis. Sein dortiger Ansatz unterscheidet sich von dem hier vorgestellten freilich dadurch, dass er mit Schelling dem Universum eine autoepistemische Struktur attestiert, die er darin sieht, dass dieses nur dadurch ontologisch stabil wird, dass es in ein stets fragiles (historisch variables) prädikatives Koordinatensystem eingefangen wird. Diesen Gedankengang kann man auch unter Hinweis darauf rekonstruieren, dass sich die stets fragile Aktivität, Urteile zu fallen und damit eine Funktion zu generieren, die Bestimmtheit konstatiert, gar nicht von der Welt unterscheiden lässt. Unsere Urteile und Theorien gehören zur Welt selbst. Es gibt kein weltloses, solipsistisches Subjekt, das die Welt von außen betrachtet. Denn im so (letztlich Cartesisch) gedeuteten Unterschied von Subjekt und Welt wird unterschlagen, dass der Unterschied von Subjekt und Welt diese bereits in der Distinktionsdimension aufeinander bezieht, die damit die Welt im eigentlichen Sinne ist. Zwar kommt die Welt in der Welt nicht vor, sie existiert nicht, dennoch kommt sie in ihrer konstitutiven Absenz in all unseren Prädikationen zur Erscheinung. An diesem Punkt sieht man einmal mehr, inwiefern die These von der Nicht-Existenz der Welt, die ich hier im Ausgang vom Begriff der Welt als Bereich aller Bereiche darstelle, mit der Frage nach dem Nichtpropositionalen und damit einer der zentralen Fragen Hogrebes zusammenhängt. Auch Hogrebe gewinnt aus dem Weltproblem, das er immer wieder im Ausgang von Munitz' Begriff der „ungebundenen Existenz" thematisiert, seine Einsicht in die nichtpropositionalen Bedingungen des Propositionalen. Dafür sind auch seine Ausführungen in „Metafisica Povera" instruktiv, wo er zeigt, dass es eine Metaphysik gibt, die sich der sich verschiebenden Grenze zwischen semantischer Unter- und semantischer Oberwelt widmet, wie er dies nennt.23 Seine semantisch gewendete deflationäre Metaphysik steht genau dadurch der Metaphysik traditionellen Zuschnitts kritisch entgegen, dass sie es vermeidet, transzendentale, nur in der Reflexion existierende Bedingungen unserer Bezugnahme auf Gegenstände zu ontologisieren, was man etwa täte, wenn man behauptete, die Welt existiere. Die Voraussetzungen der Reflexion sind immer schon Voraus -Setzungen und können unserer eigenen Existenz demnach gar nicht vorhergehen, um sie gleichsam hinterrücks zu determinieren. Deswegen kommt die Welt auch nur dadurch zur Erscheinung, dass wir einen konstitutiven Entzug erfahren, sobald wir uns der Frage zuwenden, ob die Welt existiert. Denn dabei entdecken wir, wie gesehen, dass Existenz gar keine Eigenschaft der Welt sein kann, da sie nicht in sich selbst vorkommt. Diesen paradoxen Sachverhalt, mit dem eine Destruktion der traditionellen Metaphysik einhergeht, belege ich mit dem Begriff der Nachträglichkeit,24 Nachträglichkeit 23 24

Hogrebe (1992b). Vgl. dazu ausführlicher Gabriel (2009b), S. 21 -41.

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ist eine retroaktive Handlung: Die Möglichkeitsbedingungen der Reflexion werden erst zu Möglichkeitsbedingungen, sobald die Reflexion stattfindet. Oder mit Schelling gesagt: „Das Sein wird sich nur im Werden empfindlich."25 Die Möglichkeitsbedingungen der Reflexion gehen dieser demnach nicht vorher, sie bedingen sie nicht gleichsam von außen, sondern sie stellen sich als Nebeneffekt der Reflexion erst mit dieser ein. Dies lässt sich wiederum unter Rekurs auf den Weltbegriff erläutern. Der aus der Konfrontation mit dem Weltbegriff und damit unserer Transzendenz entspringende konstitutive Entzug kommt nur dadurch zur Erscheinung, dass wir eine Theorie über Gegenstandsbereiche entwerfen, die uns zeigt, dass gegenständliche Bestimmtheit eine sich entziehende Distinktionsdimension voraussetzt. Diese existiert nicht, sondern zeigt sich nur als Entzug. Dies bedeutet, dass wir es hier nicht mit einem metaphysischen Prinzip, einer άρχή, zu tun haben, sondern mit einem Aspekt der Reflexion, der sich begrifflich nicht fixieren lässt. Hogrebe widmet sich diesem Thema in seiner Bonner Antrittsvorlesung über „Das Absolute". In dieser entwickelt er eine Kontrasttheorie des Absoluten. Dieser zufolge ist das Absolute lediglich der Name für einen Kontrast, für einen Hintergrund, der alle Vordergründe allererst freigibt. Dies bedeutet wiederum, dass wir in unserer begrifflich bestimmten Bezugnahme auf Gegenstände immer schon etwas ausblenden müssen, nämlich den begrifflich prinzipiell nicht bestimmbaren Hintergrund.26 In unserer Bezugnahme auf Gegenstände setzen wir die Welt immer schon voraus. Diese kann deswegen auch nicht selbst zum Gegenstand der Bezugnahme werden, ohne wiederum in den Hintergrund dieser nur vermeintlich gelingenden Bezugnahme zu treten. Sie bleibt also notwendig im Hintergrund. Dabei darf man freilich nicht aus den Augen verlieren, dass auch die Distinktion von Hinter- und Vordergrund in diesem Kontext den Status einer absoluten Metapher hat, die sich begrifflich nicht übersetzen lässt, was Hogrebe neuerdings mit dem Begriff des Szenischen einzufangen sucht. Kombiniert man dies mit der These der Nachträglichkeit, so kann man konstatieren, dass die jeweilige Struktur des Vordergrundes einen ihr je eigenen Hintergrund suggeriert. Sobald wir uns in einer Szene befinden, gibt diese einen Ausblick auf die Regeln frei, die sie konstituieren. Jede Szene verlangt so ein eigenes Gespür. Die Formen des Gespürs reichen dabei von mathematischen, über kulinarische bis hin zu situativ erworbenen Fähigkeiten wie etwa der Detung eines flüchtigen Blicks oder eines Lächelns in einem fremdem Land. Szenen verlangen stets ein bestimmtes Anschlussverhalten, da sie sich in der Zeit vollziehen. Jeder Übergang von einem Moment zum nächsten wird nur dadurch gemacht, dass wir Regeln aufspüren und diese dann in den Übergang investieren, was Stanley Cavell in seiner Wittgenstein27 deutung mit dem Begriff der „Projektion" zu fassen versucht hat.

25 26 27

SWVII, S.404. Vgl. dazu auch die ungewöhnlich spekulativen Überlegungen in Searle (1983), S. 141-159. Vgl. Cavell (1979). Vgl. dazu auch Hogrebes Auseinandersetzung mit Cavell in: Hogrebe (2007), S. 11-35.

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Unsere Orientierung in Szenen kann sich auf keinen ontologisch stabilen Anhaltspunkt verlassen. Es gibt keine universale Matrix, die alles Regelfolgen, von der Mathematik bis hin zu eleganter Höflichkeit, umspannt. Die Szenen vollziehen sich somit lediglich in sich selbst. Deshalb werden die Regeln der Szenen auch nur nachträglich, d. h. im Medium der Reflexion als solche generiert, obwohl wir bereits in ihnen agieren. Die Szenen gehen als solche nicht vorher und sie lassen sich auch gar nicht vollständig begrifflich beschreiben. Denn die begriffliche Beschreibung der Regeln findet ihrerseits in einer Szene statt, deren Regeln nur wiederum in einer anderen Szene expliziert werden könnten. Und dieser Sachverhalt des begrifflich nicht fassbaren Entzugs unseres eigenen Tuns ist einmal mehr nicht darstellbar, ohne damit gegen die selbstge28

setzte Grenze der Reflexion „anzurennen". In Anlehnung an Freges Distinktion von Sinn und Bedeutung lässt sich das Weltproblem auch derart fassen, dass jeder stets nur angepeilte, vor unserer Bezugnahme semantisch ex hypothesi noch „unbefleckte" Gegenstand überhaupt nur dann als solcher erscheint, wenn bereits eine Sinn-Differenz im Spiel ist: Bedeutung und damit semantisch bestimmte Bezugnahme auf Gegenstände ist sinnfrei gar nicht zugänglich. Denn jeder Versuch, die Bedeutung zweier sinn-differenter Ausdrücke sinnfrei darzustellen, erzeugt seinerseits nur einen weiteren Sinn. Frege nimmt bekanntlich an, dass die Venus die Bedeutung von „Abendstern" und „Morgenstern" sei. Auf diese Weise postuliert er die Identität der Bedeutung trotz des Differenz-generierenden Mediums des Sinns. Doch „Venus" ist nur ein weiterer Sinn. Denn der Sinn, der mit dem Ausdruck „Venus" verbunden ist, unterscheidet sich vom Sinn der Ausdrücke „Morgenstern" und „Abendstern". Selbst Eigennamen haben einen Sinn, und sei es derjenige, vermeintlich sinnfrei auf etwas Bezug zu nehmen. Einen Gegenstand so zu präsentieren, als ob damit keine Art des Gegebenseins verbunden wäre, ist selbst eine Art, sich einen Gegenstand zu geben. Wir haben keinen direkten Zugriff auf die Bedeutung unserer Ausdrücke, weil sie stets nur im Medium des Sinns differentiell bestimmt sind. Dies führt folgendermaßen auf das Weltproblem zurück. Nehmen wir etwa an, wir säßen gerade auf einer Lissabonner Anhöhe mit Blick auf die berühmte Brücke 25 de Abril. Wir sehen den Tejo, in der Ferne ahnt man schon das Meer usw. Diese lebensweltlich angereicherte Szene lässt sich nun auf ganz verschiedene Weise unterschiedlichen Sinnfeldern zuordnen: Sie lässt sich auf ein physikalisches Ereignis reduzieren, Vgl. Wittgensteins Begriff des „Anrennens", den er etwa in einem Gespräch mit Moritz Schlick vom 30.12.1929 bei Gelegenheit einer Diskussion über Heideggers Sein und Zeit verwendet: „Ich kann mir wohl denken, was Heidegger mit Sein und Angst meint. Der Mensch hat den Trieb, gegen die Grenzen der Sprache anzurennen. Denken Sie ζ. B. an das Erstaunen, daß etwas existiert. Das Erstaunen kann nicht in Form einer Frage ausgedrückt werden, und es gibt auch keine Antwort. Alles, was wir sagen mögen, kann a priori nur Unsinn sein. Trotzdem rennen wir gegen die Grenze der Sprache an. Dieses Anrennen hat auch Kierkegaard gesehen und es sogar ganz ähnlich (als Anrennen gegen das Paradoxon) bezeichnet. Dieses Anrennen gegen die Sprache ist die Ethik:' (Waismann 1967, S. 68).

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kann zum Inhalt eines Gedichtes erhoben oder durch den Tourismus-Filter vereinfacht erfahren werden usw. Der klassische metaphysische Trieb, das berühmte desiderium naturale, könnte zu der Frage verleiten: Doch was findet denn nun wirklich statt, d. h. was ist die Bedeutung der Szene? Μ. E. besteht die Antwort auf die Frage darin, dass die Identität dessen, was den vielen Erscheinungen, den vielen Sinnfeldern „zugrunde liegt", überhaupt nur nachträglich zur Erscheinung kommt. Die Identität erscheint nur in der Differenz der Sinnfelder als dasjenige, was in allen Sinnfeldern jeweils anders zur Erscheinung kommt. Oder anders gewendet: Die vermeintlich der Pluralität der Szenen zugrunde liegende Identität besteht in gar nichts anderem als darin, verschieden zur Erscheinung zu kommen. Und dennoch müssen wir damit rechnen, d. h. denken, dass da etwas ist, was erscheint. 29 Es gibt aber keine Antwort auf die Frage, was es ist, da jede Antwort wiederum nur in einem Sinnfeld gültig wäre. Jeder Versuch, zu bestimmen, was es ist, das sich in wahrheitsfahigen Bezugnahmen zeigt, generiert als solcher ein Sinnfeld unter anderen und damit einen Spielraum der Kontingenz. Nehmen wir nun an, wir wollten sinnfrei auf dasjenige Bezug nehmen, was sich uns zeigt, um damit zumindest im Medium philosophischer BegrifFsbildung einen absoluten Bezugspunkt zu markieren. Man könnte etwa sagen, dass da ein χ sei, das sich uns immer nur unter einer bestimmten Beschreibung als F(x), G(x) usw. zeigt. Auf diese Weise könnte man immerhin zu der Überzeugung gelangen, dass sich dasjenige, was sich zeigt, propositional einbinden, zu einer begrifflich gebundenen Variable machen ließe. Allerdings übersähe man auf diese Weise, dass man das Problem damit nur verschoben hätte. Denn man hätte von χ behauptet, dass es immerhin das χ möglicher Prädikationen sei, d. h. X(x). Wer von χ sagt, es sei x, verschiebt dasjenige, was er meint, einmal mehr in den Hintergrund. X wird in allen Prädikationen etwas Anderes. Dies bedeutet, dass wir χ in allen Prädikationen, auch in dieser, gleichsam spalten, wodurch die fur den Objektivitätskontrast konstitutive Lücke zwischen Begriff und Gegenstand eröffnet wird. Das „unbekannte Etwas" (KrV, B312) ist also nicht einmal umstandslos als unbekanntes Etwas verfugbar. Und dennoch zeigt es sich in allen Prädikationen, sofern diese die für Objektivität notwendige Bedingung erfüllen, etwas fallibel zu behaupten. Um den Objektivitätskontrast von Wahrheit und Fürwahrhalten aufrechtzuerhalten, müssen wir voraussetzen, dass es etwas gibt, das sich von unserem Zugriff auf es unterscheidet. Dies liegt schon in der Grammatik von „Bezugnahme". Hogrebe verwendet für diesen Sachverhalt bisweilen die Metapher eines Echolots: Unsere endlichen, kontingenten Registraturen werfen gleichsam semantische Netze über die zu registrierenden Gegenstände. Aus der Reaktion der Gegenstände, aus der Erfahrung unserer Endlichkeit, schließen wir, dass da etwas ist, das in keiner einzelnen Prädikation aufgeht. Und dennoch können wir nicht sagen, was es ist, es entzieht sich dem propositional geformten Zugriff und wird durch diesen gleichwohl beständig erfahren.

29

Vgl. KrV, Β XXVIf.

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3. Die Welt und die Anderen Die semantische Stabilität von Gegenstandsbereichen wird dadurch aufrechterhalten, dass Regeln projiziert werden, die einige Gegenstände zulassen, für die dann der Existenzquantor greift, und andere Gegenstände ausgeschlossen werden. Gegenstandsbereiche sind mithin endliche Registraturen. Die Stabilität der Regeln besteht dabei lediglich darin, dass sie angewendet werden. Sie haben keinen externen Anhaltspunkt. Die Anwendung der Regeln vollzieht sich dennoch nicht im luftleeren Raum. Sie werden vielmehr im Kontext diskursiver Praktiken eingespielt und verweisen aus diesem Grund bereits auf eine Gemeinschaft. Jede Gemeinschaft besteht aus Wesen, die imstande sind, Regeln zu folgen. Wesen, die imstande sind, Regeln zu folgen, sind nun zugleich solche Wesen, die imstande sind, gegen Regeln zu verstoßen. Regeln teilen nämlich einen logischen Raum in Ereignisse ein, die regelkonform sind, und solche, die gegen Regeln verstoßen. Die Differenz von Regelbefolgung und Regelverstoß ist für den Regelbegriff konstitutiv. Sie gehört also zu seiner Grammatik, worauf bereits Paulus hingewiesen hat.30 Dies bedeutet aber, dass die Gemeinschaft derjenigen, die Regeln folgen und die deswegen überhaupt vermögen, sich auf Gegenstände zu beziehen, immer schon eine Gemeinschaft Dissentierender ist. Käme die Gemeinschaft jemals vollständig überein, d. h. wäre der von Habermas gepriesene utopische Konsens jemals erreicht, gäbe es überhaupt keine Gegenstände der Bezugnahme mehr.31 Die Existenz von Gegenständen verweist somit auf die Möglichkeit des Dissenses. Der Widerstreit der Überzeugungen konstituiert fragile Gegenstandsbereiche, deren Regeln beständig verhandelt und historisch oft unmerklich verschoben werden. Damit die Welt sich also als abwesende, nachträglich generierte Möglichkeitsbedingung von Gegenstandsbereichen (und durch deren Vermittlung von Gegenständen) zeigen kann, bedarf es einer Gemeinschaft Dissentierender. „Welt" im Sinne einer bereits etablierten Sphäre der Intelligibilität ist somit das Resultat diskursiver Praktiken, die Welt im hier vertretenen Sinne in gegenständlicher

30 31

Rom. 4, 15: οΰ δέ ούκ εστίν νόμος, οϋδέ παράβασις. Vgl. dazu insbesondere Habermas' Ausführungen zur „idealen Sprechsituation" als „Vorschein einer Lebensform" in „Wahrheitstheorien" (Habermas 1973). Ohne die „Unterstellung" bzw. paradoxe (weil wohl nicht einlösbare) „Antizipation" der idealen Sprechsituation wäre es nicht möglich, immer auch schon „auf die Beurteilung anderer" (S. 219) Bezug zu nehmen. „Die Bedingung für die Wahrheit von Aussagen ist die potentielle Zustimmung aller anderen. Jeder andere müßte sich überzeugen können, daß ich dem Gegenstand χ das Prädikat ρ berechtigterweise zuspreche, und müßte mir dann zustimmen können. Wahrheit meint das Versprechen, einen vernünftigen Konsensus zu erzielen." (S. 219) Allerdings kann gerade nicht unterstellt werden, dass alle anderen einen Gegenstand bzw. Sachverhalt auf die gleiche Weise deuten sollten, um einen Konsensus zu erzielen, da in diesem Falle der Gegenstand bzw. Sachverhalt in seiner Objektivität aufgehoben würde. Objektivität gibt es immer nur im Modus einer paradoxen Abwesenheit, die sich im Dissens zu verstehen gibt.

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Form vergegenwärtigen. Die Gemeinschaft Dissentierender wird ins Nichts hineingehalten, um eine weitere Formulierung Heideggers aufzugreifen, und ist nur so imstande, nachträglich vor dem abwesenden Hintergrund einen Vordergrund zu generieren. Die traditionelle, v. a. griechische Metaphysik konnte diesem Problem aus dem Weg gehen, da sie überwiegend in verhältnismäßig geschlossenen Gemeinschaften entworfen wurde, welche die Kontingenz ihres eigenen Tuns mithilfe theologischer Restbestände abfangen konnte. Wie Jean-Luc Nancy in Le Sens du Monde unterstrichen hat, hat sich unsere Lage allerdings verschoben. Es gibt keine Welt mehr: keinen mundus, keinen kosmos, keine zusammengesetzte und intern vollständige Ordnung, in deren Innerem man einen Ort, einen Aufenthalt und die Grundpfeiler einer Orientierung finden könnte. D. h., es gibt kein „Hienieden" einer Welt mehr, die Raum gibt für ein Jenseits der Welt oder für eine andere Welt. Es gibt keinen Weltgeist mehr, keine Geschichte, die man vor seinem Tribunal aufführen könnte. Anders gesagt, gibt es keinen Sinn der Welt mehr.32

Dass es keine Welt mehr gibt, impliziert keinen Nihilismus irgendeiner Art, sondern bedeutet lediglich, dass die Welt nurmehr nachträglich verfügbar ist. Wir können nicht mehr davon ausgehen, dass die etablierten begrifflichen Strukturen, die von uns bewohnten Sphären der Intelligibilität, die Hegel als „Geist" bezeichnete, an sich, d. h. unabhängig davon existieren, dass wir die Absenz der Welt in jedem einzelnen wahrheitsfähigen Urteil erfahren. Das Ereignis der Kreation von Gegenstandsbereichen vollzieht sich nun in Gemeinschaften Dissentierender und kann gar nicht auf ein ultimatives Konsens-Ideal hin überstiegen werden. Damit wird Wahrheit unabtrennbar an die Endlichkeit diskursiver Operationen gebunden, da sie nur dann erfahren werden kann, wenn wir uns ihrem konstitutiven Entzug nicht verweigern. Deswegen bedarf es einer Kritik der heute herrschenden Ideologie des Szientismus. Denn alle Wissenschaften sind Resultat Theorie-bildender Operationen, deren diskursive Stabilität davon abhängt, dass eine Gemeinschaft Dissentierender Regeln ausbildet, ohne welche überhaupt keine Gegenstände erscheinen könnten. Dies impliziert keine absurde Zurückweisung wissenschaftlicher Forschung, sondern bedeutet lediglich, dass auch die Wissenschaft (die ohnehin gar nicht im eminenten Singular existiert) nur eine Sphäre der Intelligibilität bewohnt. Es gibt Gegenstände als solche trivialiter nur in einem prädikativen Ambiente. Die Konstitution dieses Ambientes setzt jeweils eine Pluralität von Zugangsweisen voraus, die uns zeigt, dass da etwas ist, das sich im Medium der Wahrheitswertdifferenz als potentiell abwesend erweist. Dabei sind Bedingungen (ζ. B. die Welt, das unbekannte

Meine Übersetzung von Nancy (1993), S. 13: „II n'y a plus de monde : plus de mundus, plus de cosmos, plus d'ordonnance composee et complete ä l'interieur ou de l'interieur de laquelle trouver place, sejour, et les reperes d'une orientation. Ou encore, il n'y a plus l'«ici-bas» d'un monde donnant passage vers un au-delä du monde ou vers un outre-monde. II n'y a plus d'Esprit du monde, di d'histoire pour conduire devant son tribunal. Autrement dit, il n'y a plus de sens du monde".

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Etwas usw.) im Spiel, die sich den jeweils diskursiv ausgehandelten Regeln der Anordnung prinzipiell entziehen. A u s diesem Grunde kann es auch nicht gelingen, die Welt insgesamt auf einen monolithischen logischen Aufbau zurückzuführen. Es gibt mit anderen Worten keine ontologische Matrix, die wir im philosophischen (oder irgendeinem anderen) Denken entdecken könnten, um α priori

festzulegen, was alles der Fall sein

kann. Damit kann auch keine noch so systematisch auf ein einheitliches Prinzip reduzierbare Wissenschaft, keine theory of everything

entworfen werden. Denn diese Theo-

rie wäre prinzipiell nicht imstande, ihre eigenen Energien darzustellen, die sich nur nachträglich begrifflich explizieren lassen.

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Investigations,

Nichtpropositionalität und Propositionalität: Alternative oder komplementäre Formen des diskursiven Denkens? A N T O N I O COTA M A R £ A L & G U I L H E R M E F. R. K I S T E U M A C H E R

Einleitung Propositionalität hat sich im Laufe der Geschichte der westlichen Philosophie sowohl als die notwendige Form des diskursiven Denkens als auch als sein bevorzugtes Ausdrucksmittel durchgesetzt. Was in der sokratischen griechischen Antike noch auf die Explikation der Funktions- und Ausdrucksweise des Denkens beschränkt war, sofern es auf die Konstitution von Wahrheit und begründetem Wissen gerichtet war, wurde auf alle Formen des Denkens ausgeweitet. Der dialogische und argumentative Charakter, den Piaton und Aristoteles mit der Hervorbringung und intersubjektiven Begründung gerechtfertigten Wissens verbanden, speiste sich aus seiner sprachlichen Artikulation, der „Proposition", und ihren intensionalen Bestandteilen, die aus dem begrifflichen Gehalt der Sätze und Urteile (bzw. ihrer qualitativen und relationalen Prädikate) den „propositionalen Gehalt" bilden. Die Verbreitung und Kontinuität der Rezeption dieser Art, die Leistungsfähigkeit des rationalen diskursiven Denkens zu fassen, waren von solchem Ausmaß, dass man geradezu von einem Dogma der Propositionalität sprechen kann. Die Aufrechterhaltung der Propositionalitätsthese hinsichtlich des beweisenden Denkens und ihre spätere Ausarbeitung durch die Stoiker rechtfertigte sich gewiss durch die Explikation der rationalen Elemente, auf denen eine solche Auslegung ruhte. Die Identifikation und Ausübung anderer Formen des Denkens (die zwar auch auf begrifflichem Denken beruhen, doch nicht an die symbolischen Mittel des sprachlichen Ausdrucks gebunden sind), wurde bei der Kritik des möglichen Unilateralismus der Propositionalitätsthese nicht angemessen berücksichtigt. Trotz früherer Ansätze wurde die Entgegensetzung von Propositionalität und Nichtpropositionalität erst in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts ausdrücklich Gegenstand der Debatten. Als Dogma der Propositionalität bezeichnen wir hier die Annahme, dass diskursives Wissen, wahr aufgrund seiner rationalen logischen und epistemologischen Begründung und Struktur, nur möglich ist und nur ausgedrückt werden kann durch sprachliche Aussagen (oder Sätze). Man kann jedoch zeigen, dass der These der Universalität und Notwendigkeit der Propositionalität eine beschränkte Auffassung von Sprache als eines lautlich-schriftlichen Systems und Werkzeugs zugrunde liegt, das aus verbalen Zeichen gebildet ist, die wiederum als Mittel des Verstehens und der Kommunikation dienen. Die Leistung von Rede und Sprache, verstanden als Artikulation und Gebrauch von Symbolen zur Konstruktion und Kommunikation von Bedeutungen, kann nämlich auch

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Antonio Cota Mar^al & Guilherme F. R. Kisteumacher

auf nichtverbalsprachlichem Wege, d. h. mit Mitteln wie Gesten, bildlichen Darstellungen und Körperhaltungen erreicht werden. Aus der Sicht der historisch-faktischen sprachlichen Praktiken der Gemeinschaften rationaler diskursiver Agenten hätte der Weg zur gegenwärtigen Gegenüberstellung von Propositionalität und Nichtpropositionalität auch andersherum führen können, nämlich als Entwicklung der Propositionalität aus der Nichtpropositionalität. Doch die Nichtpropositionalität stellte wohl zu große Schwierigkeiten in Funktion und Gebrauch dar, da sie aus heutiger Sicht viel komplexer in Anlage und Struktur ist, obwohl von weiter verbreitetem Gebrauch und institutioneller Einheitlichkeit. Die Propositionalität hat sich als die effizienteste und überlegenste Art der Kommunikation und Übermittlung begrifflicher Gehalte durchgesetzt. Es gibt dennoch Theoretiker, die es als biologische Tatsache ausgeben, dass nur verbale Artikulation sich überhaupt dazu qualifiziert, den Zusammenhang zwischen semiotischer und pragmatischer Sphäre der Sprache, wie wir sie kennen und ausüben, zu bewerkstelligen. Vor allen Dingen hat sich die Propositionalität als brauchbarer für die dominierende Konzeption wissenschaftlicher Erkenntnis erwiesen (hinsichtlich ihrer intersubjektiven Konstitution, dem interaktiven und dialogischen Prozess ihrer Verifikation und Übermittlung). Tatsächlich aber verlangen Konstitution und Gebrauch von Propositionen, um mit ihrer Hilfe Gedanken zu kommunizieren und in einem öffentlichen Raum zu koordinieren, nicht nur ein komplexes Sprachsystem (das syntaktisch, semantisch und pragmatisch gut entwickelt ist), sondern ihr Erfolg setzt auch die Formulierang und Lösung ontologischer, epistemologischer und logischer Probleme voraus, um schließlich zu dem zu gelangen, was wir „Denken" nennen: einer konventionellen symbolischen Tätigkeit, die mit Bedeutungen operiert und transobjektive Relationen konstruiert wie Wahrheit, Objektivität, Geltung und Korrektur. Im Zuge der Explikation der Propositionalität wurde die Nichtpropositionalität erst neuerdings ausdrücklich Gegenstand der Debatten. Man darf hingegen annehmen, dass der Mensch sich bereits der Seufzer, Mimik und Gestik, Zeichnungen und anderer graphischer und lautlicher Formen der Repräsentation seiner Intentionen, Meinungen und mentalen Zustände bedient hat, bevor ein öffentlicher systematischer symbolischer Apparat existierte, der intersubjektiv zugänglich und von allen Beteiligten kontrollierbar war.

1. Propositionalität und Nichtpropositionalität 1.1

Propositionalität

Die Lektüre älterer und neuerer Autoren, die sich mit Propositionalität beschäftigt haben, zeigt, dass der Begriff im Bereich der Logik und Erkenntnistheorie erwuchs und dass er sich als die Ausdrucks- und Kommunikationsform von Gehalten darstellt, die auf Wahrnehmungen, mentale Zustände sowie Vorstellungen von Dingen, einzelnen

NICHTPROPOSITIONALITÄT UND PROPOSITIONALITÄT

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Objekten und Sachverhalten eines rationalen diskursiven Agenten bezogen sind. Dieses Ausdrucksmedium wurde auch hinsichtlich seines ontologischen Status untersucht: ob es bloß als logisch-sprachlich gelten soll, ob lediglich als Funktion oder mentaler Zustand, oder als eine Entität oder objektive Relation, die unabhängig von ihrem Träger existiert. Etymologisch bezeichnet Proposition (Urteil, Behauptung, Äußerung) den sich sprachlich ausdrückenden Akt (lautlich, verbal oder schriftlich) des ,Setzens' oder ,Stellens' {ponere, proponere), positiv oder negativ, von etwas (etwas sinnlich Wahrgenommenem, eines Sachverhalts, der als bestehend gedacht wird, oder eines mentalen Zustandes wie der Zuschreibung, des Für-wahr-Haltens, Wissens, Behauptens, Vermutens, Schließens) jemand anderem gegenüber (pro). Dieses .Setzen' oder ,Vorschlagen' wurde und wird verstanden als Sprechen, Schreiben, Prädizieren, Argumentieren, kurz: als ,Weben' eines Zusammenhangs oder Spinnen eines Netzes zwischen Inhalten und sprachlichen Zeichen für einen - realen oder imaginären - Gesprächspartner. Man erinnere sich daran, dass „Text", „textum", das Partizip Perfekt von texere ist und verbum sowohl ,Wort' als auch ,Satz' oder ,Urteil' bedeutet. Auch wenn die Bezeichnungen für die Proposition von Autor zu Autor variieren (Satz, Urteil, Aussage, Behauptung, These, Axiom, Hypothese u. a.) und auch wenn man den Unterschied zwischen einer gesprochenen, einer geschriebenen und einer vorgestellten Aussage berücksichtigt,1 so ist es doch mittlerweile üblich, vom ,propositionalen Gehalt' zu sprechen, um alles das zu bezeichnen (Bedeutungen, Dinge oder Objekte, Überzeugungen, Gründe, Hypothesen), was Gegenstand einer Zuschreibung in konstatierenden Behauptungen bzw. Prädikationen ist. Propositionalitas (Propositionalität) zielt nun auf die Beschaffenheit oder den Status der Proposition oder sprachlichen Äußerung, die sie von anderen Arten des Ausdrucks der Inhalte sinnlicher Wahrnehmung oder der begrifflichen Vorstellung sowie der übrigen Handlungen des rationalen Agenten unterscheidet. In einem Argument2 hat die Proposition (im Sinne eines behauptenden Aussagesatzes) die Rolle, eine Prämisse als Behauptung zu etablieren. Grob gesprochen: Eine Proposition ist ein Urteil oder eine Behauptung, die in Form eines negativen (apophasis, negatio) oder eines affirmativen Urteils (kataphasis, affirmatio) eine Prädikation ausdrückt.3 Propositionalität ist daran gebunden, sich in einer sprachlichen Formulierung auszudrücken, die „Urteil", „Behauptung" oder „Proposition" genannt wird, mittels der etwas zu- oder abgesprochen wird in der Hinsicht der Wahrheit, Falschheit, Notwendigkeit, Wirklichkeit oder Möglichkeit. In der Interaktion zwischen Sprechern können die Akte des Behauptens oder der Äußerung dann verschiedene Funktionen überneh-

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Piaton: Theaitetos 201 d-e und 202a-d; Aristoteles, De Anima I 16a 3. Aristoteles: Analytica Priora I, 1277a 37. Aristoteles: De Interpretation 5, 17a 8; 6, 17a 25-35.

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men, wie die des Informierens, Fragens, Befehlens, Vermutens, sich Einigens, Schließens, Wissens und Belehrens. In der klassischen Epoche, als Piaton und Aristoteles über das Wesen diskursiven Wissens (dianoia oder episteme) im Gegensatz zur doxa nachdachten, war die Proposition (besonders bei propositionalem Wissen) die Form, die wahres und sicheres Wissen haben musste. Propositionales Wissen galt damals als die adäquate Ausdrucksform der gerechtfertigten wahren Überzeugung. Aber das war für den damaligen Rationalitätsstandard nicht genug: Eine rationale Begründung war notwendig. Während Piaton strikt zwischen diskursivem Wissen und Meinung unterschied (wobei ersteres auch das richtige Handeln anleitet), zielte Aristoteles darauf ab, den Wahrheitsgehalt der für wahr gehaltenen Meinungen zu explizieren. Nach Piaton bedeutet das Geben und Nehmen von Gründen für die Überzeugung, die man in Bezug auf etwas hat, dialektisch zu beweisen, was von der jeweiligen Idee approximativ gewusst werden kann. Auch wenn demonstratives Wissen auf nicht-demonstrativem Wissen (wie ζ. B. Wahrnehmungen und Erinnerungen) basiert,4 bleibt Aristoteles dabei, dass es demonstratives Wissen nur in Bezug auf universale und notwendige Sachverhalte gibt und auch, dass man nur dann demonstratives Wissen besitzt, wenn man die Ursachen für den betreffenden Sachverhalt angeben kann. Dies wird dadurch erreicht, dass erstens die adäquaten Logoi gebraucht werden (Aussagen, prädikative Urteile und Kategorien oder Klassen von Begriffen, die fähig sind, die Elemente eines Gegenstandsbereichs oder Sachverhalts zu erfassen) und zweitens der demonstrative Logos ins Spiel gebracht wird (Gründe, Definitionen, Prinzipien, begriffliche Zusammenhänge, Argumente und Beweise), verbunden in einer Beweisführung mit dem Ziel, die betreffende Tatsache oder den fraglichen Sachverhalt zu erklären oder zu rechtfertigen. Auf diese Weise wurden die Grundlagen gelegt für Propositionalismus und Anti-Propositionalismus: Dinge und mentale Zustände lassen sich am besten durch Begriffe und Urteile wiedergeben und begriffliche Gehalte lassen sich am besten durch ihre sprachlichen Korrelate ausdrücken. Die Ideen der Aussage, der sprachlichen Äußerung, die eine Bedeutung mit sich führt, und des internen Texts im Geiste des Denkenden als das mentale Korrelat der Begriffe, die Reduktion der Sprache auf syntaktisch und semantisch geregelte sprachliche Zeichen und die ontologisch-epistemologische Bestimmung des Denkens als sprachliches Gewebe oder „Text" mentaler Gehalte, sind allesamt Annahmen des Propositionalismus. Die wesentlichen Fragen, die sich in Bezug auf die Propositionalität stellen, wären dementsprechend: Zu welchem Bereich der Realität gehören Propositionen? Ist Propositionalität tatsächlich das angemessenste Mittel zu Ausdruck und Darstellung von Tatsachen und mentalen Zuständen und zur Konstruktion und Erklärung der möglichen Beziehungen zwischen den Dingen und Sachverhalten, wie sie von den rationalen Akteuren wahrgenommen bzw. ausgedrückt werden? 4

Aristoteles: Analytica Posteriora I, 3; II, 19.

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Nichtpropositionalität

Von den Annahmen der Propositionalität aus betrachtet, läuft Nichtpropositionalität auf Nichtwissen hinaus. Nach der Propositionalitäts-These ist die Vermittlung durch sprachliche Zeichen eine notwendige Bedingung für die Konstitution diskursiven Wissens. Wenn diese Vermittlung fehlt, kann es folglich kein Wissen geben. Diese Auffassung von Nichtpropositionalität ist eine Herangehensweise, die man vermeiden sollte: über Nichtpropositionalität vom Standpunkt der Propositionalität aus denken und sprechen, indem man sie als Bedingung der Möglichkeit jedes diskursiven Denkens voraussetzt. Dies ist allerdings immer schon der dominierende Zugang zur Nichtpropositionalität gewesen. Was in diesem Beitrag gefordert wird, ist, dass Nichtpropositionalität aus ihr selbst heraus beurteilt wird, d. h. aus der Sicht des Anti-Propositionalismus. Dieser Ansatz schließt jedoch nicht aus, dass beide Standpunkte hinsichtlich ihrer Angemessenheit und ihrer Resultate miteinander verglichen und bewertet werden können. Wir sollten einen möglichen Einwand berücksichtigen. Es ist ein Fehler, die Betrachtung der Nichtpropositionalität aus ihr selbst heraus als performativen Selbstwiderspruch anzusehen, weil in jedem sprachlichen Ausdruck der Gebrauch der Propositionalität schon enthalten sei. Wirft man einen Blick auf die Geschichte der sozialen Praktiken, besonders auf die Erziehung, so sieht man, dass gegenwärtig die Propositionalität als Standard gelehrt wird. Der lautlich-verbale Ausdruck und die sprachliche Ausformulierung der erfahrenen und institutionell übertragenen Gehalte wurde zur Bedingung und zum Maßstab der Integration der Individuen in die soziale, moralische und politische Gemeinschaft, deren Teil sie sind. Die Erziehung, der Gebrauch und die Verpflichtung zum zeichensprachlichen Standard machte also die Artikulation in sprachlichen Zeichen zur Sprache par excellence. Wenn man nun etwas anderes, alternatives einführen möchte, so muss man bei dem ansetzen, was alle beherrschen, in diesem Fall bei der propositionalen Sprache, die alle beherrschen. Die Verwendung der Propositionalität zum Aufzeigen und zur Explikation der Nichtpropositionalität macht lediglich Gebrauch von ihrer metasprachlichen Funktion. Der Nichtpropositionalismus sieht dagegen Propositionalität und Nichtpropositionalität als verschiedene Weisen der Vorstellung von Dingen, Objekten, begrifflichen Gehalten, Sachverhalten und Bewusstseinszuständen an, und behauptet, dass Wissen über sich selbst, über die Welt und die anderen, und auch über die Handlungen, Überzeugungen und Absichten erlangt und besessen werden kann ohne die Vermittlung durch sprachliche Zeichen. Wie ist das möglich? Eine überzeugende Antwort auf diese Frage setzt eine Neubetrachtung und Neubestimmung der Vorgänge des ,Vorstellens' und des ,Begreifens', die beim ,Denken', genauer: beim Zustandekommen von Wissen und bei seiner diskursiven Verarbeitung eine Rolle spielen. Die der These der Nichtpropositionalität zugrunde liegende Frage ist: Kann man rein auf der Grundlage nichtsprachlicher Mittel , vorstellen', ,begreifen' und , denken'?

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Das ,Vorstellen' kommt ins Spiel, wenn etwas oder jemand nicht anwesend ist, wenn etwas bloß erdacht oder möglich oder hypothetisch ist. Es umfasst auch ein Übertragen der besonderen Merkmale von etwas auf vielfältige Weise auf andere Träger. Und um sich etwas vorzustellen, kann der rationale Akteur auch andere symbolische Mittel gebrauchen als die sprachlichen. Im Zusammenhang der Diskussion von Nichtpropositionalität hat das Vorstellen mit derjenigen Tätigkeit des rationalen Akteurs zu tun, die sich zwischen den Kategorien der Möglichkeit, Notwendigkeit und Wirklichkeit bewegt. So kann der Denkende sich durch Erinnerung von akustischen oder optischen Wahrnehmungen etwas oder jemanden vergegenwärtigen. Dementsprechend kann er sich etwas bloß Erdachtes, Variablen und Hypothesen, durch graphische Darstellung oder jegliche andere anschaulich-sinnliche Form vorstellen. Auf diese Weise ist Vorstellen auch eine Zuschreibung einer alternativen Existenzweise gegenüber einem bestimmten Jemand oder Etwas. Betrachten wir die folgenden Tätigkeiten und Gebiete des Wissens, aufgeteilt in drei Klassen mit den entsprechenden Vorstellungsmodi, in denen sie sich ausdrücken: a)

das Haben von sinnlichen Eindrücken, anschaulichen Vorstellungen, Affekten, Empfindungen, Gefühlen;

b)

die Auffassung mentaler und psychischer Zustände, die Erfassung von Sachverhalten, das Reagieren durch Gesten und Körpersprache auf bestimmte Situationen;

c)

das Verstehen und intuitive Erfassen von theoretischen Konstrukten, das Verstehen graphischer Zeichnungen und logischer, arithmetischer und geometrischer Darstellungen, das Erstellen eines graphischen Bauplans, das Komponieren, Lesen und Hören eines Musikstücks.

All diese Handlungen exemplifizieren Vorstellungsarten, die etwas vermitteln (bzw. einen begrifflichen Gehalt mit sich tragen, der von ihnen selbst zu unterscheiden ist) und die nicht notwendigerweise verbalsprachlich oder alphabetisch ausgedrückt sind. Die ersteren sind neurophysiologische Ausübungen von Funktionen der Organe oder Sinne. Die übrigen betreffen das subjektive Bewusstwerden von affektiven und emotionalen Zuständen, oder das bewusste Registrieren von Tatsachen, Ereignissen und anderen Abläufen der Umwelt, innerhalb derer sich der Akteur befindet und in der er handelt. In manchen liegt das Gewicht auf der Urheberschaft und Selbstwahrnehmung der Überzeugungen, die durch die frühere Erfahrung und die Kenntnis der eigenen Handlungen und deijenigen der anderen bedingt sind. In anderen liegt eine Selbstidentifikation mit Schlussfolgerungen vor, die ohne die Äußerung von Worten oder den Ausdruck in sprachlichen Zeichen zustande kommen, wie auch Entscheidungen, die wirksam sind ohne die Beteiligung solcher Prozesse. Die genannten Akte sind solche der Erkenntnis, die einen begrifflichen Gehalt besitzen und nicht notwendig den Ausdruck in sprachlicher Form voraussetzen, um ausge-

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führt und verstanden zu werden. Ebenso sind diejenigen, die in eine dialogische Interaktion eingebunden sind, das Lachen, Weinen, der Blick, das Nicken, die geschlossenen oder halb geöffneten Lippen, der erhobene oder gesenkte Kopf, die hängenden Schultern oder die geschwellte Brust, alle diese, ob isoliert oder im Zusammenhang mit den oben genannten Akten, nicht-sprachliche Ausdrucksweisen, obwohl sie Bedeutungsträger sind und ebenso effizient oder noch effizienter und ausdrucksvoller sein können als jedes Wort oder jede sprachliche Ausdrucksform. Man könnte hier auch an die von Frege zum Zwecke der Artikulation basaler Definitionen der Arithmetik entwickelten graphischen Symbole der Begriffsschrift denken und wie er mit Hilfe dieser Symbole komplexe Beweise führte.

2. Vorstellen, Begreifen, Denken Man beginnt mit der Vorstellung, dass Denken darin besteht, dass der rationale Agent sich auf sich selbst richtet und sich selbst zum Objekt der Betrachtung macht, was die Erinnerung des Denkenden an sich selbst und die eigenen Handlungen beinhaltet, die er sich vorstellt, d. h. ihre jeweiligen Inhalte und Zusammenhänge und alle übrigen Elemente (Dinge, Personen, Relationen, Umstände und Umgebungen), die die Situation ausmachten, in der sich die Handlungen vollzogen. In dieser Hinsicht bedeutet „Denken", sich sowohl der nichtsprachlichen Artikulationen wie auch derjenigen anschaulich-sinnlichen Artikulationen anderer sozio-psychologischer symbolischer Ordnungen als Vermittlungsinstanzen zwischen Denkendem und gedachtem Objekt, Sachverhalt oder mentalem Zustand zu bedienen. Wahrnehmungen, Gefühle, Bilder, Aufnahmen von Sachverhalten oder erfahrene mentale Zustände wie auch konstative und valorative Äußerungen sind einige der Vermittlungsinstanzen des Denkens. Mit dem Akt und der Tätigkeit des Denkens sind das Bewerten, Überlegen und Urteilen verbunden, nicht nur in Bezug auf den Denkenden selbst, auch intersubjektiv in Bezug auf andere. Dazu ist es notwendig, dem Inhalt des Denkens eine transsubjektive Form zu verleihen, die für jeden, der den Gedanken nachvollziehen können soll, zugänglich sein muss. Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Begriff? Ist er eine Unterart der Vorstellung? Oder besteht er in etwas ganz anderem als der bloßen Repräsentation eines gedanklichen Gehalts? Haben Kant und Aristoteles Recht (indem sie zwischen Wahrnehmungen, intellektueller Tätigkeit und sinnlicher Anschauung unterscheiden und das Denken als Vermögen der Begriffe, Urteile und der Schlüsse bestimmen) oder Frege und Russell (die den Begriff als Funktion eines Arguments bestimmen)? Ist die verbalsprachliche Vermittlung die Bedingung der Möglichkeit des diskursiven Denkens? Haben Anschauungen, sinnliche Wahrnehmungen und mentale Zustände ohne den Begriff als verbalsprachlich artikulierten Ausdruck für den Denkenden keinerlei Gehalt?

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2.1 Das Vorstellen und die Vorstellung Mit dem Terminus , Vorstellung' wurde der Akt bzw. Vorgang des Vorstellens von etwas bezeichnet wie auch das Bild oder mentale Simulacrum des Objekts oder Phänomens, das den Sinnen oder der Selbstwahrnehmung des rationalen Agenten gegeben ist. Die vorgestellten Phänomene, Objekte, Sachverhalte und mentalen Zustände wurden als Gegenstände der Vorstellung angesehen. Aristoteles5 bezeichnete als „phantasia" (imaginatio) die Einbildungskraft und unterschied sie von der Wahrnehmung {aisthesis) und dem diskursiven Denken (noesis). Die Wahrnehmung bewirkt einen Vorgang, der ein „phantasma" hervorbringt. Dabei handelt es sich um Bilder, die im Inneren des Denkenden erscheinen, die von der Vorstellung hervorgebracht wurden. Diese Erscheinungen sind verschieden vom Akt des Vorstellens sowie von den Phänomenen, von denen sie handeln, und sie bleiben, wenn die Wahrnehmung, die sie bewirkt hat, bereits vergangen ist. Auch wenn die Phantasma überwiegend visuell sind, so sind sie doch Vorstellungen, die an die Sinne geknüpft sind und somit die imaginären Erscheinungen aller fünf Sinne umfassen. Es kann also visuelle, taktile und gustative Abbilder geben wie auch Abbilder aller anderen Sinne. Es liegt an der Verknüpfung der Vorstellungen mit den Sinnen, dass nach Aristoteles6 der Denkende absichtlich bewirken kann, ob seine Vorstellungen retrospektiv faktisch erfahrene, aber noch nicht hinreichend durchdrungene Zusammenhänge rekonstruieren und nachvollziehen sollen oder ob sie frei den auf tatsächlichen Erfahrungen basierten Bildern und Erinnerungen andere, bloß erdachte und solipsistisch hervorgebrachte Erfahrungen entgegensetzen. Aristoteles macht ebenso deutlich,7 dass der Verstand mittels der Vorstellungen (Bilder und Phantasma) solche intelligiblen Gegenstände wie mathematische Prinzipien und Objekte auffasst, denn „die Seele denkt nie ohne Bild oder Vorstellung". Daher sind aus seiner Sicht mentale Gebilde und Erzeugnisse der Vorstellung, Bilder und Erinnerungen sinnlich-physiologischer Grundlage verschieden von Begriffen. Kant8 unterteilt Vorstellungen in Anschauungen und Begriffe, die von der Sinnlichkeit bzw. vom Verstand hervorgebracht werden. Dabei gibt allein die Sinnlichkeit die Anschauungen, die der Verstand denkt, indem er Begriffe an sie heranträgt. Für Aristoteles und Kant müssen Sinnlichkeit und Verstand zusammenwirken, damit Wissen entstehen kann. Für beide ist die Sinnlichkeit die Grundlage, selbst wenn es um die Auffassung nicht direkt der Sinnlichkeit gegebener Objekte geht wie abstrakte Begriffe. In diesem Fall wären die Objekte und Inhalte zugänglich durch die Relation der Kausalität oder die einfache Prädikation, die jedoch immer des Rückbezugs auf vorhergehen-

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Aristoteles: De Anima III, 427b-429a. Aristoteles: De Anima III, 427b 17-19. Aristoteles: De Anima III, 7, 431a 14-16ff., und III, 7, 431b 2. Kant: KrV Β 33ff.

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des sinnliches Material bedürfen. Gleichwohl sind für Kant Begriffe, auch wenn sie Produkte des Verstandes sind, eine Unterart der Vorstellung. 2.2 Das Begreifen und der Begriff Das Begreifen und den Begriff genau zu bestimmen ist eine komplizierte Aufgabe. Ihre Bedeutung schillert von Autor zu Autor und nicht immer wurden die logischen, psychologischen und ontologischen Aspekte auseinander gehalten. Man könnte sagen, dass ,Begreifen' der Vorgang der Identifikation von Eigenschaften ist, die an Dingen, Tatsachen und Handlungen konstant vorkommen, und dass es die Strukturierung solcher Relationen in einem universal anwendbaren Ausdruck vorsieht, der das Charakteristische und Spezifische dieser Dinge, Tatsachen und Handlungen angibt. In der Antike gibt es kein durch eine einheitliche Terminologie identifizierbares Verständnis des Begreifens und der Begriffe. Bei Piaton erscheint der Begriff in Verbindung mit dem ,Wissen' (noesis) als das Wort, das die Idee (eidos, idea) ausdrückt oder die innere Intelligibilität der Dinge bekundet, das für sich im Bereich der sinnlichen Erscheinungen9 existiert und als Bedingung diskursiven Wissens (episteme) fungiert. Auch wenn es bei Piaton verschiedene Methoden des Zugangs zu den Ideen gibt (Anamnesis, Dialektik, Eros und Methexis), so ist doch der Begriffsgehalt, wenngleich Idee, eine Art Hypothese bei der Suche nach einem unbedingten Prinzip. Aristoteles zufolge10 bezeichnet der Begriff (horos), ,Ausdruck' oder ,Wort', die Bestandteile des Urteils oder der Prämisse, d. h. das Prädikat und das Subjekt der Aussage. Anders als Piaton resultiert nach Aristoteles11 der Begriff aus einem induktiven Verfahren, das von den Einzeldingen abstrahiert und so den universellen Term oder den Allgemeinbegriff ergibt. Den Begriff bezeichnet er auch als ,logos' (verbum, ratio, conceptus), ,horos1, (terminus) und horismös (definitio), um das spezifische und charakteristische Wesen desjenigen geistigen Gehalts hervorzuheben, der aus der Abstraktion und der Definition resultiert. Hierzu ist des weiteren die folgende Bemerkung des Aristoteles von Bedeutung, dass das zur Sprache Gekommene Ausdruck von Vorgängen im innern Bewußtsein, so wie das Geschriebene (Ausdruck) des Gesprochenen [ist]. Und so, wie nicht alle die gleichen Buchstaben haben, ebenso auch nicht die gleichen Lautäußerungen; wovon allerdings, als seelischen Ersterfahrungen, dies die Ausdrücke sind, die sind allen gleich, und die Tatsachen, deren Abbilder diese sind, die sind es auch.12

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Piaton: Timaios 52a-c. Aristoteles: Analytica Priora I, 24b 16. Aristoteles: Analytica Posteriora II, 19, 100 a-f. Aristoteles: De Interpretation I, 16a 3-6.

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