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German Pages 336 [338] Year 2019
Demokratie von der Antike bis zur Gegenwart Ein Plädoyer für die größte Errungenschaft der westlichen Welt
Foto: ©privat
Das Opus magnum des großen Historikers Klaus Bringmann Klaus Bringmann, geb. 1936, ist einer der renommiertesten Althistoriker Deutschlands und em. Professor für Alte Geschichte an der Johann-Wolf gang-Goethe-Universität Frankfurt a.M. Bekannt geworden ist er durch zahlrei che Veröffentlichungen zur römischen Republik, zur antiken Kulturgeschichte oder durch Biographien von Augustus oder Cicero. Dabei hat er immer den Blick für die großen Entwicklungslinien der Geschichte behalten.
Umschlaggestaltung: Harald Braun, Helmstedt Umschlagbild: Säulen des Parthenon. Foto © akg-images. Reichstag: shutterstock/ katatonia82
In einem großen Alterswerk beschreibt der Althistori ker Klaus Bringmann Ideal und Ausformung der athenischen Demokratie und zeigt ihren grundlegen den Unterschied zu heutigen Systemen. Er verfolgt Idee und Praxis über das Ständesystem der Frühen Neuzeit, die Aufklärung, die Geburt der ersten wirkli chen Demokratie in den jungen Vereinigten Staaten und bis heute. Mit klarem Blick benennt er Schwächen und Stärken verschiedener Entwicklungen und Ausformungen und kritisiert manch voreilige Reformideen, die angesichts der aktuellen Krise der Demokratie entwickelt werden. Wem die Zukunft unseres freiheitlichen Systems am Herzen liegt, muss seine Geschichte und Entwicklung kennen.
Klaus Bringmann
Das Volk regiert sich selbst
Die westliche Demokratie – Vorbild oder Auslaufmodell? Vor 2500 Jahren wurde in Athen eine Idee geboren, die sich über die Jahrhunderte grundlegend gewandelt hat. In einem luziden Groß essay zeichnet Klaus Bringmann Idee, Entwicklung und Wirklichkeit dieser Staatsform bis heute nach – und zeigt Stärken und Risiken auf. Eine fulminante Bestandsaufnahme!
Eine Geschichte der Demokratie
wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-3872-3
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Klaus Bringmann Das Volk regiert sich selbst
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((Abb.)) Pallas Athene vor dem Parlamentsgebäude in Wien
1902 wurde vor dem Parlamentsgebäude in Wien diese Figur der Pallas Athena enthüllt, der Schutzgöttin der Stadt Athen, in der die erste Demokratie entstand
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Das Volk regiert sich selbst Eine Geschichte der Demokratie
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.
wbg Theiss ist ein Imprint der wbg © 2019 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Lektorat: Daphne Schadewaldt, Wiesbaden Satz: Satz & mehr, Besigheim Umschlagabbildung: Pallas-Athena-Brunnen vor dem Parlamentsgebäude in Wien. Foto: © akg-Images. Umschlaggestaltung: Harald Braun, Helmstedt Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-3872-3 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-3873-0 eBook (epub): 978-3-8062-3874-7
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Inhalt
Vorwort Einführung
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Erster Teil. Die antike Demokratie
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Die Entstehung der Demokratie in Athen Organisation und Politik der athenischen Demokratie Die Feinde der athenischen Demokratie Politik, Rechtsprechung und die Kunst der Rede Die Demokratie im Spiegel antiker Staatstheorie und Publizistik
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Zwischenbilanz
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Zweiter Teil. Die moderne Demokratie
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Volkssouveränität, Repräsentativsystem, Gewaltenteilung Adelsherrschaft und Parlamentarismus in England Geschriebene Verfassungen im Zeitalter der Französischen Revolution Die Vereinigten Staaten von Amerika. Republik statt Demokratie Landständische Verfassungen und Repräsentativverfassungen in Deutschland
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Inhalt
Die Vereinigten Staaten von Amerika. Von der Republik zur Demokratie Die Entstehung der modernen Parteiendemokratie Die Krise der Demokratie im Spiegel jüngster Reformvorschläge Rückblick und Ausblick Hinweise zu Quellen und Literatur
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Vorwort
1 2 3 4 5 er erste Anlass zu diesem Buch war das Unbehagen des 6 Verfassers über die aktuelle Flut der Bekenntnisse zur De7 8mokratie, welche allzu häufig Sachlichkeit und Sachkenntnis 9vermissen lassen. Der fachlichen Zuständigkeit nach bin ich Alt0historiker, und so ging der Plan dieses Buches ursprünglich da1hin, der Idealisierung der athenischen Demokratie als eines Ge2meinwesens, das von einem vorbildlichen Bürger-Engagement 3getragen war, ein realistischeres Bild gegenüberzustellen und 4nach den Gründen zu fragen, warum die aus der Antike stam5menden Zeugnisse, auch die staatstheoretischen Werke eines 6Platon und eines Aristoteles, ein im Wesentlichen negatives Ur7teil über die erste Demokratie der Geschichte gefällt haben. 8 Sowohl die Kritik als auch die Idealisierung der athenischen 9Demokratie wirkt weiter bis in die Gegenwart, und so habe ich 0mich entschlossen, der Demokratie der Antike die so andersar1tige Demokratie unserer Tage in kritischer und vergleichender 2Absicht gegenüberzustellen. 3 Bei den Vorarbeiten zum zweiten Teil dieser Studie stieß ich 4zu meiner Überraschung auf eine lange Inkubationszeit und 5mehrere Entwicklungsstufen auf dem Weg zur Parteiendemo6kratie der Gegenwart. Ursprünglich war mir der Ursprung der 7indirekten, repräsentativen Form der modernen Demokratie, 8welche sie grundlegend von der direkten der Antike unterschei9det, nicht hinreichend klar. Die Augen haben mir in dieser Hin0sicht mein ehemaliger Kollege an der Technischen Hochschule 1Darmstadt, Prof. Dr. Lothar Graf zu Dohna, und seine Frau, Dr.
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Vorwort
Armgard Gräfin zu Dohna, geöffnet. Als Mediävist beziehungs-1 weise Historikerin der Frühen Neuzeit halfen sie, die Lücke zwi-2 schen den beiden unvereinbaren Demokratiemodellen zu3 schließen. 4 Graf und Gräfin zu Dohna verdanke ich auch die Kenntnis des5 ertragreichen Vortrags, den der früh verstorbene Frankfurter6 Historiker Friedrich Hermann Schubert im Jahre 1971 gehalten7 und unmittelbar danach unter dem Titel „Volkssouveränität und8 Heiliges Römisches Reich“ in der Historischen Zeitschrift pub-9 liziert hatte. Wie der einzigen Anmerkung des Textes zu entneh-0 men ist, stand das Buch zu dem genannten Thema kurz vor dem1 Abschluss. Leider war das Manuskript bei Schuberts Tod nicht2 auffindbar. 3 Mein Buch ist von einem historischen Interesse an dem lan-4 gen Weg bestimmt, der von der direkten Demokratie der Antike5 bis zur gegenwärtigen Parteiendemokratie reicht. Der Verfasser6 maßt sich nicht an, die große Zahl der Therapievorschläge, mit7 denen die Krisenerscheinungen der gegenwärtigen Parteiende-8 mokratie, die tatsächlichen und die vermeintlichen, geheilt wer-9 den sollen, durch einen eigenen zu vermehren. Nur beispiels-0 halber sollen im letzten Kapitel dieses Buches drei der jüngsten1 Versuche dieser Art vorgestellt und einer kritischen Prüfung2 unterzogen werden. 3 Zu danken habe ich wie immer meinem Freund aus gemein-4 samer Studenten- und Assistentenzeit in Marburg, Prof. Dr. Die-5 ter Flach, emeritiertem Althistoriker der Universität Paderborn.6 Er hat sich der Mühe unterzogen, meinen Text mit gewohnter7 Sorgfalt zu lesen, und er hat wertvolle Verbesserungsvorschläge8 beigesteuert. 9 Last but not least gilt mein Dank Daniel Zimmermann, Lek-0 tor der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft. Er hat sich um das1 8
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Vorwort
1Konzept und die Entstehung des Buches verdient gemacht, und 2er hat zum Schluss die Mühe des Korrekturlesens auf sich ge3nommen. 4 Klaus Bringmann 5Bad Homburg, im Herbst 2018 6 7 8 9 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 9
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Einführung
1 2 3 4 5 ls Griechenland vor einigen Jahren vor dem Staatsbankrott 6 zu stehen schien und das Verbleiben des Landes in der 7 8Währungsunion der Eurozone strittig wurde, ist verschiedent9lich geltend gemacht worden, dass Europa Griechenland nicht 0nur wegen seiner Verdienste um die Entstehung der europäi1schen Kultur, sondern auch als Wiege der Demokratie, der 2Regierungsform, die in der westlichen Welt als die legitime 3schlechthin gilt, Dank und Hilfe aus der Not schulde. Demokra4tie heißt übersetzt bekanntlich Herrschaft des Volkes. Aber was 5heißt das? In der direkten Demokratie der Antike – sie war eine 6Erfindung der Athener, nicht der Griechen schlechthin – bedeu7tete das, dass das Staatsvolk in Gestalt von Versammlungen re8gierte, gesetzliche Regelungen verabschiedete, Gericht hielt 9und eine umfassende Kontrolle über alle Amtsträger ausübte, 0die Aufträge des Souveräns, der Volksversammlung, erfüllten. 1Zu Recht sind diese Amtsträger von einem deutschen Althisto2riker, Ulrich Kahrstedt (1888–1962), als „Briefträger“ der Volks3versammlung apostrophiert worden. 4 In den heutigen Bezugnahmen auf diese Form der Demo5kratie fehlt es nicht an obligaten Hinweisen auf ihre Mängel: 6Frauen, Sklaven und Fremde, auch diejenigen mit Niederlas7sungsrecht in Athen, die sogenannten Metöken (das heißt 8„Mitbewohner“), waren von allen politischen Mitwirkungs9rechten ausgeschlossen. Doch immerhin: Die volljährigen 0männlichen Bürger genossen Gleichheit und Freiheit, das 1heißt diejenigen Vorzüge, die nach eigenem Selbstverständnis
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Einführung
die Demokratie auszeichnete. Sie allein waren berechtigt, die1 Stadt zu regieren, indem sie an Entscheidungen der Volksver-2 sammlung und der Volksgerichte teilhatten und amtliche3 Funktionen in welcher Stellung auch immer ausübten. In der4 Versammlungsdemokratie der Antike war das Volk der Bürger5 der Souverän des Staates und übte es die Staatsgewalt selbst6 aus. Auch in den modernen repräsentativen Demokratien wird7 bekanntlich alle Staatsgewalt auf das Volk zurückgeführt; aber8 das Volk regiert nicht, sondern wählt Vertreter, denen in wel-9 cher Form auch immer Gesetzgebung und Regierung obliegen.0 Nach verbreiteter heutiger Meinung war die direkte Demo-1 kratie der Antike nur in einem kleinen Gemeinwesen möglich,2 wo sozusagen jeder jeden kannte und die Entfernungen kurz3 waren, sodass jeder Berechtigte auch faktisch in der Lage war,4 seine politischen Rechte und Pflichten wahrzunehmen. Voraus-5 gesetzt wird vielfach auch, dass die Bürger der antiken Demo-6 kratie wegen der Existenz der Sklaverei ohne Nahrungssorgen7 waren und somit hinreichend freie Zeit zu politischem Enga-8 gement hatten. Schließlich wird geltend gemacht, dass in den9 kleinen Gemeinwesen der Antike, auch in Athen, nur über ver-0 hältnismäßig wenige und unkomplizierte Gegenstände Ent-1 scheidungen zu treffen waren. Aber für Athen, den Stadtstaat, in2 dem die Demokratie entstand, sind die zitierten Meinungen al-3 lesamt anfechtbar. Athen war nach antiken Maßstäben alles an-4 dere als ein Kleinstaat. Mit einer Fläche von ungefähr 2500 Qua-5 dratkilometern und einer Bürgerzahl, die im 5. Jahrhundert v.6 Chr. 30 000 bis 50 000 Personen umfasste, war die Stadt die7 größte Gemeinde in Griechenland. Schon wegen der zurückzu-8 legenden Entfernungen war es der auf dem Land lebenden Be-9 völkerung meist nicht möglich, regelmäßig an den Sitzungen0 der Volksversammlung teilzunehmen. Man bedenke: Im 4. Jahr-1 12
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1hundert gab es im Jahr vierzig reguläre und weitere zusätzliche 2Sitzungen bei Bedarf. Die Masse der Bürger und ihre Familien 3lebten auch nicht von der Arbeit, die Sklaven leisteten, sondern 4von eigener Erwerbsarbeit als Kleinbauern, Ruderer, Fischer, 5Handwerker oder Tagelöhner. Nicht zuletzt war Athen alles an6dere als eine Gemeinde ohne politischen und administrativen 7Regelungsbedarf. 8 Gemessen an antiken Verhältnissen war das genaue Gegen9teil der Fall. Die Stadt war im 5. Jahrhundert eine maritime 0Großmacht, deren außenpolitischer Aktionsradius von Zypern 1und Ägypten im Osten bis Sizilien und Unteritalien im Westen 2reichte. Athen verfügte über das kostspielige Machtmittel einer 3großen Kriegsflotte und stellte mit den Langen Mauern, die 4Athen mit seinen Häfen verbanden, die größte Landfestung der 5damaligen Zeit dar. Athen war nicht nur in militärischer Hin6sicht eine bedeutende Macht, die Stadt spielte auch eine Schlüs7selrolle in der aufkommenden Münzgeldwirtschaft. Athens Sil8bergeld wurde das Hauptzahlungsmittel im Raum der Ägäis und 9darüber hinaus. Athen als führende Seemacht und als Gemein0wesen der direkten Demokratie war ohne die Rolle, die das Sil1bergeld im Wirtschaftsleben und im Staatshaushalt spielte, 2nicht denkbar. 3 Dies gilt gerade auch für das politische System der Demokra4tie. Athen hätte für die Bewältigung seiner politischen und ad5ministrativen Aufgaben ein ausgebildetes Personal gebrauchen 6können, wie es ein moderner Staat in Gestalt eines vielgliedri7gen Berufsbeamtentums und zahlreicher Angestellter entwi8ckelt hat. Aber dafür fehlten alle Voraussetzungen. Athen behalf 9sich damit, dass es jedes Jahr einen beträchtlichen Teil seiner 0Bürgerschaft für die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben aus1losen ließ – Wahlämter gab es nur wenige – und für die Rotation 13
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der Belastung sorgte, indem die betreffenden Funktionen nur1 einmal oder selten ausgeübt werden mussten. Ob diese Rege-2 lung als schwer erträglicher Eingriff in die Freiheit individueller3 Lebensgestaltung oder als Bereicherung an gesellschaftlicher4 Bedeutung erfahren wurde, mag einstweilen auf sich beruhen.5 Aber es gab ohnehin keine Alternative. So viel ist jedenfalls si-6 cher: Unter heutigen Bedingungen wäre eine solche Organisati-7 on des öffentlichen Dienstes undenkbar und ginge, wenn sie8 denn eingeführt würde, wahrscheinlich in einem Verwaltungs-9 chaos und einem Proteststurm der Betroffenen unter. 0 Trotz zunehmender Bedeutung der Geldwirtschaft wäre1 Athen gar nicht in der Lage gewesen, sich ein Berufsbeamten-2 tum modernen Zuschnitts zu leisten. Aber auch das System der3 rotierenden Heranziehung der Bürgerschaft zu öffentlichen4 Dienstleistungen auf Zeit wäre ohne Geld nicht möglich gewe-5 sen. Tagegelder mussten gezahlt werden, nicht alle auf einen6 Schlag, sondern mit allmählicher Ausweitung der Bezahlung7 auf einen größeren Personenkreis. Die Höhe der Zahlungen war8 gering. Sie orientierten sich am Tagesverdienst eines ungelern-9 ten Arbeiters beziehungsweise eines gelernten Handwerkers.0 Mit den üppigen Diäten heutiger Parlamentsabgeordneter oder1 den Verdienstspannen des heutigen Berufsbeamtentums waren2 die Ausgleichzahlungen für entgangenen Mindestverdienst3 nicht im Entferntesten vergleichbar. 4 Die regulären Einnahmen der Stadt reichten für die genann-5 ten Unterstützungszahlungen aus, aber nicht für den Finanzie-6 rungsbedarf der kostspieligen Kriegsflotte. Hierzu mussten die7 Bundesgenossen der Athener Beiträge leisten (soweit sie nicht8 in der Lage waren, Kriegsschiffe zu stellen), und auch die Wohl-9 habenden in Athen wurden in der Weise zur Finanzierung des0 Gemeinwesens herangezogen, dass ihnen die Ausrüstung und1 14
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1Unterhaltung von Kriegsschiffen oder die Einstudierung von 2Chorliedern, Theateraufführungen, Tänzen und sonstigen 3Wettbewerben der Festkultur kostenpflichtig aufgebürdet wur4den. Dieses System der Leiturgien, wie im Griechischen die be5treffenden Leistungsverpflichtungen genannt wurden, stellte 6eine Belastung dar, die in Kriegszeiten – und wann gab es keinen 7Krieg? – eine schwere Bürde war, die unter Umständen im Ver8lust großer Vermögen enden konnte. Dies war einer der Gründe, 9aus denen die besitzende Klasse der Bürgerschaft der Demokra0tie entfremdet wurde. 1 Der andere Grund war die aristokratische Verachtung der 2breiten Masse, die in der Demokratie die Regierungsmehrheit 3bildete. Vom Standpunkt der alten adligen Elite aus betrachtet, 4bedeutete Demokratie Herrschaft des Pöbels, also die Herr5schaft der sachlich und moralisch zum Regieren Unqualifizier6ten. Es war dieser demokratiefeindliche Standpunkt, der in den 7Schriftzeugnissen der damaligen Literatur vielfach zum Aus8druck kommt. Das Lob der demokratischen Ordnung, das 9Thukydides, der Historiker des Peloponnesischen Krieges (431– 0404 v. Chr.), Perikles, dem führenden Staatsmann Athens, in 1den Mund legt, stellt eine Ausnahme dar. Verwunderlich ist das 2nicht. Die überwältigende Mehrheit der Schriftkundigen waren 3Gegner, wenn nicht Feinde der Demokratie, und sie nutzten die 4Möglichkeit, ihr Urteil einem Medium anzuvertrauen, das die 5beste Chance zu seiner Verbreitung und langfristigen Erhaltung 6bot. Als frühestes Beispiel mag die knappe Verurteilung der De7mokratie gelten, die Herodot, der erste griechische Historiker, 8im dritten Viertel des 5. Jahrhunderts in die sogenannte Verfas9sungsdebatte des dritten Buches seiner Historien aufgenom0men hat: „Es gibt nichts Unverständigeres und Gewalttätige1res“, heißt es dort, „als die unnütze Masse. Wie sollte sie auch 15
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vernünftig sein? Sie hat weder etwas gelernt, noch weiß sie von1 sich aus, was gut und edel ist. Ohne Verstand stürzt sie sich auf2 das Regieren, einem Strom im Tauwetter des Frühlings ver-3 gleichbar“ (Hdt. III, 81). 4 Gewiss, auch die führenden Politiker stammten im 5. Jahr-5 hundert noch zu einem bedeutenden Teil aus der alten adligen6 Elite, so beispielsweise der erwähnte Perikles oder sein jüngerer7 Verwandter Alkibiades. Aber sie galten der Mehrheit ihrer Stan-8 desgenossen als Verräter. 9 Das negative Urteil über die Demokratie wurde im 4. Jahr-0 hundert von den großen Staatstheoretikern Platon und Aristote-1 les aufgegriffen und vertieft. Generell bestimmte letztlich Ab-2 lehnung das Bild der Demokratie. So wies im 2. Jahrhundert der3 Historiker Polybios (ca. 200–118 v. Chr.) es kategorisch von sich,4 die Frage nach der besten Verfassung unter Einbeziehung von5 Athen und Theben, wo das Volk regierte, auch nur zu erörtern:6 „Daher erübrigt sich jedes weitere Wort über Athen und The-7 ben. Denn dort regierte die Masse nach ihrem Belieben, in der8 einen Stadt mit ungewöhnlicher Heftigkeit und Härte, in der9 anderen aufgewachsen in einer Atmosphäre von Gewaltsamkeit0 und Leidenschaft“ (Plb. VI, 44,9). 1 Dies war das Bild der Demokratie, das die Antike der Nach-2 welt überliefert, und dieses Bild war der Grund, dass sowohl in3 der Theorie als auch in den praktischen Überlegungen, die in4 der Zeit der Amerikanischen und Französischen Revolution5 über schriftlich fixierte Verfassungen angestellt wurden, der De-6 mokratie eine Absage erteilt wurde – Erfahrungen mit der anti-7 ken direkten Demokratie besaß ja niemand. Die bedeutendste8 Ausnahme war Jean-Jacques Rousseau. In seinem 1762 erschie-9 nenen Werk Du contrat social ou Principes du droit politique (deut-0 sche Übersetzung: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze1 16
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1des Staatsrechts) erkannte er der direkten Demokratie den Rang 2der einzigen Form zu, in der die Souveränität des Volkes Gestalt 3annehmen könne. Aber er scheiterte mit der Suche nach Reali4sierungsmöglichkeiten. 5 Die antike und die moderne Form der Demokratie beruhen 6der Staatstheorie zufolge wie alle Staatsgewalt auf dem Konzept 7der Volkssouveränität. Dieses Konzept reicht bis in die Antike 8zurück. Auf die Dispositionsgewalt des Volkes wurden die drei 9klassischen Regierungsformen zurückgeführt: Demokratie, 0Aristokratie und Monarchie. In der Version, die John Locke 1(1632–1704) in seinem Second Treatise on Government aus dem 2Jahr 1691 dieser Lehre gegeben hat, wird dargelegt, dass zu Be3ginn der Staatsbildung die Mehrheit des Volkes die Regierungs4gewalt entweder selbst ausübte oder auf einen Einzelnen bezie5hungsweise auf eine bestimmte Gruppe übertrug. Für den Fall, 6dass diese erste Übertragung der Regierungsgewalt durch das 7Volk hinfällig geworden war, fiel die Dispositionsgewalt an das 8Volk zurück: „Wenn die Mehrheit“, so heißt es, „die legislative 9Gewalt (die Verfügung über die öffentlichen Angelegenheiten) 0zuerst nur auf Lebenszeiten oder für eine begrenzte Zeit einer 1einzigen oder mehreren Personen überträgt, so kann die Ge2meinschaft danach wieder über sie verfügen und sie in beliebige 3Hände legen und so eine neue Regierung schaffen.“ 4 Im römischen Juristenrecht wurde die Herrschaftsgewalt der 5römischen Kaiser auf die Übertragung durch das Volk in Gestalt 6eines ‚Ermächtigungsgesetzes‘, einer lex regia, zurückgeführt. In 7den Digesten und den Institutionen des Corpus Iuris wird den kai8serlichen Verfügungen aus diesem Grund Gesetzeskraft zuge9schrieben: „Was der Kaiser bestimmt, hat Gesetzeskraft, weil ja 0das Volk durch das ‚Königsgesetz‘, das über die Herrschaft des 1Kaisers ergangen ist, diesem und auf diesen seine gesamte 17
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Herrschaftsgewalt übertragen hat (Ulpian in Dig. I, 4,1; Inst. I,1 2,6). 2 Rom kannte die direkte Gesetzgebung des Volkes und die ab-3 geleitete des Kaisers. Aber in den europäischen Monarchien des4 Mittelalters und der Frühen Neuzeit stand es anders. Sie waren5 durch ihre germanischen Wurzeln auf eine genossenschaftliche6 Struktur festgelegt. Kaiser und Könige übten ihre Herrschaft7 mithilfe von Vasallen und adligen Gefolgsleuten aus, auf höchs-8 ter Ebene in Gestalt allgemeiner Versammlungen, die das Volk9 vertraten. Ursprünglich wurden derartige Versammlungen nur0 unregelmäßig aus besonderen Anlässen zusammengerufen,1 doch spätestens in der Frühen Neuzeit wurden sie zu einer Dau-2 ereinrichtung: im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation3 zum Ewigen Reichstag in Regensburg, in Polen-Litauen zur4 Adelsvertretung des Sejms, in dem jedes einzelne Mitglied5 durch sein liberum veto jeden Beschluss der Körperschaft ver-6 hindern konnte, in England zum Parlament, von dem noch aus-7 führlicher die Rede sein wird. Doch es gab auch gegenläufige8 Entwicklungen unter dem Einfluss des monarchischen Absolu-9 tismus. Die allgemeinen Versammlungen in Frankreich, die so-0 genannten Generalstände, bestehend aus Vertretern des Adels,1 der (hohen) Geistlichkeit und des Stadtbürgertums, wurden seit2 dem frühen 17. Jahrhundert überhaupt nicht mehr einberufen.3 Als es endlich zur Abwendung des drohenden Staatsbankrotts4 1789 wieder geschah, begann mit der Französischen Revolution5 ein neuer Abschnitt der Weltgeschichte. 6 Entsprechend der genossenschaftlichen Struktur der Monar-7 chien Alteuropas stammten die Vertreter des Volkes aus den pri-8 vilegierten Minderheiten des Adels, der Kirchenfürsten und der9 städtischen Obrigkeiten. Zu ihren Aufgaben gehörte im Falle0 einer Wahlmonarchie beziehungsweise des Wechsels zu einer1 18
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1neuen Dynastie die Vertretung des Volkes bei der Zeremonie 2der Herrschaftsübertragung auf den erwählten Monarchen. Da3bei konnte, wie im Heiligen Römischen Reich, das Volk von ei4ner winzigen Minderheit repräsentiert werden, seit der Wahl5ordnung der Goldenen Bulle von 1356 von dem herausgehobenen 6Gremium der sieben Kurfürsten. Damit der Erwähnung eines 7uralten Herkommens das Satyrspiel nicht fehle, sei die Karika8tur, die ein Augenzeuge der symbolischen Herrschaftsübertra9gung durch das Volk anlässlich der Kaiserkrönung Leopolds II. 0im Frankfurter Dom (1790) seinen Lebenserinnerungen beige1fügt hat, wörtlich zitiert: „Am possierlichsten war es, als eine 2Bischofsmütze im lieblichsten Nasentone und lateinisch zur Or3gel hinauf intonierte, ob sie da oben nun wirklich den Serenissi4mum Dominum, Dominum Leopoldum wollten in regem suum 5habere, worauf der bejahende Chorregent gewaltig mit dem 6Kopfe schüttelte, seinen Fiedelbogen getreulich auf und nieder 7schwenkte, die Chorjungfern und Chorknaben aber im höchs8ten Diskant herunterriefen: fiat, fiat, fiat!“ (er soll es werden, er 9soll es werden, er soll es werden). 0 Die Übertragung der Herrschergewalt auf ein neues Königs1paar konnte auch zu einer Neubestimmung des Machtverhält2nisses zwischen Krone und Vertretung des Volkes führen. Dies 3geschah nach der Glorious Revolution von 1689 in England. Bei 4dem Krönungszeremoniell nahmen die Mitglieder des Unter5hauses zum ersten Mal in der Geschichte Englands einen promi6nenten Platz in der Kirche ein, und beide neuen Herrscher, Wil7helm III. und Königin Mary, leisteten den zwischen ihnen und 8dem Parlament neu ausgehandelten Eid, mit dem sich die Inha9ber der Krone an den legislatorischen Willen des Parlaments 0banden. König und Königin gelobten, „to govern the people of 1this kingdom of England … according to the statutes in parlia19
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ment agreed on, and the laws and customs of the same.“ Das war1 der Anfang einer Entwicklung, die dazu führte, dass in England2 die königliche Gewalt von der parlamentarischen Vertretung3 des Volkes gewissermaßen eingehegt wurde – king in parliament4 war die Formel, die der entstehenden parlamentarischen Mon-5 archie Englands beigelegt wurde. Von Demokratie war diese6 parlamentarische Adelsherrschaft noch denkbar weit entfernt.7 Es sollte bis zum Jahr 1920 dauern, bis Stanley Baldwin, in der8 Zwischenkriegszeit mehrfach konservativer Premierminister, in9 einem Privatbrief schrieb: „Die Demokratie hat England im Ga-0 lopp erreicht, und ich werde den Eindruck nicht los, dass es ein1 Rennen um unser Leben (das der alten aristokratischen Klas-2 sengesellschaft) ist: Können wir sie (die Mehrheit der neuen3 Wähler) erziehen, bevor es zum großen Krach kommt?“ 4 Zurück zum 18. Jahrhundert. Im Heiligen Römischen Reich5 standen dem Kaiser als Vertreter des Volkes die Inhaber der6 Landesherrschaften gegenüber, während die Masse der Reichs-7 ritter ausgeschlossen blieb; in Polen-Litauen vertraten die Abge-8 ordneten des überaus zahlreichen Schwertadels, der Szlachta,9 die Nation. Beide Gebilde – der Staatsrechtslehrer Samuel Pu-0 fendorf (1632–1694) hatte das Heilige Reich nicht als Staat, son-1 dern als monstro simile, einer Missgeburt ähnlich, bezeichnet –2 gingen im Zeitalter der Französischen Revolution gegen Ende3 des 18. beziehungsweise zu Beginn des 19. Jahrhunderts zugrun-4 de. 5 Allein Polen-Litauen hatte zur Abwendung des drohenden6 Endes durch die Verfassung vom Mai 1791 unter Rückgriff auf7 die Lehre von der Gewaltenteilung versucht, das Doppelreich8 vor dem Zugriff der Nachbarn, Russland, Preußen und Öster-9 reich, zu retten. Diese Lehre stammt von dem bedeutenden0 französischen Philosophen und Staatsrechtslehrer Charles de1 20
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1Montesquieu (1669–1755). Er hatte längere Zeit in England ver2bracht und zog in seinem 1748 erschienen Werk De l’esprit des 3lois (deutsch: Vom Geist der Gesetze) aus der Betrachtung der 4politischen Verhältnisse dieses Landes die Einsicht, dass in der 5Gewaltenteilung zwischen der Exekutive der Krone, der Legis6lative des Parlaments und der Judikative unabhängiger Richter 7die Garantie der viel gerühmten englischen Freiheit liege. Heute 8gilt Gewaltenteilung als eine der wichtigsten Grundlagen der 9Demokratie. Im 18. Jahrhundert war das ganz anders. Demokra0tie war nach verbreitetem Urteil ungeteilte Mehrheitsherrschaft 1und als solche die schlimmste Form der Despotie. Kein Geringe2rer als der größte philosophische Kopf des 18. Jahrhunderts, Im3manuel Kant (1724–1804), hat dies in seiner Schrift Zum ewigen 4Frieden. Ein philosophischer Entwurf aus dem Jahr 1795 in aller 5Schärfe zum Ausdruck gebracht. Nicht zur Begründung einer 6Demokratie, sondern zur Erhaltung der inneren Freiheit des 7Staates waren die revolutionären Verfassungen der Vereinigten 8Staaten aus dem Jahr 1787/88 und Frankreichs vom September 91791 nach dem Prinzip der Gewaltenteilung konstruiert. 0 Bei der polnischen Verfassung vom Mai 1791 kam zum Motiv 1der Erhaltung der Freiheit noch die Absicht ins Spiel, dem Land 2eine funktionierende Exekutivgewalt mit einem erblichen Kö3nigtum an der Spitze zu geben. Gerade die Institution der Kö4nigswahl hatte dem korrumpierenden Einfluss der Nachbarn, 5insbesondere Russlands, Tür und Tor geöffnet, und in die glei6che Richtung wirkte das Zusammenspiel adliger Partikularinte7ressen mit der Einflussnahme der benachbarten Großmächte. 8Zwar blieb auch unter der neuen Verfassung die privilegierte 9Stellung des Schwertadels, der Szlachta, als Repräsentant der 0Nation erhalten. Aber zur Eindämmung der Bestechlichkeit, die 1unter den vielen armen Angehörigen des Adels verbreitet war, 21
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wurde ein Zensus eingeführt, der einen Großteil der Szlachta,1 angeblich rund vierzig Prozent der Mitglieder, von dem Recht2 ausschloss, Abgeordnete zum Sejm zu wählen. Hinzu kamen3 zwei weitere flankierende Maßnahmen: Das liberum veto, das4 jedem Repräsentanten des Adels ermöglicht hatte, durch sein5 Veto Beschlüsse des Reichstags zunichtezumachen, wurde ab-6 geschafft, und die Koalitionen mächtiger Magnaten, die im Zu-7 sammenspiel mit den Nachbarn ihre partikularen Interessen8 gegen die des Gesamtstaates durchzusetzen unternahmen, wur-9 den verboten – zum Schaden der unglücklichen Nation leider0 vergeblich. 1 Während im Königreich Polen-Litauen der Adel verfas-2 sungsgemäß weiterhin die Nation repräsentierte und es um die3 Erhaltung von Staat und Gesellschaft ging, brachten die Ame-4 rikanische und die Französische Revolution grundlegende Ver-5 änderungen: In Frankreich waren Staat und Gesellschaft be-6 troffen, in Amerika wurde das Band zwischen dem englischen7 Mutterland und den dreizehn nordamerikanischen Kolonien8 zerschnitten und ein neuer souveräner Bundesstaat gegründet –9 die Vereinigten Staaten von Amerika. Dort war der eigentlich0 revolutionäre Akt die Erklärung der Unabhängigkeit von Eng-1 land am 4. Juli 1776. Der Kern des Konflikts war, dass es das eng-2 lische Parlament war, das die Kolonien besteuerte, um die3 Schuldenlast zu mindern, die während des französisch-engli-4 schen Krieges um die Herrschaft in Nordamerika (1756–1762)5 entstanden war. Damit hatte es nach amerikanischer Auffas-6 sung gegen das im englischen Staatsrecht geheiligte Prinzip „No7 taxation without representation“ verstoßen; der Konflikt eska-8 lierte, und die Vertreter der dreizehn Kolonien sagten sich9 schließlich vom Mutterland los. Mit französischer Hilfe gewan-0 nen sie ihre Unabhängigkeit und gründeten einen Bundesstaat1 22
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1neuen Typs, der auf einer schriftlich fixierten, im Wesentlichen 2noch heute gültigen Verfassung fußte. An der gesellschaftlichen 3Ordnung der Vereinigten Staaten brauchte nichts geändert zu 4werden. In den Kolonien gab es keinen Adel als besonderen 5Stand, sondern schlicht und einfach Bürger mit gleichen Rech6ten und Pflichten. 7 In Frankreich war dies anders. Dort hatte im Schicksalsjahr 81789 der dritte Stand, der das Leistungszentrum des Landes, das 9Bürgertum, vertrat, sich zum alleinigen Repräsentanten der Na0tion erklärt und die privilegierten Stände, Adel und hohe Geist1lichkeit, abgeschafft. Bereits in den wenigen Jahren bis zum 2Ende der Monarchie (1792) war die Nationalversammlung der 3eigentliche Souverän des Staates. Nirgends kommt dies klarer 4zum Ausdruck als in der kurzlebigen ersten geschriebenen Ver5fassung der konstitutionellen Monarchie vom September 1791. 6In Frankreich war anstelle der ständischen Ordnung die Gesell7schaft der Staatsbürger entstanden, und dies war der Grund, 8warum der Verfassung ein Katalog der Bürger- und Menschen9rechte vorausgeschickt wurde. Darin waren die Vereinigten 0Staaten Frankreich insoweit vorausgegangen, als die Unabhän1gigkeitserklärung in hochfliegenden Formulierungen den Staat 2auf den Zweck festlegte, das individuelle Streben nach Glück, 3pursuit of happiness, zu fördern. Eine Ergänzung fand die Verfas4sung durch einen Katalog von Bürger- und Menschenrechten in 5den ersten zehn Zusatzartikeln von 1791. Diese gelten noch im6mer als grundlegender Teil einer demokratischen Ordnung, ja, 7sofern das gegenwärtige Demokratieverständnis auf die huma8nitären Ideale der Menschenrechte fixiert ist, für das eigentliche 9Kernstück einer Demokratie. Dieses Demokratieverständnis 0hat seine eigene Geschichte, die sich längst von den revolutionä1ren Ursprüngen, das heißt von einer der Aufklärung verpflichte23
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ten Grundlegung eines neuen Staats- und Gesellschaftsideals,1 emanzipiert hat. Als Fundament einer Demokratie waren die2 Bürger- und Menschenrechte ursprünglich keineswegs gedacht,3 sondern zur Abgrenzung von dem Totalitätsanspruch einge-4 führt, der im 18. Jahrhundert der aus der Antike überlieferten5 direkten Demokratie zugeschrieben wurde. 6 Wie wenig es damals um den Aufbau einer wie immer defi-7 nierten Demokratie ging, zeigt die Suche nach einer Elite, die8 dazu bestimmt war, anstelle der alten Stände die öffentlichen9 Angelegenheiten beurteilen zu können und den Staat zu lenken0 und zu leiten. Die Lösung wurde überall durch die Einführung1 eines Zensus angestrebt, der das aktive und passive Wahlrecht2 an ein Mindestvermögen oder an die Höhe der Steuerleistung3 band. Die zugrunde liegende Begründung ging dahin, dass Ver-4 mögen und Bildung die notwendigen Voraussetzungen für Un-5 abhängigkeit und Urteilsfähigkeit in öffentlichen Angelegenhei-6 ten waren. Selbst in Polen-Litauen, wo der Adel die Nation7 repräsentierte, wurde der Maßstab des Zensus in der Absicht8 angewendet, diejenigen vom Wahlrecht auszuschließen, deren9 finanzielle Situation ihre Unabhängigkeit infrage stellte und sie0 für Bestechung empfänglich machte. 1 Die Verfassungen des späten 18. Jahrhunderts waren im2 Selbstverständnis der neuen Eliten nicht demokratisch, und in3 den Vereinigten Staaten legten die Gründerväter den größten4 Wert darauf, dass der neue Staat eine Republik und keinesfalls5 eine Demokratie sei. Aber es gab auch überall eine radikale Un-6 terströmung, die politische Gleichheit und nicht nur diese for-7 derte. In Frankreich postulierte François „Gracchus“ Babeuf8 (1760–1797) nach dem scheinbaren Vorbild der beiden römi-9 schen Agrarreformer Tiberius und Gaius Gracchus eine Neuver-0 teilung des Grund und Bodens, ohne eine nennenswerte Anhän-1 24
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1gerschaft zu gewinnen. Die Bourgeoisie, die neue herrschende 2Klasse, hielt an den bestehenden Eigentumsverhältnissen fest. 3Im frühen 19. Jahrhundert gewann jene demokratische Unter4strömung Auftrieb. In England wurde Jeremy Bentham (1748– 51832), der Mitbegründer der einflussreichen reformorientierten 6Zeitschrift Westminster Review, nach Heinrich von Treitschkes 7Urteil im vierten Band seiner Deutschen Geschichte im Neun8zehnten Jahrhundert (1889, 22 f.) einer der Hauptverfechter der 9wissenschaftlichen Formeln für die Weltanschauung des her0annahenden demokratischen Zeitalters. „Wird der Staat erst 1demokratisiert“, so lautete die Erwartung, „muss schließlich 2die Macht der Arbeit, der Bildung, der freien Rede den künstli3chen, nur durch äußere Umstände bedingten Unterschied zwi4schen den Personen, den Rassen, den Geschlechtern völlig ver5nichten.“ 6 In England, dem Land der Frühindustrialisierung, wurde da7mals im Interesse der malträtierten Arbeiterklasse von den 8Chartisten – der Name, abgeleitet von lateinisch charta, be9zeichnet eine Bewegung, die für eine geschriebene Verfassung 0eintrat – die Forderung nach politischer und sozialer Gleichheit 1erhoben. Doch der durch die Parlamentsreform von 1832 leicht 2modifizierten parlamentarischen Adelsherrschaft gelang es, 3durch eine Mischung von Repression und Entgegenkommen in 4Detailfragen der Bewegung der Chartisten Herr zu werden. Das 5Gelobte Land einer Demokratisierung aber wurden seit der Zeit 6um 1830 die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Symbolfigur 7dieser Entwicklung war Andrew Jackson, zweimal Präsident des 8Landes in der Zeit von 1828 bis 1836. Dieser stammte nicht aus 9der alten Elite der Ostküstenstaaten, sondern repräsentierte die 0Schicht der kleinen Leute, welche die Territorien und neuen 1Staaten jenseits der Alleghanies besiedelten. In seine Zeit fällt 25
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in den meisten Staaten die Beseitigung des Zensuswahlrechts1 (Schlusslicht war 1856 North Carolina). Jeder männliche weiße2 Amerikaner besaß nun das Wahlrecht, und die Wahlversamm-3 lungen gerieten zum Schrecken der alten Elite zu gewalttätigen4 Auseinandersetzungen, die auch Eingang in die Karikaturen der5 Zeit fanden. 6 Die Demokratisierung vollzog sich nicht nur im politischen7 Raum durch die Einführung des allgemeinen und gleichen8 Wahlrechts weißer Männer und die Berücksichtigung von An-9 liegen kleiner Leute. Sie betraf auch die gesellschaftlichen Ver-0 hältnisse, den freien Umgang der Angehörigen aller Schichten1 und vieles mehr. Die erste wissenschaftlich anspruchsvolle Ana-2 lyse dieses Demokratisierungsprozesses stammt von Alexis de3 Tocqueville (1805–1859). Die beiden von ihm verfassten Bände4 De la démocratie en Amérique (Erstveröffentlichung 1835/1840)5 sind der literarische Niederschlag seiner Amerikareise, die er6 1831 im Auftrag der französischen Regierung zum Studium des7 Rechtssystems und des Strafvollzugs in den Vereinigten Staaten8 antrat und zu einem umfassenden Studium von Staat und Ge-9 sellschaft einer entstehenden Demokratie nutzte. Er sagte vor-0 aus, dass die Demokratisierung, wie sie sich in Amerika vollzog,1 das Schicksal der Welt sein werde. 2 Deutschland war damals von diesem Schicksal noch denkbar3 weit entfernt. Zwar hatte Napoleon für eine radikale Vereinfa-4 chung der buntscheckigen Landkarte des untergegangenen5 Heiligen Römischen Reiches gesorgt. Aber in Hinblick auf die6 verfassungsmäßige Ordnung der Staaten des Deutschen Bun-7 des herrschte weiter die größte Verschiedenheit. Der Deutsche8 Bund hatte in Artikel 13 der Wiener Schlussakte seine Staaten9 auf „landständische Verfassungen“ festgelegt und damit auf je-0 nen rückständigen Typus, in dem der Adel unverhältnismäßig1 26
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1stark vertreten war. Eine Reihe von Staaten, zumal die größten, 2Preußen und Österreich, blieben ohne Verfassung, andere ver3harrten bei ihrem „altständischen Stilleben in Norddeutsch4land“ (so die Überschrift des einschlägigen Kapitels in Treitsch5kes Deutscher Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert), während 6wieder andere, die süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg, 7Baden und Hessen-Darmstadt, sich in der Absicht, alle Teile ih8res Staatsgebietes einer einheitlichen Ordnung zu unterwerfen, 9neue Verfassungen gaben. Strittig war, ob diese dem Artikel 13 0der Wiener Schlussakte entsprachen oder als Repräsentativver1fassungen aufzufassen seien, in denen nicht Stände, sondern 2das Staatsvolk als Ganzes in den Landtagen vertreten war. 3 Wegen der vermeintlichen Nähe von Volkssouveränität und 4Repräsentativsystem schlugen stockkonservative Staatsrechts5lehrer und Publizisten Alarm; denn wo das Prinzip der Volkssou6veränität ins Spiel kam, war, so schien es, die Demokratie nicht 7mehr weit; mit diesen Warnungen trafen sie die Ängste der re8aktionären Mächte, indessen keineswegs immer zu Recht. Selbst 9die 1831 in Kraft getretene kurhessische Verfassung, die gewisse, 0sonst in Deutschland nicht vorhandene Elemente von Fort1schrittlichkeit enthielt, war auf dem monarchischen Prinzip der 2Staatsgewalt gegründet und hielt an der ständischen Struktur 3des Landtags fest – und doch rügte der österreichische Staats4kanzler Fürst Metternich ein Jahr vor Ausbruch der Märzrevolu5tion von 1848 die kurhessische Verfassung als „sehr demokra6tisch“. Überhaupt fühlten sich die Vormächte der Reaktion, vor 7allem Russland unter Zar Nikolaus I., von den „Fluten der stän8dig wachsenden Demokratie“ herausgefordert – so der russische 9Staatsmann Graf Nesselrode an Zar Nikolaus zu dessen 25. Jubi0läum der Thronbesteigung. Die Rede war von einem „Schutz1wall gegen die Wogen der ständig anwachsenden Demokratie“ 27
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(une digue aux flots de la démocratie toujours croissante), der1 mit Erfolg gegen die polnische Unabhängigkeitsbewegung er-2 richtet worden war. Tatsächlich waren im Interesse der Wieder-3 gewinnung der Unabhängigkeit Polens die militärische und die4 politische Mobilisierung der bäuerlichen Mehrheit des Landes5 notwendig, und genau dies war das Ziel des von Frankreich aus6 gesteuerten polnischen „Demokratischen Vereins“. 7 In Deutschland war die Märzrevolution von 1848 Erfolg und8 Misserfolg zugleich. Das eine Ziel demokratischer Bestrebun-9 gen, die Einheit der politisch gespaltenen Nation zu erlangen,0 wurde bekanntlich verfehlt, das andere, das dahin ging, Stan-1 desprivilegien des Adels abzubauen, die Befreiung der Bauern2 von den teilweise noch immer nicht abgelösten Feudallasten zu3 vollenden, Gewerbefreiheit und bürgerliche Rechtsgleichheit4 zu schaffen, wurde im Wesentlichen, wenn auch nicht bereits5 durch die Paulskirchenverfassung von 1849, die ja keine Gültig-6 keit erlangte, so doch in der unmittelbaren Folgezeit erreicht.7 Die Standesprivilegien wichen der bürgerlichen Gleichheit – mit8 der Ausnahme der politischen Mitwirkungsrechte in den Parla-9 menten. Diese wurden der Elite der Wohlhabenden und Gebil-0 deten vorbehalten. Der Zensus war das Mittel der Wahl, die Zu-1 gehörigkeit zu dieser Elite festzustellen oder auszuschließen.2 Das später umkämpfte preußische Dreiklassenwahlrecht ent-3 sprach zunächst der Regel. 4 Einer der damals führenden Staatsrechtslehrer in Heidelberg,5 der zugleich ein führender Parlamentarier zuerst in der Ersten,6 dann in der Zweiten Kammer des Großherzogtums Baden war,7 Johann Caspar Bluntschli (1808–1881), schrieb dazu in dem zwi-8 schen 1857 und 1870 veröffentlichten mehrbändigen Staats-9 handbuch: „Da die heutigen Staaten fast alle auf einem weiten0 Land ruhen und die großen Massen auch der Arbeiter persönli-1 28
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1che Freiheit und Staatsbürgerrecht erwerben, aber nicht die 2Muße und nicht die Bildung haben, um den Staat verwalten zu 3können, so ist diese Staatsform (gemeint ist die direkte Demo4kratie der Antike) nicht möglich, und die veredelte Form der re5präsentativen Demokratie an ihre Stelle getreten als die moder6ne Art der Demokratie. Das Prinzip der repräsentativen 7Demokratie ist: Das Volk beherrscht sich selbst, aber indem es 8die gesamte Staatsverwaltung an seine Repräsentanten über9trägt, die es zu diesem Zweck als die Besten und Tauglichsten 0auswählt.“ 1 Was die Gründerväter der Vereinigten Staaten, die von direk2ter Demokratie nichts wissen wollten, als Republik bezeichnet 3hatten, erhielt nun, nachdem der Begriff der Demokratie seinen 4Schrecken eingebüßt hatte und als Repräsentativsystem in Er5scheinung trat, den Ehrennamen einer „veredelten Demokra6tie“. 7 Doch seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam eine 8lang andauernde Entwicklung in Gang, in der alle Beschränkun9gen des Wahlrechts zurückgenommen wurden und das Prinzip 0des „one man one vote“ auch die Frauen einschloss. In Europa 1war der erste Bundesstaat, der für die Wahl der Repräsentanten 2des Volkes keinen Zensus vorsah, der nach dem Krieg Preußens 3gegen Österreich und den Deutschen Bund 1867 gegründete 4Norddeutsche Bund. Übernommen wurde das allgemeine und 5gleiche Wahlrecht in die Verfassung des 1871 gegründeten Deut6schen Reichs, in dem auch das demokratische Programm der 7deutschen Einheit Erfüllung fand – freilich unter Ausschluss der 8österreichischen Teile des aufgelösten Deutschen Bundes. 9Trotzdem lässt sich im Falle des deutschen Kaiserreichs nicht 0von Demokratie sprechen. Die Regierungsform war im Unter1schied zu der Englands nicht parlamentarisch, sondern monar29
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chisch-konstitutionell. Die Ernennung des Reichskanzlers war1 das Vorrecht des Kaisers, und diesem, nicht dem Reichstag, war2 der Chef der Regierung verantwortlich. Das änderte sich erst3 kurz vor dem Ende des Ersten Weltkriegs, als das Deutsche4 Reich im Oktober 1918 zur parlamentarischen Regierungsform5 überging. 6 Damals nahm auch das längst für Frauen geforderte Wahl-7 recht seinen Anfang, aber es dauerte lange, bis es sich überall in8 Westeuropa durchgesetzt hatte. In Deutschland führte die Ver-9 fassung der Weimarer Republik das Frauenwahlrecht ein, in0 Frankreich dauerte es bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, in1 der Schweiz und ihren Kantonen noch länger. In England fielen2 die Beseitigung des Zensuswahlrechts und der Beginn des Frau-3 enwahlrechts auf das Ende des Ersten Weltkriegs. Damals wur-4 de den Frauen über dreißig Jahren in Anerkennung ihres Bei-5 trags zur Erringung des Sieges das Wahlrecht zuerkannt; die6 jüngeren Frauen gingen noch leer aus, damit der männliche Teil7 der Bevölkerung, der im Krieg hohe Verluste erlitten hatte, nicht8 auf die Minderheit an der Wahlurne reduziert wurde. Erst 19289 wurde auch den jüngeren Frauen das Wahlrecht zuerkannt. 0 Mit dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht aller Bürger än-1 derten sich der Staatszweck und die Führungselite der vollende-2 ten Demokratie. Es entstanden miteinander verbunden Partei-3 endemokratie und sozialstaatliche Orientierung im Interesse4 einer Daseinsfürsorge für die Masse des Volkes. Auf Einzelheiten5 kann erst im zweiten Hauptteil eingegangen werden. An dieser6 Stelle sei nur daran erinnert, dass in England bereits in den vier-7 ziger Jahren des 19. Jahrhunderts von der Bewegung der Chartis-8 ten die aufeinander bezogenen Forderungen nach politischer9 und sozialer Gleichheit erhoben worden waren und im deut-0 schen Kaiserreich die Gründung einer sozialistischen Arbeiter-1 30
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1partei die Anfänge und den Ausbau der sozialstaatlichen Orien2tierung des Staatszweckes vorantrieb. Andere gesellschaftliche 3und wirtschaftliche Interessen beförderten den weiteren Ausbau 4der Parteiendemokratie. Im Zeitalter des sogenannten Kultur5kampfes entstand mit dem Ziel der Selbstbehauptung des 6Katholizismus die Zentrumspartei; die älteren konservativen 7und liberalen Parteien mutierten zu ökonomischen Interessen8vertretungen, etwa der Landwirtschaft oder der Industrie, von 9Freihandel oder Schutzzöllen. Anderes kommt neuerdings hin0zu: die Erhaltung der natürlichen Umweltbedingungen oder die 1Eindämmung von Flüchtlingsströmen, die politischer Verfol2gung, Krieg oder Armut entgehen wollen, die Bewältigung der 3Finanzkrise in der Eurozone oder die Stärkung des inneren Zu4sammenhalts in der Europäischen Union. 5 Die Parteien bewerben sich darum, die größtmögliche Zahl 6von Wählern zu gewinnen und, wenn irgend möglich, die Re7gierung zu stellen. Sie sind das Verbindungsglied zwischen dem 8Souverän, dem Volk, und der Staatsgewalt, die von diesem „in 9Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der 0Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtspre1chung“ ausgeübt wird (Artikel 20 Absatz 2 Grundgesetz). Zur 2Rolle der Parteien heißt es in Artikel 21 Absatz 1 Grundgesetz: 3„Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des 4Volkes mit.“ Wahlen und Abstimmungen sowie die Ausübung 5der Staatsgewalt werden durch Vermittlung von Parteien voll6zogen. Das aber heißt: Der Eintritt in die Elite der Parteiende7mokratie ist nach dem sogenannten „ehernen Gesetz der Olig8archie“ nur über die Mitgliedschaft und die prominente Stellung 9in einer Partei möglich. Insofern kann gesagt werden: Die mo0derne repräsentative Demokratie ist eine Parteiendemokratie. 1Abgesehen von Wahlen und Abstimmungen geschieht alles 31
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Weitere, was aus dem Ergebnis folgt – Koalitionsabsprachen,1 Vereinbarung des Regierungsprogramms, Gesetzgebung und2 Regierungstätigkeit –, ohne direkte Beteiligung des Wahlvol-3 kes. Aber wenngleich der Souverän von direkter Mitsprache4 ausgeschlossen ist, so sind doch die Absprachen und Beschlüs-5 se der Parteien gewiss nicht unbeeinflusst von der Debatte über6 öffentliche Angelegenheiten in Presse und Rundfunk, den Ini-7 tiativen von Interessenvertretungen und öffentlichen Demons-8 trationen. 9 Die Parteien selbst haben ein ureigenes Interesse daran, je-0 weils zu berücksichtigen, was den Wähler umtreibt, und dazu1 gehört auch die Einbindung von Parteimitgliedern und Wahl-2 volk in den Prozess der demokratischen Willensbildung. Dies3 geschah und geschieht getreu der von Willy Brandt stammen-4 den Losung „Mehr Demokratie wagen“ in Gestalt einer Auswei-5 tung der demokratischen Forderung nach Gleichheit und Ge-6 rechtigkeit auf den gesamtgesellschaftlichen Bereich. Erwähnt7 seien einige prominente Beispiele – ohne Anspruch auf Vollstän-8 digkeit oder Chronologie – auf so verschiedenen Feldern wie:9 gesellschaftliche Gleichberechtigung der Frauen und ihre Be-0 rücksichtigung auf allen Führungsebenen in Politik und Wirt-1 schaft, Abbau traditioneller Hierarchien in Universitäten und2 Hochschulen, Aufnahme von Arbeitnehmervertretern in die3 Vorstände großer Unternehmen, Beseitigung der geringeren4 Bezahlung weiblicher Arbeitnehmer im Vergleich zu Männern,5 Sicherung von Mindestverdienst und Alters-, Gesundheits- und6 Pflegeversicherung, Beseitigung der sogenannten Zweiklassen-7 medizin durch eine wie immer geartete Bürgerversicherung, als8 „Ehe für alle“ plakatierte Gleichstellung von Menschen unter-9 schiedlicher sexueller Orientierung im Ehe- und Adoptions-0 recht, um hier nur diese Themen ‚demokratischer‘ Politik zu1 32
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1nennen, die eine Berücksichtigung elementarer Interessen gro2ßer und kleiner Wählerschichten enthalten. 3 Konterkariert werden diese Zielsetzungen demokratischer 4Politik durch die Komplexität der zur Lösung anstehenden Pro5bleme, etwa bei den Fragen der Finanzierung, der Steuergesetz6gebung, des Rentenalters oder der Sanierung des Gesundheits7wesens und der Pflegeversicherung im Alter. Was die antike 8Demokratie anbelangt, so konnte Perikles in der von Thukydi9des verfassten Grabrede mit einigem Recht sagen, dass jeder 0Bürger Athens über eine gewisse Kenntnis der öffentlichen An1gelegenheiten verfüge. Heutzutage lässt sich das nicht mehr be2haupten. Wer könnte schon von sich behaupten, dass er ange3sichts der konkurrierenden Gesetzgebung der Länder, des 4nationalen Bundesstaates und der Europäischen Union die 5Übersicht, die Sachkenntnis und das Interesse aufbrächte, um 6den Wegen und Umwegen des politischen Betriebs folgen zu 7können. 8 Die Folgen dieses Zustandes sind offenkundig: Neigung zu 9Wahlenthaltung oder Fundamentalopposition gegen den Kon0sens der politischen Wortführer in Politik und Presse. Zu den 1umstrittenen Themen gehören gegenwärtig bekanntlich die 2Asyl- und Flüchtlingspolitik oder die Pläne, die auf eine Zurück3drängung der nationalen Selbstbestimmung zugunsten einer 4Weiterentwicklung der Europäischen Union zu einem Bundes5staat mit einheitlicher Währung und Staatshaushalt hinauslau6fen. 7 Diese Konstellation hat zur Gründung einer neuen Partei am 8rechten Rand des politischen Spektrums geführt, der soge9nannten „Alternative für Deutschland“. Abgesehen von der 0Kinderkrankheit innerparteilicher Flügelkämpfe versucht die 1neue Partei oft genug, sich mit einer die Grenze zum Skandal 33
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überschreitenden Verbalradikalität zu profilieren. Dies hat1 dazu geführt, dass die unbequemen Neuankömmlinge von den2 etablierten Parteien und dem größten Teil der Presse unter3 dem Stichwort „(Rechts-)Populismus“ abgewertet und aus4 dem Kreis der honorigen Demokraten ausgegrenzt werden.5 Am linken Rand des Parteienspektrums wird auch die aus der6 Erbmasse der untergegangenen DDR hervorgegangene Partei7 „Die Linke“, so gut oder so schlecht es gehen mag, von der8 Möglichkeit politischer Mitwirkung ferngehalten. Obwohl bei-9 de Parteien sich an demokratischen Wahlen beteiligt und zu-0 sammen etwa ein Viertel der Wähler zum Deutschen Bundes-1 tag gewonnen haben, gelten sie als Störfaktor im Kreis2 derjenigen Parteien, die sich als die wahren Demokraten ver-3 stehen und die anderen als rechts- oder linksradikale Populis-4 ten ausgrenzen. Das wirft die Frage nach der Stichhaltigkeit5 der als Kampfbegriffe gebrauchten Schlagworte „Demokratie“6 und „Populismus“ auf. Immerhin haben beide Worte eine ge-7 meinsame Wurzel: In beiden steckt das Wort Volk, griechisch8 demos, lateinisch populus. 9 Am Schluss des Buches soll aus der Flut der Vorschläge, die0 Gebrechen der modernen Demokratie zu heilen, auf drei Bü-1 cher jüngsten Datums eingegangen werden. Im Jahr 2016 er-2 schien die deutsche Übersetzung des Buches von David Van3 Reybrouck mit dem Titel Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht4 demokratisch ist, und auf der Rückseite des Umschlags ist zu le-5 sen: „Wahlen sind heutzutage primitiv. Eine Demokratie, die6 sich darauf reduziert, ist dem Untergang geweiht.“ Als Heilmit-7 tel wird das Losverfahren gepriesen, mit dem in der athenischen8 Demokratie abwechselnd jeweils ein Teil der Bürgerschaft zu9 Hilfskräften des regierenden Souveräns auf Zeit bestimmt wur-0 de. Fast zur gleichen Zeit erschien das Buch des amerikanischen1 34
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1Politikwissenschaftlers Jason Brennan. Der Titel lautet Gegen 2Demokratie. Warum wir die Politik nicht den Unvernünftigen über3lassen dürfen. Darin plädiert der Autor für eine Beschränkung 4des Wahlrechts auf die Minderheit politisch gebildeter Staats5bürger. Die Richtgröße wird auf rund 25 Prozent der Bürger des 6Landes festgelegt. Vielleicht war das Entsetzen über die Wahl 7von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten 8der Grund für die Verklärung eines Systems, dem im Zeitalter 9der Amerikanischen und Französischen Revolution die Bindung 0des Wahlrechts an Besitz und Bildung diente. Der jüngste Vor1schlag erschien im Jahr 2017 im englischen Original unter dem 2Titel Demopolis: Democracy before Liberalism in Theory and 3Practice (Titel der deutschen Übersetzung: Demopolis oder was 4ist Demokratie?). Josiah Ober, sein als Althistoriker und politi5scher Theoretiker renommierter Verfasser, verfolgt das Ziel, 6den eigentlichen Kern der Demokratie zu retten, wie sie sich vor 7ihrer modernen Verbindung mit Werten wie Menschenrechten, 8öffentlicher Daseins- und Gesundheitsvorsorge oder globaler 9Solidarität präsentierte. Er ist kein Gegner einer liberalen bezie0hungsweise sozialstaatlich orientierten Demokratie, aber er re1agiert auf Krisenerscheinungen wie den sogenannten Populis2mus und Nationalismus, welche die moderne Demokratie 3infrage stellen. Er reduziert deshalb Demokratie nach antikem 4Verständnis auf den inneren Wert der Teilhabe an der Gestal5tung des öffentlichen Lebens und behauptet, dass eine solche 6Kerndemokratie zugleich für ein angemessenes Sicherheits7und Wohlstandsniveau zu sorgen in der Lage sei. Wie dies unter 8modernen Bedingungen geschehen kann, bleibt allerdings ein 9Rätsel. 0 1 35
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Erster Teil. Die antike Demokratie
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Die Entstehung der Demokratie in Athen
1 2 3 4 5 6 ie athenische Demokratie entstand gegen Ende des 6. Jahr7 hunderts v. Chr. und erreichte um die Mitte des 5. Jahrhun8 9derts v. Chr. unter Führung des Perikles ihre klassische Gestalt. 0In dieser Zeit gab es in Griechenland rund 700 Stadtstaaten. Die 1meisten hatten eine Fläche von 50 bis 100 Quadratkilometern 2und eine durchschnittliche Bürgerzahl von 400 bis 800 erwach3senen Männern. Athen war eine der großen Ausnahmen. Sein 4Territorium entsprach mit rund 2500 Quadratkilometern unge5fähr dem des heutigen Saarlandes, und die Zahl seiner Bürger 6belief sich um 500 v. Chr. nach Angabe Herodots, des frühesten 7griechischen Historikers, auf 30 000 Personen. Die meisten Ge8meinden besaßen eine städtische Siedlung als politisches Zen9trum – das griechische Wort polis oszilliert zwischen den beiden 0Bedeutungen „Stadtstaat“ und „Stadt“. Alle Gemeinden ver1standen sich als Personalverbände ihrer Bürger. Frauen, Sklaven 2und Fremde gehörten nicht dazu. Der offizielle Name der Polis 3Athen war schlicht und einfach „die Athener“, und die offizielle 4Anrede der versammelten Bürger lautete: „athenische Männer“. 5Das Volk war also der Staat, und es ließe sich behaupten, dass 6alle Staatsgewalt vom Volke ausging. Aber das Volk regierte 7nicht, und vor der athenischen gab es keine Demokratie. Das 8Volk hatte seine Regierungsgewalt nach herrschender Vorstel9lung einem König und einer adligen Ratsversammlung übertra0gen. Wenigstens ist dies die Sicht, in der die politischen Verhält1nisse in einer kleinen Szene der Odyssee begegnen, in der
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Erster Teil. Die antike Demokratie
Begegnung des Alkinoos, des Königs der Phaiaken, mit seiner1 Tochter Nausikaa, als er im Begriff steht, das Haus zu verlassen2 (Hom. Od. VI, 53–55): 3 4 „… und jener (der König) 5 Kam an der Pfort’ ihr entgegen, er ging zu der glänzenden6 Herren 7 Ratsversammlung, wohin die edlen Phaiaken ihn berufen8 hatten.“ 9 0 Zu den Institutionen griechischer Gemeinden zählte neben dem1 König beziehungsweise dem leitenden Magistrat und dem aus2 Adligen bestehenden Rat eine Versammlung des Volkes, grie-3 chisch: ekklesia, was so viel bedeutet wie die durch einen Herold4 zusammengerufenen Bürger. Dies geschah bei Bedarf: etwa bei5 der Gefahr feindlicher Übergriffe oder bei Angelegenheiten, die6 die persönlichen und dinglichen Leistungen der Bürger für die7 Gemeinde erforderten, beispielsweise für den Fall, dass öffent-8 liche Bauten zu errichten oder auszubessern waren. Es versteht9 sich von selbst, dass zu den genannten Zwecken das Volk zu Ver-0 sammlungen zusammengerufen werden musste, damit es dem1 jeweiligen Begehren der Regierenden mehr oder weniger infor-2 mell seine Zustimmung erteilte. 3 Formelle Abstimmungen gab es erst verhältnismäßig spät. In4 kleinen Gemeinden fiel wahrscheinlich nicht oft etwas vor, was5 die Einberufung des Volkes notwendig gemacht hätte. In der li-6 terarischen Vorstellungswelt der Odyssee begegnet die Situati-7 on, dass in der Inselgemeinde Ithaka viele Jahre, seitdem Odys-8 seus, ihr König, in den Troianischen Krieg gezogen war, keine9 Volksversammlung mehr einberufen worden war. Als es dann0 doch geschieht, herrscht unter den Einberufenen Unkenntnis1 40
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1darüber, wer denn die Versammlung einberufen habe und wel2ches der Grund der Einberufung sei (Hom. Od. II, 25–32): 3 4 „Höret mich jetzt, ihr Männer von Ithaka, was ich euch sage! 5 Keine Versammlung ward und keine Sitzung gehalten, 6 Seit der edle Odysseus die Schiffe gen Troia geführt hat. 7 Wer hat uns denn heute versammelt? Welcher der Alten 8 Oder der Jünglinge hier? Und welche Sache bewog ihn? 9 Höret er etwa Botschaft von einem nahenden Kriegsheer, 0 Dass er uns allen verkünde, was er am ersten vernommen? 1 Oder weiß er ein andres zum Wohl der Gemeinde zu sagen?“ 2 3In Sparta, wahrscheinlich im 7. Jahrhundert, hatte zwar das Del4phische Orakel angeordnet, dass die Versammlung der Sparta5ner, wie es hieß, „von Zeit zu Zeit“ zusammenzurufen sei, und, 6wie der Dichter Tyrtaios (F 3a Diehl) bezeugt, war die Vorschrift 7ergangen, dass Anträge der Regierung, das heißt der beiden Kö8nige und des adligen Ältestenrats, erst durch Mehrheitsbe9schluss der Apella, der Volksversammlung, bindende Kraft er0langten: 1 2 „Aber der Mehrheit des Volkes sollen Sieg und Bekräftigung 3 folgen.“ 4 5Die Regierung behielt indes die Kontrolle. Sie konnte die Ver6sammlung auflösen, wenn die Versammlung einen unliebsamen 7Beschluss zu fassen im Begriff war. So war es noch zu der Zeit, 8als in Athen die Regierungsgewalt ohne Beschränkung vom Volk 9ausgeübt wurde. Verhältnisse wie in Sparta überlebten auch auf 0Kreta, wie Aristoteles in seiner Politik, den Vorlesungsmanu1skripten, die er der Analyse der politischen Verhältnisse in Grie41
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chenland widmete, zu berichten weiß (Aristot. Pol. II, 1272a,1 8–12): 2 3 „Die Königswürde gab es dort zwar früher; aber später haben4 die Kreter sie abgeschafft; den Oberbefehl im Krieg haben die5 kosmoi (gewählte Jahresbeamte) inne. Alle Bürger haben das6 Recht zur Teilnahme an der Volksversammlung; diese besitzt7 aber nur die Befugnis, die Beschlussvorlagen der Geronten8 (des adligen Rates) und der kosmoi in einer Abstimmung zu9 bestätigen.“ 0 1 Auch in Athen war die Stellung der Volksversammlung in vorde-2 mokratischer Zeit nach allen Indizien, die sich ermitteln lassen,3 eher schwach. Zunächst ist zu bedenken, dass Athens Staatsge-4 biet mit ungefähr 2500 Quadratkilometern viel zu groß war, als5 dass die Masse der zerstreut im Lande lebenden Bevölkerung6 die Zeit und Muße gefunden hätte, sich regelmäßig in Athen zu7 versammeln. Die vielen kleinen Leute, aus denen sich die Bür-8 gerschaft zusammensetzte, die Bauern, Handwerker, Tagelöh-9 ner, Fischer und Seeleute, hatten andere Sorgen, etwa die Sorge0 um das Überleben – wie sie sich und ihre Familien ernähren soll-1 ten. Gegen Ende des 7. Jahrhunderts war zudem eine verheeren-2 de Schuldenkrise eingetreten, welche die bäuerlichen Grundla-3 gen der Gesellschaft zu vernichten drohte. 4 Die Reformen, die Abhilfe schaffen sollten, betrafen die Ein-5 führung des Gerichtszwangs, einen Schuldenerlass und eine6 Rechtskodifizierung, die, vereinfacht ausgedrückt, das Streitpo-7 tenzial, das die Gesellschaft belastete, zu minimieren bestimmt8 war. Dies alles war im späten 7. und frühen 6. Jahrhundert das9 Werk von gewählten Beauftragten, den Aisymneten, die Aristo-0 teles in seiner Politik mit gutem Grund „Tyrannen auf Zeit“1 42
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1nennt. Anders konnte man sich damals in Griechenland nicht 2helfen. Griechenland durchlief gerade die Phase seiner Ge3schichte, in der Adlige nach der Tyrannis strebten, entweder zur 4Rettung der als legitim geltenden Adelsherrschaft oder zur Be5gründung einer auf Usurpation beruhenden Alleinherrschaft 6auf Dauer. In Athen war der Adlige Solon der große Reformer, 7der mit seinem Werk die Machtergreifung eines Gewaltherr8schers zu verhindern beabsichtigte, aber er musste erleben, dass 9seine Selbstlosigkeit von Standesgenossen nicht verstanden 0wurde. Er schrieb in einem seiner politischen Gedichte (F 23,1–7 1Diehl): 2 3 „Solon ist kein tiefverständ’ger und kein wohlberatener 4 Mensch: 5 Als ihm Gott das Beste anbot, nahm er es selber nicht an. 6 Seine Beute war gefangen, doch betroffen zog er nicht 7 Zu das große Netz; es fehlte ihm an Herz wie an Verstand. 8 Könnte ich die Macht gewinnen und des Reichtums volles 9 Maß 0 Und Tyrann sein der Athener nur für einen einz’gen Tag, 1 Dann mag man zum Schlauch mich schinden und austilgen 2 meinen Stamm.“ 3 4Drei mächtige adlige Clans kämpften, gestützt auf ihre lokale 5Anhängerschaft, noch im 6. Jahrhundert um den Besitz der Ty6rannis. In der historiographischen Überlieferung heißt es dazu 7laut der von Aristoteles wiedergegebenen Zusammenfassung 8(Verfassung der Athener 13,4): 9 0 „Es gab drei Parteiungen, als erste die Bewohner der Küsten1 ebene, die Megakles, der Sohn des Alkmeon, anführte …; als 43
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zweite die Bewohner der (zentralen) Ebene; ihr Führer war1 Lykurgos …; als dritte die Bewohner des Hügellandes, die2 Peisistratos folgten.“ 3 4 In der Zeit zwischen 561/60 und 529/28 behauptete sich Peisis-5 tratos, von zwei Unterbrechungen abgesehen, als Stadtherr6 Athens, und er vererbte seine Stellung in der Stadt an seine7 Söhne Hippias und Hipparchos. Vierzehn Jahre später fiel die-8 ser, der jüngere von beiden, dem Attentat zweier Adliger na-9 mens Harmodios und Aristogeiton zum Opfer, während der0 ältere dem Anschlag entging. Die Motive der Täter sind unklar.1 Die Überlieferung ist gespalten zwischen einer reinen Privataf-2 färe und der Absicht einer Befreiung von der Tyrannenherr-3 schaft. Wie dem auch sei: Die letztere Version begründete nach4 der Vertreibung des Hippias im Jahre 511/10 ihre Verherrli-5 chung als Befreier ihrer Vaterstadt. Statuen zu Ehren der Ty-6 rannenmörder wurden auf der Agora, dem zentralen Ver-7 sammlungsplatz, aufgestellt, und bei den Gastmählern des8 Adels wurde der Ruhm der Befreier in Trinkliedern besungen,9 von denen eines folgenden Wortlaut hatte (Athen. Deipn. XV,0 695): 1 2 „Für immer lebe auf Erden euer Ruhm, 3 Harmodios und Aristogeiton, ihr Lieben, 4 Denn ihr habt den Tyrannen getötet 5 Und Athen machtet ihr zu einer Stadt der Gleichheit.“ 6 7 Vielleicht war mit diesem Lied ursprünglich gemeint, dass mit8 der Beseitigung der Tyrannis die Gleichheit des Adels wieder-9 hergestellt worden sei, aber nach Einführung der Demokratie0 schob sich eine neue Sinngebung in den Vordergrund: Die Ty-1 44
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1rannenmörder hatten die Athener zu einem Volk der Gleichen 2gemacht. 3 Im Jahre 511/10 gelang es einer Koalition athenischer Adliger 4mit Sparta, den Tyrannen Hippias zu vertreiben. Aber was folg5te, war ein neuer Kampf um die Stadtherrschaft. Die Protagonis6ten waren Kleisthenes aus der Familie der Alkmeoniden und ein 7Adliger namens Isagoras, von dem Herodot nicht einmal den 8Namen seiner Familie nennen konnte. Ihn hatte das Schicksal 9der Verlierer im Bürgerkrieg getroffen: Der Name seiner Familie 0war für immer aus der Erinnerung getilgt worden. Dass er den 1mehrjährigen Bürgerkrieg verlieren würde, war eigentlich nicht 2vorauszusehen gewesen. Der spartanische König Kleomenes I. 3war sein Gastfreund und unterstützte seinen Verbündeten auch 4ohne Autorisierung durch Sparta mit den Gefolgsleuten, die er 5aus den Städten der Peloponnes aufbieten konnte. Kleisthenes 6geriet in die Gefahr, unterzugehen, und Isagoras wurde zum Ar7chonten für das Jahr 508/7 gewählt. Dann kam der Umschwung. 8Dem Unterliegenden gelang es, das Volk militärisch und poli9tisch zu mobilisieren, und Sparta setzte dem Privatfeldzug sei0nes Königs ein Ende. Dieser hatte noch zwei Nachbarn Athens, 1Boiotien und Chalkis auf Euboia, zum Krieg gegen Athen anstif2ten können. Aber Athen siegte. Kleisthenes’ Bündnis mit dem 3Volk hatte in dem mehrere Jahre dauernden Krieg gegen innere 4und äußere Feinde zu einer bis dahin unbekannten Mobilisie5rung des Volkes geführt, die den Grund zur direkten Demokra6tie und zu einer enormen Steigerung der militärischen Leis7tungsfähigkeit Athens legte. 8 Mit der sogenannten Phylenreform schuf Kleisthenes eine 9organisatorische Struktur des athenischen Staatsgebiets, die 0dem Regionalismus als Voraussetzung zu Usurpationen adli1ger Clans ein Ende bereitete. Grundlage der territorialen Neu45
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ordnung bildeten die drei Großregionen: die Küstenebene, die1 zentrale Ebene und das Hügel- und Bergland, das die Macht-2 basis der Peisistratiden gebildet hatte. Jede dieser Großregio-3 nen wurde in zehn Teile gegliedert, und die so geschaffenen4 30 Teilstücke wurden nach dem Losverfahren zu zehn neuen5 Bezirken vergleichbarer Größe und Bevölkerungszahl zusam-6 mengefügt. Phyle bedeutet im Griechischen so viel wie Stamm7 und bezieht sich ursprünglich auf genetische Abstammung.8 Mit der Reform wandelte sich ihre Bedeutung. Eine Phyle9 wurde die Bezeichnung für einen aus drei geographischen Tei-0 len zusammengesetzten Bezirk. Auf die Phylen wurden die1 rund 130 Siedlungen so verteilt, dass jede Phyle ungefähr die2 gleiche Bevölkerungszahl umfasste. Jede stellte jeweils für ein3 Jahr 50 ausgeloste Mitglieder zu dem neu geschaffenen Rat der4 Fünfhundert. Dieser fungierte als der geschäftsführende Aus-5 schuss der Volksversammlung: Er legte die Termine und die6 Tagesordnungspunkte fest, führte Vorberatungen über die Ge-7 genstände, die das Volk zu entscheiden hatte, und beaufsich-8 tigte die Ausführung der Beschlüsse. Die zehn Phylen bildeten9 nicht nur die organisatorische Grundstruktur des Staates, sie0 waren auch die Rekrutierungsbezirke für das militärische Auf-1 gebot. 2 Die Mobilisierung der potenziellen militärischen Stärke3 Athens gelang, weil der Krieg im Inneren und nach außen um4 die Existenz der Stadt geführt werden musste und die Gefahr, in5 der Athen schwebte, einen Mentalitätswandel schuf, auf dem6 die antike Demokratie beruhte: Die Masse der Bürger begriff,7 dass die Rettung der Stadt in ihrem ureigenen Interesse lag und8 die Freiheit der Gemeinschaft dank Kleisthenes’ Reformen auf9 der Gleichheit der Bürger beruhte. Wie Herodot schreibt, war0 Athen schon wegen seiner schieren Größe potenziell mächtig,1 46
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1aber es war die Befreiung von der Tyrannis, die zeigte, was in 2der Stadt für Möglichkeiten steckten (Hdt. V, 66,1): 3 4 „Athen war schon vorher eine mächtige Stadt, aber nach der 5 Befreiung von den Tyrannen wurde es noch mächtiger.“ 6 7An anderer Stelle beschreibt Herodot den Mentalitätswandel 8der Athener in einer Weise, dass der Zusammenhang von Frei9heit und bürgerlicher Gleichheit, von militärischer Selbstbe0hauptung und demokratischer Selbstbestimmung begreifbar 1wird (Hdt. V, 78): 2 3 „Athen also wuchs. Die Gleichheit ist eben in jeder Hinsicht 4 etwas Wertvolles und Schönes; denn als die Athener Unterta5 nen von Tyrannen waren, waren sie keinem einzigen ihrer 6 Nachbarn überlegen. Jetzt aber, da sie von den Tyrannen be7 freit waren, standen sie weithin als die Ersten da. Man sieht 8 daraus, dass sie, als sie als Untertanen für einen Herrn zu 9 kämpfen hatten, vorsätzlich schlecht kämpften, während 0 dann, als sie die Freiheit errungen hatten, jeder bereitwillig 1 für die eigene Sache eintrat.“ 2 3Der erzwungene Rückzug des spartanischen Königs Kleomenes 4I. hatte noch ein Nachspiel, das Athen in die Gefahr brachte, 5dem Herrschaftsanspruch des persischen Großkönigs anheim6zufallen, der damals in Begriff stand, sein Reich nach Westen 7auszudehnen. Die Athener fürchteten, dass König Kleomenes 8seine Niederlage nicht hinnehmen, sondern mit verstärkten 9Kräften Athen angreifen würde, und so beschlossen sie, zu ih0rem Schutz ein Bündnis mit den Persern einzugehen. Doch der 1Satrap, der im Auftrag des Großkönigs Dareios I. von Sardes aus 47
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den Westen des Reiches regierte, gab den Athenern den Be-1 scheid: Wenn sie dem König als Zeichen der Unterwerfung Erde2 und Wasser geben wollten, werde der König mit ihnen einen3 Bündnisvertrag schließen; anderenfalls sollten sie gehen. Dar-4 aufhin erklärten die Gesandten, ohne dazu ermächtigt zu sein,5 Athens Bereitwilligkeit und mussten sich deshalb, nach Hause6 zurückgekehrt, schwere Vorwürfe anhören. Die Folgen dieser7 eigenmächtigen Zusage zeigten sich nach einigen Jahren, als die8 Athener zusammen mit der auf Euboia gelegenen Gemeinde9 Eretria den Aufstand der an der Westküste gelegenen griechi-0 schen Städte Kleinasiens gegen die Perser mit kleinen Schiffs-1 kontingenten unterstützten. 2 Seitdem stand Athen unter persischer Bedrohung und der3 Forderung, sich zu unterwerfen oder die Vernichtung zu riskie-4 ren. Der erste persische Angriff auf Athen scheiterte bekannt-5 lich im Jahr 490 in der berühmten Schlacht bei Marathon. Dann6 folgte zehn Jahre später die große persische Invasion unter Kö-7 nig Xerxes. In Athen war es die ganze Zeit hochumstritten, ob8 man der persischen Forderung nach Unterwerfung folgen oder9 Widerstand auf die Gefahr der Zerstörung der Stadt hin leisten0 sollte. Dieser Streit bestimmte die politische Auseinander-1 setzung in Athen beinahe über zwei Jahrzehnte und zog zwei2 Verfassungsneuerungen nach sich, die einer weiteren Demokra-3 tisierung zugute kamen. Der archon eponymos, der oberste4 gewählte Magistrat der Stadt und als Vorsitzender der Volksver-5 sammlung mit Möglichkeiten ausgestattet, deren Abstim-6 mungsverhalten zu steuern, verlor diese Position dadurch, dass7 er künftig nicht mehr gewählt, sondern aus den Personen der8 betreffenden Vermögensklasse ausgelost werden sollte. Damit9 war so gut wie ausgeschlossen, dass der Amtsträger weiterhin zu0 der Elite der politisch Ehrgeizigen und Erfahrenen gehörte. Je-1 48
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1den Beliebigen, auch den politisch Desinteressierten, konnte 2das Losverfahren in das höchste Amt befördern. 3 Die zweite Neuerung, die wie die erstgenannte aller Wahr4scheinlichkeit nach in das Jahrzehnt zwischen den beiden persi5schen Invasionen, 490 und 480/79, fällt, war dazu bestimmt, 6eine Vorentscheidung zugunsten einer Seite der Alternative Wi7derstand oder Unterwerfung zu treffen, vor welche die Perser 8Athen gestellt hatten. Das Verfahren eröffnete dem Volk die 9Möglichkeit, einen prominenten Politiker durch Abgabe von 0Tontafeln, die mit dessen Namen beschriftet waren, mit qualifi1zierter Mehrheit für bestimmte Zeit aus Athen zu entfernen, da2mit er nicht Einfluss im Sinne des von ihm vertretenen Stand3punktes in der strittigen Frage vor der Volksversammlung 4nehmen konnte. Das gut dokumentierte Verfahren fiel zuguns5ten der Verfechter des Widerstandes aus. Athen nahm es unter 6Führung des Themistokles auf sich, dass die Bewohner zweimal 7über das Meer evakuiert werden mussten, und ihre Stadt zwei8mal der Zerstörung durch die Perser anheimfiel; aber Athen trug 9auch Entscheidendes zu dem Seesieg bei Salamis bei, der Xer0xes zur Rückkehr nach Asien bestimmte. 1 Es müssen aufregende Auseinandersetzungen gewesen sein, 2bis durch das Scherbengericht und die Abstimmungen in der 3Volksversammlung der Weg frei wurde, der in der Abwehr der 4Perser endete. Die wichtigste Grundlage dazu hatte Themistok5les, der prominenteste Verfechter des Widerstandes gegen die 6Perser, bereitet. Er hatte mit seinem Flottenbauprogramm die 7Voraussetzungen zu dem entscheidenden Sieg der Griechen in 8der Seeschlacht bei Salamis geschaffen; denn er hatte die Volks9versammlung dazu gebracht, auf die Verteilung des Ertrags der 0neu erschlossenen Silberbergwerke von Laureion an die Bürger 1der Stadt zu verzichten und stattdessen ihre Zustimmung zur 49
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Verwendung des Geldes – Silber war ja der Stoff, aus dem Geld1 gemacht wurde – für den Flottenbau zu geben. Für die Einübung2 einer aus Bürgern bestehenden Rudermannschaft – Kriegsschif-3 fe mussten, um ihren Zweck zu erfüllen, durch Ruder manöv-4 rierfähig gemacht werden – hatten die Athener einen hohen zu-5 sätzlichen Preis zahlen müssen: In der Zwischenkriegsphase6 zwischen der ersten und zweiten persischen Invasion hatte sich7 Athen im Seekrieg gegen die bedeutende, im benachbarten Sa-8 ronischen Golf gelegene See- und Handelsstadt Aigina noch9 keineswegs überlegen gezeigt. Aber die Athener waren enga-0 giert und lernten hinzu, sodass sie es waren, die den entschei-1 denden Anteil an dem Sieg über die Perser in der Seeschlacht2 bei Salamis hatten. Die große Kriegsflotte versetzte Athen in die3 Lage, die Griechen der Ägäisinseln und der Städte an der klein-4 asiatischen Westküste zu befreien und zu schützen. In dieser5 Rolle wurde das demokratische Athen als Vormacht des Delisch-6 Attischen Seebundes eine imperiale Großmacht. Das war nur7 möglich, weil die Umstände die Mobilisierung des politischen8 und militärischen Engagements aufrechterhielten, dessen9 Grundlagen Kleisthenes gelegt hatte. Das viel beschworene Bür-0 ger-Engagement der athenischen Demokratie hatte nach mei-1 ner Überzeugung hier seinen Ursprung. 2 Dieser Herleitung der athenischen Demokratie aus den be-3 schriebenen Zusammenhängen steht eine andere gegenüber,4 die der renommierte Althistoriker Christian Meier mit Rückgriff5 auf eine These des ebenfalls renommierten französischen Alt-6 historikers Paul Veyne vertritt. Paul Veyne veröffentliche im Jahr7 1983 einen Aufsatz unter dem Titel Les Grecs ont-ils connu la dé-8 mocratie? (deutsch: Kannten die Griechen die Demokratie?).9 Der Grund seiner Frage ist die Feststellung, dass die Athener0 unter Demokratie etwas anderes verstanden haben als die Heu-1 50
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1tigen: Während diese nach dem Verhältnis von Bürgern und 2Staatszweck in der modernen Demokratie fragen, bleibt die an3tike eine Antwort auf solche Fragen schuldig. Sie kannte, so Paul 4Veyne, als Staatsziele weder die Garantie von Freiheit und indi5viduellem Glücksstreben wie im Zeitalter des Liberalismus 6noch die Vorsorge gegen die Risiken des Lebens wie die sozial7staatlich ausgerichtete Demokratie der Gegenwart, sondern nur 8die totale Inanspruchnahme der Bürger durch Pflichten gegen9über der Gemeinschaft. In diesem Sinne heißt es bei Veyne (ich 0zitiere aus der deutschen Übersetzung seines Aufsatzes): 1 2 „Könnten wir uns in das alte Athen begeben, so würden wir 3 dort keineswegs das demokratische Beinahe-Ideal der westli4 chen Welt, sondern vielmehr das geistige Klima aktivistischer 5 politischer Parteien antreffen.“ 6 7Denn – so fährt der Verfasser fort – es sind die Bürger, die den 8Staat ausmachen, und von ihnen wird verlangt, „sich militant in 9einer Institution einzusetzen, die in ihrer Mitte besteht und Po0lis heißt“. Der Bürger einer Polis hat nach Veynes Urteil Pflich1ten, aber keine Rechte, weder Menschen- noch Bürgerrechte, 2wie sie in den Verfassungen moderner Demokratien niederge3legt sind, und auch keine Freiheiten, sondern er ist wie ein Sol4dat in die Anforderungen eingespannt, die die politische Ge5meinschaft an ihn stellt. Dementsprechend ist bei Veyne von 6„berufssoldatischem Eifer“ die Rede. In der französischen Ori7ginalfassung steht das kaum übersetzbare Kunstwort militantis8me. Diese Haltung wird freilich nicht nur für die athenische De9mokratie in Anspruch genommen, sondern für das antike 0Polisbürgertum schlechthin. „Es steht fest“, urteilt Veyne, „dass 1die Antike ihre Politik genauso selbstverständlich im Sinne der 51
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Militanz auffasste, wie wir es heutzutage in dem der Demokratie1 (sic) tun.“ Darunter verstand er natürlich moderne Demokratien2 mit ihrer Ausrichtung an den Werten des Liberalismus oder des3 Sozialstaates. 4 In Deutschland hat Christian Meier die Wesensbestimmung,5 die Paul Veyne von der antiken Demokratie als spezieller Aus-6 prägung des Staatsverständnisses der griechischen Polis ge-7 geben hat, sich vollständig zu eigen gemacht und nach den8 Gründen der von Veyne diagnostizierten Einstellung gefragt.9 Christian Meier hat sich seit einem halben Jahrhundert wie kein0 zweiter Gelehrter in Deutschland darum bemüht, Entstehung1 und Ausgestaltung der athenischen Demokratie mit größtmög-2 licher theoretischer Reflexion zu analysieren. Dies geschieht in3 therapeutischer Absicht, gewissen Mängeln der modernen De-4 mokratie die athenische als Spiegel vorzuhalten: als Vorbild ei-5 nes bürgerschaftlichen Engagements mitsamt den ihm zugrun-6 de liegenden anthropologischen Wurzeln und als Gegenmittel7 gegen Politikverdrossenheit und Wahlenthaltung. Dies hat Mei-8 er unter anderem gemeinsam mit Paul Veyne in einem Büchlein9 formuliert, das zuerst 1988/89 erschien und neuerdings im Jahr0 2015 wiederaufgelegt wurde. Sein Titel lautet: Kannten die Grie-1 chen die Demokratie? Zwei Studien. 2 Als letzten anthropologischen Grund für den von Veyne diag-3 nostizierten bürgerschaftlichen militantisme begreift Meier das4 elementare „Bedürfnis breiter Schichten“ (diese Formulierung5 begegnet mehrfach), gegenüber dem traditionellen Vorrang des6 Adels in gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Hin-7 sicht durch Teilhabe am öffentlichen Leben einen Status auf Au-8 genhöhe zu gewinnen. Diesem Argumentationsziel nähert sich9 Meier – anderes lassen die Quellen nicht zu – auf dem Weg0 spekulativer Deduktion, mit der er die Tiefenschicht einer „an-1 52
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1thropologischen Disposition der Griechen zum politischen En2gagement breiter Schichten“ als Quelle jener „Kraft der Bürger3Identität“ freizulegen versucht, die Meier wahlweise den 4Athenern oder den Griechen zuschreibt. Abgesehen von dieser 5Unschärfe der Zuschreibung sieht er so gut wie vollständig von 6den oben geschilderten historischen Voraussetzungen ab, die 7seit dem Ende des 6. Jahrhunderts das Volk von Athen dazu 8brachten, sich politisch zu engagieren. 9 Meiers These ist nicht nur unbeweisbar, sie widerspricht auch 0allen Indizien, die sich der Überlieferung entnehmen lassen. 1Die Nöte der Verschuldung in der Zeit Solons bewirkten, dass 2die Masse der Bevölkerung, die Bauern, um ihr und ihrer Fami3lien Überleben zu kämpfen hatte: Wie sollte da das Bedürfnis 4eine Rolle gespielt haben, dem Adel politisch auf Augenhöhe 5begegnen zu können? Und was über die militärische Unzuläng6lichkeit der Athener in der Zeit der Tyrannis und über den Ge7sinnungswandel in der Zeit der Entfaltung aller Kräfte zur Ret8tung der Stadt berichtet wird, spricht ebenfalls gegen die 9Ableitung der Demokratie aus einer „psychologischen Grund0disposition der Griechen zum politischen Engagement breiter 1Schichten“. Vielmehr waren die Selbstbehauptung der Stadt und 2ihr Aufstieg zu einer maritimen Großmacht sowie die Entste3hung und der Ausbau der Demokratie als Mobilisierung des Vol4kes in doppelter Hinsicht zwei Seiten einer Medaille. 5 Meier beruft sich zur Untermauerung seiner These auf einen 6Text, der von dem großen Naturphilosophen Demokrit, dem Er7finder der antiken Atomtheorie, stammt. Dieser hatte sich noch 8zur Zeit des Perikles, wahrscheinlich in dem Jahrzehnt zwischen 9440 und 430 v. Chr., in Athen aufgehalten. In einer der erhalte0nen Notizen über den Druck, dem die Angehörigen der Ober1schicht dort ausgesetzt waren, sich für die Polis zu engagieren, 53
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heißt es in den Fragmenten der Vorsokratiker (Demokrit, F 2531 Diels-Kranz): 2 3 „Den Männern aus besseren Kreisen ist es nicht zuträglich,4 ihre eigenen Angelegenheiten zu vernachlässigen und frem-5 de zu betreiben. Denn dann pflegt es um die eigenen schlecht6 zu stehen. Wenn man aber die öffentlichen vernachlässigen7 wollte, so bildet sich ein übler Ruf, auch wenn man weder et-8 was stiehlt oder sonst unrecht tut. Besteht doch selbst für den,9 der nicht nachlässig ist, Gefahr, in üblen Ruf, ja sogar in kör-0 perliches Leid zu kommen (so der Wortlaut der Übersetzung1 von Hermann Diels in den Fragmenten der Vorsokratiker). Es2 ist ja unvermeidlich, Fehler zu begehen, aber die Verzeihung3 der Leute dafür zu erhalten ist nicht leicht.“ 4 5 Die im Deutschen gegebene Übersetzung „in körperliches Leid6 kommen“ hat Meier so verstanden, dass mit körperlichem Leid7 ein psychosomatisches Leiden gemeint sei. Meiers Worte lau-8 ten: „Wenn schon Demokrit von möglichen psychosomatischen9 Konsequenzen für den Fall spricht, dass man sich den Erwartun-0 gen (eines Engagements für die Allgemeinheit) entzog: wie viel1 bedrohlicher müssen sie dann in Athen gewesen sein!“ Abgese-2 hen davon, dass Demokrits Bemerkung anders, als Meier meint,3 auf die Verhältnisse in der athenischen Demokratie gemünzt4 sein wird: Worauf Demokrit hinauswill, ist, die Misslichkeit zu5 demonstrieren, in die Angehörige der Elite unweigerlich durch6 den Erwartungsdruck der Öffentlichkeit gerieten, ob sie sich7 nun diesem Druck entzogen oder ihm nachgaben. Verweigerten8 sie sich, handelten sie sich einen schlechten Ruf ein; gaben sie9 hingegen dem Erwartungsdruck nach, konnte es noch schlim-0 mer ausgehen, wenn ihnen bei der Ausführung der übernom-1 54
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1menen Aufgabe Fehler unterliefen, auch wenn diese schwer 2vermeidbar waren. Dafür geriet man nicht nur in einen schlech3ten Ruf, sondern musste, wenn Verzeihung zu erhalten sich als 4schwierig erwies, befürchten, vor Gericht gestellt und verurteilt 5zu werden. Dies ist in der Sprache des Rechts die gut belegte 6Bedeutung des fraglichen sprachlichen Ausdrucks, der wörtlich 7so viel heißt wie „etwas erleiden“. 8 Von dieser Kehrseite des erwarteten und geforderten politi9schen Engagements war vermutlich Thukydides, der Historiker 0des Peloponnesischen Krieges, betroffen. In dem Amt eines 1Strategen zur See war er um Haaresbreite zu spät gekommen, 2um den strategisch bedeutenden Platz Amphipolis am Strymon 3vor dem Zugriff des spartanischen Flottenbefehlshabers zu ret4ten. Ob nun zu Recht oder zu Unrecht: Er wurde in Athen vor 5Gericht gestellt und mit Verbannung bestraft. 6 Das Zeugnis, das Christian Meier als vermeintlichen Beleg 7einer Einstellung, die in der Demokratie Leistungen für die Ge8meinschaft generierte, positiv bewertet, dokumentiert in Wahr9heit den kritischen Vorbehalt der wohlhabenden Elite gegen die 0Zumutungen, denen sie in perikleischer Zeit ausgesetzt war. 1Diese Zumutungen leisteten einer gefährlichen Spaltung der 2Gesellschaft in Leistungsträger und Leistungsempfänger des 3Volkes Vorschub. Die gemeinsame Motivation der gesamten 4Bürgerschaft, für die Selbstbehauptung der Gemeinschaft ein5zutreten, löste sich auf. Davon wird noch ausführlich in dem Ka6pitel die Rede sein, das den Feinden der Demokratie gewidmet 7ist. 8 9 0 1 55
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1 2 3 4 5 6 ie athenische Demokratie war nach Ausweis von vielen7 Hunderten erhaltener Inschriften das Musterbild einer8 sich vorbildlich selbst verwaltenden Gemeinschaft. Die Regie-9 rung erfolgte durch Beschlüsse des Volkes und war durch Vorbe-0 ratungen im Rat der Fünfhundert sorgfältig vorbereitet; das Ab-1 stimmungsverfahren wurde im Präskript jedes Volksbeschlusses2 auf eine Weise dokumentiert, die von der Generation des Perik-3 les, etwa 460 bis 430 v. Chr., bis zur römischen Kaiserzeit kei-4 nen Änderungen unterlag. In den Massenversammlungen des5 Volkes, auf denen Regierungsbeschlüsse gefasst wurden, ging6 es streng diszipliniert zu. Es will bedacht sein, dass die einzige7 Polizeitruppe, die der athenische Staat seit Mitte des 5. Jahrhun-8 derts unterhielt, ein Korps skythischer Bogenschützen war. Die9 in der Überlieferung festgehaltene Aufgabe dieser Polizeitruppe0 war es, Ruhe und Ordnung in den Versammlungen des Volkes1 aufrechtzuerhalten. Im 4. Jahrhundert gab es 40 reguläre Sit-2 zungen der Volksversammlung; hinzu kamen bei Bedarf, beson-3 ders in Kriegszeiten, außerordentliche Sitzungen. Der Rat der4 Fünfhundert beziehungsweise sein geschäftsführender Aus-5 schuss, die 50 Prytanen einer Phyle, traf sich täglich mit Ausnah-6 me bedeutender Feiertage. Für bestimmte Beschlüsse war ein7 Quorum von 6000 Teilnehmern an der betreffenden Volksver-8 sammlung vorgeschrieben; für alle übrigen war die Zahl der Ab-9 stimmenden nicht festgelegt. Die 6000 Stimmberechtigten des0 Quorums repräsentierten das Volk als Ganzes, und wenn es1
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1nach einschlägiger Vorschrift erforderlich war, dass das Volk un2ter Beachtung des Quorums einen Beschluss fasste, wurde ge3heim per Stimmstein abgestimmt (bei mindestens 6000 Betei4ligten eine umständliche Prozedur), sonst im vereinfachten 5Verfahren durch Handaufheben. Die Vorstellung, dass die 6000 6des Quorums die Gesamtheit des Volkes repräsentierten, lag 7wohl auch der jährlich durch Auslosung revidierten Liste der 86000 Geschworenen zugrunde, aus der von Fall zu Fall für die 9einzelnen Verfahren 500 bis 1500 Richter ausgelost wurden. 0 Dieser Befund demonstriert, dass die symbolische Gesamt1heit des Volkes nur ein Bruchteil der realen war. Athen hatte im 25. Jahrhundert, bis der Peloponnesische Krieg (431–404 v. Chr.) 3die Zahl der Einwohner erheblich reduzierte, 30 000 bis 450 000 Bürger. Wenn alle, wozu sie berechtigt waren, an den 5Sitzungen der Volksversammlung teilgenommen hätten, wäre 6das Regierungssystem vermutlich zusammengebrochen. Eine 7Debatte zu führen, Änderungs- oder Ergänzungsvorschläge zu 8machen und über geänderte Beschlussvorlagen abstimmen zu 9lassen hätte vermutlich schon wegen des Fehlens moderner 0Tonverstärker zu einem Chaos geführt, dem auch der Ord1nungsdienst der skythischen Bogenschützen machtlos gegen2übergestanden hätte. Nicht nur die schieren Zahlen der zur Teil3nahme an den Volksversammlungen Berechtigten warfen 4Probleme auf, sondern auch die Entfernungen zwischen dem 5zentralen Versammlungsort Athen und den Wohnorten der über 6ein Territorium von 2500 Quadratkilometern verstreuten Bür7ger. Man bedenke nur, dass der Abstand zwischen Marathon (wo 8die berühmte Schlacht stattgefunden hatte) und Athen ungefähr 940 Kilometer beträgt. Selbst ein geübter Marathonläufer hätte 0fast jede Woche drei Tage von zuhause abwesend sein müssen, 1wenn er an den regulären 40 Sitzungen der Volksversammlung 57
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hätte teilnehmen wollen. Wer hätte das auf sich nehmen kön-1 nen, Haus und Hof zu verlassen, ständig auf Reisen zu sein und2 die anfallenden Kosten trotz Unterbrechung der eigenen Er-3 werbsarbeit zu tragen? 4 Zu Recht ist deshalb gesagt worden, dass „infolge der Größe5 des Areals … alle Bürger, die nicht im Umkreis von vielleicht6 zehn Kilometern von Athen wohnten, praktisch von der Teilnah-7 me an der Volksversammlung ausgeschlossen“ waren (so der8 verstorbene Frankfurter Althistoriker Eberhard Ruschenbusch).9 Aus diesem Grund hat er die athenische Demokratie mit provo-0 kativer Zuspitzung, aber sachlich keineswegs verkehrt eine Oli-1 garchie der in der Nähe Athens Wohnenden genannt: „Man2 könnte also die Verfassung Athens als eine Oligarchie der Bür-3 ger der etwa 300 Quadratkilometer der Stadtregion bezeich-4 nen.“ 5 Abgesehen von der eingeschränkten Beteiligung an den Sit-6 zungen der Volksversammlung muss das Zentrum des Staates,7 Athen und sein Haupthafen Piräus, auf Besucher, wirkliche und8 fiktive aus unserer Zeit, den Eindruck einer übermäßig politi-9 sierten Gemeinschaft gemacht haben. Meisterhaft ist es Alfred0 Heuß im dritten Band der Propyläen-Weltgeschichte gelungen,1 diesen Eindruck plastisch wiederzugeben. Seine Schilderung2 verdient, hier wörtlich zitiert zu werden: 3 4 „Wenn man in der Stadt Athen oder im Piräus spazierenging,5 dann war es schwierig, unter den vielen einfachen Bürgern6 jemanden ausfindig zu machen, der nicht gerade einem öf-7 fentlichen Geschäft nachging oder dessen Gesichtskreis nicht8 mit solchen Dingen ausgefüllt gewesen wäre, auch wenn er9 im Moment damit nicht befasst war. Dass er sich auf dem Weg0 zur Volksversammlung befand oder eine öffentliche Anspra-1 58
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1 che hörte, war beinahe noch das wenigste. Aber schon die 2 Wahrnehmung des Richtergeschäftes hielt jährlich eine Schar 3 von sechstausend Leuten in Gang. Wir sehen sie, wie sie in 4 den ‚Wespen‘ des Aristophanes (einer Komödie aus dem Jahr 5 422) am frühen Morgen, noch in der Dämmerung, sich mit 6 ihren Lämpchen auf den Weg zu ihrem Gerichtslokal ma7 chen … Wer nicht zu ihren Sphären gehörte, hatte bestimmt in 8 den unzähligen anderen Ämtern etwas zu tun. Und selbst 9 wenn diese Funktion ausfiel, dann lag für jeden Interessierten 0 der öffentliche Auftrag gewissermaßen auf der Straße. Die 1 öffentlichen Strafverfahren kannten keinen bestallten Staats2 anwalt. Die Anklage konnte nicht nur, sondern musste von 3 irgendwem vertreten werden. Die staatsbürgerliche Moral … 4 gebot die Übernahme dieser Pflicht und damit zugleich die 5 Aufgabe, das Belastungsmaterial zu beschaffen … Schließlich 6 forderten die vielen Prozesse ein gewaltiges Aufgebot von 7 Zeugen. Im Stadtgebiet Athens und in der näheren Umge8 bung mag es etwa vierzigtausend zur Bürgerschaft gehörige 9 Personen gegeben haben, ein Viertel davon als der erwachse0 ne männliche Teil – meistens von dreißig Jahren an; dieses 1 Alter war für die Übernahme öffentlicher Ämter vorgeschrie2 ben – kam für die öffentlichen Funktionen in Betracht, also 3 zehntausend Mann; der Bedarf wird sich ungefähr zwischen 4 sechs- und achttausend bewegt haben. Der Eindruck, die 5 männliche Bürgerschaft Athens sei ein Volk von Politikern 6 und Funktionären, wäre also nicht unberechtigt gewesen.“ 7 8Die athenische Demokratie konnte weder auf einen studierten 9Richterstand noch auf ein fachlich differenziertes Berufsbeam0tentum zurückgreifen. Schlimmer noch: Es gab keine Untersu1chungs- und Anklagebehörde wie die moderne Staatsanwalt59
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schaft mit ihrem sogenannten Erzwingungsstab, der Polizei.1 Die athenische Demokratie war in einer unterentwickelten2 Staatlichkeit entstanden; ihr fehlten die Vorprägungen und In-3 stitutionen, die der monarchische Absolutismus den entste-4 henden modernen Demokratien als Erbe einer geordneten5 staatlichen Verwaltung und Rechtspflege hinterlassen hat. Was6 Letztere anbelangt, blieb es bei dem Prinzip, dass jeder selbst7 dafür sorgen musste, dass Rechtsverletzungen, die er oder die8 Seinen erlitten hatten, von Gerichts wegen geahndet wurden,9 gleichgültig ob es um privat- oder strafrechtliche Fälle ging.0 Auch Schädigungen der Gemeinschaft, beispielsweise durch1 Entziehung vom Kriegsdienst, Landes- und Hochverrat wie2 beispielsweise Verschwörungen zur Errichtung einer Tyrannis3 oder Aneignung und Unterschlagung öffentlichen Eigentums,4 konnten nur verfolgt werden, wenn ein Privatmann die um-5 ständliche Aufgabe übernahm, die notwendigen Beweismittel6 und Zeugen zusammenzubringen und dann Klage vor dem7 Volksgericht zu erheben. Selbstverständlich wurde dies als8 bürgerliche Ehrenpflicht für alle diejenigen betrachtet, die9 dazu die notwendigen Mittel besaßen. Aber die Erfahrung0 lehrte, dass auch rein persönliche Beweggründe für die Erhe-1 bung falscher Anklagen verantwortlich sein konnten, sodass es2 sich als notwendig erwies, Privatklagen wegen falscher An-3 schuldigungen zuzulassen. Doch davon soll im übernächsten4 Kapitel, das den Problemen der athenischen Demokratie mit5 Gerichten und Rechtspflege gewidmet ist, ausführlicher die6 Rede sein. Hier mag es genügen, darauf hinzuweisen, dass die7 ungeheure Zahl von 6000 Geschworenen, immerhin ein Fünf-8 tel bis ein Neuntel der Bürgerschaft, als Reservoir für den Rich-9 terdienst zur Bewältigung der anfallenden Flut von Prozessen0 vorgesehen war. 1 60
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1 Der Volksversammlung als der Regierung eines für antike 2Verhältnisse großen Staates, der eine umfangreiche Agenda zu 3bewältigen hatte, blieb wie bei der Rekrutierung von Laienrich4tern nur die Möglichkeit eines Rückgriffs auf das Potenzial, das 5in der Bürgerschaft steckte. Ungefähr 750 Personen, die über6wältigende Mehrheit auf dem Weg der Auslosung, mussten für 7Verwaltungs- und andere öffentliche Dienstleistungen mobili8siert werden. Das System sah eine Rotation zwischen Belastung 9und Freistellung vor. Dabei wurde auch die unterschiedliche 0Arbeitslast berücksichtigt, die mit den verschiedenen Aufgaben 1verbunden war. Für die Geschworenenliste konnte (und musste) 2einen das Los im Laufe der Jahre mehrfach treffen; die Ratsher3ren, die in dem Jahr ihrer Amtszeit stark beansprucht waren, 4wurden allenfalls zweimal im Leben herangezogen. Das System 5sah vor, dass fast alle Posten kollegial besetzt wurden. Unerfah6rene lernten von den Erfahrenen, und so geschah es, dass in 7Athen jeder Bürger über eine gewisse allgemeine Orientierung, 8wenn auch nicht über eine fachlich spezielle Kenntnis einzelner 9Bereiche verfügte. Auch besaß das Rekrutierungssystem, wie 0oben bereits angedeutet, den Vorteil, dass es den Wechsel zwi1schen der Heranziehung zu öffentlichen Dienstleistungen und 2einer Befreiung von ihnen zugunsten privater Lebensführung 3erlaubte. 4 In der Totenrede, die der Historiker Thukydides seinem Idol, 5dem führenden Staatsmann Perikles, in den Mund legt, wird die 6Rotation zwischen privater und öffentlicher Rolle der Bürger ge7radezu zu einem Alleinstellungsmerkmal der athenischen De8mokratie erklärt: 9 0 „Frei leben wir miteinander im Staat und im gegenseitigen 1 Geltenlassen des alltäglichen Tuns, ohne den Nachbarn miss61
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trauisch und mit Zorn zu beobachten, wenn er nach Lust und1 Laune handelt … (Thuk. II, 37,2) … Wir vereinigen in uns die2 Sorge um den eigenen Hausstand und unsere Stadt, und den3 verschiedenen Tätigkeiten zugewandt, ist doch auch in öf-4 fentlichen Angelegenheiten keiner ohne Urteil. Denn einzig5 bei uns heißt einer, der daran gar keinen Anteil nimmt, nicht6 ein (politisch) untätiger Bürger, sondern ein schlechter, und7 nur wir entscheiden in Staatsgeschäften selber oder denken8 sie doch (bei Beratungen) richtig durch“ (II, 40,2). 9 0 Was hier von Thukydides zum Ausdruck gebracht wird, ist mit1 der demokratischen Selbstauffassung, wie sie Aristoteles in sei-2 ner Politik 1317a 40 – 1317b wiedergibt, eng verwandt. Auch die-3 ser Text, ein Kernstück der demokratischen Ideologie von Frei-4 heit und Gleichheit, soll an dieser Stelle zu Wort kommen: 5 6 „Freiheit ist das Grundprinzip der demokratischen Verfas-7 sung; diese Auffassung vertritt man (das heißt die Anhänger8 der Demokratie) dauernd, so als könnte man nur in dieser9 Verfassung an der Freiheit teilhaben.“ 0 1 Diesen demokratischen Freiheitsbegriff entfaltet Aristoteles2 nach zwei Seiten, zuerst nach seiner politischen, dann nach3 seiner privaten Bedeutung. Den politischen Freiheitsbegriff4 bringt er mit dem Gegensatz, der Gleichheit, in Verbindung:5 Jeder Bürger wird nach dem Prinzip der Rotation für eine öf-6 fentliche Tätigkeit herangezogen und danach wieder in die7 Freiheit persönlicher Lebensgestaltung entlassen. Aristoteles8 leitet diese Regelung von der Gleichberechtigung aller her, die9 dem in der Demokratie herrschenden Mehrheitsprinzip ent-0 spricht: 1 62
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1 „Ein Aspekt der Freiheit ist, abwechselnd Amtsträgern des 2 Staates zu unterstehen und selbst als Amtsträger zu fungie3 ren; denn demokratisches Recht bedeutet, dass (die Bürger) 4 der Zahl nach und nicht den Fähigkeiten und dem Verdienst 5 nach Gleichheit besitzen. Wenn aber von diesem Begriff von 6 Gerechtigkeit ausgegangen wird, dann muss notwendig die 7 Mehrheit die Entscheidungsgewalt besitzen; und was immer 8 die Mehrheit beschließt, das besitzt höchste Verbindlichkeit 9 und Rechtskraft. Denn sie (die Anhänger der Demokratie) sa0 gen, dass jeder einzelne Bürger Gleichberechtigung genießen 1 muss.“ 2 3Das Mehrheitsprinzip aber hat, so Aristoteles, zur Folge, dass 4die Leute ohne Besitz, welche die Mehrheit innehaben, den Vor5rang vor der Minderheit der Besitzenden genießen: 6 7 „Daraus ergibt sich, dass in Demokratien die Besitzlosen 8 mächtiger sind als die Wohlhabenden; denn jene bilden die 9 Mehrheit, was aber die Mehrheit beschließt, besitzt höchste 0 Verbindlichkeit.“ 1 2Was den zweiten Aspekt der Freiheit anbelangt, die Freiheit der 3privaten Lebensgestaltung, steht sie Aristoteles zufolge in en4gem Zusammenhang mit dem im Vorangehenden vorgestellten 5Aspekt der politischen Freiheit: 6 7 „Ein weiteres Merkmal (der Freiheit) aber ist, zu leben, wie 8 man will. Denn dies sei, so sagen sie (die Anhänger der De9 mokratie), eine Wirkung der Freiheit, wenn es denn zutrifft, 0 dass es einen Sklaven kennzeichnet, dass er lebt, wie er nicht 1 will. Dies also ist das zweite Merkmal der Demokratie.“ 63
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Eine entscheidende Voraussetzung für die Realisierung privater1 Freiheit war die politische Freiheit insofern, als die Demokratie2 die Pflichten und Lasten, die sie ihren Bürgern im öffentlichen3 Interesse auferlegt, unter Beachtung des Prinzips der Gleichheit4 begrenzt. Dies geschah in der Weise, dass jeweils ein Teil der5 Bürgerschaft nach dem Prinzip der Rotation für ein Jahr amtli-6 che Funktionen auszuüben hatte, um dann in die Freiheit priva-7 ter Lebensgestaltung entlassen zu werden. Auf diese Weise wur-8 den, wie Aristoteles abschließend hervorhebt, die Grundsätze9 verwirklicht, auf denen die Demokratie beruht, nämlich Frei-0 heit und Gleichheit: 1 2 „Hieraus entspringt das Prinzip, dass man sich keiner Amts-3 gewalt unterstellt, am besten keiner, wenn aber doch, dann4 nur im Wechsel, und so bewirkt auch dieser Aspekt die Frei-5 heit, welche die Verwirklichung der Gleichheit zur Folge hat.“6 7 Dies war die Rechtfertigung des in Athen praktizierten Wech-8 sels einer Heranziehung der Bürger zu öffentlichen Diensten9 und ihrer Freistellung von öffentlicher Tätigkeit nach Maßgabe0 der Gleichbehandlung. 1 Was die Regierungstätigkeit der Volksversammlung anbe-2 langt, erzwang die Fülle der entscheidungsbedürftigen Gegen-3 stände, dass die Versammlung im 4. Jahrhundert mindestens4 vierzigmal im Jahr zu festgelegten Routinesitzungen zusam-5 mentreten musste. Unterschieden wurden nach der Wichtigkeit6 der Traktandenliste zehn Haupt- und dreißig reguläre Sitzun-7 gen. Hinzu kamen bei Bedarf, besonders in Kriegszeiten, außer-8 ordentliche Tagungen. 9 Wir besitzen aus der Zeit um 330 v. Chr. in Gestalt des in der0 Schule des Aristoteles entstandenen Staates der Athener, der ge-1 64
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1gen Ende des 19. Jahrhunderts als Papyrusfund in Ägypten zuta2ge kam, eine genaue Beschreibung der Arbeit, welche die Volks3versammlung im Jahr zu leisten hatte. Zum leichteren 4Verständnis sei vorausgeschickt, dass das Amtsjahr nach unse5rem Kalender im Juli begann und im Juli des nachfolgenden Jah6res in der Regel nach 364 Tagen endete. Eingeteilt wurde das 7Jahr in zehn Abschnitte von viermal 36 und sechsmal 35 Tagen. 8In diesen zehn Jahresabschnitten, die als Prytanien bezeichnet 9wurden, führten die jeweils 50 Mitglieder einer der zehn Phylen 0nach ausgeloster Reihenfolge die laufenden Geschäfte des Ra1tes der Fünfhundert. Dazu gehörten die Festlegung der Termine 2und die Bestimmung der Gegenstände, die der Volksversamm3lung zur Entscheidung vorgelegt werden sollten. Das Wort „Pry4tane“ bedeutet im Singular so viel wie Herrscher, oberster Ma5gistrat, im Plural, die Prytanen, die Mitglieder des für 36 6beziehungsweise 35 Tage bestellten Führungsgremiums des Ra7tes der Fünfhundert, das abgeleitete Nomen „Prytanie“ den 8Zeitraum der Amtszeit. Diese möglicherweise etwas umständ9lich erscheinende Erläuterung erklärt, warum die einzelnen Po0litikbereiche, aus denen der Regierung, das heißt der Volksver1sammlung, im Laufe eines Amtsjahres Beschlussvorlagen zu 2präsentieren waren, unter die Tätigkeit der Prytanen subsumiert 3werden. Weil auf diese Weise auch eine authentische Unterrich4tung über die Politikfelder der damaligen Zeit gegeben werden 5und der Unterschied zu den heutigen Verhältnissen verdeutlicht 6werden kann, soll der bestreffende Abschnitt im Staat der Athe7ner (43,36) im Wortlaut angeführt werden: 8 9 „Die Prytanen berufen sowohl den Rat als auch das Volk ein, 0 den Rat täglich außer an den sitzungsfreien Tagen, das Volk 1 viermal in jeder Prytanie. Sie legen im Voraus fest, womit sich 65
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der Rat befassen muss, welches die jeweilige Tagesordnung1 ist und wo die Sitzung stattfindet.“ 2 3 „Ebenso legen sie die Volksversammlungen fest: eine Haupt-4 versammlung, in der man die Amtsträger durch Abstimmung5 in ihrem Amt bestätigt, sofern ihre Amtsführung gebilligt6 wird; befassen muss sich diese Versammlung auch mit der Ge-7 treideversorgung sowie mit der Sicherheit des Landes; auch8 kann an diesem Tag jeder, der will, eine politische Anklage9 erheben, (griechisch) eine eisangelia (die Straftatbestände wa-0 ren Hochverrat, Sturz der Demokratie und Bestechlichkeit im1 Amt); außerdem müssen die Verzeichnisse der Güter, die von2 Staats wegen konfisziert werden, sowie die eingereichten An-3 sprüche auf Erbschaften und Erbtöchter verlesen werden, da-4 mit verwaistes Eigentum niemandem verborgen bleibe.“ 5 6 „In der (Hauptsitzung der) sechsten Prytanie (das heißt zu7 Beginn der zweiten Jahreshälfte: Dezember/Januar) lassen8 die Prytanen zusätzlich zu den genannten Tagesordnungs-9 punkten noch darüber abstimmen, ob das Scherbengericht0 stattfinden soll oder nicht; außerdem lassen sie Anklagen ge-1 gen Sykophanten (das heißt gegen solche Personen, die fal-2 sche Anklagen erhoben haben) zu, und zwar gegen Athener3 und gegen Metöken jeweils höchstens drei, und ebensolche4 Prozesse, die gegen jemanden angestrengt werden, der dem5 Volk gegebene Versprechungen nicht eingehalten hat.“ 6 7 „Die zweite Volksversammlung widmen sie den Bittgesu-8 chen; in ihr darf jeder, der will, ein Bittgesuch für ein beliebi-9 ges Anliegen stellen, sei es privat oder öffentlich, und es dem0 Volk erläutern.“ 1 66
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1 „Die verbleibenden Versammlungen (also jeweils die dritte 2 und vierte einer Prytanie) befassen sich mit den übrigen An3 gelegenheiten: In ihnen, so schreiben es die Gesetze vor, soll 4 man drei kultische, drei Herolde und Gesandtschaften betref5 fende und drei profane Angelegenheiten behandeln.“ 6 7 „Man verhandelt (in der Volksversammlung) verschiedent8 lich auch ohne Vorbeschluss des Rates. Die Herolde und Ge9 sandten wenden sich aber zuerst an die Prytanen, und ihnen 0 übergeben sie die Briefe, wenn sie welche mit sich führen.“ 1 2Diese Themenliste lag der Tätigkeit der Prytanen und der Volks3versammlung zehnmal im Jahr zugrunde – nur in der Hauptsit4zung der sechsten Prytanie gab es einige zusätzliche Punkte. 5Sachlich ging es also, von der sechsten Prytanie abgesehen, vier6mal im Jahre um die Kontrolle der aus dem Volk mobilisierten 7Amtsträger, die je nach Ergebnis in ihrem Amt bestätigt oder 8abgesetzt und zur Rechenschaft gezogen wurden; weiterhin um 9die Einleitung von Prozessen wegen politischer Vergehen ver0schiedener Art. Auch in diesen Fällen war das Volk darauf ange1wiesen, dass sich ein privater Ankläger fand. Für die Problemfäl2le falscher Anklagen, die sogenannte Sykophanten vertreten 3hatten, beschloss das Volk auf der sechsten Hauptsitzung die 4Einleitung von Prozessen. So war dafür gesorgt, dass Athen ein 5Dorado der politischen Strafgerichtsbarkeit wurde. Der Verfol6gung einer politischen Verfehlung diente auch die Einleitung 7von Prozessen gegen diejenigen, die ihre dem Staat gegebenen 8Leistungsversprechen nicht eingehalten hatten (siehe den 9sechsten Hauptteil im Staat der Athener). 0 Aber es gab auf der anderen Seite auch die Berücksichtigung 1der Interessen von Bürgern. So diente die Vorschrift, dass ange67
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meldete Ansprüche auf Erbschaften und Erbtöchter öffentlich1 verlesen werden mussten, der Berücksichtigung konkurrieren-2 der Ansprüche. In beiden Fällen ging es darum, dass das Famili-3 engut in der Hand der Erbberechtigten blieb; im Falle von Erb-4 töchtern war vorgesehen, dass der nächste nicht verheiratete5 männliche Verwandte die betreffende Erbin heiratete. Hinzu6 kam das Petitionsrecht: Zehn Sitzungen im Jahr waren dazu be-7 stimmt, dass jeder, der wollte, dem Volk ein Bittgesuch vorlegen8 und es mündlich erläutern konnte. 9 Die übrigen Themen betrafen Anliegen des Staates. Die wich-0 tigsten Punkte, die auf den Hauptsitzungen verhandelt wurden,1 galten der Getreideversorgung und dem Schutz des Landes ge-2 gen Angriffe und Überfälle von außen. Letzteres gehört zu der3 ureigenen Aufgabe der Selbstverteidigung und bedarf keiner4 Erläuterung, während die Getreideversorgung deshalb ein be-5 sonderes Problem darstellte, weil die beiden bevölkerungsrei-6 chen Zentren des Staates, Athen und der Haupthafen Piräus,7 nicht aus dem Umland mit den damaligen Grundnahrungsmit-8 teln, Gerste und Weizen, versorgt werden konnten. Viele Klein-9 bauern betrieben Subsistenzwirtschaft, produzierten also nur,0 was sie selbst mit ihren Familien verbrauchten. Und abgesehen1 davon stellte unter antiken Bedingungen der Landtransport von2 Massengütern über weite Strecken einen Kostenfaktor dar, der3 mit jedem Kilometer anstieg. Athen war auf Zufuhr aus Übersee4 angewiesen, vornehmlich aus den fruchtbaren Schwarzerdege-5 bieten nördlich des Schwarzen Meeres. Als die Spartaner und6 ihre Bundesgenossen während des Peloponnesischen Krieges7 Attika zur Erntezeit oder ganzjährig besetzt hielten, war Athen8 ganz auf die Zufuhr von Übersee angewiesen. Anderenfalls9 musste es kapitulieren (wie es im Jahre 404 v. Chr. tatsächlich0 geschah). 1 68
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1 Insgesamt zwanzig Versammlungen waren der Routine der 2Regierungstätigkeit gewidmet, den inneren Angelegenheiten 3und dem diplomatischen Verkehr (und damit der Außenpoli4tik). Die inneren Angelegenheiten betrafen den kultischen und 5den profanen Bereich. Die besondere Berücksichtigung des 6kultischen Bereichs erklärt sich aus der Existenz einer Staats7religion und der daraus folgenden Verpflichtung der Gemein8schaft, für den Bau und die Erhaltung der heiligen Stätten ein9schließlich der religiösen Festkultur zu sorgen. Eine besondere 0Kategorie stellt der Verkehr mit auswärtigen Mächten dar (bei 1dem es sowohl um weltliche wie um religiöse Angelegenheiten 2gehen konnte). Der Form nach kommunizierte die Volksver3sammlung mit Herolden und Gesandten fremder Staaten in 4Audienzen, auf denen diese ihrem Auftrag in Form von Verbal5noten oder der Übergabe von Briefen nachkamen. In dringen6den Angelegenheiten musste eine schnelle Antwort erteilt 7werden, ohne dass eine Vorberatung des Rates der Fünfhun8dert mit Vorlage einer Beschlussvorlage stattgefunden hätte. 9Gesandte und Herolde hatten sich in jedem Fall zunächst an 0die Prytanen zu wenden, die den Tag und Nacht erreichbaren 1geschäftsführenden Ausschuss des Rates der Fünfhundert bil2deten. 3 Die zitierte Liste, die einen authentischen Einblick in die Or4ganisation und die Fülle der Themen gibt, die die Volksver5sammlung dazu zwang, fast jede Woche zusammenzutreten, ist 6die schlagende Widerlegung des modernen Vorurteils, dass die 7direkte Demokratie der Antike nur in einem kleinen Staat mit 8einem geringen Regelungsbedarf möglich gewesen wäre. Die 9athenische Demokratie ist der Beweis des Gegenteils. 0 Es liegt auf der Hand, dass die Regierung durch den Souve1rän, das Volk, einen Verwaltungsstab zur Vorbereitung, Aus69
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führung und Kontrolle seiner Beschlüsse brauchte. Da ein mo-1 dernes Berufsbeamtentum ebenso fehlte wie ein juristisch2 geschulter Richterstand, war die athenische Demokratie, wie3 oben dargelegt wurde, auf die Mitwirkung eines Teils der Bür-4 gerschaft angewiesen. Wie zu Recht gesagt worden ist, waren5 der Rat der Fünfhundert und seine geschäftsführenden Aus-6 schüsse, die Prytanien, der administrative Angelpunkt in der7 politischen Verfassung der athenischen Demokratie. Die Pry-8 tanen bildeten in ihrer Amtszeit die Stallwache des Staates, an9 die man sich jederzeit wenden konnte, und ihr täglich wech-0 selnder Vorsitzender fungierte für einen Tag als eine Art1 Staatspräsident Athens. Während der sechsten Prytanie, nach2 unserem Kalender im Dezember/Januar, der es vorbehalten3 war, die militärischen Operationen des folgenden Sommer-4 halbjahres vorzubereiten, hatten die amtierenden Prytanen5 die zusätzliche Aufgabe, die von der Volksversammlung vor-6 zunehmenden Wahlen militärischer Amtsträger und der Be-7 auftragten für den Bau und die Einsatzbereitschaft der Kriegs-8 schiffe zu leiten. In diesem Fall passte die Methode der9 Auslosung nicht; denn Militärbefehlshaber und die Beauftrag-0 ten mussten sich durch entsprechende Erfahrung und Kompe-1 tenz empfehlen. 2 Dem Rat der Fünfhundert war aufgegeben, die Tagesordnun-3 gen der Volksversammlung zu beraten und nach Möglichkeit4 einen Vorbeschluss (griechisch: ein probuleuma) vorzulegen, an5 den sich das Volk bei seinem Beschluss halten konnte, den es6 aber auch modifizieren oder zurückweisen durfte. Im 4. Jahr-7 hundert war die Funktion des Rates bei den von der Volksver-8 sammlung angeordneten Verfahren zur Verurteilung und Be-9 strafung von Unrechtstätern durch ein spezielles Gesetz geregelt0 (Staat der Athener 45,1): 1 70
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1 „Wenn der Rat jemanden wegen eines Unrechts verurteilt 2 oder bestraft, sollen die Thesmotheten (die sechs Mitglieder 3 des Archontenkollegiums mit jurisdiktionellen Aufgaben) die 4 (vom Rat vorgeschlagene) Verurteilung und Bestrafung dem 5 Gericht vorlegen, und wofür die Richter stimmen, das soll 6 rechtskräftig sein.“ 7 8Damit fiel dem Rat die Funktion einer Strafverfolgungsbehörde 9zu – das war eine Neuerung im Vergleich zur rein privaten Ankla0geerhebung. Der Rat beantragte in diesem Fall wie die moderne 1Staatsanwaltschaft eine Verurteilung und Bestrafung; aber eine 2rechtskräftige Entscheidung fällte ein Gericht. Diese Teilung 3der Zuständigkeit zwischen Rat und Volksgericht wurde auch 4für andere Bereiche der Rechtspflege übernommen, so bei Ver5fahren, die der Rechenschaftslegung von Amtsträgern galten, 6oder für Anklagen wegen gesetzwidriger Handlungen, die von 7Privatleuten erhoben wurden. Der Rat wurde ein Hilfsorgan der 8Rechtspflege, aber kein Gericht. Alle Amtsträger mussten vor 9dem Rat Rechenschaft über die Verwendung von Geldern able0gen, die ihnen zu treuen Händen anvertraut worden waren. Der 1Rat fasste das Ergebnis seiner Überprüfung in die Form eines 2vorläufigen Urteils und leitete es dem Volksgericht zu, dem es 3vorbehalten war, das rechtskräftige Urteil zu fällen. 4 Diese Regelung galt nicht zuletzt für diejenigen, durch deren 5Hände große Geldmittel des Staates gingen: die zehn Schatz6meister der Stadtgöttin Athene, in deren Tempel der Reserve7schatz des Staates verwahrt wurde, oder die zehn Verpächter 8(griechisch: poletai) des profanen Staatseigentums wie beispiels9weise der Silbergruben im Laureiongebirge sowie den König 0(griechisch: basileus), das Mitglied des Archontenkollegiums, zu 1dessen Zuständigkeit für Angelegenheiten des Kultes die Ver71
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pachtung des Landeigentums der Heiligtümer gehörte. Betrof-1 fen waren auch die zehn Einnehmer (griechisch: apodektai), die2 dem Staat geschuldete Beträge entgegenzunehmen hatten.3 Weiterhin hatte der Rat aus seinen Reihen zehn Rechnungsprü-4 fer (griechisch: logistai) auszulosen, deren Aufgabe es war, zehn-5 mal im Jahr, also in jeder Prytanie, die Rechnungsführung der6 Amtsträger zu überprüfen. Schließlich wurden noch zehn Un-7 tersuchungsführer mit zwei Beisitzern ausgelost, die allen8 Amtsträgern nach Ablauf ihrer Amtszeit die Erklärung korrekter9 Amtsführung abnahmen und gegebenenfalls Anklagen wegen0 Vergehen im Amt veranlassten. Der Bericht im Staat der Athener1 über die Aufgaben des Rates der Fünfhundert endet mit folgen-2 der Generalklausel (49,5): 3 4 „Der Rat arbeitet außerdem, allgemein gesprochen, bei der5 Verwaltung der meisten Staatsangelegenheiten mit den ande-6 ren Amtsträgern zusammen.“ 7 8 Über die Tätigkeit der verschiedenen Amtsträger soll im letzten9 Teil dieser Übersicht nur das Wichtigste gesagt werden. Dies0 mag zur Begründung des Urteils genügen, dass die athenische1 Demokratie ein hochdifferenzierter Staat war und sich eines aus2 der Bürgerschaft rekrutierten hochkomplexen Verwaltungssys-3 tems bediente, um ihre Aufgaben erfüllen zu können. 4 Die meisten Amtsträger waren in Kollegialorganen organi-5 siert. Dies empfahl sich schon deshalb, weil es gegenseitige6 Kontrolle begünstigte und die Sachkenntnis erfahrener Mitglie-7 der die mangelnde Erfahrung anderer kompensieren konnte.8 Von den mehrköpfigen Behörden seien genannt: die Zehner-9 kommission, die für die Instandhaltung der Tempel zuständig0 war; die zehn Stadtaufseher (griechisch: astynomoi), jeweils fünf1 72
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Organisation und Politik der athenischen Demokratie
1für Athen und fünf für den Piräus, die die Aufsicht über die Stra2ßen führten und für die Einhaltung von Bauvorschriften zu sor3gen hatten. Hinzu kamen die zehn Marktaufseher (griechisch: 4agoranomoi), wiederum jeweils fünf für Athen und den Piräus, 5desgleichen die zehn Aufseher über Maße und Gewichte (grie6chisch: metronomoi). Von besonderer Wichtigkeit war die große 7Kommission der Aufseher des Getreidemarktes (griechisch: si8tophylakes). Zur Entstehungszeit des aristotelischen Staates der 9Athener, um das Jahr 330, bestand das Kollegium aus 35 Mitglie0dern, 20 für Athen und 15 für den Piräus, den Hafen, in dem 1überseeische Getreidelieferungen gelöscht wurden. Für die ord2nungsgemäße Verteilung des Getreides gab es noch eine weitere 3Kommission, die zehn Kontrolleure des Handelshafens. Sie hat4ten unter anderem dafür zu sorgen, dass zwei Drittel des im Pi5räus gelöschten Getreides nach Athen weitergeleitet wurden. 6Erwähnt sei zum Schluss dieser freilich unvollständigen Über7sicht noch ein Gremium, das seine Entstehung einer bedeuten8den Reform der Strafrechtspflege verdankt. Die fragliche Neue9rung markiert den Übergang vom reinen Privatstrafrecht zu 0einem öffentlich-rechtlichen Strafrecht (wir können sie nicht 1genau datieren; wahrscheinlich fällt sie in die Zeit nach Entste2hung der Demokratie). Der Vollzug der Todesstrafe war seitdem 3Sache des Staates (man denke an die Hinrichtung des Sokrates), 4und darum hatte sich eine aus elf Mitgliedern bestehende Kom5mission zu kümmern, deren offizieller Name „die Elf “, ohne 6weiteren Zusatz, lautete. 7 Nicht ausgelost, sondern gewählt worden war in vordemokra8tischer Zeit das Kollegium der neun Archonten mit seinem 9Sekretär, das die Funktion einer Regierung ausübte. Sie alle ge0hörten zum Kreis adliger Familien mit herausgehobener Ver1mögensqualifikation. Insbesondere der eponyme Archont, nach 73
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dem das jeweilige Amtsjahr benannt war, hatte einst die Funk-1 tion des Vorstehers der Volksversammlung ausgeübt, die ihm2 bedeutenden Einfluss auf die Gestaltung der Politik bot. Damit3 hatte die Demokratie Schluss gemacht: Das Zehnerkollegium4 der Archonten wurde ausgelost, die Forderung nach Zuge-5 hörigkeit zu einer besonderen Vermögensklasse aufgehoben.6 Nachdem die Wahl durch Auslosung ersetzt war, blieben dem7 Kollegium nur noch Routineaufgaben in Rechtsprechung und8 kultischen Angelegenheiten. Dem eponymen Archonten war es9 vorbehalten, drei der reichsten Bürger als Beauftragte für die0 Tragödien- und Komödienaufführungen an den beiden Festen1 des Gottes Dionysos zu ernennen, ebenso fünf weitere für die2 Chorwettbewerbe an den Thargelien, dem Fest des Apollon. Die3 acht, die er ernannte, hatten die nicht unerheblichen Kosten für4 die Gestaltung der Wettbewerbe aus eigenen Mitteln zu tragen.5 Das Wahlverfahren bei der Bestellung von Amtsträgern blieb6 nur bestehen, wenn die Bekleidung des Amtes besondere per-7 sönliche Qualifikationen erforderte. Dies galt für drei Bereiche:8 neben Reichtum als Voraussetzung der Erfordernis, gegebenen-9 falls Schadenersatz zu leisten, militärische Erfahrung und Be-0 währung für die höheren Befehlshaber mit den zehn Strategen1 an der Spitze sowie Fachwissen in bestimmten technischen Dis-2 ziplinen als Aufseher der Brunnen und der Wasserversorgung. 3 Dieses System der Ämter ersparte der athenischen Demokra-4 tie die enormen Kosten, die das moderne Berufsbeamtentum5 einschließlich der Angestellten des öffentlichen Dienstes dem6 Staat auferlegt. Aber ganz ohne Geld war auch die Tätigkeit von7 Administration und Geschworenenrichtern nicht zu haben. Vo-8 raussetzung war die Entwicklung der Münzgeldwirtschaft, die9 Athen einen finanziellen Spielraum verschaffte, den andere0 Staaten nicht besaßen. Seit der Mitte des 5. Jahrhunderts zahlte1 74
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1der athenische einem im Laufe der Zeit erweiterten Empfänger2kreis Tagegelder, um sie für den Verdienstausfall zu entschädi3gen, wenn sie für den Staatsdienst ausgelost worden waren. Die 4Höhe dieser Tagegelder bemaß sich am Verdienst von Arbeitern 5und Handwerkern (zu denen auch Steinmetze – Sokrates gehör6te bekanntlich zu dieser Berufssparte – und bildende Künstler 7gerechnet wurden) und war mit den Diäten und Aufwandsent8schädigungen, die heutige Abgeordnete der Parlamente oder 9Angehörige der nach Besoldungsgruppen und Altersstufen dif0ferenzierten modernen Verwaltung und Rechtspflege erhalten, 1nicht im Entferntesten zu vergleichen. 2 Teilweise lagen die gezahlten Tagegelder sogar unterhalb des 3Verdienstes von Arbeitern und gelernten Handwerkern. Im letz4ten Drittel des 5. Jahrhunderts, also in der Zeit des Peloponnesi5schen Krieges, wurden ungelernte Bauarbeiter mit drei Obolen 6pro Tag, das ist eine halbe Drachme, entlohnt, ein gelernter 7Handwerker erhielt das Doppelte, also eine Drachme am Tag. 8Um 330, zur Entstehungszeit des aristotelischen Staates der 9Athener, war die Kaufkraft des Geldes durch Vermehrung des 0ausgeprägten Silbers erheblich gesunken, und infolge der einge1tretenen Inflation wurden höhere Nominalwerte gezahlt. Ein 2ungelernter Arbeiter erhielt nun anderthalb Drachmen, das 3heißt neun anstelle von drei Obolen; ein gelernter Maurer zwei 4bis zweieinhalb Drachmen, also zwölf bis fünfzehn Obolen an5stelle von sechs. 6 Staatliche Tagegelder erhielten seit der Mitte des 5. Jahrhun7derts zuerst die Richter der Geschworenengerichte. Ihnen wur8de der bescheidene Betrag von zwei Obolen gezahlt, ein Obol 9weniger, als ein ungelernter Arbeiter am Tag verdiente. Dieser 0Betrag wurde im Jahr 425 mitten in den Nöten des Peloponnesi1schen Krieges, als die Spartaner das flache Land besetzt hielten 75
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und die geflüchtete Landbevölkerung zwischen den Langen1 Mauern der Landfestung Athen Zuflucht fand, auf drei Obolen,2 eine halbe Drachme, erhöht. Das war in der gegebenen Situati-3 on für viele ein starker Anreiz, sich um eine der Richterstellen zu4 bemühen. Als dann nach dem verlorenen Krieg die eingetrete-5 nen starken Menschenverluste und die wirtschaftliche Notlage6 sich dahingehend auswirkten, dass der Besuch der Volksver-7 sammlung das für bestimmte Themen vorgeschriebene Quo-8 rum von 6000 Besuchern nicht erreichte, erhielten seit 395 die9 ersten 6000, die registriert wurden, pro Sitzung eine kleine Un-0 terstützung in Höhe von einem Obol. Dieser geringe Betrag1 musste mehrfach erhöht werden, damit das Tagegeld seinen2 Zweck erfüllte, zuerst auf zwei und dann auf drei Obolen. 3 Später wurden die Zahlungen weiter erhöht. Für die Teilnah-4 me an den zehn Hauptversammlungen des Jahres erhielten die5 betreffenden 6000 pro Kopf anderthalb Drachmen, also neun6 Obolen, für die Teilnahme an den übrigen Sitzungen wurde eine7 Drachme pro Person gezahlt. Was die Amtsträger des öffentli-8 chen Dienstes anbelangt, so erhielten die Mitglieder des Archon-9 tenkollegiums vier Obolen am Tag, die Mitglieder des Rates der0 Fünfhundert fünf und die 50 Prytanen, die während ihrer Amts-1 zeit Tag und Nacht erreichbar sein und selbst die Mahlzeiten ge-2 meinsam einnehmen mussten, einen Obol zusätzlich als Verpfle-3 gungsgeld. Diese und die übrigen Gelder konnte Athen trotz der4 Finanznöte nach dem verlorenen Krieg und dem Verlust der Ein-5 nahmen aus den Beiträgen der Mitglieder des Seebundes offen-6 bar aus dem Vermögen des Staates, insbesondere aus dem Ertrag7 der verpachteten Silbergruben, aufbringen. Mögen auch die aus-8 geworfenen Tagegelder nach heutigen Maßstäben noch so be-9 scheiden gewesen sein: Kein anderer Staat Griechenlands wäre0 zu vergleichbaren Zahlungen in der Lage gewesen. 1 76
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1 Die skizzierte Übersicht über die Organisation von Politik 2und Administration im demokratischen Athen wirft eine Frage 3von allgemeiner Bedeutung auf: War Athen unter der Demokra4tie zu einer Stadt des leidenschaftlichen Bürger-Engagements 5geworden, das – so Christian Meier – einem sozusagen anthro6pologischen Bedürfnis nach Teilhabe an der Politik entsprang? 7Oder verpflichtete die staatsbürgerliche Moral – so Alfred Heuß 8– die Bürger dazu, öffentliche Strafverfahren gegen Personen zu 9führen, die den Staat geschädigt hatten? So mochte es in idealis0tischer beziehungsweise offizieller Perspektive scheinen. Aber 1ich denke, der aus den Quellen erschlossene Befund spricht eine 2andere Sprache. Die Mobilisierung für den öffentlichen Dienst 3war eine Zwangsmaßnahme, die in der wohlhabenden Elite auf 4Ablehnung stieß und von der Masse des Volkes hingenommen 5wurde, weil es unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit den 6Wechsel zwischen Dienstpflicht und privater Freiheit gab. Und 7schließlich sei erinnert an die beinahe lückenlose, mehrfach 8wiederholte Kontrolle der dienstverpflichteten Bürger und das 9über ihnen aufgehängte Damoklesschwert strafrechtlicher Ver0folgung bei Pflichtverletzungen und Vergehen gegen den Staat! 1Dies alles zeugt von einem tiefen Misstrauen gegenüber den 2Bürgern, dass sie durch Amtsmissbrauch, Unterschlagung an3vertrauter Gelder und, allgemein gesprochen, durch Korruption 4Schaden anrichten könnten. 5 Selbstverständlich konnte es das in der Frühen Neuzeit müh6sam anerzogene Beamtenethos nicht geben, durch das sich 7Preußen ausgezeichnet haben soll. Die Dienstverpflichteten 8waren letztlich Menschen, die auf ihren Vorteil sahen – und sie 9waren Griechen. 0 1 77
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1 2 3 4 5 6 s ist kein Zufall, dass wir die kleine Schrift eines Feindes7 der athenischen Demokratie aus den Anfangsjahren des8 Peloponnesischen Krieges besitzen, während es eine Lob-9 schrift auf die Demokratie aus derselben Zeit schlechterdings0 nicht gibt. Die Demokratie besaß eben in der Elite damals kei-1 ne Freunde. Wohl aber ist es ein Zufall, dass ein Herausgeber2 der viel gelesenen Schriften Xenophons, eines athenischen Au-3 tors aus dem 4. Jahrhundert, die kleine Schrift eines dezidierten4 Feindes der Demokratie aus dem 5. Jahrhundert seiner Ausgabe5 der gesammelten Werke Xenophons eingefügt und sie so vor6 dem Untergang gerettet hat. Auf die modernen Bewunderer7 des Perikles und der von ihm mitgeprägten Demokratie wirkte8 die Schrift, wenn sie es nicht vorzogen, den Traktat des „Alten9 Oligarchen“ – so die vielfach gebrauchte Bezeichnung des un-0 bekannten Autors – nicht zur Kenntnis zu nehmen, wie ein1 Schock. Selbst ein differenziert denkender Historiker wie Alf-2 red Heuß sprach von einem Erschrecken beim Innewerden des3 inneren Abstands, den die sogenannten Konservativen, wie die4 oligarchisch gesinnten Feinde der Demokratie früher genannt5 zu werden pflegten, „noch immer“ zum Staat des Perikles hat-6 ten. Doch die Feinde der Demokratie haben nie anders über7 den Staat der perikleischen Demokratie gedacht als der Alte8 Oligarch. 9 Alfred Heuß’ einschlägige Würdigung im dritten Band der0 Propyläen-Weltgeschichte lautet: 1
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1 „Wir wissen zufällig, wie die Konservativen am Ende der Pe2 rikleischen Ära gedacht haben, und wenn man dieses litera3 rische Dokument (den pseudoxenophontischen Staat der 4 Athener) liest, erschrickt man über den inneren Abstand, 5 den diese Kreise noch immer zum Perikleischen Staat hat6 ten …“ 7 8Und dann zieht Heuß aus dem Befund die Konsequenz, vor die 9sich der moderne Historiker gestellt sieht: „Kein Historiker ver0mag den Perikleischen Staat von dem Schicksal einer beängsti1genden Zwielichtigkeit zu befreien.“ 2 Die Schrift, auf die Heuß Bezug nimmt, setzt folgende histo3rische Situation voraus: Schon in den Anfängen des Peloponne4sischen Krieges, als deutlich geworden war, dass die Kriegspla5nung des Perikles nicht zu einem schnellen Sieg führen würde, 6liefen unter den Feinden der athenischen Demokratie Pläne 7um, ihr durch Umsturz ein Ende zu setzen. Der Verfasser der 8Schrift stand zwar seinen Gesinnungsgenossen im Hass auf die 9Demokratie in nichts nach, bemühte sich aber, ihnen den Plan 0eines gewaltsamen Umsturzes auszureden, indem er zu zeigen 1versuchte, dass das Volk seine Herrschaft umfassend und wir2kungsvoll gesichert habe. Die knapp gehaltene Einführung der 3Schrift vereint die Ablehnung der demokratischen Regierungs4form – nach Ansicht des Verfassers teilen alle anderen Griechen 5diese Ablehnung – mit der Warnung vor einem unbedachten 6Putsch: 7 8 „Was die Regierungsform der Athener anbelangt, kann ich es 9 freilich nicht billigen, dass sie gerade für diese Regierungs0 form sich entschieden haben; denn damit haben sie sich zu1 gleich dafür entschieden, dass es die Schlechten besser haben 79
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als die Edlen: Aus diesem Grund kann ich das nicht billigen.1 Dass sie aber, nachdem sie das nun einmal dergestalt und al-2 les andere sich zu ihren Gunsten einzurichten wissen, womit3 sie nach Ansicht der anderen Griechen fehlgreifen, das will4 ich jetzt beweisen.“ 5 6 Der entscheidende Punkt in der Argumentation des Traktats7 ist die Verknüpfung der sozialen Zusammensetzung des Volkes8 mit der Waffengattung, auf der die Machtstellung des demo-9 kratischen Athen beruht: auf der Kriegsflotte und nicht (wie in0 Sparta) auf den Landstreitkräften. Aus der Masse der kleinen1 Leute ohne nennenswerten Besitz ließen sich Ruderer und2 Seeleute in großer Zahl rekrutieren, aber nicht in gleicher Wei-3 se Schwerbewaffnete, die in Reih und Glied zu Fuß kämpfen-4 den Hopliten, die Waffengattung der Bauern und gelernten5 Handwerker (der Steinmetz Sokrates war einer von ihnen),6 oder gar Reiter, deren Pferde vor allem von Adligen und größe-7 ren Grundbesitzern gehalten werden konnten. Mit Blick auf8 den maritimen Schwerpunkt in der Wehrverfassung Athens9 gibt der Autor sogar zu, dass das Volk in Athen zu Recht den0 Vorzug vor den Reichen und Vornehmen genieße. Dabei spal-1 tet er den Begriff des Gerechten in zwei Bedeutungsvarianten2 und unterscheidet zwischen einer rein sachlichen und einer3 moralisch-politischen Berechtigung. Unter dem zuletzt ge-4 nannten Gesichtspunkt wäre es, vom Standpunkt des Verfas-5 sers aus gesehen, gut und gerecht, wenn die alte Elite die Macht6 im Staat in den Händen hielte, unter dem zuerst genannten7 Aspekt ist es die Mehrheit der Besitzlosen, die wegen ihrer Be-8 deutung für die maritime Machtentfaltung Athens zu Recht die9 Herrschaft innehat. Im Hinblick darauf gibt der Alte Oligarch0 sogar zu: 1 80
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1 „Unter diesen Umständen erscheint es nur gerecht (!), dass 2 allen sowohl bei der üblichen Auslosung als auch bei Wahlen 3 die Ämter offenstehen und dass es jedem der Bürger, der da 4 will, freisteht, öffentlich zu reden.“ 5 6Aber diese Anerkennung der sachlichen Berechtigung der 7Machtstellung, die dem Volk in der Demokratie zugefallen ist, 8hebt in keiner Weise das negative Werturteil über die Demokra9tie auf. Der Verfasser teilt das auch von Herodot geäußerte 0Werturteil, dass eine Demokratie die Herrschaft derjenigen ist, 1„die weder etwas Gutes und Schönes gelernt haben noch das 2eine wie das andere von sich aus wissen“, und er macht geltend, 3dass dieses negative Werturteil über die Demokratie in allen 4Staaten von den Eliten geteilt werde: 5 6 „Es gilt aber auch für jedes Land, dass das bessere Element 7 Gegner der Volksherrschaft ist; denn bei den Besseren sind 8 Zuchtlosigkeit und Ungerechtigkeit am geringsten, gewissen9 hafter Eifer für das Gute und Edle am größten, beim Volk aber 0 Mangel an Bildung und Selbstzucht am größten und Gemein1 heit desgleichen; denn sowohl die Armut verleitet sie eher zur 2 Schlechtigkeit als auch der Mangel an Erziehung und Bil3 dung.“ 4 5Bei aller aristokratischen Verachtung des Verfassers für den 6minderwertigen Pöbel, der in der Demokratie die Mehrheit in 7der regierenden Volksversammlung stellt: Er bleibt dabei nicht 8stehen, sondern fragt weiter nach den ökonomisch-gesellschaft9lichen Veränderungen, die der Demokratie als politischer Herr0schaftsform zugrunde lagen. Verantwortlich macht er, beinahe 1wie es der Sichtweise der modernen Sozialgeschichte entspre81
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chen würde, den Wandel von einer agrarischen Gesellschaft zu1 einer städtisch geprägten, in der Athen mit seinen Häfen das2 urbane Großzentrum geworden war, der Mittelpunkt von hand-3 werklicher, in Manufakturen betriebener Großproduktion, von4 Handel, Seefahrt und Münzgeldwirtschaft. Damit erschien den5 Verehrern der „guten alten Zeit“ die Welt aus den Fugen geraten6 zu sein. Selbst die scharfe Trennung, die einst zwischen Herren7 und Sklaven und zwischen Bürgern und Metöken, niedergelas-8 senen Fremden, bestanden hatte, war aufgelöst. Der Verfasser9 der Schrift war Besitzer von Sklaven, aber er setzte sie nicht in0 Produktionsstätten ein, die er selbst betrieb; er ließ sie auf eige-1 ne Rechnung wirtschaften, um an ihrem Verdienst mit einer Ab-2 gabe teilzuhaben. Er billigte das keineswegs, aber er hatte, ob-3 wohl er ein Reaktionär reinsten Wassers war, einen offenen4 Blick dafür, welche Veränderungen im Verhältnis zwischen Her-5 ren und Sklaven im Vergleich zu dem anderen Extrem einer tra-6 ditionell geprägten agrarischen Sklavenhaltergesellschaft wie7 der in Sparta herrschenden in Athen eingetreten waren. Er8 kannte diesen Unterschied aus eigener Erfahrung und schrieb: 9 0 „Denn wo es eine Seemacht gibt, ist es eine Naturnotwendig-1 keit für die Sklaven, für Geld zu arbeiten, damit ich als ihr2 Herr von ihrer Tätigkeit wenigstens die Abgaben bekomme,3 und sie freizugeben (das heißt: in die Selbstständigkeit zu ent-4 lassen). Wo es aber einmal reiche Sklaven gibt, da lohnt es5 sich nicht mehr, dass mein Sklave sich vor dir (wer angeredet6 ist, muss ungeklärt bleiben) fürchtet wie in Lakedaimon (das7 heißt: im spartanischen Gesamtstaat), wo mein Sklave tat-8 sächlich sich vor dir fürchtete; denn wenn sich einmal dein9 Sklave vor mir fürchtet, wird er immer Gefahr laufen, sogar0 sein Geld herzugeben, um dann nicht mehr an Leib und Le-1 82
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1 ben Gefahr zu laufen. Deshalb also haben wir sogar für die 2 Sklaven freie Meinungsäußerung eingeführt in demselben 3 Maße wie für die Freien, und auch für die Metöken in demsel4 ben wie für die Bürger, weil der Staat Metöken braucht, so5 wohl um der Menge der Gewerbe als auch um des Seewesens 6 willen: Deshalb also haben wir naturgemäß auch für die Met7 öken dasselbe Recht der freien Meinungsäußerung (wie für 8 die Bürger) eingeführt.“ 9 0Aufschlussreich ist der Vergleich zwischen Sparta und Athen in 1Hinblick auf die konträre Behandlung von Sklaven. Dort unterla2gen die Staatssklaven, die sogenannten Heloten, die den Boden 3der Landlose ihrer Herren bearbeiten mussten, einer terroristi4schen Disziplinierung. In Athen wäre die in Sparta praktizierte 5Behandlung von Sklaven aufgrund der anderen Arbeitsverhält6nisse vollkommen anachronistisch und kontraproduktiv gewe7sen; denn hier waren Sklavenhalter genötigt, ihre Sklaven in die 8bedingte Selbstständigkeit zu entlassen, um an ihrem Verdienst 9einen Anteil zu haben, und es verstand sich von selbst, dass ihre 0Stellung im Wirtschafts- und Geschäftsleben das Recht auf freie 1Kommunikation voraussetzte. 2 Mindestens ebenso aufschlussreich ist, was zur Einbeziehung 3der Metöken in das Bürgerrecht der freien Rede gesagt wird: 4Athen brauchte die Fremden, denn Schutzbürger mit Niederlas5sungsrecht waren das Ferment, das das Wachstum Athens als 6Stadt der Gewerbe und des überseeischen Handelsverkehrs för7derte. Die Metöken stammten zu einem beträchtlichen Teil aus 8der Schicht wohlhabender und angesehener Familien ihrer Hei9matstädte, und sie waren deshalb dazu prädestiniert, ihre Wahl0heimat in das Netz ererbter wirtschaftlicher Beziehungen einzu1binden. Wie sich ihr Status in Athen durch die Zuerkennung des 83
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Rechts auf freie Meinungsäußerung dem von Bürgern annäher-1 te, ist gut bezeugt. Erwähnt sei, um nur ein Beispiel zu nennen,2 die Familie des Lysias. Dieser war wie schon sein Vater ein ange-3 sehener Metöke und brillierte im frühen 4. Jahrhundert als Ver-4 fasser von Gerichtsreden nicht nur für andere, sondern auch von5 solchen, die er in eigener Sache vor athenischen Gerichtshöfen6 hielt. Die Familie gehörte wie andere aus dem Kreis der Metö-7 ken zu den Parteigängern der Demokratie. Diese hatte die8 Fremden, die sich in Athen niederließen, begünstigt, und sie9 hatten deshalb eine andere Einstellung zur Demokratie als die0 Mehrheit der alten athenischen Elite, die von der Demokratie1 entmachtet worden war und einen Bedeutungsverlust erlitten2 hatte. 3 Der Alte Oligarch betrachtete die Demokratie als Klassen-4 herrschaft der Unterschichten, die auf der Ausbeutung der ent-5 machteten Eliten in Athen und in den Städten des Delisch-Atti-6 schen Seebundes beruhte. Sie bewirkte aus der Sicht des7 Verfassers, dass es den falschen Leuten in der Demokratie auf8 Kosten derjenigen gut ging, die von Haus aus über Vermögen9 sowie über jene moralische und intellektuelle Überlegenheit0 verfügten, also eigentlich zur Herrschaft qualifiziert gewesen1 wären. Die Ausbeutung der Wohlhabenden aber wird als das2 Mittel gesehen, das von den Demokraten dazu benutzt wurde,3 ihre Stellung so auszubauen, dass sie unter den herrschenden4 Umständen unangreifbar war. 5 Dieser Gedanke wird in mehreren Aspekten präsentiert, zu-6 nächst unter dem Gesichtspunkt, dass die finanziellen Lasten,7 die der Bau und die Unterhaltung einer großen Flotte, die8 Kriegführung mit dem Peloponnesischen Bund, der führenden9 Landmacht in Griechenland, und die Festkultur der großen0 Wettbewerbe aufbürdeten, von den Besitzenden in Form von1 84
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1Geldbeiträgen und Sachleistungen getragen werden mussten. 2Auf die Wohlhabenden kamen je nach Bedarf die Erhebung 3von Geldbeträgen und die Übertragung bestimmter Aufgaben 4zu, sogenannte Leiturgien zur Unterhaltung von Kriegsschiffen 5oder der Veranstaltung von Wettkämpfen aller Art einschließ6lich der Tragödien- und Komödienaufführungen an den Festen 7des Dionysos. Von solchen Veranstaltungen der Festkultur gab 8es in normalen Jahren sage und schreibe 97, alle vier Jahre, wenn 9das große Staatsfest der Panathenäen veranstaltet wurde, sogar 0118. In Zeiten des Krieges wie des Peloponnesischen, in dessen 1Anfängen der Traktat des Alten Oligarchen entstand, wurde die 2Belastung so hoch, dass in den Gerichtsreden der Zeit die voll3ständige oder weitgehende Vernichtung der großen Vermögen 4in Athen beklagt wurde. 5 Die Gattung der Gerichtsrede lebt natürlich von zweckgerich6teten Übertreibungen. Aber den Übertreibungen muss immer7hin ein allgemein bekannter wahrer Kern zugrunde liegen, wenn 8denn die Gerichtsredner zumindest den Schein der Glaubwür9digkeit erreichen wollten. Um einige Beispiele zu erwähnen: 0Das Vermögen des Kallias, des sprichwörtlich reichsten Mannes 1in Athen, war angeblich von 200 auf 2 Talente gesunken, das 2heißt von 1 200 000 auf 12 000 Drachmen, dasjenige des Nikias 3von ungefähr 100 auf 14, das des Ischomachos von rund 80 auf 410 und das des Stephanos von mehr als 50 auf ungefähr 11 Talen5te. Von Kleophon, einem umstrittenen Politiker aus der Zeit 6nach Perikles, heißt es, er habe ursprünglich viel, zum Schluss 7aber gar nichts mehr besessen, und ebenso wird von einem na8mentlich Unbekannten gesagt, dass sein Vermögen, ursprüng9lich 80 Talente, am Ende vollständig vernichtet gewesen sei. 0 Der Autor setzt seine Betrachtungen über die Ausbeutung sei1ner Standesgenossen in Athen fort, indem er das politische 85
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Dreiecksverhältnis zwischen dem Volk von Athen sowie der Eli-1 te und den einfachen Leuten in den Städten des Delisch-Atti-2 schen Seebundes ins Auge fasst: 3 4 „So verhängen sie (die in Athen regierenden Demokraten) in5 der Erkenntnis, dass einerseits mit Naturnotwendigkeit der6 Herrschende vom Beherrschten gehasst wird, andererseits7 aber in dem Falle, dass die Reichen und überhaupt die Edlen8 in den Bundesstädten die Gewalt behalten, die Herrschaft9 (über die betreffenden Städte) nur ganz kurze Zeit noch beim0 Volk in Athen bleiben werde, aus diesen Gründen also ver-1 hängen sie über die Edlen Verbannung und Einziehung des2 Vermögens und verjagen sie aus ihrem Reiche (das heißt aus3 dem Gebiet des von Athen beherrschten Seebundes) und las-4 sen sie hinrichten; das gemeine Volk aber fördern sie.“ 5 6 Der Angelpunkt der Betrachtungsweise ist die These von der7 ‚natürlichen‘ Feindschaft zwischen den ‚Edlen‘ und der Masse8 des Volkes – ob in Athen oder im Bereich der Athens Herrschaft9 unterworfenen Städte. Tatsächlich hatten unter Führung der0 alten Eliten in der Zeit des Perikles mehrere Abfallbewegun-1 gen unter den Bundesgenossen die athenische Herrschaft er-2 schüttert und Athen, dem damals der sprechende Name „Ty-3 rannenstadt“, polis tyrannos, angehängt wurde, hatte darauf4 mit gewaltsamer Unterwerfung, Anlage von athenischen Mili-5 tärkolonien, Zwang zur Einrichtung demokratischer Verfas-6 sungen und Verpflichtung zu sanktionsbewehrten Treueiden7 auf das Volk von Athen geantwortet. Unterstellt wird dabei,8 dass das Volk in Athen und das Volk in den Städten des Delisch-9 Attischen Seebundes durch eine ‚natürliche‘ Bundesgenossen-0 schaft miteinander verbunden seien, die auf der Solidarität für1 86
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1Seinesgleichen und der Feindschaft gegen die Reichen und 2Edlen beruhe. Deshalb sei das Volk von Athen ungleich stärker 3an den Gewinnen interessiert, die es aus der Ausbeutung der 4Bundesgenossen ziehe, als daran, dass diese in der Lage wä5ren, mit ihren Schiffen Beiträge zur Verstärkung der atheni6schen Kriegsflotte zu leisten. Das Motiv, das diesem Verhalten 7unterstellt wird, besteht nach Auffassung des Verfassers in 8dem Ziel, den Bundesgenossen jegliche Möglichkeit zu neh9men, sich gestützt auf die eigenen Schiffskontingente gegen 0die Herrschaft der Athener zu erheben. Nach dieser Interpre1tation ziehen die Athener doppelten Nutzen aus der Ausbeu2tung ihrer Bundesgenossen: Das Volk von Athen reißt deren 3Geld an sich und nimmt den Städten so die Möglichkeit, sich 4mit eigenen Schiffen gegen die Zumutungen der Athener zu 5wehren: 6 7 „Dem Volk (von Athen) scheint es vorteilhafter zu sein, dass 8 jeder einzelne der Athener das Geld der Bundesgenossen 9 habe, jene aber nur so viel haben, um das Leben zu fristen, 0 und unablässig arbeiten, ohne imstande zu sein, auf einen 1 Anschlag (gegen die athenische Herrschaft) zu sinnen.“ 2 3Zur Stützung dieser Interpretation, die das Interesse der kleinen 4Leute in Athen an der Ausbeutung der Bundesgenossen in den 5Mittelpunkt stellt, nennt der Verfasser den Gerichtszwang, den 6Athen über Städte der Bundesgenossen verhängte – nicht zuletzt 7zu dem Zweck, durch die betreffenden Verfahren den Reichen 8und Vornehmen zu schaden und die kleinen Leute zu begünsti9gen. In diesem Zusammenhang redet er auch von den materiel0len Gewinnen, welche die kleinen Leute in Athen aus der Anwe1senheit der dem Gerichtszwang unterworfenen Bundesgenossen 87
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ziehen, bevor er den politischen Zweck des Gerichtszwangs wie1 folgt schildert: 2 3 „Es ist aber das gesamte Volk von Athen, dem jeder Einzelne4 von den Bundesgenossen gezwungen ist schönzutun in der5 Erkenntnis, dass er nach Athen kommen muss, um Buße zu6 geben und zu nehmen (juristische Bezeichnung von Strafver-7 fahren), und zwar, wie es eben bekanntlich Gesetz ist in8 Athen, gerade vor demselben Volk, nicht vor irgendwelchen9 anderen Leuten (Anspielung auf die athenischen Volksgerich-0 te); und er ist gezwungen, in den Gerichtshöfen sich auf die1 Knie zu werfen und, sowie einer eintritt, ihn bei der Hand zu2 fassen. Deshalb also stehen die Bundesgenossen eher als3 Sklaven des Volkes von Athen da.“ 4 5 Der zitierte Text bezieht sich auf die in Gerichtsverfahren übli-6 che Demutsgeste zur Erlangung eines Freispruchs (was zu tun7 Sokrates in dem Prozess, in dem es für ihn um Leben und Tod8 ging, nach Platons Darstellung bekanntlich verschmähte). In at-9 tischen Gerichtsverfahren war es geradezu Brauch, dass Ange-0 klagte die Volksgerichte durch Gesten der Unterwerfung um1 Mitleid anflehten, um freigesprochen zu werden. Die Selbstde-2 mütigung der einen bedeutete die Steigerung des Bewusstseins3 absoluter Macht bei den anderen. 4 Der doppelte Zweck der Schrift ist, um noch einmal darauf5 zurückzukommen, zu zeigen, dass die Herrschaft des Volkes6 zwar verwerflich ist, aber unter den obwaltenden Umständen7 fest gegründet erscheint und dass deshalb alle Pläne zum Sturz8 der Demokratie aussichtslos sind. Nun war Athen in den großen9 Krieg mit Sparta und dem Peloponnesischen Bund verwickelt,0 und darauf bauten die Feinde der Demokratie in Athen ihre1 88
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1Überlegungen, dass der Krieg es möglich machen werde, gege2benenfalls im Zusammenspiel mit dem Landesfeind, die ver3hasste Demokratie zu stürzen. Auf diese Überlegungen ist der 4Verfasser des Traktats ausführlich eingegangen. 5 Die Angelpunkte der vom Verfasser vorgelegten Analyse sind 6die Bedeutung der Seeherrschaft und die geographische Lage 7Athens. Zunächst die Feststellung: In Athen ist die Masse der 8einfachen Leute mit der Schifffahrt von Jugend auf vertraut; je9der besitzt die Fähigkeit, mit dem Rudern und dem Manövrie0ren der Kriegsschiffe, der Trieren, zurechtzukommen: 1 2 „Die Menge aber ist zu rudern imstande, sowie sie nur auf 3 Schiffe hinaufsteigen, da sie ja in ihrem ganzen Leben vorher 4 schon Übung gehabt haben.“ 5 6Darin sieht der Verfasser den Hauptgrund der Überlegenheit 7Athens sowohl über die Städte der Bundesgenossen in der Ägäis 8und an der kleinasiatischen Westküste als auch über die größte 9Landmacht, Sparta und den Peloponnesischen Bund. 0 Die Überlegenheit Athens über seine Bundesgenossen beruht 1nicht nur auf militärischer Stärke, sondern auch auf der Fähig2keit, sie durch Blockade vom Handelsverkehr, auf den sie drin3gend angewiesen sind, abzuschneiden: 4 5 „Soweit aber die den Athenern untertänigen Städte auf dem 6 Festland liegen, sind sie ihnen untertänig, die großen aus 7 Furcht, die kleinen in besonders hohem Grade aus schierer 8 Not; denn es gibt schlechterdings keine Stadt, die nicht ir9 gendeiner Einfuhr oder Ausfuhr bedürfe, und diese Handels0 rechte wird sie nicht genießen, wenn sie nicht den Beherr1 schern der See unterwürfig bliebe.“ 89
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Zu den großen ökonomischen Vorteilen, die eine meerbeherr-1 schende Seemacht aus ihrer Stellung zu ziehen in der Lage ist,2 zählt der Verfasser den Zugang zu allen Handelsgütern, insbe-3 sondere zu den für den Schiffsbau notwendigen Rohstoffen, wo4 immer sie vorhanden sind, und die Fähigkeit, nach Belieben den5 freien Güterverkehr für andere zu sperren: 6 7 „Den Überfluss aber der Griechen und der Nichtgriechen8 sind sie allein imstande an sich zu ziehen. Denn wenn irgend-9 eine Stadt Überfluss hat an Schiffsbauholz, wo wird sie es ab-0 setzen, wenn sie nicht die Herren des Meeres dafür gewinnt?1 Ja, mehr noch: Wenn eine Stadt an Eisen oder Kupfer oder2 Flachs Überfluss hat, wo wird sie das absetzen, wenn sie nicht3 die Herren des Meeres dafür gewinnt? Gerade aus diesen4 Stoffen jedoch bekomme ich auch schon meine Schiffe, von5 dem einen das Holz, von dem anderen das Eisen, von wieder6 anderen das Kupfer, den Flachs, das Wachs. Überdies werden7 sie gar nicht erlauben, es anderswohin zu verfrachten, oder8 die, welche unsere Widersacher sind, werden die Benützung9 des Seeweges verlieren.“ 0 1 Der Verfasser fügt seine Darlegungen, worauf die Überlegen-2 heit der das Meer beherrschenden Seemacht beruht, in einen3 Vergleich mit den Nachteilen ein, denen eine Landmacht ausge-4 setzt ist. Diese kann wegen der Unmöglichkeit, Lebensmittel5 über weite Strecken zu transportieren, im Unterschied zu den6 Herren des Meeres nicht in weiter Entfernung von ihrer Aus-7 gangsbasis operieren und dem Gegner Schaden zufügen. Wahr-8 scheinlich stammen die vorgetragenen Gesichtspunkte aus der9 Debatte über den von Perikles durchgesetzten Kriegsplan, der0 von der Überlegenheit der Seemacht Athen über die Landmacht1 90
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1Sparta ausging. Dies alles ist eingefügt in das Beweisziel, dass 2Demokratie und Seeherrschaft zwei Seiten einer und derselben 3Medaille sind. Schließlich wird auch geltend gemacht, dass 4Landmächte mit Seuchen und Missernten schwerer fertigwer5den als eine Seemacht. Denn diese kann die verheerenden Fol6gen durch Zufuhr von Lebensmitteln auf dem Seeweg abwen7den, eine Landmacht nicht: 8 9 „Ferner Krankheiten der Feldfrüchte, wie Zeus sie schickt, 0 ertragen die Machthaber zu Lande nur schwer, die zur See 1 leicht; denn es ist nicht alles Land zugleich von Krankheit 2 heimgesucht, weshalb aus dem reich gesegneten den Seebe3 herrschern zukommt, wessen das von Krankheit heimgesuch4 te bedarf.“ 5 6Aber der Verfasser hat nicht nur die in Athen vor Ausbruch des 7Peloponnesischen Krieges zusammengestellten Argumente zu8gunsten der Überlegenheit einer das Meer beherrschenden See9macht über eine bedeutende Landmacht wie Sparta wieder0holt – und aus ihnen die Schlussfolgerung gezogen, dass, solange 1Athens Seemacht unerschüttert ist, auch die Demokratie nicht 2gestürzt werden kann. Er hat auch die Schwachpunkte der 3Machtstellung Athens nicht verschwiegen, die es unter Umstän4den einmal möglich machen könnten, der Demokratie ein Ende 5zu setzen. Dazu schreibt er: 6 7 „Eines Vorzugs aber ermangeln sie: Wenn die Athener Insel8 bewohner und dazu Machthaber zur See wären, so stünde es 9 bei ihnen, Schaden zu stiften, wenn sie nur wollten, aber 0 nichts zu erleiden, so lange wenigstens, wie sie die See be1 herrschten, weder ihr eigenes Land verheert zu sehen, noch 91
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zudem die Feinde (im eigenen Land) in Empfang nehmen zu1 müssen. Jetzt aber kommen die Feinde schon eher über die2 Bauern und über die Reichen her (seit 431 v. Chr. besetzten3 die Spartaner Jahr für Jahr Attika, in der ersten Phase des Pe-4 loponnesischen Krieges nur im Sommer, in der zweiten ganz-5 jährig), das (in der Stadt lebende) Volk aber kann in dem si-6 cheren Bewusstsein, dass sie nichts von dem, was ihnen7 gehört, verbrennen oder verheeren werden, ganz unbesorgt8 leben und ohne Furcht, dass jene über sie hereinbrechen wer-9 den.“ 0 1 Was aber, wenn Athen die Seeherrschaft verliert und kapitulie-2 ren muss? Dies trat im Jahr 404 ein, und prompt wurde die De-3 mokratie von jenen Kreisen gestürzt, die der Alte Oligarch ge-4 warnt hatte, dies zu versuchen, solange die entscheidenden5 Voraussetzungen noch nicht eingetreten waren. 6 Noch eine andere Gefährdung, die aus der geographischen7 Lage der maritimen Großmacht Athen resultierte, hat der Ver-8 fasser der Schrift ins Auge gefasst: dass die Feinde der Demo-9 kratie in Athen im Zusammenspiel mit dem auswärtigen Feind,0 der das flache Land besetzt hält, die Demokratie stürzen könn-1 ten: 2 3 „Überdies wären sie, wenn sie eine Insel bewohnten, auch4 einer anderen Furcht ledig, dass nämlich ihre Stadt jemals5 von einer Minderheit verraten werden und Stadttore geöffnet6 und die Feinde einbrechen könnten (denn wie sollte, wenn sie7 eine Insel bewohnten, das geschehen?), und auch, dass ein8 Bestandteil der Bevölkerung sich gegen das Volk erhöbe,9 wenn sie eine Insel bewohnten; denn jetzt könnten sie, wenn0 sie sich erhöben, dabei ihre Hoffnung auf die Feinde setzen1 92
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1 mit dem Hintergedanken, sie zu Lande an sich heranzuzie2 hen; wenn sie aber eine Insel bewohnten, so wäre auch das 3 aus dem Bereich der Befürchtung gerückt.“ 4 5Mit der Möglichkeit, die Demokratie im Zusammenspiel mit 6dem Kriegsgegner stürzen zu können, ist also gerechnet wor7den. Doch ganz so, wie es hier vorausgesetzt wird, ist das nicht 8eingetreten. Erst als der militärische Zusammenbruch drohte 9(411 v. Chr.) beziehungsweise die Stadt nach dem Verlust der 0letzten Flotte kapitulieren musste (404 v. Chr.), gelang es den 1geschworenen Feinden der Demokratie jeweils, sie zu stürzen 2und an ihrer Stelle für kurze Zeit der oligarchischen Opposition 3zur Macht zu verhelfen. 4 Die Demokratie war die Regierung der Stadt durch die aus 5einfachen Leuten bestehende Mehrheit der Volksversammlung: 6Aber wer waren deren Führer? Sie stammten zum Teil aus 7Athens altem Adel. Zwei von ihnen seien wegen des Einflusses, 8den sie auf die Geschicke Athens ausübten, namentlich genannt 9und kurz vorgestellt: zunächst der große Perikles, der fast ein 0ganzes Menschenalter an der Macht blieb, sodass der Historiker 1Thukydides, sein Bewunderer, die Verfassung Athens so be2schrieb, dass sie „dem Namen nach eine Demokratie gewesen 3sei, in Wahrheit jedoch die Herrschaft des ersten Mannes“. Aber 4damit war es zu Ende, als der von ihm durchgesetzte Kriegsplan 5nicht zu einem schnellen Erfolg führte. Er war eben darauf an6gewiesen, dass das Volk seinen Vorschlägen zustimmte. An 7zweiter Stelle sei Alkibiades genannt, sein junger Verwandter, 8der in der zweiten Phase des großen Krieges, dem Dekeleischen 9Krieg, eine zwielichtige Rolle spielte und sich nacheinander als 0Retter seiner Vaterstadt, dann als ihr Gegner an der Seite der 1Spartaner, dann wieder als ihr Retter in Szene setzte. Dem Alten 93
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Oligarchen galten diese und andere Politiker ihres Schlages als1 Verräter ihres Standes. Er warf ihnen vor, dass sie aus persönli-2 chem Geltungsstreben die Standessolidarität aufgegeben hät-3 ten, um, wie er sich ausdrückt, „im Trüben zu fischen“. Seine4 Worte lauten: 5 6 „Im geraden Gegensatz zu dieser Anschauung (gemeint ist7 das ungebrochene Klassenbewusstsein der einfachen Leu-8 te) sind einige, die tatsächlich aufseiten des Volkes stehen,9 ihrer Abkunft nach keine Leute aus dem Volk. Herrschaft0 des Volkes aber halte ich für meine Person dem eigentlichen1 Volk zugute, denn sich selbst wohlzutun ist jedem zugutezu-2 halten: Wer aber, ohne zum Volk zu gehören, in einem de-3 mokratischen Staat zu leben statt in einem oligarchischen,4 der hat es darauf abgesehen, im Trüben zu fischen, und hat5 erkannt, dass es eher in einem demokratischen angeht, un-6 entdeckt ein Schurke zu sein, eher als in einem oligarchi-7 schen.“ 8 9 Die Hauptbruchlinie in der Demokratie verläuft also nach der0 Analyse, die der Alte Oligarch vorträgt, zwischen der Masse des1 Volkes und den Angehörigen der Elite, den Reichen, Edlen, Vor-2 nehmen, und wie sie sonst von ihm genannt werden. Von ihrer3 Interessenlage her stehen sich beide Gruppen unversöhnlich4 gegenüber. Der Verfasser der Schrift ist bereit, jeder Seite die5 kompromisslose Vertretung ihres Eigeninteresses nach dem6 Prinzip zuzugestehen, dass es natürlich ist, sich selbst wohlzu-7 tun. Von einer Orientierung an einem Gemeinwohl, das über8 dem diagnostizierten Eigeninteresse steht, ist keine Rede. Was9 uns entgegentritt, ist das Bild einer zutiefst gespaltenen Gesell-0 schaft. 1 94
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1 Zweimal gelang es den Feinden der Demokratie, als der für 2Athen katastrophale Kriegsverlauf dazu den Boden bereitet hat3te, die Demokratie zu stürzen. Doch jedes Mal scheiterten sie 4nach kurzer Zeit an dem Widerstand, der ihnen in Athen geleis5tet wurde. Sie hatten ihre Herrschaft nur durch Einsatz von Täu6schung und Gewalt gewonnen, sie aber nicht festhalten können. 7Dabei hatten die Oligarchen ihren Kredit endgültig verspielt – 8sogar bei vielen, die ihnen von Haus aus nahestanden und keine 9Sympathie für die Demokratie hegten. Aufschlussreich ist in 0dieser Hinsicht Platons siebter Brief (wenn er denn aus seiner 1Feder geflossen ist). Platon stammte aus adliger Familie und war 2Mitgliedern der im Jahre 404 v. Chr. an die Macht gelangten oli3garchischen Regierung der Dreißig verwandtschaftlich verbun4den. Er wurde zur Beteiligung an dem Regime aufgefordert, 5doch er verweigerte sich, als er sah, was geschah, und schrieb in 6dem Rechenschaftsbericht, der in der Sammlung seiner Briefe 7überliefert ist: 8 9 „Da ich nun aber sah, dass diese Männer (die Dreißig) in kur0 zer Frist die frühere Verfassung (die Demokratie) als eine gol1 dene erscheinen ließen …, da erfüllte es mich mit Unwillen, 2 und ich für meine Person zog mich von dem damaligen 3 schlechten Regime zurück“ (Plat. VII. Brief, 324d–325a). 4 5An die Stelle der diskreditierten Angehörigen der alten adligen 6Elite traten Politiker, die als Angehörige einer Schicht von Ma7nufakturbetreibern und Handelsherren (wie man sie in anachro8nistischer Redeweise bezeichnen könnte) zusammen mit der 9Demokratie emporgekommen waren. Als Nutznießer der De0mokratie waren sie frei von den antidemokratischen Ressenti1ments, deren Stimme wir in dem Traktat des Alten Oligarchen 95
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vernehmen. Der Prototyp eines solchen Mannes war, hundert1 Jahre nach Perikles, Demosthenes, nach antikem Urteil der2 größte Redner, der als Sachwalter vor Gericht und als Politiker3 des Widerstandes gegen die makedonischen Herrschaftsaspira-4 tionen gleich bedeutend war. 5 6 7 8 9 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 96
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1 2 3 4 5 6 an mag darüber streiten, ob die kunstgerechte Rede oder 7 die Demokratie zuerst entstanden ist: Jedenfalls gehören 8 9beide aufs Engste zusammen. Der erste Versuch, die enge Be0ziehung auf die Entstehungsgeschichte beider zurückzuführen – 1er geht auf Aristoteles’ verschollene Sammlung rhetorischer 2Lehrbücher zurück –, nennt als Ursprung den Sturz der Tyrannis 3und die Begründung der Demokratie in Syrakus im Jahr 466/65 4v. Chr.: Die Folge sei eine Flut von Prozessen gewesen, in denen 5es um die Restitution des in der Tyrannenzeit konfiszierten Be6sitzes gegangen sei. Mit dieser Prozesslawine verbindet die 7Überlieferung die Namen von Korax und Teisias, denen zuge8schrieben wird, die sophistische Argumentationskunst eines 9Protagoras und eines Gorgias von Leontinoi auf juristische 0Streitfälle vor Gericht übertragen zu haben. 1 Deutlich ist zumindest, dass die Sophisten die betreffende 2Methode des Argumentierens in ihren in Athen und anderenorts 3gehaltenen Schaureden und in den teuer bezahlten Rhetorik4Kursen verbreiteten. In einer seiner Schaureden, der (fiktiven) 5Verteidigung des Sagenhelden Palamedes gegen den Vorwurf 6des Verrats an den Griechen, lässt Gorgias diesen argumentie7ren, dass es dazu gar keine Möglichkeit gegeben habe und es 8also gar keinen Verrat habe geben können. Die Beweisführung 9läuft wie folgt: Eine Zusammenkunft mit den Barbaren war un0ter den gegebenen Umständen gar nicht möglich. Wenn sie aber 1doch möglich gewesen wäre, so wäre aus sprachlichen Gründen
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keine Kommunikation, also auch keine Verabredung zum Verrat1 möglich gewesen; wenn diese aber doch zustande gekommen2 wäre, so hätte der Verrat wegen der obwaltenden Umstände gar3 nicht begangen werden können. Wenn aber auch das möglich4 gewesen wäre, so hätte er, Palamedes, doch überhaupt kein Mo-5 tiv gehabt, die Griechen zu verraten: Also habe er es gar nicht6 tun können. Was hier intellektuelles Spiel zu dem Zweck war,7 die Macht des Arguments zu demonstrieren, wurde im Jahre 4118 nach Wiederherstellung der Demokratie in Athen dazu benutzt,9 der Anklage, der vor Gericht Gestellte sei der Drahtzieher des0 vorausgegangenen Sturzes der Demokratie gewesen, den Bo-1 den zu entziehen. Angeklagt war der führende Kopf der Ver-2 schwörung zum Sturz der Demokratie, ein Athener namens An-3 tiphon. 4 Antiphon war in der Zeit des Peloponnesischen Krieges der5 brillanteste Kopf der neuen Kunst des Redens und Argumentie-6 rens. Er war Lehrer der Rhetorik, Berater und Redenschreiber7 für Prozessierende und Politiker – und er war ein radikaler Geg-8 ner der Demokratie. Im Jahre 411 war er es, der die Fäden beim9 Sturz der Demokratie gezogen hatte. Der Historiker Thukydides0 hat seine intellektuelle und rhetorische Brillanz wie die des Pe-1 rikles bewundert und ihr in seinem Geschichtswerk ein Denk-2 mal gesetzt: 3 4 „Wer jedoch die ganze Sache (die Beseitigung der Demokra-5 tie) ausgedacht hatte und schon seit Langem dafür wirkte,6 war Antiphon, der keinem Athener seiner Zeit an Tüchtigkeit7 nachstand, meisterhaft im Durchdenken der Dinge und, was8 er dachte, auszudrücken; vor dem Volk trat er aus freien Stü-9 cken nicht auf noch sonst vor Gericht, sondern blieb der Men-0 ge unheimlich wegen der ihm nachgesagten Redekraft; aber1 98
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1 jeder, der sich verantworten musste vor Gericht und Volk, 2 konnte von ihm wie von keinem anderen ratsuchend die 3 meiste Hilfe empfangen“ (Thuk. VIII, 68,1). 4 5Als seine Rolle beim Sturz der Demokratie offenbar wurde, 6musste er zum ersten Mal vor das Volksgericht treten und sich 7selbst verteidigen. Er tat dies unter anderem mit einer Argu8mentationsfigur, die wir aus Gorgias’ Verteidigungsrede für Pa9lamedes schon kennengelernt haben. Er suggerierte, dass er 0nach seiner eigenen Interessenlage unmöglich in die Verschwö1rung gegen die Demokratie verwickelt sein konnte – er hatte ja 2unter und an der Demokratie glänzend verdient, und so betonte 3er, dass seine Tätigkeit unter der Demokratie ein gutes Geschäft 4gewesen sei und unter einer Oligarchie es dafür keine Geschäfts5grundlage mehr gegeben hätte. Gegen das eigene Interesse han6delt niemand, und folglich, so lautete seine Schlussfolgerung, 7könne er unmöglich in die Verschwörung gegen die Demokratie 8verwickelt gewesen sein. Das war natürlich ein Scheinbeweis, 9ein Advokatenkniff aus der Waffenkammer der Sophistik. Von 0Antiphons Verteidigungsrede ist nur ein kleines Papyrusfrag1ment mit der oben wiedergegebenen Argumentationsfigur auf 2uns gekommen. Thukydides konnte die Rede ganz lesen, und er 3hat sie als die beste Verteidigungsrede seiner Zeit auf das Höchs4te bewundert. 5 Ein Sophist wie Antiphon wusste natürlich genau, dass die 6Tatsache seiner Beteiligung am Sturz der Demokratie und die 7argumentative Widerlegung der entsprechenden Anklage auf 8zwei verschiedenen Rechnungen zu stehen kamen. Die Sophis9ten waren nicht so naiv, dass sie das, was sie vortrugen, als bare 0Münze nahmen. In einer uns überlieferten Nachschrift einer so1phistischen Vorlesung wird denn auch der Finger auf diesen kri99
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tischen Punkt gelegt: Wahrheit oder Unwahrheit einer vor Ge-1 richt erhobenen Anschuldigung hängen davon ab, ob die2 inkriminierte Tat wirklich begangen oder bloß erfunden wurde;3 aber die Richter entschieden darüber auf der Grundlage der von4 den Prozessparteien vorgetragenen Reden und ohne weitere5 Untersuchung. Diese Methode berge, so lautete die Kritik derje-6 nigen, die eine Schlüsselrolle für die Praxis der Volksgerichte7 spielten, die Gefahr gravierender Fehlurteile. Denn die Richter8 könnten die Darstellung der Prozessparteien nur miteinander9 vergleichen, nicht an erhobenen Tatsachen messen. 0 Auch Antiphon machte sich keine Illusionen über das Ge-1 schäft, das er betrieb. Die sophistische Kunst der Beweisfüh-2 rung beherrschte er nach zwei Richtungen: einerseits als Re-3 denschreiber den jeweiligen Sachverhalt so darzustellen, dass4 Gerichte und Volksversammlung ihm folgten – auch wenn er die5 schwächere Sache zur stärkeren gemacht hatte; andererseits je-6 doch mit dem wissenschaftlichen Anspruch anzutreten, den7 Dingen auf den Grund zu gehen. Ein in Ägypten gefundener und8 1915 veröffentlichter Papyrus enthält ein aufschlussreiches9 Fragment aus Antiphons theoretischer Schrift mit dem Titel0 Über Wahrheit. Antiphon unterscheidet darin zwischen dem1 „Gerechten gemäß den Gesetzen“ und dem „Gerechten gemäß2 der Natur“. Letzteres wird als das Prinzip definiert, Schaden we-3 der anderen zuzufügen noch selbst zu erleiden. Wäre ein sol-4 ches Leben nach der goldenen Regel möglich, brauchte es keine5 Gesetze zu geben. Anders steht es jedoch mit dem „Gerechten6 gemäß den Gesetzen“ des Staates. Was für diese gilt, drückt An-7 tiphon in dem betreffenden Fragment so aus: 8 9 „Wenn nun denen, die diese Grundsätze (des Gerechten ge-0 mäß staatlicher Satzung) sich zu eigen machen, Unterstüt-1 100
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1 zung vonseiten des Gesetzes zuteil würde und denen sie ver2 sagt würde, die sie sich nicht zu eigen machen, sondern sich 3 widersetzen, so wäre der Gehorsam gegen die Gesetze (des 4 Staates) nicht unvorteilhaft. In Wirklichkeit aber zeigt sich, 5 dass denen, die solche Grundsätze sich zu eigen machen, das 6 aus dem Gesetz stammende Recht nicht genügend zu Hilfe 7 kommt. Zunächst lässt es ja das Leid des Leidenden und die 8 Tat des Täters ruhig geschehen und war zu diesem Zeitpunkt 9 nicht imstande, das Leid des Leidenden und die Tat des Tä0 ters zu verhindern. Bringt man den Fall dann aber zur gericht1 lichen Ahndung, so hat der von der Tat Betroffene vor dem 2 Täter gar nichts Besonderes voraus. Denn er muss die zur 3 Ahndung Berufenen erst davon überzeugen, dass er Unrecht 4 erlitten hat, und wünscht erst die Fähigkeit zu erlangen, den 5 Prozess zu gewinnen. Dieselben Mittel aber bleiben dem 6 Täter, wenn er die Tat zu leugnen unternimmt“ (Diels-Kranz, 7 VS II, 44, A56). 8 9Billigerweise wird man zugeben müssen, dass die aus der Masse 0des Volkes ausgelosten Laienrichter mit einer Argumentations1kunst konfrontiert waren, die ihnen die Entscheidungsfindung 2in einem Rechtsstreit nicht gerade erleichterte. In älterer Zeit 3war Strafprozessen ein Prozessrecht vorgegeben, dem der Eid 4und die Zeugenaussage, auch das durch Folter erzwungene Ge5ständnis von Sklaven Beweismittel richterlicher Entscheidung 6waren. Aber dieses Beweissystem war, wie soeben geschildert, 7von einer argumentativen Methode überlagert, durch welche 8alle vorgelegten Beweismittel der Probe der Denknotwendig9keit und der Wahrscheinlichkeit unterworfen und unter Um0ständen erschüttert und wirkungslos wurden. Daher kommt es, 1dass im 4. Jahrhundert Aristoteles in seiner Rhetorik dazu rät, 101
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stringente logische Beweise, die kunstgerechten, wie sie ge-1 nannt wurden, aufzufinden, die sogenannten kunstlosen des2 Eides und der Zeugenaussage hingegen nach den Bedürfnissen3 der Argumentation zu gebrauchen. 4 Die Geschworenen waren juristisch ungebildete Laienrich-5 ter; sie vertraten das regierende Volk, und sie entschieden in6 letzter Instanz auch in Fällen, in denen die bestehenden Geset-7 ze unklar waren oder auf den betreffenden Streitfall nicht recht8 anwendbar erschienen. Zu bedenken ist auch, dass die Athe-9 ner wie alle Griechen auch im Privatrecht keine methodische0 Rechtswissenschaft entwickelt haben und die Durchdringung1 des Rechtsstoffes zahlreicher Einzelfälle, wie dies in Rom ge-2 nerationenlang geübt wurde, unbekannt geblieben ist. Statt-3 dessen spielten in den Plädoyers vor Gericht neben Appellen4 an Emotionen gewisse allgemeine Gesichtspunkte wie der Be-5 griff der striktes Recht überspielenden ‚Billigkeit‘ eine ent-6 scheidende Rolle. Zu Recht hat Alfred Heuß deshalb über die7 in Athen praktizierte Rechtsprechung das folgende Urteil ge-8 sprochen: 9 0 „Aber damit (mit den oben genannten Gesichtspunkten) wird1 man des Rechtsstoffes nicht Herr, und deshalb ist das Ideal2 einer systematischen Rechtspflege, die ‚Berechenbarkeit des3 Rechts‘, in Griechenland weder angestrebt noch erreicht wor-4 den. Ein attischer Gerichtshof konnte schließlich, auch wenn5 er sich von Emotionen freigehalten hätte – was praktisch bei6 seiner Zusammensetzung (aus Hunderten von Laienrichtern)7 und bei der selbstverständlichen Einstellung der Parteien (die8 sich gerne des wirksamen Mittels, Emotionen für ihre Sache9 zu erregen, bedienten) beinahe ein Ding der Unmöglichkeit0 war –, gar nicht anders als nach Gutdünken und einem recht1 102
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1 vagen Gerechtigkeitsempfinden entscheiden und praktizierte 2 das, was Max Weber mit dem Namen ‚Kadijustiz‘ in die 3 Rechtssoziologie eingeführt hat.“ 4 5Die Rolle, die das Volksgericht sowohl bei der Verfolgung öffent6lich-rechtlicher Vergehen als auch in zivilrechtlichen Verfahren 7spielte, und die außerordentliche Masse der anhängigen Prozes8se waren schon im 5. Jahrhundert ein Problem. Im 4. Jahrhun9dert wurde dann die Geschichte der athenischen Demokratie 0geradezu unter dem Gesichtspunkt der Machtentfaltung des 1Volksgerichts betrachtet. Von Historikern, die der athenischen 2Demokratie gegenüber kritisch eingestellt waren, wurde Solon 3vorgeworfen, er sei mit der Ausweitung der Befugnisse, die er 4dem Volksgericht verschafft hatte, der Gründervater der Demo5kratie geworden. Das war vom Standpunkt des 4. Jahrhunderts 6geurteilt und ist so auch nicht allgemein akzeptiert worden. So7lon hatte um 600 v. Chr. das Volksgericht als zuständig für Ver8gehen gegen die Gemeinde vorgefunden und hatte seine Zu9ständigkeit für besondere Fälle auf das damalige Privatstrafrecht 0und das Zivilrecht ausgeweitet. Im attischen Recht waren klage1berechtigt nur die erwachsenen Männer, während Frauen und 2Minderjährige vom Klagerecht ausgeschlossen waren und alte 3Männer es unter Umständen wegen körperlicher oder geistiger 4Hilflosigkeit nicht wahrnehmen konnten. Solon half ihnen, in5dem er es Nachbarn und Fremden freistellte, vor dem Volksge6richt im Interesse der rechtlich oder faktisch Hilflosen Klage zu 7erheben. 8 Was aus diesem Befund im 4. Jahrhundert gemacht wurde 9und wie die historische Kritik darauf reagierte, ist am bequems0ten dem aristotelischen Staat der Athener zu entnehmen. Dort 1heißt es in 9,1 f.: 103
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„Denn wenn das Volk (im Gericht) Herr über den Stimmstein1 ist, wird es auch Herr über den Staat. Weil außerdem seine2 (Solons) Gesetze nicht einfach und klar abgefasst waren, son-3 dern so wie das über die Erbschaften und die Erbtöchter, kam4 es mit Notwendigkeit dazu, dass viele Streitigkeiten entstan-5 den und dass über alle Angelegenheiten, sowohl die öffentli-6 chen als auch die privaten, das Gericht entschied. Einige glau-7 ben nun, er habe seine Gesetze absichtlich unklar gehalten,8 damit das Volk die Entscheidungsgewalt habe. Das ist aller-9 dings unwahrscheinlich, vielmehr liegt es daran, dass es ihm0 generell nicht gelang, die beste Formulierung zu finden; es ist1 nämlich nicht gerecht, seine Absicht von den heutigen Ver-2 hältnissen her zu betrachten; vielmehr muss man den Zusam-3 menhang mit den übrigen Zügen seiner Staatsordnung be-4 trachten.“ 5 6 Zwei Fälle mögen der Illustration des betreffenden Zusam-7 menhangs dienen, aus dem sich das Urteil herleitet, dass De-8 mokratie die Herrschaft des Volkes in den Gerichten bedeutet.9 Die Klage über rechtswidrige oder unnütze Anträge zog schon0 bei der eidlichen Ankündigung einer Klage die Suspendierung1 des Antrags, des Beschlusses beziehungsweise des beschlos-2 senen Gesetzes nach sich. Darüber hatte das Volksgericht zu3 entscheiden. Das bedeutete, dass es die Kontrolle über die Ge-4 setzgebung erhielt. Weil eine erfolgreiche Klage dem Antrag-5 steller eines rechtswidrigen oder unnützen Vorschlags eine6 Strafe einbrachte, war das Verfahren bei der Austragung poli-7 tischer Konkurrenzkämpfe außerordentlich beliebt. Es ist8 überliefert, dass ein Politiker namens Aristophon sage und9 schreibe 95 Mal wegen des betreffenden Vergehens vor Ge-0 richt gestellt wurde. 1 104
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1 Ebenso schlimm waren die Verhältnisse im Privatrecht, ins2besondere, wie auch die soeben zitierte Stelle aus dem Staat der 3Athener nahelegt, im Bereich des hochkomplizierten Erb- und 4Adoptionsrechts. Diese Materie war berüchtigt, weil das betref5fende solonische Gesetz die Richter vor Auslegungsprobleme 6stellte, die noch zusätzlich durch die Rabulistik der Wortkünst7ler sprich: Rhetoren und Sophisten, wie sie oben in der Person 8des Antiphon vorgestellt worden sind, vergrößert wurden. Das 9Volksgericht urteilte über solche (und andere Fälle), wie Eber0hard Ruschenbusch schreibt, ohne die Fähigkeit, zu juristisch 1hieb- und stichfesten Lösungen zu gelangen: 2 3 „Bei dem primitiven Charakter des Prozessverfahrens aber, 4 in dem das Urteil von einem zweihundertköpfigen Gremium 5 ohne eine Untersuchung des Sachverhaltes, nur aufgrund der 6 nach Minuten bemessenen Ausführungen der Parteien gefällt 7 wurde, waren die Erbgesetze … völlig wertlos.“ 8 9Wenn aber das Volksgericht als eine Institution betrachtet wur0de, auf der die Allmacht des Volkes beruhte, waren in der Demo1kratie den Möglichkeiten einer Reform enge Grenzen gesetzt. Es 2gab keine ausgebildeten Juristen, die gelernt hatten, mit kniffli3gen Gesetzestexten umzugehen und, wenn nötig, für eine Re4form zu sorgen. Der Vorschlag, zur Verbesserung der Rechtspfle5ge gerichtliche Entscheidungen wenigen Richtern anzuvertrauen, 6ist zwar gemacht worden, scheiterte jedoch an der politischen 7Bedeutung, die dem Volksgericht beigemessen wurde, und an 8der Furcht, dass eine Verminderung der Richterzahl der Bestech9lichkeit Tür und Tor öffnen würde. Die Gesetzesrevisionen, die 0unter der restaurierten Demokratie in den Jahren 410 und 403 v. 1Chr. stattfanden, verfehlten das Ziel, die solonischen Gesetze 105
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mit den späteren in Einklang zu bringen und damit der Verwir-1 rung darüber, was geltendes Recht war, entgegenzuwirken. Nur2 die radikale Oligarchie der Dreißig schuf auf ihre Weise Reme-3 dur. Sie tilgte eine Vorschrift aus dem Erbrecht, die Anlass zu4 häufigen Prozessen gab, und belegte Rhetoren und Sophisten,5 die notorischen Rechtsverdreher im Interesse der sie bezahlen-6 den Parteien, mit einem Berufsverbot. Da aber, wie zu Recht ge-7 sagt worden ist, der gewöhnliche Bürger den Gesetzen hilflos8 gegenüberstand und er zur Durchsetzung seines Anspruchs auf9 die Hilfe der erfahrenen Rabulisten aus dem Kreis der Rhetoren0 und Sophisten angewiesen war, blieb ihm nach der von den drei-1 ßig „Tyrannen“ des oligarchischen Regimes verordneten Ge-2 waltkur wohl nur noch übrig, auf die gerichtliche Verfolgung sei-3 nes vermeintlichen Anspruchs zu verzichten. Das war erst recht4 keine Lösung eines Missstands, die alle befriedigen konnte. 5 In Athen besaßen die juristisch ungeschulten Laienrichter un-6 geheure Macht, und sie judizierten nach Gutdünken angesichts7 einer Rechtslage, die erhebliche Mängel und Widersprüche auf-8 wies. Sie betrieben also die „Kadijustiz“, von der Max Weber9 sprach. Beides trug dazu bei, dass die Gerichte, wie beschrieben,0 in der Demokratie zum Herrn über alles wurden. Wir besitzen in1 dem Traktat des Alten Oligarchen, der im vorangehenden Kapi-2 tel ausführlicher zu Wort gekommen ist, eine aufschlussreiche3 Schilderung des Zustandes und der Folgen, welche die Herr-4 schaft des Volksgerichts nach sich zog. Der erste Einwand, den5 der Verfasser erhebt, betrifft die Wartezeiten, die Petenten und6 Kläger wegen der Unmasse der schwebenden Verfahren hin-7 zunehmen hatten, und gibt in diesem Zusammenhang eine8 anschauliche Beschreibung der in Athen herrschenden Über-9 frachtung des Terminkalenders mit Festen, Tagespolitik und0 Prozessen. Seine Worte lauten: 1 106
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1 „… wegen der Menge der Geschäfte sind sie (die Gerichte) 2 nicht imstande, alle mit einem Bescheid zu entlassen. Denn 3 wie sollten sie dazu auch imstande sein, da sie erstens Feste zu 4 feiern haben wie keine der griechischen Städte – während de5 ren Dauer aber es nicht üblich ist, selbst etwas von den Staats6 angelegenheiten zu erledigen –, dann über Privatklagen und 7 Staatsprozesse und Rechenschaftsberichte zu entscheiden so 8 viel, wie nicht einmal alle Menschen zusammengenommen 9 (nämlich außerhalb Athens) es bewältigen könnten, der Rat 0 aber zu beraten hat viel über den Krieg, viel über den Eingang 1 von Geldern, viel über Gesetzgebung, viel über die jeweiligen 2 Angelegenheiten der Gemeinde, viel auch mit den Bundesge3 nossen, und die Tribute in Empfang zu nehmen und für 4 Schiffswerften Sorge zu tragen sowie für Heiligtümer. Ist es da 5 etwa verwunderlich, wenn sie, wo so viele Geschäfte drängen, 6 nicht imstande sind, allen Leuten Bescheid zu erteilen?“ 7 8Freilich gab es auch in der athenischen Demokratie Bestechlich9keit und Korruption. Aber damit konnten nur wenige, sehr Rei0che, zum Ziel einer bevorzugten Erledigung ihrer Privatprozes1se in ihrem Sinne gelangen. Und selbst wenn mehr Leute Geld 2fließen ließen, könnte das Problem der Überlastung der Gerich3te, wie der Verfasser betont, nicht gelöst werden. Dazu trug 4nicht zuletzt auch die Masse der Staatsprozesse bei. Dazu be5merkt der Verfasser: 6 7 „Es gilt aber auch in folgenden Fällen Rechtsfragen zu ent8 scheiden: wenn einer sein Schiff (das ihm zur Wartung anver9 traut ist) nicht instand setzt oder auf einem staatlichen Grund0 stück baut; überdies Streitigkeiten wegen Übernahme der 1 Choregie (der Kosten für Choraufführungen) zu schlichten 107
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für die (Feste) der Dionysien, Thargelien, Panathenäen, Pro-1 methien, Hephaistien jahrein, jahraus; und von den Trierar-2 chen, von denen jedes Jahr vierhundert bestellt werden, auch3 von diesen allen jenen, die es wünschen, die Übernahmefra-4 ge zu schlichten jahraus, jahrein.“ 5 6 Zu diesen Routineaufgaben der Gerichte kamen die außeror-7 dentlichen Vorkommnisse, Verbrechen oder militärische Füh-8 rungsfehler (wie sie beispielsweise in dem oben geschilderten9 Fall Thukydides vorgeworfen wurden). Das Fazit des Kritikers0 lautet: Trotz unaufhörlicher Geschäftigkeit schaffen es in Athen1 die Gerichte nicht, mit der Fülle der anfallenden Aufgaben zu-2 rechtzukommen. 3 Der Verfasser des Traktats erwägt die Verkleinerung der Ge-4 richtshöfe als eine mögliche Verbesserung der Situation, aber er5 rückt, kaum, dass er den Vorschlag gemacht hat, wieder von ihm6 ab. Denn dies, so der Autor, würde bewirken, dass es leichter7 würde, kleine Richterkollegien anstelle der großen, mehrere8 Hundert Richter umfassenden Volksgerichte zu bestechen und9 so gerechte Urteile zu verhindern. Auch würde es wegen der0 großen Zahl der in Athen begangenen Feste schwierig bleiben,1 so viele Gerichtstermine anzusetzen, wie zur Bewältigung der2 großen Menge von Klagen und Anklagen notwendig wären.3 Trotz dieses Einwandes gegen den Reformvorschlag wird zuge-4 standen, dass sich vielleicht das eine oder das andere in der5 Rechtspflege verbessern ließe; eine grundlegende Veränderung6 der Gerichtsverfassung sei allerdings wegen des engen Zusam-7 menhangs von Volksgericht und Demokratie unmöglich: 8 9 „Vieles aber umzugestalten ist nicht möglich, ohne damit et-0 was von der Herrschaft des Volkes wegzunehmen. Freilich ist1 108
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1 es möglich, zur Verbesserung der gesamten Staatsform vieler2 lei ausfindig zu machen; jedoch unter Erhaltung des Bestan3 des der Volksherrschaft hinlänglich etwas ausfindig zu ma4 chen, wie sie die Staatsverwaltung besser gestalten würden, 5 ist nicht leicht, außer wenn man, wie eben gesagt, stückweise 6 etwas hinzufügt oder wegnimmt.“ 7 8Mit einer derartigen Verbesserung hatte die nach den oligarchi9schen Zwischenspielen der Jahre 411 und 404/3 wiederherge0stellte Demokratie tatsächlich begonnen. Sie setzte an der viel 1beklagten unsicheren Gesetzeslage an, den unklaren, den lü2ckenhaften und den im Laufe der Zeit sprachlich unverständlich 3gewordenen Bestimmungen, und nahm sich zum Ziel, durch 4eine Gesetzesrevision die aktuell gültige Rechtslage festzustel5len. Für die Änderung bestehender und die Einführung neuer 6Gesetze wurde eine Kommission von 500 Rechtsaufzeichnern, 7griechisch: syngrapheis, geschaffen. Sie wurde tätig, wenn das 8Volk entsprechende Gesetzesinitiativen sich zu eigen gemacht 9hatte, und ihre Aufgabe bestand darin, in dem kleineren Kreis 0die entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen auszuarbei1ten, wozu die Massenversammlung des Volkes gewiss nicht in 2der Lage gewesen wäre. 3 Dieses Gremium der 500 Rechtsaufzeichner war nach Analo4gie eines Gerichtshofs gebildet, aber es war kein Gericht. Viel5mehr musste der Gesetzesvorschlag der syngrapheis von einem 6besonderen Gerichtshof überprüft werden, und dieser hatte das 7Recht, den Vorschlag zu billigen oder zurückzuweisen. Auch 8darf man sich von ihrer gesetzgeberischen Tätigkeit keine über9triebenen Vorstellungen machen. Aus dem 4. Jahrhundert sind 0mehrere Hundert Inschriften mit Beschlüssen der Volksver1sammlung überliefert, aber nur sieben Gesetze, die von den 109
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Rechtsaufzeichnern ausgearbeitet worden waren. Insgesamt1 wird man urteilen, dass die Bemühungen um eine Klärung und2 Verbesserung der Rechtsgrundlagen, nach denen Recht zu spre-3 chen war, keinen durchschlagenden Erfolg hatten. Es blieb bei4 dem Verdikt des Alten Oligarchen, dass in Athen sich nur klein-5 weise etwas verändern lasse, aber das Entscheidende gerade6 nicht: dass die Macht der Gerichte über alles und jeden das We-7 sen der Demokratie ausmache. 8 9 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 110
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1 2 3 4 5 6 7 8 as 4. Jahrhundert brachte vonseiten der neuen Gattungen 9 des wissenschaftlichen und politischen Diskurses, der Phi0 1losophie und der politischen Publizistik alternative Politikkon2zepte zur Demokratie, Analysen der Welt des Politischen und 3Reformvorschläge zur Überwindung von diagnostizierten Kri4sen der Demokratie hervor. Die Autoren, um die es im Folgen5den geht, sind die Philosophen Platon und Aristoteles sowie der 6Publizist Isokrates. Sie waren keineswegs die einzigen, die auf 7diesem Feld sich zu Wort meldeten, aber sie sind die einzigen, 8die mit vollständig erhaltenen Werken überliefert sind. Berück9sichtigt werden hier Platon mit seinem Dialog Gorgias sowie den 0großen Staatsschriften Politeia (die Übersetzung oszilliert zwi1schen den Bedeutungen „Staat“ und „Verfassung“) und Nomoi, 2das heißt: den Gesetze, auf deren Grundlage ein neuer Stadt3staat zu gründen wäre, Aristoteles mit seiner Politik, der Analyse 4der politischen Welt, und Isokrates mit seinem Areopagitikos, 5der Rede über den Areopag. 6 Das früheste der diesem Kapitel zugrunde gelegten Werke ist 7Platons Gorgias. Dieser Dialog gehört nach den Ergebnissen der 8sprachstatischen Untersuchungen der ersten Schaffensperiode 9Platons an (sie reicht ungefähr von 400 bis 380 v. Chr.); der 0zweiten Periode (ca. 380–360) ist die wohl in den siebziger Jah1ren entstandene Politeia zuzurechnen, während die Nomoi in die
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dritte (ca. 360–348) fallen. Dieses Alterswerk, das umfangreichs-1 te, das Platon geschrieben hat, war vermutlich die Antwort auf2 die Reformdebatte, die in den fünfziger Jahren nach dem verlo-3 renen Bundesgenossenkrieg (357–355 v. Chr.) in Athen geführt4 wurde. 5 Der Dialog Gorgias ist eine Auseinandersetzung mit dem An-6 spruch der Redekunst, eine Wissenschaft zu sein, durch deren7 Beherrschung jemand in die Lage versetzt wird, im eigenen oder8 im öffentlichen Interesse alle Versammlungen zu beherrschen,9 die politische oder gerichtliche Entscheidungen zu treffen ha-0 ben. Diesen Anspruch zu widerlegen und zugleich zu demonst-1 rieren, welche verheerenden Wirkungen die Rhetorik als Mittel2 der Überredung unter den Bedingungen der Demokratie für3 Athen bewirkt hatte, ist das Ziel des Dialogs. Insofern eröffnet4 der Gorgias die kritische Auseinandersetzung Platons mit der5 Demokratie, die er unter wechselnden Gesichtspunkten zeitle-6 bens geführt hat. Schon die Dialogpartner sind sorgfältig und7 zweckdienlich ausgewählt. Da sind zunächst der gefeierte Star8 der Überredungskunst, Gorgias von Leontinoi, und einer seiner9 Meisterschüler, Polos von Akragas, dann Sokrates, der die so-0 phistische Methode des Fragens und Prüfens im Interesse der1 Wahrheitssuche übt, und schließlich Kallikles, ein gut erfunde-2 ner junger Mann aristokratischer Herkunft, der sich der Menta-3 lität der großen Menge, die er eigentlich verachtet, angepasst4 hat, um eine führende Rolle in der Politik spielen zu können,5 und der in Platons Darstellung die von der Rhetorik gelehrte6 Überredungskunst als das Mittel preist, Macht und Einfluss jen-7 seits aller Moral zu gewinnen. 8 Sokrates weist nicht nur den Anspruch der Rhetorik zurück,9 eine Wissenschaft zu sein, sondern besteht darauf, dass es in0 dieser Kunst nicht um Wissen geht, sondern nur um Meinun-1 112
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1gen, die darauf hinauslaufen, den Redner oder seinen Mandan2ten der Todesstrafe zu entziehen, auch wenn sie gerecht wäre, 3und Macht und Einfluss zu gewinnen, indem man den verderb4lichen Bedürfnissen der großen Menge nach Versorgung und 5äußerer Machtentfaltung das Wort redet. Demgegenüber be6steht Sokrates auf der Norm des moralisch Guten und Gerech7ten als der universell gültigen Richtschnur des privaten und öf8fentlichen Handelns. In der Verfolgung dieser Linie geht er so 9weit, die Maxime zu verfechten, dass es besser sei, Unrecht zu 0erleiden, als Unrecht zu tun. Unter dieser Perspektive wird den 1Leitmotiven, denen die Demokratie und ihre Führer nach Auf2fassung ihrer Gegner gefolgt sind, der Befriedigung materieller 3Interessen und machtpolitischer Dominanz, eine harsche Absa4ge erteilt. Themistokles und Perikles und die übrigen, die Athen 5auf den Weg eines demokratischen Imperialismus gebracht hat6ten, werden als die Hauptschuldigen am Desaster des verlore7nen Peloponnesischen Krieges betrachtet, weniger ihre Epigo8nen, denen nach verbreiteter Meinung des Publikums – zu ihnen 9gehört in diesem Punkt auch der große Historiker Thukydides – 0die Schuld zugeschoben wurde. Es waren nach der im Gorgias 1vertretenen Auffassung die großen Alten, die die Athener auf 2den Weg zu einer Politik geführt hatten, welche die Bürger nicht 3moralisch besserte, sondern verderbliche Begierden beförderte. 4In diesem Sinne heißt es in Gorg. 519a–b: 5 6 „Denn ohne an Besonnenheit und Gerechtigkeit zu denken, 7 haben sie (die großen Alten) mit ihren Häfen und Schiffswerf8 ten und Mauern und Zöllen und derlei Firlefanz die Stadt an9 gefüllt. Wenn nun der eigentliche Ausbruch der Krankheit (in 0 die der eingeschlagene Kurs führt) erfolgen wird, werden sie 1 (das Volk und seine Wortführer) die derzeitigen Berater an113
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klagen, Themistokles aber, Perikles und Kimon, die Urheber1 des Übels, werden sie (das Volk und seine Ratgeber) lobprei-2 sen und sich vielleicht an dich (angeredet ist Kallikles, der3 Möchtegernpolitiker) halten, wenn du dich nicht hütest, und4 an meinen Freund Alkibiades, wenn ihr ihnen mit dem Neu-5 erworbenen auch noch das Alte verliert, obwohl ihr doch gar6 nicht die Urheber des Übels seid, sondern vielleicht nur Mit-7 schuldige.“ 8 9 Platon nahm den Anspruch des Moralischen ernst und vertei-0 digte bis zum Äußersten die Forderung, dass es Aufgabe der Po-1 litik sei, die Bürger zu erziehen und moralisch zu bessern, damit2 diese entsprechend dächten und handelten. Gemessen an die-3 ser Forderung hatten die Redner und Führer der Demokratie4 versagt, hatten sie die Menge mit den Mitteln der Redekunst5 dazu angestachelt, eine verderbliche, die falschen Bedürfnisse6 der Menge befriedigende Politik zu verfolgen. 7 Mit dieser Stellungnahme stand Platon, äußerlich betrachtet,8 auf der politischen Linie, die seine Standesgenossen vertraten,9 als sie den Zusammenbruch Athens im Jahre 404 dazu benutz-0 ten, im Zusammenspiel mit den spartanischen Siegern die De-1 mokratie zu beseitigen und die Oligarchie der Dreißig Tyrannen2 an ihre Stelle zu setzen. Wir kennen die Losung, unter der sie3 ihre Herrschaft stellten, aus der Rede des Metöken Lysias gegen4 einen der Dreißig namens Eratosthenes, dem sein Bruder zum5 Opfer gefallen war. Es heißt dort (Lys. 12,5): 6 7 „Als die Dreißig durch die üblen Künste demagogischer Ver-8 leumder zur Regierung gelangt waren und erklärten, dass die9 Stadt von ungerechten Männern gereinigt und die übrigen0 Bürger zu Tugend und Gerechtigkeit gebracht werden müss-1 114
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1 ten, besaßen sie ihren Losungen zum Trotz die Unverschämt2 heit, das Gegenteil zu tun …“ 3 4Platon hielt sich im Gorgias an dieses Verständnis von der wah5ren Aufgabe der Politik, aber er lehnte die terroristische Gewalt6herrschaft der Dreißig selbstverständlich ab und hielt sich von 7ihnen fern, als sie ihn aufforderten, sich ihnen anzuschließen. 8Die Berufung der Dreißig auf Moral und Gerechtigkeit war stän9disch gebunden und hielt nach Auffassung ihres Standesgenos0sen Platon dem damit zum Ausdruck gebrachten Anspruch nicht 1stand. Im Gegenteil: Sie übten eine Terrorherrschaft aus, wie es 2zu gehen pflegt, wenn eine Minderheit der Mehrheit ihren Wil3len aufzwingen will. Im Vergleich mit ihrem Regime erschien 4Platon, wie im siebten Brief steht, die ungeliebte Demokratie 5wie Gold. Platon nahm die Losung ernst, unter welche die Drei6ßig ihre Herrschaft gestellt hatten, und er ließ den aus der Zuge7hörigkeit zur gesellschaftlichen Elite abgeleiteten Anspruch, die 8geborenen Verfechter des Edlen und Guten zu sein, ebenso we9nig gelten wie die Berufung auf das Prinzip, dass Not kein Gebot 0kenne. 1 Eine tiefere Begründung als die unbedingte Geltung des Mo2ralischen hatte Platon im Gorgias nicht zu bieten, aber wie seine 3Frühdialoge zeigen, arbeitete er unermüdlich an der Klärung 4der Frage, was eigentlich die Tugenden der Tapferkeit, der Be5sonnenheit, der Gerechtigkeit oder der Frömmigkeit ihrem We6sen nach sind, und er gelangte auf diesem Weg zur Entdeckung 7der Idee des Guten. Auf die Einzelheiten der Ideenlehre kann 8hier selbstverständlich nicht eingegangen werden. Es mag ge9nügen zu erwähnen, dass die Idee des Guten, der intelligiblen 0Welt zugehörig, als höchste Wesenheit die einzelnen Tugenden 1wie Besonnenheit oder Gerechtigkeit hervorbringt. Diese Ide115
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enlehre bildet die Mitte des großen Werkes über den Staat und1 will zeigen, dass eine Besserung der politischen Verhältnisse nur2 zu erwarten ist, wenn die Regierungsgewalt in die Hände derje-3 nigen kommt, die durch ein lang dauerndes Studium (zu dem4 auch die Mathematik gehört) die Kenntnis der Idee des Guten5 erlangt haben und bereit sind, sich auf die Nutzanwendung die-6 ser Kenntnis bis zu den Einzelheiten der politischen Vorfälle7 und Entscheidungen einzulassen. In Hinblick auf den Perso-8 nenkreis, der diese Voraussetzungen einer guten Regierung er-9 füllt, wird in Pol. 473c–e folgende Quintessenz gezogen: 0 1 „Wenn nicht, sprach ich (der Sprechende ist Sokrates), entwe-2 der die Philosophen Könige werden in den Staaten oder die3 jetzt so genannten Könige und Gewalthaber wahrhaft und4 gründlich philosophieren und also diese beiden Dinge zusam-5 menfallen, die Staatsgewalt und die Philosophie, die vielerlei6 Naturen, die jetzt zu jeder von beiden einzeln herannahen,7 durch eine Notwendigkeit ausgeschlossen werden, eher gibt8 es keine Erholung von dem Übel, lieber Glaukon (eine der9 Dialog personen in der Politeia), und ich denke, auch für das0 menschliche Geschlecht, noch jemals zuvor dafür, dass diese1 Staatsverfassung nach Möglichkeit gedeihen und das Licht2 der Sonne sehen könnte, die wir jetzt beschrieben haben.“ 3 4 Mit anderen Worten: Die Forderung nach einer den Prinzipien5 der Moral und der Gerechtigkeit entsprechenden Politik, aufge-6 stellt von den Angehörigen der alten Elite, richtete sich ur-7 sprünglich gegen die Demokratie; aber Platon befreit diese For-8 derung von der ihr anhaftenden Standesgebundenheit und geht9 zugleich über die bloße Radikalisierung der üblichen Moralvor-0 stellungen hinaus, wie er sie im Gorgias vertreten hat. Auf der1 116
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1Grundlage der Ideenlehre ist er zu einem Konzept wissenschaft2licher Politik gelangt, das sich nur verwirklichen lässt, wenn die 3Philosophen Könige werden oder die Könige (und Tyrannen) 4Philosophen. Die Menge des Volkes oder die Minderheit der Oli5garchen taugen dazu nicht. Es kommt auf den Einzelnen an, der 6sich ernsthaft auf Philosophie eingelassen hat und bereit ist, 7sich trotzdem dem Geschäft der politischen Führung zu wid8men. 9 Da aber weder die reale Demokratie noch ihr Gegenstück, 0die Oligarchie, die gesellschaftlichen Voraussetzungen für ein 1Philosophenregiment bieten, erfindet Platon ein dreistufiges 2Gesellschaftsmodell, das den für einen wohlgeordneten Staat 3notwendigen Funktionen entspricht. An seiner Spitze stehen 4die wissenschaftlich ausgewiesene Elite der Philosophen be5ziehungsweise die als Philosophen ausgewiesenen Könige und 6Tyrannen; die zweite Schicht bilden die Waffenträger (zu de7nen bemerkenswerterweise auch Frauen zählen), denen der 8Schutz und die Verteidigung des Staates aufgegeben ist; ihnen 9steht als dritte die Grundschicht der Bauern, der Handwerker 0und der Gewerbetreibenden gegenüber, die für die Produktion 1und Verteilung der benötigten Güter zuständig sind. Jeder die2ser drei Stufen der Gesellschaft wird nicht nur eine spezielle 3Funktion, sondern auch eine bestimmte Seelenkraft und eine 4dieser gemäße Tugend zugewiesen: den regierenden Philoso5phen intellektuelle Einsicht und Weisheit, den waffentragen6den Wächtern des Staates Mut und Tapferkeit, der Masse der 7arbeitenden Bevölkerung materielle Begehrlichkeit und als 8moderierendes Element die Tugend des Maßhaltens. In dem 9auf diese Weise konstruierten Gesellschafts- und Staatsmodell 0wird dann die Rolle der Gerechtigkeit, der vierten Kardinaltu1gend, bestimmt. Sie weist jedem der drei Teile seinen Platz zu, 117
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verhindert Grenzüberschreitungen und garantiert so die Har-1 monie des Ganzen. 2 Der klassische Philologe Werner Jäger hat darauf hingewie-3 sen, dass dieses Bild einer harmonischen Ordnung, in der jeder4 Bestandteil das Seine leistet, von der damaligen medizinischen5 Konzeption der Gesundheit als eines harmonischen Gleichge-6 wichts der Körpersäfte beeinflusst ist. Ich denke, dass er damit7 etwas Richtiges vermutet. Dass aber das harmonische Gleichge-8 wicht entsteht und erhalten bleibt, ist von bestimmten Voraus-9 setzungen abhängig: Güterproduktion und Arbeitsteilung sind0 auf die Befriedigung materieller Grundbedürfnisse zu beschrän-1 ken. Die Entfaltung von Luxus und die dafür notwendige Diffe-2 renzierung der Arbeitswelt werden als verderbliche Faktoren3 gebrandmarkt. Abschreckende Beispiele bieten die oligarchi-4 schen Regime und das demokratische Athen. Das von Platon5 konstruierte Staats- und Gesellschaftsmodell schließt die Ent-6 stehung derartiger Entartungserscheinungen definitiv aus. Sei-7 ne Umsetzung verhindert, dass der wirtschaftliche Sektor der8 Gesellschaft ins Uferlose wächst und das größte Segment der9 Bevölkerung sich zum Herrn des Staates ‚aufbläht‘. Da dies in0 dem von Platon konstruierten Musterstaat ohnehin ausge-1 schlossen ist, braucht es keiner besonderen Erziehung zum2 Maßhalten. Desto ausführlicher und sorgfältiger geht er auf die3 Ausbildung und den wissenschaftlichen Bildungsgang der zur4 Regierung des Staates berufenen Philosophenkönige ein. Dies5 kann hier nicht bis ins Einzelne geschildert werden. Zu den Phi-6 losophenkönigen ist oben bereits das Nötigste gesagt, und was7 die Kriegerkaste anbelangt, so mag Folgendes genügen: Zur8 Verhinderung seiner Machtergreifung werden dem Militär Pri-9 vatbesitz und Eheschließung verweigert, um die Entstehung0 mächtiger Dynastien in der waffentragenden Klasse zu verhin-1 118
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1dern. Stattdessen hat der Kriegerstand (zu dem ja auch Frauen 2gehören) in Ehelosigkeit, Frauen-, Kinder- und Gütergemein3schaft zu leben. 4 Es liegt auf der Hand, dass dieses Staats- und Gesellschafts5modell einen Gegenentwurf zu der in der griechischen Staaten6welt herrschenden Realität darstellt. Und dieser Aspekt erfährt 7im achten Buch der Politeia eine eigene Betrachtung, die von der 8Frage nach dem jeweils herrschenden Teil in den verschiedenen 9Verfassungsformen bestimmt wird. Platon unterscheidet die Ti0mokratie, das heißt die auf Ehrgefühl und Wehrhaftigkeit ge1gründete Herrschaft der Krieger in Sparta und in den dorischen 2Gemeinden Kretas, die Oligarchie als Herrschaft der wenigen 3Reichen, die Mehrheitsherrschaft des einfachen Volkes, also die 4Demokratie, und die Gewaltherrschaft eines Einzelnen, die Ty5rannis. Als ihr gemeinsames Merkmal wird die Anfälligkeit für 6Entartung und Instabilität konstatiert, sodass gesetzmäßig der 7so bewirkte Umschlag von einer Verfassung in die jeweils be8nachbarte einen Kreislauf durchmisst. Jede der realen Verfas9sungen birgt demnach den Keim des Untergangs in sich, und 0keine einzige, so lässt sich ein Grundgedanke der platonischen 1Staatskonstruktion verdeutlichen, ist fähig, den wahren Staats2zweck, Stabilität der Herrschaft des Guten und Schönen, zu rea3lisieren. 4 Was nun speziell die Demokratie betrifft, so ist sie nach Pla5ton aus dem Niedergang einer Oligarchie entstanden. Dieser 6Niedergang, so erläutert er seinen Gedanken, werde durch das 7maßlos gewordene Streben nach Besitz und Reichtum verur8sacht, durch das die Reichen unter Ausnutzung des Geldbedarfs 9jugendlicher Verschwender deren Güter aufkaufen oder als Si0cherheit für das gewährte Darlehen in ihren Besitz bringen. Auf 1diese Weise entstehe ein revolutionäres Potenzial, die Verarm119
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ten oder von Armut Bedrohten erhöben sich gegen die Reichen,1 und aus dem Bürgerkrieg erwachse die Demokratie: 2 3 „So entsteht daher, denke ich, die Demokratie, wenn die Ar-4 men den Sieg davontragen, dann von der anderen Partei (den5 Oligarchen) einige hinrichten, andere vertreiben, den übri-6 gen aber gleichen Anteil geben am Bürgerrecht und an der7 Regierung, sodass die Amtsträger im Staat großenteils durch8 das Los bestimmt werden“ (Plat. Pol. 557c). 9 0 Platons Kritik bezieht sich auf die demokratische Berufung auf1 Freiheit und Gleichheit (wozu im zweiten Kapitel unter Verwen-2 dung der Darstellung des Aristoteles das Notwendige gesagt3 ist), und er sieht sie in einem demokratischen Staat so angelegt,4 dass der Bürger als freier Mann ohne feste Prinzipien seinen5 Launen und Bedürfnissen lebt. In diesem Staat der unbe-6 schränkten Freiheit aber herrscht notwendig jene Form von7 Gleichheit, welche die Griechen als die arithmetische bezeich-8 neten, die „gleichmäßig Gleichen wie Ungleichen eine gewisse9 Gleichheit“ (Plat. Pol. 558c) zumisst. Nebenbei bemerkt: Kriti-0 ker der Demokratie zogen die geometrische Gleichheit vor, die1 auf dem Prinzip beruhte, dass Gleichheit nur Gleichen gebührt.2 Zu den vielfältigen, nach Lust und Laune gewählten Beschäf-3 tigungen gehört für den Typus des Demokraten nach Platons4 Meinung, dass ihn die Lust nach politischer Tätigkeit überkom-5 me, und auch auf diesem Feld alles geschehe, ohne einer festen6 Richtschnur zu folgen: „Oft auch betreibt er die öffentlichen An-7 gelegenheiten, und wenn er aufspringt, redet und handelt er,8 wie es sich gerade trifft“ (Plat. Pol. 558c). In der Übersteigerung9 von Freiheit und Gleichheit liege der Keim des Untergangs. Zur0 Illustration dieses Urteils entwirft Platon eine Karikatur des1 120
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1Ausmaßes von Freiheit und Gleichheit in der Demokratie: Sie 2erfasst alle Lebensbereiche und macht überall die Ordnungen 3zunichte, auf denen eine gut verfasste Gesellschaft gegründet 4ist: auf dem Respekt der Schüler für ihre Lehrer, der Kinder für 5ihre Eltern, der Unterordnung der Frauen in der Familie und der 6Unterwerfung der Sklaven unter den Willen ihrer Herren. Pla7ton treibt den Scherz mit seiner Karikatur der Demokratie so 8weit, dass er das Prinzip der Freiheit und Gleichheit auf das Ver9halten der Tiere gegenüber den Menschen überträgt: 0 1 „Denn die Hunde sind schon offenbar nach dem Sprichwort 2 wie junge Damen, und Pferde und Esel sind gewöhnt, ganz 3 frei und vornehm immer geradeaus zu gehen, wenn sie einem 4 auf der Straße begegnen, der ihnen nicht aus dem Wege geht, 5 und ebenso ist alles andere voll von Freiheit“ (Plat. Pol. 563c). 6 7Der neue, über den oligarchischen Standpunkt hinausgehende 8Gesichtspunkt, den Platon einführt, betrifft den Untergang der 9Demokratie. Sie endet, so sagt er ihr voraus, in der Gewaltherr0schaft der Tyrannis. Als Quelle dieses Umschlags der Verfas1sung wird der Gegensatz zwischen Reich und Arm angenom2men: Aus diesem Gegensatz entspringen Konflikte, die sich der 3Führer des Volkes – das ist die Bedeutung des griechischen Wor4tes „Demagoge“ – zunutze macht und sich so der Alleinherr5schaft bemächtigt. Unter Anspielung auf einen Mythos wird der 6Demagoge zum sprichwörtlichen lupus in fabula: 7 8 „Ist es nun nicht ebenso (wie in der Erzählung vom Wolf ), 9 wenn ein Volksführer, der die Menge sehr lenksam findet, 0 sich des inländischen Blutes nicht enthält, sondern – wie sie es 1 gern machen – mit ungerechten Anschuldigungen Anklagen 121
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erhebt und so Blutschuld auf sich lädt, indem er, Menschen-1 leben vertilgend und mit unheiliger Zunge und Lippe Ver-2 wandtenmord kostend, (Leute) bald mit Verbannung belegt,3 bald hinrichten lässt, wobei er auf Niederschlagung der4 Schulden und (Neu-)Verteilung des Bodens von ferne hindeu-5 tet, dass dann einem solchen von da an bestimmt ist, entwe-6 der durch seine Feinde unterzugehen oder ein Tyrann und7 also aus einem Menschen ein Wolf zu werden“ (Plat. Pol.8 565e–566a). 9 0 Die Machtergreifung eines Tyrannen hat es in Athen nicht gege-1 ben, aber die Furcht vor einem Umschlag der Demokratie in eine2 Oligarchie oder Tyrannis war mehr oder weniger immer virulent.3 Im Jahr 336 war Eukrates, einer der damals prominenten Politiker4 Athens, mit einem Gesetz zum Schutz der Demokratie gegen sol-5 che Umsturzversuche hervorgetreten. Die Furcht vor der Macht-6 ergreifung eines Tyrannen war also, wie begründet oder unbe-7 gründet auch immer, eine Realität in Athen. Für Platon war der8 allgegenwärtige Gegensatz von Reich und Arm der Motor eines9 Kreislaufs der Verfassungen von der Oligarchie zur Demokratie0 und von dieser zur Tyrannis. Diese vermeintliche Gesetzmäßig-1 keit wollte Platon mit seinem Entwurf eines Idealstaates ebenso2 beseitigen wie den standesgebundenen Missbrauch, den die Oli-3 garchen mit der Anmaßung betrieben, mit ihnen kämen die Prin-4 zipien der Moral und der Gerechtigkeit an die Macht, wenn sie die5 Demokratie beseitigt hätten. Dem einen Ziel sollte die Neuglie-6 derung der Gesellschaft dienen, die der Entstehung des Gegen-7 satzes zwischen Reich und Arm keinen Raum ließ, dem anderen8 die Ideenlehre, zu der Platon nach langem Nachdenken über die9 Grundfrage gefunden hatte, was letztlich den Prinzipien der Mo-0 ral und der Gerechtigkeit zugrunde liegt. 1 122
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1 Platon war sich, wie mehreren seiner Äußerungen zu entneh2men ist, darüber im Klaren, dass eine Realisierung des von ihm 3entworfenen Staatsmodells, wenn nicht unmöglich, so doch 4überaus schwierig sein würde. Die Erfahrungen, die er am Hof 5der beiden Tyrannen von Syrakus, Dionysios Vater und Sohn, 6machte, müssen ihn in seiner Skepsis noch bestärkt haben. Als 7er im hohen Alter sein umfangreichstes Werk, die Nomoi (die 8Gesetze), schrieb, betrachtete er den Staat aus einer anderen 9Perspektive, einer, deren Mitte nicht die philosophische Ideen0lehre bildete, sondern die auf Gesetze gegründete Ordnung des 1Staates. Das Werk gehört damit in den Kontext einer intensiven 2Debatte, die seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre des 34. Jahrhunderts über Gesetzgebung als Mittel politischer Refor4men geführt wurde und auch praktische Auswirkungen gehabt 5hat. Das Werk nimmt seinen Ausgang von dem (fiktiven?) Plan 6der kretischen Gemeinde Knossos, eine Kolonie, einen neuen 7Stadtstaat, zu gründen. Wie ein auf Gesetzen beruhender Staat 8auszusehen hatte, ließ sich natürlich grundlegender und besser 9am Modell einer Neugründung demonstrieren als an dem Re0formkonzept für einen bestehenden Staat, wie es damals der 1Publizist Isokrates nach Athens Scheitern im Bundesgenossen2krieg (357–355 v. Chr.) für Athen in seiner Rede über den Areo3pag, dem Areopagitikos, vortrug (Näheres dazu unten). In diesel4be Zeit gehören auch Platons Nomoi, wie die Erwähnung eines 5Ereignisses verrät, das wahrscheinlich in das Jahr 352 fällt, in 6dem Syrakus sich das süditalische Lokroi unterwarf. 7 Der Philosoph und der Publizist zeichnen in den beiden ge8nannten Werken ein ähnliches Bild von der Entwicklung Athens. 9Demnach gab es in Athen bis in die Zeit der Perserkriege eine 0gute gesetzliche Ordnung, welche die Stadt in die Lage versetz1te, die Übermacht der Perser abzuwehren. Im dritten Buch der 123
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Nomoi feiert Platon den Gesetzesgehorsam der Athener als1 Grund, dass sie Griechenland vor der persischen Herrschaft be-2 wahren konnten: 3 4 „Denn wir hatten zu jener Zeit, als der Angriff der Perser auf5 die Hellenen, ja beinahe auf alle Bewohner Europas erfolgte,6 eine von alters her bestehende Verfassung und Obrigkeit auf-7 grund der vier Vermögensklassen, und in uns wohnte eine8 mächtig über uns waltende Scheu, die uns willig machte, un-9 ser Leben nach den damaligen Gesetzen einzurichten. Und0 außerdem vermochte uns die Größe des (persischen) Heerzu-1 ges zu Lande und zu Wasser, die eine verzweifelte Furcht uns2 einjagte, zu einer noch größeren Unterwerfung unter die Re-3 gierung und die Gesetze (zu veranlassen), und aus diesem al-4 len erwuchs uns eine innige Liebe.“ 5 6 Platon zeichnet hier das schöngefärbte Bild Athens, das Publi-7 zistik und Historiographie von der althergebrachten sogenann-8 ten väterlichen Verfassung, der patrios politeia, gemalt hatten.9 Es hat mit der Realität nichts zu tun, sondern ist die Erfindung0 eines Ideals, an dem Gegner der Demokratie damals ihre Re-1 formvorstellungen orientierten. Dann kamen, auch dies die2 Wiedergabe einer historischen Legende, der Umschlag zur Zü-3 gellosigkeit der Demokratie und die Auflösung der Bindung an4 Gesetz und Obrigkeit. Platon gibt freilich der fable convenue eine5 originelle Wendung: Er knüpft den Beginn der beklagten Zügel-6 losigkeit der Demokratie an einen Wechsel der Tonarten in der7 Musik und ihren Einfluss auf die seelische Gestimmtheit der Zu-8 hörer. Um nicht zu weit abzuschweifen, übergehe ich diese An-9 leihe aus der Musiktheorie jener Zeit. Platons Bezugnahme auf0 die Lehre von den psychagogischen Wirkungen der Musik ist1 124
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1der Übergang zu den behaupteten Folgen im Bereich von Privat2und öffentlichem Leben: der Herrschaft absoluter Freiheit und 3Gesetzlosigkeit. Athen ist in Platons Sicht – und nicht nur in sei4ner – der absolute Gegensatz zur persischen Despotie, in der es 5keine Freiheit gibt, sondern nur die Unterwerfung unter eine 6Gewaltherrschaft. Beides aber ist das Gegenteil eines wohlge7ordneten Staates. 8 Einen solchen wohlgeordneten Staat auf eine bis ins Letzte 9ausgearbeitete Gesetzeskodifikation zu gründen und seine Bür0ger auf dieser Grundlage zu freiwilligem Gesetzesgehorsam zu 1erziehen, ist das Ziel der Nomoi. Da es sich bei der betreffenden 2Stadt um eine Neugründung handelt und nicht die Notwendig3keit besteht, bereits existierende Mängel zu korrigieren, konnte 4das Werk bei den natürlichen Voraussetzungen eines Staates, 5seiner geographischen Lage und seiner Wirtschaft, beginnen. 6Die vorgetragenen Gesichtspunkte schließen die Gründung ei7ner Hafen- und Handelsstadt nach dem Vorbild des demokrati8schen Athen wegen der immanenten Gefahren für die innere 9Ordnung, denen eine solche Stadt ausgesetzt ist, ausdrücklich 0aus. Platon bricht eine Lanze für eine in einiger Entfernung von 1der Meeresküste gelegene Stadt, deren Lebensgrundlage die 2Landwirtschaft ist. Nach einer Prüfung der natürlichen Umge3bung, in der die neue Stadt in einem Abstand von 80 Stadien 4(das sind etwa 15 Kilometer) vom Meer gegründet werden soll, 5fasst Platon die aus ihrer Lage resultierenden Vor- und Nachtei6le wie folgt zusammen: 7 8 „Sollte es eine Seestadt sein (was wegen ihrer Entfernung 9 vom Meer nicht der Fall ist), mit Häfen gut ausgestattet und 0 nicht alle Erzeugnisse liefernd, sondern viele entbehrend, 1 dann täte ihr ein gewaltiger Retter und Gesetzgeber göttlicher 125
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Art not, wenn sich bei solcher Beschaffenheit in ihr nicht viel-1 fältige, abgefeimte und schlechte Sitten erzeugen sollten:2 Jetzt aber bieten ihr die achtzig Stadien (Entfernung vom3 Meer) noch einigen Trost. Doch liegt sie der Küste näher, als4 sie sollte, umso mehr wohl, da du sagst, dass diese mit Häfen5 reich ausgestattet ist; dessen ungeachtet muss man wohl da-6 mit zufrieden sein. Denn das eine Gegend bespülende Meer7 ist zwar für das tägliche Bedürfnis eine angenehme, tatsäch-8 lich aber gewiss eine herbe und bittere Nachbarschaft. Indem9 es nämlich hier den Handel und dank des Gütertauschs den0 Gelderwerb gedeihen lässt und in den Seelen eine veränderli-1 che und unzuverlässige Gesinnung erzeugt, macht es die Bür-2 ger unzuverlässig und lieblos gegeneinander sowie desglei-3 chen auch gegen andere Menschen“ (Plat. Nom. 705a). 4 5 Einen Trost bietet indessen, so Platon, der in der neuen Stadt6 herrschende Mangel an Überschussprodukten, die der Motor7 eines entwickelten Güterverkehrs mit dem Ausland und des Zu-8 flusses von Geld sind. Denn dies alles, so fährt er fort, entfrem-9 det die Bürger von der Gesinnung des Gesetzesgehorsams, auf0 dem die Stabilität der neuen Gemeinde beruhen soll. Mit ande-1 ren Worten: Die Ablehnung von Handel, Gewerbe und Geld-2 schöpfung auf der einen Seite und die Bevorzugung einer rein3 landwirtschaftlichen Lebensgrundlage auf der anderen war4 eine Einstellung, die wahrscheinlich alle Feinde der Demokratie5 in Athen teilten. Sie begegnet schon, wie oben bereits ange-6 merkt wurde, in der Abneigung des Alten Oligarchen gegen die7 gewissermaßen modernen Züge des demokratischen Athen.8 Was also Platon in den Nomoi darstellt, ist der antimoderne,9 nicht demokratische Staat, in dem sich die Bürger den Gesetzen0 und der Obrigkeit unterwerfen. Als Kern der Fehlentwicklung,1 126
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1die zur abgelehnten gesellschaftlichen Vielfalt der Demokratie 2führte, wird der aus dem Außenhandel gespeiste Zufluss von 3Gold und Silber gebrandmarkt, den Werkstoffen, auf denen die 4als verderblich angeprangerte Geldwirtschaft beruht: Wären die 5Ressourcen einer Stadt, heißt es, höchst einträglich, käme es zu 6einer reichen Ausfuhr und dadurch wiederum zu einer Über7schwemmung mit Geld aus Silber und Gold, „ein größeres Un8heil, möchte ich sagen (Sokrates, der Hauptredner des Werkes, 9spricht), Einzelnes mit Einzelnem verglichen, als irgendeines 0für das Erlangen einer edlen und redlichen Gesinnung entste1hen könnte“ (Plat. Nom. 705b). 2 3Der in den Nomoi vorgelegte Entwurf eines neu zu gründenden 4Staates beruht auf einer bis ins Detail ausgearbeiteten Gesetzge5bung, die, wie jüngst nachgewiesen wurde, zum Teil auf dem in 6Athen geltenden Recht basiert. Dies kann hier nicht weiter ver7folgt werden. Stattdessen sollen die Quintessenz der von Platon 8entworfenen Staatsmodelle und ihr Bezug zu einer demokratie9kritischen Einstellung zusammenfassend verdeutlicht werden. 0Fraglos ist das Bild, das Platon von der athenischen Demokratie 1zeichnet, mit den Farben ihrer oligarchischen Feinde gemalt. 2Aber Platon blieb dabei nicht stehen. Er nahm die in den Kreisen 3seiner Standesgenossen vertretene Vorstellung ernst, dass es 4Aufgabe wahrer Staatsmänner sei, die Politik an dem alternati5ven Ideal des Schönen und Guten, der Moral und der Gerechtig6keit, auszurichten und nicht an den falschen Zielen, die nach 7seiner Überzeugung der demokratische Staat verfolgte. 8 In seinem Frühwerk, dem Gorgias, verbindet er mit dem An9griff auf die sophistische Kunst der Rede eine Abrechnung mit 0der Politik Athens, die in der Katastrophe seiner totalen Nie1derlage und Kapitulation endete. Konfrontiert wird diese Poli127
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tik mit dem von Sokrates vertretenen Standpunkt, dass die Mo-1 ral über bloßer Machtausübung, ja selbst über der Rettung des2 eigenen Lebens zu stehen kommt. Diese Einstellung wird zu3 dem Satz zugespitzt, dass es besser sei, Unrecht zu erleiden, als4 Unrecht zu tun. Dann folgte der Entwurf eines utopischen Ide-5 alstaates in der Politeia mit der Fundierung des Schönen und6 Guten auf der Ideenlehre und der Herrschaft der Philosophen-7 könige, verbunden mit einer vernichtenden Kritik an Staat und8 Gesellschaft der Demokratie. Die Nomoi zeigen ein anderes9 Gesicht. In diesem Spätwerk hat sich Platon auf das in der Pu-0 blizistik der Zeit propagierte Geschichtsbild und das Konzept1 einer Erneuerung Athens im Geist des anachronistischen Ide-2 als vordemokratischer Verhältnisse eingelassen (Näheres dazu3 unten in dem Isokrates gewidmeten Abschnitt) und ein reakti-4 onäres Staatsmodell entworfen, das, auf der Grundlage rein5 agrarischer Produktions- und Gesellschaftsverhältnisse und6 auf penibler gesetzlicher Regulierung fußend, angeblich ein in7 der realen Welt angesiedeltes Gegenmodell zur athenischen8 Demokratie verkörpert. 9 Neben den Vorschlägen vonseiten der Philosophie, wie dem0 Elend der realen Politik abzuhelfen sei, meldete sich im 4. Jahr-1 hundert auch eine publizistische Politikberatung zu Wort. Dank2 der Gunst der Überlieferung sind die Denkschriften des Haupt-3 vertreters dieser Gattung, des Atheners Isokrates, auf uns ge-4 kommen. Auf die Verfassung Athens bezieht sich vor allem eine5 dieser Denkschriften, die Rede über den Areopag (griechisch:6 Areopagitikos), genannt nach dem Versammlungsort des aus7 ehemaligen Archonten bestehenden Rates, der unter der De-8 mokratie seine politischen Funktionen längst eingebüßt hatte.9 Dieser Rat galt Isokrates in der genannten Rede als das reprä-0 sentative Organ der alten Verfassung, griechisch: der patrios po-1 128
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1liteia, die in der Zeit der Perserkriege für eine vorbildliche inne2re Ordnung und eine erfolgreiche Außenpolitik gesorgt haben 3soll. Das war eine Fiktion, aber sie diente als Gegenmodell zur 4radikalen Demokratie und ihrer verfehlten Politik. 5 Isokrates war nicht der einzige, aber der wirksamste Expo6nent derartiger Vorstellungen. Er war der Sohn eines atheni7schen Manufakturunternehmers, der zu Reichtum gekommen 8war, dann aber aufgrund der finanziellen Belastungen im Pelo9ponnesischen Krieg den größten Teil seines Vermögens einge0büßt hatte. In seiner Jugend hatte Isokrates eine kostspielige 1Ausbildung bei Koryphäen der sophistischen Rhetorik genos2sen. Nach dem finanziellen Desaster der Familie war er gezwun3gen, aus dem Gelernten einen Beruf zu machen. Er wurde der 4Überlieferung zufolge ein erfolgreicher und gut verdienender 5Redenschreiber. Er gab diesen Beruf auf, als er es sich leisten 6konnte, und gründete seinerseits eine Schule der Redekunst, die 7den Anspruch erhob, nicht nur die formale Kunst des wirkungs8vollen Arguments und des schönen Stils zu lehren, sondern 9mehr noch einen prominenten Schülerkreis nach Maßgabe des 0gesunden Menschenverstands zu den richtigen und Erfolg ver1sprechenden politischen Vorstellungen anzuleiten. Er hoffte, in 2diesem Schülerkreis die, wie man sie heute nennen würde, Mul3tiplikatoren seiner politischen Ideen zu finden; aber er ging da4rüber hinaus und wandte sich mit publizierten Denkschriften in 5Form fiktiver Reden und offenen Briefen, die Leitartikeln gli6chen, an eine breitere Öffentlichkeit in der griechischen Welt. Er 7orientierte sich an den Perserkriegen. Sie waren für ihn – und 8nicht nur für ihn – die Zeit, in der Athen eine vorbildliche innere 9Verfassung besaß, Griechenland vor den Persern rettete und da0für mit der Rolle einer hegemonialen Führungsmacht belohnt 1wurde. Aber dann sei, so sein Geschichtsbild, eine Entartung 129
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der moralischen und politischen Verfassung der Stadt im Zei-1 chen der radikalen Demokratie eingetreten. Das demokratische2 Athen sei seinen Bundesgenossen zur „tyrannischen Stadt“3 (griechisch: polis tyrannos) geworden. Die Nemesis habe es mit4 dem verlorenen Krieg gegen Sparta, dem Verlust der Seeherr-5 schaft und der Kapitulation des Jahres 404 v. Chr. ereilt. Als sich6 mit dem sogenannten Bundesgenossenkrieg – er dauerte von7 357 bis 355 v. Chr. – die Gefahr abzeichnete, dass Athen mit sei-8 nem Zweiten Seebund eine neue Katastrophe erleiden könnte,9 war das für Isokrates Anlass, sich mit zwei seiner überdimensi-0 onierten Leitartikel in Form fiktiver Reden an die Öffentlichkeit1 zu wenden: mit der Rede über den Areopag und mit der Frie-2 densrede. 3 Die Friedensrede betrifft Athens Außenpolitik, die Rede über4 den Areopag die innere Verfassung der Stadt. In beiden Reden5 geht es um eine Neuorientierung nach dem Bild einer Vergan-6 genheit, die niemals so, wie sie dem Verfasser vorschwebte,7 existiert hatte. Die Areopagrede, die hier im Vordergrund steht,8 propagiert die Rückkehr Athens zu einer Verfassung, wie sie an-9 geblich zur Zeit der Perserkriege herrschte; diese soll eine der0 grundlegenden Voraussetzungen dafür gebildet haben, dass1 Athen zur Führungsmacht in Griechenland wurde. Die Schlüs-2 selrolle kommt, wie schon aus dem Titel des Traktats hervor-3 geht, dem Rat vom Areopag zu. Dieser Rat bestand aus ehema-4 ligen Archonten, Magistraten, die in vordemokratischer Zeit die5 jährlich wechselnde Regierung stellten. Vor der Perserzeit wur-6 den die Archonten gewählt; die Voraussetzung dafür war die Zu-7 gehörigkeit zu den höchsten Vermögensklassen. Es handelte8 sich ursprünglich um einen Rat, der aus Adligen bestand und9 zusammen mit dem für die Dauer eines Jahres amtierenden Ar-0 chontenkollegium unter Vorsitz des ranghöchsten Mitglieds,1 130
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1des archon eponymos, die Regierung bildete. Aber unter der De2mokratie war die Rolle des Areopags bis zur Bedeutungslosig3keit reduziert worden. Regierungsfunktionen übte seit Kleisthe4nes die Volksversammlung mithilfe des Rates der Fünfhundert 5aus, die Archonten wurden seit den Perserkriegen nicht mehr 6gewählt, sondern ausgelost, und der archon eponymos verlor die 7wichtige Funktion eines Vorsitzenden in der Volksversamm8lung; dann entfielen bestimmte Kontrollrechte, die der Rat vom 9Areopag besessen hatte, und schließlich fiel auch die Vorschrift, 0dass die Zugehörigkeit zu einer hohen Vermögensklasse für die 1Zulassung zum Archontenamt notwendig sei. Aber die vage Vor2stellung von der Bedeutung, die dem Areopag bis zur Perserzeit 3zugeschrieben wurde, erlaubte es Isokrates, ein Phantasiege4mälde vom segensreichen Einfluss dieses Gremiums in der Ver5gangenheit zu zeichnen, um dieses als Vorbild für die reformbe6dürftige Gegenwart zu benutzen. 7 Das Phantasiebild von der einstigen Rolle des Areopags bis 8zur Perserzeit war bestimmt von Ideen des 4. Jahrhunderts von 9der Notwendigkeit, die Bürger zu Rechtschaffenheit, Zucht und 0Ordnung sowie zum Gehorsam gegenüber den Gesetzen und 1der Obrigkeit zu erziehen – zu Einstellungen also, die den in der 2Demokratie tatsächlich oder angeblich herrschenden diametral 3entgegengesetzt waren. Der Rat vom Areopag sollte darauf ach4ten, dass die Kinder der Besitzlosen ein Handwerk erlernten, 5um für sich selber und ihre Angehörigen sorgen zu können, der 6Staat also mit der Versorgung der Armen nicht belastet wurde. 7Entscheidend kam es nach Isokrates’ Darstellung auf die gelun8gene Erziehung an; von ihr wird gesagt, dass sie sogar wichtiger 9als die Genauigkeit der Gesetze sei, an deren Mängeln gleich0wohl die zeitübliche Kritik geübt wird. Erziehung und Gesetzge1bung bewirkten unter der Ägide des Areopags angeblich nicht 131
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nur eine vorbildliche innere Ordnung, sondern sie würden auch,1 so wird erwartet, die Voraussetzungen zu einer Außenpolitik2 schaffen, die vom Zwang zu einem maritimen Imperialismus im3 Interesse der Versorgung der Besitzlosen befreit sein werde. 4 Kurzum erblickte Isokrates in der Rolle, die dem Rat vom Are-5 opag in der Vergangenheit angedichtet wurde, die Lösung der6 Probleme, an denen die Gegenwart litt. Damit stand er nicht7 allein. Wie er deuteten Historiker, die sich der Darstellung der8 Verfassungsgeschichte Athens widmeten, sogenannte Atthido-9 graphen, die politischen Verhältnisse Athens in der Zeit bis zu0 den Perserkriegen nach dem Wunschbild, das sie als heilsam1 und vorbildlich für ihre eigene Zeit ansahen. Ausdrücklich mit2 Namen genannt werden in der Überlieferung zwei Atthidogra-3 phen, die ihre Spuren in der Darstellung der athenischen Ge-4 schichte hinterlassen haben. Doch fügt ihr Gewährsmann der5 Nennung ihrer Namen hinzu: „und noch viele andere“. Selbst6 Platon hat in den Nomoi diesem Trugbild der Geschichte seinen7 Tribut gezollt. 8 Doch gab es Historiker, für die gelten darf, dass sie nach den9 Möglichkeiten, welche die dürftigen Quellen boten, ihr Augen-0 merk auf die wirkliche Geschichte richteten, und es gab den Phi-1 losophen Aristoteles, der seine enorme Arbeitskraft allen Wis-2 sensgebieten seiner Zeit widmete. Erhalten haben sich aus3 seinem Riesenwerk die Manuskripte, die er seiner Lehrtätigkeit4 zugrunde legte, und dazu gehörte auch Politik. Die Ergebnisse5 seiner Forschungen über die theoretischen Modelle und ihre re-6 alen Erscheinungsformen legte er in dem Politik genannten7 Werk nieder. Hinzu kommt als glücklicher Zufallsfund eine8 Schrift, die der von Aristoteles organisierten Sammlung von 1589 Verfassungen griechischer und nichtgriechischer Staaten zuzu-0 ordnen ist: der oben ausgiebig benutzte Staat der Athener. 1 132
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1 Auf der Grundlage der publizierten Entwürfe von Idealstaats2modellen wie auch der gesammelten Nachrichten aus den Wer3ken zu Geschichte und Verfassungen griechischer Staaten hat 4Aristoteles die Ergebnisse seiner Forschungen in der Politik nie5dergelegt. Es handelt sich um Vorlesungsmanuskripte, die ur6sprünglich nicht zur Publikation bestimmt waren. Sie sind nicht 7in einem Zuge niedergeschrieben worden, sondern weisen Spu8ren einer längeren Entstehungszeit auf. Das kann hier nicht ver9folgt werden, ebenso wenig die materialreichen Untersuchun0gen der Umstände, die Verfassungen Stabilität oder Instabilität 1verleihen. Herausgegriffen seien nur die Unterscheidung von 2vier Arten der Demokratie, ihre Zuordnung zu unterschiedli3chen Bevölkerungsstrukturen sowie die Werturteile, die der Au4tor über die von ihm festgestellten Formen der Demokratie ab5gibt. Als schlechteste Art betrachtete er die athenische, als beste 6diejenigen, die auf landwirtschaftlicher Grundlage basieren. 7Dazu heißt es in Pol. 1318b 7–15: 8 9 „Es gibt vier Arten der Demokratie: diejenige, die in der Rei0 henfolge an erster Stelle (der Liste steht), ist auch die beste …, 1 sie ist aber auch die älteste. Als erste bezeichne ich sie aber in 2 dem Sinne, in dem man auch die Gruppen des Volkes (des De3 mos) unterteilen (und in eine Rangordnung bringen) könnte. 4 Die beste eines Volkes bilden die Bauern. Es bietet sich damit 5 die Möglichkeit, dort eine Demokratie einzurichten, wo die 6 Menge von Ackerbau und Weidewirtschaft lebt. Denn diese 7 Gruppe verfügt nicht über viel Vermögen und kann sich daher 8 keine Muße leisten, sodass sie nicht häufig Volksversamm9 lungen besucht. Wenn diese Leute andererseits nicht das 0 Notwendige besitzen, verbringen sie ihre Zeit mit Arbeit und 1 sind sie nicht darauf aus, sich fremdes Gut anzueignen; Arbeit 133
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bereitet ihnen mehr Vergnügen als politische Aktivität und1 die Bekleidung eines Amtes.“ 2 3 Ganz ähnlich werden Gemeinden beurteilt, deren Lebens-4 grundlage die Viehzucht ist: „Die beste Gruppierung des Volkes5 nach den Bauern findet man dort, wo es Hirten gibt und (das6 Volk) von Weidetieren lebt. In vieler Hinsicht ähnelt diese Le-7 bensweise ja derjenigen der Bauern, und für die militärischen8 Aufgaben sind sie von ihren Lebensgewohnheiten her am bes-9 ten trainiert und körperlich einzusetzen, und sie können unter0 freiem Himmel leben“ (Pol. 1318b 19–23). Demgegenüber wer-1 den alle anderen Gruppierungen der Gesellschaft und die von2 ihnen gebildeten demokratischen Verfassungen abgewertet, am3 stärksten, ohne Namensnennung, die athenische: 4 5 „So ziemlich alle anderen Gruppierungen, welche die tragen-6 de Schicht der übrigen Demokratien darstellen, sind diesen7 (den Bauern und Hirten) weit unterlegen. Denn sie führen ein8 ordinäres Leben, und keine Tätigkeit, der die große Zahl der9 Handwerker, der auf dem Markt tätigen Männer und Tage-0 löhner nachgeht, verlangt charakterliche Qualitäten. Weil sie1 sich außerdem um den Markt und in der Stadt herumtreiben,2 ist sozusagen jede dieser Gruppen leicht geneigt, Volksver-3 sammlungen zu besuchen. Die Bauern nehmen dagegen nicht4 häufig an solchen Versammlungen teil und empfinden auch5 nicht in gleicher Weise ein Bedürfnis dafür, weil sie vereinzelt6 über das Land verstreut leben. Wo es sich aber auch noch7 trifft, dass landwirtschaftlich genutztes Land weit von der8 Stadt entfernt gelegen ist, lässt sich leicht eine gute Demokra-9 tie und eine Politie einrichten; denn das Volk ist gezwungen,0 seinen Wohnsitz auf dem Land zu nehmen“ (Pol. 1319a 24–38).1 134
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1Aristoteles’ Klassifizierung der verschiedenen Arten der Demo2kratie spiegelt auf das Deutlichste die Optionen der aristokrati3schen Demokratiefeinde in Athen wider. Diese lassen sich von 4dem Traktat des Alten Oligarchen über Platon bis zu Aristoteles 5und anderen verfolgen. Aristoteles hält diejenige Demokratie 6für die beste, die er mit anderem Namen als Politie bezeichnet. 7Das griechische Wort bedeutet unter anderem so viel wie Ver8fassung. Aristoteles gebraucht es in dem Sinne von Verfas9sungsstaat und setzt diesen der zeitlichen Entstehung und dem 0Rang nach mit der ersten Demokratie gleich. In unserer Per1spektive handelt es sich um eine der Demokratie vorausliegen2de Stufe der Verfassungsentwicklung, die eine agrarische, nicht 3städtische Bevölkerungsstruktur voraussetzt. In diesem Stadi4um fungierten wie zu Homers und Solons Zeiten nur die weni5gen als Amtsträger und Ratsmitglieder, die nach ihrem Vermö6gensstand Zeit und Interesse für öffentliche Angelegenheiten 7aufbrachten und nur selten die Zustimmung der schwach be8suchten Volksversammlung einholten. In einer agrarisch struk9turierten Gesellschaft hat die Masse der zur Bestellung der Fel0der oder zur Versorgung des Viehs gezwungenen Bürger weder 1Zeit noch Lust, politische Versammlungen zu besuchen. Wir 2Heutigen setzen hingegen den Begriff Demokratie mit der athe3nischen gleich und belegen mit ihm nicht eine Stufe der Verfas4sungsentwicklung, die der oben näher geschilderten Entste5hung der Demokratie in der Zeit des Kleisthenes (Ende des 66. Jahrhunderts) vorausliegt. Was also Aristoteles in Anknüp7fung an das reaktionäre Konzept einer Demokratie avant la lett8re als erste und zugleich beste Demokratie bezeichnet, ent9spricht aus unserer Sicht der Definition, mit der römische 0Sprachwissenschaftler wie M. Terentius Varro (116–27 v. Chr.) 1dem Problem der etymologischen Herkunft von Worten beizu135
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kommen versuchten: lucus a non lucendo. Die beste Demokratie1 ist demnach diejenige, die noch keine war. 2 Was nun die Einschätzung der athenische Demokratie als der3 schlechtesten Ausprägung der mit diesem Namen bezeichneten4 Verfassungen anbelangt, so denkt Aristoteles ähnlich wie die5 oligarchischen Feinde der Demokratie: Er kritisiert, wie übri-6 gens auch sein Lehrer Platon, die ökonomische und gesell-7 schaftliche Differenzierung in einer am Meer gelegenen großen8 Stadt und eine Regierung durch das Volk, der Instabilität und9 die Gefahr, im Kampf der Parteien unterzugehen, bescheinigt0 wird: 1 2 „Wenn in der letzten und äußersten Demokratie (wie der3 athenischen) alle (an den politischen Entscheidungen) teilha-4 ben, ist nicht jeder Staat einer solchen Verfassung gewachsen;5 sie kann sich, außer wenn ihr Bestand durch Gesetze und ge-6 wohnheitsmäßige Haltungen gut gesichert ist, nicht leicht7 einer langen Dauer erfreuen“ (Pol. 1319b 2–5). 8 9 Über die Instabilität der drei Regierungsformen Monarchie,0 Aristokratie und Demokratie hatten bereits Platon, Aristoteles1 und andere geschrieben. Daran knüpfte im 2. Jahrhundert v.2 Chr. der griechische Historiker Polybios (ca. 200–118 v. Chr.) an3 und stellte diesen verfehlten Regierungsformen die Stabilität4 der sogenannten Mischverfassung gegenüber. Als solche ver-5 stand er die römische, die aus monarchischen, aristokratischen6 und demokratischen Elementen zusammengesetzt und damit7 von dem Prozess der Entartung, der die Einzelverfassungen zer-8 stört und den Kreislauf von der einen zur anderen in Gang hält,9 nicht betroffen sei. Am Anfang des Kreislaufs steht nach dieser0 Theorie die Alleinherrschaft, die Monarchie, am Ende die Pö-1 136
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1belherrschaft (griechisch: die Ochlokratie) und die Rückkehr zu 2einer Alleinherrschaft, die ihren revolutionären Ursprung im 3Verfall der Demokratie hat. Die Entartung der Demokratie be4ginne, so führt er aus, mit den Aktivitäten reicher Demagogen, 5die das Volk bestechen, um eine führende politische Stellung zu 6gewinnen. Diese gewöhnten das Volk daran, von fremdem Gut 7zu leben. Schließlich mache sich ein Demagoge, der aus der 8Schicht der Armen stamme, die so entstandene Situation zunut9ze und zettele eine Revolution an, die ihm als Sprungbrett zur 0Alleinherrschaft diene: 1 2 „Denn die Menge, die sich daran gewöhnt hat, sich von frem3 dem Gut zu nähren, und nur auf Kosten anderer meint leben 4 zu können, braucht nur einen Führer mit kühnen, hochflie5 genden Plänen, der wegen seiner Armut von den Ehrenstel6 len im Staat ausgeschlossen ist, zu finden, und schon ist die 7 Herrschaft der brutalen Gewalt da. Das Volk rottet sich zur 8 Vertreibung und zur Ermordung seiner Gegner und zur Neu9 verteilung des Landes zusammen und ruht nicht eher, bis die 0 verrohten Massen wieder einen Herrn, den Alleinherrscher, 1 gefunden haben“ (Pl. Hist. VI, 9,8 f.). 2 3Das war natürlich der Albtraum der Besitzenden, aber so, wie 4er geschildert wird, wurde er keine Wirklichkeit. Was nun 5Athen anbelangt, so stellte Polybios fest, dass die Athener in 6der Stunde der Gefahr zu großen Taten fähig waren – gedacht 7ist etwa an die Abwehr der Perser –, dass sie dann aber, wenn 8die Gefahr überwunden war, „mit ihrem Zwist untereinander 9und ihren Parteiungen für den Betrachter einen abscheulichen 0Anblick bieten“ (Plb. Hist. VI, 44,6). Und an anderer Stelle des 1Kapitels, in dem Polybios Athen aus der Zahl der vorbildlichen 137
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Verfassungsstaaten ausschließt, heißt es: „Das Volk von Athen1 gleicht von jeher mehr oder weniger einem Schiff ohne Kapi-2 tän“ (Hist. VI, 44,3). 3 Die athenische Demokratie war mehr als umstritten. Sie un-4 terlag einer Fundamentalkritik aus der Perspektive ihrer Feinde,5 Angehöriger der entmachteten alten Elite, die sich anstelle des6 Volkes zur Herrschaft im Staat berufen fühlte. Umsturzpläne7 wurden geschmiedet, Reformen vorgeschlagen und vonseiten8 philosophischer Theoretiker und Publizisten Idealstaatsmodel-9 le als Alternativen zur bestehenden Demokratie entworfen. Von0 Begeisterung für die Demokratie gibt es so gut wie keine Spur.1 Alles in allem war ein negatives Bild verbreitet; aber diese Ten-2 denz der Quellen macht es nicht überflüssig, nach der relativen3 Berechtigung der vorgetragenen Kritik zu fragen und darüber4 hinaus vom Standpunkt eines modernen Erfahrungshorizonts5 Vorzüge und Mängel der athenischen Demokratie ins Auge zu6 fassen. Dies soll in der folgenden Zwischenbilanz geschehen. 7 8 9 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 138
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1 2 3 4 5 then ist es nicht an der Wiege gesungen worden, dass es die 6 erste Demokratie der griechischen und damit ein Vorbild 7 8für die moderne westliche Welt werden würde. Schon von der 9Größe des Territoriums und der Bevölkerungszahl her war es 0eigentlich zu groß für eine Regierung durch die Volksversamm1lung. Die überwältigende Mehrheit des Volkes bestand aus 2Kleinbauern, Hirten, Handwerkern, Tagelöhnern, Fischern und 3Seefahrern, und sie alle hatten die Last einer Existenzsicherung 4durch harte Arbeit zu tragen. Um öffentliche Angelegenheiten 5konnten sie sich kaum oder gar nicht kümmern. Der öffentliche 6Raum war ohnehin von der kleinen Minderheit der adligen Her7ren besetzt. Sie führten als Amtsträger und als Mitglieder des 8Rates vom Areopag die laufenden Regierungsgeschäfte. Die 9Volksversammlung, die nur selten zusammentrat, war durch die 0Kämpfe adliger Clans um die Stadtherrschaft, die Tyrannis, oh1nehin aus dem Blickfeld gedrängt. Das änderte sich, als gegen 2Ende des 6. Jahrhunderts im Inneren der bewaffnete Kampf ad3liger Rivalen um die Stadtherrschaft durch Intervention Spartas 4beziehungsweise eines der beiden Könige und anderer auswär5tiger Gemeinden eine völlig neue Situation schuf. Damals ist es 6Kleisthenes, dem Führer der einen um den Besitz der Stadtherr7schaft kämpfenden Adelspartei, gelungen, das Volk politisch 8und militärisch zu mobilisieren und so die Oberhand über sei9nen Rivalen im Inneren zu gewinnen. Damit sind die Grundla0gen der Organisation des attischen Staates und der direkten De1mokratie gelegt worden. Die weitere Ausgestaltung geschah im
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Zusammenhang mit der Abwehr der Perser. Athen wurde eine1 maritime Großmacht, die Hauptstadt eines Seebundes zum2 Schutz der von persischer Herrschaft befreiten Griechen. Der3 Zwang zur Mobilisierung aller Ressourcen unter Teilnahme des4 Volkes blieb erhalten, und in diesem Zusammenhang geschah5 im 5. Jahrhundert der Ausbau der Demokratie. 6 Demokratie bedeutete Regierung durch das Volk, und zumin-7 dest nach Überzeugung der aus ihrer Führungsrolle verdrängten8 alten Elite wurde die Regierung einseitig zugunsten der besitz-9 losen Masse des Volkes ausgeübt; denn die finanziellen Lasten,0 welche das politische System und die maritime Großmachtpoli-1 tik verursachten, hatten die Wohlhabenden zu tragen. Die De-2 mokratie spaltete die Gesellschaft an der Bruchlinie zwischen3 Besitzenden und Besitzlosen, und dementsprechend sind die4 meisten Zeugnisse aus der Feder der Wohlhabenden mit Res-5 sentiments aufgeladen, wenngleich ihre Klagen von der einge-6 tretenen Situation her immerhin nachvollziehbar sind. Der7 zweite Riss, der die Gesellschaft spaltete, rührte von dem Ge-8 gensatz zwischen Stadt und Land her. Die Volksversammlung,9 die eigentliche Regierung, wurde in der Regel von den Bürgern0 aus der Stadt mit ihren Häfen und ihrem Umland dominiert.1 Eine Ausnahme war die Zeit des Peloponnesischen Krieges, als2 die Spartaner mit ihren Bundesgenossen das flache Land be-3 setzten, in der ersten Phase des Krieges im Sommerhalbjahr, in4 der zweiten ganzjährig. Damals drängte sich die evakuierte5 Landbevölkerung in dem Raum zusammen, der durch die Lan-6 gen Mauern geschützt war. Athen mit seinen Häfen war der Mo-7 tor der Differenzierung von Wirtschaft und Gesellschaft; das8 flache Land verharrte auf der älteren agrarisch geprägten Ent-9 wicklungsstufe, auf der die Orientierung an Handel und mariti-0 mer Großmachtpolitik eher gering war. Dies war der Grund,1 140
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1weshalb diese Verhältnisse bei Gegnern und Kritikern der direk2ten Demokratie als Alternative zur Herrschaft der Stadtbevölke3rung propagiert wurden. 4 Die athenische Demokratie war ein gut organisierter Staat, 5der eine umfangreiche Agenda öffentlicher Tätigkeiten zu be6wältigen hatte. Dies beweisen insbesondere die Inschriften und 7der systematische Teil des aristotelischen Staates der Athener. 8Die Regierung benötigte eine Administration, die ihre Beschlüs9se vorbereitete, kontrollierte und ausführte. Da es die moder0nen Verwaltungsberufe, Angestellte und Beamte, nicht gab und 1diese noch außerhalb jedes Vorstellungsvermögens lagen, blieb 2der athenischen Demokratie nur die Möglichkeit, das benötigte 3Personal aus der Bürgerschaft zu rekrutieren – unter der Voraus4setzung, dass Beanspruchung und Freistellung in ein erträgli5ches Verhältnis gebracht wurden. Das geschah durch ein System 6der Rotation, nach dem die Verpflichtungen mittels Auslosung 7zum Staatsdienst für jeweils ein Jahr vergeben wurden. Auf die8ses System bezog sich Aristoteles zufolge das Selbstverständnis 9der Demokratie, indem ihre Anhänger den Wechsel zwischen 0Belastung und Freistellung von staatlichen Aufgaben als Reali1sierung der Prinzipien begriffen, auf denen die Demokratie be2ruhte: Gleichheit und Freiheit. 3 Jedes Jahr wurden folgende Gremien durch das Los gebildet: 4der Rat der Fünfhundert, mehrere kollegial zusammengesetzte 5Kommissionen mit Verwaltungsaufgaben sowie die Liste der 66000 potenziellen Richter der Geschworenengerichte. In nur 7wenigen Fällen wurde das ältere System der Volkswahl beibe8halten. Die Beanspruchung und die Verantwortung waren un9terschiedlich verteilt. Am geringsten waren Zeitaufwand und 0Verantwortung, die auf die 6000 potenziellen Richter entfielen. 1Nur ein Bruchteil wurde jeweils für die einzelnen Verfahren aus141
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Erster Teil. Die antike Demokratie
gelost, die Entscheidungen, die sie trafen, waren endgültig und1 unterlagen keiner Rechenschaftspflicht. Anders war es bei den2 übrigen: Stark war die Belastung für die Mitglieder des Rates der3 Fünfhundert, noch stärker für die der zehn Prytanien: Sie waren4 das ganze Jahr zum Dienst verpflichtet; bei den Verwaltungskol-5 legien richtete sich die Belastung nach dem jeweiligen Hand-6 lungsbedarf. Abgesehen von den Geschworenenrichtern unter-7 lagen alle anderen einer ausgeklügelten Rechenschaftspflicht.8 Es gab eine Unzahl von Überprüfungen und Gerichtsverfahren,9 in denen entschieden wurde, ob die Amtsträger auf Zeit ihre0 Pflichten ordnungsgemäß erfüllt und sich keiner Unterschla-1 gungen öffentlicher Gelder oder Bestechungen schuldig ge-2 macht hatten. Die Gerichtsverfahren mussten größtenteils von3 privaten Anklägern in Gang gebracht werden, und deren Motive4 konnten sich als unlauter erweisen, wenn sie etwa darauf abziel-5 ten, einen persönlichen Feind oder politischen Konkurrenten zu6 Fall zu bringen. Solche Leute hießen Sykophanten, und sie hat-7 ten vielfach eine Gegenklage wegen falscher Anklage zu gewär-8 tigen. Nimmt man die zivilrechtlichen Verfahren hinzu, erschie-9 nen die Volksgerichte im 4. Jahrhundert geradezu als Ausdruck0 der Herrschaft des Volkes über alles und jeden: als Inbegriff der1 Demokratie. 2 In der Zeit des Ersten Weltkriegs schrieb ein klassischer Phi-3 lologe ein Buch mit dem Titel Aus einer alten Advokatenrepublik.4 Das war in polemischer Absicht gegen die neuen Advokatenre-5 publiken unter den damaligen Kriegsgegnern Deutschlands ge-6 richtet; aber man kann dem Verfasser darin nicht widerspre-7 chen, dass er von einem wirklichen Problem der athenischen8 Demokratie redete. Es herrschte in Athen das, was Max Weber9 „Kadijustiz“ nannte, es gab weder Juristen noch Jurisprudenz,0 und es bestanden trotz eines spät begonnenen Bemühens um1 142
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1eine Kodifizierung des geltenden Rechts die viel beklagten Män2gel an den gesetzlichen Grundlagen der Gerichtsbarkeit. Völlig 3zu Recht heißt es in Alfred Heuß’ Darstellung der athenischen 4Demokratie: „Auf diesem Auge (das auf die Berechenbarkeit 5des Rechts und der Gerichtsbarkeit gerichtet ist) war die attische 6Demokratie völlig blind.“ Dieses Milieu war der ideale Nährbo7den der sophistischen Rhetorik, deren Rabulistik die ungeschul8te Masse der Kläger und Ankläger, der Verteidiger und der Rich9ter wenig gewachsen war. Die Zahl der anhängigen Verfahren 0war in dieser „alten Advokatenrepublik“ so groß, dass sie in der 1Regel nicht in angemessener Zeit abgeschlossen werden konn2ten. Insgesamt löste die Herrschaft der Gerichte ein Unbehagen 3aus, das nicht auf die geschworenen Feinde der Demokratie be4schränkt war. 5 Ein mindestens ebenso starker Einwand gegen die Demokra6tie betraf die Ausrichtung der Politik auf Krieg und Herrschafts7bildung. Gewiss, diese Politik feierte große Erfolge und warf 8Gewinne ab, die der Masse der Bevölkerung in Athen zugute 9kamen. Der Preis, der dafür gezahlt werden musste, war freilich 0hoch: Unbeliebt war Athen nicht nur wegen seiner Demokratie, 1sondern auch wegen seiner Ausrichtung auf die Bildung und Er2weiterung der Herrschaft über griechische Gemeinden; ja selbst 3unbestreitbare Verdienste um die Abwehr der Perser galten in 4der griechischen Öffentlichkeit wenig oder nichts mehr. Diesem 5Staatszweck der Demokratie wurde von ihren Gegnern ein an6derer gegenübergestellt: die Erziehung der Bürger zu Tugend 7und Gerechtigkeit. Dieses Grundprinzip einer alternativen Poli8tik wurde von den Anhängern der alten Eliten propagiert – und 9durch sie selbst desavouiert, nachdem sie, durch äußere Um0stände begünstigt, zweimal an die Macht gelangt waren. Als 1dies nach dem Tod Alexanders des Großen (323 v. Chr.) noch 143
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einmal geschah, wurde das aktive Bürgerrecht auf Besitzende1 mit einem Mindestvermögen von 2000 Drachmen beschränkt.2 Dadurch verloren 12 000 von insgesamt 21 000 erwachsenen3 Bürgern ihre politischen Mitwirkungsrechte – ihre Zahl war im4 4. Jahrhundert, verursacht durch Kriege und die große Seuche5 des Jahres 430, erheblich niedriger als vor Ausbruch des Pelo-6 ponnesischen Krieges. Athen war im Jahre 322 nur noch dem7 Namen nach eine Demokratie, tatsächlich aber eine gemäßigte8 Oligarchie. 9 Es versteht sich von selbst, dass diejenigen, die mit List und0 Gewalt und von den Kriegsgegnern Athens unterstützt an die1 Macht gelangten und der Mehrheit ihren Willen aufzwangen,2 gar nicht in die Lage kamen, den auf Tugend und Gerechtigkeit3 basierenden Staat zu gründen, zumal die Oligarchen davon aus-4 gingen, dass diese Qualitäten ihnen schon aufgrund ihres Stan-5 des zu eigen waren. Aber da war Platon. Er teilte die Ablehnung6 der Demokratie und ihrer Politik; er trieb seinen Spott mit der7 Freiheit, die alle Demokraten als Richtschnur ihres Lebens be-8 trachteten, und er hielt nichts von einer Gleichheit, die Unglei-9 chen Gleiches zuteilte. Allerdings nahm er den alternativen0 Staatszweck, dem die Feinde der Demokratie Lippendienste1 spendeten, ernst: zuerst in seinem Frühdialog Gorgias durch2 eine Radikalisierung der moralischen Anforderungen an die Po-3 litik; dann in dem großen staatstheoretischen Hauptwerk, der4 Politeia, durch die Konstruktion eines Idealstaates der Gerech-5 tigkeit, in dem eine philosophische Elite, welche die höchste6 Stufe philosophischer Erkenntnis, die Schau der Idee des Guten,7 erreicht hat, die Regierungsgewalt ausübt; dann in seinem Al-8 terswerk, den Nomoi, in dem es im Sinne der Zeit um einen auf9 Gesetze und Erziehung gegründeten Staat mit agrarischer0 Grundlage als Alternative zur Demokratie geht. 1 144
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1 Schließlich Aristoteles: Er rückte neben der Analyse der vor2handenen Idealstaatskonzepte die Realitäten der politischen 3Welt in den Mittelpunkt seines Erkenntnisinteresses. Ihm ver4danken wir viele Einsichten, unter anderem die Klärung dessen, 5wie die Demokraten in Athen das Verhältnis von Gleichheit und 6Freiheit auffassten. Er selbst war wie sein Lehrer Platon ein de7zidierter Gegner der athenischen Demokratie. Er teilte die unter 8Oligarchen verbreitete Abneigung gegen die auf freiem Handel 9und Geldwirtschaft basierende Wirtschaftsform und die ihr ent0sprechende differenzierte Gesellschaft, und er ging so weit, dass 1er die Verfassung eines agrarisch fundierten vordemokratischen 2Staates zur ältesten und besten Demokratie erklärte. 3 Es bleibt die Frage, welche Haltung die Masse der einfachen 4Leute, die Mehrheit, zu diesem Staat einnahm. Zweifellos 5brachte die Demokratie ihnen Vorteile: Sie bildeten die Regie6rung und zogen auch materiellen Nutzen aus den geldwerten 7Leistungen der Reichen, der Bundesgenossen und des Staates; 8aber die Vorteile wurden durch Belastungen erkauft: Dies waren 9die Belastung mit Flotten- und Heeresdienst sowie mit der Ver0waltung des Staates in der oben beschriebenen Weise. Beruhte 1all das auf Zwang oder wurde es nach der Deutung von Christian 2Meier getragen von einem leidenschaftlichen Engagement der 3breiten Masse, die so – und nur auf dem Felde des Politischen – 4auf Augenhöhe mit dem Adel zu gelangen trachtete? 5 Wie die einfachen Leute dachten und empfanden, wissen wir 6meistens nicht. Aber es gibt Indizien, welche die vorsichtige 7Schlussfolgerung nahelegen, dass die Verhältnisse komplizier8ter lagen. Die Verpflichtung zu Flotten- und Heeresdienst löste, 9abgesehen von Momenten der Sieges- und Beuteeuphorie, 0schwerlich Begeisterung aus. Sie bedeutete Trennung von Fami1lie und gewohnten Lebensverhältnissen, und sie war mit hohen 145
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Erster Teil. Die antike Demokratie
Verlusten verbunden. Und was die routinemäßig vorgenomme-1 ne Auslosung eines Teils der Bürgerschaft zum Verwaltungs-2 dienst anbelangt, so barg dieser Aufgabenbereich das Risiko,3 bei den zahlreichen Überprüfungen der Amtstätigkeit zu Fall zu4 kommen, sowie die Gefahr, in Prozesse wegen Amtsvergehen5 und Bestechung verwickelt zu werden. Natürlich standen die6 einfachen Leute ebenso wie die Reichen und Angesehenen un-7 ter dem Druck der Erwartung, dass Leistungen für die Gemein-8 schaft erbracht wurden. Dass die sogenannten besseren Leute9 diesen Leistungen ebenso wie der Nötigung durch öffentliche0 Erwartungshaltung abgeneigt waren, ist gut bezeugt, für die an-1 deren wird Unterschiedliches gelten: Zwang und patriotische2 Einstellung werden auf der einen Seite eine Rolle gespielt ha-3 ben, auf der anderen standen die Verpflichtungen des privaten4 Lebensumfelds und die Gefahren, das Leben zu verlieren, durch5 Verwundungen schwerbehindert zu werden oder im Gefolge6 der Überprüfung von Amtstätigkeiten zu empfindlichen Strafen7 verurteilt zu werden. 8 Was nun gar die aktive Beteiligung an den Initiativen zu poli-9 tischen Entscheidungen oder zur Erhebung von Klagen und An-0 klagen angeht, so waren den Möglichkeiten einfacher Bürger,1 die nicht die Mittel besaßen, sich die notwendigen Reden von2 sophistischen Redekünstlern schreiben zu lassen, enge Grenzen3 gesetzt. 4 Die athenische Demokratie teilt mit der modernen gewisse5 Prinzipien wie Volkssouveränität oder Freiheit und Gleichheit6 (wenngleich dieses Begriffspaar damals etwas anderes bedeute-7 te als heute); im Übrigen taugt sie nicht, unnötig zu sagen, zum8 Vorbild gegenwärtiger repräsentativer Demokratien. Sie kannte9 weder Gewaltenteilung noch Repräsentativsystem, weder0 Rechtsstaatlichkeit noch Menschenrechte, weder einen juris-1 146
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1tisch ausgebildeten Richterstand noch ein Berufsbeamtentum 2zur Bewältigung administrativer Aufgaben. Jeder, der nicht die 3dafür erforderliche Ausbildung durchlaufen hat, würde sich 4heute weigern, sich für die Bewältigung von Aufgaben auslosen 5zu lassen, deren Komplexität er nicht im Entferntesten gewach6sen sein würde. Die athenische Demokratie war in der Bürger7schaft umstritten, und sie war der Nährboden für innere Ausei8nandersetzungen. Dies veranlasste, wie noch näher zu schildern 9sein wird, die Gründerväter der Vereinigten Staaten, anstelle 0einer Demokratie eine Republik zu gründen. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 147
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Volkssouveränität, Repräsentativsystem, Gewaltenteilung
1 2 3 4 5 6 7 8 ber das aus der Antike überlieferte Bild der athenischen 9 Demokratie im Zeitalter des Perikles heißt es im dritten 0 1Band der Propyläen-Weltgeschichte: 2 3 „Kein Historiker vermag den Perikleischen Staat von dem 4 Schicksal einer beängstigenden Zwielichtigkeit zu befreien. 5 Die Nachwelt hat ihm alles andere als ein eindeutig positives 6 Zeugnis ausgestellt. Die größten Geister der staatstheoreti7 schen Reflexion, Platon und Aristoteles, brachen den Stab 8 über ihn.“ 9 0Das Fazit stammt von Alfred Heuß. Was dort vom perikleischen 1Staat gesagt ist, kann – ungeachtet der Modifikationen der athe2nischen Verfassungen im 4. Jahrhundert – von der athenischen 3Demokratie schlechthin gesagt werden. Das Urteil der großen 4antiken Staatstheoretiker setzt, wie im vorangehenden Teil die5ses Buches gezeigt wurde, die prinzipielle Gegnerschaft der al6ten, aus der Herrschaft verdrängten Elite gegen die direkte De7mokratie voraus. An das aus der Antike überlieferte Bild der 8Demokratie aber knüpfte die Moderne mangels eigener Erfah9rung mit dieser Regierungsform an. Mit der bedeutenden Aus0nahme von Jean-Jacques Rousseau teilten Staatstheoretiker und 1Staatsmänner bis zum Ende des 18. Jahrhunderts und noch da-
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Zweiter Teil. Die moderne Demokratie
rüber hinaus das negative Urteil, das sie in der Überlieferung1 vorfanden. 2 Um mit einem der großen Staatstheoretiker des 17. Jahrhun-3 derts zu beginnen: John Locke (1632–1704) führte in seinen Two4 Treatises on Government von 1690 den Ursprung aller Staatsge-5 walt auf das Volk zurück. Darin ist er der Erbe einer Tradition,6 die bis auf die Antike zurückgeht. Zitiert sei beispielshalber die7 Staatsdefinition, die Cicero in De re publica, seinem Dialog vom8 Staat, zugrunde legt: 9 0 „Es ist also, sprach (Scipio) Africanus, der Staat die Sache des1 Volkes; Volk aber ist nicht jede beliebige Ansammlung von2 Menschen, sondern der gesellschaftliche Zusammenschluss,3 der auf der Gemeinschaft von Recht und Nutzen gegründet4 ist“ (Cic. De re publ. I, 25 (39)). 5 6 Unterschieden wurden die drei klassischen Regierungsformen7 Monarchie, Aristokratie und Demokratie. Diese überlieferten8 Elemente der Staatstheorie kehren bei John Locke in einem9 originellen Zusammenhang wieder. Er führt die jeweilige Re-0 gierungsform auf eine Entscheidung des Volkes zurück, die1 Regierungsgewalt einem König oder einer Aristokratie zu2 übertragen oder sich vorzubehalten. Den Wechsel von der ei-3 nen zur anderen Verfassung führt er nicht auf einen immanen-4 ten Prozess zurück, wie ihn die antike Theorie vom Kreislauf5 der Verfassungen annimmt. Vielmehr geht er davon aus, dass6 das Volk als Inhaber der obersten Entscheidungsgewalt, der7 Legislative, über die Zuteilung dieser Gewalt an einen König,8 eine Aristokratie oder an das Volk entscheidet und, wenn diese9 Regelung gegenstandslos geworden ist, neu darüber beschlie-0 ßen kann. Denn das Volk ist als originärer Inhaber der legisla-1 152
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1tiven Gewalt der eigentliche Träger der staatlichen Souveräni2tät: 3 4 „Wenn die Mehrheit die legislative Gewalt zuerst nur auf Le5 benszeit oder für eine begrenzte Zeit einer einzigen oder 6 mehreren Personen überträgt und die höchste Gewalt wieder 7 an sie zurückfällt, so kann die Gemeinschaft danach wieder 8 über sie verfügen und sie in beliebige Hände legen und so 9 eine neue Regierungsform schaffen. Denn die Form der Re0 gierung richtet sich nach der Zuteilung der höchsten Gewalt, 1 nämlich der Legislative.“ 2 3John Locke hält sich von der aus der Antike überlieferten Lehre 4vom Kreislauf der Verfassungen und ihrer angeblichen Gesetz5mäßigkeit völlig frei; er macht den Souverän, das Volk, vielmehr 6zum Herrn der freien Wahl, ob es die volle Regierungsgewalt 7selbst behalten oder auf einen oder mehrere übertragen will. 8 Wie im Einführungsteil bereits erwähnt wurde, haben römi9sche Juristen die Rechtssetzungsbefugnis des römischen Kaisers 0– das heißt seine legislative Befugnis – auf eine Entscheidung 1des römischen Volkes zurückgeführt, und eine entsprechende 2Vorstellung liegt zumindest symbolisch der Inthronisation eines 3neuen Kaisers oder Königs zugrunde, ob nun der Herrscher4wechsel in einer erblichen oder in einer Wahlmonarchie ge5schieht. Aber was ist das Volk im Mittelalter oder der Frühen 6Neuzeit? Nicht alle zur Bevölkerung zählenden erwachsenen 7Männer gehörten dazu; Unfreie und Leibeigene zählten nicht, 8ebenso wenig die Masse der arbeitenden Menschen mit prekä9rem Status und einem Einkommen am Existenzminimum – oder 0wie sich ein großer Staatstheoretiker des 18. Jahrhunderts, 1Charles de Montesquieu (1689–1755), ausdrückt: Ausgeschlos153
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Zweiter Teil. Die moderne Demokratie
sen sind „(alle,) die in einem solchen Elend leben, dass man ih-1 nen keinen eigenen Willen zutraut“. 2 Das Volk musste demnach durch seine Eliten vertreten wer-3 den, ob es sich nun um die privilegierten Stände des Adels, der4 Kirchenfürsten oder der städtischen Obrigkeiten handelte wie5 in den französischen Generalständen oder wie in England um6 die beiden im House of Lords und im House of Commons ver-7 tretenen Adelsklassen: die Aristocracy, bestehend aus den Fa-8 milienhäuptern des Hochadels und den Bischöfen, beide mit9 festem Sitz im Oberhaus, und die gewählten Abgeordneten des0 niederen Adels, der sogenannten Gentry. In den beiden großen1 Wahlmonarchien Europas, dem Doppelreich Polen-Litauen und2 dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, waren es3 höchst unterschiedlich zusammengesetzte Wahlgremien, in4 Polen-Litauen der Sejm, dessen überwältigende Mehrheit aus5 Vertretern der Szlachta, des Schwertadels, bestand – und im6 Heiligen Römischen Reich nach der Wahlordnung der Golde-7 nen Bulle des 14. Jahrhunderts die sieben beziehungsweise spä-8 ter die acht und schließlich die neun Kurfürsten. Dieses kleine9 Gremium ersetzte die älteren, schwer überschaubaren Wahlver-0 sammlungen, aber nicht den aus allen Landesherren und den1 Vertretern der Reichs- und der Freien Städte bestehenden2 Reichstag. 3 Die Vertretung des Volkes durch seine privilegierten Eliten4 war also die früheste Form der Repräsentativverfassung. Die5 privilegierten Stände vertraten im europäischen Ancien Régime6 das Volk gegenüber dem Inhaber der monarchischen Gewalt.7 Die Erhebung zusätzlicher Steuern und Leistungen, etwa in8 Kriegszeiten, sowie grundlegende Veränderungen der beste-9 henden Ordnung wie beispielsweise ein Wechsel der Herrscher-0 dynastie oder im Zeitalter der Reformation und der Religions-1 154
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1kriege die Änderung des religiösen Bekenntnisses und der 2Kirchenverfassung beruhten auf Einigungen zwischen Herr3schern und ständischen Vertretungen. Diese wurden im Be4darfsfall einberufen, sie tagten nicht ständig. Ein gutes Beispiel, 5das die Verhältnisse illustriert, bietet die ältere Geschichte 6Frankreichs. Während des sogenannten Hundertjährigen Krie7ges, als die Könige Englands mit den französischen um den Be8sitz der Krone Frankreichs kämpften, tagten die Generalstände 9neunmal und in der Epoche der Religionskriege des 16. Jahrhun0derts siebenmal, darunter zweimal in mehrjährigen Sitzungspe1rioden, die von 1576 bis 1577 und von 1588 bis 1589 dauerten. In 2Frankreich wurden die Generalstände im Zeitalter des von Lud3wig XIV. begründeten monarchischen Absolutismus nicht mehr 4einberufen, aber in anderen Reichen Europas wurden sie zu 5ständigen Einrichtungen: so im Heiligen Römischen Reich mit 6dem in Regensburg tagenden Immerwährenden Reichstag, in 7Polen mit dem Sejm oder in England mit dem Unterhaus nach 8der Glorious Revolution von 1689 (davon wird noch ausführli9cher die Rede sein). 0 In den modernen Demokratien unserer Zeit sind die Parla1mente wie die Ständeversammlungen des Ancien Régime Re2präsentationsorgane, die das Volk vertreten. Sie unterscheiden 3sich von ihren Ursprüngen nur darin, dass alle Männer und 4Frauen, die das Bürgerrecht besitzen, durch periodisch wieder5kehrende allgemeine und gleiche Wahlen die jeweiligen Reprä6sentanten des Volkes bestimmen. Aber bis es so weit war, ver7gingen mehrere Jahrhunderte. Selbst die im 18. Jahrhundert 8entstandenen ersten geschriebenen Verfassungen, die sich ge9wisser politischer Ideen der Aufklärung bedienten, waren keine 0Demokratien und sollten es nach dem Willen der Verfassungs1väter auch auf keinen Fall sein. Die Spuren, welche die Vorläufe155
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Zweiter Teil. Die moderne Demokratie
rin, die direkte Demokratie der Antike, in der Überlieferung1 hinterlassen hatte, schreckten von dieser Verfassung ab. 2 Aber es gab, als Ausnahme, radikale Verfechter des demo-3 kratischen Prinzips. Der bedeutendste war Jean-Jacques Rous-4 seau (1712–1768). In seinem 1762 erschienenen Buch Du cont-5 rat social ou Principes du droit politique von 1762 (Vom6 Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts) vertrat7 er die Überzeugung, dass das versammelte Volk als Träger der8 Souveränität und des Gemeinwillens, der volonté générale, sich9 nicht durch Repräsentanten vertreten lassen könne. Er selbst0 formuliert diesen Fundamentalsatz seiner politischen Theorie1 so: 2 3 „Die Souveränität kann aus dem gleichen Grund, aus dem sie4 nicht veräußert werden kann, auch nicht vertreten werden;5 sie besteht wesentlich im Gemeinwillen, und der Wille kann6 nicht vertreten werden: Er ist derselbe oder ein anderer. Die7 Abgeordneten des Volkes sind also weder seine Vertreter,8 noch können sie es sein, sie sind nur seine Beauftragten, sie9 können nicht endgültig beschließen. Jedes Gesetz, das das0 Volk nicht selbst beschlossen hat, ist nichtig; es ist überhaupt1 kein Gesetz.“ 2 3 Mit anderen Worten: Für Rousseau konnte es keine repräsenta-4 tive Demokratie geben, sondern nur die direkte der Antike, in5 der das versammelte Volk als Träger der Souveränität des Staa-6 tes in seiner Eigenschaft als Gesetzgeber und Regierung fun-7 giert. Das Volk kann wie in Athen Aufgaben delegieren, aber8 dann handelt es sich um ein imperatives Mandat, das den Beauf-9 tragten keinen eigenen Gestaltungsspielraum lässt. Rousseau0 ist im Recht, wenn er sich darauf beruft, dass der Antike Volks-1 156
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1vertretungen völlig unbekannt waren und eine Institution wie 2das englische Unterhaus ein Phänomen darstellt, das sich aus 3dem Ständewesen des Feudalzeitalters herleitet: 4 5 „Der Gedanke der Volksvertreter ist modern; wir haben ihn 6 aus dem Feudalzeitalter, dieser ungerechten und widersinni7 gen Regierungsform, in der die menschliche Art herabgewür8 digt und wo das Wort ‚Mensch‘ (im Original homme in der äl9 teren Bedeutung eines Menschen von niedrigem Stand) 0 entehrt ist.“ 1 2Von der Voraussetzung seiner Souveränitätslehre her ist es nur 3konsequent, wenn Rousseau das in England praktizierte Reprä4sentativsystem, in dem das aus periodisch wiederkehrenden 5Wahlen hervorgehende Unterhaus als Vertretung des Volkes 6gilt, und den darauf gegründeten Anspruch, dass England ein 7Land der Freiheit sei, zu bloßer Illusion erklärt: 8 9 „Das englische Volk glaubt frei zu sein, es täuscht sich gewal0 tig, es ist nur frei während der Wahl der Parlamentsmitglie1 der; sobald diese gewählt sind, ist es dies nicht. Bei dem Ge2 brauch, den es in den kurzen Augenblicken seiner Freiheit 3 macht, geschieht es ihm recht, dass es sie verliert.“ 4 5Rousseau definiert Demokratie als eine Herrschaftsform, in der 6das Volk Gesetzgeber ist und die von ihm gegebenen Gesetze 7anwendet, das heißt auch die Exekutivgewalt ausübt. Damit 8kam er dem Inbegriff der direkten Demokratie nach antikem 9Vorbild ganz nahe; aber er quälte sich geradezu mit dem Zwei0fel, ob es eine solche Demokratie jemals gegeben habe und ge1ben könne: „Nimmt man den Begriff (der Demokratie) in der 157
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Zweiter Teil. Die moderne Demokratie
ganzen Schärfe seiner Bedeutung, dann hat es niemals eine ech-1 te Demokratie gegeben.“ 2 Rousseau wendet unter Berufung auf Montesquieus Theorie3 der Gewaltenteilung gegen den Besitz der ungeteilten Gewalt in4 den Händen des Souveräns ein, dass es gut sei, wenn die gesetz-5 gebende und die vollziehende Gewalt getrennt sind. Seine Wor-6 te lauten: „Es ist weder gut, dass derjenige, der die Gesetze7 macht, sie ausführt, noch dass die Körperschaft des Volkes ihre8 Aufmerksamkeit von allgemeinen Gesichtspunkten ablenkt, um9 sie Einzelgegenständen zuzuwenden.“ Weitere Einwände sind:0 Das Mehrheitsprinzip widerstreite, wie er sich ausdrückt, der1 „natürlichen Ordnung“, wenn die Mehrzahl regiert und die2 Minderzahl der Fremdbestimmung durch diese unterliegt.3 Denn die natürliche Ordnung ist nach seiner Überzeugung die4 Einheitlichkeit des Volkswillens, die volonté générale. Eine direk-5 te Demokratie, heißt es in Übereinstimmung mit dem allgemei-6 nen Urteil, ist nur in einem kleinen Staat möglich, wo die Entfer-7 nungen der Wohnstätten zum Versammlungsplatz des Volkes8 gering sind. Das war, wie oben gezeigt wurde, schon ein Prob-9 lem in der athenischen Demokratie; in den modernen Großstaa-0 ten wäre eine solche Demokratie ein Ding der Unmöglichkeit.1 Auch könne man sich nicht vorstellen, dass das Volk ständig ver-2 sammelt bleibt, um zu regieren, und schließlich wird einge-3 wandt, dass das Volk keine Ausschüsse zu seiner Vertretung ein-4 setzen könne, ohne damit die Regierungsform zu ändern. Denn5 das Volk kann ja nach Rousseau nicht vertreten werden. 6 Mit der antiken Demokratiekritik teilt Rousseau den Vorbe-7 halt, dass eine Demokratie Einfachheit der Sitten und der Le-8 bensführung sowie Gleichheit des Besitzes voraussetze. Auch9 der andere aus der Antike bekannte Einwand gegen die Demo-0 kratie fehlt nicht: dass sie anfällig sei für Parteikämpfe, innere1 158
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1Unruhen und Bürgerkriege. Rousseaus Schlussfolgerung ist: 2„Wenn es ein Volk von Göttern gäbe, würde es sich demokra3tisch regieren. Eine so vollkommene Regierung passt für Men4schen nicht.“ Und an anderer Stelle ruft er aus: „‚Das versam5melte Volk!‘, wird man sagen, welches Hirngespinst!“ Aber 6Rousseau brachte es nicht fertig zu resignieren. Er suchte nach 7Widerlegungen der Einwände gegen die Möglichkeit einer De8mokratie – und wer sucht, der findet. 9 Er fand, was er suchte, in der fernen Vergangenheit, und wi0derrief auf der Stelle die Aussage, dass unter Menschen keine 1wirkliche Demokratie möglich sei: „Heute ist das (die Staats2form einer Demokratie) ein Hirngespinst, aber vor zweitausend 3Jahren war es keines.“ Als Beleg für diese Behauptung verweist 4er auf die Volksversammlungen der römischen Republik und be5schreibt deren Wirken so: 6 7 „(Das Volk) übte nicht nur seine Souveränitätsrechte (als Ge8 setzgeber), sondern auch zum Teil die der Regierung aus (das 9 heißt: es wendete die Gesetze auf Einzelgegenstände an) … 0 Dies ganze Volk war auf dem Forum genauso oft Obrigkeit 1 wie Bürger.“ 2 3Das ist freilich eine allzu positive Einschätzung. Die Volksver4sammlungen der späten Republik waren das Instrument der 5Magistrate, vor allem der Volkstribune, um deren politische Vor6haben durchzusetzen. Das Volk durfte deren Anträge ratifizie7ren, was es so gut wie immer tat, aber es konnte sie weder disku8tieren noch verändern. Zu den gesetzgebenden Versammlungen 9kamen Römer, die in Rom oder in der Nähe der Stadt lebten, 0und das waren keineswegs alle römischen Bürger. Zur Zeit der 1späten Republik erstreckte sich das römische Staatsgebiet auf 159
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die ganze italische Halbinsel. Viele der über Italien verstreuten1 römischen Bürger werden indessen wohl nie eine Volksver-2 sammlung im fernen Rom besucht haben. Weiterhin verweist3 Rousseau auf vorgeschichtliche Verhältnisse wie die in Tacitus’4 Germania beschriebenen Heeresversammlungen, deren Rolle5 freilich nicht der einer Volksversammlung in der direkten De-6 mokratie Athens entsprach. Rousseau hatte in diesem Punkt7 nicht das Urteil, das den Realitäten entsprach; seine unverdros-8 sene Schlussfolgerung lautete: 9 0 „Wie dem auch sei, diese eine unumstößliche Tatsache ist die1 Antwort auf alle Schwierigkeiten. Der Schluss vom Wirkli-2 chen (der Vergangenheit) auf das Mögliche (der Zukunft) er-3 scheint mir gut.“ 4 5 Doch Rousseau hatte das richtige Gefühl, dass die vielen Zwei-6 fel, die er an der Realisierungsmöglichkeit einer wahren Demo-7 kratie geäußert hatte, mit der Berufung auf eine den Römern8 und den Germanen zugeschriebene Demokratie nicht beseitigt9 waren. Er hielt daran fest, dass es dem Souverän nur dann mög-0 lich sein werde, seine Prärogativen auszuüben, wenn der Staat1 der Zukunft in einer Bundesorganisation (conféderation) als2 Ganzes groß und daher nach außen verteidigungsfähig sei und3 aus vielen einzelnen Gemeinden mit demokratischer Verfas-4 sung bestehe. Er beabsichtigte, dies in dem Teil seines Werkes5 zu behandeln, das diesen Bundesorganisationen gewidmet sein6 sollte, aber er ist dazu nicht mehr gekommen. Auf diesen Plan7 nimmt er lediglich in einer Schlussbemerkung Bezug. Sie lautet:8 9 „Dies zu tun hatte ich mir in der Fortsetzung dieses Werkes0 vorgenommen, sobald ich in der Abhandlung über die aus-1 160
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1 wärtigen Beziehungen bei den Bundesorganisationen ange2 langt wäre, ein ganz neuer Gegenstand, dessen Grundlagen 3 erst noch zu schaffen sind.“ 4 5Dieser neue Gegenstand überforderte ihn. In einer Anmerkung, 6die er der oben ausgeschriebenen Textstelle hinzufügte, heißt 7es: 8 9 „Nachdem die wahren Grundsätze des Staatsrechts aufge0 stellt sind und versucht wurde, dem Staat seine Grundlage zu 1 geben, wäre jetzt noch übrig, ihn durch seine auswärtigen Be2 ziehungen zu stützen, was die Menschenrechte, den Handel, 3 das Kriegs- und Eroberungsrecht, die Bündnisse, die Ver4 handlungen und Verträge etc. umfasste. Aber all dies bildet 5 einen neuen, für meinen beschränkten Gesichtskreis zu aus6 gedehnten Gegenstand; stets hätte ich meinen Blick auf das 7 mir Näherliegende richten sollen.“ 8 9Ein Menschenalter, nachdem er diese Sätze geschrieben hatte, 0hätten ihm die neu gegründeten Vereinigten Staaten mit dem 1Nebeneinander einer Bundesorganisation und der demokrati2schen Ordnungen in den Gemeinden der Neuenglandstaaten 3das Untersuchungsobjekt geboten, das im 19. Jahrhundert Ale4xis de Tocqueville zu seinem großen Werk De la démocratie en 5Amérique inspirierte. 6 Als Rousseau das Ideal der direkten Demokratie einer kriti7schen Überprüfung unterzog, verwertete er unter anderem die 8Lehre von der Gewaltenteilung, die Charles de Montesquieu in 9seinem Buch De l’esprit des lois (Vom Geist der Gesetze) fünf0zehn Jahre zuvor publiziert hatte. Heutzutage gelten die von 1Montesquieu entwickelten Prinzipien der Gewaltenteilung und 161
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der Repräsentativverfassung als Grundlagen eines modernen1 demokratischen Staates. Aber bei ihrem Urheber hatten die bei-2 den Prinzipien einen anderen Sinn, und Montesquieu hat kei-3 nen Zweifel daran gelassen, dass in seinen Augen die Gewalten-4 teilung und das Prinzip der Repräsentation mit der direkten5 Demokratie – damals die Form, in der sich die Demokratie6 schlechthin repräsentierte – nicht das Geringste zu tun hatten.7 Montesquieu hatte längere Zeit in England gelebt und war zu8 einem Bewunderer der ungeschriebenen Verfassung Englands9 geworden, sah er doch in der nach seiner Sicht dort herrschen-0 den Gewaltenteilung das Unterpfand der viel gerühmten engli-1 schen Freiheit (von der Rousseau, wie oben gezeigt wurde, gar2 nichts gehalten hat): 3 4 „Alles wäre verloren, wenn ein und derselbe Mann bezie-5 hungsweise die gleiche Körperschaft entweder der Mächtigs-6 ten oder der Adligen oder des Volkes folgende drei Machtvoll-7 kommenheiten ausübte: Gesetze erlassen, öffentliche8 Beschlüsse in die Tat umsetzen, Verbrechen und private9 Streitfälle aburteilen.“ 0 1 In England sah Montesquieu die Gefahr einer integralen Macht-2 vollkommenheit durch die dort bestehende Gewaltenteilung3 gebannt. Die Vertretung des Volkes im Parlament übte die Le-4 gislative aus, die Exekutive oblag der Krone, und unabhängige5 Richter sprachen im Namen des Königs Recht. Es kann hier auf6 sich beruhen, dass seine Sicht den Verhältnissen der sich zu sei-7 ner Zeit ausbildenden parlamentarischen Adelsherrschaft nicht8 ganz gerecht wird; verwiesen sei auf das nächste Kapitel, in dem9 das Nähere erläutert wird. Im vorliegenden Kontext ist nur die0 Feststellung wichtig, dass ihm die Demokratie als eine völlig1 162
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1verfehlte Verfassung galt. Die Quintessenz seiner Kritik fasste 2er in die Worte: 3 4 „Die Mehrzahl der antiken Republiken litt an einem schwe5 ren Gebrechen: Dort besaß das Volk das Recht, Beschlüsse, 6 die zugleich Vollzug verlangen, eigenmächtig zu fassen – wozu 7 das Volk vollkommen außerstande ist. Es darf nur durch die 8 Wahl der Repräsentanten an der Regierung mitwirken. So 9 weit reicht sein Horizont.“ 0 1Nur der kleine Kreis der gewählten Repräsentanten und nicht 2das Volk ist nach Montesquieus Urteil in der Lage, Gesetzesvor3haben vor der Beschlussfassung sorgfältig zu beraten. Auch un4ter diesem Gesichtspunkt wird die Herrschaft des Volkes in der 5direkten Demokratie als verfehlt verworfen: 6 7 „Die Repräsentanten sind in der Lage, die (zur Entscheidung 8 anstehenden) Angelegenheiten zu beraten. Das ist ihr großer 9 Vorteil. Das Volk ist dazu durchaus nicht geeignet. Das ist eine 0 der großen Gebrechen der Demokratie.“ 1 2Montesquieu war andererseits auch nicht blind für die Gefah3ren, die dem Gleichgewicht der drei Gewalten durch den exzes4siven Gebrauch der Gesetzgebung seitens der Repräsentanten 5des Volkes drohen. Es bedurfte gewisser Gegengewichte gegen 6die der legislativen Gewalt immanente Übermacht. In dieser 7Hinsicht darf Montesquieu als der Erfinder des Prinzips der 8checks and balances gelten, das noch heute in der Verfassung der 9Vereinigten Staaten eine wichtige Funktion erfüllt und auch, wie 0neuere Fälle zeigen, in der gegenwärtigen polnischen Verfas1sung eine Rolle spielt. Das von Montesquieu erfundene Gegen163
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mittel ist das Vetorecht des Inhabers der Exekutive – in den Ver-1 einigten Staaten und in Polen des Präsidenten – gegen2 Beschlüsse der Legislative: 3 4 „Wenn die exekutive Befugnis nicht das Recht besäße, die5 Unternehmungen der legislativen Körperschaft aufzuhalten,6 wäre diese letztere despotisch. Sie vermöchte sich alle er-7 denklichen Vollmachten selber zu verleihen und so alle ande-8 ren Befugnisse zunichte zu machen.“ 9 0 Das System von checks und balances dient auch dazu, die ständi-1 sche Sonderstellung der Aristocracy, deren Repräsentanten2 nicht gewählt, sondern nach dem Erstgeburtsrecht bestimmt3 werden, zu schützen. Montesquieu plädiert zur Erhaltung ihres4 besonderen Status für ein Vetorecht gegen Beschlüsse des Unter-5 hauses und einen eigenen Gerichtsstand zur Verhinderung einer6 gegen den Hochadel gerichteten Klassenjustiz. Anderenfalls7 wäre dieser dem Gesetzgebungsrecht des Unterhauses schutzlos8 ausgeliefert und könnte nicht verhindern, dass es Beschlüsse zur9 Beseitigung seiner Sonderstellung fasst; die ähnliche Begrün-0 dung für die Notwendigkeit, einen eigenen Gerichtsstand für1 den Hochadel beizubehalten, lautet, dass die Unterwerfung un-2 ter eine allgemeine Gerichtsbarkeit die Angehörigen dieses3 Standes der Despotie von Richtern eines anderen Standes unter-4 werfen würde. 5 Mit anderen Worten: Nach Montesquieus Vorstellungen dient6 das Repräsentationssystem der Vermeidung der Fehler, die der7 direkten Demokratie vorgeworfen wurden, dient die Lehre von8 der Gewaltenteilung der Begründung der Freiheit gegen die ab-9 solute Macht von Gewalthabern, die über die ungeteilte Staats-0 gewalt verfügen, mochte dies ein Monarch, eine Aristokratie1 164
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1oder eine Demokratie sein. Und das Vetorecht diente der Ver2hinderung von Übergriffen, die eine der drei Gewalten zur Än3derung der staatlichen oder gesellschaftlichen Ordnung nutzen 4könnte: Übergriffe der Legislative gegen die Stellung der Exeku5tive oder gegen den geschützten Status des höchsten Standes, 6des Hochadels. 7 Montesquieu zählte die Demokratie zu den despotischen 8Regierungsformen. Am schärfsten hat diese Verurteilung der 9Demokratie Immanuel Kant, wohl der größte philosophische 0Kopf des 18. Jahrhunderts, in seiner Altersschrift Zum ewigen 1Frieden. Ein philosophischer Entwurf von 1795 zum Ausdruck 2gebracht. Kant befürwortet darin vor dem Hintergrund der 3Kriege, die eine Koalition der europäischen Mächte gegen das 4revolutionäre Frankreich geführt hatte, eine Konföderation 5republikanisch-repräsentativ verfasster Staaten als Vorausset6zung eines dauernden Friedenszustandes. Kant hält fest, dass 7die entscheidende Rolle bei der Entstehung eines ewigen Frie8dens den Bürgern in Staaten mit republikanischer Regierungs9form zukomme, die anders als absolute Monarchen die Folgen 0eines Krieges für sich und ihre Angehörigen bedenken und aus 1wohlverstandenem Eigeninteresse wegen seiner schwerwie2genden Folgen keinen Krieg vom Zaune brechen würden. 3Demgegenüber heißt es von den Kriegen der absoluten Herr4scher: 5 6 „Da hingegen in einer Verfassung, wo der Untertan nicht 7 Staatsbürger, die also nicht republikanisch ist, es die unbe8 denklichste Sache von der Welt ist (einen Krieg vom Zaun zu 9 brechen), weil das Oberhaupt nicht Staatsgenosse, sondern 0 Staatseigentümer ist, an seinen Tafeln, Jagden, Lustschlös1 sern, Hoffesten u. dgl. nicht das mindeste einbüßt, diesen 165
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also wie eine Art von Lustpartie aus unbedeutenden Ursa-1 chen beschließen und der Anständigkeit wegen dem dazu al-2 lezeit fertigen diplomatischen Korps die Rechtfertigung des-3 selben gleichgültig überlassen kann.“ 4 5 Kant unterscheidet drei Staats- und zwei Regierungsformen.6 Die Staatsformen unterscheidet er, der Konvention folgend,7 nach den Personen, welche die oberste Staatsgewalt inneha-8 ben: einen Einzelnen, einige, die wie der Adel unter sich ver-9 bunden sind, und die Gesamtheit der bürgerlichen Gesell-0 schaft, also nach üblichem Sprachgebrauch Autokratie,1 Aristokratie und Demokratie. Als die beiden Formen der Regie-2 rung unterscheidet Kant zwischen Republikanism(us) und3 Despotism(us). Die erste setzt Gewaltenteilung zwischen Le-4 gislative und Exekutive voraus (denn diese ist, wie Montesqui-5 eu lehrte, das Unterpfand der Freiheit, also einer nichtdespoti-6 schen Regierung); die zweite liegt vor, wenn der Inhaber der7 vollen Staatsgewalt sowohl Gesetze gibt als auch die von ihm8 erlassenen Gesetze vollzieht. Kant rechnet deshalb die Demo-9 kratie – das ist für ihn wie für seine Vorgänger die aus der Antike0 überlieferte direkte Demokratie, eine repräsentative gab es ja1 nicht – zu den despotischen Regierungsformen, schlimmer2 noch: Er hält sie anders als eine Monarchie, ja, anders auch als3 selbst eine Aristokratie für nicht reformierbar im Sinne einer4 Annäherung an den Republikanism(us): 5 6 „Unter den drei Staatsformen ist die der Demokratie im ei-7 gentlichen Verstand des Wortes notwendig ein Despotism(us),8 weil sie eine exekutive Gewalt gründet, da alle über und allen-9 falls auch wider Einen (der also nicht mit einstimmt, mithin0 Alle, die doch nicht Alle sind) beschließen, welches ein Wi-1 166
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1 derspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit 2 der Freiheit ist.“ 3 4Die Voraussetzungen dieses harten Urteils sind von der Nutzan5wendung her, die Kant von den Theorien Rousseaus und Mon6tesquieus macht, ohne Weiteres verständlich: Der Gegensatz, 7der bei demokratischen Abstimmungen zwischen Mehrheit und 8Minderheit auftritt, ist ein Widerspruch zu Rousseaus Konzept 9der volonté générale, und das Fehlen einer Gewaltenteilung nach 0Montesquieu bedeutet die Vernichtung der Freiheit. 1 Ein weiterer Gesichtspunkt in der radikalen Kritik, der Kant 2die direkte Demokratie unterzieht, ist, dass sie nicht repräsenta3tiv ist. Er erklärt sie deshalb für eine Unform, weil der Urheber 4der Gesetze nicht ihr Vollstrecker sein dürfe, während ein König 5sich der republikanischen Regierungsform immerhin annähern 6könne – Kant zitiert in diesem Zusammenhang mit einigem Vor7behalt das bekannte Wort Friedrichs des Großen, er sei nicht der 8Herr, sondern nur der oberste Diener des Staates. In einer De9mokratie hingegen findet eine Tautologie statt: Das Volk, das 0abstimmt, ist der Staat, es ist nicht sein Repräsentant. Zu ändern 1wäre eine solche Verfassung, so Kant, nur durch einen revoluti2onären Umsturz. In diesem Sinne heißt es: 3 4 „Man kann daher sagen: Je kleiner das Personale der Staats5 gewalt (die Zahl der Herrscher), je größer dagegen die Re6 präsentation derselben, desto mehr stimmt die Staatsver7 fassung zur Möglichkeit des Republikanism(us), und sie 8 kann hoffen, durch allmähliche Reformen sich dazu endlich 9 zu erheben. Aus diesem Grunde ist es in der Aristokratie 0 schon schwerer als in der Monarchie, in der Demokratie 1 aber unmöglich, anders als durch gewaltsame Revolution 167
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zu dieser einzigen vollkommen rechtlichen Verfassung zu1 gelangen.“ 2 3 So endet die Übersicht über die großen staatsrechtlichen Ent-4 würfe der Staatstheorie mit einer Absage an die direkte Demo-5 kratie. Wie dies in den ersten geschriebenen Verfassungen im6 Zeitalter der Amerikanischen und Französischen Revolution7 nachwirkt, wird im übernächsten Kapitel gezeigt werden. Zu-8 nächst aber soll auf den englischen Parlamentarismus einge-9 gangen werden. 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 168
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1 2 3 4 5 6 ielfach ist davon die Rede, dass England und die Vereinig7 ten Staaten die ältesten Demokratien der westlichen Welt 8 9seien. Das gilt für England mit Sicherheit nicht. Das Land war 0die Mutter des Parlamentarismus. Dieser war im 18. und auch 1noch im größten Teil des 19. Jahrhunderts das Instrument der 2Adelsherrschaft. England war eine Monarchie mit einer nomi3nellen Volksvertretung in Gestalt des gewählten Unterhauses, 4aber praktisch wurden die Wahlen vom Adel in beiderlei Ge5stalt, Aristocracy und Gentry, Hochadel und Landadel, be6herrscht. Das Wahlrecht war an einen Zensus gebunden, der 7Arme und die Besitzlosen der arbeitenden Klassen ausschloss. 8Auch diejenigen Angehörigen des Hochadels, die als Ober9häupter ihrer Familien einen erblichen Sitz im Oberhaus inne0hatten, waren von den Wahlen zum Unterhaus ausgeschlos1sen, doch sie nahmen durch Bestechung und Protektion 2großen Einfluss auf die Zusammensetzung des Unterhauses, 3der sogenannten gewählten ‚Vertretung des Volkes‘. Es gab 4Mitglieder des Oberhauses, die auf den Wegen der Protektion 5und Bestechung eine Gefolgschaft von mehreren Unterhaus6abgeordneten zusammenbrachten. Nachgeborene Söhne der 7Aristocracy wurden zur Gentry, dem ‚niederen‘ Adel, gezählt 8und konnten somit in das Unterhaus gewählt werden. Um ein 9bekanntes Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit zu nen0nen: Winston Churchill, der englische Kriegspremier von 11940 bis 1945, war der nachgeborene Sohn eines Herzogs von
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Marlborough, der den ererbten Sitz der Familie im Oberhaus1 bekleidete. 2 Die Masse der Unterhausabgeordneten bestand aus Ab-3 kömmlingen des Hochadels und Angehörigen des Landadels,4 ergänzt um Vertreter des besitzenden Bürgertums der Städte.5 Diese Zusammensetzung veranlasste Heinrich von Treitschke,6 in seiner Deutschen Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert zu7 der bedauernden Feststellung, dass es in Deutschland keine8 derartige Institution gegeben habe, in der Adel und Bürgertum9 zusammenzuwirken lernten. Man muss sich in dieser Hinsicht0 freilich vor Illusionen hüten. Stadt und Land waren höchst un-1 terschiedlich im Unterhaus vertreten. Eine große Stadt wie2 Manchester, die im 18. Jahrhundert als eines der Zentren der3 Frühindustrialisierung ein enormes Bevölkerungswachstum er-4 lebte, war im Unterhaus überhaupt nicht vertreten, während5 viele heruntergekommene Städte, sogenannte rotten boroughs,6 trotz der im Laufe der Zeit erlittenen Bevölkerungseinbußen7 noch immer so viele Unterhaussitze zu vergeben hatten wie zu8 Zeiten ihrer größten Blüte. Eine Parlamentsreform war im9 18. Jahrhundert dringend geboten. Aber dazu kam es erst im Jahr0 1832. Zu sehr waren die alten Zustände der Garant dafür, dass1 alles beim Gewohnten blieb: dass Mächtige, König, Regierung2 und Aristokraten, Unterhaussitze vergeben konnten, wenn nicht3 mehr als eine zweistellige Zahl von Wählern bestochen werden4 musste, damit der präsentierte Kandidat auch gewählt wurde.5 Die Zahl der Wähler war nicht nur durch die Ungleichmäßigkeit6 eingeschränkt, mit der die Wahlbezirke über das Land verteilt7 waren, sondern auch durch die Vermögensanforderung, an die8 das Wahlrecht, von Ausnahmen abgesehen, geknüpft war. Man9 hat errechnet, dass vor der Parlamentsreform von 1832 von rund0 viereinhalb Millionen erwachsenen Männern nur etwa zehn1 170
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1Prozent, also 450 000 Personen, wählen durften. Diese Verhält2nisse boten der Krone, der Regierung und den hochadligen 3Sponsoren beste Möglichkeiten, die Zusammensetzung und die 4Abstimmungen des Unterhauses mit den Mitteln der Beste5chung und Protektion nach ihren Interessen und Vorstellungen 6zu beeinflussen. 7 Zur Illustration der Verhältnisse sei kurz auf die Lebensge8schichte eines berühmten Engländers des 18. Jahrhunderts, des 9Historikers Edward Gibbon (1737–1794), eingegangen. In seiner 0Autobiographie würdigte er die glücklichen Umstände seiner 1Herkunft wie folgt: 2 3 „Wenn ich das gewöhnliche Schicksal der Sterblichen be4 trachte, dann muss ich dankbar anerkennen, dass ich in der 5 Lotterie des Lebens ein großes Los gezogen habe. Im weitaus 6 größten Teil des Erdballs herrschen Barbarei und Unterdrü7 ckung, und in der zivilisierten Welt ist die große Menge zu 8 Unwissenheit und Armut verurteilt; der doppelte Glücksfall 9 meiner Geburt in einem freien und aufgeklärten Land wie in 0 eine angesehene und wohlhabende Familie ist die Chance 1 von eins zu Millionen.“ 2 3Ein Angehöriger der Gentry wie Gibbon hatte von Geburt alle 4Chancen, sich die höhere Bildung seiner Zeit anzueignen – die 5anders als er viele Standesgenossen höchst unzureichend nutz6ten – und wie selbstverständlich und ohne besondere Mühen 7auch Karriere in der Selbstverwaltung der Grafschaften und im 8Zentrum der Politik, dem Unterhaus, zu machen, ohne dass die9se öffentliche Rolle seinen Lebensmittelpunkt gebildet hätte. 0Stattdessen wurde er der berühmte Historiker des Verfalls und 1Untergangs des römischen Imperiums. Doch immerhin: In der 171
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Schlussphase des englisch-französischen Krieges um die Be-1 herrschung Nordamerikas diente er als Offizier unter seinem2 Vater, der zum Kommandeur der Miliz in der Grafschaft gewählt3 worden war, in der die Familie prominent und begütert war. Von4 militärischer Kompetenz konnte indessen weder beim Vater5 noch beim Sohn die Rede sein. Nicht zu Unrecht ist gesagt wor-6 den, dass die Gentry ihre führende Stellung nicht zuletzt der7 Rolle verdankte, die sie angesichts der nur schwach ausgebilde-8 ten staatlichen Administration in der lokalen Selbstverwaltung,9 und sei es in der Miliz, spielte. 0 Als Gibbon nach dem Tod seines Vaters mit dem hinterlas-1 senen Erbe in London einen großen Hausstand gegründet2 hatte, der es ihm ermöglichte, mit der intellektuellen und po-3 litischen Elite der Hauptstadt auf gleichem Fuß zu verkehren,4 konnte es nicht ausbleiben, dass er dank Protektion einen Sitz5 im Unterhaus erhielt. Er war nacheinander Abgeordneter von6 zwei kleinen Wahlbezirken. Doch obwohl er bekannte, durch7 die Mitgliedschaft im Parlament an Verständnis der Politik ge-8 wonnen zu haben, griff er kein einziges Mal in die Debatten9 ein. Linientreu unterstützte er den Premierminister Lord0 North, der in Absprache mit König Georg III. den Krieg zur1 Unterwerfung der abgefallenen Kolonien in Nordamerika2 (1776–1783) gegen den wachsenden Widerstand der Oppositi-3 on bis zum bitteren Ende der Niederlage führte, und wunsch-4 gemäß schrieb er im Auftrag der Regierung ein Memorandum,5 das im Oktober 1779 veröffentlicht wurde. Als Belohnung er-6 hielt er eine Sinekure im Board of Trade, die ihm die damals7 beträchtliche Summe von 750 Pfund im Jahr einbrachte. Aber8 damit war Schluss, als der Krieg in Amerika verloren war und9 Lord North als Premierminister zurücktreten musste. Im Jahr0 dieses politischen Umbruchs, 1783, zog sich Gibbon aus der1 172
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1Politik zurück, um sein historiographisches Projekt zu Ende zu 2führen. 3 England war also gewiss nicht die Mutter einer modernen De4mokratie, in der alle, die das Bürgerrecht besitzen, ob Männer 5oder Frauen, das Parlament als Vertretung des Volkes wählen 6beziehungsweise wählen können, aber es war die Mutter des 7Parlamentarismus, das heißt jenes Verfassungstyps, in dem die 8Regierung das Vertrauen des Parlaments besitzen muss und 9dementsprechend ihm verantwortlich ist. Die Mehrzahl der 0heutigen Demokratien gehört diesem Verfassungstyp an. Im 1England des 18. und auch noch des 19. Jahrhunderts war das ge2wählte Parlament das Machtzentrum einer Adelsherrschaft, die 3sich nur sehr allmählich um Angehörige der bürgerlichen Ober4schichten erweiterte. Da Fabrikunternehmern die Muße, die 5elementare Voraussetzung für eine aktive Teilnahme an der Po6litik, fehlte – Max Weber hat darauf in seiner Abhandlung Politik 7als Beruf hingewiesen –, wurde das Unterhaus in dem Prozess 8der vorsichtigen Öffnung für neue Schichten nicht gerade eine 9Domäne von Fabrikanten und Großunternehmern. Von dem im 0Zuge der Frühindustrialisierung entstehenden Unternehmer1tum ging kein besonderer Druck zugunsten der überfälligen 2Parlamentsreform aus. Aber es gab schon im 18. Jahrhundert 3Bemühungen um eine solche Reform. Ihre Befürworter reichten 4von einsichtigen Angehörigen der Aristokratie bis zu Anhängern 5einer radikalen Bewegung zugunsten einer Demokratisierung 6des Wahlrechts und Verbesserung der Lage der arbeitenden 7Klassen. Bezeichnend für die politische Orientierung des öffent8lichen Lebens am Unterhaus stand diese Institution im Mittel9punkt der Auseinandersetzungen der verschiedenen politischen 0Einstellungen, der konservativen, auf die Bewahrung des Beste1henden zielenden, der gemäßigt reformorientierten und der ra173
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dikalen, auf einen Systemwechsel dringenden Richtung. Die1 radikale Minderheit erwartete von einer Demokratisierung, das2 heißt der Ausweitung des Wahlrechts auf die bisher davon aus-3 geschlossenen Schichten, eine Verbesserung der elenden Lage4 der arbeitenden Klassen. Die neuen Demokraten galten den5 Herrschenden als eine Gefahr für die bestehende Ordnung, und6 sie wurden, als sich die Französische Revolution unter Robe-7 spierre zur Terrorherrschaft steigerte, geradezu gehasst. Der8 Dichter William Wordsworth (1771–1850) schrieb im Jahre 1794,9 noch bevor er von einem Anhänger zu einem Gegner der Revo-0 lution wurde: „Ich gehöre zu der verhassten Klasse von Men-1 schen, die man Demokraten nennt.“ Dies ist eines der Zeichen2 einer neuen Zeit, in welcher der Begriff der Demokratie aus der3 Bindung an das antike Verständnis des Wortes, direkte Herr-4 schaft des Volkes, gelöst und auf die Ausweitung der Wahlbe-5 rechtigten in einem System mit repräsentativer Volksvertretung6 bezogen erscheint. In der langen Zeit der Kriege gegen das revo-7 lutionäre Frankreich und gegen Napoleon waren dann zunächst8 einmal alle Pläne für eine Parlamentsreform blockiert. 9 Das änderte sich während der Wirtschaftskrise in den zwan-0 ziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Damals führte die Not der1 Unterschichten, vor allem der Industriearbeiter, zu Massende-2 monstrationen und heftigen Unruhen, die teilweise gewaltsam3 niedergeschlagen wurden. Unter diesem Eindruck wuchs auch4 in der herrschenden parlamentarischen Elite die Einsicht, dass5 eine Reform nötig sei, um das Schlimmste, die Revolution, zu6 verhindern. Selbstverständlich ging es in deren politischem7 Denken nicht um die Methode, die Giuseppe Tomasi di Lam-8 pedusa in seinem wunderbaren Roman über die Zeit des Risor-9 gimento auf Sizilien Tancredi, dem Neffen des Haupthelden, in0 den Mund legt, dass sich alles ändern müsse, damit alles beim1 174
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1Alten bleibe. Vielmehr ging es darum, dass sich nach Möglich2keit nur weniges ändern müsse, damit möglichst viel des Alten 3erhalten bleibe. Der damals prominente Historiker Thomas Ba4bington Macauley (1800–1859), ein in der Öffentlichkeit ein5flussreicher Befürworter notwendig erscheinender Reformen, 6gab die Losung aus: „Reform that you may preserve“, in freier 7Übersetzung: „Macht Reformen (so), dass ihr euch in eurer Stel8lung halten könnt.“ 9 Die Reformen begannen mit Gesetzen der Jahre 1828 und 01829, mit denen nicht der anglikanischen Hochkirche angehö1rende Protestanten und Katholiken die rechtliche Gleichstel2lung mit den Angehörigen der Hochkirche erhielten. Das hieß 3unter anderem, dass sie zum Universitätsstudium und zur Be4kleidung öffentlicher Ämter zugelassen waren. Welche Irritatio5nen Konversionen zum Katholizismus vor den Reformgesetzen 6auslösten, zeigt das Beispiel des in Oxford studierenden Edward 7Gibbon. Als der Vater von der Konversion seines Sohnes zum 8Katholizismus erfuhr, traf er Maßnahmen, die diesen veranlass9ten, die Konversion rückgängig zu machen und das Abendmahl 0wieder in beiderlei Gestalt zu nehmen. Sonst hätte dieser in 1England weder studieren noch Ämter bekleiden dürfen. Dann 2folgte im Jahr 1832 nach heftigen Auseinandersetzungen die 3Parlamentsreform. 4 Diese Reform betraf die Wahlkreiseinteilung und die Zulas5sung zur Wahl. Die Unterhauswahlen des vorangegangenen 6Jahres hatten noch einmal die bestehenden Missstände ins 7Licht gesetzt. In den 204 Wahlbezirken wurden 406 Abgeord8nete gewählt, davon 88 in 44 Wahlbezirken mit weniger als 50 9Wählern und 152 in 76 Bezirken mit weniger als 100 Wahlbe0rechtigten. Wie grotesk das Missverhältnis zwischen der Zahl 1der Wähler und der Zahl der Abgeordnetensitze in den soge175
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nannten rotten boroughs im Laufe der Jahrhunderte geworden1 war, möge das Beispiel von Old Sarum in der Grafschaft2 Wildshire demonstrieren. Der Ort war im Mittelalter eine be-3 deutende Gemeinde mit einer Vertretung von zwei Abgeordne-4 ten im Unterhaus gewesen, hatte aber seitdem an Bedeutung5 und Bevölkerungszahl stark verloren. Gleichwohl hatte das auf6 die Zahl der ihm zustehenden Unterhaussitze keine Auswir-7 kungen. So kam es, dass bei den Wahlen von 1831 in Old Sarum8 sage und schreibe elf Wähler zwei Abgeordnete in das Unter-9 haus entsandten. Da derartige Zustände, wie oben erwähnt,0 den Mächtigen erlaubten, Wahlen durch Bestechung und Pro-1 tektion zu manipulieren, versteht es sich leicht, dass von deren2 Seite der Parlamentsreform erbitterter Widerstand entgegen-3 gesetzt wurde. Dem Herzog von Newcastle wurde nachgesagt,4 dass er es fertiggebracht habe, sieben der boroughs in „seine5 Tasche“ zu bekommen. 6 Insgesamt wurden durch die Reform 56 rotten boroughs aufge-7 hoben und weiteren 30 nicht mehr zwei, sondern nur noch ein8 Unterhaussitz zugestanden. Statt der aufgehobenen Wahlbezir-9 ke wurden neue geschaffen: 19 Bezirke mit jeweils einem einzi-0 gen und 19 weitere mit zwei Abgeordnetensitzen. Unter ande-1 rem profitierten davon die Zentren der Frühindustrialisierung:2 Birmingham, Leeds und Manchester – das, worauf bereits hin-3 gewiesen wurde, bis dahin gar nicht im Unterhaus vertreten ge-4 wesen war, sondern seine Interessen durch Beauftragte wahr-5 nehmen lassen musste. Für sechs Grafschaften wurde die Zahl6 der Abgeordneten von zwei auf drei erhöht, und 26 Grafschaften7 wurden in zwei Wahlbezirke aufgeteilt, von denen jeder zwei8 Abgeordnete ins Unterhaus entsandte. Insgesamt erbrachte die9 Neuordnung, die alte Rechte aufhob oder beschnitt und neue0 schuf, eine stärkere Berücksichtigung des Nordens mit seinen1 176
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1industriellen Zentren auf Kosten der bislang überrepräsentier2ten südlichen Landesteile. 3 Die Neugliederung der Wahlbezirke bewirkte eine erhebliche 4Steigerung der Zahl der Wahlberechtigten, in abgerundeten 5Zahlen ausgedrückt von 440 000 auf 640 000 – oder in Prozen6ten der erwachsenen Männer in England berechnet: von 10,4 7auf 18,4 Prozent. Über die Zulassung oder Nichtzulassung zu 8den Unterhauswahlen entschied ein Zensus. Wählen durften 9diejenigen, die ein Haus besaßen oder gemietet hatten, das 0steuerlich auf mindestens zehn Pfund im Jahr (damals verhält1nismäßig viel Geld und nicht vergleichbar mit der heutigen 2Kaufkraft) veranschlagt war, und die Steuer selbst entrichteten. 3Aber es gab Verlierer der Neuordnung. Abgesehen von Gemein4den und Grafschaften waren dies Angehörige der Unterschich5ten, die nach alter Tradition ein Wahlrecht in manchen Gemein6den hatten. Sie verloren es aufgrund der Reform. Dies löste 7nicht nur bei den Betroffenen Empörung aus, sondern darüber 8hinaus bei jenen, die sich von der Parlamentsreform eine Aus9weitung des Wahlrechts auf breitere Schichten erhofft und darin 0die Voraussetzung dafür erblickt hatten, dass dem Elend der In1dustriearbeiter endlich abgeholfen werden könne. In England 2waren von der adligen Elite bis zu den arbeitenden Klassen po3litisch alle auf das Parlament fixiert, um ihre Interessen durch4zusetzen. 5 Die Radikalen waren von einer Reform enttäuscht, die sie 6nicht zu Unrecht als ein Mittel der Aristokratie betrachteten, sich 7ihre privilegierte Stellung durch einzelne Zugeständnisse im We8sentlichen zu erhalten. Von ihrer Seite ging in den dreißiger und 9vierziger Jahren die Bewegung der Chartisten aus, die eine De0mokratisierung des politischen Systems und eine grundlegende 1Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen forderten und 177
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dafür mit öffentlicher Agitation und teilweise gewalttätigen De-1 monstrationen kämpften. Diese Verknüpfung von politischen2 und sozialen Forderungen war eine Folge der Frühindustrialisie-3 rung in England. Damals schrieb Friedrich Engels in gesell-4 schaftskritischer Absicht sein grundlegendes Buch Die Lage der5 arbeitenden Klasse in England (Erstausgabe 1845). Die Chartisten6 reihten ihre Forderungen in den sechs Punkten der Gründungs-7 urkunde auf – daher der Name der Bewegung, abgeleitet von8 charter. Die politischen Forderungen waren: gleiche Größe der9 Wahlbezirke, allgemeines Wahlrecht, Diäten für Abgeordnete,0 Abschaffung der Vermögensqualifikation, geheime Wahlen, das1 hieß: Ersetzung der mündlichen Abstimmung, die es Grundher-2 ren und Vorgesetzten erlaubte, das Abstimmungsverhalten ab-3 hängiger Personen zu kontrollieren, durch die geheime Wahl in4 Schriftform, sowie die Verkürzung der Wahlperiode auf ein Jahr.5 Die sechs Punkte wurden am 18. Februar 1837 in einer Petition6 der Londoner Arbeiterassoziation publiziert und am 8. August7 des folgenden Jahres von einer Massenversammlung in Newhall8 zum offiziellen Programm der Bewegung erklärt. 9 Es gab andere Stimmen, die der Demokratie das Wort rede-0 ten. Eine der bekanntesten war Jeremy Bentham (1748–1832),1 einer der führenden Köpfe des philosophischen Utilitarismus.2 In seinem Todesjahr, in dem auch die Parlamentsreform verab-3 schiedet wurde, verfasste er in der von ihm mitbegründeten Zeit-4 schrift Westminster Review einen Artikel, in dem nach dem Urteil5 Heinrich von Treitschkes die wissenschaftlichen Formeln für6 die Weltanschauung des herannahenden demokratischen Zeit-7 alters propagiert wurden. In Treitschkes Wiedergabe lauten sie:8 9 „Wird der Staat erst demokratisiert, muss schließlich die0 Macht der Arbeit, der Bildung, der freien Rede den künstli-1 178
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1 chen, nur durch äußere Umstände bedingten Unterschied 2 zwischen den Personen, den Rassen, den Geschlechtern völ3 lig vernichten.“ 4 5Was das Schicksal der Chartisten anbelangt, so konnten sie kei6ne ihrer Forderungen durchsetzen. Eine Mischung von repressi7ver Gewalt und einzelnen Zugeständnissen der Regierung 8brachte ihrer Bewegung im Jahr 1854 das Ende. Dazu hatte vor 9allem die Aufhebung der hohen Kornzölle, die zum Vorteil der 0Landbesitzer und Nachteil der arbeitenden Bevölkerung erho1ben wurden, entscheidend beigetragen. Gegen den heftigen Wi2derstand der im Unterhaus mächtigen agrarischen Interessen3vertretung setzte Robert Peel als Premierminister im Jahr 1846 4die Beseitigung des hohen Schutzzolls durch und wurde nach 5Annahme seines Gesetzesantrags prompt gestürzt. Immerhin 6hatte er bewirkt, dass die Verbilligung des Brotes die Lebenshal7tungskosten der arbeitenden Klassen deutlich senkte. Ein ande8rer Konservativer, Lord Shaftesbury, war für die sozialen Nöte 9der Arbeiterschaft aufgeschlossen genug, dass er die Anfänge 0einer Sozialgesetzgebung durch Begrenzung der Arbeitszeit von 1Frauen und Kindern sowie Verbesserung der Arbeitsbedingun2gen im Kohlebergbau in Gang brachte. 3 England war bekanntlich keine Republik, sondern eine 4Mischverfassung aus Monarchie und Parlamentsherrschaft. 5Das heißt, dass die Krone als Inhaber der Exekutivgewalt durch 6die Macht des Parlaments eingehegt war und keine Rede von 7einer klaren Gewaltenteilung sein konnte, wie sie Montesquieu 8den politischen Verhältnissen Englands im 18. Jahrhundert 9entnommen hatte. Realistischer ist die Schilderung der engli0schen Verfassungswirklichkeit, die John Stuart Mill (1806– 11873) in seinen Considerations on Representative Government 179
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(Erstveröffentlichung 1861) gegeben hat. Seine Analyse der1 komplizierten Mischverfassung Englands lautet: 2 3 „Nach verfassungsmäßigem Recht kann die Krone jedem4 Parlamentsbeschluss ihre Zustimmung verweigern; sie kann5 gegen den Widerstand des Parlaments Minister ernennen6 und im Amt halten. Die in die Verfassung eingegangene Mo-7 ral des Landes macht die Befugnis jedoch dadurch zunichte,8 dass sie ihre Anwendung von vornherein verhindert, und9 durch ihren Anspruch, dass das Staatsoberhaupt faktisch im-0 mer vom Unterhaus ernannt sein sollte, wird diese Körper-1 schaft zur eigentlichen souveränen Staatsgewalt. Diese unge-2 schriebenen Regeln, die den Gebrauch gesetzlich verankerter3 Befugnisse einschränken, können nur dann wirksam werden4 und sich durchsetzen, wenn sie mit dem tatsächlichen politi-5 schen Kräfteverhältnis in Einklang stehen.“ 6 7 Dieses Kräfteverhältnis hatte sich infolge der Glorious Revoluti-8 on des Jahres 1689 eingestellt. Jenes Ereignis, das mit einem Dy-9 nastiewechsel verbunden war, beendete das Königtum der Stu-0 arts, deren Herrschaft, pauschal betrachtet, durch das Bemühen1 gekennzeichnet war, den Einfluss des Parlaments zurückzu-2 drängen und die Rückkehr des Landes zum Katholizismus zu3 begünstigen. Es ist hier nicht der Ort, die bewegte Geschichte4 Englands im 17. Jahrhundert nachzuzeichnen. Es genügt, daran5 zu erinnern, dass der Konflikt zwischen Königtum und Parla-6 ment sowie zwischen protestantischer Staatskirche und unter-7 drücktem Katholizismus auch mit Waffengewalt ausgetragen8 wurde und England nach der Hinrichtung Karls I. (1649) bis zur9 Restauration der Monarchie (1660) unter Cromwells Führung0 eine Republik wurde. Das endgültige Ende der Dynastie trat ein,1 180
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1nachdem der letzte Herrscher aus dem Hause Stuart, Jakob II., 2den vergeblichen Versuch unternommen hatte, nach dem Vor3bild Ludwigs XIV. auch in England einen monarchischen Abso4lutismus zu begründen und eine Rekatholisierung zu erreichen. 5Er scheiterte am Widerstand des Parlaments und an der Inter6vention des Generalstatthalters der Niederlande, Wilhelms III., 7aus dem Hause Oranien, der eine Tochter Jakobs II., des letzten 8Stuarts auf dem Thron Englands, geheiratet hatte. Unter dem 9Namen William III. und Mary I. wurden beide auf Parlaments0beschluss zu Königen gekrönt. Bei dieser Gelegenheit trat das 1Unterhaus besonders in Erscheinung, indem es den neuen Herr2schern den Eid abnahm, worin sie sich verpflichteten, in Über3einstimmung mit dem legislatorischen Willen des Parlaments 4zu regieren: „to govern the people of this kingdom of England … 5according to the statutes in parliament agreed on, and the laws 6and customs of the same“. 7 Auf der Grundlage dieser Selbstverpflichtung kam eine Ent8wicklung in Gang, die dazu führte, dass die Krone bei der Bil9dung ihrer Regierung dem Willen des Unterhauses folgte. Natür0lich gab es Zwischenstufen der Entwicklung, bis das Endergebnis 1erreicht war. Noch Georg III. aus dem Hause Hannover konnte 2mit Lord North seinen Kandidaten für das Amt des Premiermi3nisters an der Macht halten und den aussichtslosen Krieg gegen 4die dreizehn abgefallenen Kolonien sieben Jahre fortsetzen las5sen. Doch als der Widerstand gegen die lange verzögerte, im 6Parlament umkämpfte Parlamentsreform von 1832 gebrochen 7werden musste, war die Rolle König Wilhelms IV. darauf be8schränkt, dass er die erbittertsten Gegner der Reform in Privat9briefen aufforderte, der endgültigen Abstimmung im Oberhaus 0fernzubleiben, und so der Ratifikation der Reform Bill zum Sieg 1verhalf. Je länger, desto mehr wurde die königliche Gewalt in die 181
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Parlamentsherrschaft eingehegt, in das System king in parlia-1 ment, wie es im Englischen genannt worden ist. Zu der Frage,2 wie diese Einhegung der Inhaber der exekutiven Gewalt gelin-3 gen konnte, gab John Stuart Mill folgende Antwort: 4 5 „Verfassungsregeln werden eingehalten und funktionieren in6 der Praxis nur, solange sie im Rahmen der Verfassung derje-7 nigen Macht die Herrschaft sichern, die auch in der Verfas-8 sungswirklichkeit die stärkste ist. Diese Macht ist in England9 die Macht des Volkes.“ 0 1 Da kehrt die Berufung auf die Volkssouveränität zurück. De-2 ren reinster Ausdruck war die Demokratie, aber eine Demo-3 kratie war England noch längst nicht. Das vermittelnde Glied4 zwischen dem Prinzip der Volkssouveränität und einer vom5 Adel dominierten Parlamentsherrschaft war das Modell der6 Repräsentation des Volkes durch seine Elite. Das Prinzip der7 Repräsentation war der Schlüsselbegriff, der Vertretung des8 Volkes und Herrschaft der Elite als vereinbar zu denken er-9 laubt. 0 Was die Parlamentsreform von 1832 und ihre Wirkungen be-1 trifft, so stabilisierte sie auf der einen Seite die parlamentari-2 sche Adelsherrschaft; auf der anderen bewirkte sie aber auch,3 dass Forderungen des demokratischen Radikalismus in die4 Masse der Arbeiterschaft getragen wurden und zur Abwen-5 dung einer Revolution vom Parlament die ersten Ansätze zu6 sozialen Reformen zugunsten der arbeitenden Klassen in Gang7 gesetzt wurden. Immerhin: Die Anhänger der alten Ordnung8 hatten sich, aufs Ganze gesehen, behauptet, und ihre Erwar-9 tungen gingen dahin, dass weitere Reformen für lange Zeit un-0 nötig sein würden. Der gerade einmal dreißigjährige Macaulay1 182
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1schrieb 1832 an einen Freund, noch bevor das Reformgesetz 2verabschiedet war, dass eine weitere Reform hoffentlich erst in 3der Zeit ihrer Enkel notwendig werden würde. Die Hoffnung 4trog. Schon eine Generation später, im Jahr 1867, kam die 5nächste Reform. 6 7 8 9 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 183
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1 2 3 4 5 6 7 8 ie beiden ersten Verfassungen, die nach Ausbruch der9 Französischen Revolution in Europa entstanden, waren0 die polnische vom 3. Mai 1791 und die französische vom 11. Sep-1 tember 1791. Beide waren nach dem von Montesquieu entwor-2 fenen Modell der Gewaltenteilung konstruiert, aber ihr Hinter-3 grund und ihre Zielsetzung waren denkbar verschieden. In4 Polen-Litauen ging es darum, im Inneren die Blockierungen der5 Handlungsfähigkeit des Landes aufzuheben und nach außen6 die Unabhängigkeit beziehungsweise die territoriale Integrität7 des ausgedehnten Doppelreiches gegen seine mächtigen Nach-8 barn Russland, Preußen und Österreich wahren zu können. In9 Frankreich war die absolute Monarchie des Ancien Régime0 durch eine konstitutionelle zu ersetzen und die Macht der Exe-1 kutive durch die gesetzgebende Gewalt einer Nationalver-2 sammlung, der Vertretung einer von der Revolution geschaffe-3 nen freien und gleichen Bürgergesellschaft, zu begrenzen und4 einzuhegen. Davon konnte in Polen-Litauen nicht die Rede5 sein. Dort bekräftigte die Verfassung zwar die traditionelle Stel-6 lung des Adels als Vertretung des Volkes, aber sie sorgte zu-7 gleich dafür, dass die Macht des Adels nicht länger zur Blockie-8 rung der staatlichen Handlungsfähigkeit und zugunsten der9 Einflussnahme des Zarenreiches, des mächtigsten Nachbarn,0 missbraucht werden konnte. 1
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1 Beide Verfassungen sollen nacheinander in der Reihenfolge 2vorgestellt werden, in der sie verkündet wurden, also zuerst die 3polnische, dann die französische. Polen-Litauen wurde anstelle 4der traditionellen Wahlmonarchie zu einer erblichen erklärt. 5Die zukünftige Dynastie sollte aus dem Haus der sächsischen 6Kurfürsten stammen, das im 18. Jahrhundert bereits zweimal 7die gewählten Könige gestellt hatte. Der Sinn der Änderung liegt 8auf der Hand: Die Wahlmonarchie war die Einfallspforte für Be9stechung der Wähler und Einflussnahme durch Russland. Da0mit sollte Schluss sein. Der letzte gewählte König, Stanisław II. 1August aus dem Hause Poniatowski, war 1764 noch als Günst2ling der Zarin Katharina der Großen auf den polnischen Thron 3gelangt. Die wichtigste Reform, die Abschaffung des sogenann4ten liberum veto, hob das Einspruchsrecht jedes einzelnen Ver5treters der Szlachta, des Schwertadels, gegen Beschlüsse des 6Sejms, des Reichstags, auf und beseitigte damit die ständige 7Gefahr von Blockierungen dieses Gremiums. Hinzu kam das 8Verbot der Koalitionsbildung. Es galt den hochadligen Magna9ten, den Inhabern der großen Reichsämter, und nahm ihnen die 0Möglichkeit, sich mit Standesgenossen zusammenzuschließen, 1um partikulare Interessen gegen die des Gesamtstaates, unter 2Umständen auch mit Waffengewalt, durchzusetzen. Dass da3mals die schon früher angestrebten Reformen verabschiedet 4werden konnten, hängt nicht zuletzt mit der scheinbaren Gunst 5der außenpolitischen Konstellation zusammen. Zwischen 1787 6und 1791 führten Russland und Österreich einen Koalitionskrieg 7gegen das Osmanische Reich. Das Engagement beider Mächte 8auf dem Balkan und die zeitweilige Annäherung zwischen Preu9ßen und Polen, die sogar in ein, freilich kurzfristiges, Bündnis 0mündete, nährte bei den Reformern um König Stanisław II. Au1gust die Erwartung, ungestört von äußerer Einflussnahme das 185
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Reformprojekt durchzusetzen und den gordischen Knoten zu1 durchschlagen, der Polen in Fesseln hielt. Schon im Oktober2 1788 war im Vorfeld der Verfassungsreform eine massive Hee-3 resverstärkung beschlossen worden, um das Reich verteidi-4 gungsfähig gegenüber den Nachbarn zu machen. In der Präam-5 bel der Verfassungsurkunde wurden die Motive der Reform wie6 folgt dargelegt: 7 8 „Da wir überzeugt sind, dass unser aller gemeinschaftliches9 Schicksal einzig und allein von der Gründung und Vervoll-0 kommnung der Nationalverfassung abhängt und durch eine1 lange Erfahrung die verjährten Fehler unserer Regierungs-2 verfassung kennengelernt haben; da wir die Lage, worin sich3 Europa befindet, und den zu Ende eilenden Augenblick, der4 uns wieder zu uns selbst gebracht hat, zu benutzen wün-5 schen; da wir, frei von den schändenden Befehlen auswärti-6 ger Übermacht, die äußere Unabhängigkeit und innere Frei-7 heit der Nation, deren Schicksal uns anvertraut ist, höher8 schätzen als unser Leben …, so beschließen wir … gegenwär-9 tige Verfassung und erklären sie durchaus für heilig und un-0 verletzbar.“ 1 2 Stillschweigend hob die Verfassung die Sonderstellung Litau-3 ens auf und verwandelte so das Doppelreich in das einheitliche4 Königreich Polen. Das eigentliche Ziel der neuen, schriftlich5 niedergelegten Verfassung aber war die Sicherung der Hand-6 lungsfähigkeit des Staates und der äußeren Unabhängigkeit.7 Eine revolutionäre Veränderung der Gesellschaft wurde da-8 gegen, anders als in Frankreich, weder vorausgesetzt noch an-9 gestrebt. Dafür war in Polen die Zeit einfach noch nicht reif0 (obwohl in der Reformdiskussion auch radikale, von der Fran-1 186
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1zösischen Revolution inspirierte Stimmen gehört wurden). Die 2Nation bildete nicht die Gemeinschaft freier und gleicher Bür3ger, sondern wurde repräsentiert durch den Schwertadel der 4Szlachta, der, allerdings eine Ausnahme im europäischen Adel, 5weit verbreitet war und ungefähr 700 000 Köpfe umfasste. 6Deren führende Stellung wurde in der Verfassung eigens fest7geschrieben: 8 9 „Mit Hochachtung des Andenkens unserer Vorfahren, der 0 Stifter unseres freien Staates, garantieren wir dem Adelsstan1 de aufs Feierlichste alle seine Gerechtsamen, Freiheiten und 2 Prärogativen und den Vorrang im Privatleben und öffentli3 chen Leben.“ 4 5Ebenso wurde im ersten Artikel der Verfassung an der religiösen 6Tradition festgehalten. Der Katholizismus wurde zur Staatsreli7gion erklärt. Andersgläubigen Christen wurde zwar Duldung 8gewährt, aber der Abfall von der katholischen Staatsreligion 9sollte durch ein besonderes Gesetz unter Strafe gestellt wer0den. Über die Vertretung des Schwertadels, der Szlachta, in der 1Landbotenstube des Reichstags, die man von der englischen 2Analogie her als das polnische ‚Unterhaus‘ neben dem ‚Ober3haus‘ des aus Kirchenfürsten und Magnaten bestehenden Se4nats bezeichnen könnte, heißt es in der Präambel von Abschnitt 5VI der Verfassung, der betitelt ist „Der Reichstag oder die ge6setzgebende Gewalt“: 7 8 „Die Landbotenstube soll, als Repräsentant und Inbegriff der 9 Souveränität der Nation, das Heiligtum der Gesetzgebung 0 sein; daher soll auch zuerst in der Landbotenstube über alle 1 Projekte dezidiert werden.“ 187
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Um die passive Bestechlichkeit einzudämmen, die unter den1 zahlreichen Verarmten des Adels gang und gäbe war und deren2 Unabhängigkeit infrage stellte, wurde durch ein der Verfassung3 vorangehendes Gesetz, möglicherweise nach englischem und4 amerikanischem Vorbild, ein Zensus eingeführt. Diejenigen Ad-5 ligen, die unterhalb der Mindestanforderung blieben, büßten6 das Wahlrecht zur Landbotenstube ein. Angeblich verloren von7 den rund 700 000 Angehörigen des Standes schätzungsweise8 300 000 ihre politischen Rechte, das sind knapp 43 Prozent.9 Dieser Zensus wurde im Übrigen auch auf die Bürger der könig-0 lichen Städte wie beispielsweise Danzig ausgedehnt, denen eine1 Vertretung im Reichstag und ein auf städtische Angelegenhei-2 ten beschränktes Mitwirkungsrecht in der Landbotenstube zu-3 gestanden wurde. 4 Eine ähnliche Mischung traditioneller und neuer Elemente5 fand auch bei der Ausgestaltung der exekutiven Gewalt statt. Ihr6 Inhaber, der König, sollte die Regierungsgewalt zusammen mit7 einem Staatsrat ausüben, an dessen Spitze der Primas von Po-8 len, der ranghöchste Geistliche, stehen sollte. Das entsprach9 dem Herkommen. Eine Neuerung war, dass das moderne Res-0 sortprinzip Anwendung fand: Fünf Minister und zwei Staatsse-1 kretäre sollten zu Mitgliedern des Staatsrates ernannt werden.2 Besondere Aufmerksamkeit schenkte die Verfassung dem Zu-3 sammenwirken von Legislative und Exekutive. In der Verteilung4 der checks and balances war, so scheint es, den Einflussmöglich-5 keiten der gesetzgebenden Gewalt der Vorrang eingeräumt, wo-6 mit deren überlegener Gewalt Rechnung getragen war. Das Nä-7 here kann hier auf sich beruhen. 8 Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Die polnischen Ver-9 fassungsgeber verfolgten nicht das Ziel eines revolutionären0 Umsturzes der Gesellschaft, sondern wollten eine Stärkung der1 188
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1Staatsgewalt in der Absicht, die den inneren Zuständen des Lan2des geschuldete Handlungsunfähigkeit zu überwinden und den 3entsprechend reformierten Staat zur Selbstverteidigung nach 4außen zu befähigen. Die weiter gehenden, an dem Vorbild der 5Französischen Revolution orientierten Vorschläge, die eine klei6ne intellektuelle Minderheit in die Verfassungsdiskussion ein7brachte, hatten keine Chance der Realisierung. Das hinderte 8jedoch die Zarin Katharina, die überall das Gespenst der Revo9lution am Werk sah, nicht daran, im Zusammenwirken mit einer 0Adelskonföderation durch russische Truppen die Rücknahme 1der Verfassung zu erzwingen. Russland und Preußen einigten 2sich auf die zweite Teilung Polens, und nach der polnischen Re3aktion, dem Aufstand von 1794/95, wurde der Rest des Reiches 4aufgeteilt und die Eigenstaatlichkeit der polnischen Nation für 5die Dauer von 120 Jahren ausgelöscht. 6 Auch die französische Verfassung vom 11. September ist nach 7dem Schema der Gewaltenteilung organisiert. Aber der Zweck, 8der mit dieser Verfassung verfolgt wurde, ist ein ganz anderer 9als beim polnischen Gegenstück. Was festgeschrieben werden 0sollte, war die Machtverschiebung von der absoluten Monarchie 1des Ancien Régime zur Nationalversammlung, der Vertretung 2der freien und gleichen bürgerlichen Gesellschaft, die sich aller 3Privilegien der Geburt und des Standes entledigt hatte. Zu Be4ginn des Jahres 1789, am Vorabend des Zusammentritts der al5ten, nach Adel, Geistlichkeit und Bürgerstand gegliederten Ge6neralstände, hatte Emmanuel Joseph Sieyès (1748–1836) seinen 7berühmten Traktat zu der Frage „Was ist der dritte Stand?“ (Ori8ginaltitel: Qu’est-ce que le Tiers Etat?) mit drei Fragen und Ant9worten beginnen lassen: „1. Was ist der dritte Stand? Alles. 02. Was ist er bis jetzt in der politischen Ordnung gewesen? 1Nichts. 3. Was verlangt er? Etwas zu sein.“ 189
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Die Beantwortung der ersten Frage, mit der auf die Beschrei-1 bung der aktuellen Lage verwiesen wird, lautet zusammenge-2 fasst: Der dritte Stand umfasst alle Menschen, deren Tätigkei-3 ten die Existenz und das Gedeihen von Staat und Gesellschaft4 bewirken. Im Einzelnen unterscheidet der Autor die Arbeit des5 dritten Standes nach den drei Sektoren der Volkswirtschaft und6 zählt folgende Tätigkeiten auf: Urproduktion, das sind Acker-7 bau, Viehzucht und Bergbau, dann die Sekundärproduktion, das8 heißt die Verarbeitung und Veredlung der Urprodukte zum Ge-9 brauch der Konsumenten, und schließlich den Handel als In-0 strument der Güterverteilung, ferner das weite Feld der Dienst-1 leistungen, die als vierte Klasse zusammengefasst werden: „Die2 vierte Klasse umfasst die geachtetsten wissenschaftlichen und3 freien Berufe bis hinunter zu den am wenigsten geschätzten4 häuslichen Dienstleistungen.“ 5 Hinzu kommen die Funktionsträger in Staat und Religion: Ar-6 mee, Justiz, Verwaltung und Kirche. Insgesamt werden nach7 Sieyès’ Feststellung neunzehn Zwanzigstel dieser Arbeit von8 Angehörigen des dritten Standes geleistet. Trotzdem sind sie, so9 heißt es, von den Stellen, die Ehre und Gewinn bringen, ausge-0 schlossen; denn diese sind den Angehörigen der privilegierten1 Stände vorbehalten. Der Autor erklärt diese Privilegierung für2 ein Verbrechen am dritten Stand und nutzlos für Staat und Ge-3 sellschaft. Die logisch zwingende Schlussfolgerung ist die For-4 derung nach Beseitigung aller Privilegien: 5 6 „Es genügt hier der Hinweis, dass der angebliche Nutzen ei-7 nes privilegierten Standes nichts anderes als ein Hirngespinst8 ist; dass alles Mühsame, dass es in diesem Dienst gibt, durch9 den dritten Stand erledigt wird, und zwar ohne den privile-0 gierten Stand; dass die höheren Stellen unendlich viel besser1 190
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1 besetzt wären ohne ihn; dass sie naturgemäß die Bestimmung 2 und die Belohnung der anerkannten Begabungen und Diens3 te sein müssten; und dass, wenn es den Privilegierten gelun4 gen ist, alle Stellen, die Gewinn und Ehre bringen, an sich zu 5 reißen, dies zugleich eine hassenswerte Ungerechtigkeit ge6 gen die Allgemeinheit der Bürger und ein Verrat an der öffent7 lichen Sache ist.“ 8 9An die Stelle der Geburt in einen privilegierten Stand sollen also 0Talent und Verdienst treten, und alles wäre besser, so Sieyès, 1wenn die Vorrechte des Adels beseitigt wären. „Was wäre er (der 2dritte Stand) ohne den privilegierten Stand? Alles, aber ein frei3es und blühendes Alles. Nichts kann ohne ihn gehen; alles ginge 4besser ohne die anderen.“ 5 6Am 17. Juni 1789 war es erreicht. Auf Antrag des Abbé de Sieyès 7erklärten sich die Abgeordneten des dritten Standes zur Natio8nalversammlung; am 4. August regten die zur bürgerlichen Na9tionalversammlung übergetretenen Angehörigen des Adels und 0des Klerus an, an diesem denkwürdigen Tag zu beschließen, 1dass die Feudalrechte aufgehoben seien. Am 28. August kam die 2Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Im Jahr darauf 3wurde der Adel als Stand aufgehoben und fielen die Güter der 4Kirche an den Staat. Die Verfassung vom 6. September 1791 be5siegelte diesen Umsturz der alten Ordnung und verwandelte 6Frankreich in eine konstitutionelle Monarchie auf der Grundla7ge einer Gewaltenteilung zwischen König, Nationalversamm8lung und einem unabhängigen Richterstand. 9 In der Einleitung bekräftigte die Verfassung die Abschaffung 0aller Einrichtungen, die, wie es heißt, das Prinzip der Freiheit 1und Gleichheit verletzen, und zählt in „Titel I. Grundeinrichtun191
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gen, von der Verfassung verbürgt“ die ‚natürlichen‘, das heißt1 allgemein menschlichen, und die politischen Rechte der Bürger2 Frankreichs auf. Unter dem Begriff der Gleichheit werden alle3 Staatsbürger „zu allen Stellungen und Beamtungen ohne einen4 anderen Unterschied als den ihrer Tugenden und Talente“ zuge-5 lassen sowie die gleichmäßige Besteuerung unter Berücksichti-6 gung der Vermögensverhältnisse und die Bestrafung von Verbre-7 chen ohne Unterschied der Person verbürgt. Dann folgt die8 Aufzählung der die Freiheit begründenden und sichernden9 Rechte. Dazu gehören Freizügigkeit, Meinungsfreiheit, Religi-0 onsfreiheit, Versammlungsfreiheit und das Recht, unterzeichne-1 te – also nicht anonym gehaltene – Bittschriften an die Behörden2 zu richten. Die Garantie dieser Rechte hat folgenden Wortlaut: 3 4 „Die Verfassung verbürgt als natürliche und bürgerliche5 Rechte: 6 die Freiheit jedes Menschen, zu gehen, zu bleiben, zu reisen,7 ohne verhaftet oder gefangen gehalten zu werden als in den8 durch die Verfassung festgelegten Formen; 9 die Freiheit jedes Menschen, zu reden, zu schreiben, zu dru-0 cken und seine Gedanken zu veröffentlichen, ohne dass seine1 Schriften irgendeiner Zensur oder Aufsicht vor ihrer Veröf-2 fentlichung unterworfen sein dürfen, und den religiösen Kult3 auszuüben, dem er anhängt; 4 die Freiheit der Bürger, sich friedlich und ohne Waffen zu ver-5 sammeln in Übereinstimmung mit den Polizeigesetzen; 6 die Freiheit, an die errichteten Behörden persönlich unter-7 zeichnete Bittschriften zu richten.“ 8 9 Alle in Titel I aufgeführten Grundrechte werden ausdrücklich0 vor Beeinträchtigungen oder Hinderungen durch die gesetzge-1 192
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1bende Gewalt geschützt. Sie sind unveränderbar und dürfen 2nicht aufgehoben werden. Mit dieser Erklärung der Menschen3und Bürgerrechte ist die französische Verfassung von 1791 das 4Vorbild aller modernen europäischen Verfassungen geworden. 5Aber als die Grundrechte formuliert und unter den Schutz der 6Verfassung gestellt wurden, dachte niemand an Demokratie. 7Gleichheit bei der Ausübung des aktiven und passiven Wahl8rechts der Bürger zur Nationalversammlung war geradezu ver9pönt. Der Grund war, dass die Väter der Verfassung davon aus0gingen, dass die Bürger nicht gleich waren, was Tugend und 1Bildung anbelangt. Beides galt als Voraussetzung für ein be2gründetes Urteil über öffentliche Angelegenheiten und für die 3Fähigkeit, an der verantwortungsvollen Aufgabe der Gesetzge4bung mitzuarbeiten. Nach Beseitigung der ständischen Gliede5rung der Gesellschaft kam dafür nur die Schicht der Besitzen6den infrage. Denn erfahrungsgemäß besaßen deren Angehörige 7am ehesten Muße und diejenige Bildung, die sie zur Übersicht 8über die öffentlichen Angelegenheiten und zur verantwortli9chen Mitarbeit an der Gesetzgebung befähigte, während die 0einfachen Leute zur Arbeit verurteilt waren, um sich und die 1Angehörigen zu erhalten. Auch in Polen und England, zwei 2Staaten mit dominanter Adelsherrschaft, war gleichwohl zu3sätzlich zur privilegierten Geburt die Ausübung politischer 4Rechte an ein Mindestvermögen geknüpft. Aber nirgends war 5der Zensus – das Wort stammt von dem lateinischen census und 6bedeutet so viel wie Vermögensschätzung beziehungsweise 7Einordnung in eine bestimmte Vermögensklasse – so penibel 8geregelt wie im revolutionären Frankreich, wo der Adel als 9Stand und mit ihm das Feudalsystem abgeschafft waren. Das 0Zensuswahlrecht blieb bis ins 19. Jahrhundert und teilweise bis 1zum Ende des Ersten Weltkriegs das Mittel der Wahl, durch das 193
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die allgemeine bürgerliche Rechtsgleichheit mit der speziell po-1 litisch herausgehobenen Stellung der Besitzenden verbunden2 war. 3 Im Einzelnen war das Zensuswahlrecht in der französischen4 Verfassung von 1791 wie folgt geregelt: Die Wahl der Abgeord-5 neten zur Nationalversammlung geschah indirekt durch 45 0006 Wahlmänner. Von diesen repräsentierte jeder ungefähr hundert7 Aktivbürger, alle zusammen also viereinhalb Millionen Perso-8 nen, das war etwa ein Sechstel der damaligen Gesamtbevölke-9 rung Frankreichs. Ein Aktivbürger war derjenige, der „in irgend-0 einem Ort des Königreichs eine direkte Steuer zahlte, die1 wenigstens dem Wert von drei Arbeitstagen gleichkam, und2 darüber eine Quittung vorlegen konnte. Darüber hinaus durfte3 er nicht dem Stand der Bediensteten angehören, das heißt4 Lohndiener sein (diesen wurde unterstellt, von ihrer ‚Herr-5 schaft‘ abhängig zu sein), und die Wahlberechtigten mussten im6 Rathaus ihres Wohnsitzes in der Liste der Nationalgarde, der7 Miliz des Königreichs, eingetragen sein und den Bürgereid ge-8 leistet haben (Abschnitt II, Artikel 2 der Verfassung). 9 Weitaus höher waren die Anforderungen, die an die 45 000 Wahl-0 männer, die die Abgeordneten der Nationalversammlung wähl-1 ten, gestellt wurden. Sie gehörten zweifellos einer wohlhaben-2 den bürgerlichen Elite an. In Abschnitt II, Artikel 7 wird ihr Kreis3 so bestimmt: 4 5 „Keiner soll zum Wahlmann gewählt werden können, der6 nicht mit den notwendigen Bedingungen für das aktive Bür-7 gerrecht folgende verbindet: 8 in Städten über 6000 Einwohnern die, Besitzer oder Nutznie-9 ßer eines Grundstücks zu sein, das zur Steuerrolle mit einem0 Einkommen veranlagt ist, das dem örtlichen Wert von 200 Ar-1 194
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1 beitstagen gleichkommt, oder Mieter einer Wohnung zu sein, 2 die zur gleichen Rolle mit einem Einkommen, das dem Wert 3 von 750 Arbeitstagen gleichkommt, veranlagt ist; 4 in Städten unter 6000 Einwohnern die, Besitzer oder Nutz5 nießer eines Vermögens zu sein, das dem örtlichen Wert von 6 200 Arbeitstagen gleichkommt, oder Mieter einer Wohnung 7 zu sein, die zur gleichen Rolle mit einem Einkommen, das 8 dem Wert von 100 Arbeitstagen gleichkommt, veranlagt ist; 9 und auf dem Lande die, Besitzer oder Nutznießer eines Gutes 0 zu sein, das zur Steuerrolle mit einem Einkommen veranlagt 1 ist, das dem örtlichen Wert von 150 Arbeitstagen gleich2 kommt, oder Pächter oder Meier von Gütern zu sein, die zur 3 gleichen Rolle mit 400 Arbeitstagen veranlagt sind.“ 4 5Die gewählten Wahlmänner waren dazu ausersehen, die Abge6ordneten der Nationalversammlung zu wählen. Die Abgeordne7ten mussten Aktivbürger in dem oben genannten Sinn sein, un8terlagen aber im Übrigen keinerlei weiteren Vermögens- und 9Einkommensvorschriften. In Abschnitt III, Artikel 3 der Verfas0sung heißt es dazu: „Alle aktiven Bürger, gleich welchen Stan1des, Berufes oder welcher Steuerleistung, können zu Abgeord2neten der Nation gewählt werden.“ 3 Durch das indirekte Wahlsystem hatte die Verfassung dafür 4gesorgt, dass die Vermögenden, soweit sie den Mindestanforde5rungen an Besitz und Einkommen entsprachen, die Wahl der 6Abgeordneten in der Hand hatten. Die Nationalversammlung 7war die eigentliche Inhaberin der staatlichen Souveränität, nicht 8der König. Dieser unterlag zahlreichen Beschränkungen in der 9Ausübung der ihm zugesprochenen exekutiven Gewalt. Vor al0lem aber: Die Verfassung bestimmte, dass es in Frankreich keine 1Autorität gab, die über dem Gesetze stand: „Der König regiert 195
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nur durch dieses“ (Kapitel II, Abschnitt I, Artikel 3). Er war also1 das Werkzeug der gesetzgebenden Gewalt. Er hatte bei seiner2 Thronbesteigung „der Nation in Gegenwart der gesetzgeben-3 den Körperschaft den Eid zu leisten, der Nation und dem Geset-4 ze treu zu sein“ (Artikel 4). Das Recht, aus eigener Machtvoll-5 kommenheit einen Krieg zu erklären, war ihm entzogen, aber er6 besaß ein beschränktes Initiativrecht. Dazu heißt es in Kapitel7 III, Abschnitt 1, Artikel 2: „Der Krieg kann nur durch ein Dekret8 der gesetzgebenden Körperschaft, das auf förmlichen und not-9 wendigen Vorschlag des Königs erlassen und von ihm bestätigt0 wird, beschlossen werden.“ Dementsprechend hat die Kriegser-1 klärung des Königs folgenden Wortlaut: „Jede Kriegserklärung2 soll in dieser Form geschehen: ‚Vonseiten des Königs der Fran-3 zosen im Namen der Nation‘“ (Abschnitt III, Artikel 2). Der Kö-4 nig ist zudem durch die Verfassung gehalten, während eines5 Krieges einem etwaigen Ersuchen der Nationalversammlung6 nach Aufnahme von Friedensverhandlungen zu entsprechen.7 Weiterhin ordnet die Verfassung an, dass alle Verträge, die von8 der vollziehenden Gewalt ausgehandelt werden, erst nach ihrer9 Ratifikation durch die gesetzgebende Körperschaft in Kraft tre-0 ten. 1 Was dem König allerdings zugestanden wird, ist ein aufschie-2 bendes Veto gegen Beschlüsse der Nationalversammlung. Die-3 ses Zugeständnis beherzigt die von Montesquieu aufgestellte4 Mahnung, dass sonst die stärkere, die gesetzgebende Gewalt5 ihre Rechte zulasten der schwächeren, der vollziehenden, aus-6 weiten und so die Gewaltenteilung außer Kraft setzen könnte.7 Mit deren Eigenständigkeit war es in der französischen Verfas-8 sung von 1791 ohnehin nicht gut bestellt. Das ist anders in der9 einige Jahre vorher verabschiedeten amerikanischen Verfas-0 sung, in der das Gleichgewicht der Gewalten durch das vorbild-1 196
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1liche System der checks and balances besser austariert ist, und 2dazu gehört auch, dass in ihr das Vetorecht des Präsidenten nach 3Montesquieus Lehre bis zum heutigen Tag verankert ist. 4 Zusammenfassend soll festgehalten werden: Die ersten 5schriftlichen Verfassungen Europas, die polnische und die fran6zösische, beide konstitutionelle Monarchien, sind nach dem 7Prinzip der Gewaltenteilung konzipiert wie auch die der Verei8nigten Staaten, deren Präsident tatsächlich die Funktion eines 9republikanischen Monarchen ausübt. Aber das Gleichgewicht 0der Gewalten war durch das Übergewicht der Legislative, die 1von der Vertretung des Souveräns, also im Namen des Volkes, 2wahrgenommen wird, von vornherein mehr oder weniger pre3kär. Das gilt auch, wie oben im vorigen Kapitel dargelegt ist, für 4die parlamentarische Monarchie Englands zu Montesquieus 5Zeiten. Der König und ‚seine‘ Regierung waren vom Parlament 6abhängig, wie heutzutage Exekutive und Legislative in allen 7parlamentarischen Demokratien eng miteinander verwoben 8sind. Anders verhält es sich mit der Unabhängigkeit der Justiz. 9Diese ist in funktionierenden Demokratien tatsächlich eine un0abhängige Gewalt. Gleichwohl gilt das nicht für jedes Land, das 1sich Demokratie nennt: Neuere Fehlentwicklungen in der Tür2kei und Polen sprechen eine andere Sprache. 3 Die Französische Revolution hatte die Adelsprivilegien und 4die Feudalrechte beseitigt und dafür das freie und gleiche Bür5gerrecht aller Franzosen geschaffen. Dieser Paradigmenwech6sel zog die dem Erbe der Aufklärung verpflichtete Erklärung 7der Menschen- und Bürgerrechte als unabdingbare Normen 8der Verfassung nach sich und schuf damit das Vorbild für alle 9heutigen demokratischen Verfassungen. Was allerdings die 0Wahrnehmung der Vertretung des Volkes in den damaligen 1Repräsentativverfassungen anbelangt, so sind alle von einem 197
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allgemeinen und gleichen Wahlrecht für alle männlichen1 Staatsbürger (von den Frauen ganz zu schweigen) und damit2 von einer modernen Demokratie weit entfernt. Auf diesem3 Feld blieb es bei verschiedenen Formen der Vertretung des4 Volkes durch Eliten, den Adel oder die Bourgeoisie auf der5 Grundlage von Herkunft und Besitz. 6 7 8 9 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 198
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1 2 3 4 5 6 7 8 ie Verfassung der Vereinigten Staaten vom 17. September 9 1787 war die erste in der westlichen Welt, die in Schrift0 1form fixiert wurde. Wie die französische vom 6. September 1791 2ist sie revolutionären Ursprungs, aber die Revolution, der sie 3ihre Entstehung verdankt, war ganz anders verursacht als in 4Frankreich. In den dreizehn englischen Kolonien an der Ostküs5te Nordamerikas gab es anders als in Frankreich vor 1789 keinen 6Adel als Stand und keine Standesprivilegien, sondern hier 7herrschte die Rechtsgleichheit aller Bürger, schon damals bei 8großen Unterschieden von Besitz, Vermögen und Einkommen. 9Revolution bedeutete die Loslösung vom Mutterland, die Grün0dung eines Staatenbundes, der seine Unabhängigkeit in einem 1siebenjährigen Krieg gegen das Mutterland (1776–1783) mit 2französischer Unterstützung gewann, um sich dann von einem 3lockeren Staatenbund in einen Bundesstaat mit geschriebener 4Verfassung zu verwandeln. 5 Die Loslösung der Kolonien vom Mutterland bedurfte einer 6Begründung. Gegeben wurde sie in der Declaration of Indepen7dence, die am 4. Juli 1776 in Philadelphia von den Vertretern der 8Kolonien angenommen und publiziert wurde. Der 4. Juli wird 9noch heute als Nationalfeiertag in den Vereinigten Staaten be0gangen. Das Dokument, das im Wesentlichen aus der Feder von 1Thomas Jefferson (1743–1826) stammt, enthält eine lange Liste
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von Rechtsverstößen der englischen Krone, nicht zuletzt die1 Missachtung des in angelsächsischen Ländern geheiligten2 Grundsatzes, dass ohne Zustimmung der Betroffenen keine3 Steuern erhoben werden dürfen – das Londoner Parlament hat-4 te aus eigener Machtvollkommenheit den Amerikanern Steuern5 auferlegt, um die Schulden zu tilgen, die England im Krieg ge-6 gen Frankreich um den Besitz Nordamerikas während des euro-7 päischen Siebenjährigen Krieges aufgehäuft hatte. Die Präam-8 bel, die der Liste der englischen Rechtsverstöße vorangestellt9 ist, enthält das berühmte Manifest von Menschenrechten, deren0 Verletzung dem neu definierten Staatszweck zuwiderläuft und1 das Recht auf Sezession begründet. Jeffersons berühmte Worte2 lauten in deutscher Übersetzung: 3 4 „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich:5 dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ih-6 rem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten aus-7 gestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben8 nach Glück gehören; dass zur Sicherung dieser Rechte Regie-9 rungen unter den Menschen eingesetzt werden, die ihre0 rechtmäßigen Gewalten aus der Zustimmung der Regierten1 ableiten; dass, wenn immer irgendeine Regierung sich als2 diesen Zielen abträglich erweist, es das Recht des Volkes ist,3 sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung4 einzusetzen und diese auf solche Grundsätze aufzubauen5 und ihre Gewalten in der Form zu organisieren, wie es ihm6 zur Gewährleistung seiner Sicherheit und seines Glücks ge-7 boten erscheint.“ 8 9 Gewiss: Die Negersklaven, von denen es damals Hunderttau-0 sende gab, waren stillschweigend von den allen Menschen zu-1 200
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1stehenden Rechten ausgeschlossen. Sie waren zwar auch Men2schen, aber sie zählten nicht, weil sie das Eigentum ihrer Herren 3waren. Doch von diesem Geburtsfehler der Vereinigten Staaten 4einmal abgesehen war hier das Prinzip aufgestellt, dass der 5Zweck des Staates die Sicherung der Grundrechte der Menschen 6ist und nicht der Mensch dazu geschaffen ist, einem Staat unter7geordnet zu sein, der die Menschenrechte mit Füßen tritt. 8 Es versteht sich beinahe von selbst, dass Montesquieus Lehre 9von der Gewaltenteilung das Grundmuster der Verfassung bil0det, die der verfassungsgebende Kongress am 17. September 11787 verabschiedete und die dann einen langwierigen Ratifika2tionsprozess in den einzelnen Staaten durchlief, der erst im Jahr 3der Französischen Revolution zum Abschluss kam. Vielleicht 4die wichtigste Rechtfertigung der Verfassung bildet eine Arti5kelserie in Zeitungen, die 1787/88 in New York den Ratifikati6onsprozess begleitete und dann gesammelt unter dem Titel Fe7deralist Papers erschien (erstmals 1788 in zwei Bänden). Ihre drei 8Verfasser gehören zu den angesehensten Gründervätern der 9Vereinigten Staaten, und die Lektüre ihrer Artikel besticht noch 0immer durch ihr hohes sprachliches und inhaltliches Niveau. 1Ihre Namen sind Alexander Hamilton (1755–1804), John Jay 2(1745–1828) und James Madison (1751–1836). 3 Die Generation der Gründerväter nannte den neuen Bundes4staat, an dessen Spitze kein Monarch, sondern ein auf Zeit ge5wählter Präsident stand, nicht Demokratie, sondern Republik. 6Von der Demokratie – das war die aus der Antike bekannte Form 7der vom Volk ausgeübten Staatsgewalt – distanzierten sie sich 8ausdrücklich. Insbesondere James Madison, später der vierte 9Präsident des Landes (1809–1817), ist nicht müde geworden, 0den Lesern seiner Artikel den Unterschied zwischen einer repu1blikanischen und einer demokratischen Verfassung einzuschär201
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fen. Wie das überwältigende Gros aller Staatsdenker und ob-1 wohl selbst ein Verehrer der Demokratie wie Jean-Jacques2 Rousseau ging Madison von der ebenso richtigen wie banalen3 Einsicht aus, dass in einem ausgedehnten Territorialstaat wie4 den Vereinigten Staaten eine direkte Demokratie unmöglich5 praktiziert werden könne. Aber er blieb bei diesem Einwand6 nicht stehen, sondern lehnte die Demokratie als eine schlechte,7 der Republik unterlegene Regierungsform ab, weil sie, wie er8 den antiken Staatstheoretikern entnahm, früher oder später den9 unvermeidlichen Parteikämpfen anheimfallen werde und letzt-0 lich dem Untergang geweiht sei. Als Ursache betrachtete er, wie-1 derum von der Demokratiekritik der Antike angeregt, das de-2 mokratische Gleichheitsstreben, das notwendigerweise in3 inneren Auseinandersetzungen und im Umsturz der Verfassung4 enden werde. In den Federalist Papers Nr. 10 schrieb er: 5 6 „Die politischen Theoretiker, die sich zum Anwalt dieser Re-7 gierungsform gemacht haben, sind dem Irrtum erlegen, man8 könne die Menschheit durch die Gewährung völlig gleicher9 Rechte auch in Bezug auf Besitz, Anschauungen und Leiden-0 schaft vollkommen einander angleichen.“ 1 2 Den grundlegenden Unterschied zwischen Demokratie und Re-3 publik sieht Madison darin, dass in jener die gesamte Staatsge-4 walt von ihrem Souverän, dem Volk, ausgeübt wird, in dieser5 hingegen von den Repräsentanten des Volkes. Im Anschluss an6 den oben zitierten Text heißt es bei ihm: 7 8 „Eine Republik, also ein Repräsentativsystem, eröffnet ande-9 re Möglichkeiten und verspricht das gesuchte Heilmittel (für0 die Mängel der direkten Demokratie). Wenn wir untersucht1 202
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1 haben, worin sich die Republik von der reinen Demokratie 2 unterscheidet, werden wir sowohl das Wesen des Heilmittels 3 erkennen als auch die Wirksamkeit, die ihm aus der Union (so 4 nennt er die Vereinigung von Einzelstaaten zu einem Bundes5 staat) erwachsen muss. Die beiden großen Unterschiede zwi6 schen einer Demokratie und einer Republik sind erstens die 7 Übertragung der Regierungsverantwortung auf eine kleine 8 Zahl von Bürgern, die von den übrigen gewählt werden, und 9 zweitens die größere Zahl von Bürgern und das größere Ge0 biet, über das die republikanische Herrschaft ausgedehnt 1 werden kann.“ 2 3Gegen die Demokratie wendet Madison nach dem Vorbild Mon4tesquieus weiterhin ein, dass in den Massenversammlungen des 5Volkes keine geregelten Beratungen stattfinden könnten und 6eine solche Versammlung ständig der Gefahr ausgesetzt sei, de7magogischen Verführern anheimzufallen, sodass am Ende die 8Demokratie in die Tyrannis des skrupellosesten Volksverführers 9münden könne. Madison beschwört damit eine Gefahr, die ihm 0aus antiken Quellen, vornehmlich von Platon und Polybios, ver1mittelt wurde. In den Federalist Papers Nr. 48 lässt er sich so ver2nehmen: 3 4 „In einer Demokratie, in der eine Vielzahl von Menschen die 5 legislativen Funktionen in Person ausüben und durch ihr Un6 vermögen, geregelte Beratungen abzuhalten und Maßnah7 men aufeinander abzustimmen, fortwährend den ehrgeizge8 triebenen Intrigen ihrer Obrigkeit in der Exekutive ausgesetzt 9 sind, kann sehr wohl befürchtet werden, dass die Tyrannei in 0 irgendeiner sie begünstigenden Notsituation auch aus dieser 1 Richtung kommen könnte.“ 203
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Madison rechnete mit der Möglichkeit, dass in einer Demokra-1 tie, wie er sich ausdrückt, „Männer, getrieben von Parteiinteres-2 sen, lokalpatriotischen Vorurteilen oder schädlichen Absichten,3 mit unlauteren Mitteln Wählerstimmen gewinnen“ und dann4 „die Interessen des Volkes verraten“. Davor werden, so die Er-5 wartung, die Repräsentativverfassung einer Republik, eine6 durch moralische Tugend und politische Einsicht ausgezeichne-7 te Elite sowie die Größe der aus mehreren Staaten bestehenden8 Union der Vereinigten Staaten das Land bewahren. Dazu heißt9 es: 0 1 „Der Effekt des ersten Unterschieds (dass eine Republik, an-2 ders als eine Demokratie, auf einem Repräsentativsystem be-3 ruht) kann einerseits sein, dass die öffentliche Meinung diffe-4 renzierter und umfassender wird, weil sie das Medium einer5 ausgewählten Körperschaft von Bürgern passiert, deren Klug-6 heit die wahren Interessen des Landes am besten erkennen7 lässt und deren Patriotismus und Gerechtigkeitsliebe sie am8 wenigsten Gefahr laufen lässt, dieses Interesse kurzfristigen9 oder parteiischen Rücksichten zu opfern. So kann es gesche-0 hen, dass die Stimme des Volkes, wenn sie von seinen Vertre-1 tern erhoben wird, eher zum Wohl des Ganzen ertönt, als2 wenn das Volk selber spricht, das zu diesem Zweck zusam-3 mentritt.“ 4 5 Madisons Grundüberzeugung ist, dass nicht die Masse des Vol-6 kes, sondern am ehesten seine Elite in politischer Hinsicht qua-7 lifiziert ist, das Land „nach seinen wahren Interessen“ zu regie-8 ren, und er spricht die Erwartung aus, dass sich in einem großen9 Staat wie der Union der Vereinigten Staaten eine quantitativ0 zahlreichere und qualitativ auf höherem Niveau stehende Elite1 204
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1finden wird als in jedem der Einzelstaaten, aus denen die Union 2besteht: 3 4 „Daran zeigt sich ganz deutlich, dass derselbe Vorteil, den 5 eine Republik hinsichtlich der Möglichkeit, die Auswirkung 6 von Parteiungen zu kontrollieren, gegenüber einer Demokra7 tie hat, auch einer großen Republik gegenüber einer kleinen 8 zukommt – der Union zukommt gegenüber den Staaten, aus 9 denen sie sich zusammensetzt. Besteht dieser Vorteil darin, 0 Volksvertreter einsetzen zu können, deren aufgeklärte Sicht 1 und charakterliche Stärke sie über lokal bedingte Vorurteile 2 und ungerechte Vorhaben erhaben sein lässt? Es wird wohl 3 niemand bestreiten, dass die Volksvertreter innerhalb der 4 Union am ehesten die erforderlichen Qualitäten aufweisen 5 werden.“ 6 7Nicht nur James Madison, sondern auch seine Mitautoren der in 8den Federalist Papers gesammelten Artikel rechtfertigten das Be9streben der Verfassung, eine durch moralische und politische 0Tugend ausgezeichnete Elite durch Wahlen an die Spitze der 1neuen Republik zu bringen. Sie hatten für den neu gegründeten 2Bundesstaat das Leitbild vor Augen, dass Persönlichkeiten eines 3elitären Zuschnitts durch Wahlen in die Schlüsselstellungen der 4Republik und ihrer Teile, der Einzelstaaten, gebracht würden. 5Zu diesem Zweck sollte mithilfe eines Zensus, dessen Höhe die 6Einzelstaaten bestimmten und nicht der Bund, eine Vorauswahl 7derjenigen Bürger stattfinden, denen das aktive Wahlrecht zu8stand. Das Ideal war für einen der herausragenden Gründervä9ter, Thomas Jefferson, eine Republik von Landbesitzern, welche 0die Gewähr dafür bildeten, dass die Vertreter des Volkes und die 1Inhaber der Exekutivgewalt, der Präsident der Vereinigten Staa205
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ten und die Gouverneure der Einzelstaaten, Angehörige einer1 herausgehobenen Elite waren. 2 Ausdrücklich warnt Madison in den Federalist Papers Nr. 583 davor, die repräsentativen Versammlungen der gesetzgebenden4 Körperschaften durch große Abgeordnetenzahlen aufzublähen.5 Denn dies bedeute unweigerlich, dass die Zahl der Abgeordne-6 ten mit geringer Qualifikation steige und damit auch die Wir-7 kungsmöglichkeit von Demagogen, die mit den Mitteln der Be-8 redsamkeit schädliche Ziele verfolgten. Wieder wird auf das9 warnende, aus der antiken Überlieferung bekannte Bild verwie-0 sen, das die antike Demokratie bot: 1 2 „Nun sind es, wie man weiß, Charaktere dieser Art, auf die3 Eloquenz und Gewandtheit der wenigen mit aller Macht wir-4 ken. In den Republiken der Antike, in denen sich das ganze5 Volk in Person versammelte, hat man allgemein gesehen,6 dass ein einzelner Redner oder ein gewiefter Staatsmann mit7 der gleichen Machtvollkommenheit regierte, als wäre in seine8 Hände ein Szepter gelegt.“ 9 0 Madison meinte freilich, dass der Antike ansatzweise, in Gestalt1 gewählter Magistrate, Repräsentanten des Volkes nicht ganz un-2 bekannt gewesen seien, aber er betont den grundlegenden Un-3 terschied zwischen dem rudimentären Repräsentationssystem4 der Antike und dem voll ausgebildeten in der zur Ratifikation5 anstehenden Verfassung der Vereinigten Staaten. Seine Worte6 in den Federalist Papers Nr. 63 lauten: 7 8 „Der wahre Unterschied zwischen diesen (den politischen9 Verfassungen der Antike) und den amerikanischen Regie-0 rungssystemen (der Plural bezieht sich auf die Verfassungen1 206
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1 der Einzelstaaten und des Bundes) liegt darin, dass in den 2 letzteren das Volk in seiner Eigenschaft als Kollektiv von je3 dem Anteil an der Regierung ausgeschlossen ist, und nicht 4 darin, dass in den erstgenannten die Repräsentanten des Vol5 kes gänzlich von der Regierung ausgeschlossen waren.“ 6 7Gegen eine Ratifizierung der Bundesverfassung war einge8wandt worden, dass darin gegen das Prinzip der Gewaltentei9lung verstoßen werde und somit die Grundlagen der Freiheit 0infrage gestellt würden. Diese Kritik bezog sich auf das System 1der checks and balances, noch heute ein Ruhmestitel der ameri2kanischen Verfassung, und gab zu bedenken, dass nach dem 3Verfassungstext eine der drei Gewalten Zuständigkeiten der 4anderen an sich ziehen und so das die Freiheit verbürgende 5System der Gewaltenteilung aus dem Gleichgewicht bringen 6könnte. Madison setzt sich in einer Artikelserie, die in den Fe7deralist Papers Nr. 47–51 abgedruckt ist, mit dieser Kritik ausei8nander und widerlegt ihre Berechtigung. Dazu beruft er sich 9auf Montesquieu, das, wie er sagt, Orakel der Lehre, dass Le0gislative, Exekutive und Judikative im Interesse der Freiheit 1strikt voneinander getrennt sein müssten, der diese Lehre aber 2zugleich in Hinblick auf ihr notwendiges Zusammenspiel im 3Interesse des Ganzen modifiziert habe. Madison gibt zu be4denken, dass nach Montesquieus Beobachtungen zur engli5schen Verfassung, dem „Spiegel der Freiheit“, die Trennung 6der Gewalten nicht absolut sei, sondern in Hinblick auf ihr 7notwendiges Zusammenwirken abgewandelt werde. Dieser 8Gesichtspunkt wird in der Musterung der in den einzelnen 9Staaten der Union geltenden Verfassungen verfolgt und das 0Ergebnis dann mit den einschlägigen Bestimmungen der Bun1desverfassung verglichen. Unterm Strich ergibt sich, dass diese 207
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sowohl mit der Lehre Montesquieus als auch mit den in den1 Vereinigten Staaten geltenden Verfassungen der Einzelstaaten2 übereinstimmt. 3 Von den Einzelheiten der Argumentation kann hier abgese-4 hen werden – mit einer Ausnahme, die das Recht des Präsiden-5 ten betrifft, ein aufschiebendes Veto gegen Beschlüsse der legis-6 lativen Körperschaft einzulegen. In der Rechtfertigung dieses7 Vorbehalts zugunsten der exekutiven Gewalt schließt sich Ma-8 dison voll und ganz Montesquieu an, der sich zu der angeschnit-9 tenen Frage, wie oben zitiert, so geäußert hatte: 0 1 „Wenn die exekutive Befugnis nicht das Recht besäße, die2 Unternehmungen der legislativen Körperschaft aufzuhalten,3 wäre diese letztere despotisch. Sie vermöchte sich alle er-4 denklichen Vollmachten selber zu verleihen und so alle ande-5 ren Befugnisse zunichte zu machen.“ 6 7 Was den Präsidenten, den Inhaber der exekutiven Gewalt, an-8 belangt, so hat sich die Sorge um das moralische und intellektu-9 elle Niveau seiner Person, des mächtigsten Mannes im Staat0 und seit dem vorigen Jahrhundert in der Welt, in den von der1 Verfassung vorgesehenen Wahlbestimmungen besonders nie-2 dergeschlagen. Er sollte von den wahlberechtigten Bürgern3 nicht direkt wie die Repräsentanten des Volkes gewählt werden,4 sondern indirekt nach folgendem Verfahren: In jedem der drei-5 zehn Bundesstaaten wurden so viele Wahlmänner gewählt, wie6 der betreffende Staat Abgeordnete in Repräsentantenhaus und7 Senat entsenden durfte. Die Gewählten bestimmten dann zwei8 Vertreter für das Gremium, das den Präsidenten zu wählen hat-9 te – mit der Maßgabe, dass einer der beiden Gewählten aus ei-0 nem anderen Bundesstaat als dem entsendenden stammte. Den1 208
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1Sinn des Verfahrens hat John Jay in einem Artikel der Federalist 2Papers Nr. 64 so beschrieben: 3 4 „Da die ausgewählten Gremien für die Wahl des Präsidenten 5 sich im Allgemeinen ebenso wie die gesetzgebenden Körper6 schaften der Staaten, die Senatoren ernennen, aus den aufge7 klärtesten und respektabelsten Bürgern zusammensetzen 8 werden, besteht Grund zu der Annahme, dass sich ihre Auf9 merksamkeit und ihre Stimme auch nur auf Männer konzen0 trieren werden, die sich durch ihre Fähigkeiten und ihre Tu1 gend am meisten ausgezeichnet haben und denen zu 2 vertrauen das Volk gute Gründe hat. Die Verfassung bekundet 3 ganz besondere Aufmerksamkeit in Bezug auf diesen Punkt … 4 Die sich aus diesen Überlegungen mit natürlicher Notwen5 digkeit ergebende Schlussfolgerung ist, dass der Präsident 6 und die Senatoren, die auf diese Weise gewählt werden, im7 mer zu denen zählen werden, welche unsere nationalen Inte8 ressen – sei es in Bezug auf die einzelnen Staaten, sei es in 9 Beziehung auf fremde Nationen – am besten kennen, die am 0 besten dazu in der Lage sind, diese Interessen zu fördern, und 1 deren Ruf, integer zu sein, Vertrauen einflößt und auch ver2 dient.“ 3 4Das Wahlmännerverfahren hat sich bis heute erhalten, aber es 5lässt sich wohl nicht mehr behaupten, dass es aus den aufgeklär6testen und respektabelsten Bürgern besteht und die Wahl zum 7Präsidenten den trifft, der sich durch seine Tugenden und Fä8higkeiten am meisten ausgezeichnet hat. Die letzte Präsiden9tenwahl hat die Welt eines Schlechteren belehrt. Der amerikani0sche Schriftsteller Joshua Cohen hat zu der Wahl in einem 1Artikel, der in der Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen vom 11. 209
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November 2016 ins Deutsche übersetzt ist, den Wandel der Zeit1 auf den Punkt gebracht: 2 3 „Nach dem Bürgerkrieg (zwischen den Nord- und Südstaaten4 1861–1865) änderte sich das jedoch (die Wahl eines Präsiden-5 ten nach den in der Verfassung festgelegten Regeln), weil die6 Parteiapparate damit begannen, eigene Wahlmänner zu stel-7 len, die dann nicht mehr ihrem Gewissen verantwortlich wa-8 ren, sondern Vorgaben hatten – man erwartete von ihnen,9 nicht mehr ‚abzuwägen‘, so (Alexander) Hamiltons Begriff, sie0 hatten nur noch zu bestätigen. Sie besiegelten den Volkswil-1 len … Indem sie Trump wählten …, haben diejenigen Leute,2 denen die Gründerväter nie getraut hatten, ihre Revanche ge-3 nommen: Amerikas gebildete Elite ist überlistet …“ 4 5 Es mag sein, dass die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts6 entstehende Parteiendemokratie das Konzept der Gründervä-7 ter ruinierte. Die Gründerväter schufen eine großartige Verfas-8 sung, aber sie konnten den Geburtsfehler der neuen Republik,9 die Sklaverei und ihre Folgen, nicht heilen. Nicht nur, dass ihre0 Existenz in krassem Widerspruch zu den hochfliegenden Prin-1 zipien der in der Unabhängigkeitserklärung verkündeten Men-2 schenrechte stand; die Sklaverei brachte auch den einzelnen3 Wählern in den sklavenhaltenden Südstaaten einen Vorteil, der4 ihnen ein größeres Gewicht verschaffte als den Wählern im5 Norden der Union. Die Zahl der Sklaven in den betreffenden6 Staaten der Union wurde nämlich mit drei Fünfteln der Zahl7 der weißen Bevölkerung hinzugerechnet, und danach wurde8 die Zahl der Abgeordnetensitze auf der Grundlage der so er-9 rechneten Größe festgelegt. Was das bedeutete, kann am Bei-0 spiel des Staates Virginia, der Heimat von George Washington,1 210
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1Thomas Jefferson und vieler anderer, die die Frühphase der 2Vereinigten Staaten prägten, erläutert werden. Die Daten der 3Bevölkerungsstatistik aus dem Jahr 1782, die Thomas Jefferson 4in seinen Betrachtungen über den Staat Virginia mitteilt (Original5ausgabe 1785 unter dem Titel Notes on the State of Virginia), be6ziffern die Gesamtbevölkerung des Staates auf rund 570 000 Per7sonen, davon 300 000 Weiße und 270 000 Negersklaven. Von 8dieser letztgenannten Zahl gingen nach der besagten Regelung 9rund 160 000 in die Bezugsgröße zur Berechnung der Abgeord0netensitze ein, die Virginia zustanden. Die Wähler der Südstaa1ten entsandten also mehr Abgeordnete in die verschiedenen 2Parlamente, als ihrer Zahl entsprochen hätte. Sie waren somit 3gegenüber den Wählern der Nordstaaten, in denen es die Skla4verei nicht gab, begünstigt. 5 Die Quintessenz dieses Kapitels lässt sich folgendermaßen 6zusammenfassen: Die Verfassung der Vereinigten Staaten hat 7die junge Republik in geradezu klassischer Weise auf die Prinzi8pien des Repräsentativsystems und der Gewaltenteilung festge9legt. Diese Teilung ist durch die Zuweisung der Exekutive an 0einen gewählten Präsidenten, gewissermaßen einen republika1nischen Monarchen auf Zeit, viel klarer und konsequenter aus2gefallen als in der parlamentarischen Monarchie Englands oder 3in den heutigen parlamentarischen Demokratien. Beide Aspek4te der Lehre von der Gewaltenteilung, ihre Trennung und ihr 5durch checks and balances geregeltes Zusammenspiel, waren und 6sind in der Verfassungswirklichkeit vorbildlich realisiert. 7 Vorausgegangen war der Verabschiedung und Ratifizierung 8der Verfassung eine auf höchstem Niveau geführte Debatte über 9die Grundlagen, auf denen sie beruht. Als Demokratie hat sich 0der neue Staat nicht verstanden, sondern als Republik. Eine di1rekte Demokratie, wie sie die Antike gekannt hatte, wird aus211
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Zweiter Teil. Die moderne Demokratie
drücklich verworfen. Die neue Republik wurde auf ein Reprä-1 sentativsystem gegründet, in dem alle staatliche Gewalt von2 gewählten Vertretern des Volkes ausgeübt wurde. Auffallend ist3 die besondere Sorgfalt, mit der das Führungsproblem in einer4 Republik freier und rechtlich gleicher Bürger nicht nur erörtert,5 sondern auch unter Berücksichtigung der Zeitverhältnisse ge-6 löst wurde. Selbstverständlich kamen für die Führungsrolle, wie7 anderenorts auch, Leute aus der Masse des Volkes, die recht und8 schlecht von ihrer Hände Arbeit lebte und der die notwendige9 Muße und Bildung fehlten, nicht infrage. Die Elite, der die not-0 wendigen charakterlichen und intellektuellen Voraussetzungen1 zugetraut wurden, war sozusagen eine bürgerliche Aristokratie2 der Besitzenden und Gebildeten. 3 Von einer Demokratie im modernen Sinn war dieses aus dem4 18. Jahrhundert stammende Konzept der amerikanischen Ver-5 fassung noch sehr weit entfernt. Aber die Vereinigten Staaten6 sollten sich schneller als die Staaten Europas zu einer Demokra-7 tie mit allgemeinen und gleichen Wahlen weiterentwickeln.8 Davon wird im übernächsten Kapitel die Rede sein, nachdem9 zunächst als Kontrast ausgewählte Beispiele der Verfassungs-0 geschichte Deutschlands in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun-1 derts zur Sprache gekommen sind. 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 212
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Landständische Verfassungen und Repräsentativverfassungen in Deutschland
1 2 3 4 5 6 7 8 ieses Kapitel ist der Auseinandersetzung um die in der 9 Überschrift genannten Verfassungsmodelle und um eine 0 1Demokratisierung in der Zeit vom Wiener Kongress (1814/15) 2bis zum Ende des Deutschen Bundes gewidmet. Zunächst sei in 3wenigen Sätzen an die Ausgangslage erinnert. Auf dem Wiener 4Kongress versuchten die Siegermächte, die der Herrschaft Na5poleons ein Ende gesetzt hatten, zusammen mit dem besiegten 6Frankreich so weit wie möglich an die vorrevolutionäre Ord7nung anzuknüpfen. In Frankreich wurde die Monarchie der 8Bourbonen wiederhergestellt. In Deutschland aber erwies es 9sich als unmöglich, zu den territorialen Verhältnissen und zur 0Verfassung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1zurückzukehren. Der einzige Fürsprecher, der sich dafür auf 2dem Wiener Kongress einsetzte, der Vertreter des wiederherge3stellten Kirchenstaats, Kardinal Ercole Consalvi (1757–1824), 4stand auf verlorenem Posten. Es blieb in Deutschland, von der 5Vergrößerung Preußens auf Kosten Sachsens und seiner West6verschiebung an den Rhein abgesehen, im Wesentlichen bei der 7Erhaltung der von Napoleon geschaffenen Rheinbundstaaten. 8Was Polen angeht, so erlangte es trotz eines englischen Vorsto9ßes zu seiner Wiederherstellung weder die Unabhängigkeit 0noch die territoriale Einheit zurück. Die alten Teilungsmächte 1Russland, Preußen und Österreich einigten sich auf eine Neu-
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verteilung ihrer Beute aus der Zeit der Französischen Revoluti-1 on. 2 Auch in Hinblick auf Gesellschaft und staatliche Verfassung3 gelang die Restauration vorrevolutionärer Verhältnisse nur un-4 vollkommen. Das Erbe der Französischen Revolution, bürger-5 liche Rechtsgleichheit ohne Adel und Standesprivilegien und6 eine gesetzgebende Körperschaft, die als Vertretung der einen7 und unteilbaren Nation konzipiert war, wirkte als Leitbild über8 die Grenzen Frankreichs hinaus. Auch der restaurierten Mon-9 archie der Bourbonen war es dort nicht mehr möglich, an die0 vorrevolutionären Verhältnisse anzuknüpfen. Was Deutsch-1 land anbelangt, so wurden Erwartungen, die auf staatliche2 Einheit über der Vielheit der Länder gerichtet waren, ebenso3 enttäuscht wie die auf Repräsentativverfassungen als Vertre-4 tungen des gesamten Volkes. Die Frage nach einer Verfassung5 Deutschlands und seiner Einzelstaaten war immerhin aufge-6 worfen. Die öffentliche Meinung geriet nach Aussage von7 Heinrich Treitschke im ersten Band seiner Deutschen Geschich-8 te im Neunzehnten Jahrhundert bereits in den Bann der Vorstel-9 lung, Verfassung und Repräsentativsystem seien gleichbedeu-0 tende Begriffe. 1 Anders als in Frankreich gab es in Deutschland weiterhin2 den Adel als privilegierten Stand. Genau genommen bestand3 er aus zwei Klassen, zum einen dem landsässigen Adel in den4 landesherrschaftlichen Gebieten des Alten Reiches und zum5 anderen den sogenannten Standesherren, das heißt den Ange-6 hörigen der Familien, die ihre Herrschaftsrechte an die von7 Napoleon dominierten Rheinbundstaaten verloren hatten und8 sie anders als Kurhessen auf dem Wiener Kongress nicht wie-9 dergewinnen konnten. Immerhin garantierte diesen die Ver-0 fassung des Deutschen Bundes, des Zusammenschlusses der1 214
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1deutschen Staaten zu einem lockeren Staatenbund, in Artikel 214 der Bundesakte besondere Vorrechte; und in Hinblick auf 3die künftigen Verfassungen der Einzelstaaten stipulierte der 4Artikel 13 der Bundesakte: „In allen Bundesstaaten wird eine 5landständische Verfassung stattfinden.“ Die ebenso knappe 6wie auslegungsbedürftige Bestimmung konnte in dem Sinn ge7deutet werden, dass in den Landtagen wie in vorrevolutionärer 8Zeit die Stände und nicht das Volk gleicher Bürger vertreten 9sein sollten. Dies war die Interpretation, die der österreichi0sche Staatskanzler Fürst Metternich auf der Karlsbader Konfe1renz des Jahres 1821 für verbindlich erklären lassen wollte. 2Dabei stützte er sich auf das Gutachten, das sein treuer Ge3folgsmann, der Publizist Friedrich von Gentz (1764–1832), un4ter dem Titel Über den Unterschied zwischen den landständi5schen und Repräsentativ-Verfassungen im Jahre 1819 erstellt 6hatte. Darin vertrat er die These, dass „die ehemaligen deut7schen Landstände auf dem von Gott selbst (sic!) gestifteten 8Standes- und Rechtsunterschieden beruhten, das fremdländi9sche Repräsentativsystem dagegen auf dem revolutionären 0Wahn der Volkssouveränität und der allgemeinen Rechts1gleichheit“. 2 Die ersten Verfassungen, die seit 1815 gemäß Artikel 13 der 3Bundesverfassung entstanden, die des kleinen thüringischen 4Großherzogtums Sachsen-Weimar und der süddeutschen Staa5ten Baden, Bayern, Württemberg und Hessen-Darmstadt, hat6ten die von Gentz und Metternich nachträglich statuierte Unver7einbarkeit von landständischer und repräsentativer Verfassung 8noch nicht ahnen können und waren schlicht und einfach von 9der Vorstellung ausgegangen, dass auch eine landständisch or0ganisierte Deputiertenkammer das Volk als Ganzes repräsentie1re. Beispielsweise sah die älteste der Verfassungen, die von 215
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Sachsen-Weimar, vor, dass Ritterschaft, Städte und Landge-1 meinden ihre Vertretungen getrennt wählten, die Gesamtheit2 der Abgeordneten, 31 an der Zahl, aber eine einzige Kammer3 bildete, die als Vertretung des ganzen Volkes gelten sollte. Auch4 die süddeutschen Verfassungen berücksichtigten die besondere5 Stellung des Adels so weit, dass sie in ihrer relativen Modernität6 stärker der Idee eines allgemeinen Repräsentationssystems ent-7 sprachen. Als Metternich auf der Konferenz von Karlsbad, auf8 der die berüchtigten Beschlüsse gegen die Umtriebe von Dem-9 agogen beschlossen wurden, von den süddeutschen Staaten0 eine Korrektur ihrer Verfassungen im Sinne der Denkschrift von1 Gentz verlangte, konnte er sich damit nicht durchsetzen. Deren2 Vertreter verneinten, dass ihre Verfassungen aus der revolutio-3 nären Idee der Volkssouveränität hervorgegangen seien, und4 machten geltend, dass die mühsam ausgehandelten Verfassun-5 gen nicht wieder rückgängig gemacht werden könnten. In dieser6 Frage also scheiterte Metternich, aber er konnte immerhin ver-7 hindern, dass bis zur Pariser Julirevolution von 1830 im Deut-8 schen Bund Verfassungen nach dem Modell des Repräsentativ-9 systems entstanden. 0 Doch rührte sich in der öffentlichen Meinung und auch in1 den gesetzgebenden Kammern weiterhin Opposition gegen2 den Ständestaat, das heißt in erster Linie gegen die Privilegie-3 rung des Adels. Beispielsweise ging im badischen Landtag der4 Abgeordnete Ludwig Georg Winter so weit, zu behaupten, dass5 im Artikel 13 der Bundesverfassung nicht eine altständische6 Verfassung, sondern ein Repräsentativsystem nach dem Vor-7 bild der französischen Charte von 1814 gemeint sei und folg-8 lich die Rechtsgleichheit aller Bürger vorausgesetzt werde.9 Deshalb seien, so argumentierte er, die den Standesherren in0 Artikel 14 der Bundesverfassung zugesprochenen Vorrechte im1 216
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1Rechtssinn ungültig und dürften dementsprechend nicht reali2siert werden. 3 Die Julirevolution von 1830 schuf in Frankreich eine neue Si4tuation, die erhebliche Rückwirkungen auf Deutschland hatte. 5In Frankreich wurde das monarchische Prinzip, wonach der Kö6nig als Inhaber der Staatsgewalt aus eigenem Ermessen eine 7Verfassung erlassen kann, in der den Untertanen bestimmte 8Mitwirkungsrechte zuerkannt werden, infrage gestellt. Der Ab9geordnete Alphonse Thiers (1797–1877), später, seit 1871, der 0erste Präsident der dritten Republik, vertrat in der Nationalver1sammlung den Standpunkt, dass der König nur herrsche, aber 2nicht regiere. Er fragte: „Was wollten wir vor dem Juli (1830)?“ 3und antwortete: „die konstitutionelle Monarchie mit einem 4Herrscherhaus, das ihre Bedingungen anerkennen und deshalb 5uns (das heißt der Nationalversammlung) verdanken soll“. Es 6waren die Repräsentanten des Volkes, die Louis Philippe aus der 7Nebenlinie Orléans des Hauses Bourbon zum ‚Bürgerkönig‘ in 8Frankreich machten und damit die Erinnerung an die Glorious 9Revolution in England weckten, in der das Londoner Parlament 0den Generalstatthalter der Niederlande und seine Frau auf den 1englischen Thron hob. 2 In Deutschland kam es in einigen Staaten zu revolutionären 3Erschütterungen, aber letztlich nicht zu einer Beseitigung des 4monarchischen Prinzips. Es blieb bei Artikel 57 der Wiener 5Schlussakte von 1820, der die monarchisch verfassten Staaten 6des Deutschen Bundes auf dieses Prinzip eingeschworen hatte. 7Der genannte Artikel hat folgenden Wortlaut: 8 9 „Da der Deutsche Bund … aus souveränen Fürsten besteht, so 0 muss dem hierdurch gegebenen Grundbegriffe zufolge die 1 gesamte Staats-Gewalt in dem Oberhaupt des Staates verei217
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nigt bleiben, und der Souverän kann durch die landständische1 Verfassung nur in der Ausübung bestimmter Rechte an die2 Mitwirkung der Stände gebunden werden.“ 3 4 In der Folge der Pariser Julirevolution kam es in einigen Staaten5 des Deutschen Bundes zu Unruhen, deren Stärke sich aus dem6 Unmut über die politischen Zustände und aus der verbreiteten7 wirtschaftlichen Not der Bevölkerung speiste. In Kurhessen8 musste der unbeliebte Kurfürst Wilhelm II. dem Druck der Stra-9 ße wenigstens so weit nachgeben, dass er unter Beachtung des0 oben zitierten Artikels der Wiener Schlussakte am 5. Januar 18311 dem Land eine Verfassung gewährte. Nominell war sie vom2 Landesherrn aus freien Stücken gegeben. Doch in Wahrheit war3 sie das Ergebnis eines Kompromisses, der zwischen Reformern4 innerhalb des Regierungsapparats und liberalen Wortführern5 gemäßigter und radikaler Provenienz ausgehandelt worden6 war. Der Kurfürst hatte dem Kompromiss nur widerwillig zuge-7 stimmt. Die Präambel des Verfassungsdokuments trug seinem8 mühsamen Zustandekommen in gewundenen Formulierungen9 noch erkennbar Rechnung: 0 1 „Von Gottes Gnaden, Wir Wilhelm IIte, Kurfürst von Hessen2 …, sind daher mit aufrichtiger Bereitwilligkeit (!) den Bitten3 und Wünschen Unseres Volkes entgegengekommen, welches4 in einer landständischen Mitwirkung an den inneren Staats-5 Angelegenheiten von allgemeiner Wichtigkeit die kräftigste6 Gewährleistung unserer landesväterlichen Gesinnung (!) und7 eine dauernde Sicherstellung seines Glückes erblickt.“ 8 9 Sylvester Jordan, Professor in Marburg und einer der Väter der0 kurhessischen Verfassung, hatte in den vorausgehenden Ver-1 218
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1handlungen die Formulierung vorgeschlagen: „… ist zwischen 2Uns und Unseren getreuen Ständen eine vollkommene Eini3gung zustande gekommen“. Das wurde verworfen, weil es zu 4offen kenntlich machte, dass die Verfassung das Ergebnis von 5Verhandlungen war, die das Prinzip der Gewährung aus eigener 6Initiative des Landesherrn infrage stellten. 7 Die Verfassung selbst stellt einen komplizierten Kompromiss 8zwischen den Vorgaben des Deutschen Bundes und den in der 9Öffentlichkeit erhobenen Forderungen nach Freiheit, Gleich0heit und Repräsentation des Volkes dar. Schon die Überschrift 1des dritten Teils (§§ 19–48) „Von den allgemeinen Rechten und 2Pflichten der Unterthanen“ spricht ganz nach dem Brauch des 3fürstlichen Obrigkeitsstaates von Untertanen und nicht von Bür4gern. Einerseits wird die Gleichheit aller Einwohner prokla5miert, und andererseits schränken Vorbehalte sie ein, die von 6der Verfassung und Gesetzen vorgegeben sind: 7 8 „Alle Einwohner sind in so weit vor den Gesetzen einander 9 gleich und zu gleichen staatsbürgerlichen Verbindlichkeiten 0 verpflichtet, als nicht gegenwärtige Verfassung oder sonst die 1 Gesetze eine Ausnahme begründen.“ 2 3Die Ausnahmen vonseiten der Verfassung betrafen die privile4gierte Stellung des Adels, der Standesherren und ehemaligen 5Reichsritter sowie die im 16. Jahrhundert gegründete Korporati6on der althessischen Ritterschaft (§§ 49–50). Davon wird unten 7noch ausführlicher die Rede sein. 8 Die kurhessische Verfassung übernahm einige Vorschriften 9aus dem Katalog der Menschen- und Bürgerrechte, deren Ur0sprung in der französischen Verfassung von 1791 liegt. Sie ga1rantierte Religions- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Person 219
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und des Eigentums, das Recht auf freie Meinungsäußerung in1 Wort und Schrift sowie die Freiheit der Presse. Immer wird frei-2 lich an die Grenzen im Gebrauch der zugestandenen Rechte er-3 innert. In § 30 wird stipuliert, dass „die Religion nicht als Vor-4 wand gebraucht werden darf, um sich irgend einer gesetzlichen5 Verbindlichkeit zu entziehen“. Von der Freiheit der Person und6 des Eigentums heißt es in § 31, dass sie „keiner anderen Be-7 schränkung (unterliegt), als welche das Recht und die Gesetze8 bestimmen“. Das Recht auf freie Meinungsäußerung findet9 nach § 39 seine Grenze an Vergehen und Rechtsverletzungen.0 Die Freiheit der Presse und des Buchhandels wird in § 37 „in1 ihrem vollen Umfange“ garantiert, doch unter folgenden Vorbe-2 halt gestellt: „Es soll jedoch zuvor gegen Preßvergehen ein be-3 sonderes Gesetz alsbald erlassen werden.“ 4 Teil VII der Verfassung handelt von den Landständen, die zu-5 sammen den Landtag bilden (§§ 63–105). Seine Zusammenset-6 zung entsprach den Vorgaben von § 13 der Bundesverfassung.7 Freilich bildeten genau genommen nur die beiden Adelsgruppen8 einen – privilegierten – Stand im Sinne der Verfassung. Die Masse9 der nichtadligen Wähler wurde nach dem Wohnort in Stadt- und0 Landbewohner unterteilt. Das aktive Wahlrecht war in Kurhes-1 sen an keinen Zensus gebunden. Das war eines der Elemente, die2 Metternichs Irritation über die kurhessische Verfassung ver-3 ständlich macht. Er nannte sie in einem 1847 geschriebenen Brief4 an den Kurfürsten „sehr demokratisch“. Was das passive Wahl-5 recht anbelangt, so wurde in § 62 eine Zweiteilung getroffen: Für6 jeweils die Hälfte der Abgeordnetensitze war eine Vermögens-7 qualifikation erforderlich, für die andere Hälfte nicht. Es gab also8 beides, Privilegierung der Besitzenden und das demokratische9 Prinzip, dass kein Zensus für die Wahl zum Abgeordneten vorge-0 sehen war. Soweit die Vergabe eines Abgeordnetensitzes an einen1 220
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1Zensus geknüpft war, wurde zwischen Stadt und Land unter2schieden: Der Mindestzensus für Stadtbewohner war ein Vermö3gen im Wert von 6000 Talern oder ein Einkommen von 400 Ta4lern jährlich; derjenige der Landbevölkerung war an die Zahlung 5einer Grundsteuer oder ein Vermögen von mindestens 5000 Ta6lern geknüpft. Zusätzlich war festgelegt, dass die Haupterwerbs7quelle der Landbewohner aus der Landwirtschaft stammen 8musste. Für die Besetzung von insgesamt 16 Abgeordneten der 9Städte und des Landes galt nach § 67 gleiches Wahlrecht: 0 1 „Die Wahl der übrigen acht Abgeordneten der Städte sowie 2 der übrigen acht Abgeordneten der Landbezirke kann ohne 3 Unterschied auf einen jeden fallen, welcher überhaupt wähl4 bar (siehe § 67) und in dem Strombezirke wohnhaft ist.“ 5 6Die kurhessische Verfassung enthielt also Bestimmungen zum 7Wahlrecht mit und ohne Zensus, von Gleichheit nach demo8kratischer Art und partieller Berücksichtigung von Besitz und 9Einkommen. Insofern stellte sie eine Mischung aus zwei im 0Verständnis der Zeit modernen Wahlvarianten dar. Ganz rück1wärtsgewandt aber war die bevorzugte Stellung, die dem Adel 2eingeräumt wurde. Er bildete zwar keine eigene Vertretung in 3einem Zweikammersystem, wie es anderenorts der Fall war, 4sondern war Teil eines gemeinsamen Landtags, aber er war in 5geradezu grotesker Weise insofern überprivilegiert, als er so 6viele Abgeordnete entsendete wie jeder der beiden anderen 7‚Stände‘, obwohl er nur ein dreistelliges Wählerpotenzial ge8genüber dem sechsstelligen der nichtadligen Stadt- und Land9bewohner besaß. Hinzu kommt, dass die Adelskurie über eini0ge Landtagssitze verfügte, die an keine Wahl, sondern an eine 1Stellung in uralten Institutionen geknüpft waren. 221
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Der größte Teil der adeligen Wähler wurde von der Korpora-1 tion der althessischen Ritterschaft gestellt, die um 1831 nach der2 Zählung einer Spezialuntersuchung zum kurhessischen Adel3 aus dem Jahr 1987 (Gregory W. Pedlow, The Survival of the Hessi-4 an Nobility 1770–1870) aus 42 Familien bestand. Die Mitglieder5 dieser Körperschaft wählten fünf Abgeordnete, je einen in den6 fünf Strombezirken der Diemel, Fulda, Schwalm, Werra und7 Lahn. Hinzu kamen drei weitere gewählte Vertreter aus Landes-8 teilen, die erst nach Gründung der genannten Korporation im9 16. Jahrhundert hessisch geworden waren, einer aus dem kur-0 hessischen Teil der Grafschaft Schaumburg an der Weser sowie1 jeweils einer aus dem ehemals reichsunmittelbaren Adel im Bis-2 tum Fulda sowie in der ehemaligen Grafschaft Hanau. In der3 Grafschaft Schaumburg hatte die Wahl, wie § 63 der Verfassung4 vorschrieb, „unter Mitbestimmung der adelichen Stifter Fisch-5 beck und Obernkirchen“ zu erfolgen. 6 Diesen acht gewählten Vertretern des Adels standen acht7 weitere gegenüber, die von Geburt oder von Amts wegen Mit-8 glieder der Adelskurie im Landtag waren: ein Prinz des kur-9 fürstlichen Hauses aus einer der mit einer Apanage abgefunde-0 nen Nebenlinien, die Oberhäupter der ehemals regierenden1 fürstlichen und gräflichen Familien mit einer Standesherr-2 schaft in Kurhessen, der Senior der freiherrlichen Familie von3 Riedesel, in der das Adelsamt des (gesamt)hessischen Erbmar-4 schalls erblich war (ungeachtet der Tatsache, dass die Familie5 vornehmlich im hessen-darmstädtischen Oberhessen begü-6 tert war), ein Vertreter der Universität Marburg, in der Regel7 ein bürgerlicher Professor, sowie einer der beiden Obervorste-8 her der in der Reformationszeit gegründeten adligen Stifte9 Kaufungen und Wetter. Erwähnt wurde bereits, dass der Abge-0 ordnete des schaumburgischen Adels unter Mitbestimmung1 222
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1der beiden dort gelegenen adeligen Stifte gewählt werden 2musste. 3 Diese teils moderne, teils hochaltertümlich zusammenge4setzte Ständeversammlung verfügte über Rechte, die ebenfalls 5teils der Tradition entsprachen und teils ohne Vorbild in ande6ren landständischen Verfassungen Deutschlands waren. Nicht 7nur die Erhebung neuer Steuern erforderte die Zustimmung der 8Stände, sondern auch der Staatshaushalt und alle gesetzgeberi9schen Akte. Dazu besaß nicht nur die Regierung das Initiativ0recht, sondern auch die Ständeversammlung. Einmalig im 1Deutschen Bund war die Bestimmung, dass die Stände gegen 2Minister und deren Stellvertreter wegen Verstoßes gegen die 3Verfassung vor dem höchsten Gericht des Landes, dem Oberap4pellationsgericht in Kassel, Anklage erheben konnten. Bevor ein 5neuer Landesherr die Huldigung der Stände empfing, hatte er 6einen Eid auf die Aufrechterhaltung der Verfassung zu leisten 7und zu versichern, ihren Bestimmungen gemäß zu regieren 8(§ 90 mit Bezug auf § 6). Allen Staatsbediensteten einschließ9lich des Offizierskorps wurde vor Amtsantritt ein Eid auf die Ver0fassung abgenommen (§ 156). Auch die Abgeordneten der Stän1deversammlung hatten einen Eid zu leisten und darin zu 2geloben, nicht partikulare Standesinteressen zu vertreten, son3dern das Wohl des Landes und des Fürsten im Auge zu behalten. 4Insofern wurden sie auf eine Vertretung nicht ihres Standes, 5sondern im Sinne des Repräsentativsystems auf das Ganze des 6Staatswohles festgelegt. 7 Die kurhessische Verfassung, landständisch organisiert, doch 8mit Elementen des Repräsentativsystems und anderen moder9nen Bestandteilen durchsetzt, hielt Metternich für „sehr demo0kratisch“, und es waren nur bloße Zweckmäßigkeitsrücksichten, 1die ihn davon abhielten, sich 1847 auf die Zumutung des letzten 223
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hessischen Kurfürsten einzulassen, ihm bei der geplanten ein-1 seitigen Aufhebung der Verfassung Hilfestellung zu leisten. Im2 reaktionären Milieu ging im Vormärz ohnehin die Furcht vor3 dem Gespenst der Demokratie als Ausdruck der Volkssouverä-4 nität um, und als im Jahre 1834 in Spanien eine verhältnismäßig5 moderne Verfassung eingeführt wurde, meldete sich der stock-6 konservative Staatsrechtslehrer Karl Ludwig Haller zu Wort und7 fasste das Credo der Reaktion in die Worte: 8 9 „Fliehet das Wort Constitution, es ist Gift in Monarchien, weil0 es eine demokratische Grundlage voraussetzt, den inneren1 Krieg organisiert und zwei auf Leben und Tod gegeneinander2 kämpfende Elemente schafft.“ 3 4 In Preußen wurde das Verfassungsversprechen des Königs unter5 anderem wegen derartiger Bedenken nie erfüllt. Der Verfas-6 sungsplan des Staatskanzlers Hardenberg scheiterte, weil eine7 Kommission im Jahre 1820 den Entwurf aus grundsätzlichen8 Überlegungen ablehnte, indem sie feststellte: 9 0 „Es bleibt da, wo eine Verfassungsurkunde verliehen werden1 soll, nur die offene Wahl, entweder das rein monarchische2 Prinzip festzuhalten und daher sich auf beratende Landstän-3 de zu beschränken, oder ihm das demokratische Element4 wirklich beizufügen.“ 5 6 Noch unmittelbar vor der Märzrevolution von 1848 bekräftigte7 ein anderer stockkonservativer Staatsrechtslehrer, Friedrich Ju-8 lius Stahl, die Ablehnung des Repräsentativsystems in seiner9 Schrift über das monarchische Prinzip, und König Friedrich Wil-0 helm IV., der im Jahre 1840 den preußischen Thron bestiegen1 224
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1hatte, beharrte seinerseits auf dem Standpunkt der Reaktion. 2Dazu schreibt Heinrich von Treitschke im fünften Band seiner 3Deutschen Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert: 4 5 „Jener künstliche Gegensatz des revolutionären Repräsenta6 tivsystems und des legitimen Ständewesens, welchen Gentz 7 einst in der Karlsbader Denkschrift vom Jahre 1819 geschil8 dert hatte, erschien ihm (dem König) als eine unumstößliche 9 Wahrheit …, so glaubte er an ein historisches Recht der Stän0 de, das, ohne Zutun der Staatsgewalt entstanden, auch von 1 ihr nur anerkannt, nicht aufgehoben werden könne … Wenn 2 er (der König) von Freiheit sprach, so meinte er sein althisto3 risches Ständerecht …, während seine Zuhörer an das Reprä4 sentativsystem dachten, das man allmählich für die einzige 5 eines gesitteten Volkes würdige Staatsform ansah.“ 6 7Doch beflissene Federn der Presse schrieben dem König nach 8dem Munde: „Nun endlich“, hieß es im Berliner Wochenblatt, 9„wird (durch den König) dem revolutionären Repräsentativsys0tem des Auslandes etwas Positives gegenübergestellt, der Patri1monialstaat.“ Es dauerte nicht mehr lange, und die Revolution 2fegte den Patrimonialstaat und das Ständewesen hinweg, und 3die Demokratie erlebte zum ersten Mal in Deutschland einen 4Durchbruch. Ausgerechnet aufgrund eines Gesetzes, das vom 5Zentralorgan des Deutschen Bundes, dem Bundestag in Frank6furt, beschlossen worden war, wurde die erste deutschlandweite 7Wahl nach einem im Wesentlichen allgemeinen und gleichen 8Wahlrecht durchgeführt. Sie galt einer Vertretung des deut9schen Volkes in einer Nationalversammlung, der aufgegeben 0war, eine Verfassung für ein staatlich geeintes Deutschland aus1zuarbeiten und zu verabschieden. Die in mehrere Einzelstaaten 225
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gespaltene Nation sollte auf politischer Ebene die Einheit ge-1 winnen, die sie als Sprach- und Kulturgemeinschaft längst be-2 saß, und so verband sich das Konzept der Mobilisierung des Vol-3 kes durch Teilhabe am öffentlichen Leben mit dem Ideal, die4 Einheit der Nation durch Gründung eines gemeinsamen Staates5 zu vollenden. Nirgends ist das besser auf den Punkt gebracht als6 in der dritten Strophe des Deutschlandliedes, das Hoffmann von7 Fallersleben auf der damals englischen Insel Helgoland verfass-8 te, heute Deutschlands Nationalhymne: „Einigkeit und Recht9 und Freiheit für das deutsche Vaterland“. 0 In dem ebenfalls in viele Staaten zerrissenen Italien, das zu-1 dem noch teilweise unter österreichischer Herrschaft stand, gab2 es ähnliche Bestrebungen. Und selbst in Dänemark entstand im3 Zuge einer informellen Demokratisierung eine nationalistische4 Bewegung, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die Einheit von Volk5 und Staat durchzusetzen. Die sogenannten Eiderdänen (ge-6 nannt nach der Flussgrenze zwischen dem Deutschen Bund und7 Dänemark) waren bereit, auf das zum Deutschen Bund gehö-8 rende Holstein zu verzichten, um das staatsrechtlich zu Däne-9 mark gehörende Schleswig aus der ständischen Verbindung mit0 Holstein zu lösen und so die Einheit von dänischem Volk und1 dänischem Staat zu erreichen. Dass die Rechnung nicht aufging,2 kann hier auf sich beruhen. Auch für die Befreiung des geteilten3 Polen arbeitete von Frankreich aus eine Bewegung, die sich4 „Demokratischer Verein“ nannte und das Ziel verfolgte, das5 Volk mit der Parole „Freiheit und Gleichheit“ gegen die Fremd-6 herrschaft der Teilungsmächte zu mobilisieren. 7 Im Anschluss an die Pariser Julirevolution von 1830 kam es im8 November zu einem polnischen Aufstand, der seinen Schwer-9 punkt im russischen Teil Polens hatte. Zar Nikolaus I. ließ mit0 Unterstützung der beiden anderen Teilungsmächte den Auf-1 226
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1stand niederwerfen und traf mit ihnen im Jahr 1833 im mähri2schen Münchengrätz und Töplitz Abreden zur Niederhaltung 3der polnischen Demokratie- und Unabhängigkeitsbestrebun4gen. Der russische Staatsmann Karl Robert Graf Nesselrode, ein 5Baltendeutscher, sprach in einer Denkschrift zum 25. Regie6rungsjubiläum des Zaren im Jahr 1850 von einem „Deich gegen 7die Fluten der ständig anwachsenden Demokratie“, den der Ju8bilar damit für mehrere Jahre in Folge errichtet habe: „C’est 9dans ce but, qu’on été conçues les mémorables transactions de 0München-Graetz et Toeplitz – transactions qui, plusieurs années 1de suite, ont opposé une digue aux flots de la démocratie tou2jours croissante …“ 3 In Deutschland war der Damm zwei Jahre vor dem Regie4rungsjubiläum des Zaren Nikolaus I. gebrochen, aber der mon5archische deutsche Bundesstaat, für den die Frankfurter Natio6nalversammlung noch Anfang des Jahres 1849 eine Verfassung 7verabschiedete, scheiterte mit dem Anliegen, den Deutschen 8Bund mitsamt den außerhalb gelegenen Gebietsteilen Preußens 9mit ihrer zahlreichen polnischen Bevölkerung zu einem deut0schen Bundesstaat mit dem preußischen König als erblichem 1Kaiser zu verwandeln. 2 Trotzdem hatte die Revolution von 1848 auch teilweise Er3folge zu verzeichnen. Sie brachte den Durchbruch zu bürgerli4cher Rechtsgleichheit sowie zur Beseitigung des Ständewesens 5und der Reste des Feudalismus, und sie bewirkte, dass das Re6präsentativsystem eindeutiger als bisher als die Vertretung des 7ganzen Volkes konzipiert wurde. Das Selbstverständnis der 8Verfassungsväter schlug sich unter anderem in dem umfang9reichen Katalog der „Grundrechte des deutschen Volkes“ in 0den §§ 130–173 der ausgearbeiteten Verfassung nieder. Die 1noch immer vorhandenen Reste der alten Feudalordnung wur227
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den beseitigt, alle auf Grund und Boden lastenden Abgaben1 und Leistungen wurden für ablösbar erklärt und noch bestehen-2 de Beschränkungen von Eigentumsrechten aufgehoben. Patri-3 monialgerichte und gutsherrliche Polizei, Einrichtungen der4 Gutsherrschaft, wurden in § 167 zusammen mit den aus diesen5 Einrichtungen fließenden Einnahmen ersatzlos gestrichen: 6 7 „Ohne Entschädigung sind aufgehoben: 1) Die Patrimonial-8 gerichtsbarkeit und die gutsherrliche Polizei, sammt den aus9 diesen Rechten fließenden Einnahmen, Exemtionen und Ab-0 gaben. 2) Die aus dem guts- und schutzherrlichen Verband1 fließenden persönlichen Abgaben und Leistungen.“ 2 3 Auch die landständischen Verfassungen in den deutschen Staa-4 ten verschwanden fast überall. Nur die beiden Großherzogtümer5 von Mecklenburg blieben bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs6 die letzten Bastionen des adligen Ständestaats. Im Übrigen gilt:7 Der Adel verlor seine Privilegien und war, Mecklenburg ausge-8 nommen, als Stand in den Abgeordnetenkammern nicht mehr9 vertreten. Das Konzept der bürgerlichen Rechtsgleichheit, das0 zuerst nach der Französischen Revolution in der Verfassung von1 1791 festgeschrieben worden war, siegte auch in Deutschland2 nach der Märzrevolution. Obwohl König Friedrich Wilhelm IV.3 noch unmittelbar vor der Revolution eine Lanze für den Stände-4 staat gebrochen hatte, bestimmte die revidierte preußische Ver-5 fassung vom 31. Januar 1850 in Titel II, Artikel 4: 6 7 „Alle Preußen sind vor dem Gesetz gleich. Standesvorrechte8 finden nicht statt. Die öffentlichen Ämter sind, unter Einhal-9 tung der von den Gesetzen festgestellten Bedingungen, für0 alle dazu Befähigten zugänglich.“ 1 228
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1Dann folgten weitere Bestimmungen, die in der revolutionären 2Tradition der Menschen- und Bürgerrechtserklärungen stehen. 3Garantiert wurden die persönliche Freiheit (Artikel 5), die Un4verletzlichkeit der Wohnung (Artikel 6) und des Eigentums (Ar5tikel 9). Eine Ausnahme von der letztgenannten Garantie sollte 6nur im Interesse des öffentlichen Wohls und gegen Entschädi7gung nach Maßgabe der Gesetze möglich sein: 8 9 „Es (das Eigentum) kann nur aus Gründen des öffentlichen 0 Wohls gegen vorgängige, in dringenden Fällen wenigstens 1 vorläufig festzustellende Entschädigung nach Maßgabe der 2 Gesetze entzogen oder beschränkt werden.“ 3 4Titel V der preußischen Verfassung handelt unter dem Titel 5„Von den Kammern“ von Herrenhaus und gewählter Volksver6tretung. Diese bestand aus 350 Abgeordneten, die in indirekter 7Wahl ihr Mandat erhielten. Im ersten Wahlgang wurden die 8Wahlmänner bestimmt. An diesen Primärwahlen konnte jeder 9männliche Preuße teilnehmen, der das 25. Lebensjahr vollendet 0hatte und in Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte war. Das 1Stimmrecht war jedoch nicht gleich, sondern nach der Höhe der 2Steuerleistung unterschiedlich gewichtet. Die Gesamtheit der 3Wähler wurde in drei Gruppen eingeteilt, von denen jede ein 4Drittel zum staatlichen Steueraufkommen beisteuerte. Die we5nigen Höchstbesteuerten der ersten Klasse wählten genauso 6viele Wahlmänner wie die um ein Vielfaches größere Zahl der7jenigen, die in eine der beiden folgenden Klassen eingeordnet 8waren. Wollte man das System graphisch als Dreieck mit zwei in 9gleicher Entfernung voneinander befindlichen horizontalen 0Trennlinien abbilden, würde das so entstandene breite untere 1Feld die Klasse der gering Besteuerten bezeichnen, das schmä229
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lere Mittelfeld die Angehörigen der nächsthöheren Steuerklasse1 und die sich stark verjüngende Spitze die wenigen Höchstbe-2 steuerten. Dieses System begünstigte Besitzende und Großver-3 diener, benachteiligte Arme und Geringverdienende. Die so4 gewählten Abgeordneten gehörten mehrheitlich dem gehobe-5 nen, politisch liberalen Bürgertum an, sie waren die neue Elite,6 die den Adel in dieser Stellung ablöste. Über das Vorrecht der7 Geburt siegten Besitz und Bildung. Das preußische sogenannte8 Dreiklassenwahlrecht, das bis in den Ersten Weltkrieg hinein9 Bestand hatte, wurde im Lauf der Zeit als Inbegriff reaktionärer0 Klassenherrschaft geschmäht; aber als es eingeführt wurde, ent-1 sprach es der verbreiteten Norm eines Zensuswahlrechts, das, in2 verschiedener Form im Einzelnen, doch im Kern der Sache in3 gleicher Weise den Zugang zu den Vertretungen des Volkes re-4 gelte. 5 Wieder soll neben dem großen Preußen als Beispiel für den6 Umbruch, der nach der Märzrevolution in deutschen Mittel-7 staaten eintrat, Kurhessen dienen. Die privilegierte Stellung8 des Adels wurde ebenso beseitigt wie die ständische Struktur9 des Landtags. An die Stelle der Adelskurie traten die 7500 Höchstbesteuerten des Landes. Ihnen standen die Wähler aus1 den Städten und Landbezirken gegenüber. Jede der drei Grup-2 pen wählte die gleiche Anzahl von Abgeordneten. Das bedeu-3 tete, dass der Gruppe der 750 eine sechsstellige Wählerzahl4 aus den beiden anderen Gruppen gegenüberstand. Diese Re-5 gelung stieß bei Liberalen und Demokraten auf heftige Kritik6 und wurde im Zuge der in Kurhessen ausgelösten Reaktion7 wieder aufgehoben und durch andere Modelle des Zensus-8 wahlrechts ersetzt. 9 In allen Staaten des Deutschen Bundes wurde die Repräsen-0 tativverfassung mit einem nach Steuerleistung differenzierten1 230
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1Zensuswahlrecht die Regel – auf die Ausnahme in Mecklenburg 2wurde oben verwiesen. Der aus der Schweiz stammende Staats3und Völkerrechtslehrer Johann Caspar Bluntschli (1808–1881), 4Professor in Heidelberg und prominentes Mitglied in der zwei5ten Kammer des badischen Landtags, bezeichnete in dem Arti6kel „Demokratie“ seines mehrbändigen Deutschen Staatswörter7buchs die Repräsentativverfassungen mit einem nach dem 8Zensus abgestuften Wahlrecht als „veredelte“ Demokratie. Sei9ne Worte lauten: 0 1 „Die reine und unmittelbare Demokratie (der Antike) ist aber 2 nur möglich unter einem kleinen Volk, welches nicht mit all3 täglichen Nahrungssorgen zu kämpfen hat und Muße hat, 4 sich oft zu politischer Beratung zusammenzufinden. Da die 5 heutigen Staaten fast alle auf einem weiten Land ruhen und 6 die großen Massen auch der Arbeiter persönliche Freiheit 7 und Staatsbürgerrecht erwerben, aber nicht Muße und Bil8 dung haben, um den Staat verwalten zu können, so ist diese 9 Staatsform nicht möglich, und die veredelte Form der reprä0 sentativen Demokratie an ihre Stelle getreten als die moderne 1 Art der Demokratie.“ 2 3Niemand würde heute eine Repräsentativverfassung ohne all4gemeines und gleiches Wahlrecht, das Männer und Frauen 5einschließt, als Demokratie bezeichnen. Aber eine Verfassung, 6die auf Freiheit und Gleichheit aller in Hinblick auf das Staats7bürgerrecht gegründet war, konnte vom zeitgebundenen 8Standpunkt aus demokratisch genannt werden. Die Modifizie9rung, die mit dem Zusatz „veredelt“ vorgenommen wurde, be0zog sich auf den Anspruch, dass sie das Führungsproblem, mit 1dem nach verbreiteter Überzeugung die direkte Demokratie 231
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der Antike nicht zurechtgekommen war, gelöst habe, indem1 das Volk, Ursprung und Souverän aller Staatsgewalt, sich von2 einer Elite der Besten und Tauglichsten vertreten ließ, von3 Männern, die durch ihre Bildung den Überblick über die öf-4 fentlichen Angelegenheiten hatten und durch die Muße, die5 sie aufgrund ihres Vermögens besaßen, Zeit für ein politisches6 Engagement aufwenden konnten. Bluntschli hat den springen-7 den Punkt so ausgedrückt: 8 9 „Das Prinzip der repräsentativen Demokratie ist: Das Volk0 beherrscht sich selbst (sic!), aber indem es die gesamte Staats-1 verwaltung an seine Repräsentanten überträgt, die es zu die-2 sem Zweck als die Besten und Tauglichsten auswählt.“ 3 4 Im 18. Jahrhundert wäre ein solches System als Republik, nie5 und nimmer, wie das Beispiel der in Amerika eingeführten Ver-6 fassung lehrt, als Demokratie bezeichnet worden. Der Begriff7 Demokratie war damals der antiken Form vorbehalten, in der8 das versammelte Volk die Regierungsgewalt ausübte. Das war,9 wie allgemein bewusst war, unter modernen Verhältnissen nicht0 möglich, und so konnte es Herrschaft des Volkes nur indirekt in1 einem traditionellen Repräsentativsystem geben, das ein Erbe2 des Ancien Régime war. Als die Repräsentation des Volkes nicht3 mehr von privilegierten Ständen wahrgenommen wurde, muss-4 te nach einer neuen Elite gesucht werden. Diese sollte aus der5 Gesamtheit des Volkes hervorgehen, aber sich auszeichnen6 durch Bildung und Leistung, Zeit und Interesse für die bestmög-7 liche Gestaltung des öffentlichen Wohls. Das war das Konzept8 der sogenannten veredelten Demokratie. 9 Dieses Konzept entsprach dem Stand der Verfassungsent-0 wicklung nach der Revolution von 1848 nicht nur in Deutsch-1 232
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1land, sondern im Wesentlichen auch, abgesehen von den Be2sonderheiten Englands, in Westeuropa. Die Vereinigten Staaten 3von Amerika waren in der Zeit der Märzrevolution schon weiter. 4Davon soll im nächsten Kapitel die Rede sein. 5 6 7 8 9 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 233
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1 2 3 4 5 6 7 8 ach dem Willen der Gründerväter sollten die Vereinigten9 Staaten eine Republik sein, deren Verfassung auf den0 Grundsätzen von Gewaltenteilung und Repräsentativsystem1 beruhte, aber keine Demokratie, in der das Volk nach antikem2 Vorbild die volle Staatsgewalt ausübt. Denn nach Überzeugung3 der Gründerväter war angesichts einer Millionenbevölkerung,4 die auf einem riesengroßen Territorium verstreut lebte, eine di-5 rekte Demokratie nicht nur wirklichkeitsfremd, sondern auch6 qualitativ einem Repräsentativsystem weit unterlegen. Das7 Wahlrecht zu den Vertretungen des Volkes war, differenziert8 nach den einzelnen Bundesstaaten, vornehmlich den Landei-9 gentümern vorbehalten, deren wirtschaftliche Eigenständigkeit0 sie nach herrschender Vorstellung qualifizierte, sich selbst und1 den Staat zu regieren. Es dauerte freilich nur ein gutes Men-2 schenalter, und die Vereinigten Staaten konnten Europa als das3 Muster einer Demokratie vorgestellt werden, als Schrittmacher4 auf dem Weg in eine Zukunft, die nach Tocquevilles Überzeu-5 gung das Schicksal der Welt werden würde. 6 Zum Analytiker der frühen amerikanischen Demokratie und7 Propheten ihrer künftigen Verbreitung wurde Alexis de Tocque-8 ville, ein französischer Adliger, der von seiner Regierung 18319 an sich nur mit dem Studium des amerikanischen Gefängnis-0 und Strafsystems beauftragt worden war. Er entledigte sich die-1
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1ses Auftrags in einem Auslandsaufenthalt, den er zu Reisen in 2Nordamerika nutzte, aber das Feld, das ihn an den Vereinigten 3Staaten wirklich faszinierte, waren die demokratischen Verhält4nisse in einer Gesellschaft, die im Aufbruch in das riesige Land 5jenseits der Appalachen begriffen war. Tocqueville hatte sich 6vornehmlich in den Neuenglandstaaten aufgehalten, aber er 7hatte im Jahr 1831 zusammen mit einem Freund auch eine große 8Reise, damals noch durch dichte Urwälder, bis zu den Großen 9Seen im Nordwesten unternommen und dabei das Leben der 0Siedler in den neuen Staaten und Territorien kennengelernt. Ei1nen Teil seiner Erlebnisse und Eindrücke hat er in einer Art Rei2setagebuch festgehalten. Ursprünglich war beabsichtigt, diesen 3Text im Anhang zum zweiten Band seines großen Werkes De la 4démocratie en Amérique (Erstausgabe 1835/1840) zu publizieren 5und damit einen Einblick in die Entstehungsgeschichte des 6Hauptwerkes zu geben. Daraus wurde nichts. Der Reisebericht 7wurde vielmehr 1861 zwei Jahre nach seinem Tod unter dem 8Titel Quinze jours dans le désert. Voyage au lac Onéida (deutsch: 9Vierzehn Tage in der Wildnis. Reise zum Oneidasee) veröffent0licht. Tocqueville entdeckte ein Land, in dem bei größten Unter1schieden von Besitz und Einkommen im alltäglichen Umgang 2von Menschen aller Schichten die größtmögliche Gleichheit 3und Ungezwungenheit zu beobachten waren. So berichtet er 4beispielsweise von seinen Beobachtungen, die er bei einem 5Wirtshausbesuch in einer dem Urwald abgerungenen Siedlung 6in Michigan gewonnen hatte: 7 8 „… und man geleitete uns wie hierzulande üblich in den bar9 room genannten Raum. Es ist das eine Stube, in der Getränke 0 ausgeschenkt werden und wo der einfachste Arbeiter wie der 1 reichste Händler des Ortes sich einfinden, um auf dem Fuß 235
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völliger äußerer Gleichheit zu rauchen, zu trinken und über1 Politik zu reden.“ 2 3 Er sprach in seinem Hauptwerk weniger von den Institutionen4 als von den Sitten und Gewohnheiten – eines seiner Lieblings-5 worte lautet dementsprechend mœurs –, die den gesellschaftli-6 chen Untergrund der Demokratie als politischer Verfassung des7 Staates bildeten. 8 Schrittmacher der gesellschaftlichen Demokratisierung wa-9 ren die Ausdehnung der Union nach Westen und die Entste-0 hung neuer Territorien jenseits des Gebirgszuges, der die am1 Atlantik gelegenen Staaten nach Westen begrenzt hatte. Ein2 Strom von Einwanderern und landsuchenden Einheimischen3 ergoss sich in die Weiten der westlich gelegenen waldbedeck-4 ten Ebenen; diese Entwicklung verstärkte sich, nachdem der5 dritte Präsident des Landes, Thomas Jefferson, der alten Ko-6 lonialmacht Frankreich durch den sogenannten Louisiana7 Purchase von 1803 das riesige Gebiet zwischen Mississippi und8 den Rocky Mountains abgekauft hatte. Schnell folgte auf die9 Bildung von Territorien die Gründung neuer Staaten, sobald0 eine Mindestzahl von Bewohnern als Voraussetzung registriert1 war. In den Wirren des amerikanischen Unabhängigkeitskrie-2 ges hatte sich das umstrittene Territorium zwischen New York3 und New Hampshire unter der Bezeichnung Vermont für unab-4 hängig erklärt, aber im Jahr 1791 wurde es als vierzehnter Staat5 in die Union aufgenommen. Der neue Bundesstaat hatte zwi-6 schen seiner Gründung im Jahre 1771 und seiner Aufnahme in7 die Union 1791 durch Zuwanderung eine unglaubliche Bevölke-8 rungsexplosion von etwa 7000 auf 85 525 Personen erlebt. In9 Vermont wurde zum ersten Mal in der Geschichte der Vereinig-0 ten Staaten auf eine Begrenzung des Wahlrechts durch einen1 236
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1Zensus verzichtet. Schon ein Jahr später folgte als fünfzehnter 2Staat Kentucky, in dem ebenfalls wegen der vielen Neusiedler, 3die um ihre wirtschaftliche Existenz zu kämpfen hatten, kein 4Zensus für das Wahlrecht vorgesehen war. Dann kamen Ten5nessee (1796) und Ohio (1803) hinzu. So ging es weiter in 6schneller Folge. Als Tocqueville Amerika verließ, hatte sich die 7Zahl der Bundesstaaten annähernd verdoppelt. Sie war von 13 8auf 25 gestiegen. In den neuen Staaten waren alle Verhältnisse 9im Fluss. Alteingewurzelte Eliten wie an der Ostküste gab es im 0Mittelwesten noch nicht, und dementsprechend fehlten dort 1die Voraussetzungen für eine Begrenzung der politischen Rech2te nach Vermögen, Einkommen und Bildung. 3 Bedeutsam für den Fortschritt der Demokratisierung waren 4die Wirtschaftskrise von 1819, eine Folge der europäischen nach 5dem Ende der Napoleonischen Kriege, und die Präsidentschaft 6von Andrew Jackson in den Jahren von 1829 bis 1837. Die Wirt7schaftskrise traf vor allem die Farmer, die Land gekauft und un8ter Mühen den jungfräulichen Boden urbar gemacht hatten. Da9für hatten sie sich verschuldet, und so kam es, dass sie in eine 0Existenzkrise gerieten. Sie konnten die Kredite nicht mehr be1dienen, die sie aufgenommen hatten, aber die Banken, allen vo2ran die privilegierte Bank of America, blieben unerbittlich. Die3se Bank wurde als das Ungetüm angeprangert, das die kleinen 4Farmer zu verschlingen drohte. Die Folgen zeigten sich bei den 5Präsidentschaftswahlen von 1824. Von den vier Kandidaten 6konnte keiner die Mehrheit erringen, sodass die Wahl gemäß 7der Verfassung im Repräsentantenhaus vorgenommen werden 8musste. Die meisten Stimmen waren auf Andrew Jackson aus 9Tennessee, einem der neuen Staaten des Westens, entfallen, 0doch wurde er bei der Wahl übergangen. Gewählt wurde auf1grund von internen Absprachen ein typischer Repräsentant der 237
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Ostküstenelite, John Quincy Adams – seines Herkommens ein1 Sohn des zweiten Präsidenten der Vereinigten Staaten. Doch2 Jackson ließ sich nicht entmutigen. Bei der Kampagne des Jah-3 res 1828 trat er als Kandidat mit der ständig wiederholten Klage4 auf, bei der letzten Wahl sei das Volk betrogen worden. Dieses5 Mal wurde er gewählt. 6 Andrew Jackson stammte, wie gesagt, aus Tennessee, dem7 ersten neuen Sklavenstaat in der Union. Er selbst war Sklaven-8 halter, aber nicht von der Art der Plantagenbesitzer mit aristo-9 kratischem Lebensstil. Vielmehr war er Militär und hatte sich0 nicht zuletzt in den Indianerkriegen bewährt, in denen die Ur-1 einwohner, soweit sie überlebt hatten, aus ihren angestamm-2 ten Wohnsitzen verdrängt und in das Land westlich des Mis-3 sissippi umgesiedelt wurden. Als Präsident gab er die Losung4 aus, mit ihm beginne in Amerika die „Ära des kleinen Man-5 nes“. Er begann damit, Mitarbeiter für seine Administration6 aus den neuen Staaten zu rekrutieren, und bezeichnete diese7 Neuerung als notwendige demokratische Ämterrotation, wäh-8 rend seine Gegner dies als „Beutesystem“ zugunsten ungebil-9 deter Hinterwäldler verurteilten. Sie blieben bei dieser Schmä-0 hung nicht stehen, sondern versuchten, ihn als „lahme Ente“1 vorzuführen, indem sie ein Gesetz einbrachten, das ausge-2 rechnet für die Bank of America, das den kleinen Kreditneh-3 mern verhasste Ungetüm, das alle zu verschlingen drohte,4 eine Verlängerung ihrer privilegierten Konzession vorsah.5 Jackson brachte mit seinem Veto dessen Verabschiedung zu6 Fall und machte zur Befriedigung der kleinen Leute geltend,7 dass seine Gegner es nur eingebracht hätten, um die Reichen8 und Mächtigen der Ostküstenelite noch reicher und mächtiger9 zu machen. In seiner Präsidentschaft beschleunigte sich folge-0 richtig der Prozess der Beseitigung von Zensusvorschriften,1 238
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1die ohnehin nicht einheitlich waren, sondern von Staat zu 2Staat variierten oder wie in Vermont und Kentucky schon weg3gefallen waren. 4 Während der kolonialen Phase war das Wahlrecht zu den 5Volksvertretungen nach englischem Vorbild auf folgenden Per6sonenkreis beschränkt: auf Eigentümer von Land in einer Grö7ßenordnung, die ihnen wirtschaftliche Unabhängigkeit sicher8te, sodass nach allgemeiner Überzeugung davon ausgegangen 9werden konnte, dass der Betreffende die Voraussetzungen und 0das Interesse besaß, an der Gestaltung der öffentlichen Ver1hältnisse mitzuwirken. Ausgeschlossen waren in der Regel Ar2beiter, Pächter, Bedienstete und die Unfreien auf Zeit. Dies 3waren Arbeitnehmer, nicht zuletzt Einwanderer, die sich ei4nem Kreditgeber auf Zeit verdingt hatten, bis der Wert der ge5leisteten Dienste dem gewährten Kredit entsprach. An die Stel6le von Landeigentum konnten Steuerzahlungen treten. Deren 7Höhe erfuhr in der Zeit des Unabhängigkeitskrieges und da8nach eine Entwertung durch Inflation und Papiergeld, das 9nicht zum Nennwert, sondern nur mit einem Abschlag ange0nommen wurde. 1 Die Komplexität der Voraussetzungen spiegelt sich in den 2unterschiedlichen Zahlen der Wahlberechtigten wider. Nach 3neueren Schätzungen bewegte sich ihr prozentualer Anteil an 4der erwachsenen männlichen Bevölkerung in einer Spannwei5te von 95 bis etwa 60 Prozent oder noch weniger. Am restrik6tivsten war die Regelung in den beiden Staaten, deren Eliten 7damals eine führende Rolle in der Union spielten: in Virginia 8und New York. Dann folgten die übrigen: In drei Staaten – Ma9ryland, Rhode Island und Connecticut – waren zwischen 65 0und 70 Prozent wahlberechtigt; in drei weiteren – Massachu1setts, Delaware und South Carolina – waren es etwa 80 Pro239
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zent; und in fünf Staaten – New Hampshire, New Jersey, Penn-1 sylvania, North Carolina und Georgia – waren es etwa 902 Prozent. Abgeschafft wurden die Zensusvorschriften zwischen3 1832 und 1850 in sechs weiteren Staaten: Mississippi (1832),4 Tennessee (1834), New Jersey (1844), Connecticut und Ohio5 (1850/51). Fünf Jahre später, 1856, hob North Carolina als letz-6 ter Staat das Zensuswahlrecht auf. 7 Amerika war damit das erste Land, das für die männliche8 weiße Bevölkerung das allgemeine gleiche Wahlrecht einge-9 führt hatte. Unter dem Gesichtspunkt, dass eine Ausdehnung0 des Wahlrechts auf die Frauen damals eine völlig utopische1 Vorstellung war, hatte Amerika dem Bau seiner Verfassung das2 Element hinzugefügt, das die Republik in eine institutionali-3 sierte Demokratie verwandelte. Vielerorts war die Einführung4 des demokratischen Wahlrechts freilich das Signal für gewalt-5 tätige Ausschreitungen, Fälschungen von Wahllisten, Stim-6 menkauf und -verkauf, Mobilisierung von Einwanderern ohne7 Bürgerrecht zur Stimmabgabe an den Wahlurnen. Die neben-8 stehende New Yorker Karikatur aus dem Jahr 1844 ist eine der9 besten Illustrationen jener Kinderkrankheiten der Demo-0 kratie. 1 Dem neuen demokratischen Selbstverständnis Amerikas hat2 Präsident Abraham Lincoln während des amerikanischen Bür-3 gerkriegs im November 1863 klassischen Ausdruck verliehen,4 als er bei der Trauerfeier für die Gefallenen der Nordstaaten auf5 dem Schlachtfeld von Gettysburg das Schlusswort sprach. Dabei6 mahnte er: 7 8 „Es ist vielmehr an uns, der großen Aufgabe geweiht zu wer-9 den, die noch vor uns liegt – auf dass uns die edlen Toten mit0 wachsender Hingabe erfüllen für die Sache, der sie das höchs-1 240
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1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 2 3 4 5Kinderkrankheiten der Demokratie: Wahlschlachten nach Einführung 6des allgemeinen Wahlrechts für Männer in einer New Yorker Karikatur 7aus dem Jahr 1844. 8 9 0 te Maß an Hingabe erwiesen haben –, auf dass wir hier feier1 lich beschließen, dass diese Toten nicht vergebens gestorben 2 sein sollen: auf dass diese Nation, unter Gott, eine Wiederge3 burt der Freiheit erleben soll; und auf dass die Regierung des 4 Volkes, durch das Volk und für das Volk, nicht von der Erde 5 verschwinden möge.“ 6 7Die Losung einer Wiedergeburt der Freiheit bezog sich auf die 8mit Wirkung vom 1. Januar 1863 vollzogene Aufhebung der 9Sklaverei, das heißt auf eine Neubelebung der Freiheit, auf der 0die Demokratie zusammen mit der Gleichheit beruht. Der Be1wahrung dieser Staatsform galt der abschließende Wunsch, 241
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dass sie nie von der Erde verschwinden möge: die Regierung,1 die eine des Souveräns ist, des Volkes in seiner Gesamtheit, die2 durch das Volk, das heißt durch die vom Volk bestellten Reprä-3 sentanten, und zum Wohle des Volkes ausgeübt wird. Das war4 das hochgemute Manifest der amerikanischen Demokratie,5 die sich dazu durchgerungen hatte, für die Einheit der Nation6 zu kämpfen und die Unfreiheit in Gestalt der Sklaverei zu be-7 seitigen. 8 Die Vereinigten Staaten waren vor dem Bürgerkrieg in zwei9 Sektoren gespalten, in die freien Staaten des Nordens und die0 sklavenhaltenden des Südens. Abraham Lincoln hatte in seiner1 Wahlkampfrede vom 16. Juni 1858 ausgesprochen, dass ein ge-2 teiltes Haus nicht bestehen könne, und die Erwartung geäußert,3 dass die Union erhalten bleiben und die Spaltung zugunsten der4 einen oder der anderen Seite aufgehoben werde. Seine berühmt5 gewordenen Worte lauten: 6 7 „Ein in sich geteiltes Land kann keinen Bestand haben. Ich8 glaube, dass dieser Staat nicht zur Hälfte aus Sklaven und zur9 Hälfte aus Freien bestehen kann. Ich erwarte nicht, dass die0 Union aufgelöst wird; ich erwarte nicht, dass das Haus zusam-1 menbricht; aber ich erwarte, dass es aufhören wird geteilt zu2 sein. Es wird in Gänze entweder das eine oder das andere3 sein.“ 4 5 Die politische Einheit des Landes und die Beseitigung der6 Sklaverei wurden unter Präsident Lincolns Führung in einem7 verheerenden Bürgerkrieg erkämpft. Nach Beendigung des8 Krieges im Jahr 1865 wurde das Verbot der Sklaverei im Zu-9 satzartikel XIII der Verfassung verankert. Aber das Ende der0 Sklaverei war nicht das Ende der Probleme, die sich aus dem1 242
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1Geburtsfehler der Vereinigten Staaten ergaben. Es gab und 2gibt den weißen Rassismus. Seine Spuren sind in der Ge3schichte des Landes bis auf den heutigen Tag allgegenwärtig. 4Die Nachkommen der Sklaven wurden entgegen der Verfas5sung oft genug gesellschaftlich und politisch diskriminiert, 6und trotz der Erfolge, welche die Bürgerrechtsbewegung der 7sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts auf institutioneller 8Ebene errungen hat, ist von der offenen oder unterschwelligen 9Diskriminierung der farbigen Bevölkerung noch vieles spür0bar und wirksam. Aber zur Ehre der amerikanischen Demo1kratie soll auch gesagt werden, dass sie schon in den Jahren 2unmittelbar nach Beendigung des Bürgerkriegs den Kampf 3gegen die Benachteiligung der ehemaligen Sklaven und ihrer 4Nachkommen aufnahm. Der Zusatzartikel XIV der Verfas5sung aus dem Jahr 1868 erklärte in Abschnitt 1 alle Personen 6zu Bürgern der Vereinigten Staaten, die, im Lande geboren 7und eingebürgert, ihrer Gesetzeshoheit unterstehen, und ver8bot jegliche Beschränkung der Vorrechte und Freiheiten des 9so definierten Personenkreises: 0 1 „Keiner der Einzelstaaten darf Gesetze erlassen oder durch2 führen, die die Vorrechte oder Freiheiten von Bürgern der 3 Vereinigten Staaten beschränken, und kein Staat darf irgend4 jemandem ohne ordentliches Gerichtsverfahren nach Recht 5 und Gesetz Leben, Freiheit oder Eigentum nehmen oder ir6 gendjemandem innerhalb seines Hoheitsgebietes den glei7 chen Schutz durch das Gesetz versagen.“ 8 9Doch diese Bestimmung wurde umgangen, und es wurde wei0terhin vieles unternommen, um Afroamerikanern oder Einwan1derern aus Mexiko das Wahlrecht zu verkürzen oder zu verwei243
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gern. Auf diese Verstöße gegen den Wortlaut und den Geist der1 Verfassung reagierte der Zusatzartikel XV zur Verfassung aus2 dem Jahr 1870: 3 4 „Das Wahlrecht der Bürger der Vereinigten Staaten darf von5 den Vereinigten Staaten oder einem Einzelstaat nicht auf-6 grund von Rassenzugehörigkeit, der Hautfarbe oder des vor-7 maligen Dienstbarkeitsverhältnisses (im Status der Sklaverei)8 versagt oder beschränkt werden.“ 9 0 Die amerikanische Demokratie bewährte sich darin, dass auf1 der politisch-institutionellen Ebene des Wahlrechts die Gleich-2 heit aller Bürger, der farbigen wie der weißen, in der Verfassung3 verankert wurde. Aber sie konnte den unter Weißen verbreite-4 ten Rassismus, der, um mit Tocqueville zu sprechen, in den5 mœurs, den Sitten und Gewohnheiten, angesiedelt ist, nicht mit6 gesetzlichen Vorschriften beseitigen. Es gab und gibt teilweise7 noch immer in Einzelstaaten Versuche, die Vorschriften der Ver-8 fassung zu unterlaufen, indem unerwünschten Minderheiten9 das Wahlrecht, wenn nicht verwehrt, so doch verkürzt wird. Die0 praktizierten Methoden sind Einschüchterung, die Forderung1 nach Bildungsvoraussetzungen, die zumindest von Teilen der2 betreffenden Minderheiten angeblich oder tatsächlich nicht er-3 füllt werden können, oder die Einteilung der Wahlbezirke ent-4 lang der Grenzen verschiedenrassiger Wohngebiete. Doch in5 den Jahren 1963 und 1964 zeigte sich, welche Möglichkeiten in6 dem Engagement von Teilen der Zivilgesellschaft steckten, der7 Benachteiligung von farbigen Mitbürgern, wenn nicht ein Ende,8 so doch Grenzen zu setzen. Mit Demonstrationen und spekta-9 kulären Aktionen wurden damals in ehemaligen Sklavenhalter-0 staaten die Registrierung von Afroamerikanern als Wählern, die1 244
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Die Vereinigten Staaten von Amerika. Von der Republik zur Demokratie
1Aufhebung der Rassentrennung in öffentlichen Verkehrsmit2teln, Restaurants, Schulen und Universitäten erkämpft. Ebenso 3wurden die Erhebung einer Steuer und das Bestehen eines 4Schreibtests als Voraussetzungen zur Ausübung des Wahlrechts 5abgeschafft. Auch wurde gegen die Versuche vorgegangen, un6liebsame Wähler von der Ausübung des Wahlrechts durch An7wendung oder Androhung von Gewalt abzuschrecken. Trotz8dem trüben noch immer der im Lande virulente Rassismus und 9die gesellschaftliche Diskriminierung bestimmter Minderhei0ten das Bild der ersten und größten Demokratie der westlichen 1Welt. 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 245
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Die Entstehung der modernen Parteiendemokratie
1 2 3 4 5 6 ie Entstehung der modernen Parteiendemokratie beruht7 auf grundlegenden Veränderungen in Politik und Gesell-8 schaft seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Als Stich-9 worte sind Industrialisierung und Kapitalismus, Liberalismus,0 Sozialismus und Konfessionalismus sowie Demokratisierung zu1 nennen. Diese Phänomene bildeten den Hintergrund für die2 Gründung organisierter Parteien seit 1860/70. Die Parteien ver-3 schrieben sich bestimmten langfristigen Zielen: der Einheit4 Deutschlands und dem Aufbau einer liberalen inneren Ord-5 nung; der Selbstbehauptung des Katholizismus gegen die ihn6 bekämpfenden Kräfte in Staat und liberaler Presse; der Besse-7 rung der sozialen Lage der Arbeiterklasse und der Erwartung8 einer revolutionären Vernichtung der bürgerlichen Klassenge-9 sellschaft. Demokratie und organisierte Parteien gehören auf0 das Engste zusammen, und es sind aus ihrem Bündnis der Sozi-1 alstaat und ein neues politisches Establishment entstanden,2 dessen Kern Berufspolitiker bilden. 3 Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 8.4 Mai 1949 ist die erste und, wenigstens nach meiner Kenntnis,5 die einzige demokratische Verfassung, welche die Mitwirkung6 demokratischer Parteien an der Gestaltung der Politik in den7 Rang einer Verfassungsvorschrift erhebt. Dies war eine Reakti-8 on auf Führerdiktatur und nationalsozialistische Gewaltherr-9 schaft in der Zeit von 1933 bis 1945, in der alle Parteien außer der0 Partei des Diktators verboten waren. Artikel 21 Absatz 1 des1
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1Grundgesetzes bedient sich einer Formulierung, die erkennen 2lässt, dass die Privilegierung der Parteien einem demokrati3schen Mehrparteiensystem gilt, keinesfalls einem Einparteien4system welcher Provenienz auch immer: „Die Parteien wirken 5bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Grün6dung ist frei.“ Zudem werden in Absatz 2 „Parteien, die nach 7ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf 8ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu 9beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bun0desrepublik Deutschland zu gefährden“ für verfassungswidrig 1erklärt. Artikel 21 Absatz 1 des Grundgesetzes setzt die Kenntnis, 2wie die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes 3mitwirken, offenbar voraus; jedenfalls beschreibt er nicht näher, 4was unter Mitwirkung zu verstehen ist. Deshalb sollen zunächst 5einige Bemerkungen zum Erscheinungsbild der Parteiendemo6kratie vorausgeschickt werden. 7 Die heutigen Parteien sind Personalverbände mit hohem 8Organisationgrad, die miteinander darum konkurrieren, Parla9mentswahlen zu gewinnen, die Regierung zu stellen oder mit 0anderen Parteien an einer Koalitionsregierung beteiligt zu 1sein. Sie besitzen Vereinscharakter mit Statuten, Parteipro2grammen, eingeschriebenen Mitgliedern und Vorständen. Die 3Mitglieder leisten Beiträge zur Finanzierung ihrer Partei, de4ren Organisation hierarchisch gegliedert ist. An der Spitze der 5Partei steht ein gewählter Vorstand, neuerdings unter dem Ge6sichtspunkt des Geschlechterproporzes mitunter eine Doppel7spitze. Für die Erfüllung ihrer Aufgaben stützt sich die Partei8führung auf ein Funktionärskorps. Die auf Parteitagungen 9beschlossenen Wahlprogramme dienen der Mobilisierung von 0Anhängern und Wählern. Bei den periodisch wiederkehrenden 1Wahlen konkurrieren mehre Parteien um die Stimmen der 247
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Wählerschaft. Die vom Volk vollzogene Wahl bestimmt die1 Stärke der Parteien im Parlament und schafft damit die Voraus-2 setzung für die Regierungsbildung. Das Wahlvolk ist, von dem3 in Deutschland extrem seltenen Fall eines Volksentscheids ab-4 gesehen, weder an der Regierungsbildung noch an der Gesetz-5 gebung noch an der Regierungstätigkeit beteiligt. Nach vollzo-6 gener Wahl ist alles Weitere Sache der Parteien: Sie treffen7 Absprachen über Koalitionen und die personelle Zusammen-8 setzung der Regierung, und sie vereinbaren Regierungspro-9 gramme und Gesetzgebungsvorhaben. 0 Dies alles geschieht nicht ohne Rückbindung an die Öffent-1 lichkeit: mittels Verlautbarungen der Parteien, Meinungsumfra-2 gen, Nachrichten und Kommentaren in Presse und sozialen3 Netzwerken, Rundfunk und Fernsehen sowie in der parlamen-4 tarischen Auseinandersetzung zwischen der Regierungsmehr-5 heit und der Minderheit der Opposition, deren Hauptaufgabe6 darin besteht, die Regierungstätigkeit kritisch zu prüfen und7 Alternativen aufzuweisen. Aus den Parteien geht die zur politi-8 schen Führung bestimmte Elite hervor; denn nur über die No-9 minierung durch eine Partei kann ein Aspirant in eine führende0 Stellung gelangen. Insofern treten Parteileute an die Stelle der1 Angehörigen jener Eliten, die in vordemokratischer Zeit die2 Funktion der Vertretung des Volkes in den Repräsentativkörper-3 schaften innehatten. Anstelle des Adels, des privilegierten Stan-4 des des Ancien Régime, oder der Besitzenden und Gebildeten5 des bürgerlichen Zeitalters bilden Mitglieder oder Anhänger der6 Parteien die Rekrutierungsbasis der neuen politischen Elite des7 demokratischen Zeitalters. 8 Das Gegen- und Miteinander, das die regierende Mehrheit9 und die oppositionelle Minderheit aneinander bindet, ist der0 Meinungsstreit über die beste – oder zugkräftigste – Antwort1 248
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1auf die jeweils zu lösenden politischen Fragen. Insoweit 2kommt in dieser Konstellation die ursprüngliche Bedeutung des 3Wortes „Partei“ zum Vorschein. Das Wort, von lateinisch pars 4abgeleitet, bezeichnet den Teilnehmer an einem Meinungs- be5ziehungsweise Interessenstreit. Bezogen auf Auseinanderset6zungen vor Gericht ist das zusammengesetzte Wort „Pro7zesspartei“ ein juristischer Fachausdruck geworden. Aus der 8römischen Rechtssprache stammt bekanntlich die Forderung, 9dass „auch die andere Partei gehört werden möge“ (audiatur et 0altera pars). 1 Diese Bedeutung steht auch am Anfang der Entwicklung, die 2zu dem modernen politischen Parteibegriff geführt hat. Von 3Parteiorganisation, voneinander abgegrenzten Parteiprogram4men und Fraktionszwang konnte damals noch gar keine Rede 5sein. Entstanden sind Meinungsstreitigkeiten aus konkreten 6Anlässen, die zu Polarisierung unter den Repräsentanten des 7Volkes führten, in England beispielsweise angesichts des Kon8flikts zwischen König und Parlament, der zur Glorious Revoluti9on von 1689 führte, oder in den noch jungen Vereinigten Staaten 0anlässlich der Auseinandersetzungen um die Ratifizierung des 1Verfassungsentwurfs. 2 Die Streitpunkte, an denen sich im englischen Parlament des 317. Jahrhunderts die Parteien schieden, betrafen die absolutisti4sche und eine Rekatholisierung begünstigende Tendenz der 5beiden letzten Könige aus dem Hause Stuart. Eine der beiden 6aristokratischen Gruppierungen widersetzte sich der Thronfol7ge Jakobs II., der zum Katholizismus konvertiert war, und be8kämpfte die Versuche der Krone, ihren Einfluss im Parlament 9durch Stimmenkauf und Patronage auszuweiten. Sie hießen 0mit Namen „Whigs“. Auf der anderen Seite standen die soge1nannten „Tories“, heute der inoffizielle Name der Konservati249
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ven Partei. Diese verteidigten damals das Königsrecht der Stu-1 arts auf den Thron und die königlichen Herrschaftsansprüche.2 Whigs und Tories sind herabwürdigende Bezeichnungen, er-3 funden von den jeweiligen Gegnern. Beide waren ursprünglich4 Schimpfworte. Tories bedeutete so viel wie irische Straßenräu-5 ber; Whigs ist gälischen Ursprungs und bezeichnete schottische6 Viehtreiber. Die mit diesen Namen verbundenen politischen7 Assoziationen liegen auf der Hand: Die Tories unterstützten8 den zum Katholizismus übergetretenen Jakob II. und die An-9 sprüche seines Hauses auf den englischen Thron, Whigs hie-0 ßen in übertragener Bedeutung die schottischen Anhänger der1 presbyterianischen Kirche, die den von den Stuarts begünstig-2 ten Katholizismus bekämpften. Im Grunde reflektieren die be-3 treffenden Schimpfworte noch den Geist der im 17. Jahrhundert4 ausgetragenen Religionskriege. 5 Mit der Glorious Revolution wurde in der Interpretation der6 Whigs die Stellung des Protestantismus und des Parlaments7 mit Glanz und Gloria wiederhergestellt – Revolution, ein Wort,8 das bekanntlich der Fachsprache der Astronomie entlehnt ist,9 bedeutete so viel wie die Rückkehr der Planeten zum Aus-0 gangspunkt ihrer Laufbahn um die Sonne, in Übertragung auf1 die politische Welt Wiederherstellung des Ursprungs, nicht ge-2 waltsamen Aufbruch zu einer neuen Ordnung. Die Geschichte3 der Gruppierungen im englischen Parlamentarismus kann und4 braucht hier nicht verfolgt zu werden. Es genügt die Feststel-5 lung, dass weder die Partei der Whigs noch die der Tories den6 festgefügten Organisationen glich, die heute mit dem Begriff7 einer politischen Partei assoziiert werden. Es handelt sich ei-8 gentlich um politische Orientierungen innerhalb einer Elite,9 die sich ihrer Parlamentssitze sicher sein konnte, ohne einer0 wie auch immer gearteten Partei verpflichtet zu sein. Dement-1 250
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1sprechend war es den Parlamentsabgeordneten ohne Weiteres 2möglich, sich von Fraktionszwängen unbehelligt frei zu bewe3gen und ihren eigenen Überzeugungen zu folgen. 4 Ein eindrucksvolles Beispiel bietet der berühmte Reformer 5Robert Peel (1788–1850), Premierminister in den Jahren 1834– 61835 und 1841–1846. Der Vater war als Baumwollfabrikant zu 7Reichtum gelangt, hatte sich großen Landbesitz zugelegt und 8war geadelt worden. Als der Sohn sein Studium an der Univer9sität Oxford mit ausgezeichnetem Erfolg in den Fächern Klas0sische Philologie und Mathematik beendet hatte, kaufte ihm 1der Vater im Jahre 1809 den Unterhaussitz eines in Irland ge2legenen Wahlbezirks. Die geringe Zahl der Wähler, die es dort 3gab, insgesamt 24, machte die Bestechungssumme erschwing4lich. Robert Peel wechselte den Parlamentssitz mehrfach, be5währte sich und wurde vom Herzog von Wellington, dem Sie6ger in der Schlacht von Waterloo, protegiert. Als dieser im Jahr 71828 als Premierminister sich die Emanzipation der Katholi8ken zum Ziel gesetzt hatte, unterstützte ihn Peel, seinem lang9jährigen Widerstand gegen diese Reform zum Trotz, weil er 0sich schließlich von ihrer Notwendigkeit überzeugt hatte, und 1wurde von seinen Wählern prompt mit dem Entzug seines 2Parlamentssitzes bestraft, mit dem er damals die Universität 3Oxford im Unterhaus vertrat. Er wechselte in einen anderen 4der damals käuflichen Wahlkreise, deren Existenz die Parla5mentsreform von 1832 freilich ein Ende setzte. Peel selbst 6kämpfte 18 Monate gegen die Annahme des Reformgesetzes. 7Dabei machte er zugunsten der unhaltbar gewordenen alten 8Regelung geltend, dass England der Käuflichkeit von Unter9haussitzen eine stattliche Reihe bedeutender Premierminis0ter verdanke. Er selbst sollte der letzte in dieser Reihe wer1den. 251
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Robert Peel akzeptierte am Ende die neuen Verhältnisse und1 wurde, nachdem er sich öffentlich zu einer Politik moderater2 Reformen bekannt hatte, zum Führer einer neuen Sammlungs-3 bewegung, die sich aus Tories und Whigs zusammensetzte und4 mit dem Namen ihres Führers „Peeliten“ genannt wurde. König5 Wilhelm IV. ernannte ihn zum Premierminister einer Minder-6 heitsregierung. Doch da diese im Parlament gegen die Opposi-7 tion der Mehrheit nicht ankam, trat sie nach einer Amtszeit von8 einem Jahr zurück. In seiner zweiten Amtszeit als Premierminis-9 ter vollzog Robert den Übergang von der Schutzzoll- zur Frei-0 handelspolitik und berücksichtigte auch gewisse Forderungen1 der unter den Arbeitsbedingungen im Zeitalter der Frühindust-2 rialisierung leidenden Arbeiterschaft. Eingeführt wurden erste3 Sicherheitsstandards für die Arbeit an Maschinen und eine Be-4 grenzung der Arbeitszeit für Frauen und Kinder. Als er im Jahr5 1846 dann ein Gesetz zur Aufhebung der hohen Getreidezölle6 betrieb und damit im Interesse der Armen und Geringverdie-7 nenden die Verbilligung des Brotpreises im Auge hatte, verwei-8 gerte die ihn bis dahin unterstützende Gruppierung des Parla-9 ments die Gefolgschaft. Doch mithilfe einer veränderten0 Gruppierung gelang es ihm, die parlamentarischen Hürden zu1 nehmen und die Annahme des Getreidegesetzes durchzusetzen2 – und prompt wurde er anschließend gestürzt. Zu krass hatte er3 den im Parlament mächtigen agrarischen Interessen zuwiderge-4 handelt. Robert Peel war zwar ein Konservativer alten Schlages,5 öffnete sich aber der Einsicht, dass Veränderungen im wohlver-6 standenen konservativen Interesse notwendig seien, und han-7 delte entsprechend, ohne sich fest an eine Parteizugehörigkeit8 zu binden. 9 Vergleichbar war die Lage in den jungen Vereinigten Staaten.0 Auch hier gab es keine modernen Parteien mit fester Organisa-1 252
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1tionsstruktur, wohl aber gab es Meinungsverschiedenheiten, 2nicht zuletzt darüber, ob die neue Republik eher als ein locker 3gefügter Staatenbund oder als Bundesstaat mit eigenen Orga4nen und Zuständigkeiten in Exekutive und Legislative zu orga5nisieren sei. Der darüber ausgebrochene Meinungsstreit wurde 6in Diskussionszirkeln, in Zeitungsartikeln sowie in beschließen7den Versammlungen wie dem in Philadelphia tagenden verfas8sungsgebenden Kongress sowie in den Ratifikationsverfahren 9der Einzelstaaten ausgetragen. Daran waren Wortführer der 0Elite beteiligt, die alle im öffentlichen Leben formell oder infor1mell eine herausgehobene Rolle spielten. Die Argumente, die in 2diesem Streit ausgetauscht wurden, sind in zwei Sammelwer3ken, den Federalist und Antifederalist Papers, nachzulesen. Einen 4authentischen Eindruck von der Eigenständigkeit führender 5Köpfe der damaligen Zeit gibt eine Äußerung von Thomas Jef6ferson, dem Verfasser der Unabhängigkeitserklärung von 1776, 7in der er die Bindung an eine Partei ablehnt und sich auf die ei8gene Urteilsfähigkeit beruft: 9 0 „I am not a Federalist, because I never submitted the whole 1 system of my opinions to the creed of any party of men wha2 tever, in religion, in philosophy, in politics, or in anything else, 3 where I was capable of thinking for myself. Such an addiction 4 is the last degradation of a free and moral agent. If I could not 5 go to heaven but with a party, I would not go there at all. 6 Therefore, I am not of the party of Federalists.“ 7 8Thomas Jefferson neigte der Position der Antiföderalisten zu, 9aber er tat es aus eigener Überzeugung: Nicht als Gefolgs0mann einer Partei hielt er an der starken Stellung der Ein1zelstaaten fest. Seine erste Loyalität galt Virginia, seinem 253
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Heimatstaat. Bezeichnenderweise erwähnt er auf seinem1 Grabstein unter seinen Ruhmestiteln nicht die amerikanische2 Unabhängigkeitserklärung, sondern nur die Verdienste um3 seine Heimat: die Deklaration der Religionsfreiheit in seinem4 Heimatstaat und die Stiftung der Universität von Virginia in5 Charlottesville. 6 Auf der anderen Seite des Meinungsstreites stand Alexander7 Hamilton aus New York. Im Unabhängigkeitskrieg war er Wa-8 shingtons Stabschef gewesen. Mit dem realistischen Blick des9 erfahrenen Finanzmannes erkannte er die Notwendigkeit, dem0 Bund der Einzelstaaten eine effektive gemeinsame Organisati-1 on zu geben, damit er sich nach innen und außen behaupten2 könne. Die Einzelstaaten wurden mit der großen Schuldenlast3 nicht fertig, die der Krieg mit England hinterlassen hatte; darü-4 ber war das Geldwesen in Zerrüttung geraten. Hier Abhilfe5 schaffen konnte nach Überzeugung der Föderalisten nur ein6 handlungsfähiger Bundesstaat. Auch im Interesse der inneren7 und äußeren Sicherheit, der Abwicklung und des Schutzes des8 Außenhandels sowie der Organisation der Territorien jenseits9 der Appalachen erschien das notwendig. Dagegen befürchteten0 die Antiföderalisten, dass ein starker Bundesstaat eine Bedro-1 hung der im Unabhängigkeitskrieg gegen England errungenen2 Freiheit bedeute, ja dass er die Entstehung einer Despotie der3 Union anstelle der des englischen Königs und des Londoner4 Parlaments bewirken könne. 5 In gewisser Hinsicht nahm James Madison, später der vierte6 Präsident der Vereinigten Staaten (1809–1817), eine Zwischen-7 stellung ein. Er teilte den Standpunkt, dass die Gründung eines8 handlungsfähigen Bundesstaates notwendig sei, aber er nahm9 die Warnungen vor einer Tyrannei der Mehrheit ernst und ver-0 mittelte in dem Meinungsstreit zwischen Föderalisten und An-1 254
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1tiföderalisten. Er war souverän genug, dem Standpunkt der Ge2genseite Rechnung zu tragen, dass eine starke Zentralregierung 3dem Bürger das hohe Gut der Freiheit verkürzen könnte – eine 4Gefahr, die später in anderer Weise Alexis de Tocqueville als 5Bedrohung der Demokratie wahrnahm und in seinem Buch De 6la démocratie en Amérique thematisierte. Die Reaktion auf den 7Meinungsstreit waren die ersten zehn Zusatzartikel der Verfas8sung aus dem Jahr 1791, die unter führender Mitwirkung von 9James Madison ausgearbeitet und in Kraft gesetzt wurden. Sie 0enthielten einen Katalog von Bürger- und Menschenrechten, die 1die Dispositionsgewalt des Staates beschränkten. So hieß es in 2Zusatzartikel I: 3 4 „Der Kongress darf kein Gesetz erlassen, das die Einführung 5 einer Staatsreligion zum Gegenstand hat, die freie Religions6 ausübung verbietet, die Rede- und Pressefreiheit oder das 7 Recht des Volkes einschränkt, sich friedlich zu versammeln 8 und die Regierung durch Petition um Abstellung von Miss9 ständen zu ersuchen.“ 0 1Zu den in die Zusatzartikel aufgenommenen Rechten gehört 2auch, dass das Volk berechtigt ist, Waffen zu besitzen und zu 3tragen – wie man weiß, ist es ein Recht im Verfassungsrang, das 4die vielen Tötungsdelikte in den heutigen Vereinigten Staaten 5begünstigt. Gedacht war es ursprünglich nach dem Wortlaut 6des Zusatzartikels II als integraler Bestandteil der Wehrverfas7sung: 8 9 „Da eine gut ausgebildete Miliz für die Sicherheit eines freien 0 Staates erforderlich ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu 1 besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.“ 255
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Was Deutschland anbelangt, so bieten auch die Debatten, die1 nach der Märzrevolution von 1848 in der Frankfurter Paulskir-2 che über die Verfassung des geplanten deutschen National-3 staats geführt wurden, ein gutes Beispiel für eine vormoderne,4 nicht organisatorisch verfestigte Parteienbildung. Dort bilde-5 ten sich informelle Gruppierungen mit bestimmter politischer6 Orientierung, demokratisch, liberal in unterschiedlichen Aus-7 prägungen und konservativ, was damals eine Position bezeich-8 nete, die am monarchischen Prinzip und an einer ständischen9 Repräsentation festhielt. Diese Vereinigungen versammelten0 sich in verschiedenen Gasthöfen Frankfurts, nach denen sie1 auch benannt wurden, nicht nach den Namen von Parteien, die2 es ja in organisierter Form noch gar nicht gab. Das Abstim-3 mungsverhalten der Abgeordneten war durch die Gruppenzu-4 gehörigkeit nicht festgelegt und konnte sich je nach verhandel-5 ten Gegenständen ändern. Dies geschah vor allem, als die6 Alternative einer groß- oder kleindeutschen Lösung der staatli-7 chen Einheit Deutschlands zur Debatte stand oder die Frage8 erörtert wurde, ob ein Erb- oder Wahlkaiser an der Spitze des9 neuen Reiches deutscher Nation stehen solle. Die Abgeordne-0 ten stimmten keineswegs immer einheitlich im Sinne ihrer1 Gruppenzugehörigkeit ab, und in der Frage eines Erb- oder2 Wahlkaisertums fiel die Entscheidung zugunsten des Erbkai-3 sertums der preußischen Könige mit 267 zu 263 Stimmen denk-4 bar knapp aus. 5 Die Frankfurter Nationalversammlung war ein Parlament6 von Honoratioren, darunter viele Gelehrte, nicht zuletzt Germa-7 nisten, deren Elite sich als Vertreter einer nationalen, jedoch8 nicht engherzig nationalistischen Wissenschaft verstand. Ihre9 größte Koryphäe, Jacob Grimm, war Mitglied der Nationalver-0 sammlung (freilich ohne sich an den Debatten besonders zu be-1 256
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1teiligen). Das vielfach geäußerte Urteil, dass die Gruppenbil2dung in der Frankfurter Nationalversammlung eine Vorstufe 3des pluralistischen Parteiensystems moderner Prägung dar4stellt, mag man gelten lassen; doch sollte bewusst bleiben, dass 5diese Gruppenbildung der Entstehung organisierter Parteien 6vorausliegt. 7 In der Frankfurter Nationalversammlung war umstritten, ob 8das Wahlrecht zur zweiten Kammer, dem sogenannten Volks9haus, an einen Zensus geknüpft sein oder die Zulassung aller 0volljährigen Männer zu den Wahlen vorsehen solle. Der Mei1nungsstreit ging um nichts Geringeres als um die Frage, ob die 2Vertretung des Volkes wie in Amerika nach rein demokrati3schem Prinzip verbürgt oder die Beteiligung an politischer Mit4wirkung nach Maßgabe der sogenannten „veredelten Demokra5tie“ durch ein Zensuswahlrecht beschränkt sein sollte. Diese 6Frage ist mit dem im vorangehenden Abschnitt erörterten The7ma insofern eng verbunden, als ein restriktives Zensuswahl8recht eng mit dem Typus der Honoratiorenelite verschwistert 9ist, das freie und gleiche Wahlrecht hingegen die Parteienbil0dung moderner Art begünstigt. 1 Der Verfassungsausschuss der Nationalversammlung arbei2tete einen Entwurf aus, der ganz im Sinne des Konzepts der 3„veredelten Demokratie“ vorsah, dass Handwerksgesellen, Fa4brikarbeiter, Tagelöhner und Dienstboten, dazu alle Empfänger 5von Armenunterstützung nicht an Wahlen teilnehmen durften. 6Das wurde mit überwältigender Mehrheit abgelehnt. Es blieb 7bei dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht für Männer, nach 8dem auch die verfassungsgebende Versammlung nach einem 9Gesetz des Deutschen Bundes gewählt worden war. Dafür hat0ten gegen ihre Überzeugung zum Schluss auch konservative Ab1geordnete gestimmt – in der Hoffnung, dass die Einzelstaaten 257
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die Ratifikation der Wahlrechtsbestimmungen zu Fall bringen1 würden. 2 Die verfassungsgebende Versammlung scheiterte bekannt-3 lich mit der Absicht, die Einheit Deutschlands zu einem Bun-4 desstaat mit einem Erbkaiser an der Spitze zu erreichen. Der5 zweite Anlauf gelang, unter Ausschluss der von Deutschen be-6 siedelten Teile in der österreichischen Reichshälfte der Habs-7 burger Doppelmonarchie, nach dem Deutsch-Französischen8 Krieg von 1870/71. Die Gründung des Kaiserreichs war das Er-9 gebnis einer Einigung der deutschen Fürsten und der drei0 Stadtrepubliken Bremen, Hamburg und Lübeck, aber sie erfüll-1 te das im Volke virulente Streben nach der Einheit Deutsch-2 lands. Sogar das demokratische Wahlrecht wurde aus der3 Frankfurter Verfassung von 1849 in die Reichsverfassung über-4 nommen. Entsprechendes war auf Bismarcks Betreiben schon5 bei der Gründung des Norddeutschen Bundes nach dem Preu-6 ßisch-Österreichischen Krieg von 1866 geschehen – wie man7 weiß, allerdings nicht in der Absicht, den neuen Bundesstaat als8 parlamentarische Monarchie zu gründen, sondern in der Er-9 wartung, dass das allgemeine gleiche Wahlrecht die Wahlchan-0 cen der Liberalen, der Partei des Bürgertums, mindern würde,1 mit denen Bismarck einen schweren Verfassungskonflikt in2 Preußen ausgetragen hatte. Der betreffende Satz der Reichs-3 verfassung von 1871 lautet in Artikel 20: „Der Reichstag geht4 aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Abstim-5 mung hervor.“ 6 Beide Bundesverfassungen, die von 1849 und die von 1871,7 repräsentieren den Typus einer konstitutionellen Monarchie8 mit einer aus allgemeinen und gleichen Wahlen hervorgehen-9 den Vertretung des Volkes. Beide Verfassungen entsprachen0 insofern derjenigen der Vereinigten Staaten: Es handelte sich1 258
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1hier wie dort um Bundesstaaten, in denen die Repräsentanten 2des Volkes durch allgemeine Wahlen ohne Beschränkungen 3durch einen Zensus bestimmt wurden. Sie waren auch darin 4vergleichbar, dass Volk und Gliedstaaten durch eigene Reprä5sentationsorgane vertreten waren: in Amerika durch Repräsen6tantenhaus und Senat, im neuen Deutschen Kaiserreich durch 7Reichstag und Reichsrat. Aber abgesehen davon, dass das Kai8serreich eine Erbmonarchie war und Amerika eine Republik 9mit einem auf Zeit gewählten Staatsoberhaupt, unterschied 0beide Bundesstaaten, dass die Verfassung der Vereinigten Staa1ten auf dem Prinzip der Gewaltenteilung gegründet war, wäh2rend dies für das Kaiserreich nicht zutrifft. Hier teilte sich der 3Bundesrat, die Vertretung der Gliedstaaten, nicht nur mit dem 4Reichstag in die gesetzgebende Gewalt, sondern war er auch 5das Gremium, das an der Exekutive beteiligt war. In diesem 6Gremium richtete sich die Zahl der Stimmen, über welche die 7einzelnen Gliedstaaten verfügten, nach ihrer Größe, und das 8bedeutete, dass Preußen, dessen Territorium und Bevölke9rungszahl durch die Annexionen des Jahres 1866 erheblich ge0wachsen waren, das Übergewicht im Bundesrat hatte. Der gra1vierende Unterschied zu Amerika betrifft also nicht nur das 2Prinzip der Gewaltenteilung, sondern auch das Stimmenge3wicht der Einzelstaaten. In den Vereinigten Staaten von Ameri4ka verfügen der größte, Kalifornien, und der kleinste, Delawa5re, jeweils über zwei Sitze im Senat, und so ist es von Anfang an 6gewesen. 7 Doch damit nicht genug: Im Unterschied zu den Vereinigten 8Staaten von Amerika, deren Präsident die exekutive Gewalt in9nehat, ernannte im Deutschen Kaiserreich der Kaiser, der zu0gleich König von Preußen war, den Ministerpräsidenten von 1Preußen zum Kanzler des Reiches. Dieser war als Leiter der Re259
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gierungsgeschäfte in Preußen und im Reich nicht dem Reichs-1 tag, sondern dem Kaiser und König verantwortlich. Dadurch2 unterschied sich die Konstruktion der Reichsverfassung von3 1871 auch grundlegend von der parlamentarischen Monarchie4 Englands, wo der Premierminister das Vertrauen des Unterhau-5 ses sowohl bei seiner Ernennung durch den König als auch bei6 seiner Amtsführung besitzen muss. 7 Noch ein weiterer Unterschied zu den Vereinigten Staaten8 verdient hier erwähnt zu werden: Zwar besitzen die Gliedstaa-9 ten beider Bundesstaaten eigene Verfassungen, aber diese fal-0 len ganz unterschiedlich aus. Während in Amerika die Einzel-1 staaten wie die Union nach dem Prinzip der Gewaltenteilung2 und mit Volksvertretungen aufgrund allgemeiner und gleicher3 Wahlen organisiert sind, war dies in den Bundesstaaten des4 Deutschen Kaiserreiches nicht der Fall. In den Gliedstaaten5 des Kaiserreiches, sowohl den monarchischen als auch den6 Stadtrepubliken, herrschte weiterhin das Zensuswahlrecht in7 verschiedener Ausgestaltung. Am berühmt-berüchtigtsten im8 allgemeinen Bewusstsein ist noch heute das preußische Drei-9 klassenwahlrecht, doch die Unterschiede gingen im Kaiser-0 reich sogar so weit, dass in den beiden Großherzogtümern1 Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz bis zum2 Ende des Ersten Weltkriegs als kurioses Erbe des Ancien Ré-3 gime landständische Verfassungen in Kraft blieben. Von Bür-4 ger- und Menschenrechten verlautet in der Reichsverfassung5 von 1871 kein einziges Wort, ebenso wenig von dem Recht ei-6 ner Ministeranklage bei Verletzung der Verfassung. Dieses7 Recht enthielten immerhin die von der Frankfurter National-8 versammlung verabschiedete Reichsverfassung und sogar die9 landständische Verfassung Kurhessens von 1831. Die Verfas-0 sung des Kaiserreichs war eben nur ein bloßes Organisations-1 260
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1statut. Das Kaiserreich war, trotz des demokratischen Wahl2rechts für die Vertretung des Volkes, von einer demokratischen 3Regierungsform noch weit entfernt. 4 Anders, und doch in Hinblick auf die Vermeidung einer de5mokratischen Regierungsform vergleichbar, verlief die Ent6wicklung in England. Freilich ist immer wieder die Meinung zu 7hören und zu lesen, dass England die Mutter der Demokratie 8sei. Dies war das Land gewiss nicht. Aber es war die Mutter des 9Parlamentarismus, das heißt einer Regierungsform, in der der 0Premierminister notwendig das Vertrauen der Mehrheit des 1Unterhauses besitzen muss, um ernannt werden und mit sei2nem Kabinett Regierungsfunktionen ausüben zu können. Aber 3das Unterhaus war, wie oben geschildert worden ist, bis tief in 4das 19. Jahrhundert hinein ein Zentrum der Adelsherrschaft. 5Die Masse des Volkes war vom Wahlrecht ausgeschlossen. In6sofern fehlte dem Parlamentarismus das Element, das ihn zur 7Regierungsform einer Demokratie gemacht hätte. Immerhin 8kam es in den fast neunzig Jahren zwischen der Parlamentsre9form von 1832 und dem Ende des Ersten Weltkriegs, als allen 0Männern und dem größten Teil der Frauen das Wahlrecht zu1erkannt wurde, zu vorsichtigen Reformschritten, die im Ender2gebnis die Mehrheit der Unterhaussitze vom grundbesitzen3den Adel zur bürgerlichen Elite aus Handel und Industrie und 4– was die Einteilung der Wahlkreise anbelangt – das Schwerge5wicht von den ländlichen Bezirken zu den städtischen Zentren 6verschoben. 7 Der erste Schritt geschah 1867. Der Second Reform Act dieses 8Jahres milderte das Zensuswahlrecht. In den städtischen Wahl9bezirken erhielten nicht nur die Hausbesitzer, sondern auch die 0Mieter, sofern sie mindestens zehn Pfund Miete im Jahr zahlten, 1das Wahlrecht, in den ländlichen Wahlkreisen Eigentümer und 261
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Pächter mit geringem Landbesitz. Dadurch wurde die Zahl der1 Wahlberechtigten mehr als verdoppelt, von etwa einer Million2 auf mehr als zwei Millionen – was freilich noch immer eine Min-3 derheit der männlichen Bevölkerung Englands war. Die stärkere4 Berücksichtigung städtischer Wahlbezirke hatte zur Folge, dass5 bei den Wahlen des Jahres 1867 insgesamt 122 Abgeordnete ge-6 wählt wurden, die Handels-, Industrie- und Schifffahrtsinteres-7 sen vertraten. Aber noch immer gehörten mehr als 500 der8 Schicht der Grundbesitzer an. Darüber hinaus waren 360 Abge-9 ordnete der Hocharistokratie verwandtschaftlich verbunden.0 Auch nach der Reform von 1867 behielt die Einschätzung der1 Machtverhältnisse, die Lord Palmerston kurz vorher, im Jahr2 1864, geäußert hatte, ihre Richtigkeit: 3 4 „Nach unseren gesellschaftlichen Gewohnheiten und unserer5 politischen Organisation ist der Besitz von Land direkt oder6 indirekt die Quelle von politischem Einfluss und politischer7 Macht.“ 8 9 Keine zwei Jahrzehnte später kam es unter Führung von Premi-0 erminister William Ewart Gladstone (1809–1898) – er gehörte1 der neuen Liberalen Partei an – unter dem Namen Representa-2 tion of the People Act 1884 zu einer Reform der Reform. Das be-3 treffende Gesetz übertrug die Vermögensanforderungen, die4 das Vorgängergesetz an die Stadtbewohner gestellt hatte, auf5 die Landbevölkerung, und im folgenden Jahr begünstigte eine6 Wahlkreisreform die im Wachstum begriffenen Städte, insbe-7 sondere die Millionenstadt London. Insgesamt 138 Sitze des Un-8 terhauses wurden neu verteilt, und London erhöhte die Zahl9 seiner Abgeordneten von 22 auf 68. Die Zahl der Wahlberechtig-0 ten stieg auf insgesamt fünfeinhalb Millionen, aber noch immer1 262
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1blieben 40 Prozent der erwachsenen Männer ohne Wahlrecht – 2ganz zu schweigen von den Frauen, die trotz der spektakulären 3Auftritte der für das Frauenwahlrecht demonstrierenden Suffra4getten weiterhin von der Männerdomäne des Wahlrechts ausge5schlossen blieben. 6 Mit Recht ist gesagt worden, dass die letzte Reform eine Bre7sche in die Vorherrschaft des Adels im Unterhaus schlug. Auch 8litt die wirtschaftliche Vorrangstellung, die der grundbesitzen9de Adel in der Gesellschaft Englands so lange eingenommen 0hatte, unter der Industrialisierung und der Agrardepression, 1die einen sinkenden Getreidepreis zur Folge hatte. In die glei2che Richtung wirkte die Einführung geheimer Wahlen im Jahr 31872. Sie entzog dem grundbesitzenden Adel die Möglichkeit, 4das Wahlverhalten seiner Pächter und der Bauern zu kontrol5lieren. Die Folgen des Representation of the People Act von 1884 6lassen sich an der geänderten Zusammensetzung des Unter7hauses ablesen. Die Mehrheit des Hauses verlagerte sich von 8den landbesitzenden zu den bürgerlichen Schichten der Städ9te, deren Wohlstand auf Einkommen aus Handel und Industrie 0beruhte. 1 Immerhin blieb der Aristokratie das Oberhaus als Bollwerk 2ihrer Interessenwahrung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts be3nutzte es das ihm zustehende Vetorecht zur Behinderung der 4von der liberalen Regierung verfolgten Sozial- und Budgetpoli5tik. Diese Strategie der Obstruktion gipfelte im Jahr 1909 in der 6Ablehnung des von der Regierung vorgelegten Budgets, das er7hebliche Belastungen für die Besitzenden vorsah. Damit hatte 8die Aristokratie den Bogen überspannt. Denn nach eingespiel9tem Brauch hatte sich das Oberhaus aus Steuer- und Budgetent0scheidungen des Unterhauses herauszuhalten. Die Reaktion 1kam zwei Jahre später mit dem Parliament Act von 1911: Was 263
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vorher Gewohnheit war, wurde Gesetz. Dem Oberhaus wurde1 durch Verbot die Möglichkeit entzogen, finanzielle Beschlüsse2 des Unterhauses abzulehnen, und für andere Bereiche wurde3 ihm nur noch ein aufschiebendes Veto mit zweijähriger Wirkung4 belassen. 5 Mit den erwähnten Reformen war England zweifellos auf6 dem Weg von einem aristokratischen zu einem bürgerlichen7 Parlamentarismus. Demokratisch war indessen auch dieser8 nicht. Das Zensuswahlrecht war nicht zugunsten des allgemei-9 nen und gleichen Wahlrechts abgeschafft. Die unteren Schich-0 ten des Volkes, etwa 40 Prozent der erwachsenen Männer, von1 den Frauen ganz abgesehen, wurden noch immer von den Wahl-2 urnen ferngehalten. Die damalige Verfassung Englands ent-3 sprach derjenigen, die Johann Caspar Bluntschli als „veredelte4 Demokratie“ bezeichnet hatte: kurzum als eine Demokratie, die5 keine echte war. 6 Von der skizzierten Entwicklung war auch das Parteiwesen7 des Landes betroffen. Die meisten einflussreichen Politiker wa-8 ren anfangs noch immer Adlige, die sich zu Absprachen in vor-9 nehmen Klubs trafen und nicht auf mitgliederstarken Partei-0 konferenzen um Unterstützung werben mussten. Die Elite der1 Tories beziehungsweise der Konservativen traf sich in dem re-2 nommierten Carlton Club, den kein Geringerer als der Herzog3 von Wellington begründete hatte (und der noch heute existiert).4 Auch die Liberalen, eine ursprünglich lockere, von Robert Peel5 begründete Verbindung reformbereiter Politiker aus Whigs und6 ehemaligen Tories, dominierten in ihren Anfängen prominente7 Aristokraten, so etwa Lord Palmerston (1784–1865) und Lord8 John Russell (1792–1878), der Erste als Führer der Liberalen im9 Unterhaus, der Zweite als sein Gegenstück im Oberhaus. Beide0 bekleideten mehrfach das Amt des Premierministers. Erst im1 264
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1letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kamen „neue Leute“, homi2nes novi, wie der Typus des Aufsteigers im Lateinischen bezeich3net wurde, an die Spitze der genannten Parteien: bei den Libera4len der aus einer schwerreichen Händlerfamilie stammende 5William Ewart Gladstone und bei den Konservativen sein großer 6Rivale Benjamin Disraeli, ebenfalls aus einer reichen Händler7familie stammend und Sohn eines getauften Juden (1804–1881). 8Ihre Herkunft aus nichtadligen Familien sowie ihr Aufstieg zu 9Parteiführern und Premierministern sind ein Vorspiel zum Re0presentation of the People Act des Jahres 1884 und zum Parliament 1Act von 1911. 2 Die Ära der bürgerlichen Honoratiorenpartei endete mit der 3Zuerkennung des Wahlrechts an alle Erwachsenen am Ende des 4Ersten Weltkriegs. Dieser Sprung in die Demokratie wurde von 5Angehörigen der Elite als revolutionärer Umbruch empfunden 6und löste die Befürchtung aus, dass sie die Opfer dieses revoluti7onären Aktes werden würden. Das oben zitierte Wort des Premi8erministers Stanley Baldwin ist dafür ein sprechendes Zeugnis. 9Auch in England trat ein, was Thomas Nipperdey als gesamteu0ropäisches Phänomen beschrieben hat: „Fast überall in Europa 1führte der Eintritt von Massen in die Politik, die Demokratisie2rung, zu einer Krise des Liberalismus. Das allgemeine Wahlrecht 3wirkte antiliberal“ (Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. II). In 4England wurden die Liberalen zu einer Splitterpartei; an ihre 5Stelle als Rivale der Konservativen trat eine Arbeiterpartei, die 6Labour Party. Sie ist in England erst zu Beginn des 20. Jahrhun7derts als politischer Arm der Gewerkschaftsbewegung gegrün8det worden, als sich deren Bindung an die Liberalen aufgelöst 9hatte. Mit der Labour Party betrat die Parteiendemokratie die 0politische Bühne. Die Partei gab sich im Jahre 1918 ein sozialisti1sches Parteiprogramm und veranstaltete nach Einführung des 265
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allgemeinen Wahlrechts Parteitage, auf denen die Gewerkschaf-1 ten als kompakte Stimmblöcke einen beherrschenden Einfluss2 ausübten. Umgekehrt brachten die Konservativen einen großen3 Teil der Gesellschaft oberhalb der Arbeiterklasse hinter sich und4 richteten in dieser Rolle als Partei eines neuen Typs (die auch5 von Arbeitern gewählt wurde) in den zwanziger Jahren ihre Spit-6 ze gegen die organisierte Arbeiterschaft (was in England Kom-7 promisse, ja Koalitionen nicht ausschloss). Beide Parteien reprä-8 sentierten die beiden großen Segmente der Gesellschaft, deren9 Grenze an der Bruchlinie zwischen Arbeiterschaft und Bürger-0 tum verlief. 1 Auch in Amerika änderte sich in der Folge des Demokratisie-2 rungsprozesses die Parteienlandschaft. Die Gründerväter wa-3 ren gegenüber Parteibildungen höchst misstrauisch und be-4 trachteten sie als Gefährdung der Einheit. George Washington5 warnte, als er im Jahr 1796 aus dem Präsidentenamt schied, in6 seiner Abschiedsbotschaft vor Parteiungen und Fraktionsbil-7 dungen und wies darauf hin, dass sich ihre bedrohliche Wirkung8 schon beim Streit der Föderalisten und Antiföderalisten in der9 Diskussion über die Verfassung gezeigt habe. Aber es war ange-0 sichts der Größe des Landes und der Vielfalt der Interessen gar1 nicht zu vermeiden, dass organisierte Parteien entstanden. Un-2 ter Präsident Andrew Jackson, der in der Auseinandersetzung3 mit der etablierten Ostküstenelite sich der Interessen des einfa-4 chen Mannes der im Aufbruch nach Westen begriffenen Nation5 annahm, kam es zur Bildung der ersten organisierten, landes-6 weit operierenden Parteien, der Demokraten und der Whigs –7 deren Name aus England stammte und die Partei der Gegner8 der Jackson-Demokraten bezeichnete. 9 Republikaner und Demokraten nennen sich bis heute die0 beiden um die Führung des Landes rivalisierenden Parteien.1 266
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1Sie haben seit ihrer Gründung manche Wandlung erlebt. Von 2den Einzelheiten kann hier abgesehen werden. Aber hingewie3sen sei auf die folgende Konstante: Allen Wandlungen zum 4Trotz blieb ihr Charakter als Klientelparteien in dem Sinne er5halten, dass sie nicht nur bestimmte Sektionen der Gesellschaft 6politisch vertraten, sondern auch Schlüsselpositionen in der 7Verteilung von Ämtern und Würden einnahmen. Es sind die 8Kandidaten der Parteien, die vom Volk mit Unterstützung der 9Parteien zu Amtsträgern in den Einzelstaaten, den Bezirken 0und Gemeinden – Ortssheriffs, Milizoffiziere, Staatsanwälte, 1Richter und Geschworene – gewählt werden. Nachgeordnete 2Amtsträger werden von den nach parteipolitischen Gesichts3punkten gewählten Leitern der Administration, dem Präsiden4ten der Vereinigten Staaten, den Gouverneuren der Einzelstaa5ten und den Bürgermeistern der Gemeinden, ernannt. In 6diesem Patronagesystem verstanden sich die Parteien als Orga7nisationen, die Parteimitglieder mit öffentlichen Ämtern und 8staatlichen Aufträgen versorgen. Korruption spielt dabei keine 9unbedeutende Rolle. Zumindest in der Vergangenheit entschie0den die hierarchisch gegliederten Parteiapparate, vielfach ge1gen Zahlung von ‚Gebühren‘, über die Verteilung der zu verge2benden ‚Pfründe‘. 3 Die Entstehung der organisierten Parteien war gewiss eine 4Notwendigkeit, wenn überhaupt der Wille der Wählerschaft in 5einer Demokratie der großen Massen sich in Großstaaten arti6kulieren sollte, aber sie hatte ihren Preis. Die sorgfältigen Vor7kehrungen, welche die Verfassung getroffen hatte, damit das 8Amt des Präsidenten, des Monarchen auf Zeit, nicht in unrechte 9Hände fiel, wurden mit der Demokratisierung fast gegenstands0los. Die indirekte Wahl des Präsidenten durch Angehörige der 1Elite, die garantieren sollte, dass der Beste unter den Besten das 267
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verantwortungsvollste Amt erhielt, das zu vergeben war, geriet1 in die Hände der Parteiapparate. Alexander Hamilton, einer der2 Gründerväter der Vereinigten Staaten, hatte dazu vermerkt: 3 4 „Eine kleine Zahl von Personen, die von ihren Mitbürgern aus5 der großen Masse ausgesucht sind, wird am ehesten die In-6 formationen und das Urteilsvermögen besitzen, derer es bei7 solch komplizierten Herausforderungen bedarf.“ 8 9 Die jüngste Präsidentenwahl, die Donald Trump in das Amt0 brachte, hat die Nation gespalten und wurde von den Gegnern1 des neuen Präsidenten als Menetekel begriffen. Mit Entsetzen2 prangerte einer der Kritiker diese Wahl als das Ergebnis einer3 Entwicklung an, in der die Parteiapparate damit begannen, „ei-4 gene Wahlmänner zur Wahl zu stellen, die dann nicht mehr ih-5 rem Gewissen verantwortlich waren, sondern Vorgaben hatten6 – man erwartete von ihnen, nicht mehr ‚abzuwägen‘ (so Hamil-7 tons Begriff ), sie hatten nur noch zu bestätigen“. Am Ende heißt8 es in dem bitteren Kommentar des Autors: „Indem sie Trump9 wählten …, haben diejenigen Leute, denen die Gründerväter nie0 getraut hatten, ihre Revanche genommen: Amerikas gebildete1 Elite ist überlistet …“ 2 Der Blick auf Deutschland zeigt, dass hier ebenfalls eine Ent-3 wicklung in Richtung einer Parteiendemokratie stattfand. Sie4 ging wie so vieles in der deutschen Geschichte des 19. Jahrhun-5 derts von Preußen aus. Der Anlass war der preußische Verfas-6 sungskonflikt, der sich im Jahr 1861 an der geplanten Heeresre-7 form zwischen König und Regierung auf der einen und der8 Abgeordnetenkammer auf der anderen Seite entzündete. Dabei9 ging es zunächst darum, ob die Verstärkung des Heeres der ak-0 tiven Truppe oder der Landwehr zugute kommen sollte. Der1 268
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1Hintergrund der Streitfrage war, dass die aktive Armee dem 2Kommando des Königs unterstand, während die Landwehr als 3das Volk in Waffen betrachtet wurde. Das Abgeordnetenhaus 4bediente sich als Mittel in der Auseinandersetzung mit der Re5gierung seines verfassungsmäßigen Budget- und Steuerbewilli6gungsrechts und verweigerte die Zustimmung zur Haushalts7vorlage der Regierung. Diese erhob unter Ministerpräsident 8Bismarcks Führung eigenmächtig die für die Aufstockung des 9Heeresbudgets vorgesehenen Steuern unter Bruch der Verfas0sung. 1 Daraufhin schlossen sich eine Reihe von Abgeordneten und 2Vertreter lokaler liberaler und demokratischer Vereinigungen 3sowie Mitglieder des Deutschen Nationalvereins zusammen 4und verabschiedeten am 6. Juni 1861 das Gründungsprogramm 5der Deutschen Fortschrittspartei in Preußen. Dem preußischen 6Vorbild folgte die Bildung von Fortschrittsparteien in mehreren 7Staaten des Deutschen Bundes. Vorher hatte es keine organi8sierten Parteien gegeben. Noch die Frankfurter Nationalver9sammlung kannte in diesem Sinne keine Parteien, sondern, wie 0oben ausgeführt wurde, nur verschiedene politische Gruppie1rungen, deren Namen von ihren Versammlungsorten abgeleitet 2waren. Das Parteiprogramm erhob die Forderung nach der Ver3antwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament (was 4die Umwandlung der konstitutionellen in eine parlamentarische 5Monarchie bedeutet hätte), nach rechtsstaatlichen Reformen 6wie der Zuständigkeit von Geschworenengerichten in politi7schen Strafsachen und nach einer Liberalisierung der Gewerbe8gesetzgebung, damit, wie es hieß, „die wirtschaftlichen Kräfte 9des Landes gleichzeitig entfesselt werden“. Es versteht sich von 0selbst, dass dieses Programm auch für das künftig geeinte 1Deutschland Gültigkeit beanspruchte. Denn die Einheit der Na269
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tion war zusammen mit der Liberalisierung von Staat und Ge-1 sellschaft das große Ziel, das zu erreichen das Grundanliegen2 aller Liberalen war. Ihr Programm galt nicht einem punktuellen3 Ziel, sondern einem Anliegen, das auf Dauer vertreten werden4 sollte. Darin lag der eigentliche Grund für die Entstehung nicht5 nur liberaler, sondern aller organisierter Parteien seit dem letz-6 ten Drittel des 19. Jahrhunderts. 7 Die Parteiprogramme der liberalen wie aller anderen Par-8 teien des modernen Typs wurden bei Wahlen der Bewerbung9 der Kandidaten um einen Parlamentssitz zugrunde gelegt.0 Vorher war es üblich, dass jeder Bewerber sein eigenes Pro-1 gramm verfasste und den Wählern bekannt machte. Was die2 Organisation der Parteien anbelangt, war sie noch ziemlich3 lückenhaft. Das für Parteiorganisationen zuständige Vereins-4 recht schloss landesweite Pateimitgliedschaften aus, doch er-5 laubt war ein Zentralkomitee der Fortschrittspartei mit Sitz in6 Berlin. Später bildeten sich regionale Komitees, die sich aus7 lokalen Honoratioren zusammensetzten. Die preußische Fort-8 schrittspartei spaltete sich allerdings, als Bismarck nach dem9 1866 siegreich beendeten Krieg gegen Österreich die Abge-0 ordnetenkammer mit der sogenannten Indemnitätsgesetzvor-1 lage um eine Heilung des Verfassungsbruchs durch nachträg-2 liche Genehmigung der eigenmächtig erhobenen Steuern3 ersuchte. Mit der Gründung des Norddeutschen Bundes stell-4 te Bismarck den politischen Kurs der Regierung in Richtung5 auf die Einheit Deutschlands ein; außerdem verankerte er in6 der Verfassung des im Jahr 1866 neu gegründeten Norddeut-7 schen Bundes das fortschrittlichste Wahlrecht und verschaffte8 damit allen erwachsenen Männern die Möglichkeit zu wählen.9 Unter dem Eindruck dieses Kurswechsels verließ die Mehrheit0 die alte Fortschrittspartei und gründete die Nationalliberale1 270
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1Partei zur Unterstützung einer auf die Einheit Deutschlands 2gerichteten Politik. 3 Nach der Gründung des Deutschen Reiches im Januar 1871 4gewannen die Liberalen einen wesentlichen Einfluss auf die 5Ausgestaltung einer liberalen Wirtschaftsordnung im Kaiser6reich und waren eine Hauptstütze des Staates im Kulturkampf 7gegen die katholische Kirche. Das Bündnis zwischen monarchi8schem Staat und Nationalliberaler Partei geriet in eine Krise, als 9Bismarck im Interesse von Landwirtschaft und Schwerindustrie 0eine Wende zur Schutzzollpolitik vollzog. Eine der Folgen war 1die Gründung der linksliberalen Deutsch-Freisinnigen Partei, 2die diese Wende bekämpfte. Alle liberalen Parteien fanden ihre 3Anhänger im Wirtschafts- und Bildungsbürgertum. Daraus er4klärt sich ihre Gegnerschaft gegen die Arbeiterbewegung und 5deren politische Speerspitze, die Sozialdemokratische Partei, 6deren Aufstieg in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts be7gann. 8 Bismarcks Versuche, die Arbeiterbewegung und ihre Partei 9durch Verbote zu unterdrücken, lehnten zumindest die Linksli0beralen ab. Anders als die Nationalliberalen stimmten sie im 1Reichstag gegen das Gesetz „Gegen die gemeingefährlichen Be2strebungen der Sozialdemokratie“ und wandten sich gegen die 3von Bismarck eingeleitete Sozialpolitik, die das Ziel verfolgte, 4die Sozialdemokratie zu schwächen. Die Liberalen traten dafür 5ein, dass alle Formen der Daseinsvorsorge dem Einzelnen be6ziehungsweise einer genossenschaftlichen Selbstorganisation 7vorbehalten sein sollten. Alle liberalen Parteien waren als Erben 8der Aufklärung Verfechter freier individueller Lebensgestal9tung, von Wissenschafts- und Religionsfreiheit. 0 Sie waren damit die entschiedenen Gegner des damaligen 1Katholizismus. Dieser bekämpfte seinerseits die sogenannten 271
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Irrtümer der modernen Welt, unter anderem Liberalismus, De-1 mokratie und voraussetzungslose Wissenschaft, selbstverständ-2 lich auch die historisch-kritische Theologie der Protestanten.3 Hinzu kam die Ausgestaltung des Dogmas unter Papst Pius IX.;4 sie gipfelte in der auf dem Vatikanischen Konzil von 1870 ver-5 kündeten offiziellen Kirchenlehre, dass der Papst darin unfehl-6 bar sei, was er als Lehre der Kirche verkünde. Damals ging ein7 Aufschrei durch die auf diese Weise herausgeforderte moderne8 Welt. Der deutschsprachige Episkopat war mehrheitlich gegen9 das Unfehlbarkeitsdogma, der führende katholische Kirchen-0 historiker Johann Joseph Ignaz Döllinger (1799–1890) verwei-1 gerte die Anerkennung des Dogmas und wurde prompt exkom-2 muniziert, ja, es kam im deutschen Katholizismus zu einer3 Abspaltung in Gestalt der Altkatholischen Kirche. Die Unter-4 stützung Bismarcks im Kulturkampf gegen die katholische Kir-5 che war angesichts ihrer offiziellen Kampfansage an die moder-6 ne Welt den Liberalen eine Herzensangelegenheit. Niemand7 hat diese Haltung der liberalen bürgerlichen Honoratioren so8 knapp und treffend zur Anschauung gebracht wie Wilhelm9 Busch in seiner satirischen Verserzählung Die fromme Helene: 0 1 „Schweigen will ich von Lokalen, 2 wo der Böse nächtlich prasst 3 und im Kreis der Liberalen 4 man den Heiligen Vater hasst.“ 5 6 Die deutschen Katholiken fühlten sich im 19. Jahrhundert aus7 mehreren Ursachen in die Defensive gedrängt. Der Untergang8 des Alten Reiches, dessen Oberhaupt der katholische Kaiser ge-9 wesen war, hatte das Ende der Reichskirche und die Säkularisa-0 tion des reichen Kirchenbesitzes der katholischen Kirche ge-1 272
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1bracht. Auf dem Immerwährenden Reichstag zu Regensburg 2hatten die katholischen Stände die Mehrheit gebildet; im Deut3schen Bund waren außer Österreich und Bayern alle Katholiken 4unter die Herrschaft protestantischer Herrscherhäuser geraten. 5In Preußen hatten die in das Rheinland und nach Westfalen ver6setzten protestantischen Offiziere und Beamten das leidige Pro7blem der konfessionellen Mischehen vergrößert, das in Verbin8dung mit anderen Streitpunkten zum Kölner Bischofsstreit der 9dreißiger Jahre führte. Dann folgte der religiösen Selbstverge0wisserung des Katholizismus die Absage an die Grundwerte der 1modernen Welt. Die Reaktion war die Ausgrenzung der Katho2liken. 3 Diese reagierten auf politischer Ebene mit der Gründung ei4ner katholischen Partei, des Zentrums (der Name bezieht sich 5auf die Sitzordnung in den Parlamenten). Diese Partei setzte 6sich das Ziel, die Stellung der Kirche zu verteidigen und gegen 7Benachteiligung von Katholiken in Staat und Gesellschaft anzu8gehen. Mit Unterstützung des Klerus gelang es der Partei, bis zu 980 Prozent der wahlberechtigten katholischen Männer zu mobi0lisieren. Mit seiner konfessionellen Ausrichtung war das Zent1rum in allen Schichten des katholischen Volksteils verwurzelt: 2im Adel und in der bäuerlichen Bevölkerung von Dörfern und 3Ackerbaustädten, unter Handwerksgesellen und Akademikern; 4selbst in dem katholischen Teil der mit der Industrialisierung 5entstehenden Arbeiterklasse fasste das Zentrum Fuß. Die Partei 6war eng verschwistert mit der Geistlichkeit, mit dem katholi7schen Vereinswesen einschließlich der Görres-Gesellschaft der 8Akademiker und den im Jahr 1894 gegründeten christlichen 9(sprich: katholischen) Gewerkschaften. Hinzu kommt, dass 0zahlreiche Publikationsorgane die Anliegen und Interessen der 1katholischen Kirche in der Öffentlichkeit vertraten. Eingebettet 273
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in dieses Umfeld konnte das Zentrum auf eine differenziert or-1 ganisierte Parteiorganisation verzichten. Die Partei besaß den2 Rückhalt im katholischen Volksteil und damit ein großes Wäh-3 lerpotenzial, das ihr so gut wie sicher war. 4 Nach Beilegung des Kulturkampfes entwickelte sich das Zen-5 trum zu einer Partei, die in der Parteienlandschaft des Kaiser-6 reichs fest verwurzelt war und in der Weimarer Republik zu ei-7 ner der wichtigsten Regierungsparteien wurde. Die enge8 Bindung der Partei an das Interesse der katholischen Kirche9 verlangte freilich auch Opfer. Sie ließ sich nach Hitlers ‚Macht-0 ergreifung‘ von ihrem Vorsitzenden, dem Prälaten Kaas, dazu1 bringen, dem Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten zu-2 zustimmen und ihre Selbstauflösung zu beschließen: Das war3 der Preis, der für den Abschluss des von der katholischen Kirche4 gewünschten Reichskonkordats mit dem Deutschen Reich ge-5 zahlt werden musste. 6 Nach dem Zweiten Weltkrieg knüpfte die neu gegründete7 Christlich Demokratische Union an die Tradition des katholi-8 schen Zentrums an – die Partei hat bis zum heutigen Tag ihre9 größten Wahlerfolge in Gebieten mit katholischer Bevölke-0 rungsmehrheit. Doch öffnete sich die Partei zusehends auch1 dem protestantischen Volksteil, um der Partei der Arbeiterbe-2 wegung, den Sozialdemokraten, den Rang der potenziellen Re-3 gierungspartei abzulaufen. Inzwischen ist der Anspruch, eine4 christliche Partei zu sein, zwar nicht aufgegeben, aber so weit in5 den Hintergrund gedrängt, dass auch Konfessionslose – in den6 neuen Bundesländern stellen sie, verursacht durch die kirchen-7 feindliche Politik der den anderen deutschen Staat, die DDR,8 regierenden Kommunisten, ohnehin die Mehrheit der Bevölke-9 rung – in der CDU ihre politische Heimat finden können. Neuer-0 dings sind sogar vereinzelt Moslems mit deutscher Staatsange-1 274
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1hörigkeit in den Reihen der nominell weiterhin christlichen 2Union anzutreffen. 3 Eine weitere Besonderheit der deutschen Parteienlandschaft 4ist die ungewöhnlich frühe Entstehung von Arbeiterparteien, 5aus denen die Sozialdemokratische Partei, inzwischen die ältes6te Partei Deutschlands, hervorgegangen ist. Sie entstand schon 7in der Anfangsphase des Kaiserreichs, während es in England, 8dem Mutterland der Industriellen Revolution und einer gewerk9schaftlich orientierten Arbeiterbewegung, erst im ersten Jahr0zehnt des 20. Jahrhunderts zur Gründung der Labour Party kam. 1In Deutschland bildeten sich nach dem Scheitern der Märzrevo2lution von 1848 in Anlehnung an lokale liberale Vereinigungen 3Arbeitervereine beziehungsweise Arbeiterbildungsvereine. Sie 4lösten sich jedoch wegen mangelnder Unterstützung vonseiten 5der bürgerlich-liberalen Bewegung aus dieser Bindung. Am 623. Mai 1863 wurde auf Initiative von Ferdinand Lassalle (1825– 71864) in Leipzig der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein ge8gründet; dieser setzte sich das Ziel, zur Abhilfe der Not, an der 9die neu entstehende Arbeiterklasse litt, mit staatlicher Hilfe Ar0beiterproduktionsgenossenschaften ins Leben zu rufen. Aus 1dem angestrebten Bündnis von Arbeiterklasse und Staat wurde 2jedoch nichts, und im folgenden Jahr kam Lassalle bei einem 3Duell ums Leben. 4 Wenige Jahre später wurde in Eisenach auf dem ersten allge5meinen deutschen sozialdemokratischen Arbeiterkongress am 69. August 1869 unter Führung von August Bebel und Wilhelm 7Liebknecht die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) ge8gründet. Hervorgegangen ist auch diese Neugründung aus der 9Trennung von einer bürgerlich-liberalen Vorläuferorganisation, 0der Vereinigung Deutscher Arbeitervereine. Schon 1875 verei1nigten sich die beiden 1863 und 1869 gegründeten Arbeiterpar275
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teien auf einem gemeinsamen Kongress in Gotha zur Sozialisti-1 schen Arbeiterpartei (SAP), der unmittelbaren Vorläuferin der2 Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Tragende3 Schicht all dieser Parteien waren zunächst Handwerker, Gesel-4 len und kleine Meister, die sich vom Vordringen des Kapitalis-5 mus und der Industrie in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht6 sahen. Mit dem Fortschreiten der Industrialisierung kam dann7 die wachsende Arbeiterschaft hinzu und stellte seitdem die ei-8 gentliche Massenbasis der Partei. 9 Es gibt Stimmen, welche die ungewöhnlich frühe Trennung0 sozialistischer Parteien vom Mutterboden des Liberalismus für1 ein Unglück der deutschen Geschichte halten. Thomas Nipper-2 dey hat diese Auffassung in seiner Deutschen Geschichte 1800–3 1866 so formuliert: 4 5 „Dass die frühe Entstehung der sozialistischen Parteien für6 die Möglichkeiten der Entstehung einer deutschen Demokra-7 tie ein Unglück war, steht außer Zweifel. Die liberal-bürgerli-8 chen Reformkräfte verloren angesichts dieser neuen Front-9 stellung (gegen die Herausforderung des Sozialismus) an0 Elan im Kampf gegen die alten Eliten und den Obrigkeits-1 staat, die Neigung zum Anschluss nach rechts wuchs.“ 2 3 Thomas Nipperdey betrachtet als Hintergrund dieser Fehlent-4 wicklung, dass in Deutschland die nationale Frage und die5 Umgestaltung der inneren Verhältnisse im Sinne des bürgerli-6 chen Liberalismus noch ungelöst waren, als der aufkommende7 Industriekapitalismus die soziale Frage in den Vordergrund8 rückte. Der Liberalismus geriet so in eine Art Zweifronten-9 krieg, einerseits gegen den monarchischen Obrigkeitsstaat,0 der verhinderte, dass die Regierung dem Reichstag statt dem1 276
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1Kaiser verantwortlich war, und andererseits gegen den vonsei2ten der Arbeiterpartei tatsächlich oder angeblich drohenden 3sozialistischen Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse. 4Der Liberalismus wurde auch durch die Einführung des allge5meinen und gleichen Wahlrechts geschwächt. Das geschah, 6wie Thomas Nipperdey zu Recht feststellt, mit der Einführung 7des demokratischen Wahlrechts fast überall in Europa. „Das 8allgemeine Wahlrecht wirkte antiliberal“, heißt es bei Nipper9dey. 0 Der Liberalismus war nun einmal die Weltanschauung der 1Bourgeoisie, der Elite des Wirtschafts- und Bildungsbürger2tums; die Nationalliberale Partei und die Fortschrittspartei ver3traten deren politische Anliegen und Interessen. Verständli4cherweise mussten die Anhänger einer sozialistischen oder gar 5marxistischen Gesellschaftsordnung Gegner des Liberalismus 6werden. Als potenzielle Mehrheit gewannen diese durch die De7mokratisierung des Wahlrechts erheblich an politischem Ge8wicht. Demgegenüber waren die Liberalen ursprünglich keines9wegs Verfechter eines allgemeinen Wahlrechts, sondern waren 0Anhänger des elitären Zensuswahlrechts, das, wie sich der libe1rale Staatsrechtslehrer Bluntschli ausgedrückt hatte, dem Prin2zip der „veredelten Demokratie“ entsprach. 3 Die Liberalen hatten sich zur Verwirklichung der nationalen 4Einheit und zur Abwehr der von der Arbeiterbewegung ausge5henden Gefahr eines gesellschaftlichen Umsturzes mit den al6ten Mächten des monarchischen Obrigkeitsstaates verbunden. 7Was den zuletzt genannten Punkt anbetrifft, unterstützten die 8liberalen Parteien die Politik Bismarcks, die Sozialdemokrati9sche Partei mit den Mitteln staatlicher Repression zu unterdrü0cken, nur teilweise oder unter Vorbehalten. Das Sozialistenge1setz von 1878 verbot die Organisation der Partei sowie die 277
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sozialdemokratische Presse, aber das aktive und passive Wahl-1 recht wurde ebenso wenig angetastet wie die Beteiligung an2 Wahlkämpfen und die dabei errungenen Mandate. Die Partei3 reagierte auf die staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen mit4 zunehmender Radikalisierung. Sie negierte den bestehenden5 Staat, die kapitalistische Wirtschaft und die bürgerliche Klas-6 sengesellschaft und machte sich unter dem Einfluss marxisti-7 scher Theoretiker die Erwartung eines revolutionären Um-8 bruchs zu einer klassenlosen Gesellschaft zu eigen – August9 Bebel nannte den erwarteten Umbruch den „großen Kladdera-0 datsch“, den niemand verhindern konnte. In diesem Glauben1 an die Unabänderlichkeit der geschichtlichen Entwicklung2 enthielten sich die Sozialdemokraten aller revolutionären Akti-3 vitäten. 4 Diese Einstellung blieb nach der im Jahr 1890 erfolgten Auf-5 hebung des Sozialistengesetzes erhalten: Die Prophezeiung6 vom gesetzmäßigen Verlauf der Geschichte, vom Ende des Staa-7 tes und des Kapitalismus sowie die utopische Erwartung einer8 klassenlosen Gesellschaft als Ziel der Geschichte beherrschten9 weiterhin die sozialdemokratische Rhetorik. Um ein Beispiel zu0 geben, zitiere ich aus einem Aufsatz, den der brillante sozialde-1 mokratische Journalist Franz Mehring (1846–1919) zum 25. Jubi-2 läum der Reichsgründung in der Parteipresse veröffentlichte.3 Darin wurde die historische Rolle der liberalen Bourgeoisie so4 bestimmt: 5 6 „Das Deutsche Reich hat gehalten, was es bei seiner Grün-7 dung versprach. Es ist geworden, was es nach den Bedingun-8 gen seiner Entstehung werden musste: ein mächtiger Hebel9 der großindustriellen Entwicklung. Es ist ein goldenes Land0 der Bourgeoisie, die ihm ihren geschichtlichen Beruf des re-1 278
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1 volutionären Auflösens und Zersetzens prächtig erfüllt, die so 2 gewaltig aufgeräumt hat unter den feudal-juchtigen Trüm3 mern, welche vor fünfundzwanzig Jahren noch fußhoch den 4 deutschen Boden bedeckten. Sollen wir diese aufräumende 5 Arbeit nicht anerkennen, nicht loben, nicht preisen? Wir wä6 ren Toren, wenn wir es nicht täten. Wir sind darin gerechter 7 als die Bourgeoisie, die vor den Folgen ihrer eigenen Taten 8 erschrickt (das heißt: der Entstehung einer Arbeiterbewe9 gung, welche ihr das Ende bereiten wird) und sich am liebsten 0 aus mittelalterlichem Schutt eine neue Burg erbaute, worin 1 sie, sicher für alle Ewigkeit, mit ihren ungezählten Schätzen 2 wuchern könnte. Aus Angst vor ihrem stolzen und trotzigen 3 Kinde (der Arbeiterbewegung) möchte sie sich zitternd in das 4 Grab ihrer längst selig entschlafenen Mutter (des Feudalis5 mus) wühlen.“ 6 7Das Sozialistengesetz war nicht das einzige Mittel, mit dem Bis8marck mit den „gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozial9demokratie“ (so der Titel des Gesetzes) fertig zu werden ge0dachte. Hinzu kamen in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts 1die Anfänge einer staatlichen Sozialgesetzgebung. Im Einzel2nen handelt es sich um drei Gesetze: 1883 wurde eine Kranken3versicherung, 1884 eine Unfallversicherung eingeführt, und 41889 folgte eine Invalidenversicherung für den Fall der Arbeits5unfähigkeit. Dieses Gesetz, das die altersbedingte Arbeitsunfä6higkeit einschloss, betraf wegen des damals geringen Durch7schnittsalters nur einen kleinen Teil der Bevölkerung, aber es 8war der Ursprung des gegenwärtigen allumfassenden Renten9systems, das einem stark gewachsenen und weiter wachsenden 0Bevölkerungsanteil eine wie auch immer bemessene Altersver1sorgung sichert. 279
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Was Bismarck mit der von ihm initiierten Sozialgesetzgebung1 bezweckt hatte, die Eindämmung des Zulaufs zur Sozialdemo-2 kratie, erreichte er nicht; denn zu offensichtlich waren die Ge-3 setze Teil einer Strategie, die mit Zuckerbrot und Peitsche der4 Sozialdemokratie den Garaus bereiten wollte. Aber es dauerte5 nicht lange, dass sich trotz des marxistischen Geschichtsdeter-6 minismus der offiziellen Parteilinie die Forderung nach reform-7 orientierten Verbesserungen von gewerkschaftlicher Seite zu8 Wort meldete. Im Jahr 1899 widersprach der Vorsitzende der9 Generalkommission der Freien Gewerkschaften, Carl Legien,0 der orthodoxen Heilserwartung des „großen Kladderadatschs“,1 indem er sagte: 2 3 „Gerade wir, die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter,4 wünschen nicht, dass es zum sogenannten Kladderadatsch5 kommt und dass wir genötigt sind, auf den Trümmern der6 Gesellschaft Einrichtungen zu schaffen, gleichviel, ob sie bes-7 ser oder schlechter sind wie die jetzigen. Wir wünschen den8 Zustand der ruhigen Entwicklung.“ 9 0 Wie diese Einstellung die SPD zu einer Politik praktischer Re-1 formen führte, kann und soll hier nicht weiter verfolgt werden.2 Nur so viel sei gesagt: Es ist eine Ironie der Geschichte, dass aus-3 gerechnet die Gesetze zugunsten der Arbeiterschaft, die zur Be-4 kämpfung der Sozialdemokratie bestimmt waren, das Einfalls-5 tor zu einer staatlichen Politik der verbesserten Daseinsfürsorge6 bildeten und die Sozialdemokratische Partei auf diesem Wege7 schrittweise von ihrer marxistisch-revolutionären Orientierung8 abgebracht wurde. 9 Diese Entwicklung war kein Zufall. Sie war die Konsequenz0 der Industrialisierung und des durch sie ausgelösten Wandels1 280
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1der Gesellschaft, in der eine wachsende Zahl von Menschen 2nicht mehr im ländlichen Umfeld der Heimat von landwirt3schaftlichem Kleinbesitz beziehungsweise Heimarbeit oder 4Handwerk lebte, sondern in den Zentren von Industrie und 5Bergbau ihre Arbeitskraft verkaufen musste. Davon konnten die 6Betroffenen mehr schlecht als recht ihr Dasein fristen, aber sie 7hatten im Allgemeinen nicht die geringste Möglichkeit, sich aus 8eigenen Mitteln gegen die Risiken von Krankheit, Arbeitsunfall, 9Arbeitslosigkeit oder Invalidität einschließlich Altersschwäche 0zu versichern. Eine Altersrente wurde ursprünglich erst mit Voll1endung des 70. Lebensjahres gezahlt. Das bedeutete wegen der 2damals niedrigen Lebenserwartung, dass sie nur ganz wenige 3erhielten. Aber inzwischen ist die Ausgestaltung des Sozialstaa4tes so weit fortgeschritten, dass etwa ein Drittel der Bevölke5rung Altersrenten für die Dauer von durchschnittlich zehn bis 6zwanzig Jahren bezieht. In der Entwicklung des modernen Sozi7alstaates hat die Partei der Arbeiterschaft eine Schlüsselrolle 8gespielt. Andere Parteien konnten sich dem Sog der damit in 9Gang gesetzten Entwicklung nicht entziehen; denn schließlich 0entscheidet sich ihre Wählbarkeit in einer Demokratie mit allge1meinem und gleichem Wahlrecht nicht zuletzt an der Frage, was 2sie bei ansteigender Lebenserwartung betagter Wähler zur Er3haltung beziehungsweise Ausweitung sozialstaatlicher Leistun4gen beitragen. 5 Nach Aufhebung des Sozialistengesetzes entwickelte sich die 6SPD im Kaiserreich zur mitgliederstärksten Partei mit hohem 7Organisationsgrad und hierarchischer Struktur. Die Basis bilde8ten die sogenannten Ortsvereine der Mitglieder. Diese finan9zierten mit ihren Beiträgen die Partei mit ihrem Apparat und 0fanden sich nach Möglichkeit in großer Zahl zu den monatli1chen Versammlungen ihres Ortvereins ein. Sie wurden in Wahl281
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kämpfen aktiv und beteiligten sich an Demonstrationen; ihre1 Lektüre waren Parteizeitungen und -broschüren, und sie infor-2 mierten sich daraus über die Grundlagen des Sozialismus und3 Marxismus. Die Partei war ihre soziale Heimat, der man Loyali-4 tät und Engagement schuldete. Sie war in dieser Hinsicht das5 getreue Abbild der Gesellschaft, in der sie existierte – und wurde6 deswegen von intellektueller Seite verspottet, wie Thomas Nip-7 perdey im zweiten Band seiner Deutschen Geschichte 1866-19188 schreibt: 9 0 „Die Mitglieder lebten in der strengen Disziplin der einen1 großen Partei, das war eine wesentliche Tugend, Disziplin-2 bruch die wesentliche ‚Sünde‘. Die Partei wird, so hat Kurt3 Eisner den verbreiteten Intellektuellenspott bündig formu-4 liert, ‚eine bis zur Karikatur getreue Volksausgabe des Staates,5 in dem sie lebt‘, und die Reden vom ‚Kaiser Bebel‘ oder der6 preußischen oder militärischen Struktur der deutschen Sozi-7 aldemokratie zielen in dieselbe Richtung.“ 8 9 Der hierarchische Aufbau der Partei reichte vom Ort oder0 Stadtviertel beziehungsweise Wahlkreis über die größeren po-1 litischen Gebilde wie Regierungsbezirke, Provinzen und Bun-2 desstaaten bis zur Reichsebene, auf der Parteivorstand und3 Parteitag die höchste Autorität repräsentierten. Die unteren4 Ebenen der Organisation waren mit den oberen jeweils in der5 Weise verbunden, dass sie durch Delegierte in jenen vertreten6 waren. Die Verquickung einer hierarchischen Organisations-7 struktur mit dem Prinzip der innerparteilichen Demokratie8 brachte die Klasse der Parteifunktionäre als verbindendes Glied9 hervor. Das Funktionärswesen war gewissermaßen das Allein-0 stellungsmerkmal der Sozialdemokratie und bildete den Kont-1 282
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1rapunkt zur innerparteilichen Demokratie. Utopien nach dem 2Vorbild der antiken Demokratie wie Ämterrotation oder die 3Idee der Gleichheit von Führungsbefähigung waren auch in der 4Partei der Proletarier zum Scheitern verurteilt. Eher herrschte 5das „eherne Gesetz der Oligarchie“, die Herrschaft der Füh6rungselite über die Basis, wie sie Robert Michels in seiner Studie 7Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Un8tersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens 9vornehmlich anhand der Organisation der Sozialdemokrati0schen Partei Deutschlands analysierte. 1 Die beiden Organisationen der Arbeiterbewegung, die Freien 2Gewerkschaften und die Sozialdemokratische Partei Deutsch3lands, bildeten vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs die größten 4miteinander verbundenen Massenorganisationen des Kaiser5reichs. Die Freien Gewerkschaften hatten rund 2,5 Millionen 6Mitglieder, die Sozialdemokratische Partei knapp 1,1 Millionen. 7Die Sozialdemokraten waren mit Abstand die stärkste Partei, 8was Mitglieder und Wähler anbelangt. Aber ihre numerische 9Stärke schlug sich nicht in einer entsprechend großen Zahl der 0Abgeordnetensitze im Reichstag nieder. Das verhinderten das 1Mehrheitswahlrecht und die Absprachen, die bürgerliche Par2teien bei Stichwahlen zur Abwehr der Sozialdemokratie trafen. 3Die Prozentzahlen der Wählerstimmen und der Mandate stan4den deshalb in einem Missverhältnis, das freilich allmählich zu5rückging. Im Jahr 1890 gewann die Partei 19,7 Prozent der Stim6men, doch nur 8,8 Prozent der Mandate, 1903 war das Verhältnis 731,7 zu 20,4 Prozent und 1912 dann 34,8 zu 27,7 Prozent. Eine 8absolute Mehrheit blieb freilich immer in weiter Ferne, und da9ran sollte sich auch nichts ändern. Immerhin wurden die Sozial0demokraten zur stärksten politischen Kraft und gewannen in 1der Weimarer Zeit eine Schlüsselrolle bald als Oppositions-, 283
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bald als Regierungspartei – bis sie im Jahr 1930 wegen eines Dis-1 senses, der wegen der Finanzierung der Arbeitslosenversiche-2 rung ausgebrochen war, die Regierungskoalition, der sie damals3 angehörten, verließen. Damit machten sie den Weg frei zur Bil-4 dung der präsidialen Notstandskabinette und der Ernennung5 Adolf Hitlers zum Reichskanzler. Die ‚Machtergreifung‘ der Na-6 tionalsozialisten konnte die zusammengeschmolzene Partei7 trotz der mutigen Verweigerung, dem sogenannten Ermächti-8 gungsgesetz und dem Ende der Parteiendemokratie zuzustim-9 men, nicht mehr verhindern. 0 Parteiendemokratie und Sozialstaat gehören auf das Engste1 zusammen. Zugrunde liegt dieser Konstellation das Zusam-2 mentreffen von Faktoren, die eine große Wanderungsbewegung3 vom Land in die städtischen Zentren oder nach Übersee auslös-4 ten. Da war zunächst der Landverlust, den die Bauern durch die5 Ablösung der feudalen Lasten erlitten; dann kam infolge der6 Entstehung der Textilindustrie der Verlust der Absatzmärkte für7 die Produkte der Heimarbeit hinzu – man denke nur an die8 schlesischen Weberaufstände und Gerhart Hauptmanns Drama9 Die Weber; und schließlich setzten der Rückgang der Kinder-0 sterblichkeit und die allmählich steigende Lebenserwartung1 eine erhebliche Bevölkerungsvermehrung in Gang. Ein großer2 Teil der Menschen war dadurch zur Abwanderung in die entste-3 henden Standorte von Industrie und Bergbau gezwungen, um4 vom Verkauf ihrer Arbeitskraft zu leben – oder nach Übersee5 auszuwandern und sich in den Vereinigten Staaten mit ihren ge-6 waltigen Landressourcen die Möglichkeit eines besseren Le-7 bens zu schaffen. In Deutschland bot die entstehende Industrie8 prekäre, mit hohen Risiken belastete Arbeitsmöglichkeiten in9 Fabriken und im Bergbau. Die Arbeit zu verlieren infolge von0 Krankheit, Arbeitsunfällen, wirtschaftlichen Depressionen im1 284
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1Verlauf der Konjunkturentwicklung und Arbeitsunfähigkeit im 2Alter bedeutete eine Katstrophe. 3 Von den Anfängen des Sozialstaates, die in England unter Ro4bert Peel und im Deutschen Kaiserreich unter Bismarck zur Ab5wehr der revolutionären Arbeiterbewegung geschaffen wurden, 6war oben die Rede. Die neue Zeit der Republik begann mit dem 7Abkommen zwischen dem Unternehmerverband und den Ge8werkschaften über die Einhegung von Arbeits- und Klassenkon9flikten am Ende des Ersten Weltkriegs; es folgte die mit über0wältigender Mehrheit im Reichstag beschlossene Einführung 1der Arbeitslosenversicherung im Jahr 1927. Diese war freilich 2der Explosion der Massenarbeitslosigkeit in der wenige Jahre 3später ausbrechenden Weltwirtschaftskrise in keiner Weise ge4wachsen. Die Leistungen der seit 1883 eingeführten Versiche5rungen gegen die Risiken des Arbeitslebens waren zunächst ver6hältnismäßig gering bemessen, aber sie stiegen mittel- und 7langfristig mit den bis heute andauernden Verbesserungen der 8sozialen Daseinsfürsorge. Auf diesem Feld der Politik stand die 9Partei der abhängig Beschäftigten naturgemäß an vorderster 0Front. Aber keine Partei konnte sich dem Zugzwang zur Auswei1tung des Sozialstaates entziehen; denn schließlich kann in der 2vollendeten Demokratie mit allgemeinem und gleichem Wahl3recht keine Partei den Interessen der Mehrheit des Wahlvolkes 4offenen Widerstand entgegensetzen. Selbst eine dezidiert anti5demokratische Partei wie die Nationalsozialisten setzte, wie 6schon der Name andeutet, auf die Verknüpfung eines nicht dem 7Liberalismus verpflichteten rassistischen Nationalismus mit so8zialstaatlicher Ausrichtung der Politik. 9 Nach der Liquidierung des nationalsozialistischen Regimes 0und der Teilung Deutschlands hat das am 8. Mai 1949 be1schlossene Grundgesetz der Bundesrepublik die erneuerte De285
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mokratie im Westteil des Landes auf die Prinzipien der Volks-1 souveränität, der Repräsentativverfassung, der Sozial- und2 Rechtsstaatlichkeit einschließlich der Grundrechte, der Ge-3 waltenteilung und der Mitwirkung konkurrierender demokra-4 tischer Parteien an der Willensbildung des Volkes gegründet.5 In Artikel 28 wird ergänzend festgelegt, dass in den Unterglie-6 derungen der Bundesrepublik Deutschland diese Prinzipien7 zur Geltung kommen müssen. Der Text des genannten Artikels8 lautet: 9 0 „Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den1 Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und so-2 zialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entspre-3 chen. In den Ländern, Kreisen und Gemeinden muss das Volk4 eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren,5 freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. In6 Gemeinden kann anstelle einer gewählten Körperschaft die7 Gemeindeversammlung treten.“ 8 9 Fragt man nach der Herkunft der das Grundgesetz bestimmen-0 den Elemente, so ergibt sich folgendes Bild: Am Anfang stehen1 die (theoretische) Begründung aller Staatlichkeit in der Souve-2 ränität des Staatsvolkes und die empirische Unterscheidung3 von monarchischer und republikanischer Staatsform. Die re-4 präsentative Mitwirkung des Volkes an der Ausübung öffentli-5 cher Gewalt geht auf die Monarchien des späten Mittelalters6 und der Frühen Neuzeit zurück; diese Vertretung war den Eli-7 ten vorbehalten, dem Adel, der hohen Geistlichkeit und den8 Obrigkeiten der privilegierten Städte. Dann kam dank Montes-9 quieu in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Theorie der0 Gewaltenteilung als des Unterpfands der Freiheit hinzu; dazu1 286
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1gehörte nicht zuletzt die von einem unabhängigen Richter2stand auf gesetzlicher Grundlage ausgeübte richterliche Ge3walt. Diese Form der Rechtsstaatlichkeit war in den Grundzü4gen schon im europäischen Ancien Régime verwirklicht und ist 5seitdem weiter ausgestaltet worden. Dann brachten die Ame6rikanische und die Französische Revolution die Erklärung der 7Bürger- und Menschenrechte sowie die Ersetzung der alten 8Stände durch eine auf der Grundlage des Zensuswahlrechts 9gebildete Elite der Besitzenden und Gebildeten. Am Ende die0ser Entwicklung stand die Ausweitung des Wahlrechts auf alle 1Staatsbürger einschließlich der Frauen. Sie war in Deutschland 2wie in England erst mit dem Ende des Ersten Weltkriegs er3reicht; in Frankreich ließ die Einführung des Frauenwahlrechts 4bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs auf sich warten. 5 All diese Punkte Repräsentativverfassung, Gewaltenteilung 6sowie der englische Parlamentarismus, das heißt die Verant7wortlichkeit der Regierung gegenüber der Vertretung des Vol8kes, Rechtsstaatlichkeit, Menschen- und Bürgerrechte gelten 9trotz ihrer Herkunft aus vordemokratischen Zeiten zu Recht als 0wesentliche Bestandteile einer liberalen Demokratie. Aber da1mit sie in der Regierungsform einer repräsentativen Demokratie 2zusammenfinden konnten, bedurfte es des Schlusssteins eines 3allgemeinen und gleichen Wahlrechts. Zuerst war in den Verei4nigten Staaten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine 5Vorstufe dieser Demokratie erreicht – nur eine Vorstufe, weil 6Frauen und Sklaven vom Wahlrecht ausgeschlossen waren –; 7dann kam mit dem Ende des Ersten Weltkriegs das allgemeine, 8die Frauen einschließende Wahlrecht auch in den Vereinigten 9Staaten. 0 Elemente der direkten Demokratie der Antike sind in der 1repräsentativen Demokratie der Moderne entweder nicht vor287
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gesehen oder mehr oder weniger nebensächlich. Nirgendwo1 übt das Volk in Versammlungen die laufenden Regierungsge-2 schäfte aus, allenfalls kann es zu einzelnen Gegenständen3 Volksabstimmungen wie vor allem in der Schweiz geben. Auch4 das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland oder bei-5 spielsweise die hessische Verfassung sehen solche Abstim-6 mungen als Möglichkeit ausdrücklich vor; doch sie bleiben7 seltene Ausnahmen. In England, dem klassischen Land des8 Parlamentarismus, war die jüngst erfolgte Volksabstimmung9 über Verbleib in oder Austritt aus der Europäischen Gemein-0 schaft ein Verstoß gegen die politische Tradition des Landes1 und hat bekanntlich zu schwierigen Problemen geführt. Es gibt2 ernst zu nehmende Stimmen, die sich ablehnend über das In-3 stitut der Volksabstimmung in den Großstaaten einer reprä-4 sentativen Demokratie äußern. Das aus der Antike bekannte5 Modell der direkten Demokratie, das heißt der Ausübung der6 laufenden Regierungsgeschäfte durch das Volk, ist nach der zu7 Recht bestehenden allgemeinen Überzeugung in modernen8 Großstaaten nicht praktikabel. Allenfalls ist dies eine Möglich-9 keit, die im Grundgesetz Artikel 28 (kleinen) Gemeinden der0 Länder eingeräumt wird. 1 Wie oben dargelegt wurde, ist die Parteiendemokratie im Zu-2 sammenhang allgemein verbreiteter sozialer und politischer3 Anliegen entstanden, die von organisierten Parteien in den vom4 Volk gewählten gesetzgebenden Körperschaften vertreten wur-5 den. Die Elite der modernen Parteiendemokratie besteht, kurz6 gesagt, aus den von den Parteien zur Wahl vorgeschlagenen7 Kandidaten und in die Parlamente gewählten Volksvertretern.8 Voraussetzung für die Aufstellung zum Kandidaten sind die Mit-9 gliedschaft in einer Partei, die Bewährung in der Parteiarbeit0 sowie Sachkunde auf bestimmten Feldern der politischen Arbeit1 288
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1und Fähigkeit zu einer wirksamen Darstellung der politischen 2Ziele und Anliegen der Partei. 3 Diese Auswahlkriterien begünstigen bestimmte Berufsgrup4pen, in erster Linie Juristen, Wirtschaftsfachleute und Politik5wissenschaftler sowie Angehörige der verschiedenen Lehrerbe6rufe. Als Beispiel soll der gegenwärtige Bundestag dienen. Von 7den rund 700 Abgeordneten sind sage und schreibe 377 Akade8miker: 152 Juristen, 115 Wirtschaftswissenschaftler, 61 Politolo9gen, 35 Lehrer und 14 Mediziner. Das sind mehr als die Hälfte 0der Abgeordneten des Bundestags. Hinzu kommt das Heer der 1Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes. Verhält2nismäßig gering vertreten im Parlament sind dagegen die freien 3Berufe und fast gar nicht die Arbeiterschaft. Exotische Ausnah4men sind ein Lokomotivführer, eine Bäckerin, die in der DDR 5zur Betriebswirtin ausgebildet worden war, und ein Pfarrer aus 6der alten DDR, der im Wendejahr 1989/1990 in die Kommunal7politik des Runden Tisches geriet und dann nach langer Zugehö8rigkeit zur CDU, fast möchte man sagen, in letzter Minute von 9seinen Parteifreunden gefragt wurde, ob er bereit sei, sich als 0Wahlkreiskandidat für den Bundestag aufstellen zu lassen. 1 Der Bundestag bietet also kein Spiegelbild der Gesamtbevöl2kerung. Die Parteiendemokratie bewirkt eine Zusammenset3zung der Elite, die nicht weniger einseitig ist als früher die der 4Privilegierten des Ständestaates oder der Vermögenden und 5Gebildeten in Bluntschlis „veredelter Demokratie“ mit Zen6suswahlrecht. Die politische Elite ist anders zustande gekom7men und zusammengesetzt als ihre Vorgänger. Tendenziell 8bildet zumindest die Kernmannschaft der häufig wiederge9wählten Abgeordneten eine neue politische Klasse, und es gibt 0nach dem Urteil eines Bundestagsabgeordneten, der nicht zur 1Kernmannschaft gehört, „viele Abgeordnete, die ausschließ289
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lich in der Politik Karriere machen“. Mit anderen Worten: Die1 Vertreter des Volkes in den Parlamenten werden zumindest2 teilweise zu Berufspolitikern. Ermöglicht wird dies durch groß-3 zügig bemessene Entschädigungszahlungen in Gestalt von Di-4 äten und Aufwendungspauschalen. 5 Derartige Zahlungen gab es in bescheidenem Umfang, wie6 oben geschildert worden ist, bereits in der athenischen Demo-7 kratie, und auch im 19. Jahrhundert mit der Ausweitung des8 Wahlrechts auf Nichtvermögende. So enthielt beispielsweise9 die kurhessische Verfassung von 1831 die Vorschrift: „Die Mit-0 glieder der Ständeversammlung, mit Ausnahme der Prinzen des1 Kurhauses sowie der Standesherren, erhalten angemessene2 Reise- und Tagegelder.“ Hingegen verbot die Reichsverfassung3 von 1871 in Artikel 32 die Zahlung jedweder Besoldung oder Ent-4 schädigung. Das schloss Arme und Geringverdienende prak-5 tisch von einem Abgeordnetenmandat aus. Verständlicherweise6 lief vor allem die Sozialdemokratische Partei dagegen Sturm,7 aber erst im Jahr 1906 wurde das Verbot durch ein verfassungs-8 änderndes Gesetz aufgehoben. Eine entsprechende Vorschrift9 in Artikel 40 der Weimarer Verfassung wurde dahingehend kon-0 kretisiert, dass Abgeordneten 25 Prozent eines Ministergehalts1 als Diät gezahlt wurden. In Artikel 48 Absatz 3 des Grundgeset-2 zes heißt es: „Die Abgeordneten haben Anspruch auf eine ange-3 messene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung. Sie4 haben das Recht der freien Benutzung aller staatlichen Ver-5 kehrsmittel. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“ 6 Dieses Gesetz ist mehrfach geändert worden. Zuletzt, im Jah-7 re 2016, wurde die Höhe der Abgeordnetendiäten an der Besol-8 dung der obersten Richter des Bundes orientiert, das sind ge-9 genwärtig etwas mehr als 9500 Euro im Monat. Hinzu kommt0 die Aufwandsentschädigung. Auch eine Altersversorgung in1 290
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1Höhe von 2,5 Prozent des Monatsverdienstes wird für jedes Jahr 2einer Abgeordnetentätigkeit gewährt. Im Höchstfall ist die Al3tersversorgung auf 67,5 Prozent einer Jahresdiät begrenzt, also 4gegenwärtig auf etwa 6400 Euro. Der staatlich alimentierte Sta5tus eines Abgeordneten kann im Extremfall somit die Höhe ei6ner Pensionszahlung erreichen, wie sie Richter der höchsten 7Besoldungsstufe beziehen. Hinzu kommt der Skandal, dass die 8Abgeordneten des Bundestages selbst über die Höhe ihrer Diä9ten entscheiden. Abgeordnete sind keine Beamten, aber ihr pro0minenter Teil ist auf dem Weg zu einem Stand von Berufspoliti1kern. 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 291
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1 2 3 4 5 6 7 8 ie die krisenhaften Erscheinungen in der heutigen De-9 mokratie zu heilen seien, dazu wurden verschiedentlich0 Vorschläge unterbreitet – auch unter Rückgriff auf das, was als1 Kern der antiken Demokratie ausgemacht wird. Hier sollen nun2 aus der Fülle dieser Veröffentlichungen drei jüngst erschienene3 Bücher kurz vorgestellt und einer kritischen Prüfung unterzo-4 gen werden, nämlich 5 6 David Van Reybrouck, Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht7 demokratisch ist, Göttingen 2016 (Originalausgabe: Tegen ver-8 kiezingen, Amsterdam 2013); 9 Jason Brennan, Gegen Demokratie. Warum wir die Politik nicht0 den Unvernünftigen überlassen dürfen, Berlin 2017 (Original-1 ausgabe: Against Democracy, Princeton 2016); 2 Josiah Ober, Demopolis oder was ist Demokratie?, Darmstadt3 2017 (Originalausgabe: Demopolis: Democracy before Libera-4 lism in Theory and Practice, Cambridge 2017). 5 6 David Van Reybrouck, Historiker und Ethnologe, der mit einem7 wichtigen Buch über die belgische Kolonialherrschaft im Kongo8 hervorgetreten ist, verwirft in seinem jüngsten Werk die reprä-9 sentative Demokratie, in der das Volk seine Vertreter in die Par-0 lamente wählt, als undemokratisch und erklärt im Klappentext1
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1der Rückseite: „Wahlen sind heutzutage primitiv. Eine Demo2kratie, die sich darauf reduziert, ist dem Tode geweiht.“ Dieses 3Urteil stützt sich auf das Phänomen verbreiteter Wahlenthal4tung, die als ein zum Tode führendes „demokratisches Ermü5dungssyndrom“ gedeutet wird. Tatsächlich ist das Buch dort am 6überzeugendsten und spannendsten, wo es die mangelnde Be7teiligung an den allgemeinen und gleichen Wahlen, dem müh8sam errungenen Palladium der modernen Demokratie, mit ei9nem reichen empirischen Material belegt. Von diesem Befund 0her verwirft der Autor die moderne Demokratie als undemokra1tisch und stellt seinem Buch das Verdikt voran, das Jean-Jacques 2Rousseau im 18. Jahrhundert fällte: 3 4 „Das englische Volk meint frei zu sein; es täuscht sich sehr: 5 Nur während der Wahlen der Parlamentsmitglieder ist es frei; 6 sobald sie gewählt sind, ist es Sklave, ist es nichts.“ 7 8Auf Rousseau dürfte sich Reybrouck allerdings am allerwe9nigsten berufen. Dieser lehnte jede Form einer Repräsentativ0verfassung ab, weil er der Überzeugung war, dass der Souverän 1des Staates, das Volk, sich nicht vertreten lassen könne. Des2halb befürwortete er nach dem Vorbild der Antike die direkte 3Demokratie, in der das Volk die ungeteilte Regierungsgewalt 4ausübte. Darauf will Reybrouck nicht hinaus, sondern schlägt 5vor, die Repräsentanten des Volkes durch Auslosung statt 6durch Wahlen zu bestellen. Für diese Methode beruft er sich 7vor allem auf das Vorbild des demokratischen Athen (daneben 8bringt er noch einige Staaten der Frühen Neuzeit ins Spiel, die 9sich der Methode der Auslosung von Beauftragten bedienten). 0Vom Standpunkt Rousseaus wäre das nichts anderes als eine 1Verschlimmbesserung des Repräsentativsystems. Nichts an293
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deres wäre nämlich die Ersetzung von Wahlen durch das Va-1 banquespiel des Auslosens. Das hieße, von Rousseaus Warte2 geurteilt, nichts anderes, als den Teufel durch Beelzebub aus-3 treiben. 4 Was das vermeintliche Vorbild Athens anbelangt, so missver-5 steht Reybrouck den Sinn der Auslosungsmethode. Sie diente in6 Ermangelung eines öffentlichen Dienstes und der Unmöglich-7 keit, die große Menge der Gerichtsverfahren durch das Volk in8 seiner Gesamtheit entscheiden zu lassen, der Bestellung von9 Beauftragten. Die 6000 ausgelosten Geschworenen entspra-0 chen der Zahl nach dem Quorum, welches das Volk als Ganzes1 bezeichnet. Die Ausgelosten waren also im Prinzip die Volksver-2 sammlung. Damit die Masse der Verfahren bewältigt werden3 konnte, mussten dann für die einzelnen Prozesse Richter, je4 nach Bedeutung in unterschiedlicher Stärke, aus der Liste der5 6000 ausgelost werden. Was also die Bestellung eines öffentli-6 chen Dienstes durch das Los angeht, so handelt es sich um ein7 System, das die Bestellung von rechenschaftspflichtigen Beauf-8 tragten des regierenden Volkes routinemäßig einem Austausch9 unterwarf. 0 Einen Sonderfall stellte in Athen das um das Jahr 400 v. Chr.1 eingeführte Gesetzgebungsverfahren, griechisch: nomothesia,2 dar. Die Einführung dieses Verfahrens stand im Zusammen-3 hang mit der damals vorgenommenen Revision des geltenden4 Rechts, zu der auch die Verabschiedung neuer beziehungsweise5 neu gefasster Gesetze gehörte. Diese Regelung erfolgte, weil in6 der mehrere Tausend von Teilnehmern zählenden Volksver-7 sammlung eine genaue Erörterung eines Gesetzesvorhabens8 nicht möglich war – ein Einwand, den bereits Montesquieu ge-9 gen die direkte Demokratie erhoben hatte. Das Verfahren in0 Athen war dies: Am Anfang stand ein Antrag, die Volksver-1 294
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1sammlung möge ein Nomothesieverfahren eröffnen; bei An2nahme erfolgte die Veröffentlichung des Antrags. Der Rat der 3Fünfhundert fasste nach Beratung einen Vorbeschluss, ein soge4nanntes probuleuma. Nahm die Volksversammlung den Vorbe5schluss an, wurde eine Kommission von 501 Mitgliedern gebil6det, die das probuleuma genau zu prüfen und aufgrund des 7Prüfungsergebnisses einen Beschluss zu fassen hatte. Ein auf 8diese Weise zustande gekommenes Gesetz konnte mit der Be9gründung, es sei schädlich, unzweckmäßig oder stehe in Wider0spruch zu anderen Gesetzen, vor Gericht angefochten und bei 1einem Erfolg der Klage aufgehoben werden. Mit anderen Wor2ten: Das komplizierte Gesetzgebungsverfahren sollte verhin3dern, dass die Rechtslage durch neue Gesetze verändert würde, 4die ungerechtfertigt oder rechtswidrig erschienen. 5 Nach dem Urteil von Jochen Bleicken war es wohl so, dass die 6Athener die Nomotheten, die gesetzgebende Kommission, als 7das Volk in einem anderen Aggregatzustand ansahen, „sie 8jedenfalls keinen qualitativen … Unterschied zwischen ihnen 9und der Volksversammlung machten“. Gleiches gilt für die 06000 Ausgelosten der Geschworenenliste. Im Übrigen ist beob1achtet worden, dass die epigraphischen Funde das Gesetz2gebungsverfahren als seltenen Spezialfall eines Volksbeschlus3ses im 4. Jahrhundert ausweisen. In den achtzig Jahren zwischen 4der Wiederherstellung der Demokratie 403/2 v. Chr. und ihrer 5Ersetzung durch eine oligarchische Verfassung im Jahre 322 v. Chr. 6stehen den mehreren Hundert überlieferten regulären Volks7beschlüssen nur sieben Beschlüsse der Nomotheten gegen8über. 9 Abgesehen von den erwähnten Ausnahmen diente in der An0tike das athenische Losverfahren der Rekrutierung eines öf1fentlichen Dienstes auf Zeit. Das war damals ebenso nötig wie 295
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möglich; denn wie Perikles in der Grabrede des Thukydides1 sagt, besaß jeder Athener eine „gewisse Vertrautheit“ mit den2 öffentlichen Angelegenheiten, die ihn für die zugelosten Aufga-3 ben qualifizierte. Das ist heute völlig anders. Die Zahl und die4 Komplexität der Politik- und Administrationsfelder haben sich5 in einer Weise vermehrt, dass niemand mehr auch nur einen6 Überblick, geschweige denn genaue Kenntnisse des Ganzen7 besitzt – vielleicht mit Ausnahme weniger Berufspolitiker, die8 sich des Rates und der Unterstützung vieler qualifizierter Hel-9 fer aus dem Heer der Ministerialbürokratie bedienen können.0 Man mag sich gar nicht vorstellen, welches Chaos einträte,1 wenn das Volk von den Lotteriegewinnern eines Lossystems2 vertreten würde. Demokratische Wahlen sichern den Teilneh-3 mern immerhin eine Einflussmöglichkeit auf die Zusammen-4 setzung der Parlamente, und die Parteien geben mit ihren5 Wahlprogrammen zumindest Hinweise für eine sinnvolle, die6 Interessen des Wählers und der Gesamtheit berücksichtigende7 Wahl. Das alles bietet das Lossystem nicht, wie immer es einge-8 richtet sein mag. 9 Das schließt nicht aus, dass auch demokratische Wahlen zur0 Bestellung der Repräsentanten des Volkes Einwänden ausge-1 setzt sind. Davon wird nun in der Vorstellung des Buches von2 Jason Brennan die Rede sein. Der Autor geht davon aus, dass3 die Mehrheit der Wähler für die Teilnahme an den Wahlen un-4 qualifiziert ist, und fordert deshalb, dass dieser Mehrheit das5 Wahlrecht entzogen wird. Er ist somit ein Gegner der moder-6 nen Demokratie, deren Grundlage das allgemeine und gleiche7 Wahlrecht des gesamten Staatsvolkes ist. Er unterscheidet un-8 ter der Masse der Unqualifizierten zwei Gruppen: die Desinter-9 essierten und Meinungslosen, vom Autor „Hobbits“ genannt0 (ein Kunstwort, das wohl von hobbie, humpelnd, behindert,1 296
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1abgeleitet ist), und die meinungsstarken, aber uniformierten 2Fanatiker, denen die auch ins Deutsche übernommene Be3zeichnung „Hooligans“ beigelegt wird. Dieser zweigeteilten 4Mehrheit wird die Minderheit der sogenannten „Vulkanier“ ge5genübergestellt. Ihr attestiert Brennan rationales Denken, Ori6entierung an empirisch belegten Sachverhalten, politische 7Kompetenz und das Bemühen, vorurteilsfrei zu denken. Auf 8diese letztere Gruppe müsste nach Brennans Vorschlag das ak9tive und das passive Wahlrecht beschränkt werden, damit an 0die Stelle der Demokratie, der Mehrheitsherrschaft der Unqua1lifizierten, deren Verderblichkeit an ihren Früchten zu erken2nen sei, das Regiment der Wissenden, eine Epistokratie, wie 3sein griechisches Wort heißt, treten könne. 4 Sein Modell eines auf die Elite des Landes beschränkten 5Wahlrechts hatte der Autor in einzelnen Beiträgen schon skiz6ziert, bevor die Liberalen Amerikas bei der Wahl von Donald 7Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten einen Schock 8erlitten, der ihnen das Konzept der Gründerväter, die Besitzlo9sen und Ungebildeten von der politischen Verantwortung für 0die Geschicke des Landes fernzuhalten, in einem goldenen 1Licht erscheinen ließ, und Brennan das hier vorgestellte Buch 2veröffentlichte. In diesem Sinn kommentierte Joshua Cohen in 3dem Artikel, aus dem oben schon mehrfach zitiert wurde, das 4Ergebnis der letzten amerikanischen Präsidentenwahlen: 5 6 „Indem sie (gemeint sind die von den Parteien aufgestellten 7 Wahlmänner) Trump wählten oder Clinton nicht wählten, ha8 ben diejenigen Leute, denen die Gründerväter nie getraut 9 hatten, ihre Revanche genommen: Amerikas gebildete Elite 0 ist überlistet und die Tyrannei der ‚Einfühlung‘ während der 1 Obama-Ära überwunden.“ 297
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Aber jeder Versuch, zum Konzept der Gründerväter zurückzu-1 kehren, wäre nach der tief verwurzelten Etablierung der Demo-2 kratie mit Sicherheit ebenso zum Scheitern verurteilt wie im3 5. Jahrhundert v. Chr. die Umsturzversuche, mit denen die An-4 hänger einer Oligarchie in Athen die Demokratie durch die5 Herrschaft der ‚Edlen‘ ersetzen wollten. Sie scheiterten, weil6 selbst angesichts der durch Kriegsereignisse eingetretenen7 schweren Erschütterungen der Demokratie es sich als unmög-8 lich erwies, eine Herrschaft der wenigen über die überwältigen-9 de Mehrheit des Volkes zu begründen. Als dies im Jahre 322 v.0 Chr. in Form einer gemäßigten Oligarchie doch geschah, war1 der Verfassungswechsel eine der Bedingungen, die das siegrei-2 che Makedonien der Stadt nach ihrer Kapitulation auferlegte.3 Eine vergleichbare Konstellation, in der ein Sturz der Demokra-4 tie durch eine Minderheit möglich erschiene, ist in Amerika5 nicht gegeben, schon gar nicht unter dem Vorzeichen einer6 kriegsbedingten Kapitulation. Doch davon abgesehen: Die Spu-7 ren der despotischen Regierungsformen, die im vergangenen8 Jahrhundert schwach entwickelte oder geschwächte Demokra-9 tien wie im Russland des Schicksalsjahres 1917 und im Deutsch-0 land des Katastrophenjahres 1933 ersetzten, sind abschreckende1 Beispiele, was unter dem Vorzeichen der Machtergreifung eine2 neue ‚Elite‘ anrichten kann. 3 Die historischen Erfahrungen, wohin die Versuche, die De-4 mokratie zu stürzen und an ihre Stelle eine bessere Regierungs-5 form (was immer das heißt) zu setzen, geführt haben, berück-6 sichtigt Brennan so wenig wie die praktische Frage, wie der7 Idealstaat der Vernünftigen gegen die Mehrheit der Unvernünf-8 tigen zu verwirklichen wäre. Auf die unwiederbringlich vergan-9 gene Zeit eines Zensuswahlrechts zurückzugreifen, wäre unter0 heutigen Bedingungen von vornherein zum Scheitern verur-1 298
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1teilt. Der Autor hätte sich besser auf die Ursachen konzentriert, 2die das Desinteresse eines großen Teils der Wähler an einer 3Ausübung des Wahlrechts oder das irrationale Verhalten wü4tender Fanatiker hervorgerufen haben. Denn dass damit ein 5wirkliches Problem angeschnitten ist, steht außer Frage. Es be6steht in dem Protest gegen die Politik, die von den Eliten in den 7Parlamenten und in der Regierung betrieben wird. Brennan 8wird im Klappentext als Philosoph und Politologe vorgestellt. 9Tatsächlich erweist er sich in seinem Buch als politischer Philo0soph, der wie Platon das Elend der realen Politik beschreibt und 1einen Idealstaat entwirft, aber der Frage hilflos gegenübersteht, 2ob und wie sich die vorgestellte Alternative zur Demokratie ver3wirklichen lässt. 4 Die dritte der angezeigten Studien, das Buch von Josiah Ober, 5setzt die vielfach festgestellte und beklagte Krise der liberalen 6Demokratie voraus. Sein Anliegen ist, den ursprünglichen Kern 7der Demokratie zu retten; darunter versteht er den inneren Wert 8der Teilhabe am öffentlichen Leben in einem Gemeinwesen, 9das ein angemessenes Sicherheits- und Wohlstandsniveau ga0rantieren kann. Dafür findet er in der athenischen Demokratie 1das Vorbild. Eine Rezension seines Buches, die in der Frankfur2ter Allgemeinen Zeitung erschien, stand denn auch unter der 3Überschrift „Die alten Griechen wussten, wie es geht“, was hei4ßen könnte: wie es ungeachtet aller Errungenschaften der mo5dernen Demokratie wieder gehen könnte. Diese Errungenschaf6ten sind Gewaltenteilung, Menschenrechte, Freiheit zu einem 7selbstbestimmten Leben, öffentliche Daseins- und Gesund8heitsfürsorge und grenzüberschreitende Solidarität. Nach ame9rikanischem Brauch subsumiert der Autor auch die sozialstaat0lichen Elemente unter die Wesensmerkmale der liberalen 1Demokratie. Um keine Missverständnisse aufkommen zu las299
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sen: Ober ist kein Gegner der liberalen Demokratie, sondern er1 reagiert in seinem Buch auf eine Konstellation, in der Heraus-2 forderungen wie der sogenannte Populismus und Nationalis-3 mus sie infrage stellen, ja beseitigen könnten. Wenn er seinen4 Rückzug auf das, was er als Kerndemokratie versteht, am athe-5 nischen Vorbild der Versammlungsdemokratie orientiert, muss6 er freilich irgendwie berücksichtigen, dass unter modernen Ver-7 hältnissen eine direkte Demokratie, in der das Volk in Versamm-8 lungen regiert ungeachtet der Möglichkeit, dass das Volk in eini-9 gen Staaten über einzelne Gesetzesvorlagen abstimmen kann ,0 nicht zu verwirklichen ist. Er hilft sich aus der Verlegenheit, in-1 dem er erklärt, dass unter Umständen die Merkmale der direk-2 ten auch in der repräsentativen Demokratie wirksam werden3 könnten. Die nähere Begründung bleibt er schuldig. Abgesehen4 davon beruht das Bild, das er von der athenischen Demokratie5 zeichnet, auf einer Idealisierung, die mit der Ausblendung ihrer6 problematischen Züge erkauft ist. 7 Anhand der ersten sechs Kapitel seines Buches versuche ich,8 eine Vorstellung von dem Argumentationszusammenhang Jo-9 siah Obers zu vermitteln. Im ersten Kapitel wird die sogenann-0 te Kerndemokratie als eine Verfassung definiert, die ganz auf1 dem inneren Wert einer Teilhabe an der Gestaltung des öffent-2 lichen Lebens in staatsbürgerlicher Würde beruht. Vorausge-3 setzt wird, dass dieser Musterstaat für ein angemessenes Si-4 cherheits- und Wohlstandsniveau zu sorgen in der Lage ist. Auf5 welche Weise das geschehen kann, bleibt allerdings offen. Im6 zweiten Kapitel wird als historisches Vorbild des von Ober kon-7 struierten Musterstaats das demokratische Athen vorgestellt.8 Im dritten Kapitel wird, fast möchte man sagen, wie in Platons9 Gesetzen, anhand eines theoretischen Gedankenexperiments0 die Neugründung eines Staates fingiert, der den Postulaten1 300
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1einer Kerndemokratie entspricht. Das vierte Kapitel verteidigt 2diese Demokratie gegen den von Thomas Hobbes in seinem 3Leviathan erhobenen Vorwurf, dass die Demokratie von den 4klassischen Regierungsformen – Monarchie, Aristokratie, De5mokratie – die schlechteste sei, weil in ihr der Kampf um Mehr6heiten zum Krieg aller gegen alle und schließlich zur Tyrannis 7des größten Demagogen führe. Die beiden folgenden Kapitel 8gelten den Gründen, mit denen „die Erzieher zur Demokra9tie“ – wieder eine Fiktion, die im Unklaren lässt, wer dazu in 0der Lage sein könnte – „einen rational denkenden, skeptischen 1Einwohner von Demopolis davon zu überzeugen vermögen, 2die soziale Identität eines Bürgers anzunehmen und bereitwil3lig die mit dem Bürgersein einhergehenden Pflichten zu über4nehmen“. 5 Das siebte Kapitel, das letzte, bevor im achten ein Fazit gezo6gen wird, erörtert das Problem der Delegation von Befugnis7sen und des Verhältnisses von fachlicher Kompetenz und 8Volksherrschaft: „Der Demos muss fähig sein, selbst zu regie9ren“, heißt es dort, und zwar sowohl in der direkten als auch in 0einer repräsentativen Demokratie wie der modernen. Wie das 1in der zuletzt genannten möglich sein soll, bleibt ein Rätsel. 2Josiah Ober entwickelt unter Bezug auf die athenische Demo3kratie ein Modell politischer Herrschaft, das in dieser Form in 4der geschichtlichen Wirklichkeit nie existiert hat. Laut Klap5pentext zählt Josiah Ober „zu den am häufigsten zitierten Al6tertumswissenschaftlern und politischen Philosophen unserer 7Zeit“. In Wahrheit erweist er sich in seiner Demopolis indessen 8weniger als ein Altertumswissenschaftler mit historischem Er9kenntnisinteresse denn als politischer Theoretiker. Diesem Ur0teil entspricht seine Selbsteinschätzung: „Die Kerndemokratie 1ist demnach eine theoretische (kursiv im Original) Option für 301
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eine hypothetische Menschengruppe, die nach einer nicht-ty-1 rannischen und nicht-liberalen Gesellschaftsordnung Aus-2 schau hält“, heißt es im Schlusskapitel. 3 Ob das Konstrukt einer Kerndemokratie ohne liberale Grund-4 lagen unter den historisch gewachsenen Bedingungen unserer5 Zeit überhaupt möglich wäre, um vom Wünschenswerten ganz6 zu schweigen, ist von einem prominenten Kollegen des Autors,7 dem Tübinger politischen Philosophen Otfried Höffe, im Re-8 zensionsteil der Neuen Zürcher Zeitung vom 2. März 2018 zu9 Recht bestritten worden: 0 1 „Trotz manch schönen Argumenten ist Josiah Ober mit seiner2 Demopolis keine in sich stimmige und zugleich überzeugen-3 de Alternative zur liberalen Demokratie gelungen. Zugespitzt:4 Obers Versuch eines ernsthaften Gegenmodells ist geschei-5 tert.“ 6 7 Diesem Verdict ist nichts hinzuzufügen. 8 9 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 302
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1 2 3 4 5 ntike und moderne Demokratie haben, abgesehen vom Na6 men und der Berufung auf die Volkssouveränität, wenig 7 8miteinander gemein. 9 Das seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. belegte Wort bezeichnet 0im Griechischen die Herrschaftsgewalt des Volkes, die seit 1dem ausgehenden 6. Jahrhundert in der Regierung Athens 2durch die Volksversammlung realisiert wurde. Jeder erwachse3ne männliche Bürger war berechtigt, als Mitglied der Volks4versammlung die Stadt mitzuregieren, und verpflichtet, nach 5Vermögen die Gemeinschaftslasten mitzutragen. Zu diesen 6Pflichten gehörte für Reiche die Übernahme kostspieliger Las7ten, sogenannter Leiturgien; für die Gesamtheit der Bürger8schaft, im Bedarfsfall Kriegsdienst zu Lande oder zu Wasser zu 9leisten. Anders stand es mit der Heranziehung von Bürgern zu 0Geschworenenrichtern und zu administrativen Hilfsdiensten. 1Sie geschah in einem Lossystem, das die Gewähr für einen 2Wechsel zwischen Dienst und Freistellung bot. Was die Bür3gerbeteiligung an der regierenden Volksversammlung anbe4langt, so spricht alle Wahrscheinlichkeit dafür, dass in der Re5gel nur die in der Stadt und ihrem näheren Umfeld wohnenden 6Bürger an den zahlreichen Versammlungen des regierenden 7Volkes teilnehmen konnten. Weite Entfernungen und große 8Zahl der Versammlungstermine bewirkten, dass das Teilnah9merecht und seine Nutzungsmöglichkeiten in einem krassen 0Missverhältnis standen. Aus diesem Grund ist davon gespro1chen worden, dass die direkte Demokratie Athens in Wahrheit
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die Oligarchie der Ein- und Umwohner der Stadt war. Nur als1 im Peloponnesischen Krieg die Spartaner das flache Land des2 athenischen Staatsgebietes besetzt hielten und die Landbe-3 wohner in das Festungsdreieck flüchten mussten, das Athen4 mit dem Meer verband, hatten auch diese die Möglichkeit, an5 den Volksversammlungen teilzunehmen. 6 Das demokratische Regierungssystem beruhte auf ökonomi-7 schen, gesellschaftlichen und machtpolitischen Voraussetzun-8 gen, die in diesem Zusammentreffen einzigartig waren. Wirt-9 schaftlich verlagerte sich das Schwergewicht der Gemeinde0 vom Land auf die Stadt – anders ausgedrückt: von der agrari-1 schen Produktion zu einem städtischen und maritimen Zentrum2 von Manufaktur, Handel und Schifffahrt. Damit verbunden war3 der Wandel von einer Natural- zu einer Geldwirtschaft. Dieser4 Wandel wurde von zwei Faktoren begünstigt: In Attika gab es5 reiche Silbervorkommen – Silber war bekanntlich der Stoff, aus6 dem Geld, von Scheidemünzen abgesehen, damals bestand.7 Athen zog weitere reiche Einnahmen aus seiner Seeherrschaft8 durch die Geldbeiträge, mit denen die zahlreichen Bundesge-9 nossen in der Ägäis und an der kleinasiatischen Westküste ihre0 Verpflichtung ablösten, Schiffe zu der von Athen zum Schutz des1 Seebundes vor den Persern unterhaltenen Flotte zu stellen. Aus2 den genannten Quellen, Handel, Silberabbau und Geldbeiträ-3 gen der Bundesgenossen, gewann Athen die Mittel, um zur4 Großmacht aufzusteigen, das Zentrum mit Nutz- und Repräsen-5 tativbauten zu schmücken und, zumindest teilweise, durch Um-6 verteilung zugunsten des Volkes das System der Demokratie zu7 finanzieren und zu stabilisieren. Als im 4. Jahrhundert die Ein-8 nahmen aus der Seeherrschaft wegfielen, hatte die Regierung9 Schwierigkeiten mit dem auf auswärtige Zufuhr angewiesenen0 Unterhalt des Volkes. In einer Reformschrift zum athenischen1 304
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Rückblick und Ausblick
1Finanzwesen aus der Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. heißt es 2in der Einleitung: 3 4 „Ich vertrete immer schon die Auffassung, dass die Verhält5 nisse in den Staaten so sind wie die Qualität der an der Spitze 6 stehenden Führer. Nun aber pflegten einige von ihnen zu sa7 gen, sie verstünden sich auf Gerechtigkeit nicht weniger als 8 andere, doch wegen der Not der Menge seien sie gezwungen, 9 gegenüber den (verbündeten) Städten ungerecht zu handeln. 0 Deswegen habe ich es unternommen, nachzuforschen, ob es 1 irgendwie möglich sei, die Bürger aus eigenen Ressourcen, 2 woraus zu schöpfen ja auch das Gerechteste ist, zu unterhal3 ten – in der Annahme, dass, wenn dies geschehen könnte, so4 wohl ihrer (der Bürger) Armut als auch der Abneigung der 5 Griechen (gegen Athen) abgeholfen sei.“ 6 7Die athenische Demokratie stand nicht nur wegen ihrer mariti8men Großmachtpolitik im Kreuzfeuer der Kritik von außen und 9im Inneren, sie wurde auch von Angehörigen der entmachteten 0Elite als Klassenherrschaft der Besitzlosen und zur Regierung 1Unqualifizierten über die Minderheit der Wohlhabenden und 2Qualifizierten scharf abgelehnt. Mehr noch: In dieser Minder3heit gab es nicht nur den Willen, die Demokratie gewaltsam zu 4beseitigen, sondern auch die Bereitschaft, zu diesem Zweck mit 5den Kriegsgegnern Athens zu kooperieren. An die Ablehnung 6der Demokratie durch ihre Gegner knüpfte die antike Staatsthe7orie an und stellte ihr alternative Staatsentwürfe gegenüber, die 8dazu bestimmt waren, der an der Demokratie vermissten Ge9rechtigkeit in der Politik zum Durchbruch zu verhelfen. 0 In der Antike wurde die direkte Demokratie Athens fast 1durchweg von ihren Gegnern und Feinden als die schlechteste 305
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der drei Staatsformen verworfen, welche die politische Theorie1 unterschieden hatte: Monarchie, Aristokratie und Demokratie.2 In der Frühen Neuzeit wurde das negative Urteil fast durchweg3 übernommen. Martin Luther sprach abwertend von den „Her-4 ren Omnes“; denn dass alle ohne Unterschiede herrschten, er-5 schien widersinnig in einer Welt, in welcher Kaiser, Könige und6 Fürsten als gottgegebene Obrigkeiten galten. Diesen Obrigkei-7 ten standen als Repräsentanten des Landes die privilegierten8 Stände gegenüber. Sie galten in der Theorie der Staatslehre als9 die Vertreter des Volkes. Ausgeschlossen blieb die überwälti-0 gende Mehrheit der auf dem flachen Land lebenden Bevölke-1 rung, Bauern, Kätner, Knechte. Sie alle waren unfrei, der Grund-2 herrschaft oder, in den ostelbischen Gebieten Deutschlands,3 der Gutsherrschaft unterworfen und deshalb nicht in der Lage,4 sich selbst, geschweige denn die Edelfreien und Freigeborenen5 in den Versammlungen der Stände zu vertreten. Desgleichen6 hatten alle Stadtbewohner, die mit ihrer Hände Arbeit mühsam7 ihr Leben fristeten, an der Repräsentation des Bürgerstandes8 keinen Anteil. Noch Montesquieu schloss im 18. Jahrhundert9 alle diejenigen von der Wahl der Repräsentanten des Volkes aus,0 „die in einem solchen Elend leben, dass man ihnen keinen eige-1 nen Willen zutraut“. 2 Die moderne repräsentative Demokratie, die auf dem glei-3 chen Wahlrecht aller Staatsbürger beruht, ist das Ergebnis einer4 mehrere Jahrhunderte dauernden Entwicklung. Ihre Vollen-5 dung erfuhr sie erst, als alle Bürger, unabhängig von Herkunft,6 Vermögen, Bildung und Geschlechtszugehörigkeit, das Recht7 erhalten hatten, in allgemeinen, gleichen und geheimen Wah-8 len die Parlamentsabgeordneten zu wählen beziehungsweise9 selbst als gewählte Abgeordnete das Volk zu repräsentieren. Er-0 reicht war dieses Stadium, wenn auch in unvollkommener Wei-1 306
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1se, in den Vereinigten Staaten, in Frankreich und der Schweiz 2nach der Revolution von 1848, in den übrigen Staaten Europas 3erst nach dem Ersten Weltkrieg – doch entgegen der Prophezei4ung Tocquevilles keineswegs in weltweitem Umfang. Davon ab5gesehen war der Weg zur Demokratie überall langwierig und 6mühsam. Die erste wichtige Etappe war die Beseitigung des 7Ständestaats und der Feudalordnung durch die Französische 8Revolution sowie die in der Unabhängigkeitserklärung der Ver9einigten Staaten erfolgte Neubestimmung des Staatszwecks, 0das individuelle Streben nach Glück und freier Lebensgestal1tung zu fördern und zu garantieren. 2 Bürgerliche Rechtsgleichheit und Menschenrechte, beides 3Errungenschaften des Zeitalters der Aufklärung, sind feste Be4standteile repräsentativer Demokratien geworden, aber als sie 5entstanden, geschah dies nicht in der Absicht, die Grundlagen 6für eine Demokratie zu legen. Im Gegenteil: Das Bild, das von 7der direkten Demokratie der Antike überliefert war, entfaltete 8im 18. Jahrhundert eine abschreckende Wirkung. Die große 9Ausnahme unter den politischen Theoretikern, Jean-Jacques 0Rousseau, bewunderte die Demokratie, hielt sie aber für eine 1Verfassung, die für Götter, nicht für Menschen geschaffen war. 2Die Gründerväter der Vereinigten Staaten wollten von einer De3mokratie nichts wissen; ihnen ging es um eine Republik. Diese 4war auch in Kants Augen die beste Staatsform, deren Vorzüge 5nach seiner Auffassung auch in einer Monarchie wirksam sein 6könnten, während er die Demokratie für die schlechteste aller 7Regierungsformen hielt, weil eine Mehrheitsherrschaft Despo8tismus in seiner schlimmsten Form bedeute. 9 Ein anderer großer Staatstheoretiker des 18. Jahrhunderts, 0Montesquieu, war ebenfalls ein Kritiker der Demokratie, doch 1entwickelte er aus der Betrachtung der politischen Verfassung 307
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Englands eine Theorie, die bis auf den heutigen Tag als eine der1 Grundlagen der Demokratie gilt: die Lehre von der Gewalten-2 teilung. Sie besagt, dass die drei Staatsgewalten Exekutive, Le-3 gislative und Judikative getrennt sein müssen, damit in einem4 Staat Freiheit gewahrt bleiben könne. Diese Lehre fiel schon im5 18. Jahrhundert sowohl in Amerika als auch in Europa auf6 fruchtbaren Boden. Die polnische und die französische Verfas-7 sung, beide aus dem Jahr 1791, waren ebenso nach dieser Lehre8 konzipiert wie die amerikanische von 1789. Während sich die9 beiden europäischen Konstitutionen als ephemere Schöpfun-0 gen erwiesen, ist die amerikanische bis heute in Geltung. Ge-1 waltenteilung wurde im 18. Jahrhundert nicht als Erfordernis2 einer Demokratie betrachtet, sondern ganz im Gegenteil als3 Voraussetzung einer nichtdespotischen, freiheitlichen Regie-4 rungsform, die nach damaligem Urteil die Demokratie – ge-5 meint war die direkte – nicht war. Heute gehört Gewaltenteilung6 zu den grundlegenden Prinzipien, auf denen eine repräsentati-7 ve Demokratie beruht. Ein Verstoß gegen dieses Prinzip – ein8 tatsächlicher oder ein vermeintlicher – kann heute in Europa9 zur Androhung von Sanktionen seitens der Europäischen Union0 führen, wie die Reaktionen der Europäischen Union auf die der1 polnischen Regierung vorgeworfenen Verletzungen der richter-2 lichen Unabhängigkeit lehren. 3 Es ist eine Ironie der von Montesquieu vorgenommenen Ab-4 leitung der Gewaltenteilung aus der Verfassungswirklichkeit5 Englands, dass dieses Vorbild nur bedingt die aus ihm abgeleite-6 te Theorie zu stützen vermag. Denn gerade in England, der Mut-7 ter der parlamentarischen Regierungsform, setzte sich der8 Brauch durch, dass der jeweilige Premierminister zwar vom Kö-9 nig ernannt wurde, doch in aller Regel nur unter der Vorausset-0 zung, dass er die Unterstützung des Unterhauses besaß und die-1 308
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1sem für sein Tun und Lassen verantwortlich war. Das Parlament 2konnte ihn unterstützen oder stürzen, und umgekehrt konnte 3die Regierung mithilfe von sogenannten Einpeitschern mit Er4folg versuchen, das Abstimmungsverhalten im Unterhaus, dem 5Gremium, dem die gesetzgebende Gewalt oblag, zu kontrollie6ren und nach ihrem Willen zu bestimmen. 7 In England war der Parlamentarismus bis tief in das 19. Jahr8hundert hinein kein Hort der Demokratie, sondern blieb die 9Hochburg der Adelsherrschaft unter Beimischung von Elemen0ten eines Zensuswahlrechts. Dies war in Polen zur Zeit der Ver1fassung von 1791 ähnlich, aber die Motive waren andere als in 2England. Die verarmten Teile des Schwertadels sollten wegen 3ihrer Anfälligkeit für Bestechung seitens auswärtiger Mächte 4und hochadliger Magnaten von den Wahlen zur Landbotenstu5be, dem polnischen Unterhaus, ausgeschlossen werden. Ein 6Zensuswahlrecht gab es auch in den Verfassungen, die aus Re7volutionen unterschiedlicher Art hervorgegangen waren: der 8amerikanischen von 1789 und der französischen von 1791. Hier 9wie dort war der Grund, dass die politischen Mitwirkungsrechte 0denjenigen vorbehalten bleiben sollten, denen man aufgrund 1ihres Besitzes und ihrer Bildung charakterliche Vorzüge sowie 2das notwendige Wissen und eine Orientierung am Gemeinwohl 3zutraute. 4 Das demokratische Zeitalter siegte zuerst in den Vereinigten 5Staaten. Hier geriet die Gesellschaft durch die rasante Ausdeh6nung nach Westen in Bewegung und brachte eine Nivellierung 7der Sitten und Umgangsformen hervor, die um 1830 Alexis de 8Tocqueville faszinierte und zu seiner brillanten Analyse De la 9démocratie en Amérique inspirierte. Zu den politischen Folgen 0dieser Demokratisierung gehörte, dass die Bundesstaaten die 1Beschränkungen des Wahlrechts durch Zensusvorschriften zwi309
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schen 1791 und 1856 schrittweise aufhoben, sodass schließlich1 alle erwachsenen weißen Männer an den Wahlen teilnehmen2 konnten. 3 Auch in England kam es zu einer demokratischen Bewegung.4 Sie war jedoch nicht in der Lage, die parlamentarische Adels-5 herrschaft aus dem Sattel zu heben. Allerdings erhoben die An-6 hänger einer radikalen Reform ihre Stimme in der Öffentlich-7 keit. Selbst die athenische Demokratie verwandelte sich in dem8 bedeutenden, zwischen 1846 und 1856 erschienenen zwölfbän-9 digen Geschichtswerk History of Greece des liberalen Bankiers0 George Grote (1794–1871) vom Schreckbild zum Vorbild. Insbe-1 sondere verbanden sich in der Bewegung der Chartisten die For-2 derungen nach politischer Demokratie und sozialen Reformen3 zugunsten der im Zeitalter der Frühindustrialisierung ausge-4 beuteten Arbeiterklasse. Die Chartisten erreichten ihre Ziele5 nicht; doch der Verknüpfung von demokratischer Repräsentati-6 on und dem angestrebten Staatsziel einer Verbesserung der ma-7 teriellen Lebensverhältnisse für die arbeitende Bevölkerung8 sollte in Europa eine große Zukunft beschieden sein. 9 In Deutschland war fast alles anders. Hier hatte in napoleo-0 nischer Zeit eine Revolution besonderer Art stattgefunden.1 Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war unterge-2 gangen. Es gab keinen Kaiser, keinen Reichstag und keine3 geistlichen Fürsten mehr; die territoriale Zersplitterung war4 von knapp 2000 Landesherrschaften (unter Einrechnung von5 Reichs- und Freien Städten sowie Reichsrittern) auf 26 Monar-6 chien und vier Stadtrepubliken reduziert. Auf dem Wiener7 Kongress, der nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft8 für Europa eine Neuordnung schuf, wurden die deutschen9 Staaten mit denjenigen Territorien, die dem Alten Reich ange-0 hört hatten, in einen lockeren Staatenbund zusammenge-1 310
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1schlossen, dessen Zweck die militärische Eindämmung des 2nach damaliger Befürchtung potenziell aggressiven Frankreich 3und die Aufrechterhaltung der restaurativen Ordnung im Inne4ren des Bundes waren. 5 Der Artikel 13 der Wiener Schlussakte bestimmte, dass in 6den einzelnen Staaten „landständische Verfassungen stattfin7den“ sollten. Aber die beiden größten Staaten, Österreich und 8Preußen, und der größte Teil der kleinen Staaten Norddeutsch9lands umgingen diese Bestimmung. Anders die süddeutschen, 0von Napoleon stark vergrößerten Staaten: Sie schufen zur Stär1kung ihrer inneren Einheit repräsentative Verfassungen unter 2besonderer Berücksichtigung des landsässigen Adels und der 3sogenannten Standesherren aus den ehemals regierenden 4Häusern des Alten Reiches. Auch die Repräsentativorgane der 5Verfassungsstaaten waren von einer Vertretung aller Staats6bürger ohne Rücksicht auf ihre Herkunft und ihr Vermögen 7weit entfernt. Schlimmer noch: Der Adel verfügte noch immer 8mehr oder weniger über Vorrechte aus dem Zeitalter des Feu9dalismus. Außerhalb Preußens (das sich seinen monarchi0schen Absolutismus bewahrte) herrschte nach den Worten 1Heinrich von Treitschkes weiterhin „altständisches Stilleben 2in Norddeutschland“. Erst die Nachwirkungen der Revolution 3von 1848 hatten zur Folge, dass, um mit Franz Mehring zu spre4chen, „unter den feudal-juchtigen Trümmern, welche … noch 5fußhoch den deutschen Boden bedeckten“ begonnen wurde 6aufzuräumen. 7 Selbst die Unruhen, die 1830, nach der Julirevolution in Frank8reich, in Deutschland ausbrachen, hatten gegen die beiden Pfei9ler, auf denen die innere Ordnung im Deutschen Bund beruhte, 0monarchisches Prinzip und landständische Verfassung , keinen 1durchschlagenden Erfolg. Was bestenfalls möglich war, zeigt 311
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die kurhessische Verfassung von 1831, die – auch wenn Metter-1 nich sie „sehr demokratisch“ nannte – einen Kompromiss zwi-2 schen modernen liberalen Reformideen und Festhalten an den3 Vorgaben des fürstlichen Obrigkeitsstaates und der vordemo-4 kratischen Zusammensetzung der als Ständehaus bezeichneten5 Volksvertretung darstellte. 6 Die großen Mächte der Reaktion, das zaristische Russland7 und im Deutschen Bund Österreich und Preußen, versuchten8 aus Furcht vor den „Fluten der Demokratie“ ihr Möglichstes,9 Deiche zu errichten, um einen Dammbruch zu verhindern.0 Doch die Revolution von 1848 riss die Dämme in Mitteleuropa1 ein. Die Frankfurter Verfassungsgebende Nationalversamm-2 lung ging aus allgemeinen, freien und gleichen Wahlen hervor3 und war damit ebenso ein demokratisches Repräsentationsor-4 gan wie das Repräsentantenhaus in den Vereinigten Staaten.5 Die Mehrheit der Versammlung setzte sich die revolutionären6 Ziele, den Deutschen Bund in einen Bundesstaat mit einem Kai-7 ser als Oberhaupt zu verwandeln und die innere Einheit auf ein8 demokratisches Wahlrecht und eine liberal-bürgerliche Ord-9 nung zu gründen; sie arbeitete eine entsprechende Verfassung0 aus – worauf die Vereinigten Staaten als einziges Land den neu1 geschaffenen deutschen Bundesstaat anerkannten. Doch die Ei-2 nigung Deutschlands zu einem monarchischen Bundesstaat3 scheiterte bekanntlich an äußeren und inneren Hindernissen4 (die hier zu erläutern zu weit vom Thema abführen würde).5 Nichtsdestoweniger wurden Entwicklungen in Gang gesetzt,6 die fast überall den Ständestaat zugunsten einer Repräsentation7 des ganzen Volkes und alte Standesvorrechte des Adels zuguns-8 ten bürgerlicher Gleichheit beseitigten, ohne allerdings die9 gleichberechtigte Teilnahme aller Bürger an den Wahlen zuzu-0 lassen. Am Zensuswahlrecht wurde in den Staaten des Deut-1 312
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Rückblick und Ausblick
1schen Bundes und seit 1871 des Deutschen Reiches ebenso fest2gehalten wie in England. 3 Auf den ersten Blick könnte es erstaunlich erscheinen, dass 4Bismarck für die Vertretung des Volkes auf das Vorbild der 5Frankfurter Verfassung von 1848/49 mit ihrem demokratischen 6Wahlrecht zurückgriff. Einer seiner Gründe war die Gegner7schaft gegen die Liberalen; denn das Zensuswahlrecht hatte sie 8als Honoratiorenpartei des Wirtschafts- und Bildungsbürger9tums begünstigt, während das demokratische Wahlrecht ihnen 0fast überall in Europa, wie Thomas Nipperdey feststellte, das 1Wasser abgrub. Im Übrigen war in der Verfassung des Kaiser2reichs dafür Sorge getragen, dass dieses allgemeine und gleiche 3Wahlrecht nicht die konstitutionelle Monarchie infrage stellen 4konnte. 5 Die Liberalen befürworteten die Verantwortlichkeit der Re6gierung gegenüber der Vertretung des Volkes, traten für rechts7staatliche Reformen und eine freiheitliche Gestaltung der 8Wirtschaftsgesetzgebung ein, damit, wie es im Gründungsma9nifest der Preußischen Fortschrittspartei hieß, „die wirtschaft0lichen Kräfte des Landes gleichzeitig entfesselt werden“. Die 1liberalen Parteien förderten so den Siegeszug des modernen 2Industriekapitalismus und waren Anhänger jenes Modernis3mus, den der Bannstrahl Pius’ IX. in Gestalt des päpstlichen 4Syllabus errorum getroffen hatte. Zu den dort genannten Irrtü5mern zählten Demokratie, Liberalismus und Sozialismus. Aus 6innerster Überzeugung waren die Liberalen unter den genann7ten Voraussetzungen Gegner des Katholizismus und Verbün8dete des Staates in dessen Konflikten mit der katholischen Kir9che sowie der entstehenden Arbeiterbewegung. Sowohl die 0Katholiken als auch die Arbeiterbewegung gründeten eigene 1Parteien, um ihre Interessen in doppelter Frontstellung gegen 313
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Staat und Liberalismus auf der Bühne von Presse und Parla-1 ment vertreten zu können. 2 Die Gründung organisierter Parteien geschah im letzten Drit-3 tel des 19. Jahrhunderts. Das Zusammentreffen mehrerer Fakto-4 ren begünstigte die Entstehung der Parteiendemokratie. Libera-5 le und Demokraten gewannen aufgrund einer Politisierung und6 Demokratisierung des Nationalbewusstseins die Zustimmung7 weiter Schichten zu ihren Zielen, Fremdherrschaft zu beseitigen8 und im Falle der Spaltung einer Nation in mehrere Staaten deren9 Einheit zu erreichen. Wo ein mächtiger etablierter Staat unter0 Ausnutzung einer günstigen Mächtekonstellation in Europa und1 der von den Liberalen dominierten öffentlichen Meinung sich2 an die Spitze von Einigungsbewegungen setzte, gewannen diese3 die Chance der Realisierung ihrer Ziele. Anderenfalls waren sie4 zum Scheitern verurteilt. Letzteres gilt vor allem für die geteilte5 polnische Nation, deren staatliche Existenz von den Teilungs-6 mächten vernichtet worden war. In Dänemark scheiterte das7 von der liberalen Partei der sogenannten Eiderdänen verfochte-8 ne Konzept eines dänischen Nationalstaates unter Einschluss9 von Schleswig bis zum Grenzfluss der Eider an dem Konflikt mit0 dem deutschen Nationalismus, der Anspruch auf das dänische,1 aber mehrheitlich von Deutschen besiedelte Herzogtum Schles-2 wig erhob und von Bismarck zur Stärkung Preußens zum Krieg3 mit Dänemark genutzt wurde. 4 Dagegen gelang es in Italien und Deutschland, die staatliche5 Einheit mit Unterstützung einer liberalen Öffentlichkeit durch6 Kriege zu erreichen, deren jeweiliges Ergebnis anschließend7 durch Parlamentsbeschlüsse oder Volksabstimmungen bestä-8 tigt wurde. Im Bündnis mit Frankreich beendete das Königreich9 Sardinien unter Führung Cavours 1861 die österreichische Vor-0 herrschaft in Italien und erreichte mithilfe von Volksbewegun-1 314
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Rückblick und Ausblick
1gen die Einigung des größten Teils der italienischen Halbinsel. 2Vollendet wurde die Einheit des Landes durch die Ausnutzung 3des Krieges, den Preußen 1866 gegen Österreich und den Deut4schen Bund führte, sowie des Deutsch-Französischen Krieges 5von 1870/71, in denen es sich zuerst Venetien und dann den 6päpstlichen Kirchenstaat einverleibte. In ähnlicher Weise brach7te Preußen unter Führung Bismarcks in den drei Kriegen mit 8Dänemark (1863/64), Österreich und dem Deutschen Bund 9(1866) sowie mit Frankreich (1870/71) die Vereinigung der deut0schen Staaten zustande. Dort konnten die Liberalen zwar nicht 1das parlamentarische Regierungssystem durchsetzen, doch im2merhin eine innere Ordnung, welche die wirtschaftlichen Kräfte 3des Industriekapitalismus förderte und dafür eine Rahmenord4nung schuf. 5 Was die Parteien der Arbeiterbewegung in Deutschland an6belangt, so verbanden sie einen hohen Organisationsgrad mit 7politischen und gesellschaftlichen Anliegen, entweder dem 8revolutionären Sturz des Industriekapitalismus, unter dem die 9Arbeiterklasse litt, oder der Verbesserung ihrer Lage durch 0schrittweise durchgesetzte Reformen zugunsten der arbeiten1den Bevölkerung. Diese Anliegen waren von elementarer 2Durchschlagskraft; denn sie trafen auf ein Massenelend. Die 3wachsende Klasse der Arbeiterschaft hatte bekanntlich einen 4hohen Preis für die industrielle Entfaltung der Produktivkräfte 5zu zahlen: Entwurzelung aus dem Schutz ländlicher Familien6bindungen, Verkauf der Arbeitskraft zu Hungerlöhnen, Woh7nen in städtischen Elendsquartieren, unfallgefährdete und ge8sundheitsschädliche Arbeitsbedingungen, Arbeitsunfähigkeit 9wegen Unfall, Krankheit oder Altersschwäche und Arbeitslo0sigkeit aufgrund von Konkursen der Arbeitgeber oder konjunk1tureller Krisen, um nur diese Ursachen zu nennen. Sowohl in 315
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Zweiter Teil. Die moderne Demokratie
England als auch in Deutschland war es anfangs von Staats we-1 gen zu ersten Schutzbestimmungen zugunsten der Arbeiter-2 schaft gekommen; dann begann unter dem Einfluss von Ge-3 werkschaften und reformorientierten sozialistischen Parteien4 ein langer Prozess, in dessen Verlauf das Bündnis zwischen5 Demokratie und Sozialstaat geknüpft wurde. Dessen Anforde-6 rungen konnte und kann sich keine Partei mehr entziehen, ob7 sie nun die Erwartungen der Wählerschaft um jeden Preis be-8 dienen will oder wegen des Anstiegs der damit verbundenen9 Kosten eher zu begrenzen sucht – und damit vielleicht den0 Staatshaushalt auf Kosten ihrer Wahlchancen rettet. 1 Jedenfalls ist es das unentrinnbare Schicksal der Demokratie2 geworden, dass sie Anwalt und Motor sozialstaatlicher Versor-3 gung ist. Dies kann und braucht hier nicht im Einzelnen abge-4 handelt zu werden. Erwähnt sei nur, dass wegen der demogra-5 phischen Entwicklung die Zahl der Rentner steigt, die der6 arbeitenden Bevölkerung aber sinkt, sodass die Finanzierung7 der Altersversorgung mittel- oder langfristig zu einer fortschrei-8 tenden Belastung des Staatshaushalts führt. Schon längst ist der9 Etat des Sozialministeriums der mit Abstand größte im Bundes-0 haushalt. Entsprechend zusammengeschmolzen sind die Aus-1 gaben für das Militär. Vor der Zeit des Sozialstaates pflegten2 diese den Löwenanteil des Staatshaushaltes zu beanspruchen.3 Der wahrhaft beklagenswerte Zustand der Bundeswehr hat in4 den wachsenden Kosten des Sozialstaates, zu denen in Deutsch-5 land auch die Ausgaben für das Millionenheer der Asylbewer-6 ber, Flüchtlinge und Armutszuwanderer gehören, eine seiner7 Hauptursachen. Es ist bezeichnend, dass vor einiger Zeit die8 Forderung des amerikanischen Präsidenten, Deutschland möge9 seine Rüstungskosten entsprechend einem Beschluss der west-0 lichen Verteidigungsorganisation der NATO von 1,2 auf 2 Pro-1 316
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Rückblick und Ausblick
1zent seines Bruttosozialprodukts erhöhen, von Regierungs- und 2Parteikreisen mit dem Argument zurückgewiesen wurde, dass 3Deutschland schon hohe Beiträge zur Entwicklungshilfe für den 4Zweck aufwende, das Ansteigen der Flüchtlingszahlen in Euro5pa zu begrenzen. 6 Die Notwendigkeit, den Herausforderungen zu begegnen, 7die sich aus den modernen Veränderungen von Demographie, 8Wirtschaft und Gesellschaft ergeben, ist freilich nicht die einzi9ge Ursache für das Bündnis von Demokratie und organisiertem 0Parteiwesen. Daneben gab und gibt es auch andere Anliegen, 1deren sich Parteien in einer Demokratie annehmen. Um hier 2von partikularen Interessenvertretungen abzusehen, die sich 3bestimmten Feldern der Ökonomie wie Landwirtschaft oder 4Schwerindustrie widmen oder die sich der Bewahrung konser5vativer Werte in einer Welt der Veränderung verschrieben ha6ben, muss hier eine dieser Parteien doch erwähnt werden, die 7beides in einem war: eine konfessionelle Interessenvertretung, 8die zugleich das gesamte gesellschaftliche Spektrum der betref9fenden Religionsgemeinschaft abdeckte. Dies war das Zentrum, 0die Partei zur Verteidigung des Katholizismus im Konflikt mit 1der Staatsgewalt und der von Liberalismus und Sozialismus do2minierten öffentlichen Meinung. Unter diesem Vorzeichen er3folgte die Integration aller Schichten und Gruppierungen inner4halb des katholischen Volksteils. Doch engte die katholische 5Prägung der Partei die Möglichkeiten stark ein, bei Wahlen vor 6der Partei der Arbeiterbewegung eine relative Mehrheit zu er7ringen, von der absoluten ganz zu schweigen. Zur Verbesserung 8der Wahlchancen haben sich bei der Neugründung von christ9lichen Parteien nach dem Zweiten Weltkrieg, der Christlich 0Demokratischen Union und in Bayern der Christlich-Sozialen 1Union, diese für beide Konfessionen geöffnet und den program317
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matischen Anspruch erhoben, neben den christlichen Wurzeln1 auch die Traditionen der Aufklärung, des Liberalismus und der2 sozialen Orientierung der Demokratie zu vertreten. 3 Beide Parteien, sowohl die CDU/CSU als auch die SPD, ver-4 stehen sich als konkurrierende Volksparteien, die Wähler in5 großer Zahl aus allen Schichten des Volkes zu rekrutieren in6 der Lage sind und somit zur politischen Führung prädestiniert7 sind. 8 Bis in die jüngste Zeit waren die beiden christlichen Schwes-9 terparteien und die Sozialdemokraten als Partei von Arbeit-0 nehmerinteressen die stärksten politischen Kräfte und lösten1 einander in der Führung der Regierung ab. Sie sind Konkurren-2 ten im Sinne der realistischen Demokratietheorie von Joseph3 Schumpeter (1883–1950), der zufolge Wahlen unter anderem4 die Funktion erfüllen, eine gewaltlose Ablösung einer regie-5 renden Partei und ihre Ersetzung durch eine rivalisierende zu6 gewährleisten. Doch seit Beginn dieses Jahrhunderts ist diese7 Funktion insofern zunehmend gestört, als die beiden Volks-8 parteien nur noch vereint eine Regierungsmehrheit gewinnen9 können. Die Gründe sind hohe Wahlverluste und eine Ausdif-0 ferenzierung des Parteiensystems, die andere Regierungs-1 bündnisse als die sogenannte Große Koalition zwischen den2 bisherigen Rivalen SPD und CDU/CSU bis auf Weiteres nicht3 mehr zulassen. 4 Bei den letzten Bundestagswahlen im Jahr 2017 haben die ge-5 nannten Parteien insgesamt 13,7 Prozent ihrer Wähler im Ver-6 gleich zu den Wahlen des Jahres 2013 eingebüßt, kommen je-7 doch immerhin noch auf 53,2 Prozent der abgegebenen Stimmen,8 sodass sie, wenn auch widerwillig, ihre Koalition mit stark ge-9 schrumpfter Mehrheit fortsetzen können. Stimmengewinner0 sind Parteien, die entweder als koalitionsunwürdig ausgegrenzt1 318
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1werden (Alternative für Deutschland und Die Linke) oder mit 2denen die von der CDU/CSU angestrebte Ampelkoalition (mit 3FDP und Grünen) wegen Verweigerung der FDP nicht zustande 4gekommen ist. 5 Vergleicht man das Wahlergebnis mit der Gesamtzahl der 6Wahlberechtigten von circa 61,5 Millionen, so ergibt sich ein 7noch dramatischeres Bild: 23,8 Prozent nahmen ihr Stimmrecht 8nicht wahr und blieben den Wahlen fern; von den etablierten 9Altparteien gewannen CDU/CSU 25,1, SPD 15,6, FDP 8,6 und 0Grüne 7,2 Prozent der Wahlberechtigten für sich, das sind insge1samt 56,5 Prozent; die ausgegrenzten Protestparteien, AfD und 2Die Linke, die in Fundamentalopposition zu der Phalanx der 3Etablierten stehen, gewannen zusammen 17 Prozent. Geht man 4davon aus, dass die Nichtwähler größtenteils aus Protest gegen 5bestimmte Aspekte der von den etablierten Parteien vertrete6nen Politik der Wahl ferngeblieben sind, so ergibt sich ein für 7das Erscheinungsbild der repräsentativen Demokratie beunru8higendes Ergebnis: Der Anteil der Nichtwähler und der Wähler 9der beiden ausgegrenzten Parteien ist fast ebenso groß wie der 0Anteil derjenigen, welche die Parteien der Regierungskoalition 1mit ihrer Stimme unterstützt haben. Die zum etablierten Partei2enspektrum zählende Opposition (FDP und Grüne) hat nur ei3nen Anteil von knapp 16 Prozent der Wahlberechtigten überzeu4gen können. Dieses Bild wird noch beunruhigender, wenn man 5das Ergebnis der jüngsten Landtagswahlen in Bayern und Hes6sen auf die kommenden Bundestagswahlen hochrechnen woll7te. Die CSU verlor in Bayern ihre absolute Mehrheit, und in Hes8sen erlitt die führende Regierungspartei, die CDU, dramatische 9Verluste, sodass sie mit ihrem bisherigen Koalitionspartner, den 0Grünen, die allerdings ihren Stimmenanteil verdoppeln konn1ten, gerade noch eine Regierung bilden kann, die über die ge319
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ringstmögliche Mehrheit von einer Stimme im Hessischen1 Landtag verfügen würde. 2 Nicht zu Unrecht wird vermutet, dass das hessische ebenso3 wie das bayerische Wahlergebnis den zunehmenden Protest ge-4 gen die in Berlin regierende Große Koalition widerspiegelt. Da-5 für spricht auch, dass die in Hessen in der Opposition stehende6 SPD ebenso abgestraft wurde wie die Regierungspartei CDU:7 Diese verlor 11,3, jene 10,9 Prozent der Stimmen im Vergleich8 zur vorangehenden Landtagswahl. 9 Dem Stimmenverlust der alten Volksparteien liegen, wie es0 scheint, sowohl der Meinungsstreit über aktuelle Probleme der1 Politik als auch strukturelle Ursachen zugrunde. 2 Was die tieferen Gründe anbelangt, so spielen sicherlich Er-3 scheinungen eines Auflösungsprozesses, in dem sich die traditi-4 onelle Klientelen der Parteien befinden, eine wichtige Rolle.5 Das gilt für die SPD offenbar stärker als für die CDU/CSU; denn6 das Arbeitermilieu, mit dessen Verbreitung und Mentalität die7 Stärke der Arbeiterpartei verknüpft war, ist mit dem Wandel der8 modernen Arbeitswelt im Schwinden begriffen. Auch hat der9 Zustrom linker Intellektueller aus Lehrerschaft und Universitä-0 ten, den die SPD nach 1968 erlebt hat, der Kommunikation zwi-1 schen Basis und Parteiführung wohl eher geschadet als genutzt.2 Schon in der Zeit der 1968er Revolte wurde die Grenze deutlich,3 die Arbeiterschaft und intellektuelle Vorhut eines sozialisti-4 schen Umsturzes voneinander trennte. Die Versuche der stu-5 dentischen Linken, ihre revolutionären Vorstellungen von einer6 anderen Gesellschaftsordnung in die Arbeiterschaft zu tragen,7 scheiterten vollkommen. 8 Der CDU/CSU blieb hingegen die Verwurzelung im katholi-9 schen Milieu trotz Erosionserscheinungen im Wesentlichen er-0 halten, wie an den Wahlergebnissen abzulesen ist. Abgesehen1 320
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1davon haben die Schwesterparteien CDU/CSU noch immer ei2nen Rückhalt in einem breit gefächerten bürgerlichen und regi3onalen Milieu. Doch aufgrund der Politik der gegenwärtigen 4Partei- und Regierungsführung hat sich der Schwerpunkt der 5Partei nach links verschoben, sodass auf der Rechten ein Vaku6um entstanden ist. So wurde Raum geschaffen für eine neue 7Partei: die „Alternative für Deutschland“, ein Auffangbecken 8für Protestwähler, die sich im etablierten Parteienspektrum 9nicht vertreten finden. 0 Das Hauptthema des Protests ist der an den Grenzen un1kontrollierte Zustrom von Asylbewerbern und Flüchtlingen, 2vornehmlich aus dem muslimischen Kulturkreis, der im 3Herbst 2015 zur Ausrufung einer Willkommenskultur und zu 4einer Spaltung der Gesellschaft in Befürworter und Gegner 5führte. Dieser Konflikt droht seitdem den Grundkonsens auf6zulösen, auf den eine Demokratie angewiesen ist. Nicht, dass 7es in einer Demokratie keine Meinungsverschiedenheiten ge8ben dürfe. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist eine Voraussetzung 9der Demokratie, dass zu politischen Themen kontroverse 0Standpunkte in Parlament und Öffentlichkeit vertreten wer1den – und um Kompromisse gerungen wird, sodass der Dis2sens zum Schluss überwunden werden kann. Doch eine De3battenkultur, wie sie den englischen Parlamentarismus und 4die englische Presse schon seit vordemokratischen Zeiten 5auszeichnet, sowie die prinzipielle Bereitschaft, gegensätzli6che Positionen am Ende in Kompromissen aufzulösen, haben 7es in Deutschland schwer. 8 Insbesondere die Asyl- und Flüchtlingsproblematik hat seit 9dem im Herbst 2015 gefassten Entschluss der Bundeskanzlerin, 0die deutschen Grenzen dem Flüchtlingsstrom nicht zu ver1schließen, zunächst zu einem Dissens innerhalb der Schwester321
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parteien CDU/CSU und dann zum Aufstieg der „Alternative für1 Deutschland“ geführt. Diese bekämpft den Konsens der eta-2 blierten Parteien, den Flüchtlingsstrom durch Vereinbarungen3 mit Herkunfts- oder Transitländern zu bremsen und doch die4 Grenzen prinzipiell offen zu halten, auf das Heftigste unter Bil-5 ligung oder Duldung rechtsradikaler Stimmen, die sich der6 Ideologie und der Sprache des Nationalsozialismus bedienen7 oder so gedeutet werden können. Noch ist unklar, ob sich die8 „Alternative für Deutschland“ dieser Stimmen entledigen wird9 und sich ähnlich wie die „Grünen“ von einem geächteten zu ei-0 nem akzeptierten Teil der etablierten Parteienlandschaft entwi-1 ckeln wird. Voraussagen sind beim gegenwärtigen Stand der2 Dinge nicht möglich, schon gar nicht für den Historiker, der3 nach dem zutreffenden Wort von Friedrich Schlegel ein rück-4 wärts gekehrter Prophet ist. 5 Die gegenwärtige Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass6 die etablierten Parteien und die ihnen nahestehenden Medien7 in Presse und Rundfunk mit fundamentaler Ablehnung und8 totaler Ausgrenzung auf die unwillkommenen Störenfriede9 reagieren. Zwischen beiden Seiten gibt es keine sachliche0 Gesprächsbereitschaft; vielmehr wird keine Gelegenheit zu ge-1 genseitiger Verdammung ausgelassen. Das Ergebnis ist eine2 vergiftete Atmosphäre, in der die legitime Streitkultur einer le-3 bendigen Demokratie nicht mehr gedeihen kann. An die Stelle4 des Austauschs sachlicher Argumente, beispielsweise bei der5 Abwägung des Verhältnisses von Gesinnungs- und Verantwor-6 tungsethik in der Flüchtlingspolitik und anderen aktuellen Kon-7 fliktfeldern – Max Weber ist bekanntlich diesem für politisches8 Handeln konstitutiven Verhältnis in seinem Vortrag Politik als9 Beruf nachgegangen –, tritt eine gelegentlich bis zur Hysterie ge-0 steigerte Polemik und sprachliche Verwahrlosung. Insofern1 322
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Rückblick und Ausblick
1steht die repräsentative Demokratie in Deutschland gegenwär2tig unter keinem glücklichen Stern. Doch gültig bleibt, frei nach 3einem Wort von Winston Churchill: Die repräsentative Demo4kratie, das Produkt einer jahrhundertelangen Entwicklung, ist 5zwar keine ideale, doch immerhin die beste aller existierenden, 6notwendig mit Schwächen behafteten politischen Verfassun7gen. 8 9 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 0 1 323
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Hinweise zu Quellen und Literatur
1 2 3 4 5 6 orangestellt seien dem Verzeichnis der Quellen und wis7 senschaftlichen Literatur zwei Vorbemerkungen, die in der 8 9gebotenen Kürze Rechenschaft darüber geben, was von der un0ten stehenden Liste nicht erwartet werden darf und auf welche 1Bedürfnisse von Lesern, die keine Spezialisten sind, sie zuge2schnitten ist. 3 4Es handelt sich nicht um ein auf Vollständigkeit angelegtes Ver5zeichnis. Ein solches Unterfangen würde auf eine endlose Anei6nanderreihung von Namen und Titeln hinauslaufen. Diese pfle7gen meist in der bequemen, doch unsinnigen Anordnung nach 8den Anfangsbuchstaben der Verfassernamen aufgelistet zu wer9den. Sinnvoller wäre ein kritischer Forschungsbericht, wie er 0manchmal selbst Spezialisten, die alles Geschriebene über den 1Gegenstand zu wissen glauben, von Nutzen ist. Doch in einem 2Buch, das die Entwicklung der Demokratie von der Antike bis 3zur Moderne nicht bis in alle Einzelheiten und Verzweigungen 4verfolgen kann und will, würde dies den vorgegebenen Rahmen 5völlig sprengen. 6 7Demgegenüber orientiert sich die folgende Liste an den einzel8nen Stationen und Schwerpunkten des Buches und schreitet je9weils an diesen Stationen vom Allgemeinen zum Besonderen 0fort. Genannt werden Werke, die der Verfasser herangezogen 1hat und die nach seinem subjektiven Urteil dem Leser, der nicht
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Hinweise zu Quellen und Literatur
Fachmann ist, zur Erweiterung des Umfeldes, in das die Ge-1 schichte der Demokratie gehört, und zur Vertiefung des histori-2 schen Verständnisses dienen können. Die Auswahlbibliographi-3 en zur antiken und zur modernen Demokratie sind jeweils in4 Quellen und Sekundärliteratur untergliedert. 5 6 7 Zur Einführung 8 9 Hans Vorländer, Die Verfassung. Idee und Geschichte, Beck’sche0 Reihe Nr. 2116, München 1999, dritte überarbeitete Auflage1 2009 2 Hans Vorländer, Demokratie. Geschichte, Formen, Theorien,3 Beck’sche Reihe Nr. 2311, München 2003 4 Hans Vorländer, Demokratie, in: Informationen zur politischen5 Bildung 332, 1/2017 6 Moses I. Finley, Antike und moderne Demokratie. Mit einem Es-7 say von Arnaldo Momigliano, übersetzt und herausgegeben von8 Edgar Pack, Reclams Universal-Bibliothek Nr. 9966, Stuttgart9 1980, zweite durchgesehene Ausgabe 1987 (Originalausgabe:0 Democracy Ancient and Modern, New Brunswick, N.J. 1973) 1 Paul Nolte, Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart,2 München 2012 3 4 5 Zur antiken Demokratie 6 7 a. Quellen in Übersetzungen 8 9 Klaus Stüwe/Gregor Weber, Antike und moderne Demokratie.0 Ausgewählte Texte, Reclams Universal-Bibliothek Nr. 18314,1 326
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Hinweise zu Quellen und Literatur
1 Stuttgart 2004. (Die Auswahl betrifft antike Texte und neuere 2 seit dem 16. Jahrhundert.) 3Ernst Kalinka, Die pseudoxenophontische Athēnaiōn Politeia. 4 Einleitung, Übersetzung, Erklärung, Leipzig/Berlin 1913 5Pseudo-Xenophon, Die Verfassung der Athener. Griechisch 6 und Deutsch, herausgegeben, eingeleitet und übersetzt von 7 Gregor Weber, Texte zur Forschung Bd. 100, Darmstadt 8 2010 9Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, 2 Bde., 0 herausgegeben und übersetzt von Georg Peter Landmann, in: 1 Bibliothek der Alten Welt, Zürich/München 1960, Nachdruck 2 in dtv text-bibliothek 1973 3(Im zweiten Buch des thukydideischen Geschichtswerks findet 4 sich die Grabrede des Perikles mit dem Lob der athenischen 5 Demokratie.) 6Platon, Sämtliche Werke, in der Übersetzung von Friedrich 7 Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung, herausge8 geben von Walter F. Otto, Ernesto Grassi, Gert Plamböck, 6 9 Bde., Rowohlts Klassiker, Hamburg 1956–1959. (Zitiert und 0 berücksichtigt sind der Dialog Gorgias und die staatstheoreti1 schen Werke Politeia/Staat und Nomoi/Gesetze; die bei Ro2 wohlt erschienene Übersetzung ist wegen der wissenschaftlich 3 üblichen Paginierung nach der Ausgabe von Stephanus 4 [3 Bde., Paris 1578] hier zugrunde gelegt.) 5Xenophon, Vorschläge zur Beschaffung von Geldmitteln oder 6 Über die Staatseinkünfte, eingeleitet, herausgegeben und 7 übersetzt von Eckart Schütrumpf, Texte zur Forschung Bd. 38, 8 Darmstadt 1982 9Aristoteles, Der Staat der Athener, übersetzt und herausgegeben 0 von Martin Dreher, Reclams Universal-Bibliothek Nr. 3010, 1 Stuttgart 1993 327
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Hinweise zu Quellen und Literatur
Aristoteles, Politik I–III, übersetzt und erläutert von Eckart1 Schütrumpf, in: Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung,2 begründet von Ernst Grumach, herausgegeben von Hellmut3 Flashar, Bd. 9/Teile I und II, Berlin 1991 4 Aristoteles, Politik IV–VI, übersetzt von Eckart Schütrumpf, er-5 läutert von Eckart Schütrumpf und Hans-Joachim Gehrke, in:6 Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, begründet von7 Ernst Grumach, herausgegeben von Hellmut Flashar, Bd. 9/8 Teil III, Berlin 1996 9 Polybios, Geschichte, Bd. I, eingeleitet und übertragen von Hans0 Drexler, Zürich/München 1961, 21978 1 2 b. Wissenschaftliche Literatur 3 4 Christian Meier, Entstehung des Begriffs „Demokratie“. Vier5 Prolegomena zu einer historischen Theorie, edition suhr-6 kamp 387, Frankfurt 1970 7 Christian Meier/Paul Veyne, Kannten die Griechen die Demo-8 kratie? Zwei Studien, dritte überarbeitete Auflage, Stuttgart9 2015 0 Klaus Bringmann, Antike und moderne Demokratie. Eine Ant-1 wort an Christian Meier und Paul Veyne, in: Politica Antica2 VI, 2016 (2017), 137–149 3 Jochen Bleicken, Die athenische Demokratie, 2. völlig überar-4 beitete und wesentlich erweiterte Auflage, Paderborn 1994 5 Konrad H. Kinzl (Hrsg.), Demokratia. Der Weg zur Demokratie6 bei den Griechen, Darmstadt 1995 7 Peter Funke, Athen in klassischer Zeit, Beck’sche Reihe Nr. 2074,8 München 1999 9 Angela Pabst, Die athenische Demokratie, Beck’sche Reihe0 Nr. 2308, München 2003 1 328
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Hinweise zu Quellen und Literatur
1Zur modernen Demokratie 2 3Die Entstehung der modernen Parteiendemokratie hat eine lange 4Vorgeschichte, die im Text an ausgewählten Beispielen dargestellt 5wurde. Die Bibliographie folgt der chronologischen Entwicklung 6anhand der Staatstheorien, Unabhängigkeits- und Freiheitsdekla7rationen sowie der Verfassungen einzelner Staaten und Epochen. 8 9a. Literarische Quellen 0 1Thomas Hobbes, Leviathan oder Wesen, Form und Gewalt des 2 kirchlichen und bürgerlichen Staates. In der Übersetzung von 3 Dorothee Tidow mit einem Essay „Zum Verständnis des Wer4 kes“, einem biographischen Grundriss und einer Bibliogra5 phie herausgegeben von Peter Cornelius Mayer-Tasch, Ro6 wohlts Klassiker Nr. 187–189, Hamburg 1965, 21969 7John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, herausgege8 ben und eingeleitet von Walter Euchner, suhrkamp taschen9 buch wissenschaft Nr. 213, Frankfurt 1977, 13. Nachdruck 2008 0Charles de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 2 Bde., über1 setzt und herausgegeben von Ernst Forsthoff, UTB 1710/1711, 2 Tübingen 1992 (Eine dritte, durchgesehene Auflage ist für 3 März 2019 angekündigt.) 4 5In einer auf das Wesentliche verkürzten Ausgabe ist das Werk auch 6in Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8963, Stuttgart 1965, Nach7druck 1994 verfügbar: Charles de Montesquieu, Vom Geist der Ge8setze. Auswahl, Übersetzung, Einleitung von Kurt Weigand. 9 0Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social ou Principes du droit 1 politique/Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des 329
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Hinweise zu Quellen und Literatur
Staatsrechts. Französisch/Deutsch, Reclams Universal-Bib-1 liothek Nr. 18682, Stuttgart 1977, Nachdruck 2010 2 Alexander Hamilton, James Madison, John Jay, Die Federalist Pa-3 pers, herausgegeben und übersetzt von Barbara Zehnpfennig,4 Darmstadt 1993, Beck’sche Reihe Nr. 1734, München 22007 5 Emmanuel Joseph Sieyès, Was ist der dritte Stand, herausgege-6 ben von Timm Genett, Schriften zur europäischen Ideenge-7 schichte Bd. 3, Berlin 2010, 109–176 (aus dem Französischen8 übersetzt von Eberhard Schmitt und Rolf Reichardt nach der9 3. Auflage vom Januar 1789 in der textkritischen Edition von0 Roberto Zapperi, Qu’est-ce que le Tiers état?, Genf 1970) 1 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Ent-2 wurf, Königsberg 1795: Wortgetreuer Nachdruck der Erstausga3 be (im Zweitdruck von 1795), herausgegeben mit Bibliographie 4 der Drucke und Nachwort von Julius Rodenberg, Bremen 1946 5 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika. Beide 6 Teile in einem Band, herausgegeben von Jacob B. Mayer in 7 Gemeinschaft mit Theodor Eschenburg und Hans Zbinden. 8 Aus dem Französischen übertragen von Hans Zbinden, dtv9 bibliothek Nr. 1480, München 1976 0 Alexis de Tocqueville, In der nordamerikanischen Wildnis. Eine Reiseschilderung aus dem Jahr 1831, übertragen und mit einer1 Einführung versehen von Hans Zbinden, Reclams Universal-2 Bibliothek Nr. 8298/99, Stuttgart 1960. (Originalausgabe:3 Quinze jours dans le désert, herausgegeben von Gustave de4 Beaumont, Oeuvres et correspondance inédites d’Alexis de5 6 Tocqueville Bd. I, Paris 1861) John Stuart Mill, Betrachtungen über die Repräsentativregierung,7 herausgegeben von Hubertus Buchstein und Sandra Seubert,8 suhrkamp taschenbuch wissenschaft Nr. 2067, Frankfurt 2013 9 (Originalausgabe: Considerations on Representative Govern-0 ment, London 1861) 1 330
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Hinweise zu Quellen und Literatur
1b. Verfassungstexte 2 3Die Deutschen Verfassungen. Reproduktion der Verfassungso4 riginale von 1849, 1871, 1919 sowie des Grundgesetzes von 5 1949, herausgegeben und eingeleitet von Jutta Limbach, Ro6 man Herzog und Dieter Grimm, München 1999 7 8Die übrigen Dokumente sind am leichtesten im Internet zu9gänglich: die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 01776, die Verfassung von 1787/89 und die Gettysburg Address 1von Abraham Lincoln aus dem Jahr 1863; die polnische Verfas2sung vom Mai 1791 und die französische vom September 1791 3sowie die kurhessische Verfassung von 1831, die in diesem Buch 4als Beispiel einer Verfassung im Spannungsfeld zwischen Stän5destaat und Repräsentativsystem dient. 6 7c. Wissenschaftliche Literatur 8 9Friedrich Hermann Schubert, Volkssouveränität und Heiliges 0 Römisches Reich, in: Historische Zeitschrift 213, 1971, 91– 1 122 2 3Das Standardwerk zur deutschen Verfassungsgeschichte hat 4Ernst Rudolf Huber verfasst: Deutsche Verfassungsgeschichte 5seit 1789, 8 Bde., Stuttgart 1957–1991 6 7Zu Adelsherrschaft und Parlamentarismus in England seit der 8Glorious Revolution von 1688/89 ist auf eine vorzügliche, knap9pe und inhaltsreiche Darstellung zu verweisen, die auch den Zu0gang zur modernen Forschung erschließt: 1 331
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Hinweise zu Quellen und Literatur
Hans-Christoph Schröder, Englische Geschichte, Beck’sche Rei-1 he Nr. 2016, München 1995, siebte aktualisierte Ausgabe 2017 2 3 Meisterhaft ist auch ein den Adel Englands betreffender Aufsatz4 desselben Verfassers: 5 6 Hans-Christoph Schröder, Der englische Adel, in: Armgard von7 Reden-Dohna/Ralph Melville, Der Adel an der Schwelle des8 bürgerlichen Zeitalters 1780–1860, Veröffentlichungen des In-9 stituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 10, 1988, 21–880 Gotthold Rhode, Kleine Geschichte Polens, Darmstadt 1965 1 Peter C. Hartmann, Geschichte Frankreichs. Vom Mittelalter bis2 zur Gegenwart, Beck’sche Reihe Nr. 21–24, München 1999, 520153 Ernst Schulin, Die Französische Revolution, München 1988,4 vierte überarbeitete Auflage 2004 5 Horst Dippel, Geschichte der USA, Beck’sche Reihe Nr. 2051,6 München 1996, zehnte, überarbeitete und aktualisierte Aufla-7 ge 2015 8 Horst Dippel, Die Amerikanische Revolution, 1763–1787, Frank-9 furt 1985 0 Hans-Christoph Schröder, Die Amerikanische Revolution. Eine1 Einführung, Beck’sche Elemntarbücher, München 1982 2 3 Zu Tocquevilles Analyse der Demokratie in Amerika ist vor Kur-4 zem ein umfangreiches Buch erschienen: 5 Skadi Siiri Krause, Eine neue Politische Wissenschaft für eine6 neue Welt. Alexis de Tocqueville im Spiegel seiner Zeit, suhr-7 kamp taschenbuch wissenschaft Nr. 2227, Berlin 2017 8 9 Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten0 Jahrhundert, 5 Bde. (Originalausgabe 1879–1894), Leipzig1 332
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Hinweise zu Quellen und Literatur
1 1927 (mit einem ausführlichen Personen- und Sachregister im 2 fünften Band) 3Dieter Hein, Die Revolution von 1848/49, Beck’sche Reihe 4 Nr. 2019, München 1998 5Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürger6 welt und starker Staat, München 1991 7Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918. Erster 8 Band: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, 21991. 9 Zweiter Band: Machtstaat vor Demokratie, München 1992 0 1Als Beispiel für die Epoche zwischen ständischer und Repräsen2tativverfassung im deutschen Vormärz ist im Text Kurhessen 3gewählt. Siehe dazu: 4 5Hellmut Seier, Das Kurfürstentum Hessen 1803–1866, in: Hand6 buch der hessischen Geschichte, herausgegeben von Walter 7 Heinemeyer, Bd. IV.2, Marburg 2003 (zur kurhessischen Ver8 fassung von 1831 vgl. S. 60–70) 9 0Nicht viel anders als in dem großen und mächtigen England war 1auch in dem kleinen und armen Kurhessen der Adel, von dem es 2nur ein paar Dutzend Familien gab, die führende, auf Grundbe3sitz basierende Klasse, deren Vertretung im Kasseler Stände4haus ein Drittel der Abgeordneten ausmachte. Die beste sozial5geschichtliche Arbeit über das Überleben dieses Adels im 619. Jahrhundert hat ein Amerikaner verfasst: 7 8Gregory W. Pedlow, The Survival of the Hessian Nobility 1770– 91870, Princeton 1988 0Gregory W. Pedlow, Der kurhessische Adel im neunzehnten 1 Jahrhundert – eine anpassungsfähige Elite, in: Armgard von 333
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Hinweise zu Quellen und Literatur
Reden-Dohna/Ralph Melville, Der Adel an der Schwelle des1 bürgerlichen Zeitalters 1780–1860, Veröffentlichungen des2 Instituts für europäische Geschichte Mainz, Beiheft 10, 1988,3 271–284 4 5 Der Durchbruch zur Demokratie hängt auf das Engste mit der6 Politisierung der Völker und dem Engagement für die großen7 Anliegen der Zeit zusammen: Mit- und nacheinander ging es um8 die politische Einheit von Nationalstaaten und die Liberalisie-9 rung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, dann kam, bis heu-0 te das Schicksal der Demokratie, der Sozialstaat – ob ein überna-1 tionales Gebilde wie die Europäische Union das Potenzial zu2 einem demokratischen Bundesstaat besitzt, steht dahin. Und3 was den Wechsel der politischen Eliten anbelangt, der ebenfalls4 mit dem Prozess der Demokratisierung verbunden war, so löste5 zuerst das Besitz- und Bildungsbürgertum in Gestalt sogenann-6 ter Honoratioren den Adel ab, dann folgte das Führungsperso-7 nal der organisierten Parteien, das sich heute vornehmlich aus8 Absolventen von Universitäten und Hochschulen rekrutiert. Die9 Elite der modernen repräsentativen Demokratie bildet, wie0 längst deutlich geworden ist, der Typus des Berufspolitikers.1 Zwei Arbeiten herausragender Gelehrter verdeutlichen wesent-2 liche Aspekte der genannten Tendenzen: 3 4 Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demo-5 kratie (Originalausgabe 1942), Tübingen 82005 6 Max Weber, Politik als Beruf (zweiter Vortrag im Rahmen einer7 Vortragsreihe „Geistige Arbeit als Beruf “ gehalten im Revo-8 lutionsjahr 1918/19), in: Gesammelte politische Schriften, he-9 rausgegeben von Johannes Winckelmann, Uni-Taschenbü-0 cher Nr. 1491, Tübingen 51988, 505–560 1 334
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Hinweise zu Quellen und Literatur
1Inzwischen gibt es eine Unmenge an literarischen Bestrebun2gen, der vielfach gefühlten Krise der Demokratie mit Versuchen 3der Diagnose und Therapie beizukommen. Drei dieser Vorha4ben sind Gegenstand des Kapitels II.8 dieses Buches: „Die Krise 5der Demokratie im Spiegel jüngster Reformvorschläge“. Dort 6finden sich die einschlägigen bibliographischen Nachweise. 7 8Drei weitere Titel, in denen es um den Zustand postdemokrati9scher Verhältnisse, um Volksgesetzgebung als Erscheinungs0form direkter Demokratie und um den Zusammenbruch demo1kratischer Formen der politischen Auseinandersetzung in 2Deutschland geht, sollen erwähnt werden: 3 4Colin Couch, Postdemokratie, edition suhrkamp Nr. 2540, 5Frankfurt 2008, 132017 6Frank Decker, Der Irrweg der Volksgesetzgebung. Eine Streit7 schrift, Bonn 2016 8Frank Richter, Hört endlich zu! Weil Demokratie Auseinander9 setzung bedeutet, Berlin 2018 0 1Den Abschluss dieser bibliographie raisonnée soll ein in der Krise 2der Weimarer Republik geschriebenes Büchlein bilden, das sei3ne Stimme für die Demokratie in der Zeit ihrer Begründung in 4Österreich und Deutschland sowie der Zeit ihrer Gefährdung 5bei Ausbruch der Weltwirtschaftskrise von 1929 erhebt: 6 7Hans Kelsen, Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen 1920, 8 21929; wieder aufgelegt mit dem Nachwort von Klaus Zeleny, 9 Reclams Universal-Bibliothek Nr. 19534, Stuttgart 2018 0 1 335
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Wissen verbindet uns Die wbg ist eine Gemeinschaft für Entdeckungsreisen in die Welt des Wissens. Wir fördern und publizieren Wissenschaft und Bildung im Bereich der Geisteswissenschaften. So bringen wir Gleichgesinnte zusammen und bieten unseren Mitgliedern ein Forum, um sich an wissenschaftlichen und öffentlichen Debatten zu beteiligen. Als Verein erlaubt uns unser gemeinnütziger Fokus, Themen sichtbar zu machen, die Wissenschaft und Gesellschaft bereichern. In unseren Verlagen erscheinen jährlich über 120 Bücher. Als Vereinsmitglied fördern Sie wichtige Publikationen sowie den Austausch unter Akademikern, Journalisten, Professoren, Wissenschaftlern und Künstlern. Jetzt Mitglied werden und ein Buch aus unserem Sortiment im Wert von 25,- € auswählen Mehr Info unter www.wbg-wissenverbindet.de oder rufen Sie uns an unter 06151/3308-330
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Demokratie von der Antike bis zur Gegenwart Ein Plädoyer für die größte Errungenschaft der westlichen Welt
Foto: ©privat
Das Opus magnum des großen Historikers Klaus Bringmann Klaus Bringmann, geb. 1936, ist einer der renommiertesten Althistoriker Deutschlands und em. Professor für Alte Geschichte an der Johann-Wolf gang-Goethe-Universität Frankfurt a.M. Bekannt geworden ist er durch zahlrei che Veröffentlichungen zur römischen Republik, zur antiken Kulturgeschichte oder durch Biographien von Augustus oder Cicero. Dabei hat er immer den Blick für die großen Entwicklungslinien der Geschichte behalten.
Umschlaggestaltung: Harald Braun, Helmstedt Umschlagbild: Säulen des Parthenon. Foto © akg-images. Reichstag: shutterstock/ katatonia82
In einem großen Alterswerk beschreibt der Althistori ker Klaus Bringmann Ideal und Ausformung der athenischen Demokratie und zeigt ihren grundlegen den Unterschied zu heutigen Systemen. Er verfolgt Idee und Praxis über das Ständesystem der Frühen Neuzeit, die Aufklärung, die Geburt der ersten wirkli chen Demokratie in den jungen Vereinigten Staaten und bis heute. Mit klarem Blick benennt er Schwächen und Stärken verschiedener Entwicklungen und Ausformungen und kritisiert manch voreilige Reformideen, die angesichts der aktuellen Krise der Demokratie entwickelt werden. Wem die Zukunft unseres freiheitlichen Systems am Herzen liegt, muss seine Geschichte und Entwicklung kennen.
Klaus Bringmann
Das Volk regiert sich selbst
Die westliche Demokratie – Vorbild oder Auslaufmodell? Vor 2500 Jahren wurde in Athen eine Idee geboren, die sich über die Jahrhunderte grundlegend gewandelt hat. In einem luziden Groß essay zeichnet Klaus Bringmann Idee, Entwicklung und Wirklichkeit dieser Staatsform bis heute nach – und zeigt Stärken und Risiken auf. Eine fulminante Bestandsaufnahme!
Eine Geschichte der Demokratie
wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-3872-3
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