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German Pages 244 Year 2020
Schriften zum Bürgerlichen Recht Band 511
Der rechtsgeschäftliche Schutz vor sich selbst Eine zivilrechtliche Betrachtung des Selbstpaternalismus
Von
Kerstin Seewald
Duncker & Humblot · Berlin
KERSTIN SEEWALD
Der rechtsgeschäftliche Schutz vor sich selbst
Schriften zum Bürgerlichen Recht Band 511
Der rechtsgeschäftliche Schutz vor sich selbst Eine zivilrechtliche Betrachtung des Selbstpaternalismus
Von
Kerstin Seewald
Duncker & Humblot · Berlin
Die Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Regensburg hat diese Arbeit im Jahre 2019 als Dissertation angenommen.
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© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de Gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0720-7387 ISBN 978-3-428-18040-0 (Print) ISBN 978-3-428-58040-8 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2019/2020 von der Universität Regensburg als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur konnten vereinzelt noch bis zur Fertigstellung der Arbeit im Februar 2020 berücksichtigt werden. Ich habe allen Grund, den vielen Menschen zu danken, die mich auf dem Weg zum Dr. jur. begleitet und unterstützt haben. Es ist mir eine besondere Freude, wenigstens einige von ihnen erwähnen zu können: Zunächst möchte ich mich bei meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Christoph Althammer bedanken. Er stand mir stets mit Rat und Tat zur Seite und ermöglichte mir, während meiner Dissertationszeit als wissenschaftliche Hilfskraft an seinem Lehrstuhl tätig zu sein. Weiterhin danke ich Herrn Prof. Dr. Jörg Fritzsche für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Ganz herzlich bedanke ich mich auch bei meinen Freunden, ohne deren konstante Ermutigung und moralische Unterstützung die Erstellung dieser Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Besonders herausgreifen möchte ich dabei Eva Weinbeer, Mara Köstlmeier und Dr. Denise Gruber, die mir durch die Durchsicht des Manuskripts sehr geholfen haben. Ein besonderer Dank geht auch an meinen Freund Daniel Grötsch. Ohne sein liebevolles Verständnis hätte es mir nicht gelingen können, diese Arbeit zu einem guten Ende zu bringen. Der größte Dank gebührt jedoch meiner Familie. Meine Mutter Gerti, mein Vater Hubert, mein Bruder Sebastian und meine Großmutter Hilde sind mir stets verlässliche und fürsorgliche Wegbegleiter gewesen. Sie haben immer an mich geglaubt und mir in jeder erdenklichen Weise geholfen. Ihnen alleine habe ich es zu verdanken, dass ich den Weg zum Dr. jur. überhaupt einschlagen und bewältigen konnte. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Regensburg, März 2020
Kerstin Seewald
Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Einleitung
17
A. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 B. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
Kapitel 2 Der rechtsgeschäftliche Schutz vor sich selbst durch Selbstpaternalismus
20
A. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 B. Paternalismus in der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 I. Begriffliche Vorfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1. Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2. Nicht-Vorliegen einer Zustimmung als Definitionsmerkmal . . . . . . . . . . . . . . . 24 a) Handeln entsprechend der vorherigen Zustimmung ist (schwacher) Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 b) Handeln entsprechend der vorherigen Zustimmung ist kein Paternalismus
26
c) Handeln entgegen der vorherigen Zustimmung ist Paternalismus . . . . . . . . . 27 d) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 II. Legitimation paternalistischer Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1. Wohl-basierte Legitimationsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2. Einverständnis-basierte Legitimationsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 a) Schwacher Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 b) Legitimation durch die vorherige Zustimmung des Betroffenen . . . . . . . . . . 31 aa) Begründungsmodelle Vorrang des Zeitpunkts t1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 (1) Vorrang-Nachrangverhältnis mit Hilfe der Privatautonomie . . . . . . . 32 (2) Variante der Freiheitsmaximierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 bb) Vorrang des Zeitpunkts t2 wegen besserer Informationen . . . . . . . . . . . 34 cc) Ausnahme bei Antizipation der Willensänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 dd) Eigene Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 c) Legitimation durch die hypothetische Zustimmung des Betroffenen . . . . . . 39
8
Inhaltsverzeichnis d) Legitimation durch eine (antizipierte) nachträgliche Zustimmung des Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
C. Selbstpaternalismus in der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 I. Kritik des Begriffs des Selbstpaternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1. Selbstpaternalismus als mittelbarer Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2. Unmittelbare Freiheitsbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 3. Gerechtfertigter Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 II. Definitionsmerkmale des Selbstpaternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 1. Keine reine Selbstreglementierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2. Verhinderung antizipierter selbstschädigender Verhaltensweisen . . . . . . . . . . . 46 3. Förderung des eigenen Wohls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 4. Nicht berücksichtigte Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 D. Selbstpaternalismus als Rechtsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 I. Verfassungsrechtliche Dimension des Selbstpaternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 1. Selbstpaternalismus als grundrechtlich geschütztes Verhalten . . . . . . . . . . . . . . 49 2. Schutzpflichtdimension der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3. Spannungsfeld zwischen Schutzpflicht und Selbstbestimmungsrecht . . . . . . . . 51 a) Abgrenzung zum Schutz subjektiver Rechte Dritter und der Allgemeinheit
52
b) Grundrechtsschutz vor sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 4. Verzicht auf staatliche Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 a) Grenzen der Dispositionsbefugnis über Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 aa) Öffentliche Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 bb) Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 cc) Menschenwürdekern und Wesensgehaltsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 b) Besonderheiten der Dispositionsbefugnis im Privatrechtsverhältnis . . . . . . . 59 II. Selbstpaternalismus in der Zivilrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 1. Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 a) § 137 BGB als Grenze der Selbstbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 b) § 138 BGB als Grenze der Selbstbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 c) Selbstentmündigung als Grenze der Selbstbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2. Grenzen der Selbstbindung im BGB und in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . 63 3. Besonderheiten bei selbstpaternalistischen Selbstbindungen . . . . . . . . . . . . . . . 64 E. Zusammenfassung Kapitel 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
Inhaltsverzeichnis
9
Kapitel 3 Der rechtsgeschäftliche Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
67
A. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 B. Die Odysseus-Anweisung als Instrument der antizipierten Selbstbestimmung . . . . . . 71 I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 II. Die Rechtsnatur der Odysseus-Anweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 III. Inhalt und Wirksamkeitsvoraussetzungen einer Odysseus-Anweisung . . . . . . . . . 76 IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 I. Die Stufen der Selbstbestimmungsfähigkeit im Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 1. Geschäftsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2. Einwilligungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3. Natürlicher Wille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 II. Grundsätze der Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 1. Rechtsnatur der Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 2. Wirksamkeitsvoraussetzungen der Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3. Die psychiatrische Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 4. Abgrenzung der Patientenverfügung zu anderen Vorsorgeverfügungen . . . . . . . 91 a) Vorsorgevollmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 b) Betreuungsverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 c) Behandlungsvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 d) Krisenpass/Advanced Care Planning (ACP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 III. Die Patientenverfügung und der entgegenstehende natürliche Wille . . . . . . . . . . . 93 1. Rechtliche Relevanz des natürlichen Willens bei einer untersagenden Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 a) Zurechnungsausschluss wegen eines Bruchs der personalen Identität . . . . . 94 aa) Diskontinuität der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 bb) Kontinuität der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 cc) Juristische Betrachtungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 b) Widerruf der Patientenverfügung durch den natürlichen Willen . . . . . . . . . . 98 aa) Widerruf auch im Zustand der Einwilligungsunfähigkeit . . . . . . . . . . . . 98 bb) Widerruf nur im Zustand der Einwilligungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 100 cc) Eigene Auffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 c) Vorbehalt der Aktualität der Lebens- und Behandlungssituation . . . . . . . . . 103 d) Beachtlicher Irrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 e) Veto-Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 f) Besonderheiten für psychiatrische Krisensituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 g) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
10
Inhaltsverzeichnis 2. Rechtliche Relevanz des natürlichen Willens bei einer einwilligenden Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 a) Sprachlich-grammatikalische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 b) Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 c) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 d) Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 IV. Konsequenzen des Vorrangs des natürlichen Willens und das Bedürfnis nach Odysseus-Anweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 1. Für Patientenverfügungen in finalen Lebenssituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 2. Für Patientenverfügungen in psychiatrischen Krisensituationen . . . . . . . . . . . . 122 a) Das Verfahren nach den §§ 312 ff. FamFG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 b) Die materiellen Voraussetzungen des § 1906a Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . 124 aa) Erfordernis der erheblichen Gesundheitsgefahr nach § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 bb) Erfordernis des stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus nach § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 7 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 c) Das Problem des Fehlens von Zwangsbefugnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 V. Die antizipierte Einwilligung in die Umsetzung der Patientenverfügung trotz eines entgegenstehenden natürlichen Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 1. Formen von Odysseus-Anweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 a) Unechte Odysseus-Anweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 b) Echte Odysseus-Anweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 c) Exkurs: Odysseus-Anweisungen in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 2. Die antizipierte Anordnung der Umsetzung der Patientenverfügung . . . . . . . . . 135 a) Die Anordnung der Unwiderruflichkeit einer Vorsorgeverfügung mittels einer Odysseus-Anweisung zum Schutz vor sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . 136 aa) Die unwiderrufliche Einwilligung zum Schutz vor sich selbst . . . . . . . . 137 (1) Sinn und Zweck der freien Widerrufsmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . 139 (2) Der Schutzzweck der Norm in Odysseus-Konstellationen . . . . . . . . 140 bb) Exkurs: Die unwiderrufliche (Vorsorge-)Vollmacht zum Schutz vor sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 (1) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 (2) Vorsorgevollmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 cc) Die unwiderrufliche Patientenverfügung zum Schutz vor sich selbst . . . 147 b) Erhöhung der Voraussetzungen für die Aufhebung der untersagenden Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 aa) Disponibilität der Formfreiheit des Widerrufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 bb) Einwilligungsfähigkeit als Voraussetzung für einen wirksamen Widerruf 149 cc) Teilweiser Verzicht auf die Aktualisierungsentscheidung des Betreuers 150 (1) Sinn und Zweck der Aktualitätsentscheidung des Betreuers . . . . . . 152
Inhaltsverzeichnis
11
(2) Der Schutzzweck der Norm in Odysseus-Konstellationen . . . . . . . . 153 c) Verringerung der Voraussetzungen für die Durchsetzung der positiven Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 aa) Verzicht auf verfahrensrechtliche Anforderungen der Zwangsbehandlung in einer einwilligenden Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 (1) Verzicht auf das Genehmigungserfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 (2) Verzicht auf andere verfahrensrechtliche Voraussetzungen . . . . . . . . 160 (a) Sinn und Zweck der verfahrensrechtlichen Sicherungen . . . . . . 160 (b) Schutzzweck der Normen in Odysseus-Konstellationen . . . . . . . 161 bb) Verzicht auf materiell-rechtliche Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 (1) Verzicht auf Zulässigkeitsvoraussetzungen, die das „Ob“ betreffen 163 (a) Erfordernis einer erheblichen Gesundheitsgefahr gem. § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 (b) Erfordernis eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus 164 (2) Verzicht auf Zulässigkeitsvoraussetzungen, die das „Wie“ betreffen 165 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 VI. Der Widerruf der Odysseus-Anweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 D. Zusammenfassung Kapitel 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
Kapitel 4 Der rechtsgeschäftliche Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Verträge
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A. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 B. Der Odysseus-Vertrag als Instrument antizipierter Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . 172 I. Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 II. Rechtsnatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 III. Inhalt und Wirksamkeitsvoraussetzungen eines Odysseus-Vertrages . . . . . . . . . . . 175 IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 C. Die Spielersperre als echter Odysseus-Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 I. Rechtsgrundlagen der Selbstsperre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 II. Die Rechtsnatur der Selbstsperre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 1. Gang der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 2. Änderung der Rechtsnatur durch Einführung des Glücksspielstaatsvertrages 182 a) Urteile des LG/OLG Düsseldorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 b) Ablehnung des Vertragsschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 c) Schutzgesetzcharakter der §§ 8, 20 GlüStV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 d) Schwächen des Deliktsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
12
Inhaltsverzeichnis e) Kontrahierungszwang gem. § 8 Abs. 2 Alt. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 aa) Die Rechtsfigur des Kontrahierungszwangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 bb) Die Auslegung des § 8 Abs. 2 Alt. 1 GlüStV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 (1) Sprachlich-grammatikalische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 (2) Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 (3) Systematische/Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 III. Der Inhalt des Sperrvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 1. Vertragliche Leistungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 2. Die Auswirkungen des Sperrvertrages auf zukünftig geschlossene Spielverträge 201 a) Notwendigkeit der Nichtigkeit der Spielverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 b) Dogmatische Konstruktion der Aufhebung zukünftiger Spielverträge . . . . . 204 aa) Rechtsgeschäftlich begründeter Nichtigkeitsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 bb) Rechtsgeschäftlich begründete Beweislastumkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 (1) In Bezug auf § 105 Abs. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 (2) In Bezug auf § 138 Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 (3) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 cc) § 134 BGB als rechtsvernichtende Einwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 c) Exkurs: Rechtsgeschäftlich vereinbarte Formerfordernisse . . . . . . . . . . . . . . 210 aa) Allgemeines zu Formerfordernissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 bb) Aufhebung der Schriftformvereinbarung jederzeit möglich . . . . . . . . . . 212 cc) Aufhebung der Schriftformvereinbarung nicht jederzeit möglich . . . . . 212 dd) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 IV. Die Aufhebung des Selbstsperrvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
D. Der Odysseus-Vertrag in anderen Lebensbereichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 E. Zusammenfassung Kapitel 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
Kapitel 5 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
221
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
Abkürzungsverzeichnis a. A. Abs. ÄBW AcP a. E. a. F. AG AöR Art. Aufl. AT BGB BGBl. BGHZ BtÄndG BT-Drs. BtPrax BVerfG bzw. DÄBl DJT DMW DNotZ DÖV DR Ethik Med EWiR f. FamFG FamFR FamRZ ff. FPPK FPR FS gem. GesR GG GlüStV
andere Ansicht Absatz Ärzteblatt Baden-Württemberg Archiv für die civilistische Praxis am Ende alte Fassung Amtsgericht Archiv des Öffentlichen Rechts Artikel Auflage Allgemeiner Teil Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Entscheidungen des Bundesgerichtshofs Betreuungsrechtsänderungsgesetz Bundestags-Drucksache Betreuungsrechtliche Praxis Bundesverfassungsgericht beziehungsweise Deutsches Ärzteblatt Deutscher Juristentag Deutsche Medizinische Wochenschrift Deutsche Notar-Zeitschrift Die Öffentliche Verwaltung Deutsches Recht, Ausgabe A Ethik in der Medizin Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht folgende (Seite) Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Zeitschrift für Familienrecht und Familienverfahrensrecht Zeitschrift für das gesamte Familienrecht folgende (Seiten) Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie Familie, Partnerschaft, Recht Festschrift gemäß GesundheitsRecht Grundgesetz Glückspielstaatsvertrag
14 h. M. Hs. i. d. R. i. S. d. i. S. v. i. V. m. JAMA JR JURA JuS JZ Kap. KG LG MDR MedR MittBayNot
Abkürzungsverzeichnis
herrschende Meinung Halbsatz in der Regel im Sinne des im Sinne von in Verbindung mit The Journal of American Medical Association Juristische Rundschau Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristenzeitung Kapitel Kammergericht Landgericht Monatsschrift für Deutsches Recht Medizinrecht Mitteilungen des Bayerischen Notarvereins, der Notarkasse und der Landesnotarkammer Bayern MitRhNotK Mitteilungen der Rheinischen Notarkammer m. w. N. mit weiteren Nachweisen n. F. Neue Fassung NJOZ Neue Juristische Online-Zeitschrift NJW Neue Juristische Wochenschrift NK Nomos Kommentar Nr. Nummer NStZ Neue Zeitschrift für Strafrecht NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NZA Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht OLG Oberlandesgericht PsychKG Psychisch-Kranken-Gesetz R&P Recht und Psychiatrie Rn. Randnummer S. Satz/Seite s. a. siehe auch s. o. siehe oben sog. sogenannt StGB Strafgesetzbuch s. u. siehe unten u. a. unter anderem usw. und so weiter VersR Versicherungsrecht vgl. vergleiche z. B. zum Beispiel ZEV Zeitschrift für Erbrecht und Vermögensnachfolge ZfL Zeitschrift für Lebensrecht ZFME Zeitschrift für medizinische Ethik ZFWG Zeitschrift für Wett- und Glücksspielrecht ZIP Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
Abkürzungsverzeichnis ZphF ZPO ZRP ZStW
Zeitschrift für philosophische Forschung Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft
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Kapitel 1
Einleitung A. Problemaufriss Selbstkontrolle, Selbstbeherrschung und Selbstdisziplin: Die vielleicht preußischsten aller Tugenden sollen der Schlüssel zum Erfolg sein und ein selbstbestimmtes sowie erfolgreiches Leben garantieren. So boomt nicht nur ein ganzer Industriezweig, der uns beim Erlernen dieser Eigenschaften unterstützen will, auch wir selbst versuchen, unser Verhalten planvoll zu steuern, um unsere Ziele zu verwirklichen. Probleme ergeben sich immer dann, wenn zum Zeitpunkt der Ausführung eines Verhaltens ein Bedürfnis im Vordergrund steht, welches dem zielführenden Verhalten entgegensteht und wir uns überwinden müssen, dennoch das zu tun, was wir uns vorher vorgenommen haben. Dieser Konflikt zieht sich nicht nur durch sämtliche alltägliche Lebensbereiche, sondern betrifft auch ethische, gesellschaftspolitische und rechtliche Fragen erheblichen Ausmaßes. Um sich selbst psychisch, sozial oder moralisch zu verpflichten, keiner antizipierten Willensänderung zu unterliegen, die das Erreichen des vorab gesetzten Ziels vereiteln würde, versucht manch Betroffener, sich „selbst zu überlisten“, indem er sich vorab selbst bindet. Ein Musterbeispiel der Selbstbindung zur Erreichung eines übergeordneten Ziels ist das Mythologem des Odysseus und der Insel der Sirenen. Deren Gesang war berühmt wie berüchtigt, denn sie benutzten ihn, um Seefahrer auf ihre Insel zu locken und dann zu töten. Neugierig auf deren betörende Stimmen befahl Odysseus seinen Matrosen, ihre Ohren mit Wachs zu verschließen und ihn an den Mast seines Schiffes zu fesseln. Zudem ordnete er an, ihn unter keinen Umständen loszubinden – egal, welche Anstalten er machen sollte. Sobald Odysseus die Laute der Sirenen hörte, wurde er fast verrückt vor Sehnsucht und versuchte, sich von seinen Fesseln zu befreien, um zu den Sirenen zu gelangen. Seine Männer aber ignorierten seinen Sinneswandel. So zog das Schiff an den Sirenen vorüber und die Besatzung blieb verschont.1 Gerade wenn ein Individuum in eine Situation gerät, in der es aufgrund von Krankheit, äußerer Zwangswirkung, Sucht oder starken Neigungen dazu tendiert, die 1
Homer, Odyssee, Zwölfter Gesang.
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Kap. 1: Einleitung
früher getroffene Entscheidung zugunsten einer kurzfristigen Befriedigung aufzugeben, kann eine Selbstbindung den einzigen Weg zur effektiven Zielerreichung darstellen. Die Bindung wird dann vorab eingegangen, um sich von einer selbstschädigenden Abkehr von der früheren Entscheidung abzuhalten.2 Es wird also zu einem bestimmten Zeitpunkt über die eigenen Langzeitinteressen nachgedacht, weshalb bestimmte Selbstbindungen eingegangen werden, um sich selbst vor den eigenen Kurzzeitpräferenzen zu bewahren.3 Dadurch werden Umstände geschaffen, die den Betroffenen dazu zwingen sollen, bei der getroffenen Entscheidung zu bleiben. So wäre Odysseus ohne die Abmachung mit seinen Matrosen von den Sirenen betört worden, hätte sich auf den Weg zu ihnen gemacht und so den Tod gefunden. Wenn Selbstbindungen durch rechtsverbindliche Regelungen erfolgen, wird ein antizipierter Selbstschutz auch zum Rechtsproblem. Dabei sind bei näherer Betrachtung Selbstbindungen eine Selbstverständlichkeit, die man als wesentliche Grundlage der Zivilrechtsordnung ansehen kann. Einem Konflikt im Rahmen der Privatautonomie ein und derselben Person zu verschiedenen Zeitpunkten vorzubeugen, ist der Grundgedanke einer jeden rechtsgeschäftlichen Bindung. So werden Verträge auch deshalb geschlossen, um sowohl sich selbst als auch den Vertragspartner zu einem späteren Zeitpunkt vor einem eigenen Sinneswandel oder einem solchen des Vertragspartners zu bewahren. Zwar wird durch Abschluss eines Vertrages, der zu einer Bindung der Handelnden führt, der zukünftige Handlungsspielraum eingeschränkt;4 dennoch liegt darin keine Beschränkung, sondern vielmehr die Verwirklichung der Privatautonomie.5 Problematisch wird dies aber, wenn durch die rechtsgeschäftliche Selbstbindung unmittelbar zukünftige Handlungsfreiheiten beschränkt werden sollen. Insbesondere dann, wenn vorab bestimmten Rechtsakten die rechtliche Wirksamkeit versagt werden soll, stellt sich die Frage nach den Grenzen der Dispositionsbefugnis des Einzelnen. Kann ihm gestattet werden, zum Schutz vor sich selbst über seine zukünftigen Gestaltungsmöglichkeiten zu verfügen? Struktur und Funktionsweise derartiger Rechtsakte üben eine besondere dogmatische Faszination aus, die jeweils aus dem Widerstreit des vorwegnehmend geäußerten und des aktuellen Willens resultieren. Insbesondere, wenn die Willensänderung bereits vorausgesehen wurde und gerade aus diesem Grund die rechtliche Disposition erfolgt, verlangt die Beurteilung einer derartigen Rechtshandlung nach einer komplexen Betrachtung. 2
So Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 90. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 376. 4 Bydlinksi, Privatautonomie und objektive Grundlagen des verpflichtenden Rechtsgeschäfts, S. 68. 5 BVerfGE 81, 242, 254; Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, S. 54; Flume, BGB AT II, S. 4 f.; Kleinschmidt, Delegation von Privatautonomie, S. 102; Canaris, AcP 2000, 273 (279); aus der Perspektive des Gesellschaftsrechts Weber, Privatautonomie und Außeneinfluß im Gesellschaftsrecht, S. 205 ff. 3
B. Gang der Untersuchung
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B. Gang der Untersuchung Ziel der vorliegenden Dissertation ist es, den aus der Moralphilosophie bekannten Problembereich des Selbstpaternalismus einer juristischen Betrachtung zu unterziehen und anhand konkreter Beispiele zu untersuchen, inwieweit ein rechtsgeschäftlicher Schutz vor sich selbst in den Grenzen der Zivilrechtsdogmatik möglich ist. Nach einer einleitenden moralphilosophischen Auseinandersetzung des Problembereichs, liegt deshalb ein erster Schwerpunkt der Untersuchung in der Frage nach der Dispositionsfähigkeit grundrechtlich geschützter Güter und Interessen sowie einer Bestimmung zivilrechtlicher Sanktionsinstrumente zur Vermeidung übermäßiger Selbstbindungen im Privatrechtsverhältnis – jeweils in Bezug auf selbstpaternalistische Handlungen. Um dem Problemkreis des Selbstpaternalismus die Abstraktion zu nehmen, werden die in Kapitel 1 erarbeiteten allgemeinen Grundsätze in Kapitel 2 näher konkretisiert und auf die sog. Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung angewandt. So wird insbesondere in Frage stehen, ob es dem Betroffenen möglich ist, mittels einer Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung zum Schutz vor sich selbst Zwangsmaßnahmen vorab zu legitimieren und damit verbunden auf Rechte zu verzichten, die zu seinem Schutze errichtet wurden. In Kapitel 3 wird anhand der „Spielersperre“ als sog. Odysseus-Vertrag erörtert, ob es dem Einzelnen möglich ist, zukünftigen Rechtsakten zum Schutz vor sich selbst vorab die rechtliche Wirksamkeit zu nehmen und so eine rechtsgeschäftliche Beschränkung der Privatautonomie herbeizuführen. Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung ihrer wesentlichen Ergebnisse.
Kapitel 2
Der rechtsgeschäftliche Schutz vor sich selbst durch Selbstpaternalismus A. Vorbemerkung Die Beantwortung der Frage, ob und inwieweit eine Person vor sich selbst geschützt werden darf, rückte in jüngster Vergangenheit zunehmend in das Blickfeld der Zivilrechtswissenschaft1, nachdem bereits viele verfassungsrechtliche Abhandlungen in diesem Themenbereich erschienen sind.2 Dabei wurde insbesondere untersucht, ob ein Rechtspaternalismus überhaupt ein legitimes gesetzgeberisches Motiv bei der Kodifikation des Rechts darstellen kann und ferner Zulässigkeitsbedingungen für paternalistisch motivierte Normen im vertraglichen Privatrechtsverkehr erarbeitet.3 Vor diesem Hintergrund soll im Fokus dieser Betrachtungen stehen, inwieweit sich der Einzelne selbst vor zukünftigen eigenen Handeln schützen kann. Fragen in Bezug auf den Schutz vor dem künftigen Selbst, durch sich selbst, werden in der einschlägigen Literatur meist unter dem Begriff des Selbstpaternalismus aufgeworfen.4 Im Gegensatz zu dem Begriff Paternalismus ist der Terminus des Selbstpaternalismus der rechtswissenschaftlichen Diskussion noch weitestgehend fremd und am ehesten noch in der moralphilosophischen Diskussion gebräuchlich. Teilweise wird diese Begriffswahl sogar gänzlich abgelehnt5 und statt-
1 Ganz aktuell Schmolke, Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht; ähnlich auch schon Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht. 2 Vgl. dazu nur beispielsweise Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst; Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht; Schwabe, JZ 1998, 66 (66 ff.); Münch, in: FS-Ipsen, S. 113 ff; siehe auch zum Strafrecht u. a. Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht. 3 So Schmolke, Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht, S. 3. 4 Wagner-von Papp, AcP 2005, 342 (343 ff.); Schmolke, Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht, S. 34 Fn. 166; Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 90 („paternalistischer Selbstschutz“); Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 375 („kollektiver Selbstpaternalismus“); Ohly, Volenti non fit iniura, S. 76. 5 Hallich, Selbstbindungen und medizinischer Paternalismus, S. 153; Quante, Personales Leben und menschlicher Tod, S. 289 f.; Drerup, Paternalismus, S. 344 f.
A. Vorbemerkung
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dessen von „Odysseus-Paternalismus“6, „Odysseus-Anweisungen“7, „OdysseusVerfügungen“8 oder „Odysseus-Verträgen“9 gesprochen.10 Neben der uneinheitlichen Terminologie ist auch eine einheitliche Begriffsdefinition nicht ersichtlich. Klarheit besteht lediglich dahingehend, dass unter diesen Begriffen Problemkonstellationen zu verstehen sind, in denen sich eine Person selbst bindet, um sich vor einer Abkehr von einer früher getroffenen Entscheidung abzuhalten. Es soll jeweils eine Handlungsalternative ausgeschlossen werden, die in der Zukunft unter Umständen gewählt werden könnte, aber aus heutiger Sicht nicht optimal erscheint.11 Zweck ist es, sicherzustellen, dass künftigen selbstschädigenden Handlungen bzw. Verhaltensweisen vorab die Wirksamkeit versagt wird, indem die Folgen derartiger Handlungen für unbeachtlich erklärt werden. Es geht jeweils um die Frage, ob bzw. inwiefern dem „späteren Selbst“ eine frühere Entscheidung aufgezwungen werden kann, also um die Reichweite und Grenzen der Selbstbindung. Ein derartiger Selbstpaternalismus wirft schwierige Fragen auf, die aus dem Widerstreit des vorwegnehmend geäußerten und des aktuellen Willens in der Eingriffssituation resultieren. Bisher wurden die Aspekte des Problemkreises des Selbstpaternalismus meist im Kontext der Zulässigkeitsbedingungen des Paternalismus erörtert. So ist ein Handeln zum Schutz vor sich selbst durch Dritte12 in der Regel als paternalistische Maßnahme zu qualifizieren. Ohne die vorherige Anweisung des Odysseus würde man die Maßnahme der Matrosen, diesen entgegen seinem aktuellen Willen am Mast festgebunden zu lassen, unproblematisch als parternalistisch einstufen. Dagegen beinhaltet eine selbstpaternalistische Handlung meist eine Zustimmung zur Durchführung einer paternalistischen Maßnahme. So bestehen Kontroversen, ob ein Handeln entsprechend einer selbstpaternalistischen Maßnahme überhaupt einer moralischen Legitimation bedarf oder ob die vorherige Zustimmung des Paternalisierten zu der in Frage stehenden Maßnahme nicht das Vorliegen von Paternalismus 6 Kaufmann, Patientenverfügungen, S. 24, 157, 165; Schöne-Seifert, Grundlagen der Medizinethik, S. 50. 7 Hallich, Selbstbindungen und medizinischer Paternalismus, S. 151 ff. 8 Müller, Ethik Med 2016, 255 (255 ff.); Romfeld, Ethik Med 2016, 259 (259 ff.); Aicher, in: Grenzen der Selbstbestimmung in der Medizin, S. 282 ff. 9 Aicher, in: Grenzen der Selbstbestimmung in der Medizin, S. 287. 10 Auch in der englischsprachigen Literatur herrscht eine uneinheitliche Terminologie, unter anderem ist dort von precommittment, self-command oder self-management die Rede, vgl. Kuklin, University of Cincinnati Law Review 1992, 649 (654 Fn. 6); andere ziehen den Begriff Ulysses „arrangement“ dem Begriff „contract“ vor, vgl. Gremmen/Widdershoven/ Beekmam/Zuijderhoudt/Sevenhuijsen, Med Ethics 2008, 77 (77). 11 Beckmann, in: Jon Elsters Theorie rationaler Bindungen, S. 140. 12 Geht es um paternalistische Eingriffe rechtssetzender Instanzen, spricht man von Rechtspaternalismus, Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 8.
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Kap. 2: Schutz vor sich selbst durch Selbstpaternalismus
ausschließt. Ist die Maßnahme der Matrosen auch dann als paternalistisch einzustufen, wenn diese auf Anweisung des Odysseus durchgeführt wurde? Bejaht man dies, ist zu untersuchen, inwiefern eine solche vorherige Zustimmung eine paternalistische Maßnahme zu rechtfertigen imstande ist. Vernachlässigt wurde in der bisherigen Diskussion die Frage, innerhalb welcher Grenzen es Odysseus überhaupt gestattet werden kann, derartige Anweisungen abzugeben. Ist eine derartige Anweisung des Odysseus für die Matrosen stets verbindlich? Zwar mag in Homers Mythologem der Fall noch relativ einfach gelagert sein; doch wird der Gang der Untersuchung zeigen, dass durchaus Fälle denkbar sind, in denen an der Verbindlichkeit einer derartigen Anweisung gezweifelt werden kann. Bindet sich eine Person in einem Zeitpunkt t1 selbst, um sich vor einer späteren Abkehr von einer früher getroffenen Entscheidung abzuhalten, schließt sie dabei nämlich gleichzeitig ihre Wahlmöglichkeiten zum Zeitpunkt t2 aus. Dies ist, je nach rechtlicher Qualität einer derartigen Vereinbarung, als rechtsgeschäftliche Beschränkung der zukünftigen Privatautonomie als Bestandteil des Selbstbestimmungsrechts zu qualifizieren. Fraglich ist aber, ob eine solche Vorgehensweise überhaupt verfassungsrechtlich zu rechtfertigen ist oder ob sich nicht aus einer Schutzpflicht des Staates ein Grundrechtsschutz des Grundrechtsträgers vor sich selbst, hier gegen seine eigenen, früher verantwortlich getroffenen Entscheidungen, ableiten lässt.
B. Paternalismus in der Philosophie Im Folgenden soll in einem ersten Schritt untersucht werden, unter welchen Umständen einer vorherigen Zustimmung des Betroffenen im Rahmen der Beurteilung der moralphilosophischen Legitimation einer paternalistischen Maßnahme Bedeutung beigemessen werden kann.
I. Begriffliche Vorfragen In der überwiegend philosophischen Debatte über Paternalismus ist bereits die Paternalismus-Definition selbst Gegenstand der Diskussion.13 Für den hiesigen Zweck der Untersuchung reicht es aus, die anerkannten Kernelemente der Definition herauszuarbeiten.
13 Birnbacher, in: Paternalismus im Strafrecht, S. 11; vgl. ausführlich zu den sich unterscheidenden Begriffsdefinitionen Grill, Res Publica 2007, 441 (441 ff.).
B. Paternalismus in der Philosophie
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1. Definition Der Begriff Paternalismus leitet sich vom lateinischen Wort „pater“ (= Vater) ab. Er wird häufig dahingehend negativ konnotiert, als dass für Paternalismus charakteristisch das väterliche „Besserwissen“ stehe und damit der Begriff als Gegenteil des Respekts vor der Autonomie wahrgenommen wird.14 Von anderen Freiheitsbeschränkungen unterscheidet sich eine paternalistische Intervention durch das Motiv. Das Wohl des Adressaten ist das Ziel der paternalistischen Maßnahme.15 Eine weitere unerlässliche Komponente einer paternalistischen Handlung ist ihr Zwangscharakter. Es muss sich über den aktuellen Willen des Betroffenen hinweggesetzt werden.16 Diese beiden Elemente lassen die Zwiespältigkeit des Begriffs erkennen: Zwar wird auf der einen Seite zum Wohl der von der paternalistischen Maßnahme betroffenen Person gehandelt, auf der anderen Seite wird diese Maßnahme aber selbst dann vorgenommen, wenn sie nicht dem aktuellen Willen des Betroffenen entspricht.17 Bei Maßnahmen, die zwar den Einzelnen davor schützen sollen, sich selbst Schaden zuzufügen, dabei aber nicht in seine eigenen, sondern vielmehr in Rechte Dritter eingreifen, spricht man von indirektem Paternalismus. Beispiel hierfür ist das Verbot von Zigarettenwerbung, welches insbesondere in die Grundrechte der Tabakhersteller eingreift, aber dem Wohl des Rauchers dienen soll.18 Im Gegensatz zu den typischen Paternalismus-Fällen hat der Betroffene in den hier in den Fokus gestellten Fällen vorab ausdrücklich dem Befolgen der zu betrachtenden Maßnahme mittels einer selbstpaternalistischen Handlung zugestimmt bzw. diese sogar vorab angeordnet. Es stellt sich daher die Frage, ob auch derartigen 14 Feinberg, Harm to Self, S. 4: „Paternalism is a label that might have been invented by paternalism’s enemies.“; Kennedy, Maryland Law Review 1982, 563 (588 f.); Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, S. 23; Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 358; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 22; VandeVeer, Paternalistic Intervention, S. 16 f.; Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 7; auch Schmolke, Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht, S. 3, beschreibt die Notwendigkeit eines wertungsfreien Paternalismus-Begriffs. In der Medizin wird der Begriff dagegen teilweise hinsichtlich einer „auf Vertrauen gegründeten Arzt-Patient-Beziehung“ positiv konnotiert, vgl. Birnbacher, in: Paternalismus im Strafrecht, S. 11. 15 Dworkin, Paternalism, The Monist 1972, 64 (65); Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 359; Pfordten, in: Paternalismus und Recht, S. 94; Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, S. 24. 16 Über diese beiden Elemente herrscht in der einschlägigen Literatur weitgehend Einigkeit, vgl. Dworkin, Paternalism, The Monist 1972, 64 (65); Kleinig, Paternalism, S. 13: „X acts paternalistically in regard to Y to the extent that X, in order to secure Y’s good, as an end, imposes upon Y.“; Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 359; Pfordten, in: Paternalismus und Recht, S. 94; Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, S. 24. 17 Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip S. 359; Birnbacher, in: Paternalismus im Strafrecht, S. 11. 18 Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, S. 25; Feinberg, Harm to Self, S. 9; Kleinig, Paternalism, S. 11; Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 15.
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Kap. 2: Schutz vor sich selbst durch Selbstpaternalismus
Zwangsmaßnahmen ein paternalistischer Charakter innewohnt oder ob eine vorherige Zustimmung des Betroffenen ein Vorliegen von Paternalismus ausschließt. 2. Nicht-Vorliegen einer Zustimmung als Definitionsmerkmal Zu klären ist also, ob das Nicht-Vorliegen einer Zustimmung des Betroffenen ein negatives Definitionsmerkmal des Paternalismus-Begriffs darstellt.19 Hierbei sollen vier verschiedene Konstellationen unterschieden werden: 1. Das Vorliegen einer aktuellen Zustimmung zum Zeitpunkt des Eingriffs, 2. das Fehlen einer vorherigen und aktuellen Zustimmung, aber das Vorliegen einer nachträglichen Genehmigung des Eingriffs, 3. das Vorliegen einer vorherigen Zustimmung, aber die Äußerung einer aktuellen Ablehnung der Maßnahme zum Zeitpunkt des Eingriffs sowie 4. das Fehlen einer vorherigen Zustimmung, aber die Erteilung einer aktuellen Zustimmung zum Zeitpunkt des Eingriffs, die im Zustand der Entscheidungsunfähigkeit abgegeben wird. In der ersten Fallkonstellation liegt zum Zeitpunkt des Eingriffs eine aktuelle Zustimmung des Betroffenen vor. Da somit der Maßnahme keine begründungsbedürftige Beeinträchtigung der gegenwärtigen Wahlfreiheit des Betroffenen innewohnt, liegt keine paternalistische Intervention vor. Liegt dagegen weder eine vorherige, noch eine aktuelle Zustimmung und auch keine nachträgliche Genehmigung vor, ist in der Regel von einer paternalistischen Maßnahme auszugehen.20 Auch eine nachträgliche Genehmigung des Eingriffs in der zweiten Konstellation nimmt einer Maßnahme nicht den paternalistischen Charakter, da der maßgebliche Beurteilungszeitpunkt nur der des Eingriffs ist. Eine nachträgliche Genehmigung kann aber im Rahmen der Rechtfertigung eine Rolle spielen.21 Uneinigkeit besteht vor allem hinsichtlich der dritten Konstellation, nämlich bezüglich der Frage, ob der Begriff der paternalistischen Maßnahme auch auf solche Handlungen zu beziehen ist, denen der Betroffene zwar vorher zugestimmt hat, diese Zustimmung zum Zeitpunkt des Eingriffs aber nicht mehr aufrechterhalten will. 19 So Gert/Culver, Ethics 1979, 199 (199); Brock, in: Paternalism, S. 238; Arneson, Ethics 1980, 470 (471); vorstellbar auch für Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 14. 20 Teilweise wird darauf abgestellt, dass, wenn die paternalistische Maßnahme unabhängig von der Kenntnis einer aktuellen Zustimmung durchgeführt werde, dennoch ein Fall von Paternalismus vorliege, da insofern die aktuelle Zustimmung gerade keine Rolle für den Eingreifenden spiele, Pope, UMKC Law Review 2005, 681 (687): „The subject’s consent makes the agent’s intervention non-paternalistic only if the subject’s consent is the primary factor motivating the agent to intervene. If the agent was going to intervene anyway – regardless of the subject’s consent – then the fact that the agent and subject merely happen to agree that the agent should intervene does not make the agent’s intervention non-paternalistic.“ 21 Hallich, ZphF 2011, 151 (163 ff.) stellt auf eine antizipierte spätere Zustimmung ab, Kap. 2 B. II. 2. d).
B. Paternalismus in der Philosophie
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Wenn A einer Handlung des B zum Zeitpunkt t1 zustimmt, um sich selbst vor einer späteren Selbstschädigung zu schützen, stellt sich die Frage, ob diese vorherige Zustimmung das Vorliegen einer paternalistischen Maßnahme selbst dann ausschließt, wenn A diese Zustimmung zum Zeitpunkt des Eingriffs t2 nicht mehr aufrechterhalten will. Eng verbunden mit diesem Problemkreis ist die vierte Konstellation: Es fehlt an einer vorherigen Zustimmung, eine solche wird aber in der aktuellen Eingriffssituation im Zustand der Einwilligungsunfähigkeit erteilt. Zur Lösung dieser Problematik lassen sich im Grunde drei unterschiedliche Ansätze vertreten: 1. Man ordnet ein Handeln trotz Vorliegens einer vorherigen Zustimmung und gerade wegen des „Widerrufs“ dieser Zustimmung zum Zeitpunkt des Eingriffs als (schwach) paternalistisch ein,22 2. man katalogisiert ein solches Handeln nicht als paternalistisch mit der Begründung, dass entweder die vorherige Zustimmung selbst das Vorliegen von Paternalismus ausschließt oder aber – bei Vorliegen von Entscheidungsunfähigkeit zum Zeitpunkt des Eingriffs – aufgrund von Willensmängeln schon gar kein Fall von Paternalismus vorliegt,23 3. oder man geht davon aus, dass ein Befolgen des aktuellen Willens und damit ein Handeln entgegen der vorherigen Zustimmung eine paternalistische Handlung darstellt.24 Wenn also der Betroffene im Zeitpunkt des Eingriffs seine Meinung ändern würde, wäre ein Handeln entsprechend dieser Willensänderung und entgegen des vorherigen Willens als paternalistische Maßnahme zu qualifizieren. Diese Zuordnung ist für die Untersuchung äußert relevant, denn wenn das NichtVorliegen einer vorherigen Zustimmung ein negatives Begriffsmerkmal einer paternalistischen Maßnahme ist, wären diese Konstellationen kein Fall von Paternalismus und damit auch nicht gesondert rechtfertigungsbedürftig. Dies würde wiederum eine erhebliche Rolle bei der Beurteilung der Legitimität des eigenen Schutzes vor sich selbst, durch sich selbst, spielen. Konsequenz wäre, dass es der Einzelne selbst in der Hand hätte, mittels einer vorherigen Zustimmung andere zu Zwangsmaßnahmen zu legitimieren, die dann nicht als paternalistisch einzustufen wären. Als Beispiel für die Erörterung dieses Problemkreises soll das bereits erwähnte Mythologem des Odysseus und der Insel der Sirenen dienen.
22 Kap. 2 B. I. 2. a); Schöne-Seifert, Grundlagen der Medizinethik, S. 54; Wolf, in: Paternalismus und Recht, S. 61; Hallich, ZphF 2011, 151 (154 ff.); VandeVeer, Paternalistic Intervention, S. 49 ff.; Magnus, Patientenautonomie im Strafrecht, S. 201. 23 Kap. 2 B. I. 2. b); Aicher, in: Grenzen der Selbstbestimmung in der Medizin, S. 289; Birnbacher, in: Paternalismus im Strafrecht, S. 13; Schöne-Seifert, Grundlagen der Medizinethik, S. 54. 24 Kap. 2 B. I. 2. c); Kirste, JZ 2011, 805 (812 f.).
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Kap. 2: Schutz vor sich selbst durch Selbstpaternalismus
Handeln die Matrosen paternalistisch, wenn sie Odysseus trotz seiner inständigen Bitten, ihn loszubinden aufgrund seines vorher abgegebenen Befehls ignorieren? a) Handeln entsprechend der vorherigen Zustimmung ist (schwacher) Paternalismus Meist wird das Befolgen einer selbstpaternalistischen Maßnahme, je nach dem Zustand des Betroffenen im maßgeblichen Zeitpunkt des Eingriffs, als schwach oder hart paternalistische Maßnahme eingeordnet.25 Die von Feinberg entwickelte Konzeption der Unterscheidung zwischen starkem und schwachem bzw. hartem und weichem Paternalismus26 basiert auf der Erwägung, dass ein paternalistischer Eingriff dann unter geringeren Voraussetzungen gerechtfertigt werden könne, wenn der paternalisierte Wille nicht als ein Ausdruck einer kompetenten, autonomen Entscheidung gelten kann.27 Im Gegensatz zum weichen bzw. schwachen Paternalismus werde dagegen im Falle eines harten bzw. starken Paternalismus in eine kompetente Entscheidung eingegriffen. Je höher man demnach die Anforderungen an eine freiwillentliche Entscheidung schraubt, desto einfacher ist es, einen paternalistischen Eingriff zu legitimieren.28 Da in eine Maßnahme meist deshalb vorab eingewilligt wird, um sich vor einer künftigen selbstschädigenden Entscheidung aufgrund einer Sucht oder psychischen Erkrankung zu schützen, liegt nach dieser Ansicht zum Zeitpunkt des Eingriffs kein komplett freier Wille der paternalisierten Person vor. Wird sich aber nicht über eine autonom getroffene, kompetente Entscheidung hinweggesetzt, wäre nach diesen Grundsätzen von einer schwach bzw. weich paternalistischen Maßnahme auszugehen. Damit hätte eine vorherige Zustimmung keinen Einfluss auf den Paternalismus-Begriff, da es ausschließlich auf den aktuell geäußerten Willen ankommen würde. b) Handeln entsprechend der vorherigen Zustimmung ist kein Paternalismus Teilweise wird die Konzeption Feinbergs insgesamt abgelehnt mit der Begründung, dass ein solch schwacher Paternalismus nicht als ein Fall von Paternalismus 25
Schöne-Seifert, Grundlagen der Medizinethik, S. 54; Wolf, in: Paternalismus und Recht, S. 61; Hallich, ZphF 2011, 151 (154 ff.); VandeVeer, Paternalistic Intervention, S. 49 ff.; Magnus, Patientenautonomie im Strafrecht, S. 201. 26 Zu den Begriffen des schwachen und starken Paternalismus auch Dworkin, „Paternalism“, The Stanford Encyclopedia of Philosophy, abrufbar unter https://plato.stanford.edu/ent ries/paternalism/#WeakVsStroPate (zuletzt aufgerufen am 17.10.2017): „A weak paternalist believes that it is legitimate to interfere with the means that agents choose to achieve their ends, if those means are likely to defeat those ends. So if a person really prefers safety to convenience then it is legitimate to force them to wear seatbelts. A strong paternalist believes that people may be mistaken or confused about their ends and it is legitimate to interfere to prevent them from achieving those ends.“ 27 Feinberg, Harm to Self, S. 12 ff. 28 Schmolke, Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht, S. 24; Ohly, Volenti non fit iniura, S. 74.
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angesehen werden sollte.29 So liege nur dann eine paternalistische Handlung vor, wenn sich über einen freien und wohlinformierten Willen hinweggesetzt werde.30 Da dies aber bei einer vorherigen Zustimmung häufig nicht der Fall sei (da die vorherige Zustimmung meist gerade für den Fall der Entscheidungsunfähigkeit abgegeben werde), könne darin auch keine paternalistische Handlung erblickt werden. c) Handeln entgegen der vorherigen Zustimmung ist Paternalismus Dagegen argumentiert Kirste – der einen schwachen Paternalismus im Recht für überflüssig hält31 – dass nur derjenige, der den vorab klar geäußerten langfristigen Willen des Betroffenen durchsetzt, nicht paternalistisch handle.32 So sei davon auszugehen, dass nur, wenn entgegen diesem langfristigen Willen gehandelt werde, ein echter Fall von Paternalismus vorliege.33 Damit hält Kirste komplett gegenteilig nur das Nicht-Befolgen der vorherigen Zustimmung für eine paternalistische Handlung. Der Betroffene mache hinsichtlich seines langfristigen Willens von seiner Autonomie als Kompetenz Gebrauch, „um für sich selbst in seinen Entscheidungen einen höheren Rationalitäts- und moralischen Standard anzulegen.“34 Gemessen an den eigenen selbstgewählten Autonomiestandards handle der Betroffene, der in der aktuellen Situation einen entgegengesetzten Willen äußere, nach eigener Festlegung nicht autonom. Deshalb sei, ähnlich dem § 105 Abs. 2 BGB, seine Erklärung, hier nun aber nach eigener Entscheidung, in der aktuellen Situation nichtig.35 Letztlich vertritt er dabei eine Art selbstgewählte Geschäftsunfähigkeit. Da somit die spätere Erklärung aufgrund der selbstgewählten Autonomiestandards ohnehin nicht zu beachten sei, komme es nur auf den langfristigen, vorab geäußerten Willen an.36 Werde dieser nicht befolgt und der vorherigen Zustimmung zuwidergehandelt, sei nur dies eine paternalistische Handlung, nicht aber das Handeln entsprechend der vorherigen Zustimmung.
29 Beauchamp, in: Encyclopedia of Bioethics, S. 1917; siehe zu der Bewertung der Kritik auch ausführlich Quante, Personales Leben und menschlicher Tod, S. 310 ff. 30 Birnbacher, in: Paternalismus im Strafrecht, S. 13; Aicher, in: Grenzen der Selbstbestimmung in der Medizin, S. 289; ähnlich auch noch die frühere Ansicht VandeVeer’s, wonach es keinen Fall von Paternalismus darstelle, wenn sich zugunsten von „settled wants“ über „episodic wants“ hinweggesetzt werde, VandeVeer, Canadian Journal of Philosophy 1979, 631 (635 ff.); vgl. dazu auch Kleinig, Paternalism, S. 56. 31 Siehe zum Begriff des schwachen Paternalismus auch Kap. 2 B. II. 2. a). 32 Kirste, JZ 2011, 805 (813), ähnlich auch Quante, Personales Leben und menschlicher Tod, S. 288 ff. 33 Kirste, JZ 2011, 805 (812). 34 Kirste, JZ 2011, 805 (812). 35 Kirste, JZ 2011, 805 (812). 36 Kirste, JZ 2011, 805 (812).
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Kap. 2: Schutz vor sich selbst durch Selbstpaternalismus
d) Bewertung Letztlich ist die Zuordnung in den Fällen vorheriger Zustimmung im Hinblick auf die Schutzbedürftigkeit des Betroffenen vorzunehmen. Denn nur dann, wenn eine Maßnahme einen paternalistischen Charakter aufweist, muss sie moralphilosophisch legitimiert werden. Klammert man Fälle der vorherigen Zustimmung dagegen vom Paternalismus-Begriff aus, müssen diese nicht mehr legitimiert werden und werden damit als unproblematisch eingestuft. Auf den ersten Blick erscheint die Schutzbedürftigkeit eines Betroffenen, der einer Zwangsmaßnahme vorab zugestimmt hat, geringer, als wenn eine solche vorherige Zustimmung nicht vorliegen würde. Immerhin hat der entscheidungsfähige Betroffene in einem Zeitpunkt t1 – häufig aus Selbstschutzgründen – diese Zustimmung erteilt und damit vermeintlich zu seinem eigenen Wohl gehandelt. Hält er nun diese Zustimmung im Zeitpunkt t2 nicht mehr aufrecht, hat er diese Präferenzänderung in der Regel bereits vorausgesehen, da nur so die vorherige Zustimmung Sinn ergibt. Prima facie liegt in diesem Fall also nicht der typische Eingriffscharakter einer paternalistischen Maßnahme vor. Andererseits darf nicht übersehen werden, dass zum Zeitpunkt des Eingriffs in diesen Fällen gerade keine aktuelle Zustimmung mehr vorliegt. Möglicherweise haben sich die Umstände geändert, die den Betroffenen zur Abgabe der Zustimmung veranlasst haben. Dadurch, dass sich trotz vorheriger Zustimmung über den aktuellen Willen des Betroffenen hinweggesetzt wird, sind diese Fälle den typischen Paternalismus-Fällen jedenfalls ähnlich.37 Ähnliche Aspekte hat das BVerfG in einer Entscheidung zur Möglichkeit des Verzichts auf das gerichtliche Genehmigungserfordernis bei ärztlichen Sicherungsund Zwangsmaßnahmen zum Ausdruck gebracht38 : „(…) Dieses subjektive Bedrohlichkeitsempfinden wird in der konkreten Situation der Freiheitsbeschränkung nicht dadurch gemindert, dass die Betroffenen im zeitlichen Vorfeld zu einem Zeitpunkt umfassender Vernunft und Geschäftsfähigkeit vorgreiflich in derartige Beschränkungen eingewilligt oder erklärt haben, die Entscheidung über solche Beschränkungen in die alleinige Verantwortung bestimmter Vertrauenspersonen legen zu wollen.“39
Abzustellen ist nach Ansicht des Gerichts also auf die konkrete Eingriffssituation, in der gerade keine aktuelle Zustimmung mehr vorliegt. Aus Sicht des Betroffenen komme es im maßgeblichen Zeitpunkt nicht auf die vorherige Zustimmung an, da diese das aktuelle Bedrohlichkeitsempfinden nicht erleichtere.40 Auch Odysseus scheint im Moment des Widerstands die Handlung seiner Matrosen als paternalistisch aufzufassen. 37 38 39 40
So Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 14. Vgl. zu dieser Entscheidung auch ausführlich Kap. 3 C. V. 2. c) aa) (1). BVerfG, NJW-RR 2016, 193 (193 ff.). BVerfG, NJW-RR 2016, 193 (193).
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Letztlich wird aber bereits an diesem Punkt der Einordnung von Fällen vorheriger Zustimmung als paternalistische Maßnahmen darüber diskutiert, welcher Entscheidungszeitpunkt für die Beurteilung der Legitimität der Maßnahmen maßgeblich ist. Da dies aber gerade die Gretchenfrage der vorliegenden Thematik ist, erscheint es verfrüht, bereits das Vorliegen einer paternalistischen Maßnahme zu verneinen und damit eine Rechtfertigungsbedürftigkeit vorab auszuschließen. Man würde den Kern der Diskussion umgehen, nämlich, unter welchen Voraussetzungen, die möglicherweise geringer sein können als bei „normalen Paternalismus-Fällen“, ein solcher „Odysseus-Paternalismus“ gerechtfertigt ist. Denn nur dann, wenn der Paternalismus-Begriff weit verstanden wird, und damit auch Fälle der vorherigen Zustimmung umfasst werden, ist ein optimaler Schutz des Betroffenen möglich. Auch diejenigen Stimmen, die nur dann eine paternalistische Maßnahme annehmen, wenn sich über einen freien und wohlinformierten Willen hinweggesetzt werde41, verkennen, dass nur, weil bestimmte Fälle des Paternalismus als Fälle eines legitimierten Paternalismus eingestuft werden können, sich nichts daran ändert, dass es sich trotzdem um Fälle des Paternalismus handelt.42 Denn auch das Durchbrechen eines nicht-autonomen Willens stellt eine Form der Freiheitsbeschränkung dar. Das Handeln entsprechend einer vorherigen Zustimmung zu der in Frage stehenden Maßnahme kann also auch dann als paternalistisch bezeichnet werden, wenn der Betroffene in der antizipierten Situation entscheidungsunfähig ist bzw. Zweifel über das Vorliegen der Entscheidungsfähigkeit bestehen.43 Überzeugend ist es daher insgesamt, das Vorliegen einer früheren Zustimmung zur Maßnahme erst im Rahmen der Rechtfertigung der Handlung zu berücksichtigen.
II. Legitimation paternalistischer Maßnahmen Es ist gebräuchlich, bei den Legitimationsstrategien für paternalistische Maßnahmen zwischen „Einverständnis-basierten“ und „Wohl-basierten“ Rechtfertigungen zu differenzieren.44 Während sich Erstere auf eine noch näher zu charakterisierende Zustimmung des Paternalisierten konzentrieren, der gegenüber dem aktuellen Willen ein höheres Gewicht beigemessen wird, heben Wohl-basierte Legitimationsstrategien den Wert des zu befördernden Guts für den Paternalisierten hervor.45 Innerhalb dieser grundsätzlichen Legitimationsrichtungen existieren wie41 Birnbacher, in: Paternalismus im Strafrecht, S. 13; Aicher, in: Grenzen der Selbstbestimmung in der Medizin, S. 289. 42 Hallich, ZphF 2011, 151 (155). 43 Hallich, ZphF 2011, 151 (156). 44 Vgl. allgemein zur Rechtfertigungsbedürftigkeit paternalistischer Maßnahmen ausführlich Schmolke, Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht, S. 14 ff. 45 Siehe u. a. bei VandeVeer, Paternalistic Intervention, S. 45 ff. (Appeals to consent and Appeals to doing good); Beauchamp/Childress, Principles of Biomedical Ethics, S. 213 ff.; Quante, Personales Leben und menschlicher Tod, S. 320; Kleinig, Paternalism, S. 38 ff.;
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Kap. 2: Schutz vor sich selbst durch Selbstpaternalismus
derum eine Vielzahl von Begründungsmodellen. Im Folgenden soll – entsprechend dem Untersuchungsgegenstand – der Fokus auf die Möglichkeit einer Rechtfertigung paternalistischer Maßnahmen aufgrund einer Zustimmung des Betroffenen gelegt werden. Dabei soll insbesondere erörtert werden, ob durch eine vorherige Zustimmung eine paternalistische Intervention gerechtfertigt werden kann. 1. Wohl-basierte Legitimationsstrategien Wohl-basierte Legitimationsstrategien beruhen auf der Überlegung, dass das Ziel einer jeden paternalistischen Maßnahme in der Förderung des Wohls der betroffenen Person liegt und nicht im Respekt vor der Autonomie des Betroffenen.46 Deshalb sei ein Paternalismus immer dann gerechtfertigt, wenn eine Entscheidung oder Handlung einer Person nicht deren Wohl entspreche, da eine paternalistische Maßnahme unabhängig von einer etwaigen Zustimmung des Paternalisierten gerechtfertigt werden müsse. Im Gegensatz zu den Einverständnis-basierten Legitimationsstrategien, die eher eine antipaternalistische Tendenz aufweisen, wohnt einer solchen konsequenzialistischen Denkweise eine gewisse Neigung zum Paternalismus inne.47 2. Einverständnis-basierte Legitimationsstrategien Innerhalb des Zustimmungsmodells wird danach differenziert, ob eine vorherige, eine nachträgliche oder eine hypothetische Zustimmung eine paternalistische Intervention legitimieren kann.48 Daneben wird nach ihrer Qualität unterschieden, insbesondere nach der Kompetenz des Zustimmenden, eine selbstbestimmte, freie Entscheidung zu treffen.49 a) Schwacher Paternalismus In einem ersten Schritt ist daher zu klären, ob paternalistische Maßnahmen, denen vorab vom Betroffenen zugestimmt wurde, nicht ohnehin aus anderen Gründen gerechtfertigt werden können. So könnten derartige paternalistische Interventionen als schwach paternalistische Maßnahmen qualifiziert werden. Nach Feinberg besteht eine Verbindung zwischen einem Mangel an „Freiwilligkeit“ und der Legitimität
Dworkin, The Montist 1972, 64 (76 ff.); Hallich, ZphF 2011, 151 (156 ff.); Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 19 ff. 46 Vertreter dieses Rechtfertigungsmodells u. a. Beauchamp/Childress, Principles of Biomedical Ethics, S. 214; Brock, Ethics 1988, 550 (550 ff.). 47 Giesinger, Pädagogischer Paternalismus, S. 135. 48 So beispielsweise bei Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 29. 49 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 29.
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einer paternalistischen Intervention.50 Freiwilligkeit liege nur dann vor, wenn eine überlegte Entscheidung getroffen wird: „Impulsive and emotional actions, and those of animals and infants (…) are not chosen. Chosen actions are those that are decided upon by deliberation, and that is a process that requires time, information, a clear head, and highly developed rational faculties. (…) Such acts not only have their origin ,in the agent‘, they also represent the agent faithfully in some important way; they express his or her settled values and preferences. In the fullest sense, therefore, they are actions for which the agent can take responsibility.“51
Wenn eine Entscheidung nach diesen Grundsätzen als unfreiwillig gilt, sei demnach nach Feinberg eine paternalistische Intervention gerechtfertigt. Wenn dagegen im Falle eines harten bzw. starken Paternalismus in eine kompetente Entscheidung eingegriffen werde, scheide eine Legitimation aus. Je höher bzw. niedriger man letztlich die Anforderungen an eine frei willentliche Entscheidung schraubt, desto einfacher oder schwerer ist es, einen paternalistischen Eingriff zu legitimieren.52 Auch im Falle des Odysseus könnten schwach paternalistische Rechtfertigungsgründe greifen. Nach Feinberg wären die Matrosen wohl selbst dann gerechtfertigt gewesen, Odysseus nicht loszubinden, wenn er keinen entsprechenden Befehl vorab erteilt hätte. Der Gesang der Sirenen verwirrte ihm derart die Sinne, dass er sich möglicherweise in einem die Entscheidungsfähigkeit ausschließenden Zustand befand und deshalb seine Entscheidung als unfreiwillig betrachtet werden müsste, sodass eine Rechtfertigung möglich wäre.53 Allerdings sind auch Fälle denkbar, in denen die Schwelle zur „Unfreiwilligkeit“ noch nicht überschritten ist, bzw. gerade das Vorliegen von Freiwilligkeit zweifelhaft ist, sodass dennoch zu klären bleibt, inwiefern Argumente der Zustimmung als Rechtfertigungsmodelle in Betracht kommen. b) Legitimation durch die vorherige Zustimmung des Betroffenen Nicht nur in der Sage des Odysseus und der Insel der Sirenen liegen zwei gegensätzliche Willensäußerungen vor. Bei den hier zu besprechenden Fällen wird es immer zu einer Divergenz zweier Willensäußerungen kommen, bei der zu einem Zeitpunkt die Willensänderung vorausgesehen wurde. Im Beispiel des Odysseus ist es zum einen der Befehl zum Festbinden an den Mast in t1 und zum anderen der Befehl zum Losbinden von dem Mast in t2. Der Befehl in t1 wurde gerade deswegen gegeben, weil eine Willensänderung zum Zeitpunkt t2 bereits vorausgesehen wurde und deren Beachtlichkeit verhindert werden sollte. Ein 50 51 52
S. 74. 53
Feinberg, Harm to Self, S. 12 ff. Feinberg, in: Paternalism, S. 7. Schmolke, Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht, S. 24; Ohly, Volenti non fit iniura, Ebenso auch Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 30.
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Kap. 2: Schutz vor sich selbst durch Selbstpaternalismus
solcher Befehl würde aber nur dann Sinn ergeben, wenn grundsätzlich die Willensänderung im Zeitpunkt t2 vorrangig zu beachten wäre, durch den Befehl in t1 diese Vorrangregelung aber umgekehrt werden könnte. Deshalb ist zu klären, welcher der beiden divergierenden Willensäußerungen grundsätzlich Vorrang einzuräumen ist. Erst daraufhin soll untersucht werden, was sich an der Beurteilung ändert, wenn die Willensänderung antizipiert wurde. aa) Begründungsmodelle Vorrang des Zeitpunkts t1 Teilweise wird ein grundsätzlicher Vorrang der früheren Entscheidung mit Hilfe der Privatautonomie sowie des Gedankens der Freiheitsmaximierung zu begründen versucht. Doch können diese Argumente ebenso für die Begründung des Vorrangs der Willensänderung im Zeitpunkt t2 in Anspruch genommen werden. (1) Vorrang-Nachrangverhältnis mit Hilfe der Privatautonomie Die Unbeachtlichkeit der späteren Willensänderung im Zeitpunkt t2 und damit ein Vorrang des früheren Willens im Zeitpunkt t1 könnte grundsätzlich aus dem Recht des Betroffenen folgen, selbst autonome Entscheidungen zu treffen. Die Möglichkeit, selbst über zukünftige Lebensphasen zu bestimmen, um sich vor seinen eigenen antizipierten selbstschädigenden Entscheidungen zu schützen, könnte vom Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG erfasst sein.54 So basiert jeder Vertrag auf einer gegenseitigen Selbstbindung für die Zukunft; es ist gerade Ausdruck der Vertragsfreiheit, dass über die Institution des Vertrages (und dessen Sanktionierung durch die Rechtsordnung) eine Bindung im Zeitpunkt t1 erreicht wird, auf die der Vertragspartner vertrauen kann, und von der sich der Gebundene nicht jederzeit durch eine Willensänderung im Zeitpunkt t2 lösen kann. Durch diese Selbstbindung kann sich der Vertragspartner auf die Erbringung der versprochenen Leistung verlassen und ist deshalb bereit, in Vorleistung zu treten und damit einen Vertrauensvorschuss zu gewähren. Dadurch werden auch andere als Zug-um-Zug abzuwickelnde Verträge möglich.55 Andererseits erfolgt die Selbstbindung bei einem gegenseitigen Vertrag rein im Interesse des Vertragspartners, dessen Schutz das schlagende Argument dafür ist, dass die vertragliche Bindung bis zur Grenze der Sittenwidrigkeit akzeptiert wird. Eine Selbstbindung zu anderen Zwecken ist dem Gesetz fremd, was sich beispielsweise an der Regelung der Widerruflichkeit von Testamenten gem. §§ 2253 ff. BGB oder an der Einräumung von Widerrufsrechten zeigt. Vielmehr wird hieran erkennbar, dass auch die Willensänderung im Zeitpunkt t2 grundsätzlich ebenso Gewicht hat wie die Willensäußerung im Zeitpunkt t1.56 Letztlich führt aber der 54 55 56
Siehe dazu Kap. 2 D. I. 1. Wagner-von Papp, AcP 2005, 342 (352). Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 90 f.
B. Paternalismus in der Philosophie
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Versuch der Begründung eines Vorrang-Nachrangverhältnisses mit Hilfe der Privatautonomie zu einem philosophischen Problem, welches häufig als sog. Freiheitsparadoxon bezeichnet wird.57 Dieses besagt, dass unbeschränkte Freiheit die Tendenz hat, sich selbst aufzuheben.58 Räumt man nämlich der Willensäußerung im Zeitpunkt t1 den Vorrang ein, beschränkt man damit das Selbstbestimmungsrecht im späteren Zeitpunkt der Willensänderung t2. Sieht man dagegen die spätere Entscheidung als die maßgebliche an, beschränkt man das Selbstbestimmungsrecht in der früheren Entscheidungssituation. Unbeschränkte Freiheit würde auch die Möglichkeit der Beschränkung dieser Freiheit beinhalten.59 Das klassische Beispiel in diesem Kontext ist der Selbstversklavungsvertrag. Gebietet das Selbstbestimmungsrecht die Anerkennung eines Vertrages, durch den sich eine Person in die Sklaverei verkauft? Gestattet man der Person diese Freiheit bei Vertragsschluss, ist ihre Freiheit in jedem darauffolgenden Zeitpunkt beschränkt. Erkennt man diesen Vertrag nicht an, ist die Freiheit der Person bei Vertragsschluss eingeschränkt. Völlige Freiheit kann es in beiden Zeitpunkten nicht geben.60 Der Versuch, eine rechtfertigende Kraft der früheren Zustimmung aus dem Selbstbestimmungsrecht zu folgern, führt damit zu keinem Ergebnis.61 Die Befürworter des Vorrangs der späteren Entscheidung könnten dieses Argument nämlich ebenso für sich in Anspruch nehmen. (2) Variante der Freiheitsmaximierung Man könnte aber auch argumentieren, dass der Verlust an Freiheit durch den Gewinn an Selbstbestimmung wieder aufgewogen wird, den die Maßgeblichkeit der früheren Entscheidung mit sich bringt.62 Der Gedanke der Beschränkung der Freiheit zur Förderung von Freiheit stammt aus einem als kantianisch zu qualifizierenden Rechtfertigungsmodell, das unter anderem Dworkin vertritt: „Paternalism is justified only to preserve a wider range of freedom for the individual in question.“63 Danach ist eine Beschränkung der Freiheit zu einem Zeitpunkt dann legitim, wenn dadurch zu einem späteren Zeitpunkt ein größeres Maß an Freiheit erlangt wird, es also zu einer Freiheitsmaximierung kommt.64 Ein ähnliches Konzept zur Rechtfertigung von Paternalismus vertritt Kleinig. So sei ein harter Paternalismus auch dort gerechtfertigt,
57 Vgl. allgemein zum Freiheitsparadoxon Fikentscher, Die Freiheit und ihr Paradox, passim. 58 Ohly, Volenti non fit iniura, S. 72. 59 Wagner- von Papp, AcP 2005, 342 (350). 60 Wagner- von Papp, AcP 2005, 342 (351 f.). 61 Wagner- von Papp, AcP 2005, 342 (352). 62 Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 374 f. 63 Dworkin, in: Paternalism, S. 28; ähnlich auch Regan, in: Paternalism, S. 113, 117. 64 Vgl. zu diesem Rechtfertigungsmodell auch Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 52 ff.
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Kap. 2: Schutz vor sich selbst durch Selbstpaternalismus „wo unser Verhalten oder unsere Entscheidungen die eigenen langfristigen, stabilen und zentralen Lebensprojekte, Ansichten und Werte gefährden würden, weil wir im Moment des Verhaltens oder der Entscheidung aufgrund von Nachlässigkeit, Unreflektiertheit, Dummheit oder einer anderen auf einem Mangel an Selbstdisziplin gründenden Schwäche von diesen uns selbst äußerst wichtigen Langzeitpräferenzen zugunsten niederrangiger Wünsche abweichen würden.“65
In Bezug auf die Frage nach einer Begründung eines Vorrang-Nachrangverhältnisses der divergierenden Willensäußerungen ließe sich darauf basierend argumentieren, dass die Willensäußerung im Zeitpunkt t1 vorrangig zu beachten sei, weil so die Freiheit des Betroffenen auf ein Minimum reduziert werde, da in dieser früheren Entscheidung jeweils die Langzeitpräferenzen ausgedrückt werden, während es im Zeitpunkt t2 nur um eine Beachtlichkeit der Kurzzeitpräferenzen gehe. Allerdings ersetzt diese Theorie die autonome Gewichtung von Kurz- und Langzeitpräferenzen durch eine fremdbestimmte.66 So ließe sich ebenso argumentieren, dass es möglich sei, dass der Betroffene zugunsten seiner Kurzzeitpräferenzen bereit ist, auf seine Langzeitpräferenzen zu verzichten. Man stelle sich einen Raucher vor, der zugunsten seiner kurzzeitigen Befriedigung auf seine Langzeitpräferenz, Erhaltung der Gesundheit verzichtet. Es ließe sich mit dieser Begründung wiederum sowohl ein Vorrang der Willensäußerung im Zeitpunkt t1, als auch ein Vorrang der Willensänderung im Zeitpunkt t2 begründen. bb) Vorrang des Zeitpunkts t2 wegen besserer Informationen Letztlich ist es überzeugend, den grundsätzlichen Vorrang der Willensänderung aus der aktuelleren Informationsbasis zu folgern, die zum späteren Zeitpunkt t2 gegeben ist.67 So besteht bei zukunftsbezogenen Erklärungen immer die Besonderheit, dass die vorgestellte Situation nicht oder nicht wie angenommen eintreten kann bzw. dass sich weitere Umstände und/oder deren Bewertung durch den Erklärenden geändert haben könnten.68 Wie Hallich überzeugend argumentiert, können Menschen ihre Präferenzen und Entscheidungen abändern.69 So könne eine Person ihre vorherige Zustimmung dergestalt zurücknehmen, dass diese Rücknahme nicht weniger verbindlich sei als die vorhergehende Zustimmung und daher ein Handeln gegen die aktuellen Präferenzen der Person nicht mehr durch die vorherige Zustimmung gedeckt wäre.70 Gerade dann, wenn eine Entscheidungsänderung nicht antizipiert wurde, würde eine 65 Freie Übersetzung von Schmolke, Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht, S. 28 von Kleinig, Paternalism, S. 67 ff. 66 So Ohly, Volenti non fit iniura, S. 75. 67 Wagner-von Papp, AcP 2005, 342 (354 f.); Quante, Personales Leben und menschlicher Tod, S. 290. 68 Lipp, in: Handbuch der Vorsorgeverfügungen, S. 361 Rn. 40. 69 Hallich, ZphF 2011, 151 (159 f.). 70 Hallich, ZphF 2011, 151 (159 f.).
B. Paternalismus in der Philosophie
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Unbeachtlichkeit dieser Willensänderung zu Begründungsproblemen führen.71 Als Beispiel nennt Hallich einen Zeugen Jehovas, der vorab verlangt, ihm auch dann keine Bluttransfusion zu geben, wenn er in unmittelbarer Lebensgefahr schwebend darum bitten würde. Falls er zwischen diesen beiden Zeitpunkten seine Präferenzen ändere, etwa weil er seine religiösen Überzeugungen aufgegeben habe, eine Willensänderung also nach dieser Anweisung und vor der Behandlungssituation eintrete, könne ein Unterlassen der Bluttransfusion nicht auf die vorherige Anweisung gestützt werden.72 Eine Anpassung an die durch Zeitablauf hinzugewonnenen Informationen müsse daher für den Betroffenen stets möglich sein, da nur so die geänderten Umstände und Präferenzen angemessen vom Betroffenen mitberücksichtigt werden könnten.73 Vor allem, weil eine Willensänderung nicht vorausgesehen wurde, bestünde kein Grund, den Betroffenen zwingend an seiner vorherigen Erklärung festzuhalten, zumal es für den Einzelnen auch große Probleme bereiten dürfte, vorab schon alle relevanten zukünftigen Umstände zu antizipieren.74 Damit ist im Grundsatz von einem Vorrang der Willensänderung im Zeitpunkt t2 auszugehen. cc) Ausnahme bei Antizipation der Willensänderung Letztlich stellt sich aber die Frage, ob diesem Grundsatz auch dann noch zu folgen ist, wenn die Willensänderung explizit vorausgesehen worden ist und gerade deshalb die vorherige Zustimmung zu der paternalistischen Maßnahme gegeben wurde. Es wirkt intuitiv plausibel, eine paternalistische Maßnahme, deren Notwendigkeit bereits antizipiert wurde und der deshalb vorab zugestimmt wurde, eher zu legitimieren, als wenn der Betroffene eine mögliche Willensänderung nicht in Betracht gezogen hat. Ob eine paternalistische Intervention gerechtfertigt werden kann, wenn die Willensänderung bereits vorausgesehen wurde, wird teilweise von der Qualität der Willensänderung abhängig gemacht. Zur Verdeutlichung dieses Argumentationsmodells soll die Abwandlung der Sage des Odysseus und der Insel der Sirenen von Regan dienen: Im Rahmen dieser Erzählungsvariante ist der Gesang der Sirenen nicht unwiderstehlich, sondern einfach nur wunderschön. Das Schwimmen zur Insel der Sirenen ist zudem nicht tödlich, sondern zieht nur eine Gesundheitsverletzung nach 71
Hallich, ZphF 2011, 151 (160). Hallich, ZphF 2011, 151 (160). 73 Dies erinnert an die Grundsätze einer ergänzenden Vertragsauslegung; ebenso Wagnervon Papp, AcP 2005, 342 (354 f.); Quante, Personales Leben und menschlicher Tod, S. 290. 74 Dies zeige auch die empirische Forschung, Pope, UMKC Law Review 2005, 681 (691) m. w. N. 72
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Kap. 2: Schutz vor sich selbst durch Selbstpaternalismus
sich. Als Odysseus den Gesang der Sirenen hört, ist dieser viel schöner, als er ihn sich anfangs vorgestellt hat. Er möchte daher von seinen Matrosen vom Mast gebunden werden, weil für ihn der Gesang derart schön ist, dass er das Risiko für ihn wert ist, verletzt zu werden.75 Bei der Frage, ob die Matrosen nun gerechtfertigt wären, Odysseus am Mast hängen zu lassen, unterscheidet Regan, ob sich der Wille des Odysseus wirklich (vernunftgeleitet) geändert hat oder ob Odysseus nur der bereits vorhergesehenen Versuchung unterliegt.76 In der Abwandlung hätte sich demnach der wirkliche Wille von Odysseus verändert, da er nicht nur der Versuchung unterlag, sondern sich seine Bewertung der Gesamtumstände geändert hat. Die Matrosen wären demnach nicht gerechtfertigt gewesen, Odysseus am Mast hängen zu lassen. In der Originalfassung der Erzählung würde Odysseus dagegen durch den Gesang der Sirenen nur der Versuchung unterliegen, die er sich vorab genauso vorgestellt hat, sodass die Matrosen gerechtfertigt waren, ihn am Mast festgebunden zu lassen. Das Hauptproblem liegt hier jeweils in der Frage begründet, wie sich der wahre Wille feststellen lässt. Woher soll im Fall des Odysseus die Crew wissen, ob sich der wahre Wille des Odysseus geändert hat oder er nur der Versuchung nachgibt?77 Während Regan die Legitimation der Matrosen von der Qualität der Willensänderung abhängig macht, stellt VandeVeer hinsichtlich der rechtfertigenden Kraft einer vorherigen Zustimmung auf deren Qualität ab. So ist nach seiner Ansicht eine paternalistische Maßnahme des A gegenüber S nur gerechtfertigt, wenn: „1. (…) S has given currently operative valid consent to A to do X OR 2. S would validly consent to A’s doing X if a) S were aware of the relevant circumstances and b) S’s normal capacities for deliberation and choice were not impaired.“78
Nicht jede vorherige Zustimmung ist demnach imstande, eine paternalistische Maßnahme zu rechtfertigen, dies kann nach VandeVeer vielmehr nur ein „currently operative prior consent“.79 Diese Anforderungen erfüllt eine Zustimmung nur „when it is specific to the circumstances“.80 Bezogen auf den Fall von Odysseus sei diese
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Regan, in: Paternalism, S. 127 f. Auch Kleinig, Paternalism, S. 57, unterscheidet danach, ob sich nur der versuchungsgeleitete oder der wirkliche Wille des Betroffenen ändert: „Though there may be occasions on which the penalized or prevented behaviour expresses a merely episodic want, it may also turn out that the person’s settled wants have changed.“ 77 So auch VandeVeer, Paternalistic Intervention, S. 296. 78 VandeVeer, Paternalistic Intervention, S. 88. 79 Siehe zur Kritik Pope, UMKC Law Review 2005, 681 (688 ff.). 80 Ausführlich VandeVeer, Paternalistic Intervention, S. 294 ff.; ähnlich auch Woodward, in: Canadian Journal of Philosophy 1982, 67 (73): „(…) on a consent-based theory there must be (actual, expected, or hypothetical) consent to the specific kind of interference contemplated and not just a general recognition on the part of the subject of the desirability of the good which the interference is designed to protect.“ 76
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Anforderung erfüllt, da Odysseus vorab von der Göttin Circe über sämtliche relevanten Umstände aufgeklärt wurde, die der Gesang der Sirenen mit sich bringt. VandeVeer geht in seiner Argumentation aber sogar noch einen Schritt weiter. So seien die Matrosen sogar dann gerechtfertigt, Odysseus nicht zu befreien, wenn dieser unwiderruflich in diese Maßnahme eingewilligt habe, selbst wenn er seinen wirklichen Willen geändert hätte: „If Odysseus had earlier said ,bind me to the mast and do not release me no matter what I say or choose‘, Odysseus would have sanctioned restraint even if he were to change his mind.“81 (…) „My contention is that the crew acts permissibly in restraining Odysseus, if Odysseus, earlier, gave irrevocable consent to restraint – and even if he genuinely has changed his mind.“82
Wenn Odysseus dagegen gesagt hätte: Bindet mich an den Mast und lasst mich nicht mehr frei, außer ich habe meine Meinung darüber wirklich geändert, dann wäre bei einem Meinungswechsel die Crew nicht gerechtfertigt, Odysseus nicht zu befreien, da Odysseus seinen Willen zurückgenommen habe.83 Andererseits sei auch dann, wenn Odysseus seine Zustimmung zu der paternalistischen Maßnahme unwiderruflich abgegeben hätte, die Crew gerechtfertigt, Odysseus vom Mast zu binden. Mit anderen Worten ist nach VandeVeer die Crew bei Vorliegen einer unwiderruflichen Zustimmung sowohl gerechtfertigt, die Fesseln des Odysseus beizubehalten, als auch sie zu lösen.84 Gegen eine solche Argumentation wendet sich entschieden Hallich, nach dessen Ansicht selbst bei Fällen, in denen eine Präferenzänderung vorausgesehen wurde, sich auch die Absicht, sich gegen eine bereits vorausgesehene Präferenzäußerung zu verwahren, revidiert werden könne.85 So sei es unplausibel, eine Person an einmal getroffene Entscheidungen „auf Gedeih und Verderb“ zu binden.86 dd) Eigene Auffassung Letztlich ist es notwendig, diese widerstreitenden Interessenslagen in Ausgleich zu bringen. Wenn die spätere Willensänderung zum Zeitpunkt der Zustimmung bereits vorausgesehen wurde, stellt sich die Frage, weshalb diese spätere Willensänderung dann derart in der Bewertung überwiegen sollte, dass sie die ursprüngliche 81
VandeVeer, Paternalistic Intervention, S. 296. VandeVeer, Paternalistic Intervention, S. 297. 83 VandeVeer, Paternalistic Intervention, S. 297. 84 VandeVeer, Paternalistic Intervention, S. 297: „That they are „licensed“ to restrain him does not, however, entail that they would do wrong to give up their license; it may be permissible to untie Odysseus and permissible to keep him bound.“ 85 Hallich, ZphF 2011, 151 (160 f.). 86 Hallich, ZphF 2011, 151 (160 f.). 82
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Kap. 2: Schutz vor sich selbst durch Selbstpaternalismus
Zustimmung ganz außer Kraft setzen kann. Geht man nämlich von einem grundsätzlichen Vorrang der Willensänderung im Zeitpunkt t2 aufgrund der größeren Informationsbasis aus, liegen bei Vorsehen dieser Willensänderung, bereits zum Zeitpunkt der Zustimmung alle relevanten Informationen vor.87 Ein Vorrang aufgrund einer besseren Informationsbasis zum Zeitpunkt t2 besteht dann gerade nicht. Ein Ausgleich könnte darin liegen, dass eine Willensänderung aufgrund der Umstände, die vorab antizipiert wurden, gerade nicht die Willensäußerung im Zeitpunkt t2 außer Kraft setzen kann. Nur wenn Umstände bekannt werden, dass sich auch die Absicht geändert hat, die Willensänderung in t2 durch die vorherige Zustimmung für unbeachtlich zu erklären, ist wiederum der Willensänderung in t2 der Vorzug zu geben. Im Falle des Odysseus wären nach hier vertretener Ansicht die Matrosen gerechtfertigt, Odysseus am Mast hängen zu lassen, wenn dieser nur aufgrund der verlockenden Stimmen der Sirenen das Losbinden verlangt. Würden den Matrosen dagegen Umstände bekannt, wonach sich auch die Absicht des Odysseus geändert hat, von den Sirenen nicht getötet zu werden, wäre eine Rechtfertigung ausgeschlossen. Zwar ließe sich hier wiederum die Frage einwenden, woher die Crew wissen soll, ob sich der wahre Wille des Odysseus geändert hat oder er nur der Versuchung nachgibt.88 Doch handelt es sich bei diesem Lösungsweg letztlich um eine von Odysseus selbst gewählte Beweislastumkehr, die zu einem höheren Rechtfertigungsaufwand für die Crew führt, Odysseus vom Mast loszubinden. Der Nachweis des Vorliegens der Willensänderung, die vorher schon so antizipiert wurde, fällt noch leicht. Dagegen Umstände nachzuweisen, die die Erkenntnis stützen, dass Odysseus auch seine Absicht darüber geändert haben könnte, die Willensänderung für unbeachtlich zu erklären, erfordert einen höheren Begründungsaufwand – ist letztlich aber nicht unmöglich. Man könnte zwar befürchten, dass die Matrosen so zu einem Automatismus dahingehend übergehen könnten, Odysseus einfach immer am Mast festgebunden zu lassen, doch ist dies aufgrund der autonom getroffenen Anweisung nach hier vertretener Auffassung vorzugswürdiger, als wenn der Wunsch des Odysseus umgangen werden dürfte. Die antizipierte Ausübung von Entscheidungsgewalt birgt nun mal Risiken und bringt große Verantwortung mit sich. Im Ergebnis kommt damit im Grundsatz der Willensänderung im Zeitpunkt t2 aufgrund der größeren Informationsbasis der Vorrang zu; ausnahmsweise besteht aber dann ein Vorrang der Willensäußerung im Zeitpunkt t1, wenn die Willensänderung bereits antizipiert wurde und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sich auch die Absicht darüber, die Willensänderung vorab für unbeachtlich zu erklären, geändert hat.
87 88
Ebenso Wagner-von Papp, AcP 2005, 342 (355 f.). VandeVeer, Paternalistic Intervention, S. 296.
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c) Legitimation durch die hypothetische Zustimmung des Betroffenen Andere Rechtfertigungsmodelle beziehen sich nicht auf eine vorherige, nachträgliche oder zukünftige Zustimmung des Betroffenen, sondern auf die Konzeption einer hypothetischen Zustimmung einer vollständig rational agierenden Person.89 Nach der bekanntesten Konzeption Rawls erfolgt die Zustimmung einer Person in ihrem „fiktiven Urzustand“90. Eine paternalistische Intervention wäre dann nicht gerechtfertigt, wenn die Person faktisch zugestimmt hat. Es kommt nur darauf an, dass sie unter bestimmten idealen Bedingungen zustimmen würde.91 Problematisch an derartigen Rechtfertigungsmodellen ist jeweils die Frage, von welchem Maßstab an Moral oder Klugheit auszugehen ist, damit von einer rationalen Entscheidung gesprochen werden kann.92 Es besteht die Gefahr, dem Betroffenen einen Rationalitätsstandard aufzuerlegen, der nicht seinen eigenen Präferenzen entspricht.93 Als Beispiel sei wieder der Zeuge Jehovas genannt, der aus einer religiösen Überzeugung auf eine Bluttransfusion verzichtet. Aus der Sicht eines objektiven Beobachters mag ein solcher Wunsch irrational und unvernünftig erscheinen, aus Sicht des Betroffenen verhält sich dies umgekehrt.94 Hallich kritisiert an einer solchen Rechtfertigung zudem, dass ein solches Modell „mit der problematischen Konstruktion eines ,höheren Selbst‘ verbunden sei, dessen ,eigentliche‘ Präferenzen gegen die unmittelbar […] geäußerten Präferenzen zur Geltung gebracht werden müssten.“95 Will man eine paternalistische Maßnahme aus Respekt der Autonomie des Betroffenen rechtfertigen, ist letztlich eine tatsächliche Zustimmung vonnöten und eine hypothetische Zustimmung nicht ausreichend.96 d) Legitimation durch eine (antizipierte) nachträgliche Zustimmung des Betroffenen Teilweise wird sich zur Rechtfertigung auf eine (antizipierte) nachträgliche Zustimmung gestützt.
89 Vgl. dazu auch Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 31 ff.; Drerup, Paternalismus, S. 352 ff.; Pope, UMKC Law Review 2005, 681 (698 ff.); Hallich, ZphF 2011, 151 (161 ff.); Giesinger, Pädagogischer Paternalismus, S. 127 ff. 90 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 280 ff. 91 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 280 ff.; zur Kritik auch Giesinger, Pädagogischer Paternalismus, S. 127 ff. 92 Drerup, Paternalismus, S. 352. 93 Giesinger, Pädagogischer Paternalismus, S. 128; Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 32; Hallich, ZphF 2011, 151 (162). 94 Hallich, ZphF 2011, 151 (162). 95 Hallich, ZphF 2011, 151 (162). 96 Ebenso Giesinger, Pädagogischer Paternalismus, S. 128.
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Kap. 2: Schutz vor sich selbst durch Selbstpaternalismus
Das typische Beispiel einer erhofften nachträglichen Zustimmung ist die Kindererziehung. So führen Eltern an ihren Kindern paternalistische Maßnahmen in der Erwartung durch, dass das Kind diese Interventionen im Erwachsenenalter für gerechtfertigt hält, wenn nicht gar als der eigenen Entwicklung förderlich.97 Problematisch ist dies aber dann, wenn aufgrund unvorhergesehener Ereignisse eine nachträgliche Zustimmung nicht mehr erfolgen kann. Wenn beispielsweise die paternalisierte Person vorzeitig stirbt, wäre ihre tatsächliche Zustimmung nie mehr einzuholen, womit die paternalistische Maßnahme ungerechtfertigt bliebe.98 Insbesondere wird aber gegen Modelle einer zukünftigen Zustimmung eingewendet, dass durch die paternalistische Maßnahme selbst die Präferenzen des Betroffenen hin zu einer späteren Zustimmung manipuliert werden könnten.99 Insbesondere bei der Erziehung von Kindern könnten Eltern darauf hinwirken, dass ihr Kind später gewisse paternalistische Maßnahmen befürwortet.100 Aus diesem Grund wird teilweise nicht auf eine tatsächliche, sondern auf eine als wahrscheinlich antizipierte nachträgliche Zustimmung des Betroffenen abgestellt.101 Ein überzeugendes Indiz, dass der Betroffene der in Frage stehenden Maßnahme zustimmen wird, kann nach Hallich in der vorherigen Zustimmung des Betroffenen liegen.102 Letztlich nähert sich dieses Rechtfertigungsmodell stark an das Modell der hypothetischen Zustimmung an. Da, nach hier vertretener Auffassung, letztlich aber aus Respekt vor der Autonomie des Betroffenen höchstens eine tatsächliche, vorherige Zustimmung eine paternalistische Maßnahme rechtfertigen kann, ist auch das Modell der antizipierten nachträglichen Zustimmung abzulehnen. 97 Vgl. dazu Dworkin, in: Paternalism, S. 28: „Parental paternalism may be thought of as a wager on children’s subsequent recognition of the wisdom of the restrictions. There is emphasis on what could be called future-oriented consent – on what children will come to welcome, rather than on what they do welcome.“ 98 Hallich, ZphF 2011, 151 (164); Giesinger, Pädagogischer Paternalismus, S. 130. 99 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 31; Drerup, Paternalismus, S. 347 f.; Giesinger, Pädagogischer Paternalismus, S. 130; Hallich, ZphF 2011, 151 (164); vgl. dazu auch Archard, The Journal of Value Inquiry 1993, 341 (342): „The main worry some have had about allowing that paternalism might be justified by subsequent consent is that the paternalism could create that very consent. This is the problem of self-justifying paternalism, instances of paternalistic behavior which are causally sufficient for a change of will such that the behavior is subsequently consented to by the object of the behavior.“ 100 Carter, Canadian Journal of Philosophy 1977, 133 (137): „(…) (T)hose paternalistic measures directed towards his child-self which an adult comes to approve of, will depend in part on what beliefs and attitudes his parents attempted to instill, and on how successful they were in doing so.“ 101 Hallich, ZphF 2011, 151 (163 ff.). 102 Hallich, ZphF 2011, 151 (165 ff.), nach dessen Ansicht eine vorherige Zustimmung selbst gerade nicht ausreichend sei, eine paternalistische Intervention zu legitimieren. Vielmehr wären seiner Ansicht nach die Matrosen auch gerechtfertigt gewesen, wenn Odysseus keinen dementsprechenden Befehl vorab gegeben hätte, die Matrosen aber seine nachträgliche Zustimmung zu der Maßnahme als wahrscheinlich hätten antizipieren können.
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III. Zwischenergebnis Letztlich ist festzuhalten, dass eine vorherige Zustimmung des Betroffenen ein Vorliegen von Paternalismus gerade nicht ausschließt. Vielmehr sind auch derartige Maßnahmen gesondert rechtfertigungsbedürftig. Zwar vermag im Grundsatz eine vorherige Zustimmung alleine eine paternalistische Maßnahme nicht zu rechtfertigen, da der Willensänderung im Zeitpunkt t2 aufgrund der größeren Informationsbasis der Vorrang einzuräumen ist. Hat allerdings der Betroffene diese Willensänderung antizipiert und liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sich auch seine Absicht geändert hat, sich der Willensänderung zu verwehren, vermag eine derartige vorherige Zustimmung eine paternalistische Maßnahme ausnahmsweise doch zu rechtfertigen. Dieses Ergebnis ist letztlich für die Beurteilung der Legitimität von selbstpaternalistischen Maßnahmen besonders relevant. Wenn nämlich ein paternalistisches Handeln aufgrund einer vorherigen Zustimmung gerechtfertigt werden kann, muss im Umkehrschluss auch die Abgabe einer derartigen Zustimmung möglich sein.
C. Selbstpaternalismus in der Philosophie Ebenso wie in der philosophischen Debatte über Paternalismus ist bereits der Begriff des Selbstpaternalismus Gegenstand der Diskussion. Notwendig ist es deshalb, den Begriff zunächst einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen.
I. Kritik des Begriffs des Selbstpaternalismus Eine paternalistische Maßnahme zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass eine Freiheitsbeschränkung durch eine andere Person (oder den Staat103) vorgenommen wird. So liegt nach allgemeiner Definition104 eine paternalistische Handlung dann vor, wenn eine paternalisierende Partei (X) die Freiheit einer anderen Person (Y) ohne ihre Zustimmung einschränkt, um ihr Wohl zu fördern. Da es aus diesem Grund bereits „intuitiv plausibel“ sei, dass eine Person nur eine andere Person, nicht aber sich selbst paternalisieren könne, scheide der Begriff „Selbstpaternalismus“ als Oberbegriff für Handlungen eines Individuums, die zukünftige Handlungsfreiheiten zu seinem eigenen Wohl beschränken, bereits sprachlogisch aus.105 So werde eine Freiheitsbeschränkung erst in einer aktuellen Eingriffssituation 103
Geht es um paternalistische Eingriffe rechtssetzender Instanzen, spricht man von Rechtspaternalismus, Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 8. 104 Siehe dazu Kap. 2 B. I. 1. 105 Hallich, ZphF 2011, 151 (153); Quante, Personales Leben und menschlicher Tod, S. 289 f.
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Kap. 2: Schutz vor sich selbst durch Selbstpaternalismus
wirksam, könne aber nicht, wie die Bezeichnung „Selbst-Paternalisierung“ nahelege, schon durch die Vorausverfügung bewirkt werden.106 Man paternalisiere, indem man die Freiheit einschränke, aber nicht, indem man eine Freiheitsbeschränkung für die Zukunft verfüge.107 Nur dann, wenn man von einem Multiple-Selves-Ansatz ausgehe, der voraussetze, dass das gegenwärtige und das zukünftige Selbst als zwei verschiedene Personen angesehen werden, sei ein Selbstpaternalisieren begrifflich überhaupt möglich.108 Zudem werde durch die Verwendung des Begriffs Selbtpaternalismus derjenige der Paternalisierung so weit gedehnt, dass er „nahezu jede Form der Selbstdisziplinierung und vorausschauenden Formung von Präferenzen“ umfassen würde.109 Es stellt sich daher zunächst die Frage, ob ein Paternalismus tatsächlich nur im Zwei-Parteien-Verhältnis denkbar ist und damit ein Selbstpaternalismus begrifflich ausscheidet sowie ob die Freiheitsbeschränkung, auf die ein „Selbstpaternalisieren“ abzielt, tatsächlich erst in der Zukunft wirkt. 1. Selbstpaternalismus als mittelbarer Paternalismus Möglicherweise könnte man einen Selbstpaternalismus als einen mittelbaren Paternalismus qualifizieren. Dass es verschiedene Formen paternalistischer Handlungen gibt, wurde bereits erörtert.110 So zeigt die Einteilung paternalistischer Handlungen in einen direkten und indirekten Paternalismus, dass ein Paternalismus grundsätzlich auch im DreiParteien-Verhältnis möglich sein kann. Als Beispiel wurde hier bereits das Verbot von Zigarettenwerbung genannt, bei dem zwar in die Rechte der Tabakhersteller eingegriffen wird, die Maßnahme aber dem Wohl der Raucher dienen soll. Um einen Selbstpaternalismus als mittelbaren Paternalismus zu begründen, stelle man sich nun zunächst im Drei-Personen-Verhältnis folgende Fallkonstellation vor: A weist B dazu an, die Freiheit des C paternalistisch intendiert einzuschränken. B erfüllt die üblichen Definitionsmerkmale einer direkten paternalistischen Maßnahme gegenüber C. Die wesentlich interessantere Frage ist aber, ob auch A gegenüber C paternalistisch handelt. Unmittelbar nimmt er zumindest keinen Ein-
106
Hallich, ZphF 2011, 151 (153). Hallich, ZphF 2011, 151 (153). 108 Quante, Personales Leben und menschlicher Tod, S. 289 m. w. N.; vgl. auch ausführlich zu Überlegungen einer Diskontinuität der Persönlichkeit Kap. 3 C. III. 1. a) aa). 109 Hallich, ZphF 2011, 151 (153); zustimmend Drerup, Paternalismus, S. 344 f. 110 Vgl. zu den verschiedenen Formen auch ausführlich Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 15 ff.; Dworkin, „Paternalism“, The Stanford Encyclopedia of Philosophy, abrufbar unter https://plato.stanford.edu/entries/paternalism/#WeakVsStroPate (zuletzt aufgerufen am 17.10.2017). 107
C. Selbstpaternalismus in der Philosophie
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griff gegenüber C vor. Allerdings wirkt er auf B ein, um diesen zu einer paternalistischen Maßnahme gegenüber C zu verleiten. Die Konstellation erinnert an die Konstruktion der mittelbaren Täterschaft im Strafrecht gem. § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB, wonach auch als Täter bestraft wird, wer die Straftat durch einen anderen begeht. Dabei ist entscheidend, unter welchen Voraussetzungen dem mittelbaren Täter das Handeln des Tatmittlers zugerechnet werden kann. Dies ist nach allgemeiner Auffassung dann der Fall, wenn beim Vordermann ein Strafbarkeitsdefizit vorliegt, das ihm „Werkzeugqualität“ verleiht und das der Hintermann planvoll lenkend für seine Zwecke ausnutzt, sodass der tatbestandliche Erfolg sich als sein Werk darstellt.111 Im hiesigen Fall ließe sich argumentieren, dass sich der Rechtsgedanke der mittelbaren Täterschaft übertragen ließe, da sich der A des B als sein menschliches Werkzeug bedient, um den Eingriff an C vorzunehmen und somit in Form der Anweisung ein kausaler „Tatbeitrag“ des Avorliegt, sodass auch ihm die Maßnahme des C zuzurechnen wäre. Problematisch ist aber die Begründung einer unterlegenen Stellung des Tatmittlers aufgrund eines Defekts (Strafbarkeitsdefizits). So ist im Beispiel von einer „voll verantwortlichen“ paternalistischen Maßnahme des B gegenüber C auszugehen. Doch wurden auch im Strafrecht nicht wenige Ausnahmen vom Erfordernis des Strafbarkeitsmangels entwickelt, wenn der Vordermann selbst strafrechtlich voll verantwortlich ist. Man denke nur an die Willensherrschaft bei organisierten Machtapparaten und insbesondere an einen vermeidbaren Verbotsirrtum. Die Annahme eines durch den Hintermann hervorgerufenen Verbotsirrtums dahingehend, dass die paternalistische Maßnahme gerechtfertigt ist, ließe sich sogar konstruieren. Dann müsste der A den B von der Legitimität der Maßnahme überzeugen. Überträgt man diese Überlegungen auf ein Zwei-Personen-Verhältnis, nämlich auf A, der den B bittet, seine künftige Freiheit zu seinem eigenen Wohl einzuschränken, wäre es ebenso A, der dann eben durch B sich selbst, mittelbar paternalisiert. Gerade wenn die Anweisung den Zweck hat, sich vor sich selbst zu schützen, ist die Freiheit des A unmittelbar mit der Abgabe der Anweisung gefährdet. Der A will sich selbst gerade vor einer unerwünschten Verhaltensweise schützen, die in der Zukunft gewählt werden würde, aus heutiger Sicht jedoch nicht optimal erscheint. Letztlich ist damit eine selbstpaternalistische Handlung als mittelbare paternalistische Handlung gegenüber sich selbst einzuordnen, sodass nicht zwingend ein Zwei-Personen-Verhältnis vonnöten ist um von einer paternalistischen Maßnahme ausgehen zu können.
111
Kudlich, in: Beck-OK StGB, § 25 Rn. 20.
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Kap. 2: Schutz vor sich selbst durch Selbstpaternalismus
2. Unmittelbare Freiheitsbeschränkung Am Begriff Selbstpaternalismus wird ferner kritisiert, dass im Rahmen einer selbstpaternalistischen Maßnahme nur eine Freiheitseinschränkung für die Zukunft verfügt werden könne, bei einer „richtigen“ paternalistischen Maßnahme es aber unmittelbar zu einer Freiheitsbeschränkung komme.112 Dem könnte man zustimmen, wenn man darauf abstellt, dass die Freiheitsbeschränkung des C bzw. des A erst unmittelbar von B verursacht wird. Kongruent zu der strafrechtlichen Diskussion über das unmittelbare Ansetzen bei mittelbarer Täterschaft ist es im hier zu besprechenden Fall aber so, dass die Freiheit des C bzw. des A bereits durch die Abgabe der Erklärung von A an B unmittelbar eingeschränkt wird. In diesem Moment gibt A das Geschehen aus der Hand und gefährdet das Rechtsgut, nämlich die Freiheit des C bzw. seine eigene Freiheit, unmittelbar. Eine weitere Einflussmöglichkeit soll gerade verhindert werden. Doch selbst wenn man nicht von einer unmittelbaren Freiheitseinschränkung ausgehen würde, ist dies nicht zwingend relevant für die Einordnung als paternalistisch. Eine solche Einschränkung würde nämlich viele paternalistische Konstellationen treffen, man denke nur an Wartefristen oder cooling off periods.113 3. Gerechtfertigter Paternalismus Letztlich stellt sich noch die Frage, ob es für die Einordnung einer Maßnahme als selbstpaternalistisch darauf ankommen könnte, dass die Maßnahme der angewiesenen Person, hier des B, seinerseits aufgrund der vorherigen Zustimmung gerechtfertigt ist.114 Dies ist zu verneinen, denn nur, weil es sich um einen Fall von gerechtfertigtem Paternalismus handeln würde, würde sich nichts daran ändern, dass die Maßnahme als paternalistisch zu qualifizieren ist, und damit auch die Anweisung des A an den B sich selbst gegenüber, als mittelbar paternalistisch einzustufen wäre. 4. Zwischenergebnis Letztlich ist damit festzuhalten, dass auch eine (selbst-)paternalistische Maßnahme mittelbar gegenüber sich selbst denkbar ist und deshalb der Begriff „Selbstpaternalismus“ durch die Zwischenschaltung eines weiteren Akteurs nicht als von vornherein „intuitiv plausibel“115 ausscheidet.
112 113 114 115
Hallich, ZphF 2011, 151 (153). Drerup, Paternalismus, S. 344 f. Siehe zu den Voraussetzungen Kap. 2 B. II. 2. b). So aber Hallich, ZphF 2011, 151 (153).
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Zwar besteht tatsächlich die Gefahr, dass die Fallgruppen des Selbstpaternalismus überdehnt werden116, weshalb es umso wichtiger ist, möglichst klare Begriffsmerkmale der Definition zugrunde zu legen. Letztlich ist, auch weil sich der Begriff für den besprochenen Themenkomplex in rechtswissenschaftlichen Abhandlungen zu etablieren beginnt117, an ihm festzuhalten. Unter Paternalismus wird damit die Freiheitsbeschränkung durch Dritte, unter Selbstpaternalismus die mittelbare eigene Freiheitsbeschränkung durch die Zwischenschaltung eines weiteren Akteurs verstanden.
II. Definitionsmerkmale des Selbstpaternalismus Im Folgenden sollen als selbstpaternalistisch solche Handlungen einer Person bezeichnet werden, die dem Zweck dienen, andere Personen zur Vornahme von freiheitsbeschränkenden (paternalistischen) Maßnahmen an ihr zu legitimieren oder zu verpflichten118, um antizipierte selbstschädigende Verhaltensweisen zur Förderung des eigenen Wohls zu verhindern. 1. Keine reine Selbstreglementierung Abzugrenzen vom Begriff des Selbstpaternalismus sind bloße Selbstreglementierungen, die ausschließlich dem Zweck dienen, sich selbst vergangene Zwecksetzungen und Lebenspläne in zukünftigen Lebensphasen aufzuerlegen, welche von
116
Hallich, ZphF 2011, 151 (153); zustimmend Drerup, Paternalismus, S. 344 f. Wagner-von Papp, AcP 2005, 342 (343 ff.); Schmolke, Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht, S. 34 Fn. 166; Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 90 („paternalistischer Selbstschutz“); Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 375 („kollektiver Selbstpaternalismus“); Ohly, Volenti non fit iniura, S. 76. 118 Vgl. zum Begriff des Selbstpaternalismus auch Kuklin, Self-Paternalism in the Marketplace, S. 655: „Basiscally, self-paternalism is the prior restraint of oneself for one’s own good, whereas paternalism is the restraint of another person for her own good.“; Elster, Ulysses and the Sirenes, S. 39 ff. diskutiert fünf verschiedene Kriterien, die eine selbstpaternalistische Maßnahme kennzeichnen: (1) „To bind oneself is to carry out a certain decision at time t2, in order to increase the probability that one will carry out another decision at time t2. (2) If the act at the earlier time has the effect of inducing a change in the set of options that will be available at the later time, then this does not count as binding oneself if the new feasible set includes the old one. (3) The effect of carrying out the decision at t1, must be to set up some causal process in the external world. (4) The resistance against carrying out the decision at t1, must be smaller than the resistance that would have opposed the carrying out of the decision at t2, had the decision at t1 not intervened. (5) The act of binding oneself must be an act of commission, not of omission.“ 117
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Kap. 2: Schutz vor sich selbst durch Selbstpaternalismus
der Rechtsordnung gerade nicht erwünscht sind119, was sich beispielweise an der Regelung der Widerruflichkeit von Testamenten in den §§ 2253 ff. BGB zeigt. Dies wird dadurch erreicht, dass für das Vorliegen einer selbstpaternalistischen Handlung zu fordern ist, dass diese Handlung eine andere Person zur Vornahme von paternalistischen Maßnahmen legitimieren oder verpflichten muss. Das Mittel einer selbstpaternalistischen Handlung ist damit in einer Selbstbindung zu suchen. Durch eine Legitimation zur Vornahme einer paternalistischen Maßnahme soll der anderen Person die Vornahme einer tatsächlichen Handlung im eigenen Wirkungskreis erlaubt werden:120 Nämlich die Umsetzung des antizipiert erklärten Willens, welcher der anderen Person gerade aufgrund des zum Zeitpunkt des Eingriffs entgegenstehenden aktuellen Willens verwehrt wäre, sodass deren Einwirkungsbefugnis erweitert wird. Wenn ein Handeln einer anderen Person entgegen dem aktuellen Willen des Betroffenen also nicht gerechtfertigt wäre, kann eine Rechtfertigung durch eine als Legitimation ausgestaltete selbstpaternalistische Maßnahme erfolgen. Eine als Legitimation ausgestaltete selbstpaternalistische Maßnahme soll im Folgenden als Odysseus-Anweisung bezeichnet werden.121 Daneben kann mit einer selbstpaternalistischen Maßnahme ein Dritter auch zu der Vornahme einer paternalistischen Handlung verpflichtet werden.122 Eine solche Verpflichtung kann dabei nur im Einvernehmen mit der verpflichteten Person erfolgen. Eine als Verpflichtung einer anderen Person ausgestaltete selbstpaternalistische Maßnahme soll im Folgenden als Odysseus-Vertrag bezeichnet werden. Letztlich liegt das wesentliche Abgrenzungskriterium der selbstpaternalistischen Handlung zu reinen Selbstreglementierungen in der Verbindlichkeit der Maßnahme. 2. Verhinderung antizipierter selbstschädigender Verhaltensweisen Der Zweck einer selbstpaternalistischen Handlung ist die Verhinderung zukünftiger selbstschädigender Verhaltensweisen. Der Begriff der Selbstschädigung ist dabei weit zu verstehen. Maßgeblich ist nur, ob der Betroffene angesichts der ihm zu Verfügung stehenden Entscheidungsmöglichkeiten aus seiner Sicht eine Alternative wählt, die sein Wohl weniger fördert oder wahrt als eine andere.123
119 120
II. 121
Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 90. Siehe zu Begriff und Rechtsnatur der Odysseus-Anweisung ausführlich Kap. 3 B. I. und
Siehe dazu ausführlich Kap. 3 B. Siehe zum Odysseus-Vertrag ausführlich Kap. 4 B. 123 So zum Begriff paternalistischer Maßnahmen, Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 11. 122
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Unschädlich ist zudem, wenn die Verhinderung zukünftiger selbstschädigender Verhaltensweisen nicht der Hauptzweck der Maßnahme ist.124 Gerade bei selbstpaternalistischen Handlungen im medizinischen Bereich liegt der Hauptzweck oft im Schutz vor unerwünschten Wertentscheidungen Dritter. 3. Förderung des eigenen Wohls Während der Zweck einer paternalistischen Handlung im Schutz des Wohls eines anderen liegt, erscheint es als sprachlich logische Konsequenz, dass eine selbstpaternalistische Handlung dem eigenen Wohl dienen muss. Im Unterschied zu einer klassischen paternalistischen Handlung kann beim Selbstpaternalismus die Handlung zudem nur auf das künftige Wohl gerichtet sein. Eine Person bindet sich selbst zum Zeitpunkt t1, um in einem in der Zukunft liegenden Zeitpunkt t2 einer Handlungsalternative folgen zu müssen, die ihrem selbst definierten Wohl dient. Banales Beispiel hierfür ist ein Raucher, der im Zeitpunkt t1 beschließt das Rauchen aufzugeben und dafür seine Zigaretten entsorgt, um im Zeitpunkt t2 standhaft zu bleiben. Er definiert im Zeitpunkt t1 selbst sein Wohl, hier also eine bessere Gesundheit, welches er im Zeitpunkt t2 erhalten will. Fraglich ist aber, wie es zu beurteilen wäre, wenn sich der Raucher nach einem ergebnislosen Entzug im Zeitpunkt t1 vornimmt, im Zeitpunkt t2 nicht erneut mit dem Rauchen aufzuhören, da ihm die mit dem Rauchstopp verbundene nervöse Unruhe als seinem Wohl abträglich erscheint und er dieses Gefühl unbedingt vermeiden will. Subjektives und objektives Wohl fallen also auseinander. In der Paternalismus-Diskussion tendiert man dazu, einen subjektiven Wohlergehensbegriff den Betrachtungen zugrunde zu legen, denn ein objektiver Begriff birgt die Gefahr, dass dem Betroffenen fremde Wertvorstellungen unter dem Deckmantel der Fürsorge aufgezwungen werden.125 Ausschlaggebend wäre dann nämlich nur, was der Paternalisierende unter Wohl versteht, nicht eine möglicherweise vom Betroffenen gegenteilige Auffassung.126 Im Falle einer selbstpaternalistischen Handlung wird das objektive und subjektive Wohlergehen meist zusammenfallen, jedenfalls wird die Handlung immer dem subjektiven Wohl entsprechen. Eine Handlung, die ausschließlich dem objektiven Wohl entspricht, ist kaum denkbar, da der Betroffene selbst paternalisiert. Selbstschutz zur Förderung des eigenen Wohles erlaubt es, den Begriff des Wohles möglichst weit zu verstehen.127 Es soll sämtliche Belange einer Einzelperson erfassen, die nach ihrer eigenen Vorstellung schützens- oder förderungswürdig sind. 124 Ebenso zum Begriff paternalistischer Maßnahmen, Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 14. 125 Hallich, ZphF 2011, 151 (158). 126 Hallich, ZphF 2011, 151 (158): Wenn der Begriff von Wohl (vorgeblich) objektiv wäre, „wäre er anfällig für ideologische Okkupierungen“; so auch Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 12 f. 127 Ebenso zum Begriff paternalistischer Maßnahmen, Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 12.
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4. Nicht berücksichtigte Merkmale Teilweise wird von einer selbstpaternalistischen Handlung nur dann ausgegangen, wenn sich die Verfügung auf vorausgesehene Situationen bezieht, in denen Entscheidungsunfähigkeit besteht.128 Je nachdem, ob es sich um eine rechtsgeschäftliche Handlung handelt, müsste dann Geschäftsunfähigkeit oder Einwilligungsunfähigkeit in dem Zeitpunkt vorliegen, für den der Selbstpaternalismus wirken soll. Dieses Kriterium soll an dieser Stelle für die Begriffsdefinition aber abgelehnt werden, da je nach Inhalt der Selbstschutzkonstruktion geklärt werden muss, ob diese nicht gerade der Unsicherheit über das Vorliegen von Entscheidungsfähigkeit entgegenwirken soll. Zudem sind Fälle denkbar, in denen die Grenzziehung zwischen Entscheidungsfähigkeit und Entscheidungsunfähigkeit besonders schwierig ist. Da aber bei bestehender Entscheidungsunfähigkeit die Aufhebungsbefugnis des Betroffenen ohnehin näherer Erörterung bedarf, ist ein solches Kriterium ungeeignet für die Begriffsbestimmung.129
D. Selbstpaternalismus als Rechtsproblem I. Verfassungsrechtliche Dimension des Selbstpaternalismus Nach der erarbeiteten Definition von Selbstpaternalismus werden darunter Handlungen einer Person bezeichnet, die dem Zweck dienen, andere Personen zur Vornahme von freiheitsbeschränkenden (paternalistischen) Maßnahmen an ihr zu legitimieren oder zu verpflichten, um antizipierte selbstschädigende Verhaltensweisen zur Förderung des eigenen Wohls zu verhindern. Fraglich ist aber, ob eine solche Vorgehensweise überhaupt verfassungsrechtlich zu rechtfertigen ist oder ob nicht aus einer Schutzpflicht des Staates ein Grundrechtsschutz des Grundrechtsträgers gegen sich selbst, hier gegen seine eigenen, früher verantwortlich getroffenen Entscheidungen, anzunehmen ist. Damit steht in Fällen von Selbstpaternalismus das Verhältnis zwischen der Selbstbestimmung bzw. der Vertragsfreiheit des Betroffenen und dem Schutz seiner Rechtsgüter vor den nachteiligen Folgen seiner eigenen Entscheidung im Vordergrund der verfassungsrechtlichen Problematik.130
128 Schöne-Seifert, Grundlagen der Medizinethik, S. 54; Gremmen/Widdershoven/Beekmam/Zuijderhoudt/Sevenhuijsen, Med Ethics 2008, 77 (77). 129 Vgl. hierzu ausführlich Davis, Kennedy Inst Ethics J. 2008, 87 (87 ff.), der zwischen parity und disparity self-binding oder Ulysses contracts differenziert, und sich damit insbesondere an der Rolle der Entscheidungsfähigkeit bei der Beurteilung der Rechtfertigung der Durchsetzung einer derartigen Selbstbindung orientiert. 130 Ebenso in Bezug auf die Einwilligung Ohly, Volenti non fit iniura, S. 87.
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1. Selbstpaternalismus als grundrechtlich geschütztes Verhalten Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet die allgemeine Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne131: „Geschützt ist damit nicht nur ein begrenzter Bereich der Persönlichkeitsentfaltung, sondern jede Form menschlichen Handelns ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht der Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt.“132 Damit fällt auch das Recht selbstpaternalistische Handlungen durchzuführen, soweit nicht speziellere Grundrechte einschlägig sind133, grundsätzlich in den Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG. Soll eine andere Person zur Vornahme einer paternalistischen Maßnahme verpflichtet werden, um antizipierte selbstschädigende Verhaltensweisen zur Förderung des eigenen Wohls zu verhindern, ist für dieses Verhalten zudem an die Vertragsfreiheit als besondere Ausprägung der allgemeinen Handlungsfreiheit zu denken.134 Ziel der Vertragsfreiheit ist die Umsetzung von Privatautonomie als Konkretisierung der Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben.135 Sie umfasst sowohl den Abschluss, die Gestaltung, als auch die inhaltliche Änderung von Verträgen und schützt aus abwehrrechtlicher Perspektive vor staatlichen Vorgaben.136 Zur Gewährleistung der Vertragsfreiheit als Institutsgarantie muss der Staat die rechtlichen Möglichkeiten zum Abschluss von Verträgen bereitstellen, da sonst als natürliche Freiheit nur die Möglichkeit bestünde, Vereinbarungen zu treffen, denen keine rechtliche Bindungskraft zukäme.137 Daneben muss der Staat auch auf das tatsächliche Bestehen der Vertragsfreiheit hinwirken, was voraussetzt, dass die Bedingungen freier Selbstbestimmung gegeben sind. So muss bei einem Kräfteungleichgewicht zwischen Privaten durch geeignete Regelungen verhindert werden, dass Verträge zu einem Instrument der Fremdbestimmung werden, um so einen umfassenden Grundrechtsschutz zu gewährleisten.138 Geht es bei einer selbstpaternalistischen Maßnahme um die individuelle Selbstbestimmung hinsichtlich der engeren Persönlichkeitssphäre des Einzelnen, ist 131 St. Rspr. seit BVerfG, NJW 1957, 297 (297), NZA 1987, 347 (347), NJW 1989, 2525 (2525). 132 BVerfG, NJW 1989, 2525 (2525). 133 BVerfGE 9, 73 (77); 30, 292 (336); Murswiek, in: Sachs GG, Art. 2 Rn. 66; Dreier, in: Dreier GG, Art. 2 I Rn. 28; Jarass, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 2 Rn. 22a. 134 Epping, Grundrechte, S. 281; Jarass, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 2 Rn. 22a; Dreier, in: Dreier GG, Art. 2 I Rn. 35. 135 BVerfG, NJW 1994, 36 (38). 136 BVerfGE 8, 274 (328); 12, 341 (347); 70,115 (123); 65, 196 (210); 73, 261 (270); Epping, Grundrechte, S. 280 f.; Dreier, in: Dreier GG, Art. 2 I Rn. 35 m. w. N.; vgl. dazu auch ausführlich Bäuerle, Vertragsfreiheit und Grundgesetz, S. 283 ff. 137 Epping, Grundrechte, S. 281. 138 BVerfG, NJW 1990, 1469 (1470); Jarass, in: Jarass/Pieroth GG, Art.2 Rn. 23; Murswiek, in: Sachs GG, Art. 2 Rn. 55b.
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des Weiteren an das durch Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistete Allgemeine Persönlichkeitsrecht zu denken.139 Dessen Aufgabe ist es nach dem BVerfG, „(…) im Sinne des obersten Konstitutionsprinzips der ,Würde des Menschen‘ die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen zu gewährleisten, die sich durch die traditionellen konkreten Freiheitsgarantien nicht abschließend erfassen lassen.“140
Geht es um selbstpaternalistische Maßnahmen im medizinischen Bereich, was meist der Fall ist, wenn eine andere Person zur Vornahme einer paternalistischen Maßnahme legitimiert werden soll, ist an das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu denken. Diese im Bereich der Gesundheitsfürsorge oft auch als Patientenautonomie bezeichnete Selbstbestimmungsfreiheit wird ebenfalls aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitet.141 Sie umfasst unter anderem das Recht zur Einwilligung in eine – auch selbstpaternalistische – medizinische Maßnahme.142 Aus dieser Selbstbestimmungsfreiheit wird daneben auch die „Freiheit zur Krankheit“ abgeleitet, welche verbürgt, medizinische Maßnahmen – auch aus objektiv fragwürdigen Motiven – abzulehnen, solange der Grundrechtsträger entscheidungsfähig ist.143 Freiverantwortlichen Entscheidungen einer Person kommt demnach Verfassungsrang zu, weshalb sie respektiert werden müssen. Die genannten Grundrechte sind allerdings nicht grenzenlos gewährleistet, sondern können verfassungsrechtlich eingeschränkt werden. Im Rahmen dieser Abhandlung soll insbesondere im Fokus der Betrachtungen stehen, inwieweit hierbei paternalistische Rechtfertigungsgründe greifen können. Zu beachten ist nämlich, dass durch selbstpaternalistische Maßnahmen gerade künftige Handlungsfreiheiten privatautonom eingeschränkt werden sollen. 2. Schutzpflichtdimension der Grundrechte Neben ihrer Abwehrfunktion wird allgemein angenommen, dass die Grundrechte auch eine „objektive Werteordnung“ darstellen:144 Sie begründen nicht nur subjek139 Dreier, in: Dreier GG, Art. 2 I Rn. 21 ff.; Epping, Grundrechte, S. 309 ff.; Murswiek, in: Sachs GG, Art. 2 Rn. 59 ff. 140 BVerfG, NJW 1980, 2070 (2070). 141 Wagner, in: Münchener Kommentar, § 630d Rn. 4; Heide, Medizinische Zwangsbehandlung, S. 189 ff.; sehr ausführlich auch Becker-Schwarze, FPR 2007, 52 (52 ff.). 142 Vgl. zur Rechtsnatur der Odysseus-Anweisung Kap. 3 B. II. 143 BVerfG, NJW 2011, 2113 (2115), NJW 1982, 691 (692). 144 St. Rspr. seit der „Lüth-Entscheidung“ des BVerfG, NJW 1958, 257 (257 ff.); aus der Literatur Dreier, in: Dreier GG, Vorb. Rn. 101 ff.; Münch/Kunig, in: Münch/Kunig GG, Vorb Art. 1 – 19 Rn. 17 f.; Müller-Franken, in: GG Kommentar, Vorb. v. Art.1 Rn. 23; Sachs, in: Sachs GG, Vor Art. 1 Rn. 35 ff.; Ohly, Volenti non fit iniura, S. 86 f.; Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 143; Wietfeld, Selbstbestimmung, S. 42; Sternberg-Lieben, Die
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tive Abwehrrechte des Bürgers gegen staatliche Eingriffe, sondern stellen zugleich eine objektive Wertentscheidung der Verfassung dar, die staatliche Schutzpflichten begründet.145 So ist es Aufgabe des Staates, den einzelnen Bürger vor Übergriffen Privater zu schützen und durch die Ergreifung geeigneter Maßnahmen Verletzungen der grundrechtlichen Schutzgüter zu vermeiden.146 Der Staat ist damit nicht nur zur Unterlassung von Grundrechtsverletzungen verpflichtet, sondern auch dazu, seine Bürger vor unzulässigen Beeinträchtigungen ihrer Grundrechte durch Dritte zu schützen.147 Diesen Fällen liegt jeweils ein Schutzpflichtendreieck (Staat-StörerOpfer) zugrunde.148 Die Bestimmung der Reichweite einer Schutzpflicht obliegt dem Gesetzgeber, dem dabei ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zukommt.149
3. Spannungsfeld zwischen Schutzpflicht und Selbstbestimmungsrecht Besonders in den hier zu besprechenden Fällen ist allerdings, dass es an dem die staatliche Schutzpflicht klassischerweise kennzeichnenden Schutzpflichtendreieck (Staat-Störer-Opfer) fehlt.150 Verfassungsrechtlich problematisch ist bei einer selbstpaternalistischen Maßnahme vielmehr das Verhältnis des Selbstbestimmungsrechts des Disponierenden und einer Schutzpflicht des Staates vor den nachteiligen Folgen seiner früher verantwortlich getroffenen Entscheidungen.151 Ob überhaupt und falls ja, in welchem Ausmaß, in derartigen Konstellation eine Schutzpflicht des Staates besteht, den Grundrechtsträger vor sich selbst zu schützen und ihn damit vor den Folgen seiner eigenen Entscheidungen zu bewahren, wird kontrovers diskutiert.152 objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 33 ff.; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 126 ff.; jeweils m. w. N. 145 Dreier, in: Dreier GG, Vorb. Rn. 101 ff.; Münch/Kunig, in: Münch/Kunig GG, Vorb Art. 1 – 19 Rn. 17 f.; Müller-Franken, in: GG Kommentar, Vorb. v. Art. 1 Rn. 23. 146 Jarass, in: Jarass/Pieroth GG, Vorb. vor Art. 1 Rn. 8; Dreier, in: Dreier GG, Vorb. Rn. 101. 147 Dreier, in: Dreier GG, Vorb. Rn. 101; Ohly, Volenti non fit iniura, S. 86 f.; Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 143; Wietfeld, Selbstbestimmung, S. 42. 148 Dreier, in: Dreier GG, Vorb. Rn. 101; Müller-Franken, in: GG Kommentar, Vorb. v. Art. 1 Rn. 23. 149 St. Rspr.: BVerfGE 77, 170 (214); 79, 174 (202); 125, 39 (78 Rn. 135); 96, 56 (64); 117, 202 (227 Rn. 63); 85, 191 (212). 150 Zwar existiert mit dem durch die selbstpaternalistische Maßnahme legitimierten Dritten häufig ein „Störer“, doch wird dieser nur auf Anweisung des „Opfers“ tätig, sodass im Fokus der Betrachtungen die rechtliche Wirksamkeit dieser Anweisung steht. 151 Ebenso in Bezug auf die Einwilligung Ohly, Volenti non fit iniura, S. 87. 152 Vgl. dazu nur beispielsweise Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst; Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht; Schwabe, JZ 1998, 66 (66 ff.); Münch, in: FS-Ipsen, S. 113 ff.; siehe auch zum Strafrecht u. a. Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht.
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a) Abgrenzung zum Schutz subjektiver Rechte Dritter und der Allgemeinheit Zunächst ist ein derartiger Schutz des Grundrechtsträgers vor sich selbst von staatlichen Eingriffen zum Schutz und zur Wahrung subjektiver Rechte Dritter und der Allgemeinheit abzugrenzen.153 So hatte beispielsweise das BVerfG zu entscheiden, ob es verfassungskonform ist, Verstöße gegen die Pflicht, einen Schutzhelm beim Motorradfahren zu tragen, als Ordnungswidrigkeit einzustufen.154 Die Regelung dient zwar unmittelbar dem Schutz des jeweiligen Motorradfahrers, doch stützte das BVerfG den Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG ausschließlich auf eine Kollision mit Allgemeininteressen155 : So müsse sich der Einzelne „diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des (…) allgemein Zumutbaren [ziehe], vorausgesetzt, daß dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt [bleibe].“156
b) Grundrechtsschutz vor sich selbst Eine selbstpaternalistische Handlung ausschließlich aus Gründen des Schutzes des Grundrechtsträgers vor sich selbst für unwirksam zu halten, würde eine Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Güter beinhalten, die einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedürfte. Die verfassungsrechtliche Diskussion ist diesbezüglich an die allgemeinen Legitimationsmodelle in der philosophischen Paternalismus-Debatte angelehnt.157 Einigkeit besteht insofern, als dass ein staatlicher Schutz vor sich selbst dann zu rechtfertigen ist, wenn der Rechtsgutsträger nicht die Fähigkeit besitzt, autonome Entscheidungen zu treffen. Die Fähigkeit zur autonomen Selbstbestimmung wird dann verneint, wenn der Betroffene nicht in der Lage ist, seine intellektuellen und voluntativen Fähigkeiten zur Bildung eines freien Willens zu nutzen.158 Dasselbe soll 153
Vgl. dazu auch Ohly, Volenti non fit iniura, S. 100 f. BVerfG, NJW 1982, 1276 (1276 f.). 155 Ähnlich begründete das BVerfG auch seine Entscheidung über die Gurtanlegepflicht und deren Bußgeldbewehrung, BVerfG, NJW 1987, 180 (180); vgl. auch die Entscheidung über ein Tauchverbot des VGH Mannheim, NJW 1998, 2235 (2235 f.). 156 BVerfG, NJW 1982, 1276 (1276), NJW 1954, 1235 (1235). 157 Vgl. zur verfassungsrechtlichen Diskussion ausführlich Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst; Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht; Schwabe, JZ 1998, 66 (66 ff.); Münch, in: FS-Ipsen, S. 113 ff.; siehe zu den philosophischen Legitimationsmodellen bereits Kap. 2 B. II. 158 BVerfGE 58, 208 (225 f.); BayVerfGH, NJW 1989, 1790 (1791); Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 121 ff.; Wietfeld, Selbstbestimmung, S. 81 f.; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 215 f.; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 45 f.; Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 148. 154
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gelten, wenn der Grundrechtsträger aufgrund seiner geistigen Fähigkeiten noch nicht grundrechtsmündig ist. Er also nicht in der Lage ist, freiverantwortliche Entscheidungen zu treffen, was prinzipiell auf Kinder zutrifft.159 Fraglich ist aber, ob darüber hinaus auch eine Möglichkeit des Schutzes des Grundrechtsträgers vor sich selbst besteht, wenn dieser grundsätzlich selbstbestimmungsfähig ist. Dies wird grundsätzlich abgelehnt und nur in Ausnahmefällen für zulässig erachtet.160 So würde es dem Freiheitsgedanken der Grundrechte widersprechen, wenn der Staat dem Bürger vorschreiben dürfte, was dieser im Interesse seines Eigenschutzes zu tun habe.161 Der Staat habe nicht die Aufgabe, seine Bürger zu bessern und damit auch nicht das Recht, ihnen zu diesem Zweck die Freiheit zu entziehen.162 Die Grundrechte würden dem Einzelnen sonst „wieder nehmen, was sie demselben (…) an Freiheit gegeben haben. Die Grundrechtsgewährleistung würde sich – mit sich selbst im Widerspruch stehend – selbst aufheben. Ein solches ,dialektisches‘ Grundrechtsverständnis verbietet sich von selbst.“163
So werden auch wohlbasierte Rechtfertigungsstrategien164 verfassungsrechtlich abgelehnt: „Demzufolge geht es nicht an, das Grundrechtsgut von seinem Träger abzuspalten und in einen Abwägungsprozeß zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen über dieses Grundrechtsgut einerseits und dem objektiv bestimmten Wert dieses Gutes andererseits einzutreten, aus dem sich dann bei Vorrang des letzteren eine staatliche Schutzverpflichtung ergeben soll.“165
Auch das BVerfG stellte fest, dass eine im Ausnahmefall bestehende Pflicht des Staates, den Einzelnen vor sich selbst in Schutz zu nehmen, „keine „Vernunfthoheit“ staatlicher Organe über den Grundrechtsträger dergestalt begründe, dass dessen 159
Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 122 f.; Wietfeld, Selbstbestimmung, S. 82; Möller, Paternalismus und Persönlichkeitsrecht, S. 215 f.: Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 45 f. 160 Jarass, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 2 Rn. 100; BVerwG, NJW 1989, 2960 (2960); Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 120; Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 33 ff.; Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, S. 57 ff.; Ohly, Volenti non fit iniura, S. 105 ff.; Wietfeld, Selbstbestimmung, S. 78 ff.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 220 f.; Schmolke, Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht, S. 25 ff. 161 BVerwG, NJW 1989, 2960 (2960). 162 BVerfG, NJW 1967, 1795 (1800). 163 Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 148. 164 Vgl. dazu schon Kap. 2 B. II. 1. 165 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 35 f.; ebenso Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 74.
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Wille allein deshalb beiseitegesetzt werden dürfte, weil er von durchschnittlichen Präferenzen abweicht oder aus der Außensicht unvernünftig erscheint.“166 Gegen die Zulässigkeit eines aufgedrängten Grundrechtschutzes des Menschen vor sich selbst spricht vor allem das Menschenbild des Grundgesetzes. Dieses geht von einem vernünftigen, sein Leben in Würde und Freiheit eigenverantwortlich gestaltenden Menschen aus.167 Die dramatischste allgemein anerkannte Ausnahme von diesen Grundsätzen ist das Beispiel des Selbstversklavungsvertrages. So war auch schon der englische Philosoph und Ökonom John Stuart Mill der Ansicht, „the principle of freedom cannot require that a person should be free not to be free.“168 Der Schutz vor sich selbst solle ausnahmsweise dann zulässig sein, wenn der Einzelne so vor einem irreversiblen Freiheitsverlust geschützt werden könne, wobei bereits eine Vermutung dahingehend bestehe, dass der Wille einer Person, die sich selbst in die Sklaverei verkaufe, unfrei sei.169 Vereinzelt wird ein Schutz des Menschen vor sich selbst auch dann für zulässig erachtet, wenn der Betroffene die Folgen seiner Handlung nicht angemessen abschätzen kann und die Tragweite seines Handelns, beispielweise wegen der Unübersichtlichkeit der Lebensverhältnisse, nicht überblicken kann.170 Hierunter würde dann insbesondere die mangelnde Kenntnis von möglichen Gefahren fallen.171 Dabei dürfte der Staat das jeweilige Verhalten des Grundrechtsträgers aber nicht verbieten, sondern sei darauf beschränkt, sich auf Schutzmaßnahmen wie Warnung und Aufklärung zu beschränken.172 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass aus verfassungsrechtlicher Sicht ein Schutz des Grundrechtsträgers vor sich selbst nur dann zu rechtfertigen ist, wenn das Handeln des Betroffenen nicht auf einer autonomen Entscheidung beruht oder dahingehend ernsthafte Zweifel bestehen. Liegt dagegen eine selbstbestimmte und in Kenntnis der Folgen getroffene Entscheidung des Grundrechtsträgers vor, ist eine staatliche Eingriffsbefugnis nur in Extremfällen anzunehmen.
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BVerfG, NJW 2011, 2113 (2116) m. w. N. BVerfGE 32, 98 (107 f.); 45, 187 (227); Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 37 f. 168 Mill, On Liberty, S. 118. 169 Feinberg, in: Paternalism, S. 12; Schmolke, Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht, S. 26 ff.; Ohly, Volenti non fit iniura, S. 106. 170 Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 221 f.; Wietfeld, Selbstbestimmung, S. 82 ff. 171 Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 222. 172 Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 222; zustimmend Wietfeld, Selbstbestimmung, S. 83. 167
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Nach diesen Grundsätzen ist auch die Annahme der Unwirksamkeit einer selbstpaternalistischen Handlung grundsätzlich nicht zu rechtfertigen, wenn diese auf einer autonomen Entscheidungsgrundlage basiert. 4. Verzicht auf staatliche Schutzpflichten Bisher wurde untersucht, unter welchen Voraussetzungen der Staat gerechtfertigt ist, den Betroffenen vor sich selbst zu schützen. Ungeklärt ist aber noch, inwiefern die Grundrechte selbst die Kompetenz des Grundrechtsträgers einschränken, durch sein rechtsgeschäftliches Handeln sein zukünftiges Selbstbestimmungsrecht bzw. seine zukünftige Vertragsfreiheit einzuschränken. Üblicherweise werden derartige Fragestellungen unter dem Stichwort des Grundrechtsverzichts behandelt. Anders als der Terminus „Verzicht“ suggeriert, wird darunter regelmäßig kein Totalverzicht, sondern lediglich ein Grundrechtsausübungsverzicht verstanden.173 Selbstpaternalistischen Maßnahmen liegt aber meist ein Privatrechtsverhältnis zugrunde. So schränkt der Betroffene im Rahmen einer selbstpaternalistischen Maßnahme privatautonom sein Selbstbestimmungsrecht ein, doch wirkt diese Verfügung über eine Grundrechtsposition nicht gegenüber einer staatlichen Stelle. Verwendet man den Ausdruck Grundrechtsverzicht in einem engen Sinn, würde ein derartiger Verzicht gegenüber einem Privaten nicht unter diese Bezeichnung fallen.174 Da allerdings den Grundrechten eine objektive Werteordnung zu entnehmen ist, obliegen dem Staat Schutzpflichten, seine Bürger vor unzulässigen Beeinträchtigungen ihrer Grundrechte durch Dritte zu schützen.175 So ließe sich fragen, wenn man einen Grundrechtsverzicht gegenüber Privaten verneint, ob der Betroffene auf diese Schutzpflichten privatautonom verzichten könnte.176 Wenn der Grundrechtsträger selbst sein Grundrecht freiwillig beschränkt oder gegenüber Dritten preisgibt, könnte man von einer Entbindung des Staates von dessen aus der Schutzpflichtdimension resultierenden Pflicht ausgehen. Letztlich kann dahinstehen, ob ein Grundrechtsverzichts auch im Verhältnis von Privaten untereinander möglich ist, oder ob nur auf eine staatliche Schutzpflicht in diesem Kontext verzichtet werden kann. Im Ergebnis sollen nämlich nur die Grenzen 173 Starck, in: Mangoldt/Klein/Starck GG, Art. 1 Rn. 301; Sachs, in: Sachs GG, Vor Art. 1 Rn. 53; Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, S. 143; Fischinger, JuS 2007, 808 (808). 174 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 33; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 224 Fn. 23; Fischinger, JuS 2007, 808 (809). 175 Kap. 2 D. I. 2. 176 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 33; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 137; Fischinger, JuS 2007, 808 (812); ebenso wohl Sachs, in: Sachs GG, Vor Art. 1 Rn. 55; Ohly, Volenti non fit iniura, S. 89 f.
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der Disponibilität von grundrechtlichen Schutzpositionen allgemein bestimmt werden, sodass es auf diese grundrechtsdogmatische Frage nur insofern ankommt, als sich an den Voraussetzungen für eine Disponibilität in einem Privatrechtsverhältnis etwas ändern könnte. a) Grenzen der Dispositionsbefugnis über Grundrechte Eine wirksame Disposition über Grundrechte zeichnet sich durch die rechtlich verbindliche Selbstbindung aus und ist von der bloß faktischen Nichtausübung des grundrechtlich geschützten Verhaltens zu unterscheiden.177 Die Disposition muss freiwillig erfolgen, woran es fehlt, wenn eine den Willen beeinträchtigende Einwirkung (Täuschung, Drohung, Zwang oder Erschleichung) vorliegt.178 Eine Disposition über Grundrechte ist nach allgemeiner Auffassung grundsätzlich zulässig179, was sich zwar nicht aus den Grundrechten unmittelbar selbst, sondern aus der klassischen Funktion der Grundrechte als autonomie- und freiheitssichernde Gewährleistungen des Einzelnen ergibt.180 Teilweise gibt das Grundgesetz aber auch selbst diese Möglichkeit vor. So sind gem. Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG bestimmte Abreden nichtig, womit ein Verzicht auf die Koalitionsfreiheit ausgeschlossen ist.181 Rechtsfolge einer wirksamen Grundrechtsdisposition ist ähnlich der einer Grundrechtsschranke: Der Eingriff ist gerechtfertigt. Damit wird durch eine Grundrechtsdisposition der Handlungsspielraum des Staates oder eines Dritten erweitert.182 aa) Öffentliche Interessen Da öffentliche Interessen nicht zur Disposition des Einzelnen stehen, sind grundrechtliche Güter und Freiheiten dann nicht disponibel, wenn Dritt- oder All-
177 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 42; Sachs, in: Sachs GG, Vor Art. 1 Rn. 54; Dreier, in: Dreier GG, Vorb. Rn. 130; Fischinger, JuS 2007, 808 (808). 178 Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, S. 143 f.; Dreier, in: Dreier GG, Vorb. Rn. 131; Singer, in: GS-Jeand’Heur, S. 83; Fischinger, JuS 2007, 808 (810). 179 A. A. mit der Begründung, dass Grundrechte das Gemeinwohl konkretisieren und deshalb unverzichtbar seien z. B. Bussfeld, DÖV 1976, 765 (771); näher dazu auch Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, S. 138. 180 Sachs, in: Sachs GG, Vor Art. 1 Rn. 52; Dürig, AöR 1956, 117 (152); Bleckmann, JZ 1988, 57 (58); Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, S. 139 ff.; Fischinger, JuS 2007, 808 (809). 181 Dreier, in: Dreier GG, Vorb. Rn. 131; ebenso ist gem. Art. 6 Abs. 2 GG die Pflege und Erziehung der Kinder nicht nur das natürliche Recht, sondern auch die Pflicht der Eltern, Fischinger, JuS 2007, 808 (810). 182 Fischinger, JuS 2007, 808 (810).
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gemeininteressen betroffen sind.183 Vielmehr muss die in Frage stehende grundgesetzliche Bestimmung ausschließlich dem Schutze von Individualinteressen zu dienen bestimmt sein.184 bb) Menschenwürde Einigkeit besteht, dass das Grundrecht der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG unverzichtbar ist.185 Ein Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts bedeutet stets eine Verletzung des Grundrechts, eine Abwägung mit kollidierenden verfassungsrechtlich geschützten Gütern und Freiheiten findet nicht statt.186 Für die Bestimmung der Menschenwürde geht die Rechtsprechung von der sogenannten Objektformel aus: Danach schütze die Menschenwürde den sozialen Wert- und Achtungsanspruch des Menschen, der es „(…) verbietet, den Menschen zum bloßen Objekt zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektsqualität prinzipiell infrage stellt.“187 Daneben werde „(…) nicht nur die individuelle Würde der jeweiligen Person, sondern auch die Würde des Menschen als Gattungswesen“ geschützt.188 Insbesondere in Bezug auf die Entscheidungen „Peep-Show“189 und „Zwergenweitwurf“190 wurde kritisiert, dass eine solche Auslegung die Tendenz aufweise, das Grundrecht der Menschenwürde zu einer Art Generalklausel umzufunktionieren, die es dem Staat erlaube, bestimmte Verhaltensweisen zu verbieten, die mit den althergebrachten Wertvorstellungen nicht in Einklang stünden.191 cc) Menschenwürdekern und Wesensgehaltsgarantie Geht man davon aus, dass der überwiegenden Zahl der Grundrechte ein Menschenwürdekern innewohnt192, ist eine Grundrechtsdisposition ebenso dann ausgeschlossen, wenn sie sich auf diesen Kern bezieht.193 183 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 156 f.; Singer, in: GS-Jeand’Heur, S. 187; Ohly, Volenti non fit iniura, S. 100 ff. 184 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 42. 185 Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn. 199; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 138; Stern, Staatsrecht Bd. III/2, § 86 III 3.; Höfling, in: Sachs GG, Art. 1 Rn. 10; Epping, Grundrechte, S. 305. 186 Jarass, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 1 Rn. 16; Epping, Grundrechte, S. 306 f.; Starck, in: Mangoldt/Klein/Starck GG, Art. 1 I Rn. 33 ff., jeweils m. w. N. 187 BVerfGE 50, 166 (175); 109, 279 (312); 109, 133 (149 f.). 188 BVerfG, NJW 1993, 1457 (1458 f.); BVerwG, NVwZ 2002, 598 (602). 189 BVerwG, NJW 1982, 664 (664 f.). 190 VG Neustadt, NVwZ 1993, 98 (98 ff.). 191 Fischinger, JuS 2007, 808 (811); Aubel, JURA 2004, 255 (259); ähnlich auch Seifert, JURA 2007, 99 (103), Ipsen, Grundrechte, S. 64 Rn. 243. 192 Insoweit besteht im verfassungsrechtlichen Schrifttum Einigkeit; umstritten ist aber die konkrete Grenzziehung, vgl. dazu ausführlich Stern, Staatsrecht Bd. III/2, § 89 VI, m. w. N.; zur Kritik Dreier, in: Dreier GG, Art. 1 I Rn. 162 ff.
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Daneben ist die Wesensgehaltsgarantie nach Art. 19 Abs. 2 GG zu beachten: Eine Disposition ist ausgeschlossen, wenn sie sich auf den Wesensgehalt des jeweiligen Grundrechts bezieht, da ein Verzicht nicht weiter als die Einschränkung durch ein Gesetz gehen kann.194 Nach Ansicht des BVerfG ist der Wesensgehalt für jedes Grundrecht aus seiner besonderen Bedeutung im Gesamtsystem der Grundrechte zu ermitteln.195 Diese Wesensgehaltsgarantie gilt nicht nur gegenüber einem staatlichen Eingriff, sondern auch im Verhältnis der Grundrechtsträger untereinander.196 Für die Vertragsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen lässt sich daraus folgern, dass diese nicht selbst vollständig zur Disposition stehen können, da die Autonomie des Einzelnen einen wesentlichen Kern der Menschenwürde ausmacht.197 Da aber die Privatautonomie auch Kernbestand der Zivilrechtsordnung ist, ist der die Vertragsfreiheit begrenzende Menschenwürdekern restriktiv zu bestimmen.198 Dient ein Grundrecht der persönlichen Entfaltungsfreiheit, wird von der Vermutung der Zulässigkeit eines Verzichts ausgegangen.199 dd) Zwischenergebnis Letztlich lassen sich über die Grenzen der Dispositionsbefugnis nur wenige allgemeingültige Aussagen treffen, entscheidend ist hier immer eine umfassende Abwägung aller Umstände des konkreten Einzelfalls.200 So muss die Dispositionsbefugnis aber dort an ihre Grenzen stoßen, „wo in extremer Weise (Grund-)Rechtspositionen zur Disposition gestellt wurden.“201 Damit ist ein genereller, insbesondere zeitlich unbegrenzter Verzicht auf die Ausübung von Grundrechten ausgeschlossen, da die Freiheitsrechte des Grundgesetzes dauerhaft gewährleistet sein müssen.202
193 Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, S. 145; Fischinger, JuS 2007, 808 (811); Stern, Staatsrecht Bd. III/2, § 86 III 3. 194 Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, S. 54; Fischinger, JuS 2007, 808 (811); Pietzcker, Der Staat 1978, 527 (536) m. w. N. 195 BVerfG, NJW 1967, 1795 (1800). 196 Singer, in: GS-Jeand’Heur, S. 186. 197 Wietfeld, Selbstbestimmung, S. 262. 198 Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, S. 145. 199 Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn. 199. 200 Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, S. 141; Fischinger, JuS 2007, 808 (810); Seifert, JURA 2007, 99 (104). 201 Singer, in: GS-Jeand’Heur, S. 183. 202 Dreier, in: Dreier GG, Vorb. Rn. 131; Singer, in: GS-Jeand’Heur, S. 186; Dürig, AöR 1956, 117 (152).
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b) Besonderheiten der Dispositionsbefugnis im Privatrechtsverhältnis Der Verzicht auf grundrechtliche Güter und Freiheiten gegenüber dem Staat steht in Verbindung mit dem Gesetzmäßigkeitsprinzip (Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes).203 Bei einer Grundrechtsdisposition in einem Privatrechtsverhältnis besteht dagegen kein Über-/Unterordnungsverhältnis, vielmehr stehen sich die Akteure gleichberechtigt gegenüber.204 Deshalb muss davon ausgegangen werden, dass die Dispositionsbefugnis im Privatrechtsverhältnis in weiterem Umfang möglich sein muss als im Staat-Bürger-Verhältnis.205 So weist Heinrich darauf hin, dass insbesondere bei Vertragsarten wie der Bürgschaft, denen gerade ein Unsicherheitsfaktor innewohne, eine Grundrechtsdisposition möglich sein müsse: „Von Ausnahmefällen abgesehen und im Rahmen der gesetzlichen Ordnung kann ein Privatrechtssubjekt nicht einen riskanten Vertrag schließen und sich sodann – vorausgesetzt, der Schutzbereich eines Grundrechts ist betroffen – unter Hinweis auf grundrechtlichen Schutz bei Gericht über dessen Konditionen beschweren.“206
Daneben ist aufgrund des gleichberechtigten Gegenüberstehens der Akteure im Privatrechtsverhältnis auch die Annahme einer für eine wirksame Disposition notwendige Freiwilligkeit eher anzunehmen als in Staat-Bürger-Konstellationen.207
II. Selbstpaternalismus in der Zivilrechtsdogmatik Wenn die Ausübung von Privatautonomie, beispielsweise durch Abschluss eines Vertrages, zu einer Bindung des Handelnden führt, so wird durch diese Bindung zwar dessen zukünftiger Handlungsspielraum eingeschränkt.208 Dennoch liegt darin keine Beschränkung, sondern vielmehr die Verwirklichung von Privatautonomie.209 Selbstbestimmung kann ohne Selbstbindung nicht existieren.210
203
Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, S. 141. Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, S. 141; nach Fischinger, JuS 2007, 808 (812 Fn. 69) kann dies aber anders sein, wenn zwischen den Akteuren bspw. im Arbeitsverhältnis ein starkes „Machtgefälle“ bestehe. 205 Jarass, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 1 Rn. 57. 206 Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, S. 142 f. 207 Fischinger, JuS 2007, 808 (812). 208 Bydlinksi, Privatautonomie und objektive Grundlagen des verpflichtenden Rechtsgeschäfts, S. 68. 209 Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, S. 54; Flume, BGB AT II, S. 4 f.; Kleinschmidt, Delegation von Privatautonomie, S. 102. 210 Kleinschmidt, Delegation von Privatautonomie, S. 102; Canaris, AcP 2000, 273 (279); aus der Perspektive des Gesellschaftsrechts Weber, Privatautonomie und Außeneinfluß im Gesellschaftsrecht, S. 205 ff. 204
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So stellte auch das BVerfG fest: „Eine (…) rechtsgeschäftliche Selbstbindung führt zwar zu einer Beschränkung beruflicher Mobilität, ist aber zugleich eine Ausübung individueller Freiheit.“211 Einem Konflikt der Privatautonomie ein und derselben Person zu verschiedenen Zeitpunkten vorzubeugen, ist der Grundgedanke einer jeden rechtsgeschäftlichen Bindung. Verträge werden geschlossen, um sich auch zu einem späteren Zeitpunkt vor einem Sinneswandel des Vertragspartners zu bewahren.212 So besteht grundsätzlich auf Seiten des Gläubigers ein Interesse an einer möglichst engen Selbstbindung des Vertragspartners, auf Seiten des Schuldners dagegen besteht ein Bedürfnis, dass auch Lösungsmöglichkeiten von der Selbstbindung bestehen. Aufgabe der Rechtsordnung ist es, einen Ausgleich zwischen diesen divergierenden Interessensgruppen zu schaffen. Im Falle eines rechtsgeschäftlichen Schutzes vor sich selbst erfolgt die Selbstbindung aber ausschließlich im eigenen Interesse. Aspekte wie Vertrauensschutz und Rücksicht auf die Interessen des Vertragspartners kommen nicht zum Tragen. Dennoch kann auch eine Selbstbindung im eigenen Interesse nur in den Grenzen des zwingenden Rechts erfolgen. So folgt bereits aus der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte in das Privatrecht, dass eine rechtsgeschäftliche Selbstbindung nicht den grundsätzlichen Wertungen des Grundgesetzes widersprechen darf.213 Im Rahmen dieser Abhandlung kann keine allgemeine Bestimmung der Grenzen der Selbstbindung im Zivilrecht unternommen werden.214 Es soll sich vielmehr darauf konzentriert werden zu untersuchen, innerhalb welcher Grenzen selbstpaternalistische Maßnahmen rechtlich legitimiert werden können. Je nach rechtlicher Qualität führt eine selbstpaternalistische Maßnahme zu einer rechtsgeschäftlichen Beschränkung der zukünftigen Privatautonomie und damit zu einer Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts des Betroffenen. Im Folgenden soll zunächst untersucht werden, wie grundsätzlich eine übermäßige Selbstbindung zivilrechtlich sanktioniert werden kann. Erst danach soll herausgearbeitet werden, welche Besonderheiten sich für selbstpaternalistische Maßnahmen ergeben.
211
BVerfG v. 7.2.1990, BVerfGE 81, 242, 254. Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 91. 213 Schmidt, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, Einl GG Rn. 33 ff.; Hillgruber, in: Beck-OK Grundgesetz, Art. 1 Rn. 73. 214 Zu verweisen sei aber auf das umfassende Werk von Schmolke, Die Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht. 212
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1. Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht a) § 137 BGB als Grenze der Selbstbindung Da mittels einer selbstpaternalistischen Handlung die Vertragsfreiheit privatautonom eingeschränkt werden soll, könnte deren zivilrechtliche Wirksamkeit an einem Verstoß gegen § 137 BGB scheitern. Dazu müsste zunächst der Zweck des § 137 BGB im Schutz der Freiheit des Einzelnen liegen. Gem. § 137 S. 1 BGB kann die Befugnis zur Verfügung über ein veräußerliches Recht nicht durch Rechtsgeschäft ausgeschlossen oder beschränkt werden. Schuldrechtlich ist eine entsprechende Verpflichtung gem. § 137 S. 2 BGB gleichwohl wirksam.215 Prima facie betrifft die Norm lediglich eine Regelung im Hinblick auf die Verfügungsbefugnis des Einzelnen, ohne auf einen Schutz der Vertragsfreiheit oder die Verpflichtungsfreiheit an sich einzugehen. Dennoch wird, vor allem in älterer Literatur, § 137 BGB sowohl als „Grundrechtsnorm im Rahmen des BGB“216 als auch als das im deutschen Recht kodifizierte Gegenstück zum schweizerischen Art. 27 Abs. 1 ZGB bezeichnet: Gem. Art. 27 Abs. 1 ZGB kann auf die Rechts- und Handlungsfähigkeit niemand ganz oder zum Teil verzichten. Gem. Art. 27 Abs. 2 ZGB kann sich niemand seiner Freiheit entäußern oder sich in ihrem Gebrauch in einem das Recht oder die Sittlichkeit verletzenden Grade beschränken. Neben anderen Zwecken217 soll § 137 BGB dem Schutze individueller Handlungsfreiheit dienen.218 Die Norm solle sicherstellen, dass sich der Einzelne durch Rechtsgeschäft nicht seiner Freiheit entäußere, wodurch eine „Sklaverei in vermögensrechtlicher Hinsicht verhindert“ werde.219 Einer solchen Interpretation des Normzwecks wird aber entgegengehalten, dass gem. § 137 S. 1 BGB zwar einer Verfügungsbeschränkung die dingliche Wirkung versagt werde, während gem. § 137 S. 2 BGB eine schuldrechtliche Unterlas-
215 Abweichend davon ist § 399 Alt. 2 BGB zu beachten, wonach bei Forderungen die Abtretbarkeit durch Vereinbarung zwischen Gläubiger und Schuldner ausgeschlossen werden kann; vgl. zur Anwendbarkeit auf sonstige Rechte i. S. d. § 413 BGB Raible, Übertragung von Rechten, passim. 216 Baur, JZ 1961, 334 (335); Schlosser, NJW 1970, 681 (684); Raible, Übertragung von Rechten, S. 77 f.; Weitnauer, in: FS Weber, S. 433 f. 217 Vgl. dazu Liebs, AcP 1975, 1 (10 ff.). 218 Baur, JZ 1961, 334 (335); Schlosser, NJW 1970, 681 (684); Raible, Übertragung von Rechten, S. 77 f., 88; Weitnauer, in: FS Weber, S. 433 f.; Liebs, AcP 1975, 1 (10); Oertmann, BGB AT, S. 483; Großfeld/Gersch, JZ 1988, 937 (944). 219 So Baur, JZ 1961, 334 (335).
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sungsverpflichtung anerkannt werde.220 So bleibe von einer Interpretation der Norm als „Grundrechtsnorm im BGB“, die eine uneingeschränkte Handlungsfreiheit gewährleisten solle, recht wenig übrig, wenn schuldrechtliche Verpflichtungen über die Beschränkung der Verfügungsfreiheit wirksam seien und bei deren Nichteinhaltung mit Schadensersatzansprüchen zu rechnen sei.221 Letztlich ergibt sich nach heutiger Auffassung aus § 137 BGB lediglich als Reflex eine Garantie der Freiheit des Einzelnen als Freiheit von Verfügungsbeschränkungen.222 Zweck des § 137 BGB ist damit nur der Schutz des Rechtsverkehrs und nicht der Schutz des sich selbst bindenden Privatrechtssubjekts. b) § 138 BGB als Grenze der Selbstbindung Teilweise wird der schweizerische Art. 27 Abs. 2 ZGB als im deutschen Recht in § 138 BGB enthalten angesehen.223 So sei eine Freiheitsbeschränkung zwar ein wesentliches Element rechtsgeschäftlicher Bindung, sie könne aber so weit gehen, dass sie zur Sittenwidrigkeit führe.224 Demnach wäre für die Bestimmung der zivilrechtlichen Wirksamkeit von selbstpaternalistischen Handlungen § 138 Abs. 1 BGB das zivilrechtliche Sanktionsinstrument bei einer übermäßigen Selbstbindung. Die Reichweite und Grenzen der Möglichkeiten einer Selbstbindung orientieren sich dabei an qualitativen und quantitativen Kriterien.225 So ist im Rahmen der qualitativen Kriterien einer Freiheitsbeschränkung auf die Wahrung von Persönlichkeitsrechten abzustellen226, während für die Beurteilung der quantitativen Kriterien die anerkannten Regelungen zur Beurteilung von Bierlieferungsverträgen, Wettbewerbsverboten und Knebelungsverträgen maßgeblich sind.227 Bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit von selbstpaternalistischen Maßnahmen können demnach sowohl der Inhalt (Aufgabe maßgeblicher Handlungsfreiheiten), als auch die Dauer (Möglichkeiten der Aufhebung) derartiger Rechtsakte die Sittenwidrigkeit auslösen. Abzustellen ist jeweils auf eine umfassende Abwägung aller Umstände des konkreten Einzelfalls.
220 Weber, Privatautonomie und Außeneinfluss im Gesellschaftsrecht, S. 223 ff.; BGH, NJW 1997, 861 (862); Kohler, DNotZ 1989, 339 (346 f.). 221 Weber, Privatautonomie und Außeneinfluss im Gesellschaftsrecht, S. 223 ff.; BGH, NJW 1997, 861 (862); Kohler, DNotZ 1989, 339 (346 f.). 222 Kohler, in: Staudinger BGB, § 137 Rn. 5; Armbrüster, in: Münchener Kommentar, § 137 Rn. 3; Raible, Übertragung von Rechten, S. 88; Weber, Privatautonomie und Außeneinfluss im Gesellschaftsrecht, S. 223 ff.; jeweils m. w. N. 223 Flume, BGB AT II, S. 370. 224 Armbrüster, in: Münchener Kommentar, § 138 Rn. 68. 225 Armbrüster, in: Münchener Kommentar, § 138 Rn. 68. 226 Armbrüster, in: Münchener Kommentar, § 138 Rn. 69 f. mit vielen Beispielen. 227 Armbrüster, in: Münchener Kommentar, § 138 Rn. 71 ff.
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Dabei wäre aber zu beachten, dass die „Keule der Sittenwidrigkeit“ als Generalklausel nicht schrankenlos für die Umsetzung sämtlicher Wertungen, für die man gerade keine andere normative Stütze finden konnte, angewendet werden darf.228 c) Selbstentmündigung als Grenze der Selbstbindung Dagegen entnimmt Weitnauer der Rechtsordnung eine dem Recht immanente Grenze zum Schutz der Freiheit, denn es mache einen großen Unterschied, ob eine „Rechtsordnung Rechtsgeschäfte, deren Unzulässigkeit man aus der Freiheit der Selbstbestimmung ableiten könnte, nur wegen Sittenwidrigkeit unmöglich [mache] oder ob ihnen aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes und der Freiheit eine klare Absage erteilt [werde].“229 Dem ist dahingehend zuzustimmen, dass es der Rechtsordnung immanent ist, dass sich der Einzelne nicht vollständig seines Selbstbestimmungsrechts und seiner Handlungsfreiheit begeben darf. Es besteht also als oberste Grenze ein Verbot der Selbstentmündigung.230 Ein genereller, insbesondere zeitlich unbegrenzter Verzicht auf die Ausübung von Grundrechten ist ausgeschlossen, da die Freiheitsrechte des Grundgesetzes dauerhaft gewährleistet sein müssen.231 Dies ergibt sich auch daraus, dass insbesondere die Privatrechtsordnung auf die Selbstbestimmung als unveräußerliches Gut abstellt: „Ein Rechtssystem, das auf der Freiheit des Individuums aufbaut, diese Freiheit auch verfassungsrechtlich zum tragenden Grundsatz erhebt, geriete zu sich selbst in Widerspruch, wenn es mit der Handlungsfreiheit sein eigentliches Fundament für dispositiv erklärte. Stets soll der Einzelne wenigstens rechtlich in der Lage sein, zu voller Autonomie zurückzufinden.“232
Selbst wenn man eine solche Dogmatik ablehnen sollte, führt § 138 BGB letztlich zu demselben Ergebnis. Deswegen soll es im Rahmen dieser Abhandlung bei der Feststellung bleiben, dass ein solches Verbot jedenfalls existiert. 2. Grenzen der Selbstbindung im BGB und in der Rechtsprechung Im Zivilrecht gibt es vor allem im Bereich des zwingenden Vertragsrechts Normen, die den Einzelnen vor einer übermäßigen Selbstbindung schützen sollen.
228
Weber, Privatautonomie und Außeneinfluß im Gesellschaftsrecht, S. 213. Weitnauer, in: FS Weber, S. 434. 230 Lipp, in: Handbuch der Vorsorgeverfügungen, S. 366 Rn. 70; Weber, Privatautonomie und Außeneinfluß im Gesellschaftsrecht, S. 212. 231 Dreier, in: Dreier GG, Vorb. Rn. 131; Singer, in: GS-Jeand’Heur, S. 186; Dürig, AöR 1956, 117 (152); siehe dazu auch schon Kap. 2 D. I. 4. a). 232 Weber, Privatautonomie und Außeneinfluß im Gesellschaftsrecht, S. 212. 229
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Kap. 2: Schutz vor sich selbst durch Selbstpaternalismus
Gem. § 311b Abs. 2 BGB ist ein Vertrag, durch den sich der eine Teil verpflichtet, sein künftiges Vermögen oder einen Bruchteil seines künftigen Vermögens zu übertragen oder mit einem Nießbrauch zu belasten, nichtig. Gem. § 2302 BGB ist ein Vertrag, durch den sich jemand verpflichtet, eine Verfügung von Todes wegen zu errichten oder nicht zu errichten, aufzuheben oder nicht aufzuheben, nichtig. Zudem existieren viele Vorschriften im Verbraucherschutzrecht, wie beispielsweise eine Vielzahl von Widerrufsrechten, oder auch Formvorschriften zum Übereilungsschutz, denen eine paternalistische Grundintention innewohnt. Doch auch in der Rechtsprechung finden sich schnell Beispiele, bei denen vertraglichen Vereinbarungen die Wirksamkeit versagt wurde, um eine oder beide Parteien vor einer übermäßigen Selbstbindung zu schützen.233 So entschied der BGH im Jahre 1986, dass eine Vereinbarung zwischen Eheleuten, sich später nicht scheiden zu lassen, vor dem Gesetz keine Gültigkeit haben kann, da diese Vereinbarung das Paar in seiner Freiheit, die Eheschließungsfreiheit nach einer Scheidung wiederzuerlangen, beschneidet und damit gegen den Grundsatz des Art. 6 GG verstößt.234 Im gleichen Jahr entschied der BGH über die Zulässigkeit eines nach der Übernahme einer Rechtsanwaltskanzlei zwischen den Vertragsparteien geschlossenen zeitlich und örtlich unbegrenzten Wettbewerbsverbots.235 Ein solches schränke die Freiheit der Berufswahl des Betroffenen über Gebühr ein und sei insofern nichtig.236 Auch die Vereinbarung zweier Lebensgefährten, zur Empfängnisverhütung geeignete Mittel zu benutzen, erklärte der BGH für nichtig.237 All diesen Entscheidungen wohnt zumindest auch eine paternalistische Intention inne und sie zeigen, dass die Vertragsparteien unter Berufung auf ihre Vertragsfreiheit nicht auf wesentliche Freiheiten verzichten können. 3. Besonderheiten bei selbstpaternalistischen Selbstbindungen Die Besonderheit bei einer selbstpaternalistischen Selbstbindung ist allerdings, dass die Beschränkung der Freiheit gerade zum eigenen Wohl erfolgen soll. In den meisten Fallkonstellationen sollen die Beschränkungen der Vertragsfreiheit eine Vertragspartei vor den Folgen ihres selbstschädigenden Handelns schützen, 233 Vgl. zu weiteren als den hier genannten Beispielen Armbrüster, in: Münchener Kommentar, § 138 Rn. 69 f. 234 BGH, NJW 1990, 703 (703 ff.). 235 BGH, NJW 1986, 2944 (2944 f.). 236 BGH, NJW 1986, 2944 (2944 f.). 237 BGH, NJW 1986, 2043 (2043 ff.).
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was dieser geschützten Vertragspartei auch meist sehr gelegen kommt. Sie will in der Zeit nach dem Vertragsschluss vom ungünstigen Vertrag wieder loskommen. Der Schutz vor sich selbst ist also von der geschützten Partei selbst gewollt. In selbstpaternalistischen Konstellationen ist die Freiheitsbeschränkung aber nicht nur eine „unangenehme Nebenfolge“ bei der Verfolgung eines übergeordneten Ziels, sondern vielmehr der Hauptzweck der Selbstbindung. Gerade durch die Selbstbindung soll eine antizipierte selbstschädigende Verhaltensweise verhindert werden. Ein Schutz vor sich selbst ist in diesen Fällen von der geschützten Partei gerade nicht gewollt, vielmehr hat sie selbst für ihren eigenen Schutz vorgesorgt. Die zum Schutz vor sich selbst angeordnete Nichtigkeit ihrer zur Vorsorge bestimmten paternalistischen Maßnahme würde diesen Selbstschutz gerade torpedieren. Versagt man einer derartigen Selbstbindung die Wirksamkeit, dann nur, weil man eine Selbstbindung des Einzelnen mit dem Zweck, sich selbst vor sich selbst zu schützen, als nicht im Sinne der Rechtsordnung empfindet. Da man letztlich den Einzelnen davor schützen würde, sich selbst zu schützen, ist dafür ein denkbar höherer Begründungsaufwand erforderlich, als wenn eine Person „nur“ vor sich selbst geschützt werden soll. Insbesondere kann nicht mit Vertrauensschutz und den Interessen des Vertragspartners argumentiert werden, da die Selbstbindung bei selbstpaternalistischen Maßnahmen nur zu eigenen Zwecken erfolgt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Hürde, um von einer der Rechtsordnung zuwiderlaufenden Selbstbindung zu sprechen, wesentlich höher anzusetzen ist, als wenn ein Freiheitsverlust zu anderen Zwecken erfolgen soll. Insbesondere weil sich auch im außervertraglichen Bereich Möglichkeiten eines paternalistischen Selbstschutzes finden.238 So kann beispielsweise eine Person mit selbstpaternalistischer Intention einen Antrag nach § 1896 Abs. 1 BGB auf Bestellung eines Betreuers stellen oder gar einem Einwilligungsvorbehalt zustimmen.239
E. Zusammenfassung Kapitel 2 Im Ergebnis werden damit als selbstpaternalistisch solche Handlungen einer Person bezeichnet, die dem Zweck dienen, andere Personen zur Vornahme von freiheitsbeschränkenden (paternalistischen) Maßnahmen an ihr zu legitimieren oder zu verpflichten, um antizipierte selbstschädigende Verhaltensweisen zur Förderung des eigenen Wohls zu verhindern. Eine selbstpaternalistische Maßnahme als antizipierte Zustimmung zu einer paternalistischen Maßnahme nimmt dieser aber nicht den paternalistischen Charakter. Vielmehr ist eine selbstpaternalistische Maßnahme erst im Rahmen der Rechtfertigung einer paternalistischen Maßnahme zu berücksichtigen. Diese kann dann eine 238 239
Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 90. Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 90.
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paternalistische Maßnahme rechtfertigen, wenn die Willensänderung bereits antizipiert wurde und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sich auch die Absicht darüber, die Willensänderung vorab für unbeachtlich zu erklären, geändert hat. Letztlich endet die Möglichkeit, eine selbstpaternalistische Maßnahme vorzunehmen, dort, wo das Recht des Staates, den Einzelnen vor sich selbst zu schützen, beginnt. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist ein Schutz des Grundrechtsträgers vor sich selbst nur dann zu rechtfertigen, wenn das Handeln des Betroffenen nicht auf einer autonomen Entscheidung beruht oder dahingehend ernsthafte Zweifel bestehen. Liegt dagegen eine selbstbestimmte und in Kenntnis der Folgen getroffene Entscheidung des Grundrechtsträgers vor, ist eine staatliche Eingriffsbefugnis nur in Extremfällen anzunehmen. So stößt die Dispositionsbefugnis des Grundrechtsträgers dort an ihre Grenzen, „wo in extremer Weise (Grund-)Rechtspositionen zur Disposition gestellt wurden.“240 Damit ist ein genereller, insbesondere zeitlich unbegrenzter Verzicht auf die Ausübung von Grundrechten ausgeschlossen, da die Freiheitsrechte des Grundgesetzes dauerhaft gewährleistet sein müssen.241 Aufgrund des gleichberechtigten Gegenüberstehens der Akteure im Privatrechtsverhältnis ist dort die Dispositionsbefugnis aber in weiterem Umfang möglich als im Staat-Bürger-Verhältnis.242 Zivilrechtlich ist eine Selbstbindung nur in den Grenzen des § 138 BGB oder – sofern man dieser Ansicht folgen mag – innerhalb einer dem Recht immanenten Grenze zum Schutze der Freiheit möglich. Die Besonderheit bei selbstpaternalistischen Maßnahmen liegt darin, dass die Selbstbindung nur zu eigenen Zwecken erfolgt. Aspekte des Vertrauensschutzes sowie die Interessen des Vertragspartners müssen bei der Beurteilung der Legitimität einer solchen Maßnahme nicht berücksichtigt werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Hürde, um von einer der Rechtsordnung zuwiderlaufenden Selbstbindung zu sprechen, in derartigen Konstellationen wesentlich höher anzusetzen ist, als wenn ein Freiheitsverlust zu anderen Zwecken erfolgen soll.
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Singer, in: GS-Jeand’Heur, S. 183. Dreier, in: Dreier GG, Vorb. Rn. 131; Singer, in: GS-Jeand’Heur, S. 186; Dürig, AöR 1956, 117 (152). 242 Jarass, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 1 Rn. 57. 241
Kapitel 3
Der rechtsgeschäftliche Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen A. Vorbemerkung Nicht nur aufgrund des demografischen Wandels1, sondern auch wegen des stetigen Fortschritts in der Medizin kommt dem Thema medizinischer Vorsorgeverfügungen eine immer größere Bedeutung zu. Mit Hilfe einer Vorsorgeverfügung soll sichergestellt werden, das eigene Leben „bis zum Schluss“ möglichst selbstbestimmt gestalten zu können, um eigenen Wünschen und Bedürfnissen, selbst im Falle einer künftigen Entscheidungsunfähigkeit, Geltung zu verschaffen. Dabei geht es primär darum, das künftige Selbst vor den Einwirkungen Dritter, vor allem vor deren Wertentscheidungen, die möglicherweise nicht den eigenen entsprechen, zu bewahren. Sei es mit Hilfe einer Patientenverfügung lebensverlängernde Maßnahmen in einem bestimmten Krankheitsstadium zu verhindern, mittels einer psychiatrischen Patientenverfügung vorab in bestimmte Behandlungsmaßnahmen einzuwilligen oder durch eine Vorsorgevollmacht eine selbstgewählte Person zum gesetzlichen Vertreter für den Fall der Entscheidungsunfähigkeit zu bestimmen; Vorsorgeverfügungen2 sind zentrale Instrumente zur Verwirklichung der Patientenautonomie und fördern die individuelle Selbstbestimmung. So folgt aus § 1896 Abs. 2 S. 2 BGB der Grundsatz der Subsidiarität der Betreuung und damit verbunden der Vorrang der Eigenvorsorge.3 Probleme ergeben sich bei solchen Vorsorgeverfügungen häufig aus dem Umstand, dass anders als bei der Einwilligung in eine unmittelbar bevorstehende ärztliche Maßnahme, zwischen dem Zeitpunkt der Erstellung der Vorsorgeverfügung und dem Eintritt des Vorsorgefalls lange Zeitabstände liegen.4 Es vergehen nicht selten viele Jahre, in denen sich Sichtweisen oder Lebenseinstellungen durch Erfahrungsgewinn ändern. Bei Vorliegen von Einwilligungsfähigkeit kann der Betroffene seine Vorausverfügung jederzeit ändern, in der Behandlungssituation 1 Vgl. dazu nur Müller/Renner, Betreuungsrecht und Vorsorgeverfügungen in der Praxis, S. 76 Rn. 234 f. 2 Die Begriffe Vorsorgeverfügung und Vorausverfügung werden im Folgenden synonym verwendet. 3 Lipp, in: Handbuch der Vorsorgeverfügungen, S. 32 Rn. 3; Roth, in: Praxiskommentar Betreuungsrecht, S. 185 Rn. 2. 4 Lipp, in: Handbuch der Vorsorgeverfügungen, S. 361 Rn. 40.
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
kommt es dann nur auf den tatsächlichen, in der aktuellen Situation geäußerten Willen an. Problematisch ist dies aber, wenn der Betroffene im maßgeblichen Behandlungszeitpunkt entscheidungsunfähig ist oder dies nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann. Wenn dann, beispielweise bei einer Patientenverfügung, der vorab geäußerte Wille nicht mehr dem natürlichen Willen5 in der aktuellen Behandlungssituation entspricht, stellt sich die Frage, ob es dem Betroffenen noch möglich ist, diese Verfügung aufzuheben. Viel diskutiert wird in der Literatur der Fall des „lebensfrohen Demenzkranken“. Geäußert durch einen natürlichen Lebenswillen steht dessen aktuelles Befinden in Widerspruch zu den Festlegungen in seiner Patientenverfügung. Ob diese Divergenz zu einer Aufhebung der Patientenverfügung führt, wird äußerst unterschiedlich bewertet. Eine Ansicht schließt in einem solchen Fall die Zurechnung der Patientenverfügung aus, andere sehen in einem natürlichen Lebenswillen einen wirksamen Widerruf der Patientenverfügung, teils wird dieser Konflikt aufgelöst, indem darauf abgestellt wird, dass die Patientenverfügung nicht auf die aktuelle Lebenssituation zutreffe.6 Auch in der Praxis führt diese Situation zu erheblichen Problemen. Zum einen auf Seiten der Angehörigen und des Arztes, für die die Beurteilung der Erheblichkeit des natürlichen Willens vor allem in medizinethischer, aber auch in tatsächlicher Hinsicht schwierig ist.7 Aber auch auf Seiten des Betroffenen führt die rechtliche Unsicherheit über die Verbindlichkeit der Patientenverfügung bei Vorliegen eines dazu in Widerspruch stehenden natürlichen Lebenswillens zu Problemen. So gaben in einer von Jox durchgeführten Studie 69,01 % der befragten Personen an, sich für ihre Patientenverfügung eine hohe Verbindlichkeit zu wünschen.8 Damit schlossen sie die Alternative aus, dass ihr Bevollmächtigter oder Betreuer in der Behandlungssituation von ihrer Patientenverfügung abweichen dürfe, wenn er/sie überzeugt wäre, dass der Betroffene seine Meinung in der aktuellen Situation geändert habe, als auch die Möglichkeit, dass die Patientenverfügung lediglich Hinweischarakter habe.9 Um sicherzustellen, dass die frühere, im klaren Bewusstsein getroffene Entscheidung in der Patientenverfügung Bestand hat, tauchten in der Vergangenheit in Patientenverfügungsmusterformularen vermehrt Mustertextbausteine auf, die die Verbindlichkeit der Verfügung sicherstellen sollen.10 Zwar werden dabei viele un5
Vgl. zum Begriff des natürlichen Willens sogleich Kap. 3 C. I. 3. Siehe dazu ausführlich Kap. 3 C. III. 7 Vgl. zu den praktischen Problemen bei der Feststellung des natürlichen Willens Jox, in: Entscheidungen am Lebensende, S. 79 f.; Knittel, Betreuungsrecht, § 1901a Rn. 70; auch Kap. 3 C. I. 3. 8 Jox, Ethik Med 2009, 21 (24 f.). 9 Jox, Ethik Med 2009, 21 (22). 10 Vgl. beispielweise Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, Patientenverfügung, S. 28; Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Vorsorge für Unfall Krankheit Alter, S. 35; Wilckens, MDR 2011, 143 (145); Putz/Steldinger, Patientenrechte, S. 283; Ihrig, notar 2009, 380 (385); Renner, in: Betreuungsrecht und Vorsorgeverfügungen in der Praxis, S. 175 Rn. 531, S. 345 Rn. 1061; Kusch/Splitter, Der Ausklang, S. 89; Vetter, Selbstbestimmung am Lebensende, S. 103. 6
A. Vorbemerkung
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terschiedliche Formulierungen verwendet, letztlich ist aber das Ziel der Verwendung einer derartigen Klausel, einen später geäußerten natürlichen Willen vorab für unbeachtlich zu erklären. Intention ist dabei zunächst primär, sich selbst dem Zugriff der Wertentscheidungen Dritter zu entziehen und selbstbestimmt verbindlich die eigene Behandlung zu planen.11 Sekundär ist aber auch zu beachten, dass der Betroffene in der beschriebenen Konfliktsituation trotz seines Zustandes häufig äußerungsfähig ist. Unabhängig davon, ob eine psychische Krankheit, eine Demenzerkrankung, eine Bewusstseinsstörung oder eine isolierte Störung kognitiver Fähigkeiten vorliegt, verfügt der Betroffene über ein Spektrum kognitiver Fähigkeiten, welches ihm ermöglicht, sich auf verbale oder nonverbale Art zu äußern.12 Aufgrund der bestehenden Einwilligungsunfähigkeit, die den Anwendungsbereich der Patientenverfügung eröffnet, befindet sich der Betroffene aber in einem Zustand, in dem er seine eigenen Handlungen und Äußerungen nicht mehr überblicken kann. Deshalb kann gleichwohl das Bedürfnis bestehen, sich selbst vorab vor Handlungen und Äußerungen im einwilligungsunfähigen Zustand zu bewahren. Damit wird die Widerrufsabwehrklausel ein Instrument zum rechtsgeschäftlichen bzw. rechtsgeschäftsähnlichen Schutz vor sich selbst, um sich vor in Zukunft liegenden Handlungen und Entscheidungen zu schützen, die im Zustand mangelhafter Willensbildung erfolgen.13 Die Patientenverfügung soll dann nicht nur dem vorab gebildeten Willen in der Behandlungssituation Geltung verschaffen, sondern auch den Betroffenen vor der Gefahr schützen, die wohlbedachte Vorsorge im späteren Zustand der Entscheidungsunfähigkeit zu unterlaufen.14 Ob eine solche Vorgehensweise rechtlich zulässig ist, ist stark umstritten. Man könnte je nach Sichtweise derartige Klauseln als „Gipfel der Selbstbestimmung“ empfinden, sie dagegen auch als „Selbstentmündigung“15 oder gar als „Selbstversklavung“16 bezeichnen. Letztlich führt auch in diesem Themenbereich alles zu der der Untersuchung zu Grunde liegenden Frage, inwieweit eine Selbstbindung in einem autonomen Zeitpunkt t1 möglich ist, um sich selbst zu einem späteren Zeitpunkt t2 vor einer Handlung zu bewahren, die den eigenen Wünschen und Interessen zuwiderläuft. So wird eine derartige Konstruktion insbesondere in moralphilosophischen Abhandlungen als Odysseus-Anweisung bezeichnet.17 Dieser Begriff ist bei genauer Be11
Lipp, in: Handbuch der Vorsorgeverfügungen, S. 366 Rn. 72. Jox, in: Entscheidungen am Lebensende, S. 69. 13 Ähnlich auch Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 188. 14 Wilckens, MDR 2011, 143 (145). 15 Brosey, BtPrax 2010, 161 (164); Lipp, in: Handbuch der Vorsorgeverfügungen, S. 366 Rn. 70; dies ausdrücklich ablehnend Bauer, in: HK-BUR, § 1901a Rn. 63, § 1906 Rn. 249. 16 Wunder, Ethik Med 2008, 17 (25); Roth, JZ 2004, 494 (497), der Betroffene mache sich zum Gefangenen der eigenen Erklärung; Merkel, Ethik Med 2004, 298 (302) weist darauf hin, dass ein solches „Versklavungsverhältnis“ gerade auch dann vorliegen kann, wenn eine derartige antizipierte Selbstbestimmung nicht anerkannt wird. 17 Vgl. Hallich, ZphF 2011, 151 (151 ff.); Magnus, Patientenautonomie im Strafrecht, S. 200 f. 12
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
trachtung allerdings für die meisten Patientenverfügungen unpassend. Odysseus wies seine Matrosen an, ihn an den Schiffsmast zu binden, damit er den Gesang der Sirenen hören konnte. Als er diesen Gesang dann vernahm, befahl er seinen Begleitern, ihn loszubinden, was diese aber nicht befolgten. Während Odysseus also im Zustand der Autonomie den Lebenswunsch äußerte und erst im Wahnzustand seinen Wunsch in einen Sterbewillen umwandelte, liegt der Fall in den meisten Patientenverfügungen gerade umgekehrt. Im Zustand der Autonomie wird ein Sterbewunsch angeordnet, welcher sich dann im einwilligungsunfähigen Zustand in einen Lebenswunsch wandelt. Zutreffend ist die Bezeichnung Odysseus-Anweisung vielmehr bei psychiatrischen Patientenverfügungen, auch psychiatrische Testamente18 sowie psychiatrische Behandlungsvereinbarungen19 genannt. Zwar können auch hier vorab negativ psychiatrische Behandlungen abgelehnt werden20, im Rahmen einer solchen Vorausverfügung kann der Betroffene aber insbesondere vorab in bestimmte Maßnahmen einwilligen, welche die Ärzte im Falle einer akuten psychiatrischen Krise notfalls gegen den eigenen Willen ergreifen sollen, um die Entscheidungsfähigkeit schnellstmöglich wiederherzustellen.21 Angelehnt an den Problembereich des „lebensfrohen Demenzkranken“ stellt sich auch hier die Frage, wie mit einem Widerstand gegen die in der Verfügung festgelegten Therapie in der aktuellen Behandlungssituation umgegangen werden soll. Verneint man nach dem Gesetzgeberwillen die Legitimationsqualität einer Patientenverfügung in Bezug auf die Durchführung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme, müssen trotz einwilligender Patientenverfügung die strengen Voraussetzungen der §§ 1906a BGB i. V. m. §§ 312 ff. FamFG für die Durchführung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme gewahrt werden. Da dies faktisch die ärztliche Heilmaßnahme in vielen Fällen verhindert, zumindest aber erheblich verzögert22, stellt sich auch hier die Frage, ob es dem Patienten freisteht, diesen „natürlichen Widerstand“ vorab für unbeachtlich zu erklären oder zumindest teilweise auf die zu seinem Schutz bestehenden gesetzlichen Vorschriften zu verzichten. Ziel ist es dann im Gegensatz zur Abfassung einer Patientenverfügung in einer finalen Lebenssituation primär, sich selbst vor eigenen künftigen Widerstandshandlungen zu schützen. Anders als bei der typischen Patientenverfügung am Lebensende ist in diesen Fällen das Handeln der Ärzte gerade gewollt. Da die Vorschriften zur Regelung von ärztlichen Zwangsbehandlungen den Betroffenen vor Fremdbestimmung – nämlich vor klassisch paternalistischen Eingriffen – schützen 18 Brosey, BtPrax 2010, 161 (162); siehe auch http://www.antipsychiatrieverlag.de/info/pdf/ pt.pdf (zuletzt aufgerufen am 14.08.2017). 19 Heitmann, in: NK-BGB, § 1901a Rn. 45 f. 20 Müller, in: Beck-OK, § 1906 Rn. 26; Mittag, in: Gewalt und Psyche, S. 51; Marschner, in: Jürgens Betreuungsrecht, § 1906 Rn. 36; Dodegge, NJW 2013, 1265 (1265); Dodegge, in: Praxiskommentar Betreuungsrecht, S. 554 Rn. 32c; mittlerweile ist dies durch die Einführung des neuen § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BGB ausdrücklich kodifiziert. 21 Müller, Ethik Med 2016, 255 (255 f.). 22 Siehe hierzu ausführlich Kap. 3 C. IV. 2.
B. Die Odysseus-Anweisung als Instrument der antizipierten Selbstbestimmung
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sollen, könnte eine selbstpaternalistische Selbstbestimmung in Form einer OdysseusAnweisung die Anwendung dieser Normen – zumindest teilweise – entbehrlich machen. Kernunterschied zur finalen Patientenverfügung am Lebensende ist aber die Tatsache, dass die Einwilligungsfähigkeit des Betroffenen meist nach Behandlungsende wiederhergestellt ist. Die meist intervallartig auftretenden Schübe der psychischen Erkrankung23 führen dazu, dass der Patient die Behandlungssituation oft bereits häufiger erlebt hat. Er kennt die in Frage kommenden Therapiemethoden und kann sich in die Behandlungssituation besser hineinversetzen. Im Folgenden soll zunächst eine erste juristische Qualifikation der OdysseusAnweisung erfolgen. Um deren praktische Relevanz zu verdeutlichen und dem Rechtsinstitut die Abstraktion zu nehmen, wird daraufhin die Odysseus-Anweisung im Rahmen der Patientenverfügung untersucht. Nach einem kurzen Überblick über die Grundsätze der Patientenverfügung in Abgrenzung zu den anderen gebräuchlichen Vorsorgeverfügungen nach dem BGB werden die bisherigen Lösungsvorschläge für den Problemkreis des der Patientenverfügung entgegenstehenden natürlichen Willens dargestellt. Da sich zeigen wird, dass nach nahezu jeder Ansicht dieser Wille zumindest teilweise Berücksichtigung finden muss, wird der Kernpunkt des Kapitels in der Frage liegen, ob und wie dem Betroffenen die Möglichkeit zusteht, mittels einer Odysseus-Anweisung seine Patientenverfügung bindend auszugestalten, um den natürlichen Willen vorab für unbeachtlich zu erklären.
B. Die Odysseus-Anweisung als Instrument der antizipierten Selbstbestimmung I. Begriff In Anknüpfung an die berühmte Mythologie des Odysseus und der Insel der Sirenen ist der Begriff der Odysseus-Anweisung (teilweise auch Odysseus-Verfügung genannt24) vor allem in der Medizinethik gebräuchlich.25 In der internationalen moralphilosophischen Diskussion werden Odysseus-Anweisungen meist als
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Henking/Mittag, in: Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen, S. 84. So Müller, Ethik Med 2016, 255 (255 ff.); Romfeld, Ethik Med 2016, 259 (259 ff.); Aicher, in: Grenzen der Selbstbestimmung in der Medizin, S. 282 ff.; dieser Begriff soll aber wegen der terminologischen Ungenauigkeit im Folgenden vermieden werden, da es sich nicht um eine Verfügung im rechtstechnischen Sinn handelt. 25 Vgl. dazu nur Hallich, ZphF 2011, 151 (151 ff.); Magnus, Patientenautonomie im Strafrecht, S. 200 f. 24
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
„Ulysses contracts“ bezeichnet.26 Anders als die wörtliche Übersetzung es vermuten lassen würde, sind damit keine schuldrechtlichen Verträge im herkömmlichen Sinne, sondern vielmehr Odysseus-Anweisungen nach dem hier verwandten Begriffsverständnis gemeint.27 Der Verfasser einer Odysseus-Anweisung will zum Zeitpunkt der Erteilung der Anweisung (t1) sicherstellen, dass sein gegenwärtiger Wille (w1) zu einem zukünftigen Zeitpunkt (t2) autoritativ bleibt, sogar wenn er zum Zeitpunkt t2 einen anderen Willen (w2) äußert. Während im Zeitpunkt t1 eine autonome Entscheidung getroffen wird, befindet sich der Betroffene im Zeitpunkt t2 meist28 im Zustand einer Entscheidungsunfähigkeit bzw. einer zweifelhaften Entscheidungsfähigkeit. Der Sinn einer solchen Odysseus-Anweisung liegt darin, dafür Sorge zu tragen, dass neben externen negativen Einflüssen auch interne (krankheitsbedingte) Einflüsse, die in der Lage sind, die eigene Wahrnehmung, das Denken, das Urteilsvermögen oder die Selbstkontrolle massiv zu beeinträchtigen, keine selbstschädigenden Auswirkungen auf das zukünftige eigene Handeln entfalten können.29 Beispielsweise soll dadurch verhindert werden, dass psychiatrische Krankheitsbilder wie eine Manie, Halluzinationen, Verfolgungswahn, Hyperaggressivität, Hypersexualität oder Selbstverletzungsimpulse nicht in selbstschädigenden Verhaltensweisen resultieren.30 Im medizinischen Bereich werden derartige Anweisungen in der Regel verwendet, um zu verhindern, die eigene, wohlbedachte Vorsorge im Zustand mangelhafter Willensbildung zu zerstören. Insbesondere in der Medizinethik wird die Odysseus-Anweisung meist am Beispiel der Patientenverfügung erörtert.31 Dabei wird eine Odysseus-Anweisung teilweise als besondere Form der Patientenverfügung bezeichnet.32 Dagegen wird im Rahmen dieser Untersuchung eine Odysseus26
Vgl. z. B. Quante, Personales Leben und menschlicher Tod, S. 287 ff.; Spellecy, Kennedy Inst. Ethics J. 2003, 373 (373 ff.); Davis, Kennedy Inst. Ethics J. 2008, 87 (92); Dresser, The Hastings Center Report 1984, 13 (13 ff.); Gremmen/Widdershoven/Beekman/Zuijderhoudt/ Sevenhuijsen, J. Med. Ethics 2008, 77 (77 ff.): „Ulysses arrangements“. 27 Siehe dazu beispielsweise Davis, Kennedy Inst. Ethics J. 2008, 87 (92): „However, the future limitation may also be imposed by other parties who act to help carry out the agent’s earlier intentions- as with mental health directives, where the psychiatrist may have the patient committed to treatment against the patient’s will. I will speak of Ulysses contracts in those cases.“; vgl. dazu auch Kap. 3 C. V. 1. c). 28 Entgegen Schöne-Seifert, Grundlagen der Medizinethik, S. 54, aber in Übereinstimmung mit Hallich, ZphF 2011, 151 (151) und Quante, Personales Leben und menschlicher Tod, S. 288, soll sich die Odysseus-Anweisung auch auf Situationen beziehen, in denen der Verfasser – wenn auch nur minimal – kompetent bleibt. 29 Müller, Ethik Med 2016, 255 (255). 30 Müller, Ethik Med 2016, 255 (255). 31 So beispielweise von Hallich, ZphF 2011, 151 (151 ff.); Aicher, in: Grenzen der Selbstbestimmung in der Medizin, S. 282 ff.; Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 181 ff. 32 Aicher, in: Grenzen der Selbstbestimmung in der Medizin, S. 287; Hallich, ZphF 2011, 151 (152); Müller, Ethik Med 2016, 255 (256).
B. Die Odysseus-Anweisung als Instrument der antizipierten Selbstbestimmung
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Anweisung nicht als „eigene Art“ von Patientenverfügung, sondern vielmehr nur als eine Anordnung innerhalb einer Patientenverfügung verstanden.33
II. Die Rechtsnatur der Odysseus-Anweisung Im Folgenden soll eine erste juristische Qualifikation der Odysseus-Anweisung unternommen werden. In Betracht kommt die Einordnung der Odysseus-Anweisung als rechtsgeschäftliche Willenserklärung, als rechtsgeschäftsähnliche Handlung sowie als eine rein tatsächlich wirkende Willensbetätigung. Für eine Qualifizierung als Willenserklärung müsste der Betroffene einen Willen äußern, der auf eine unmittelbare Gestaltung seiner rechtlichen Verhältnisse abzielt bzw. auf die Herbeiführung einer bestimmten Rechtsfolge gerichtet ist.34 Im Unterschied zu einer Willenserklärung handelt es sich dagegen bei einer rechtsgeschäftsähnlichen Handlung um eine Willensäußerung, die nicht unmittelbar auf die Herbeiführung einer Rechtsfolge gerichtet ist; die Rechtsfolge tritt vielmehr unabhängig von einem darauf gerichteten Rechtsfolgewillen ein.35 Für geschäftsähnliche Handlungen kommt aber eine analoge Anwendung der für Willenserklärungen bestimmten Vorschriften in Betracht.36 Dagegen handelt es sich bei einer Willensbetätigung um „eine (rechtsgeschäftliche) Handlung, die nicht darauf gerichtet ist, eine Rechtsfolge durch Verlautbarung des Rechtsfolgewillens in Geltung zu setzen, sondern die bezweckt, die vom Handelnden gewollte Rechtsfolge in der Weise herbeizuführen, dass der ihr entsprechende tatsächliche Zustand hergestellt wird.“37 Der Zweck einer Odysseus-Anweisung liegt regelmäßig darin zu verhindern, dass im Rahmen der Auslegung der antizipierten Erklärung – auf die sich die OdysseusAnweisung bezieht – entweder der wirkliche Wille verfehlt wird oder der vorab festgelegte Wille unter Verweis auf einen – möglicherweise nur behaupteten – späteren Sinneswandel übergangen wird.38
33
In Übereinstimmung mit Magnus, Patientenautonomie im Strafrecht, S. 200 f. BGH, NJW 2001, 289 (290); Singer, in: Staudinger BGB, Vorbem zu §§ 116 ff. Rn. 1; Ellenberger, in: Palandt BGB, Einf v § 116 Rn. 1; Medicus/Petersen, BGB AT, S. 85 Rn. 175. 35 Ulrici, NJW 2003, 2053 (2053); Medicus/Petersen, BGB AT, S. 96 Rn. 197; Singer, in: Staudinger BGB, Vorbem zu §§ 116 ff. Rn. 2; Wolf/Neuner, BGB AT, S. 329 Rn. 8. 36 Ulrici, NJW 2003, 2053 (2054); Medicus/Petersen, BGB AT, S. 97 Rn. 198; Singer, in: Staudinger BGB, Vorbem zu §§ 116 ff. Rn. 2; Wolf/Neuner, BGB AT, S. 329 Rn. 10. 37 Wolf/Neuner, BGB AT, S. 335 Rn. 32; ähnlich auch Singer, in: Staudinger BGB, Vorbem zu §§ 166 ff. Rn. 4. 38 Lipp, in: Handbuch der Vorsorgeverfügungen, S. 366 Rn. 72. 34
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
Die Umsetzung der antizipierten Erklärung, auf die sich die Odysseus-Anweisung bezieht, soll auch entgegen einem meist im Zeitpunkt der Einwilligungsunfähigkeit geäußerten entgegenstehenden Willen gesichert werden. Durch eine OdysseusAnweisung soll eine antizipierte Willensänderung vorab ausgeschlossen werden, um selbstschädigende Verhaltensweisen zur Förderung des eigenen Wohls zu verhindern. Sie stellt damit einen selbstständigen Annex innerhalb der Erklärung dar, auf die sie sich bezieht. Da es dem Verfasser einer Odysseus-Anweisung regelmäßig gerade darauf ankommt, im Rahmen seines Selbstbestimmungsrechts sicherzustellen, dass bestimmte, antizipierte spätere Präferenzäußerungen nicht beachtet werden, will er im Zeitpunkt der Erstellung eine rechtsverbindliche Regelung treffen.39 Nicht nur Dritten, sondern auch sich selbst, soll der Einfluss auf die (rechtliche) Bewertung seines späteren Verhaltens vorab genommen werden. Eine Umsetzung Dritter, so bei einer reinen Bitte um Beachtung der eigenen Vorrangpräferenz, soll dadurch gerade obsolet gemacht werden. Die Odysseus-Anweisung ist somit unmittelbar auf die Gestaltung eines rechtlichen Verhältnisses gerichtet, sodass sie als rechtsgeschäftliche Willenserklärung eingeordnet werden könnte. Problematisch ist allerdings, dass die für Willenserklärungen anwendbaren Vorschriften nicht ausnahmslos für Odysseus-Anweisungen zweckdienlich sind. Zum einen erscheinen die Regelungen über die Stellvertretung (§§ 164 ff. BGB), als auch die Vorschriften über den Zugang (§§ 130 ff. BGB) oder der für die Auslegung maßgeblichen Normen (§§ 133, [157 analog] BGB) für Willenserklärungen in Bezug auf eine Odysseus-Anweisung unpassend. Daneben muss für die Wirksamkeit einer Willenserklärung Geschäftsfähigkeit vorliegen, während für Erklärungen, auf die sich die Odysseus-Anweisung regelmäßig bezieht – in etwa Patientenverfügungen40 – häufig das Vorliegen von Einwilligungsfähigkeit ausreichen wird. Auch sind Willenserklärungen nach Zugang grundsätzlich nicht widerruflich, die Regelungen über die Anfechtung von Willenserklärungen (§§ 119 ff. BGB) dagegen mit ihrer extunc-Wirkung unpassend für Odysseus-Anweisungen. Das primäre Ziel des Verfassers einer Odysseus-Anweisung ist es, sicherzustellen, dass die antizipierte Erklärung, auch entgegen einer späteren Willensänderung, umgesetzt wird. Dabei darf nicht übersehen werden, dass eine Odysseus-Anweisung nur dann notwendig ist, wenn bei deren Fehlen eine Umsetzung der ursprünglichen Erklärung gerade nicht in Frage käme. Da die Odysseus-Anweisung in der Regel erst bei Entscheidungsunfähigkeit des Verfassers zur Anwendung gelangt, da nur für diesen Fall die Ausgangsverfügung verfasst wird, liegt die Entscheidungsbefugnis über deren Umsetzung meist bei einer anderen Person. Diese soll zur Umsetzung der ursprünglichen Erklärung, auch entgegen dem aktuell geäußerten entgegengesetzten Willen, legitimiert, wenn nicht sogar verpflichtet werden. 39 So auch Müller, Ethik Med 2016, 255 (255 f.); Magnus, Patientenautonomie im Strafrecht, S. 201. 40 Kap. 2 C. II. 2.
B. Die Odysseus-Anweisung als Instrument der antizipierten Selbstbestimmung
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Diese Legitimation zur Umsetzung einer Erklärung ist im juristischen Sinne als antizipierte Einwilligung zu qualifizieren; in diesem Kontext als eine antizipierte Einwilligung zur Umsetzung oder dem Unterlassen einer Maßnahme, die bereits vorab festgelegt wurde, deren Umsetzung aber am entgegenstehenden aktuellen Willen scheitern würde. Mit der Odysseus-Anweisung soll damit dem Dritten die Vornahme einer tatsächlichen Handlung im Rechtskreis des Verfassers der Anweisung erlaubt werden: Nämlich die Umsetzung des antizipiert erklärten Willens, welche dem Dritten gerade aufgrund des zum Zeitpunkt des Eingriffs entgegenstehenden aktuellen Willens verwehrt wäre, sodass dessen Einwirkungsbefugnis erweitert wird. Bezogen auf ihren Hauptanwendungsfall, nämlich die Patientenverfügung, ist die Odysseus-Anweisung damit eine antizipierte Einwilligung zur Umsetzung der Patientenverfügung trotz eines entgegenstehenden natürlichen Willens. Eine zivilrechtliche Einwilligung stellt nach ihrer Dogmatik und Terminologie des Gesetzes aber keine Willenserklärung im engeren Sinn dar.41 Sie ist vielmehr eine „Gestattung oder Ermächtigung zur Vornahme tatsächlicher Handlungen, die in den Rechtskreis des Gestattenden eingreifen.“42 So sind Einwilligungen im Gegensatz zu Willenserklärungen jederzeit widerruflich (vgl. nur §§ 630d Abs. 3, 1901a Abs. 1 S. 3 BGB), nicht vom Vorliegen von Geschäftsfähigkeit abhängig sowie als höchstpersönliche Erklärungen nicht der Stellvertretung zugänglich.43 Zudem sind sie bei Aufklärungsmängeln nicht anfechtbar44, sondern es fehlt dann bereits tatbestandlich an einer Einwilligung, was die strukturellen Unterschiede zwischen Willenserklärung und Einwilligung verdeutlicht.45 Unter Beachtung dieser Modifikationen sind die Regelungen über Willenserklärungen aber analog anwendbar.46 Abzugrenzen von der (echten) Odysseus-Anweisung als antizipierte Einwilligung sind vor allem in der Medizinethik häufig unter den Begriff subsumierte vorwegnehmende Bitten oder Wünsche von Patienten an Dritte, spätere Willenspräferenzen nicht zu beachten. Da diese aufgrund ihrer fehlenden Verbindlichkeit nicht als antizipierte Einwilligungen zu behandeln sind47, bleiben sie als unechte OdysseusAnweisungen im Folgenden außer Betracht. 41 Wolf/Neuner, BGB AT, S. 334 Rn. 29; Katzenmeier, in: Beck-OK, § 630d Rn. 7; Wagner, in: Münchener Kommentar, § 630d Rn. 9; a. A. Schwab, in: Münchener Kommentar, § 194 Rn. 9; letztlich kann dies dahinstehen, da nach beiden Ansichten soweit passend die Regelungen über Willenserklärungen entsprechend angewendet werden. 42 BGH, NJW 1959, 811 (811); NJW 1988, 2946 (2947); zum Meinungsstand auch Kohte, AcP 1985, 105 (105 ff.). 43 Wolf/Neuner, BGB AT, S. 334 Rn. 29; Wagner, in: Münchener Kommentar, § 630d Rn. 9. 44 Weidenkaff, in: Palandt BGB, § 630d Rn. 2. 45 Wolf/Neuner, BGB AT, S. 334 Rn. 29. 46 Wagner, in: Münchener Kommentar, § 630d Rn. 9; Damm, MedR 2015, 775 (776 f.). 47 Lipp, in: Handbuch der Vorsorgeverfügungen, S. 353 Rn. 1.
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
Zudem verzichtet der Betroffene – indem er eine Umsetzung der Erklärung trotz Präferenzänderung anordnet – zwar auf zu seinem Schutze errichtete Rechte, da er damit aber seine Rechtszuständigkeit nicht absolut übertragen will, sondern vielmehr nur einen konkreten Eingriff erlaubt, liegt in einer Odysseus-Anweisung keine einseitige Verzichtserklärung.48 Da die Odysseus-Anweisung erst mit der antizipierten Willensänderung Wirksamkeit erlangt, steht sie unter einer aufschiebenden Bedingung gem. § 158 Abs. 1 BGB.49 Die Willensänderung und damit verbunden das Auseinanderfallen des vorherigen und aktuellen Willens des Betroffenen ist eine Wirksamkeitsvoraussetzung der (echten) Odysseus-Anweisung. Besteht nämlich eine Kongruenz zwischen vorausverfügtem und aktuellem Willen, bleibt es ohnehin bei der Umsetzung der Erklärung und die Odysseus-Anweisung gelangt nicht zur Anwendung. Eine echte Odysseus-Anweisung ist damit eine antizipierte Einwilligung, die darauf gerichtet ist, eine andere Person zur Umsetzung einer im Voraus festgelegten Erklärung zu legitimieren oder zu verpflichten.
III. Inhalt und Wirksamkeitsvoraussetzungen einer Odysseus-Anweisung Festgestellt wurde, dass der Verfasser einer Odysseus-Anweisung zum Zeitpunkt der Erteilung der Anweisung (t1) sicherstellen will, dass sein gegenwärtiger Wille (w1) zu einem zukünftigen Zeitpunkt (t2) autoritativ bleibt, sogar wenn er zum Zeitpunkt t2 einen anderen Willen (w2) äußert. Um dieses Ziel zu erreichen, sind drei Regelungsvarianten einer Odysseus-Anweisung denkbar: Die antizipierte Willensänderung könnte dann für unbeachtlich erklärt werden, wenn es mit Hilfe einer Odysseus-Anweisung möglich wäre, die Erklärung, deren Umsetzung sichergestellt werden soll, vorab unwiderruflich auszugestalten. Daneben könnten mit einer Odysseus-Anweisung die Anforderungen, die für die Außerkraftsetzung der Erklärung, deren Umsetzung sichergestellt werden soll, so maßgeblich erhöht werden, dass eine Aufhebung faktisch unmöglich gemacht wird. Soll mit der Odysseus-Anweisung dagegen die Umsetzung einer Erklärung sichergestellt werden, hängt diese Durchsetzung aber von weiteren Voraussetzungen ab, könnten diese Voraussetzungen auch verringert werden, um die Umsetzung zu gewährleisten. 48
Vgl. ganz allgemein zur Abgrenzung von Einwilligung und Verzicht Ohly, Volenti non fit iniura, S. 147 f., 280. 49 Siehe allgemein zu der Möglichkeit, antizipierte Erklärungen mit einer Bedingung zu versehen Lipp, in: Handbuch der Vorsorgeverfügungen, S. 360 Rn. 36 f.
B. Die Odysseus-Anweisung als Instrument der antizipierten Selbstbestimmung
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Da es dafür aber letztlich jeweils auf den Rechtscharakter der Erklärung, auf die sich die Odysseus-Anweisung bezieht, ankommt, kann die Beurteilung der Zulässigkeit der Ausgestaltungsmöglichkeiten einer Odysseus-Anweisung nicht abstrakt erfolgen. Dies soll im Laufe der Untersuchung vielmehr am Beispiel der Patientenverfügung untersucht werden.50 Zweck der Odysseus-Anweisung ist die Verhinderung zukünftiger selbstschädigender Verhaltensweisen. Der Begriff der Selbstschädigung ist dabei weit zu verstehen; unschädlich ist, wenn die Verhinderung zukünftiger selbstschädigender Verhaltensweisen nicht der Hauptzweck der Odysseus-Anweisung ist. Gerade im medizinischen Bereich liegt dieser Hauptzweck nämlich häufig im Schutz vor unerwünschten Wertentscheidungen Dritter. Notwendig, aber auch ausreichend ist vielmehr, wenn sich der Betroffene mittels der Odysseus-Anweisung verpflichtet, einer Handlungsalternative zu folgen, die einem selbst definierten Wohl dient. Besonderes Merkmal der Odysseus-Anweisung als antizipierte Einwilligung ist ihre Zukunftsbezogenheit. Während zwar nicht der exakte Zeitpunkt vorab feststeht, für den sie gelten soll, bezieht sie sich immer auf ein bestimmtes Ereignis, nämlich die antizipierte Willensänderung. Grundsätzlich gelten neben den allgemeinen Wirksamkeitsvoraussetzungen für alle rechtlichen Erklärungen keine besonderen Voraussetzungen für antizipierte Willenserklärungen; dasselbe gilt für antizipierte rechtsgeschäftsähnliche Erklärungen, also auch für die Odysseus-Anweisung als antizipierte Einwilligung.51 Auch diese zielen auf die unmittelbare Gestaltung der rechtlichen Verhältnisse ab, bedürfen also nicht noch der Umsetzung Dritter zur Herbeiführung der gewünschten Rechtsfolge.52 Dennoch sind bei antizipierten Erklärungen verstärkt die Grenzen der Privatautonomie zu beachten.53 Dies gilt insbesondere für eine Odysseus-Anweisung, da mit ihr eine Selbstbindung für die Zukunft erfolgen soll. Die Odysseus-Anweisung kann sich dabei auf die gesamte Erklärung oder nur auf Teile der umzusetzenden Erklärung beziehen. Mit der Zukunftsbezogenheit der Odysseus-Anweisung sind auch bestimmte Gefahren verbunden. Da bis zum Wirkungszeitpunkt der antizipierten Willenserklärung ein langer Zeitraum liegen kann, hat der Erklärende das Risiko, dass eine andere als die vorgestellte Situation eintritt und/oder, dass er seine antizipierte Erklärung nicht mehr rechtzeitig ändert oder ändern kann.54 Auch besteht die Gefahr, 50
Siehe dazu ausführlich Kap. 3 C. V. Lipp, in: Handbuch der Vorsorgeverfügungen, S. 353 Rn. 2. 52 Lipp, in: Handbuch der Vorsorgeverfügungen, S. 353 Rn. 1 f. 53 Lipp, in: Handbuch der Vorsorgeverfügungen, S. 360 Rn. 38 f. 54 Lipp, in: Handbuch der Vorsorgeverfügungen, S. 361 Rn. 40 ff.; Diedrichsen, in: FS Schreiber, S. 648. 51
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
dass sich weitere Umstände oder deren Bewertung durch den Erklärenden geändert haben. Zwar ist eine Willensänderung in Bezug auf diejenige Erklärung, auf die sich die Odysseus-Anweisung bezieht, ohnehin nicht erwünscht. Dies soll gerade mit der Anweisung abgesichert werden. Allerdings besteht das Risiko, dass der Betroffene auch seine Ansicht über die Odysseus-Anweisung an sich möglicherweise nicht mehr ändern kann.55 Zudem müssen sich sowohl Behandelnde als auch die zur Entscheidung berufenen Fürsorgepersonen darauf verlassen können, dass ein Handeln entsprechend der Odysseus-Anweisung durch diese selbst legitimiert wird. Damit der Odysseus-Anweisung als Instrument der antizipierten Selbstbestimmung im Rechtsverkehr auch Vertrauen entgegengebracht wird, ist sie also besonders strengen Wirksamkeitsvoraussetzungen zu unterwerfen. Da durch die Odysseus-Anweisung die Umsetzung der ursprünglichen Erklärung gewährleistet werden soll, ist zu fordern, dass sie mindestens demselben Formerfordernis unterliegt, wie die Erklärung, auf die sie sich bezieht.56 Da die Schriftform insbesondere dem Zweck eines Übereilungsschutzes (auch Warnfunktion) dient57, muss diesem Schutzgedanken gerade dann Rechnung getragen werden, wenn die Bindungswirkung der ursprünglichen Erklärung verstärkt werden soll. Zumal die Einhaltung einer Schriftform bereits aus Beweisgründen anzuraten sein wird. Wenn sich die Odysseus-Anweisung auf eine Vorsorgeverfügung bezieht, käme auch in Betracht, eine umfassende Aufklärung durch einen Arzt und/oder einen juristischen Vertreter zu fordern, welche auch jeweils auf dem Dokument bestätigt werden muss. Dies ist allein schon deshalb sinnvoll, weil wohl die wenigsten Verfasser einer Vorsorgeverfügung auf die Idee kommen würden, zur Gewährleistung ihrer Patientenautonomie diese mit einer Odysseus-Anweisung zu versehen.58 Daneben könnte eine positive Feststellung des Vorliegens von Einwilligungsfähigkeit sowie die Einführung einer Frist angedacht werden, innerhalb derer die Übereinstimmung der Odysseus-Anweisung mit dem aktuellen Willen des Verfassers bestätigt werden muss.59 Daneben ist aufgrund der starken Bindungswirkung auch Geschäftsfähigkeit zum Zeitpunkt der Erstellung der Anweisung zu fordern. 55
Siehe zur Möglichkeit des Widerrufs der Odysseus-Anweisung Kap. 3 C. VI. Ein Formerfordernis folgt nämlich nicht automatisch aus der Zukunftsbezogenheit, Lipp, in: Handbuch der Vorsorgeverfügungen, S. 355 Rn. 12. 57 Einsele, in: Münchener Kommentar, § 125 Rn. 8; Wendtland, in: Beck-OK, § 125 Rn. 1; Mansel, in: Jauernig BGB, § 125 Rn. 3; Dörner, in: Schulze BGB, § 125 Rn. 2; Noack/Kremer, in: BGB AT, § 125 Rn. 10. 58 Kaufmann, Patientenverfügungen, S. 157 Fn. 907. 59 So als Wirksamkeitserfordernis für eine einwilligende Patientenverfügung gefordert von Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 338. 56
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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Letztlich kommt es aber für die Beurteilung der Wirksamkeitsvoraussetzungen auf den Rechtscharakter der Erklärung an, deren Umsetzung sichergestellt werden soll.
IV. Zwischenergebnis Im Folgenden soll dem Begriff einer echten Odysseus-Anweisung nachstehende Definition zugrunde gelegt werden: Sie ist eine antizipierte Einwilligung, die darauf gerichtet ist, eine andere Person dazu zu legitimieren oder zu verpflichten, paternalistische Handlungen an ihr vorzunehmen, um antizipierte selbstschädigende Verhaltensweisen zur Förderung des eigenen Wohls zu verhindern.
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung Als Einführung in die Problematik der Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung sollen die Fallbeispiele der fiktiven Personen A und B dienen: Der berühmte Sänger A erfährt von seinem Arzt, dass er an einer besonders schweren Form von Alzheimer erkrankt ist.60 Der Arzt empfiehlt ihm, eine Patientenverfügung zu verfassen, da A in ca. fünf Jahren schwer dement sein wird. A, von dem ein Leben, in dem er nicht mehr weiß, wer er ist, wo er ist, seine Freunde und Familie nicht mehr erkennt und in dem er vor allem nicht mehr singen kann, für unwürdig befunden wird, verfügt in seiner Patientenverfügung, dass im Zustand schwerer Demenz bei einer Erkrankung oder Verletzung keine lebenserhaltenden Maßnahmen eingeleitet werden dürfen. Nach fünf Jahren tritt die vom Arzt prognostizierte Situation ein. A ist nun schwer dement, wirkt aber trotz der Erkrankung sehr glücklich und lebensfroh. Er malt Bilder und erfreut sich daran, wenn Freunde und Familie ihn besuchen kommen. Eines Tages stürzt A auf der Treppe und zieht sich einen komplizierten Oberschenkelhalsbruch zu. Dieser könnte in einer Operation geheilt werden, bei Unterbleiben der Behandlung hätte die Verletzung aber letale Folgen. Während sich seine Angehörigen gegen eine Operation aufgrund der Patientenverfügung aussprechen, meint das Pflegepersonal, A wirke so glücklich und lebensfroh, er habe seine Meinung über die Patientenverfügung geändert, weswegen eine Operation unbedingt zu erfolgen
60
Angelehnt an den Fall „Margo“ vgl. Firlik, JAMA 1991, 201 (201 ff.).
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
habe. Der behandelnde Arzt fragt sich nun, ob er die Operation trotz der entgegenstehenden Patientenverfügung durchführen darf.61 Der manisch-depressive B hat aufgrund in der Vergangenheit stattfindender mehrmaliger Aufenthalte schon viel Erfahrung mit psychiatrischen Kliniken. Seine Krankheit äußert sich, indem auf eine Phase der Depression regelmäßig eine Phase der Manie folgt, gegen deren Ende B meist einem völligen Kontrollverlust unterliegt und in eine Klinik eingeliefert wird. Aufgrund seiner häufigen Klinikaufenthalte weiß B ganz genau, welche Medikamente ihm bisher eine schnelle Linderung seiner Symptome verschaffen konnten und welche Behandlungsmaßnahme ihm nicht half oder seine Symptome sogar verschlimmert hat. Deshalb verfasst er eine psychiatrische Patientenverfügung, in der er mit Hilfe seines Arztes genau festlegt, mit welchen Maßnahmen und Medikamenten er in psychiatrischen Krisen behandelt werden möchte. Kurze Zeit später tritt erneut eine Krisensituation auf und B wird in eine Klinik eingeliefert. Als die Ärzte ihm die Medikamente verabreichen wollen, deren Verordnung er in seiner psychiatrischen Patientenverfügung angeordnet hat, leistet er aktiv physischen Widerstand gegen die Behandlungsmaßnahme. Der behandelnde Arzt fragt sich nun, ob er trotz des aktiv geleisteten Widerstands des B und aufgrund seiner Patientenverfügung das Medikament zwangsweise verabreichen darf. Im ersten Fall liegt eine negative Patientenverfügung62 vor, in der der Betroffene die Durchführung einer ärztlichen Maßnahme untersagt, jedoch mittels eines aktuellen natürlichen Willens der im Voraus untersagten Behandlung scheinbar zustimmt. Im zweiten Fall liegt eine positive Patientenverfügung vor, in der der Betroffene in die Durchführung einer ärztlichen Maßnahme einwilligt, jedoch mittels eines aktuellen natürlichen Willens die Behandlung ablehnt. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Fällen ist, dass durch eine negative Patientenverfügung eine indizierte ärztliche Maßnahme verhindert wird, während eine positive Patientenverfügung eine vorab festgelegte Behandlung legitimieren soll.
61 Häufig diskutierter Fall zu diesem Problemkreis ist der an Demenz erkrankte und am 9. Juni 2013 verstorbene Rhetorikprofessor Walter Jens: Jens, Ein Nach-Wort in eigener Sache, in: Menschenwürdig sterben, S. 199 f.; Wilckens, MDR 2011, 143 (144); Coeppicus, NJW 2011, 2085 (2091 Fn. 46); Jox, in: Patientenverfügung, S. 129 f. 62 Eine Patientenverfügung kann aufgrund vielfältiger Lebenssituationen sehr viele Anordnungen enthalten und sowohl untersagende als auch einwilligende Festlegungen beinhalten. Lediglich zum Zwecke der Vereinfachung wird im Folgenden als negative Patientenverfügung der Fall umschrieben, dass eine indizierte ärztliche Maßnahme vorab abgelehnt wird, während im Rahmen einer positiven Patientenverfügung in eine bestimmte Behandlung vorab eingewilligt wird.
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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Während in den meisten Fällen die Patientenverfügung und der natürliche Wille übereinstimmen, zeigt die zunehmende Diskussion des Problembereichs, dass ein derartiges Auseinanderfallen von antizipiert erklärtem und natürlichem Willen auch in der Praxis auftritt und vermehrt als Rechtsproblem wahrgenommen wird. Nachdem zunächst die unterschiedlichen Stufen der Entscheidungsfähigkeit im Zivilrecht und die Grundsätze der Patientenverfügung betrachtet werden, soll daraufhin untersucht werden, welche Lösungsansätze zu diesen Fällen bisher in der Literatur vertreten werden. Da sich letztlich zeigen wird, dass sich in der Rechtsliteratur kaum eine Stimme findet, die auf eine Berücksichtigung des natürlichen Willens absolut verzichtet, sollen daraufhin die sich daraus ergebenen praktischen Konsequenzen für den Betroffen erläutert werden. Neben Beschränkungen des Selbstbestimmungsrechts wird sich insbesondere in Bezug auf akute psychiatrische Krisen zeigen, dass für Betroffene aufgrund des Unterbleibens einer von ihnen verweigerten medizinischen Maßnahme die Gefahr eines erneuten Krankheitsschubes, einer längeren Unterbringung oder eines sonstigen erheblichen Schadens steigt.63 Deshalb wird der zentrale Kern des Kapitels die Frage beantworten, inwieweit es dem Betroffenen möglich ist, die Beachtlichkeit des natürlichen Willens vorab auszuschließen, um diese mit dem Vorrang des natürlichen Willens verbundenen Konsequenzen abzuwenden und sich so vor sich selbst zu schützen.
I. Die Stufen der Selbstbestimmungsfähigkeit im Zivilrecht Da insbesondere in Frage stehen wird, inwieweit ein natürlicher Wille imstande ist, die Festlegungen in einer Patientenverfügung aufzuheben, ist es unerlässlich, zunächst die im BGB unterschiedenen Grade der Selbstbestimmungsfähigkeit und deren Verhältnis zueinander zu untersuchen. So wird differenziert zwischen der Geschäftsfähigkeit, der Einwilligungsfähigkeit sowie dem Vorliegen eines natürlichen Willens. In Abgrenzung dazu ist im Strafrecht der Begriff der Schuldfähigkeit von maßgeblicher Bedeutung.64
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So auch schon BGH, BtPrax 2008, 115 (117), FamRZ 2001, 149 (152). Unter Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) wird die durch eine bestimmte Störung des Bewusstseins bedingte fehlende Unrechtseinsichts- und Steuerungsfähigkeit zum Zeitpunkt einer Straftat verstanden, Eschelbach, in: Beck-OK StGB, § 20 Rn. 1 ff.; Streng, in: Münchener Kommentar StGB, § 20 Rn. 1 ff. jeweils m. w. N. 64
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1. Geschäftsfähigkeit Das BGB geht von der Regel aus, dass jeder erwachsene Mensch uneingeschränkt geschäftsfähig ist.65 Nur als Ausnahme wird in den §§ 104, 106 BGB abschließend normiert, wer geschäftsunfähig oder beschränkt geschäftsfähig ist. Gem. § 104 BGB ist geschäftsunfähig, wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat (Nr. 1) und wer sich in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist (Nr. 2).66 Erfasst werden im Rahmen der Nr. 2 sowohl die Geisteskrankheit als auch die Geistesschwäche.67 Der Zustand muss dauerhaft sein, aber nicht unheilbar. So ist auch eine physische Störung, die zwar heilbar ist, aber deren Behandlung eine längere Zeit in Anspruch nimmt, als nicht nur vorübergehend anzusehen.68 Vorübergehend sind dagegen meist Zustände, die durch Alkohol, Medikamente oder Drogen ausgelöst wurden.69 Die krankhafte Störung der Geistestätigkeit schließt dann die freie Willensbestimmung aus, wenn der Betroffene nicht in der Lage ist, seine Entscheidungen unbeeinflusst von der Geistesstörung zu bilden und von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. Abzustellen ist dabei darauf, ob eine freie Entscheidung aufgrund einer Abwägung des Für und Wider eine sachliche Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte möglich ist, oder ob umgekehrt von einer freien Willensbildung nicht mehr gesprochen werden kann, etwa weil der Betroffene fremden Willenseinflüssen unterliegt oder die Willenserklärung durch unkontrollierte Triebe und Vorstellungen ähnlich einer mechanischen Verknüpfung von Ursache und Wirkung ausgelöst wird.70 Die Anordnung einer Betreuung i. S. v. § 1896 BGB hat dabei keinen Einfluss auf die Geschäftsfähigkeit des Betreuten.71 Mit der Geschäftsunfähigkeit gem. § 104 Nr. 2 BGB geht die Einwilligungsunfähigkeit als besondere Ausprägung einher, da der geschäftsunfähige Betroffene auch einsichts- und steuerungsunfähig ist.72
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BAG, NJW 1994, 2501 (2502); BVerwG, NJW 1994, 2633 (2634); Wendtland, in: BeckOK, § 104 Rn. 1; Schmitt, in: Münchener Kommentar, § 104 Rn. 2. 66 Eine vorübergehende Störung der Geistestätigkeit führt nicht zur Geschäftsunfähigkeit, vielmehr sind nur die Willenserklärungen, die in einem solchen Zustand abgegeben werden, gem. § 105 Abs. 2 Alt. 2 BGB nichtig, vgl. dazu näher Schmitt, in: Münchener Kommentar, § 104 Rn. 9. 67 Schmitt, in: Münchener Kommentar, § 104 Rn. 11; Wendtland, in: Beck-OK, § 104 Rn. 5; Müller, in: Erman BGB, § 104 Rn. 3; Ellenberger, in: Palandt BGB, § 104 Rn. 3. 68 Wendtland, in: Beck-OK, § 104 Rn. 6; Schmitt, in: Münchener Kommentar, § 104 Rn. 12; Wedemann, JURA 2010, 587 (589); Ellenberger, in: Palandt BGB, § 104 Rn. 4. 69 Schmitt, in: Münchener Kommentar, § 104 Rn. 12; BayObLGZ 1956, 377 (382); Medicus/Petersen, BGB AT, S. 242 Rn. 544. 70 BGH, NJW 1953, 1342 (1342), NJW 1996, 918 (919), NJW 1970, 1680 (1681); Schmitt, in: Münchener Kommentar, § 104 Rn. 14; Wendtland, in: Beck-OK, § 104 Rn. 9. 71 Cypionka, NJW 1992, 207 (208); Wendtland, in: Beck-OK, § 104 Rn. 5. 72 Götz, Patientenautonomie, S. 41.
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Die Fälle der beschränkten Geschäftsfähigkeit sind in § 106 BGB geregelt. Willenserklärungen, die von einem Geschäftsunfähigen abgegeben sind, sind gem. § 105 Abs. 1 BGB nichtig. 2. Einwilligungsfähigkeit Eine Legaldefinition von Einwilligungsfähigkeit existiert im BGB nicht.73 Nach herrschender Ansicht liegt Einwilligungsfähigkeit aber dann vor, wenn der Betroffene Art, Bedeutung, Tragweite und Risiken einer Maßnahme erfassen und seinen Willen hiernach zu bestimmen vermag.74 So wurde der Begriff der Einwilligungsfähigkeit insbesondere entwickelt, um beschränkt Geschäftsfähigen, also (noch) nicht volljährigen Personen, die Möglichkeit der Einwilligung in ärztliche Behandlungsmaßnahmen zu gewähren.75 Dass die Einwilligungsfähigkeit nicht an starre Altersgrenzen, sondern vielmehr an die individuelle Fähigkeit, die Komplexität des geplanten Eingriffs konkret zu erfassen, gekoppelt ist, folgt aus der Höchstpersönlichkeit der Rechtsgüter, in die eingegriffen wird.76 In der Praxis ist die Feststellung, ob der Patient nach seiner konkreten Einsichtsund Urteilsfähigkeit imstande ist, Bedeutung, Tragweite und Risiken einer ärztlichen Maßnahme zu erfassen und hiernach seinen Willen zu bestimmen, häufig mit Schwierigkeiten verbunden.77 Letztlich gilt bei der Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit folgender Grundsatz: „Je komplexer der Eingriff ist, in den eingewilligt werden soll, desto höher sind die Anforderungen, die an die Einwilligungsfähigkeit – und zugleich an die Aufklärung – zu stellen sind.“78 Für die praktische Überprüfung haben sich folgende Anforderungen etabliert: Der Betroffene muss 1. den Sachverhalt verstehen können (Verständnis), 2. bestimmte Informationen in rationaler Weise verarbeiten können (Verarbeitung), 73 In einigen Spezialgesetzen ist die Bedeutung des Begriffs jedoch angedeutet, vgl. bspw. § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 3a AMG oder § 3 Abs. 3 KastrG. 74 BT-Drs. 16/8442, S. 13; BT-Drs. 11/4528, S. 71; Schwab, in: Münchener Kommentar, § 1901a Rn. 9; Roth, in: Praxiskommentar Betreuungsrecht, S. 221 Rn. 107; Knittel, Betreuungsrecht, § 1901a Rn. 63; vgl. sehr ausführlich zum Begriff der Entscheidungsfähigkeit Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 103 ff.; Damm, MedR 2015, 775 (775 ff.). 75 Roth, in: Praxiskommentar Betreuungsrecht, S. 221 Rn. 107. 76 Götz, in: Palandt BGB, § 630d Rn. 3; Spickhoff, in: Medizinrecht, § 630d Rn. 4 f.; Henking/Mittag, in: Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen, S. 35. 77 BT-Drs. 11/4528, S. 71; Diener, Patientenverfügungen psychisch kranker Personen, S. 80 m. w. N. 78 Henking/Mittag, in: Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen, S. 35.
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
3. die Informationen, auch im Hinblick auf Behandlungsalternativen, angemessen bewerten können (Bewertung), 4. den eigenen Willen auf der Grundlage von Verständnis, Verarbeitung und Bewertung der Situation bestimmen und äußern können (Bestimmbarkeit des Willens).79 Dabei kann es vorkommen, dass der Betroffene zwar hinsichtlich bestimmter Behandlungsmaßnahmen einwilligungsunfähig, dagegen aber im Übrigen in der Lage ist, eine Einwilligung wirksam zu erteilen oder bindend zu verweigern.80 Der Verlust der Einwilligungsfähigkeit führt nicht zur Unwirksamkeit einer einmal erteilten Einwilligung in eine medizinische Maßnahme, wenn der Verlust als sicher oder möglich vorausgesehen wurde. So wird die Wirksamkeit einer Einwilligung beispielsweise nicht berührt, wenn eine Einwilligung in eine Operation unter Vollnarkose erteilt wird oder in eine Medikation, deren Folge ein Zustand von Einwilligungsunfähigkeit ist.81 Wenn es jedoch nicht nur um die Abgabe einer wirksamen Einwilligung, sondern auch um die Ablehnung einer bestimmten (medizinischen) Maßnahme geht, wird im Folgenden der Begriff der Entscheidungsfähigkeit dem der Einwilligungsfähigkeit vorgezogen.82 3. Natürlicher Wille Während der Begriff des natürlichen Willens schon lange in rechtswissenschaftlichen Abhandlungen im Zusammenhang mit ärztlichen Eingriffen und Freiheitsentziehungen verwendet wird83, findet er sich auch seit 2013 erstmals ausdrücklich in einer gesetzlichen Norm wieder.84 Auch im neu gefassten § 1906a BGB spielt der Begriff des natürlichen Willens eine zentrale Rolle. Gem. § 1906a Abs. 1 79 Vgl. dazu ausführlich Kröber, Rechtsmedizin 1998, 41 (43 ff.); Henking/Mittag, in: Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen, S. 35; Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 144; Meier, BtPrax 2006, 159 (161); ähnlich auch Knittel, Betreuungsrecht, § 1901a Rn. 63. 80 BT-Drs. 11/4528, S. 71; Bienwald, in: Staudinger BGB, § 1901a und b Rn. 23. 81 Schwab, in: Münchener Kommentar, § 1904 BGB Rn. 24. 82 Diese Begriffswahl verwenden auch Bienwald, in: Staudinger BGB, § 1901a und b Rn. 22; Schwab, in: Münchener Kommentar, § 1901a Rn. 9; Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 103 f. 83 Der Begriff wurde auch schon vorher bei der Einwilligung in ärztliche Maßnahmen gem. § 1904 BGB, bei der Einwilligung in eine Sterilisation gem. § 1905 BGB, bei der Unterbringung gem. § 1906 Abs. 1 BGB sowie zur Abgrenzung des freien Willens in § 1896 Abs. 1a BGB diskutiert, Bauer/Braun, in: HK-BUR, § 1906 Rn. 235. 84 § 1906 Abs. 3 S. 1 BGB a. F., vertiefend zum Begriff des natürlichen Willens mit ausführlicher Begriffsgeschichte und Kritik Beckmann, JZ 2013, 604 (604 ff.); vgl. zudem auch, Jox, in: Entscheidungen am Lebensende, S. 69 ff., der den Begriff auch unter handlungstheoretischen und ethischen Aspekten untersucht.
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BGB kann der Betreuer in eine ärztliche Maßnahme unter bestimmten Voraussetzungen einwilligen, auch wenn diese dem „natürlichen Willen“ des Betreuten widerspricht (Legaldefinition der ärztlichen Zwangsmaßnahme). In der Gesetzesbegründung wird dazu klargestellt, dass auch der einwilligungsunfähige Betreute einen natürlichen Willen bilden kann, welcher dem Willen des Betreuten nach § 1905 Abs. 1 Nr. 1 BGB entspricht. Dieser muss vom Betreuten geäußert werden.85 Aus der Verweisung auf § 1905 Abs. 1 Nr. 1 BGB ergibt sich, dass ein natürlicher Wille nicht von Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit getragen werden muss, da die in Absatz 1 enthaltenen Regelungen lediglich einwilligungsunfähige Betreute betrifft.86 Damit wird der Begriff des natürlichen Willens vom Gesetzgeber negativ als Abgrenzung zum „freien Willen“ bestimmt.87 Der Begriff des „freien Willens“ taucht insbesondere in Zusammenhang mit § 1896 Abs. 1a BGB auf, wonach gegen den freien Willen eines Volljährigen kein Betreuer bestellt werden darf. Entscheidend dafür, ob ein freier Wille vorliegt, sind die Einsichtsfähigkeit des Betroffenen sowie seine Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln; damit ist im Ergebnis das Vorliegen eines freien Willens in Bezug auf eine ärztliche Behandlungsmaßnahme gleichbedeutend mit dem Vorliegen von Einwilligungsfähigkeit. Fehlt es daran, liegt kein „freier“, sondern „nur“ ein natürlicher Wille vor.88 Unter einem natürlichen Willen versteht man damit Wünsche, Absichten und Bewertungen eines Menschen, die im Zustand der Einwilligungsunfähigkeit durch Verhaltensäußerungen ausgedrückt werden.89 Begrifflich abzugrenzen vom natürlichen Willen ist die in der Gesetzesbegründung des neuen Patientenrechtegesetzes auftauchende „natürliche Willensfähigkeit“. Für die in § 630d Abs. 1 S. 2 BGB genannte Einwilligungsfähigkeit ist ausweislich der Gesetzesbegründung die „natürliche Willensfähigkeit“ des Patienten entscheidend.90 Diese liegt vor, wenn der Patient die natürliche Einsichts- und Steuerungsfähigkeit besitzt und Art, Bedeutung, Tragweite und Risiken der medizinischen Maßnahme erfasse und seinen Willen danach ausrichten kann.91 Da damit der Begriff der natürlichen Willensfähigkeit das Gegenteil des natürlichen Willens bedeutet, kann es zu terminologischen Schwierigkeiten kommen. 85
BT-Drs. 17/11513, S. 7. BT-Drs. 11/4528, S. 143; vgl. auch Heitmann, in: NK-BGB, § 1905 Rn. 13; Müller, in: Beck-OK, § 1905 Rn. 5; Schwab, in: Münchener Kommentar, § 1905 Rn. 18; Jürgens, in: Jürgens Betreuungsrecht, § 1905 Rn. 7; Damrau/Zimmermann, Betreuungsrecht, § 1905 Rn. 18. 87 Bauer/Braun, in: HK-BUR, § 1906 Rn. 236. 88 Henking/Mittag, in: Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen, S. 37; Bauer/ Braun, in: HK-BUR, § 1906 Rn. 236 mit Verweis auf BVerfG, BtPrax 2011, 112 (114); Meier, BtPrax 2006, 159 (160). 89 Jox, in: Patientenverfügung, S. 135. 90 BT-Drs. 17/10488, S. 23. 91 BT-Drs. 17/10488, S. 23. 86
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Der natürliche Wille ist auch im Strafrecht kein unbekannter Rechtsbegriff, vielmehr ist in Bezug auf § 239 StGB anerkannt, dass ein natürlicher Wille zur Ortsveränderung des Opfers für die Erfüllung des objektiven Tatbestandes ausreichend ist.92 Aufgrund der Einheitlichkeit der Rechtsordnung muss auch hier keine Einsichtsfähigkeit vorliegen. Problematisch ist in der Praxis insbesondere die Abgrenzung zwischen einer willkürlichen Äußerung und einer wirklichen natürlichen Willensäußerung; d. h. ab welcher Grenze also nicht einmal mehr vom Vorliegen eines natürlichen Willens ausgegangen werden kann.93 Einigkeit besteht dahingehend, als dass der natürliche Wille durch eine Verhaltensäußerung nach außen zum Ausdruck kommen muss.94 Dies kann sowohl mit Worten als auch nonverbal in Form einer Verhaltensäußerung oder durch den Ausdruck einer bestimmten Mimik oder Gestik erfolgen.95 Dieser Wille muss dabei aber nach außen hinreichend deutlich erkennbar sein.96 Als absolute Untergrenze bezüglich der Rationalität des natürlichen Willens wird in der Literatur vorgeschlagen, dass es ausreicht, wenn die Äußerung auf „ein durchaus diffuses Ziel hin [gerichtet ist], ohne dass diesem natürlichen Willen eine für Dritte nachvollziehbare geistige Reflexion zugrunde liegen muss.“97 Doch wird man wohl fordern müssen, dass der Betroffene zumindest ansatzweise in der Lage sein muss, sein Verhalten bewusst zu steuern, um eine Abgrenzung zu einem rein körperlichen, willensunabhängigen Reflex vornehmen zu können.98 Einigkeit besteht aber insoweit als dass situativ-spontanes Verhalten ausreicht.99 So weist Jox darauf hin, dass, wenn beispielsweise ein schwer Demenzkranker die Hand eines Angehörigen hält, dies nicht zwingend als Verlangen nach körperlicher Zuwendung gedeutet werden kann, sondern vielmehr lediglich das Ausüben eines Greifreflexes bedeuten könnte, der sowohl im Säuglingsalter, als auch bei schweren Großhirnschäden im Erwachsenenalter auftreten kann. Auch das Saugen an einem angebotenen Strohhalm müsse nicht zwingend Durst bedeuten oder, dass der Kranke das als Getränk angebotene Medikament gutheiße, sondern könnte genauso gut le-
92 Valerius, in: Beck-OK StGB, § 239 Rn. 4; Wieck-Noodt, in: Münchener Kommentar StGB, § 239 Rn. 7; Eser/Eisele, in: Strafgesetzbuch, § 239 Rn. 2. 93 Bauer/Braun, in: HK-BUR, § 1906 Rn. 238. 94 So auch die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 17/11513, S. 17: „Äußert der Betreute seinen natürlichen Willen nicht, weil er dazu nicht willens oder in der Lage ist, so handelt es sich nicht um eine ärztliche Zwangsmaßnahme im Sinne dieser Regelung.“ 95 Bauer/Braun, in: HK-BUR, § 1906 Rn. 241; Meier, BtPrax 2006, 159 (160). 96 Heitmann, in: NK-BGB, § 1901a Rn. 33; Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 241 m. w. N. 97 Heitmann, in: NK-BGB, § 1905 Rn. 13. 98 Bauer/Braun, in: HK-BUR, § 1906 Rn. 242. 99 BT-Drs. 16/8442, S. 15.
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diglich auf einen Saugreflex zurückzuführen sein.100 Andererseits kann aber eine beharrliche Nahrungs- bzw. Flüssigkeitsverweigerung wiederum für einen natürlichen Sterbewunsch sprechen.101 Letztlich ist die Bewertung des Verhaltens praktisch oft schwierig und jeweils einzelfallabhängig zu beurteilen. Es müssen aber konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen eines natürlichen Willens vorhanden sein, der situationsbedingt beurteilt werden muss und dem eine gewisse Konstanz im Verhalten des Betroffenen innewohnt.102 In Zweifelsfällen ist ein natürlicher Lebenswille anzunehmen, da dieser letztlich nur einen Mindeststandard an Rationalität verlangt. Es ist deshalb von einem sehr weiten Begriffsverständnis des natürlichen Willens auszugehen.103
II. Grundsätze der Patientenverfügung Aus § 1896 Abs. 2 S. 2 BGB folgen die dem gesamten Betreuungsrecht immanenten Grundsätze der Erforderlichkeit und der Subsidiarität.104 Die Freiheit des Patienten soll durch staatliche Eingriffe so wenig wie möglich beschränkt werden; soweit eine eigene Vorsorge getroffen wurde, ist der Betroffene nicht nur vor staatlichen Eingriffen geschützt, auch der staatliche Fürsorgeauftrag ist dadurch begrenzt.105 Vorsorgeverfügungen sind dabei zentrale Instrumente zur Verwirklichung der Patientenautonomie und fördern die individuelle Selbstbestimmung.106 Für finale Lebenssituationen kennt das BGB im Wesentlichen drei Möglichkeiten antizipierter Selbstbestimmung. Die Vorsorgevollmacht gem. §§ 1896 Abs. 2, 1901c S. 2 BGB, die Betreuungsverfügung nach § 1901c BGB sowie die Patientenverfügung gem. § 1901a BGB. Andere Willensbekundungen wie Behandlungswünsche oder Indizien für den mutmaßlichen Willen sind nach § 1901a Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 1901 Abs. 2 bzw. Abs. 3 BGB zu beurteilen und unterscheiden sich hinsichtlich ihrer fehlenden Bindungswirkung von den anderen Vorausverfügungen.107 Daneben werden in der Praxis, insbesondere für psychiatrische Krisensituationen, weitere Vorsorgeinstrumente wie Behandlungsvereinbarungen, Krisenpässe oder ganzeinheitliche Konzepte zur vorausschauenden Behandlungsplanung (Advanced Care Planning) angewandt. 100
Jox, in: Entscheidungen am Lebensende, S. 78 f. mit weiteren Beispielen. Merkel, Ethik Med 2004, 298 (302 f.); Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 242 m. w. N. 102 Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 242 f. 103 Bauer/Braun, in: HK-BUR, § 1906 Rn. 240. 104 Roth, in: Praxiskommentar Betreuungsrecht, S. 185 Rn. 2; Lipp, in: Handbuch der Vorsorgeverfügungen, S. 32 Rn. 3. 105 Roth, in: Praxiskommentar Betreuungsrecht, S. 185 Rn. 2. 106 Lipp, in: Handbuch der Vorsorgeverfügungen, S. 32 Rn. 1 f. 107 Lipp, in: Handbuch der Vorsorgeverfügungen, S. 52 Rn. 3. 101
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
1. Rechtsnatur der Patientenverfügung Nach langer Zeit rechtlicher Ungewissheit wurde die Patientenverfügung mit dem 3. BtÄndG in den §§ 1901a ff. BGB gesetzlich kodifiziert. Nach der Legaldefinition des § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB liegt eine Patientenverfügung dann vor, wenn ein einwilligungsfähiger Volljähriger für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit schriftlich festgelegt hat, ob er in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines Gesundheitszustands, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt. Damit kann mit der Patientenverfügung sowohl eine Behandlungsbegrenzung als auch eine Einwilligung in bestimmte medizinische Maßnahmen antizipiert werden.108 Bereits vor der gesetzlichen Kodifikation der Patientenverfügung war deren Rechtsnatur umstritten. Auswirkungen hatte dieser Streit vor allem hinsichtlich der Verbindlichkeit der Patientenverfügung, welche teilweise bestritten wurde. Das Meinungsspektrum reichte von der Einordnung der Patientenverfügung als eine rein tatsächliche Willensäußerung109, die lediglich Indizwirkung für die Bestimmung des mutmaßlichen Willens entfaltet, über die Qualifikation als (rechts-)geschäftsähnliche Handlung oder Willenserklärung, bei der eine Verbindlichkeit stets gegeben ist.110 Zwar ist selbst mit dem 3. BtÄndG keine genaue Bestimmung der Rechtsnatur der Patientenverfügung erfolgt111, in der Gesetzesbegründung wird allerdings ausdrücklich klargestellt, dass es bei Vorliegen der Voraussetzungen der Patientenverfügung keiner Einwilligung des Betreuers in die anstehende ärztliche Behandlung mehr bedarf, da der Betreute diese Entscheidung bereits selbst getroffen hat und diese für den Betreuer bindend ist.112 Damit hat sich der Gesetzgeber klar für die Verbindlichkeit der Patientenverfügung entschieden.113 Sie ist demnach eine nach außen gerichtete Erklärung, die jeden Beteiligten unmittelbar bindet und deren rechtsgeschäftlicher Gehalt in der direkten Verbindlichkeit der für den Fall der Einwilligungsunfähigkeit antizipierten Einwilligung oder Versagung ärztlicher Eingriffe liegt.114 Nicht zu folgen ist demnach der Auffassung, dass eine Patientenverfügung 108
Schwab, in: Münchener Kommentar, § 1901a Rn. 15. Laufs, NJW 1999, 1758 (1762); Fröschle, JZ 2000, 72 (76); Langenfeld, Vorsorgevollmacht, Betreuungsverfügung und Patiententestament nach dem neuen Betreuungsrecht, S. 182; Höfling, JuS 2000, 111 (116); Verrel, MedR 1999, 547 (548). 110 Lipp, FamRZ 2004, 317 (320); Berger, JZ 2000, 797 (800); Kutzer, ZRP 2005, 277 (278); Lipp, FamRZ 2004, 317 (320); vgl. dazu auch Diener, Patientenverfügungen psychisch kranker Personen, S. 31 m. w. N. 111 So auch Müller/Renner, Betreuungsrecht und Vorsorgeverfügungen in der Praxis, S. 160 ff. 112 BT-Drs. 16/8442, S. 14. 113 Roth, in: Praxiskommentar Betreuungsrecht, S. 222 Rn. 110. 114 Götz, in: Palandt BGB, § 1901a Rn. 16; Schwab, in: Münchener Kommentar, § 1901a Rn. 16; Müller, in: Beck-OK, § 1901a Rn. 19; Jürgens, in: Jürgens Betreuungsrecht, § 1901a Rn. 2; Müller/Renner, Betreuungsrecht und Vorsorgeverfügungen in der Praxis, S. 165 Rn. 498 f. 109
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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eine umsetzungsbedürftige Richtungsentscheidung ist, die eine ärztliche Behandlung nicht rechtfertigen könne, da die getroffenen Festlegungen noch einer Aktualisierungsentscheidung in Form einer Einwilligung oder Ablehnung durch den Betreuer bedürfen.115 2. Wirksamkeitsvoraussetzungen der Patientenverfügung Zum Zeitpunkt der Errichtung der Patientenverfügung muss der Betroffene gem. § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB einwilligungsfähig sein.116 Der Verlust der Einwilligungsfähigkeit hat keinen Einfluss auf die Weitergeltung der Patientenverfügung, da diese gem. § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB genau für diesen Fall erstellt wird. Obwohl auch Minderjährige einwilligungsfähig sein können und es bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer ärztlichen Heilbehandlung dann auch auf deren Einwilligung und nicht die ihres gesetzlichen Vertreters ankommt117, muss der Ersteller einer Patientenverfügung volljährig sein. Dieses Erfordernis wird im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs.1 GG verfassungsrechtlich kritisiert.118 Daneben muss die Patientenverfügung ohne Willensmängel119 unter Wahrung der Schriftform nach § 126 BGB errichtet werden, § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB. Bloße mündliche oder situationsbezogene Willensbekundungen können als Behandlungswünsche oder Indizien für den mutmaßlichen Willen nach § 1901a Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 1901 Abs. 2 bzw. Abs. 3 BGB berücksichtigt werden.120 Zudem statuiert § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB, dass die Untersuchungen des Gesundheitszustandes, Heilbehandlungen oder ärztlichen Eingriffe nicht unmittelbar bevorstehen dürfen. Für die Beurteilung der Legitimität derartiger Maßnahmen wäre auf die Kriterien der aktuellen Einwilligung abzustellen, die auch mündlich erklärt werden kann.121 Die Patientenverfügung muss außerdem hinreichend bestimmt sein122 sowie höchstpersönlich123 errichtet werden. Dagegen hat der Gesetzgeber
115 Albrecht/Albrecht, MittBayNot 2009, 426 (433); Diehn/Rebhan, NJW 2010, 326 (329); Ihrig, notar 2009, 380 (382 f.); Roglmeier, FPR 2010, 282 (284); vgl. dazu auch Müller/Renner, Betreuungsrecht und Vorsorgeverfügungen in der Praxis, S. 161 f. Rn. 487 m. w. N. 116 Siehe zum Begriff der Einwilligungsfähigkeit Kap. 3 C. I. 2. 117 Müller, in: Beck-OK, § 1901a Rn. 13; Eser/Sternberg-Lieben, in: Strafgesetzbuch, § 223 Rn. 38c m. w. N. 118 Müller, in: Beck-OK, § 1901a Rn. 13; Sternberg-Lieben/Reichmann, NJW 2012, 257 (257 ff.); Jürgens, in: Jürgens Betreuungsrecht, § 1901a Rn. 5; Schwab, in: Münchener Kommentar, § 1901a Rn. 10; Spickhoff, in: Medizinrecht, § 1901a Rn. 5. 119 BT-Drs. 16/8442, S. 8. 120 Götz, in: Palandt BGB, § 1901a Rn. 11. 121 BT-Drs. 16/8442, S. 13; Müller, in: Beck-OK, § 1901a Rn. 8; Schwab, in: Münchener Kommentar, § 1901a Rn. 12. 122 Vgl. dazu ausführlich Albrecht/Albrecht, MittBayNot 2009, 426 (428); Müller, in: BeckOK, § 1901a Rn. 9; Schwab, in: Münchener Kommentar, § 1901a Rn. 19.
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
bewusst darauf verzichtet, die Wirksamkeit einer Patientenverfügung an eine fachkundige Beratung und eine Aktualisierungspflicht zu binden.124 3. Die psychiatrische Patientenverfügung Die Debatte um Voraussetzungen und Verbindlichkeit von Patientenverfügungen wird in der rechtswissenschaftlichen Diskussion mehrheitlich im Hinblick auf Entscheidungen in finalen Lebenssituationen geführt. Gem. § 1901a Abs. 3 BGB gelten die Regelungsmöglichkeiten einer Patientenverfügung aber unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung und unterliegen damit keiner Reichweitenbegrenzung. Dennoch wird häufig übersehen, dass die Patientenverfügung auch als ein Vorsorgeinstrument psychisch Kranker dienen kann, die im Rahmen einer akuten Zuspitzung ihrer Erkrankung ihre Urteilsfähigkeit vorübergehend verlieren.125 In einer psychiatrischen Patientenverfügung, teilweise auch psychiatrisches Testament126 oder psychiatrische Behandlungsvereinbarung127 genannt, plant der Betroffene seine zukünftige Behandlung. Beispielsweise wird festgelegt, welche Arten von Behandlungen gewollt bzw. abgelehnt werden, welche Medikamente in welcher Dosierung eingenommen werden sollen, überdies kann sogar die generelle Ablehnung von Untersuchungen und Diagnosen Inhalt einer solchen Vorausverfügung sein.128 Im Unterschied zur Patientenverfügung am Lebensende ist die psychiatrische Vorausverfügung umfassender und meist auch bestimmter ausgestaltet, da der Betroffene den phasenweisen Verlauf seiner Krankheit genau kennt.129 Genau wie bei einer Patientenverfügung in finalen Lebenssituationen will der Betroffene im Zustand der Einwilligungsfähigkeit Regelungen für einen Zustand der Einwilligungsunfähigkeit treffen. Im Gegensatz zur Patientenverfügung am Lebensende tritt der Zustand der Einwilligungsunfähigkeit in der Regel aber nur 123 Das Erfordernis der Höchstpersönlichkeit ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus dem Gesetzeswortlaut, ist aber einhellige Meinung, vgl. Albrecht/Albrecht, MittBayNot 2009, 426 (431); Müller, in: Beck-OK, § 1901a Rn. 1; Schwab, in: Münchener Kommentar, § 1901a Rn. 8; Spickhoff, FamRZ 2009, 1949 (1950). 124 BT-Drs. 16/8442, S. 14; Bauer, in: HK-BUR, § 1901a Rn. 27. 125 Bienwald, in: Betreuungsrecht, § 1901a Rn. 31; Götz, Patientenautonomie, S. 189; Brosey, BtPrax 2010, 161 (161); Olzen/Schneider, MedR 2010, 745 (747); Henking/Bruns, GesR 2014, 585 (585). 126 Hoffmann, R&P 2010, 201 (205); Lehmann, in: Behandlungsvereinbarungen, S. 222 f.; Brosey, BtPrax 2010, 161 (162); Szasz, Psychiatrisches Testament. 127 Heitmann, in: NK-BGB, § 1901a Rn. 46. 128 Diese Festlegungen müssen aber dem Bestimmtheitserfordernis genügen, Henking/ Mittag, in: Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen, S. 85; Heitmann, in: NK-BGB, § 1901a Rn. 48. 129 Brosey, BtPrax 2010, 161 (162 ff.); Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 28.
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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phasenweise und gerade nicht dauerhaft auf.130 Der Betroffene erreicht also den Zustand der Einwilligungsfähigkeit regelmäßig wieder. Gerade aufgrund der mit der psychiatrischen Patientenverfügung verbundenen Möglichkeit, antizipiert bestimmte Behandlungsmethoden auszuschließen131, wurde das Selbstbestimmungsrecht psychisch Erkrankter erheblich gestärkt, sodass sogar schon das „Ende der Zwangspsychiatrie“ ausgerufen wurde.132 Kritisch wird die Ausweitung der Regelungen dagegen von Ärzten gesehen, die sich in ihrer Arbeit beeinträchtigt sehen. Sie sorgen sich darüber, dass sie bei der Abwendung eines akuten Krankheitsschubes lediglich auf Zwangsmaßnahmen wie Unterbringung, Fixierung oder Isolation zurückgeworfen werden (können), wenn in einer psychiatrischen Patientenverfügung beispielsweise jedwede Medikation ausgeschlossen wurde.133 4. Abgrenzung der Patientenverfügung zu anderen Vorsorgeverfügungen a) Vorsorgevollmacht Mit der in den §§ 1896 Abs. 2, 1901c S. 2 BGB gesetzlich normierten Vorsorgevollmacht kann der Betroffene eine oder mehrere Personen seines Vertrauens bevollmächtigen, im Falle der eigenen Handlungsunfähigkeit seine Interessen wahrzunehmen, wozu auch Entscheidungen für den Bereich der Gesundheitsfürsorge und damit medizinische Entscheidungen am Lebensende gehören.134 Zweck dabei ist es, die Bestellung eines gerichtlich bestellten Betreuers gem. § 1896 Abs. 1 S. 1 BGB entbehrlich zu machen. Liegt eine wirksame Vorsorgevollmacht vor, ist die Betreuung gem. § 1896 Abs. 2 S. 2 Alt. 1 BGB nicht erforderlich, wenn die Angelegenheiten des Betroffenen dadurch ebenso gut besorgt werden können. Die Erteilung der Vorsorgevollmacht ist eine rechtsgeschäftliche Erklärung, weshalb der Vollmachtgeber im Zeitpunkt der Übertragung der Vollmacht geschäftsfähig gem. §§ 104 ff. BGB sein muss.135 130
Henking/Mittag, in: Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen, S. 84. Vgl. ausführlich zu den Regelungsmöglichkeiten und Grenzen einer psychiatrischen Patientenverfügung Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung im Betreuungsrecht, S. 189 ff.; Diener, Patientenverfügungen psychisch kranker Personen, S. 126 ff. 132 Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener e.V., Pressemitteilung v. 18.06.2009, abrufbar unter http://www.patverfue.de/endlich-kann-der-zwangspsychiatrie-einriegel-vorgeschoben-werden (zuletzt aufgerufen am 20.09.2017). 133 Die Zeit, Nicht gegen meinen Willen, Eine Patientenverfügung stärkt psychisch Kranke – aber stürzt Ärzte in Gewissensnöte v. 09.09.2010, abrufbar unter http://www.zeit.de/2010/37/ M-Patientenverfuegung (zuletzt aufgerufen am 20.09.2017). 134 Jürgens, in: Jürgens Betreuungsrecht, § 1901c Rn. 9; Zinkler, R&P 2000, 165 (165 f.); Müller, in: Beck-OK, § 1896 Rn. 26 ff.; Vetter, Selbstbestimmung am Lebensende, S. 110 f. 135 Vgl. dazu und zu weiteren Wirksamkeitsvoraussetzungen der Vorsorgevollmacht Roth, in: Praxiskommentar Betreuungsrecht, S. 189 Rn. 12; Müller, in: Beck-OK, § 1896 Rn. 26 ff.; 131
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
b) Betreuungsverfügung Hat der Betroffene keinen Bevollmächtigten oder „andere Hilfen“ gem. § 1896 Abs. 2 S. 2 Alt. 2 BGB, die seine Angelegenheiten besorgen können, muss das Betreuungsgericht einen Betreuer als gesetzlichen Vertreter bestellen, § 1896 Abs. 1 S. 1 BGB. Mit der in §§ 1897 Abs. 4 S. 3, 1901c S. 1 BGB geregelten Betreuungsverfügung kann eine einwilligungsfähige Person für den Fall der Errichtung einer Betreuung einen oder mehrere Vorschläge zur Auswahl der Person des einzusetzenden Betreuers mit grundsätzlich bindender Wirkung machen, welche das Betreuungsgericht zu seinem gesetzlichen Vertreter zu bestellen hat.136 Im Gegensatz zur Vorsorgeverfügung ist im Fall der Betreuungsverfügung der Betroffene aber darauf angewiesen, dass seine Wahl auch die Zustimmung des Betreuungsgerichts findet.137 Diese kann vom Betreuungsgericht verweigert werden, wenn sich die vorgeschlagene Person für die Betreuung als ungeeignet erweist bzw. die Bestellung dem Wohl des Betroffenen zuwiderläuft.138 Geschäftsfähigkeit ist im Zeitpunkt des Erstellens der Betreuungsverfügung im Gegensatz zur Vorsorgevollmacht nicht erforderlich.139 c) Behandlungsvereinbarung Neben der Erstellung einer psychiatrischen Patientenverfügung kann der Betroffene auch mit einer psychiatrischen Klinik eine Behandlungsvereinbarung treffen. In dieser werden die Modalitäten einer stationären Behandlung für den Fall einer erneuten akuten psychiatrischen Krise geregelt.140 Die Behandlungsvereinbarung orientiert sich an den Erfahrungen vorausgegangener Behandlungen und wird in der Regel mit einer bestimmten Klinik abgeschlossen, in der der Patient bereits behandelt wurde.141
Jürgens, in: Jürgens Betreuungsrecht, § 1896 Rn. 19; Schwab, in: Münchener Kommentar, § 1896 Rn. 52. 136 Roth, in: Praxiskommentar Betreuungsrecht, S. 229 Rn. 131; Jürgens, in: Jürgens Betreuungsrecht, § 1901c Rn. 2 f.; Vetter, Selbstbestimmung am Lebensende, S. 111. 137 Roth, in: Praxiskommentar Betreuungsrecht, S. 210 Rn. 76. 138 Dazu näher BT-Drs. 4528, S. 127; Müller, in: Beck-OK, § 1901c Rn. 2; Jürgens, in: Jürgens Betreuungsrecht, § 1901c Rn. 4. 139 Müller, in: Beck-OK, § 1901c Rn. 3; Jürgens, in: Jürgens Betreuungsrecht, § 1901c Rn. 8; Schwab, in: Münchener Kommentar, § 1897 Rn. 23. 140 Diener, Patientenverfügungen psychisch kranker Personen, S. 145; Zinkler, R&P 2000, 165 (165 f.); vgl. auch die Musterbehandlungsvereinbarung des Psychiatrie-Erfahrene Münster e.V.: http://www.muenster.org/psychiatrie-erfahrene/BVOrig.html (zuletzt aufgerufen am 25.09.2017). 141 Brosey, BtPrax 2010, 161 (162).
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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Inhalt von Behandlungsvereinbarungen können neben antizipierten Therapieentscheidungen in Form von Einwilligungen oder Untersagungen in bestimmte ärztliche Behandlungsmaßnahmen auch andere Wünsche sein, die in der Regel nicht im Rahmen einer Patientenverfügung geregelt werden können, wie beispielsweise Fragen des Behandlungsumfeldes oder der Unterbringungssituation.142 Je nachdem, ob der Vereinbarung nach dem Parteiwillen ein schuldrechtlicher Charakter zukommen soll, muss der Betroffene Geschäftsfähigkeit aufweisen oder nicht.143 d) Krisenpass/Advanced Care Planning (ACP) Der Münchner Psychiatrie-Erfahrene e. V. hat einen Krisenpass entwickelt, in dem Menschen mit Psychose-Erfahrung für den Krisenfall ihre optimale Medikation eintragen lassen und so ihre behandelnden Ärzte über ihre Behandlungswünsche informieren können.144 Zudem kann auf das Vorliegen von Vorsorgeverfügungen aufmerksam gemacht werden, als auch die Vertrauensperson eingetragen werden, die im Krisenfall zu benachrichtigen ist.145 Juristisch betrachtet ist der Krisenpass nur als Indiz zur Ermittlung der Behandlungswünsche des Patienten einzuordnen und hat keinerlei rechtliche Verbindlichkeit.146 Im Gegensatz zu einem einmal schriftlich fixierten Patientenwillen bezeichnet Advance Care Planning (ACP) ein einheitliches Konzept der gesundheitlichen Vorausplanung durch regelmäßige Beratung und Dokumentation, welches das Ziel verfolgt, mögliche künftige Behandlungsentscheidungen für den Fall vorauszuplanen, dass der Betroffene seine Entscheidungsfähigkeit verliert.147
III. Die Patientenverfügung und der entgegenstehende natürliche Wille Im Folgenden soll nun untersucht werden, welche Lösungsansätze zum Problemkreis des Auseinanderfallens des in der Patientenverfügung antizipiert erklärten
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Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 99 f. Vgl. zur Rechtsnatur der Behandlungsvereinbarung u. a. Heitmann, in: NK-BGB, § 1901a Rn. 46; Henking/Bruns, GesR 2014, 585 (590 Fn. 2); Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 99. 144 Siehe dazu http://www.muepe.org/home/service.html (zuletzt aufgerufen am 10.09.2017). 145 Heitmann, in: NK-BGB, § 1901a Rn. 46. 146 Henking/Bruns, GesR 2014, 585 (585). 147 Vgl. zu diesem Themenbereich ausführlich das jüngst erschienene Sammelwerk von Coors/Jox/in der Schmitten, Advance Care Planning. 143
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
Willens und des in der aktuellen Eingriffssituation entgegenstehenden natürlichen Willens bisher vertreten werden. Dabei wird in einem ersten Schritt der Fokus der Betrachtungen auf der rechtlichen Relevanz eines einer untersagenden Patientenverfügung entgegenstehenden Willens liegen. Hierbei untersagt der Betroffene die Durchführung einer ärztlichen Maßnahme, stimmt jedoch mittels eines aktuellen natürlichen Willens der im Voraus untersagten Behandlung scheinbar zu. Danach wird der Fall einer einwilligenden Patientenverfügung genauer beleuchtet, in der der Betroffene in die Durchführung einer ärztlichen Maßnahme einwilligt, jedoch mittels eines aktuellen natürlichen Willens die Behandlung ablehnt. 1. Rechtliche Relevanz des natürlichen Willens bei einer untersagenden Patientenverfügung Grundsätzlich sind drei Grundrichtungen denkbar, wie ein der untersagenden Patientenverfügung entgegenstehender natürlicher Wille rechtlich behandelt werden soll: Entweder setzt sich der natürliche Wille durch, man gibt der Vorausverfügung den Vorzug oder man findet eine differenzierte Lösung, die beide Willensäußerungen gleichermaßen berücksichtigt. Uneinheitlich ist insbesondere der dogmatische Ansatzpunkt, an dem der natürliche Wille berücksichtigt werden soll. Eine Ansicht schließt die Zurechnung der Patientenverfügung aus, andere sehen in einem natürlichen Lebenswillen einen wirksamen Widerruf der Patientenverfügung, teils wird dieser Konflikt aufgelöst, indem darauf abgestellt wird, dass die Patientenverfügung bei einem entgegenstehenden natürlichen Willen nicht auf die aktuelle Lebenssituation zutreffe. Daneben wird bei Vorliegen eines entgegenstehenden natürlichen Willens ein beachtlicher Irrtum des Ausstellers der Patientenverfügung angenommen. Ein neuerer Ansatz überträgt dagegen die Grundsätze des Behandlungsvetorechts Einwilligungsunfähiger auf die Situation eines der Patientenverfügung entgegenstehenden natürlichen Willens. a) Zurechnungsausschluss wegen eines Bruchs der personalen Identität Zum Teil wird das Problem des der Patientenverfügung entgegenstehenden natürlichen Willens rechtsdogmatisch als Zurechnungsausschluss verortet. aa) Diskontinuität der Persönlichkeit Da es nicht möglich sei, ein zeitliches Rangverhältnis zwischen dem autonomen, in der Verfügung festgelegten Willen und dem späteren natürlichen Willen auszumachen, sei der Lösungsansatz des Problemkreises in einer Diskontinuität der
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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Persönlichkeit zu suchen.148 Nach Merkel149 stellt sich nicht die Frage, ob der natürliche Wille imstande sei, den abweichenden früheren Willen zurückzunehmen. Dieser könne nämlich den früheren Willen „sachlich auf keinerlei fassbare Weise (…) erreichen, geschweige denn gedanklich (…) beurteilen und (…) korrigieren (…).“150 Sein Ansatz beruht vielmehr auf der Frage, ob eine Patientenverfügung, deren Erstellung bestimmte personale Charakteristika erfordert, auch dann dem Verfasser zurechenbar ist, wenn dieser jene Charakteristika nicht mehr aufweist. Für ihn sind der Ersteller der Verfügung und der spätere einwilligungsunfähige Patient zwei unterschiedliche Personen, da hinsichtlich der Überzeugungen, die der Patientenverfügung zugrunde lagen, keinerlei subjektiver Zusammenhang mehr bestehe. Da es einem „ethischen und rechtlichen Fundamentalprinzip“151 entspreche, dass eine Person über grundrechtlich geschützte Positionen einer anderen Person nicht wirksam frei verfügen dürfe, könne eine Patientenverfügung nicht mehr zurechenbar sein.152 Zwar seien Verfasser und Betroffener einer Patientenverfügung auch weiterhin „in zahlreichen anderen Hinsichten, vor allem als biologische Wesen aus Fleisch und Blut, ein- und dieselbe Person.“153 Eine Patientenverfügung werde aber von einer Person in ihren „geistigen“ Eigenschaften verfasst, die allein Grundlage für eine Patientenverfügung seien. Da somit verschiedene Interessen unterschiedlicher Inhaber vorlägen, sei diese Kollision über das allgemeine rechtsethische Prinzip des Notstands aufzulösen.154 Da das spätere „Ich“ bei Befolgung einer negativen Patientenverfügung mit dem eigenen Leben mehr zu verlieren hätte, als der Verfasser der Verfügung, müsse die Abwägung der Schutzbelange zugunsten des späteren „Ichs“ ausfallen.155 Auch die vom Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin geht in ihrem „Zwischenbericht Patientenverfügungen“ davon aus, dass bei einer Diskontinuität der Persönlichkeit die Zurechnung ausgeschlossen sein soll:
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So Bernat, in: Patientenverfügungen, S. 108 ff.; ders., in: FS-Deutsch, S. 449 ff., nach dessen Ansicht der Demenzpatient unter psychologischen Gesichtspunkten nicht mehr dieselbe Person sei; ders., in: Demenz verändert, S. 253 f.; ähnlich wohl auch Klie/Student, Patientenverfügung, S. 172; Diener, Patientenverfügungen psychisch kranker Personen, S. 97 f. 149 Merkel, Ethik Med 2004, 298 (298 ff.); ders., JZ 1999, 502 (506 ff.); ders., ZStW 1995, 545 (568 f.). 150 Merkel, Ethik Med 2004, 298 (303). 151 Merkel, Ethik Med 2004, 298 (304). 152 Merkel, ZStW 1995, 545 (568). 153 Merkel, Ethik Med 2004, 298 (304). 154 Merkel, Ethik Med 2004, 298 (305); ders., JZ 1999, 502 (508); ders., ZStW 1995, 545 (568). 155 Für Patienten im irreversiblen, apallischen Syndrom schränkt er den grundsätzlichen Vorrang des Lebens ein, da deren subjektives „Wohl“ nicht mehr erlebt werden könne und deshalb die Patientenverfügung bestehen bleiben solle, Merkel, Ethik Med 2004, 298 (306); ders., JZ 1999, 502 (508).
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen „Nicht jede Persönlichkeitsveränderung, die zur Einwilligungsunfähigkeit im rechtlichen Sinne führt, schließt auch die Zurechenbarkeit einer zuvor verfassten Verfügung aus; gerade für solche Situationen werden Patientenverfügungen gemacht. Ein Zurechnungsausschluss verlangt vielmehr drei eng zu fassende Voraussetzungen: Der Patient darf erstens keinerlei subjektive Verbindung zu den individuell-persönlichen Werten mehr haben, die der früher verfassten Patientenverfügung zugrunde liegen; das setzt regelmäßig voraus, dass der jetzige Patient gänzlich außerstande ist, von seinen früheren Werten auch nur irgendetwas zu verstehen oder zu empfinden. Er muss zweitens nun gänzlich andere, mit jenen Motiven der früheren Verfügung unverträgliche persönliche Interessen haben (etwa: mit dem Leben in seinem jetzigen Zustand erkennbar zufrieden sein, während die früher verfasste Verfügung gerade für einen solchen Zustand lebenserhaltende Maßnahmen ablehnt). Drittens müssen diese gegenwärtigen persönlichen Interessen normativ erheblich gewichtiger sein als die der Verfügung zugrundeliegenden Motive (etwa: der aktuell eindeutige Überlebenswunsch verglichen mit dem Interesse an der Vermeidung eines früher als unwürdig antizipierten Zustands). Nur wenn diese drei Kriterien erfüllt sind, darf die Zurechnung einer für die gegenwärtige Situation verfassten und darauf anwendbaren Patientenverfügung verneint werden.“156
Die Konsequenz eines Zurechnungsausschlusses würde darin liegen, dass es dem Verfasser einer Patientenverfügung nicht möglich wäre, antizipativ über die Durchführung von Behandlungsmaßnahmen zu bestimmen. bb) Kontinuität der Persönlichkeit Auch der Rechtsphilosoph Ronald Dworkin setzte sich mit der personalen Identität zwischen gesunder und dementer Person auseinander. Dworkin geht zwar grundsätzlich von einer Kontinuität der Persönlichkeit eines Demenzkranken aus, unterscheidet aber bei einem Menschen zwischen erlebnisbezogenen und wertebezogenen Interessen.157 Unter erlebnisbezogenen Interessen versteht er solche, die das konkrete Erleben betreffen, welches die Person als „angenehm oder erregend empfindet.“158 Als Beispiele nennt er unter anderem Volleyball spielen, gut essen oder eine Leidenschaft für Fußballübertragungen im Fernsehen. Dagegen ordnet er unter wertebezogenen Interessen solche ein, die übergeordnet die Vorstellungen der Person über das Leben an sich betreffen, denen „nicht nachzugehen, (…) tatsächlich eine echte Einbuße bedeuten würde.“159 Er stellt klar, dass für ihn nicht zwingend eine Art Rangverhältnis in Bezug auf die Bedeutung dieser Interessen gelte, wertebezogene Interessen seien aber grundsätzlicher Natur und würden das Leben einer Person intensiver berühren.160 Im Hinblick auf den Einführungsfall des berühmten Sängers A würde er argumentieren, dass dessen wertbezogenes Interesse daran, im 156 BT-Drs. 15/3700, S. 61 Fn. 1, S. 67 Fn. 1; dem sich anschließend Bernat, in: Demenz verändert, S. 254. 157 Dworkin, Grenzen des Lebens, S. 277 f. 158 Dworkin, Grenzen des Lebens, S. 277 f. 159 Dworkin, Grenzen des Lebens, S. 278. 160 Dworkin, Grenzen des Lebens, S. 278.
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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Falle von Demenz nicht am Leben erhalten zu werden, nicht aufgrund seiner erlebnisbezogenen Interessen verletzt werden dürfe. Eine Person ändere sich aufgrund einer Demenzerkrankung nicht so wesentlich, dass sie plötzlich andere „critical interests“ hätte. Deshalb müsse die Patientenverfügung umgesetzt werden und sei auch zurechenbar. Im Unterschied zu Merkel verliert die Person im Falle schwerer Demenz damit nicht sich selbst, sondern „nur“ die Fähigkeit zur wertegebundenen Interessenswahrnehmung.161 Angelehnt an die Argumentation Dworkins unterscheidet auch Quante zwischen critical interests (Wertvorstellungen und Überzeugungen), die „einen wesentlichen Bestandteil der biografischen Identität einer Person ausmachen“, und experiental interests (Lust- oder Schmerzerleben).162 Zwar sollen auch seiner Ansicht nach die wertgebundenen Interessen einen hohen Stellenwert im Rahmen der Abwägung innehaben, vor allem dann, wenn sich der Patient ausdrücklich gegen eine Berücksichtigung von erlebnisbezogenen Interessen im Rahmen seiner Patientenverfügung ausgesprochen hat.163 Im Gegensatz zu Dworkin geht er aber nicht von einem generellen Vorrang der wertebezogenen Interessen aus, da der Patient, der nur noch erlebnisbezogene Interessen habe, nicht als ein „intrinsisch ethisch neutrales Objekt“ angesehen werden könne.164 Ähnlich argumentiert auch Dresser, nach deren Auffassung es gerade unser PersonSein ausmache, dass wir unsere Entscheidungen ändern können.165 Nur weil sich – auch ohne eine Demenzerkrankung – durch eine Veränderung der Lebensumstände die Ansichten einer Person ändern könnten, bedeute dies nicht, dass sie dadurch ihre Identität verliere.166 Zwar stelle sich die Autonomie Demenzkranker anders dar, doch sei es verfehlt, einer Person aufgrund ihrer Demenz keine autonome Entscheidungsfähigkeit mehr zuzubilligen. Dies führe dazu, dass kein Raum für „chances of the heart“167 (…) bleibe, „that can lead us to deviate from our earlier choices.“168 cc) Juristische Betrachtungsweise Aus juristischer Sicht kann der Diskontinuitätsansatz keinen Bestand haben. Ein Zurechnungsausschluss aufgrund krankheitsbedingter Persönlichkeitsveränderungen ist dem Gesetz fremd. Bei allen Vorsorgeverfügungen wird eine Zurechnung einschränkungslos bejaht. Selbst gravierende, die Persönlichkeit betreffende Ein161
Tolmein, Selbstbestimmungsrecht und Einwilligungsfähigkeit, S. 126. Quante, Personales Leben und menschlicher Tod, S. 275. 163 Quante, Personales Leben und menschlicher Tod, S. 278 ff. 164 Quante, Personales Leben und menschlicher Tod, S. 282. 165 Dresser, Hastings Center Report 1995, 32 (35): „(…) we enjoy as competent people to chance our decisions that conflict with our subsequent experiential interests.“ 166 Schmidhuber, in: Grenzen der Selbstbestimmung in der Medizin, S. 328. 167 Dresser, Hastings Center Report 1995, 32 (35). 168 Dresser, Hastings Center Report 1995, 32 (35). 162
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
griffe, wie eine Geschlechtsumwandlung169 oder neurochirurgische Eingriffe in das Gehirn170, führen nicht zu einem Zurechnungsausschluss. Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt vielmehr gem. § 1 BGB mit Vollendung der Geburt und endet mit dem Tod171, ein Verlust dieser Rechtsfähigkeit aufgrund einer Diskontinuität der Persönlichkeit wirkt vor diesem Hintergrund geradezu absurd, zumal das Rechtsinstitut der Patientenverfügung gerade geschaffen wurde, um das Selbstbestimmungsrecht des Patienten auch nach Wegfall der Einwilligungsfähigkeit zu wahren. Zwar mag der Ansatzpunkt in moralphilosophischer Hinsicht einen gewissen Reiz besitzen, aus juristischer Sicht kann er nicht überzeugen.172 Auch die meisten Rechtsliteraten gehen von der Kontinuität der Persönlichkeit trotz schwerer Krankheit aus, womit die Zurechnung der Patientenverfügung stets gegeben ist.173 b) Widerruf der Patientenverfügung durch den natürlichen Willen Dogmatischer Ansatzpunkt der Diskussion um die Berücksichtigung des natürlichen Willens ist meist die in § 1901a Abs. 1 S. 3 BGB verankerte Widerrufsmöglichkeit der Patientenverfügung. In dieser Norm stellt der Gesetzgeber klar, dass eine Patientenverfügung jederzeit und formlos widerrufen werden kann. Nach der Gesetzesbegründung kann der Widerruf auch mündlich oder durch nonverbales Verhalten erklärt werden, sofern die Willensänderung ausreichend zum Ausdruck kommt und ist damit nicht an die für die Errichtung erforderliche Schriftform gebunden.174 Umstritten, weil gesetzlich offengeblieben, ist allerdings, ob der Betroffene bei seinem Widerruf ebenso wie bei der Errichtung der Patientenverfügung einwilligungsfähig sein muss. aa) Widerruf auch im Zustand der Einwilligungsunfähigkeit Das Äußern eines der Patientenverfügung entgegenstehenden natürlichen Willens wird von einigen Rechtsliteraten175 und vereinzelten Gerichten176 als wirksamer 169
Tolmein, Selbstbestimmungsrecht und Einwilligungsfähigkeit, S. 135; Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 166: Das Transsexuellengesetz (TSG) kennt keine Personenverschiedenheit. 170 Tolmein, Selbstbestimmungsrecht und Einwilligungsfähigkeit, S. 135. 171 Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 166 f. 172 Vgl. auch Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 163 ff. 173 Sehr skeptisch gegenüber Merkels Thesen vor allem Bickhardt, Ethik Med 2005, 79 (79 f.): „interessante Argumente, denen jedoch fragwürdige Annahmen zugrunde liegen.“; Tolmein, Selbstbestimmungsrecht und Einwilligungsfähigkeit, S. 135; Jox, in: Entscheidungen am Lebensende, S. 82 f.; ders., in: Patientenverfügung, S. 133; Holzhauer, FamRZ 2006, 518 (522); Dreier, JZ 2007, 317 (324); Kutzer, FPR 2004, 683 (687); Magnus, NStZ 2013, 1 (6 Fn. 45). 174 BT-Drs. 16/8442, S. 13; Müller, in: Beck-OK, § 1901a Rn. 11. 175 Baltz, Lebenserhaltung als Haftungsgrund, S. 57; Bauer, in: HK-BUR, § 1901a Rn. 62; Beermann, FPR 2010, 252 (254); Berger, JZ 2000, 797 (802); Gärditz, ZfL 2010, 38 (47);
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Widerruf der Patientenverfügung angesehen. Das Vorliegen von Einwilligungsfähigkeit sei gerade keine Voraussetzung für einen wirksamen Widerruf. Dafür spreche zunächst, dass § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB für die Errichtung der Patientenverfügung ausdrücklich Einwilligungsfähigkeit verlange, während beim Widerruf in S. 3 eine solche Anweisung fehle.177 Per argumentum e contrario sei daraus zu folgern, dass ein natürlicher Wille für den Widerruf ausreichend sei.178 Zudem gebe das Wort „jederzeit“ einen Hinweis darauf, dass ein Widerruf auch im Zustand der Einwilligungsunfähigkeit möglich sei. Der Gesetzgeber wollte, da eine zeitliche Beschränkung für den Widerruf nicht in Betracht komme, deutlich machen, dass der Widerruf über den Zeitpunkt des Eintritts der Einwilligungsfähigkeit hinaus möglich sei.179 Dies zeige zudem das Fehlen des Wortes „jederzeit“ in § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB. Auch gem. § 1901 Abs. 3 S. 2 BGB sei der Betreuer nicht mehr an die Wünsche des Betreuten gebunden, wenn dieser erkennbar nicht mehr an diesen festhalten wolle, sodass auch hier auf den natürlichen Willen abgestellt werde.180 Daneben werde in § 1897 Abs. 4 S. 3 a. E. BGB der natürliche Wille bei der Auswahl des Betreuers für beachtlich erklärt.181 Zudem statuiere § 1905 Abs. 1 Nr. 1 BGB, dass der Betreuer nur in den Eingriff einwilligen könne, wenn dieser nicht dem Willen des Patienten widerspreche, womit auch hier auf den natürlichen Willen abgestellt werde. Dies bedeute, dass erst recht auch im Rahmen der Patientenverfügung der natürliche Wille berücksichtigt werden müsse.182 Überhaupt dürften an die Änderung des Willens aufgrund der schweren Vorhersehbarkeit der künftigen Behandlungssituation keine allzu hohen Anforderungen gestellt werden. Gerade im Falle von Demenz trete nachweislich häufig eine starke Persönlichkeitsveränderung auf, womit sich eigene Wünsche, Bedürfnisse und Wertentscheidungen maßgeblich verändern würden.183 Deshalb müsse der Betroffene seine Patientenverfügung auch im Zustand der Einwilligungsunfähigkeit revidieren können. Die Voraussetzung der Einwilligungsfähigkeit hätte „die weitgehende Bedeutungslosigkeit der Widerrufsoption im klinischen Alltag zu Folge“, „(…) der Patient würde an seinen früheren Heitmann, in: NK-BGB, §1901a Rn. 33; Holzhauser, FamRZ 2006, 518 (521); Jürgens, in: Jürgens Betreuungsrecht, § 1901a Rn. 12; Kutzer, ZRP 2005, 277 (278); Dabrock, ZFME 2007, 127 (136 ff.); Magnus, NStZ 2013, 1 (5); dies., Patientenautonomie im Strafrecht, S. 192 ff.; siehe zudem für einen Widerruf mit natürlichem Willen den „Zöller-Entwurf“ BT-Drs. 16/ 11493, S. 11; ebenso wohl auch Lange, ZEV 2009, 537 (541); Knittel, Betreuungsrecht, § 1901a Rn. 69; Kaufmann, Patientenverfügungen, S. 154; Kieß, in: Jurgeleit Betreuungsrecht, § 1901a Rn. 37; Milzer, DNotZ 2014, 95 (102). 176 Siehe z. B. LG Waldshut-Tiengen, NJW 2006, 2270 (2271). 177 Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 171. 178 Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 171. 179 Jürgens, in: Jürgens Betreuungsrecht, § 1901a BGB Rn. 12. 180 Jürgens, in: Jürgens Betreuungsrecht, § 1901a BGB Rn. 12; Baltz, Lebenserhaltung als Haftungsgrund, S. 57. 181 Berger, JZ 2000, 797 (802). 182 Baltz, Lebenserhaltung als Haftungsgrund, S. 57. 183 BT-Drs.15/3700, S. 12 m. w. N.
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Willensbekundungen erbarmungslos festgehalten, auch wenn er daran im Angesicht seines Todes vielleicht gar nicht mehr festhalten [wolle].“184 Außerdem könne auch ein Demenzkranker ein Leben in Würde führen, sodass der Lebenswille eines einwilligungsunfähigen Patienten ein höheres Gewicht als sein Recht auf Selbstbestimmung im früheren Zeitpunkt habe; zudem gelte das Selbstbestimmungsrecht auch im nicht-autonomen Zustand.185 Das Leben sei nach dem Grundsatz „in dubio pro vita“ unbedingt schützenswert, sodass der natürliche Lebenswille vorrangig zu beachten sei und deshalb auf das Erfordernis der Einwilligungsfähigkeit für den Widerruf verzichtet werden müsse.186 Eine andere Sichtweise wäre im Sinne des Lebensschutzes bedenklich.187 bb) Widerruf nur im Zustand der Einwilligungsfähigkeit Die Gegner dieser Ansicht fordern hingegen für einen wirksamen Widerruf ebenso wie für die Errichtung der Patientenverfügung das Vorliegen von Einwilligungsfähigkeit188, teilweise gar Geschäftsfähigkeit189, sodass ein Widerruf mit natürlichem Willen ausgeschlossen wäre. Das Erfordernis von Einwilligungsfähigkeit zeige sich vor allem an der Existenz des § 1905 Abs. 1 Nr. 1 BGB, wonach der Betreuer in eine Sterilisation des Betreuten, in die dieser nicht einwilligen kann, nur einwilligen kann, wenn die Sterilisation dem Willen des Betreuten nicht widerspricht. Da nach dem Wortlaut der Norm der Betreute in dieser Situation einwilligungsunfähig sei, da er sonst selbst in den Eingriff einwilligen könnte, zeige, dass das Gesetz durchaus zwischen der Einwilligungsfähigkeit und dem natürlichen Willen unterscheide.190 Auch § 1901 Abs. 3 BGB und § 1897 Abs. 4 BGB würden jeweils ausdrücklich den natürlichen Willen für beachtlich erklären. Deshalb sei vielmehr davon auszugehen, dass nach der Gesetzessystematik der Gesetzgeber den natürlichen Willen dort, wo er beachtlich sein solle, ausdrücklich benenne.191 Da er dies in 184
Duttge, in: Advance Care Planning, S. 45. Gärditz, ZfL 2010, 38 (47); Dabrock, ZFME 2007, 127 (137). 186 Nationaler Ethikrat, Patientenverfügung, S. 23 f.; Deutscher Ethikrat, Demenz und Selbstbestimmung, S. 71. 187 Beermann, FPR 2010, 252 (254). 188 Coeppicus, NJW 2011, 2085 (2089); Steenbreker, NJW 2012, 3207 (3210 f.); Zimmermann, Vorsorgevollmacht, S. 236; Wilckens, MDR 2011, 143 (144); Götz, in: Palandt BGB, §1901a Rn. 25; Götz, Patientenautonomie, S. 194 f.; Hoffmann, R&P 2010, 201 (204); MeyerGötz, FPR 2010, 270 (270); Olzen, JR 2009, 354 (358); ders./Schneider, MedR 2010, 745 (745); Reus, JZ 2010, 80 (83); Bienwald, in: Betreuungsrecht, § 1901a Rn. 37; Putz/Steldinger, Patientenrechte, S. 143 f.; Lipp, in: Arztrecht, VI. Rn. 155, er geht im Rahmen einer negativen Patientenverfügung aber dennoch davon aus, dass der Arzt dem jetzigen Wunsch folgen müsse. 189 Wilckens, MDR 2011, 143 (144). 190 Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 250; Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 171. 191 Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 171 f.; Olzen, JR 2009, 354 (357 f.); ders./Schneider, MedR 2010, 745 (745). 185
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§ 1901a Abs. 1 S. 3 BGB nicht getan habe, reiche der natürliche Wille für einen wirksamen Widerruf nicht aus. Zumal auch dafür spreche, dass sowohl im ZöllerGesetzesentwurf192 als auch im Bosbach-Gesetzesentwurf193 der natürliche Wille ausdrücklich ausreichen sollte, dies der jetzigen Fassung aber nicht zu entnehmen sei.194 Da zudem in 1904 Abs. 2 BGB die Begriffe Einwilligung, Nichteinwilligung und Widerruf gleichwertig behandelt werden, sei schwer zu begründen, weshalb ausgerechnet an den Widerruf weniger strenge Anforderungen zu stellen sein sollten.195Auch stelle das BGB bei anderen Rechtsinstituten, wie beispielsweise dem Testament oder der Vollmacht jeweils dieselben Anforderungen an die Willensfähigkeit. So sei auch für den Widerruf des Testaments Testierfähigkeit erforderlich und für den Widerruf der Vollmacht Geschäftsfähigkeit.196 Der Widerruf sei der actus contrarius zur Errichtung der Patientenverfügung, weshalb die gleichen Voraussetzungen wie für die Errichtung gelten würden.197 Zudem gehe es sowohl bei der Errichtung der Patientenverfügung als auch bei deren Widerruf um den gleichen Umstand, nämlich, ob eine Behandlung stattfinden dürfe oder nicht, weshalb die Anforderung an die Festlegungen identisch sein müssten.198 Daneben sei es das Ziel des 3. BtÄndG schon nach der Gesetzesbegründung gewesen, zum einen das Selbstbestimmungsrecht von Patienten zu stärken, zum anderen aber auch Rechtssicherheit zu schaffen. Da sich der Gesetzgeber entgegen aller in der Literatur geäußerten Bedenken dazu entschieden habe, die Patientenverfügung und damit die antizipierte Vorsorge über den Eintritt der Einwilligungsunfähigkeit hinaus anzuerkennen und für voll verbindlich zu erklären, dürften die Voraussetzungen für einen Widerruf nicht zu niedrig angesetzt werden.199 Der Wert dieses Rechtsinstitutes wäre erheblich geschmälert, wenn der natürliche Wille die Aufhebung der Patientenverfügung bewirken könnte, da diese gerade Festlegungen für den späteren Zustand der Einwilligungsunfähigkeit treffen sollte.200 Zudem würden Demenzkranke meist nur im Augenblick leben, deshalb unreflektiert dem natürlichen Antrieb, am Leben zu bleiben, folgen und so nicht in der Lage sein „die Chance einer gnädigen Befreiung von ihrem unwürdigen Zustand wahrzunehmen und im Sinne der Patientenverfügung
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BT-Drs. 16/11493, S. 8. BT-Drs. 16/11360, S. 18. 194 Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 174; Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 250 ff. 195 Götz, Patientenautonomie, S. 195. 196 Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 172. 197 Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 172; Olzen/Schneider, MedR 2010, 745 (745); Lange, Inhalt und Auslegung, S. 68 Fn. 152; Spickhoff, FamRZ 2009, 1949 (1955); Schwab, in: Münchener Kommentar, § 1901a Rn. 37. 198 Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 172; in Bezug auf die Notwendigkeit von Widerrufsfähigkeit allgemein Amelung/Eymann, JuS 2001, 937 (945). 199 Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 173. 200 Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 172. 193
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zu bewerten.“201 Das Selbstbestimmungsrecht im autonomen Zustand habe Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht des Entscheidungsunfähigen.202 cc) Eigene Auffassung Zur Beantwortung der Frage, wie ein der Patientenverfügung entgegenstehender natürlicher Wille rechtlich zu behandeln ist, gibt es grundsätzlich zwei „bequeme“ Möglichkeiten. Sowohl die Ansicht, die Patientenverfügung könne durch den natürlichen Willen widerrufen werden, als auch die Gegenansicht, die Patientenverfügung müsse trotz eines entgegenstehenden natürlichen Willens umgesetzt werden, da für einen wirksamen Widerruf Einwilligungsfähigkeit vorliegen müsse, nehmen für sich in Anspruch, dass allein die jeweilig eigene Auffassung das Prinzip der Patientenautonomie berücksichtige. Dabei wird jeweils verkannt, dass bei beiden Ansichten die Patientenautonomie beschränkt wird. Diejenigen, die den Zeitpunkt der Erstellung der Patientenverfügungen als den maßgeblichen Zeitpunkt ansehen, beschränken die Patientenautonomie durch die Selbstbindung im Zeitpunkt der Behandlungssituation. Diejenigen, die dem natürlichen Willen in der aktuellen Behandlungssituation den Vorzug geben, beschränken die Patientenautonomie zum Zeitpunkt der Erstellung der Patientenverfügung. Unbeschränkte Patientenautonomie kann es also sowohl im Zeitpunkt t1 als auch im Zeitpunkt t2 nicht geben. Auch Arzt und Betreuer stehen bei der Beantwortung dieser Frage vor einer kaum zu lösenden Konfliktsituation: Egal, welcher Handlungsalternative sie folgen, sie handeln immer paternalistisch im Sinne der klassischen Definition.203 Folgen sie der Patientenverfügung, handeln sie dem aktuellen natürlichen Willen entgegen. Bevorzugen sie dagegen den Vorrang des natürlichen Willens, setzen sie sich über die Festlegungen in der Patientenverfügung hinweg. Es muss letztlich ein Ausgleich gefunden werden, der die Patientenautonomie in ihrer Gesamtheit wahrt. Doch ein solcher Ausgleich kann am dogmatischen Ansatzpunkt des Widerrufs aufgrund seiner absoluten Wirkung in der Rechtsfolge nicht gefunden werden. Bejaht man einen Widerruf der Patientenverfügung mittels natürlichen Willens, hebt dieser die Patientenverfügung vollständig auf, sodass der Betreuer gem. § 1901a Abs. 2 S. 1 BGB die Behandlungswünsche oder den mutmaßlichen Willen des Betreuten festzustellen hat und auf dieser Grundlage zu entscheiden hat, ob er in eine ärztliche Maßnahme einwilligt oder sie untersagt. Bei dieser späteren Behandlungsentscheidung dürfte die Patientenverfügung dann aber nicht mehr zu Rate gezogen werden, da ihre Festlegungen nach dem natürlichen 201 202 203
Wilckens, MDR 2011, 143 (144). Wilckens, MDR 2011, 143 (145). Siehe zur Paternalismus-Definition Kap. 2 B. I. 1.
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Willen des Betroffenen gerade keine Wirkung mehr entfalten sollen.204 Eine verbindliche Planung der eigenen Vorsorge käme demnach bei Vorliegen eines entgegenstehenden natürlichen Willens nie in Betracht. Problematisch wäre daneben, wie der trotz entgegenstehender Patientenverfügung erfolgende medizinische Eingriff gerechtfertigt werden könnte. Eine antizipierte Einwilligung in Form der Patientenverfügung würde dann nämlich nicht mehr vorliegen. Da eine wirksame Einwilligung aber nur im Zustand der Einwilligungsfähigkeit erfolgen kann, ein natürlicher Wille dagegen aber gerade das Vorliegen von Einwilligungsfähigkeit ausschließt, müsste eine andere Rechtfertigungsgrundlage gefunden werden.205 Letztlich würde man zur Lösung dieses Konflikts wohl eine mutmaßliche Einwilligung konstruieren.206 Neben den praktischen Schwierigkeiten, die sich bereits bei der Beurteilung des Vorliegens von Entscheidungsfähigkeit bzw. der Bestimmung eines natürlichen Willens ergeben207, ist dem zur Entscheidung befugten Betreuer auch keine flexible Vorgehensweise bei der Beurteilung der Relevanz des natürlichen Willens möglich. Folgt man der Widerrufslösung, hebt der natürliche Wille die Patientenverfügung auf oder eben nicht. Die Entscheidungsgewalt des Betreuers wäre darauf beschränkt, das Vorliegen eines entgegenstehenden natürlichen Willens festzustellen. Eine Entscheidungsbefugnis über die Beachtlichkeit dieses Willens würde für den Betreuer und daneben auch für den Betroffen selbst gerade nicht bestehen. Da es aber schlimmstenfalls in dieser Frage um Leben und Tod geht, erscheint es bedenklich, den Betreuer bzw. den Arzt nur darüber entscheiden zu lassen, ob ein natürlicher Wille in tatsächlicher Hinsicht vorliegt, aber nicht auch darüber, ob diesem im konkreten Fall auch rechtliche Relevanz beigemessen werden soll. Nach diesen grundsätzlichen Bedenken ist nach hier vertretener Auffassung der Problemkreis des entgegenstehenden natürlichen Willens nicht am dogmatischen Ansatzpunkt des Widerrufs der Patientenverfügung zufriedenstellend zu lösen. c) Vorbehalt der Aktualität der Lebens- und Behandlungssituation Ein weiterer dogmatischer Ansatzpunkt für die Berücksichtigung des natürlichen Willens wird (auch) von Vertretern, die für einen wirksamen Widerruf der Patien204
So auch Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 176 f. Ebenso Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 177; Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 254 ff. 206 Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 178. 207 Insbesondere dann, wenn selbst nach eingehender Untersuchung des Betroffenen zweifelhaft bleibt oder nur partiell in Abrede gestellt werden kann, ob die der Patientenverfügung entgegenstehende Willensäußerung im Zustand der Entscheidungsfähigkeit abgegeben wird, oder „nur“ eine vom natürlichen Willen getragene Äußerung vorliegt, vgl. dazu Kap. 3 C. I. 3. 205
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tenverfügung Einwilligungsfähigkeit verlangen, in einem Vorbehalt der Aktualität der Lebens- und Behandlungssituation und damit im Rahmen der Umsetzung der Patientenverfügung gesehen.208 Gem. § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB prüft der Betreuer, ob die in der Patientenverfügung getroffenen Festlegungen auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen. Ist dies der Fall, hat der Betreuer dem Willen des Betreuten Ausdruck und Geltung zu verschaffen, § 1901a Abs. 1 S. 2 BGB. Wird nun aber im einwilligungsunfähigen Zustand ein der Patientenverfügung entgegenstehender natürlicher Wille geäußert, soll eine Übereinstimmung der Patientenverfügung mit der aktuellen Lebenssituation gerade nicht vorliegen. So wird argumentiert, dass, wenn der Verfasser einer Patientenverfügung für den Fall einer Demenzerkrankung bestimmte Behandlungen ablehne, dies im Behandlungszeitpunkt mit natürlichem Willen dann revidiere, gerade nicht die Lebenssituation vorliege, die bei Abfassung der Verfügung antizipiert wurde.209 Hierfür können sich die Vertreter dieser Ansicht auf die Gesetzesbegründung berufen. Danach umfasst die Prüfung, ob die Patientenverfügung noch auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutrifft, „ob das aktuelle Verhalten des nicht mehr entscheidungsfähigen Patienten konkrete Anhaltspunkte dafür zeigt, dass er unter den gegebenen Umständen den zuvor schriftlich geäußerten Willen nicht mehr gelten lassen will, und ob der Betroffene bei seinen Festlegungen diese Lebenssituation mitbedacht hat. Solche konkreten Anhaltspunkte können sich z. B. aus situativ spontanem Verhalten des Patienten gegenüber vorzunehmenden oder zu unterlassenden ärztlichen Maßnahmen, nicht jedoch bei unwillkürlichen, rein körperlichen Reflexen ergeben. Diese Prüfung kann insbesondere bei Demenzerkrankungen von Bedeutung sein.“210
Diese Überlegungen werden auch vom BGH angestrengt. So führte er in einer Entscheidung vom 06.07.2016 in einem obiter dictum aus, dass „der Bevollmächtigte auch zu hinterfragen [habe], ob die Entscheidung noch dem Willen des Betroffenen entspricht, was die Prüfung einschließ[e], ob das aktuelle Verhalten des nicht mehr entscheidungsfähigen Betroffenen konkrete Anhaltspunkte dafür liefer[e], dass er unter den gegebenen Umständen den zuvor schriftlich geäußerten Willen nicht mehr gelten lassen [wolle] und ob er bei seinen Festlegungen diese Lebenssituation mitbedacht [habe].“211
208 Diener, Patientenverfügungen psychisch kranker Personen, S. 98 f.; Bienwald, in: Betreuungsrecht, § 1901a Rn. 38; Coeppicus, NJW 2011, 2085 (2089 f.); Steenbreker, NJW 2012, 3207 (3210 f.); Hoffmann, R&P 2010, 201 (204 f.); Jox, in: Patientenverfügung, S. 136 f.; vgl. auch Spickhoff, FamRZ 2009, 1949 (1951); ders., in: Medizinrecht, § 1901a Rn. 12, der bei Vorliegen eines der Patientenverfügung entgegenstehenden natürlichen Willens von einem Wegfall oder Fehlen der Geschäftsgrundlage spricht. 209 Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 181; Diener, Patientenverfügungen psychisch kranker Personen, S. 98 f. 210 BT-Drs. 16/8442, S. 14 f. 211 BGH, NJW 2016, 3297 (3300).
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Folgt man dieser Auffassung, ist das Nichtvorliegen eines entgegengesetzten natürlichen Willens eine Art ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal in § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB für die Verbindlichkeit der Festlegungen in der Patientenverfügung.212 Damit vermag im Umkehrschluss der natürliche Wille die Patientenverfügung aufzuheben, da bei dessen Bestehen deren Wirksamkeitsvoraussetzungen nicht vorliegen. Wohl aufgrund des Passus in der Gesetzesbegründung, dass zu überprüfen sei, „ob der Betroffene bei seinen Festlegungen diese Lebenssituation mitbedacht [habe]“213, wird innerhalb dieser Ansicht oft die Frage nach der rechtlichen Relevanz des natürlichen Willens mit der Möglichkeit des Betroffenen vermengt, diesen Willen vorab für unbeachtlich zu erklären. So heißt es in einigen Ausführungen oft lapidar, die Patientenverfügung habe immer dann Vorrang vor dem natürlichen Willen, wenn der Betroffene in seiner Verfügung eindeutig zum Ausdruck gebracht hat, dass er seine Patientenverfügung trotz Kenntnis der Situation des „lebensfrohen Demenzkranken“ gelten lassen will.214 Teilweise wird sogar umgekehrt argumentiert, der Patientenverfügung wird zwar grundsätzlich Vorrang eingeräumt, ausnahmsweise habe aber der natürliche Wille Vorrang, sofern dies im Rahmen der Patientenverfügung festgelegt worden sei.215 Nach anderer Ansicht sei nicht von einer generellen Rangfolge von Patientenverfügung und natürlichem Willen auszugehen, vielmehr solle dem Patienten selbst die Entscheidung überlassen werden, welche Willensäußerung Vorrang genießen bzw. wie die spätere Lebenssituation definiert werden solle.216 Letztlich wird dadurch verkannt, dass eine derartige Bezugnahme auf den natürlichen Willen nur dann Sinn ergibt, wenn grundsätzlich vom Vorrang des natürlichen Willens ausgegangen wird.217 Stellt man sich aber noch die Frage, ob der autonome Wille zum Zeitpunkt t1 oder der natürliche Wille zum Zeitpunkt t2 zu beachten ist, hilft eine solche Klausel nicht weiter. Geht man nämlich vom Vorrang
212
Diener, Patientenverfügungen psychisch kranker Personen, S. 99 f. BT-Drs. 16/8442, S. 15. 214 So u. a. bei Steenbreker, NJW 2012, 3207 (3210). 215 Verrel, Gutachten C zum 66. DJT, C-88 f.; Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 274 ff.; ähnlich auch Reus, JZ 2010, 80 (83). 216 Jox, in: Entscheidungen am Lebensende, S. 84. 217 So Marckmann, ÄBW 2005, 332 (334); Coeppicus, NJW 2011, 2085 (2089 f.); Steenbreker, NJW 2012, 3207 (3210); vgl. dagegen Wilckens, MDR 2011, 143 (145): „Nur wenn Zweifel daran bestehen, ob der Betroffene bei seiner Verfügung auch an diese Möglichkeit gedacht und seine Festlegungen auch für diesen Fall gewollt hat, darf der Betreuer oder Vorsorgebevollmächtigte von der Patientenverfügung abweichen. Hat der Betroffene dagegen in seiner Verfügung eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass er die Ablehnung der bezeichneten lebensrettenden Maßnahmen auch für den hier beschriebenen Fall sicherstellen und damit sich selbst vor der Gefahr schützen will, dass er seine wohlbedachte Vorsorge im späteren Zustand des entscheidungsunfähigen Unverstands unterlaufen könnte, so muss seine Patientenverfügung befolgt werden, weil sie diese aktuelle Lebenssituation mit ins Auge gefasst hat.“ 213
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des in der Verfügung festgelegten Willens aus, hat eine solche Anweisung keinerlei Mehrwert, da die Vorsorgeverfügung ohnehin beachtet werden müsste. Insgesamt erscheint es überzeugend, grundsätzlich die rechtliche Relevanz des aktuellen natürlichen Willens zu vermuten, letztlich aber die Entscheidungsgewalt beim Betreuer im Rahmen seiner gesetzlichen Prüfpflicht zu belassen. Um die absolute Wirkungsweise dieses grundsätzlichen Vorrangs aufzuweichen, muss dem Betroffenen daneben die Möglichkeit gewährt werden, das Ergebnis dieser Aktualisierungsentscheidung, zumindest im Hinblick auf die Beachtlichkeit eines antizipierten natürlichen Willens, vorab festzulegen.218 Zunächst spricht der klare Gesetzgeberwille für den Vorrang des natürlichen Willens. In der Gesetzesbegründung wird explizit auf die Situation des „lebensfrohen Demenzkranken“ eingegangen und festgelegt, dass ein situativ-spontanes Verhalten des Patienten gegenüber vorzunehmenden oder zu unterlassenden ärztlichen Maßnahmen vom Betreuer überprüft werden müsse. Zwar ließe sich daran kritisieren, dass so dem Betreuer letztlich die Macht eingeräumt werde, einen vorhandenen aktuellen Lebenswillen des Patienten in seinem Interesse auszulegen und ihn zu verneinen, wodurch eine erhebliche Missbrauchsgefahr drohe.219 Da aber die Feststellung des natürlichen Willens und dessen Beachtlichkeit in der Praxis ohnehin in Zusammenarbeit mit dem behandelnden Arzt und den Pflegekräften statt findet, erscheint eine relevante Missbrauchsgefahr nicht besonders hoch. Im Gegensatz zu der „Widerrufslösung“, bei der alleine das Vorliegen eines entgegenstehenden natürlichen Willens zur Aufhebung der Patientenverfügung führen würde, ermöglicht dieser Lösungsweg eine begrüßenswert flexible Vorgehensweise für den Betreuer. Insbesondere in Fällen, in denen die Äußerung des natürlichen Willens nicht konstant bzw. sogar zweifelhaft ist, erscheint es sachgerecht, die Entscheidung über die Beachtlichkeit dem Betreuer zu überlassen. Daneben lässt sich eine Missbrauchsgefahr vermeiden, wenn man dem Betroffenen die Möglichkeit einräumt, das Ergebnis dieser Aktualisierungsentscheidung, zumindest im Hinblick auf die Beachtlichkeit eines antizipierten natürlichen Willens, bereits vorab festzulegen.220 Für den Vorrang des natürlichen Willens spricht aber vor allem dessen Behandlung im Betreuungsrecht allgemein. Insbesondere an der in § 1901 Abs. 3 BGB statuierten allgemeinen Wunschbeachtungspflicht zeigt sich, dass der natürliche Wille des Betroffenen grundsätzlich relevant ist. Es verbietet sich dem Betreuer, sich über einen wiederholt geäußerten Willen des Betreuten hinwegzusetzen, der auch „objektiv unvernünftig“ sein darf.221 Auch in den §§ 1897 Abs. 4, 1905 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 1906a Abs. 1 BGB zeigt sich, dass der Gesetzgeber den natürlichen Willen für 218 219 220 221
Siehe dazu ausführlich Kap. 3 C. V. 2. b) (cc). Magnus, Patientenautonomie im Strafrecht, S. 193. Siehe dazu ausführlich Kap. 3 C. V. 2. b) (cc). Meier, BtPrax 2006, 159 (160).
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beachtlich hält. Selbst das BVerfG betonte in seiner Entscheidung zur Zwangsbehandlung eines im Maßregelvollzug Untergebrachten, dass eine medizinische Behandlungsmaßnahme gegen den natürlichen Willen des Betroffenen einen Eingriff in die körperliche Integrität des Patienten darstelle sowie in das damit verbundene Recht auf Selbstbestimmung eingreife.222 Entgegen teilweise vertretener anderer Ansicht223 kann zudem unterstellt werden, dass der Betroffene in den meisten Fällen einen möglicherweise entgegenstehenden natürlichen Lebenswillen bei seinen untersagenden Festlegungen nicht bedacht hat. Zwar kann davon ausgegangen werden, dass der Verfasser einer Patientenverfügung sich abstrakt, beispielsweise mit dem Krankheitsbild der Demenz, auseinandergesetzt hat, doch erscheint die Unterstellung, dass er in seine Überlegungen auch die Möglichkeit eines entgegenstehenden natürlichen Willens miteinbezogen hat, zu weitgehend. Genau an dieser Stelle ist vielmehr das Spannungsverhältnis zwischen den Schutzpflichten des Staates und dem Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen aufzulösen. Denn letztlich kranken sowohl der in der Patientenverfügung festgelegte als auch der natürliche Wille an maßgeblichen Defiziten. Im Gegensatz zu einer Einwilligung in eine unmittelbar bevorstehende Maßnahme liegt im Fall der Patientenverfügung häufig ein langer Zeitabstand zwischen Erklärung und Behandlungssituation. Bei der Äußerung eines natürlichen Willens befindet sich der Betroffene dagegen im Zustand der Einwilligungsunfähigkeit. Beide Äußerungen sind aber vom Schutzbereich des Selbstbestimmungsrechts umfasst und beide Defizite können jeweils gegen die Bevorzugung der jeweiligen Willensäußerung als Argumente herangezogen werden. Zwar wird dem Betroffenen in § 1901a Abs. 1 BGB explizit die Möglichkeit eingeräumt, antizipiert über bestimmte Behandlungsmaßnahmen zu entscheiden, doch besitzt die Äußerung durch einen natürlichen Willen im Gegensatz dazu größere Aktualität. Da in diesem späteren Zeitpunkt mehr relevante Informationen bestehen, erscheint der Vorrang des natürlichen Willens vorzugwürdig. Letztlich führt dies wiederum zum Problemkreis, der als sog. Freiheitsparadoxon bezeichnet wird. Unbeschränkte Freiheit hat die Tendenz, sich selbst aufzuheben.224 Räumt man der früheren Entscheidung den Vorrang ein, beschränkt man damit das Selbstbestimmungsrecht im späteren Zeitpunkt. Sieht man die spätere Entscheidung als die maßgebliche an, beschränkt man das Selbstbestimmungsrecht in der früheren Entscheidungssituation. Völlige Freiheit kann es zu keinem der beiden Zeitpunkte geben, denn das Vorliegen von unbeschränkter Freiheit würde auch die Freiheit zur Beschränkung dieser Freiheit beinhalten.225
222
BVerfG, NJW 2011, 2113 (2114). Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 245; Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 192. 224 Vgl. dazu auch Kap. 2 B. II. 2. b) aa) (1). 225 Wagner- von Papp, AcP 2005, 342 (350). 223
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Akzeptiert man aber das Argument, dass ein Vorrang des natürlichen Willens aus der breiteren Informationsbasis im späteren Zeitpunkt resultiert, kann dies nur dann nicht gelten, wenn das Vorliegen eines natürlichen Willens bereits im Zeitpunkt der Erstellung der Patientenverfügung antizipiert wurde. Denn dann lag auch im früheren Zeitpunkt diese Information genauso vor. Letztlich ist also grundsätzlich vom Vorrang des natürlichen Willens auszugehen, außer der Betroffene hat diesen vorab bedacht, was nach hier vertretener Ansicht gerade nicht unterstellt werden kann. Erfolgt dies aber explizit in der Patientenverfügung, muss überprüft werden, auf welche Weise dieser natürliche Wille genau für unbeachtlich erklärt werden kann bzw. ob und inwieweit der Betroffene antizipiert in die Umsetzung seiner Patientenverfügung trotz eines entgegenstehenden Willens einwilligen kann.226 Richtiger dogmatischer Ansatzpunkt für die Berücksichtigung des natürlichen Willens ist damit ausweislich der Gesetzesbegründung die Prüfungsentscheidung des Betreuers, ob die Patientenverfügung noch auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutrifft. d) Beachtlicher Irrtum Teilweise wird noch vertreten, dass bei Vorliegen eines entgegenstehenden natürlichen Willens ein beachtlicher Irrtum des Ausstellers der Patientenverfügung vorliege, der die Unbeachtlichkeit der Patientenverfügung zur Folge habe.227 Zwar könne kein Widerruf der Patientenverfügung wegen bestehender Einwilligungsunfähigkeit vorliegen, doch liege bereits im Zeitpunkt der Willensbildung bei der Erstellung der Patientenverfügung ein Defekt vor. Zeige der Betroffene im Zustand der Krankheit nämlich einen natürlichen Lebenswillen, basiere die Patientenverfügung auf einer Fehlvorstellung über die Stärke des Lebenswillens. Da dies ein entscheidungserheblicher Faktor bei der Willensbildung sei, handle es sich um einen beachtlichen Motivirrtum, wobei bereits die überwiegende Wahrscheinlichkeit eines Irrtums ausreichend sei, da bei Zweifeln der Grundsatz „in dubio pro vita“ gelte.228 Auch nach dieser Ansicht müsste aber dann, wenn der Betroffene innerhalb seiner Patientenverfügung einen entgegenstehenden natürlichen Willen nachweislich mitbedacht hat, das Vorliegen eines Irrtums ausscheiden, da die geregelte Situation eingetreten ist, die sich der Betroffene vorgestellt hat.
226
Siehe dazu ausführlich Kap. 3 C. V. Rickmann, Wirksamkeit von Patiententestamenten, S. 185 f.; Thias, Möglichkeiten und Grenzen, S. 111 f. 228 Rickmann, Wirksamkeit von Patiententestamenten, S. 185 f.; Thias, Möglichkeiten und Grenzen, S. 111 f. 227
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e) Veto-Lösung Ein neuerer Ansatz überträgt die Grundsätze des Behandlungsvetorechts Einwilligungsunfähiger auf die Situation eines der Patientenverfügung entgegenstehenden natürlichen Willens.229 Danach überwinde der natürliche Wille (als Veto) die Patientenverfügung für den Zeitraum, in dem er tatsächlich konstant bestehe.230 Dabei werde die Patientenverfügung nicht wie bei einem unterstellten Widerruf aufgehoben, sondern „lebe bei Wegfall des natürlichen Willens wieder auf.“231 Zum Schutz des Lebens und einer schweren Gesundheitsschädigung sei eine Überwindung dieses natürlichen Willens aber möglich.232 Begründet wird dieser Ansatz damit, dass auch das BVerfG und der BGH im Bereich der Zwangsbehandlung von einer Beachtlichkeit des natürlichen Willens ausgehen und diese Grundsätze auch auf einen der Patientenverfügung entgegenstehenden natürlichen Willen übertragen werden könnten.233 So sei es im vom BVerfG entschiedenen Fall um einen natürlichen Willen gegangen, der sich gegen eine vom Betreuer erteilte mutmaßliche Einwilligung richtete. Da sowohl eine solche Willensbestimmung als auch die Patientenverfügung „(…) Ersatzinstrumente zur Willensermittlung für den Fall der Einwilligungsunfähigkeit des Patienten im Zeitpunkt des medizinischen Eingriffs“ seien und auch der Übergang zwischen § 1901 Abs. 1 und Abs. 2 BGB fließend sei234, sei auch ein der Patientenverfügung entgegenstehender natürlicher Wille grundsätzlich beachtlich. Zudem könne auch die grundsätzliche Relevanz des natürlichen Willens nicht davon abhängen, ob sich dieser für oder gegen eine Behandlung ausspreche.235 Dass der behandlungsablehnende natürliche Wille nur dann eine Patientenverfügung suspendiere, wenn dies weder zu einer Lebensgefahr oder einer schweren Gesundheitsgefahr führe, ergebe sich bereits aus dem grundrechtlichen Schutz des Lebens nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und der Irreversibilität der Entscheidung.236 f) Besonderheiten für psychiatrische Krisensituationen Im Gegensatz zum natürlichen Willen in finalen Lebenssituationen wird in psychiatrischen Krisen der natürliche Wille meist durch aktive Abwehrreaktionen 229 Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 195 ff.; Lanzrath, MedR 2017, 102 (105 ff.). 230 Lanzrath, MedR 2017, 102 (105). 231 Lanzrath, MedR 2017, 102 (105); Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 250. 232 Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 239. 233 Lanzrath, MedR 2017, 102 (105); dabei bezieht er sich auf BVerfG, NJW 2011, 2113 (2113 ff.) und BGH, NJW 2012, 2967 (2967 ff.). 234 Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 223 f. 235 Lanzrath, MedR 2017, 102 (106). 236 Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 237 f.
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
ausgedrückt und ist häufig Teil des Krankheitsbildes.237 Vor allem dann, wenn sich Betroffene bedroht fühlen, unter Wahnvorstellungen leiden oder in Krisensituationen aggressiv reagieren, ist die Beachtlichkeit einer solchen Äußerung prima facie zweifelhaft. Zunächst ist festzuhalten, dass wenn der Betroffene eine bestimmte ärztliche Maßnahme in seiner Patientenverfügung, die auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutrifft, ausgeschlossen hat, die Durchführung dieser Maßnahme auch nicht nach § 1906a Abs. 1 BGB in Betracht kommt. Ist dies nun in § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BGB ausdrücklich statuiert, da im Falle einer antizipierten Behandlungsablehnung die ärztliche Zwangsmaßnahme gerade nicht dem nach § 1901a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BGB zu beachtenden Willen des Betreuten entspricht238, hat sich dies schon nach alter Rechtslage nach allgemeiner Ansicht aus der Regelungssystematik des Betreuungsrechts ergeben, da bei einer wirksamen Patientenverfügung nach § 1901a Abs. 1 BGB meist die Einwilligungszuständigkeit des Betreuers bezweifelt wurde.239 Hinsichtlich des Bestimmtheitserfordernisses der Patientenverfügung war hier nur jeweils fraglich, ob eine abstrakte Untersagung jeglicher Zwangsbehandlung ohne hinreichende Konkretisierung des Beweggrundes oder der Notwendigkeit dieses erfüllen könne.240 Diese betrifft aber nur den Fall, dass eine Maßnahme in einer Patientenverfügung ausgeschlossen wurde und die Durchführung dieser Maßnahme auch dem natürlichen Willen des Betreuten widerspricht. Antizipierter und aktueller Wille sind also kongruent. Hier hat dagegen der Betroffene eine negative Anordnung in seiner Patientenverfügung festgelegt, stimmt mittels eines natürlichen Willens der Behandlung aber zu. Antizipierter und aktueller Wille sind also nicht deckungsgleich, vielmehr vollzieht sich ein Meinungswechsel im Zustand der Einwilligungsunfähigkeit. In diesem Fall kommt es auf § 1906a Abs. 1 BGB nicht an, da es an der maßgeblichen Anwendungsvoraussetzung der Norm fehlt, nämlich dem der Maßnahme entgegenstehenden natürlichen Willen.241 Die Ausgangssituation ist in diesem Fall vielmehr dieselbe wie in dem bisher besprochenen Fall des „lebensfrohen Demenzkranken“. Im Zeitpunkt t1 wird ver237
Henking/Mittag, in: Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen, S. 84. BT-Drs.18/11240, S. 19 f. 239 BVerfG, FamRZ 2015, 1589 (1591); Müller, in: Beck-OK, § 1906 Rn. 26; Mittag, in: Gewalt und Psyche, S. 51; Marschner, in: Jürgens Betreuungsrecht, § 1906 Rn. 36; Dodegge, NJW 2013, 1265 (1265); Dodegge, in: Praxiskommentar Betreuungsrecht, S. 554 Rn. 32c; Diener, Patientenverfügungen psychisch kranker Personen, S. 165 ff.; Bauer/Braun, in: HKBUR, § 1906 Rn. 248; Milzer, DNotZ 2014, 95 (101). 240 Schwab, in: Münchener Kommentar, § 1906 Rn. 47. 241 Vgl. dagegen Schwab, in: Münchener Kommentar, § 1906 Rn. 47, wonach eine Behandlung gegen eine Festlegung einer Patientenverfügung auch dann eine Zwangsbehandlung sei, wenn sie dem aktuellen Willen des einwilligungsunfähig gewordenen Patienten entspreche. 238
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fügt, eine bestimmte Behandlung in einer vorab festgelegten Situation nicht zu wollen, im Zeitpunkt t2 vollzieht sich der Meinungswechsel mit natürlichem Willen. Diesbezüglich kann also nach oben verwiesen werden, der dargestellte Meinungsstand bezieht sich grundsätzlich auch auf diese Konstellation.242 Aufgrund der fehlenden Reichweitenbegrenzung der Patientenverfügung können in ihr auch Maßnahmen für psychiatrische Krisensituationen festgelegt werden.243 Fraglich ist nur, ob sich an der Argumentation aufgrund der Tatsache, dass psychiatrische Krisen häufig schubweise verlaufen und die Einwilligungsfähigkeit häufig wiederhergestellt wird244, etwas ändern muss. So wird vertreten, dass, obwohl in finalen Lebenssituationen für einen wirksamen Widerruf zwar Einwilligungsunfähigkeit ausreiche, in psychiatrischen Krisensituationen aufgrund des oftmals phasenhaften Verlaufs der Krankheit etwas anderes gelten müsse.245 Würde in einer solchen aktuellen Krisensituation ein natürlicher Wille für einen wirksamen Widerruf ausreichen, liefe die Vorsorgeverfügung ins Leere.246 Dem kann nicht zugestimmt werden, da es inkonsequent wäre, den natürlichen Willen einzelfallabhängig in verschiedenen Anwendungssituationen für beachtlich oder unbeachtlich zu erklären. Gesteht man dem natürlichen Willen grundsätzlich „die Macht“ zu, die Durchsetzung einer antizipierten Vorsorgeverfügung zu verhindern, muss dies unabhängig von deren Regelungsgehalt erfolgen. Die Patientenverfügung unterliegt keiner Reichweitenbeschränkung und dasselbe sollte auch für die Beurteilung der Relevanz des natürlichen Willens gelten. Wenn dem natürlichen Willen selbst teilweise hinsichtlich existenzieller Entscheidungen der Vorrang eingeräumt wird, muss dies erst recht gelten, wenn es wie hier „nur“ um die zeitweise Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten geht. Eine einheitliche Behandlung entspricht zudem der Konzeption des Gesetzes, das dem natürlichen Willen unabhängig des Regelungsgegenstandes Relevanz beimisst. Letztlich ergeben sich damit keine Modifikationen bei der Beurteilung der rechtlichen Relevanz des natürlichen Willens in psychiatrischen Krisensituationen gegenüber der Situation in finalen Lebenssituationen bei untersagenden Patientenverfügungen.
242
Siehe dazu ausführlich Kap. 3 C. III. 1. Bienwald, in: Betreuungsrecht, § 1901a Rn. 31; Götz, Patientenautonomie, S. 189; Brosey, BtPrax 2010, 161 (161); Olzen/Schneider, MedR 2010, 745 (747); Henking/Bruns, GesR 2014, 585 (585). 244 Henking/Mittag, in: Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen, S. 84. 245 Heitmann, in: NK-BGB, § 1901a Rn. 46; zwar bezieht er dies nur auf positive Patientenverfügungen, da er aber gleichzeitig vorschlägt, der Betroffene solle festlegen, dass „er sich der Folgen der Behandlungsablehnung bewusst [sei]“ zeigt, dass damit eigentlich eine negative Anordnung einer Patientenverfügung gemeint ist; ähnlich auch Bauer/Braun, in: HK-BUR, § 1906 Rn. 248. 246 Heitmann, in: NK-BGB, § 1901a Rn. 46. 243
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
g) Zwischenergebnis Sämtliche Ansätze, die sich im juristischen Diskurs mit dem Verhältnis von Patientenverfügung und dem natürlichen Patientenwillen beschäftigen, wählen einen anderen dogmatischen Ansatzpunkt für die Berücksichtigung des natürlichen Willens. Abzulehnen ist nach hier vertretener Auffassung die Theorie der Diskontinuität der Persönlichkeit, da ein Zurechnungsausschluss aufgrund krankheitsbedingter Persönlichkeitsveränderungen dem gesetzlichen Leitbild fremd ist. Auch der Ansatzpunkt des Widerrufs der Patientenverfügung überzeugt nicht, da insofern die Entscheidungsgewalt des Betreuers darauf beschränkt ist, das Vorliegen eines entgegenstehenden natürlichen Willens festzustellen. Wünschenswert ist darüber hinaus eine Entscheidungsbefugnis des Betreuers für die Beurteilung der Beachtlichkeit des natürlichen Willens. Eine solche besteht aber nur dann, wenn man den dogmatischen Ansatzpunkt in einem Vorbehalt der Aktualität der Lebens- und Behandlungssituation und damit im Rahmen der Umsetzung der Patientenverfügung sieht. Denn nur dies lässt eine einzelfallabhängige und an den Wünschen des Betroffenen orientierte Entscheidung des Betreuers über die Relevanz des natürlichen Willens zu. Daneben besteht bei diesem Ansatzpunkt für den Betroffenen die Möglichkeit, das Ergebnis dieser Aktualisierungsentscheidung im Hinblick auf die Beachtlichkeit eines antizipierten natürlichen Willens vorab festzulegen. Gemeinsam ist allen Ansätzen, dass nahezu einhellig von einer jedenfalls irgendwie gearteten rechtlichen Relevanz des natürlichen Willens ausgegangen wird. Die Beurteilung hat in finalen Lebenssituationen und in psychiatrischen Krisensituationen einheitlich zu erfolgen. 2. Rechtliche Relevanz des natürlichen Willens bei einer einwilligenden Patientenverfügung Im Rahmen einer einwilligenden Patientenverfügung hat der Betroffene vorab in eine ärztliche Behandlungsmaßnahme eingewilligt, verweigert aber mittels eines aktuellen natürlichen Willens die Behandlung. Antizipierter und aktueller Wille sind also auch in dieser Konstellation nicht deckungsgleich, vielmehr vollzieht sich wiederum ein Meinungswechsel im Zustand der Einwilligungsunfähigkeit.247 Das objektive Wohl liegt im Fall der einwilligenden Patientenverfügung auf der Seite des antizipierten ausgeübten freien Willens, während es im Fall der untersagenden Patientenverfügung auf der Seite des aktuellen unfreien Willens liegt.248
247
Wurde im Rahmen der Patientenverfügung in eine ärztliche Maßnahme eingewilligt und entspricht dies auch dem aktuellen natürlichen Willen (besteht also eine Kongruenz der Willensäußerungen), ist der Fall unproblematisch ausschließlich nach § 1901a BGB zu beurteilen. 248 Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 262.
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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So ist in diesem Fall aufgrund der Ablehnung einer möglicherweise medizinisch indizierten Maßnahme zumindest auf den ersten Blick der Anwendungsbereich des § 1906a Abs. 1 BGB eröffnet, da die ärztliche Maßnahme dem aktuellen natürlichen Willen des Betreuten widerspricht. Es stellt sich aber die Frage, ob auch dann der Anwendungsbereich von § 1906a BGB und dessen strengen Voraussetzungen eröffnet ist, wenn der Betroffene der ärztlichen Maßnahme bereits vorab im Rahmen einer positiven Patientenverfügung zugestimmt hat. So erscheint es zumindest prima facie im Betreuungsrecht systemfremd, dem Betreuer eine erneute Entscheidung über die Legitimation einer ärztlichen Maßnahme zu überlassen, wenn der Betroffene schon selbst in diese eingewilligt hat.249 Zu beurteilen ist also das Verhältnis einer einwilligenden Patientenverfügung gem. § 1901a BGB und der ärztlichen Zwangsmaßnahme gem. § 1906a BGB.250 So ließe sich zum einen vertreten, dass eine einwilligende Patientenverfügung das Vorliegen von Zwang im Sinne des § 1906a BGB ausschließt und deshalb als alleinige, antizipierte Legitimationsmöglichkeit von Zwangsbehandlungen zu betrachten wäre.251 Zum anderen könnte man § 1906a BGB als eine zwingende Schutzvorschrift verstehen, die unabhängig vom Vorliegen einer Patientenverfügung gem. § 1901a BGB bei jeder ärztlichen Maßnahme gegen den natürlichen Willen des Betroffenen zur Anwendung gelangt.252 Von den meisten Autoren wird diese Problematik allerdings nicht erwähnt. Zwar wird häufig dem Betreuer bei Vorliegen einer Patientenverfügung die Einwilligungszuständigkeit in eine ärztliche Zwangsmaßnahme abgesprochen bzw. die Möglichkeit einer Zwangsbehandlung bei einem nach § 1901a BGB zu beachtenden Willen insgesamt verneint, doch bleibt unklar, ob dies auch im Falle einer Behandlungseinwilligung gelten soll.253 Wäre dies nämlich der Fall, könnte der Be249
Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 296 ff. Vgl. dazu auch ausführlich zur alten Rechtslage Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 289 ff. 251 Götz, Patientenautonomie, S. 213 f., in Bezug auf die Rechtslage noch vor Einführung des § 1906 Abs. 3 BGB: „Wenn der Betreuer selbst seine auf Grundlage des mutmaßlichen Patientenwillens (§ 1901a Abs. 2 BGB) getroffene Einwilligungserklärung gegen den natürlichen Willen des Betreuten durchsetzen kann, dann muss dies erst recht für die Einwilligung in einer Patientenverfügung gem. § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB gelten, die der Betroffene selbst erklärt hat“; offen lassend Mittag, in: Gewalt und Psyche, S. 51 f. 252 Bienwald, in: Betreuungsrecht, § 1901a Rn. 36; Lipp, in: Arztrecht, VI. Rn. 155; Lipp, in: Gewalt und Psyche, S. 93; Hoffmann/Klie, Freiheitsentziehende Maßnahmen, S. 17 Rn. 20; Schwab, in: Münchener Kommentar, § 1906 Rn. 46; Bauer/Braun, in: HK-BUR, § 1906 Rn. 249; Hoffmann, R&P 2010, 201 (203); so wohl auch Bünnigmann, BtPrax 2015, 91 (91 f.). 253 In Bezug auf die alte Rechtslage Müller, in: Beck-OK, § 1906 Rn. 26, der dem Betreuer die Einwilligungszuständigkeit abspricht, wenn der Betreute vorab in einer Patientenverfügung seine Einwilligung bzw. Nichteinwilligung verfügt hat; auch Marschner, in: Jürgens Betreu250
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troffene vorab durch eine Patientenverfügung einem der gewünschten Behandlungsmaßnahme entgegenstehenden natürlichen Willen die rechtliche Relevanz nehmen. a) Sprachlich-grammatikalische Auslegung Gem. § 1906a Abs. 1 S. 1 BGB kann der Betreuer in eine ärztliche Maßnahme, die dem natürlichen Willen des Betreuten widerspricht (ärztliche Zwangsmaßnahme), nur unter folgenden, kumulativ vorliegenden Voraussetzungen einwilligen: 1. Die ärztliche Zwangsmaßnahme muss zum Wohl des Betreuten notwendig sein, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden (Nr. 1), 2. der Betreute darf aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung nicht in der Lage sein, die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu erkennen oder nach dieser Einsicht zu handeln (Nr. 2), 3. die Maßnahme muss dem nach §1901a zu beachtenden Willen des Betreuten entsprechen (Nr. 3), 4. es muss zuvor ernsthaft versucht werden, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks, den Betreuten von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen (Nr. 4), 5. der drohende erhebliche gesundheitliche Schaden darf durch keine andere den Betreuten weniger belastende Maßnahme abgewendet werden können (Nr. 5), 6. der zu erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme muss die zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegen (Nr. 6), 7. und die ärztliche Zwangsmaßnahme muss im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus, in dem die gebotene medizinische Versorgung des Betreuten einschließlich einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist, durchgeführt werden (Nr. 7). Die Legaldefinition der ärztlichen Zwangsmaßnahme legt nahe, dass es für deren Einordnung als Zwangsmaßnahme ausreicht, wenn sie dem natürlichen Willen des Betreuten widerspricht und es damit allein auf die aktuelle Willensrichtung des Betroffenen ankommt.254
ungsrecht, § 1906 Rn. 36, spricht nur von einem nach § 1901a zu beachtenden Willen; nicht erwähnt u. a. von Kieß, in: Jurgeleit Betreuungsrecht, § 1906 Rn. 47; Kemper, in: HK-BGB, § 1906 Rn. 14 ff.; Diener, Patientenverfügungen psychisch kranker Personen; Dodegge, in: Praxiskommentar Betreuungsrecht, S. 554 Rn. 32c; Müller, ZEV 2013, 304 (304). 254 So in Bezug auf die alte Rechtslage Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 295.
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Auch der Wortlaut der neu eingefügten Nr. 3 des § 1906a Abs. 1 S. 1 BGB255 unterscheidet nicht zwischen positiver und negativer Anordnung im Rahmen einer Patientenverfügung. Vielmehr ist davon auszugehen, dass gerade auch dann, wenn die Maßnahme dem nach § 1901a BGB zu beachtenden Willen des Betreuten entspricht (und damit eine einwilligende Patientenverfügung vorliegt), es sich dennoch um eine ärztliche Zwangsmaßnahme handelt. Hätte der Gesetzgeber die einwilligende Patientenverfügung vom Anwendungsbereich der Norm ausklammern wollen, hätte er auch § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BGB dahingehend formulieren können, dass der Betreuer in die ärztliche Zwangsmaßnahme nur einwilligen dürfe, wenn die ärztliche Zwangsmaßnahme nicht ohnehin schon dem nach § 1901a BGB zu beachtenden Willen des Betreuten entspreche. Da dies nicht der Fall ist, ist nach dem Wortlaut der Norm davon auszugehen, dass eine ärztliche Behandlungsmaßnahme trotz einwilligender Patientenverfügung den Anforderungen des § 1906a BGB genügen muss, wenn ein der Behandlung entgegenstehender natürlicher Wille vorliegt. b) Historische Auslegung Ausweislich der Gesetzesbegründung soll durch die Einführung des § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BGB klargestellt werden, dass ein in der Patientenverfügung festgelegter Wille des Betreuten der ärztlichen Zwangsmaßnahme nicht entgegenstehen darf.256 Da in der Gesetzesbegründung an dieser Stelle auf den Beschluss des BVerfG vom 14.07.2015257 verwiesen wird, soll damit sichergestellt werden, dass, wenn der Betroffene eine bestimmte ärztliche Maßnahme in seiner Patientenverfügung, die auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutrifft, ausgeschlossen hat, die Durchführung dieser Maßnahme auch nicht nach § 1906a Abs. 1 BGB in Betracht kommt. Hat sich dies bereits nach alter Rechtslage aus der Regelungssystematik des Betreuungsrechts ergeben, da es bei einer wirksamen Patientenverfügung nach § 1901a Abs. 1 BGB bereits an der Einwilligungszuständigkeit 255 § 1906 Abs. 3 S. 1 BGB a. F. lautete: Widerspricht eine ärztliche Maßnahme nach Absatz 1 Nummer 2 dem natürlichen Willen des Betreuten (ärztliche Zwangsmaßnahme), so kann der Betreuer in sie nur einwilligen, wenn 1. der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann, 2. zuvor versucht wurde, den Betreuten von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen, 3. die ärztliche Maßnahme im Rahmen der Unterbringung nach Absatz 1 zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden, 4. der erhebliche gesundheitliche Schaden durch keine andere dem Betreuten zumutbare Maßnahme abgewendet werden kann und 5. der zu erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme die zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegt. 256 BT-Drs. 18/11240, S. 19. 257 BVerfG, FamRZ 2015, 1589 (1589 ff.).
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des Betreuers fehlte258, statuiert § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BGB dies nun ausdrücklich. Nicht explizit aus der Gesetzesbegründung geht allerdings hervor, ob § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BGB auch auf die einwilligende Patientenverfügung anzuwenden ist oder ob diese unabhängig von § 1906a BGB imstande ist, ärztliche Zwangsmaßnahmen zu legitimieren bzw. gar das Vorliegen von Zwang ausschließt. So heißt es in der Gesetzesbegründung, dass durch Patientenverfügungen ärztliche Zwangsmaßnahmen vermieden werden können.259 Daraus könnte man schließen, dass wenn eine einwilligende Patientenverfügung in eine ärztliche Maßnahme vorliegt, diese trotz eines aktuellen entgegenstehenden natürlichen Willens die Notwendigkeit der Anwendung des § 1906a BGB ausschließt, womit eine Zwangsmaßnahme vermieden wird. Damit ist aber wohl eher der Fall einer negativen Anordnung gemeint; wenn der antizipierte Wille der Maßnahme widerspricht, kommt eine Zwangsmaßnahme nicht in Betracht und wird deshalb vermieden. Betont wurde daneben, dass mit der Gesetzesänderung das Ziel verfolgt werde, das Selbstbestimmungsrecht des Patienten bei medizinischen Behandlungen zu stärken, indem die Verbreitung von Patientenverfügungen und Behandlungsvereinbarungen gefördert werde.260 So könne der Betroffene selbst nach § 1901a BGB bestimmen, ob und welche ärztlichen Zwangsmaßnahmen im Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit durchzuführen oder zu unterlassen seien.261 Auch daran zeigt sich wiederum, dass der Gesetzgeber auch die Maßnahme, in die vorab in einer Patientenverfügung eingewilligt wurde, als ärztliche Zwangsmaßnahme versteht; es also ausreicht, wenn der Behandlung ein aktueller natürlicher Wille entgegensteht. Die einwilligende Patientenverfügung wurde also aus Gesetzgebersicht in die Überlegungen bei der Einführung des § 1906a BGB miteinbezogen. c) Systematische Auslegung Vor der Gesetzesänderung ließ sich gegen dieses Ergebnis systematisch einwenden, dass es systemfremd wäre, eine Einwilligungszuständigkeit des Betreuers bzw. Bevollmächtigten anzunehmen, wenn der Rechtsgutsinhaber bereits selbst seine Einwilligung antizipiert erteilt habe.262 Wenn es nämlich an einer Entschei258 BVerfG, FamRZ 2015, 1589 (1591); Müller, in: Beck-OK, § 1906 Rn. 26; Mittag, in: Gewalt und Psyche, S. 51; Marschner, in: Jürgens Betreuungsrecht, § 1906 Rn. 36; Dodegge, NJW 2013, 1265 (1265); Dodegge, in: Praxiskommentar Betreuungsrecht, S. 554 Rn. 32c; Diener, Patientenverfügungen psychisch kranker Personen, S. 165 ff. 259 BT-Drs. 18/11240, S. 14. 260 BT-Drs. 18/11240, S. 14. 261 BT-Drs. 18/11240, S. 14. 262 So Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 296 f.; vgl. dazu auch Milzer, DNotZ 2014, 95 (102), der in Hinblick auf § 1906 BGB a. F. davon ausgeht, dass dem Betreuer
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dungskompetenz bei einer untersagenden Patientenverfügung fehle, müsse auch spiegelbildlich die einwilligende Patientenverfügung eine Behandlung dem Anwendungsbereich des § 1906 Abs. 3 BGB a. F. entziehen.263 Diese Argumentation hat sich aber durch die Einführung des § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BGB erledigt, da dem Betreuer nun grundsätzlich immer eine Entscheidungskompetenz zukommt, in eine ärztliche Zwangsmaßnahme einzuwilligen, die Voraussetzungen der Norm aber dann nicht erfüllt sind, wenn eine die Behandlung ablehnende Patientenverfügung vorliegt. So kann er gem. § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BGB in die ärztliche Zwangsmaßnahme nur einwilligen, wenn dies dem nach § 1901a zu beachtenden Willen des Betreuten entspricht; im Umkehrschluss sie diesem Willen also nicht widerspricht. Selbst bei einer negativen Anweisung besitzt er damit zwar die Entscheidungskompetenz. Die Einwilligung ist aber dann zu verweigern, wenn eine entgegenstehende Patientenverfügung vorliegt, da es dann an der Voraussetzung des § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BGB fehlt. Fehlt ihm aber damit nach neuer Rechtslage selbst bei einer negativen Patientenverfügung nicht die Entscheidungskompetenz, muss ihm diese spiegelbildlich auch bei Vorliegen einer einwilligenden Patientenverfügung zugestanden werden. So zeigt sich an der Struktur der Vorschrift, dass die Anforderungen des § 1906 Abs. 1 BGB auch dann erfüllt sein müssen, wenn eine einwilligende Patientenverfügung vorliegt. Würde sich der Anwendungsbereich der Norm nämlich ausschließlich auf die behandlungsablehnende Patientenverfügung beziehen, könnte der Betreuer bei Vorliegen einer Patientenverfügung nie in eine ärztliche Zwangsmaßnahme nach § 1906a Abs. 1 BGB einwilligen. Wenn nämlich eine die Behandlung untersagende Patientenverfügung vorläge, entspräche die ärztliche Zwangsmaßnahme bereits nicht dem Willen des Betreuten, sodass es für eine wirksame Einwilligung an § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BGB fehlen würde. Könnte nun eine einwilligende Patientenverfügung unabhängig von den Voraussetzungen des § 1906a Abs. 1 BGB eine Zwangsbehandlung legitimieren, wäre die Vorschrift nur noch dann anzuwenden, wenn keine wirksame Patientenverfügung bestehen würde. Damit wäre § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BGB ausschließlich ein negatives Ausschlusskriterium, das nie erfüllt sein könnte. Betrachtet man allerdings die anderen Einwilligungsvoraussetzungen, sind diese nicht als Ausschlusskriterien
keine Entscheidungskompetenz zukomme, dieser vielmehr ausschließlich das Verfahren zur Genehmigung der Zwangsbehandlung durch das Betreuungsgericht anstoße. 263 Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 296 f.; auch die Argumentation Hornungs, dass bei Vorliegen einer einwilligenden Patientenverfügung die Entscheidungskompetenz „auf Null“ reduziert sein könnte, ist durch die Einführung des § 1906a BGB obsolet geworden, da der Gesetzgeber sich dafür entschieden hat, das Vorliegen einer nicht widersprechenden Patientenverfügung zur Voraussetzung einer zulässigen Zwangsbehandlung zu erklären.
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
ausgestaltet, weshalb davon auszugehen ist, dass auch § 1901a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BGB kein Ausschlusskriterium darstellen soll. d) Teleologische Auslegung Zwar soll ausweislich der Gesetzesbegründung die Einfügung des § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BGB als Voraussetzung für die Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen stärken264, doch stellt sich die Frage, ob nicht nach Sinn und Zweck der Regelung die einwilligende Patientenverfügung unabhängig von den Voraussetzungen des § 1906a BGB eine Zwangsbehandlung legitimieren müsste.265 So erscheint es hinsichtlich der Schutzbedürftigkeit des Betroffenen doch so, dass, wenn er selbst antizipiert in eine Zwangsbehandlung eingewilligt hat, diese selbstgewählte Maßnahme unter geringeren Voraussetzungen legitimiert werden müsste, als wenn eine solche Selbstbestimmung nicht vorliegt und es um eine reine Fremdbestimmung geht. So statuiert beispielsweise § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB, dass die ärztliche Zwangsmaßnahme notwendig sein muss, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden. Alle Maßnahmen, die unter dieser Erheblichkeitsschwelle liegen, könnten damit bei Vorliegen eines entgegenstehenden natürlichen Willens trotz einer einwilligenden Patientenverfügung nicht durchgeführt werden. Dasselbe gilt für § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 6 BGB, wonach die ärztliche Zwangsmaßnahme nur im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchgeführt werden kann. Eine möglicherweise „mildere“ ambulante Zwangsbehandlung, legitimiert durch eine einwilligende Patientenverfügung, ist so nicht möglich.266 So ließe sich letztlich argumentieren, dass es das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen stark einschränken würde, wenn er nicht unabhängig von den strengen Voraussetzungen des § 1906a BGB antizipiert in Zwangsbehandlungen einwilligen könnte. Zumal es doch bei den Anforderungen an eine ärztliche Zwangsbehandlung einen Unterschied machen muss, ob der Betroffene bereits vorab in eine solche mittels einer Patientenverfügung eingewilligt hat oder ob keine derartige Vorsorgeverfügung besteht. Beharrt man auf der Anwendung des § 1906a Abs. 1 BGB, setzt 264
BT-Drs. 18/11240, S. 14. Vgl. dazu auch Milzer, DNotZ 2014, 95 (101): Eine positive Patientenverfügung „könnte für somatisch erkrankte Patienten, aber auch außerhalb eines psychotischen Schubes geschäftsfähige psychiatrische Patienten sinnvoll sein, wenn durch ihre Errichtung die Einhaltung der sehr eng gezogenen materiell-rechtlichen und der für den Patienten und seinen Bevollmächtigten schwerfälligen und kostenträchtigen besonderen verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für eine ärztliche Zwangsbehandlung entbehrlich würden oder aufgrund einer entsprechenden Patientenverfügung auch eine nach der gesetzlichen Regelung nicht mögliche ambulante Zwangsbehandlung durchgeführt werden dürfte.“ 266 Siehe dazu noch genauer unten Kap. 3 C. IV. 265
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der natürliche Wille die antizipierte Vorsorgeentscheidung insoweit außer Kraft, als dass eine Behandlung nur unter den strengen Voraussetzungen des § 1906a Abs. 1 BGB möglich ist, letztlich also nur im absoluten Ausnahmefall.267 Insbesondere spricht aber eine drohende Missbrauchsgefahr gegen die Annahme, dass eine ärztliche Zwangsbehandlung ausschließlich durch eine einwilligende Patientenverfügung gerechtfertigt werden kann. Um den strengen, unbequemen Anforderungen des § 1906a Abs. 1 BGB zu entgehen, könnten Ärzte, Betreuer und Bevollmächtigte zu einem Automatismus dergestalt übergehen, die Betroffenen einwilligende Patientenverfügungen verfassen zu lassen, um ein schnelleres und kostengünstigeres Zwangsbehandlungsverfahren zu ermöglichen.268 Zumal hier dann wiederum insbesondere problematisch wäre, unter welchen Voraussetzungen der Betroffene die einwilligende Patientenverfügung zurücknehmen könnte. Auf das Vorliegen eines entgegenstehenden natürlichen Willens könnte dann gerade nicht mehr abgestellt werden. Daneben führte das BVerfG in einer Entscheidung vom 10.06.2015 in einem ähnlich gelagerten Fall269 aus, dass das subjektive Bedrohlichkeitsempfinden des Einzelnen in der konkreten Situation nicht dadurch gemindert werde, dass im zeitlichen Vorfeld zu einem Zeitpunkt umfassender Vernunft und Geschäftsfähigkeit vorgreiflich in derartige Beschränkungen eingewilligt wurde.270 Selbst wenn also der Betroffene bereits vorab eine in die Zwangsbehandlung einwilligende Patientenverfügung verfasst habe, ändere dies nichts daran, dass eine Zwangsbehandlung ultima ratio sei und deswegen spezielle verfahrensrechtliche Anforderungen erfüllt sein müssten, um den Patienten vor Willkür zu schützen. Unabhängig davon kann man aber erwägen, ob der Betroffene im Rahmen seiner Patientenverfügung zumindest teilweise auf bestimmte Anforderungen der Zwangsbehandlung verzichten kann, doch bedarf dies einer eingehenden Untersuchung.271 Maßnahmen, in die vorab eingewilligt wurde, pauschal vom Zwangsbegriff auszuklammern, erscheint zu weitgehend. Letztlich ist also davon auszugehen, dass die antizipierte Einwilligung nicht die Zustimmung zu einer Zwangsbehandlung beinhaltet.272
267 Ebenso in Bezug auf die alte Rechtslage Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 308. 268 Vgl. zu den oft auch negativen Konsequenzen der Berücksichtigung des § 1906a Abs. 1 BGB sogleich Kap. 3 C. IV. 269 Siehe dazu Kap. 3 C. V. 2. c) aa) (1). 270 BVerfG, NJW-RR 2016, 193 (194). 271 Siehe dazu Kap. 3 C. V. 2. c). 272 Schwab, in: Münchener Kommentar, § 1906 Rn. 46.
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
3. Zwischenergebnis Im Ergebnis ist nach hier vertretener Auffassung von einem Vorrang des einer Patientenverfügung entgegenstehenden natürlichen Willens auszugehen. Dies gilt unabhängig davon, ob im Rahmen einer untersagenden Patientenverfügung ärztliche Behandlungsmaßnahmen ausgeschlossen wurden, denen aber in der Behandlungssituation mittels natürlichen Willens zugestimmt wird oder ob zwar eine einwilligende Patientenverfügung vorliegt, die angeordnete Behandlungsmaßnahme aber durch den natürlichen Willen nunmehr abgelehnt wird. Im Falle des eingangs erwähnten Sängers A, der sich bei einem Treppensturz einen komplizierten Oberschenkelhalsbruch zuzog, dürfte der behandelnde Arzt die Operation trotz der entgegenstehenden Patientenverfügung durchführen. Im Falle des manisch-depressiven B dürfte der behandelnde Arzt trotz des aktiv geleisteten Widerstands des B und aufgrund seiner Patientenverfügung das Medikament nur verabreichen, wenn die Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine wirksame Zwangsbehandlung erfüllt sind. Die Patientenverfügung alleine stellt keine ausreichende Legitimationsgrundlage dar.
IV. Konsequenzen des Vorrangs des natürlichen Willens und das Bedürfnis nach Odysseus-Anweisungen 1. Für Patientenverfügungen in finalen Lebenssituationen Wie die bis heute intensiv geführte Diskussion zeigt, wurde bisher noch kein einheitlicher Konsens zu der Frage gefunden, wie ein der Patientenverfügung entgegenstehender natürlicher Wille rechtlich behandelt werden soll. Es zeigt sich aber, dass unabhängig vom dogmatischen Ansatzpunkt nahezu einhellig von einer irgendwie gearteten rechtlichen Relevanz des natürlichen Willens ausgegangen wird.273 Auch in der Praxis wird bei Behandlungsentscheidungen neben dem Willen der Angehörigen und des Betreuers meist auf den aktuellen, natürlichen Willen abgestellt. Vor allem bei Erkrankungen, die erhebliche kognitive Beeinträchtigungen hervorrufen, orientieren sich Therapieentscheidungen – anders als bei somatischen Erkrankungen – vermehrt am natürlichen Willen, anstatt an dem vorausverfügten Willen festzuhalten.274 Dies belegt eine von Ralf J. Jox durchgeführte VignettenStudie. Sowohl nahstehende Verwandte, die als Betreuer bestellt wurden, als auch 273
Siehe ausführlich Kap. 3 C. III. Birnbacher, Ethik Med 2016, 283 (288 f.); so ist es nach Putz/Steldinger, Patientenrechte, S. 141 denkbar, dass Ärzte oder Pflegepersonal das Gespräch mit dem Patienten suchen, er wolle doch weder verhungern noch verdursten und solle deshalb einem bestimmten medizinischen Eingriff zustimmen; um sich den drängenden Fragen zu entziehen, stimmt der Patient dann dem Eingriff zu, ohne die Tragweite dieser Entscheidung zu begreifen und im Widerspruch zu seiner möglicherweise wohldurchdachten Patientenverfügung. 274
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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berufsmäßige oder ehrenamtliche Betreuer machten ihre Entscheidungen vom aktuellen Verhalten des Demenzpatienten bzw. ihrer Interpretation dieses Verhaltens abhängig, insbesondere dann, wenn der Patient lebensfroh erschien.275 Diese Praxis kann für die Betroffenen zu erheblichen Problemen führen. Zum einen auf Seiten der Angehörigen und des Arztes, für die die Beurteilung der Erheblichkeit des natürlichen Willens vor allem in praktischer, wie auch in rechtlicher sowie in ethischer Hinsicht schwierig ist. Insbesondere, weil häufig Unsicherheiten über die Relevanz des natürlichen Willens bestehen, ist die Bereitschaft, die Verantwortung dafür zu übernehmen, einen Menschen im schlimmsten Fall aufgrund seiner Vorausverfügung sterben zu lassen, sehr gering. Aber auch auf Seiten des Betroffenen führt die rechtliche Unsicherheit über die Verbindlichkeit der Patientenverfügung bei Vorliegen eines in Widerspruch stehenden natürlichen Lebenswillen zu Problemen. So gaben in einer anderen von Ralf J. Jox durchgeführten Studie 69,01 % der befragten Personen an, sich für ihre Patientenverfügung eine hohe Verbindlichkeit zu wünschen.276 Damit schlossen sie die Alternative aus, dass ihr Bevollmächtigter oder Betreuer in der Behandlungssituation von ihrer Patientenverfügung abweichen dürfe, wenn er/sie überzeugt wäre, dass der Betroffene seine Meinung in der aktuellen Situation geändert habe, als auch die Möglichkeit, dass die Patientenverfügung lediglich Hinweischarakter habe.277 Während vor der Kodifizierung der Patientenverfügung gegen deren Verbindlichkeit metaphorisch eine „Versklavung des Patienten in einer späteren Lebensphase“278 durch seine eigene frühere Verfügung befürchtet wurde, besteht eine derartige „Versklavung“ nun spiegelbildlich in Bezug auf den der Vorsorgeverfügung entgegenstehenden natürlichen Willen.279 Denn letztlich „versklavt“ der natürliche Wille die antizipierte, autonom und rechtlich – eigentlich – verbindliche Entscheidung des Patienten, bestimmte Behandlungsmaßnahmen zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht zu wollen. Dass auch eine „Versklavung“ in diese Richtung vom Betroffenen als eine gravierende Entwürdigung seines Selbstbestimmungsrechts empfunden wird, ist unschwer nachvollziehbar.280 Um dem zu entgehen, tauchten in jüngster Vergangenheit in Patientenverfügungsmusterformularen vermehrt Textbausteine auf, mit deren Hilfe die unbedingte 275 Jox, in: Patientenautonomie, S. 335; Jox/Denke/Hamann/Mendel/Förstl/Borasio, International Journal of Geriatric Psychiatry 2012, 1045 (1051): „In contrast to ethical and legal theory, surrogate decisions are more influenced by the patient’s current behavior than by his previously expressed autonomy.“ 276 Jox, Ethik Med 2009, 21 (24). 277 Jox, Ehtik Med 2009, 21 (22). 278 BT-Drs. 15/3700, S. 12 mit Verweis auf Buchanan/Brock, Deciding for Others: The Ethics of Surrogate Decision Making. 279 Vgl. dazu auch Merkel, Ethik Med 2004, 298 (302). 280 Ähnlich Verrel, in: Handbuch Patientenverfügungen, S. 95 f.
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
Verbindlichkeit der Patientenverfügung gewährleistet werden soll. Der Zweck einer solchen Klausel ist bei Patientenverfügungen am Lebensende, die meist negative Anordnungen enthalten, primär, sich vor bejahenden Behandlungsentscheidungen Anderer zu schützen und so den Wertvorstellungen Dritter nicht ausgeliefert zu sein. Der Betroffene will damit die Entscheidungsgewalt und damit verbunden die Verantwortung über die Beurteilung der Relevanz des natürlichen Willens selbst ausüben. Bei positiven Anordnungen im Rahmen von Patientenverfügungen ist der Zweck meist der Schutz des Betroffenen vor sich selbst, mit einer solchen Selbstbindung will er sich vor einer in der Zukunft liegenden Entscheidung schützen, die im Zustand der Einwilligungsunfähigkeit getroffen werden und so die wohlbedachte Vorsorge unterlaufen könnte. 2. Für Patientenverfügungen in psychiatrischen Krisensituationen Während sich für negative Patientenverfügungen in psychiatrischen Krisensituationen keine Modifikationen bei den Konsequenzen der Relevanz des natürlichen Willens gegenüber der Situation in finalen Lebenssituationen ergeben281, hat das Vorliegen eines entgegenstehenden natürlichen Willens bei einer positiven Patientenverfügung die Anwendbarkeit der Regelungen über Zwangsbehandlungen zur Folge.282 Um die Konsequenzen zu verdeutlichen, die sich aus der Anwendbarkeit dieser Regelungen ergeben, soll im Folgenden zunächst ein Überblick über die dadurch zu beachtenden Rechtsvorschriften gegeben werden. a) Das Verfahren nach den §§ 312 ff. FamFG Das Verfahren über die Genehmigung einer Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme eines Betreuten oder eines Bevollmächtigten, einschließlich einer Verbringung in einen stationären Aufenthalt, ist gem. § 312 Nr. 3 FamFG eine Unterbringungssache.283 Bei der Genehmigung einer Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme oder deren Anordnung ist die Bestellung eines Verfahrenspflegers gem. § 317 Abs. 1 S. 3 FamFG stets erforderlich. Daneben hat eine Anhörung des Betroffenen sowie eine Anhörung der sonstigen in § 315 FamFG genannten Beteiligten durch das Betreuungsgericht zu erfolgen, vgl. §§ 319, 320 FamFG. Auch die Einholung eines Sachverständigengutachtens, bei dem der Gutachter ein Arzt für Psychiatrie, aber nicht der zwangsbehandelnde Arzt sein soll, ist nach § 321 FamFG erforderlich. Verweigert der Betroffene die zur Begutachtung notwendige Unter281
Siehe Kap. 3 C. III. 1. f). Siehe Kap. 3 C. III. 2. 283 Vgl. zum Verfahren auch ausführlich Henking/Mittag, in: Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen, S. 73 ff. 282
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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suchung, kann er vorgeführt bzw. sogar untergebracht werden, §§ 322, 283, 284 FamFG. Das Betreuungsgericht entscheidet über die Durchführung der Maßnahme durch Beschluss; die Beschlussformel muss die Unterbringungsmaßnahme näher bezeichnen und den Zeitpunkt nennen, zu dem die Unterbringungsmaßnahme endet, §§ 323, 38 FamFG. Während gem. § 1906 Abs. 2 S. 2 BGB dem Betreuer bei Gefahr im Verzug die Rechtsmacht zukommt, ohne Genehmigung des Betreuungsgerichts284 über eine freiheitsentziehende Unterbringung zu entscheiden, hat er diese Eilanordnungskompetenz nicht in Bezug auf die Durchführung einer ärztlichen Zwangsbehandlung.285 Vielmehr ist in einem solchen Fall das gerichtliche Verfahren zwingend vorgeschaltet. Es besteht aber gem. § 331 FamFG die Möglichkeit einer einstweiligen Anordnung einer vorläufigen Unterbringungsmaßnahme, wenn ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden besteht. Zwar reicht gem. § 331 Abs. 1 Nr. 2 FamFG ein ärztliches Zeugnis statt eines ärztlichen Gutachtens aus, doch muss auch hier gem. § 331 Abs. 1 Nr. 3 FamFG ein Verfahrenspfleger bestellt und angehört worden sein sowie gem. § 331 Abs. 1 Nr. 4 FamFG der Betroffene persönlich angehört werden. Von diesen Erfordernissen kann gem. § 332 S. 1 FamFG nur bei Gefahr im Verzug abgesehen werden. Diese Verfahrenshandlungen sind dann aber gem. § 332 S. 2 FamFG unverzüglich nachzuholen. Die verfahrensrechtliche Komplexität der Genehmigung einer Zwangsbehandlung zeigt, dass selbst, wenn die Voraussetzungen für eine Zwangsbehandlung grundsätzlich erfüllt sind, es bis zu mehreren Wochen dauern kann, bis ein Betreuer bestellt und eine unabhängige psychiatrische Begutachtung erfolgt ist sowie die Zwangsbehandlung vom Betreuungsgericht genehmigt wurde.286 So kann es dem Betroffenen passieren, dass er aufgrund der Komplexität des Verfahrens, insbesondere in Notfallsituationen, verwahrt wird, ohne dass damit verbunden eine notfallmäßige Behandlung erfolgen kann. Vor allem ohne eine medikamentöse Behandlung kann so der Leidensdruck des Patienten enorm erhöht werden, was für den Betroffenen zu Angst und Verzweiflung führen kann.287 Auch eine öffentlich-rechtliche Unterbringung nach Landesrecht kann hier keine Abhilfe schaffen, da die meisten Psychisch-Kranken-Gesetze288 eine Zwangsmedikation 284
Diese ist aber gem. § 1906 Abs. 2 S. 2 2. Hs BGB unverzüglich nachzuholen. Bauer/Braun, in: HK-BUR, § 1906 Rn. 312; Pollmächer, in: Gewalt und Psyche, S. 182. 286 Müller, Ethik Med 2016, 255 (256 f.); vgl. alleine schon zum Zeit- und Prognoseproblem in der Praxis der Unterbringung Heitmann, in: NK-BGB, § 1906 Rn. 10 ff. 287 Müller, Ethik Med 2016, 255 (257); siehe auch Petit/Klein, DÄBl 2013, A377 (A378): „In der Praxis müssten daher hocherregte, aggressive oder massiv selbstgefährdete Patienten bis zur wirksamen richterlichen Entscheidung fixiert werden. Dies ist ohne begleitende Medikation schwierig und in vielen Fällen unvertretbar, da die Fixierung ohne Medikation zum Teil eine erhebliche Gefahr für den Patienten und die Umwelt darstellt.“ 288 In Bayern und im Saarland wird die Unterbringung psychisch kranker Menschen in Unterbringungsgesetzen (UBG und UnterbrG) geregelt; in Hessen gilt trotz einiger Reformversuche das Freiheitsentziehungsgesetz (HFEG) aus dem Jahr 1952. 285
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
ebenso wie das Betreuungsrecht nur mit gerichtlicher Genehmigung erlauben (z. B. § 20 PsychKG Baden-Württemberg, § 16 PsychKG Schleswig-Holstein, § 18 PsychKG NRW, in Berlin wird die Zwangsmedikation überhaupt nicht gestattet, vgl. § 29a PsychKG Berlin). So ist es dem Arzt nur in absoluten Not- oder Eilfällen möglich, eine Zwangsbehandlung durchzuführen und sich dann auf die Notstandsregelung des § 34 StGB zu berufen. Danach handelt nicht rechtswidrig, wer eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt, § 34 S. 1 StGB. Da die Güterabwägung dem Rechtsanwender einen weiten Spielraum im Einzelfall eröffnet289, kann der Arzt im Rahmen dieser Abwägung in Rechtfertigungsdruck290 geraten und sich damit einem erheblichen strafrechtlichen Risiko aussetzen, da er mit der Zwangsbehandlung eine Körperverletzung begeht. Dieses Risiko wird kaum ein Arzt bereit sein einzugehen. Zudem wurde die Vorschrift für extreme Ausnahmesituationen geschaffen, sodass ein Automatismus in der Anwendung auf notfallmäßige Zwangsbehandlungsmaßnahmen nicht überzeugt.291 b) Die materiellen Voraussetzungen des § 1906a Abs. 1 BGB Neben den nach §§ 312 ff. FamFG zu beachtenden Verfahrensvorschriften müssen die materiellen Voraussetzungen des § 1906a Abs. 1 BGB gegeben sein, damit der Betreuer in die ärztliche Zwangsmaßnahme einwilligen kann. Die wohl gewichtigsten Konsequenzen, die sich aus der zwingenden Anwendung der Regelungen über Zwangsbehandlungen ergeben, sind, dass gem. § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB die ärztliche Zwangsmaßnahme zum Wohl des Betreuten notwendig sein muss, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden und gem. § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 7 BGB die ärztliche Zwangsmaßnahme nur im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus, in dem die gebotene medizinische Versorgung des Betreuten einschließlich einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist, durchgeführt werden kann.
289 So wäre die Rechtfertigung des Arztes zum Beispiel von den jeweiligen Rechtsgütern abhängig (hier also die Chancen und Risiken eines Eingriffs), vgl dazu Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 265 f. 290 Ein solcher Rechtfertigungsdruck besteht auch schon bei der jeweils folgenden richterlichen Anhörung, Petit/Klein, DÄBl 2013, A377 (A378). 291 So auch Pollmächer, in: Gewalt und Psyche, S. 182 f.
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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aa) Erfordernis der erheblichen Gesundheitsgefahr nach § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB Demnach kann eine positive Patientenverfügung letztlich nur dann Wirkung entfalten, wenn die darin angeordnete Maßnahme notwendig ist, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden, § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB. Dabei entspricht das Erfordernis der erheblichen Gesundheitsgefahr für die Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme in § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB dem drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden als Anforderung für eine Unterbringung des Betreuten in § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB.292 Aufgrund des massiven Grundrechtseingriffs einer Zwangsbehandlung ist diese Schwelle der Erheblichkeit des drohenden Schadens hoch anzusetzen.293 Dies wurde dahingehend von der Rechtsprechung konkretisiert, dass eine ärztliche Zwangsmaßnahme nur bei „gewichtigen dauerhaften Schäden“294, beim Vorliegen einer aktuellen Suizidgefahr295, oder wenn die konkrete Gefahr einer Selbstverstümmelung oder Gifteinnahme296 vorliegt, vorgenommen werden kann.297 Letztlich muss die drohende Gesundheitsgefahr so erheblich sein, dass ein Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen hinsichtlich der Erhaltung oder Wiederherstellung der körperlichen Integrität gerechtfertigt erscheint.298 „Weniger gewichtige Schäden, etwa die Verweigerung einer Behandlung und Medikamenteneinnahme mit der unbestimmten Gefahr eines Krankheitsrückfalls oder die Verlängerung einer manischen Phase“299, genügen dagegen nicht. Dementsprechend können ärztliche Maßnahmen, deren erwarteter Effekt diesen Anforderungen an die Erheblichkeit der drohenden Gesundheitsgefahr nicht entspricht, bei Vorliegen eines aktuellen behandlungsablehnenden natürlichen Willens nicht umgesetzt werden. Dies gilt dann auch für Maßnahmen, die bereits vorab in einer einwilligenden Patientenverfügung positiv angeordnet wurden.300
292 Noch in Bezug auf die alte Rechtslage Marschner, in: Jürgens Betreuungsrecht, § 1906 Rn. 35; Dodegge, in: Praxiskommentar Betreuungsrecht, S. 558 Rn. 32k. 293 Bauer/Braun, in: HK-BUR, § 1906 Rn. 282; Dodegge, in: Praxiskommentar Betreuungsrecht, S. 558 Rn. 32k. 294 Hier des Magen-Darm-Traktes, OLG Schleswig, NJW-RR 2002, 794 (794). 295 OLG Brandenburg, BtPrax 2009, 182 (183). 296 OLG Hamm, NJW 1976, 378 (379). 297 Siehe hierzu weitergehend auch die Aufzählung von Dodegge, in: Praxiskommentar Betreuungsrecht, S. 558 Rn. 32 l; Schwab, in: Münchener Kommentar, § 1906 Rn. 22. 298 Dodegge, in: Praxiskommentar Betreuungsrecht, S. 558 Rn. 32k; Schwab, in: Münchener Kommentar, § 1906 Rn. 21. 299 Dodegge, in: Praxiskommentar Betreuungsrecht, S. 559 Rn. 32 l. 300 Siehe dazu auch Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 301 f.
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
bb) Erfordernis des stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus nach § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 7 BGB Vor der Kodifizierung des § 1906a BGB war eine medizinische Zwangsbehandlung nur dann erlaubt, wenn die Durchführung der Maßnahme nicht ohne eine stationäre freiheitsentziehende Unterbringung möglich war.301 Am 26.07.2016 entschied das BVerfG, dass es mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG unvereinbar sei, dass für Betreute, denen schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigungen drohen und die die Notwendigkeit der erforderlichen Maßnahmen nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln können, eine ärztliche Behandlung gegen ihren natürlichen Willen unter keinen Umständen möglich ist, sofern sie zwar stationär behandelt werden, aber nicht geschlossen untergebracht werden können, weil sie sich der Behandlung räumlich nicht entziehen wollen oder hierzu körperlich nicht in der Lage sind.302 Die vom BVerfG festgestellte Schutzlücke wurde daraufhin mit der Einführung des § 1906a BGB geschlossen, indem die Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme von der freiheitsentziehenden Unterbringung entkoppelt wurde.303 Ärztliche Zwangsmaßnahmen sind nun gem. § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 7 BGB an das Erfordernis eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus gebunden, in dem die gebotene medizinische Versorgung des Betreuten einschließlich einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist. Damit wurden zwar die Voraussetzungen reduziert, die für eine ärztliche Zwangsbehandlung vorliegen müssen, doch ist damit letztlich auch weiterhin nicht die Anordnung einer Maßnahme in einer einwilligenden Patientenverfügung möglich, die trotz eines der Behandlung entgegenstehenden Willens ambulant erfolgen soll. Ein solcher Ausschluss der sog. „ambulanten Zwangsmedikation“ wurde im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aber schon lange für problematisch gehalten.304 Teilweise wird gar für eine gesetzliche Grundlage der ambulanten Zwangsbehandlung plädiert.305 Auch wird praktisch die Abgrenzung zwischen einer stationären, einer teilstationären sowie einer tageklinischen Behandlung bei der Umsetzung der Neuregelung problematisch werden.306
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Siehe dazu § 1906 Abs. 1 BGB a. F. BVerfG, NJW 2017, 53 (53 ff.). 303 BT-Drs. 18/11240, S. 2. 304 Müller, in: Beck-OK, § 1906 Rn. 25; dies., ZEV 2013, 304 (304); Spickhoff, in: Spickhoff-MedR, § 1906 Rn. 15; Zimmermann, NJW 2014, 2479 (2479); Milzer, DNotZ 2014, 95 (97 f.). 305 Dodegge, NJW 2013, 1265 (1270); Grengel/Roth, ZRP 2013, 12 (15); Sachs, JuS 2016, 1147 (1149). 306 Dodegge, NJW 2017, 53 (60). 302
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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c) Das Problem des Fehlens von Zwangsbefugnissen Dass sich Gesundheitsgefahren gerade auch daraus ergeben können, dass sich der Betroffene gegen eine indizierte medizinische Behandlung wehrt, hat auch schon der Gesetzgeber erkannt: „Wer aufgrund seiner psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung seine Behandlungsbedürftigkeit nicht erkennen kann und eine Behandlung deshalb ablehnt, dem soll nicht schon deshalb die Behandlung versagt werden. So soll eine lebensnotwendige Operation eines Betreuten nicht daran scheitern, daß dieser sich krankheitsbedingt hiergegen wehrt, weil er der Auffassung ist, man wolle ihn durch die Operation ermorden. Der Entwurf sieht deshalb ein Verbot von Zwangsbehandlungen, zwangsweisen Untersuchungen oder zwangsweisen ärztlichen Eingriffen grundsätzlich nicht vor.“307
Auch der BGH stellte bereits mehrfach fest, dass gerade das Fehlen von Zwangsbefugnissen zu einem faktischen Behandlungsausschluss vieler psychisch Kranker führen kann: „Der Senat verkennt nicht, daß das Fehlen einer Zwangsbefugnis dazu führen kann, daß ein Betreuter einen erneuten Krankheitsschub erleidet und dann möglicherweise für längere Zeit untergebracht werden muß. Es könnte daher im Einzelfall sinnvoll erscheinen und im Interesse des Betreuten liegen, daß der Betreuer seine Einwilligung in die Behandlung auch gegen den Willen des Betreuten durchsetzen könne.“308
Während in der Regel vor der Gefahr von zu weitreichenden Zwangsbefugnissen gewarnt wird, darf nicht verkannt werden, dass sich auch aus dem Nicht-Vorliegen von Zwangsbefugnissen Gefahren für den Betroffenen ergeben können. So wird häufig übersehen – auch wenn natürlich Zwangsbehandlungen immense Grundrechtseingriffe darstellen –, dass Zwangsbehandlungen letztlich mit der Intention durchgeführt werden, den Gesundheitszustand des Betroffenen zu verbessern. Sie stellen klassische paternalistische Eingriffe dar.309 Zwangsbehandlungen werden zum Wohle der von ihr betroffenen Personen vorgenommen trotz des Umstandes, dass die Betroffenen dem nicht zustimmen bzw. sich aktiv mittels natürlichen Willens dagegen wehren. Da sich der Patient im Behandlungszeitpunkt im Zustand der Einwilligungsunfähigkeit befindet, liegt eine sogenannte „schwach paternalistische Maßnahme“ vor310, die aber nach den meisten Legitimationsmodellen rechtfertigbar ist.311 Um seinen grundgesetzlichen Schutzpflichten gegenüber Betreuten nachzukommen, gleichzeitig aber klare Grenzen gegenüber der im Grunde unerwünschten Zwangsbehandlung zu ziehen, wird vom Gesetzgeber ein „Spagat“ zwischen seinem Fürsorgeauftrag und dem Recht auf Selbstbestimmung des Be307
BT-Drs. 11/4528, S. 72. BGH, FamRZ 2001, 149 (152); dies bestätigend BGH, BtPrax 2008, 155 (157). 309 Vgl. zur Paternalismus-Definition Kap. 2 B. I. 1. 310 Siehe zu dieser auf Joel Feinberg zurückgehenden Einteilung paternalistischer Maßnahmen Kap. 2 B. II. 2. a). 311 Siehe zum Begriff und den Legitimationsmodellen von Paternalismus Kap. 2 B. 308
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
troffenen gefordert.312 Natürlich ist es einerseits grundsätzlich zu begrüßen, dass die Zulässigkeit einer Zwangsbehandlung heute hohen Anforderungen unterliegt. Eine ärztliche Zwangsbehandlung beinhaltet einen immensen Grundrechtseingriff, weshalb sie nur als ultima ratio zur Abwehr einer erheblichen Selbstgefährdung des Betreuten in Betracht kommt.313 Dem Staat kommt insbesondere keine Befugnis zu, den Einzelnen schon deshalb vor sich selbst zu schützen, weil er von durchschnittlichen Präferenzen abweicht oder unvernünftig erscheint.314 Probleme ergeben sich aus dieser gut gemeinten Intention aber dann, wenn diese gesetzlichen Voraussetzungen für die Vornahme einer Zwangsbehandlung im individuellen Fall zur unüberwindbaren Hürde für den einzelnen Betroffenen werden. Wenn infolgedessen auch eine antizipierte Einwilligung in die Durchführung einer Zwangsbehandlung nicht erfolgen kann, kann dies wiederum zu weitreichenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen. Letztlich muss es dann zu einer Abwägung zwischen dem Recht des Betroffenen auf Behandlung und seinem Recht auf Schutz vor Willkür kommen.315 Ein Selbstpaternalismus dergestalt, dass er einen staatlichen Paternalismus überflüssig macht, könnte die Lösung des Problemkreises darstellen. Denn letztlich kann der Betroffene nach derzeitiger Rechtslage seine Angelegenheiten nur dann selbst regeln, wenn er der Behandlung, die er für sich selbst antizipiert festgelegt hat, in der aktuellen Eingriffssituation nicht widerspricht. Genau dies wird sich aber in der Regel seiner Kontrolle entziehen. Insbesondere bei Krankheitsbildern, in denen in Phasen der Entscheidungsunfähigkeit regelmäßig verbunden eine Behandlungsuneinsichtigkeit vorliegt, wären dem Betroffenen die eigenen Einwirkungsmöglichkeiten faktisch entzogen.316 Der natürliche Wille stellt so ein Damoklesschwert einer jeden wohlbedachten Vorsorgeverfügung dar, vor dem sich so mancher Patient mit einer Odysseus-Anweisung schützen möchte.
V. Die antizipierte Einwilligung in die Umsetzung der Patientenverfügung trotz eines entgegenstehenden natürlichen Willens Aufgrund der genannten Konsequenzen für den Betroffenen, die sich aus der Beachtlichkeit des natürlichen Willens ergeben, soll im Folgenden untersucht werden, ob der Betroffene mittels einer Odysseus-Anweisung antizipiert die Umsetzung der Patientenverfügung trotz eines entgegenstehenden natürlichen Willens anordnen kann. 312 313 314 315 316
Dodegge, Urteilsanmerkung zu BVerfG, NJW 2017, 53 (60). Dodegge, NJW 2013, 1265 (1268). BVerfG, BtPrax 2011, 112 (115) m. w. N. Pollmächer, in: Gewalt und Psyche, S. 183. Ähnlich auch Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 302.
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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1. Formen von Odysseus-Anweisungen Wohl aufgrund der Unsicherheit darüber, ob überhaupt und wenn ja, an welchem dogmatischen Ansatzpunkt der natürliche Wille die Patientenverfügung aufzuheben vermag, aber auch weil ein solcher Weg bisher noch nicht Gegenstand einer gerichtlichen Überprüfung war317, existiert eine Vielzahl von „Klauseln“318 in Patientenverfügungsmusterformularen, die die Beachtlichkeit des natürlichen Willens vorab auszuschließen versuchen. Dabei soll im Folgenden zunächst zwischen unechten und echten OdysseusAnweisungen differenziert werden. Während erstere nur unverbindliche Auslegungsregeln ohne eigenen rechtlichen Regelungsgehalt beinhalten, weisen echte Odysseus-Anweisungen einen rechtsgeschäftlichen Charakter auf, da ihnen unmittelbare Bindungswirkung zukommen soll.319 a) Unechte Odysseus-Anweisungen So lautet ein Textbaustein für eine schriftliche Patientenverfügung in einer vom Bundesministerium der Justiz herausgegebenen Informationsbroschüre: „Wenn ich meine Patientenverfügung nicht widerrufen habe, wünsche ich nicht, dass mir in der konkreten Anwendungssituation eine Änderung meines Willens unterstellt wird. Wenn aber die behandelnden Ärztinnen und Ärzte/das Behandlungsteam/mein(e) Bevollmächtigte(r)/Betreuer(in) aufgrund meiner Gesten, Blicke oder anderen Äußerungen die Auffassung vertreten, dass ich entgegen den Festlegungen in meiner Patientenverfügung doch behandelt oder nicht behandelt werden möchte, dann ist möglichst im Konsens aller Beteiligten zu ermitteln, ob die Festlegungen in meiner Patientenverfügung noch meinem aktuellen Willen entsprechen (…).“320
Bei diesem Textbaustein handelt es sich um eine rein tatsächliche Willensäußerungen ohne eigenen rechtlich verbindlichen Regelungsgehalt. Die Klausel ist eine als Bitte bzw. Hinweis formulierte Auslegungsregelung, mit der Einfluss auf die Entscheidung anderer genommen werden soll.321 Mit der Verwendung eines derartigen Textbausteins soll lediglich verhindert werden, dass bei der Auslegung der antizipierten Erklärung und deren Anwendbarkeit auf die aktuelle Lebenssituation der wirkliche Wille verfehlt wird. Bei einer solchen Formulierungsvariante wird aber lediglich die – ohnehin gesetzlich angeordnete – Bindungswirkung der Patientenverfügung wiederholt. So stellt auch die Gesetzesbegründung fest, dass dem Be317
Renner, in: Betreuungsrecht und Vorsorgeverfügungen in der Praxis, S. 175 Rn. 531. Lipp, in: Handbuch der Vorsorgeverfügungen, S. 366 Rn. 71; dagegen „Ermächtigungsklausel“ nach Jox, in: Entscheidungen am Lebensende, S. 70; „Widerrufsabwehrklausel“ nach Kaufmann, Patientenverfügungen, S. 157. 319 Siehe dazu auch Kap. 2 B. II. 320 Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, Patientenverfügung, S. 28. 321 Vgl. zu dieser Abgrenzung auch schon Kap. 3 B. II. 318
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
troffenen gerade kein geänderter Wille unterstellt werden darf.322 Dabei beruft sich der Gesetzgeber auf den BGH, der erklärt hat, dass es mit dem Selbstbestimmungsrecht nicht vereinbar sei, wenn die im eigenverantwortlichen Zustand getroffene Entscheidung unter spekulativer Berufung darauf unterlaufen werde, dass der Patient in der konkreten Situation vielleicht doch etwas anderes gewollt hätte.323 Hat der Betroffene seine Patientenverfügung nicht widerrufen, soll ihm nach der Klausel keine Änderung des Willens unterstellt werden. Da der Betreuer ohnehin gem. § 1901a Abs. 1 S. 2 BGB dem Willen des Betreuten Ausdruck und Geltung zu verschaffen hat, wäre eine Unterstellung einer Willensänderung ohnehin ein Verstoß gegen seine Rechtspflichten. Wenn sich dagegen der Wille tatsächlich geändert hat, handelt es sich um keine Unterstellung, sondern es sollen alle Beteiligten ermitteln, ob die Festlegungen noch dem aktuellen Willen entsprechen. Auch damit wurde prinzipiell nur der Gesetzestext wiedergegeben, da die Patientenverfügung sowieso nur unter dem Vorbehalt der Aktualität der Lebens- und Behandlungssituation gem. § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB umgesetzt werden soll. Da somit mit dieser Klausel nicht antizipiert eine spätere Willensänderung unmittelbar ausgeschlossen werden soll und sie deshalb keinen rechtsgeschäftlichen Charakter aufweist, erfüllt der Textbaustein des Bundesjustizministeriums nicht die Begriffsmerkmale einer Odysseus-Anweisung. Dasselbe gilt grundsätzlich für diesen Formulierungsvorschlag: „Ich habe diese Vorsorgeverfügung nach sorgfältiger Überlegung erstellt. Sie ist Ausdruck meines Selbstbestimmungsrechts. Darum wünsche ich nicht, dass mir in der konkreten Situation der Nichtentscheidungsfähigkeit eine Änderung meines Willens unterstellt wird, solange ich diesen nicht ausdrücklich (schriftlich oder nachweislich mündlich) widerrufen habe.“324
Auch hier wird sich lediglich „gewünscht“, dass dem Betroffenen eine Änderung des Willens nicht unterstellt wird. Wenn der Betroffene dagegen anordnet, dass der antizipierte Wille ausschließlich schriftlich aufgehoben werden kann, würde es sich um eine Erhöhung der gesetzlichen Voraussetzungen für den Widerruf der Patientenverfügung handeln, sodass es sich aufgrund des eigenen Regelungsgehalts um eine echte Odysseus-Anweisung handeln würde.325
322
BT-Drs. 16/8442, S. 15. BGH, MittBayNot 2003, 387 (391); BT-Drs. 16/8442, S. 15. 324 Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Vorsorge für Unfall Krankheit Alter, S. 35; ganz ähnlich Lipp, in: Handbuch der Vorsorgeverfügungen, S. 367 Rn. 72: „(…) solange keine konkreten und nachweislichen Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ich meinen Willen geändert habe“; ergänzend dazu noch Renner, in: Betreuungsrecht und Vorsorgeverfügungen in der Praxis, S. 345 Rn. 1061: „Aus Gesten, Blicken und anderen Äußerungen, die ich im nicht mehr selbstbestimmten Willenszustand abgebe, soll und darf nicht auf eine Willensänderung geschlossen werden.“ 325 Vgl. dazu ausführlich Kap. 3 C. V. 2. b) aa). 323
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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b) Echte Odysseus-Anweisungen Echte Odysseus-Anweisungen weisen einen rechtsgeschäftlichen Charakter auf, da ihnen unmittelbare Bindungswirkung zukommen soll: „Insbesondere für einen Zustand geistigen Abbaus, der mich an selbstverantwortlicher und abgewogener Entscheidung hindert, lehne ich Maßnahmen, die wegen einer hinzutretenden Krankheit zur Erhaltung des Lebens ärztlich für erforderlich gehalten werden, ab. So soll z. B. eine hinzutretende Lungenentzündung nicht antibiotisch, sondern nur palliativ behandelt werden; ich würde sie als Chance ansehen, der Weiterexistenz in unwürdigem Zustand zu entgehen. Diese Entscheidung treffe ich bewusst auch für den Fall, dass ich im Zustand geistigen Abbaus zu erkennen gebe, weiterleben zu wollen, aber zu den dafür notwendigen Abwägungen aller Umstände nicht in der Lage bin.“326
Der Verfasser ordnet ausdrücklich, auch bei Vorliegen eines natürlichen Lebenswillens, die Umsetzung der Patientenverfügung an. Mit dieser Formulierung wird somit explizit beabsichtigt, vorab den natürlichen Willen für unbeachtlich zu erklären und damit antizipiert in die Umsetzung der Patientenverfügung trotz eines entgegenstehenden Lebenswillens eingewilligt. Derartige Klauseln tauchen insbesondere mit Blick auf sog. Interkurrenterkrankungen (z. B. akute Verletzungen, Harnwegsinfekt, Blinddarmentzündung) auf, also solche, die neben einer chronischen Erkrankung auftreten, ohne mit dieser in einem ursächlichen Zusammenhang zu stehen.327 Bereits im Zeitpunkt der Erstellung der Verfügung soll unmittelbar der natürliche Wille ausgeschlossen werden, eine Abwägungsentscheidung des Betreuers und des Arztes über die Umsetzung der Patientenverfügung aufgrund eines entgegenstehenden natürlichen Willens soll gerade nicht mehr stattfinden. Da somit im Zeitpunkt der Verfügung bereits eine verbindliche Regelung getroffen sowie eine Entscheidungsgewalt Dritter unmittelbar ausgeschlossen werden soll, handelt es sich um eine echte Odysseus-Anweisung. Von der grundsätzlichen Möglichkeit, vorab den natürlichen Willen auszuschließen, geht auch der Nationale Ethikrat aus. So habe der vorausverfügende Wille nur unter folgenden Bedingungen den Vorrang vor Anzeichen von Lebenswillen: „a. Die medizinische Entscheidungssituation muss hinreichend konkret in der Patientenverfügung beschrieben sein. b. Die Patientenverfügung muss auf die genannten Anzeichen von Lebenswillen Bezug nehmen und deren Entscheidungserheblichkeit ausschließen. c. Die Patientenverfügung muss schriftlich abgefasst oder in vergleichbarer Weise verlässlich dokumentiert sein.
326 327
Wilckens, MDR 2011, 143 (145). Putz/Steldinger, Patientenrechte, S. 143.
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
d. Dem Abfassen der Patientenverfügung muss eine geeignete Beratung vorausgegangen sein.“328
Nach dem Vorschlag von Jox soll der Betroffene in seiner Patientenverfügung selbst die Rangfolge des natürlichen Willens und der Patientenverfügung klären: „Wenn ich nicht mehr in der Lage sein sollte, die Bedeutung medizinischer Eingriffe zu verstehen oder abwägend über solche Eingriffe zu urteilen, so kann es geschehen, dass meine Verhaltensäußerungen als ein Wille gedeutet werden, der nicht mit dieser Patientenverfügung übereinstimmt. Dann sollen die Personen, die für mich entscheiden, a) dennoch nach dieser Patientenverfügung entscheiden. b) von dieser Patientenverfügung abweichend entscheiden dürfen.“329
Wählt der Betroffene die Alternative a), will er wiederum unmittelbar eine Entscheidung der beteiligten Personen und damit verbunden die Beachtlichkeit des natürlichen Willens vorab ausschließen. Wählt er die Variante b), räumt er den zur Entscheidung berufenen Personen eine eigene Beurteilungskompetenz ein. Eine eigene Entscheidung vorab wird in dieser Variante gerade nicht getroffen, sodass es sich hierbei um eine unechte Odysseus-Anweisung handelt. Zu finden sind auch Anordnungen, mit denen die Voraussetzungen für die Aufhebung der Patientenverfügung erhöht werden sollen. So soll teilweise eine Aufhebung der Patientenverfügung nur beim ärztlich festgestellten Vorliegen von Einwilligungsfähigkeit zugelassen werden: „Sollte ich in einem Krankheitszustand, wie ich ihn soeben geschildert habe (Demenz oder Alzheimersche Krankheit oder vergleichbare Krankheiten) von selber oder auf Befragung meine soeben festgelegte Patientenverfügung widerrufen, so verlange ich, dass durch das Gutachten eines Facharztes für Neurologie oder Psychiatrie festgestellt wird, dass ich die notwendige Einsicht für diesen Widerruf sicher noch habe. Sollte dies nicht sicher sein, so hat es bei meiner in dieser Patientenverfügung niedergelegten Entscheidung zu bleiben.“330
Noch strenger ist dieser Formulierungsvorschlag: „Falls ich diese Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung ganz oder teilweise widerrufe, ist dieser Widerruf nur beachtlich, wenn ich dazu nach übereinstimmender Begutachtung durch zwei Ärzte die notwendige Einsichts- und Willensfähigkeit habe. Einer der beiden Ärzte muss Facharzt für Psychiatrie sein und darf nicht in der Einrichtung tätig sein, in der ich mich zum Zeitpunkt der Begutachtung befinde. Bleiben Zweifel hinsichtlich meiner aktuellen Einsichts- und Willensfähigkeit, so sind die 7 Festlegungen als mein fortgeltender und damit aktueller Wille zu respektieren und umzusetzen. Der vermeintliche Widerruf ist dann unbeachtlich.“331 328
Nationaler Ethikrat, Patientenverfügung, S. 23. Jox, in: Entscheidungen am Lebensende, S. 84. 330 Putz/Steldinger, Patientenrechte, S. 283; Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Vorsorge für Unfall Krankheit Alter, S. 35; ganz ähnlich Lipp, in: Handbuch der Vorsorgeverfügungen, S. 367 Rn. 72. 331 Kusch/Splitter, Der Ausklang, S. 89; ähnlich auch Vetter, Selbstbestimmung am Lebensende, S. 103. 329
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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Folgt man der oben genannten Ansicht, dass ein Widerruf der Patientenverfügung auch im Zustand der Einwilligungsunfähigkeit erfolgen darf, würde diese Klausel die Widerrufsvoraussetzungen erhöhen. Zwar handelt es sich auch hier um einen Wunsch an die zur Entscheidung berufenen Beteiligten, doch kommt diesem Wunsch eine unmittelbare Bindungswirkung zu. Diese Klausel ist zudem auch hinreichend bestimmt. Unabhängig von der zivilrechtlichen Wirksamkeit handelt es sich damit um eine echte Odysseus-Anweisung, da mit dieser zwar nicht unmittelbar eine antizipierte Willensänderung ausgeschlossen werden soll, aber die Voraussetzungen für die Beachtlichkeit einer solchen Willensänderung erhöht werden. Auch in der Muster-Behandlungsvereinbarung der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Evangelischen Krankenhauses Bielefeld findet sich in Bezug auf psychiatrische Krisensituationen eine derartige Klausel: „Die von mir hier im Voraus verfügten Untersuchungen oder Behandlungen sollen auch dann gelten, wenn ich später in einer konkreten Behandlungssituation, in der ich nicht einwilligungsfähig bin, diese widerrufe.“332
Auch hier handelt es sich um eine echte Odysseus-Anweisung, da wiederum unmittelbar eine antizipierte Willensänderung ausgeschlossen werden soll, indem für einen Widerruf das Vorliegen von Einwilligungsfähigkeit für fakultativ erklärt wird. Besonders ist an dieser Odysseus-Anweisung, dass gerade die Umsetzung einer einwilligenden Patientenverfügung sichergestellt werden soll. c) Exkurs: Odysseus-Anweisungen in den USA In den USA wird die Möglichkeit, bereits vorab einen der Behandlung entgegenstehenden natürlichen Willen auszuschließen, als „Ulysses Contract“333 bzw. „Ulysses arrangement“ bezeichnet.334 Anders als die wörtliche Übersetzung es vermuten lassen würde, sind damit keine schuldrechtlichen Verträge im herkömmlichen Sinne, sondern vielmehr Odysseus-Anweisungen nach dem hier verwandten Begriffsverständnis gemeint.335 332
Evangelisches Krankenhaus Bielefeld, Behandlungsvereinbarung, Stand 07/2017, S. 4, abrufbar unter http://evkb.de/fileadmin/content/download/Psychiatrie/behandlungsvereinba rung_201406.pdf (zuletzt aufgerufen am 18.07.2017). 333 Vgl. z. B. Quante, Personales Leben und menschlicher Tod, S. 287 ff.; Spellecy, Kennedy Inst. Ethics J. 2003, 373 (373 ff.); Davis, Kennedy Inst. Ethics J. 2008, 87 (92); Dresser, The Hastings Center Report 1984, 13 (13 ff.); Gremmen/Widdershoven/Beekman/Zuijderhoudt/ Sevenhuijsen, J. Med. Ethics 2008, 77 (77 ff.). 334 Vgl. dazu auch ausführlich Clausen, Yale Journal of Health Policy, Law and Ethics 2014, 1 (1 ff.). 335 Siehe dazu beispielsweise Davis, Kennedy Inst. Ethics J. 2008, 87 (92): „However, the future limitation may also be imposed by other parties who act to help carry out the agent’s earlier intentions- as with mental health directives, where the psychiatrist may have the patient committed to treatment against the patient’s will. I will speak of Ulysses contracts in those cases.“; vgl. dazu auch Kap. 3 C. V. 1. c).
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
„A Ulysses arrangement is an arrangement between a patient suffering from a chronic relapsing serious psychiatric illness and professional care providers, at a time when the patient is competent about the use of involuntary admission and/or treatment during a future episode of relapse when the patient will not be competent. A Ulysses arrangement can be considered a special type of advance directive. It concerns patients who consider it desirable that others intervene during episodes of relapse, but who, at the same time, have experienced that when in crisis they resist these very interventions.“336
In einigen Bundesstaaten sind derartige „Mental Health Directives“ sogar explizit gesetzlich vorgesehen: So lautet eine Gesetzesnorm in Montana337: § 53 – 21 – 1315: Health care decisions in event of the principal’s protest. An agent may make a health care decision over the protest of a principal who lacks capacity if: (1) the directive is irrevocable at times of incapacity; (2) the directive authorizes the agent to make the health care decision at issue; and (3) the health care that is to be provided, continued, withheld, or withdrawn is determined and documented by the supervising health care provider to be medically appropriate and is otherwise permitted by law.
Auch in Virginia ist eine solche Möglichkeit gesetzlich vorgesehen338: § 54.1 – 2986.2: Health care decisions in the event of patient protest. A. Except as provided in subsection B or C, the provisions of this article shall not authorize providing, continuing, withholding or withdrawing health care if the patient’s attending physician knows that such action is protested by the patient. B. A patient’s agent may make a health care decision over the protest of a patient who is incapable of making an informed decision if: 1. The patient’s advance directive explicitly authorizes the patient’s agent to make the health care decision at issue, even over the patient’s later protest, and an attending licensed physician, a licensed clinical psychologist, a licensed physician assistant, a licensed nurse practitioner, a licensed professional counselor, or a licensed clinical social worker who is familiar with the patient attested in writing at the time the advance directive was made that the patient was capable of making an informed decision and understood the consequences of the provision; 2. The decision does not involve withholding or withdrawing life-prolonging procedures; and 3. The health care that is to be provided, continued, withheld or withdrawn is determined and documented by the patient’s attending physician to be medically appropriate and is otherwise permitted by law. C. (…). 336
(77). 337 338
Gremmen/Widdershoven/Beekman/Zuijderhoudt/Sevenhuijsen, J. Med. Ethics 2008, 77 Montana Code Annotated § 53 – 21 – 1315 (1). Virginia Code Annotated, § 54.1 – 2986.2.
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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Je nachdem, ob mittels einer „patient’s advance directive“ unmittelbar die Beachtlichkeit eines in der Zukunft liegenden entgegenstehenden natürlichen Willen ausgeschlossen werden soll bzw. Dritten eine eigene Entscheidungsbefugnis eingeräumt wird, handelt es sich um eine echte oder unechte Odysseus-Anweisung nach dem hier verwandten Begriffsverständnis. 2. Die antizipierte Anordnung der Umsetzung der Patientenverfügung Die genannten Textbausteine sollen keinesfalls als abschließend betrachtet werden. Je nachdem, an welchem dogmatischen Ansatzpunkt man das Einfallstor für den natürlichen Willen sieht, muss die echte Odysseus-Anweisung ansetzen. Ungeklärt ist bisher jedoch, ob eine solche Anweisung überhaupt mit der Rechtsordnung vereinbar ist. Es kann aufgrund der Grenzen des Selbstbestimmungsrechts nämlich nichts Inhalt einer Patientenverfügung sein, was der Rechtsordnung entgegensteht.339 Letztlich ist es der Zweck der Verwendung einer echten Odysseus-Anweisung, verbindlich vorab die Umsetzung der Patientenverfügung trotz eines dieser entgegenstehenden natürlichen Willens anzuordnen. Aufgrund des damit verbundenen massiven Eingriffs in das eigene Selbstbestimmungsrecht stellt sich die Frage, ob überhaupt bzw. innerhalb welcher Grenzen eine solche antizipierte Anordnung rechtlich zulässig ist. Grundsätzlich sind zur Erreichung dieses Ziels drei Vorgehensweisen denkbar: Zunächst ist zu klären, ob es dem Betroffenen möglich ist, unabhängig vom Regelungsgehalt der Patientenverfügung, diese vorab insgesamt als unwiderruflich (möglicherweise sogar für den Zustand der Einwilligungsfähigkeit) auszugestalten. Zwar ist nach hier vertretener Auffassung der Widerrufslösung in seiner Gesamtheit nicht zu folgen, doch weil bisher noch kein einheitlicher Konsens zu der Frage gefunden wurde, wie ein der Patientenverfügung entgegenstehender natürlicher Wille rechtlich behandelt werden soll, bleibt die Frage nach der Möglichkeit des Ausschlusses des Widerrufs nach wie vor praxisrelevant. Auch wenn man eine derartige Odysseus-Anweisung für überflüssig hält, muss eine solche Vorgehensweise nicht gleichzeitig unzulässig sein. Da bei einem wirksamen Verzicht auf die Widerruflichkeit der Patientenverfügung gem. § 1901a Abs. 1 S. 3 BGB die Aufhebung einer Patientenverfügung nicht möglich wäre, könnte an diesem Ergebnis auch das Vorliegen eines entgegenstehenden natürlichen Willens nichts ändern. Insbesondere in negativen Patientenverfügungen finden sich zudem Klauseln, die sicherstellen sollen, dass die in der Patientenverfügung festgelegte Behandlungs339 Auer, Das Selbstbestimmungsrecht im Kontext der Patientenverfügung, S. 10, http:// www.kha.at/downloads/04b-das-selbstbestimmungsrecht.092005.pdf (zuletzt aufgerufen am 04.09.2017); nach Lipp, in: Handbuch der Vorsorgeverfügungen, S. 366 Rn. 70 ff. verstoßen derartige Klauseln gegen das Verbot der Selbstentmündigung.
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
ablehnung durchgesetzt wird, und es nicht zu einer Behandlung aufgrund eines entgegenstehenden behandlungsbejahenden natürlichen Willens kommt. Dieses Ziel wird häufig dadurch zu erreichen versucht, dass die Voraussetzungen, die für eine Aufhebung nötig sind – teils über den Gesetzeswortlaut hinaus – erhöht werden.340 So finden sich Klauseln, mit denen auf die in § 1901a Abs. 1 S. 3 BGB festgelegte Formfreiheit des Widerrufs verzichtet wird und die Schriftform oder gar eine notarielle Beurkundung zur notwendigen Voraussetzung für einen wirksamen Widerruf der Patientenverfügung erklärt wird. Daneben könnte man das Vorliegen von Einwilligungsfähigkeit zur notwendigen Voraussetzung für die Aufhebung einer Patientenverfügung festlegen oder eine Ermessensreduktion auf „Null“ bei der Aktualisierungsentscheidung des Betreuers gem. § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB in Bezug auf das Vorliegen eines natürlichen Willens statuieren. Dagegen finden sich in einwilligenden Patientenverfügungen, insbesondere für psychiatrischen Krisensituationen, Klauseln, die sicherstellen sollen, dass die in der Patientenverfügung festgelegte Behandlungsmaßnahme durchgesetzt wird und es nicht zu einer Behandlungsverweigerung aufgrund eines entgegenstehenden behandlungsverneinenden natürlichen Willens kommt.341 Zwar wird teilweise die praktische Relevanz solch behandlungsbejahender Patientenverfügungen insgesamt bezweifelt342, doch zeigt gerade auch ein Blick in die USA, welche neuen Möglichkeiten sich durch derartige psychiatrische Patientenverfügungen bieten können. Um die Durchsetzung sicherzustellen, sollen mit derartigen Klauseln, insbesondere in Bezug auf Zwangsbehandlungen, die Voraussetzungen für die Durchsetzung der Patientenverfügung verringert werden.343 So wird etwa auf verfahrensrechtliche oder materiellrechtliche Anforderungen für eine wirksame Zwangsbehandlung verzichtet, um eine schnelle Behandlung zu gewährleisten und damit eine möglichst zügige Wiederherstellung der Entscheidungsfähigkeit zu garantieren. a) Die Anordnung der Unwiderruflichkeit einer Vorsorgeverfügung mittels einer Odysseus-Anweisung zum Schutz vor sich selbst Auf den Widerruf der Patientenverfügung – auch im Zustand der Einwilligungsfähigkeit – könnte mittels einer Odysseus-Anweisung wirksam verzichtet werden, wenn es sich bei § 1901a Abs. 1 S. 3 BGB um eine dispositive Regelung handelt. § 1901a Abs. 1 S. 3 BGB statuiert, dass eine Patientenverfügung jederzeit formlos widerrufen werden kann. Mittlerweile ist durch ihre gesetzliche Kodifika340
Siehe dazu Kap. 3 C. V. 2. b). Nach Koller, FPPK 2014, 279 (280 f.), empfehle es sich, dass der Patient in seine Verfügung stets aufnimmt, ob er auch im Falle eines entgegenstehenden natürlichen Willens eine Behandlung wünscht. 342 So Hoffmann/Klie, Freiheitsentziehende Maßnahmen, S. 17 Rn. 20; Mittag, in: Gewalt und Psyche, S. 51; Götz, Patientenautonomie, S. 180 m. w. N. 343 Siehe dazu Kap. 3 C. V. 2. c). 341
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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tion anerkannt, dass die Patientenverfügung eine nach außen gerichtete Erklärung ist, die jeden Beteiligten unmittelbar bindet und deren rechtsgeschäftlicher Gehalt in der direkten Verbindlichkeit der für den Fall der Einwilligungsunfähigkeit antizipierten Einwilligung oder Versagung ärztlicher Eingriffe liegt.344 Da die Patientenverfügung damit eine antizipierte Einwilligung darstellt, soll im Folgenden in einem ersten Schritt untersucht werden, ob bei einer Einwilligung in eine unmittelbar bevorstehende ärztliche Maßnahme ein Widerruf vorab ausgeschlossen werden kann, um in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob sich an dem gefundenen Ergebnis aufgrund der Tatsache etwas ändern muss, dass zwischen dem Zeitpunkt der Erstellung der Verfügung und dem Eintritt des Vorsorgefalls lange Zeitabstände liegen. Zudem soll in diesem Kontext in einem Exkurs auf die Möglichkeit der Erstellung einer unwiderruflichen Vorsorgevollmacht eingegangen werden. Denn auch hier wird die Möglichkeit diskutiert, sich selbst vor einem unüberlegten, uneinsichtigen Widerruf der privaten Vorsorge in einem Zustand zu schützen, bei dem die Geschäftsfähigkeit zwar zweifelhaft, aber nicht widerlegt ist.345 aa) Die unwiderrufliche Einwilligung346 zum Schutz vor sich selbst Die freie Widerruflichkeit der Einwilligung zur Diskussion zu stellen, mag im ersten Moment merkwürdig anmuten347, ist sie doch mittlerweile explizit als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des Patienten durch die Kodifizierung des Behandlungsvertrages im BGB in § 630d Abs. 3 BGB statuiert.348 Dass dies aber nicht unbedingt selbstverständlich ist und die ausnahmslose Möglichkeit eines Widerrufs auch zur Beeinträchtigung des Selbstbestimmungsrechts führen kann, zeigt folgendes Beispiel: Der überaus ängstliche Patient X schreckt immer wieder kurz vor Beginn einer medizinisch indizierten Operation vor dieser zurück. Deshalb bittet er seinen Arzt im Zeitpunkt der Erteilung der Einwilligung ausdrücklich, seinen später geäußerten Willen zu ignorieren und den Eingriff trotz aktuell geäußerten Widerrufs der Einwilligung durchzuführen.349 344
Götz, in: Palandt BGB, § 1901a Rn. 16; vgl. dazu auch schon oben Kap. 3 B. II. Walter, Die Vorsorgevollmacht, S. 174; Reinhart, Die unwiderrufliche Vollmacht, S. 110. 346 Siehe zur unwiderruflichen Einwilligung auch ausführlich Ohly, Volenti non fit iniura, S. 170 ff. 347 Nach Spickhoff, in: Medizinrecht, § 630d Rn. 14 entspricht die freie Widerruflichkeit allgemeinen Grundsätzen. 348 Auch schon vor der Kodifizierung war die freie Widerruflichkeit der Einwilligung allgemeine Auffassung, vgl. auch Kohte, AcP 1985, 105 (137); BGH, NJW 2005, 2385 (2386), NJW 1980, 1903 (1903); siehe auch Wagner, in: Münchener Kommentar, § 630d Rn. 48. 349 Arzt, in: FS-Lackner, S. 654 Fn. 44: „Es ist nicht selbstverständlich, daß das Gesetz z. B. dem Patienten die Möglichkeit nimmt, sich in Kenntnis seiner Ängstlichkeit am Vorabend seiner Operation so zu binden, daß der Arzt einen Widerruf am nächsten Morgen nicht beachten 345
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
Problematisch an diesem Fallbeispiel für den Betroffenen ist gerade, dass die Einwilligung vor Durchführung einer medizinischen Maßnahme gem. § 630d Abs. 3 BGB jederzeit und ohne Angabe von Gründen formlos widerrufen werden kann. Weder ein früher geschlossener Behandlungsvertrag noch eine früher erteilte Einwilligung stehen grundsätzlich einem Widerruf der Einwilligung auch kurz vor einem operativen Eingriff entgegen.350 Findet die Behandlung trotz Widerrufs der Einwilligung statt, begeht der behandelnde Arzt eine Pflichtverletzung aus dem Behandlungsvertrag und macht sich gem. § 280 Abs. 1 BGB schadensersatzpflichtig. Zudem ist der Begriff der Körperverletzung i. S. d. § 823 Abs. 1 BGB weit auszulegen, sodass ohne wirksame Einwilligung in den ärztlichen Heileingriff auch eine unerlaubte Handlung vorliegt und damit ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB besteht.351 Selbst, wenn der Eingriff de lege artis erfolgt, ist er aufgrund der fehlenden Einwilligung rechtswidrig.352 Da der ärztliche Heileingriff nach überwiegender Ansicht tatbestandlich eine Körperverletzung ist353, die nur durch eine Einwilligung gerechtfertigt wird, macht sich der Arzt gem. § 223 Abs. 1 StGB strafbar, wenn er ohne Einwilligung eine medizinische Maßnahme vornimmt. Mit der eigenmächtigen Heilbehandlung gegen den Willen des Patienten wird daher ein Schutzgesetz i. S. v. § 823 Abs. 2 BGB verletzt. Der Arzt haftet somit gem. § 823 Abs. 1 und 2 BGB i. V. m. § 223 Abs. 1 StGB.354 Auch für den Patienten ergeben sich aus diesem Ergebnis negative Konsequenzen, da er so keinen Arzt finden wird, der ihn trotz der Haftungsrisiken operieren wird.355 So kann er aber seinen Wunsch nach Behandlung durch einen medizinisch indizierten Eingriff nicht realisieren, was zur Beeinträchtigung seiner Rechtsgüter (Gesundheit, möglicherweise sogar Leben) führen kann.356 Zwar besteht die Möglichkeit, den Widerruf der Einwilligung mangels Vorliegen von Einwilligungsfähigkeit infolge einer die freie Selbstbestimmung ausschließenden Angst oder ähnlicher Gemütszustände für unwirksam zu
darf.“; diskutiert auch von Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 262. 350 Spickhoff, in: Medizinrecht, § 630d Rn. 14. 351 BGH, NJW 2013, 3634 (3635), NJW 1994, 127 (127); Wagner, in: Münchener Kommentar, § 823 Rn. 173, Förster, in: Beck-OK, § 823 Rn. 824. 352 St. Rspr., vgl. nur BGH, NJW 2011, 1088 (1088 ff.); Förster, in: Beck-OK, § 823 Rn. 822. 353 Auf den Meinungsstreit, ob das Vorliegen einer Einwilligung schon tatbestandlich eine Körperverletzung ausschließt oder lediglich einen Rechtfertigungsgrund darstellt, kommt es hier nicht an, da der Arzt ohne Einwilligung auch nicht gerechtfertigt wäre. 354 Letztlich würde ein solcher Fall wohl nur vor Gericht kommen, wenn dem Arzt ein Behandlungsfehler unterlaufen würde, dieser nicht beweisbar wäre und sich deshalb der Patient auf eine fehlende Einwilligung berufen würde. 355 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 266 Fn. 320. 356 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 262.
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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halten.357 Dies ist aber dann nicht möglich, wenn der Patient trotz seiner Furcht noch nicht die Schwelle zur Einwilligungsunfähigkeit überschritten hat.358 Zumal zumindest bei der Patientenverfügung hier gerade der Kern des Problems liegt, nämlich dass trotz des Vorliegens von Einwilligungsunfähigkeit ein wirksamer Widerruf der Patientenverfügung mit natürlichem Willen angenommen wird.359 Auch hilft an dieser Stelle nicht weiter, dass der Arzt seine Behandlungsbefugnis möglichweise auf § 34 StGB stützen könnte, da ihn dies zum einen nicht zwingend von einer zivilrechtlichen Haftung befreien würde und zum anderen die Vorschrift in Bezug auf die Güterabwägung dem Rechtsanwender einen großen Spielraum eröffnet, sodass der Arzt dennoch einem erheblichen strafrechtlichen Risiko ausgesetzt wäre.360 (1) Sinn und Zweck der freien Widerrufsmöglichkeit Die Funktion und damit der Schutzzweck der jederzeitigen Möglichkeit des Widerrufs der Einwilligung als actus contrarius der Erteilung der Einwilligung ist die Gewährleistung der Patientenautonomie.361 Niemand darf entgegen seinem aktuellen Willen zur Duldung einer medizinischen Maßnahme gezwungen werden, selbst dann nicht, wenn zu einem früheren Zeitpunkt die Zustimmung erklärt wurde.362 Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten ist grundrechtlich in Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG statuiert und schließt die Behandlung eines Menschen gegen seinen Willen, aber „zu seinem Besten“ oder „im wohlverstandenen Sinne“, also paternalistisch intendiert363, aus.364 Neben der Selbstbestimmungsfreiheit wird auch das aus Art. 2 Abs. 2 GG folgende Recht auf körperliche und gesundheitliche Unversehrtheit geschützt.365 Der Einwilligung und damit einem Nicht-Vorliegen eines Widerrufs bedarf es auch dann, wenn der Wille des Patienten einem Dritten vernunftwidrig erscheint, beispielsweise wenn der Eingriff medizinisch indiziert ist, statistisch gesehen nur mit geringen Risiken behaftet ist und eine Einwilligung nicht erfolgt.366 357
Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 263; hier wäre dann zu diskutieren, ob der ärztliche Heileingriff auf eine mutmaßliche Einwilligung oder auf die ursprünglich erklärte und nicht wirksam widerrufene Einwilligung gestützt werden könnte, vgl. auch Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 263 Fn. 306. 358 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 263. 359 Siehe dazu ausführlich Kap. 3 C. III. 360 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 265 f.; dem Arzt können aber möglicherweise Schadensersatzansprüche gegen den Patienten (beispielsweise wegen kostspieliger Vorbereitungsmaßnahmen) zustehen, Wagner, in: Münchener Kommentar, § 630d Rn. 49. 361 BT-Drs. 17/10488, S. 24; Katzenmeier, in: Beck-OK, § 630d Rn. 29; Schreiber, in: Schulze BGB, § 630d Rn. 7. 362 Wagner, in: Münchener Kommentar, § 630d Rn. 4, 47. 363 Siehe zur Paternalismus-Definition Kap. 2 B. I. 1. 364 Wagner, in: Münchener Kommentar, § 630d Rn. 4. 365 Wagner, in: Münchener Kommentar, § 630d Rn. 5. 366 Wagner, in: Münchener Kommentar, § 630d Rn. 6.
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
Demnach hat der einwilligungsfähige Patient ein Recht auf Krankheit bzw. die Freiheit, krank zu bleiben.367 Bis zur tatsächlichen Preisgabe seines Rechtsguts (meist der Behandlungsbeginn) soll dem Betroffenen die Möglichkeit der Umkehr seiner Entscheidung rechtlich gesichert werden. Eine Einwilligung kann grundsätzlich in jedes geschützte Rechtsgut erfolgen. So kann sie sich nicht nur auf Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit beziehen, sondern auch hinsichtlich Eigentumsrechte und anderer dinglicher Rechtstellungen erfolgen; solche Einwilligungen können anerkanntermaßen durchaus bindend und unwiderruflich ausgestaltet werden.368 (2) Der Schutzzweck der Norm in Odysseus-Konstellationen Nachdem die Funktionen der jederzeitigen Widerruflichkeit der Einwilligung geklärt wurden, ist zu fragen, ob es dem Rechtsgutsinhaber dennoch möglich ist, unter bestimmten Voraussetzungen seine Einwilligung unwiderruflich auszugestalten. Dazu müsste es sich bei § 630d Abs. 3 BGB um eine disponible Regelung handeln. Für eine grundsätzliche Disponibilität könnte angeführt werden, dass es auch gerade Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts ist, die unbedingte Geltung der Einwilligung anzuordnen. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass durch die Anordnung der Unwiderruflichkeit ausgedrückt werden kann, dass der Betroffene seine Einwilligung unbedingt und unabhängig von späteren, aufgrund von Angst nicht kontrollierten Äußerungen gelten lassen möchte. Der Betroffene will so im Wege des Verzichts auf seine durch § 630d Abs. 3 BGB garantierte Freiheit der freien Widerruflichkeit der Einwilligung gerade seine Selbstbestimmung verwirklichen. Er schränkt zudem seine Freiheit im späteren Behandlungszeitpunkt vorab ein, um sich vor seinen eigenen antizipierten selbstschädigenden Entscheidungen zu schützen und so sein Selbstbestimmungsrecht im Zeitpunkt der Einwilligungserteilung voll zu entfalten. Nur durch die Anweisung an den Arzt, die spätere Erklärung nicht zu beachten, kann er seine Freiheit zur freien Behandlungsentscheidung voll entfalten.369 Im genannten Fall wirkt sich der Schutzzweck der freien Widerrufsmöglichkeit, nämlich die Gewährleistung der Patientenautonomie, genau umgekehrt zu Lasten des Patienten aus. Beharrt man auf einer Unabdingbarkeit des § 630d Abs. 3 BGB, wird im oben genannten Fall die Entscheidungsfreiheit des Patienten X zu Gunsten
367 BVerfG, NJW 2011, 2113 (2115), NJW 1982, 691 (693), NJW 2006, 1277 (1278); Katzenmeier, in: Beck-OK, § 630d Rn. 3; Weidenkaff, in: Palandt BGB § 630d Rn. 1; BTDrs. 18/11240, S. 12. 368 Kohte, AcP 1985, 105 (137) m. w. N. 369 Vgl. schon oben in Kap. 2 B. II. 2. b) aa) ausführlich zum Freiheitsparadoxon und dem Gedanken der Freiheitsmaximierung.
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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der Entscheidungsfreiheit aller bzw. des angestrebten Rechtsprinzips geopfert.370 Eine ähnliche Situation ist im Medizinrecht auch unter dem Terminus des Aufklärungsverzichtes bekannt.371 Grundsätzlich hat der Arzt gem. § 630c Abs. 2 BGB die Pflicht, dem Patienten in verständlicher Weise zu Beginn der Behandlung und, soweit erforderlich, in deren Verlauf sämtliche für die Behandlung wesentlichen Umstände zu erläutern, insbesondere die Diagnose, die voraussichtliche gesundheitliche Entwicklung, die Therapie und die zu und nach der Therapie zu ergreifenden Maßnahmen. Gem. § 630c Abs. 4 Alt. 2 BGB bedarf es der Information des Patienten nicht, wenn dieser auf die Information ausdrücklich verzichtet hat. Die Pflicht des Arztes zur Aufklärung des Patienten resultiert auch aus der Entscheidungsfreiheit aller Rechtsgutinhaber.372 Dem Patienten ist es aber möglich, sich von der Aufklärungslast zu befreien und so auf ein zu seinem Schutze errichtetes Recht zu verzichten.373 Der Patient verwirklicht in beiden Konstellationen seine Freiheit, indem er auf Rechte verzichtet, die zum Schutze aller Entscheidungsträger bestehen.374 Es wird quasi ein Stück Freiheit aufgegeben, um ein vermeintlich größeres Stück Freiheitsausübung dafür zu erhalten.375 In der bereits geführten Debatte, ob das Befolgen einer selbstpaternalistischen Maßnahme gerechtfertigt werden kann, wurde auf ähnliche Gesichtspunkte eingegangen.376 Argument für die Möglichkeit der unwiderruflichen Einwilligung ist damit ebenso der Schutzzweck der Norm, nämlich die Gewährleistung der Patientenautonomie. Nach Sternberg-Lieben spricht eine Effektuierung seiner Grundrechte für die Wirksamkeit eines von ihm verfügten Ausschlusses der Widerrufsmöglichkeit der Einwilligung (berührt seien sowohl sein Recht auf Selbstbestimmung über die Beeinträchtigung seiner körperlichen Integrität als auch der Schutz seiner durch die Operation zu bewahrenden Gesundheit).377 Dies könnte sich auch daran zeigen, dass, wenn die Funktion der freien Widerruflichkeit der Einwilligung nicht greift, wie es bei Einwilligungen in dingliche Rechtspositionen der Fall ist, eine Unwiderruflichkeit angeordnet werden kann. Dies könnte dann auch in Odysseus-Konstruktionen gelten, sodass auch hier die Vorschrift als disponibel angesehen werden müsste. Zudem spricht auch dafür, dass selbst, wenn der Patient bewusstlos ist und sich bei einer Operation Komplikationen ergeben, deren Beseitigung als von der Einwilligung umfasst angesehen wird. Wenn in 370 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 263: „Auf diese Weise wird jedoch die Wohltat einer im Interesse des Einzelnen gewährleisteten Freiheitssicherung (Möglichkeit jederzeitigen Widerrufs) unter der Hand für den konkret Betroffenen zur Plage, seine Freiheit gerade nicht so gebrauchen zu können, wie dies seinem eigenen Wunsch entspricht.“ 371 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 264. 372 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 264. 373 Vgl. zu den Voraussetzungen ausführlich Harmann, NJOZ 2010, 819 (821 ff.). 374 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 264. 375 Vgl. bereits zum Gedanken der Freiheitsmaximierung Kap. 2 B. II. 2. b) aa) (2). 376 Siehe dazu oben Kap. 2 B. II. 377 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 268.
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
dieser Fallgestaltung sogar weitere, nicht antizipierte ärztliche Maßnahmen als von der Einwilligung umfasst angesehen werden können, muss dies doch erst recht dann gelten, wenn eine Einwilligung bereits umfassend vorlag und nur aufgrund von plötzlichen, schon vorab antizipierten Angst- bzw. Panikgefühlen zurückgenommen wird. Der Rechtsgutsträger würde in diesem Fall selbst eine Entscheidung über den Umgang mit seinen Rechtsgütern treffen und so dem behandelnden Arzt und anderen zur Entscheidung berufenen Dritten die Verantwortung und Entscheidungsgewalt über die Behandlung abnehmen. Zwar mag diese Argumentation auf einen idealtypisch gebildeten Einzelfall zutreffen, doch fällt die Bestimmung der Voraussetzungen und Grenzen einer solch unwiderruflichen Einwilligung sehr schwer. Selbstverständlich müsste eine solche Vereinbarung besonders hohen Anforderungen genügen, vor allem dann, wenn die Unwiderruflichkeit auch völlig systemfremd für einen Zustand der bestehenden Einwilligungsfähigkeit wirken soll. Problematisch wäre die Bestimmung der Zeitspanne, die zwischen Einwilligungserteilung und Behandlung liegen dürfte sowie die Aufklärung oder allein schon die Bestimmung der Einwilligungsfähigkeit. Auch die Überprüfung der Freiwilligkeit zum Zeitpunkt der Einwilligungserteilung wäre sehr aufwendig. Zu Beweiszwecken müssten möglicherweise teure Sachverständigengutachten eingeholt werden und selbst dann würde noch das Risiko bestehen, dass der Eingriff als rechtmäßig angesehen wird, obwohl der Patient zum Zeitpunkt der Einwilligungserteilung eigentlich nicht einwilligungsfähig war. Die Anordnung einer unwiderruflichen Einwilligung wäre damit praktisch nur schwer möglich und sehr teuer, da jeweils eine Einzelfallprüfung durchzuführen wäre.378 Zudem ist auch eine daraus resultierende Missbrauchsgefahr nicht zu vernachlässigen. Eine solche Odysseus-Anweisung innerhalb einer Einwilligung in unmittelbar bevorstehende Maßnahmen würde letztlich den Arzt zur Vornahme von Zwangsmaßnahmen legitimieren. Ärztliche Zwangsmaßnahmen sind aber, wie schon oben gezeigt, nur in den engen Grenzen des § 1906a Abs. 1 BGB sowie nach den jeweiligen Landesgesetzen zulässig. Aufgrund des tiefen Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit und das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen kann eine unwiderrufliche Einwilligung nicht als ausreichende Legitimation für eine ärztliche Zwangsmaßnahme ausreichen.379 Erst recht nicht, wenn der Betroffene nicht nur mit natürlichem Willen der Maßnahme widerspricht, sondern sogar im Zustand der Einwilligungsfähigkeit. Bei Vorliegen von Einwilligungsfähigkeit muss der Betroffene seine Vorausverfügung jederzeit ändern können, sodass es in der Behandlungssituation dann nur auf den tatsächlichen, in der aktuellen Situation geäußerten Willen ankommt.
378
Ähnlich zur ökonomischen Rechtfertigung der Nichtigkeit des Selbstversklavungsvertrages Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 369. 379 Siehe hierzu auch schon zum Verhältnis einer einwilligenden Patientenverfügung zu der Anwendbarkeit des § 1906a BGB Kap. 3 C. III. 2.
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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Das ausschlaggebende Argument gegen die Möglichkeit der Anordnung der Unwiderruflichkeit liegt aber darin, dass der Betroffene nicht nur seine Entscheidung über den ärztlichen Heileingriff, sondern auch über den Ausschluss der Widerruflichkeit an sich revidieren kann. Im genannten Fallbeispiel hat der Patient zum Zeitpunkt der Einwilligungserteilung zwar bereits vorausgesehen, dass er seinen Willen ändern wird und die Unwiderruflichkeitserklärung an den Arzt gerade dazu dienen sollte, sich gegen diese antizipierte Willensänderung abzusichern. Dies allein kann aber nicht dafür ausreichen, die Anweisung als autoritativ anzusehen. Der ausschlaggebende Punkt ist nämlich, dass auch die Absicht, sich gegen eine vorausgesehene Willensänderung verwahren zu wollen, revidiert werden kann.380 Dass eine Willensänderung vorausgesehen wird, ändert nämlich nichts daran, dass auch die zum früheren Zeitpunkt vorgenommene Bewertung eben dieser Präferenzänderung sich ebenfalls ändern kann.381 Dies kann entweder aus Gründen geschehen, die eng verwurzelt mit der ärztlichen Behandlung stehen. So könnte ihm die zwar medizinisch indizierte Operation, die ihn weitere fünf Jahre am Leben hält, nicht mehr so wichtig sein, weil er davon drei Jahre im Rollstuhl verbringen müsste. Er stirbt lieber früher, als dass er unbeweglich lebt. Oder er revidiert seine Absicht, sich gegen die vorausgesehene Willensänderung zu verwahren aus übergeordneten Gründen, die nichts mit der in Frage stehenden Behandlung zu tun haben. So erscheint es möglich, dass er plötzlich den Arzt als nicht mehr geeignet empfindet. Natürlich könnte man hiergegen einwenden, dass der Betroffene dann eben auch die als Unwiderruflichkeitsklausel ausgestaltete Odysseus-Anweisung an sich unwiderruflich ausgestalten müsse, um derartige Unsicherheiten zu vermeiden. Eine solche Vorgehensweise und damit die Zulässigkeit der unwiderruflichen Einwilligung in gesundheitlichen Angelegenheiten würde aber letztlich zu einem unendlichen Teufelskreis der Antizipation von Willensänderungen führen. Der Betroffene müsste dann nämlich voraussehen, dass er seinen Willen ändern wird und deshalb seine Einwilligung mit einer Odysseus-Anweisung dergestalt verbinden, dass der Arzt diesen aktuellen Willen ignorieren solle. Zudem müsste er voraussehen, dass er auch seine Meinung über diese Odysseus-Anweisung ändern wird und den Arzt bitten, dies ebenfalls zu ignorieren. Zudem könnte er auch seine Ansicht über die Absicht, die Änderung der Odysseus-Anweisung zu ignorieren, wiederum ändern, was er mit einer weiteren Odysseus-Anweisung absichern müsste. Eine solche Komplexität der antizipierten Willensänderungen kann nicht im Sinne der Rechtsordnung sein und ist abzulehnen. Die Gefahr der Verletzung des Grundrechts der Freiheit der Selbstbestimmung und der körperlichen Unversehrtheit ist dafür zu groß. So ist es auch der Rechtsordnung immanent, dass sich der Einzelne nicht vollständig 380
Vgl. allgemein schon zur Rechtfertigung einer paternalistischen Maßnahme durch eine vorhergehende Zustimmung Hallich, ZphF 2011, 151 (159 ff.); siehe dazu auch schon Kap. 2 B. II. 2. b). 381 Hallich, ZphF 2011, 151 (160 f.).
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
seines Selbstbestimmungsrechts und seiner Handlungsfreiheit begeben darf. Eine unwiderrufliche Einwilligung würde aber gegen das Verbot der Selbstentmündigung verstoßen.382 Ein genereller, insbesondere zeitlich unbegrenzter Verzicht auf die Ausübung von Grundrechten ist ausgeschlossen, da die Freiheitsrechte des Grundgesetzes dauerhaft gewährleistet sein müssen.383 Die Anordnung einer unwiderruflichen Einwilligung ist somit sowohl für den Zustand der Entscheidungsfähigkeit als auch für den Zustand der Entscheidungsunfähigkeit nicht möglich.384 Der Patient kann auch nicht durch Vereinbarungen in einem Heimvertrag auf den Widerruf der Einwilligung verzichten.385 bb) Exkurs: Die unwiderrufliche (Vorsorge-)Vollmacht zum Schutz vor sich selbst Auch im Rahmen der Erteilung einer (Vorsorge-)Vollmacht wird die Möglichkeit diskutiert, sich vorab selbst vor einem unüberlegten, uneinsichtigen Widerruf der privaten Vorsorge in einem Zustand zu schützen, bei dem die Geschäftsfähigkeit zwar zweifelhaft, aber nicht widerlegt ist.386 (1) Allgemeines Der Widerruf als actus contrarius zur Vollmachtserteilung ist eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung.387 Aus § 168 S. 2 BGB ergibt sich unmittelbar, dass eine Vollmacht auch unwiderruflich erteilt werden kann. Die Anordnung der Unwiderruflichkeit unterliegt allerdings Grenzen, damit es nicht zu einer Fremdbestimmung zu Lasten des Vollmachtgebers kommt, die mit der Rechtsordnung nicht zu vereinbaren ist.388 So ist ein einseitiger Verzicht nach herrschender Ansicht nicht möglich, wohl aber eine vertragliche Vereinbarung der Unwiderruflichkeit.389 Dies gilt allerdings nicht für isolierte Vollmachten (denen kein Rechtsverhältnis zugrunde liegt), die ausschließlich dem Interesse des Vollmachtgebers 382 Lipp, in: Handbuch der Vorsorgeverfügungen, S. 366 Rn. 70; Weber, Privatautonomie und Außeneinfluß im Gesellschaftsrecht, S. 212. 383 Siehe dazu auch ausführlich Kap. 2 D. II. 384 Wagenitz, FamRZ 2005, 669 (671); Lipp, FamRZ 2004, 317 (318). 385 BGH NJW 2005, 2385 (2385 ff.); Lipp, FamRZ 2004, 317 (317). 386 Walter, Die Vorsorgevollmacht, S. 174; Reinhart, Die unwiderrufliche Vollmacht, S. 110; Kurze, in: Burandt/Rojahn Erbrecht, § 168 Rn. 3; Zimmermann, Vorsorgevollmacht, S. 146. 387 Schäfer, in: Beck-OK, § 168 Rn. 19; Ellenberger, in: Palandt BGB, § 168 Rn. 5. 388 Schubert, in: Münchener Kommentar, § 168 Rn. 20; Schilken, in: Staudinger BGB, § 168 Rn. 8 ff. m. w. N.; vgl. auch ausführlich zur unwiderruflichen Vollmacht Weber, Privatautonomie und Außeneinfluß im Gesellschaftsrecht, S. 216 ff. 389 BGH, NJW 1988, 2603 (2603 f.); BayObLG NJW-RR 1996, 848 (849); Ellenberger, in: Palandt BGB, § 168 Rn. 6; Schilken, in: Staudinger BGB, § 168 Rn. 11; Mansel, in: Jauernig BGB, § 168 Rn. 5; Schäfer, in: Beck-OK, § 168 Rn. 20, 23.
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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dienen sowie für Generalvollmachten.390 Eine Vollmacht kann vielmehr nur dann unwiderruflich ausgestaltet werden, wenn die Vollmacht den Interessen Dritter oder des Bevollmächtigten dient.391 Auch kann eine Vollmacht unwiderruflich ausgestaltet werden, wenn der Bevollmächtigte oder ein Dritter einen Anspruch auf Vornahme des Rechtsgeschäfts hat.392 Die der Vollmacht entspringende Berechtigung muss also in zumindest gleichwertigem oder überwiegendem Interesse des Bevollmächtigten liegen.393 Eine Selbstbindung zugunsten anderer ist also unproblematisch, ähnlich wie bei einem typischen Vertrag. Diskutiert wird allerdings nicht, ob sich an der Beurteilung etwas ändern könnte, wenn man einem anderen nur deswegen eine unwiderrufliche Vollmacht erteilt, um später nicht selbstschädigend durch Widerruf Verträge zu verhindern, die im eigenen Interesse liegen.394 Nach herrschender Ansicht ist die unwiderrufliche Vollmacht allerdings bei Vorliegen eines wichtigen Grundes doch widerruflich, sodass eine Vereinbarung der Unwiderruflichkeit nicht zu einem generellen Ausschluss, sondern nur zu einer Beschränkung des Widerrufsrechts führt.395 (2) Vorsorgevollmacht Da der Widerruf der Vorsorgevollmacht als actus contrarius an die gleichen Anforderungen396 wie die Erteilung der Vorsorgevollmacht gebunden ist, kommt ein Widerruf der Vorsorgevollmacht nur im Zustand der Geschäftsfähigkeit in Betracht.397 Ist der Vollmachtgeber dagegen geschäftsunfähig geworden, kommt ein Widerruf der Vorsorgevollmacht nur durch einen vom Betreuungsgericht zu bestellenden Kontrollbetreuer in Betracht.398 Da ein solcher aber nur bei einem dem Gericht bekannt gewordenen konkreten Überwachungsbedarf eingesetzt wird, ist die
390
Ellenberger, in: Palandt BGB, § 168 Rn. 6; Mansel, in: Jauernig BGB, § 168 Rn. 6; Schäfer, in: Beck-OK, § 168 Rn. 24 f.; Schilken, in: Staudinger BGB, § 168 Rn. 8 ff. m. w. N. 391 Ackermann, in: Heidel BGB AT, § 168 Rn. 11; Schubert, in: Münchener Kommentar, § 168 Rn. 23 f.; Schilken, in: Staudinger BGB, § 168 Rn. 8 m. w. N. 392 Walter, Die Vorsorgevollmacht, S. 175. 393 Walter, Die Vorsorgevollmacht, S. 175; Schubert, in: Münchener Kommentar, § 168 Rn. 24. 394 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 90 Fn. 66. 395 Ellenberger, in: Palandt BGB, § 168 Rn. 6; Schäfer, in: Beck-OK, § 168 Rn. 26; BGH, NJW 1988, 2603 (2604); Schilken, in: Staudinger BGB, § 168 Rn. 14. 396 Vgl. zu den Voraussetzungen der Erteilung einer wirksamen Vorsorgevollmacht Kap. 3 C. II. 4. a). 397 Roth, in: Praxiskommentar Betreuungsrecht, S. 206 Rn. 64; dagegen reicht für Walter das Vorliegen von Einwilligungsfähigkeit für den Widerruf einer Vorsorgevollmacht für personale Angelegenheiten aus: Walter, Die Vorsorgevollmacht, S. 232 ff. 398 Roth, in: Praxiskommentar Betreuungsrecht, S. 206 Rn. 64; BayObLG, FamRZ 2002, 1220 (1220 f.).
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
Vorsorgevollmacht nach Eintritt der Geschäftsunfähigkeit des Vollmachtgebers häufig faktisch unwiderruflich.399 Fraglich ist aber, ob bei Vorsorgevollmachten eine Unwiderruflichkeit auch für den Zustand der Geschäftsfähigkeit vereinbart werden kann. So ist auch hier, wie bei der Patientenverfügung, ein Bedürfnis nach einem Schutz vor sich selbst vorstellbar – nämlich vor einem unüberlegten, uneinsichtigen Widerruf der privaten Vorsorge in einem Zustand, bei dem die Geschäftsfähigkeit zwar zweifelhaft, aber nicht widerlegt ist.400 Daneben könnte auch die Befürchtung bestehen, dass ein trotz Vorsorgevollmacht bestellter Kontrollbetreuer die Vollmacht widerrufen könnte oder gar das Gericht – bei einer älteren Vollmacht – deren Wirksamkeit komplett bezweifelt und deshalb einen Betreuer bestellt.401 Dies ist nach herrschender Ansicht wie bei anderen Generalvollmachten402 nicht möglich, da eine Vorsorgevollmacht immer im ausschließlichen Interesse des Vollmachtgebers erteilt wird.403 Die Anordnung einer Unwiderruflichkeit ist aber nur dann möglich, wenn die Vollmacht den Interessen Dritter oder des Bevollmächtigten dient.404 Insbesondere wenn sich die Vorsorgevollmacht auf den personalen Bereich bezieht, ist ein Grundverhältnis, wonach die Erteilung der Vollmacht zumindest auch im Interesse des Bevollmächtigten dient, nicht denkbar, da die Wahrnehmung höchstpersönlicher Angelegenheiten immer nur im Interesse des Vollmachtgebers liegt.405 Auch das Bedürfnis nach einem Schutz vor sich selbst würde ausschließlich im Interesse des Vollmachtgebers liegen. Teilweise wird aber die Anordnung eines Schriftformerfordernisses für den Widerruf oder die Anordnung einer Begutachtung des Vollmachtgebers bei zweifelhafter Geschäftsfähigkeit für zulässig erachtet.406
399
Roth, in: Praxiskommentar Betreuungsrecht, S. 206 Rn. 64, S. 211 Rn. 85. Walter, Die Vorsorgevollmacht, S. 174; Reinhart, Die unwiderrufliche Vollmacht, S. 110; Kurze, in: Burandt/Rojahn Erbrecht, § 168 Rn. 3; Zimmermann, Vorsorgevollmacht, S. 146. 401 Renner, in: Betreuungsrecht und Vorsorgeverfügungen in der Praxis, S. 219 Rn. 674. 402 Baumann, MittRhNotK 1998, 1 (5); Renner, in: Betreuungsrecht und Vorsorgeverfügungen in der Praxis, S. 220 Rn. 676. 403 Renner, in: Betreuungsrecht und Vorsorgeverfügungen in der Praxis, S. 220 Rn. 676; Bühler, FamRZ 2001, 1585 (1589); Zimmermann, DNotZ 2000, 156 (157); Walter, Die Vorsorgevollmacht, S. 174 ff.; Langenfeld, Vorsorgevollmacht, Betreuungsverfügung und Patiententestament nach dem neuen Betreuungsrecht, S. 55; Müller, in: Würzburger Notarhandbuch, Teil 3 Kap. 3 Rn. 34; Roth, in: Praxiskommentar Betreuungsrecht, S. 200 f. Rn. 48; Zimmermann, Vorsorgevollmacht, S. 146 f. 404 Ackermann, in: Heidel BGB AT, § 168 Rn. 11; Schubert, in: Münchener Kommentar, § 168 Rn. 23 f.; Schilken, in: Staudinger BGB, § 168 Rn. 8 m. w. N. 405 Vgl. dazu mit ausführlicher Begründung Walter, Die Vorsorgevollmacht, S. 176 ff. 406 Kurze, in: Burandt/Rojahn, Erbrecht, § 168 Rn. 3. 400
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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cc) Die unwiderrufliche Patientenverfügung zum Schutz vor sich selbst Auf den Widerruf der Patientenverfügung könnte mittels einer Odysseus-Anweisung wirksam verzichtet werden, wenn es sich bei § 1901a Abs. 1 S. 3 BGB um eine dispositive Regelung handeln würde. § 1901a Abs. 1 S. 3 BGB statuiert, dass eine Patientenverfügung jederzeit formlos widerrufen werden kann. Gerade vor dem Hintergrund, dass sich auch im außervertraglichen zivilrechtlichen Bereich selbstpaternalistische Möglichkeiten finden407, stellt sich die Frage, ob nicht die Anforderungen der Selbstbindung zum eigenen Schutz niedriger sein müssen, als wenn die Selbstreglementierung anderen Zwecken dient.408 Im Gegensatz zu einer Einwilligung in eine unmittelbar bevorstehende medizinische Maßnahme liegen zwischen dem Zeitpunkt der Erstellung der Patientenverfügung und dem Eintritt des Vorsorgefalls häufig lange Zeitabstände. Ein Verzicht auf die freie Widerrufsmöglichkeit einer Patientenverfügung gem. § 1901a Abs. 1 S. 3 BGB würde damit nicht wie bei einer Einwilligung in eine kurz bevorstehende ärztliche Maßnahme unmittelbar rechtsgutspreisgebend wirken.409 Für den Ausschluss der Widerruflichkeit für den Zustand der Einwilligungsfähigkeit müssen aber erst recht die zur Unzulässigkeit der unwiderruflichen Einwilligung genannten Grundsätze gelten. Gerade die lange Zeitspanne, die zwischen der Erstellung der Patientenverfügung und dem Zeitpunkt der Behandlungssituation liegt, spricht gegen einen Verzicht auf die freie Widerrufsmöglichkeit. Der Patient würde so jede weitere Einwirkungsmöglichkeit auf künftige Behandlungsentscheidungen verlieren und sich selbst damit seines Selbstbestimmungsrechts berauben. Auf veränderte Sichtweisen oder Lebenseinstellungen könnte er so nicht mehr reagieren und wäre so unzulässig stark an seine Verfügung gebunden. Die generelle Möglichkeit eines Grundrechtsverzichts erfährt nämlich dann eine Einschränkung, wenn abstrakt und vor allem zeitlich unbegrenzt auf die jeweilige Grundrechtsausübung verzichtet wird und damit verbunden in „extremer Weise“ eine Grundrechtsposition privatautonom zur Disposition gestellt werden soll. Ein derartiger Grundrechtsverzicht verstößt deshalb gegen das Verbot der Selbstentmündigung und ist klar abzulehnen.410 Auch nach dem BGH ist das Recht
407
Wenn beispielweise jemand aus Gründen des Selbstschutzes einen Antrag auf Bestellung eines Betreuers gem. § 1896 Abs. 1 BGB stellt oder gar einem Einwilligungsvorbehalt zustimmt. 408 Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, S. 90. 409 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 261. 410 So auch Brosey, BtPrax 2010, 161 (164); Roth, JZ 2004, 494 (496); Wietfeld, Selbstbestimmung, S. 259 ff.; Schwab, in: Münchener Kommentar, § 1901a Rn. 36; Zimmermann, Vorsorgevollmacht, S. 236; ähnlich auch Lipp, in: Handbuch der Vorsorgeverfügungen, S. 366 Rn. 71.
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
zur Bestimmung über den eigenen Körper einem antizipierten Verzicht nicht zugänglich.411 b) Erhöhung der Voraussetzungen für die Aufhebung der untersagenden Patientenverfügung Grundsätzlich vermag der natürliche Wille die Festlegungen in einer Patientenverfügung aufzuheben. Da es nicht möglich ist, den Widerruf der Patientenverfügung vorab insgesamt auszuschließen, kommt noch in Betracht, mit Hilfe einer OdysseusAnweisung die Voraussetzungen, die für eine Aufhebung der Patientenverfügung vorliegen müssen, so zu erhöhen, dass ein natürlicher Wille die Festlegungen in einer Patientenverfügung nicht mehr aufzuheben vermag. aa) Disponibilität der Formfreiheit des Widerrufs Wenn es dem Betroffenen aufgrund seines Selbstbestimmungsrechts schon nicht gestattet ist, die Möglichkeit des Widerrufs an sich vorab wirksam auszuschließen und damit unwiderruflich in die Umsetzung der Patientenverfügung einzuwilligen, stellt sich die Frage, ob er dafür nicht vorab wirksam auf die Formfreiheit des Widerrufs verzichten könnte. Er könnte so bestimmen, dass ein Widerruf der Patientenverfügung ebenso wie deren Errichtung nur (eigenhändig) schriftlich (oder sogar notariell beurkundet) erfolgen kann und so die Widerrufsvoraussetzungen maßgeblich erhöhen. Mit einer derartigen Erhöhung der Dokumentationslast könnte der Betroffene so faktisch die Beachtlichkeit einer formfreien Willensänderung ausschließen.412 Dann müsste es sich bei § 1901a Abs. 1 S. 3 BGB um eine disponible Regelung handeln.413 Da ein gewillkürtes Schriftformerfordernis unter anderem dem Zweck der Beweissicherung dient414, könnte durch die Anordnung eines Schriftformerfordernisses vom Betroffenen ausgedrückt werden, dass er unbedingt und unabhängig von etwaigen Aussagen Dritter am Inhalt der Patientenverfügung festhalten will. Der Verzicht auf die Formfreiheit des Widerrufs könnte diese Bestrebungen des Verfügenden unterstützen.
411
BGH, NJW 2005, 2385 (2385 f.). Siehe dazu auch Roth, JZ 2004, 494 (497). 413 Schmitz, FamFR 2009, 64 (66). 414 Einsele, in: Münchener Kommentar, § 125 Rn. 9; Wendtland, in: Beck-OK, § 125 Rn. 1; Mansel, in: Jauernig BGB, § 125 Rn. 3; Dörner, in: Schulze BGB, § 125 Rn. 2; Noack/Kremer, in: BGB AT, § 125 Rn. 10. 412
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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Zudem wohnt einem Schriftformerfordernis der Zweck eines Übereilungsschutzes (auch Warnfunktion) inne415, sodass es dem Betroffenen durch das gewillkürte Schriftformerfordernis auch darauf ankommen könnte, zu verhindern, dass er in einer Kurzschlusshandlung seine wohlbedachte Vorsorge zerstört und so eine selbstschädigende Entscheidung trifft. Durch ein Schriftformerfordernis wäre er gezwungen, intensiver über die Vor- und Nachteile eines Widerrufs der Patientenverfügung nachzudenken. Allerdings kann ein Verzicht auf die Formfreiheit dann zu massiven Problemen führen, wenn der Betroffene zwar tatsächlich seine Patientenverfügung ändern will, aber körperlich nicht mehr in der Lage ist, das Schriftformerfordernis zu erfüllen (etwa weil der Betroffene nicht mehr schreiben kann). Wenn er aber anderweitig in der Lage ist, sich auszudrücken, und erklärt, nicht mehr an der Patientenverfügung festhalten zu wollen, erschiene es als zu großer Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen, diesen Widerruf tatsächlich von der Schriftform abhängig zu machen. Gerade in Situationen, in denen eine zügige Entscheidungsfindung nötig ist (bspw. unmittelbar vor einer Notoperation), muss eine Willensänderung formlos und vor allem unkompliziert beachtlich sein.416 Dafür spricht auch, dass der Gesetzgeber die Formfreiheit des Widerrufs extra angeordnet hat. Nach den allgemeinen Regeln des Rechts wäre nämlich der Widerruf eigentlich als actus contrarius der Patientenverfügung ebenso wie diese an die Einhaltung einer Schriftform gebunden.417 Letztlich würde eine andere Beurteilung einen zu weiten Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen bedeuten.418 bb) Einwilligungsfähigkeit als Voraussetzung für einen wirksamen Widerruf Folgt man der hier vertretenen Auffassung, dass für einen wirksamen Widerruf der Patientenverfügung das Äußern eines natürlichen Willens ausreicht, könnte als Lösungsweg in Betracht kommen, bereits vorab in der Patientenverfügung festzulegen, dass für den Widerruf der Patientenverfügung, ebenso wie bei deren Errichtung, Einwilligungsfähigkeit vorliegen muss. Das Vorliegen von Einwilligungsfähigkeit wird ohnehin von vielen Rechtsliteraten als Voraussetzung für einen wirksamen Widerruf gefordert.419 415 Einsele, in: Münchener Kommentar, § 125 Rn. 8; Wendtland, in: Beck-OK, § 125 Rn. 1; Mansel, in: Jauernig BGB, § 125 Rn. 3; Dörner, in: Schulze BGB, § 125 Rn. 2; Noack/Kremer, in: BGB AT, § 125 Rn. 10. 416 Knittel, Betreuungsrecht, § 1901a Rn. 68. 417 Putz/Steldinger, Patientenrechte, S. 143. 418 So auch Schmitz, FamFR 2009, 64 (66); Bienwald, in: Betreuungsrecht, § 1901a Rn. 37; Knittel, Betreuungsrecht, § 1901a Rn. 68; Kaufmann, Patientenverfügungen, S. 152; Roth, JZ 2004, 494 (497); Wietfeld, Selbstbestimmung, S. 262. 419 Siehe dazu ausführlich Kap. 3 C. III. 1. b).
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
Allerdings kann sich in der Praxis das Erfordernis der Entscheidungsfähigkeit durchaus als problematisch erweisen. Insbesondere für medizinische Laien ist es schwer möglich, zur Frage des Vorliegens von Entscheidungsfähigkeit eine verbindliche Aussage zu treffen.420 Insbesondere dann, wenn selbst nach eingehender Untersuchung des Betroffenen zweifelhaft bleibt oder nur partiell in Abrede gestellt werden kann, ob die der Patientenverfügung entgegenstehende Willensäußerung im Zustand der Entscheidungsfähigkeit abgegeben wird oder „nur“ eine vom natürlichen Willen getragene Äußerung vorliegt. Letztlich empfiehlt sich diesbezüglich für den Betroffenen, die Entscheidung bezüglich des Vorliegens der Entscheidungsfähigkeit einer unabhängigen Person zu übertragen, die aufgrund ihrer Fachkompetenz in der Lage ist, die Entscheidungsfähigkeit des Betroffenen zu beurteilen. In Betracht käme dafür beispielsweise ein Facharzt der Psychiatrie oder der Hausarzt des Betroffenen. Eine derartige Ausgestaltung der Odysseus-Anweisung wäre grundsätzlich mit dem Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen vereinbar. Zusätzlich wird man die Festlegung von Maßnahmen, die die Feststellung der Entscheidungsfähigkeit betreffen, für zulässig erachten müssen. cc) Teilweiser Verzicht auf die Aktualisierungsentscheidung des Betreuers Bei der Patientenverfügung handelt es sich um eine antizipierte Willenserklärung, sodass der Patient mit ihr selbst in eine ärztliche Maßnahme einwilligt oder sie ablehnt und es daher nicht zusätzlich noch einer Aktualisierungsentscheidung in Form einer Einwilligung oder Ablehnung durch den Betreuer bedarf.421 Allerdings berücksichtigen Vertreter der Auffassung, dass für einen wirksamen Widerruf der Patientenverfügung Einwilligungsfähigkeit vorliegen muss, häufig den natürlichen Willen im Rahmen des Merkmals der aktuellen Lebens- bzw. Behandlungssituation. Gem. § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB prüft der Betreuer, ob die in der Patientenverfügung getroffenen Festlegungen auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen. Ist dies der Fall, hat der Betreuer gem. § 1901a Abs. 1 S. 2 BGB dem Willen des Betreuten Ausdruck und Geltung zu verschaffen. Wird nun vom Patienten im einwilligungsunfähigen Zustand ein der Patientenverfügung entgegenstehender natürlicher Wille geäußert, soll eine Übereinstimmung der Patientenverfügung mit der aktuellen Lebenssituation gerade nicht vorliegen, sodass im Umkehrschluss nach dieser Auffassung der natürliche Wille die Patientenverfügung
420 Warmbrunn/Stolz, BtPrax 2006, 167 (168); Roth, in: Praxiskommentar Betreuungsrecht, S. 197 f. Rn. 39. 421 So aber Albrecht/Albrecht, MittBayNot 2009, 426 (433); Diehn/Rebhan, NJW 2010, 326 (329); Ihrig, notar 2009, 380 (382 f.); Roglmeier, FPR 2010, 282 (284); vgl. dazu auch Müller/ Renner, Betreuungsrecht und Vorsorgeverfügungen in der Praxis, S. 161 f. Rn. 487 m. w. N.
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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aufzuheben vermag.422 Die Umsetzung der Patientenverfügung scheitert damit an der Aktualisierungsentscheidung des Betreuers, der aus dem Vorliegen eines entgegenstehenden natürlichen Willens die Aktualität der Patientenverfügung bzw. deren Anwendungsbereich auf die aktuelle Lebenssituation verneint. Um dieses Ergebnis zu vermeiden, ist fraglich, ob es dem Betroffenen möglich ist, das Ergebnis dieser Aktualisierungsentscheidung, zumindest im Hinblick auf die Beachtlichkeit eines antizipierten natürlichen Willens, bereits vorab festzulegen. Dann müsste er den Umfang der Prüfpflicht des Betreuers, insbesondere welche Umstände für diese Prüfung maßgeblich sind, durch den Inhalt der Patientenverfügung vordefinieren. Würde der Betroffene in der Patientenverfügung nämlich festlegen, dass ein der Patientenverfügung entgegenstehender natürlicher Wille unbeachtlich sein soll und diese Situation dann eintritt, ließe sich argumentieren, dass im Zeitpunkt der Behandlungssituation genau die Lebenssituation vorliegt, die sich der Betroffene vorgestellt hat.423 Eine negative Entscheidung des Betreuers dahingehend, den Anwendungsbereich der Patientenverfügung auf die aktuelle Lebenssituation aufgrund des entgegenstehenden natürlichen Willens zu verneinen, wäre dann nicht mehr möglich. Rechtstechnisch würde so mittels einer Odysseus-Anweisung eine Ermessensreduzierung auf Null424 des Betreuers hinsichtlich dieser Entscheidung angeordnet werden. Dafür könnte vor allem sprechen, dass es im Betreuungsrecht systemfremd ist, eine Einwilligungszuständigkeit des Betreuers anzunehmen, wenn der Betroffene bereits selbst eine Entscheidung getroffen hat.425 Vielmehr ist der Betreuer an die Festlegungen in der Patientenverfügung gebunden.426 Daneben bereitet es in der Praxis große Probleme, das Vorliegen eines lebensbejahenden natürlichen Willens zweifelsfrei zu bestimmen.427 Liegt ein solcher aber vor, scheitert nach hier vertretener Auffassung die Umsetzung der Patientenverfügung und eine Weiterbehandlung muss erfolgen.428 Wird das Vorliegen eines natürlichen Willens dagegen verneint, ist die Patientenverfügung umzusetzen. Der Grat dieser Beurteilungsentscheidung kann aber in der Praxis sehr schmal verlaufen. Wenn es schon Dritten möglich ist, eine solche ohnehin zweifelhafte und schwierige 422 Diener, Patientenverfügungen psychisch kranker Personen, S. 98 f.; Bienwald, in: Betreuungsrecht, § 1901a Rn. 38; Coeppicus, NJW 2011, 2085 (2089 f.); Steenbreker, NJW 2012, 3207 (3210 f.); Hoffmann, R&P 2010, 201 (204 f.); Jox, in: Patientenverfügung, S. 136 f.; vgl. auch Spickhoff, FamRZ 2009, 1949 (1951); ders., in: Medizinrecht, § 1901a Rn. 12, der bei Vorliegen eines der Patientenverfügung entgegenstehenden natürlichen Willens von einem Wegfall oder Fehlen der Geschäftsgrundlage spricht. 423 So auch Coeppicus, NJW 2011, 2085 (2090); Steenbreker, NJW 2012, 3207 (3210). 424 So auch Hornung in Bezug auf die einwilligende Patientenverfügung allgemein, Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 297. 425 Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 296. 426 BT-Drs. 16/8442, S. 14. 427 Siehe dazu auch schon Kap. 3 C. I. 3. 428 Siehe dazu ausführlich Kap. 3 C. III. 1.
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
Entscheidung zu treffen, die letztlich über das Leben oder den Tod des Betroffenen entscheiden kann, ließe sich argumentieren, dass es doch erst recht dem Betroffenen erlaubt sein muss, zur Vermeidung unerwünschter Beurteilungsergebnisse selbstbestimmt eine zweifelsfreie Entscheidung darüber zu treffen, wie mit dem Vorliegen eines entgegenstehenden natürlichen Willens umgegangen werden soll. Zwar ist es dem Betroffenen nicht möglich, vorab das Vorliegen eines natürlichen Willens an sich zu verneinen, da sich dies seiner Kontrolle entzieht; doch könnte er immerhin den Umgang mit diesem natürlichen Willen antizipiert selbst regeln. Durch seine eigene Entscheidung würde der Rechtsgutsinhaber so lediglich die Entscheidungsbefugnis des Betreuers reduzieren und selbst die Entscheidungsgewalt und damit verbunden mehr Verantwortung über seine eigene Vorsorge übernehmen. Auch die damit verbundene Konsequenz, dass eine Entscheidung des Rechtsgutsinhabers, das Vorliegen eines natürlichen Willens bei der Entscheidung über die Umsetzung der Patientenverfügung außer Acht zu lassen, zum Tod des Patienten führen könnte, ließe sich damit rechtfertigen, dass diese Folge ebenso vorab antizipiert wurde. Letztlich spricht für diese Möglichkeit, dass es schon aus dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten folgen könnte, über die Beachtlichkeit des natürlichen Willens selbst zu bestimmten, um zum einen fremdbestimmte Mutmaßungen über eine eigene Willensänderung vorab wirksam auszuschließen und zum anderen sich selbst vor seinem eigenen natürlichen Willen zu schützen. Wiederum verzichtet der Betroffene auf ein zu seinem Schutz bestehendes Recht, wobei auch dieser Verlust an Freiheit durch den Gewinn an Selbstbestimmung wieder aufgewogen werden könnte, den die Anerkennung dieser Verzichtsentscheidung mit sich bringt. (1) Sinn und Zweck der Aktualitätsentscheidung des Betreuers Gem. § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB prüft der Betreuer, ob die in der Patientenverfügung getroffenen Festlegungen auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen. Nach der Gesetzesbegründung umfasst die Prüfung, ob die Patientenverfügung gerade für die in Frage stehende Situation eine Entscheidung über die anstehende ärztliche Maßnahme enthält und ob sie noch dem Willen des Patienten entspricht; dabei sollen alle Gesichtspunkte berücksichtigt werden, die sich aus der aktuellen Lebens- und Behandlungssituation ergeben.429 Dabei besteht für den Betreuer bzw. den Bevollmächtigten (§ 1901a Abs. 5 BGB) kein Ermessen auf Rechtsfolgenseite, wenn die Patientenverfügung den Sachverhalt erfasst.430 Dagegen ist ihm auf „Tatbestandebene“ hinsichtlich der Einschätzung und Beurteilung, ob die Patientenverfügung auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutrifft, ein Beurteilungsermessen einzuräumen.431 429 430 431
BT-Drs. 16/8442, S. 14. Spickhoff, FamRZ 2009, 1949 (1951). Spickhoff, FamRZ 2009, 1949 (1952).
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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Die Vorschrift trägt dem Umstand Rechnung, dass zwischen der Erstellung der Patientenverfügung und deren Wirkungszeitpunkt ein langer Zeitraum liegen kann und daher der Erklärende das Risiko trägt, dass eine andere als die vorgestellte Situation eintritt und/oder, dass er seine Patientenverfügung nicht mehr rechtzeitig ändert oder ändern kann.432 Dies gilt insbesondere deshalb, weil es sehr schwierig ist, sich Krankheitssituationen im Voraus vorzustellen.433 Auch soll der Gefahr vorgebeugt werden, dass sich weitere Lebensumstände oder deren Bewertung durch den Ersteller der Patientenverfügung geändert haben. Sinn und Zweck des Erfordernisses ist damit die Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten, womit es sich wiederum um eine Kontrollvorschrift zum Schutz des Betroffenen handelt. (2) Der Schutzzweck der Norm in Odysseus-Konstellationen Bei Sachverhalten, in denen ein der Patientenverfügung entgegenstehender natürlicher Wille vorliegt, kann sich diese Intention aber genau umgekehrt zu Lasten des Patienten auswirken. So kann ein Vorrang des natürlichen Willens auch zu massiven Problemen für den Betroffenen und seine Ärzte führen.434 Zu beachten ist nämlich, dass ohne eine teleologische Reduktion eine Anordnung des Patienten, seinen natürlichen Willen zu ignorieren und der Patientenverfügung Geltung zu verschaffen, nur dann verbindlich ist, wenn sowohl Arzt als auch Betreuer dieser Bitte stattgeben und die Einschlägigkeit der Aktualität der Lebens- und Behandlungssituation bejahen. Der Betroffene könnte so seine Vorsorge nur verbindlich selbst planen, solange er keinen der Patientenverfügung entgegenstehenden natürlichen Willen äußert. Da sich dies aber regelmäßig der Kontrolle des Betroffenen entzieht, ist dieser jeweils hilflos der Entscheidungsgewalt Dritter ausgeliefert. Ohne die Möglichkeit, eine verbindliche Regelung zu treffen, würde es sich im Falle eines entgegenstehenden natürlichen Willens bei der Patientenverfügung lediglich um eine Bitte um Beachtung der eigenen Vorrangpräferenz handeln. Die eigentliche Entscheidungsgewalt über die Beachtlichkeit des natürlichen Willens würde so – trotz ausdrücklicher Anordnung – bei Dritten und nicht beim Verfasser der Patientenverfügung selbst liegen. Warum aber sollte es besser sein, die Entscheidung in die Hände Dritter zu legen, als sie dem Betroffenen selbst aufzuerlegen? In der Gesetzesbegründung wird diese Möglichkeit der Entscheidungsabgabe konkret genannt: 432 Dies ist allgemein ein Problem der Zukunftsbezogenheit antizipierter Erklärungen, Lipp, in: Handbuch der Vorsorgeverfügungen, S. 361 Rn. 40 ff.; Diedrichsen, in: FS Schreiber, S. 648. 433 Heitmann, in: NK-BGB, § 1901b Rn. 16. 434 Siehe zu den Konsequenzen des Vorrangs des natürlichen Willens ausführlich Kap. 3 C. IV.
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
„Selbstverständlich kann in der Verfügung aber auch festgelegt werden, dass die Patientenverfügung trotz konkreter Entscheidungen nicht unmittelbar gelten soll, sondern der Bevollmächtigte oder Betreuer immer die Entscheidung über die Behandlung zu treffen hat, und welchen Ermessensspielraum er bei seiner Entscheidung hat.“435
Wenn aber selbst nach der Gesetzesbegründung der Betroffene die Möglichkeit hat, die unmittelbare Geltung der Patientenverfügung auszuschließen und damit verbunden den Ermessensspielraum des Betreuers definieren kann, muss es im Umkehrschluss auch möglich sein, die Beachtlichkeit des entgegenstehenden Willens bei der Umsetzungsentscheidung vorab auszuschließen. Auch hierbei wird der Ermessenspielraum vordefiniert, und zwar hinsichtlich einer einzelnen Beurteilungsfrage auf Null reduziert. Im Ergebnis führt dieser Ansatzpunkt zu einer Beschneidung der Prüfungskompetenz des Betreuers und des Arztes. Zwar wollte der Gesetzgeber dem Betreuer eine starke Stellung einräumen, was sich schon an § 1901b BGB zeigt. Doch übt dieser seine Verpflichtung allein im Interesse des Betreuten aus, sodass eine Beschneidung der Kompetenz zu Gunsten des Betreuten keinen Bedenken ausgesetzt ist.436 Insbesondere dann, wenn der Betroffene gerade in Kenntnis darüber, dass es bei seinem Krankheitsbild häufig zu einer Bildung eines entgegenstehenden natürlichen Willens kommt, wegen dem seine Patientenverfügung nicht umgesetzt werden kann, die Umsetzung der Patientenverfügung mit einer Odysseus-Anweisung sicherstellen will, muss ihm diese Möglichkeit gewährt werden. Im Gegensatz zum Betreuer, der eine derartige Situation wohl selten selbst antizipiert hat, hat er sich mit dieser Möglichkeit vorab auseinandergesetzt und seine Entscheidung getroffen.437 Sowohl sein Wissen als auch sein Wollen überwiegt das des Betreuers, sodass seiner Entscheidung eine höhere Legitimationskraft beigemessen werden muss. So heißt es auch schon in der Gesetzesbegründung, dass der Betreuer zu prüfen hat, „ob das aktuelle Verhalten des nicht mehr entscheidungsfähigen Patienten konkrete Anhaltspunkte dafür zeigt, dass er unter den gegebenen Umständen den zuvor schriftlich geäußerten Willen nicht mehr gelten lassen will und ob der Betroffene bei seinen Festlegungen diese Lebenssituation mitbedacht hat.“438
435
BT-Drs. 16/8442, S. 15. Anders aber Diener, Patientenverfügungen psychisch kranker Personen, S. 100, wonach durch die Festlegung der Unbeachtlichkeit des aktuellen Willens die Patientenverfügung einen partiellen Automatismus hinsichtlich der Einschlägigkeit der Lebenssituation auslöse, „den der Gesetzgeber durch eine starke Stellung des Betreuers gerade vermeiden wollte“; zudem stehe das Verfahren nicht zur Disposition des Betroffenen. 437 Coeppicus, NJW 2011, 2085 (2090); Steenbreker, NJW 2012, 3207 (3210). 438 BT-Drs. 16/8442, S. 14 f. 436
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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Die Verbindlichkeit von Anordnungen, die vor einem solchen Hintergrund getroffen wurden, kann sich systematisch auch aus § 1901 Abs. 2 und 3 BGB ergeben, wonach Wohl und Wünsche des Patienten subjektiv zu bestimmen sind. Der Patient hat dann nämlich seine Wünsche und sein Wohl dahin definiert, dass ein natürlicher Wille gerade nicht gelten soll; der wirkliche Wille steht dann nämlich fest, da er die Situation kannte und trotz dieser Kenntnis die Umsetzung der Patientenverfügung verlangt hat.439 Wenn also der Betreuer – selbst wenn keine Patientenverfügung vorliegt – an die Wünsche des Betreuten gebunden ist, muss dies erst recht gelten, wenn der Patient seine Wünsche ausdrücklich in einer Patientenverfügung festgelegt hat. Warum sollte aber dann der Betreuer im Rahmen seiner Prüfungskompetenz noch die Macht haben, anders als in der Patientenverfügung verlangt, zu entscheiden, wenn der natürliche Wille doch schon vorab antizipiert wurde? Natürlich könnte man gegen diese Lösung wiederum einwenden, dass auch die Absicht, sich gegen eine vorausgesehene Willensänderung zu verwahren, revidiert werden kann.440 Dürfte der Betreuer nun nicht mehr das Vorliegen eines entgegenstehenden Willens in seiner Beurteilung über die Übereinstimmung der Patientenverfügung mit der aktuellen Lebenssituation des Patienten einbeziehen, wäre der Patient wiederum ein „Sklave der eigenen Verfügung“. Dem kann aber entgegengehalten werden, dass durch die Ermessensreduktion auf Null lediglich sichergestellt werden soll, dass nicht allein ein der Patientenverfügung entgegenstehender natürlicher Wille imstande ist, die wohlbedachte Vorsorge zu zerstören. Wenn der Betreuer oder der Arzt darüber hinaus von Umständen Kenntnis erlangen, die den Verdacht nahelegen, dass der Patient in Kenntnis aller Umstände auch seine Absicht, sich gegen eine Beachtung des natürlichen Willens zu verwahren, geändert hätte, ist eine solche Überprüfung von der Odysseus-Anweisung unberührt.441 Ausreichend ist, dass eine solche Überprüfung bei weitem mehr Begründungsaufwand erfordern würde, als es bei reiner Feststellung eines entgegenstehenden natürlichen Willens der Fall wäre. Natürlich dürfte dies auch nicht zu einem Automatismus dahingehend führen, dass das vom Rechtsanwender favorisierte Ergebnis einfach auf diesem Wege erreicht wird. Wenn sich also der wirkliche Wille – und nicht nur der krankheitsbedingte natürliche Wille – geändert hat, ist von der Umsetzung der Verfügung abzusehen. Wenn nicht, ist sie umzusetzen. Letztlich kann demnach der Betroffene mit einer Odysseus-Anweisung die Beachtlichkeit des natürlichen Willens dahingehend ausschließen, als dass dessen Vorliegen die Aktualisierungsentscheidung des Betreuers nicht mehr beeinflusst. Alleine das Vorliegen eines natürlichen Willens ist dann nicht mehr imstande, die Festlegungen in der Patientenverfügung zu durchbrechen. Nur, wenn dem Betreuer Umstände zur Kenntnis gelangen, dass sich auch die Absicht geändert hat, den 439 440 441
Coeppicus, NJW 2011, 2085 (2090). Hallich, ZphF 2011, 151 (160 f.). Siehe zum Widerruf der Odysseus-Anweisung ausführlich unten Kap. 3 D.
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
natürlichen Willen für unbeachtlich zu erklären, ist dies wiederum von seiner Prüfkompetenz erfasst, sodass eine Umsetzung der Patientenverfügung ausscheiden kann. Letztlich würde dies zu einem höheren Begründungsaufwand des Betreuers führen. Der Nachweis des Vorliegens eines entgegenstehenden natürlichen Willens wird dem Betreuer – auch wenn es bereits hier bei der Feststellung Probleme geben kann442 – noch „relativ leicht“ fallen. Für den Nachweis von Umständen, die die Erkenntnis stützen, dass der Betroffene auch seine Absicht darüber geändert haben könnte, diesen natürlichen Willen für unbeachtlich zu erklären, ist so ein höherer Begründungsaufwand erforderlich. Im Falle des eingangs erwähnten berühmten Sängers A, der X in seiner Patientenverfügung verfügt hat, dass im Zustand schwerer Demenz bei einer Erkrankung oder Verletzung keine lebenserhaltenden Maßnahmen eingeleitet werden dürfen, der aber einen konstanten natürlichen Lebenswillen äußert, dürfte nach Ansicht der meisten Autoren entgegen der Patientenverfügungen eine Operation bei einem Oberschenkelhalsbruch erfolgen. Würde seine Patientenverfügung nun eine Odysseus-Anweisung dergestalt enthalten, dass ein entgegenstehender natürlicher Wille die Durchsetzung der Patientenverfügung gerade nicht verhindern soll, wäre die Entscheidungsgewalt des Betreuers im Rahmen seiner Aktualisierungsentscheidung nach hier vertretener Ansicht im Hinblick auf den natürlichen Willen gebunden. Eine Behandlung wäre danach mit der Patientenverfügung abzulehnen. Wurde nun aber beispielsweise gerade ein zuverlässiges Mittel gefunden, das in der Lage wäre, die Demenz des X zu heilen, könnte dies die Annahme stützen, dass sich auch die Absicht geändert hat, den natürlichen Willen für unbeachtlich zu erklären, sodass wiederum auf den natürlichen Willen des X abzustellen wäre. Während letztlich ohne Odysseus-Anweisung die Berücksichtigung des natürlichen Willens die Regel wäre, ist dies mit Odysseus-Anweisung die Ausnahme. Eine derartige Odysseus-Anweisung wäre nach diesen Grundsätzen mit dem Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen vereinbar. c) Verringerung der Voraussetzungen für die Durchsetzung der positiven Patientenverfügung Nachdem bereits festgestellt wurde, dass eine psychiatrische Patientenverfügung alleine keine ausreichende Legitimationsgrundlage für eine ärztliche Zwangsbehandlung darstellt443, bleibt zu prüfen, ob durch eine Odysseus-Anweisung innerhalb einer einwilligenden Patientenverfügung auf Voraussetzungen für eine zulässige Zwangsbehandlung verzichtet werden kann. Die Anforderungen an eine zulässige Zwangsbehandlung sind zum Schutz des Patienten sehr hoch; mit einer wirksamen 442 443
Siehe dazu Kap. 3 C. I. 3. S. o. Kap. 3 C. III. 2.
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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Odysseus-Anweisung könnte der Patient diese Anforderungen zum Schutz vor sich selbst absenken, um so eine Umsetzung seiner Patientenverfügung zu garantieren. Damit würde der Betroffene die Möglichkeiten einer Zwangsbehandlung erweitern und damit verbunden die Durchsetzungskraft des entgegenstehenden natürlichen Willens verringern, der für die Eröffnung des Anwendungsbereichs des § 1906a Abs. 1 BGB notwendig ist. Der Verzicht auf Zulässigkeitsvoraussetzungen der Zwangsbehandlung wäre dann rechtsdogmatisch als antizipierte Einwilligung in die Umsetzung der Patientenverfügung trotz des Fehlens ausgewählter Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Zwangsbehandlung zu qualifizieren. Dazu müsste die Vorschrift zumindest teilweise der Dispositionsbefugnis des Betroffenen unterliegen. Auch hier stellt sich letztlich wieder die Frage, inwieweit eine Selbstbindung im autonomen Zeitpunkt t1 möglich ist, um sich selbst im Zeitpunkt t2 vor einer Handlung (in diesem Kontext die Abwehrreaktion) zu bewahren, die den eigenen Wünschen und Interessen zuwiderläuft. In jüngster Vergangenheit hat sich das BVerfG in zwei Fällen, zumindest am Rande, mit der Möglichkeit der Abdingbarkeit der in § 1906 BGB a. F. festgelegten Voraussetzungen für eine Zwangsbehandlung beschäftigt.444 Während es in der einen Entscheidung um die Möglichkeit des Verzichts auf das Genehmigungserfordernis des Betreuungsgerichts ging445, war in der anderen Entscheidung die Notwendigkeit der Unterbringung als Voraussetzung für eine Zwangsbehandlung Thema der Ausführungen.446 Genaue Beachtung verdient die Frage, inwiefern sich die Ausführungen des BVerfG auf weitere Bereiche übertragen lassen. So wird zunächst in Frage stehen, ob es dem Patienten im Rahmen seiner psychiatrischen Patientenverfügung möglich ist, auf andere verfahrensrechtliche Anforderungen der Zwangsbehandlung zu verzichten. Daneben bedarf es genauerer Betrachtung, ob es dem Betroffenen möglich ist, privatautonom auf die materiell-rechtlichen Voraussetzungen in § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 – 7 BGB einzuwirken. So könnte er beispielsweise auf das nach § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB notwendige Erfordernis eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens verzichten oder auch die nach § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 6 BGB erforderliche Nutzen-Risiken-Abwägung absenken, indem er im Rahmen einer Patientenverfügung festlegt, einer Zwangsbehandlung allein aufgrund einer vermuteten Besserung zuzustimmen, oder wenn er bereit ist, erwartete, starke Nebenwirkungen in Kauf zu nehmen.447 Zudem könnte er auf den Versuch, ihn von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen (§ 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BGB) verzichten. 444
Zwar betreffen die zu besprechenden Fälle die alte Rechtslage, da aber die für die Untersuchung wesentlichen Inhalte des § 1906 BGB a. F. mit den Inhalten in § 1906a BGB übereinstimmen, kann die Rechtsprechung uneingeschränkt übertragen werden. 445 BVerfG, NJW-RR 2016, 193 (193 ff.). 446 BVerfG, NJW 2017, 53 (53 ff.). 447 So Henking/Mittag, in: Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen, S. 88.
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
Aus der Entscheidung des BVerfG hinsichtlich der Notwendigkeit der Unterbringung ergibt sich die Frage, ob es zukünftig dem Patienten möglich sein könnte, im Rahmen seiner psychiatrischen Patientenverfügung die Möglichkeit einer Zwangsbehandlung auch auf ambulante Sachverhalte zu erweitern. Zwar wurde der Entscheidung vom Gesetzgeber schon dahingehend Rechnung getragen, als dass nunmehr für eine zulässige Zwangsbehandlung ausreicht, dass die ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus, in dem die gebotene medizinische Versorgung des Betreuten einschließlich einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist, durchgeführt wird (§ 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 7 BGB) und damit die Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme von der freiheitsentziehenden Unterbringung entkoppelt wurde.448 Doch erscheint es durchaus denkbar, dass die Argumentation des BVerfG auch auf noch mobile, aber ähnlich beeinträchtigte Patienten anwendbar sein muss, sodass sich aus der staatlichen Schutzpflicht auch eine Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts dahingehend, solche Erweiterungen selbst vorzunehmen, ergeben könnte.449 aa) Verzicht auf verfahrensrechtliche Anforderungen der Zwangsbehandlung in einer einwilligenden Patientenverfügung Wie sich gezeigt hat, ist § 1906a Abs. 1 BGB grundsätzlich trotz einer in die Zwangsbehandlung einwilligenden Patientenverfügung anzuwenden. Es stellt sich aber die Frage, ob in einer psychiatrischen Patientenverfügung auf die zur Zwangsbehandlung erforderlichen verfahrensrechtlichen Anforderungen verzichtet werden kann, um einen schnelleren Verfahrensablauf und damit verbunden eine schnelle Wiederherstellung der Entscheidungsfähigkeit zu erzielen. In Betracht kommen hier ein Verzicht auf das Genehmigungserfordernis des Betreuungsgerichts gem. § 1906a Abs. 2 BGB, ein grundsätzlicher Verzicht auf die Notwendigkeit der Einwilligung des Betreuers bzw. Bevollmächtigten sowie ein Verzicht auf das bereits umrissene Verfahren nach den §§ 312 ff. FamFG. (1) Verzicht auf das Genehmigungserfordernis Am 10.06.2015 hatte das BVerfG zu entscheiden, ob im Rahmen einer Vorsorgevollmacht wirksam auf das Genehmigungserfordernis der freiheitsentziehenden Unterbringung des Betreuungsgerichts gem. § 1906 Abs. 5 BGB a. F. verzichtet werden kann.450 Die Betroffene bevollmächtigte in ihrer Vorsorgevollmacht ihren Sohn, sie
448
BT-Drs. 18/11240, S. 2. Vgl. dazu auch schon Schmidt-Recla, MedR 2017, 92 (95); teilweise wird ohnehin für eine gesetzliche Grundlage der ambulanten Zwangsbehandlung plädiert, vgl. nur Dodegge, NJW 2013, 1265 (1270); Grengel/Roth, ZRP 2013, 12 (15); Sachs, JuS 2016, 1147 (1149). 450 BVerfG, NJW-RR 2016, 193 (193 ff.). 449
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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„soweit gesetzlich zulässig, in allen persönlichen Angelegenheiten, auch soweit sie [ihre] Gesundheit betreffen, sowie in allen Vermögens-, Steuer- und sonstigen Rechtsangelegenheiten in jeder denkbaren Hinsicht zu vertreten und Entscheidungen für [sie] und an [ihrer] Stelle ohne Einwilligung des Vormundschaftsgerichts zu treffen und diese auszuführen bzw. zu vollziehen.“451
Weiterhin führte sie darin aus, dass „die Generalvollmacht auch die Befugnis zu Unterbringungsmaßnahmen i. S. d. § 1906 BGB umfasst, insbesondere zu einer Unterbringung, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, zur sonstigen Unterbringung in einer Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung sowie zur Vornahme von sonstigen Freiheitsentziehungsmaßnahmen durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente o. a. auch über einen längeren Zeitraum.“452
Nachdem die Betroffene mehrfach aus einem Stuhl oder ihrem Bett zu Boden gefallen war und sich dabei verletzt hatte, willigte der Bevollmächtigte ein, Gitter am Bett der Betroffenen zu befestigen und diese tagsüber mit einem Beckengurt am Rollstuhl zu fixieren. Diese freiheitsbeschränkenden Maßnahmen wurden daraufhin vom zuständigen Betreuungsgericht genehmigt. Gegen dieses Genehmigungserfordernis wendete sich der Bevollmächtigte mit der Begründung, dass eine betreuungsrechtliche Genehmigung der Einwilligung aufgrund der ihm umfassend erteilten Vollmacht entbehrlich sei und die Betroffene durch die Durchführung des – auch mit Kosten verbundenen – Gerichtsverfahrens in ihrem grundrechtlich gewährleisteten Selbstbestimmungsrecht verletzt werde.453 Dieser Argumentation erteilte das Bundesverfassungsgericht eine Absage: „Der Staat ist durch Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG verpflichtet, sich dort schützend und fördernd vor das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit und die sexuelle Selbstbestimmung des Einzelnen zu stellen und sie vor Eingriffen von Seiten Dritter zu bewahren, wo die Grundrechtsberechtigten selbst nicht (mehr) dazu in der Lage sind.“454
So könne sich gerade bei einwilligungsunfähigen Patienten eine durch Dritte beigebrachte Freiheitsbeschränkung als besonders bedrohlich darstellen: „Insbesondere dieses subjektive Bedrohlichkeitsempfinden wird in der konkreten Situation der Freiheitsbeschränkung nicht dadurch gemindert, dass die Betroffenen im zeitlichen Vorfeld zu einem Zeitpunkt umfassender Vernunft und Geschäftsfähigkeit vorgreiflich in derartige Beschränkungen eingewilligt oder erklärt haben, die Entscheidung über solche Beschränkungen in die alleinige Verantwortung bestimmter Vertrauenspersonen legen zu wollen. Für das subjektive Bedrohlichkeitsempfinden mache es daher keinen Unterschied, ob der Betroffenen aufgrund Veranlassung durch einen staatlich bestellten Betreuer oder den zur Vorsorge Bevollmächtigten Fixierungen zur Beschränkung der Bewegungsfreiheit an451
BVerfG, NJW-RR 2016, 193 (193). BVerfG, NJW-RR 2016, 193 (193). 453 BVerfG, NJW-RR 2016, 193 (193). 454 BVerfG, NJW-RR 2016, 193 (194); so auch schon BVerfG, NJW 1975, 573 (575), NJW 1977, 2255 (2255), NJW 2008, 2409 (2413). 452
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
gelegt werden sollen, weshalb es der Wahrnehmung staatlicher Schutzpflichten entspreche, wenn der Gesetzgeber in § 1906 Abs. 5 BGB auch ein gerichtliches Genehmigungserfordernis anordne.“455
Der zugleich hierin liegende Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen aus Art. 2 Abs. 1 GG sei im Hinblick auf diesen Schutz verhältnismäßig. Zudem sei § 1906 BGB nicht mit § 1904 Abs. 4 BGB zu vergleichen, da bei § 1906 BGB immer der natürliche Wille überwunden werde, was einen stärkeren Grundrechtseingriff darstelle.456 Auch die Bestellung eines Kontrollbetreuers wäre keine mildere Maßnahme, da dies nur einen nachträglichen Schutz für den Betroffenen gewähren würde und so bei einem im Nachhinein festgestellten Vollmachtmissbrauch die durchgeführten Maßnahmen nicht mehr rückgängig gemacht werden könnten.457 Die Möglichkeit, wirksam auf das Genehmigungserfordernis des Betreuungsgerichts gem. § 1906 Abs. 5 BGB a. F. zu verzichten, wurde damit vom BVerfG verneint, sodass es sich bei dieser Zulässigkeitsvoraussetzung der Zwangsbehandlung um zwingendes Recht handelt.458 Diese Argumentation muss letztlich erst recht in Bezug auf das Genehmigungserfordernis für die Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme gem. § 1906a Abs. 2 BGB gelten, da diese einen weit intensiveren Grundrechteingriff in die Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG darstellt, als die bloße freiheitsentziehende Unterbringung.459 (2) Verzicht auf andere verfahrensrechtliche Voraussetzungen Fraglich ist, ob die vom BVerfG festgestellte Unabdingbarkeit des § 1906 Abs. 5 BGB a. F. auch für weitere verfahrensrechtliche Zulässigkeitsvoraussetzungen der Zwangsbehandlung gelten muss. In Betracht käme noch ein grundsätzlicher Verzicht auf die Notwendigkeit der Einwilligung des Betreuers bzw. Bevollmächtigten sowie ein Verzicht auf das bereits umrissene Verfahren460 nach den §§ 312 ff. FamFG. (a) Sinn und Zweck der verfahrensrechtlichen Sicherungen Insgesamt dienen die strengen verfahrensrechtlichen Sicherungen der ärztlichen Zwangsmaßnahme aufgrund des massiven Grundrechteingriffs der Gewährleistung 455 BVerfG, NJW-RR 2016, 193 (194); ähnlich auch schon BVerfG, NJW 2011, 2113 (2114); ebenso Koller, FPPK 2014, 279 (280). 456 BVerfG, NJW-RR 2016, 193 (194). 457 BVerfG, NJW-RR 2016, 193 (194). 458 So auch schon Walter, FamRZ 1999, 685 (691); Lanzrath, MedR 2017, 102 (105 f.); Schwab, in: Münchener Kommentar, § 1906 Rn. 160; Müller, in: Würzburger Notarhandbuch, Teil 3 Kap. 3 Rn. 26; das BVerfG hat sich in diesem Beschluss BGH, NJW-RR 2012, 1281 (1281 f.), der Gegenstand dieser Verfassungsbeschwerde war, angeschlossen. 459 So auch Bauer/Braun, in: HK-BUR, § 1906 Rn. 311. 460 Siehe dazu Kap. 3 C. IV. 2. a).
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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dazu, dass grundsätzlich andere Maßnahmen vorzuziehen sind und die ärztliche Zwangsmaßnahme nur als ultima ratio zur Abwehr einer erheblichen Selbstgefährdung des Betreuten in Betracht kommt.461 Die verfahrensrechtlichen Sicherungen sind dabei zweigliedrig aufgebaut; das Zusammenspiel der Einwilligung des Betreuers und dem Erfordernis der richterlichen Genehmigung dient einer geteilten Verantwortung, um so den Schutz des Betroffenen bestmöglich zu garantieren.462 Insbesondere durch die gerichtliche Kontrolle sollen neben der Gewährleistung einer unabhängigen Prüfung Missbrauchsfälle vermieden und das Selbstbestimmungsrecht sowie die körperliche Unversehrtheit des Patienten geschützt werden.463 Zusätzlich werden die zur Entscheidung berufenen Verantwortlichen dadurch vor einer nachträglich abweichenden strafrechtlichen Beurteilung geschützt.464 (b) Schutzzweck der Normen in Odysseus-Konstellationen Im Einzelfall kann aber die Komplexität des Verfahrens zu massiven Problemen für den Betroffenen führen.465 Dennoch erscheint die Möglichkeit des Verzichts auf verfahrensrechtliche Sicherungen zu weitgehend. So ließe sich hinsichtlich der Beurteilung eines Verzichts auf die Einwilligung des Betreuers gem. § 1906a Abs. 1 BGB zwar wiederum argumentieren, dass es im Betreuungsrecht systemfremd sei, dem Betreuer eine erneute Entscheidung über die Legitimation einer ärztlichen Maßnahme zu überlassen, wenn der Betroffene schon selbst in diese eingewilligt hat.466 So könnte man davon ausgehen, dass eine gerichtliche Überprüfung als Zulässigkeitsvoraussetzung der Zwangsbehandlung ausreichend sei. Letztlich kann dies aber dahinstehen, da ein Verzicht auf die Einwilligung des Betreuers praktisch gesehen den Betroffenen nicht vor seinem antizipierten entgegenstehenden natürlichen Willen schützen kann. Die Einwilligung des Betreuers ist nämlich kein zeitverzögerndes Verfahrenshindernis. Vielmehr ist davon auszugehen, dass gerade die Mitwirkung des Betreuers dazu führt, einen schnelleren Verfahrensablauf und damit verbunden eine schnelle Wiederherstellung der Entscheidungsfähigkeit zu garantieren, da dieser in den meisten Fällen das Verfahren gerade anstößt. 461 Marschner, in: Jürgens Betreuungsrecht, Vor § 312 FamFG Rn. 1; Dodegge, NJW 2013, 1265 (1268). 462 So auch Kemper, in: BGB-HdK, § 1906 Rn. 22: „Der Betreuer darf über diese wichtige Frage nicht allein entscheiden“; Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 326. 463 Dodegge, in: Praxiskommentar Betreuungsrecht, S. 561 Rn. 32r; Dodegge, NJW 2013, 1265 (1268); Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 326. 464 BGHZ 154, 205 (227). 465 Siehe dazu ausführlich Kap. 3 C. IV. 2. 466 Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 296 ff.
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
So plädiert bei Vorliegen einer einwilligenden Patientenverfügung Hornung dafür, als mögliche Alternative zu der Anwendung des § 1906 Abs. 3a BGB a. F.467 i. V. m. §§ 312 ff. FamFG den Rechtsgedanken des § 1904 Abs. 4 BGB anzuwenden.468 Danach ist eine Genehmigung des Betreuungsgerichts bei ärztlichen Maßnahmen nicht erforderlich, wenn zwischen Betreuer und behandelndem Arzt Einvernehmen darüber besteht, dass die Erteilung, die Nichterteilung oder der Widerruf der Einwilligung dem nach § 1901a festgestellten Willen des Betreuten entspricht, § 1904 Abs. 4 BGB. Daneben sei zu erwägen, die Vorschriften des Eilverfahrens nach §§ 331 ff. FamFG stets anzuwenden, wenn eine in die Behandlungsmaßnahme einwilligende Patientenverfügung vorliegt.469 Dies ist aber mit dem BVerfG abzulehnen, da § 1906 BGB (nun § 1906a BGB) nicht mit § 1904 Abs. 4 BGB zu vergleichen ist, da bei § 1906 BGB immer der natürliche Wille überwunden wird, was einen stärkeren Grundrechtseingriff darstellt.470 Letztlich ist es vorzugswürdig, einen Ausgleich zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen und den staatlichen Schutzpflichten in einer Dispositionsmöglichkeit über die materiell-rechtlichen Anforderungen der Zwangsbehandlung zu suchen. Im Ergebnis steht damit das Verfahren nicht zur Disposition des Betroffenen.471 bb) Verzicht auf materiell-rechtliche Anforderungen Fraglich ist damit, ob es dem Betroffenen möglich ist, auf die in § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 – 7 BGB genannten materiellen Voraussetzungen im Rahmen seiner einwilligenden Patientenverfügung einzuwirken472, um die Möglichkeit einer Zwangsbehandlung zu erleichtern und sich dadurch gegen einen der eigenen Vorsorge entgegenstehenden natürlichen Willen zu verwahren. So ergibt sich aus der zwingenden Anwendung der Regelungen über Zwangsbehandlungen, dass gem. § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB die ärztliche Zwangsmaßnahme zum Wohl des Betreuten notwendig sein muss, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden und gem. § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 7 BGB die ärztliche Zwangsmaßnahme nur im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus, in dem die gebotene medizinische Versorgung des 467
Nun § 1906a Abs. 2 BGB. Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 333 ff. 469 Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 332. 470 BVerfG, NJW-RR 2016, 193 (194). 471 So auch Diener, Patientenverfügungen psychisch kranker Personen, S. 100; Henking/ Mittag, in: Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen, S. 88. 472 Vgl. ausführlich dazu, ob mittels einer Patientenverfügung eine Betreuerbestellung ausgeschlossen werden kann Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung im Betreuungsrecht, S. 189 ff.; Diener, Patientenverfügungen psychisch kranker Personen, S. 147 ff. 468
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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Betreuten einschließlich einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist, durchgeführt werden kann. Dies hat zum einen zur Folge, dass ärztliche Maßnahmen, deren erwarteter Effekt diesen Anforderungen an die Erheblichkeit der drohenden Gesundheitsgefahr nicht entspricht, bei Vorliegen eines aktuellen behandlungsablehnenden natürlichen Willens nicht umgesetzt werden. Dies gilt auch für Maßnahmen, die bereits vorab in einer einwilligenden Patientenverfügung positiv angeordnet wurden.473 Daneben ist auch weiterhin nicht die Anordnung einer Maßnahme in einer einwilligenden Patientenverfügung möglich, die trotz eines der Behandlung entgegenstehenden Willens ambulant erfolgen soll. Auch muss gem. § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 6 BGB der zu erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme die zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegen. Diese materiellen-rechtlichen Anforderungen betreffen das „Ob“ einer ärztlichen Zwangsmaßnahme. Daneben werden in § 1906a Abs. 1 BGB noch weitere Zulässigkeitsvoraussetzungen genannt, die das „Wie“ der ärztlichen Zwangsmaßnahme betreffen: So muss gem. § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BGB ernsthaft, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne Ausübung unzulässigen Drucks, versucht werden, den Betreuten von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen, und der drohende erhebliche gesundheitliche Schaden darf durch keine andere den Betreuten weniger belastende Maßnahme abgewendet werden können, § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 5 BGB. Anders als bei der Entscheidung des BVerfG vom 10.06.2015474 handelt es sich dabei jeweils um materiell-rechtliche Anforderungen und nicht um eine verfahrensrechtliche Absicherung, wie das Genehmigungserfordernis durch das Betreuungsgericht. Auch würde ein Verzicht auf ausgewählte materiell-rechtliche Anforderungen nicht zu einem vollständigen Verzicht auf zu seinem Schutze bestehende Rechte führen, sondern lediglich zu einer Beschneidung des Beurteilungsumfangs der zur Entscheidung berufenen Personen. Damit der Betroffene jeweils auf diese Schutzvorschriften verzichten kann, müsste es sich aber um dispositives Recht handeln. (1) Verzicht auf Zulässigkeitsvoraussetzungen, die das „Ob“ betreffen Letztlich muss es zu einer Abwägung zwischen dem Recht des Betroffenen auf Behandlung und seinem Recht auf Schutz vor Willkür kommen.475 Dies ist hinsichtlich der Gefährdungslage des Betroffenen zu beurteilen, die bei einem Verzicht auf die zu seinem Schutze bestehenden Rechte bestehen würde.
473 474 475
Siehe dazu auch Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 301 f. BVerfG, NJW-RR 2016, 193 (193). Pollmächer, in: Gewalt und Psyche, S. 183.
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
(a) Erfordernis einer erheblichen Gesundheitsgefahr gem. § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB Insbesondere bei Krankheitsbildern, in denen in Phasen der Entscheidungsunfähigkeit regelmäßig verbunden eine Behandlungsuneinsichtigkeit vorliegt, kann eine Zwangsbehandlung erst erfolgen, wenn die Gesundheitsgefahr den Erheblichkeitsanforderungen des § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB entspricht.476 Wenn nun aber der Betroffene im Rahmen einer Odysseus-Anweisung die Umsetzung der Patientenverfügung trotz eines entgegenstehenden natürlichen Willens fordert, könnte er diese Erheblichkeitsschwelle selbst vordefinieren. Eine für die Einwilligung des Betreuers notwendige ausreichende Gesundheitsgefahr könnte er so nach eigenen Maßstäben antizipiert festlegen und damit die Möglichkeit einer Zwangsbehandlung erweitern. Dies würde sich insbesondere bei Krankheitsbildern anbieten, bei denen eine ärztliche Zwangsbehandlung in einem frühen Stadium ein Fortschreiten der Symptome leicht verhindern könnte. Nach einer ausführlichen ärztlichen Aufklärung erscheint eine solche Vorgehensweise sinnvoll. Zumal der Patient diese Entscheidung selbst trifft und es nicht um eine reine Fremdbestimmung geht, vor der die strengen Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Zwangsbehandlung gerade schützen sollen. Das Recht des Betroffenen auf eine frühzeitige Behandlung überwiegt dabei das Recht des Patienten auf Schutz vor Willkür. Dasselbe gilt im Ergebnis für die gem. § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 6 BGB erforderliche Abwägung, ob der zu erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme die zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegt.477 (b) Erfordernis eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus Fraglich ist, ob der Betroffene mittels einer Odysseus-Anweisung auf das Erfordernis eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus gem. § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 7 BGB wirksam verzichten kann. Zwar ließe sich argumentieren, dass insbesondere im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eine ambulante Zwangsmaßnahme möglich sein muss, da dadurch der mit dem stationären Aufenthalt verbundene zusätzliche Grundrechtseingriff vermieden werden könnte. Eine ambulante Zwangsbehandlung sei demnach ein milderes Mittel als die stationäre Zwangsbehandlung. Doch auch mit dem neugefassten § 1906a Abs. 1 BGB und trotz der Kritik des BVerfG an der vormals bestehenden Koppelung der Zwangsbehandlung an das Erfordernis einer Unterbringung hat sich der Gesetzgeber dazu entschieden, eine ambulante Zwangsbehandlung gerade nicht zuzulassen.478 Vielmehr wurde mit dem 476 477
S. 88. 478
Ähnlich auch Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 302. Ebenso dafür Henking/Mittag, in: Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen, BT-Drs. 18/11240, S. 20.
C. Die Odysseus-Anweisung im Rahmen einer Patientenverfügung
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Erfordernis des stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus gem. § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 7 BGB eine Art „Mittelweg“ gewählt. Bei § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 7 BGB handelt es sich demnach um zwingendes Recht, das einem antizipierten Verzicht nicht zugänglich ist.479 (2) Verzicht auf Zulässigkeitsvoraussetzungen, die das „Wie“ betreffen Fraglich ist schließlich, ob es dem Betroffenen möglich ist, über Zulässigkeitsvoraussetzungen der Zwangsbehandlung, die das „Wie“ der Ausführung betreffen, wirksam zu disponieren. So wäre es denkbar, dass der Verfügende innerhalb einer Patientenverfügung auf den Versuch verzichtet, ihn von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen, § 1906 Abs. 1 Nr. 4 BGB, oder auf die Anforderung, dass der drohende erhebliche gesundheitliche Schaden durch keine andere den Betreuten weniger belastende Maßnahme abgewendet werden kann, § 1906a Abs. 1 S. 1 Nr. 5 BGB. Dies ist zumindest unter dem Gesichtspunkt des „Schutzes vor dem antizipierten natürlichen Willen“ zu verneinen, da diese Voraussetzungen nicht verhindern, dass es aufgrund des natürlichen Willens nicht zu einer Behandlung kommt, sondern nur das Verfahren der Behandlung gestalten. Die Vorschriften dienen dem Recht des Patienten auf Schutz vor Willkür, was das Recht des Betroffenen auf eine frühzeitige Behandlung aufgrund der marginalen Verzögerung überwiegt.480 d) Zwischenergebnis Im Ergebnis ist damit die Anordnung einer Unwiderruflichkeit mittels einer Odysseus-Anweisung unwirksam. Der Patient würde so jede weitere Einwirkungsmöglichkeit auf künftige Behandlungsentscheidungen verlieren und sich selbst damit seines Selbstbestimmungsrechts berauben, was gegen das Verbot der Selbstentmündigung verstoßen würde. Zulässig ist es dagegen, mit Hilfe einer Odysseus-Anweisung die Voraussetzungen, die für eine Aufhebung der Patientenverfügung vorliegen müssen, zu erhöhen. Zwar kann nicht auf Formfreiheit des Widerrufs verzichten werden, doch kann wirksam angeordnet werden (falls man der sog. Widerrufslösung folgt), dass für den Widerruf der Patientenverfügung, ebenso wie bei deren Errichtung, Einwilligungsfähigkeit vorliegen muss. Daneben kann der Betroffene im Rahmen einer Odysseus-Anweisung das Ergebnis der Aktualisierungsentscheidung des Betreuers nach § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB, zumindest im Hinblick auf die Beachtlichkeit eines antizipierten natürlichen Willens, bereits vorab festlegen. Im Falle einer einwilligenden Patientenverfügung ist es zwar nicht 479
Siehe zur Kritik bereits Kap. 3 C. IV. 2. b) bb). Hornung, Die psychiatrische Patientenverfügung, S. 340; für die Möglichkeit des Verzichts auf den Versuch, ihn von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen, Bienwald, in: Betreuungsrecht, § 1901a Rn. 36. 480
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
möglich, auf die verfahrensrechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Zwangsbehandlung gem. § 1901a BGB zu verzichten, doch kann auf materiellrechtliche Zulässigkeitsvoraussetzungen, wie das Erfordernis einer erheblichen Gesundheitsgefahr, wirksam eingewirkt werden.
VI. Der Widerruf der Odysseus-Anweisung Problematisch ist daneben noch die Tatsache, dass der Verfasser einer OdysseusAnweisung seine Meinung über diese an sich ändern kann und es zur Aufhebung der Odysseus-Anweisung als antizipierter Einwilligung nicht mehr als eines Widerrufs bedarf.481 Auch hier tritt wieder ein Konflikt der Privatautonomie im Zeitpunkt t1 (Erstellung der Odysseus-Anweisung) und im Zeitpunkt t2 (Widerruf der OdysseusAnweisung) zu Tage. Wie bereits ausführlich erörtert, sprechen sowohl gute Gründe für eine Bevorzugung des Zeitpunktes t1 als auch des Zeitpunktes t2. Läge schon in jeder der Odysseus-Anweisung entgegenstehenden Willensäußerung ein Widerruf der Odysseus-Anweisung, so bliebe der im Zeitpunkt t1 geäußerte Wille völlig unbeachtlich. Ließe man dagegen den Widerruf der Odysseus-Anweisung nicht zu, hätte spiegelbildlich die Privatautonomie im Zeitpunkt t2 keinerlei Bedeutung mehr. Davon abgesehen ist es, wie bei einer Einwilligung, die sich auf die Bereiche Gesundheit und Persönlichkeitsrecht bezieht, ohnehin nicht möglich, die OdysseusAnweisung an sich unwiderruflich auszugestalten.482 Es muss also ein Ausgleich der widerstreitenden Interessen in den Zeitpunkten t1 und t2 gefunden werden. Ein solcher Ausgleich muss in den Voraussetzungen gefunden werden, die für einen wirksamen Widerruf der Odysseus-Anweisung vorliegen müssen. So könnte man erwägen, für einen wirksamen Widerruf der Odysseus-Anweisung die Einhaltung einer Schriftform zu fordern. Da die Odysseus-Anweisung ohnehin in der Regel innerhalb einer Patientenverfügung auftaucht, wird sie aufgrund des Schriftformerfordernisses für die Erstellung der Patientenverfügung gem. § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB ebenso schriftlich abgefasst. Allerdings wäre dann über den Umweg der Odysseus-Anweisung die Patientenverfügung an sich nur schriftlich widerruflich, was aufgrund der fehlenden Disponibilität der Formfreiheit des Widerrufs der Patientenverfügung nicht möglich ist.483 Letztlich erscheint es nur sinnvoll, einen Ausgleich über den zum Widerruf erforderlichen Grat an Entscheidungsfähigkeit zu erreichen. Im Gegensatz zur Patientenverfügung an sich kann das Vorliegen eines entgegenstehenden natürlichen Willens die Umsetzung der Odysseus-Anweisung nicht 481 482 483
Vgl. nur §§ 630d Abs. 3, 1901a Abs. 1 S. 3 BGB. Siehe dazu ausführlich oben Kap. 3 C. V. 2. a) aa). Siehe dazu Kap. 3 C. V. 2. b) aa).
D. Zusammenfassung Kapitel 3
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verhindern. Denn sonst wäre die Odysseus-Anweisung völlig überflüssig, da man in jedem der Patientenverfügung entgegengesetztem Willen zugleich auch einen Widerruf der Odysseus-Anweisung sehen müsste. Vielmehr ist für einen wirksamen Widerruf zumindest Einwilligungsfähigkeit zu verlangen. Hierin liegt der Ausgleich der Interessenslagen der Zeitpunkte t1 und t2. Ist es das Hauptargument für den Widerruf mittels eines natürlichen Willens von Patientenverfügungen, dass der Betroffene an diesen meist nicht gedacht hat, lässt sich das Vorliegen von Entscheidungsfähigkeit für einen wirksamen Widerruf der OdysseusAnweisung damit begründen, dass der Verfasser diesen natürlichen Willen gerade vermeiden wollte. Denn nur so kann die Odysseus-Anweisung ihren Zweck erfüllen und den Einzelnen vor sich selbst schützen.
D. Zusammenfassung Kapitel 3 Im Ergebnis ist eine Odysseus-Anweisung eine einseitige paternalistische Maßnahme. Juristisch ist sie als eine antizipierte Einwilligung zu qualifizieren, die darauf gerichtet ist, eine andere Person dazu zu legitimieren oder zu verpflichten, paternalistische Handlungen an ihr vorzunehmen, um antizipierte selbstschädigende Verhaltensweisen zur Förderung des eigenen Wohls zu verhindern. Im Rahmen von Patientenverfügungen wird sie eingesetzt um sicherzustellen, dass deren Festsetzungen auch dann umgesetzt werden, wenn in der aktuellen Behandlungssituation ein entgegenstehender natürlicher Wille des Patienten vorliegt. Ein solcher ist nämlich sowohl bei einer untersagenden finalen Patientenverfügung als auch bei einer einwilligenden psychiatrischen Patientenverfügung grundsätzlich beachtlich. Etwas anderes gilt aber dann, wenn der Patient gerade mit der Willensänderung rechnete und sich keine wesentlichen, der Entscheidung zugrunde liegenden Umstände geändert haben. Dann ist es zulässig, im Rahmen einer Odysseus-Anweisung bestimmte Voraussetzungen, die für eine Aufhebung der Patientenverfügungen vorliegen müssen, so zu erhöhen, dass ein natürlicher Wille die Festlegungen in einer Patientenverfügung nicht mehr aufzuheben vermag. So kann der Betroffene im Rahmen einer Odysseus-Anweisung das Ergebnis der Aktualisierungsentscheidung des Betreuers nach § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB im Hinblick auf die Beachtlichkeit eines antizipierten natürlichen Willens bereits vorab festlegen. Nicht möglich ist es hingegen, die Patientenverfügung unwiderruflich auszugestalten oder auf die Formfreiheit des Widerrufs der Patientenverfügung zu verzichten. Im Hinblick auf psychiatrische Patientenverfügungen kann zwar nicht auf die verfahrensrechtlichen Zulässigkeitvoraussetzungen einer Zwangsbehandlung gem. § 1901a BGB verzichtet werden, eine Einwirkung auf materiell-rechtliche Zulässigkeitsvoraussetzungen ist hingegen möglich.
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Kap. 3: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen
Aufgrund der Rechtsunsicherheit, die mit dem Umgang eines entgegenstehenden natürlichen Willens einhergeht, ist es Betroffenen zu empfehlen, der Patientenverfügung eine Odysseus-Anweisung hinzuzufügen. Nur auf diese Weise kann der Betroffene sicherstellen, seine wohlbedachte Vorsorge im späteren Zustand der Entscheidungsunfähigkeit nicht zu unterlaufen. Ein rechtsgeschäftlicher Selbstpaternalismus kann insofern den Betroffenen vor ungerechtfertigten paternalistischen Maßnahmen schützen.
Kapitel 4
Der rechtsgeschäftliche Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Verträge A. Vorbemerkung Wenn fünfmal „Rot“ gezogen wurde, muss nun auf jeden Fall „Schwarz“ an der Reihe sein. Kommt man bei einem Besuch in einer Spielbank1 an den Roulettetisch, sieht man immer einige Spieler, die glauben, anhand der bereits gezogenen Zahlen ein System zu erkennen, mit dessen Hilfe sie die nächsten Zahlen vorhersagen können, um so einen dauerhaften Gewinn zu garantieren. Dass es nicht möglich ist, in zufälligen Zahlenreihen Muster zu erkennen, wird dabei zumindest vom Spieler komplett ausgeblendet.2 So wurde nicht nur festgestellt, dass der Mensch systematisch davon ausgeht, mehr Glück als der Durchschnitt zu haben3, er glaubt auch häufig, den Zufall kontrollieren zu können.4 Er geht verschwenderisch mit zufällig gewonnenem Geld um5 und ist bereit, nach Verlusten höhere Risiken einzugehen, um seine Verluste wieder „hereinzuholen“.6 So werden sämtliche Anzeichen, die eigentlich zum Aufhören drängen sollten, systematisch ignoriert. Genau hierin liegt die Verlockung, vor allem aber die Gefahr des Glücksspiels. Diese Gefahr hat auch der Gesetzgeber erkannt und vielfältige Regulierungen im Glücksspielrecht getroffen, die dem Schutz des Spielers dienen. Diese Intention verdeutlicht auch ein Blick auf § 1 Glücksspielstaatsvertrag (GlüStV), wonach gleichrangige Ziele des Staatsvertrages unter anderem sind, das Entstehen von Glücksspielsucht und Wettsucht zu verhindern, die Voraussetzungen für eine wirksame Suchtbekämpfung zu schaffen sowie den Spielerschutz zu gewährleisten, § 1 Nr. 1, 3 GlüStV. Die konsequente Verfolgung dieser Ziele ist dabei gerade die Rechtfertigung für die restriktive Glücksspielgesetzgebung in Deutschland.7 So 1
Die Begriffe Spielbank und Spielkasino werden im Folgenden in Abgrenzung zur Spielhalle synonym verwendet. 2 „Clustering-Illusion“, vgl. dazu die Studie von Gilovich/Vallone/Tversky, in: Cognitive Psychology, S. 295 ff. 3 „Optimism bias“, Owen/O’Sullivan, Dial Phil Ment Neuro Sci 2015, 11 (11 ff.). 4 „Illusion of control“, Langer, Journal of Personality and Social Psychology 1975, 311 (311 ff.). 5 „House money effect“, Thaler/Johnson, Management Science 1990, 643 (643 ff.). 6 „Loss aversion“, Kahneman/Tversky, Econometrica 1979, 263 (263 ff.). 7 Peters, ZfWG 2007, 321 (321).
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Kap. 4: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Verträge
lagen die Umsätze auf dem legalen deutschen Glücksspielmarkt im Jahr 2015 bei 40,3 Mrd. Euro.8 Während die meisten Spieler daran mit Spaß und Verantwortung teilnahmen, verursachte das Spiel 2015 bei 0,79 % der Bevölkerung Schwierigkeiten.9 So weisen ca. 241.000 Menschen in Deutschland ein problematisches und rund 215.000 Personen ein pathologisches Glücksspielverhalten auf. Um sich selbst vor den Folgen ihrer Spielleidenschaft zu bewahren, ergreifen einige von den Gefahren des Glücksspiels betroffene Personen Vorsorgemaßnahmen, die sie davor schützen sollen, erneut der Versuchung des Glücksspiels zu unterliegen. Wichtigstes Schutzinstrument ist dabei die Spielersperre10, deren gesetzliche Grundlage sich in § 8 GlüStV11 findet. Gem. § 8 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 GlüStV sperren Spielbanken und Veranstalter von Sportwetten und Lotterien mit besonderem Gefährdungspotential Personen, die dies beantragen (Selbstsperre). Der Zweck einer solchen Selbstsperre liegt darin, den Glücksspieler vor den aufgrund seiner Spielsucht befürchteten wirtschaftlichen Schäden zu bewahren.12 Damit wird die Selbstsperre ein Instrument zum rechtsgeschäftlichem Schutz vor sich selbst, um sich vor in Zukunft liegenden Handlungen und Entscheidungen zu schützen, die im Zustand mangelhafter Willensbildung getätigt werden.13 Neben der Rechtsnatur der Selbstsperre, die trotz ihrer gesetzlichen Kodifikation umstritten ist, sind insbesondere die Rechtsfolgen der Selbstsperre dogmatisch nur schwer zu fassen. Fraglich ist, ob sich die Rechtswirkungen der Selbstsperre in bestimmten Kontrollpflichten seitens der Spielbank erschöpfen. So besteht nämlich die Möglichkeit, dass durch die Selbstsperre die Spielverträge, die der gesperrte Spieler schließt, der trotz der Eigensperre die Möglichkeit erhält, am Spiel in einem Kasino teilzuhaben, rückwirkend oder von vornherein ihre Wirksamkeit verlieren sollen. Folgert man dies wie das OLG Hamm und das KG unmittelbar aus der privatautonomen Parteivereinbarung14, kommt man auch in diesem Themenbereich zu der der Untersuchung zu Grunde liegenden Frage, inwieweit eine Selbstbindung in einem autonomen Zeitpunkt t1 möglich ist, um sich selbst in einem späteren Zeit8 Pressemitteilung DHS Jahrbuch Sucht 2017, S. 4, abrufbar unter http://www.dhs.de/filead min/user_upload/pdf/news/2017-04-11_PM_daten_und_fakten_oS.pdf (zuletzt aufgerufen am 11.10.2017). 9 Pressemitteilung DHS Jahrbuch Sucht 2017, S. 4, abrufbar unter http://www.dhs.de/filead min/user_upload/pdf/news/2017-04-11_PM_daten_und_fakten_oS.pdf (zuletzt aufgerufen am 11.10.2017). 10 Die Begriffe Spielersperre, Selbstsperre und Eigensperre werden in Abgrenzung zur Fremdsperre im Folgenden synonym verwendet. 11 Alle Normen des Glücksspielstaatsvertrages sind jeweils in Verbindung mit den Ausführungsgesetzen der Bundesländer zu sehen. 12 BGH, NJW 2006, 362 (363). 13 Ähnlich auch Lanzrath, Patientenverfügung und Demenz, S. 188. 14 OLG Hamm, NJW-RR 2003, 971 (972); im Anschluss daran KG, NJW-RR 2003, 1359 (1359); s. a. Grunsky, EWiR 1996, 11 (12): „Wenn § 138 BGB (bei Kreditverträgen) zum Schutz des Spielers vor sich selbst eingesetzt wird (…), dann liegt es nahe, daß ein entsprechender Schutz auch vertraglich vereinbart werden kann.“
A. Vorbemerkung
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punkt t2 vor einer Handlung zu bewahren, die den eigenen Wünschen und Interessen zuwiderläuft. Das Ziel, Schutz vor dem künftigen Selbst, ist aber grundsätzlich in allen Bereichen denkbar, in denen über einen Kontrollverlust aufgrund suchtbedingter fehlender Geschäftsfähigkeit diskutiert wird.15 Gerade dann, wenn die Geschäftsunfähigkeit erst bewiesen werden müsste, bieten sich solche Verträge an, um Schadensersatzansprüche zu ermöglichen und Sicherheit im Rechtsverkehr zu schaffen. Man denke an Kontrollverlust durch Kaufsucht vor allem im Internet, Online-Spiele, Online-Sex, Online-Wahrsagerei etc. Aber auch sog. Selbstlimitierungsvereinbarungen, z. B. im Glücksspielbereich das Festlegen eines Einzahlungs- oder Verlustlimits16, können als Selbstschutzverträge interpretiert werden, vor allem bezogen auf die Wirksamkeit der Verträge bei Überschreitung des Limits. Zwar drängt sich die Frage auf, warum die Anbieter solcher Dienstleistungen Selbstschutzverträge mit ihren besten Kunden abschließen sollten, doch zeigt gerade das Beispiel des Selbstsperrvertrages, dass in Zeiten des wachsenden Verbraucherschutzes Kontrahierungszwänge zum Vertragsschluss verpflichten können. Zudem ist nicht auszuschließen, dass ein seriöser Anbieter ein Interesse daran haben könnte, von den Kontrollverlusten seiner Kunden gerade nicht zu profitieren. Fraglich ist allerdings, inwieweit die Ausführungen zum Spielsperrvertrag auch auf andere Bereiche übertragen werden können. So betonte schon der BGH, dass die Privatautonomie im Verhältnis von Spielbank und Spieler von vornherein eine grundsätzlich andere als die Privatautonomie im klassischen Rechtsverkehr sei.17 So seien die Eigenheiten des Glücksspiels und die limitierte Existenzberechtigung der Spielbank der Grund dafür, warum es dem Kasinobetreiber zugemutet werde, sich „paternalistisch“ vor den Spielwunsch seiner besten Kunden zu stellen.18 Im Folgenden wird nach einer ersten zivilrechtlichen Einordnung des OdysseusVertrages eingehend der sog. Spielsperrvertrag als einziger bislang tatsächlich genutzter Odysseus-Vertrag analysiert, um danach die Frage beantworten zu können, inwieweit der Odysseus-Vertrag auch in anderen Bereichen ein Instrument antizipierter Selbstbestimmung zum rechtsgeschäftlichen Schutz vor sich selbst darstellen kann.
15 16 17 18
Schimmel, NJW 2006, 985 (960). Vgl. § 4 Abs. 5 Nr. 2 GlüStV. BGH, NJW 2012, 48 (49). BGH, NJW 2012, 48 (49).
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Kap. 4: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Verträge
B. Der Odysseus-Vertrag als Instrument antizipierter Selbstbestimmung I. Begriff Der Begriff des Odysseus-Vertrages wird terminologisch uneinheitlich verwendet. Insbesondere in der Medizinethik wird der Begriff des Odysseus-Vertrages häufig synonym zur Odysseus-Anweisung verwandt.19 Im Gegensatz zur Odysseus-Anweisung zeichnet sich der Odysseus-Vertrag durch seine zweiseitige Bindungswirkung aus. Nicht nur diejenige Partei, die sich vor sich selbst schützen will, bindet sich selbst; vielmehr verpflichtet sich auch die andere Partei dazu, diesem Schutzzweck zu dienen. So wollen bei einem OdysseusVertrag beide Parteien zum Zeitpunkt der Vereinbarung (t1) sicherstellen, dass ihr gegenwärtiger Wille (w1) zu einem zukünftigen Zeitpunkt (t2) autoritativ bleibt, selbst dann, wenn beide oder auch nur eine Partei zum Zeitpunkt t2 einen anderen Willen (w2) äußert. Zweck eines Odysseus-Vertrags ist es, sicherzustellen, dass künftigen selbstschädigenden rechtsgeschäftlichen Handlungen vorab die rechtliche Wirksamkeit versagt wird bzw. die Rechtsfolgen derartiger Handlungen vorab für unbeachtlich erklärt werden. Wie bei der Odysseus-Anweisung wird im Zeitpunkt t1 eine autonome Entscheidung getroffen, während sich der zu schützende Betroffene im Zeitpunkt t2 meist20 im Zustand einer Entscheidungsunfähigkeit bzw. einer zweifelhaften Entscheidungsfähigkeit befindet. Anders als bei der Odysseus-Anweisung kommt es den Betroffenen aber häufig gerade darauf an, sich auch oberhalb der Schwelle der Entscheidungsunfähigkeit zu binden, um gerade Zweifel über das Vorliegen der Entscheidungsfähigkeit zu beseitigen.
II. Rechtsnatur Im Folgenden soll eine erste juristische Qualifikation des Odysseus-Vertrages unternommen werden. In Betracht kommt die Einordnung eines Odysseus-Vertrages als ein reines Gefälligkeitsverhältnis, als ein Gefälligkeitsverhältnis mit rechtsgeschäftsähnlichem Charakter sowie ein gegenseitig verpflichtender schuldrechtlicher Vertrag.
19
Aicher, in: Grenzen der Selbstbestimmung in der Medizin, S. 287. So soll sich der Odysseus-Vertrag auch auf Situationen beziehen, in denen der Verfasser – wenn auch nur minimal – kompetent bleibt; vgl. zur der Situation der Odysseus-Anweisung Kap. 3 B. I. 20
B. Der Odysseus-Vertrag als Instrument antizipierter Selbstbestimmung
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Gefälligkeitsverhältnisse (des täglichen Lebens), die auf nichtrechtsgeschäftlicher Grundlage beruhen, sind gesetzlich nicht geregelt. Außer den allgemeinen deliktischen Pflichten bestehen zwischen den Parteien keinerlei vertragliche Hauptleistungspflichten oder andere Schutz- und Nebenpflichten, die aus einem Sonderrechtsverhältnis resultieren.21 Daneben wird zwar in einem Gefälligkeitsverhältnis mit rechtsgeschäftsähnlichem Charakter ebenfalls nicht auf Erfüllung gehaftet, es kommen aber zumindest Sekundäransprüche, wie Schadensersatz bei Leistungsstörungen, in Betracht.22 Beim Abschluss eines gegenseitigen schuldrechtlichen Vertrages werden hingegen gegenseitige vertragliche Hauptleistungspflichten sowie andere Schutz- und Nebenpflichten begründet.23 Abgrenzungskriterium ist dabei das Vorliegen eines Rechtbindungswillens. Dessen Vorliegen beurteilt sich danach, ob dem Handeln aus Sicht eines objektiven Beobachters nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Umstände des Einzelfalls und die Verkehrssitte ein rechtlicher Bindungswille zugrunde gelegt werden kann.24 Indizien für die Annahme eines Rechtbindungswillens sind die Art und der Zweck der relevanten Handlung, wirtschaftliche und rechtliche Bedeutung der Angelegenheit, das Haftungsrisiko, die Umstände der Erbringung der Handlung sowie die dabei bestehende Interessenlage der Parteien.25 Die Bejahung eines Rechtbindungswillens auf Seiten derjenigen Partei, die vor sich selbst geschützt werden soll, wird regelmäßig unproblematisch sein. Die Begründung eines schuldrechtlichen Vertrages hat für diese Partei nämlich fast ausschließlich wirtschaftliche Vorteile, da entweder durch den Abschluss eines Vertrages überhaupt erst Schadensersatzverpflichtungen begründet werden oder – soweit ein deliktischer Haftungstatbestand vorliegt – ein vertraglicher Schadensersatzanspruch regelmäßig günstiger für den Betroffenen sein wird. Zum einen gilt bei einem vertraglichen Schadensersatzanspruch gem. § 280 Abs. 1 S. 2 BGB eine Beweislastumkehr hinsichtlich des Verschuldenserfordernisses, da es vermutet wird. Zum anderen wird nach § 278 BGB das Verschulden von Erfüllungsgehilfen der Vertragspartei zugerechnet, während im Rahmen von § 831 Abs. 1 S. 2 BGB eine 21
Spallino, VersR 2016, 1224 (1225); Schäfer, in: Münchener Kommentar, § 662 Rn. 23 ff.; Wolf/Neuner, BGB AT, S. 331 Rn. 17 f.; Mansel, in: Jauernig BGB, § 241 Rn. 24; Grüneberg, in: Palandt BGB, Einl. v § 241 Rn. 8; BGH, NJW 1968, 1874 (1874), NJW 1992, 498 (498). 22 Mansel, in: Jauernig BGB, § 241 Rn. 25; Wolf/Neuner, BGB AT, S. 332 f. Rn. 21. 23 Mansel, in: Jauernig BGB, § 241 Rn. 1 ff.; Bachmann, in: Münchener Kommentar, § 241 Rn. 3 ff. 24 Spallino, VersR 2016, 1224 (1225); Schäfer, in: Münchener Kommentar, § 662 Rn. 23 ff.; Mansel, in: Jauernig BGB, § 241 Rn. 24; Wolf/Neuner, BGB AT, S. 331 Rn. 17 f.; Grüneberg, in: Palandt BGB, Einl. v § 241 Rn. 8; BGH, NJW 1968, 1874 (1874), NJW 1992, 498 (498), NJW 1984, 1533 (1536). 25 Mansel, in: Jauernig BGB, § 241 Rn. 24; Schäfer, in: Münchener Kommentar, § 662 Rn. 23 ff.; Wolf/Neuner, BGB AT, S. 331 f. Rn. 19.
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Kap. 4: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Verträge
Exkulpationsmöglichkeit besteht, wenn der Vertragspartner darlegt und nachweist, dass ihn kein Auswahl- oder Überwachungsverschulden trifft. Zwar bestehen bei Vorliegen eines gegenseitigen Odysseus-Vertrages grundsätzlich gegenseitige Rechte und Pflichten, sodass auch der geschützten Partei ein Haftungsrisiko drohen könnte, doch wird dieses wohl in der Regel wegen § 254 Abs. 1 BGB entfallen. Die Begründung eines Rechtbindungswillens auf Seiten der Partei, die sich bereit erklärt, sich dem Schutz der anderen Partei zu verpflichten, bereitet dagegen größere Schwierigkeiten. Fraglich ist nämlich, wieso sich jemand verpflichten sollte, sich paternalistisch vor einen anderen zu stellen, insbesondere dann, wenn man von der Unentgeltlichkeit eines Odysseus-Vertrages ausgeht. Die Unentgeltlichkeit ist nämlich vielmehr ein Anhaltspunkt für die Begründung eines bloßen Gefälligkeitsverhältnisses.26 Zwar ist die Begründung eines Rechtbindungswillens wohl letztlich nur bei Vorliegen eines Kontrahierungszwanges realistisch vorstellbar, doch wird sich zeigen, dass der Odysseus-Vertrag zumindest ein Vertragsmodell wäre, dem gerade in Zeiten wachsenden Verbraucherschutzes durchaus seine Berechtigung zukommen könnte. Letztlich soll auch hier zwischen echten und unechten Odysseus-Verträgen differenziert werden. Während echte Odysseus-Verträge schuldrechtliche Wirkung entfalten, sind unechte Odysseus-Verträge keine Verträge im rechtlichen Sinne, da bei ihnen der Rechtbindungswille fehlt, zumindest auf Seiten einer der beteiligten Parteien. Abzugrenzen von (echten) Odysseus-Verträgen sind Wettbewerbsverbote. Im Gegensatz zum Odysseus-Vertrag, bei dem die Parteien gerade vereinbaren, nicht mehr untereinander rechtsgeschäftlich zu kontrahieren, begründen Wettbewerbsverbote die vertragliche Verpflichtung, Verträge mit Dritten zu unterlassen.27 Abzugrenzen sind Odysseus-Verträge auch von sog. „stand still agreements“, bei denen sich der Erwerbsinteressent verpflichtet, seine Beteiligung an der Zielgesellschaft nicht weiter zu erhöhen.28 Auch ist der Odysseus-Vertrag nicht als Erlassvertrag gem. § 397 BGB zu qualifizieren. Ein solcher würde nämlich voraussetzen, dass künftig tatsächlich Forderungen entstehen, denn nur dann werden sie als Rechte dem Erlass als Verfügungsgeschäft zugänglich.29 Ob nach Abschluss eines Odysseus-Vertrags aber überhaupt noch Forderungen entstehen, ist gerade fraglich.
26 Dies kann aber nicht ein ausschlaggebendes Kriterium sein, da es auch unentgeltliche Verträge (Gefälligkeitsverträge) gibt, Wolf/Neuner, BGB AT, S. 331 Rn. 19. 27 Vgl. allgemein zu den Grenzen vertraglicher Wettbewerbsverbote Bernhard, NJW 2013, 2785 (2785 ff.). 28 Schlitt, in: Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, § 33 WpÜG Rn. 116. 29 So Schulze, in: FS Jayme, S. 1581, bei der Abgrenzung des Spielsperrvertrages zum Erlassvertrag.
B. Der Odysseus-Vertrag als Instrument antizipierter Selbstbestimmung
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III. Inhalt und Wirksamkeitsvoraussetzungen eines Odysseus-Vertrages Festgestellt wurde, dass bei einem Odysseus-Vertrag beide Parteien zum Zeitpunkt der Vereinbarung (t1) sicherstellen wollen, dass ihr gegenwärtiger Wille (w1) zu einem zukünftigen Zeitpunkt (t2) autoritativ bleibt, selbst dann, wenn beide oder auch nur eine Partei zum Zeitpunkt t2 einen anderen Willen (w2) äußert. Um dieses Ziel zu erreichen, sind zwei Regelungsvarianten eines OdysseusVertrages denkbar: Entweder ist es zur Erreichung dieses Zieles ausreichend, wenn durch den Odysseus-Vertrag noch näher zu bestimmende Schutz- und Kontrollpflichten einer der Parteien begründet werden, die sicherstellen sollen, dass der Vertragszweck, der Schutz einer der Parteien, erreicht wird. Zum anderen erscheint es möglich, neben derartigen Schutz- und Kontrollpflichten durch den Odysseus-Vertrag künftigen (rechtsgeschäftlichen) Handlungen vorab die rechtliche Wirksamkeit zu nehmen. Dann wäre der Odysseus-Vertrag als eine Art antizipierter Aufhebungsvertrag zu qualifizieren.30 Während die erste Variante grundsätzlich keinen Bedenken ausgesetzt ist, stellen sich bei der zweiten Variante grundlegende Probleme hinsichtlich der Grenzen der Privatautonomie. Können die Vertragsparteien rechtsgeschäftlich eine Verpflichtungsbeschränkung begründen?31 Entscheidend wird hierbei letztlich immer eine umfassende Abwägung aller Umstände des konkreten Einzelfalls sein. Wie schon bei der Odysseus-Anweisung liegt der Zweck des Odysseus-Vertrages im Schutz vor sich selbst durch die Verhinderung zukünftiger selbstschädigender Verhaltensweisen. Ein Vertrag, dessen Vertragszweck sich darin erschöpft, dass eine Vertragspartei vor sich selbst geschützt werden soll, ist im BGB bisher nicht vorgesehen. Doch folgt aus der positiven Abschlussfreiheit gem. § 311 Abs. 1 BGB, dass die Parteien ermächtigt sind, auch völlig neue Vertragstypen zu erschaffen.32 Im Gegensatz zu Odysseus-Anweisungen, mit denen sich der Betroffene im medizinischen Bereich vor Entscheidungen schützen will, die er im Zustand der Entscheidungsunfähigkeit fällen könnte, versucht der Betroffene mit OdysseusVerträgen, antizipierten Versuchungen entgegenzutreten. Die Schwelle zur Entscheidungsunfähigkeit ist in dem Zeitpunkt, in dem der Vertrag zur Anwendung kommt, häufig noch nicht überschritten. Gleichwohl besteht ein Bedürfnis, sich bereits oberhalb der Schwelle der Entscheidungsunfähigkeit zu binden. Dadurch sollen Beweisschwierigkeiten bezüglich des Vorliegens von Entscheidungsfähigkeit 30
So Weis, Die Sperre des Glücksspielers, S. 48 ff. bei der Qualifizierung des Spielsperrvertrages. 31 So Schulze, in: FS Jayme, S. 1584 f. 32 Gehrlein, in: Beck-OK, § 311 Rn. 2; Emmerich, in: Münchener Kommentar, § 311 Rn. 1 ff.; Stadler, in: Jauernig BGB, § 311 Rn. 2 ff.
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Kap. 4: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Verträge
vorgebeugt werden. So stellt nämlich die Geschäftsfähigkeit einer natürlichen Person den gesetzlichen Regelfall dar, sodass die Beweislast dafür, dass eine Ausnahme hiervon vorliegt, derjenige trägt, der sich auf diese Ausnahme beruft.33 Daneben wird in der Zivilrechtsordnung nicht der gute Glaube an die Geschäftsfähigkeit des Geschäftsgegners geschützt, da der Schutz eines Geschäftsunfähigen Vorrang hat34, sodass einem Odysseus-Vertrag insofern auch eine Klarstellungsfunktion zukommen könnte. Grundsätzlich würden für einen Odysseus-Vertrag als schuldrechtlichen Vertrag keine besonderen Wirksamkeitsvoraussetzungen gelten, wobei zumindest die Einhaltung einer Schriftform sinnvoll erscheint, um Beweisschwierigkeiten vorzubeugen.
IV. Zwischenergebnis Im Folgenden soll dem Begriff eines echten Odysseus-Vertrages folgende Definition zugrunde gelegt werden: Unter einem Odysseus-Vertrag wird ein beidseitig verpflichtender Vertrag verstanden, in dem sich einer der Vertragspartner verpflichtet, paternalistische Handlungen an der anderen Vertragspartei vorzunehmen, um antizipierte selbstschädigende Verhaltensweisen zur Förderung des Wohls des anderen zu verhindern.
C. Die Spielersperre als echter Odysseus-Vertrag I. Rechtsgrundlagen der Selbstsperre Das wohl wichtigste Schutzinstrument für Personen, die von den Gefahren des Glücksspiels betroffen sind, ist die Spielersperre, deren gesetzliche Grundlage sich in § 8 GlüStV35 findet. Diese dient gem. § 8 Abs. 1 GlüStV dem Schutz der Spieler und der Bekämpfung der Glücksspielsucht und ist damit als eine Maßnahme der in § 1 Nr. 1, 3 GlüStV genannten Ziele zu qualifizieren.36 Gem. § 8 Abs. 2 GlüStV (anwendbar auf Spielbanken gem. § 2 Abs. 2 GlüStV) können Spielbanken und Veranstalter von Sportwetten und Lotterien mit besonderem Gefährdungspotenzial Personen sperren, die dies beantragen (Selbstsperre) oder von denen sie aufgrund der 33 Schmitt, in: Münchener Kommentar, § 104 Rn. 21; Mansel, in: Jauernig BGB, § 104 Rn. 9; Wendtland, in: Beck-OK, § 104 Rn. 13 m. w. N. 34 Baldus, in: Heidel BGB AT, § 104 Rn. 46; Schmitt, in: Münchener Kommentar, § 106 Rn. 15. 35 Alle Normen des Glücksspielstaatsvertrages sind jeweils in Verbindung mit den Ausführungsgesetzen der Bundesländer zu sehen. 36 Schmitt, in: Glücksspielrecht, S. 191 Rn. 4.
C. Die Spielersperre als echter Odysseus-Vertrag
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Wahrnehmung ihres Personals oder aufgrund von Meldungen Dritter wissen oder aufgrund sonstiger tatsächlicher Anhaltspunkte annehmen müssen, dass sie spielsuchtgefährdet oder überschuldet sind, ihren finanziellen Verpflichtungen nicht nachkommen oder Spieleinsätze riskieren, die in keinem Verhältnis zu ihrem Einkommen oder Vermögen stehen (Fremdsperre). Die Wirkung der Spielersperre wird in den §§ 20 Abs. 2 S. 1, 21 Abs. 5 S. 1, 22 Abs. 2 S. 1, 27 Abs. 3 i. V. m. § 21 Abs. 5 GlüStV genannt, wonach gesperrte Spieler am Spielbetrieb in Spielbanken, an Sportwetten, an Lotterien, die häufiger als zweimal pro Woche veranstaltet werden sowie an Pferdewetten zu festen Gewinnquoten nicht teilnehmen dürfen. Im Gegensatz zur ihrer Vorgängervorschrift, bei der die Führung der Sperrdatei noch den einzelnen Spielbanken selbst und den staatlichen oder staatlich beherrschten Veranstaltern i. S. d. § 10 Abs. 2 GlüStV oblag, wird die Sperrdatei nun zentral gem. § 23 Abs. 1 S. 1 GlüStV von der zuständigen Behörde des Landes Hessen geführt. Durchgesetzt wird die Spielersperre durch Kontrolle des Ausweises oder einer vergleichbaren Identitätskontrolle und dem Abgleich mit der Sperrdatei, § 20 Abs. 2 S. 2 GlüStV.37 Näher konkretisiert wird die Spielersperre in den Ausführungsgesetzen zum Glücksspielstaatsvertrag der Länder, daraus erlassenen Verordnungen sowie in den Spielbankgesetzen der Länder.38 Gem. § 28 GlüStV können die Länder weitergehende Bestimmungen in ihren Ausführungsgesetzen treffen. So normieren einige landesrechtliche Gesetze39 noch eine dritte Möglichkeit, die Störersperre, wonach auch Personen gesperrt werden können, die gegen die Spielbankordnung oder die Spielregeln verstoßen, gegen die ein begründeter Verdacht eines solchen Verstoßes besteht oder denen aufgrund des Hausrechts der Zutritt zur Spielbank untersagt wurde. Bei Verhängung der Störersperre macht die Spielbank allerdings nur von ihrem Hausrecht gem. § 903 BGB Gebrauch und verhängt diese nicht aus Spielerschutzgründen, weshalb sie in der folgenden Abhandlung außer Betracht bleibt. Ist die Spielersperre für die in § 8 GlüStV genannten Glücksspielanbieter verbindlich, gelten für die gewerblichen Spielhallen in den einzelnen Bundesländern unterschiedliche Regelungen, da gem. § 2 Abs. 3, 4 GlüStV der § 8 GlüStV nicht für Spielhallen und Gaststätten gilt, soweit sie Geld- oder Warenspielgeräte mit Gewinnmöglichkeit bereithalten. Während Hessen, Rheinland-Pfalz und BadenWürttemberg zentrale Sperrsysteme eingerichtet haben oder noch einrichten wollen (möglich wegen § 28 S. 2 GlüStV), gibt es im Bereich der Spielhallen in anderen Bundesländern lediglich standortbezogene Spielersperren.40 In den meisten deut37
Schmitt, in: Glücksspielrecht, S. 191 f. Rn. 5. Vgl. etwa für Bayern Art. 6, Art. 8 Nr. 2 AGGlüStV Bay; Art. 4a, Art. 4b SpielbG Bay. 39 Vgl. beispielsweise Art. 4a Abs. 2 S. 3 SpielbG (Bayern). 40 Sachsen-Anhalt, Bremen, Hamburg und Berlin, EURACTIV, Yellow Paper Glücksspiel und Verbraucherschutz, S. 28 f. abrufbar unter https://www.euractiv.com/wp-content/uploads/2 015/02/yellowpapergluecksspiel.pdf (zuletzt aufgerufen am 06.10.2017); vgl. zu den bisherigen Erfahrungen mit der Spielersperre beim Automatenspiel auch Strohäker/Becker, ZfWG 2017, Heft 03, Beilage, 10 (10 ff.). 38
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Kap. 4: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Verträge
schen Bundesländern gibt es aber keine gesetzlich angeordnete Spielersperre für problematische oder pathologische Spieler in Spielhallen und damit weder einen Rechtsanspruch für den Spieler noch eine entsprechende Verpflichtung der Spielhallenbetreiber.41 Und dies, obwohl das Automatenspiel als besonders gefährlich in Bezug auf den Suchtfaktor gilt, die größten Umsätze am gesamten Glücksspielmarkt hier erzielt werden und Spielsüchtige aus diesem Glücksspielbereich seit Jahren die mit Abstand größte Gruppe (ca. 72 %) in den Suchtberatungsstellen bilden.42 Insgesamt umfasst die übergreifende Sperrdatei die 81 deutschen Spielbanken und die Lotteriespiele, die mehr als zweimal die Woche gespielt werden (Oddset, Keno, Toto).43 In Zahlen ausdrückt sind derzeit etwa 10 % des deutschen Glücksspielmarktes durch das Sperrsystem abgedeckt bzw. nur etwa 6 %, wenn von den Angeboten des Deutschen Lotto- und Totoblocks abgesehen wird.44 Und das, obwohl aus Sicht des Gesetzgebers gerade durch die Errichtung eines übergreifenden Sperrsystems gewährleistet werden soll, dass Spieler, die für eine Form des Glücksspiels gesperrt sind, auch von sonstigen Glücksspielen ausgeschlossen sind.45 Man unterscheidet bei Spielbanken grundsätzlich zwischen dem sog. „Großen Spiel“ an den Spieltischen, wozu Roulette, Black Jack, Baccara oder Poker zählen, und dem „Kleinen Spiel“, worunter vor allem das Automatenspiel verstanden wird. Dies ist für die Problematik der Spielersperren mittlerweile obsolet geworden, da § 20 Abs. 2 GlüStV im Rahmen der Wirkung der Spielersperre nicht zwischen diesen beiden Arten unterscheidet. Die gesetzlichen Voraussetzungen, die für die Verhängung einer Selbstsperre vorliegen müssen, sind gering. Nach der Legaldefinition in § 8 Abs. 2 Alt. 1 GlüStV reicht es aus, wenn der Spieler die Spielersperre beantragt. Die Norm impliziert damit, dass derjenige, der durch seinen Antrag gegenüber einem der genannten Glücksspielanbieter seine Gefährdungslage in Bezug auf sein Glücksspielverhalten offenbart, ein problematisches Spielverhalten hat, was keiner Nachprüfung mehr bedarf. Der Glücksspielanbieter hat dem Antrag ohne zu zögern stattzugeben; es handelt sich dabei um eine gebundene Entscheidung.46 In diesem Sperrantrag müssen mangels gesetzlicher Normierung keine Gründe angegeben werden. Nach der Be41
Saarland, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bayern, Thüringen, Sachsen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein; vgl. zu der Situation in NordrheinWestfalen auch LG Bielefeld, ZfWG 2017, 325 (325 ff.). 42 Pressemitteilung DHS Jahrbuch Sucht 2017, S. 4, abrufbar unter http://www.dhs.de/filead min/user_upload/pdf/news/2017-04-11_PM_daten_und_fakten_oS.pdf (zuletzt aufgerufen am 11.10.2017). 43 Fiedler, ZfWG 2015, 188 (188). 44 Fiedler, ZfWG 2015, 188 (188). 45 LT-Drs. 15/8486, S. 11, 16. 46 Schmitt, in: Glücksspielrecht, S. 196 f. Rn. 18; ebenso auch schon Peters, JR 2002, 177 (178).
C. Die Spielersperre als echter Odysseus-Vertrag
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arbeitung des Antrags durch die den Antrag entgegennehmenden Glücksspielveranstalter oder Vermittler für die von ihnen angebotenen Glücksspielbereiche wird die Spielersperre in die zentrale Sperrdatei des übergreifenden Sperrsystems eingetragen. Die Sperre beträgt gem. § 8 Abs. 3 S. 1 GlüStV mindestens ein Jahr. Der den Antrag bearbeitende Glücksspielanbieter teilt dem Antragssteller die verfügte Spielersperre unverzüglich schriftlich mit, § 8 Abs. 3 S. 2 GlüStV. Der Zugang der Mitteilung ist dabei keine Wirksamkeitsvoraussetzung für die Sperre.
II. Die Rechtsnatur der Selbstsperre Um die Rechtsnatur der Selbstsperre erfassen zu können, ist es zunächst notwendig, den Inhalt der Parteivereinbarung gem. §§ 133, 157 BGB auszulegen. Grundsätzlich geht es darum, dass eine Partei mit der anderen in Zukunft nicht mehr kontrahieren will. Dies ist im Prinzip nicht untypisch, sondern vielmehr ein Ausdruck der negativen Vertragsfreiheit.47 Besonders ist hier allerdings, dass die Parteien einen weiteren Vertragsschluss nicht einfach unterlassen, sondern gerade miteinander vereinbaren, dass es in Zukunft nicht mehr zum Abschluss eines Spielvertrages gem. § 763 BGB analog48 kommen soll. Die Möglichkeit, mit einer anderen Partei nicht mehr kontrahieren zu können, wird hier gerade nicht als Nachteil, sondern als Wohltat angesehen.49 Ziel der Vereinbarung ist es dabei, den Spieler von Glücksspielangeboten fernzuhalten und ihn dadurch zu schützen. Im Falle der Selbstsperre geht die Vereinbarung auf die Initiative des Spielers zurück. Die Wirkungen der Selbstsperre sollen aber nicht nur für den Glücksspielveranstalter gelten, mit dem die Sperrvereinbarung getroffen wurde, sondern durch die Eintragung in der bundesweiten Sperrdatei mit sämtlichen Glücksspielveranstaltern, die aufgrund gesetzlicher Vorschriften am übergreifenden Sperrsystem teilnehmen. Letztlich handelt es sich dabei um eine antizipiert erklärte Einschränkung der Privatautonomie in Hinblick auf die Wahl des Vertragspartners bzw. des Vertragsgegenstandes.50 1. Gang der Rechtsprechung Welche rechtliche Qualität eine solche Vereinbarung hat, war bereits Gegenstand mehrerer divergierender Entscheidungen des BGH. So sah der BGH in seiner ersten Entscheidung zu diesem Thema am 31.10.1995 in der Vereinbarung lediglich ein „auf Anregung des Spielers erteiltes Hausverbot“.51 Die Spielbank würde die 47
Wolf/Neuner, BGB AT, S. 102 Rn. 34; Musielak, JuS 2017, 949 (949). Abweichend von § 762 BGB ist nach h. M. § 763 BGB entsprechend auf alle Formen staatlich genehmigten Glücksspiels anzuwenden, Habersack, in: Münchener Kommentar, § 763 Rn. 7; Stadler, in: Jauernig BGB, § 763 Rn. 3. 49 Peters, JR 2002, 177 (178). 50 Wagner-von Papp, AcP 2005, 342 (343). 51 BGH, NJW 1996, 248 (248). 48
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Kap. 4: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Verträge
Spielsperre einseitig im eigenen Interesse erklären, um Gäste, die den Spielbetrieb stören oder auch charakterlich nicht für eine Teilnahme daran geeignet sind, vom Spiel fernzuhalten und auf diese Weise Rufschädigungen zu vermeiden. Dabei mache die Spielbank lediglich wunschgemäß von ihrem Hausrecht Gebrauch und baue zur Motivation des Betroffenen strafbewehrte Hürden gegen dessen Verweilen in den Spielsälen auf, woraus dem Betroffenen keinerlei Rechte erwachsen würden.52 Sie übernehme keinerlei Pflicht zur Betreuung des Vermögens des Betroffenen und keinerlei Schadensersatzverpflichtung für den Fall, dass der Betroffene sich trotz Spielersperre Zugang zu den Spielsälen verschafft und beim Spiel Verluste erleidet.53 Daran würde auch nichts dadurch ändern, dass die Spielersperre auf ausdrücklichen Wunsch des potentiellen Spielers ausgesprochen werde, da einer solchen Anregung grundsätzlich keine rechtsgeschäftliche Bedeutung zukomme,54 zumal es der Spielbank freistehe, diese unentgeltliche Sperre jederzeit und ohne Grund wieder aufzuheben. Eine solche Sperre begründe auf Spielbankseite also keine Pflichten und eine Durchsetzung der Sperre mit Zugangskontrollen erfolge lediglich im Eigeninteresse.55 Diese Entscheidung wurde zunächst von den Instanzgerichten so umgesetzt56, später aber vor allem in der Literatur kritisiert.57 Die BGH-Rechtsprechung führte nämlich dazu, dass bei bestehender Sperre der Spieler seine Einsätze im Fall eines Verlustes nicht zurückfordern konnte58, die Spielbank aber im Fall eines Gewinnes die Auszahlung unter Hinweis auf die Spielsperre (in Verbindung mit bestimmten Aushängen) verweigern durfte.59 Der Kritik der Literatur folgte vor allem das OLG Hamm mit Urteil vom 7.10.2002, in dem es sich intensiv mit der Rechtsnatur der Spielersperre beschäftigte.60 Nach Ansicht des Gerichts handelt es sich bei der Eigensperre nicht um ein Hausverbot, sondern um einen Vertrag zwischen Spielbank und Spieler, durch den der Spieler sich selbst den für ihn als gefahrträchtig erkannten Zugang verstellen will. Dem Abschluss dieses Vertrages liege die kritische Selbsterkenntnis eines durch Spielsucht gefährdeten Spielers in einer Phase zu Grunde, in der er zu einer solchen 52
BGH, NJW 1996, 248 (248). BGH, NJW 1996, 248 (248). 54 BGH, NJW 1996, 248 (248). 55 BGH, NJW 1996, 248 (248). 56 OLG Hamm, NJW-RR 2002, 447 (447), NJW-RR 2002, 1634 (1634 f.); LG Leipzig, NJW-RR 2000, 1343 (1343). 57 Grunsky, EWiR 1996, 11 (11 f.); Peters, JR 2002, 177 (177 ff.); Weis, Die Sperre des Glücksspielers, S. 36 ff.; Wagner-von Papp, AcP 2005, 342 (366 ff.); wohl auch Hippel, ZRP 2001, 558 (560). 58 OLG Hamm, NJW-RR 2002, 447 (447); LG Leipzig, NJW-RR 2000, 1343 (1343). 59 OLG Hamm, NJW-RR 2002, 1634 (1634 f.); im Ergebnis auch KG, NJW-RR 2003, 1359 (1359). 60 OLG Hamm, NJW-RR 2003, 971 (971 ff.). 53
C. Die Spielersperre als echter Odysseus-Vertrag
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Einschränkung und Selbstbeurteilung fähig sei.61 Auf Seiten der Institution der Spielbank werde diese Einsicht des Spielers, der für sie zunächst ein potentiell guter Kunde sei, akzeptiert, indem sie erkläre, ihn vom Spiel auszuschließen und keine Spielverträge mehr abzuschließen.62 Diese Vereinbarung habe die Qualität eines Rechtsgeschäfts mit wechselseitigen Rechten und Pflichten. Zwar sei es untypisch, dass die Parteien eines Vertrages sich darüber einigen, dass in Zukunft keine Verträge bestimmter Art mehr zwischen ihnen zu Stande kommen sollen und eine vorverlagerte Einigung darauf gerichtet sei, späteren Willenserklärungen vorab die rechtliche Verbindlichkeit zu nehmen. Es seien jedoch keine Gründe ersichtlich, dass dies von der Rechtsordnung nicht zugelassen werden dürfe. Das Ungewöhnliche an der von der Spielbank akzeptierten Eigensperre ergebe sich aus der Ungewöhnlichkeit der rechtlichen Verhältnisse, die aus der Zulassung des öffentlich-rechtlich konzessionierten Glücksspiels und aus den spezifischen Gefährdungstatbeständen folge.63 Der Abschluss des Sperrvertrages verhindert nach Ansicht des OLG damit den Abschluss eines wirksamen Spielvertrages, sodass die Spielbank zur Rückzahlung der Spieleinsätze gem. § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB verurteilt wurde.64 Dieser grundsätzlichen Argumentation schloss sich der BGH in seinem Urteil vom 15.12.2005 an.65 Auch er stellte fest, dass eine Erklärung der Spielbank, dem Antrag des Spielers in Kenntnis seiner Interessenslage stattzugeben, eine andere rechtliche Qualität haben müsse, als wenn die Spielbank die Sperre einseitig von sich aus verhänge, um einen unliebsamen Kunden fernzuhalten.66 Anders als bei einer einseitigen Sperre gehe es bei einer solchen auf Antrag des Spielers nicht nur um die Geltendmachung des Hausrechts der Spielbank, die lediglich als Reflex zu Gunsten des Kunden wirken möge, sondern darum, dass die Spielbank dem von ihr als berechtigt erkannten Individualinteresse des Spielers entsprechen wolle.67 Die Spielbank gehe daher mit der Annahme des Antrags eine vertragliche Bindung gegenüber dem Spieler ein, die auch und gerade dessen Vermögensinteresse schütze, ihn vor den aufgrund seiner Spielsucht zu befürchtenden wirtschaftlichen Schäden zu bewahren.68 Anders als das OLG Hamm und das KG geht der BGH aber von der Wirksamkeit der trotz Spielsperre geschlossenen Spielverträge aus und schließt damit einen Ausgleich nach bereicherungsrechtlichen Grundsätzen aus.69 Ein solcher Lösungsansatz würde nach Ansicht des BGH den berechtigten Interessen der Spielbank nicht gerecht werden, da eine Zahlungspflicht gerichtet auf Ausgleich der 61
OLG Hamm, NJW-RR 2003, 971 (972). OLG Hamm, NJW-RR 2003, 971 (972). 63 OLG Hamm, NJW-RR 2003, 971 (972). 64 OLG Hamm, NJW-RR 2003, 971 (971). 65 BGH, NJW 2006, 362 (362 ff.). 66 BGH, NJW 2006, 362 (363), in Übereinstimmung mit der Kritik von Grunsky, EWiR 1996, 11 (11 f.). 67 BGH, NJW 2006, 362 (363). 68 BGH, NJW 2006, 362 (363). 69 BGH, NJW 2006, 362 (363). 62
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Kap. 4: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Verträge
Spielverluste auch dann zu bejahen wäre, wenn die Spielbank ihrer Kontrollpflicht nachgekommen wäre und der gesperrte Spieler sich etwa unter Verwendung gefälschter Ausweispapiere den Zugang zur Spielbank erschlichen hätte. Denn es liege nahe, dass nur der Spieler, der Verluste erleidet, sich der Spielbank gegenüber offenbare, während der Spielgewinner bestrebt sein dürfte, die Spielbank unter Mitnahme des Gewinns unerkannt zu verlassen.70 Auch der Umstand, dass die Spielbank dem Spieler über § 254 BGB ein solch „überschießendes“ Fehlverhalten entgegenhalten könne, bewegt den BGH dazu, den Ausgleich über einen verschuldensabhängigen vertraglichen Schadensersatzanspruch zu regeln.71 Mit Urteil vom 22.11.2007 weitete der BGH seine Rechtsprechung dahingehend aus, dass er die aus dem Sperrvertrag resultierende Kontrollpflicht, den Zugang für den Spieler zum sog. „Großen Spiel“ zu verhindern, auch auf den Zugang zu den Automatenspielsälen bezog.72 Eine Einschränkung der Kontrollpflichten ließ der BGH weder durch einen am Eingang der Automatenspielsäle angebrachten Hinweis zu, dass gesperrten Spielern der Zutritt verboten sei und diese kein Anspruch auf Auszahlung der Gewinne oder Ersatz der Verluste haben, noch dadurch, dass der Spieler von Anfang an wusste, dass beim Betreten der Automatensäle keine Personenkontrollen stattfinden.73 Dieses Urteil ist inzwischen durch die Einführung des § 20 Abs. 2 GlüStV, der nicht zwischen dem „Großen und Kleinen Spiel“ unterscheidet, obsolet geworden. Auch in seiner letzten Entscheidung zu diesem Thema vom 22.10.2011, bei der es um die Frage ging, ob auch die Aufhebung der Spielersperre eine Pflichtverletzung aus dem Sperrvertrag darstellen kann, ging der BGH von einem Vertrag aus.74 2. Änderung der Rechtsnatur durch Einführung des Glücksspielstaatsvertrages Durch die Einführung des Glücksspielstaatsvertrages 2007 wurde in Verbindung mit den Zustimmungs- und Ausführungsgesetzen der Länder die Spielersperre daraufhin erstmals bundeseinheitlich kodifiziert. Gem. § 8 Abs. 2 Alt. 1 GlüStV sperren Spielbanken und Veranstalter von Sportwetten und Lotterien mit besonderem Gefährdungspotential Personen, die dies beantragen (Selbstsperre). Diese Norm enthält zunächst eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung zur Annahme von Anträgen auf Selbstsperren. Diskutiert wird allerdings, ob es neben dieser einseitigen gesetzlichen Verpflichtung auch weiterhin geboten ist, zusätzlich vom Abschluss eines privatrechtlichen Sperrvertrages aus70 71 72 73 74
C. IV.
BGH, NJW 2006, 362 (363). BGH, NJW 2006, 362 (363). BGH, NJW 2008, 840 (840 ff.). BGH, NJW 2008, 840 (841). BGH, NJW 2012, 48 (48 ff.); vgl. zur Aufhebung der Spielersperre ausführlich Kap. 4
C. Die Spielersperre als echter Odysseus-Vertrag
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zugehen.75 Um einer vertraglichen Haftung zu entgehen, versuchen die Spielbanken vermehrt, sich eines Sperrvertrages zu erwehren. a) Urteile des LG/OLG Düsseldorf So hatte das LG Düsseldorf einen Fall zu entscheiden, indem es um eine Unterlassungsklage bestimmter „Informationen“ auf den Antragsformularen für Spielersperren ging. So lautete ein Informationspunkt: „Ein eingehender Antrag auf Selbstsperre verpflichtet den Glücksspielanbieter, unverzüglich eine Spielersperre für den Antragssteller zu verfügen. Der Glücksspielanbieter handelt dabei ausschließlich in einseitigem Vollzug seiner gesetzlichen Verpflichtung. Die durch den Antrag ausgelöste Verfügung der Spielersperre begründet keine vertragliche Beziehung zwischen Glücksspielanbieter und dem Antragssteller.“76
So argumentierte der Kläger, bei dieser Information handle es sich um eine Allgemeine Geschäftsbedingung, die die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Selbstsperre leugne, da auch weiterhin ein Vertrag zwischen Spieler und Glücksspielbetreiber zustande komme. Auch nach Einführung des Staatsvertrages habe diese Auslegung weiterhin Bestand, da sich die Interessenslagen nicht geändert hätten.77 So seien der Glücksspielstaatsvertrag und die ihn ausführenden Gesetze zwar für den Spieler Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB und begründeten daher nunmehr für den Spieler deliktische Schadensersatzansprüche gegen die Spielbank.78 Allerdings unterscheide sich der sich aus einem Spielsperrvertrag ergebende vertragliche Anspruch eines Spielers in zwei wesentlichen Punkten von einem deliktischen Schadensersatzanspruch wegen einer Schutzgesetzverletzung. So werde zum einen der Spieler im Rahmen des vertraglichen Schadensersatzanspruchs gem. § 280 Abs. 1 S. 1 BGB der Notwendigkeit enthoben, das Verschulden der Beklagten darzulegen und zu beweisen, da es vermutet werde. Zum anderen werde nur im Vertragsrecht der beklagten Partei das Verschulden ihres Personals gem. § 278 BGB zugerechnet. Bei einem deliktischen Schadensersatzanspruch hingegen könne sich die Beklagte gem. § 831 Abs. 1 S. 2 BGB exkulpieren, wenn sie darlege und nachweise, dass sie hinsichtlich ihres Personals kein Auswahl- oder Überwachungsverschulden treffe. Mit der verwendeten Klausel solle der Spieler so über die Haftung der Spielbank hinweggetäuscht werden.79 Dagegen wendete sich die beklagte Spielbank mit dem Argument, dass sich seit Inkrafttreten des Glücksspielstaatsvertrages die Rechtslage bezüglich der Spieler75
OLG Düsseldorf, Urt. v. 14.04.2011 – 6 U 111/10, BeckRS 2011, 27229; davor LG Düsseldorf, Urt. v. 10.03.2010 – 12 O 199/09, BeckRS 2010, 25573. 76 LG Düsseldorf, Urt. v. 10.03.2010 – 12 O 199/09, BeckRS 2010, 25573. 77 LG Düsseldorf, Urt. v. 10.03.2010 – 12 O 199/09, BeckRS 2010, 25573. 78 LG Düsseldorf, Urt. v. 10.03.2010 – 12 O 199/09, BeckRS 2010, 25573. 79 LG Düsseldorf, Urt. v. 10.03.2010 – 12 O 199/09, BeckRS 2010, 25573; so auch Peters, NJOZ 2010, 1197 (1200).
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sperre grundlegend geändert habe. Nach neuem Recht erfolge die Sperre nicht aufgrund vertraglicher Vereinbarung, sondern von Gesetzes wegen, sobald die Voraussetzungen des § 8 Abs. 2 Alt. 1 GlüStV i. V. m. dem jeweiligen Ausführungsgesetz vorliegen würden. Auch sei dem Gesetz nicht zu entnehmen, dass Selbstsperren anders zu behandeln seien als Fremdsperren, bei denen unzweifelhaft wegen des entgegenstehenden Willens des Spielers keine vertragliche Vereinbarung zu Stande komme.80 Schließlich würde die Rechtsauffassung des Klägers zu dem widersprüchlichen Ergebnis führen, dass im Falle der Selbstsperre der Spieler in der Spielbank, bei der er die Sperre beantragt hat, aufgrund vertraglicher Vereinbarung und bei den Spielbanken anderer Betreiber hingegen gem. § 8 Abs. 1 und 2 GlüStV nur aufgrund gesetzlicher Verpflichtung gesperrt sei.81 Das LG Düsseldorf erachtete schließlich die Klage als begründet mit dem Argument, dass die Klausel gem. § 307 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 2 BGB unwirksam sei, da sie wesentliche Rechte und Pflichten des Sperrvertrages einschränke und dadurch die Erreichung des Vertragszweckes gefährde. Ohne nähere Begründung führt es aus, § 8 Abs. 2 GlüStV begründe lediglich einen Kontrahierungszwang für die Spielbank mit dem Spieler, der für sich eine Spielsperre beantrage, einen Sperrvertrag zu schließen.82 Ansonsten habe sich durch das neue Glücksspielrecht keine Veränderung der Interessenslage der Beteiligten ergeben, sodass die Rechtsprechung des BGH nach wie vor Gültigkeit habe. 83 Gegen dieses Urteil ging die beklagte Spielbank vor dem OLG Düsseldorf in Berufung.84 Nach Ansicht des Kasinos gründe die Rechtsprechung des BGH zur Selbstsperre auf der freien Entscheidung der Spielbank, den spielsüchtigen Spieler vor sich selbst zu schützen. Dies habe sich mit Inkrafttreten des GlüStV geändert.85 Schon der Spieler stelle keinen Antrag auf Abschluss eines Sperrvertrages, sondern nehme nur sein gesetzliches Recht gem. § 8 Abs. 2 GlüStV in Anspruch, wenn er seine Sperre beantrage. Auch die Spielbank wolle mit dem Spieler keinen Vertrag abschließen, sondern nur ihre gesetzliche Verpflichtung erfüllen, was auch für ihr Antwortschreiben an den Spieler gelte, das gesetzlich vorgeschrieben sei, um dem Spieler die Einrichtung der Sperre mitzuteilen.86 Da kein Vertrag zu Stande komme, handle es sich bei den streitgegenständlichen Formulierungen auch nicht um AGB i. S. d. §§ 305 ff. BGB. Zudem überzeuge die Annahme eines Kontrahierungszwanges nicht, da der Spieler nunmehr einen gesetzlichen Anspruch auf Einrichtung und Durchsetzung der Spielersperre habe. Schließlich widerspreche die Annahme
80 81 82 83 84 85 86
LG Düsseldorf, Urt. v. 10.03.2010 – 12 O 199/09, BeckRS 2010, 25573. LG Düsseldorf, Urt. v. 10.03.2010 – 12 O 199/09, BeckRS 2010, 25573. LG Düsseldorf, Urt. v. 10.03.2010 – 12 O 199/09, BeckRS 2010, 25573. LG Düsseldorf, Urt. v. 10.03.2010 – 12 O 199/09, BeckRS 2010, 25573. OLG Düsseldorf, Urt. v. 14.04.2011 – 6 U 111/10, BeckRS 2011, 27229. OLG Düsseldorf, Urt. v. 14.04.2011 – 6 U 111/10, BeckRS 2011, 27229. OLG Düsseldorf, Urt. v. 14.04.2011 – 6 U 111/10, BeckRS 2011, 27229.
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eines Spielsperrvertrages der öffentlich-rechtlichen Regelung des Spielerschutzes, welche die Einhaltung der Sperre sogar mit hohen Bußgeldern bewehre.87 Nach Ansicht des OLG Düsseldorf ist die Berufung unbegründet. Zwar sieht das Gericht es als nicht entscheidungserheblich an, ob die Spielbank entsprechend der gesetzgeberischen Zwecksetzung aufgrund eines Kontrahierungszwanges verpflichtet sei einen Sperrvertrag abzuschließen.88 Gleichzeitig führt es aber aus, dass nicht daran gezweifelt werden könne, die Umsetzung der Spielersperre aus Sicht des Spielers nach Treu und Glauben als rechtsverbindliche Annahmeerklärung im Sinne der §§ 145 ff. BGB zu werten.89 Sei es nämlich unter dem alten Recht eine durchaus erwägenswerte und im Ergebnis von der früheren höchstrichterlichen Rechtsprechung sogar verneinte Frage gewesen, ob bei der Spielbank aufgrund ihres fehlendes Eigeninteresses überhaupt ein rechtsgeschäftlicher Wille auf Abschluss eines einseitig die Vermögensinteressen des Spielers schützenden Vertrages angenommen werden durfte, verpflichte heute § 6 Abs. 2 SpielbG NRW i. V. m. § 8 Abs. 2 GlüStV gerade zu einer solchen Verhaltensweise, da es gem. § 1 Nr. 1 und 3 SpielbG NRW i. V. m. § 1 Nr. 1 und 3 GlüStV nicht nur ihre Aufgabe geworden sei, die Spielsucht zu bekämpfen, sondern auch, den Spielerschutz zu gewährleisten.90 Dem Argument der Beklagten, die Spielbank wolle nur ihren gesetzlichen Verpflichtungen nachkommen, setzt das Gericht entgegen, die Spielbank wickle ihren Spielbetrieb privatrechtlich ab, schließe Spielverträge gem. § 763 BGB, weshalb es dem Spieler auch nicht verwehrt sei, die auf seinen Antrag hin verhängte Spielersperre als ein privatrechtliches Verhalten zu würdigen.91 Auch den Einwand, ein Vertrag sei aufgrund der dem Spieler zustehenden deliktischen Schadensersatzansprüche zum Schutz seines Vermögens nicht mehr erforderlich, wehrt es aufgrund der Schwächen des Deliktsrechts und des Arguments ab, der GlüStV habe den Rechtsschutz des Spielers nicht mindern wollen.92 Im Grundsatz gelte die BGH-Rechtsprechung fort, durch Einführung des Staatsvertrages habe sich daran nichts geändert.93 b) Ablehnung des Vertragsschlusses Problematisch an den Entscheidungen erscheint zunächst, dass beide Gerichte nicht ausreichend berücksichtigen, dass der ihnen vorliegende Sachverhalt maßgeblich von den Fällen des BGH abweicht. Unterschied ist nämlich, dass die 87 88 89 90 91 92 93
OLG Düsseldorf, Urt. v. 14.04.2011 – 6 U 111/10, BeckRS 2011, 27229. OLG Düsseldorf, Urt. v. 14.04.2011 – 6 U 111/10, BeckRS 2011, 27229. OLG Düsseldorf, Urt. v. 14.04.2011 – 6 U 111/10, BeckRS 2011, 27229. OLG Düsseldorf, Urt. v. 14.04.2011 – 6 U 111/10, BeckRS 2011, 27229. OLG Düsseldorf, Urt. v. 14.04.2011 – 6 U 111/10, BeckRS 2011, 27229. OLG Düsseldorf, Urt. v. 14.04.2011 – 6 U 111/10, BeckRS 2011, 27229. OLG Düsseldorf, Urt. v. 14.04.2011 – 6 U 111/10, BeckRS 2011, 27229.
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Spielbank mit Hilfe des Antragsformulars einen Vertragsschluss ausdrücklich ablehnt. In den vom BGH entschiedenen Fällen aber bestätigten die Spielbanken die Anträge auf Selbstsperren jeweils, ohne ihre Antragsannahme gleichzeitig mit einer Vertragsablehnung zu verbinden.94 Zwar bemühten sie sich darum, mit Hinweisen und Aushängen in den Spielsälen ihre Vermögensschutzpflichten vor allem im Bereich des „Kleinen Spiels“ zu beschränken, was für den BGH stets unbeachtlich war, da die Selbstsperre umfassend und einschränkungslos verhängt werde.95 Die grundsätzliche Möglichkeit der Ablehnung eines Vertragsschlusses, unabhängig von der unstrittig bestehenden gesetzlichen Verpflichtung zur Eintragung der Sperre, ist vom BGH aber nie thematisiert worden.96 Wie die Beklagte zutreffend vortrug, gründet die BGH-Rechtsprechung also auf einer freiwilligen Übernahme der Vermögensschutzpflichten.97 Diese freiwillige Übernahme war aber stets die Grundlage für die vom BGH vorgenommene interessensgerechte Auslegung der Erklärungen gem. §§ 133, 157 BGB. Denn nur, wenn weder ein ausdrücklich, noch ein stillschweigend erklärter Wille über die Rechtsbindung vorliegt, soll nach der Rechtsprechung über die Rechtsverbindlichkeit „unter Berücksichtigung der Interessenlage beider Parteien nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte“ entschieden werden.98 Dafür ist aber erst dann Raum, wenn die Willenserklärungen überhaupt so ausgelegt werden können, dass sie inhaltlich übereinstimmen, sich also zu einem wirksamen Vertrag zusammenfügen können.99 Erklärt eine Spielbank aber ausdrücklich, keinen Vertrag schließen zu wollen, fehlt es auch nach dem objektiven Empfängerhorizont an korrespondierenden Willenserklärungen. Für den Spieler ist dann erkennbar, dass die Spielbank nicht rechtsverbindlich mittels Vertrag den Schutz seines Vermögens vor den Gefahren seiner Spielsucht übernehmen will, sondern grundsätzlich nur ihrer gesetzlich normierten Pflicht aus § 8 Abs. 1 S. 1 GlüStV nachkommen will. Ist es somit nicht möglich, entgegen einer gegenläufigen Willensbetätigung der Spielbank einen Vertrag zu konstruieren, würde es sich bei dem „Informationspunkt“ auch nicht um eine Allgemeine Geschäftsbedingung i. S. d. §§ 305 ff. BGB handeln, sodass auch eine Inhaltskontrolle nach den §§ 307 ff. BGB nicht eröffnet wäre. Die Vermutung, die Spielbank wolle mit Hilfe des Informationspunktes über den Umfang ihrer Haftung hinwegtäuschen100, wäre nur dann zutreffend, wenn es ihr nicht möglich wäre, einen Vertrag abzulehnen bzw. wenn sie nicht ausdrücklich genug einen Vertragsschluss ablehnen würde. Bei einem Informationspunkt auf 94
BGH NJW 2006, 362 (362 ff.), NJW 2008, 840 (840 ff.), NJW 2012, 48 (48 ff.). So im Bereich des Automatenspieles, BGH, NJW 2008, 840 (841). 96 In seinem Urteil vom 20.10.2011, BGH, NJW 2012, 48 (48 ff.), kam es bereits vor Einführung des Staatsvertrages zum Vertragsschluss. 97 OLG Düsseldorf, Urt. v. 14.04.2011 – 6 U 111/10, BeckRS 2011, 27229. 98 BGH, NJW 1971, 1404 (1405), NJW 1974, 1705 (1706), NJW 1989, 907 (907). 99 Wendtland, in: Beck-OK, § 157 Rn. 9. 100 OLG Düsseldorf, Urt. v. 14.04.2011 – 6 U 111/10, BeckRS 2011, 27229. 95
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einem gestellten Antragsformular bestehen durchaus Zweifel, ob dies genügt. Dass das OLG Düsseldorf wohl aber die grundsätzliche Möglichkeit der Vertragsablehnung in Betracht zieht, zeigt sich am verwendeten Konjunktiv im Urteil, da es mehrmals ausführt, die Parteien könnten einen Vertrag schließen.101 Im Umkehrschluss könnten sie es demnach wohl auch unterlassen. Letztlich erscheint es so, als würden die Gerichte versuchen, das von ihnen favorisierte Ergebnis, die Haftung auf eine vertragliche Grundlage zu stellen, mittels einer zweifelhaften Auslegung der Interessenslagen zu erreichen. Eine Art betriebliche Übung, wie sie im Arbeitsrecht existiert, wodurch sich der Spieler auf die vorangegangene Praxis zur Behandlung der Selbstsperre der Spielbank berufen kann, gibt es in diesem Zusammenhang aber nicht. Zwar könnte man erwägen, ob nicht aus § 242 BGB ein gewisser Vertrauensschutz für den Spieler folgt, bzw. ob es nicht Treu und Glauben gebieten, dass die Spielbank lediglich per Individualabrede einen Sperrvertrag ablehnen darf, verbunden mit der Aufklärung über den damit verbundenen Ausschluss der §§ 278, 280 Abs. 1 S. 2 BGB.102 Eine dogmatisch saubere und rechtssichere Lösung wäre dies aber nicht, vielmehr würde man auf diese Weise das Problem der richterlichen Rechtsfortbildung überlassen. Somit ist zunächst zu klären, was sich hinsichtlich der Rechtsnatur der Spielersperre ändern würde, wenn es der Spielbank möglich wäre, sich wirksam mittels ausdrücklicher Erklärung eines Vertragsschlusses zu erwehren. Durch die Kodifizierung der Spielersperre in § 8 GlüStV müsste man dann wohl einfach von einem gesetzlichen Schuldverhältnis ausgehen. Quasi als dritte Alternative zum einseitigen Hausverbot, das keinerlei Rechte für den Spieler bzw. Pflichten für die Spielbank begründet und zum Vertrag, wodurch eine umfassende Vermögensschutzpflicht für die Spielbank begründet wird. Geht man nämlich von der Schutzgesetzqualität der §§ 8 Abs. 2, 20 Abs. 2 S. 1 GlüStV aus, macht sich die Spielbank bei Verletzung ihrer gesetzlichen Pflichten nach § 823 Abs. 2 BGB schadensersatzpflichtig. c) Schutzgesetzcharakter der §§ 8, 20 GlüStV Mit der Ratifikation des Glücksspielstaatsvertrages 2012 durch die Landesparlamente hat dieser innerhalb der beteiligten Länder die Qualität eines formellen Landesgesetzes angenommen und ist damit ein Gesetz i. S. d. Art. 2 EGBGB. Die Herkunft einer Norm aus dem Bundes- oder Landesrecht ist für den Schutzgesetzcharakter einer Norm nicht entscheidend, da über § 823 Abs. 2 BGB auch der Landesgesetzgeber auf das Deliktsrecht einwirken kann.103
101 102 103
OLG Düsseldorf, Urt. v. 14.04.2011 – 6 U 111/10, BeckRS 2011, 27229. So Peters, NJOZ 2010, 1197 (1200). Wagner, in: Münchener Kommentar, § 823 Rn. 480.
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Um als Schutzgesetz i. S. d. § 823 Abs. 2 BGB zu gelten, muss eine Norm neben dem Schutz der Allgemeinheit auch dem Schutz von Individualinteressen zu dienen bestimmt sein.104 Dabei kommt es auf die konkrete Einzelnorm an und nicht auf das jeweilige Gesetz insgesamt.105 Der Individualschutz muss dabei nicht der alleinige Schutzzweck des Gesetzes sein, vielmehr reicht es aus, wenn daneben auch Individualinteressen geschützt werden sollen.106 Bereits in § 1 S. 1 Nr. 1, 3 GlüStV stellt der Gesetzgeber klar, dass die Ziele des Staatsvertrages sind, das Entstehen von Glücksspiel- und Wettsucht zu verhindern, die Voraussetzungen für eine wirksame Suchtbekämpfung zu schaffen sowie den Jugend- und Spielerschutz zu gewährleisten. Gem. § 1 S. 2 GlüStV sind, um diese Ziele zu erreichen, differenzierte Maßnahmen für die einzelnen Glücksspielformen vorgesehen, um deren spezifischen Sucht-, Betrugs-, Manipulations- und Kriminalitätsgefährdungspotentialen Rechnung zu tragen. An dieser Vorschrift zeigt sich schon deutlich, dass der Gesetzgeber bei der Schaffung des Vertrages nicht nur das Interesse der Allgemeinheit, den nicht „zu unterdrückenden Spieltrieb des Menschen“107 in geordnete Bahnen zu lenken und so unter staatliche Kontrolle zu bringen, in den Fokus gestellt hat, sondern gerade auch den einzelnen Spieler vor den Gefahren des Glücksspiels schützen wollte. Deutlich in Bezug auf den Schutz von Individualinteressen wird der Gesetzgeber in § 8 Abs. 1 GlüStV, wonach ein übergreifendes Sperrsystem zum Schutz der Spieler und zur Bekämpfung der Glücksspielsucht unterhalten wird. Damit dienen auch § 8 Abs. 2 GlüStV und § 20 Abs. 2 GlüStV, welche die Voraussetzungen und die Wirkung der Spielersperre festlegen, dem Individualinteresse. Der Schutzgesetzcharakter muss im Rahmen des § 8 Abs. 2 GlüStV auch für die Selbst- und Fremdsperre einheitlich gelten. Die Interessenslage des Spielers ist bei der Fremdsperre mit dem Falle der Selbstsperre nicht nur vergleichbar, vielmehr erscheint der Spieler in dieser Konstellation sogar noch schützenswerter. Der Spieler, der eine Selbstsperre beantragt, schafft es, sich selbst zu einem gewissen Zeitpunkt einzugestehen, hinsichtlich seines Glücksspielverhaltens gefährdet zu sein. Diesen Punkt der „reflektierten Selbsteinschätzung“ erreicht der Spieler, dem gegenüber eine Fremdsperre verhängt wird, um ihn aus den in § 8 Abs. 2 GlüStV genannten Motiven zu schützen, aber vielleicht nie. Deshalb ist es zwingend geboten, auch die Fremdsperrverpflichtung als Schutzgesetz zu qualifizieren. Ein weiteres Argument für den Schutzgesetzcharakter ist, dass in mehreren Ausführungsgesetzen des Glücksspielstaatsvertrages von der Möglichkeit des § 28 S. 3 GlüStV Gebrauch gemacht wurde und Verstöße gegen die § 8 Abs. 2 GlüStV und 104 Wagner, in: Münchener Kommentar, § 823 Rn. 498; Teichmann, in: Jauernig BGB, § 823 Rn. 44; Förster, in: Beck-OK, § 823 Rn. 273; BGH, NJW 2014, 64 (64), NJW 2004, 356 (357), NJW 1992, 241 (242), NJW 1973, 1547 (1548). 105 Wagner, in: Münchener Kommentar, § 823 Rn. 498. 106 Wagner, in: Münchener Kommentar, § 823 Rn. 498; Teichmann, in: Jauernig BGB, § 823 Rn. 44; Förster, in: Beck-OK, § 823 Rn. 273; BGH, NJW 2014, 64 (64), NJW 1954, 675 (675), NJW 1973, 1547 (1548) m. w. N. 107 BVerfG, NVwZ 2001, 790 (793).
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§ 20 Abs. 2 GlüStV als Ordnungswidrigkeiten eingestuft wurden und mit Geldbuße geahndet werden.108 Somit ist also von der Schutzgesetzqualität der §§ 8 Abs. 2, 20 Abs. 2 S. 1 GlüStV auszugehen109, sodass bei einer Vertragsablehnung ein gesetzliches Schuldverhältnis bestehen würde. d) Schwächen des Deliktsrechts Problem an einem gesetzlichen Schuldverhältnis ist allerdings, wie auch von den Klägern im Fall des OLG Düsseldorf so ausgeführt, dass es bei § 823 Abs. 2 BGB an einer Beweislastumkehr wie in § 280 Abs. 1 S. 2 BGB fehlt, bzw. die Spielbank die Möglichkeit der Exkulpation gem. § 831 BGB hat.110 Praktisch gesehen ist es selbst mit der Annahme eines Vertrages für einen Spieler äußerst riskant, Schadensersatzansprüche gegen eine Spielbank gerichtlich durchzusetzen. Hauptproblem im Prozess ist meist die erfolgreiche Beweisführung über die Höhe des Schadens. Gerade in einer Spielbank, wo sehr viele Spielverträge in relativ kurzer Zeit geschlossen werden, ist es kaum möglich, den Überblick über Gewinn und Verlust zu behalten. Wäre der Spieler nun zusätzlich mit der Notwendigkeit des Verschuldensnachweises belastet bzw. mit der Exkulpationsmöglichkeit der Spielbank gem. § 831 BGB, würde die Hemmschwelle, einen Prozess gegen die Spielbank anzustrengen, um ein Vielfaches steigen. Selbstverständlich lässt sich dagegen einwenden, dass es diese Prozessrisiken in vielen anderen Bereichen des Deliktsrechts genauso gibt. Doch auch hier ist es nicht ungewöhnlich, dort, wo eine rein deliktische Haftung unbillig erscheint, einen vertraglichen Schadensersatzanspruch zu konstruieren. Man denke nur an die dogmatische Konstruktion des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter111 oder an die Rechtsprechung zum konkludenten Auskunftsvertrag.112 Zwar könnte man davon ausgehen, dass durch die Spielersperre die Nichtigkeit der sperrwidrig geschlossenen Spielverträge begründet wird, sodass sogar ein verschuldensunabhängiger Bereicherungsanspruch gem. § 812 Abs. 1 Alt. 1 BGB in Betracht kommen würde. Allerdings wird einerseits diese Auslegung der Spielersperre von der höchstrichterlichen Rechtsprechung verneint113 und andererseits käme hier nur ein Ausgleich der unmittelbaren Spielverluste in Betracht, bei darüber hinausgehenden Schäden wäre wieder der volle Verschuldensnachweis nach § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. einem Schutzgesetz erforderlich.
108
Peters, NJOZ 2010, 1197 (1198 f.); Fiedler, ZfWG 2015, 188 (192). So auch Reeckmann, ZfWG 2017, 121 (124); Fiedler, ZfWG 2015, 188 (192); Peters, ZfWG 2014, 157 (157). 110 OLG Düsseldorf, Urt. v. 14.04.2011 – 6 U 111/10, BeckRS 2011, 27229. 111 Becker, in: BGB Schuldrecht, § 311 Rn. 139 f.; vgl. dazu auch ausführlich Zenner, NJW 2009, 1030 (1030 ff.) m. w. N. 112 Vgl. dazu beispielsweise BGH, NJW 1986, 180 (180 ff.), NJW 1992, 2080 (2080 ff.), NJW 2009, 1141 (1141 ff.). 113 BGH, NJW 2006, 362 (363). 109
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Dass aber die Qualität bzw. das Niveau des Spielerschutzes allein in der Hand jeder einzelnen Spielbank liegt, nämlich in ihrer Bereitschaft zum Vertragsschluss, erscheint in einem sonst so restriktiv geregelten Bereich wie dem Glücksspielrecht befremdlich. Es stellt sich daher die Frage, ob die Rechtsnatur der Selbstsperre nicht doch vom Gesetzgeber bundeseinheitlich geregelt worden ist. Das wäre der Fall, wenn man davon ausgeht, dass § 8 Abs. 2 Alt. 1 GlüStV so auszulegen ist, dass er einen Kontrahierungszwang anordnet. Nur dann kann zwingend angenommen werden, dass die Spielbank neben der Eintragung der Sperre in die Sperrdatei stets verpflichtet ist, sich mit dem Spieler auf einen Sperrvertrag einzulassen. So ist auch das LG Düsseldorf von einem solchen ohne nähere Begründung ausgegangen.114 Das OLG Düsseldorf hingegen stufte die Anordnung eines Kontrahierungszwanges als nicht entscheidungserheblich ein, da sie die Rechtsverbindlichkeit des Spielsperrvertrages, wie zur Zeit des alten Rechts auch, darin begründet sah, dass sich die Spielbank gegenüber dem Spieler zu dem für sie nachteiligen Vertrag privatautonom verpflichtet hat.115 Dies verkennt aber, dass bei ausdrücklicher Ablehnung der Spielbank ein privatautonom vereinbarter Vertragsschluss gerade nicht angenommen werden kann. Nur, wenn ein Kontrahierungszwang vorliegt, wäre eine ausdrückliche Ablehnung unbeachtlich. e) Kontrahierungszwang gem. § 8 Abs. 2 Alt. 1 BGB Im Folgenden ist daher zu klären, ob § 8 Abs. 1 Alt. 1 BGB so auszulegen ist, dass der Norm ein Kontrahierungszwang zu entnehmen ist. Rechtsfolge eines Kontrahierungszwanges ist nach allgemeiner Auffassung der einseitige Anspruch des Berechtigten gegen den Kontrahierungspflichtigen auf Abgabe der erforderlichen Vertragserklärung.116 Die als Ausfluss der allgemeinen Handlungsfreiheit durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Vertragsfreiheit ist die wohl wichtigste Ausprägung der Privatautonomie.117 Die Vertragsfreiheit beinhaltet unter anderem das Recht, überhaupt Verträge zu schließen oder auch deren Inhalt und seinen Vertragspartner beliebig zu bestimmen. Wenn allerdings die Vertragsparität gestört ist, kann die Vertragsfreiheit nicht unbeschränkt gewährt werden. In einem solchen Fall müssen Schutznormen eingreifen, die gewährleisten, dass eine Vertragspartei ihre Vertragsfreiheit nicht einseitig zu Lasten des anderen Vertragspartners ausübt.118 So finden sich im BGB viele solcher Regelungen, wie beispielsweise verbraucherschützende Vorschriften, §§ 474 ff. BGB, im allgemeinen Schuldrecht Formvorschriften oder im besonderen Schuld114
LG Düsseldorf, Urt. v. 10.03.2010 – 12 O 199/09, BeckRS 2010, 25573. OLG Düsseldorf, Urt. v. 14.04.2011 – 6 U 111/10, BeckRS 2011, 27229; so auch Peters, NJOZ 2010, 1197 (1200). 116 Eckert, in: Beck-OK, § 145 Rn. 12; Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 247 ff.; Bydlinski, AcP 1980, 1 (15 ff.); Wolf, in: Soergel BGB, Vor § 145 Rn. 50. 117 Mansel, in: Jauernig BGB, Vor § 145 – § 157 Rn. 8. 118 Eckert, in: Beck-OK, § 145 Rn. 8. 115
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recht Normen wie §§ 571, 613a BGB, nach denen der Vermieter bzw. Betriebsübernehmer im Wege der Vertragsübernahme in ein Schuldverhältnis mit Personen gezwungen wird, mit denen er sonst eventuell keinen Vertrag geschlossen hätte. Dies liegt daran, dass die Vertragsfreiheit mit anderen Gestaltungsprinzipien der geltenden Rechtsordnung, wie beispielsweise dem Gerechtigkeitsprinzip, in Einklang gebracht werden muss.119 Gerade auch bei einem Vertragsschluss zeigt sich, dass die Vertragsbegründungsfreiheit der einen Partei auch immer von der einer anderen Partei abhängt. Nur wenn beide Parteien einen Vertragsschluss anstreben, können auch beide umfassend von ihrer Vertragsfreiheit Gebrauch machen.120 Auch bei der Konstruktion des Sperrvertrages ist eine umfassende Vertragsfreiheit nicht möglich. Schließen Spielbank und Spieler einen Sperrvertrag, sind sie zwar zu diesem Zeitpunkt in ihrer Vertragsfreiheit unbeschränkt. Da sie in diesem Vertrag aber vereinbaren, in Zukunft gerade keine Spielverträge mehr miteinander zu schließen, sind sie zu diesem späteren Zeitpunkt gerade begrenzt. Gestattet man den Parteien aber erst gar nicht, einen solchen Sperrvertrag zu schließen, wären sie zwar in Bezug auf den Abschluss der Spielverträge frei, nicht aber zum Zeitpunkt des Abschlusses des Sperrvertrages. Es sind zudem Situationen denkbar, in denen aufgrund der Vertragsverweigerung der einen Partei eine nicht hinnehmbare Gefährdungslage für eine andere Partei entsteht, der mit Hilfe der Rechtsfigur des Kontrahierungszwanges abgeholfen werden muss. aa) Die Rechtsfigur des Kontrahierungszwangs Die Rechtsfigur des Kontrahierungszwanges ist in seinen Einzelheiten äußerst umstritten. Um eine Einschätzung darüber treffen zu können, ob auch § 8 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 GlüStV einen solchen Zwang anordnet, soll im Folgenden zunächst eine Zusammenfassung der wesentlichen Inhalte, die diese Rechtsfigur ausmachen, erfolgen. Nach der wohl am häufigsten zitierten Definition121 versteht man unter Kontrahierungszwang „die aufgrund einer Norm der Rechtsordnung einem Rechtssubjekt ohne seine Willensbildung im Interesse eines Begünstigten auferlegte Verpflichtung, mit diesem einen Vertrag bestimmten oder von unparteiischer Seite zu bestimmenden Inhalts abzuschließen.“122 Aus dieser Definition ergibt sich allerdings noch nicht die Funktion des Kontrahierungszwangs. So enthalten Definitionen anderer Autoren neben dieser Mittel119
Busche, in: Münchener Kommentar, Vor § 145 Rn. 12. Busche, in: Münchener Kommentar, Vor § 145 Rn. 12. 121 U. a. Bydlinski, AcP 1980, 1 (3 f.); Medicus/Lorenz, SchuldR AT, S. 34 Rn. 74; LG Stuttgart, WM 1996, 1770 (1773). 122 Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag, S. 7. 120
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und Zweckkomponente auch eine Funktionskomponente.123 So wird als Funktion des Kontrahierungszwangs die „Abwendung der Gefährdung lebenswichtiger Interessen der Einzelnen oder der Gesamtheit von der Rechtsordnung als sozialem Institut“124 genannt. Oder der Kontrahierungszwang wird als „Korrektiv für das marktbedingte Fehlen einer zumutbaren Handlungsalternative für den Begünstigten beim Vertragsschluss über wichtige Güter und Leistungen“125 bezeichnet.126 Dabei wird meist zwischen dem allgemeinen (mittelbaren) und dem besonderen (unmittelbaren, spezialgesetzlichen) Kontrahierungszwang unterschieden.127 Unter einem allgemeinen Kontrahierungszwang versteht man, wenn sich ein solcher, ohne in einer ausdrücklichen gesetzlichen Vorschrift angeordnet zu sein, aus den allgemeinen Vorschriften des BGB ergibt. Zwar ist die ihn begründende Anspruchsgrundlage umstritten128, der allgemeine Kontrahierungszwang ergibt sich aber in der Regel aus einer gegenläufigen Willensbetätigung des Verpflichteten, der den zunächst in Aussicht gestellten Vertragsabschluss anschließend in rechtswidriger Weise verweigert.129 Der hier zunächst eher in Frage kommende besondere (spezialgesetzliche, unmittelbare) Kontrahierungszwang gründet meist auf einer ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung. Dabei werden in der Regel drei ihn begründende Fallgruppen unterschieden.130 So unterliegen häufig Sachverhalte dem Kontrahierungszwang, bei denen es um die Versorgung der Allgemeinheit mit lebenswichtigen Gütern geht.131 Diese Fallgruppe trifft häufig mit derjenigen zusammen, bei der sich eine Vertragsabschlussverpflichtung aus einer monopolistischen Stellung des Anbieters ergibt.132 In der dritten Fallgruppe werden Sachverhalte zusammengefasst, bei denen sich ein Kontrahierungszwang aus den Besonderheiten der jeweiligen Rechtsnorm ergibt, die aber regelmäßig dadurch entstehen, dass der Gesetzgeber in den freien Markt- und Leistungsaustausch eingreift.133 Der besondere Kontrahierungszwang hat dabei in erster Linie zum Ziel, den im Allgemeininteresse liegenden, in den 123
Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 111. Mertens, Über Kontrahierungszwang, S. 5. 125 Kilian, AcP 1980, 47 (52). 126 Vgl. zu einer ausführlichen Begriffsanalyse Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 110 ff. 127 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 124 ff; Mansel, Jauernig BGB, Vor § 145-§ 157 Rn. 9 ff.; Eckert, in: Beck-OK, § 145 Rn. 14 f.; Kilian, AcP 1980, 47 (53 ff.); Wolf, in: Soergel BGB, Vor § 145 Rn. 52 f. 128 Vgl. ausführlich Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 143 ff. 129 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 236 ff. 130 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 578 ff.; Grunewald, AcP 1982, 181 (187 ff.); Kilian, AcP 1980, 47 (74); Klingenfuß, Kontrahierungszwang, S. 148 ff. 131 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 578 f., mit vielen Beispielen. 132 Beispielsweise: § 18 EnWG, § 21 Abs. 2 S. 3 LuftVG, § 12 Abs. 1a und 1b VAG, § 193 Abs. 5 Nr. 4 VVG, § 22 PBefG. 133 Sprafke, Diskriminierungsschutz durch Kontrahierungszwang, S. 123 f. 124
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einzelnen Normen verfolgten heteronomen Zwecksetzungen zu dienen und besteht nur sekundär im Interesse individueller Freiheitssicherung und Bedürfnisbefriedigung.134 Wenn einzelne Rechtssubjekte durch die Rechtsfolgen des besonderen Kontrahierungszwanges begünstigt werden, handelt es sich dabei lediglich um einen „Reflex des im Gemeinwohl verankerten Lenkungsziels“.135 Charakteristisch für die Entstehung besonderer Kontrahierungspflichten ist die generelle Abschlussbereitschaft des Verpflichteten, der von der Rechtsordnung privilegierte Leistungen der Öffentlichkeit zum Vertragsabschluss zur Verfügung stellt.136 bb) Die Auslegung des § 8 Abs. 2 Alt. 1 GlüStV Auf Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse zur Rechtsfigur des Kontrahierungszwanges soll nun anhand des klassischen Auslegungskanons § 8 Abs. 2 Alt. 1 GlüStV dahingehend untersucht werden, ob auch dieser eine Vertragsabschlussverpflichtung anordnet. (1) Sprachlich-grammatikalische Auslegung Ausgangspunkt der sprachlich-grammatikalischen Auslegung ist der Wortlaut der Norm, von welchem die Rechtsfolge Kontrahierungszwang gedeckt sein muss. Bei vergleichbaren Normen, die einen solchen Zwang anerkanntermaßen anordnen, ergibt sich diese „obligatio ex lege“ meist nicht ausdrücklich aus dem Gesetz. Es wird zumindest in der Regel keine Vertragsabschlussverpflichtung ausgesprochen, sondern vielmehr lediglich eine Verpflichtung zur Leistung.137 So ist es auch bei § 8 Abs. 2 Alt. 1 GlüStV, wonach Spielbanken und Veranstalter von Sportwetten und Lotterien mit besonderem Gefährdungspotential Personen sperren, die dies beantragen. Zwar ergibt sich daraus, dass der Gesetzgeber den Glücksspielveranstaltern gerade keinen Entscheidungsspielraum zugestehen wollte, sondern vielmehr eine Sperrpflicht besteht. Dem Wortlaut lässt sich aber nicht entnehmen, ob auch eine Pflicht zur Annahme eines privatrechtlichen Vertrages besteht. Grundsätzlich wäre diese Rechtsfolge aber vom Wortlaut gedeckt. (2) Historische Auslegung Bei der historischen Auslegung kommen die Motive und Erwägungen des Gesetzgebers zum Tragen, wobei ein besonderes Augenmerk auf die Gesetzesbegründung gelegt wird. Bereits in den in § 1 GlüStV verankerten Zielen zeigt sich, dass es unter anderem ein Ziel des Staatsvertrages ist, den Spielerschutz zu gewährleisten. Das Anliegen des Gesetzgebers war es laut der Begründung des Ge134 135 136 137
Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 575. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 576. Sprafke, Diskriminierungsschutz durch Kontrahierungszwang, S. 97 f. Mit vielen Beispielen Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 583.
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setzentwurfs, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in der „SportwettenEntscheidung“138 zur Aufrechterhaltung des Wettmonopols für den gesamten Bereich des staatlichen Glücksspielmonopols umzusetzen.139 So lautete eine Anforderung des Bundesverfassungsgerichts, dass das Wettmonopol nur aufrechterhalten werden dürfe, wenn es an dem Ziel der Suchtbekämpfung und damit verbunden des Spielerschutzes ausgerichtet werde, auch etwa durch Vorkehrungen wie der Möglichkeit der Selbstsperre.140 Ob der Gesetzgeber noch über die BGH-Rechtsprechung hinausgehen wollte und sich nicht auf einen freiwillig geschlossenen Vertrag zwischen Spielbank und Spieler verlassen, sondern einen solchen durch Zwang anordnen wollte, lässt sich der Begründung nicht entnehmen. Zwar könnte man dadurch, dass der Fokus stark auf den Spielerschutz gelegt wird, argumentieren, dass sich ein solcher durch eine Vertragsabschlussverpflichtung besser umsetzen ließe. Man könnte aber auch genauso davon ausgehen, dass der Gesetzgeber diesen Schutz durch eine einseitige gesetzliche Verpflichtung als ausreichend gesichert ansah. (3) Systematische/Teleologische Auslegung Weiterhin sind Systematik sowie Sinn und Zweck des § 8 Abs. 2 Alt. 1 GlüstV zu untersuchen. Da die Spielersperre mit der Einführung des Glücksspielstaatsvertrages erstmals kodifiziert wurde und auch innerhalb dieses Regelwerkes einmalig ist, können keine systematischen Rückschlüsse auf die Statuierung eines Kontrahierungszwanges gezogen werden. Anders als bei den meisten Normen, die einen Kontrahierungszwang anordnen, geht es bei § 8 Abs. 2 Alt. 1 GlüStV nicht um eine klassische Leistungsverpflichtung, also um die Versorgung mit einem bestimmten Gut. Es geht vielmehr darum, von der Versorgung eines „Gutes“, der Möglichkeit, Spielverträge abzuschließen, ausgeschlossen zu werden. Zunächst ist zu prüfen, ob sich der Lebenssachverhalt, dem Spieler und Spielbank unterliegen, unter eine der zuvor erarbeiteten typischen Fallgruppen des Kontrahierungszwanges subsumieren lässt. So unterliegen häufig Sachverhalte dem Kontrahierungszwang, bei denen es um die Versorgung der Allgemeinheit mit lebenswichtigen Gütern geht.141 Dabei kann es zunächst dahinstehen, ob ein Kontrahierungszwang nur bei lebensnotwendigen oder lebenswichtigen Leistungen in Betracht kommt oder bei jeder Bedarfsdeckung im Rahmen der normalen Lebensführung eines Durchschnittsmenschen.142 Es kommt dabei nicht auf die Sichtweise des Spielers an, sondern darauf, ob es im Allgemeininteresse liegt, dass jede Person, die die Spielbank mit ihrem Antrag auf Selbstsperre auf ihre Gefährdungslage hinweist, keinen Zugang zum Glücksspiel 138 139 140 141 142
(37).
BVerfG, NJW 2006, 1261 (1261 ff.). LT-Drs. 15/8486, S. 9 ff. BVerfG, NJW 2006, 1261 (1267). Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 578 f. BGH, NJW 1990, 761 (762) m. w. N.; für „Normalbedarf“ etwa Bydlinsky, AcP 1980, 1
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erhält. Dabei soll bei der Betrachtung zunächst außen vor bleiben, dass auch ohne privatrechtlichen Sperrvertrag eine gesetzliche Verpflichtung zur Eintragung in die übergreifende Sperrdatei besteht mit den Wirkungen des § 20 Abs. 2 S. 2 GlüStV, der schon faktisch den Zugang zum Spiel durch eine Identitätskontrolle zu verhindern vermag. Ein solches Allgemeininteresse könnte man mit der Zuordnung des Glücksspielstaatsvertrages zum Recht der öffentlichen Sicherheit und Ordnung begründen. Wie sich schon aus den Erläuterungen und den in § 1 GlüStV genannten Zielen ergibt, geht der Staatsvertrag von der ordnungsrechtlichen Aufgabe der Länder aus, den natürlichen Spieltrieb der Bevölkerung in geordnete und überwachte Bahnen zu lenken und insbesondere, ein Ausweichen auf nicht erlaubte Glücksspiele zu vermeiden. Ohne einschränkende Regelungen sei eine unkontrollierte Entwicklung des Glücksspiels zu befürchten, weil sich der Spieltrieb leicht zu wirtschaftlichen Zwecken ausnutzen lasse. Dem sei im Hinblick auf die möglichen nachteiligen Folgen für die psychische (Spielsucht) und wirtschaftliche Situation der Spieler, aber auch wegen der gesellschaftlichen Begleiterscheinungen (Therapien, staatliche Suchtprävention sowie Begleit- und Beschaffungsdelikte) entgegenzuwirken.143 Eine Spielersperre ist grundsätzlich geeignet, den Eintritt dieser Folgen zu verhindern. Sinn und Zweck dieser Fallgruppe des Kontrahierungszwanges ist es aber eher, dass die Leistung, um die es geht, in diesem Fall also der Ausschluss vom Spiel, zumindest von einem „Durchschnittsmenschen“ bzw. einem Großteil der Allgemeinheit benötigt wird und durch den Zwang die Bereitstellung dieser Leistung garantiert werden soll.144 Ein Interesse an dieser Leistung hat aber nur ein kleiner Prozentsatz in der Bevölkerung, nämlich 241.000 Menschen in Deutschland, bei denen ein problematisches Spielverhalten und rund 215.000 Personen, bei denen ein pathologisches Glücksspielverhalten vorliegt.145 Deshalb lässt sich genauso begründen, dass die Selbstsperre vielmehr im Interesse jedes einzelnen Spielers liegt, vor allem aber auch im Interesse der Spielbank. Die konsequente Verfolgung des Spielerschutzes und damit auch die Sperre von Glücksspielern ist gerade die Rechtfertigung für die restriktive Glücksspielgesetzgebung in Deutschland.146 Wenn die Spielbank die Spieler nicht mehr sperrt, verliert sie ihre Konzession und beraubt sich damit möglicherweise ihrer Existenzgrundlage. Denn die Konzessionsvergabe an die Spielbanken ist in allen Bundesländern an die Verfolgung der in § 1 GlüStV genannten Ziele gekoppelt, worunter auch der Spielerschutz zählt. Mit dieser Argumentation liegt es nur im Allgemeininteresse, generelle Regelungen zur Vermeidung und Abwehr von Suchtgefahren zu schaffen, 143
LT-Drs. 15/8486, S. 9. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 575 ff. 145 Pressemitteilung DHS Jahrbuch Sucht 2017, S. 4, abrufbar unter http://www.dhs.de/fi leadmin/user_upload/pdf/news/2017-04-11_PM_daten_und_fakten_oS.pdf (zuletzt aufgerufen am 11.10.2017). 146 Peters, ZfWG 2007, 321 (321). 144
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was schon aus der staatlichen Pflicht zum Schutz der Gesundheit der Bürger nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgt.147 Eine eindeutige Zuordnung, ob es im Allgemeininteresse liegt, dass jede Person, die die Spielbank mit ihrem Antrag auf Selbstsperre auf ihre Gefährdungslage hinweist, keinen Zugang zum Glücksspiel erhält, ist damit nicht möglich. Eine weitere anerkannte Fallgruppe des Kontrahierungszwanges liegt vor, wenn ein Anbieter eine monopolistische Marktstellung innehat.148 Eine solche Monopolstellung einer Spielbank hat der BGH in einer Entscheidung verneint, bei der es um die Frage ging, ob Spielbanken hinsichtlich des Abschlusses von Spielverträgen einem Kontrahierungszwang unterliegen. Zur Zeit dieser Entscheidung gab es in der Bundesrepublik Deutschland etwa 40 zugelassene Spielbanken und auch im regionalen Bereich, im Fall war dies das Hamburger Umland, konnte eine Monopolstellung nicht festgestellt werden.149 Da es derzeit insgesamt 81150 zugelassene Spielbanken in Deutschland gibt und eine Sperre gem. § 8 Abs. 2 Alt. 1 GlüStVauch bei Veranstaltern von Sportwetten und Lotterien mit besonderem Gefährdungspotential beantragt werden kann, ist eine Monopolstellung wohl zu verneinen. Fraglich ist aber, ob man nicht aus den Besonderheiten, die dem Glücksspiel immanent sind, aus § 8 Abs. 2 Alt. 1 GlüStV einen Kontrahierungszwang folgern muss. Eine Vertragsabschlussverpflichtung folgt auch häufig aus der Tatsache, dass der Gesetzgeber in den freien Markt- und Leistungsaustausch eingreift.151 Dies ist hier grundsätzlich der Fall, da für alle in § 8 Abs. 2 GlüStV genannten Veranstalter, also Spielbanken, Veranstalter von Sportwetten und Lotterien mit besonderem Gefährdungspotential, ein Konzessions- bzw. Monopolsystem besteht. Beim Glücksspiel handelt es sich um eine von der Rechtsordnung privilegierte Leistung, die der Öffentlichkeit nur unter der Erfüllung zahlreicher Vorschriften zum Vertragsabschluss zur Verfügung gestellt werden darf. Ein freier Markt existiert gerade nicht. So führte schon das BVerfG aus, dass der Betrieb einer Spielbank eine an sich unerwünschte Tätigkeit sei, die der Staat gleichwohl erlaube, um das illegale Glücksspiel einzudämmen, dem nicht zu unterdrückenden Spieltrieb des Menschen staatlich überwachte Betätigungsmöglichkeiten zu verschaffen und dadurch die natürliche Spielleidenschaft vor strafbarer Ausbeutung zu schützen.152 Aus diesem Satz folgert der BGH, dass die Privatautonomie im Verhältnis von Spielbank und Spieler von vornherein eine grundsätzlich andere als die Privatautonomie im klassischen Rechtsverkehr sei. Diene die Privatautonomie grundsätzlich dazu, den Parteien gegenseitig vorteilhafte Rechtsgeschäfte nach deren Präferenzen zu ermöglichen, sei die Freiheit des Spiels eine zweckgebundene Freiheit, die mit dem 147 148 149 150 151 152
LT-Drs. 15/8486, S. 11. Bork, in: Staudinger BGB, Vorbem. zu §§ 145 ff. Rn. 15 ff. BGH, ZIP 1994, 1274 (1274 ff.). Fiedler, ZfWG 2015, 188 (188). Sprafke, Diskriminierungsschutz durch Kontrahierungszwang, S. 123 f. BVerfG, NVwZ 2001, 790 (793).
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Ziel genährt werde, noch größeren Schaden des Spieltriebs zu verhindern.153 Diese durch die Eigenheiten des Glücksspiels und die limitierte Existenzberechtigung von Spielbanken geprägten Besonderheiten seien der Grund, warum es dem Kasinobetreiber zugemutet werde, sich „paternalistisch“ vor den Spielwunsch seiner besten Kunden zu stellen. Das Ungewöhnliche der von der Spielbank akzeptierten Eigensperre ergebe sich aus der Besonderheit der rechtlichen Verhältnisse, die aus der Zulassung des öffentlich-rechtlich konzessionierten Glücksspiels und aus dessen spezifischen Gefährdungstatbeständen folgt.154 Beachtet man die großen Gefahren des Glücksspiels und die sozialen Folgen, die sich für einen Spieler aus seiner Spielsucht ergeben können (Insolvenz, Forderungsausfälle Dritter, keine Unterstützung der Familie, Kriminalitätsrisiko), erscheint es nur konsequent, die Privatautonomie der Spielbank zugunsten des Spielerschutzes mittels Kontrahierungszwang zu beschränken. Das Glücksspiel ist eine Tätigkeit, die keine Werte schafft, der Gewinn des einen entspricht exakt dem Verlust des anderen (sog. Nullsummenspiel).155 Es ist für den Spieler höchst verlockend und dadurch gefährlich. Die Spielbank und durch Steuern der Staat erzielen auf der anderen Seite an dieser Tätigkeit Milliardengewinne. Deshalb erscheint es mehr als unbillig, der Spielbank in einem so gefährlichen Bereich die Möglichkeit zu belassen, nicht auf zivilvertraglicher Ebene Vorkehrungen gegen die Gefahr der Glücksspielsucht treffen zu müssen. Die Privatautonomie der Spielbank erscheint dabei wenig schützenswert. Gerade auf ihre Angestellten muss strikter Verlass sein, ohne eine Möglichkeit der Exkulpation. Sind es aber vom Parteiwillen unabhängige Umstände, die für eine zusätzliche zivilrechtliche Haftung der Spielbank sprechen, erscheint es dogmatisch stimmig, aus § 8 Abs. 2 Alt. 1 GlüStVeinen Kontrahierungszwang zu folgern, der unabhängig vom Parteiwillen, nämlich kraft Gesetzes besteht. „Wenn die Rechtsordnung die privatautonome Gestaltungsfreiheit anerkennt, so muß sie daher folgerichtig für einen Ausgleich der damit verbundenen Risiken durch die Statuierung besonderer Rechtspflichten sorgen.“156
Grundsätzlich dient der klassische Anwendungsbereich des Kontrahierungszwanges aber eher dem Zweck, die Versorgung mit der primären Leistungsverpflichtung sicherzustellen. Die Gefährdungslage ergibt sich direkt aus der Tatsache, dass eine Partei nicht mit der Leistung einer anderen Partei versorgt wird.157 Bei der Annahme eines Kontrahierungszwanges i. R. d. § 8 Abs. 2 Alt. 1 GlüStV würde der Zwang aber eher dem Zweck dienen, Sekundäransprüche durchzusetzen bzw. zu vereinfachen. Übertragen auf Spieler und Spielbank wäre die primäre 153 154 155 156 157
BGH, NJW 2012, 48 (49). BGH, NJW 2012, 48 (49). Klöhn, VersR 2007, 552 (556). Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, S. 440. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 575 ff.
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Leistungsverpflichtung die Kontrollverpflichtung zur Verhinderung des Abschlusses eines Spielvertrages der Spielbank. Das Klagebegehren des Spielers ist aber wohl nie auf Abschluss des Vertrages bzw. darauf gerichtet, von der Spielbank kontrolliert zu werden. Erst dann, wenn der Spieler zum Spiel zugelassen wurde und dadurch Verluste erlitten hat, wird er Ansprüche gegenüber der Spielbank geltend machen. Es geht also nicht um die primäre Leistungsverpflichtung, sondern um die sekundäre Schadensersatzverpflichtung. Allerdings ist auch die Durchsetzung von Sekundäransprüchen Zweck des Kontrahierungszwanges. Die Partei, der der Kontrahierungszwang zu Gute kommt, soll gerade auch vor den Folgen geschützt werden, die sich aus der Vertragsverweigerung ergeben.158 Darin sind gerade auch die Folgen der Vorenthaltung der primären Leistungsverpflichtung zu sehen. Wenn nämlich der Kontrahierungspflichtige den Vertragsschluss schuldhaft verhindert, steht dem Kontrahierungsberechtigten neben dem Anspruch auf Vertragsschluss ein Anspruch auf Schadensersatz zu, da durch die Geltendmachung des Anspruchs auf Vertragsschluss eine auf Gesetz beruhende schuldrechtliche Sonderverbindung zwischen den Parteien entsteht, die bei schuldhafter Verletzung der Vertragsabschlusspflicht, ähnlich dem gesetzlichen Schuldverhältnis der culpa in contrahendo, zum Schadensersatz verpflichtet.159 Mit diesem aus dem Kontrahierungszwang folgenden Schadensersatzanspruch hätte der Spieler dann den Vorteil, dass nicht nur der Anspruch wegen einer Kontrollpflichtverletzung neben dem deliktischen Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 20 Abs. 2 GlüStV auf vertraglicher Ebene durchsetzbar wird, sondern auch der Schadensersatzanspruch, der sich aus der schuldhaften Nicht-Sperre ergibt, neben dem deliktischen Anspruch aus § 823 Abs. 2 i. V. m. § 8 Abs. 2 Alt. 1 GlüStV eine vertragliche Anspruchsgrundlage erhält. Dass dies überzeugt, beruht auf der Überlegung, dass der Spielbank neben einer Kontrollpflichtverletzung auch dann eine vertragliche Haftung drohen muss, wenn sie die Sperre erst gar nicht einträgt. Gerade wenn der Spieler die Spielbank auf seine Gefährdungslage hinweist, muss der Spielbank auch in zivilrechtlicher Hinsicht eine besondere Verantwortung auferlegt werden, da sie ab diesem Moment für den Spieler eine besondere Vertrauensposition einnimmt. Gerade von ihrer Eintragung hängt es ab, dass auch bundesweit die Spielbanken von der Gefährdungslage des Spielers erfahren und so in der Lage sind, ihn wirksam vom Spiel auszuschließen.
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Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 243. Bork, in: Staudinger BGB, Vor §§ 145 ff. Rn. 31; BGH, NJW 1974, 1903 (1904); Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, S. 243 f. m. w. N. 159
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Deshalb ist § 8 Abs. 2 Alt. 1 GlüStV so auszulegen, dass ihm ein Kontrahierungszwang zu entnehmen ist, da dieser absolut und nicht wie ein privatautonom geschlossener Vertrag einzelfallabhängig entsteht.160 Letztlich ist damit der Spielsperrvertrag ein gesetzlich durch Kontrahierungszwang angeordneter Odysseus-Vertrag und damit einmalig in der Rechtsordnung.
III. Der Inhalt des Sperrvertrages Steht nun die Rechtsnatur der Selbstsperre als ein durch Kontrahierungszwang begründeter Vertrag fest, ist im Folgenden der Schuldinhalt der vertraglichen Absprache gem. §§ 133, 157 BGB genauer zu bestimmen. Der Sperrvertrag ist ein Vertragstyp, der nicht ausdrücklich im BGB oder einem anderen Gesetz geregelt ist. Bei nicht ausdrücklich kodifizierten Verträgen unterscheidet man zwischen den atypischen, den gemischten bzw. typengemischten Verträgen, die zwar Elemente gesetzlich kodifizierter Verträge enthalten, sich aber nicht eindeutig unter einen Typus subsumieren lassen sowie Verträgen sui generis.161 In einem ersten Schritt sollen nun die aus der Abrede folgenden Leistungspflichten bestimmt werden, um danach in einem zweiten Schritt die Auswirkungen des Sperrvertrages auf sperrwidrig geschlossene Spielverträge zu untersuchen. 1. Vertragliche Leistungspflichten Die Tatsache, dass der Selbstsperrvertrag durch Kontrahierungszwang zustande kommt, nimmt ihm nicht den zivilrechtlichen Charakter.162 Die Rechtswirkungen des Sperrvertrages können zudem über die öffentlich-rechtlichen Pflichten hinausgehen, da das Öffentliche Recht jeweils nur einen Mindeststandard festlegt.163 Es stellt sich zunächst die Frage, ob es sich beim Sperrvertrag um einen einseitig verpflichtenden Vertrag oder einen gegenseitig verpflichtenden Vertrag handelt. Bei einem einseitig verpflichtenden Vertrag würden dem Spielbankbetreiber keine Rechte, sondern ausschließlich Pflichten entstehen.164 Bei einem gegenseitig verpflichtenden Vertrag würden dagegen auch auf Seiten des Spielers Pflichten entstehen, etwa dahingehend, das Spiel zu unterlassen, wo-
160
Ebenso noch zur alten Rechtslage Peters, ZfWG 2007, 321 (321 f.); ebenso Engel, in: Staudinger BGB, § 763 Rn. 18; LG Düsseldorf, Urt. v. 10.03.2010 – 12 O 199/09, BeckRS 2010, 25573. 161 Emmerich, in: Münchener Kommentar, § 311 Rn. 24. 162 Busche, in: Münchener Kommentar, Vor § 145 Rn. 12. 163 BGH, NJW 2008, 840 (841), NJW 2012, 48 (50). 164 Schulze, in: FS Jayme, S. 1580.
200
Kap. 4: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Verträge
durch auch der Glücksspielveranstalter mögliche Gewinne des Spielers als Schaden mittels eines sekundären Schadensersatzanspruches geltend machen könnte.165 Prima facie erscheint aus Sicht des Vertragszwecks, nämlich des Schutzes des Spielers, die Annahme eines einseitig verpflichtenden Vertrags vorzugswürdig. So ließe sich argumentieren, dass der Spieler nicht auch noch mit Schadensersatzansprüchen der Spielbank belastet werden soll. Könnte die Spielbank aber die ausgezahlten Gewinne nicht zurückfordern, hätte der Spieler letztlich doch die Möglichkeit, gewinnbringend zu spielen, was dem Spielerschutz gerade abträglich wäre. Haftet er aber auch auf die Gewinne, die er trotz wirksamer Spielersperre in der Spielbank erzielt, kann er nicht mehr gewinnen. Damit würde das Spiel trotz Sperre für den Spieler letztlich zum Nullsummenspiel avancieren, was dem Spielerschutz besser dient. Hauptleistungspflicht des Glücksspielveranstalters im Rahmen eines Sperrvertrages ist es nach dem BGH, das Zustandekommen von Spielverträgen mit dem gesperrten Spieler zu verhindern und die Einhaltung der Sperre zu überwachen.166 Konkret bedeutet dies, dass der Glücksspielveranstalter keinerlei Vertragsabschlusserklärungen im Hinblick auf einen Spielvertrag abgeben bzw. annehmen darf.167 Strittig ist regelmäßig, welches Ausmaß diese Kontroll- und Verhinderungspflicht im Einzelnen hat und welche Maßnahmen die Spielbank ergreifen muss, um ihren vertraglichen Verpflichtungen gerecht zu werden. Nach dem BGH besteht diese Verpflichtung nur im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren.168 Die Spielbank muss alle ihr möglichen und zumutbaren Anstrengungen, wie sorgfältige Personenkontrollen unter gleichzeitigem Abgleich mit der Sperrdatei mit anschließender Zurückweisung des Spielers, unternehmen, um eine erneute Teilnahme des Spielers am Glücksspiel zu verhindern.169 Während der BGH 2006 noch eine Einschränkung der übernommenen Vertragspflichten einer Spielbank bei der Überwachung der Spielersperre beim Automatenspiel akzeptiert hat170, erkennt er nunmehr auch in Automatenspielsälen eine generelle Kontrollpflicht der Spielbank an, die den Zutritt von antragsgemäß gesperrten Spielern verhindern soll.171 Diese Rechtsprechung ist mittlerweile auch in § 20 Abs. 2 S. 1 GlüStV kodifiziert, wonach gesperrte Spieler vom Spiel auszuschließen sind, ohne dass diesbezüglich zwischen „Großem und Kleinem Spiel“ differenziert wird. 165
Schulze, in: FS Jayme, S. 1580. BGH, NJW 2006, 362 (363), NJW 2008, 840 (841), NJW 2012, 49 (49); ebenso Schulze, in: FS Jayme, S. 1583; Weis, Die Sperre des Glücksspielers, S. 44 f.; Peters, JR 2002, 177 (178). 167 Schulze, in: FS Jayme, S. 1581. 168 BGH, NJW 2006, 362 (363). 169 BGH, NJW 2012, 49 (49), NJW 2008, 840 (841); ebenso Schulze, in: FS Jayme, S. 1583. 170 BGH, NJW 2006, 362 (362 ff.). 171 BGH, NJW 2008, 840 (840 ff.). 166
C. Die Spielersperre als echter Odysseus-Vertrag
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Fraglich ist zudem, ob es neben der öffentlich-rechtlichen Verpflichtung auch als Hauptleistungspflicht des Sperrvertrages anzusehen ist, dass der Glücksspielveranstalter den Spieler in die bundesweite Sperrdatei einträgt. Dies ist aus Spielerschutzgründen zu bejahen, da bei schuldhafter Verzögerung der Eintragung bzw. eines schuldhaften Unterlassens der Eintragung dem Spieler wiederum vertragliche Schadensersatzansprüche zur Verfügung stehen würden. Der Spielsperrvertrag wird damit nicht erst nach Eintragung in die zentrale Sperrdatei wirksam, sondern vielmehr schon bei Antragsstellung des Spielers.172 Mit Urteil vom 20.10.2011 entschied der BGH, dass auch die Aufhebung einer Selbstsperre durch die Spielbank eine Verletzung des Spielsperrvertrags darstellt, wenn nicht der Spielbank zuvor der hinreichend sichere Nachweis erbracht wird, dass der Schutz des Spielers vor sich selbst dem nicht mehr entgegensteht, mithin keine Spielsuchtgefährdung mehr vorliegt und der Spieler zu einem kontrollierten Spiel in der Lage ist.173 Spiegelbildich zu den Vertragspflichten der Spielbank ist es die Hauptleitungspflicht des Spielers, ebenfalls das Zustandekommen von Spielverträgen zu verhindern, indem keinerlei Vertragsabschlusserklärungen im Hinblick auf einen Spielvertrag abgegeben bzw. angenommen werden dürfen.174 2. Die Auswirkungen des Sperrvertrages auf zukünftig geschlossene Spielverträge a) Notwendigkeit der Nichtigkeit der Spielverträge Fraglich ist, ob sich die Rechtswirkungen des Sperrvertrages in den oben genannten Leistungspflichten erschöpfen. So besteht nämlich die Möglichkeit, dass durch den Sperrvertrag die Spielverträge, die der gesperrte Spieler schließt, der trotz der Eigensperre die Möglichkeit erhält, am Spiel in einem Kasino teilzuhaben, rückwirkend oder von vornherein ihre Wirksamkeit verlieren sollen. Es wirkt zumindest inkonsequent, dass der Sperrvertrag zwar die Spielbank zur Kontrolle verpflichtet, bei einer Verletzung dieser Überwachungspflicht die später geschlossenen Spielverträge jedoch trotzdem rechtskräftig bleiben sollen. Letztlich ist auch bezüglich dieser Frage der Parteiwillen gem. §§ 133, 157 BGB maßgeblich. Man könnte zunächst davon ausgehen, dass ein Spieler, der durch Eingangskontrollen vom Betreten der Spielsäle abgehalten wird, ohnehin gleichzeitig daran gehindert wird, überhaupt Spielverträge abzuschließen und damit alleine durch diese Leistungsverpflichtung der Spielbank dem Interesse des Spielers ausreichend gedient ist. 172 Verneint man eine diesbezügliche Verpflichtung, würde ein Schadensersatzanspruch aus einem vorvertraglichen Schuldverhältnis in Betracht kommen. 173 BGH, NJW 2012, 48 (48 ff.). 174 Schulze, in: FS Jayme, S. 1581.
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Kap. 4: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Verträge
Doch auch für den Fall, dass der Spieler trotz Kontrolle in den Spielsaal gelangt, vertritt Schulze175, dass bereits die Bekanntgabe der Spielersperre den Abschluss eines Spielvertrages verhindert. Der Spieler könne nämlich bei zukünftigen Spielbankbesuchen nicht mehr von (konkludenten) Vertragsabschlusserklärungen ausgehen. Der gesperrte Spieler gehöre nicht zu den Erklärungsadressaten, selbst ausdrückliche Erklärungen von Angestellten der Spielbank könne er nicht mehr als irrtumsfreie Willenserklärungen verstehen, ohne das bestehende Spielverbot zu erwähnen.176 Der erkannte und ausgenutzte Irrtum führe entweder zum Dissens oder nach dem Gedanken der falsa demonstratio zum übereinstimmend Gewollten, dem Nichtabschluss des Spielvertrages.177 Letztlich verlagert Schulze das Problem des Schicksals der später geschlossenen Spielverträge auf den Zeitpunkt des Spielvertragsschlusses. Ob man allerdings den Willen der Spielbank schon auf das Nichtzustandekommen der Spielverträge gerichtet sehen kann, ist fraglich. Gerade wegen der Tatsache, dass es eine Einlasskontrolle gibt, erscheint es eher so, dass die Spielbank grundsätzlich mit jedem, dem es gelingt, diese Kontrolle zu passieren, einen Spielvertrag abschließen will. Eine erneute Differenzierung des potenziellen Vertragspartners nach dessen Sperrstatus im Spielsaal erscheint realitätsfern. Mit der Einlasskontrolle hat die Spielbank aus ihrer Sicht ihre Pflicht erfüllt, sodass sich auch der Angestellte über eine mögliche Sperre keine Gedanken mehr macht, somit auch nicht irrt und deshalb mit gesperrten Spielern stets vom Abschluss eines Spielvertrages auszugehen ist. Dogmatisch stimmiger erscheint es deshalb, die Frage nach der Unwirksamkeit der Spielverträge im Rahmen einer rechtshindernden oder rechtsvernichtenden Einwendung zu suchen, wenn der Parteiwille auf eine solche Unwirksamkeit gerichtet ist. Eine Auslegung der Parteivereinbarung dahingehend, dass zukünftige Spielverträge unwirksam sein sollen, lehnt der BGH entschieden ab.178 Nach Ansicht des Gerichts würde ein solcher Lösungsansatz nämlich den berechtigten Interessen der Spielbank nicht gerecht werden, da eine Zahlungspflicht gerichtet auf Ausgleich der Spielverluste auch dann zu bejahen wäre, wenn die Spielbank ihrer Kontrollpflicht nachgekommen wäre und der gesperrte Spieler sich etwa unter Verwendung gefälschter Ausweispapiere den Zugang zur Bank erschlichen hätte.179 Denn es liege nahe, dass nur der Spieler, der Verluste erleidet, sich der Bank gegenüber offenbare, während der Spielgewinner bestrebt sein dürfte, die Spielbank unter Mitnahme des Gewinns unerkannt zu verlassen.180 Auch der Umstand, dass die Spielbank dem Spieler über § 254 BGB ein solch „überschießendes“ Fehlverhalten entgegenhalten
175 176 177 178 179 180
Schulze, in: FS Jayme, S. 1582 f. Schulze, in: FS Jayme, S. 1582. Schulze, in: FS Jayme, S. 1582. BGH, NJW 2006, 362 (363). BGH, NJW 2006, 362 (363). BGH, NJW 2006, 362 (363).
C. Die Spielersperre als echter Odysseus-Vertrag
203
könne, bewegt den BGH dazu, den Ausgleich über einen verschuldensabhängigen vertraglichen Schadensersatzanspruch zu regeln.181 Für einen auf Nichtigkeit der Spielverträge gerichteten Parteiwillen spricht allerdings wieder der Spielerschutz, der Zweck des Vertrages ist. Versagen nämlich die Kontrollnetze der Spielbank, haftet die Spielbank zwar auf den Ersatz der Spielverluste aus der positiven Vertragsverletzung. Im Unterschied zu einem Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung besteht bei einem Anspruch aus § 280 Abs. 1 S. 2 BGB bzw. einem Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. einem Schutzgesetz aber ein Verschuldenserfordernis. Dieses zusätzliche Tatbestandselement kann aber dazu führen, dass der Anspruch scheitert. Insbesondere wenn es der Spieler schafft, den Spielsaal zu betreten, ohne dass der Spielbank ein Verschulden vorgeworfen werden kann (bzw. wenn ihr der Entlastungsbeweis gelingt), z. B. bei einer nahezu perfekten Täuschung des Spielers, darf der Spieler nicht schutzlos gestellt werden. Das Betreten, auch und gerade mit Hilfe eines „kreativen Plans“, dem die Spielbank nicht auf die Schliche kommt, ist der „worst case“, vor dem die Sperre schützen soll. Die Spielsucht treibt den Spieler gerade dazu, immer nach neuen Wegen zu suchen, die Spielbank trotz Sperre zu betreten. Dies muss der Spielbank auch bewusst sein.182 Zudem lässt der BGH offen, wie ein solch „überschießendes“ Fehlverhalten von einem „normalen“ Fehlverhalten des Spielers abzugrenzen ist.183 Letztlich muss aber auch in einem Fall, in dem sogar von einem „überschießendenden Fehlverhalten“ auszugehen ist, zumindest der Ersatz der Einsätze möglich sein, was durch die Nichtigkeit der Spielverträge durch einen bereicherungsrechtlichen Ausgleich ermöglicht wird. Dass der BGH gerade mit umgekehrter Argumentation die Nichtigkeit der Spielverträge ausschließt, ist vor diesem Hintergrund unverständlich. Zudem verkennt das Gericht, dass auch die Spielbank ein Interesse an der Nichtigkeit der Spielverträge hat. Nur so besteht nämlich die Möglichkeit, bei einer „Enttarnung“ des gesperrten Spielers die Gewinne zurückzufordern. Zwar handelt es sich bei dem Sperrvertrag um einen gegenseitigen Vertrag, sodass grundsätzlich auch gegen den Spieler ein Schadensersatzanspruch wegen Betretens des Spielsaals bzw. des Abschlusses von Spielverträgen in Betracht kommt, doch wird wohl das eigene Mitverschulden der Spielbank gem. § 254 Abs. 1 BGB einen Schadensersatzanspruch in vielen Fällen ausschließen. Einfacher würde es für die Spielbank auch nicht werden, wenn sie einen bereicherungsrechtlichen Ausgleich wegen der Nichtigkeit der Spielverträge aufgrund Geschäftsunfähigkeit des Spielers gem. § 105 Abs. 2 BGB anstrebt. Denn dann hätte sie selbst die Geschäftsunfähigkeit zu beweisen.184
181
BGH, NJW 2006, 362 (363). So auch Weis, Die Sperre des Glücksspielers, S. 47; Peters, JR 2002, 177 (180). 183 BGH, NJW 2006, 362 (363). 184 Schmitt, in: Münchener Kommentar, § 104 Rn. 21; Mansel, in: Jauernig BGB, § 104 Rn. 9; Wendtland, in: Beck-OK, § 104 Rn. 13 m. w. N. 182
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Kap. 4: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Verträge
b) Dogmatische Konstruktion der Aufhebung zukünftiger Spielverträge Geht man somit entgegen dem BGH davon aus, dass sperrwidrig abgeschlossene Spielverträge nach der Parteivereinbarung unwirksam sein sollen, stellt sich die Frage, wie dies rechtlich zu konstruieren ist und vor allem, was die rechtsverhindernde oder rechtsvernichtende Einwendung ist, die zur Unwirksamkeit des Spielvertrages führt. Problematisch ist dabei insbesondere, inwiefern es überhaupt möglich ist, durch privatautonome Vereinbarung den Gestaltungsspielraum für künftige Vereinbarungen zu beschränken, da es sich bei der Sperrvereinbarung letztlich um eine antizipiert erklärte Einschränkung der Privatautonomie im Hinblick auf die Wahl des Vertragspartners bzw. des Vertragsgegenstandes handelt.185 aa) Rechtsgeschäftlich begründeter Nichtigkeitsgrund Das OLG Hamm und das KG folgern die Nichtigkeit des sperrvertragswidrig abgeschlossenen Spielvertrages unmittelbar aus dessen privatautonomer Vereinbarung. Nicht weil das Gesetz den Spielverträgen die rechtliche Wirksamkeit versagt, sollen diese nichtig sein, dieses Ergebnis folge vielmehr unmittelbar aus der Parteivereinbarung.186 Nach Ansicht der Gerichte seien keine Gründe dafür ersichtlich, dass dies von der Rechtsordnung nicht zugelassen werden dürfte.187 Der Spielsperre wäre dann als eine rechtsgeschäftlich begründete Verpflichtungsbeschränkung zu qualifizieren.188 Eine solche Vereinbarung könnte aber an § 138 Abs. 1 BGB als Grenze der Selbstbindung im Privatrecht189 oder aus einem allgemeinen Freiheitsgedanken der Rechtsordnung, wonach die rechtsgeschäftliche Handlungsfreiheit grundsätzlich nicht beschränkt werden darf190, scheitern. Im juristischen Sinne ist eine selbstpaternalistische Maßnahme, die zu einer Beschränkung der Privatautonomie führt, nämlich nur in den Grenzen des zwingenden Rechts zulässig.191
185
Wagner-von Papp, AcP 2005, 342 (343). So im Ergebnis OLG Hamm, NJW-RR 2003, 971 (973); Grunsky, EWiR 1996, 11 (12): „Wenn § 138 BGB (bei Kreditverträgen) zum Schutz des Spielers vor sich selbst eingesetzt wird (…), dann liegt es nahe, daß ein entsprechender Schutz auch vertraglich vereinbart werden kann.“ 187 OLG Hamm, NJW-RR 2003, 971 (972); im Anschluss daran KG, NJW-RR 2003, 1359 (1359). 188 So Schulze, in: FS Jayme, S. 1584 f. 189 Ein Verstoß gegen § 137 BGB kommt nicht in Betracht, da der Zweck der Vorschrift nicht im Schutz der Freiheit des Einzelnen liegt, vgl. dazu ausführlich Kap. 2 D. II. 1. a). 190 Siehe Kap. 2 D. II. 1. c). 191 Kleinschmidt, Delegation von Privatautonomie, S. 102. 186
C. Die Spielersperre als echter Odysseus-Vertrag
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Für eine grundsätzliche Möglichkeit einer privatautonom vereinbarten Nichtigkeit zukünftiger Spielverträge könnte angeführt werden, dass es auch gerade Ausdruck der Vertragsfreiheit ist, zukünftigen Spielverträgen vorab die rechtliche Wirksamkeit zu versagen. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass dadurch ausgedrückt werden kann, dass der Betroffene die Rechtsfolgen der Spielverträge unbedingt und unabhängig von seinen späteren aufgrund der Spielsucht nicht kontrollierten Handlungen vorab ausschließen möchte. Zwar würde zum Zeitpunkt des Sperrvertragsschlusses die spätere Freiheit zum Zeitpunkt der Spielverträge beschränkt werden, doch nur, um sich vor seinen eigenen antizipierten selbstschädigenden Entscheidungen zu schützen und so seine Vertragsfreiheit voll zu entfalten.192 Es wird ein Stück Freiheit aufgeben, um ein vermeintlich größeres Stück Freiheitsausübung dafür zu erhalten.193 Auch hier könnte man argumentieren, dass bei Versagung einer solchen Möglichkeit die Vertragsfreiheit der Betroffenen zu Gunsten der Vertragsfreiheit aller bzw. des angestrebten Rechtsprinzips geopfert würde.194 Zwar ist neben einigen Normen im BGB, die dem Schutz der Vertragsfreiheit vor sich selbst dienen, auch in der Rechtsprechung anerkannt worden, dass die Parteien eines Vertrages unter Berufung auf ihre Vertragsfreiheit nicht auf wesentliche Freiheiten verzichten können.195 Doch ist die Fallstruktur hier eine andere. In den genannten Fällen ging es jeweils darum, dass zumindest eine der Parteien ihren Willen geändert hat und nicht länger an der Vereinbarung festgehalten werden wollte. Im Falle eines Sperrvertrages wird aber gerade die Willensänderung einer Partei vorab antizipiert. Sinn und Zweck des Vertrages ist es, die Folgen dieser Willensänderung vorab für unbeachtlich zu erklären. Während in den vom BGH entschiedenen Fällen sowie in den im BGB genannten Normen die Intention der Annahme einer Unwirksamkeit der Vereinbarung jeweils der Schutz der Vertragsparteien vor sich selbst war, möchten die Parteien eines Selbstsperrvertrages durch dessen Abschluss den Spieler vor sich selbst schützen. Ein staatlicher Paternalismus soll durch einen Selbstpaternalismus obsolet gemacht werden. Dennoch bereitet die Annahme einer durch die Rechtsordnung zugelassenen privatautonom vereinbarten Nichtigkeit künftiger Verträge erhebliche Bedenken. Dass nämlich die Gestattung der Möglichkeit, vorab bestimmten Verträgen rechtsgeschäftlich die Wirksamkeit zu nehmen, äußerst problematisch sein kann, zeigt sich, wenn man diese Möglichkeit auf weitere Lebensbereiche überträgt. 192
Vgl. zum Freiheitsparadoxon und dem Gedanken der Freiheitsmaximierung Kap. 2 B. II. 2. b) aa). 193 Vgl. zum Gedanken der Freiheitsmaximierung Kap. 2 B. II. 2. b) aa) (2). 194 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, S. 263: „Auf diese Weise wird jedoch die Wohltat einer im Interesse des Einzelnen gewährleisteten Freiheitssicherung (Möglichkeit jederzeitigen Widerrufs) unter der Hand für den konkret Betroffenen zur Plage, seine Freiheit gerade nicht so gebrauchen zu können, wie dies seinem eigenen Wunsch entspricht.“ 195 Siehe dazu schon Kap. 2 D. II. 2.
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Kap. 4: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Verträge
Zu bedenken sei das Beispiel eines Kaufsüchtigen. Ähnlich wie ein Spielsüchtiger kauft dieser in seinem Kaufrausch völlig maßlos und unreflektiert Gegenstände in zahllosen Geschäften.196 Man stelle sich nun vor, dieser Kaufsüchtige schließt ähnlich wie der Spielsüchtige mit unterschiedlichen (Online-)Händlern Verträge, die später geschlossenen Kaufverträgen vorab die rechtliche Wirksamkeit nehmen sollen. Gerade im Online-Bereich erscheint eine Überwachung einer derartigen „Kaufsperre“, abgesehen von Identitätsfälschungen, problemlos möglich. Letztlich würde er damit aber nicht nur privatautonom sich der Fähigkeit begeben, Kaufverträge abzuschließen, sondern er könnte damit auch ein auf Selbstständigkeit und Eigenversorgung ausgerichtetes Leben unmöglich machen,197 zumal auch eine Bestimmung der Grenzen derartiger Rechtshandlungen nicht möglich erscheint. So ist es aber der Rechtsordnung immanent, dass sich der Einzelne nicht vollständig seines Selbstbestimmungsrechts und seiner Handlungsfreiheit begeben darf. Es besteht als oberste Grenze ein Verbot der Selbstentmündigung.198 Ein genereller, insbesondere zeitlich unbegrenzter Verzicht auf die Ausübung von Grundrechten ist ausgeschlossen, da die Freiheitsrechte des Grundgesetzes dauerhaft gewährleistet sein müssen.199 Dies ergibt sich auch daraus, dass insbesondere die Privatrechtsordnung auf die Selbstbestimmung als unveräußerliches Gut abstellt.200 Damit ist es letztlich nicht möglich, privatautonom antizipiert den Spielverträgen die rechtliche Wirksamkeit zu nehmen.201 Ob dies dogmatisch aus § 138 Abs. 1 BGB oder aus einem allgemeinen Freiheitsgedanken der Rechtsordnung folgt, kann dahinstehen, da sich die Rechtsfolge dadurch nicht verändert.202
196
Beispiel von Weis, Die Sperre des Glücksspielers, S. 70. Ebenso Weis, Die Sperre des Glücksspielers, S. 70. 198 Lipp, in: Handbuch der Vorsorgeverfügungen, S. 366 Rn. 70; Weber, Privatautonomie und Außeneinfluß im Gesellschaftsrecht, S. 212. 199 Dreier, in: Dreier GG, Vorb. Rn. 131; Singer, in: GS-Jeand’Heur, S. 186; Dürig, AöR 1956, 117 (152); siehe dazu auch schon Kap. 2 D. I. 4. a). 200 Siehe dazu schon Kap. 2 D. II. 201 So auch Weis, Die Sperre des Glücksspielers, S. 69 ff., nach deren Ansicht eine dahingehende Parteivereinbarung an der Kompetenz des Rechtsinhabers scheitert, über seine eigene Vertragsfreiheit durch Rechtsgeschäft so zu verfügen, dass er sich dieser vollständig begibt. 202 Dagegen Weitnauer, in: FS Weber, S. 434, nach dessen Ansicht es einen großen Unterschied mache, ob eine „Rechtsordnung Rechtsgeschäfte, deren Unzulässigkeit man aus der Freiheit der Selbstbestimmung ableiten könnte, nur wegen Sittenwidrigkeit unmöglich macht oder ob ihnen aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes und der Freiheit eine klare Absage erteilt wird.“ 197
C. Die Spielersperre als echter Odysseus-Vertrag
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bb) Rechtsgeschäftlich begründete Beweislastumkehr (1) In Bezug auf § 105 Abs. 2 BGB Da sich ein spielsüchtiger Spieler häufig im Zustand des § 105 Abs. 2 BGB befindet, bewirkt der Spielsperrvertrag nach früherer Ansicht Peters eine rechtsgeschäftlich begründete Beweislastumkehr.203 So sei der Zustand der Geschäftsunfähigkeit grundsätzlich von demjenigen zu beweisen, der sich darauf beruft, im Falle von Glücksspiel also vom Spieler, der seine Einsätze zurückfordere.204 Diese Beweisführung sei aber praktisch aufgrund der Vielzahl von abgeschlossenen Spielverträgen an einem Kasinoabend sehr schwierig.205 Mit dem Abschluss des Sperrvertrages würden nun beide Parteien den Spieler als pathologisch anerkennen, was die Vermutung begründe, dass ein trotz Sperre geschlossener Spielvertrag im Zustand der Geschäftsunfähigkeit nach § 105 Abs. 2 BGB abgeschlossen wurde.206 Zwar sei die Geschäftsfähigkeit an sich nicht disponibel, doch gerade dann, wenn ernste Zweifel an der Geschäftsfähigkeit bestünden, müsse eine Umverteilung der Beweislast möglich sein.207 (2) In Bezug auf § 138 Abs. 1 BGB Zusätzlich zu einer Beweislastumkehr in Bezug auf § 105 Abs. 2 BGB geht Peters von einer durch den Sperrvertrag begründeten unwiderleglichen Sittenwidrigkeit gem. § 138 Abs. 1 BGB von künftig abgeschlossenen Spielverträgen aus. Dies folge bereits daraus, dass der süchtige Spieler „am eigenen Ruin arbeite“ und auch der Spielbank nicht verborgen bleiben könne, „dass ein konkreter Spieler süchtig [sei].“208 Zwar sei § 138 Abs. 1 BGB als Grenze der Vertragsfreiheit nicht disponibel, doch spreche nichts dagegen, wenn derjenige, für den aus der Wirksamkeit des Spiels Vorteile erwachsen können, „jene Umstände darlegen und beweisen [müsse], die dem sperrwidrigen Spiel den Makel der Sittenwidrigkeit nehmen.“209 So sei es den Parteien nicht möglich, einer Vereinbarung, die den Makel der Sittenwidrigkeit verdiene, diesen zu nehmen, doch gehe es hier gerade um das Gegenteil, nämlich darum, dass dem späteren Spielvertrag dieser Makel beigelegt werde.210 Zwar wäre dies unzulässig, wenn die späteren Verträge diesen Makel eindeutig nicht verdienen würden, weil man sich damit partiell seiner Rechts- und 203
Peters, JR 2002, 177 (180). Peters, JR 2002, 177 (180). 205 Peters, JR 2002, 177 (179). 206 Peters, JR 2002, 177 (180). 207 Peters, JR 2002, 177 (180). 208 Peters, JR 2002, 177 (180); so auch ausführlich Weis, Die Sperre des Glücksspielers, S. 79 ff. 209 Peters, JR 2002, 177 (181). 210 Peters, JR 2002, 177 (181). 204
208
Kap. 4: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Verträge
Geschäftsfähigkeit begeben würde.211 Doch wenn das spätere Geschäft deutlich sittenwidrig wäre bzw. dies nicht eindeutig sei, sei dies anders. Dann könne man Darlegung und Beweis von Indizien gegen die Sittenwidrigkeit ausschließen.212 Ähnlich wie Peters interpretiert Weis den Sperrvertrag als einen die Sittenwidrigkeit feststellendenVertrag, der entweder (soweit pathologische Spielsucht vorliege) deklaratorisch oder (soweit noch keine Spielsucht vorliege) konstitutiv sei.213 (3) Bewertung Prima facie erscheint der Vorschlag Peters, eine rechtsgeschäftlich begründete Beweislastumkehr in Bezug auf die §§ 105 Abs. 2, 138 Abs. 1 BGB anzunehmen, als guter Ausgleich der widerstreitenden Interessenslagen. Insbesondere für eine Vermutung der Geschäftsunfähigkeit spricht, dass ebenso nach Ansicht des BGH die Aufhebung einer Selbstsperre durch die Spielbank eine Verletzung des Spielsperrvertrags darstellt, wenn nicht der Spielbank zuvor der hinreichend sichere Nachweis erbracht wird, dass der Schutz des Spielers vor sich selbst dem nicht mehr entgegensteht, mithin keine Spielsuchtgefährdung mehr vorliegt und der Spieler zu einem kontrollierten Spiel in der Lage ist.214 Daraus lässt sich folgern, dass auch der BGH von einer zweifelhaften Geschäftsfähigkeit des gesperrten Spielers ausgeht. Diese Zweifel mit einer privatautonom vereinbarten Beweislastumkehr der Geschäftsfähigkeit aus der Risikosphäre des Spielers auf den Spielbankbetreiber zu übertragen, erscheint aus Spielerschutzgründen sachgerecht. Gegen diese Argumentation ließe sich zwar einwenden, dass eine solche widerlegliche Vermutung der Geschäftsunfähigkeit nicht ausreiche, da sich der Spieler bereits unterhalb der Schwelle der Geschäftsunfähigkeit binden wolle, weshalb die Geschäftsfähigkeit überhaupt nicht mehr überprüft werden sollte.215 Da es aber in praktischer Hinsicht für den Spielbankbetreiber mit immensen Schwierigkeiten verbunden sein dürfte, der nun umgekehrten Beweislast zufolge die Geschäftsfähigkeit des Glücksspielers zu beweisen, kann diesem Einwand nicht gefolgt werden. Problematischer ist dagegen der Vorschlag einer rechtsgeschäftlich begründeten Sittenwidrigkeit nach § 138 Abs. 1 BGB. So wird mit Recht hiergegen eingewendet, dass es schwer vorstellbar sei, dass die Spielbank ihr künftiges Verhalten freiwillig mit dem Makel der Sittenwidrigkeit belegen wolle216 und es zudem auf Seiten der Spielbank am subjektiven Element der Sittenwidrigkeit fehle, wenn die Spielbank
211 212 213 214 215 216
Peters, JR 2002, 177 (181). Peters, JR 2002, 177 (181). Weis, Die Sperre des Glücksspielers, S. 79 ff. BGH, NJW 2012, 48 (48 ff.). So Wagner-von Papp, AcP 2005, 342 (374). Wagner-von Papp, AcP 2005, 342 (374).
C. Die Spielersperre als echter Odysseus-Vertrag
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nicht bemerke, dass der Spieler beispielsweise an einem Automaten spiele.217 Vor allem aber spricht gegen die grundsätzliche Möglichkeit, künftige Rechtsgeschäfte antizipiert mit dem Makel der Sittenwidrigkeit zu behaften, dass die Grenze, wann dies noch möglich sein soll, kaum zu ziehen ist. So räumt auch Peters ein, dass, wenn die späteren Verträge diesen Makel eindeutig nicht verdienen würden, die Möglichkeit einer rechtsgeschäftlich begründeten Sittenwidrigkeit dann verwehrt wäre, weil man sich partiell seiner Rechts- und Geschäftsfähigkeit begeben würde.218 Nur wenn das spätere Geschäft deutlich sittenwidrig wäre bzw. dies nicht eindeutig sei, sei dies anders.219 Gerade wegen des subjektiven Elements der Sittenwidrigkeit und weil der Begriff stets dem Wandel der Zeit unterworfen ist, wird eine eindeutige bzw. nicht eindeutige Bestimmung der Sittenwidrigkeit von den Vertragsparteien häufig nicht feststellbar sein. Eine solche Vorgehensweise könnte vielmehr zu erheblicher Rechtsunsicherheit führen. Gestattet man nämlich den Vertragsparteien diese Möglichkeit in Bezug auf künftige Spielverträge, könnte man auch in anderen, weniger eindeutigen Lebensbereichen den Parteien eine derartige Gestaltungsmöglichkeit nicht verwehren, was zu einer immensen Ausuferung des Sittenwidrigkeitsbegriffs führen könnte. cc) § 134 BGB als rechtsvernichtende Einwendung Als rechtsvernichtende Einwendung für die trotz Spielersperre geschlossenen Spielverträge kommt letztlich noch § 134 BGB in Betracht, wonach ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, nichtig ist, wenn sich aus dem Gesetz nicht ein anderes ergibt. Bei § 20 Abs. 2 S. 1 GlüStV könnte es sich nämlich um ein Verbotsgesetz handeln.220 Gem. § 20 Abs. 1 S. 1 GlüStV dürfen gesperrte Spieler am Spielbetrieb in Spielbanken nicht teilnehmen.221 Eine Norm stellt ein gesetzliches Verbot dar, wenn die Vornahme eines (nach der Rechtsordnung grundsätzlich möglichen) Rechtsgeschäfts mit Rücksicht auf seinen Inhalt, auf einen von der Rechtsordnung missbilligten Erfolg oder auf die besonderen Umstände, unter denen es vorgenommen wird, untersagt wird.222 Dabei ist entscheidend, ob sich das Verbotsgesetz nur gegen den Abschluss des Geschäfts an sich oder auch gegen seine zivilrechtliche Wirksamkeit und damit gegen seinen wirt217
Wagner-von Papp, AcP 2005, 342 (374); diese Argumentation bezieht sich noch auf die Rechtslage vor Einführung des GlüStV, da bis dahin die Spielbank nur zu einer Einlasskontrolle zum sog. „Großen Spiel“ verpflichtet war. Den Automatenspielsaal, das „Kleine Spiel“, konnte der Spieler dagegen ohne Ausweiskontrolle besuchen. 218 Peters, JR 2002, 177 (181). 219 Peters, JR 2002, 177 (181). 220 So Peters, NJOZ 2010, 1197 (1200 f.); ders., ZfWG 2014, 157 (159). 221 Für Sportwetten gilt § 21 Abs. 1 S. 1 GlüStV, für Lotterien mit planmäßigem Jackpot gilt § 22 Abs. 2 S. 1 GlüStV. 222 Mansel, in: Jauernig, Kommentar zum BGB, § 134 Rn. 8; Wendtland, in: Beck-OK, § 134 Rn. 9.
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schaftlichen Erfolg wendet.223 Bei der Beurteilung ist maßgeblich der Sinn und Zweck des Gesetzes entscheidend.224 Wird dieser bei der Wirksamkeit des verbotenen Geschäfts nicht erreicht, ist von der Nichtigkeit des verbotswidrigen Geschäfts auszugehen.225 Der Wortlaut von § 20 Abs. 1 S. 1 GlüStV, wonach gesperrte Spieler am Spielbetrieb „nicht teilnehmen dürfen“, deutet auf ein Verbot hin; bloße Ordnungsvorschriften sind mehrheitlich durch Wendungen wie „soll nicht“ gekennzeichnet.226 Für den Charakter einer Verbotsnorm des § 20 Abs. 1 S. 1 GlüStV spricht zudem der Zweck des Glücksspielstaatsvertrages an sich, mithin der Spielerschutz. So stellt der Gesetzgeber bereits in § 1 S. 1 Nr. 1, 3 GlüStV klar, dass die Ziele des Staatsvertrages sind, das Entstehen von Glücksspielsucht und Wettsucht zu verhindern, die Voraussetzungen für eine wirksame Suchtbekämpfung zu schaffen sowie den Jugend- und Spielerschutz zu gewährleisten. Dieser Zweck wird aber vereitelt, wenn nicht die Rückforderung der Einsätze durch die Nichtigkeit der Spielverträge durch einen bereicherungsrechtlichen Ausgleich ermöglicht wird. Zudem würde so der Spielanreiz für den Spieler sinken, da er so gar nicht mehr gewinnen kann.227 Somit wird durch die rechtsvernichtende Einwendung des § 134 BGB ein Kondiktionsausgleich von Gesetzes wegen ermöglicht, sodass es auf eine diesbezügliche schuldrechtliche Vereinbarung der Parteien nicht mehr ankommt. c) Exkurs: Rechtsgeschäftlich vereinbarte Formerfordernisse Eine ähnliche Problematik ist im Zivilrecht hinsichtlich der Bindung an gewillkürte Formerfordernisse bekannt. Durch solch gewillkürte Formerfordernisse sollen rechtsgeschäftlich die Voraussetzungen für den Abschluss künftiger Vereinbarungen gegenüber der grundsätzlichen Formfreiheit erhöht werden. Zwar geht es hier nicht primär, wie bei dem zu untersuchenden Selbstschutzvertrag, um die Einschränkung künftigen Gestaltungsspielraums; aber es stellt sich dieselbe Frage, und zwar, welchem Zeitpunkt der Ausübung der Privatautonomie der Vorzug gegeben werden sollte. In Betracht kommen hier entweder der Zeitpunkt des Vertragsschlusses bzw. der Formabrede oder der späteren Entscheidung (wenn die Schriftform nicht beachtet wurde). Diesbezüglich existieren viele Ansichten in Literatur und Rechtsprechung, die meist entweder der Entscheidung zum Zeitpunkt der Formabrede oder der Entscheidung zum Zeitpunkt der (konkludenten) Aufhebung der Schriftform mehr Gewicht verleihen. Es wird also auch hier diskutiert, ob eine Beschränkung der zukünftigen Privatautonomie gerade wegen der Privatautonomie möglich ist. Während dies bei 223 224 225 226 227
Wendtland, in: Beck-OK, § 134 Rn. 11. BGH, NJW 1978, 1970 (1971), NJW 1996, 926 (928), NJW 2000, 1186 (1187). Wendtland, in: Beck-OK, § 134 Rn. 11. Wendtland, in: Beck-OK, § 134 Rn. 9. Peters, JR 2002, 177 (178).
C. Die Spielersperre als echter Odysseus-Vertrag
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einfachen Schriftformklauseln eher verneint wird, soll dies bei qualifizierten Schriftformklauseln möglich sein. Fraglich ist auch hier, ob sich an der Beurteilung etwas ändern könnte, wenn eine Partei einer Formabrede nur zustimmt, weil sie weiß, dass sie in bestimmten Situationen zu übereilten, selbstschädigenden Entscheidungen neigt. Dies wäre dann als eine Art Selbstschutz durch Übereilungsschutz zu qualifizieren. aa) Allgemeines zu Formerfordernissen Grundsätzlich unterscheidet man bei Formerfordernissen zwischen konstitutiven und deklaratorischen228 Formklauseln. Während erstere dazu führen, dass die Nichteinhaltung der Form die Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts zur Folge hat, dient die deklaratorische Formklausel lediglich zu Beweiszwecken.229 Um welche Art der Formklausel es sich handelt, ist durch Auslegung zu bestimmen. Im Zweifel ist nach § 125 S. 2 BGB von einer konstitutiven Bedeutung der Form auszugehen.230 Bei Verträgen ist zusätzlich § 154 Abs. 2 BGB zu beachten, wonach der Vertrag im Zweifel nicht nichtig, sondern noch nicht zustande gekommen ist, sofern das konstitutive Schriftformerfordernis (noch) nicht beachtet wurde.231 Selbst wenn eine konstitutive Schriftformklausel vorliegt, kann diese durch ein erneutes Rechtsgeschäft aufgehoben werden.232 Kontrovers diskutiert wird dabei, ob eine Aufhebungsvereinbarung überhaupt notwendig ist und, wenn man dies bejaht, ob sie ihrerseits der Form bedarf, die in der ursprünglichen Vereinbarung für Änderungen der Absprache vorgesehen war oder ob bereits der festgestellte übereinstimmende Wille der Parteien, ein später abgeschlossenes Rechtsgeschäft auch formlos gelten zu lassen, für sich genommen ausreicht.
228 Deklaratorische Schriftformklauseln spielen für den hiesigen Untersuchungsgegenstand keine Rolle und bleiben deshalb im Folgenden außer Betracht. 229 Einsele, in: Münchener Kommentar, § 125 Rn. 69; Ellenberger, in: Palandt BGB, § 125 Rn. 17; Mansel, in: Jauernig BGB, § 125 Rn. 11; Wendtland, in: Beck-OK, § 125 Rn. 9; Dörner, in: HK-BGB, § 125 Rn. 18; Wolf/Neuner, BGB AT, S. 542 Rn. 79 f.; Arnold, in: Erman BGB, § 125 Rn. 25. 230 BAG, NZA 2013, 900 (902); Einsele, in: Münchener Kommentar, § 125 Rn. 69; Hertel, in: Staudinger BGB, § 125 Rn. 124; Mansel, in: Jauernig BGB, § 125 Rn. 11; Wendtland, in: Beck-OK, § 125 Rn. 9; Dörner, in: HK-BGB, § 125 Rn. 18; Wolf/Neuner, BGB AT, S. 542 Rn. 81; Arnold, in: Erman BGB, § 125 Rn. 25. 231 Einsele, in: Münchener Kommentar, § 125 Rn. 69; Mansel, in: Jauernig BGB, § 125 Rn. 11; Wolf/Neuner, BGB AT, S. 542 Rn. 81; Hertel, in: Staudinger BGB, § 125 Rn. 125; Bork, BGB AT, S. 426 Rn. 1086. 232 Vgl. nur BGH, NJW 1976, 1395 (1395 ff.); Ellenberger, in: Palandt BGB, § 125 Rn. 19; Wolf/Neuner, BGB AT, S. 543 Rn. 83; Noack/Kremer, in: Heidel BGB AT, § 125 Rn. 64; Arnold, in: Erman BGB, § 125 Rn. 26.
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bb) Aufhebung der Schriftformvereinbarung jederzeit möglich Die Rechtsprechung lässt grundsätzlich die Aufhebung des vereinbarten Formzwangs oder seine Einschränkung durch die Parteien jederzeit formfrei, sogar konkludent, erfolgen.233 Dafür sei nur erforderlich, dass die Parteien übereinstimmend zum Ausdruck bringen, dass sie die Wirksamkeit des unter Nichtbeachtung der ursprünglich vereinbarten Form geschlossenen Geschäfts wollen.234 Eine Vereinbarung, die eine gewillkürte Schriftform nicht einhält, ist nach überwiegender Rechtsprechung selbst dann wirksam, wenn die Parteien überhaupt nicht an das Schriftformerfordernis gedacht haben.235 Eine Ausnahme von diesen Grundsätzen macht der BGH nur bei sogenannten doppelten (oder qualifizierten) Schriftformerfordernissen. Wenn Kaufleute bestimmen, dass neben künftigen Vertragsänderungen auch die Aufhebung des Schriftformerfordernisses selbst der Schriftform bedarf, sei dies im Hinblick auf die Vertragsfreiheit anzuerkennen. Eine spätere Vereinbarung, die diese Form nicht beachtet, sei danach nichtig.236 Das BAG hat diese Rechtsprechung auch auf Schriftformabreden von Nichtkaufleuten übertragen.237 cc) Aufhebung der Schriftformvereinbarung nicht jederzeit möglich Diese Rechtsprechung wird von verschiedenen Rechtsliteraten kritisiert.238 Gerade dann, wenn die Parteien nicht einmal an das Schriftformerfordernis denken, führe eine formlose, sogar konkludente Aufhebung des vereinbarten Formzwangs zur fast vollständigen Wirkungslosigkeit von rechtsgeschäftlich vereinbarten Formklauseln. Durch eine solche Handhabung habe der § 125 S. 2 BGB keinerlei Bedeutung.239 Außerdem sei die Rechtsprechung in sich widersprüchlich, da bei einer qualifizierten Schriftformklausel ein Formverstoß doch wieder beachtlich sei.240 Deshalb sei für eine wirksame Aufhebung der Formabrede erforderlich, dass diese ihrerseits formgerecht aufgehoben wird241; mindestens sei aber erforderlich, dass die 233 BGH, NJW 1965, 293 (293), NJW 1991, 1750 (1751), NJW 1962, 1908 (1908 f.), NJW 2006, 138 (139); BAG, NZA 2007, 801 (803), NJW 2003, 3725 (3727), NZA 1988, 425 (426). 234 BGH, NJW 1962, 1908 (1908), NJW 1991, 1750 (1751); ebenso Arnold, in: Erman BGB, § 125 Rn. 26. 235 BAG, NZA 2007, 801 (803), NJW 2003, 3725 (3727), NZA 1988, 425 (426); BGH, NJW 1965, 293 (293), NJW 2006, 138 (139); a. A. aber BGH, NJW-RR 1991, 1289 (1290); Einsele, in: Münchener Kommentar, § 125 Rn. 70; Wendtland, in: Beck-OK, § 125 Rn. 14. 236 BGH, NJW 1976, 1395 (1395 ff.). 237 BAG, NJW 2003, 3725 (3727). 238 Einsele, in: Münchener Kommentar, § 125 Rn. 70 ff.; Noack/Kremer, in: Heidel BGB AT, § 125 Rn. 64; Böhm, AcP 1979, 425 (425 ff.); Mankowski, JZ 2001, 357 (358); Roquette, DR 1940, 961 (962 f.); Wagner-von Papp, AcP 2005, 342 (348 ff.). 239 Böhm, AcP 1979, 425 (425 ff.). 240 Einsele, in: Münchener Kommentar, § 125 Rn. 71. 241 Roquette, DR 1940, 961 (962 f.).
C. Die Spielersperre als echter Odysseus-Vertrag
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Parteien den ausdrücklichen Willen haben, dass die an sich nicht formgerechte Vereinbarung trotz der ursprünglichen Formabrede gelten solle.242 dd) Bewertung Letztlich divergieren auch in diesem Problembereich die Auffassungen von einer „Extremposition“ (Aufhebung der Schriftform formlos möglich) in die andere (Aufhebung der Schriftform nicht formlos möglich). Doch muss letztlich auch hier eine differenzierende Lösung gefunden werden, die die Interessenslagen zu beiden Zeitpunkten berücksichtigt. Sinnvollerweise ist dabei auf den Zweck der Formabrede abzustellen. Wird diese nur zu Beweiszwecken getroffen, erscheint eine „einfache Lösungsmöglichkeit von der Formabrede“ interessensgerecht, sodass es hier angebracht erscheint, eine ausdrückliche Aufhebung der Schriftformvereinbarung ohne übertriebenen Formalismus ausreichen zu lassen.243 Dient die Schriftformabrede aber dem Schutz vor sich selbst, weil beispielsweise eine Partei weiß, dass sie in bestimmten Situationen zu übereilten, selbstschädigenden Entscheidungen neigt, muss etwas anderes gelten. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Vereinbarung eines Schriftformerfordernisses der ausschlaggebende Punkt für die Partei war, den Vertrag überhaupt abzuschließen. Ließe man dies unberücksichtigt, würde man die Vertragsfreiheit der Betroffenen erheblich beschränken. Angemessen erscheint es in derartigen Fällen, die Rechtsprechung des BGH hinsichtlich qualifizierter Schriftformklauseln regelmäßig auch auf Nichtkaufleute zu übertragen.
IV. Die Aufhebung des Selbstsperrvertrages Äußerst problematisch ist aber die Tatsache, dass die Parteien des Selbstsperrvertrages ihre Meinung über diesen an sich ändern können und zur Aufhebung der Sperre grundsätzlich nicht mehr als ein neuer Vertrag als actus contrarius gem. § 311 Abs. 1 BGB erforderlich ist.244 Auch hier tritt wieder ein Konflikt der Privatautonomie im Zeitpunkt t1 (Vertragsabschluss) und im Zeitpunkt t2 (Vertragsaufhebung) zu Tage. Wie bereits ausführlich erörtert, sprechen sowohl gute Gründe für eine Bevorzugung des Zeitpunktes t1 als auch des Zeitpunktes t2.245 Läge schon in jeder dem Odysseus-Vertrag entgegenstehenden Willensäußerung eine konkludente Aufhebung des Vertrages, so bliebe der im Zeitpunkt t1 geäußerte Wille völlig unbeachtlich. Ließe man dagegen eine Vertragsaufhebung nicht zu, hätte spiegelbildlich die Privatautonomie im Zeitpunkt t2 keinerlei Bedeutung mehr. 242
S. 58.
So Mankowski, JZ 2001, 357 (358); Hau, Vertragsanpassung und Anpassungsvertrag,
243 Ebenso Mankowski, JZ 2001, 357 (358); Hau, Vertragsanpassung und Anpassungsvertrag, S. 58. 244 Wagner-von Papp, AcP 2005, 342 (375). 245 Siehe dazu Kap. 2 B. II. 2. b).
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Kap. 4: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Verträge
Dass die Spielersperre grundsätzlich aufgehoben werden kann, ergibt sich aus § 8 Abs. 5 GlüStV, wonach eine Aufhebung der Sperre frühestens nach einem Jahr und nur auf schriftlichen Antrag des Spielers möglich ist, über welchen der Veranstalter entscheidet, der die Sperre verfügt hat. Kontrovers diskutiert werden aber die Voraussetzungen, unter denen eine solche Aufhebung möglich ist. Einigkeit besteht zumindest dahingehend, dass eine konkludente Aufhebung der Spielersperre nicht möglich ist.246 So entschied der BGH am 20. 10. 2011, dass die Aufhebung einer Selbstsperre durch die Spielbank eine Verletzung des Spielsperrvertrags darstelle, wenn nicht der Spielbank zuvor der hinreichend sichere Nachweis erbracht werde, dass der Schutz des Spielers vor sich selbst dem nicht mehr entgegenstehe, mithin keine Spielsuchtgefährdung mehr vorliege und der Spieler zu einem kontrollierten Spiel in der Lage sei.247 Nach Ansicht des Gerichts würde die Sperre „(…) leer laufen und wäre sinnlos, wenn die Spielbank zwar die Pflicht hätte, sich dem Spielwunsch zu verweigern, aber dem Wunsch, die Sperre aufzuheben, um anschließend spielen zu können, jederzeit stattgeben dürfte, ohne dabei irgendwelchen Überprüfungs- und Kontrollpflichten zu unterliegen.“248
Aus diesem Grund müsse der Spielbank vom Spieler – beispielsweise anhand einer vorgelegten sachverständigen Begutachtung oder Bescheinigung einer fachkundigen Stelle – der sichere Nachweis erbracht werden, dass die Gründe, die zur Beantragung geführt haben, nicht mehr vorliegen.249 Aus dem nach § 8 Abs. 5 S. 1 GlüStV erforderlichen Zeitablauf von einem Jahr könne gerade nicht geschlossen werden, dass eine Spielsuchtgefährdung i. S. v. § 8 Abs. 2 GlüStV nicht mehr vorliege.250 In der Praxis ergeben sich insbesondere aus dem Fehlen eines einheitlichen Verfahrens Probleme.251 Um Haftungsrisiken252 vorzubeugen, neigen Glücksspielanbieter dazu, die Aufhebung der Spielersperre generell abzulehnen, sodass es für 246
OLG Hamm, NJW-RR 2003, 971 (974); KG, NJW-RR 2003, 1359 (1359); Wagner-von Papp, AcP 2005, 342 (376); Weis, Die Sperre des Glücksspielers, S. 149 f.; Peters, JR 2002, 177 (181); ders., ZfWG 2007, 321 (324). 247 BGH, NJW 2012, 48 (48 ff.). 248 BGH, NJW 2012, 48 (49). 249 BGH, NJW 2012, 48 (49). 250 BGH, NJW 2012, 48 (50); dieser Rechtsprechung sich anschließend VG Berlin, ZfWG 2012, 295 (295 ff.); VG Regensburg, BeckRS 2014, 57748; AG Bad Neuenahr, Beschl. v. 30. 03. 2016, 36 C 79/16. 251 Fiedler, ZfWG 2015, 188 (189); siehe aber Wejbera/Quack, ZfWG 2017, Heft 03, Beilage, 18 (18 ff.), zur Mainzer Risikopotenzial-Untersuchung als bundesweit erstem systematischen Verfahren zur Bewertung des individuellen Spielsucht-Risikos im Rahmen eines Antrags auf Aufhebung der Spielersperre. 252 Neben Schadensersatzansprüchen kommen auch konzessionsrechtliche Konsequenzen in Betracht, Reeckmann/Walter, ZfWG 2014, 383 (389).
C. Die Spielersperre als echter Odysseus-Vertrag
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den Spieler faktisch „einmal gesperrt – immer gesperrt“ heißt.253 So wird teilweise gar empfohlen, sich zur Aufhebung der Spielersperre gerichtlich verurteilen zu lassen: „Die dabei anfallenden Prozesskosten stellen sich wirtschaftlich gesehen als Versicherungsprämie dar, da hier das Risiko einer Fehlentscheidung vom Glücksspielanbieter auf das Gericht übergeht.“254
Diese Vorgehensweise wird im Hinblick auf den Spielerschutz kritisiert, da befürchtet wird, dass die „Sperre auf Lebenszeit“ so manchen Glücksspielgefährdeten von der präventiven Nutzung der Spielersperre abhalten wird.255 Letztlich gewichtet der BGH mit dem Erfordernis des Nachweises, dass keine Spielsuchtgefährdung mehr vorliegen dürfe, die Privatautonomie zum Zeitpunkt t1 (Sperrvertragsschluss) höher, als die Privatautonomie im Zeitpunkt t2, indem der Spieler die Aufhebung der Spielersperre begehrt. Der Konflikt der widerstreitenden Interessen wird aufgelöst, indem der Defekt, vor dessen Auswirkungen sich die Parteien gerade schützen wollen, nachweislich weggefallen sein muss. Einen anderen Ausgleich der Interessenslagen im Wege einer „praktischen Konkordanz“256 schlägt Wagner-von Papp vor: Das Erfordernis eines Sachverständigengutachtens sei eine zu starke Einschränkung der Privatautonomie in t2 (Zeitpunkt des Aufhebungsbegehrens), da aufgrund der bereits bestehenden Information in t1 (Sperrvertragsschluss), dass eine Präferenzänderung eintrete, weder von einem Vorrang von t1 noch von t2 ausgegangen werden könne. Vielmehr seien beide Vereinbarungen „gleichwertig“.257 Zur Auflösung des Konflikts sei daher eine „Analogie“ zu den verbraucherschützenden Widerrufsrechten vorzugswürdig: „Wenn die Privatautonomie voll Geschäftsfähiger, deren rationale Entscheidungsfindung durch verhältnismäßig leichte Versuchungen in bestimmten Situationen getrübt ist, durch zwingendes Recht eingeschränkt wird, erscheint eine Einschränkung durch privatautonome Vereinbarung erst recht angebracht, wenn der Spieler durch diese Vereinbarung seine motivationalen Probleme klar zu erkennen gibt.“258
Demnach schlägt Wagner-von Papp eine Aufhebung der Spielersperre nur durch eine ausdrückliche Vereinbarung vor, die nicht innerhalb von zwei Wochen widerrufen wird.259 Dieser Schutz sei ausreichend, denn wenn der Spieler verliere, würde er 253 254 255 256 257 258 259
Wejbera/Quack, ZfWG 2017, Heft 03, Beilage, 18 (19). Reeckmann/Walter, ZfWG 2014, 383 (391 Fn. 38). Wejbera/Quack, ZfWG 2017, Heft 03, Beilage, 18 (19). Wagner-von Papp, AcP 2005, 342 (376 ff.). Wagner-von Papp, AcP 2005, 342 (377). Wagner-von Papp, AcP 2005, 342 (383 f.). Wagner-von Papp, AcP 2005, 342 (384).
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Kap. 4: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Verträge
bei Einräumung eines Widerrufsrechts widerrufen. Da die Spielbank dies voraussehen könne, würde sie dem Spieler bei Existenz eines Widerrufsrechts bis zum Ablauf der Frist das Spiel verweigern.260 Zwar ist diesem Vorschlag zuzubilligen, dass der Betroffene zumindest seinem unmittelbar bestehenden Spielverlangen nicht nachgehen kann. Das problematische Glücksspielverhalten, das gerade zum Spielsperrvertragsabschluss geführt hat, wäre aber häufig nicht beseitigt, was bedenklich im Sinne des Spielerschutzes erscheint. Die Lösung des BGH wirkt dagegen überzeugend, da so weitestgehend sichergestellt werden kann, dass es der wirkliche Wille des Betroffenen ist, der die Aufhebung der Spielersperre begehrt und nicht der „unfreie Wille der Versuchung“, vor dem sich der Betroffene gerade durch den Abschluss des Sperrvertrages schützen wollte.
D. Der Odysseus-Vertrag in anderen Lebensbereichen Abschließend ist zu klären, inwieweit der Odysseus-Vertrag als Instrument des antizipierten Schutzes vor sich selbst auch in weiteren Lebensbereichen sinnvoll und möglich ist. Diese Frage erhält insbesondere im Zusammenhang mit den neuesten Forschungsansätzen der Verhaltensökonomie (behavioral economics) bzw. dem Spezialfeld der verhaltensorientierten Finanzmarkttheorie (behavioral finance) aktuelle Relevanz. Dieser Teilbereich der Wirtschaftswissenschaften beschäftigt sich mit menschlichem Verhalten in wirtschaftlichen Situationen, unter anderem mit vermeintlich irrationalem Verhalten auf den Finanz- und Kapitalmärkten. So wurde nachgewiesen, dass insbesondere Privatanleger dazu neigen, aufgrund kurzfristiger Marktveränderungen und entgegen rationaler Entscheidungsgrundlagen ungünstige Anlageentscheidungen zu treffen.261 So werden aus irrationalen Motiven Aktien zu hohen Kursen gekauft und zu niedrigen Kursen verkauft, indem steigenden Kursen hinterhergerannt wird und bei fallenden Kursen vorschnell abgesprungen wird.262 Basierend auf diesen Erkenntnissen bietet die Allianz Global Investors ihren Privatkunden die Möglichkeit, gemeinsam mit ihrem Finanzberater einer „OdysseusStrategie“ zu folgen. So sollen die Finanzberater „ihren Kunden empfehlen, ihren reflektierten Verstand zu nutzen, um eine rationale Anlagestrategie festzulegen, bevor die Bewegungen des Marktes möglicherweise zu irrationalen Reaktionen des
260
Wagner-von Papp, AcP 2005, 342 (384). Allianz Global Investors, Überliste Dich Selbst: Die Odysseus-Strategie, S. 3 ff., abrufbar unter https://www.allianzglobalinvestors.de/MDBWS/doc/12-03-054+BR+Odys seus+DT.pdf?51345ade160acfd707741754514018e4e02f6138 (zuletzt aufgerufen am 10.11.2017). 262 Bikchandani/Hirshleifer/Welch, Journal of Political Economy 1992, 992 (992 ff.). 261
D. Der Odysseus-Vertrag in anderen Lebensbereichen
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intuitiven Geistes verleiten.“263 Diese „Empfehlung“ soll dann letztlich in der Unterzeichnung eines „Festlegungs-Memorandums“ gipfeln, das zwar keinen Vertrag im rechtlichen Sinne darstelle, doch den Beteiligten helfe, „den verlockenden Sirenenklängen des intuitiven Geistes zu widerstehen.“264 Daneben vermag die erweiterte Anerkennung von Verhaltenssüchten einen Anwendungsbereich für den Odysseus-Vertrag eröffnen. Während man früher traditionell mit dem Suchtbegriff nur stoffgebundene Abhängigkeiten wie die Sucht nach psychoaktiven Substanzen wie Alkohol und anderen Drogen in Verbindung gebracht hat, fließen heute vermehrt auch stoffungebundene Suchtformen wie Spielen, Kaufen, Sport, Sex, Surfen im Internet oder Essen in die Begriffsdefinition mit ein.265 Doch auch für den Glücksspielbereich ergibt sich noch ein Bedürfnis für einen Odysseus-Vertrag, da in den meisten deutschen Bundesländern keine gesetzlich angeordnete Spielersperre für problematische oder pathologische Spieler in Spielhallen besteht und damit weder einen Rechtsanspruch für den Spieler noch eine entsprechende Verpflichtung der Spielhallenbetreiber existiert.266 Gem. § 2 Abs. 3, 4 GlüStV gilt der § 8 GlüStV nämlich nicht für Spielhallen und Gaststätten, soweit sie Geld- oder Warenspielgeräte mit Gewinnmöglichkeit bereithalten. Und dies, obwohl das Automatenspiel als besonders gefährlich in Bezug auf den Suchtfaktor gilt, die größten Umsätze am gesamten Glücksspielmarkt hier erzielt werden und Spielsüchtige aus diesem Glücksspielbereich seit Jahren die mit Abstand größte Gruppe (ca. 72 %) in den Suchtberatungsstellen bilden.267 Doch auch wenn noch keine Verhaltenssucht vorliegt und grundsätzlich von einer bestehenden Entscheidungsfähigkeit auszugehen ist, könnte ein Odysseus-Vertrag sinnvoll sein, um antizipierten Versuchungen zu widerstehen. 263
Allianz Global Investors, Überliste Dich Selbst: Die Odysseus-Strategie, S. 5, abrufbar unter https://www.allianzglobalinvestors.de/MDBWS/doc/12-03-054+BR+Odysseus+DT. pdf?51345ade160acfd707741754514018e4e02f6138 (zuletzt aufgerufen am 10.11.2017). 264 Allianz Global Investors, Überliste Dich Selbst: Die Odysseus-Strategie, S. 5, abrufbar unter https://www.allianzglobalinvestors.de/MDBWS/doc/12-03-054+BR+Odysseus+DT. pdf?51345ade160acfd707741754514018e4e02f6138 (zuletzt aufgerufen am 10.11.2017); ähnliche Überlegungen gab es auch bei einem „Save More Tomorrow Programm“, vgl. dazu Thaler/Benartzi, Journal of Political Economy 2004, 164 (164 ff.); bei einem Programm zur Raucherentwöhnung, bei dem die Teilnehmer Geld auf einem Konto hinterlegen mussten, das bei einem Rückfall zu einem wohltätigen Zweck gespendet wurde, vgl. dazu Gine/Karlan/ Zinman, American Economic Journal 2010, 213 (213 ff.) sowie einem Pilotpodukt für das Mikrosparen auf den Philippinen, Ashraf/Karlan/Wesley, The Quarterly Journal of Economics 2006, 635 (635 ff.). 265 Vgl. hierzu ausführlich Batthyàny/Pritz, Rausch ohne Drogen, S. 1 ff. 266 Saarland, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bayern, Thüringen, Sachsen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein; vgl. zu der Situation in NordrheinWestfalen auch LG Bielefeld, ZfWG 2017, 325 (325 ff.). 267 Pressemitteilung DHS Jahrbuch Sucht 2017, S. 4, abrufbar unter http://www.dhs.de/fi leadmin/user_upload/pdf/news/2017-04-11_PM_daten_und_fakten_oS.pdf (zuletzt aufgerufen am 11.10.2017).
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Kap. 4: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Verträge
So könnte ein Kunde, der um seine Kaufleidenschaft weiß, ein Interesse daran haben, eine Art Selbstlimitierungsvereinbarung mit seinem bevorzugten (Online-) Händler zu treffen. Gerade in Zeiten, in denen Einkaufen, insbesondere im Internet, per Sofortbezahlung (Paypal, Sofortüberweisung, etc.) so schnell geht, kann auch ein nicht-kaufsüchtiger Kunde schnell den Überblick über seine Unternehmungen verlieren. Könnte er nun ein monatliches Limit in seinem Kundenkonto einrichten, könnte dies viele unüberlegte Sofortkäufe verhindern. Auch hier würde der Kunde zu einem bestimmten Zeitpunkt über seine Langzeitinteressen nachdenken und dann bestimmte Selbstbindungen eingehen, um sich selbst vor den eigenen Kurzzeitpräferenzen zu schützen. Ein Odysseus-Vertrag könnte hier den Kunden sinnvoll vor sich selbst schützen, während das Unternehmen einen sinnvollen Beitrag zum Verbraucherschutz leisten würde. Beispiele für das Bedürfnis eines Odysseus-Vertrages lassen sich letztlich in sämtlichen Bereichen des alltäglichen Lebens finden. Problematisch ist allerdings, unter welchen Bedingungen überhaupt von einem Odysseus-Vertrag ausgegangen werden kann. Noch vor Einführung des GlüStV betonte der BGH, dass die Privatautonomie im Verhältnis von Spielbank und Spieler von vornherein eine grundsätzlich andere als die Privatautonomie im klassischen Rechtsverkehr sei.268 So seien es die Eigenheiten des Glücksspiels und die limitierte Existenzberechtigung der Spielbank, warum es dem Kasinobetreiber zugemutet werde, sich „paternalistisch“ vor den Spielwunsch seiner besten Kunden zu stellen.269 Das Ungewöhnliche der von der Spielbank akzeptierten Eigensperre ergebe sich aus der Besonderheit der rechtlichen Verhältnisse, die aus der Zulassung des öffentlich-rechtlich konzessionierten Glücksspiels und aus dessen spezifischen Gefährdungstatbeständen folgen.270 Auch das VG Regensburg führte diesbezüglich aus, dass die Beeinträchtigung der Privatautonomie der Eigenart des Glücksspiels geschuldet sei: „Generell mag unsere Rechtsordnung auf die freie Gestaltung der persönlichen Rechtsverhältnisse ausgestaltet sein: Dies kann aber nicht gelten, wenn ein bestimmtes Verhalten als abstrakt gefährlich erkannt worden ist und deshalb mittels staatlicher Aufsicht in geordnete Bahnen gelenkt werden soll. Vor dem Hintergrund der bekannten Gefahren wird die Privatautonomie durch die polizei- und ordnungsrechtlichen Regelungen des Glücksspiels von vornherein nur beschränkt gewährt.“271
Daneben zeigt die Rechtsprechung des BGH zu den gewillkürten Formerfordernissen, dass nur Kaufleuten eine „gesteigerte Privatautonomie“ zugestanden wird. So führte der BGH aus, dass, wenn sich Kaufleute, denen das Gesetz in stärkerem Maße Formfreiheit zugestehe als anderen Teilnehmern am privaten 268 269 270 271
BGH, NJW 2012, 48 (49). BGH, NJW 2012, 48 (49). BGH, NJW 2012, 48 (49). VG Regensburg, BeckRS 2014, 57748.
D. Der Odysseus-Vertrag in anderen Lebensbereichen
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Rechtsverkehr, zu einer freiwilligen Bindung entschließen würden, der damit verbundene Vorteil, immer Klarheit über den Inhalt von Verträgen zu haben, den Nachteil einer weniger großen Beweglichkeit im geschäftlichen Alltag aufwiege und gerade im Hinblick auf die Vertragsfreiheit strikte Beachtung verdiene.272 Da der BGH diese Rechtsprechung lediglich auf Kaufleute beschränkte, kann man daraus folgern, das „normal-privatautonome“ Personen gerade wegen ihrer fortbestehenden Privatautonomie in Bezug auf spätere Vereinbarungen keine Bindung durch gewillkürte Schriftformerfordernisse herbeiführen; dagegen können sich „gesteigertprivatautonome“ Personen, namentlich Kaufleute, gerade wegen ihrer Privatautonomie einer solchen Bindung unterwerfen.273 So sind es also in einem Fall „die Besonderheiten des Glücksspiels“ und im anderen Fall die „gesteigerte Privatautonomie“ von Kaufleuten, die eine rechtsgeschäftliche Beschränkung der Privatautonomie nach Ansicht des BGH rechtfertigen können. Eine solche „veränderte Privatautonomie“ ist in „normalen“ Privatrechtsverhältnissen aber nicht begründbar. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um rein private Akteure handelt und kein staatlicher Anbieter an dem in Frage stehenden Rechtsverhältnis beteiligt ist. Letztlich wird die Annahme eines Odysseus-Vertrages aber regelmäßig am Rechtsbindungswillen der Beteiligten scheitern. So wäre auch nach hier vertretener Auffassung die Annahme eines Spielsperrvertrages nur unter besonderen Umständen möglich, wenn § 8 Abs. 2 Alt. 1 GlüStV kein Kontrahierungszwang zu entnehmen wäre. Realistisch vorstellbar ist ein zivilrechtlicher Odysseus-Vertrag damit nur im Zusammenspiel mit öffentlich-rechtlichen Vorschriften, die aus Gefahrschutzgründen einen Odysseus-Vertrag per Kontrahierungszwang anordnen. Doch wenn dennoch von einem Rechtsbindungswillen, möglicherweise aus Verbraucherschutzgründen, ausgegangen werden kann, lassen sich die Überlegungen zur Nichtigkeit künftiger Spielverträge auch auf weitere Lebensbereiche übertragen. So kann zwar nicht unmittelbar durch Vertrag künftigen Verträgen vorab die rechtliche Wirksamkeit genommen werden, doch sind rechtgeschäftliche Beweislastumkehren der Geschäftsfähigkeit oder der Sittenwidrigkeit durchaus denkbar.
272 273
BGH, NJW 1976, 1395 (1395). Wagner-von Papp, AcP 2005, 342 (350).
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Kap. 4: Schutz vor sich selbst durch Odysseus-Verträge
E. Zusammenfassung Kapitel 4 Der Spielsperrvertrag ist der derzeit einzig aktiv praktizierte Vertrag in der deutschen Rechtsordnung, der einen selbstpaternalistischen Charakter aufweist. Auf Veranlassung des Spielers verpflichtet sich der Glücksspielveranstalter, das Zustandekommen von Spielverträgen mit dem gesperrten Spieler zu verhindern und die Einhaltung der Sperre zu überwachen. Da aber in dem Zeitpunkt, in dem diese Leistungspflichten fällig werden, der Wille des Spielers dahingeht, die vorherige Spielsperrvereinbarung aufzuheben und sich der Leidenschaft des Glücksspiels hinzugeben, handelt der Glücksspielveranstalter paternalistisch, wenn er das Spiel verhindert. Gleichwohl hat der Spieler sein Verhalten vorab antizipiert und den Glücksspielveranstalter genau aus diesem Grund zu dieser Vorgehensweise legitimiert. So ist das Handeln des Glücksspielveranstalters durch die selbstpaternalistische Maßnahme des Spielers gerechtfertigt, da der Spieler gerade mit der Willensänderung rechnete und sich keine wesentlichen, der Entscheidung zugrunde liegenden Umstände geändert haben. Die Selbstsperre stellt also ein selbstpaternalistisches Instrument zum rechtsgeschäftlichen Schutz vor sich selbst dar. Dass eine solche Vorgehensweise rechtlich zulässig ist, ergibt sich aus § 8 Abs. 2 GlüStV und der besonderen Gefahrenlage des Glücksspiels, das im großen Umfang staatlich kontrolliert wird. Gleichwohl rufen solch zweiseitige selbstpaternalistische Maßnahmen Bedenken hervor, wenn man sie auf andere Lebensbereiche zu übertragen versucht. So erscheint es besonderes problematisch, bestimmten Rechtsakten zum Schutz vor sich selbst insgesamt vorab die rechtliche Wirksamkeit zu versagen, da dies meist gegen das Verbot der Selbstentmündigung verstoßen wird. Rechtlich denkbar ist hingegen die Vereinbarung rechtgeschäftlich begründeter Beweislastumkehren hinsichtlich der Geschäftsfähigkeit oder der Sittenwidrigkeit. Da derartige Vereinbarungen praktisch aber regelmäßig am Rechtbindungswillen scheitern werden, sind selbstpaternalistische Maßnahmen in Form von Odysseus-Verträgen außerhalb des Glücksspiels letztlich nur im Zusammenspiel mit öffentlich-rechtlichen Vorschriften per Kontrahierungszwang denkbar.
Kapitel 5
Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem aus der Moralphilosophie bekannten Problembereich des Selbstpaternalismus ist in der rechtswissenschaftlichen Diskussion bisher unterblieben. Die Thematik wurde allenfalls dort angeschnitten, wo sich im Rahmen von paternalistischen Rechtfertigungsmodellen mit der Legitimationswirkung einer vorherigen Zustimmung des Betroffenen in eine belastende Maßnahme auseinandergesetzt wurde. Das Ziel der vorliegenden Dissertation war es, diese Lücke zu schließen und den Begriff des Selbstpaternalismus einer juristischen Betrachtung zu unterziehen, sowie anhand konkreter Beispiele zu untersuchen, inwieweit ein rechtsgeschäftlicher Schutz vor sich selbst in den Grenzen der Zivilrechtsdogmatik möglich ist. Ruft man sich das eingangs erläuterte Mythologem des Odysseus und der Insel der Sirenen in Erinnerung (s. Kap. 1 A.), umfasste die Kernfrage der Untersuchung nicht die rechtlichen Möglichkeiten und Grenzen der Matrosen, Odysseus entgegen seinem aktuellen Willen am Mast festgebunden zu lassen; im Fokus der Betrachtungen stand vielmehr die rechtliche Wirksamkeit der selbstbestimmt getroffenen Anweisung des Odysseus, sich an den Mast fesseln zu lassen, verbunden mit der Aufforderung, ihn unter keinen Umständen wieder loszubinden. Gleichwohl war es für das Verständnis der Thematik notwendig, den Ausführungen die wesentlichen philosophischen Diskussionsleitlinien zu der Frage voranzustellen, unter welchen Umständen eine vorherige Zustimmung des Betroffenen zu einer paternalistischen Maßnahme Legitimationswirkung entfalten kann (s. Kap. 2 B. II.). Hierbei wurde im Hinblick auf die Schutzbedürftigkeit des Betroffenen zunächst festgestellt, dass eine vorherige Zustimmung des Betroffenen ein Vorliegen von Paternalismus nicht auszuschließen vermag und diese vielmehr erst im Rahmen der Rechtfertigung der Maßnahme zu berücksichtigen ist (s. Kap. 2 B. I. 2. d)). Dabei zeigte sich schnell der Hauptkonflikt, der jeder selbstpaternalistischen Handlung immanent ist: Der Widerstreit aus dem vorwegnehmend geäußerten und dem aktuellen Willen. Der Ausgleich dieser entgegenstehenden Interessenslagen wurde in der Antizipation der Willensänderung erblickt. Aufgrund der zum Zeitpunkt der späteren Willensänderung bestehenden breiteren Informationsbasis wurde ein Grundsatz des Vorrangs des aktuellen Willens begründet (s. Kap. 2 B. II. 2. b) bb)). Ausnahmsweise
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Kap. 5: Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
aber, wenn die Willensänderung bereits antizipiert wurde und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sich auch die Absicht darüber geändert hat, die Willensänderung vorab für unbeachtlich zu erklären, ist der vorwegnehmend geäußerte Wille als der Maßgebliche anzusehen (s. Kap. 2 B. II. 2. b) cc)). Im Ergebnis kann ein paternalistisches Handeln aufgrund einer vorherigen Zustimmung also dann gerechtfertigt sein, wenn der Betroffene mit der Willensänderung bereits rechnete und sich keine wesentlichen, der Entscheidung zugrunde liegenden Umstände geändert haben. Damit ist auch das Handeln der Matrosen im Falle des Odysseus gerechtfertigt, da keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sich der (wahre) Wille des Odysseus geändert haben könnte. Wenn ein paternalistisches Handeln aufgrund einer vorherigen Zustimmung gerechtfertigt werden kann, stellte sich im Umkehrschluss darauf aufbauend die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen einer derartigen Zustimmung. Ist eine Anweisung, wie sie Odysseus abgegeben hat, für die Matrosen stets verbindlich? Oder sind Fälle denkbar, an denen an der rechtlichen Wirksamkeit einer derartigen Anweisung gezweifelt werden kann? Wann ist eine solche Handlung als selbstpaternalistisch anzusehen? Als selbstpaternalistisch wurden solche Handlungen einer Person definiert, die dem Zweck dienen, andere Personen zur Vornahme von freiheitsbeschränkenden (paternalistischen) Maßnahmen an ihr zu legitimieren oder zu verpflichten, um antizipierte selbstschädigende Verhaltensweisen zur Förderung des eigenen Wohls zu verhindern (s. Kap. 2 C. II.). Da diese regelmäßig mit einer erheblichen Selbstbindung einhergehen, können sie nur dann rechtsverbindliche Wirkung entfalten, wenn die zwingenden Grenzen des Rechts beachtet werden. Grundsätzlich ist die Vornahme einer selbstpaternalistischen Maßnahme ein grundrechtlich geschütztes Verhalten (s. Kap. 2 D. I. 1.). Aus verfassungsrechtlicher Perspektive stößt die Dispositionsbefugnis des Grundrechtsträgers aber dort an ihre Grenzen, wo das Recht und vor allem die Pflicht des Staates beginnen, den Einzelnen vor sich selbst zu schützen (s. Kap. 2 D. I. 2.). Davon ist insbesondere dann auszugehen, wenn das selbstpaternalistische Handeln des Betroffenen nicht auf einer autonomen Entscheidungsgrundlage beruht (s. Kap. 2 D. I. 3. b)). Liegt dagegen eine selbstbestimmte und in Kenntnis aller Folgen getroffene Entscheidung des Grundrechtsträgers vor, ist eine staatliche Eingriffsbefugnis nur in Extremfällen anzunehmen, etwa bei einem generellen, insbesondere zeitlich unbegrenzten Verzicht auf die Ausübung von Grundrechten (s. Kap. 2 D. I. 4. a). Zivilrechtlich ist eine Selbstbindung nur in den Grenzen des § 138 Abs. 1 BGB oder innerhalb einer dem Recht immanenten Grenze zum Schutz der Freiheit möglich (s. Kap. 2 D. II. 1.). Daneben gibt das BGB spezielle (etwa § 311b Abs. 2 BGB oder § 2302 BGB) Normen vor, die den Einzelnen vor einer übermäßigen Selbstbindung schützen sollen (s. Kap. 2 D. II. 2.).
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Die Besonderheit einer selbstpaternalistischen Maßnahme liegt allerdings darin, dass die Beschränkung der Freiheit gerade zum eigenen Wohl erfolgen soll. Die Herbeiführung der zukünftigen Freiheitsbeschränkung ist Hauptzweck der Selbstbindung; es sollen selbstschädigende Verhaltensweisen verhindert werden. Ein Schutz der Partei vor sich selbst durch die Sanktionen des Rechts würde diesen Selbstschutz gerade torpedieren (s. Kap. 2 D. II. 3.). Erklärt man mit anderen Worten eine selbstpaternalistische Maßnahme aus Rechtsgründen für unwirksam, würde man den Einzelnen davor schützen, sich selbst zu schützen. Da aber bei selbstpaternalistischen Maßnahmen die Selbstbindung nur zu eigenen Zwecken erfolgt, müssen Aspekte des Vertrauensschutzes oder die Interessen des Vertragspartners bei der Beurteilung der Legitimität einer solchen Maßnahme nicht berücksichtigt werden. Vielmehr ist im Ergebnis die Hürde in derartigen Konstellationen sehr hoch anzusetzen, um von einer der Rechtsordnung zuwiderlaufenden Selbstbindung zu sprechen (s. Kap. 2 D. II. 3.). Die philosophische Argumentationsstruktur hinsichtlich des Rangverhältnisses aus dem vorwegnehmend geäußerten und dem aktuellen Willen gab auch die Lösung für die Möglichkeiten und Grenzen des rechtsgeschäftlichen Schutzes vor sich selbst durch Odysseus-Anweisungen im Rahmen von Patientenverfügungen vor. Um den eigenen Wünschen und Bedürfnissen Geltung zu verschaffen und sicherzustellen, dass die frühere, im klaren Bewusstsein getroffene Entscheidung in der Patientenverfügung Bestand hat, nehmen Patienten in ihre Patientenverfügung vermehrt sog. Odysseus-Anweisungen auf, die die Verbindlichkeit der Verfügung sicherstellen sollen (s. Kap. 3 A.). Dass sich eine solche Vorgehensweise grundsätzlich empfiehlt, ergibt sich aus einer Analyse des Meinungsstands zu der Frage, wie ein der Patientenverfügung entgegenstehender natürlicher Wille rechtlich behandelt werden soll. Ausgehend vom Fall des „lebensfrohen Demenzkranken“ zeigte sich nämlich, dass unabhängig vom dogmatischen Ansatzpunkt nahezu einhellig von einer irgendwie gearteten rechtlichen Relevanz des natürlichen Willens ausgegangen wird (s. Kap. 3 C. III.). Dagegen wünschen sich Betroffene eine hohe Verbindlichkeit ihrer Patientenverfügung und wollen die Entscheidungsgewalt und damit verbunden die Verantwortung über die Beurteilung der Relevanz des natürlichen Willens häufig selbst ausüben, um sich so vor einer Lossagung der wohlbedachten Vorsorge im Zustand der Entscheidungsunfähigkeit zu schützen (s. Kap. 3 C. IV.). Eine besondere Relevanz entfaltet die Frage nach der Zulässigkeit von OdysseusAnweisungen bei psychiatrischen Patientenverfügungen. Im Rahmen solcher Verfügungen willigen Betroffene vorab in bestimmte Maßnahmen ein, welche die Ärzte im Falle einer akuten psychiatrischen Krise notfalls gegen den eigenen Willen ergreifen sollen, um die Entscheidungsfähigkeit schnellstmöglich wiederherzustellen (s. Kap. 3 C. II. 3.). Die Notwendigkeit ergibt sich daraus, dass bei Vorliegen eines entgegenstehenden natürlichen Willens in der aktuellen Behandlungssituation grundsätzlich die Regelungen über Zwangsbehandlungen zur Anwendung kommen.
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Kap. 5: Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse
Neben den nach §§ 312 ff. FamFG zu beachtenden Verfahrensvorschriften müssen die materiellen Voraussetzungen des § 1906a Abs. 1 BGB gegeben sein, damit der Betreuer in die ärztliche Zwangsmaßnahme einwilligen kann (s. Kap. 3 C. IV. 2.). Ohne das Vorliegen dieser strengen Voraussetzungen kann die Zwangsbehandlung nicht erfolgen, was im Einzellfall zu massiven gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Betroffenen führen kann (s. Kap. 3 C. IV. 2. c)). Um einen faktischen Behandlungsausschluss zu vermeiden, stellt eine Odysseus-Anweisung insofern ein Instrument des rechtsgeschäftlichen Schutzes vor sich selbst dar. Zwar werden für Odysseus-Anweisungen viele unterschiedliche Formulierungen verwendet (s. Kap. 3 C. V. 1.), letztlich ist es aber das Ziel der Verwendung einer Odysseus-Anweisung, einen später geäußerten natürlichen Willen vorab für unbeachtlich zu erklären. Zusammenfassend stellt die Odysseus-Anweisung eine antizipierte Einwilligung dar, die darauf gerichtet ist, eine andere Person dazu zu legitimieren oder zu verpflichten, paternalistische Handlungen an ihr vorzunehmen, um antizipierte selbstschädigende Verhaltensweisen zur Förderung des eigenen Wohls zu verhindern (s. Kap. 3 B. II.). Da auch eine Odysseus-Anweisung als einseitige selbstpaternalistische Maßnahme mit einer erheblichen Selbstbindung und einem intensiven Eingriff in das eigene Selbstbestimmungsrecht einhergeht, kann sie nur dann rechtsverbindliche Wirkung entfalten, wenn sie die zwingenden Grenzen des Rechts beachtet. So ist es nicht möglich, die Patientenverfügung mittels einer Odysseus-Anweisung unwiderruflich auszugestalten, da dies gegen das Verbot der Selbstentmündigung verstoßen würde (s. Kap. 3 C. V. 2. a) cc)). Auch ein Verzicht auf die Formfreiheit des Widerrufs der Patientenverfügung verbunden mit der Anordnung einer eigenhändigen (oder gar notariellen) Schriftform stellt einen zu weiten Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen dar (s. Kap. 3 C. V. 2. b) aa)). Zulässig ist es aber hingegen sehr wohl, bestimmte Voraussetzungen, die für eine Aufhebung der Patientenverfügungen vorliegen müssen, so zu erhöhen, dass ein natürlicher Wille die Festlegungen in einer Patientenverfügung nicht mehr aufzuheben vermag. So ist es nach hier vertretener Auffassung möglich, im Rahmen einer Odysseus-Anweisung festzulegen, dass für den Widerruf der Patientenverfügung, ebenso wie bei deren Errichtung, Einwilligungsfähigkeit vorliegen muss (s. Kap. 3 C. V. 2. b) bb)). Daneben kann der Betroffene im Rahmen einer Odysseus-Anweisung das Ergebnis der Aktualisierungsentscheidung des Betreuers nach § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB im Hinblick auf die Beachtlichkeit eines antizipierten natürlichen Willens bereits vorab festlegen (s. Kap. 3 C. V. 2. b) cc)). Das alleinige Vorliegen eines natürlichen Willens ist dann ohne weitere hinzutretende Faktoren nicht mehr imstande, die Festlegungen in der Patientenverfügung zu durchbrechen. Nur wenn dem Betreuer Umstände bekannt werden, dass sich auch die Absicht geändert hat, den
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natürlichen Willen für unbeachtlich zu erklären, kann eine Umsetzung der Patientenverfügung ausscheiden (s. Kap. 3 C. V. 2. b) cc) (2)). Ist dies nicht der Fall, hat der Betreuer den Festsetzungen in der Patientenverfügung zu folgen. Zwar handelt er insoweit paternalistisch, da er dem aktuellen Willen des Patienten zuwider handelt; doch ist dies zu rechtfertigen: Der Patient rechnete gerade mit der Willensänderung und es haben sich keine wesentlichen, der Entscheidung zugrunde liegenden Umstände geändert. Im Hinblick auf psychiatrische Patientenverfügungen stellte sich schließlich noch die Frage, ob es dem Patienten möglich ist, mittels einer Odysseus-Anweisung auf die zur Zwangsbehandlung erforderlichen Anforderungen zu verzichten, um einen schnelleren Verfahrensablauf und damit verbunden eine schnelle Wiederherstellung der Entscheidungsfähigkeit zu erreichen (s. Kap. 3 C. V. 2. c)). In Bezug auf die verfahrensrechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Zwangsbehandlung gem. § 1906a BGB wurde dies mit dem BVerfG1 verneint. Insbesondere durch das Erfordernis der gerichtlichen Kontrolle gem. § 1906a Abs. 2 BGB sollen Missbrauchsfälle vermieden werden und das Selbstbestimmungsrecht sowie die körperliche Unversehrtheit des Patienten geschützt werden, sodass diese verfahrensrechtliche Sicherung nicht zur Disposition des Patienten steht (s. Kap. 3 C. V. 2. c) aa)). Möglich ist es aber auf materiell-rechtliche Zulässigkeitsvoraussetzungen wirksam einzuwirken. So kann der Betroffene beispielsweise die Erheblichkeitsschwelle der nach § 1901a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BGB erforderlichen erheblichen Gesundheitsgefahr selbst vordefinieren (s. Kap. 3 C. V. 2. c) bb)). Im Ergebnis sollte in der Beratungs- und Abfassungspraxis darauf hingewirkt werden, der Patientenverfügung eine Odysseus-Anweisung hinzuzufügen, um eine größtmögliche Rechtssicherheit hinsichtlich des Umgangs mit einem gegebenenfalls später entgegenstehenden natürlichen (Lebens-)Willen zu erzielen. Ein rechtsgeschäftlicher Schutz vor sich selbst ist insoweit zivilrechtlich geboten. Eine selbstpaternalistische Maßnahme ist daneben auch zweiseitig im Rahmen eines Vertrages rechtlich zulässig. Dies zeigt sich am Beispiel von Selbstsperren nach dem Glücksspielstaatsvertrag. Um sich selbst vor den Folgen ihrer Spielleidenschaft zu bewahren, ergreifen einige von den Gefahren des Glücksspiels betroffene Personen Vorsorgemaßnahmen, die sie davor schützen sollen, erneut der Versuchung des Glücksspiels zu unterliegen (s. Kap. 4 C. I.). So sperren gem. § 8 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 GlüStV Spielbanken und Veranstalter von Sportwetten und Lotterien mit besonderem Gefährdungspotential Personen, die dies beantragen (Selbstsperre). Der Zweck einer Selbstsperre liegt darin, den Glücksspieler vor den aufgrund seiner Spielsucht befürchteten wirtschaftlichen Schäden zu bewahren. Mit der Selbstsperre will sich der Betroffene vor in Zukunft liegenden Handlungen und Entscheidungen schützen, die im Zustand mangelhafter Willensbildung getroffen
1
BVerfG, NJW-RR 2016, 193 (193 ff.).
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werden. Damit stellt die Selbstsperre ein Instrument zum rechtsgeschäftlichen Schutz vor sich selbst dar (s. Kap. 4 A.). Neben der gesetzlichen Verpflichtung nach § 8 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 GlüStV wird zwischen Spieler und Glücksspielveranstalter per Kontrahierungszwang ein Spielsperrvertrag begründet (s. Kap. 4 C. II.). Die Hauptleistungspflicht des Glücksspielveranstalters liegt darin, das Zustandekommen von Spielverträgen mit dem gesperrten Spieler zu verhindern und die Einhaltung der Sperre zu überwachen (s. Kap. 4 C. III.). Die Selbstsperre stellt dabei eine selbstpaternalistische Maßnahme des Spielers dar. Auf seine Initiative hin verpflichtet sich der Glücksspielveranstalter, paternalistische Handlungen an ihm vorzunehmen, um antizipierte selbstschädigende Verhaltensweisen zur Förderung seines Wohls zu verhindern (s. Kap. 4 B. II.). Eine solche Vorgehensweise ist daher abstrakt als sog. Odysseus-Vertrag zu qualifizieren (s. Kap. 4 B. I.). Einen besonderen Aspekt umfasste hierbei die Frage, ob es im Rahmen eines Odysseus-Vertrages möglich ist, bestimmten Rechtsakten zum Schutz vor sich selbst die rechtliche Wirksamkeit zu versagen. Können am Beispiel des Selbstsperrvertrages sperrwidrig abgeschlossene Spielverträge zum Schutz des Spielers vor sich selbst vorab für unwirksam erklärt werden? Eine derartige privatautonom vereinbarte Nichtigkeit künftiger Verträge war mit dem Verbot der Selbstentmündigung abzulehnen (s. Kap. 4 C. III. 2. b) aa)). Rechtlich denkbar ist hingegen eine rechtgeschäftlich begründete Beweislastumkehr hinsichtlich der Geschäftsfähigkeit sowie der Sittenwidrigkeit (s. Kap. 4 C. III. 2. b) bb)). Für den Spielsperrvertrag hat sich diese Problematik mit Einführung des § 20 Abs. 1 S. 1 GlüStVerledigt. Bei dieser Norm handelt es sich nämlich um ein Verbotsgesetz i. S. d § 134 BGB, was zu einer Nichtigkeit von sperrwidrig geschlossenen Spielverträgen führt (s. Kap. 4 C. III. 2. b) cc)). Eine Aufhebung des Sperrvertrages wurde in Übereinstimmung mit der Ansicht des BGH2 nur dann für zulässig erachtet, wenn der sichere Nachweis darüber erbracht wird, dass eine Spielsuchtgefährdung nicht mehr besteht. Denn nur so kann sichergestellt werden, dass es der wirkliche Wille des Betroffenen ist, der die Aufhebung der Spielersperre begehrt und nicht der „unfreie Wille der Versuchung“, vor dem sich der Betroffene gerade durch den Abschluss des Sperrvertrages schützen wollte (s. Kap. 4 C. IV.). Auch außerhalb des Glücksspielrechts ist ein Odysseus-Vertrag überall dort, wo über einen Kontrollverlust aufgrund suchtbedingter fehlender Geschäftsfähigkeit diskutiert wird, im Zusammenspiel mit öffentlich-rechtlichen Vorschriften aus Gefahrschutzgründen denkbar (s. Kap. 4 D.). So könnte man die Grundsätze des Odysseus-Vertrages beispielsweise auf Selbstlimitierungsvereinbarungen im Internet mit bestimmten Online-Händlern übertragen, mit denen der Verbraucher sich vor 2
BGH, NJW 2012, 48 (48 ff.).
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unüberlegten Sofortkäufen schützen könnte, während der Unternehmer einen sinnvollen Beitrag zum Verbraucherschutz leisten würde. Letztlich zeigt die Arbeit, dass die Kernfrage aus Homers Mythologem von Odysseus und der Insel der Sirenen, nämlich wie der Widerstreit aus dem vorwegnehmend geäußerten und dem aktuellen Willen aufgelöst werden kann, nicht an Aktualität verloren hat und gerade in heutiger Zeit viele neue juristische Problemstellungen aufwirft. So werden das Streben nach stetiger Selbstkontrolle und die Angst vor Fremdbestimmung in Kontrollverlust-Situationen sicherlich noch weitere Anwendungsbereiche des Selbstpaternalismus eröffnen. Insoweit wird sich zeigen, ob durch einen rechtsgeschäftlichen Schutz vor sich selbst zukünftig ein staatlicher Paternalismus weitestgehend ersetzt werden kann.
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Sachwortverzeichnis Advanced Care Planning 87, 93 Aktualitätsentscheidung 152 Allgemeine Handlungsfreiheit 49 Antipaternalistisch 30 Aufklärungsverzicht 141
Krisenpass 93 Kurzzeitpräferenz
Langzeitpräferenz 34 Legitimationsstrategie 29 – Einverständnis-basierte 30 – Wohl-basierte 30
Behandlungsvereinbarung 92 Behandlungsvertrag 137, 138 Betreuungsverfügung 92 Bluttransfusion 35, 39
Menschenwürde 57 Multiple-Selves-Ansatz
Demenz 68, 79 Diskontinuität/Kontinuität der Persönlichkeit 94
61, 190
Irreversibler Freiheitsverlust Kontrahierungszwang 190 Kontrollbetreuer 145
54
Natürliche Willensfähigkeit Natürlicher Wille 84
85
Paternalismus 23 Patientenautonomie 50 Patientenverfügung 87 Präferenzänderung 28, 143 Psychiatrische Behandlungsvereinbarung 90 Psychiatrische Patientenverfügung 90 Psychiatrisches Testament 90
Finale Lebenssituationen 87 Formfreiheit 148, 210 Freier Wille 26, 85 Freiheit 87, 140 Freiheitsbeschränkung 44, 159 Freiheitsmaximierung 33 Freiheitsparadoxon 33, 107 Freiwilligkeit 30, 142
Handlungsfreiheit
42
Objektive Werteordnung 50 Odysseus 17 Odysseus-Anweisung 67, 71 Odysseus-Vertrag 169, 172
Einsichtsfähigkeit 85 Einwilligung 88, 103 Einwilligungsfähigkeit 83 Entscheidungsfähigkeit 48, 70
Generalvollmacht 159 Geschäftsfähigkeit 82 Grundrechtsschutz vor sich selbst Grundrechtsverzicht 55
34
52
Schuldfähigkeit 81 Selbstbestimmungsrecht 81, 91 Selbstentmündigung 63 Selbstpaternalismus 41, 48 Selbstreglementierung 45 Selbstschädigende Verhaltensweisen 45, 49 Selbstschutzvertrag 171 Selbstsperre 176 Selbstversklavungsvertrag 33, 54 Sittenwidrigkeit 62, 207 Spielersperre 176 Spielvertrag 179
Sachwortverzeichnis Testierfähigkeit
101
Ulysses arrangement 133 Ulysses contracts 72 Unterbringung 91, 122 Unwiderrufliche Einwilligung 137 Unwiderruflichkeitsklausel 143 Verantwortung 152, 161 Versuchung 170, 216 Vertragsfreiheit 49 Vorausverfügung 70, 90 Vorrang-Nachrang-Verhältnis
32
Vorsorgeverfügung 91 Vorsorgevollmacht 91 Wesensgehaltsgarantie 57 Widerrufsabwehrklausel 69 Widerrufsrechte 32, 215 Willentliche Entscheidung 31 Zurechnungsausschluss 94 Zustimmung 24 Zwangsbefugnis 127 Zwangsbehandlung 158 Zwangscharakter 23
243