Sich selbst verstehen: Ein Lesebuch 9783495824962, 9783495492086


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German Pages [313] Year 2021

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Table of contents :
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Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
Philosophie als umfassende Besinnung. Eine Einführung in die Lektüre von Hermann Schmitz
II. Selbstverortung
1. Wozu Neue Phänomenologie?
2. Alte und Neue Phänomenologie
3. Die Absicht der Neuen Phänomenologie
4. Mein System der Philosophie. Absicht, Methode, Grundgedanke
III. Methodisches
5. Was ist ein Phänomen?
6. Hase und Igel. Vom Pech des unbescheidenen Analytikers
7. Konstruktive und explikative Vernunft
8. Phänomenologie und Konstruktivismus
9. Zur Rehabilitierung des Verstehens als wissenschaftlicher Aufgabe
IV. Anthropologisches
10. Gesundheit
11. Der Nihilismus und die Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart
12. Gedächtnis und Erinnerung in neophänomenologischer Sicht
Die Zeit
Die Lebensgeschichte
Die Erinnerung
Das Gedächtnis
13. Heimisch sein
14. Fassung
V. Wahrnehmung
15. Situationen oder Sinnesdaten – Was wird wahrgenommen?
16. Wahrnehmung als leibliche Kommunikation mit vielsagenden Eindrücken
VI. Mensch und Welt
17. Situationen und Konstellationen
18. Die Weltspaltung und ihre Überwindung
19. Zusammenhang in der Geschichte
20. Kollektive Atmosphären
VII. Bibliographischer Nachweis der Beiträge
VIII. Namensregister
IX. Sachregister
Verzeichnis aller bei Alber aktuell lieferbaren Bücher von Hermann Schmitz
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Sich selbst verstehen: Ein Lesebuch
 9783495824962, 9783495492086

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Hermann Schmitz

Sich selbst verstehen

Ein Lesebuch Ausgewählt und eingeleitet von Michael Großheim und Steffen Kluck VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495824962

.

B

Hermann Schmitz Sich selbst verstehen

VERLAG KARL ALBER

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https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Hermann Schmitz

Sich selbst verstehen Ein Lesebuch Ausgewählt und eingeleitet von Michael Großheim und Steffen Kluck

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Hermann Schmitz Understanding oneself A reader Hermann Schmitz, founder of the New Phenomenology and one of the most productive philosophers of our time, can look back on an extensive body of work at the age of over 90. Some central themes, such as the corporeality of the human being and feelings as atmospheres, have enjoyed growing attention in recent years, far beyond the boundaries of philosophy. Other, no less important aspects have been published over the years in scattered contexts that are now difficult to grasp. The present volume aims to make these works accessible again by bringing together relevant articles on phenomenology and its method, anthropology, perception theory, ontology and the philosophy of culture. The texts thus made available for new or first reading also satisfy another urgent need, for the volume also sees itself as an introductory survey work on the New Phenomenology.

The author and the editors: Hermann Schmitz, born 1928 in Leipzig, doctorate 1955, habilitation in philosophy 1958; 1971 to 1993 full professor of philosophy at Kiel University. Founder of the New Pheno-menology. Author of numerous books and essays (a list of all available Alber titles in the appendix). Michael Großheim, born 1962, received his doctorate in 1993, habilitated in 2000, has held the Hermann Schmitz Endowed Professorship for Phenomenological Philosophy at the University of Rostock since 2006. Most recently published by Karl Alber: »Zeithorizont. Zwischen Gegenwartsversessenheit und langfristiger Orientierung« (2012). Steffen Kluck, born 1980, studied philosophy and German language and literature, received his doctorate in 2012, has been a research assistant at the Institute of Philosophy at the University of Rostock since 2006. Most recently published by Karl Alber: »Pathologien der Wirklichkeit. Ein phänomenologischer Beitrag zu Wahr-nehmungstheorie und zur Ontologie der Lebenswelt« (2014).

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Hermann Schmitz Sich selbst verstehen Ein Lesebuch Hermann Schmitz, Begründer der Neuen Phänomenologie und einer der produktivsten Philosophen unserer Zeit, kann mit über 90 Jahren auf ein umfangreiches Werk zurückblicken. Einige zentrale Themen wie die Leiblichkeit des Menschen und die Gefühle als Atmosphären erfreuen sich seit einigen Jahren einer wachsenden Aufmerksamkeit, die weit über die Grenzen der Philosophie hinausgeht. Andere, nicht weniger wichtige Aspekte sind über die Jahre in verstreuten Kontexten publiziert worden, die mittlerweile nur noch schwer greifbar sind. Der vorliegende Band möchte diese Arbeiten wieder zugänglich machen, indem er einschlägige Artikel zur Phänomenologie und ihrer Methode, zur Anthropologie, zur Wahrnehmungstheorie, zur Ontologie und zur Kulturphilosophie versammelt. Mit den so zur Neu- oder Erstlektüre bereitgestellten Texten wird darüber hinaus ein weiteres dringendes Bedürfnis befriedigt, denn der Band versteht sich auch als ein einführendes Überblickswerk zur Neuen Phänomenologie.

Der Autor und die Herausgeber: Hermann Schmitz, geb. 1928 in Leipzig, promoviert 1955, habilitiert für Philosophie 1958; 1971 bis 1993 ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Kiel. Begründer der Neuen Phänomenologie. Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze (eine Liste aller lieferbaren Alber-Titel im Anhang). Michael Großheim, geb. 1962, promoviert 1993, habilitiert 2000, seit 2006 Inhaber der Hermann-Schmitz-Stiftungsprofessur für Phänomenologische Philosophie an der Universität Rostock. Zuletzt im Verlag Karl Alber erschienen ist: »Zeithorizont. Zwischen Gegenwartsversessenheit und langfristiger Orientierung« (2012). Steffen Kluck, geb. 1980, Studium der Philosophie und Germanistik, promoviert 2012, ist seit 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Rostock. Zuletzt im Verlag Karl Alber erschienen ist: »Pathologien der Wirklichkeit. Ein phänomenologischer Beitrag zu Wahrnehmungstheorie und zur Ontologie der Lebenswelt« (2014).

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Gefördert durch die Stiftung Neue Phänomenologie

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2021 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Coverbild: © Alexander Risse Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49208-6 ISBN E-Book (PDF) 978-3-495-82496-2

https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Inhaltsverzeichnis

I.

Einleitung

»Philosophie als umfassende Besinnung. Eine Einführung in die Lektüre von Hermann Schmitz« (Michael Großheim, Steffen Kluck) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

II.

Selbstverortung

1.

»Wozu Neue Phänomenologie?« . . . . . . . . . . . . .

33

2.

»Alte und Neue Phänomenologie« . . . . . . . . . . . .

45

3.

»Die Absicht der Neuen Phänomenologie«

. . . . . . .

52

4.

»Mein System der Philosophie – Absicht, Methode, Grundgedanke« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

III. Methodisches 5.

»Was ist ein Phänomen?« . . . . . . . . . . . . . . . .

71

6.

»Hase und Igel. Vom Pech des unbescheidenen Analytikers« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

7.

»Konstruktive und explikative Vernunft« . . . . . . . .

90

8.

»Phänomenologie und Konstruktivismus« . . . . . . . .

105

9.

»Zur Rehabilitierung des Verstehens als wissenschaftlicher Aufgabe« . . . . . . . . . . . . . . .

118

IV. Anthropologisches 10. »Gesundheit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

11. »Der Nihilismus und die Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

141

7 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Inhaltsverzeichnis

12. »Gedächtnis und Erinnerung in neophänomenologischer Sicht« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

151

13. »Heimisch sein« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

179

14. »Fassung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

193

V.

Wahrnehmung

15. »Situationen oder Sinnesdaten – Was wird wahrgenommen?« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

205

16. »Wahrnehmung als leibliche Kommunikation mit vielsagenden Eindrücken« . . . . . . . . . . . . . . . .

228

VI. Mensch und Welt 17. »Situationen und Konstellationen«

. . . . . . . . . . . 243

18. »Die Weltspaltung und ihre Überwindung« . . . . . . .

257

19. »Zusammenhang in der Geschichte« . . . . . . . . . . .

271

20. »Kollektive Atmosphären« . . . . . . . . . . . . . . . .

286

VII. Bibliographischer Nachweis der Beiträge . . . . . . . . . 299 VIII. Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 IX. Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

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I. Einleitung

https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Philosophie als umfassende Besinnung. Eine Einführung in die Lektüre von Hermann Schmitz Michael Großheim, Steffen Kluck

Die Überlieferung und Zugänglichkeit philosophischer Texte ist oft von Zufällen geprägt, die weitreichende positive wie negative Folgen haben können. Exemplarisch zeigt sich das etwa am berühmten Lehrgedicht »De rerum natura« des lateinischen Philosophen Lukrez, eines Zeitgenossen Cäsars. Das Werk, ein Meisterstück römischer Wiederaufnahme griechischer Gedanken, wurde jahrhundertelang intensiv kopiert, gelesen und diskutiert, verschwand aber mit dem Aufstieg des Christentums zusehends im Dunkel der Klosterbibliotheken. Nur noch dem Namen nach war es einigen wenigen Denkern bekannt. Als sich die italienischen Renaissance-Philosophen im 15. Jahrhundert ausgehend von Florenz der Antike mit großem Elan zuwandten, begaben sie sich auf die Suche nach allen Manuskripten vergessener Texte und Autoren, derer sie habhaft werden konnten. In der Klosterbibliothek St. Gallen fand Poggio Bracciolini ein einziges, letztes Exemplar von »De rerum natura« 1 – ein Zufallsfund, der uns zum Glück Lukrez’ Werk auf den heutigen Tag übermittelt hat. Solche glücklichen Zufälle sind aber nur die Kehrseite vieler Verlustgeschichten. Eine derartige hat Umberto Eco als Aufhänger für seinen Welterfolg »Der Name der Rose« genutzt, nämlich das verloren gegangene zweite Buch der Poetik des Aristoteles. Solcherlei Überlieferungsprobleme kennzeichneten die Philosophie – und andere Wissensbereiche – seit jeher. Heute jedoch stehen Interessierte vor einem ganz anderen Problem, in dem der Zufall weiterhin eine große Rolle spielt, aber eine anders gelagerte. Die schiere Menge an Publikationen ist für einen einzelnen Menschen nicht mehr zu bewältigen. 2 Zudem ist das Feld möglicher Erscheinungsorte – Bücher, Sam1 Vgl. Lukrez: De rerum natura. Über die Natur der Dinge. Übers. v. Klaus Binder. Berlin 2015. 2 Vgl. dazu Pietro Della Briotta Parolo, Raj Kumar Pan, Rumi Ghosh, Bernardo A. Huberman, Kimmo Kaski, Santo Fortunato: »Attention decay in science«, in: Journal

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Michael Großheim, Steffen Kluck

melbände, Zeitschriften, Feuilletons, Internetseiten usw. – überaus differenziert. Der heute auftretende Zufall besteht nicht mehr darin, welche Werke sich auf welche Weise erhalten haben und zur Kenntnis genommen werden können oder eben nicht, sondern welche man überhaupt noch zu bemerken vermag. Es gab keine Zeit, der so viel an Literatur und Wissen zu Verfügung stand wie der heutigen, gleichwohl bedeutet das, dass es ebenso keine Zeit gegeben hat, in der der einzelne Leser so Vieles nicht zur Kenntnis nimmt. 3 Verschärft wird die Problematik des Nichtbemerkens noch dadurch, dass in der Logik der wissenschaftlichen wie publizistischen Institutionen, ihrer Nutzen- bzw. Konsumentenorientierung zur Folge, solche Schriften, die nicht dem Hauptstrom des jeweiligen Denkens entsprechen, zusätzliche Aufmerksamkeitsdefizite zu ertragen haben. 4 Der vor dem Hintergrund des Überangebots an möglichen Lesestoffen sich notwendig fokussierende Blick beschränkt sich auf die Quellen, die ihm leicht und schnell zur Hand sein können und die vielleicht von anderen, von Experten oder eben von den Meisten empfohlen werden. Das ist nicht per se kritisch zu sehen, es handelt sich vielmehr um eine legitime Notwehrmaßnahme im Hinblick auf den Status quo der Wissenschaften und Publizistik, aber ein solches of Informetrics, Bd. 9 (2015), S. 734–745. Die Autoren weisen darauf hin, dass Publikationen immer schneller veralten und dass Wissenschaftler immer schneller dazu neigen (müssen), Dinge zu vergessen oder gar nicht erst zu lesen. Zur wissenschaftlichen Überproduktion vgl. auch Dennis Wutzke: Akademische Überproduktion und Erkenntnis der Gesellschaft. Elemente einer kritischen Theorie evaluativer Sozialwissenschaft. Dissertation Rostock 2016 (unveröffentlicht). Harald Weinrich spricht vor diesem Hintergrund zu Recht von dem der Wissenschaft eingeschriebenen »Oblivionismus« (Harald Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. München 1997, S. 263–271). Man müsse eine »rational gesteuerte Informationsabwehr« entwickeln als Konsequenz aus der Informations- und Publikationsflut. Seine Grundidee ist, dass der wissenschaftliche Mainstream ohnehin perpetuiert wird und daher einer bewussten Zuwendung weit weniger bedarf; viel eher ist es sogar sinnvoll, sich von ihm bewusst abzuwenden als dem, was ohnehin bald unwichtig wird. Einer seiner Vorschläge für Umgangsregeln lautet: »Den Hauptstrom der Forschung, dem alle folgen, kannst du vergessen.« (ebd., S. 270). Wenn das stimmt, spricht vieles dafür, sich Schmitz’ Werken intensiv zuzuwenden. 3 Es ist daher nur zu verständlich, dass inzwischen intensiv daran gearbeitet wird, Algorithmen zu entwickeln, die die Bücher für den Menschen lesen und aufbereiten. Dass ein solches Unterfangen dann aber mit echtem Wissenserwerb und Bildung nichts mehr zu tun hat, braucht nicht betont zu werden. 4 Vgl. zu den Homogenisierungseffekten in der aktuellen Universitätsrealität Christoph Paret: »Schiffbruch ohne Zuschauer. Warum die Universität nicht mehr Ort gefährlicher Gedanken ist«, in: Lettre International, Heft 130 (2020), S. 29–31.

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Philosophie als umfassende Besinnung

Handeln bedingt, dass vieles Interessante, vor allem vieles Neuartige und Abweichende, gar nicht in den Fokus kommen kann, obwohl es prinzipiell zur Verfügung stünde. Dem Philosophen Hermann Schmitz und seinen Werken ist – zumindest lange Zeit 5 – ein solches Nicht-Bemerken zuteil geworden. Einige Ursachen dafür können vielleicht im Stil des Denkens und Schreibens gesucht werden, zum Teil auch in publizistischen Entscheidungen, worauf noch zu sprechen kommen sein wird. Ebenso aber liegt das daran, dass eine Reihe wichtiger Beiträge von Schmitz an abgelegenen Orten erschienen sind und gleichsam verstreut in der Menge der Veröffentlichungen noch ihrer Entdeckung harren. Diesem Umstand Rechnung tragend, will das vorliegende Lesebuch einer Anthologie gleich solche Texte aus den hinteren, verstaubten Regalen der inzwischen weltlichen Archive hervorholen, um sie dem interessierten Leser gesammelt zugänglich zu machen. Grundimpuls ist es, Schmitz’ Einsichten und seine Argumentationen leicht verfügbar zu machen. Zugleich gestatten die Texte in der vorgenommenen Auswahl einen Überblick über sehr verschiedene Themengebiete. So berühren sie methodische, anthropologische, ontologische oder kulturphilosophische Fragestellungen. Damit bietet das Lesebuch eine vorzügliche Möglichkeit, in das Denken von Schmitz und in den Ansatz der Neuen Phänomenologie einzusteigen. Von den im Lesebuch präsentierten Texten aus ist es sehr gut möglich, sich die umfangreicheren Darlegungen in den zahlreichen – inzwischen über 50 – Büchern von Schmitz zu erschließen.

Vgl. die Hinweise auf die zunehmende Rezeption in Michael Großheim: »Vorwort«, in: ders. (Hrsg.): Neue Phänomenologie zwischen Praxis und Theorie. Festschrift für Hermann Schmitz. Freiburg, München 2008, S. 9–17, v. a. S. 9 ff. Der Trend hat sich noch verstärkt. Vgl. als Ergänzung folgende ausgewählte Zeugnisse der Rezeption: Robert Josef Kozljanic: »Leibphänomenologie und Lebensphilosophie«, in: ders.: Lebensphilosophie. Eine Einführung. Stuttgart 2004, S. 211–239; Kerstin Andermann, Undine Eberlein (Hrsg.): Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie (= Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 29). Berlin 2011; Thomas Rentsch: Philosophie des 20. Jahrhunderts. Von Husserl bis Derrida. München 2014, S. 120; »›Gefühle sind keine Privatsache.‹ Hermann Schmitz im Gespräch«, in: philosophie Magazin Nr. 02/2017, S. 70–75; Synthesis philosophica 33 (2018) (= Sonderheft »Neue Phänomenologie«); Aida Bosch, Joachim Fischer, Robert Gugutzer (Hrsg.): Körper – Leib – Sozialität. Philosophische Anthropologie und Leibphänomenologie: Helmuth Plessner und Hermann Schmitz im Dialog (im Erscheinen). 5

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Michael Großheim, Steffen Kluck

Die ausgewählten Texte von Hermann Schmitz stammen aus unterschiedlichsten Kontexten und Zeiten. Das bedingt, dass sie stilistisch wie teilweise inhaltlich kein homogenes Bild abgeben. Auf diese Weise hat die Zusammenstellung allerdings den großen Vorteil, Schmitz’ Vorgehen sowie die Veränderung seiner Gedanken, die zunehmende Präzisierung etwa, abzubilden. Gleichzeitig bedingt dies gewisse Wiederholungen von bestimmten Begriffsklärungen und theoretischen Erläuterungen, mitunter auch der herangezogenen Beispiele. Damit die einzelnen Texte aber in sich geschlossen bleiben, wurden solche Redundanzen und Repetitionen nicht getilgt. Überhaupt wurden die Eingriffe in die Texte auf ein Minimalmaß begrenzt. Es erfolgte eine moderate Anpassung an die neue Rechtschreibung, wo es nötig schien, stilistische und orthographische Eigenheiten wurden jedoch bewusst nicht verändert, um dem eloquenten Schriftsteller Schmitz ebenfalls gerecht zu werden. Kleinere orthographische Fehler und offensichtliche Tippfehler wurden stillschweigend korrigiert. Textliche Eingriffe mussten dort vorgenommen und durch eckige Klammern gekennzeichnet werden, wo Bezüge auf den originalen Publikationskontext sich fanden, die in der vorliegenden Neuausgabe sinnlos wären. Die bibliographischen Verweise erfuhren eine Überprüfung und Vereinheitlichung, an einigen Stellen wurden zudem Angaben korrigiert oder ergänzt. Dadurch ergibt sich im Ergebnis eine von den Originalen abweichende Zählung der Verweise und mitunter veränderte Bezugsausgaben. Die Zitate aus dem »System der Philosophie« sind alle auf die neue Ausgabe umgestellt worden, die 2019 im Verlag Karl Alber erschienen ist. Die Belege innerhalb der einzelnen Texte sind vollständig, so dass jeder Beitrag für sich rezipiert werden kann. Eine Anthologie, die auf diese Weise verschüttete Texte der Öffentlichkeit erneut zur Verfügung stellen möchte und dabei autorzentriert ausgerichtet ist, sollte auch über den betreffenden Autor etwas sagen. Im Falle von Schmitz jedoch gibt es dahingehend eine Besonderheit, denn sein philosophisches Ethos gebietet es ihm, sich als Person möglichst weitgehend aus dem Werk zurückzuziehen. Die Person ist gegenüber der Sache irrelevant, so jedenfalls sieht es Schmitz. 6 Nur an wenigen Stellen des Werkes äußert sich nicht der Vgl. dazu illustrierend o. A.: »Vorwort«, in: Festschrift Nr. 30 der Margrit EgnérStiftung. Preisverleihung 2014 »Zeit und Zeitgeist«. Zürich 2014, S. 15–17, hier S. 16,

6

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Philosophie als umfassende Besinnung

Philosoph, sondern das menschliche Individuum Hermann Schmitz. 7 Folglich gibt es weniger zu berichten, als der Leser für gewöhnlich erwartet. Es ist einer zukünftigen Philosophiegeschichtsschreibung anheimgestellt, diese Leerstelle zur Kenntnis zu nehmen und sie gegebenenfalls kritisch zu füllen. Dessen ungeachtet werden die Herausgeber im Folgenden zumindest für die Studienzeit ein kleines Porträt zu liefern versuchen. Zunächst bleibt für das vorliegende Lesebuch das Allgemeine, das biographisch zur Verfügung steht, zu konstatieren. Schmitz wurde 1928 in Leipzig geboren. Sein Vater war ebendort Reichsgerichtsrat, was auch das besondere Augenmerk auf Rechtsphilosophie und damit verbundene Fragen in der Neuen Phänomenologie motivational erklärt. 8 Das Abitur erfolgte in Bonn, wo Schmitz dann von 1949 an Philosophie, Literaturwissenschaft und Geschichte studierte. Wesentlicher philosophischer (persönlich war Heinz Heimsoeth (1886– 1975) wichtiger) Bezugspunkt wurde dabei Erich Rothacker (1888– 1965), 9 in dessen Seminar damals eine bunte und äußerst diskussionsfreudige Schar von Studenten zusammentraf. Wie lebhaft es dort zuging, schildert Jürgen Habermas (* 1929), der neben Schmitz, Karl-Otto Apel (1922–2017), Karl-Heinz Ilting (1925–1984), Ernst

wo es heißt: »Ueber das private wirkliche Sein unseres hochverehrten Preisträgers [d. i. Hermann Schmitz; d. Verf.] kann ich Ihnen nichts erzählen, denn er hat mir darüber auch nichts erzählt – mit der durchaus berechtigten Begründung, dass er für sein wissenschaftliches Werk, nicht für sein Privatleben geehrt werde.« Schmitz schließt sich in diesem Sinne Bacons und Kants Diktum »de nobis ipsus silemus« an (vgl. dazu Hermann Schmitz: »Die Unentbehrlichkeit der Einzelforschung«, in: Kieler Universitätstage 1972. Kiel 1972, S. 95–109, hier S. 95). 7 Meist geschieht dies, wenn Schmitz den Impuls verdeutlichen möchte, den der Nationalsozialismus, welchen er als Heranwachsender miterlebte, ihm gab zur kritischen Revision der geistesgeschichtlichen Grundlage der heutigen Zeit (vgl. exemplarisch Hermann Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. Bonn 1999, S. 9 f. und ders.: Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Eine Bilanz. Freiburg, München 2016, S. 25). 8 So ist der 1973 erstmals erschienene Band 3/III des »Systems der Philosophie«, der sich der Rechtsphilosophie widmet, dem Vater und dem als Anwalt tätigen Großvater gewidmet (Hermann Schmitz: System der Philosophie: Bd. 3/III: Der Rechtsraum. Praktische Philosophie. Freiburg, München 2019). 9 Über die Beziehung Rothackers zu Schmitz und auch über die zeitgleich dort studierenden Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel vgl. die näheren Informationen in Guillaume Plas: »Die Schüler Erich Rothackers. Ableger historistischen Denkens in der deutschen Philosophie der Nachkriegszeit«, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 54 (2012), S. 195–222.

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Michael Großheim, Steffen Kluck

Konrad Specht (1926–2010) und Klaus Hartmann (1925–1991) zu den späteren Philosophie-Professoren aus diesem Kreis gehört. 10 Der junge Schmitz muss für die Professoren in seiner Studienzeit eine besondere Herausforderung gewesen sein. Verschiedene Zeugen aus der Bonner Zeit überliefern eine ganze Reihe von Anekdoten, deren Wahrheitsgehalt natürlich dahingestellt bleibt, die aber alle in eine Richtung zielen. Um zumindest einen kleinen Eindruck dieser intellektuellen Ausnahmeerscheinung zu vermitteln, sei hier erstmals eine Auswahl dieser Anekdoten öffentlich gemacht: Während Rothacker Schmitz immer habe reden lassen, soll Theodor Litt (1880–1962) der einzige gewesen sein, der ihn bändigen konnte. Wenn Schmitz in Litts Vorlesung zu reden begann, schlug dieser mit der Faust auf den Tisch, Schmitz bekam einen Schreck und brach ab, während Litt von da an bis zum Ende der Zeit ohne Punkt und Komma redete. Oskar Becker (1889–1964) soll Schmitz einmal einen Brief geschickt haben: »Lieber Hermann Schmitz, ich mache im nächsten Semester ein Seminar über Hegel, bitte Sie aber, nicht zu kommen, da Sie nichts mehr lernen können.« 11 Rothacker hat zu einer Seminarstunde aufgegeben, das Verhältnis von Aristoteles zu Platon darzustellen; die meisten reden einige Minuten dazu, Apel eine Viertelstunde, Schmitz eine Dreiviertelstunde. In einem Seminar von Gottfried Martin (1901–1972) über Husserl widerspricht Schmitz nach jedem Satz von Martin, worauf dieser schließlich die Geduld verliert und gereizt fragt: »Wer sind Sie eigentlich?« »Hermann Schmitz.« »Und was sind Sie? Sind Sie ein Kollege?« »Nein, ich bin Student.« »Und in welchem Semester, wenn ich fragen darf?« »Im ersten.« 12 Schmitz selbst erinnert sich, dass Heimsoeth

Vgl. Jürgen Habermas: »Ein Baumeister mit hermeneutischem Gespür – Der Weg des Philosophen Karl-Otto Apel«, in: Walter Reese-Schäfer (Hrsg.): Karl-Otto Apel zur Einführung. Hamburg 1990, S. 137–149, hier S. 137 f. 11 Gesprächsprotokoll, angelegt von Michael Großheim nach einer Begegnung mit Otto Pöggeler (1928–2014) am 07. 06. 1997 in Hannover. Pöggeler äußert sich zum Rothacker-Seminar auch in einem Interview mit der Zeitschrift »Information Philosophie« (Otto Pöggeler: »Hegel, Heidegger und Gadamer. Erinnerungen von Otto Pöggeler«, in: Information Philosophie, Bd. 34/5 (2006), S. 30–35, hier S. 30 f.). In seinem Lebensbericht wird das Thema kürzer behandelt (ders.: Wege in schwieriger Zeit. Ein Lebensbericht. München 2011, S. 102 f.). 12 Gesprächsprotokoll, angelegt von Michael Großheim nach einer Begegnung mit Karl Albert (1921–2008) am 06. 06. 1997 in Hannover. 10

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Philosophie als umfassende Besinnung

beim ersten Mal aus dem Seminar gelaufen sei, als Schmitz zu reden anfing, danach habe er sich jedoch wie ein Vater um ihn bemüht. 13 Ein letztes, bereits publiziertes Zeugnis soll dieses kleine Porträt eines ungewöhnlichen Studenten abrunden. Kurz nach der Bonner Studienzeit begegnet der klassische Philologe Rudolf Schottlaender (1900–1988) dem jungen Doktoranden Schmitz. In seinen Erinnerungen berichtet Schottlaender später: »Der erste Studienstiftler, den ich kennenlernte, war Hermann Schmitz aus Bonn […]. Überragend war er in doppelter Hinsicht: durch körperlichen Wuchs und durch geistige Fähigkeiten. […] Gedächtnis und Redegabe waren bei ihm dermaßen stark, daß ihm beim Sprechen der Stoff schier unhemmbar zuströmte. […] Wenn jemand gehaltvolle, aber nicht endenwollende Ausführungen macht und obendrein erst die Mitte Zwanzig erreicht hat, schafft er sich leicht einen Ruf, der nur die Minutenzahl, aber nicht die Substanz des Diskussionsbeitrags in Betracht zieht. Schmitz war unter den jungen Philosophen der originellste Kopf, den ich je kennengelernt habe.« 14 Schmitz selbst wiederum erklärt, dass er im Studium Lehrveranstaltungen eher unregelmäßig besucht habe, vor allem zu dem Zweck, um Anregungen zu bekommen; im Wesentlichen habe er das einsame Arbeiten vorgezogen. Gleichwohl hat dieser eigenständige Arbeitsstil den späteren Doktorvater Rothacker nicht zur Ablehnung des jungen Studenten geführt, denn in einem Gutachten für die Studienstiftung des deutschen Volkes aus dem Juni 1954 heißt es: »Der cand. phil. Hermann Schmitz ist vielleicht der begabteste Philosophiestudent, der mir je begegnet ist.« 15 Man darf also annehmen, es waren philosophisch ertragreiche Bonner Jahre. Nach der Promotion über Goethes Altersdenken 16 1955 ging Schmitz 1958 nach Kiel, wo er – 1971 zum Ordinarius berufen – als Professor bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1993 lehrte. Nach außen hin eine unscheinbare, aber hinsichtlich der Produktivität herausragende Professoren-BioGesprächsprotokoll, angelegt von Michael Großheim nach einer Begegnung mit Hermann Schmitz am 21. 06. 1997 in Kiel. 14 Rudolf Schottlaender: Trotz allem ein Deutscher. Mein Lebensweg seit Jahrhundertbeginn. Freiburg 1986, S. 73 f. 15 Erich Rothacker: »Gutachten«, in: Universitätsbibliothek Bonn. NL Rothacker XVII, Mappe 9d. Rothacker fügt der Einschätzung die Bitte an die Studienstiftung bei, das Votum dem Kandidaten aber nicht mitzuteilen. 16 Vgl. Hermann Schmitz: Goethes Altersdenken im problemgeschichtlichen Zusammenhang. Bonn 1959. 13

17 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Michael Großheim, Steffen Kluck

graphie. Im Detail ließen sich vermutlich spannendere Geschichten erzählen, etwa über Begegnungen und Austausch mit anderen bedeutenden Denkern der Zeit – Martin Heidegger (1889–1976), Carl Friedrich von Weizsäcker (1912–2007), Wolfgang Stegmüller (1923– 1991), Konrad Lorenz (1903–1989) oder Wolfgang Metzger (1899– 1979) seien exemplarisch genannt – oder über zeitgeschichtlich bedeutsame Erfahrungen – zum Beispiel die Zeit der Studentenrevolte um 1968. All dies hat Schmitz jedoch bewusst nicht schriftlich niedergelegt, 17 er möchte vielmehr als Person hinter dem philosophischen Gehalt seiner Schriften zurücktreten. Blickt man daher auf das so in den Vordergrund gerückte Werk, ist schon dessen schierer Umfang kaum zu fassen – Schmitz hat neben den schon genannten über 50 Monographien noch über 150 Fachartikel veröffentlicht. Angesichts eines solchen Oeuvres liegt die Notwendigkeit nahe, neu herantretenden Lesern Orientierung zu verschaffen, was dieses Lesebuch einführend leisten möchte. 18 Schmitz selber betont immer wieder, dass es einen roten Faden in seinem Werk gebe, einen gleichbleibenden Blick, der nur gelegentlich durch Modifikationen und Korrekturen 19 verändert bzw. verbessert wurde. Die zweifellos vorhandene Kontinuität hindert freilich nicht daran, vier Werkphasen oder -schwerpunkte zu unterscheiden. Die erste Phase – beginnend mit dem Band »Die Gegenwart« des »System der Philosophie« 20 im Jahre 1964, deutlicher dann mit dem Auch wenn einige Werke eine solche Perspektive durchaus nahelegen (vgl. Hermann Schmitz: Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Eine Bilanz. A. a. O.), gibt es bisher weder eine Autobiographie noch so etwas wie Erinnerungen. 18 Es gibt bislang eine Einführung in die Neue Phänomenologie als Sekundärliteratur, verfasst von Jens Soentgen (Die verdeckte Wirklichkeit. Einführung in die Neue Phänomenologie von Hermann Schmitz. Bonn 1998). Die Schrift ist noch immer lesenswert, auch wenn sie viele neuere Ansätze im Denken Schmitz’ noch nicht kennen kann. Problematisch bleibt an dem Werk, dass es offensichtliche Missverständnisse enthält und zudem nicht immer mit der gewünschten Wertfreiheit an die Texte herantritt. Auch Schmitz selber hat eine Einführung verfasst (Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie. Freiburg, München 2009 u. ö.). Das Werk ist bereits in mehrere Sprachen übersetzt. 19 Eine umfangreiche Selbstkritik seines »System der Philosophie« stellt der »Anhang I« dar in Hermann Schmitz: Der Spielraum der Gegenwart. Bonn 1999, 181–273. Schmitz’ Tendenz zu transparenter und intensiver Selbstkritik kann nur als vorbildlich bezeichnet werden. 20 Der Titel »System der Philosophie« hat viel Befremden ausgelöst und ist nicht selten auch Gegenstand von Vorurteilen geworden. Schmitz hat entgegen dem, was immer wieder kolportiert wird, nie den abwegigen Anspruch erhoben, für alle phi17

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ersten Teil des zweiten Bandes »Der Leib« 1965 – thematisiert primär unter dem Blickwinkel des Leibes. Dabei entspringt dieses Denken einer Auseinandersetzung mit dem, was ein Mensch unbefangen an sich und um sich herum bemerken kann. Es geht um das »Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung« 21, den Kern der Philosophie. Was der Mensch dort bemerken kann, ist zweierlei: erstens, dass er mehr oder anderes ist als der Körper und der Geist, die klassischen Interpretationsstücke menschlicher Selbstbesinnung im westlichen Denken, und zweitens, dass zudem die Welt keineswegs so gegliedert ist, wie das die seit der Antike verfolgte und entwickelte Ding-Ontologie nahelegt. Schmitz geht beiden Erkenntnissen nach im Laufe seines Werkes, zunächst stärker, wie gesagt, dem ersten Aspekt, der terminologisch auf den Begriff »Leiblichkeit« 22 gebracht wird. Der Leib ist dabei das, was der Mensch an sich spüren kann, ohne auf die Vorstellungen vom eigenen Körper und ohne auf das Zeugnis der Sinne zurückzugreifen. Schmitz thematisiert auf diese Weise einen Bereich des Humanen, der in der Besinnung durch den cartesischen Dualismus und – vor allem in der Moderne – die Reduktion auf physiologische Zusammenhänge verloren gegangen war. 23 Die Sphäre des Leibes als die den Menschen spürbar nahegehende Sphäre des Eigenen, die zugleich das Begegnungsfeld mit anderen und anderem darstellt, will Schmitz den Menschen als Selbsterkenntnis- und Bewältigungsfeld wieder zurücklosophischen Probleme eine endgültige Lösung zu bieten. Seine nüchterne, differenzierte und ausdrücklich Platz für eine »Pluralität der Systeme« einräumende Auffassung ist in § 7 des ersten Bandes dargelegt (ders.: System der Philosophie. Bd. I: Die Gegenwart. Freiburg, München 2019 (zuerst 1964). 62–69). Redlich wäre es gewesen, diesen kurzen Abschnitt zur Kenntnis zu nehmen, bevor man sich zu voreiligen Urteilen hinreißen lässt (und sich langfristig nur selbst bloßstellt). Vgl. auch den entsprechenden Kommentar zum Reihentitel in ders.: System der Philosophie. Bd. II/1: Der Leib. Freiburg, München 2019 (zuerst 1965), S. XV. 21 Ders.: System der Philosophie. Bd. I: Die Gegenwart. A. a. O., S. 15. 22 Kulminierend in ders.: Der Leib. Berlin, Boston 2011. 23 Es gibt dabei durchaus Mitstreiter bei diesem Projekt der Rethematisierung des Leiblichen, etwa Maurice Merleau-Ponty oder – überraschenderweise – die Stoa. Insgesamt aber glaubt Schmitz, bei der modernen Wiederentdeckung eine Vorreiterfunktion zu haben (vgl. dazu ders.: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung. Bd. 1: Antike Philosophie. Freiburg, München 2007, S. 307–315 und ders.: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung. Bd. 2: Nachantike Philosophie. Freiburg, München 2007, S. 800–810). Allgemein zur Geschichte der Leibphilosophie und der Selbstverortung von Schmitz in diese ders.: Der Leib. A. a. O., S. 147–173.

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geben, indem er phänomenologische Begriffe entwickelt und bereitstellt, die den Menschen zur Besinnung dienlich sein können. Ohne ein solches Begriffsinventar kommen die Menschen schwer bis gar nicht darauf, dass sie auch leibliche Wesen sind. Das kulturspezifisch ausgeprägte Selbstverständnis, das sich in der Sprache niederschlägt, bahnt die Wege der Besinnung, muss dabei aber phänomenologisch kritisch begleitet und gegebenenfalls korrigiert werden. Die Beschäftigung mit dem Leib hat Schmitz durchgehend verfolgt, vielleicht mit gewisser Zurückhaltung in späteren Jahren, da er nicht darauf reduziert werden wollte, der »Leibphilosoph« zu sein. Eine solche Tendenz gab es vor allem deshalb, weil die produktive Rezeption der Neuen Phänomenologie zunächst und zumeist unter diesem Aspekt erfolgte. Ab etwa 1977 zeigt sich eine gewisse Akzentverschiebung in Schmitz’ Denken, indem die zweite Wurzel seines Denkens, die Mannigfaltigkeitslehre, stärker in den Fokus rückt. Schmitz selber scheint keine grundsätzliche Perspektivenveränderung zu sehen, aber mit dem Erscheinen von Band III/4 des »System der Philosophie« tritt prominent der Begriff »Situation« in den Vordergrund. 24 Der frühere Begriff der chaotischen Mannigfaltigkeit wird damit weiter entwickelt und schärfer gefasst. Situationen sind in der Neuen Phänomenologie die wichtigsten ontologischen Einheiten, sie bilden sozusagen das Fundament der Welt. Damit wendet sich Schmitz ab vom ontologischen wie epistemologischen Vorrang der einzelnen, isolierten Dinge, um die vielsagenden, mehrdeutigen, hinsichtlich ihres Gehalts nicht oder noch nicht festgelegten Entitäten ins Auge zu fassen. Erst als ein kulturspezifisches Abstraktionsprodukt begegnen dem Menschen in der Welt einzelne Dinge im Sinne der klassischen Ontologie eines Aristoteles, Thomas von Aquin oder Leibniz, primär sind es dagegen Situationen. Ein Beispiel für eine solche ist schon jede einfache Wahrnehmung. Es ist Folge eines falschen theoretischen Modells, dass der durchschnittliche Mensch der westlichen Zivilisation glaubt, von vornherein einzelne Dinge wahrzunehmen. Was er, so Schmitz’ Hinweis, bei redlichem Sichbesinnen feststellen könnte, ist, dass er vielmehr eine ganzheitliche Situation wahrnimmt, aus der er mit bestimmten Vorgriffen Explikationen, Vereinzelungen vornimmt. Der erste Eindruck, den man von einer Person hat, wäre Auch Soentgen scheint eine solche Werkeinteilung anhand des Situationsbegriffs für möglich zu erachten (vgl. Jens Soentgen: Die verdeckte Wirklichkeit. A. a. O., S. 142).

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dafür ein guter Beleg. 25 Man kann diesen unmittelbar sich aufdrängenden Eindruck an Einzelheiten festzumachen versuchen – dem Blick, der Kleiderwahl, dem Gang usw. –, aber er bleibt demgegenüber ambivalent, teilweise unabhängig und auf jeden Fall vorhergehend. Das Situationsdenken wird von Schmitz in vielen Kontexten angewendet, nicht nur in der Philosophie der Wahrnehmung, sondern auch besonders im Bereich der politischen Philosophie, insofern Situationen auch gemeinsame sein können und die Grundlage von Sozialität darstellen. Beide werkimmanenten begrifflichen Schwerpunktsetzungen – Leib und Situation – bilden fortan bleibende Bezugspunkte. Eine dritte Werkphase beginnt erst mit der Fertigstellung des »System der Philosophie« nach 1980. Das opus magnum enthält zwar eine unglaubliche Menge an Bezügen zu früheren Denkern, Positionen und Werken, verfolgt aber kein historisches, sondern ein systematisches Ziel. Der Abschluss mit dem letzten, fünften Band »Die Aufhebung der Gegenwart« 26 bot Schmitz die Gelegenheit, die historischen Detailstudien nachzureichen. Es setzt damit eine etwa von 1980 bis 2010 dauernde intensive philosophiehistorische Schaffenszeit ein. Schmitz liefert Analysen zum Beispiel zu den Vorsokratikern 27, Aristoteles 28, Kant 29, Hegel 30, Nietzsche 31, zu Edmund Husserl und Martin Heidegger 32 und schließlich eine Gesamtbetrachtung der abendländischen Philosophie, die sich zugleich als Gewissenserforschung der Philosophie vorstellt. 33 Derlei historische Studien dienen dabei nicht dem Zurschaustellen eigenen Bildungsgutes, über das Schmitz gleichwohl in heute selten gewordenem Ausmaß verfügt, sondern verfolgen das Dieses Beispiel nutzt Schmitz selbst häufig, z. B. Hermann Schmitz: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. Bonn 1994, S. 77–82. 26 Ders.: System der Philosophie. Bd. V: Die Aufhebung der Gegenwart. Freiburg, München 2019 (zuerst 1980). 27 Ders.: Anaximander und die Anfänge der griechischen Philosophie. Bonn 1988 und ders.: Der Ursprung des Gegenstandes. Von Parmenides bis Demokrit. Bonn 1988. 28 Ders.: Die Ideenlehre des Aristoteles. 2 Bde. Bonn 1985. 29 Ders.: Was wollte Kant? Bonn 1989. 30 Ders.: Hegels Logik. Bonn 1992 sowie ders.: Die entfremdete Subjektivität. Von Fichte zu Hegel. Bonn 1992. 31 Ders.: Selbstdarstellung als Philosophie. Metamorphosen der entfremdeten Subjektivität. Bonn 1995. Dort auch weiterführende Auseinandersetzungen mit Ludwig Wittgenstein. 32 Ders.: Husserl und Heidegger. Bonn 1996. 33 Ders.: Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung. A. a. O. 25

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Ziel, die Neue Phänomenologie in der Tradition der Philosophie kritisch zu positionieren. Schließlich ist seit Beginn des neuen Jahrtausends eine vierte Schwerpunktsetzung erkennbar, insofern Schmitz vor allem im Bereich der formalen und theoretischen Philosophie neue Impulse zu setzen bestrebt ist. Er hat sich sowohl der Mathematik 34 als auch der Logik 35 zugewandt, ebenso der Ontologie 36 und früher schon der Erkenntnistheorie. 37 Insbesondere seine ab 2008 entwickelte Lehre von Verhältnissen, die die alte Mannigfaltigkeitslehre verbessert, tritt in den Vordergrund. Diese vier Differenzierungen sind freilich cum grano salis zu verstehen. Sie können helfen, im weiten Feld des Oeuvres Orientierungen zu finden. Die Monographien, die oben als Grundlage für die Phasenbildung gedient haben, werden flankiert durch eine Vielzahl an Aufsätzen. Eine Auswahl von 20 solcher Texte versammelt das vorliegende Lesebuch. Sie könnten im Einzelnen auf die genannten werkgeschichtlichen Schwerpunkte bezogen werden, jedoch verfolgt die Anthologie eine systematische Gruppierung. Der Werküberblick soll neben Orientierungshilfe das Eine leisten, nämlich zeigen, wie geeignet ein Einstieg in dieses Gedankengebäude über pointierte Aufsätze ist. Sie bieten hermeneutische Hilfen, insofern von ihnen aus jeweils Brücken zu den umfassenderen Monographien geschlagen werden können. Bevor die ausgewählten Beiträge in ihrer Zusammenstellung näher erläutert werden sollen, ist auf die eingangs schon erwähnte problematische Rezeptionsgeschichte der Neuen Phänomenologie zurückzukommen. Es gibt ganz grundsätzlich den dargestellten Umstand, dass heutzutage jede nicht medial oder werbetechnisch begleitete Neuerscheinung Gefahr läuft, unbemerkt zu bleiben. Gleichwohl gibt es darüber hinaus weitere, spezifischere Rezeptionshindernisse im Kontext der Philosophie von Schmitz, die zu beheben einen der Impulse für das vorliegende Lesebuch darstellt. Schmitz selber hat sich über die ausbleibende Rezeption gelegentlich beklagt, 38 aber auch 34 Ders.: Kritische Grundlegung der Mathematik. Eine phänomenologisch-logische Analyse. Freiburg, München 2013. 35 Ders.: Logische Untersuchungen. Freiburg, München 2008. 36 Ders.: Gibt es die Welt? Freiburg, München 2014. 37 Ders.: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O. 38 Z. B. ders.: System der Philosophie. Bd. V: Die Aufhebung der Gegenwart. A. a. O., S. XIV.

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teilweise – unbeabsichtigt – dazu beigetragen. Einerseits gibt es bei ihm einen »forcierten Originalitätsgestus« 39, eine Eigenart, die ihn gegenüber anderen Ansätzen und Denkern häufig allein die Abweichungen herausstellen lässt, während die naheliegenden Brücken, über die Interessierte den Weg zu seinem Werk finden könnten, ausgespart bleiben. 40 Dadurch erschwert er die heutzutage übliche Rezeption, die nach Anschlussfähigem fragt und darauf aus ist, Positionen zu kontextualisieren. Sein Schreiben hat zweitens wenig Vermittelndes, sondern bemüht sich zunächst immer – ohne explizit Gemeinsamkeiten zu bestreiten – um pointierende, schärfende Abgrenzung. Diese begriffliche wie positionelle Kontrastierung macht eine Stärke der Neuen Phänomenologie aus, insofern sie um klar umrissene Konzepte bemüht ist. Gleichwohl wirkt das dann, wie es gelegentlich genannt wurde, »auftrumpfend« 41. Nun sollte es freilich in der Wissenschaft allgemein, der Philosophie im Besonderen, um solche affektiven Dimensionen nicht zu tun sein, aber es wäre naiv zu glauben, derlei hätte die Rezeption nicht erschwert. Aus den genannten Aspekten folgte drittens eine gewisse Isolierung der Neuen Phänomenologie im akademischen Diskurs. Es gab keine nennenswerte Schulbildung, keine gegenseitig sich bestärkenden »Zitationskartelle«, die einer Etablierung dienlich gewesen wären. Schmitz und sein Denken blieben solitär, teils aus der Sache begründet 42, teils aus wissenschaftsfernen Motiven. Schließlich kommt viertens hinzu, dass Schmitz insbesondere bei seinen Aufsätzen eine gewisse publizistische Planlosigkeit an den Tag gelegt hat. Er hat fortwährend viel veröffentlicht, dabei aber offenbar alle Publikationsmöglichkeiten als gleichwertig betrachtet. Daraus ergab sich, dass sachlich höchst bedeutsame Artikel in zum Teil abgelegenen, man möchte fast sagen »versteckten« Organen erschienen. Hier zeigt sich Schmitz als ein Autor, der überhaupt nicht dem heutzutage geforderten Typus eines bewusst sich selbst vermarktenden Wissenschaftlers entspricht, wie ihn die Institution Universität im Zuge ihrer Umgestaltung durch Thomas Rentsch: »Rezension von Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand«, in: Philosophische Rundschau, Bd. 40 (1993), S. 121–128, hier S. 128. 40 Vgl. dazu als Beispiel die Bemerkungen über das Verhältnis der Neuen Phänomenologie zum Denken Maurice Merleau-Pontys in Steffen Kluck: Pathologien der Wirklichkeit. Ein phänomenologischer Beitrag zur Wahrnehmungstheorie und zur Ontologie der Lebenswelt. Freiburg, München 2014, S. 87 f. 41 Vgl. Jens Soentgen: Die verdeckte Wirklichkeit. A. a. O., S. 170 f. 42 Vgl. Hermann Schmitz: »Die Unentbehrlichkeit der Einzelforschung«. A. a. O. 39

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Bologna, New Public Management und das Leitbild der »unternehmerischen Universität« erwartet. Insgesamt ergibt sich aus den vier genannten Gründen eine in Relation zum Gehalt und zu möglichen gesellschaftlichen wie individuellen Erkenntnischancen bislang geringe Rezeption. Im letzten Jahrzehnt gab es, wie erwähnt, dahingehend korrigierende Tendenzen. Die Neue Phänomenologie wurde dabei interessanterweise zunächst in unmittelbar praktischen Bezugsfeldern – Psychotherapie sei an erster Stelle genannt – rezipiert. 43 Hier imponierte vor allem die Aufklärungskraft der Begriffe, die Anwendern wie Betroffenen genau das gestattete, was Schmitz avisiert hatte, nämlich ein Sichbesinnen auf das eigene Sichfinden. Aber auch im engeren fachphilosophischen Diskurs wurde Schmitz’ Stimme deutlicher hörbar, prominent etwa im Diskurs zur Philosophie der Gefühle 44 oder der Leiblichkeit. 45 Diesen erfreulichen Tendenzen möchte das vorliegende Lesebuch weitere Impulse verleihen. Das Buch versammelt Beiträge 46 unterschiedlichster Provenienz, die in dem großen Zeitraum von 1972 bis 2018 erschienen sind – mit der Ausnahme eines bislang unveröffentlichten Vortrags, der hier erstmals breiter zugänglich gemacht wird. Ausgewählt wurden die Artikel nach drei Kriterien, nämlich ihrer thematischen Einschlägigkeit für einen Überblick, ihrem lesefreundlichen Charakter und ihrer bisher geringen Rezeption. Die ersten beiden Kriterien zeigen schon an, dass ein gewisser interpretativer, vielleicht sogar subjektiver Spielraum zugrunde lag; andere Herausgeber hätten wohl andere Artikel ausgewählt. Dennoch präsentiert die vorliegende Auswahl einen – nach redlichem Urteil zweier intensiver Schmitz-Leser – interessanten und anregenden Einblick in verschiedenste Bereiche der Neuen Phänomenologie. Vgl. als Überblick zu Anwendungen Heinz Becker (Hrsg.): Zugang zu Menschen. Angewandte Philosophie in zehn Berufsfeldern. Freiburg, München 2013. 44 Vgl. dazu die Bemerkungen in Heiner Hastedt: Gefühle. Philosophische Bemerkungen. Stuttgart 2005, S. 11 f. und die zahlreichen Bezüge in Christoph Demmerling, Hilge Landweer (Hrsg.): Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn. Stuttgart, Weimar 2007. 45 Vgl. dazu den Beitrag von Kerstin Andermann: »Hermann Schmitz – Leiblichkeit als kommunikatives Selbst- und Weltverhältnis«, in: Emmanuel Alloa, Thomas Bedorf, Christian Grüny, Tobias N. Klaas (Hrsg.): Leiblichkeit. Begriff, Geschichte und Aktualität eines Konzepts. Tübingen 2012, S. 130–145. 46 Es sind darunter selbstständige Artikel, aber auch Buchkapitel und ein Vortragsmanuskript. 43

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Gleichwohl gilt es, eine auffällige Lücke zu markieren. Es sind keine Beiträge enthalten, die den »Leib« exklusiv zum Thema haben. Natürlich kommt Schmitz in vielen Texten auf dieses Konzept zu sprechen, in anderen bildet es den theoretischen, aber impliziten Hintergrund. Jedoch schien es legitim, solche Beiträge, die dezidiert leibphilosophisch ausgerichtet sind, auszuschließen, weil es auf diesem Feld bereits entsprechende Rezeptionen gegeben hat und Schmitz selber in neuerer Zeit ein sehr gelungenes Überblickswerk zu seinem eigenen Leib-Ansatz verfasst hat. 47 Insgesamt teilen sich die hier abgedruckten Texte von Schmitz in fünf Gruppen auf. Zunächst versammelt sind vier Aufsätze, die die Neue Phänomenologie als philosophisches Projekt verdeutlichen. Worum geht es Schmitz eigentlich? Wie verhält sich dieser Ansatz zu anderen philosophischen wie phänomenologischen Ansätzen? Warum geschieht die Explikation in Systemform? Schmitz erläutert hier, was sein Anliegen ist und welchen Weg er gehen zu müssen meint. Diese Texte klären also Vorhaben und Verortung innerhalb der Philosophie im Allgemeinen. In einer zweiten Gruppe wurden fünf Arbeiten zusammengetragen, die Schmitz’ phänomenologische Methode präsentieren. Dabei geht es um Konzepte wie »Phänomen«, »Explikation«, »hermeneutische Intelligenz« und »Konstellationen«. Hierbei zeigt sich Schmitz als ein sich seines Vorgehens bewusster Philosoph, der durch die Verdeutlichung seines methodischen Ansatzes zugleich die kritische Bezugnahme anderer herausfordert. Er mag sich irren, aber dann tut er es – wie wissenschaftlich gefordert – auf klar nachvollziehbare und kritisierbare Weise. Es ist gegen die Neue Phänomenologie in dieser Hinsicht kein Irrationalismus-Verdacht zu richten. Genauer widmen sich diese fünf Beiträge der Frage, was Phänomenologie als Methode eigentlich meint. Insbesondere kommt dabei die Auseinandersetzung mit dem derzeit allgegenwärtigen Konstruktivismus, zu dem sich die Neue Phänomenologie kritisch positioniert, in den Blick. Dagegen wird eine Verteidigung eines an einer umfassend ausgelegten Hermeneutik orientierten Verstehens geliefert, die an den SachverhaltsBegriff des Phänomens anschließt. Eine dritte Gruppe bietet fünf Werke zur – in weiterem Sinne verstandenen – Anthropologie. Was macht den Menschen aus? Was kann und soll ein Mensch tun? Dabei kommt auch die ansonsten bei 47

Vgl. Hermann Schmitz: Der Leib. A. a. O.

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Schmitz nicht thematisierte ethische Perspektive stärker in den Blick. Der Mensch wird als leibliches Wesen verstanden, das sich zur Welt verhalten muss, etwa als Person, die sich eine Fassung gibt, als Wesen, das seine Vorhaben zu seinen Möglichkeiten in ein »gesundes« Verhältnis bringen muss, aber auch einen Platz im Raum und ein Verhältnis zur Zeit zu finden hat. In einer vierten Gruppe sind zwei Beiträge von Schmitz zur Philosophie der Wahrnehmung versammelt. Das mag zunächst überraschen, aber gerade seine im ursprünglichen Wortsinne ästhetischen Arbeiten zeugen von der Besinnungskraft der phänomenologischen Begriffe. Um diese Leistungsfähigkeit den Lesern zu verdeutlichen, wurden die beiden Artikel ausgewählt, die zudem noch einmal zeigen, welch weitreichende Korrekturen am bestehenden ontologischen wie epistemologischen Leitbild der westlichen Kultur Schmitz vorzunehmen sich anschickt. Das – im Vergleich jedenfalls – eher beiläufig scheinende Thema »Wahrnehmung« ist für Schmitz als Form leiblicher Kommunikation mit Situationen viel grundlegender und gehaltvoller, als das moderne Sinnesdatentheorien mit ihrem verarmten Inventar an Bedeutung(en) annehmen. Beschlossen wird das Lesebuch durch vier Beiträge zur Sozialontologie, das heißt zur Lehre von menschlicher Gemeinschaft. Es geht um Phänomene wie »Kultur«, »Geschichte«, aber auch konkretere Vorkommnisse wie gemeinsame Atmosphären – etwa bei einem Konzert oder einem Fußballspiel. Insbesondere der Begriff der Situation findet hier ein breites Anwendungsfeld. Diese Beiträge geben einen im weiten Sinne sozialphilosophischen Ausblick, insofern der Mensch und seine Welt, die immer eine gemeinsame ist, vorgestellt werden. Mit diesen fünf Schwerpunktsetzungen werden verschiedenste Zugänge zum Gedankengebäude der Neuen Phänomenologie eröffnet. Der Leser kann je nach Interessen und Fragestellungen einzelne Gruppen oder auch nur einzelne Aufsätze auswählen, kann aber auch im Durchgang durch alle Artikel einen Einstieg in das Oeuvre insgesamt erhalten. Einziger Wermutstropfen bildet – neben den bei Auswahlen unvermeidlichen Lücken – der Umstand, dass sich gewisse Redundanzen und Wiederholungen, wie schon erwähnt, nicht vermeiden ließen. Bestimmte Begriffe werden in verschiedenen Artikeln eingeführt und definiert. Ein Eingriff seitens der Herausgeber schien aber unangebracht, 48 weil dadurch der Charakter der Texte verändert 48

Einzige Ausnahme bildet hier der Beitrag »Alte und neue Phänomenologie«. Im

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worden wäre, insbesondere weil dann die einzelnen Beiträge nur noch im Gesamtzusammenhang vollständig rezipierbar gewesen wären. So wie oben der Versuch unternommen worden ist, zumindest in groben Zügen ein Porträt des Autors zu geben, so soll nun abschließend auf der anderen Seite eine Art Phantombild des dazu passenden Lesers entworfen werden. Cum grano salis lässt sich sagen: SchmitzLektüre ist etwas für Menschen, die selbst Fragen haben, die von einer Beirrung in ihrem Sichfinden in ihrer Umgebung bewegt werden, die ihr Leben besser verstehen wollen. Vielleicht ist dies der höchste Ertrag, den eine philosophische Lektüre versprechen kann, nämlich dass es Menschen dadurch gelingt, das, was ihnen geschieht, besser verstehen zu können, indem sie das Erfahrene in geeignete Gattungen einordnen und so auch die Möglichkeit gewinnen, sich dazu zu stellen, konkreter: sich darauf einzulassen, Distanz dazu zu gewinnen, sich bewusst in die Nuancen des Erlebten zu vertiefen, differenzierter darüber sprechen zu lernen usw. Manches im Leben kann so seinen Schrecken oder seine Unheimlichkeit verlieren, anderes seinen Zauber behalten oder wiedergewinnen. Bevor nun der interessierte Leser seine Tätigkeit aufnimmt, seien ihm aus Erfahrung noch einige wenige Ratschläge zur Lektüre mitgegeben. Schmitz ist ein Autor, der bestimmte Anforderungen stellt, soll die Lektüre ertragreich werden. Einerseits ist das entscheidende Merkmal phänomenologischer Prüfung durch den Leser beständig selbst anzusetzen – kommt das Beschriebene nach redlicher Prüfung in meiner Lebenserfahrung vor? Alle Aussagen, die Schmitz trifft, müssen sich – auf nicht immer einfachen Wegen – im weitesten Sinne empirisch prüfen lassen. Es ist damit keine bloß passive Lektüre gefordert, sondern aktives Nachvollziehen. Zweitens neigt Schmitz mitunter zu dichten Passagen, die auf für ihn längst geklärte Konzepte usw. zurückverweisen. Hier ist Durchhaltevermögen gefragt, gelegentlich auch Mut zur Lücke, die dann durch spätere Lektüren geschlossen zu werden verdient. Dies gilt gerade für die reiferen, späteren Texte, in denen er auf andere Überlegungen aus mehreren Jahrzehnten zurückweist. Drittens gilt es zu beachten, dass Schmitz als Autor manchmal wenig Konzilianz gegenüber heutzutage eingeforderten SprachnorOriginal wurde der Text durch einige Bemerkungen zum weiteren Verlauf des Buches, aus dem der Beitrag stammt, beschlossen, die aber hier im vorliegenden Lesebuch sinnlos gewesen wären und daher gestrichen wurden.

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men an den Tag legt. Es muss daher an das wohletablierte hermeneutische Prinzip des Wohlwollens (»principle of charity«) erinnert werden, welches besagt, dass man von seinem Gesprächspartner – im vorliegenden Fall vom Autor – das Beste annehmen, seine Argumente so stark wie möglich zu machen bestrebt sein sollte. Wenn seine Sprache auch gelegentlich heutigen Sensibilitäten gegenüber gleichgültig daherkommt, so versteckt sich dahinter eine humanistische, aufgeklärte Philosophie ersten Grades. Schließlich ist viertens vom Leser gefordert, die gelegentlichen Selbstbezugnahmen nicht als Ausdruck von Eitelkeit oder Narzissmus zu verstehen, sondern sich klar zu machen, dass der Autor hier in manchem Text auf 50 oder mehr Jahre eigenen Denkens zurückblickt und dabei redlich feststellen muss, dass er – so seine Perspektive – manche Sachverhalte in bislang nicht überholter Klarheit formuliert hat, weshalb diese es verdient haben, wieder zitiert zu werden. All diese genannten Besonderheiten werden aber dem interessierten, kritischen Leser den Weg in ein fruchtbringendes, zur Selbstbesinnung befähigendes Gedankengebäude nicht verbauen, er wird sie vermutlich gar nicht bemerken. Die Lektüre der Arbeiten von Schmitz kann dem geneigten Leser, der sich in der durch die platonischen Dialoge eingeführten Weise, mit dem rechten philosophischen, überhaupt wissenschaftlichen Habitus, auf den gemeinsamen Weg des Wissenserwerbs begibt, ein Schatz sein. Es kommt dabei mit Platon auf »Wissen und Wohlwollen und [das] offene Wort an.« 49 Den an Wissen Interessierten beeindruckt das Werk von Schmitz auch als Ausdruck einer ganz besonderen Bildung, denn der dem Autor zur Verfügung stehende geistesgeschichtliche Horizont sucht seinesgleichen in der Gegenwart. Gleichwohl ist es Schmitz nicht darum zu tun, mit seltenen Bildungsgütern zu renommieren, sondern vielmehr in redlicher, gründlicher und möglichst umfassender Weise das unwillkürliche Erleben der Menschen gegen verstellende Bildungsschichten der Vergangenheit wieder zu seinem Recht kommen zu lassen. Sich mit Schmitz – auch gerade kritisch – auf eine solche intellektuelle Reise zu begeben, wird zu einem spannenden »Höhlengang« 50, zu einer Er49 Platon: Gorgias 487a (zitiert nach der Ausgabe: Platon: Gorgias. Hrsg. v. Joachim Dalfen. Göttingen 2004). 50 Vgl. zu diesem Motiv Hermann Schmitz: Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie. Berlin 1997, S. 7.

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forschung lange verschütteter Bereiche der menschlichen Lebenswelt. Und wie bei solchen Gängen üblich, ist die Aussicht auf interessante Entdeckungen verbunden mit dem schmerzhaften, irritierenden Abschied von alten Gewohnheiten, von Vertrautem. Jedoch beginnt bekanntlich mit dem θαυμάζειν 51, dem Verwundert-Sein genau das, um das es Schmitz allein zu tun ist, das Philosophieren. Abschließend möchten die Herausgeber die Gelegenheit nutzen, Anita Holtz und Jonas Puchta für ihre Mühen beim Erstellen des Textes und der Register von Herzen zu danken. Ohne ihrer beider Hilfe gäbe es dieses Buch nicht. Zum anderen danken die Herausgeber Lukas Trabert und Martin Hähnel vom Verlag Karl Alber für ihre Unterstützung des Projekts. Weiterhin sind wir Steffen Kammler verbunden für die Beratung in altsprachlichen Fragen. Schließlich ist Hermann Schmitz selbst zu danken dafür, dass er das Erstellen eines solchen Lesebuchs – ganz gegen seine eigenen Ideen von philosophischen Werken und deren Charakter – ermöglicht hat. Möge das Buch seine Gedanken fruchtbringend in die Welt tragen. Die Herausgeber

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Rostock im Jahre 2021

Vgl. Platon: Theaitetos 155d.

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II. Selbstverortung

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1. Wozu Neue Phänomenologie?

Die Phänomenologie trat 1900, durch das Erscheinen von Husserls Werk »Logische Untersuchungen«, zur Umgestaltung der Philosophie mit dem Schlachtruf an: »Zu den Sachen selbst!« Diese Devise hat zeitlose Geltung in einem Sinn, der immer wieder neu ausgelegt werden darf und soll; ich tue das, indem ich drei Teilbedeutungen unterscheide: 1. Eine Aufgabe der Vergewisserung, die sich mit Humes Unterscheidung zwischen »ideas« und »impressions« erläutern lässt. Hume etablierte die Forschungsmaxime, im Rückgang von den »ideas«, den gängigen Vorstellungen, Redensarten und Vorurteilen, nach den zugehörigen »impressions« zu fahnden, den sinngebenden unwillkürlichen Eindrücken, und die nicht so zurückführbaren »ideas« wie ungedeckte Schecks aus dem Verkehr zu ziehen. Man kann diese Maxime auch mit der von Hermann Gunkel für die biblischen Psalmen durchgearbeiteten Frage nach dem »Sitz im Leben« veranschaulichen: Was ist für Hume’sche »ideas« deren Sitz im Leben? Ein gutes Beispiel treffender Beantwortung, die allerdings nicht in phänomenologischer Absicht gegeben wurde, ist Freges Zahlbegriff. Sitz der Zahl im Leben ist das Zählen; Frege erkannte, dass Zählen seinem abstrakten Typ nach umkehrbar eindeutiges Abbilden ist, und konstruierte über der Möglichkeit umkehrbar eindeutiger Abbildung zwischen Mengen seinen Zahlbegriff, übrigens mit Berufung auf Hume, der mit einer beiläufigen, noch unpräzisen Bemerkung diesen Definitionsgedanken schon ahnen lässt. 1 Der Phänomenologe will durch so vergewissernden Rückgang das Unverfügbare unter den Annahmen, also das, was sich in intellektuellem Ernst nicht bestreiten lässt, aus 1 Gottlob Frege: Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch-mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl. Hildesheim 1961 (Nachdruck der Ausgabe Breslau 1884), S. 73 und David Hume: A Treatise of Human Nature. Hrsg. v. Lewis Amherst Selby-Bigge, Peter Harold Nidditch. Oxford 2009, S. 71 (book I, part III, sect. I).

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dem Beliebigen der Konstruktionen und Spekulationen sauber herausschälen. Diese Operation hat zwei Nebenfolgen, die für die Klärung des Horizonts jeder Forschung und Besinnung gleichfalls von hohem Wert sind: Scheinprobleme können entlarvt werden, und das Prüfen der Annahmen an Gegenmöglichkeiten auf ihre Unverfügbarkeit im angegebenen Sinn hilft dazu, viel von dem, was sonst als komplexer Glaube mit unformulierter oder schlecht formulierter vermeintlicher Selbstverständlichkeit im Hintergrund bleibt und unbesehen vorausgesetzt wird, in die Gestalt einzelner, prüfbarer Annahmen zu übersetzen. 2. Die bisher beschriebene Tendenz der Vergewisserung ist kritisch, hat aber eine produktive Kehrseite: Die gängigen Einstellungen, Annahmen und Redensarten, die auf den phänomenologischen Prüfstand gestellt werden, wirken als Blickschienen, gröber gesagt: als Scheuklappen. Die phänomenologische Revision solcher Voraussetzungen hat daher die Chance, bisher verdeckte und verdrängte, aber in unwillkürlicher Lebenserfahrung unversehrt, wenn auch unbeachtet, erhaltene Zusammenhänge aufzudecken und dadurch fruchtbare Perspektiven der Forschung zu erschließen; Beispiele werde ich gleich angeben. Eine Parabel, die diese Leistungsfähigkeit durch eine verblüffende Erfahrung aus dem Alltagsleben verdeutlicht, hat Jakob von Uexküll erzählt: Als ich längere Zeit bei einem Freunde zu Gast war, wurde mir täglich zum Mittagessen ein irdener Wasserkrug vor meinen Platz gestellt. Eines Tages hatte der Diener den Tonkrug zerschlagen und statt dessen eine Glaskaraffe hingestellt. Als ich beim Essen nach dem Krug suchte, sah ich die Glaskaraffe nicht. Erst als mein Freund mir versicherte, das Wasser stünde an seinem gewohnten Platz, schossen auf einmal verschiedene Glanzlichter, die auf Messern und Tellern verstreut lagen, durch die Luft zusammen und bildeten die Glaskaraffe. […] Das Suchbild vernichtet das Merkbild. 2

Der phänomenologischen Revision fällt die Aufgabe zu, hinter Merkbildern, die den unbefangenen Blick ungeahnt tyrannisieren, verdeckte Suchbilder zum Vorschein zu bringen. 3. Die beiden bisher beschriebenen Bedeutungen der Parole »Zu den Sachen!« können sich schon in ausschließlich objektivierender Einstellung auswirken. Dazu kommt eine dritte, die Selbstbesinnung betreffende Bedeutung, die allein zureicht, um die Phänomenologie Jakob von Uexküll (mit Georg Kriszat): Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Hamburg 1956 (zuerst Berlin 1934), S. 83.

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als prägende und richtunggebende Tendenz zur Neugestaltung der Philosophie zu legitimieren, wenn man nämlich »Philosophie« so wie ich versteht, als Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung. 3 Diese dritte Bedeutung kommt zum Vorschein, wenn man in der Formel »Zu den Sachen!« die Präposition »zu« betont. Dem Menschen, der sich in seiner Umgebung nicht mit ganz problemloser Selbstverständlichkeit findet, sondern die zu philosophischer Besinnung weckende Beirrung spürt, ist es ja nicht von selbst gegeben, wie er theoretisch und (z. B. unter moralischem Gesichtspunkt) praktisch zu den Gegenständen steht, sondern dieses Verhältnis muss besinnlich eingestellt und abgewogen werden, und auch dazu bedarf es des genuin phänomenologischen Impulses, den eigenen Glauben und alle dazu als Gegenmöglichkeiten erdenklichen Annahmen auf den Prüfstand zu bringen, um sich so weit wie möglich, selbst wenn das ein unendlich fernes Ziel sein sollte, zur gleichsam nackten Lebenserfahrung vorzutasten. Der Philosoph wird daher zum Phänomenologen, wenn er sich in der Ausstellung bloß objektiver Tatsachen, die ihm z. B. als Ergebnisse positiv wissenschaftlicher Forschung entgegengehalten werden, wie der Fremdling vorkommt, den Schopenhauer in diesem Sinn als »ein scherzhaftes Gleichnis« anführt: – bei der vollendeten Aitiologie der ganzen Natur müßte dem philosophischen Forscher doch immer so zumute sein wie jemandem, der, er wüßte gar nicht wie, in eine ihm gänzlich unbekannte Gesellschaft geraten wäre, von deren Mitgliedern der Reihe nach immer eines das andere als seinen Freund und Vetter präsentierte und so hinlänglich bekannt machte; er selbst aber hätte unterdessen, indem er jedesmal sich über den Präsentierten zu freuen versicherte, stets die Frage auf den Lippen: ›Aber wie, Teufel, komme ich denn zu der ganzen Gesellschaft?‹ 4

Seit 1900 gibt es eine Phänomenologie als philosophische Richtung, die anfangs ein Aufbruch war, dann eine Strömung, inzwischen aber eher ein Teich der Nostalgie mit mehr oder weniger stillgestellter

3 Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. I: Die Gegenwart. Freiburg, München 2019, S. 14–27 und ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie. Bonn 1990, S. 5–16. 4 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Hrsg. v. Wilhelm Freiherr von Löhneysen. Darmstadt 1989 (Nachdruck der Ausgabe Frankfurt 1968), S. 155 (Band I, § 17).

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Strömung geworden ist. Warum ist es heute nötig, dieser älteren Phänomenologie eine neue folgen zu lassen, die sogar den Anspruch erhebt, dass erst sie der Parole »Zu den Sachen!« gemäß zu denken in der Lage ist, während sich die alte Phänomenologie nur vorgeblich den Fängen traditioneller metaphysischer Vorurteile zu entwinden vermochte? Weil die Denker der älteren phänomenologischen Schule – ich meine etwa Husserl, Scheler, Heidegger, Sartre, Merleau-Ponty und ihre Gefolgsleute – eine den Zugang zu den Sachen hemmende Schwelle übersehen haben. Sie glaubten, ihn schon dann gewinnen zu können, wenn sie den Bann mächtiger, den Zugang versperrender Theorien brachen; Husserl dachte an die mathematische Idealisierung der Natur seit Galilei als Block vor der Lebenswelt, während Heidegger in einer Verschiebung des Verständnisses von Wahrheit seit Platon eine verhängnisvolle Schickung des Seins witterte. Die Phänomene werden aber nicht nur durch solche theoretischen Konzeptionen und deren Ausgeburt zu tragenden Vorurteilen verdeckt, sondern schon zuvor durch die kulturspezifische Abstraktionsbasis. Ich verstehe darunter gleichsam die Projektionsfläche, auf die durch das kulturspezifische Wichtignehmen die unwillkürlichen Eindrücke so geworfen werden, dass die Begriffe, mit denen Theorien operieren, und die Bewertungen nur noch von ihr ausgehen. Daher kann dieselbe Abstraktionsbasis Hintergrund und Fundus konkurrierender, gegensätzlicher Theorien und Bewertungen sein. Die Eigenart einer Abstraktionsbasis wird deutlich, wenn man sich Kulturen vergegenwärtigt, deren Abstraktionsbasen uns fernliegen. Gern verwende ich als Beispiel die klassische chinesische Abstraktionsbasis und ihr Seitenstück in einer lange einflussreichen Unterströmung der europäischen Kultur. Da werden Begriffe aus vollständigen, vielsagenden Eindrücken im nachher zu besprechenden Sinn abgezogen und zu einem System von Analogien verarbeitet, das dem an Subsumtion unter abgeschliffene Merkmale gewöhnten modernen europäischen Denken befremdlich entgegensteht. Begriffe dieser Art sind z. B. Yang und Yin in China, Sal, Sulphur und Mercurius (Salz, Schwefel und Quecksilber) bei Paracelsus. Auch diese Begriffsbildung ist abstrakt, aber nicht in reduktionistischer Weise. Die europäische Intellektualkultur beginnt, z. B. bei Parmenides und den Pythagoreern, auf einer Abstraktionsbasis, die vom Typ her der chinesischen gleicht. In der 2. Hälfte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts setzt sich fast ruckartig über einer Unterströmung, die in der Medizin, Alchemie, Magie und Astrologie noch lange am alten 36 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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Typ festhält, eine neue Abstraktionsbasis durch, die von Reduktionismus und Introjektion bestimmt wird. Grundlegend ist dabei ein vorausgesetztes Dogma, das ich als Innenwelthypothese bezeichne und so formuliere: »Für jeden Bewussthaber zerfällt die Welt in seine Außenwelt und seine Innenwelt mit der Maßgabe, dass ihm ein Gegenstand seiner Außenwelt nur dann zu Bewusstsein kommen kann, wenn er in seiner Innenwelt mindestens einen Vertreter hat.« Die Außenwelt schlechthin ist dann der Durchschnitt der Außenwelten aller Bewussthaber, also das, was nach Abzug aller Innenwelten übrig bleibt. Sie wird auf wenige Klassen standardisierter Merkmale, die leicht identifizierbar, quantifizierbar und manipulierbar sind, eingeschränkt, in erster Linie auf die primären Sinnesqualitäten, zu deren Stütze oft, als Ersatz für die verlorene Einbettung, tragenden Substanzen unterstellt werden; das ist der Reduktionismus. Der Abfall dieser Reduktion wird als »bloß subjektiv« in die Innenwelten abgeschoben, wo das Subjekt (der Bewussthaber) als Herr im eigenen Haus Regie über die unwillkürlichen Regungen zu führen hat; das ist die Introjektion. An die Innenwelt tastet man sich mit Modellen der reduzierten Außenwelt heran. So werden optimale Voraussetzungen für intellektuelle und technische Beherrschung geschaffen; dagegen versagt diese Abstraktionsbasis als Fundament der Rechenschaft von der faktischen Lebenserfahrung. Davon ist die Folge, dass von allen Menschen höchstens die Dichter, die nicht auf diese Basis verpflichtet werden, ohne Stammeln sagen können, wie ihnen zumute ist. Die reduktionistische Introjektion zerreißt die wichtigsten Bereiche der Lebenserfahrung bis zur Unkenntlichkeit. Ich gebe dafür Beispiele in vier Gruppen, die wohl die wichtigsten sind: 1. den Leib. Darunter verstehe ich sowohl das Gegenstandsgebiet des Spürens am eigenen Leibe, d. h. in der Gegend des eigenen Körpers, ohne Beistand der sogenannten fünf Sinne, besonders des Sehens und Tastens, und des perzeptiven Körperschemas, d. h. des aus Erfahrungen des Sichbesehens und Sichbetastens gewonnenen habituellen Vorstellungsbildes vom eigenen Körper, und zweitens den Aktionsradius der über den bloß eigenen Leib weit hinausreichenden leiblichen Kommunikation, in der sich umgreifende Einheiten mit der charakteristischen Struktur leiblicher Dynamik, deren wichtigste Dimension die von Enge und Weite ist, spontan bilden, lösen und anpassen; darauf beruht alle Wahrnehmung und aller Kontakt unter Menschen und unter Tieren. Dieser ungeheure Gegenstandsbereich, der Herd aller Resonanz und Initiative, lässt sich phä37 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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nomenologisch exakt, fruchtbar und vielseitig mit Begriffen durchleuchten. 5 Die europäische Intellektualkultur hat ihn in den Spalt zwischen Körper und Seele versenkt, und die ältere Phänomenologie hat nicht mehr als einen Leertitel und ein Wunschbild davon hervorgeholt. 2. die Gefühle. Sie sind räumlich, wenn auch ortlos, ergossene Atmosphären. Das gilt sowohl für kollektive Gefühle wie die Frühlings-, Abend-, Gewitter- oder Sonntagsstimmung, die alberne Stimmung eines ausgelassenen Festes, das »kribbelige« Lampenfieber oder das von Goethe beschriebene Kanonenfieber 6, die Atmosphäre der Niedergeschlagenheit und Verlegenheit, in die jemand nichtsahnend »hineinplatzen« kann, das festliche Behagen der Familie am Weihnachtsabend, als auch für private Gefühle, die gerade nur Einem zugänglich sind, und zwar sowohl dann, wenn sie für ihn in die Umgebung ausstrahlen, diese in die Farbe seines Gefühls tauchend, als auch im Gegenfall, wenn ein Kontrast des selbst gefühlten Gefühls zur Gestimmtheit der sozialen oder physischen Umgebung auffällig wird. 7 Den Sinn dieser These von der Räumlichkeit der Gefühle kann man aber erst verstehen, wenn man sich dank begrifflicher Durchleuchtung der genuinen Lebenserfahrung mit den tieferen, elementaren Schichten der Räumlichkeit unterhalb des vom Reduktionismus zugelassenen, an festen Körpern im zentralen Gesichtsfeld orientierten Leitbilds der Raumvorstellung vertraut gemacht hat; ich erinnere etwa an die Räumlichkeit des phänomenalen Wetters, der feierlichen, drückenden oder zarten Stille, des Schalls, der eingeschliffenen Mo5 Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. II/1: Der Leib. Freiburg, München 2019; ders: System der Philosophie. Bd. II/2: Der Leib im Spiegel der Kunst. Freiburg, München 2019; ders.: Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik. Hrsg. v. Hermann Gausebeck und Gerhard Risch. Paderborn 1992; ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O., S. 115–153; ders.: »Phänomenologie der Leiblichkeit«, in: Hilarion Petzold (Hrsg.): Leiblichkeit. Philosophische, gesellschaftliche und therapeutische Perspektiven. Paderborn 1986, S. 71–106 und ders.: »Sind Tiere Bewußthaber?«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 46 (1992), S. 329– 347. 6 Johann Wolfgang von Goethe: Kampagne in Frankreich (Goethes sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe. Bd. 28. Hrsg. v. Alfred Dove). Stuttgart, Berlin 1903, S. 57 (Brief vom 19. September nachts). 7 Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. III/2: Der Gefühlsraum. Freiburg, München 2019, S. 98–138; ders: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O., S. 292– 296; ders.: Leib und Gefühl. A. a. O., S. 19–26, 107–152 und ders.: Die Liebe. Bonn 1993, S. 29–33.

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torik. Die Atmosphären, die Gefühle sind, sind physikalisch nicht interpretierbar, wie schon das Beispiel der Stille zeigt, die beinah selbst ein Gefühl sein kann; solche Unzulänglichkeit der Physik hat nichts Erstaunliches, da diese die introjektionistisch-reduktionistische Abstraktionsbasis, von der viele Bestände der Lebenserfahrung verdrängt sind, voraussetzt. Gefühle haben keine berandeten Figuren, Lagen, Abstände, Längen, Breiten und Dicken, dafür aber als räumliche Eigenschaften anderer Art: Weite, Gerichtetheit verschiedener Typen, Fülle und Leere, eigenartige Tiefe und die Fähigkeit, sich als zentrierte Gestalten im Sinne der Gestaltpsychologie – oft mit Gabelung des Zentrums in Verdichtungsbereich und Verankerungspunkt – zusammenzuziehen, woraus das Missverständnis der Gefühle als intentionaler Akte in der älteren Phänomenologie verständlich wird. Die Neue Phänomenologie bedarf daher einer gründlichen Aufdeckung der durch die kulturspezifische Abstraktionsbasis verdeckten fundamentalen Strukturen der Räumlichkeit; um dieser Aufgabe zu genügen, habe ich meiner Untersuchung des Gefühlsraums7 eine »Archäologie des Raumes« auf der Grundlage der Leibphänomenologie vorausgeschickt. 8 Von den Gefühlen als räumlich ergossenen Atmosphären ist das Fühlen der Gefühle zu unterscheiden, selbst mit einem Doppelsinn: Fühlen als bloßes Wahrnehmen der Atmosphäre und Fühlen als Ergriffenheit von ihr. Solche Ergriffenheit ist immer leiblich im Sinn der aus der Abstraktionsbasis der europäischen Intellektualkultur herausgefallenen Struktur leiblicher Dynamik. 3. die Situationen. Sie sind der eigentlich grundlegende und konkrete Gegenstandstyp der Lebenserfahrung. Ich verstehe das Wort in weiterem Sinn als üblich, aber mit Rücksicht auf den Sprachgebrauch. Das Spezifische der Situationen ist der Hof ihrer Bedeutsamkeit, bestehend aus Sachverhalten, Programmen und Problemen, die nicht sämtlich einzeln, sondern zu chaotisch-mannigfaltiger Ganzheit verschmolzen sind. Mein Ausdruck »chaotische Mannigfaltigkeit« meint eine Binnendiffusion, die darin besteht, dass unter den Elementen des Mannigfaltigen keine durchgängige Entschiedenheit darüber besteht, welche mit welchen identisch und von welchen verschieden sind. Situationen können aktuell oder zuständlich sein, privat oder gemeinsam, gegenständlich oder Subjekt und Objekt unverteilbar überHermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. III/1: Der leibliche Raum. Freiburg, München 2019 und vgl. ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O., S. 275–320 (Kapitel: »Choriologie (Der Raum)«).

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greifend. Die Persönlichkeit eines Menschen ist seine persönliche Situation, die viele Situationen in sich trägt und in viele eingebettet ist; sie wird, mit Abstrich ihrer spezifischen Geschichtlichkeit, auf der Abstraktionsbasis der europäischen Intellektualkultur zur Seele verformt. Unter den Situationen sind die Eindrücke diejenigen, die in einem Augenblick ganz zum Vorschein kommen. Sie sind vielsagend, weil sie dank des chaotisch-mannigfaltigen Hofes ihrer Bedeutsamkeit mehr zu verstehen geben, als sich einzeln sagen lässt. Vielsagende Eindrücke sind die genuinen Einheiten der Wahrnehmung. Zwischen den Spitzen der auffälligen Eindrücke gibt es die Scharen der unauffälligen, an denen wir uns ständig unwillkürlich orientieren. Eindrücke können außer dem Hof ihrer Bedeutsamkeit auch beliebige andere Gegenstände, z. B. dingliche oder sinnliche Kerne, enthalten, aber auch ohne solche auskommen, wie der mächtige Eindruck einer tiefen, feierlichen oder unheimlichen Stille. Meist, aber nicht immer, sind sie mit Atmosphären des Gefühls beladen. 4. Der Gegenstandsbereich der Wahrnehmung wird auf der reduktionistischen Abstraktionsbasis bis an den Rand der Unkenntlichkeit verstümmelt, so dass z. B. in der modischen analytischen Philosophie nur die Frage übrig bleibt, ob wir Dinge oder sogenannte Sinnesdaten (nach Art primärer und sekundärer Sinnesqualitäten) wahrnehmen. Atmosphären wie das phänomenale Wetter, das nur am eigenen Leib, aber als etwas dieses Einhüllendes wahrgenommen wird, auch als optisch-klimatische Atmosphären, Atmosphären des Gefühls, der Stille usw. fallen unter den Tisch, obwohl die Leute im Alltag über nichts so leicht ins Gespräch kommen wie über das Wetter in diesem Sinn. Ebenso werden die Halbdinge gestrichen, die in der Wahrnehmung mindestens so deutlich wie die Dinge hervortreten, aber weder Dinge noch Sinnesqualitäten oder deren Prozesse sind. Von Dingen unterscheiden sie sich zwiefach: erstens dadurch, dass sie kommen und gehen, ohne dass es Sinn hat, zu fragen, wie sie die Zwischenzeit verbracht haben, und zweitens dadurch, dass sie als der Einfluss selbst, nicht als Ursache hinter einem Einfluss, wirken. Von Sinnesqualitäten und deren Abläufen unterscheiden sie sich durch ihren im Wechsel ihrer Gesichter beharrenden Charakter: Die Schallfolge wächst, die Stimme nicht. Halbdinge sind z. B. Blicke, Stimmen, der Wind, die reißende Schwere, der zudringliche Schmerz, die in Langeweile oder gespannter Erwartung zudringliche Zeit, musikalische Themen und Figuren, Tageszeiten wie die Nacht, stehende oder rhythmische Geräusche, schneidende Kälte, brütende Hitze. 40 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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Schließlich treten die primären und sekundären Sinnesqualitäten, die von der kulturspezifischen europäischen Abstraktionsbasis zugelassen werden, in der faktischen Wahrnehmung hinter Qualitäten anderer Art zurück, die Brücken leiblicher Kommunikation sind, von der Wissenschaft aber bis heute übersehen werden, weil sie von der Abstraktionsbasis, auf der die Begriffsbildung beruht, verdrängt sind. Es handelt sich um Gestaltverläufe und synästhetische Charaktere. Gestaltverläufe sind Bewegungssuggestionen von Gestalten, darunter auch von solchen, die selbst Bewegungen sind; manche Gebärden sind winzige Bewegungen mit wuchtigem, weit ausladendem, vielsagendem Gestaltverlauf, der der Gebärde ihren Sinn oder ihre Zudringlichkeit gibt. Gestaltverläufe kommen als optische, akustische und taktile vor und können fast unverändert von einem Medium in das andere und den gespürten eigenen Leib übergehen, wie z. B. der Rhythmus, d. h. der Gestaltverlauf einer eventuell von Pausen durchsetzten Sukzession, der sich in der Musik mit den tonalen Gestaltverläufen (z. B. Leittonspannung, Kadenz, Vorhaltsakkord) verbindet. Synästhetische Charaktere sind oft intermodale Eigenschaften von Sinnesqualitäten (z. B. warme Farben, helle Töne), kommen aber auch ohne diese aus, z. B. als synästhetische Charaktere der Stille oder der Geschwindigkeit. Sie sind von Gestaltverläufen manchmal schwer zu unterscheiden. Das Neue an der Neuen Phänomenologie beruht auf dem Durchbruch durch die Abstraktionsbasis der traditionellen europäischen Intellektualkultur. Der Reduktionismus, die Introjektion und das Innenweltdogma werden überwunden. Dadurch verliert die Subjektivität ihren traditionellen Platz: die Seele. Sie kann nicht mehr damit abgefunden werden, dass ein Stück der objektiven Welt einem Inhaber, dem Subjekt, als das Haus, in dem er Herr sein soll, und zugleich der Reduktion als Abfallgrube für das reduktionistisch Weggeschnittene reserviert wird. Vielmehr muss die Subjektivität, wodurch es z. B. dazu kommt, dass gerade ich es bin, der ein gewisses Ding (Hermann Schmitz) ist, neu bestimmt werden, und zwar nicht als Eigenschaft von Subjekten (z. B. von mir), sondern als Eigenart des Milieus der für jemand subjektiven Sachverhalte, Programme und Probleme. Subjektiv sind Sachverhalte, die höchstens Einer im eigenen Namen aussagen kann, während die anderen wohl darüber sprechen, sie aber nicht aussagen können. Diese kommen zu den objektiven, die jeder bei genügender Kenntnis und Sprachfähigkeit aussagen kann, nicht ergänzend hinzu, sondern die Welt der objektiven Tat41 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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sachen ist selbst der Abfall der Reduktion, nämlich der Abschälung von Subjektivität, wodurch entsprechend auch subjektive Programme und Probleme, wie Wünsche und Sorgen, zu ihren bloß noch objektiven Gegenstücken werden. Subjekte gibt es nur dank subjektiver Tatsachen; keineswegs aber setzt die Subjektivität-für-jemand schon diesen Jemand als Subjekt voraus. Vielmehr ist an der Wurzel, im affektiven Betroffensein, die Subjektivität-für-mich so beschaffen, dass das Wort »mich« weniger als Pronomen zu verstehen ist, sondern eher als Adverb wie »hier« und »jetzt«, nicht einen Gegenstand benennend, sondern ein Milieu charakterisierend, so wie ja auch mit dem Wort »hier« nicht auf einen Gegenstand »das Hier« Bezug genommen wird, sondern auf das, was hier ist, im Milieu der nächsten Nähe. Die Subjektivität kommt nicht zur Welt hinzu, sondern entspringt mit ihr aus derselben Quelle, in die der erwachsene und besonnene Mensch eintaucht, wenn er die Fassung verliert, z. B. im elementar-leiblichen Betroffensein, ganz banal auch schon oder fast im Lachen und Weinen. Ich bezeichne diese Quelle als die primitive Gegenwart. In ihr sinken die fünf Hauptdimensionen menschlicher Orientierung in der Welt – absoluter Ort gegen Weite, absoluter Augenblick gegen Dauer, Sein gegen Nichtsein, Dieses gegen chaotische Mannigfaltigkeit, ich gegen das Fremde – dadurch zusammen, dass Hier, Jetzt, Sein, Dieses, Ich mit engem Horizont verschmelzen, bis sich dieser Ursprung wieder nach den fünf Richtungen entfaltet. Bloß durch solche Entfaltung wird das Dieses, die Form der Identität und Verschiedenheit, frei zu beliebiger Projektion in den Weltstoff, der erst dadurch zur Welt wird. Die Welt ist der Horizont des freien Dieses. Für den Weltstoff lässt sich phänomenologisch keine Erzeugung ermitteln, aber die Welt als Form, als Horizont des freien Dieses, entspringt zusammen mit der Subjektwerdung der Subjektivität aus der Entfaltung der Gegenwart, die nach einer Seite, durch Emanzipation des Dieses, die freie Verteilung von Identität und Verschiedenheit an den chaotisch-mannigfaltigen Weltstoff ermöglicht und zugleich nach einer anderen Seite, durch personale Emanzipation, die Bildung der persönlichen Situation eines Subjektes einleitet. So hängen Subjekt und Welt von vorn herein zusammen, ohne einen Brückenschlag durch die Intentionalität eines Erkennens, Strebens und Handelns oder eines dagegen auf das Subjekt gerichteten Einwirkens oder sonstigen Widerstandes zu benötigen. Zuvor gibt es schon ein Leben in primitiver Gegenwart, wie es dank leiblicher Kommuni42 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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kation die Tiere nuancenreich führen, und oft auch die Menschen, z. B. als kleine Kinder, aber noch ohne Welt mit beliebig fortsetzbarer Durchgliederung der Zukunft, der Vergangenheit und der Weite des Raumes, ohne Freiheit des Dieses vom Sein, wodurch erst Phantasie, Zwecke, Wünsche, Sorgen und ein Verhältnis zum Tode möglich werden, ohne Explikation einzelner Sachverhalte, Programme und Probleme aus Situationen, worin der Überschuss der Leistung menschlicher Rede über die tierische besteht. Erst mit diesen Klärungen ist der Standpunkt der Neuen Phänomenologie so präzisiert, dass die prinzipiellen Mängel der älteren Phänomenologie bei deren Hauptvertretern übersichtlich werden. Husserl ist ein Klassiker des Innenweltdogmas und der Introjektion; er ahnt nichts von Subjektivität, geschweige denn etwas von deren Verwurzelung in primitiver Gegenwart und der daraus resultierenden ursprünglichen, jede Konstitution durch ein Subjekt unterlaufenden Zusammengehörigkeit von Subjekt und Welt. Keine der vier Verdrängungen mit den Titeln »Leib«, »Gefühl«, »Situation« und »Gegenstandsbereich der Wahrnehmung«, woran ich den Bedarf einer Korrektur unserer kulturspezifischen Abstraktionsbasis durch die Phänomenologie verdeutlicht habe, wird von Husserl auch nur ansatzweise behoben. Bei Scheler ändert sich daran nicht viel; sein Persongedanke ist ganz hohl, sein angebliches Leibphänomen ein unsicherer Kompromiss monistischer und dualistischer Motive. Nur durch zwei eher beiläufige Lehrstücke arbeitet er der Neuen Phänomenologie zu: durch seinen Begriff des Milieus (einen Vorläufer des Situationsbegriffs) und durch seine Unterscheidung zwischen vitalen und sinnlichen Gefühlen, an deren Stelle ich den Unterschied zwischen ganzheitlichen und teilheitlichen leiblichen Regungen setze. Heidegger dringt weiter vor; sein Weltbegriff trifft zwar nicht das, was ich eben »die« Welt als singulare tantum genannt habe, kommt aber meinem Situationsbegriff in manchen Zügen nahe, wie seine Jemeinigkeit der Subjektivität in meinem Sinn. Die Polemik gegen die traditionelle Erkenntnistheorie im Zeichen des In-der-Welt-seins ist ein Durchbruch. Der Motivkomplex der Geworfenheit und Befindlichkeit spielt zwar noch undeutlich und gärend, aber doch merklich auf Gefühle als Atmosphären, affektives Betroffensein und primitive Gegenwart an. Gerade bei diesem Thema hat aber Heideggers frühe, fast allein in seinem Werk phänomenologisch fruchtbare Konzeption ihre Achillesferse, während andere Mängel eher heilbar sind. Heidegger weiß nichts und will nichts wissen von der Leiblichkeit, primitiver Gegenwart, 43 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Wozu Neue Phänomenologie?

elementar-leiblichem Betroffensein, leiblicher Kommunikation. Heideggers Mensch-mit-Jemeinigkeit, das »Dasein«, ist gleich erwachsen und bleibt es, ob er nun zum Tode vorläuft oder die Angst – bei Heidegger ein hochstufiges, personale Emanzipation voraussetzendes Entfremdungserleben – verdrängt; seine Seinsweise ist die Subjektivität oder Jemeinigkeit in entfalteter Gegenwart. Daher fehlt bei Heidegger jedes Verständnis für den Menschen als Tier, z. B. im Schreck, dessen Möglichkeit Leiblichsein und damit Menschsein von Grund aus bedingt. Mit dieser Verdrängung der elementaren Leiblichkeit verharrt Heidegger im Bann der diese spätestens seit Platon degradierenden europäischen Intellektualkultur und versperrt sich den Zugang zu den Quellen des In-der-Welt-seins. Die französischen Phänomenologen bleiben Dualisten wie Sartre, der Situationen in meinem Sinn bloß dem Namen nach kennt, oder geraten wie Merleau-Ponty durch die sehnsüchtige Hoffnung, mit den Mitteln der Phänomenologie den cartesischen Dualismus loszuwerden, in eine verschwommene Zwischenstellung begrifflich ungeklärter Ambiguität. Die Phänomenologie aller dieser Denker verharrt im Bann der Tradition und wird daher nicht frei für eine Fruchtbarkeit, die den Ring bloß philosophischer Reflexion und Spekulation aufbrechen könnte. Dazu ist die Neue Phänomenologie berufen; unübersehbar sind die Anregungen, die sie dem wissenschaftlichen Forschen in allen vier klassischen Fakultäten zu geben vermag: der Theologie, der Rechtskunde, ganz besonders der Medizin und im Bereich der nach der Philosophie selbst benannten Fakultät fast allen dieser zugehörigen Disziplinen, so der Ethnologie im weiten Sinn von Völkerpsychologie und Kulturvergleich, den philologischen und historischen Disziplinen, unter diesen besonders der Kunst-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte, ferner der Sprachwissenschaft, der Sportwissenschaft, der Psychologie und Pädagogik.

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2. Alte und Neue Phänomenologie

Philosophie ist Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung. Sie unterscheidet sich von »normalen« Wissenschaften dadurch, dass sie nicht nur neutrale oder objektive Tatsachen um derer selbst willen festzustellen sucht, sondern diese objektiven Tatsachen reflexiv mit den für den Philosophen subjektiven, die nur er im eigenen Namen aussagen kann, vermittelt, angeregt von einer Beirrung des Sichfindens in der Umgebung, die zu Fragen Anlass gibt wie diesen: Was soll ich von den Nachrichten und Erfahrungen, die mir zukommen, halten? Wie ernst soll ich das nehmen? Wie soll ich mich dazu stellen? Was kann ich mir zutrauen? Worüber lebe ich hinweg, wenn ich mich führen lasse? Oder, mit Kant: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Schopenhauer hat für dieses philosophische Befremden ein schlagendes Gleichnis gefunden, indem er den Philosophen im Kreis von Naturwissenschaftlern mit einem Menschen vergleicht, der in eine ihm fremde Gesellschaft gerät, aus der ein Mitglied ihn bei der Hand nimmt und ihm andere Mitglieder vorstellt; der Philosoph aber, indem er sich immer wieder über den jeweils Vorgestellten zu freuen versichert, hat dabei beständig die Frage auf den Lippen: »Aber wie Teufel komme ich denn in die ganze Gesellschaft?« Den Mitgliedern der fremden Gesellschaft entsprechen die Ergebnisse der »normalen« Wissenschaften. Alle diese Fragen aus der subjektiven Perspektive der Beirrung des Sichfindens in der Umgebung lassen sich summieren zu der Frage: Was muss ich gelten lassen? Damit sind wir bei der Phänomenologie. Ein Phänomen für jemand zu einer Zeit ist ein Sachverhalt, dem der Betreffende dann trotz tunlichster Variation seiner Annahmen nicht im Ernst den Glauben entziehen kann, dass es sich um eine Tatsache handelt, so dass er ihn als solche gelten lassen muss. Dieser doppelt relativierte Sachverhaltsbegriff des Phänomens ist einem naiven Sachbegriff vorzuziehen, etwa der Formel, Phänomen sei, was sich zeigt. Es kommt nämlich darauf an, als was es sich zeigt, und 45 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Alte und Neue Phänomenologie

das ist ein Sachverhalt. Wenn man das nicht gleich berücksichtigt, hat man den vorausgesetzten Bedeutungshof der Gattungen oder Prädikate, unter die man subsumiert, im Dunkeln gelassen und sich damit einen Verständnisrahmen vorgegeben, der die geforderte tunlichste Variation von Annahmen empfindlich und vielleicht verhängnisvoll einschränkt. Das ist in der Tat das Elend der großen alten Phänomenologie um Husserl und seine zeitgenössischen Nachfolger. Ich komme darauf zurück, will aber zuvor das aus dem Wesen der Philosophie schon aufgezeigte Bedürfnis nach Phänomenologie noch schärfer und aktueller fassen. Im Stil der Kultur war das Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung von der Information über objektive Tatsachen nie so weit abgespalten wie in unserer Zeit. Die Philosophen von Demokrit und Platon bis zu Kant und Husserl spornten die Menschen zur Selbstbemächtigung durch Herrschaft der Vernunft über die unwillkürlichen Regungen an, und die Theologen forcierten diese Disziplinierung mit der Sorge um das transzendente Heil, mehr noch mit der Furcht vor transzendentem Unheil. Inzwischen hat die Vernunft gesiegt, indem die ergreifende und mitreißende Übermacht der Triebe und Gefühle einem spielerisch beherrschten Flirt mit wechselnden Reizen gewichen ist, aber die ist durch ihren Sieg ratlos geworden, weil der Mensch nach Abarbeitung der Ergriffenheit durch unwillkürliche Regungen nichts mehr hat, was ihn ergreift, statt nur berührt, und nicht mehr weiß, was er mit seiner triumphierenden Vernunft anfangen soll, da diese zwar Zielsetzungen kritisch prüfen, Nebenfolgen abschätzen und Mittel für gesetzte Zwecke organisieren kann, aber von sich aus nicht in der Lage ist, Ziele vorzugeben und eine Richtung des Lebens zu weisen. Die Menschen stehen vor einem unübersehbaren Haufen von Mitteln für beliebige Zwecke, entfremdet der Führung durch gewachsene Lebensart und der Fühlung mit den unter sich disparaten Facheliten, die den Bedarf der intellektuellen Orientierung des menschlichen Welt- und Selbstverständnisses geschäftsführend verwalten, nachdem die Philosophie resigniert zu haben scheint. Die Kultur- und Medienindustrie betreibt die Reproduktion tradierter kultureller Inhalte in chaotisch forciertem Umsatz ohne Errungenschaften eigener Gestaltungskraft. Es ist, wie Goethe 1825 an Zelter schrieb: »Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Fazilitäten der Kommunikation sind es[,] worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und da-

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durch in der Mittelmäßigkeit zu verharren.« 1 Nur dass die »Fazilitäten der Kommunikation« inzwischen weit über Eisenbahnen, Schnellposten und Dampfschiffe hinausgewachsen sind und die Mittelmäßigkeit entsprechend mittelmäßiger geworden ist. Was den Menschen fehlt, ist die Verbindung ihrer durch intellektuelle und technische Konstrukte abgelenkten Besonnenheit mit ihrer unwillkürlichen Lebenserfahrung, in der die Potentiale der Empfänglichkeit vergraben sind, aus der allein eine Gestaltungskraft erwachsen kann, die es vermag, Zeichen zu setzen und Formen zu finden, die dem Leben einen Inhalt, der es erfüllt, und eine Richtung des Bescheidwissens, was man will, zurückgeben können. Um die Verbindung der Besonnenheit mit der unwillkürlichen Lebenserfahrung wieder zu knüpfen, ist kein Verfahren so geeignet wie die phänomenologische Philosophie, die alle Konstrukte durch Variation von Annahmen prüft, um herauszufinden, was man gelten lassen muss, zunächst jeder Phänomenologe für sich, sodann aber im Gespräch, das für die unerlässliche Horizonterweiterung sorgt und Phänomene zur Sprache bringt, von denen man hoffen kann, dass auch Andere bei gewissenhafter Selbstprüfung sie als solche finden werden. Diese Phänomenologie ist eine durchaus empirische Wissenschaft, keineswegs Metaphysik oder Spekulation, auch wenn sie Themen der alten Metaphysik mit eigener Methode aufgreift. Sie ist empirisch wie die Naturwissenschaft. Während diese aber ihre Exaktheit mit einer groben Empirie bezahlt, in Gestalt statistischer Auswertung von Messdaten nach selektiver Variation einzelner Parameter im Experiment, übt sich die Phänomenologie in begreifender Sensibilität, um sich an die unwillkürliche Lebenserfahrung mit scharfen, aber geschmeidigen Begriffen heranzutasten, geschmeidig dadurch, dass hoch abstrakte Ansetzungen reichhaltige Differenzierung gestatten. Der Ausdruck »unwillkürliche Lebenserfahrung« dient mir zur Umschreibung alles dessen, was nicht bloß ausgedacht, sondern in der Erfahrung der Willkür des Konstruierens unverfügbar vorgegeben ist. Es ist das, wonach die Phänomenologie fahndet. Bei der unwillkürlichen Lebenserfahrung kann man freilich mit Begriffen nicht einfach landen. Es ist unmöglich, sie geradezu abzulesen; sie ist nur eine kritische Instanz, die sich meldet, wenn das Begreifenwollen noch zu künstlich und konstruktiv verfährt, und 1 Brief Goethe an Zelter vom 6. Juni 1825, in: Goethes Briefe und Briefe an Goethe. Bd. IV. Hrsg. v. Karl Robert Mandelkow. München 1988, S. 146.

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dann feinere Anpassung nahelegt. Das Denken bewegt sich immer auf einer Abstraktionsbasis über der unmittelbaren Lebenserfahrung. Unter einer Abstraktionsbasis verstehe ich so etwas wie einen Filter, der darüber entscheidet, was und wie etwas so wichtig genommen wird, dass es in Begriffe, Theorien und Bewertungen Eingang findet, wobei diese Theorien und Bewertungen auf derselben Abstraktionsbasis gegensätzlich ausfallen können. Kulturen entwickeln für sie typische Abstraktionsbasen. Diese werden teils durch den Sprachtyp bestimmt, teils durch geschichtliche Prägungen. Die indogermanische Syntax legt z. B., zumal nach Fortfall des griechischen Mediums, nahe, alles in ein Korsett von Substanz und Akzidens, Ursache und Wirkung zu spannen. Dieser Suggestion kann man sich entziehen, da die Grammatik durchschaubar ist. Viel schwieriger ist es, die Künsteleien und Verrenkungen zu korrigieren, die von der maßgeblichen geschichtlichen Prägung der dominanten europäischen Intellektualkultur verschuldet worden sind, um die Abstraktionsbasis tiefer zu legen, näher an die unwillkürliche Lebenserfahrung heran; mehr kann die Phänomenologie nicht erreichen. Das Ereignis dieser maßgeblichen Prägung besteht in einem Paradigmenwechsel, der sich in Griechenland in der zweiten Hälfte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts, kurz vor Platon, ereignet hat. Als Philosophie ist das neue Paradigma zuerst im nur fragmentarisch, aber für die Diagnose hinlänglich erhaltenen Werk Demokrits perfekt; Platon hat es aufgenommen und mit einem transzendenten Überbau in Gestalt seiner Ideenlehre versehen, so dass man von einem demokritisch-platonischen Paradigma sprechen kann. Im Kern handelt es sich darum, dass jedem Bewussthaber eine private Innenwelt (Seele, psyché) zugestanden wird, in der Weise, dass sein gesamtes Erleben darin eingeschlossen wird und zur Kontaktaufnahme nur noch die Meldung physischer Reize durch die Sinnesorgane bleibt; zwischen den privaten Innenwelten wird eine reduzierte Außenwelt übrig gelassen, abgeschliffen bis auf die primären Sinnesqualitäten, die intermomentan und intersubjektiv bequem identifizierbar, messbar (im optischen Zählen von Gestaltmerkmalen an der Oberfläche fester Körper) und selektiv variierbar, daher für Statistik und Experiment vorzüglich geeignet sind, und als Träger dieser Qualitäten hinzugedachte Atome, später Substanzen. Die Physik hat diese Abstraktionsbasis übernommen und bezieht aus der im Geist Demokrits reduzierten Außenwelt ihre sämtlichen Messdaten zur Prüfung ihrer Theorien, diese Daten anreichernd mit den heute so populären physikalischen Konstrukten, 48 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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die in die reduzierte Außenwelt hineingedeutet werden. Bei der Abschleifung fällt ein Abfall an, der in den privaten Innenwelten abgelagert wird; ich bezeichne dies als Introjektion. Das demokritisch-platonische Paradigma ist also psychologistisch, reduktionistisch und introjektionistisch. Der Psychologismus, d. h. die Abschließung des Erlebens in privaten Innenwelten, dient der Selbstbemächtigung, dem Hauptziel der antiken Philosophen, weil damit die unwillkürlichen Regungen in ein Haus verlegt werden, in dem die Person als Vernunft und freier Wille Herr sein kann; dafür wird aber rätselhaft, wie der Herr aus dem Haus kommt, ein bis heute im Geltungsbereich dieses Paradigmas unüberwundenes, zunächst erkenntnistheoretisches, dann aber auch – zuerst bei den Kyrenaikern – sozialethisches Problem. Der Reduktionismus bezüglich der Außenwelt hat in der Neuzeit der Technik den nebst den mathematischen Methoden entscheidenden Dienst bei der Weltbemächtigung geleistet, die man zuvor dem allmächtigen Gott überlassen hatte, allerdings mit vermeintlicher Teilhabe der Menschen auf verschiedenen Wegen. Das größte Unglück bei der psychologistisch-reduktionistischintrojektionistischen Vergegenständlichung, die bis heute mit ihren vermeintlichen Selbstverständlichkeiten die dominante Intellektualkultur bestimmt, ist aber der Leichtsinn, mit dem man bei der Introjektion verfahren ist. Über den dabei hauptsächlich bedachten sekundären oder spezifischen Sinnesqualitäten hat man die wichtigsten Massen der Lebenserfahrung einfach vergessen und durch verstümmelte Surrogate in den Seelen ersetzt; ich nenne jetzt nur, mich ohne Erläuterung meiner üblichen Terminologie bedienend, den spürbaren Leib und die leibliche Kommunikation, die Gefühle als Atmosphären, die tieferen, von mathematischen Modellen verdeckten, obwohl sogar für diese erforderlichen Schichten von Raum und Zeit, die impressiven und segmentierten, aktuellen und zuständlichen Situationen und dann besonders die subjektiven Tatsachen, für die die Subjektivität mit einem Stück aus dem Milieu der objektiven Tatsachen, als Herr im Haus der Seele oder des Bewusstseins, abgefunden wurde, mit Folgen wie dieser, dass die Möglichkeit sittlicher Freiheit unbegreiflich wurde. Subjekt und Objekt hat man wie feste Körper, die kausal in Beziehung treten, neben einander gestellt, statt ihren Zusammenhang in die fünfseitige Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Welt einzufügen. Mein gesamtes phänomenologisches Arbeiten verläuft am Leitfaden des Bemühens, die Irrtümer und Verrenkungen der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständ49 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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lichung zu korrigieren und vor allem die großen Massen wichtiger, im Alltag normaler und bekannter, aber unbedachter Lebenserfahrung, die dabei vergessen und verstümmelt worden sind, an das Licht begreifender Besinnung zu ziehen. Auf die Ergebnisse dieser Arbeit kann ich hier nicht eingehen, und das ist nicht nötig. Sie liegen ja gedruckt vor in mehr als 30 Büchern, von denen nur wenige nicht unbedingt einschlägig sind, und überdecken mit differenzierten Anregungen und Lösungsvorschlägen die gesamte Thematik der traditionellen Philosophie, ebenso wie meine historischen Untersuchungen dazu bestimmt sind, die wesentlichen Gelenke der jahrtausendelangen Verstrickung des abendländischen Denkens und die wenigen neuen Motive, die ganz originell zur anfänglichen Prägung hinzugekommen sind, herauszupräparieren. Nichts ist verkehrter als die Hoffnung eines Phänomenologen, er könne sich als freier Selbstdenker aus der Tradition herausziehen und sich damit begnügen, diese nebenbei in Kauf zu nehmen; wer sich nicht von Grund auf, vom Anfang her und eindringlich, mit ihr auseinandersetzt, bleibt in ihrem Gefängnis und wird nicht fähig zur Rechenschaft von sich. Das ist ein Teil der Tragik im intellektuellen Schicksal des Protophänomenologen Edmund Husserl, und damit komme ich zu der Frage, warum ich von einer alten und einer Neuen Phänomenologie spreche und zwischen beiden eine Bruchlinie ziehe. Der Name »Husserl« wird mit der Phänomenologie so eng verbunden wie der Name »Freud« mit der Psychoanalyse, aber während Freud mit seinen Einseitigkeiten der Weiterentwicklung der Psychoanalyse nicht im Wege gestanden hat, hat Husserl die Phänomenologie zugleich entwickelt und blockiert, d. h. ihrer Aufgabe entfremdet, die zu hoch gelegte Abstraktionsbasis der dominanten europäischen Intellektualkultur zu durchbrechen und sich mit begreifender Sensibilität der unwillkürlichen Lebenserfahrung im angegebenen Sinn zu nähern. Das liegt daran, dass er vollständig der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Denkweise verfallen ist und diese noch verschärft. Ich kann darauf hier nicht näher eingehen und verweise statt dessen auf mein Buch »Husserl und Heidegger«. Der transzendentale Idealismus ist bei Husserl wie bei Kant eine verzweifelte Rebellion gegen die Abschließung des Erlebens in privaten Innenwelten; die Intentionalität des Bewusstseins wird zum Ersatz für das Treffen auf Wirklichkeit im elementar-leiblichen Betroffensein. Scheler denkt in seiner Aktpsychologie nicht weniger psychologistisch als Husserl und erneuert in seiner Wertethik die platonische 50 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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Ideenlehre vom Schönen, Guten und Gerechten an sich. Ein Verdikt Heideggers, das die Werte als den positivistischen Ersatz für das Metaphysische hinstellt, abwandelnd, möchte ich sagen: Die Werte sind der positivistische Ersatz für das Atmosphärische. Heidegger ist in seinen frühesten Vorlesungen und dann noch einmal in »Sein und Zeit« viel weiter vorgedrungen, wofür ich wieder auf das genannte Buch verweise, aber er hat dem großen phänomenologischen Durchbruch, der ihm gelungen war, keinen Feldzug folgen lassen, ohne den ein Durchbruch sinnlos ist, und das dabei errungene Terrain später in Bizarrerien, neben einigen bedeutenden Anregungen, wieder preisgegeben. Und die französischen Phänomenologen? Sartre ist anregend, er versteht es, Phänomene zu pointieren, man kann auch von seinen Einseitigkeiten lernen, wenngleich sein Verhältnis zur Logik katastrophal ist. Merleau-Ponty hat die besten Absichten, auf die unwillkürliche Lebenserfahrung zuzugehen, und gute Aussichten, aber er denkt zu weich, orientiert sich als Vermittler an gelernten Denkfiguren, vernebelt Begriffe durch undurchsichtige Gleichnisse und metaphorische Umschreibungen, die Originelles, Verkehrtes, Veraltetes unklar mischen. Eine begrifflich gefestigte, durchsichtig und übersichtlich vermessene Abstraktionsbasis kann man so der unwillkürlichen Lebenserfahrung nicht anpassen. Daher möge man mir verzeihen, dass ich es nötig fand, die im ersten Anlauf von ihrer Stoßrichtung gemäß der Devise »Zu den Sachen selbst!« abgeirrte Phänomenologie noch einmal zu beginnen und von einer Neuen Phänomenologie zu sprechen, bei deren Ausarbeitung ich mir auch die Subtilität und Sorgfalt Husserls zum Vorbild nehmen konnte, im Gedanken an meine Anfänge als Student in Bonn, als ich in Husserl lebte und seine Bücher mit Begeisterung las, eben weil er so genau hinsah und alles beim Wort nahm. […] [Die] ganze Absicht [der Neuen Phänomenologie] ist die Überschreitung einer Grenze nach unten, an der Stelle, wo das menschliche Welt- und Selbstverständnis durch das Paradigma der seit Jahrtausenden dominanten europäischen Intellektualkultur gegen die unwillkürliche Lebenserfahrung abgeriegelt ist.

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3. Die Absicht der Neuen Phänomenologie

Die Neue Phänomenologie entspringt der Beirrung darüber, dass sich das Denken (heute zunehmend in der Hand technischer Spezialisten) zu weit von der unwillkürlichen Lebenserfahrung entfernt hat. Diese Abirrung ist das Erbe eines alten Verhängnisses. Man schiebt die Schuld heute gern auf Descartes und dessen Zeitgenossen, die nur Mittelsmänner waren, um nicht an die Wurzel des Übels, in der man gern selbst verwurzelt bliebe, greifen zu müssen. Die Urschuld finde ich in einem Paradigmenwechsel des menschlichen Welt- und Selbstverständnisses, der sich in Griechenland um 400 v. Chr. ereignet hat und in der Philosophie zuerst von Demokrit und Platon eingeschliffen worden ist. Bis dahin abstrahierte das Denken der frühen Philosophen und Dichter auf der Grundlage typisierter vielsagender (d. h. mit binnendiffuser Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen ausgestatteter) Eindrücke und leiblich ergreifender Atmosphären des Gefühls (wie Liebe und Groll bei Empedokles); danach fügte man sich einer Deutung des Weltstoffes, die das gesamte Erleben eines Individuums in eine private Innenwelt (die sogenannte Seele unter der Regie der Vernunft) einschloss und zwischen den Innenwelten nur eine verarmte Außenwelt zurückließ, die bis auf wenige bequem intermomentan und intersubjektiv identifizierbare, messbare und selektiv variierbare (daher für Statistik und Experiment vorzüglich geeignete) Merkmalsorten abgeschliffen war. Diese Umverteilung lag im Interesse menschlicher Selbst- und Weltbemächtigung, die von den Philosophen fortan einseitig forciert wurde, wobei sie allerdings die Weltbemächtigung zunächst nicht als Menschenwerk inszenierten, sondern durch die mit griechischer Philosophie infizierten Theologen in die Hände des für Menschen sorgenden und auf deren Gebete hörenden (wenn auch strengen) Gottes legten, bis Bacon, Descartes und ihre Zeitgenossen beschlossen, das Heft der Weltbemächtigung in die eigene Hand des Menschen zu nehmen. Welche Verfehlungen des abendländischen Geistes auf die52 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Die Absicht der Neuen Phänomenologie

sem Wege von den Griechen durch das Christentum in den neuzeitlichen Imperialismus, Kapitalismus und Individualismus zu den leichtsinnigen Verwüstungen des ersten Weltkrieges und deren pädagogisch-destruktiver Überbietung durch den mit Hellsichtigkeit gesprenkelten Wahn Hitlers herangewachsen sind und seitdem weiterwuchern, habe ich in einem Buch übersichtlich nachgezeichnet. 1 Das größte Übel bei dem Paradigmenwechsel um Demokrit und Platon bestand nicht in der bloßen Umverteilung des Weltstoffes, sondern in dem Leichtsinn, mit dem bei dessen Sichtung verfahren wurde. Man glaubte, mit der Ausräumung der Außenwelt schon fertig zu sein, wenn man die sogenannten sekundären oder spezifischen Sinnesqualitäten (Farben, Töne, Gerüche usw.) in die Seele verlegte; man ignorierte die wichtigsten Gehalte unwillkürlicher Lebenserfahrung, die gewissermaßen unter der Hand privatisiert und in einen mehr oder weniger dunklen Winkel der Seele gesteckt wurden. Dazu gehört der spürbare, weder sicht- noch tastbare, aber in eigentümlicher Weise räumlich ausgedehnte Leib, mit seiner spezifischen Dynamik der Herd aller Resonanz und Initiative, der tragende Grund personaler Emanzipation aus tierhaftem, an bloß gegenwärtiges Betroffensein gebundenem Erleben; ihm wurde als Ausweichquartier ein enges und dunkles Versteck in der Seele unter dem Titel des Gemeinsinns (Koinaisthesis) angewiesen. Dazu gehört weiter die leibliche Kommunikation, womit die leibliche Dynamik von vorn herein den eigenen Leib des Individuums übergreift und mit anderen Leibern oder (durch leibnahe Brückenqualitäten verwandten) anderen Gegenständen der Zuwendung verknüpft. Dazu gehören spürbare Atmosphären wie das beim Paradigmenwechsel in einen physischen (Luft) und einen psychischen (Empfindung) Anteil zerrissene Wetter, die einprägsame Stille, die optisch-klimatischen Atmosphären des Abends usw. und die Gefühle, die sowohl als kollektiv zugängliche (gleich dem heiligen Geist im Urchristentum) als auch als je nur einen Einzigen heimsuchende Gefühle räumlich ergossene, leiblich ergreifende Mächte sind, danach aber privatisiert, auf Lust und Unlust reduziert oder als intentionale Akte dem Subjekt in der Seele (andere Lesart: dem Subjekt als der Seele) anvertraut wurden. Einen wesentlichen Beitrag zur Suggestionskraft dieser neuen – übrigens vom Urchristentum noch einmal unterlaufenen – privatistischen Gefühlsauffassung leistete eine reduktionistische Raumauffassung, die jedes 1

Hermann Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. Bonn 1999.

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andere als das psychologistisch-privatistische Gefühlsverständnis in den Anschein des Unmöglichen, ja des Lächerlichen rückte. Diese Verkürzung des Verständnisses für den Raum nahm ihren Anfang bei der griechischen Geometrie, die den Raum bei der Fläche packte, und deren Fortsetzungen in Mathematik und Naturwissenschaften, ganz besonders in Gestalt der Koordinatengeometrie, die den Raum als eine Menge von Punkten deutet, die durch ein dreidimensionales Netz nach Lagen und Abständen zu und von einander bestimmt werden. Der Zusammenhang mit der demokritisch-platonischen Revolution ist augenscheinlich; denn zu Lebzeiten Demokrits blühte die Geometrie auf, und Platon gehörte zu den einflussreichsten und enthusiastischsten Förderern der jungen Wissenschaft. Dieser neuen Auffassung stellte sich der Raum als Ortsraum dar, bestehend aus einem System relativer, d. h. sich gegenseitig durch Lage- und Abstandsbeziehungen bestimmender Orte, die von der Fläche aus auf drei Dimensionen verteilt werden, indem die Zerlegbarkeit durch Flächen die Deutung der Körper als dreidimensionale Volumina ermöglicht, während durch Abstieg zu den Kanten und weiter zu den Ecken Strecken und Punkte zugänglich werden. Mit der Fläche beginnt aber die Entfremdung des Raumes vom Leib; daher sind flächenlose Räume wie z. B. der Raum des Schalls leibnäher als der von Flächen durchzogene optische Raum, wie er sich dem bloß betrachtenden Hinsehen auf gegenüberliegende, flächig begrenzte Gegenstände darstellt. Schon das optisch-motorische Sehen, wenn man z. B. greift, springt oder in Gefahren ausweicht, versteht den Raum ganz anders, aber das mathematisch-naturwissenschaftliche Leitbild verführt zu der Illusion, der Raum sei eine »Form des äußeren Sinnes« (Kant) wie eine äußerlich dem ruhig betrachtenden Blick gegenüberstehende Fläche. In einem solchen Raum kann man die Gefühle oder z. B. die weite, feierliche Stille nicht unterbringen. Daher ist es eine der wichtigsten Aufgaben der Neuen Phänomenologie, den Vorrang der mathematisch fundierten Raumauffassung zu brechen und die von diesem Vorrang aus der Besinnung verdrängten, aber im Erleben jedermann vertrauten tieferen Schichten der Raumerfahrung dem Begreifen wieder zugänglich zu machen. Dabei handelt es sich um den leiblichen, d. h. mit den Kategorien der leiblichen Dynamik beschreibbaren, Raum und den Gefühlsraum, auf beiden Seiten sowohl als Weiteraum, in dem sich ein absoluter Leibesort in einer maßlosen, d. h. nicht metrisch überformten Weite befindet (wie im Wetter, in der Stille, im Rückfeld, in Raumängsten und Ekstasen) wie auch als 54 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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Richtungsraum (z. B. des motorischen Verhaltens mit unumkehrbaren Entfernungen im leiblichen Raum). Weitere Opfer der psychologistischen und reduktionistischen Vergegenständlichung im Gefolge Demokrits und Platons sind die Situationen, verstanden als ganzheitliche, d. h. nach außen abgehobene und in sich durch Thematik oder Tönung zusammenhaltende Komplexe oder Massen von etwas, sofern deren Ganzheit auf einer binnendiffusen, d. h. nicht in lauter einzelnes gegliederten Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen (mindestens Sachverhalten) besteht. Einen exemplarischen Typ von Situationen bilden die schon erwähnten vielsagenden Eindrücke oder impressiven Situationen; das sind solche, die mitsamt ihrer – dabei binnendiffus bleibenden – Bedeutsamkeit schon in einem Augenblick ganz zum Vorschein kommen, wie die Gefahrensituationen, die man, um sich zu retten, mit einem Schlag erfassen und zweckmäßig beantworten muss, oder die prägnanten »ersten Eindrücke« bei der frischen Begegnung mit einem Menschen, einer Wohnung, einer Landschaft oder einem lyrischen Gedicht. Es gibt aber auch viele hintergründige Situationen, darunter solche, die in schwer durchschaubarer Fülle und Verschränktheit impressiven Situationen aufgeladen sind. Auch die persönlichen Situationen von Menschen – etwa das, was man in vager, geläufiger Rede die »Persönlichkeit« einer Person zu nennen pflegt – und gemeinsame Situationen wie die Sprachen, in denen jene sich verständigen, fallen unter den definierten Begriff. Die von Demokrit und Platon inspirierte dominante europäische Intellektualkultur ignoriert und zerschlägt die Situationen, wie man ein Glas übersehen und, ohne es zu merken, zerschlagen kann. Die einzelnen Fragmente der Bedeutsamkeit von Situationen werden psychologistisch umgedeutet; aus den Sachverhalten werden Meinungen, Überzeugungen, Annahmen, Urteile, aus den Programmen Einstellungen des Wollens und Wünschens oder Aufforderungen zu solchen, aus den Problemen Sorgen, Beunruhigungen, seelische Konflikte oder dergleichen. Damit wird unverständlich, wie Menschen zusammengehören und mit einander umgehen. Das gesamte Erleben des Individuums ist nach dieser Vorstellungsweise nämlich in seiner privaten Innenwelt abgeschlossen; »man kann doch außer sich nicht empfinden, sondern nur in sich selbst«, wie Kant es einmal ausdrückt 2, um seinen transzendentalen Idealismus zu rechtfertigen, dem gemäß 2

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. A 378.

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»alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung nichts als Erscheinungen, d. i. bloße Vorstellungen sind, die, so wie sie vorgestellt werden, als ausgedehnte Wesen, oder Reihen von Veränderungen, außer unseren Gedanken keine an sich gegründete Existenz haben.« 3 Weder die leibliche Kommunikation, die als präpersonale leibliche Dynamik (wie schon bei den Tieren) der menschlichen Person Gelegenheit zum »Ausschlüpfen« aus ihrer persönlichen Situation in aktuelle gemeinsame Situationen gibt, noch die Einbettung oder Einpflanzung der persönlichen Situation in hintergründige gemeinsame Situationen, wodurch Menschen tragende Grundlagen ihres personalen Zusammengehörens gewinnen, können unter dieser Voraussetzung in den Blick kommen. Die autistische Verfehlung des abendländischen Geistes – sowohl als christlicher Heilsindividualismus (der aus der formlosen »Masse des Verderbens« Erwählten Gottes nach Augustinus) wie auch als moderner Individualismus der isolierten und nivellierten freien Gleichen seit der Aufklärung und Französischen Revolution – nährt sich von solcher Verkennung und psychologistischen Zerschlagung der Situationen. Ein anderer wichtiger Gegenstandstyp, der gar nicht in das Bewusstsein der Gründer und Fortsetzer der dominanten europäischen Intellektualkultur gedrungen ist, aber jedem in der normalen Lebenserfahrung alltäglich entgegenschlägt, besteht in den von mir so genannten Halbdingen, die zwischen Sinnesdaten (Qualitäten, Empfindungen) und Dingen (z. B. Körpern) der begreifenden Aufmerksamkeit, wenigstens als eigener Typ, bisher entgangen sind, obwohl sich dieser Typ von jenen beiden charakteristisch unterscheidet: Im Gegensatz zu Sinnesdaten haben Halbdinge einen im Wechsel ihrer Gesichter beharrenden Charakter wie die Dinge; von den Dingen (»Volldingen«) unterscheiden sie sich durch inkonstante Dauer und zweigliedrige Kausalität. Inkonstante Dauer: Halbdinge kommen, verschwinden und kommen wieder, ohne dass es Sinn hat, zu fragen, wo und wie sie sich in der Zwischenzeit befunden haben. Zweigliedrige Kausalität: Während die Kausalität der Dinge dreigliedrig ist: Ursache-Einwirkung-Effekt (z. B. fallender Stein-StoßVerrückung oder Zertrümmerung des gestoßenen Gegenstandes), fallen beim Halbding Ursache und Einwirkung zusammen, wodurch Halbdinge eine spezifische Unmittelbarkeit oder Zudringlichkeit ihres Einwirkens gewinnen. Beispiele: die Stimme, der Blick, die rei3

Ebd., A 490 f./B 518 f.

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ßende Schwere, wenn man stürzt oder sich gerade noch fängt, der elektrische Schlag (zu dem erst die Physik elektrischen Strom als schlagenden Arm konstruiert), der Wind, schneidende Kälte, brütende Hitze, brütende oder drückende oder lastende Stille, die Gefühle (als ergreifende Atmosphären), der Schmerz (mit dem man sich auseinandersetzen muss, so dass man nicht in ihm aufgehen kann wie in panischer Angst, die ebenso peinlich ist), Melodien und andere Figuren der Musik, störender Lärm wie ein anhaltender Pfiff oder das rhythmische Tropfen des Wasserhahns, das am Einschlafen hindert, die Nacht und die Zeit, wenn sie in Langeweile oder gespannter Erwartung quälend aufdringlich wird. (Wie glatt und langweilig wäre die Welt ohne Halbdinge!) Gefühle sind Halbdinge; diese Einsicht ermöglicht eine Vereinfachung der Begriffe vom Raum. Wenn man zur Struktur des leiblichen Raumes außer den leiblichen Richtungen, die aus der Enge in die Weite hervorgehen, die abgründigen (d. h. einer umschriebenen Quelle baren) Richtungen vieler Halbdinge, darunter der Gefühle, hinzunimmt, kann man den Gefühlsraum dem in diesem erweiterten Sinn leiblichen Raum hinzurechnen und sich dann mit der einfacheren Polarität leiblicher Raum – Ortsraum statt der Trias leiblicher Raum – Gefühlsraum – Ortsraum begnügen. Die erste Anregung zur Konzeption der Halbdinge, die aber erst Jahrzehnte später Form annahm, kam mir aus Sartres Ausführungen über »le mal«, das in wiederkehrenden Schmerzattacken sich manifestierende chronischen Leiden eines Kranken. 4 Alle bisher berührten Themen füllen gleichsam die eine Waagschale der Neuen Phänomenologie; die andere, sie mit einander aufwiegend, ist die Neubestimmung der Subjektivität, diese verstanden als das Der-sein-der-er-ist für einen jeden Bewussthaber (Bewussthaber = Subjekt). Grundlegend ist die Entdeckung der subjektiven Tatsachen, die höchstens einer im eigenen Namen aussagen kann, egal, wie viel die Anderen (und seien sie allwissend) wissen und wie gut sie sprechen können, während objektive oder neutrale Tatsachen solche sind, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann. Da Tatsachen nur über Aussagen (wirkliche oder bloß vorgestellte) identifiziert werden können und der Unterschied definitionsgemäß nicht auf Schranken des Wissens und Sprechenkönnens beruht, ist er ontologisch, also eine Relativität der Iden4 Jean-Paul Sartre: L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique. Paris 1943 u. ö., S. 401 f.

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tität der Tatsache auf den einzig in Betracht kommenden (oft aber nicht zur Aussage qualifizierten) Sprecher: Etwas ist diese als meine Tatsache, so wie etwas mein Programm (mein Wunsch) und mein Problem (meine Sorge) sein kann. Subjektiv für mich sind die Tatsachen meines aktuellen und potentiellen affektiven Betroffenseins, potentiell in dem Sinn, dass die Tatsache mich affektiv betreffen würde, wenn ich sie zur Kenntnis nähme. Man kann zeigen, dass zwar nicht jede objektive Tatsache aus einer entsprechenden subjektiven hervorgeht, wohl aber die Objektivität eine Rest- oder Schrumpfungsform der Subjektivität von Tatsachen ist. 5 Die Entdeckung der subjektiven Tatsachen hat im Negativen wie im Positiven wichtige Folgen. Im Negativen: 1. Der Psychologismus der dominanten europäischen Intellektualkultur kommt an sein Ende. Die Subjektivität für einen jeden kann nicht mehr abgefunden werden mit einer abgeschlossenen privaten Innenwelt, einer Insel im Meer der Außenwelt, einem Stück aus dem große Kuchen des Milieus der objektiven Tatsachen, das man für die Welt hält, sondern sie beruht auf einer Tatsächlichkeit eigener Art, einer spezifischen Ausformung von Subjektivität überhaupt. 2. Die von mir so genannte ironistische Verfehlung des abendländischen Geistes 6 kann durch Aufdeckung eines Irrtums an ihrer Wurzel behoben werden. Es handelt sich um eine Krise des durch Philosophen (z. B. Fichte, Hegel, Kierkegaard, Nietzsche, Wittgenstein, Heidegger), Literaten und Intellektuelle der Menschheit seit der deutschen Frühromantik eingeimpften Lebensgefühls (romantische Ironie, Positivismus und Existenzphilosophie, Angst, ich zu sein, Kult des Dandytyps und der Coolness), die ich für die Philosophie in drei Büchern verfolgt habe. 7 Sie nahm ihren Anfang, als Fichte die subjektiven Tatsachen zwar entdeckte, aber nicht als solche, da er alle Tatsachen für objektiv oder neutral hielt, so dass sich die Subjektivität in eine rätselhafte Rand- oder Zwischenstellung (als Tathandlung jenseits aller Tatsachen bzw. als produktiv zwischen Unvereinbarem schwebende Einbildungskraft) zurückzog, die Wittgenstein in seinem »Tractatus« später als absurdes Theater, das Unsagbare zu sagen, inszenierte; die Folgenden wälzten Fichtes Pro-

Hermann Schmitz: Der Spielraum der Gegenwart. Bonn 1999, S. 59. Ders.: Adolf Hitler in der Geschichte. A. a. O., S. 64–82. 7 Ders.: Die entfremdete Subjektivität. Von Fichte zu Hegel. Bonn 1992; ders.: Selbstdarstellung als Philosophie. Metamorphosen der entfremdeten Subjektivität. Bonn 1995 und ders.: Husserl und Heidegger. Bonn 1996. 5 6

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blematik, seine Entdeckung im Zustand der Verkennung, bis zur Gegenwart weiter, z. B. in Gestalt des Gegensatzes von Positivismus und Existenzphilosophie. Im Positiven: 1. Das Problem der Freiheit im Sinne einer notwendigen und zureichenden Bedingung sittlicher Verantwortung wird endlich lösbar, wenn man die Chance ausnützt, die die Subjektivität der Gesinnung im Sinne der subjektiven Tatsache, dass jemand sich so und so auf sein affektives Betroffensein einlässt, dann gewährt, wenn man diese Chance an einem hinlänglich geklärten Standard des normalen sittlichen Verantwortungsbewusstseins (einer kommunikativen Kompetenz gleich der für eine Sprache) abmisst. Dieses Ergebnis gestattet auch, über seine Bedeutung für Ethik und Recht hinaus, eine Abschätzung der Chance für das Recht auf Vertrauen in die Möglichkeit eigener Initiative als Voraussetzung des Lebensmutes. 8 2. Die Dauer der Person, die als sie selbst, nicht nur mit zeitlichem Teil von sich (wie mit einem Teil ihrer Lebensgeschichte), in den sukzessiven Phasen ihres Lebens mit verschiedener Gestaltung gegenwärtig ist, kann als für sie subjektive Tatsache verstanden und gerechtfertigt werden. 9 Die Entdeckung der subjektiven Tatsachen ist erst der Einstieg in die Enthüllung der Subjektivität. Erhebliche Schwierigkeit macht schon die widerspruchsfreie Beschreibung der präpersonalen Subjektivität, die ohne einzelnes Subjekt auskommen muss, bei Tieren, Säuglingen und Personen, die die Fassung verloren haben (etwa sich selbst vergessend in loderndem Zorn, in panischer Angst, im ekstatischen Bewegungsrausch, oder in Trauer versunken). Sie lässt sich erst durch scharfe Unterscheidung zwischen Identität und Einzelheit völlig durchsichtig machen. Viel komplizierter ist die Subjektivität der Person, des Bewussthabers mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung (sich für etwas zu halten). Sie entspringt einer Explikation (Vereinzelung) und zugleich Objektivierung subjektiver Tatsachen, von denen Subjektivität abfällt. Dabei kommt es, neben entschiedener Neutralisierung, zu einem Entgleiten subjektiver Tatsachen in Grauzonen, in denen sie mit entsprechenden objektiven konkurrieren, so dass die Subjektivität zwiespältig und abgeschwächt wird; das Zurückholen solcher Tatsachen (sowie untatsächlicher Sachverhalte) aus den Grauzonen in volle Subjektivität ist der Ursprung der Selbstzuschreibung und damit der Person. Dieser fehlt aber zur Identifizierung von etwas 8 9

Ders.: Der Spielraum der Gegenwart. A. a. O., S. 136–156. Ebd., S. 120–122.

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mit sich das Relat, wenn sie nicht in das präpersonale Leben zurückkehrt, durch engendes affektives Betroffensein (z. B. Schreck, Angst, Schmerz, Beklommenheit) hin zur Enge des Leibes, zur primitiven Gegenwart als dem unbestimmten Eindeutigen, aus dem die Gewissheit stammt, dass ich es bin, aber nichts von der Bestimmtheit, was ich bin. Diese findet die Person nur in der objektivierenden Explikation von Tatsachen, so dass die Selbstzuschreibung nur in einer ambivalenten Überschiebung personaler und präpersonaler Subjektivität zu Stande kommt. Identität und Verschiedenheit sowie Subjektivität stammen aus der primitiven Gegenwart, aus dem Plötzlichen, womit einbrechendes Geschehen das Kontinuum der Dauer und Weite (aus der man zurückkommt, wenn einem, z. B. aus dem Dösen geweckt, ist, als sei man weit weg gewesen) zerreißt und die Gegenwart als diese, aber ohne Bestimmtheit als Fall von etwas, wie eine Spitze exponiert, hinter der die Dauer vorbei ist (in Vergangenheit zurücksinkt). Bestimmtheit und Einzelheit gibt es erst, wenn diese Spitze, die primitive Gegenwart, sich nach fünf Seiten entfaltet: räumlich als absoluter Ort zu relativen Orten (Ortsraum), zeitlich als absoluter Augenblick zu relativen Augenblicken (modale Lagezeit), real als Sein im Gegensatz zum Nichtsein, eindeutig als durch Bestimmtheit (als Fall von etwas) zur Einzelheit bereicherte Identität und Verschiedenheit, subjektiv zur Person. Das Ganze dieser entfalteten Gegenwart ist die Welt als das Feld der frei verteilbaren Einzelheit. Personen kommen also nicht einfach als neu eintretende Gäste in einer schon fertig auf lauter einzelne Gegenstände verteilten Welt vor, sondern, dass sie vorkommen, ist eine Seite einer fünffältigen Entfaltung der primitiven Gegenwart zur Weltform, einer Form, die der chaotischmannigfaltige Weltstoff in zwiespältiger Einheit mit dem Gesicht annimmt, das er den Tieren, Säuglingen und in präpersonale Subjektivität eintauchenden Personen beim Leben in primitiver Gegenwart mit leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikation zeigt. An den paradoxen Zügen der modalen Lagezeit (mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie früheren, späteren und gleichzeitigen Ereignissen) lässt sich diese Ambivalenz des Weltstoffes mit zwei Gesichtern, von denen die Welt nur eines ist, offenkundig machen. Die Neue Phänomenologie stellt sich die Aufgabe, alle diese bei der Prägung der dominanten europäischen Intellektualkultur übersehenen Züge der unwillkürlichen Lebenserfahrung in das Licht der begreifenden Besinnung einzuholen, um die Verfehlungen des abendländischen Geistes2 von der Wurzel her zu heilen. Durch diese Er60 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Die Absicht der Neuen Phänomenologie

gänzungen soll dem Verständnis der Spielraum zwischen primitiver und entfalteter Gegenwart eröffnet werden, damit der Lebenswille lernt, sich mit labilem Gleichgewicht in der Gegenwart zu verankern, statt sich an Projektionen und Projekte zu vergeuden, die inzwischen leerläufig geworden sind. Wohl soll er einer besseren Zukunft, verbesserten Lebensbedingungen, entgegenstreben, aber nicht so, dass das Einverstandensein mit dem gegenwärtigen Leben der Krücke einer Hoffnung auf etwas bedarf, das erst noch kommen soll. Statt dessen soll die Gegenwart als primitive und entfaltete intensiver gelebt werden, wie von den Liebenden, den Tanzenden, den Wohnenden, den furchtlos Gerechtigkeit Übenden. Die Phänomenologie kann diese Lebensweise nicht heraufführen, aber mit begriffener Erfahrung die Tiefe der Gegenwart wie den Stollen eines Bergwerks für rechenschaftsfähige Durchsicht gegen Einstürze abstützen. Die Phänomenologie als methodische Arbeitsweise philosophischen Nachdenkens wurde von Husserl begründet und in geduldiger Arbeitsweise bewährt, aber zugleich blockiert, weil er mit zu hohem Anspruch, zu engem Horizont und für kritische Distanzierung zu geringer historischer Bildung den Vorurteilen der metaphysischen Tradition massiv verfiel und sie zum Teil noch vergröberte (reines Ich, transzendentales Bewusstsein usw.). Durch Arroganz der Vernunft verdarb er sich die begreifende Sensibilität, die zur phänomenologischen Sachlichkeit gehört. 10 Wie viel besser wäre die Phänomenologie auf den Weg gebracht worden, wenn Rudolf Otto, der Entdecker des Numinosen, damals die methodische phänomenologische Sachlichkeit inspiriert hätte! Der bewegliche, einfallsreiche, aber launische Max Scheler bot dafür keinen Ersatz. Ein Durchbruch gelang danach Heidegger, der die von Fichte entdeckte Subjektivität mit freilich inadäquaten Begriffsmitteln der Scholastik (»essentia« und »existentia« in ein neues Verhältnis setzend) gegen Husserl, der sie auf das cartesische Niveau bloß positionaler Subjektivität zurückversetzt hatte, nicht nur rehabilitierte, sondern mit dem Motiv des Inder-Welt-seins auch in Richtung auf eine Ontologie der Situationen (mit besonderer Betonung der Programme in der Bedeutsamkeit) weiterführte, freilich ohne die Binnendiffusion der Bedeutsamkeit zu berücksichtigen und ohne Verständnis für leibliche Dynamik und leibliche Kommunikation. Weiter kam er nicht, weil er versäumte, dem Durchbruch einen Feldzug anzuschließen. Die Fackel der Phäno10

Vgl. ders.: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. Bonn 1994, S. XII–XIV.

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menologie fand dann den Weg nach Frankreich, in die Hände von Sartre, der mit logischem Leichtsinn eine präzis gestaltende Phantasie (auch dank dichterischer Begabung) verband, die sein frühes Werk trotz vieler Sprünge zur Fundgrube werden lässt. Der Neuen Phänomenologie nähert er sich auf halbem Wege durch seine paradoxe Konzeption eines gleichsam platzenden, in spontaner Explosion befindlichen Bewusstseins ohne eigene Inhalte, wodurch der Bann der alles individuelle Erleben einschließenden privaten Innenwelt gebrochen, aber freilich noch nicht durch eine phänomenologisch haltbare Theorie der Subjektivität überholt wird. Merleau-Ponty ersetzte den Mangel solcher Phantasie durch eifriges Studium deutscher Autoritäten der Psychologie und Psychopathologie und entdeckte auf dieser Grundlage einen Weg, der ihn zu wichtigen Themen der Neuen Phänomenologie führen konnte, besonders durch seine Betonung primärer Bedeutsamkeit des Wahrgenommenen und die Einsetzung des »corps« (mehr Körper als Leib in meinem Sinn) als Vermittler solcher Bedeutsamkeit. Sein weiches Bemühen um die Mitte zwischen entgegengesetzten traditionellen Positionen, an denen er sich mehr als an der jeweils vorliegenden Sache orientierte, und sein Defizit an begrifflicher Schärfe ließen ihn aber nicht zu entscheidenden Ergebnissen kommen. So ist es klar, dass die Neue Phänomenologie ihrer beschriebenen Absicht nur genügen kann, wenn sie betont als Neue Phänomenologie auftritt. Jetzt habe ich nur noch zu erläutern, in welchem Sinn die Neue Phänomenologie nicht nur neu, sondern auch Phänomenologie ist. Da ich mein Konzept der Phänomenologie schon oft dargelegt habe 11, will ich mich hier etwas lockerer und an Beispielen erklären. Phänomenologische Forschung ist eigentlich ein Entmischungsvorgang; aus der Masse eigener und zugemuteter Überzeugungen, Annahmen, Hypothesen usw. sucht der Forscher herauszufinden, was er als Tatsache gelten lassen muss, indem er Meinungen durch Variation auf die Probe stellt, ob es nicht auch anders sein könnte, und nur übrig Ders.: System der Philosophie. Bd. III/1: Der leibliche Raum. Freiburg, München 2019, S. 1–7 (wodurch die älteren entsprechenden Aussagen (vgl. ders.: System der Philosophie. Bd. 1: Die Gegenwart. Freiburg, München 2019, S. 135–142) überholt sind); ders.: »Die phänomenologische Methode in der Philosophie«, in: ders.: Neue Phänomenologie. Bonn 1980, S. 10–27; ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. Bonn 1995, S. 33 f.; ders.: Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie. Berlin 1997, S. 13–22 und ders.: Andrea Moldzio, Gabriele Marx: Begriffene Erfahrung. Beiträge zur antireduktionistischen Phänomenologie. Rostock 2002, S. 13–22. 11

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behält, woran ihm der Umdenkversuch versagt. Dazu genügt aber nicht einsame Selbstreflexion, denn die könnte mit Vorurteilen und Scheuklappen, die den Umdenkversuch voreilig stoppen, behaftet sein. Andererseits gibt es keine Garantie dafür, dass man sich mit anderen Menschen über Phänomene einigen kann oder auch nur mit sich einig bleibt, wenngleich die Evidenz im Augenblick oft unüberwindlich ist; das Bemühen um solche Einigkeit mit Anderen liegt aber im eigenen Forschungsinteresse des Phänomenologen, eben um sich vor möglicher Borniertheit (Versteifung in die Beschränktheit der ursprünglich eigenen Perspektive) tunlichst zu schützen. Wenn die Beteiligten des phänomenologischen Gesprächs aufrichtig und gründlich verfahren, ist die Einigungschance groß; der davon zu erhoffende kritische Gewinn, die Herausschälung von Phänomenen im Sinne der für die Betreffenden jeweils im Ernst nicht ablegbaren Überzeugungen, ist dennoch nicht die Hauptsache des Ertrages phänomenologischer Forschung, weil die Kehrseite der Kritik die Entdeckung ist: Wenn man im Umdenkversuch die eingefahrenen Gleise von Methoden und Denkweisen aus der Verankerung hebt, können sich übersehene Zusammenhänge und Tatsachengruppen auftun, wie bei der Korrektur des demokritisch-platonischen Paradigmas der dominanten europäischen Intellektualkultur. Der Phänomenologe ähnelt also den Hexen, die in der Walpurgisnacht von Goethes »Faust« (1. Teil) dem in seinen Rationalismus verbohrten Aufklärer zum Spott weitertanzen, so dass dieser verzweifelt ausruft: Ihr seid noch immer da! Nein, das ist unerhört. Verschwindet doch! Wir haben ja aufgeklärt! Das Teufelspack, es fragt nach keiner Regel. Wir sind so klug, und dennoch spukt’s in Tegel. Wie lange hab’ ich nicht am Wahn hinausgekehrt Und nie wird’s rein; das ist doch unerhört! 12

Ich will drei Beispiele geben. Die Kausalität gilt seit Hume als unbeweisbar, weil kein kausales Band zwischen Ursache und Wirkung zu finden ist. Dieser Einwand trifft aber nur die dreigliedrige Kausalität Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Erster Teil. (Goethes sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe. Bd. 13. Hrsg. v. Erich Schmidt). Stuttgart, Berlin 1903, Verse 4158– 4163. Goethe parodiert den Aufklärer Nicolai, der in Tegel wohnte, mit der Benennung »Proktophantasmist« (»Steißseher«), weil Nicolai sich durch Ansetzen von Blutegeln von Geistererscheinungen zu befreien suchte.

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der Dinge, während die zweigliedrige der Halbdinge dadurch definiert ist, dass ein solches drittes oder Zwischenglied fehlt. Die Kausalität der Halbdinge ist evident, gefeit gegen Einwände der Hume’schen Art; wem der Wind entgegenschlägt, wer sich im Sturz gegen die reißende Schwere behaupten muss, wer quälenden Schmerz auszuhalten hat, kann nicht im Ernst bestreiten, dass ihm etwas angetan wird. Halbdinge sind sogar gegen Täuschung in höherem Maß immun als Dinge. 13 Die Naturwissenschaft ersetzt die Kausalität der Halbdinge allerdings durch die der Dinge, indem sie z. B. zum Wind bewegte Luft, zur reißenden Schwere ein Schwerefeld der Erde, zum elektrischen Schlag elektrischen Strom als schlagenden Arm, zum Schmerz schmerzende Körperteile (Nervenzellen und ihre Verbindungen) hinzusetzt. Wer sich dadurch aber die Halbdinge mit zweigliedriger Kausalität ausreden lässt, ist nicht nur in der Lage des Proktophantasmisten nach Goethe13, sondern wird auch genarrt, weil die Naturwissenschaft die von ihr suggerierte Kausalität von Ursache und Wirkung (mit vergeblich gesuchtem Band zwischen ihnen) in ihrer strengsten Fassung, als Physik, wieder aufgibt und durch regelmäßige, nach beiden Zeitrichtungen ablesbare Anordnung unbegrenzt vieler messbarer Daten in sich überschneidenden Reihen ersetzt. Das Vorkommen von Halbdingen mit zweigliedriger Kausalität ist also ein Phänomen. Ein anderes ist die Massigkeit der Stille, die als feierliche, als drückende, »brütende« Stille oder auch als zarte Morgenstille mit Weite, Gewicht und Dichte 14 ausgestattet ist, und das in wechselndem Grade: Feierliche und zarte Stille sind weiter als drückende, diese ist schwerer als sie, und feierliche und drückende Stille sind dichter als zarte. Wer sich nach der populären, von der Naturwissenschaft gesteuerten Deutung der Sinnenwelt richtet, hält Stille für eine bloße Privation, für das Fehlen von Schall, das keine Masse haben kann, und ist abermals in der Lage des Proktophantasmisten, vor dem die Stille als Hexe weitertanzt oder sich als Phänomen (Vorkommnis mit nicht im Ernst bestreitbarer Tatsächlichkeit) behauptet. Ein drittes Beispiel ist die Dauer der Person, die man sich auf zwei Weisen zurechtlegen kann: Entweder fasst man die Phasen der Lebensgeschichte eines Menschen (jetzt und eine Minute später, Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. III/5: Die Wahrnehmung. Freiburg, München 2019, S. 174–178. 14 Die Zusammenstellung dieser drei Merkmale der Stille entnahm ich dem Buch von Eugéne Minkowski: Vers une cosmologie. Fragment philosophiques. Paris 1936. 13

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gestern, heute und morgen, Kindheit und Greisenalter) nur deshalb als Leben eines und desselben Menschen auf, weil sie stetig in einander übergehen, indem vieles beharrt und anderes wechselt (Genidentität nach Kurt Lewin), und weil es sozial nützlich ist, sich für längere Zeit in Freud’ und Leid an dasselbe Individuum halten zu können; oder aber man glaubt an strikte Identität des Menschen, der ganz und nicht nur mit einem zeitlichen Teil von sich einst so war, jetzt so oder anders ist und künftig so oder anders sein wird. Die objektiven Tatsachen gestatten keine Entscheidung dieser Alternative; gleichwohl siegt die zweite Auffassung als Phänomen (nicht im Ernst bestreitbare Tatsache), weil man zwar rein theoretisch die erste ebenso akzeptieren könnte, praktisch aber niemand, wenn jetzt Feuer ausbricht, ruhig sitzen bleiben wird, weil es ihm doch gleichgültig sein könnte, wenn künftig ein entfernter Urenkel – nämlich eine spätere Phase einer Geschichte, von der er eine frühere ist, wobei nur eine Konvention die unverbindliche Identifizierung beider Phasen als derselbe Mensch begründet – verbrennen wird. Indem er sich mit Angst und Eifer gegen den Flammentod wehrt oder diesen mit Heldenmut, um höherer Güter willen, auf sich nimmt, gibt er seine unausrottbare Überzeugung zu erkennen, dass er selbst, als ungeteilte Person, die jetzt schon ist, auch künftig, wenn er nicht vorher stirbt, zur Stelle sein wird.

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4. Mein System der Philosophie. Absicht, Methode, Grundgedanke

Meine Absicht ist: das Ergreifende auf Begriffe zu bringen. Emotionale Überschwemmungen, flache Rationalisierungen und hilfloses Bedürfnis nach Ausbruch aus emotionalem Leerlauf lösen sich bis heute im Einzelleben und in der Weltgeschichte haltlos ab; ich möchte einer besonnenen Offenheit gegenüber den unwillkürlich ergreifenden Mächten den Weg bahnen. Meine Methode ist Phänomenologie in neuem, empirisch ernüchtertem Stil. Phänomen ist für jemand zu einer Zeit ein Sachverhalt, dessen Bestand als Tatsache er dann nicht im Ernst bestreiten kann. Einfachstes Beispiel: Wenn ich laut rede, ist für mich Phänomen, dass dann nicht alles still ist; nicht ebenso, dass ich rede, denn während ich zu reden meine, könnte ich ahnungslos stumm sein und ein Unbemerkter hinter mir den Stimmschall erzeugen. Leib, Raum, Zeit, Wahrnehmung, Gefühl usw. bieten einen unerschöpflichen Vorrat an Phänomenen. Diese sind fundamenta inconcussa immer nur jeweils für jemand (ev. viele oder alle) als die dann unhintergehbaren Hypothesen. Die phänomenologische Reduktion, die sie herausschält, ist ein unabschließbarer Prozess. Mein Grundgedanke ist der Versuch produktiver Überwindung der Introjektion und Innenwelthypothese. Ich will beschreiben, wie die Welt sich zeigt, wenn ihr zurückgegeben wird, was man fälschlich in die vermeintlich private Innenwelt einzelner Subjekte (Seele, Bewusstsein, Gemüt pp.) hineingesteckt hat. Die Gegenstandsgebiete des Spürens am eigenen Leib (Leiblichkeit) und des Fühlens (Gefühle) präsentieren sich dann so objektiv wie Bäume und Landstraßen und werden der fruchtbaren kategorialen Erschließung, die ich unternommen habe, erst dadurch zugänglich. Diese Objektivierung führt andererseits zu der philosophischen Pflicht, den Sinn von Subjektivität neu (ohne Berufung auf Innenwelten) zu bestimmen. Demgemäß habe ich, ausgehend vom affektiven Betroffensein, erstmals den Begriff des Bewusstseins im allgemeinsten Sinn scharf und zirkelfrei be66 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Mein System der Philosophie. Absicht, Methode, Grundgedanke

stimmt und im Zusammenhang damit das jahrtausendealte Freiheitsproblem gelöst. Um den Phänomenen gerecht zu werden, musste ich überdies neue Theorien auf dem Gebiet der »formalen Ontologie« (i. S. v. Husserl) entwickeln, namentlich meine allgemeine Mannigfaltigkeitslehre 1 und meine Theorie der Sachverhalte und Situationen 2. Von Anfang an hat mich die Aufgabe kritischer Rehabilitierung von Recht und Religion gefesselt; denn diese Lebensformen sind die wichtigsten etablierten Versuche der Menschen, vor dem Ergreifenden in Offenheit bestehen zu können. Kunst und Wohnen verstehe ich im Zusammenhang mit Religion als Methoden der Einübung von Distanz in der Ergriffenheit. Was ich von meiner Arbeit erhoffe, habe ich am Schluss meiner Kieler Antrittsvorlesung so gesagt: Die wichtigste Aufgabe des philosophischen Denkens könnte heute darin bestehen, durch Eichung von Worten an Phänomenen die Sprache vorzubereiten, die die Menschen benötigen könnten, um über Erfahrungen zu sprechen, die ihnen wichtig werden, wenn sie nach durchdringender Enttäuschung des Lebens in Projektionen und Utopien Gelegenheit und Bedürfnis haben, ihren Lebenswillen in der Gegenwart zu verankern. 3

Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. I: Die Gegenwart. Freiburg, München 2019. 2 Vgl. ders.: System der Philosophie. Bd. III/4: Das Göttliche und der Raum. Freiburg, München 2019. 3 Ders.: Nihilismus als Schicksal? Bonn 1972, S. 21. 1

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III. Methodisches

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5. Was ist ein Phänomen?

Bis ins 19. Jahrhundert galten Phänomene den Philosophen meist als zweitklassig. Nach Kant bilden sie die Sinnenwelt im Gegensatz zu den Noumenen der Verstandeswelt, die »den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben enthält, also in Ansehung meines Willens (der ganz zur Verstandeswelt gehört) unmittelbar gesetzgebend ist« 1. Hegel schreibt die »Phänomenologie des Geistes«, um »das erscheinende Wissen«, das in den Phänomenen befangen ist, auf dem »Weg der Verzweiflung« 2 zum absoluten Wissen emporzuführen. Zur höchsten Autorität werden Phänomene erst, seit es Philosophen schwindelt, weil sich das konstruktive Denken in den Naturwissenschaften, wie früher in der Metaphysik, mit seinen Abstraktionen und Methoden von der unwillkürlichen Lebenserfahrung weg verstiegen hat. Bezeichnend dafür ist Goethes gegen Newtons mathematische Methode gerichtete Mahnung: »Man suche nur nichts hinter den Phänomenen: sie selbst sind die Lehre.« 3 Gegen den physikalistischen Reduktionismus, der nur messbare Daten gelten lässt, und gegen den evolutionistisch-biologistischen Reduktionismus, der alles Feine als ein durch Entwicklung verfeinertes Grobes und als »nichts anderes als« dieses ausgibt, wendet sich Husserl mit seinem »Prinzip aller Prinzipien«, das den allgemeinsten Phänomenbegriff seiner reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie umschreibt: Am Prinzip aller Prinzipien: daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ›Intuition‹

1 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Berlin 1911 (Akademieausgabe von Kants Schriften, Band IV). S. 453, Z. 31–34. 2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. Hans-Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont. Hamburg 1988, S. 60, Z. 27 und S. 61, Z. 5. 3 Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen. Hrsg. v. Max Hecker (Schriften der Goethe-Gesellschaft. Bd. 21). Weimar 1907, S. 125 (Nr. 575).

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originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen. 4

Im Geiste dieses Prinzips bestimmt Heidegger das Phänomen als »das Sich-an-ihm-selbst-zeigende« 5; dass dies für ihn nur das formale oder vulgäre Phänomen ist, aus dem seine Phänomenologie das »Sein des Seienden«, das nach seiner Meinung »gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist«, eruieren soll 6, kann hier ebenso übergangen werden wie Husserls idealistische Wendung mit der sogenannten phänomenologischen Reduktion. Der Husserl-Heidegger’sche Phänomenbegriff im allgemeinsten Sinn, wonach alles Phänomen ist, wenn es sich unmittelbar zeigt und für eine ursprüngliche, d. h. unvermittelte Anschauung sozusagen leibhaftig darbietet, soll hier der Sachbegriff des Phänomens heißen, weil er beliebige Sachen als Phänomene zulässt. Dieser Phänomenbegriff ist eine wertvolle Richtschnur, weil sich in der Tat vieles zeigt, das im Alltag und in der Wissenschaft allenfalls in Spezialisierungen, aber nicht als Gegenstandstyp ernst genommen wird, obwohl es einen wichtigen Platz im Weltbild verdient. Als ein Beispiel unter anderen greife ich die von mir charakterisierten und benannten Halbdinge heraus, die sich von Sinnesdaten durch einen im Wechsel ihrer Gesichter beharrenden Charakter und von Dingen auf zwei Weisen unterscheiden: Sie kommen und gehen, ohne dass es Sinn hat, zu fragen, wie sie die Zwischenzeit verbracht haben, und sie wirken, ohne als Ursachen von der Einwirkung verschieden zu sein. Solche Halbdinge sind z. B. die Stimme, die den Fallenden reißende Schwere, der Schmerz, der Wind, musikalische Figuren, ergreifende Gefühle und andere Atmosphären sowie die Zeit, wenn sie in Langeweile oder gespannter Erwartung nicht vergehen will. Neben seinem Nutzen zur Weckung der Aufmerksamkeit trägt der Sachbegriff des Phänomens der phänomenologischen Forschung aber auch schwere Nachteile ein, denen ich mich nun zuwende. Husserl will sich bei der Anwendung seines Prinzips der Prinzipien von keiner Theorie irre machen lassen. Die Frage ist aber, ob er 4 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie (Husserliana Bd. III/1. Hrsg. v. Karl Schuhmann). Den Haag 1976, S. 56 ff. (§ 24). 5 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Halle 1941, S. 28. 6 Ebd., S. 35.

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sich nicht umgekehrt von diesem Prinzip zu einem Übermaß uneingestandener Theorie verführen lässt. Daraus, dass etwas sich zeigt, ist ja nicht ohne Weiteres zu entnehmen, worum es sich handelt. Man kann darauf zeigen oder ihm einen Eigennamen geben, aber damit hat man noch nichts gelernt. Um eine sinnvolle Behauptung aufzustellen, muss man mindestens etwas, das sich zeigt, als etwas oder als Fall von etwas verstehen, also eine Subsumtion vornehmen. Mit dem zweiten Etwas, wovon der erste ein Fall sein soll, wird aber ein Ordnungsrahmen, ein Verständnishorizont beigebracht, der nicht mit im Blick steht, wenn man nur auf das achtet, was sich zeigt und wie es sich zeigt. Diese »Theoriebeladenheit der Beobachtungssätze« 7 hat Husserl zu seinem größten Schaden nicht oder nicht genug berücksichtigt, mit der Folge, dass er seine sämtlichen phänomenologischen Beobachtungen durch steifes Festhalten traditioneller Vorurteile im Verständnishorizont bis zur Unbrauchbarkeit verzerrt. Heidegger hat ein viel kritischeres Verhältnis zur Tradition, aber er hat damit leider bis zu bizarren Verrenkungen und Mystifikationen gespielt und wenig sachliche Beiträge zur Abklärung der eigenen Voraussetzungen im Verhältnis zu den überlieferten geleistet. 8 Der Sachbegriff des Phänomens verführt dazu, phänomenologische Erkenntnis als direkte Auffassung des Gegebenen in seinem bloßen Vorliegen zu verstehen und die Doppelköpfigkeit zu übersehen, der jede Beschreibung einer Sache dadurch unterliegt, dass man die Sache so und so sehen kann, je nach dem Bedeutungshof der Gattungen, die man zur Subsumtion mitbringt, mit ihren expliziten und mehr noch den undurchschauten impliziten Voraussetzungen. Dies ist ein methodologisches Bedenken gegen den Sachbegriff des Phänomens. Einen tiefer liegenden Grund zur Vorsicht liefert ein ontologisches Bedenken. Die europäische Denkweise im Alltagsleben, in der Wissenschaft und der Philosophie stützt sich gewöhnlich auf das zuerst bei Aristoteles 9 nachweisbare Schema einer triadischen Dingontologie; die Welt besteht demnach aus Dingen, die erstens Eigenschaften haben und zweitens (sekundär) durch Relationen verknüpft sind. In der modernen Physik herrscht ein von Hume eingeführtes verkürztes Schema, das die Dinge und Eigenschaften zu 7 Franz von Kutschera: Grundfragen der Erkenntnistheorie. Berlin, New York 1982, S. 515 f. 8 Vgl. Hermann Schmitz: Husserl und Heidegger. Bonn 1996. 9 Aristoteles: Metaphysik. 1089b 23 f.

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Ereignissen verschmilzt und außer diesen nur Relationen zulässt. 10 Husserl bekennt sich noch im Alter zur triadischen Dingontologie. 11 Beide Schemata begünstigen den erkenntnistheoretischen Deskriptivismus: Dinge bzw. Ereignisse erhalten Namen und werden durch Einsetzung dieser Namen in Satzformen, die Eigenschaften oder Relationen angeben, beschrieben. Beide Ontologien sind aber sprachabhängig. Es lässt sich nämlich eine fiktive Sprache ausdenken, die nur aus Verben im Infinitiv und Adverbien mit einem die Grammatik regelnden System von Adverbialsuffixen sowie satzbildenden Partikeln (wie »nicht«, »und«, »weil«) bestünde und in dem Sinn gleich ausdrucksstark wie die unsrige wäre, dass sie für dieselben Sachverhalte, Programme und Probleme, insbesondere also für dieselben Tatsachen, mögliche Aussagen zur Verfügung stellte. Die Übersetzung wäre in allen Fällen trivial; für »Cassius mordete Caesar« könnte sie z. B. lauten: »Morden einstig cassuishaft caesartümlich.« In dieser Sprache gäbe es aber keine Namen und daher keine Möglichkeit, Sachen durch Eigenschaften oder Relationen zu beschreiben. Wohl aber könnte man noch Sachverhalte und Tatsachen angeben, Fragen, Wünsche und Befehle vorbringen, im selben Umfang wie wir. Daraus folgt, dass nennbare Sachen, Eigenschaften und Beziehungen und damit die ontologischen Bedingungen der Möglichkeit des Beschreibens nicht zum absoluten Ansichsein gehören, sondern zur Welt im Licht der üblichen Sprachen. Mir genügt dieses Licht, um mich auszudrücken, aber ich halte fest, dass Sachverhalte, speziell Tatsachen, einen ontologischen Vorrang vor anderen Sachen haben, der darin besteht, dass sie in jeder Sprache, die sich mit ihren Aussagen an das Sein oder die Wirklichkeit hält, angegeben werden müssen, nicht nur in den speziellen Sprachen, die Beschreibungen nennbarer Sachen gestatten. Daraus gewinne ich das erste Motiv dafür, an die Stelle des Sachbegriffs vom Phänomen einen Sachverhaltsbegriff zu setzen; dazu kommt der methodologische Vorzug, dass die Voraussetzungen der Subsumtion im Verständnisrahmen beim Achten auf Sachverhalte, die das Fallsein von vorn herein einschließen, nicht so leicht außer Acht bleiben wie beim bloßen Hinnehmen von etwas, das sich dar-

Vgl. Hermann Schmitz: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. Bonn 1994, S. 17–26. 11 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Husserliana Bd. VI. Hrsg. v. Walter Biemel). Haag 1954, S. 229. 10

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bietet, nach Husserls Prinzip der Prinzipien. Die ganze Fruchtbarkeit der Wahl von Sachverhalten als Phänomene ist damit aber noch nicht enthüllt. Um sich ihr zu nähern, muss zunächst der ontologische Vorrang der Sachverhalte noch von einer anderen Seite beleuchtet werden. Beschreibbare Sachen sind immer einzelne Sachen. Einzeln ist eine Sache, die zählt, in dem Sinn, dass sie Element einer (endlichen) Menge ist, deren Anzahl dadurch um 1 größer wird. Mengen sind nun aber Umfänge von Gattungen; daher ist etwas nur dann einzeln, wenn es Fall einer Gattung ist. Fallsein einer Gattung ist aber ein Sachverhalt; daher sind Sachverhalte Voraussetzung für die Möglichkeit, dass irgend etwas einzeln sein kann. Dieser neue Beweis eines ontologischen Vorrangs von Sachverhalten drängt die Frage auf, worum es sich bei ihnen eigentlich handelt. In üblichen philosophischen Theorien kommen sie nämlich nur von Gnaden der sprachlichen Rede vor, etwa als Invarianten synonymer Aussagen; die Anglo-Amerikaner nennen die Sachverhalte neuerdings »propositions«, als seien sie einfach Aussagen (früher »states of affairs«). Es wäre aber paradox, die sprachliche Rede zur Voraussetzung des Einzelnseins von irgend etwas machen zu wollen. In der Tat sind Sachverhalte und Tatsachen vielmehr vorsprachlich. Ich habe vielfach gezeigt, dass es außer den objektiven Tatsachen, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann, die subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins gibt, die höchstens einer im eigenen Namen aussagen kann, sehr oft also keiner, da viele Lebewesen affektiv betroffen sind, die überhaupt nicht oder gerade nicht sprechen können. 12 Also gibt es Tatsachen, die niemand aussagen kann, obwohl man darüber wie über andere benennbare Sachen sprechen kann; ich tue das gerade. Kein besserer Beweis ist möglich dafür, dass Sachverhalte nicht richtig als Invarianten oder Klassen synonymer Aussagen eingeführt werden und überhaupt vorsprachlich sind. Ich habe sie vielmehr dadurch charakterisiert, dass durch sie die Fraglichkeit in die Welt kommt, d. h. die prinzipielle Möglichkeit, etwas in Frage zu stellen vor dem Hintergrund des Seins oder der Wirklichkeit als Instanz möglicher Entscheidung. In diesem Sinn sind Sachverhalte Abhebungen vom Sein. Ob jemand wirklich da ist, der fragen kann, und

Vgl. z. B. Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie. Bonn 1995, S. 5–9.

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eine Sprache da ist, in der er fragen kann, kommt dabei nicht in Betracht. Einzeln ist etwas nur durch Sachverhalte. Das gilt auch für einzelne Sachverhalte. Wenn alle Sachverhalte einzeln wären, hinge also jeder Sachverhalt von einem weiteren Sachverhalt ab. Die Kette der Voraussetzungen für das Einzelnsein von etwas liefe ins Unendliche zurück, wenn es nicht Sachverhalte gäbe, die nicht einzeln sind und daher nicht in numerischem, mit einer Anzahl versehenem Mannigfaltigem – einer Menge – vorkommen, sondern in einem Mannigfaltigen anderen Typs, das ich als chaotisches Mannigfaltiges bezeichnet habe, weil darin nicht durchgängig feststeht, was womit identisch und was wovon verschieden ist. Tatsächlich finden sich in solchem chaotischem Mannigfaltigen die Sachverhalte meist mit Programmen – namentlich vorsprachlichen, wie den anschaulichen Aufforderungscharakteren der Anziehung und Abstoßung usw., womit Begegnendes uns anspricht – und oft mit Problemen zusammen. Sachverhalte, Programme und Probleme sind die Bedeutungen, die mit einander, wobei aber nur die Sachverhalte unentbehrlich sind, eine chaotischmannigfaltige, binnendiffuse Bedeutsamkeit bilden können, die zur Situation wird, wenn Ganzheit (d. h. Zusammenhalt in sich und Abgehobenheit nach außen) hinzukommt; in eine Situation kann außer der Bedeutsamkeit und durch sie beliebig viel an weiteren Sachen integriert sein. Der Nachweis, dass Einzelwesen nur durch Sachverhalte des Fallseins von etwas möglich sind, genügt schon zum Beweis des Satzes: Die Bedeutsamkeit ist primär. Es ist also nicht etwa so, dass an sich bedeutungslose einzelne Dinge oder einzelne Ereignisse erst nachträglich von Lebewesen, je nach deren Bedürfnissen und Erfahrungen, mit Bedeutung ausgestattet würden. Mit dem Nominalismus ist auch der Projektionismus widerlegt. Situationen gibt es überall und auf viele Arten und Weisen; sie sind geradezu die Grundgegenstände unserer Lebenserfahrung. Ich kann auf die Theorie der Klassifizierung von Situationen hier nicht näher eingehen. Ich unterscheide aktuelle,, zuständliche, impressive, segmentierte, gemeinsame und ungemeinsame Situationen. Situationen in diesem Sinn sind auch die (in der Tradition zur Seele verformte) Persönlichkeit des Menschen, die Sprache, Freundschaft und Feindschaft, der Geist und das Leben von Gemeinschaften und Institutionen usw. Besonders wichtig für die Phänomenologie sind die impressiven Situationen, die vielsagenden Eindrücke. Das sind Situationen, die mitsamt ihrer binnendiffusen, nicht oder nur unvollkommen 76 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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expliziten Bedeutsamkeit in einem Augenblick ganz zum Vorschein kommen. Bei dem, was wir wahrnehmen, handelt es sich in erster Linie um Eindrücke, die dadurch vielsagend sind, dass sie uns mehr an Bedeutsamkeit mitteilen, als wir sagend aus ihnen herausholen können. Das gilt nicht nur für die tiefen, im emphatischen Sinn bedeutsamen Eindrücke, sondern auch für die ganz banalen. Jedes Ding begegnet z. B. mit einem typischen oder auch individuellen Charakter, der sich mit wechselnden Gesichtern bekleidet und wie diese ein Eindruck, aber im Gegensatz zu ihnen ein zuständlicher Eindruck ist, in dessen Bedeutsamkeit Sachverhalte chaotisch-mannigfaltig als Protentionen vorkommen, auf die man unwillkürlich gefasst ist, während sie sich gewöhnlich erst bei Überraschung einzeln abzeichnen, Programme als vom Gegenstand her uns ansprechende Aufforderungen, Probleme als etwas, das einen unsicher macht. Aus dem dichten Teppich unauffälliger Eindrücke stechen einige auffällige hervor. Fast immer wird Einzelnes wahrgenommen. Da etwas nur als Fall von etwas einzeln sein kann, wird in jeder solchen Wahrnehmung auch etwas wahrgenommen, wovon es Fall ist. Zur Bedeutsamkeit eines Eindrucks, der wahrgenommen wird und Einzelnes umfasst, gehören daher immer auch Gattungen und Sachverhalte des Fallseins unter diesen Gattungen; Gattungen sind übrigens selbst Sachverhalte, wie ich anderswo ausgeführt habe. 13 Jede Wahrnehmung von irgend etwas Einzelnem, z. B. einer Farbe, einem Ding oder Halbding, ist daher von vorn herein auch Wahrnehmung, dass etwas irgendwie ist, Wahrnehmung von Sachverhalten, die aber nicht explizit hervorzutreten brauchen, sondern in die chaotisch-mannigfaltige Bedeutsamkeit der Situation versenkt sein können. Die Griechen von Homer bis Empedokles hatten für dieses einsichtige Wahrnehmen das Wort »νοεῖν« im Sinne des Bemerkens, was in der aktuellen, impressiven Situation los ist, sowohl an Sachverhalten wie an Programmen und Problemen. Der spätere europäische Rationalismus hat dieses Verbum auf das Denken im Gegensatz zur Wahrnehmung umgewidmet und damit ein Zeichen phänomenologischer Inkompetenz gegeben. Husserl hat sich dieser Tradition mit seiner Lehre von der kategorialen Anschauung und speziell der Wesensschau angeschlossen. Die gesamte Phänomenologie soll auf einer übersinnlichen, apriorischen Schau reiner Wesen, die Husserl den plato13 Ders.: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O., S. 92–96 und ders.: Der Spielraum der Gegenwart. Bonn 1999, S. 261.

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nischen Ideen vergleicht, beruhen. So schlicht ist sein Verständnis von Phänomenen, dass er neben das sinnlich Wahrgenommene das Übersinnliche als ein weiteres Gebiet setzt, das sich ebenso direkt darbiete – eventuell nach Vorbereitung durch Phantasieoperationen freier Variation – und genau so einfach hingenommen werden müsse, wie das in anderer Einstellung begegnende Sinnliche. Husserls Lehre von der Wesensschau und die Aporien, denen sie erliegt, habe ich anderswo dargestellt. 14 Die Phänomenologie, wie ich sie verstehe, bedarf keiner aparten Wesensschau neben der gewöhnlichen Wahrnehmung. In jedem vielsagenden Eindruck, den wir erleben (z. B. wahrnehmen), sind Gattungen enthalten, meist auch Arten und Halbarten, Universalien eines anderen Typs. 15 Die Erkenntnis, die wir von ihnen durch Besinnung auf unsere ganz gewöhnliche Lebenserfahrung gewinnen, hat keine übersinnliche Garantie für absolute oder, wie Husserl sagt, apodiktische Gewissheit. Unsere synthetischen Überzeugungen a priori sind im Prinzip nicht weniger gebrechlich als die auf einzelne Vorkommnisse in Raum und Zeit bezüglichen. 16 Die menschliche Erkenntnisleistung wird missdeutet, wenn man Wahrnehmung und Denken, Sinnlichkeit und Verstand einander entgegensetzt, sei es wie Kant, der dem Verstand die synthetische Arbeit an einem von der Sinnlichkeit gelieferten »Gewühle von Erscheinungen« 17 überträgt, oder wie Husserl, der seiner übersinnlichen, kategorialen Anschauung gleichfalls synthetische Leistungen im sinnlichen Stoff und darüber hinaus ganz neue Entdeckungen durch Wesensschau zutraut. Die menschliche Intelligenz betätigt sich vielmehr auf allen Gebieten der Lebenserfahrung – z. B. in der Wahrnehmung, Erinnerung, Phantasie und mathematischen Problemlösung – in prinzipiell gleicher, analytisch-kombinatorischer Weise, indem sie aus der Bedeutsamkeit von Situationen einzelne Sachverhalte, Programme und Probleme expliziert und verknüpft. Dass sich dabei nach der Art des Umgangs mit den vielsagenden Eindrücken verschiedene Typen – analytische und hermeneutische Intelligenz – unterscheiden

Ders.: Husserl und Heidegger. A. a. O., S. 164–173. Ders.: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O., S. 84–92 (Kapitel »Arten und Halbarten.«). 16 Ebd., S. 282–284. 17 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. A 111. 14 15

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lassen, brauche ich hier nicht auszuführen. 18 Über das Niveau der Tiere und Säuglinge erhebt sich der Mensch als Person durch seine Intelligenz nur dadurch, dass er Situationen nicht nur ganzheitlich ansprechen und anregen, sondern auch durch Explikation ihrer Bedeutsamkeit, besonders mit Hilfe der Rede, analytisch durchdringen und damit in neuer Weise beherrschen, wenn auch nicht vollständig in Konstellationen einzelner Faktoren zerlegen kann. Diese neue Richtlinie der Erkenntnistheorie beschert dem Phänomenologen günstige Aussichten. Er braucht nicht mehr, wie Kant ihm zumutet, das Gegebene und das Gedachte, die Beiträge der Sinnlichkeit und des Verstandes 19, nachträglich zusammenzuführen, sondern findet in der Situation selbst, die ihm gegeben ist, die Bedeutsamkeit, aus der er seine Subsumtionen schöpfen kann, indem er etwas als etwas ausgibt und damit Sachverhalte als Phänomene auszeichnet. Der Verständnishorizont, auf den er zurückgreifen muss, liegt ihm nicht mehr im Rücken wie dem Phänomenologen in Husserls Art, der gemäß dem Sachbegriff des Phänomens bloß hinnimmt, was sich zeigt und wie es sich zeigt. Es wäre aber zu optimistisch, daraus zu schließen, dass die vorhin erwähnte Problematik der »Theoriebeladenheit der Beobachtungssätze«7 damit für den Phänomenologen schon erledigt sei. Er schöpft bei seiner Forschung aus der ihm gerade vorliegenden Problemsituation; der Verständnisrahmen, durch den seine Subsumtionen vorgeformt sind, umfasst aber unvergleichlich mehr an Situationen. Dazu gehört zunächst einmal die eigene Persönlichkeit oder zuständliche persönliche Situation mit unzählig vielen in sie eingeschlossenen Situationen, z. B. Kristallisationskernen seiner Erinnerung, seinen Standpunkten, seinen habituellen Interessen, seinem Entwurf in eine Rolle, seinen Wunsch-, Leit- und Schreckbildern. Diese persönliche Situation ist wiederum in unzählig viele Situationen eingeschlossen, die ihr teils bloß Rahmen geben, teils aber mehr, nämlich einen Boden, in den sie eingewachsen ist. Dazu gehören die Sprache, die Traditionen, aus denen man kommt oder die man übernimmt, das berufliche, religiöse, kommunale und nationale Milieu, der Bildungshorizont und weitere prägende überpersönliche Situationen. Alle diese Situationen bestimmen mit darüber, was der Mensch glaubt und bei seinen Urteilen Vgl. Hermann Schmitz: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O., S. 221, 237. 19 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. A 51/B 75. 18

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voraussetzt. Ihre Bedeutsamkeit ist aber binnendiffus, und diese Diffusion wird durch ihre Überlagerung und Durchkreuzung nur noch vermehrt. Daher weiß niemand genau, was er glaubt. Der Phänomenologe ist aber speziell an einem Maximum an Selbstkritik interessiert; er sucht sich aus den Netzen naheliegender beliebiger Annahmen, die sich undurchsichtig mit echten oder vermeintlichen Evidenzen mischen, auf den festen Boden zu retten, wo er etwas findet, das er nicht mehr ernsthaft bestreiten kann. Diese Selbstkritik muss er zunächst auf die eigenen, ihm selbst mehr oder weniger undurchsichtigen Voraussetzungen seines Urteilens anwenden. Sein Hilfsmittel ist dabei das maßgebliche Werkzeug phänomenologischer Forschung überhaupt: die phänomenologische Revision als der Umdenkversuch, bezüglich des jeweils gestellten Themas Annahmen zu variieren, bis sich etwas herausstellt, das der Variierende gelten lassen muss, weil er sich selbst nicht mehr glauben könnte, wenn er das bestritte. Diese Operation hat einen doppelten Nutzen: Erstens lernt man, unter den verfügbaren Annahmen die für einen selbst jeweils unhintergehbaren Hypothesen zu wählen; zweitens lernt man besser kennen, was man glaubt, indem sich aus dem komplexen, binnendiffus in der Bedeutsamkeit von Situationen lagernden Glauben einzelne Annahmen herausschälen, die dann wieder durch phänomenologische Revision auf die Probe gestellt werden können. Dazu ist es aber nötig, durch Gespräch oder Lektüre die Meinungen und Erfahrungen anderer Menschen zur Kenntnis zu nehmen und sie zu berücksichtigen, damit man nicht in den Scheuklappen der eigenen Borniertheit stecken bleibt und übersieht, wieviel an Annahmen noch weggedacht werden kann, wenn man sich nur umstellt. Nichts ist der phänomenologischen Forschung gefährlicher als einseitiges Vertrauen auf Introspektion als Informationsquelle. Andererseits darf man sich bei der phänomenologischen Revision nur auf das eigene Urteil verlassen. Was andere sagen, können nur Vorschläge sein. Darüber, was man gelten lassen muss, kann man nur in einsamer Besinnung befinden. Am Ende eines Umdenkversuchs phänomenologischer Revision steht im günstigen Fall ein Phänomen. Jetzt kann ich die Frage, was das ist, in mich befriedigender Weise beantworten: Ein Phänomen ist für jemand zu einer Zeit ein Sachverhalt, dem der Betreffende dann den Glauben, dass es sich um eine Tatsache handelt, nicht im Ernst verweigern kann. Ein Phänomen ist also doppelt relativ, auf einen Menschen und für eine Frist. Man kann auch bei Überzeugungen 80 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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von allgemeiner Tragweite, für deren Inhalt keine Kenntnis von bloß lokalen Umständen erforderlich ist, nicht sicher sein, ob alle Menschen das Selbe wie ich gelten lassen müssen und ich immer das Selbe wie jetzt gelten lassen muss. Man kann sogar nie mit abschließender Sicherheit wissen, ob man ein Phänomen gefunden hat. Vielleicht war man nur zu borniert, um zu bemerken, dass auch das noch glaubhaft umgedacht werden könnte, woran man glaubt festhalten zu müssen. Allerdings kann die Evidenz im Augenblick so überwältigend sein, dass sie alle Bedenken niederschlägt. Die Voraussetzung, dass man sich mit den anderen Menschen über die Phänomene wird einigen können, hat aber nur heuristischen Sinn, ist als heuristisches Prinzip dem Phänomenologen freilich auch unentbehrlich. Ohne sie verlöre er den Antrieb, aus dem Schneckenhaus seiner eigensinnigen Sichtweise herauszugehen, und damit die Kompetenz für den Umdenkversuch. Zum Glück zeigt die Erfahrung, dass bei ernsthafter Aufgeschlossenheit der Beteiligten der Spielraum für fruchtbare Einigung breit ist. Andererseits zeigt der Umgang mit einem intelligenten Paranoiker, dass man dabei an unübersteigliche Grenzen kommen kann, selbst wenn Verständigung über den gemeinten Sinn erzielt wird. Die phänomenologische Aufgabenstellung ist jedoch nicht auf unbeschränkte Intersubjektivität der Ergebnisse angewiesen. Sie unterscheidet sich damit von der naturwissenschaftlichen, deren Stolz es ist, sich auf Befunde zu berufen, die von jedermann, wenn er sich genügend einarbeitet und die nötigen Hilfsmittel zur Hand hat, geprüft und bestätigt werden können. Für diesen Stolz muss die Naturwissenschaft das Feld ihrer Aufmerksamkeit sozusagen reduktionistisch einebnen, nämlich auf Daten aus wenigen Merkmalsklassen beschränken, die intermomentan und intersubjektiv präzis identifizierbar, messbar und zum Zweck des Experiments selektiv variierbar sind. Dafür zahlt sie den Preis willkürlich hinzugesetzter, vielleicht sogar zirkelhafter Begriffe und Zusatzannahmen (mit Hilfe sogenannter theoretischer Terme oder intervenierender Variablen), die die Dürftigkeit des für die Beobachtung zugelassenen Datenmaterials ausgleichen und nur durch den Erfolg bei der Prognose und praktischen Anwendung der Theorie gerechtfertigt werden können. Der Phänomenologe verfolgt ein anderes Ziel. Er will den Menschen die Gelegenheit bieten, sich davon Rechenschaft zu geben, was sie gelten lassen müssen. Dabei geht es nicht einmal in erster Linie um Kritik. Vielmehr verhilft gerade die phänomenologische Revision dazu, das 81 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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zu finden, was sich zeigt, aber durch traditionelle, methodenbedingte oder andersartige Schienungen ausgeblendet ist, so wie es der naivere Sachbegriff des Phänomens in Aussicht stellt. Letztlich geht es darum, die Abstraktionsbasis, d. h. den Filter, der darüber entscheidet, was von der unwillkürlichen Lebenserfahrung in Begriffe, Theorien und Bewertungen Eingang findet, tiefer in diese Lebenserfahrung hineinzulegen, wenn auch ohne Hoffnung, Hypothesen und Konstruktionen je ganz zu Gunsten schlichter Natürlichkeit ablegen zu können. Dadurch soll es gelingen, die Besinnung tiefer in die Betroffenheit hineinleuchten zu lassen und den Menschen Gelegenheit zu geben, sich selbst und die Umgebung, in der sie sich faktisch finden, besser kennen zu lernen.

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Als Hegels Braut im Sommer 1811 an seiner Liebe irre wurde, weil er in seiner Nachschrift zu ihrem Brief an seine Schwester hingestellt sein ließ, ob Glück in der Bestimmung seines Lebens liege, schrieb er ihr nach sorgenvoll durchwachter Nacht einen Brief, in dem er sie vor der Unterscheidung zwischen seiner und ihrer Liebe warnte, »denn die Liebe ist nur unsere, nur diese Einheit, nur dieses Band«, und fügte abermals ein Postscriptum an: Noch dies, ich war lange zweifelhaft, ob ich an Dich schreiben sollte, weil alles, was man schreibt und spricht, wieder allein von der Erklärung abhängt oder weil ich sie fürchtete, da sie so gefährlich ist, wenn es sich einmal hergeführt hat zu erklären; – aber ich habe auch diese Furcht überwunden und hoffe alles von Deinem Gemüte, wie es dieses Geschriebene empfängt. 1

In meiner Begriffssprache hätte er das Gemeinte so ausdrücken können: Liebe ist eine zuständliche (d. h. nicht in beliebig dicht gelegten Querschnitten verfolgbare) Situation, erfüllt von der Atmosphäre eines Gefühls, eine Situation, die von den Liebenden durch ihr Lieben – ihr leiblich-affektives, in Preisgabe und/oder Widerstand personal verarbeitetes Betroffensein von dem Gefühl – gemeinsam getragen und verwaltet wird. Eine Situation in meinem Sinn hat die Eigenschaften der Ganzheit (d. h. der Kohärenz in sich und Abgehobenheit nach außen) und der Integration zur Ganzheit durch eine Bedeutsamkeit, die aus Sachverhalten, Programmen und/oder Problemen besteht und binnendiffus, d. h. nicht in lauter einzelnes durchgegliedert, ist. Nach Hegels Postscriptum ist die Binnendiffusion dieser Bedeutsamkeit für die Liebe ganz besonders wichtig und darf daher nicht durch das Herausholen zu vieler einzelner Sachverhalte, Programme

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Briefe. Bd. 1. Hrsg. v. Johannes Hoffmeister. Hamburg 1952, S. 368.

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und Probleme in Gestalt von »Erklärungen« zersetzend angetastet werden. Der Grund ist leicht einzusehen: Die zuständlichen persönlichen Situationen der Liebenden – ungefähr das, was man volkstümlich die ›Persönlichkeit‹ einer Person nennt – mit unabsehbar vielen in ihnen gleitenden partiellen Situationen (Kristallisationskerne der Erinnerung, Standpunkte, Gesinnung, Entwurf oder Fassung, Lebenstechnik, Wunsch-, Leit- und Schreck-›bilder‹ u. a.) müssen in die gemeinsame Situation einwachsen, wenn die Liebe reifen soll, und das können sie nur, wenn diese gemeinsame, implantierende Situation hinlänglich schmiegsam und nicht durch Zersetzung eines beträchtlichen Teiles ihre Bedeutsamkeit in einzelne Bedeutungen spröde geworden ist. Auch eine lebendige Freundschaft kann nur durch die Binnendiffusion der Bedeutsamkeit einer gemeinsamen zuständlichen Situation bestehen. Freunde helfen einander bei großen und kleinen Problemen; dieser Programmgehalt gehört wesentlich in jene Bedeutsamkeit, aber er darf nicht zu sehr in Gestalt detaillierter einzelner Programme aus ihr hervortreten, denn dann würde die Freundschaft berechnend und wäre auch keine mehr. Viele zarte persönliche Verhältnisse sind an Binnendiffusion der Bedeutsamkeit gemeinsamer Situationen gebunden. Aber nicht nur persönliche Verhältnisse. Mindestens so wichtig wie für die Liebe nach Hegel ist die Zurückhaltung mit Erklärungen für die Dichtung. Poesie, so kann man definieren, ist eine geschickte Sparsamkeit der Rede, wodurch Situationen durch Hervorhebung einzelner Sachverhalte, Programme und Probleme in überwiegend satzförmiger Rede aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit einer Situation nur so schonend expliziert werden, dass diese an sich unsagbare Situation durch das dünne Netz des Gesagten in ungebrochener Ganzheit durchscheint. Für die Lyrik (Haiku usw.) wird das unmittelbar einleuchten; in Goethes Kurzgedicht »Über allen Gipfeln ist Ruh« usw. ist der Sparzwang so groß, dass schon das Ausschreiben des letzten Wortes der zweiten Zeile – »Ruhe« statt »Ruh« – den lyrischen Effekt des vielsagenden Eindrucks verstören müsste. Bei poetischen Großformen gilt das Entsprechende. Simmel hat in einem Aufsatz über Kants und Goethes moralische Weltanschauung in der Zeitschrift »Der Tag« vom 21. August 1908 den Gestalten Goethes nachgerühmt, es sei ihnen eigen, daß alles, was sie sagen und tun, nur als der zufällig beleuchtete, zu Worte kommende, dem Beschauer zugewandte Teil einer ganzen gerundeten, eine

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Unendlichkeit anderer möglicher Äußerungen einschließenden Persönlichkeit erscheint. 2

Das erreicht Goethe durch die geschickte Sparsamkeit seiner dichterischen Rede. Situationen sind die Quellen unserer Lebenserfahrung. Als impressive Situationen, deren Bedeutsamkeit mit einem Schlage, aber binnendiffus, präsent ist, sind sie vielsagende Eindrücke, die zu unablässiger angepasster Verarbeitung herausfordern, wie ein Teppich mit meist unauffälligem Geweben, aus dem die besonderen Muster auffälliger Eindrücke hervorstechen, etwa bei Begegnung mit einem interessanten Gesicht in Original oder Porträt, auf einer Reise, in eigenartiger Naturstimmung oder wenn einem eine Wohnung gleich kahl oder behaglich vorkommt, noch ehe man sich umgesehen hat. Jedes Ding begegnet mit einem typischen oder individuellen Charakter, der eine impressive, zuständliche Situation ist und sich mit wechselnden Gesichtern bekleidet; zur Binnendiffusion der Bedeutsamkeit dieses Charakters tragen u. a. die Protentionen bei, d. h. Sachverhalte, auf die man unwillkürlich erwartend gefasst ist, während sie sich meist erst bei Enttäuschung der Erwartung einzeln abzeichnen, ferner die (buchstäblich zahllosen) Programme von Anziehung, Abstoßung, Konvention, Prestige, Brauchbarkeit usw., die vom Normalen automatisch als Bedeutungen am Wahrgenommenen abgelesen werden, während eine Kranke, der diese Evidenz psychotisch genommen war, den »Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit« so plastisch schilderte, dass Wolfgang Blankenburg dem Fall unter diesem Titel einer Monographie widmete. Aber nicht nur die Lebenserfahrung führt auf Situationen, sondern auch die Logik. Zu den Danaergeschenken der Philosophen an die Menschheit gehört das nominalistisch-projektionistische Vorurteil, dass alles ohne weiteres einzeln ist und solchen einzelnen Individuen, Dingen, Ereignissen, Empfindungen, Elementen usw. erst nachträglich aus Interessen oder Bedürfnissen von Arten oder Personen Bedeutungen aufgeprägt werden. Einzeln ist, was eine Anzahl um eins vermehrt. Anzahlen sind Eigenschaften von Mengen. Mengen sind Umfänge von Gattungen. Also kann etwas nur als Element einer Menge und Fall einer Gattung, gleichsam unter einem Gesichtspunkt, einzeln sein, wobei nichts darauf ankommt, welche von den jeweils zur Wahl stehenden unzäh2 Georg Simmel: »Über Goethes und Kants moralische Weltanschauung«, in: Der Tag, Nr. 287 vom 21. 8. 1908.

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ligen Gattungen herangezogen wird, um etwas als Fall von etwas einzeln sein zu lassen. Das Fallsein aber ist ein Sachverhalt, und die Gattungen sind Situationen oder durch Definition aus Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit zusammengesetzt. Mag der Mathematiker oder der Jurist oder sonst jemand noch so künstlich Merkmale zu Begriffen zusammensetzen, er muss dabei Bausteine verwenden, die nur intuitiv zugänglich sind, vorbegriffliche Gattungen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, oft auch Programmen und Problemen. Niemals kommt man beim Verständnis von etwas als Fall von etwas, bei der Subsumtion, mit einzelnen Gesichtspunkten aus, unter die subsumiert wird. Dann würde sich nämlich jeder Versuch, irgend etwas Einzelnes zu finden, in einen regressus ad infinitum verlieren. Der Satz, dass etwas nur als etwas einzeln sein kann, gilt ja auch für das zweite »etwas« usw., so dass man unendlich vieles Einzelne gefunden haben müsste, um auch nur ein Einzelnes finden zu können. Also mündet jedes Finden von etwas Einzelnem, das Allergewöhnlichste im Leben, früher oder später in eine diffuse, nicht in lauter Einzelnes durchgegliederte Bedeutsamkeit, aus der das Verständnis von etwas als etwas geschöpft wird. Das kann die binnendiffuse Bedeutsamkeit einer Situation sein und ist es so gut wie immer, ohne dass dadurch ein neuer regressus ad infinitum angezettelt werden müsste. Die Ganzheit einer Situation bringt nämlich nicht notwendig auch schon Einzelheit im angegebenen Sinn (eine Menge um eins zu vermehren) mit sich. Das Gegenteil der Situation ist die Konstellation, die Vernetzung einzelner Faktoren, in deren Netzwerk die Binnendiffusion der Bedeutsamkeit aufgelöst ist. Die moderne Wissenschaft, Technik und Organisationskunst aller Sparten verbeißen sich mit wildem Eifer und bewunderungswürdigem Raffinement in die Zersetzung von Situationen in Konstellationen. So weitreichend und augenscheinlich ihre Erfolge auch sind, so sehr gleicht die Jagd dieses Konstellationismus dem scheinbaren Wettlauf des Hasen mit dem Igelpaar nach dem bekannten Märchen. Der Konstellationist gibt sich unerhörte Mühe, Situationen durch Konstellationen auszuschöpfen, und läuft an der immer gleichen Unerschöpflichkeit der Situationen auf, weil er an die einzelnen Faktoren seiner Verknüpfung nur herankommt, solange er aus diffuser Bedeutsamkeit schöpfen kann, und also nach Ausschöpfung der Situationen nichts mehr in der Hand hätte, woran er Netze knüpfen könnte. Praktisch wird dieses Dilemma z. B. in der modernen Heilkunst sichtbar, die mit glänzendem Aufwand che86 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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mischer und apparativer Medizintechnik dem kranken Menschen nachjagt und da, wo dieser nur einmal gestolpert oder gestürzt ist, große Erfolge hat, aber da, wo – bei den chronischen Leiden – Krankheit in Lebensführung übergeht, mehr oder weniger auf der Strecke bleibt. Wie aussichtslos auch immer der Triumph des radikalen Konstellationismus ist, so unentbehrlich ist für das menschliche Leben und Überleben die Übersetzung von Situationen in Konstellationen. Der »Witz«, der »springende Punkt« der Überlegenheit des Menschen über das Tier besteht in dieser Fähigkeit, aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen einzelne Sachverhalte, einzelne Programme, einzelne Probleme herauszuheben und so zu vernetzen, dass er sich ein Bild der Lage machen und diese in den Griff nehmen kann. Sein entscheidendes Werkzeug dafür ist die satzförmige Rede, wo das Tier nur durch Rufe und Schreie ganze Situationen wecken und ihre binnendiffuse Bedeutsamkeit modifizieren kann. Intelligenz ist die Fähigkeit, in origineller, nicht schematisch vorgeformter Weise die Herausforderung von Situationen zu meistern. Ich unterscheide drei Typen: leibliche, hermeneutische und analytische Intelligenz. Die leibliche Intelligenz ist den Menschen mit den Tieren gemein. Sie besteht in der Fähigkeit zur intelligenten Verarbeitung vielsagender Eindrücke ohne Explikation einzelner Bedeutungen aus der ganzheitlich-binnendiffusen Bedeutsamkeit. Ihr Meisterstück ist die spontane, originelle Rettung aus Gefahren. Zum Beleg aus dem menschlichen Leben nenne ich gern die virtuose Leistung des Autolenkers, der auf regennasser, dich befahrener Straße einem drohenden Unfall durch blitzschnelles Beschleunigen, Bremsen oder Ausweichen (je nach den Umständen) entgeht. Die hermeneutische und die analytische Intelligenz sind Menschen vorbehalten. Die hermeneutische ist der geschickten Sparsamkeit des Dichters verwandt. Sie orientiert sich an der intuitiv verstandenen Integrität von Situationen, denen sie taktvoll einzelne Bedeutungen als Leitlinien eigenen Verhaltens in der Verarbeitung vielsagender Eindrücke entnimmt. Solche Intelligenz ist unentbehrlich, wenn es um geschickte Menschenbehandlung und die Einschätzung sozialer »Großlagen« geht. Der Politiker, der Diplomat, der Demagoge, der Kaufmann, der Börsenmakler, der Vorgesetzte in Betrieben, der Arzt im Gespräch mit dem Patienten, die kluge Hausfrau usw. sind ohne gut entwickelte hermeneutische Intelligenz, ohne »Nase«, ihrer Aufgabe nicht gewachsen. Dagegen widmet sich die analytische Intelligenz der Explikation von 87 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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Bedeutungen aus der Bedeutsamkeit von Situationen und der Rekombination der Explikate ohne Respekt vor den Situationen, aus denen geschöpft wird. Ihre Domäne ist die Problemlösung. Ein schwieriges Problem ist selbst eine Situation, in der eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und partiellen Problemen durch den Problemdruck zur Lösung hin ganzheitlich zusammengehalten wird. Bei der Problemlösung springt ein einzelner Sachverhalt als Tatsache oder (bei praktischen Problemen der Lebensführung) ein einzelnes Programm als geltendes heraus, und der ganze Rest der Situation wird weggeworfen. Analytische Intelligenz arbeitet an Konstellationen, teils (etwa in der reinen Mathematik) ohne Rücksicht auf Situationen (deren binnendiffuse Bedeutsamkeit im eigenen Denken des entwerfenden Mathematikers allerdings eine ganz erhebliche Rolle spielt), teils mit mehr oder weniger vage vorschwebender Aufgabe, die zu konstruierende Konstellation als ein Modell für aus dem Leben geschöpfte Situationen diesen anzupassen, wobei die Anpassung einer nicht mehr analytisch, sondern eher hermeneutisch intelligenten Anwendung überlassen bleibt. Die Spur der Leistungen hermeneutischer Intelligenz in den Wissenschaften verfolgt seit dem 19. Jahrhundert eine unscharf profilierte spezielle Erkenntnistheorie, die Hermeneutik. Sie beschäftigte sich lange nur mit der Kunst der Auslegung von (z. B. religiösen und juristischen) Texten, wurde aber von Heidegger ausgeweitet zu einer »Hermeneutik der Faktizität« – Untertitel seiner im Sommer 1923 gehaltenen Vorlesung 3 – und »Phänomenologie des Daseins« als »Hermeneutik in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes«, wovon die »Methodologie der historischen Geisteswissenschaften« denselben Namen nur »abgeleiteterweise« habe. 4 Hermeneutik der Faktizität wäre in meiner Sprache das Programm, Erkenntnis nicht mehr wie Kant als zusammensetzende, synthetische Leistung im Sinne des Konstellationismus zu verstehen, sondern als Explikation von Bedeutungen, speziell Tatsachen, aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen. Die Hermeneutik Gadamers vermengt unklar beide Sinngebungen, indem sie als Modell ihres Gegenstandes die Geschichte der Auslegung von Texten wählt, damit aber einen allgemeineren Anspruch verbindet, der sich nur mit der Hermeneutik der 3 Martin Heidegger: Ontologie (Hermeneutik der Faktizität) (Gesamtausgabe Bd. 63. Hrsg. v. Käte Bröcker-Oltmanns). Frankfurt am Main 1988. 4 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Halle 1927. S. 37 f.

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Faktizität oder des Daseins nach Heidegger belegen ließe. Eine Vermengung solcher Art liegt auch dem schon vor Heidegger und Gadamer etablierten Leitbild des hermeneutischen Zirkels zugrunde, das gleichsam zum Schlüsselmotiv der Hermeneutik erhoben worden ist. Der Sache nach handelt es sich darum, dass die hermeneutisch verstandene Erkenntnis an Situationen Maß nimmt und im Bemühen um angepasste Explikation ihrer binnendiffusen Bedeutsamkeit gleichsam im Zwiegespräch mit ihnen bleibt. So ist etwa das geschichtliche Verstehen die Leistung, die z. B. einem Alten versagt bleibt, der die Jugend von heute nicht mehr verstehen kann, d. h. das Erfassen zuständlichen Situationen, deren ganzheitlich-binnendiffuse Bedeutsamkeit Menschen oder Menschengruppen dazu treibt, gewisse Sachverhalte, Programme und Probleme wichtig zu nehmen und sich darauf einzustellen, andere dagegen, so nahe sie auch zu liegen scheinen, außer Acht zu lassen oder an den Rand zu schieben. Zugleich expliziert der Interpret mit seinem geschichtlichen Verstehen etwas aus zuständlichen Situationen, in denen er selbst befangen ist, und übersieht anderes, das ihm durch diese Situationen verstellt wird. Ein Zirkel ist solche Verschränkung von Situation und Explikation aber nicht. Zirkel gibt es nur im Verhältnis einzelner, expliziter Bedeutungen, wenn nämlich eine Behauptung erst vorausgesetzt und dann noch bewiesen wird oder wenn ein Begriff so eingeführt wird, dass die Einführung das Verständnis für das, was eingeführt werden soll, schon voraussetzt. Das Leitbild des Textes, der aus einer Kette sprachlicher Darstellungen einzelner Sachverhalte, Programme oder Probleme besteht, gibt Anlass zur irreführenden Übertragung des Zirkelbegriffs auf ein dialogisches Verhältnis, das mit der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen zu tun hat. Gewiss kommt die Auslegung von Texten nicht ohne expliziten oder impliziten Bezug auf solche binnendiffuse Bedeutsamkeit aus, aber die Methodologie der historischen Geisteswissenschaften ist, wie Heidegger richtig gesehen hat, für die Hermeneutik als allgemeine Theorie erkennender Bezüge solcher Art nur ein nachgeordneter Spezialfall und mit ihrem Modell des literarischen Textes nicht in der Lage, dieser Theorie den Leitfaden zu liefern.

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7. Konstruktive und explikative Vernunft

Dilthey ist ein verschwommener, aber durch große Ahnungen fruchtbarer Denker. Zu seinen wichtigsten Errungenschaften gehört der Begriff der Bedeutsamkeit, die er als Lebensbezug dem Kantianismus seiner Zeit entgegenhält, um den Satz zu vertreten: Hinter das Leben kann das Denken nicht zurückgehen. 1 Wenn man diesen Keim in durchsichtiger Theoriebildung entfaltet, ergeben sich zwei Stämme, die sich zwar ergänzen, aber in der Geschichte des neuen Begriffes seit Dilthey auch verwirren, in meiner Ausdrucksweise: die Themenbereiche von Subjektivität und Situation. Subjektivität ist hier nicht mein Thema, doch muss ich kurz skizzieren, was ich meine. Ich denke nicht an die Subjektivität von Subjekten, sondern an die Subjektivität von Tatsachen, allgemeiner von – auch untatsächlichen – Sachverhalten, dass etwas sich so und so verhält. Tatsachen gelten als objektiv und damit als neutral, so dass es nicht darauf ankommt, wer sie aussagt, sondern jeder das kann, wenn er genug weiß und gut genug sprechen kann. Bei manchen Programmen und Problemen, z. B. Wünschen und Sorgen in eigener Sache, wird man dagegen zugeben, dass sie auf den Betroffenen so zugeschnitten sind, dass nur er sie aussagen kann, während, wenn ein Anderer die Aussage übernimmt, bloß noch ein neutralisiertes Programm oder Problem übrig bleibt, dem die Dringlichkeit des Wunsches und der Sorge abhanden gekommen ist. Ich habe nun gezeigt, dass solche Zugeschnittenheit auf jemand auch bei Tatsachen, bloß als Sachverhalten – noch unabhängig von der Tatsächlichkeit –, vorkommt und sogar zur Vollform der Sachverhaltlichkeit gehört, so dass Objektivität oder Neutralität im angegebenen Sinn ein bloßes Rudiment der Subjektivität von Sachverhalten, und damit von Tatsachen, für jemand ist; weiter habe ich gezeigt, dass wider Erwarten keineswegs ein Jemand als eine Sache 1 Näheres bei Hermann Schmitz: Hegels Logik. Bonn 1992, S. 368–373 (Kapitel »Dilthey«).

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mit Eigenschaften für solche Subjektivität vorausgesetzt ist, wohl aber umgekehrt Subjekte nur durch Subjektivität von Tatsachen möglich sind. 2 Jetzt will ich nur einen Seitenblick auf die Beweisidee für das Vorkommen subjektiver Tatsachen werfen. Wenn ich sage, dass ich traurig bin, und ein Anderer denselben Sachverhalt (nicht bloß benennen und besprechen, sondern selbst) aussagen will, dann kann ich mich in das, was er bestenfalls davon aussagen kann, nur mühsam mit einer gedanklichen Verrenkung hineindenken, indem ich mir etwa vorspreche »Hermann Schmitz ist traurig« und aus dem Sinn dieses Ausspruchs willkürlich die mir bekannte Tatsache fernhalte, dass ich Hermann Schmitz bin; dann fehlt in diesem Sinn aber gerade jene Dringlichkeit, die ich an Wünschen und Sorgen in eigener Sache eben als deren Subjektivität bezeichnet habe, und es ist also nur ein anderer, durch Neutralisierung verarmter Sachverhalt übrig geblieben. Wenn ich wirklich traurig bin, ist der volle, unverkürzte Sachverhalt dann also eine subjektive Tatsache. Allgemein schöpfen Sachverhalte ihre Subjektivität aus dem affektiven Betroffensein. Das ist nach der Seite der Subjektivität eine gute Deutung für das, was Dilthey gemeint haben dürfte, als er die Bedeutsamkeit als Lebensbezug gegen den mit der Naturwissenschaft verbündeten Kantianismus seiner Zeit, der wie Kant nur objektive oder neutrale Tatsachen gelten ließ, ausspielte und betonte, dass diese Bedeutsamkeit »kein intellektuelles Verhältnis« sei 3; man kann dies als Andeutung des ursprünglichen Sitzes von Sachverhalten, Programmen und Problemen im dringlichen, gleichsam vollblütigen Leben mit affektivem Betroffensein vor dem davon abstrahierenden intellektuellen Objektivieren verstehen. Die andere Entfaltungsrichtung der Konzeption, die Dilthey mit dem Wort »Bedeutsamkeit« verbindet, dient der Abwehr eines Subjektivismus, der sehr verbreitet, aber das Gegenteil meiner Idee von Subjektivität und mit dieser unverträglich ist. Dilthey spricht diese andere Tendenz in demselben Satz an, von dem ich Ausschnitte bisher als Andeutungen dieser meiner Idee zitiert habe: »Die Bedeutsamkeit, die so die Tatsache empfängt als die Bestimmtheit des Be-

Eine Darstellung dieser Ergebnisse steht in ders: Husserl und Heidegger. Bonn 1996, S. 1–33; weiterhin vgl. ders.: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. Bonn 1994, S. 108 f. und 113 sowie ferner ders.: Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie. Berlin 1997, S. 47–49. 3 Vgl. zu diesem Dilthey-Zitat Hermann Schmitz: Hegels Logik. A. a. O., S. 369. 2

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deutungsgliedes aus dem Ganzen, ist ein Lebensbezug und kein intellektuelles Verhältnis, kein Hineinlegen von Vernunft, von Gedanke in den Teil des Geschehnisses.« 4 Die Denkweise, gegen die er sich mit dem negativen Satzteil wendet, ist der Projektionismus: In eine objektive, dem Menschen gegenüber gleichgültige, lebendiger Bedeutsamkeit für ihn von sich aus bare Welt werden demnach von einem Subjekt, das sich dieser Welt gegenüberstellt, Bedeutungen hineinprojiziert, die aus seinen Bedürfnissen resultieren. Die biologische, auf Tierspezies bezogene Umweltlehre Jakob von Uexkülls hat diesem Projektionismus im Anfang des 20. Jahrhunderts mächtigen Vorschub geleistet, z. B. bei Scheler und meinem Lehrer Erich Rothacker, der in diesem Sinn einen »Satz der Bedeutsamkeit« formulierte. 5 Die einflussreichste Verbreitung, die der Begriff der Bedeutsamkeit in der Philosophie des 20. Jahrhunderts gefunden hat, nämlich seine Verwendung in Heideggers Buch »Sein und Zeit«, ist von solchem Projektionismus infiziert. Heidegger versteht, was er »die Welt« nennt, als ein »Ganzes von Bedeutsamkeit«, die von »Verweisungsbezügen« gebildet wird 6, die Verweisungen auf die eigenen Möglichkeiten des »Dasein« genannten Menschen sind; dieses Dasein ist seine Möglichkeiten, setzt aber »das faktische Vorhandensein der Natur« voraus 7, so dass Heidegger der realistischen Meinung ist: »Der Kosmos kann sein, ohne dass Menschen eine Erde bewohnen, und vermutlich war der Kosmos längst bevor je Menschen existierten.« 8 Die Bedeutsamkeit wird demnach mit dem Menschen als eine auf dessen Möglichkeiten und Bedürfnisse zugespitzte Organisation von Verweisungen einem längst vorhandenen Kosmos nachträglich aufgeprägt. Mit dem Projektionismus von Uexkülls hat dieses Konzept nahe Verwandtschaft. Die Bedeutsamkeit gilt hier als sekundär und hintergehbar vom Denken, das einen ihr vorausliegenden uralten Kosmos ins Auge fasst. Das widerspricht der Konzeption Diltheys, wonach die BedeutWilhelm Dilthey: »Ausarbeitungen zum zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften. Viertes bis sechstes Buch«, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. XIX. Hrsg. v. Helmut Johach, Frithjof Rodi. Göttingen 1982, S. 58–295, hier S. 240. 5 Erich Rothacker: Probleme der Kulturanthropologie. Bonn 1948, S. 171–174, dort zu Uexküll S. 157–162. 6 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Halle 1941, S. 151. 7 Martin Heidegger: Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz (Gesamtausgabe Bd. 26. Hrsg. v. Klaus Held). Frankfurt 1990, S. 199. 8 Ebd., S. 216. 4

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samkeit ein Lebensbezug ist und das Denken hinter das Leben nicht zurückgehen kann. Es widerspricht ebenso meiner These, dass Subjektivität die Urform der Tatsächlichkeit ist und dass somit alle objektiven Tatsachen, die eine der aus affektivem Betroffensein geschöpften vollblütigen Bedeutsamkeit vorangehende neutrale Welt konstituieren könnten, vielmehr abgeblasste Rückstände subjektiver Tatsachen sind. Die Bedeutsamkeit ist primär. Um diese These mit phänomenologischem Gehalt zu füllen, habe ich meinen Begriff der Situation entworfen und nach vielen Seiten zur Beleuchtung der Lebenserfahrung benützt. Wesentlich für Situationen in meinem Sinn ist so etwas wie eine Aura, ein Hof oder Hintergrund von Bedeutsamkeit. Ebenso gut könnte ich von einem Kern sprechen, um die zentrale Wichtigkeit der Bedeutsamkeit für Situationen plastisch zu machen, aber davon hält mich ab, dass ein Kern fest ist, während ich mit den Metaphern von Hof und Hintergrund auf etwas hinweisen möchte, das im Inneren mehr oder weniger diffus, aber zusammenhängend, nach außen jedoch abgehoben oder geschlossen ist. Es handelt sich um Mannigfaltiges, in dem nicht durchgängig – im Extremfall sogar überhaupt nicht – darüber entschieden ist, was darin womit identisch und wovon verschieden ist, so dass es nicht aus lauter Einzelnem besteht und insgesamt keiner Anzahl fähig ist. Terminologisch spreche ich dann von chaotischem Mannigfaltigem. Der Hof der Bedeutsamkeit einer Situation ist also ein ganzheitliches, d. h. in sich zusammenhängendes und nach außen abgehobenes, chaotisches Mannigfaltiges von bedeutsamen Entitäten. Was sind nun diese Etwasse oder Entitäten, worin besteht ihre Bedeutsamkeit? Hier unterscheide ich mich von älteren Autoren, die das Wort gebraucht haben. Sie verwenden, soviel ich sehe, sämtlich einen relationalen Begriff von Bedeutsamkeit, im Sinne der Bedeutsamkeit von etwas für etwas. Dilthey spricht von der Bedeutsamkeit von Teilen für ein Ganzes, Heidegger von Bedeutsamkeit für die Möglichkeiten des Menschen, auf die hin etwas ihm als bedeutsam begegnet. Mein Begriff der Bedeutsamkeit ist dagegen absolut und richtet sich nach dem Grundsatz: »Bedeutsam ist, was etwas zu sagen hat.« (In dem Sinn, wie wir nach einer merkwürdigen Begegnung oder auf einen sinnigen Witz hin meinen können: »Das hat etwas zu sagen, hat etwas zu bedeuten.«) Was etwas zu sagen hat, sind nach meiner Auflistung Sachverhalte, Programme und Probleme. Sachverhalte können in Aussagesätzen, Probleme in Fragesätzen formuliert werden; für Programme gibt es viele, aber zerstreute 93 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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grammatische Formulierungsarten, z. B. Imperative und Optative. Programme sind Zumutungen, denen man sich fügen kann, namentlich Normen, d. h. Programme für möglichen Gehorsam, oder Wünsche, d. h. Verpfändungen des affektiven Betroffenseins an einen Sachverhalt, so dass dessen Realisierung zur Tatsache dem Wünschenden lustvoll nahegeht, Ausbleiben der Realisierung dagegen leidvoll. Sachverhalte, Programme und Probleme kommen sprachfrei vor: Sachverhalte z. B. als subjektive Tatsachen des affektiven Betroffenseins bei Wesen, die überhaupt nicht sprechen können, Programme als die meist unberedeten, oft unauffälligen Aufforderungscharaktere der Brauchbarkeit, des Prestiges, des Gehörigen, der Anziehung und Abstoßung usw., die die an Dingen wahrgenommen werden und wie ein Netzwerk beim Umgang mit ihnen und in allen sozialen Bezügen für Orientierung sorgen, Probleme z. B. als die undurchschauten Konflikte in spannungsvollen, neurotischen Persönlichkeiten. Sachverhalte, Programme und Probleme bilden den Hof der Bedeutsamkeit einer Situation, wenn sie zu chaotisch-mannigfaltiger Ganzheit integriert sind; dafür genügen schon Sachverhalte, aber diese sind auch obligat, da Programme und Probleme stets Sachverhalte als programmierte bzw. problematische mit sich bringen, wie der Zweck das Bezweckte, der Wunsch das Erwünschte, die Sorge das Ersorgte. Der Hof der Bedeutsamkeit kann das Ganze einer Situation ausmachen; es können aber auch beliebige andere Gegenstände dazu gehören, namentlich Atmosphären des Gefühls, die in vielen Fällen einer Situation das Gepräge geben, in anderen aber fehlen können. Situationen der nächstliegenden Art, die schon im Alltag – und abhängig von meiner erklügelten Begriffsbildung – so genannt werden, sind die aktuellen Situationen, d. h. solche, deren Zustand und Entwicklung beliebige Auflösung durch Querschnitte in der Zeit zulässt. Ein gern von mir angeführtes Beispiel ist die Gefahrensituation, in der ein Autofahrer sich einem drohenden Unfall nur durch augenblickliches Ausweichen, Bremsen oder Beschleunigen entziehen kann. Er hat dann keine Zeit zur Analyse und Überlegung, sondern muss die relevanten Sachverhalte auf der Straße vor, neben und hinter sich, die mannigfachen ihm als Probleme (auch bei ungeschicktem Ausweichen) drohenden Gefahren und die Programme möglicher Rettung auf einen Schlag als aktuelle Situation im angegebenen Sinn erfassen und auch schon mit Händen und Füßen zweckmäßig beantworten. Diese Situation ist nicht nur eine aktuelle, sondern auch eine impressive oder ein (vielsagender) Eindruck, d. h. eine Situation, die 94 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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(mitsamt ihrem unauflöslichen, chaotisch-mannigfaltigen Hintergrund der Bedeutsamkeit) in einem Augenblick ganz zum Vorschein kommt. Andere Situationen sind aktuell, ohne impressiv zu sein; das gilt für die meisten sozialen Situationen, z. B. Gespräche, oder auch für Probleme, an denen jemand grübelt, wobei sich ihm von einem undurchschaubaren, durch den Problemdruck zur Lösung hin zusammengehaltenen, im Inneren diffusen Ganzen von Sachverhalten und Programmen immer nur Segmente darbieten. Es gibt aber auch impressive Situationen, die nicht aktuell sind. Jedes Ding, z. B. ein Mensch, begegnet mit einem individuellen oder typischen Charakter, der sich im Wandel seiner Gesichter – z. B. bei Annäherung und Entfernung – durchhält und den man im Allgemeinen sofort prägnant und ganzheitlich als Eindruck erfasst. Dieser Charakter, den das Ding bei überraschendem Umschlag der Auffassung auch wechseln kann, ist eine Situation, in deren Hof der Bedeutsamkeit Sachverhalte als Protentionen vorkommen, d. h. als Sachverhalte, auf die man unwillkürlich erwartend gefasst ist, während sie sich meist erst bei Überraschung und Enttäuschung einzeln abzeichnen, Programme als die erwähnten anschaulichen Aufforderungscharaktere, Probleme vielleicht als Rätsel, als Gefahren, als etwas, das unsicher macht. Der Charakter, der sich in wechselnde Gesichter des Dinges kleidet, ist nicht wie diese eine aktuelle Situation; ob er gleich bleibt, merkt man, wenn er nicht gerade überraschend umschlägt, erst nach Ablauf einer gewissen Zeit. Solche Situationen, deren Verlauf nicht durch beliebig dicht gesetzte Querschnitte aufgelöst werden kann, bezeichne ich als zuständliche. Sie können, ebenso wie die aktuellen Situationen, impressiv sein (wie der Charakter eines Dinges oder das »Bild«, das man sich von einem Menschen macht, den man gut zu kennen glaubt), oder segmentiert. Segmentiert sind Situationen, die nicht die Fähigkeit haben, in einem Augenblick ganz zum Vorschein zu kommen; das klarste Beispiel dafür liefert eine Sprache, die jemand beherrscht. Dazu kommen die übrigen zuständlichen Situationen, die gemeinsam in der Weise sind, dass ein Mensch oder Tier darin in seiner Sicht mit anderen zusammengehört oder zusammengehören kann, und die kommunikativen Kompetenzen dafür. Ich habe die Liebe, sowohl als geschlechtliche Paarliebe wie auch als Gruppenliebe in der Familie und in der Gemeinde, in diesem Sinn charakterisiert. 9 Segmentierte Situationen können unter Umständen in einem Eindruck, der sie 9

Hermann Schmitz: Die Liebe. Bonn 1993, S. 63–100.

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zwar nicht ganz zum Vorschein bringt, aber bis zur Unverwechselbarkeit markiert und aufscheinen lässt, wie im Plakat zusammengezogen werden; an einer gewissen Konzeption Heideggers, der zeitweise Wahrheit in diesem Sinn, aber ohne meine Begriffe, als Zusammenziehung segmentierter Situationen zu Eindrücken (z. B. in der Kunst und im politischen Leben) verstehen wollte, habe ich diese Möglichkeit als die von mir so genannte Plakat-Wahrheit herausgearbeitet. 10 Ganz besonders bewährt sich der Situationsbegriff an einer zuständlichen, segmentierten Situation, die nicht gemeinsam ist, nämlich an der von mir eingehend studierten persönlichen Situation 11, die gewöhnlich als die Persönlichkeit eines Menschen bezeichnet wird und von den Philosophen zur sogenannten Seele verformt worden ist. 12 Sie schließt unzählig viele, aber den Typen nach überschaubare, Situationen in sich und ist in viele gemeinsame Situationen eingebettet; dazu wird sie, anders als die sprödere Seele, durch die chaotische Mannigfaltigkeit ihres Hofes der Bedeutsamkeit befähigt. Die einbettenden gemeinsamen Situationen sind teils includierende oder bloß Rahmen gebende, aus denen die Persönlichkeit ohne wesentliche Verluste herausgezogen werden kann, z. B. Konventionen oder beherrschte Fremdsprachen; zum anderen Teil sind sie implantierende, einpflanzende Situationen, aus denen die persönliche Situation hervorwächst oder in die sie hineinwächst, indem sie darin solche Wurzeln schlägt, dass sie, wenn sie sich ihnen entreißt, versehrt wird. Die menschliche Intelligenz, deren für ein Milieu spezifischer, darin verwurzelter und habituell gewordener Stil hier als (entsprechend beschaffene) Vernunft bezeichnet sei, besteht in erster Linie, auf dem Grunde aller kombinatorischen Leistungen, im Explizieren von Situationen, d. h. im Abruf einzelner Sachverhalte, Programme und Probleme aus dem chaotisch-mannigfaltigen Hof der Bedeutsamkeit einer Situation. Die Sprache gewinnt ihre Eigenart als Menschensprache aus dieser explikativen Redefunktion. Man hat die Anfänge kindlichen Sprechens als Produktion von »Einwortsätzen«, die sich in lakonischer Form schon auf einzelne Sachverhalte oder Programme beziehen würden, oder von »empty forms«, die nichts Ders.: Husserl und Heidegger. A. a. O., S. 473–503. Ders.: System der Philosophie. Bd. IV: Die Person. Freiburg, München 2019, S. 287–473. 12 Ders.: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O., S. 189–196. 10 11

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bedeuten 13, ausgegeben; beides dürfte falsch sein. Die frühesten Sprachäußerungen des Kindes bestehen eher in einem Ansprechen von Situationen, aus deren Bedeutsamkeit noch nichts fixierbar Einzelnes herausgeholt wird, ähnlich wie beim Erwachsenen durch Interjektionen wie »Ach«, »Oh!« und »hm«. 14 In dieser Weise sprechen die Tiere, deren Lautäußerungen weder als Mitteilung einzelner Sachverhalte und Programme noch als Kundgabe ihres Seelenzustandes verstanden werden sollte. Kundgabe als fundamentale Redefunktion neben Darstellung und Appell gemäß dem sogenannten Organon-Modell der Sprache von Karl Bühler 15 gibt es so wenig wie die »kundgegebenen psychischen Erlebnisse«, denen nach Husserl diese »kundgebende Funktion der sprachlichen Ausdrücke« entsprechen soll. 16 Redende Kundgabe im Gegensatz zum Besprechen von etwas ist beim Menschen ein ganzheitliches Ansprechen von Situationen, unter denen sich auch Situationen in der persönlichen Situation befinden können. Entsprechend mobilisieren Tiere einander durch Laute, indem sie durch solches Ansprechen gemeinsame Situationen »aufheizen«, deren chaotisch-mannigfaltiger Gehalt an Programmen dem Verhalten die Richtung gibt; wie lange es dauern kann, dabei die nötige Eindeutigkeit zu erzielen, macht ein Bericht von Konrad Lorenz deutlich, den ich als schönes Beispiel für das auch bei Menschen spontan vorkommende »chorische Sprechen« im Sinne von Ammann angeführt habe. 17 Was Menschen redend den Tieren voraushaben, ist gerade nur die explikative Redefunktion, aus der chaotisch-mannigfaltigen Bedeutsamkeit von Situationen einzelne Sachverhalte, einzelne Programme, einzelne Probleme herauszuheben. Dadurch können sie sich Rechenschaft davon geben, worauf es in einer Situation ankommt, sich ein »Bild der Lage« machen und das Heft in die Hand nehmen, um mit den Tieren wie mit anderen Umständen nach Belieben zu verfahren. Wenn Tiere wie Menschen Situationen explizieren So aber Laurence B. Leonhard: Meaning in Child Language. New York, San Francisco, London 1976, S. 50, 52, 157. 14 Vgl. Hermann Schmitz: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O., S. 283. 15 Karl Bühler: »Kritische Musterung der neueren Theorien des Satzes« (1918), zitiert nach: Hans Arens: Sprachwissenschaft. Freiburg, München 1955, S. 446: »Dreifach ist die Leistung der menschlichen Sprache: Kundgabe, Auslösung und Darstellung.« 16 Edmund Husserl: Logische Untersuchungen. Bd. 2., Teil 1. Halle 1928, S. 33. 17 Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. V: Die Aufhebung der Gegenwart. Freiburg, München 2019, S. 115. 13

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könnten, würden sie eine der menschlichen Rede ebenbürtige (vielleicht nicht stimmliche) Rede entwickeln und ihre Interessen so energisch vertreten, dass sie von der politischen Willensbildung nicht ausgeschlossen werden könnten. Situationen, speziell Eindrücke, sind die natürlichen Einheiten der Wahrnehmung ohne Sonderung des Wahrnehmenden vom Wahrgenommenen. Wenn man z. B. sieht, wie sich eine wuchtige Masse drohend nähert, springt man nach Möglichkeit geschickt zur Seite oder dreht den Kopf weg und bringt sich damit unter günstigen Umständen vor dem drohenden Stoß in Sicherheit. Das gelingt, weil man im Sehen mehr wahrnimmt, als man sieht, da man bei einer solchen Begegnung den eigenen Körper nicht zu sehen pflegt, erst recht nicht den eigenen spürbaren Leib, der aber mit dem Wahrgenommenen über den Kanal des Blickes so zusammengeschlossen ist, dass er damit ohne Pause abgestimmt in einer Situation zusammenwirken kann, deren Gehalt an Problemen (des drohenden Zusammenstoßes) und Programmen (möglicher Rettung) ganzheitlich, ohne Überlegung und Explikation, bemerkt wird. Das gelingt beim Tier ebenso wie beim Menschen. Die europäische Intellektualkultur hat dieses ganzheitliche Gefüge der Wahrnehmung zerrissen. Mit einer für Jahrtausende bis zur Gegenwart maßgeblichen Entschiedenheit hat sie dieses Werk durch die Klassifikation der Wahrnehmungsgegenstände bei Aristoteles vollbracht. 18 Er lässt als solche im eigentlichen Sinn nur zwei Sorten von Qualitäten gelten, nämlich die einzelsinnlichen oder spezifischen und die gemeinsinnlichen, die später als sekundäre bzw. primäre Sinnesqualitäten bezeichnet wurden; daneben kommen Sachverhalte gegenständlicher Deutung von der Art, dass dieser weiße Fleck da ein gewisser Bekannter ist, für Aristoteles nur im uneigentlichen Sinn (per accidens) als wahrgenommen in Betracht. Neben isolierten, primitiven Merkmalen, die weitgehend auf sogenannten Empfindungen – ein täuschender Ausdruck – reduziert werden können, gelangen bemerkbare Sachverhalte somit in eine bei der Wahrnehmung kaum noch geduldete Randstellung, und von den in der Tat wahrgenommenen Situationen, aus denen sie expliziert sind, ist überhaupt keine Rede. In der Folge versteigt sich Goethe zu der Behauptung, »daß das Auge keine Form sehe, indem hell, dunkel und Farbe allein dasjenige ausmachen, was den Gegenstand vom Gegenstand, die Teile des Gegenstandes voneinander, fürs 18

Aristoteles: De anima. II.6, 418a7–25.

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Auge unterscheidet.« 19 Dagegen sage ich: Es gibt gar keine solchen ausschließlich einzelnen Sinnesorganen zugeordneten Qualitäten, sondern Farben, Schälle, Gerüche usw. sind immer besetzt mit Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charakteren, die ich als die für normale Wahrnehmung maßgeblichen Brückenqualitäten zwischen dem gegenständlich Wahrgenommenen und dem eigenleiblich Gespürten vielfach nachgewiesen habe. 20 Sie sind besonders einfach an Bewegungen, etwa an Gebärden, und an der Musik nachzuweisen. Das Zeigen mit dem Finger auf einen nahen Menschen gilt als unschicklich, weil die knappe Bewegung mit einer weit darüber hinausgehenden Bewegungssuggestion, die ihn wie ein Dolch durchbohrt, beladen ist, erst recht, wenn von allen Seiten Finger auf ihn zeigen. Musik suggeriert nicht nur als Tanz- oder Marschmusik Bewegungen und ist als klassische Musik ein Spiel halbdinglicher Bewegungssuggestionen im Medium der Töne, sondern auch diese Töne als hohe und tiefe, die die Alten »spitze« bzw. »schwere« nannten, haben mit solchen synästhetischen Massencharakteren zusammen Bewegungssuggestionen, die bei tiefen Tönen locker, schleppend, weiträumig ausladend, bei hohen aber kompakt und eng zusammenfassend klingen. Sogar die einprägsame, tiefe Stille, bar aller Sinnesqualitäten, hat synästhetische Charaktere von Weite, Gewicht und Dichte. Bei den Farben unterscheiden sich z. B. Rot und Blau durch synästhetische Charakter des Warmen und Kühlen sowie durch Bewegungssuggestionen des Zudringlichen und sich Entziehenden. Bloße Farben, bloße Töne sind fiktive Konstruktionsprodukte. Vielmehr sorgt die leibliche Kommunikation 21, die durch solche Brückenqualitäten vermittelt wird, auch angesichts von Farben und Tönen für die Zündung von Situationen, die einen Subjekt und Objekt übergreifenden Hof der Bedeutsamkeit besitzen, oft geladen mit Atmosphären des Gefühls. Die dominante europäische Intellektualkultur hat diese Befunde ignoriert und ihre Begriffsbildung bei abgeschliffenen Merkmalen nach Art primärer und sekundärer Sinnesqualitäten angesetzt, wobei darauf geachtet wurde, dass diese Abstraktionsbasis bequem intersubjektiv und intermomentan identifizierbar, manipulierbar und Johann Wolfgang von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. Tübingen 1810 (dort vor allem die Einleitung). 20 Vgl. besonders Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. III/5: Die Wahrnehmung. Freiburg, München 2019, S. 37–69 und ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie. Bonn 1995, S. 141–147. 21 Vgl. ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O., S. 135–153. 19

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quantifizierbar blieb, so dass sie sich für Messung, Statistik und Experiment eignete, im günstigsten Fall für numerische Behandlung mit Zahlen als Messwerten an Stelle der Merkmale selbst. Die verdrängten Situationen wurden durch Substanzen als erdachte Träger der Merkmale ersetzt, so dass sich eine dreistufige Ontologie mit Substanzen, Akzidenzen und nachträglich verknüpfenden Relationen ergab; sie wurde seit Hume und in der Physik seit Mach und Einstein durch eine zweistufige Ontologie aus Ereignissen und Relationen ersetzt. 22 Das Denken, das sich daraus ergibt, hat den Stil einer konstruktiven Vernunft. Ich verstehe darunter ein Denken, in dessen Begriffsbildung Situationen im Sinne des von mir angegebenen Begriffs nicht eingehen, da sie durch Konstruktion von Konstellationen aus abgeschliffenen Merkmalen ersetzt werden. Bezeichnend ist dafür das Buchstabengleichnis, das bei Platon eine große Rolle spielt, in den überlieferten Schriften des Aristoteles aber bemerkenswerter Weise nicht verwendet wird und dann bei Mach, und in der neuesten Wissenschaft etwa bei Entzifferung des genetischen Codes, wieder beherrschend hervortritt 23: Die Welt wird wie ein Buch, bestehend aus nach Art der alten Schrift unverbunden und fortlaufend gereihten Großbuchstaben, deren Name im Griechischen und im Lateinischen so viel wie »elementarer Teil« bedeutet, so vorgestellt, dass Erkenntnis im rekonstruierenden Ablesen der Folge besteht. Konstellation ist in meiner Ausdrucksweise das Gegenteil von Situation. Die konstruktive Vernunft ersetzt durch Konstruktion von Konstellationen primitiver Elemente, was die explikative Vernunft der primären Bedeutsamkeit von Situationen abgewinnt, indem sie vollständige Eindrücke zu Typen stilisiert und diese dann gleichfalls konstruktiv und klassifikatorisch einsetzt. Ein gutes Beispiel für Konfrontation beider Vernunftarten ist die Gegenüberstellung platonischer und aristotelischer Ethik. 24 Beide Denker weisen der Tugend ihren Platz in der Mitte einer Dimension an, an deren Enden Extreme von Übermaß und Mangel an etwas stehen. Die Bestimmung dieser Mitte überträgt Platon einer wissenschaftlichen Messkunst, deren Besitz den Staatsmann zur unbeschränkten Befehlsgewalt bei Erfüllung seiVgl. ders.: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O., S. 17–26. Vgl. ders.: Die Ideenlehre des Aristoteles. Bd. I/2: Aristoteles. Ontologie, Noologie, Theologie. Bonn 1985, S. 28 f. und die übrigen dort und in Band II (ders.: Die Ideenlehre des Aristoteles. Bd. 2: Platon und Aristoteles. Bonn 1985) im Sachregister notierten Stellen. 24 Vgl. ders.: Die Ideenlehre des Aristoteles. Bd. 2. A. a. O., S. 433–437. 22 23

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ner Aufgabe befugt, die darin besteht, durch Erziehung und Heiratsplanung sanfte und forsche Temperamente in der richtigen Mitte zusammenzusetzen. Beide Extreme sind für ihn an sich starr und nur durch die mit genauen Maßen mischende Kunst des Staatsmanns synthetisch vereinbar. Aristoteles geht dagegen davon aus, dass die Tugend in lockerem Rhythmus nach den Seiten schwingen kann, ohne das Gleichgewicht des Schönen und Edlen zu verlieren, während die Menschen, die dieser selbstsicheren Mitte nicht habhaft geworden sind, dazu neigen, unvermittelt aus einem Extrem ins andere zu fallen. Demgemäß hat er zur Bestimmung der richtigen Mitte keine genau dosierende und berechnende Messkunst in Aussicht, sondern die Treffsicherheit einer intuitiven, an praktischer Gewöhnung und dem Umgang mit Erfahrenen geschulten Klugheit, die er als Wahrnehmung und Geist im alten Sinn des Wortes »νοῦς« – nicht von übersinnlichem Vermögen, sondern von Bemerken, was los ist, bei Wahrnehmung der Bedeutsamkeit von Situationen nach Art der vorhin beschriebenen Situation des Autofahrers in Unfallgefahr – bestimmt. Derselbe Aristoteles, der in »de anima« den Reduktionismus der Wahrnehmungslehre entscheidend vorwärts bringt, fasst in der »Nikomachischen Ethik« die Wahrnehmung wie Homer und Empedokles als unreduziertes Bemerken auf. Die einseitig konstruktive Vernunft kommt in der europäischen Intellektualkultur mit Descartes und Leibniz zum Sieg. Descartes reduziert durch die analytische Geometrie das geometrische Denken auf numerische Verfahren und entwickelt die resolutiv-konstruktive Methode, komplexe Probleme durch Reduktion des thematischen Materials auf einfache Bausteine und deren geeignete Zusammensetzung zu lösen. Leibniz greift die von Descartes skizzierte Utopie einer mathesis universalis auf und baut sie aus zum Projekt einer characteristica universalis, die dazu bestimmt ist, einen Schlüssel zur Lösung aller wissenschaftlichen – sogar der theologischen – Probleme durch Berechnung zu liefern. Es ist bezeichnend, dass beide Denker Nominalisten im weitesten Sinn 25 sind. Der Nominalismus verwirft alle allgemeinen Gegenstände, alle Gattungen und Arten, und nimmt eine Welt aus lauter Einzelobjekten an, die ohne Weiteres da und Vgl. ders.: System der Philosophie. Bd. IV. A. a. O., S. 223 und Gottfried Wilhelm Leibniz: Nouveaux Essais sur l’entendement humain. Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Bd. 2. Hrsg. v. Wolfgang Engelhardt, Hans Heinz Holz. Frankfurt 1961, Buch 3, Kapitel 3, § 11 (S. 48 f.).

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zur Identifizierung bereit sind. Solche Einzelwesen können die primitiven Entitäten sein, aus denen die konstruktive Vernunft Konstellationen baut, statt primäre Bedeutsamkeit aus Situationen zu schöpfen. So ermutigt der Nominalismus die konstruktive Vernunft zur Einseitigkeit. Er beruht aber auf dem Denkfehler, sich nicht klar zu machen, was es heißt, einzeln zu sein. Einzeln ist, was zählt, d. h. als Element einer Menge deren Anzahl um 1 vermehrt, wenn die Menge endlich ist, sonst deren Ordnungszahl bei geeigneter Anordnung. Mengen sind aber Umfänge von Gattungen, nämlich solche Umfänge, die eine Anzahl haben. Das Einzelnsein einer Sache setzt also deren Zugehörigkeit zu einer Menge und die Zugehörigkeit zu einer Menge das Fall-einer-Gattung-sein voraus. Gattungen sind daher dazu erforderlich, dass es einzelne Gegenstände geben kann. Ebenso erforderlich ist der Sachverhalt, dass die einzelne Sache unter irgend eine Gattung fällt – unter eine von den unendlich vielen, unter die jede Sache tatsächlich fällt. Jeder Sachverhalt ist aber ein Stück Bedeutsamkeit. Also ist Bedeutsamkeit primär und dafür vorausgesetzt, dass irgend etwas einzeln ist. Die primäre Bedeutsamkeit könnte auf dieses bescheidene Maß beschränkt sein. Es scheint, dass solche Ansichten vertreten werden. Von Carl Friedrich von Weizsäcker habe ich einen Vortrag gehört, in dem er die These aufstellte, dass die Welt aus eindeutig entscheidbaren Alternativen bestehe. Ihre ursprünglichen Bausteine wären demnach Probleme, bestehend aus je zwei Sachverhalten, zwischen denen eindeutig entschieden werden kann. Es bliebe bei Konstellationen der konstruktiven Vernunft zum Ersatz von Situationen. Man darf aber nicht übersehen, dass Sachverhalte, obwohl an sich vorsprachliche Entitäten, als einzelne nur dadurch identifiziert werden können, dass sie als darstellende Aussprüche von Aussagesätzen angegeben werden. Jede Aussage muss Namen oder mindestens kategorematische Ausdrücke enthalten. 26 Deren Bedeutung kann durch Begriffsbildung zusammengesetzt sein, aber die Zusammensetzung ist nur möglich, wenn nicht-zusammengesetzte Grundbedeutungen vorliegen, und dabei handelt es sich um Situationen, speziell um impressive oder Eindrücke, oder um Gattungen von solchen. Das gilt sogar für scheinbar einfache, aber selbstverständlich Gattungen mit unabsehbar vielen Arten vertretende Farbbezeichnungen wie »rot« und »blau«; ich habe ja gezeigt, dass das Dogma speziZur Definition dieser semantischen Begriffe vgl. Hermann Schmitz: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O., S. 233–235.

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Konstruktive und explikative Vernunft

fischer Sinnesqualitäten aufgegeben werden muss, da es sich vielmehr um impressive Situationen mit Beimischung von leibnahen Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charakteren handelt. Sachverhalte setzen demnach, um einzeln und identifizierbar zu sein, Situationen voraus; die Welt kann nicht in Konstellationen einzelner, situationsloser Sachverhalte bestehen. Mit diesen Bemerkungen will ich der konstruktiven Vernunft keineswegs das Wasser abgraben. Sie zeichnet mit dem platonischen Buchstabengleichnis und den cartesischen »Regulae ad directionem ingenii« ein Ideal genauer Durchleuchtung von Gegenstandsbereichen vor, dem ich selbst – auch im Geist von Goethes Farbenlehre, die komplexe Farberscheinungen aus Urphänomenen zu rekonstruieren sucht – möglichst nacheifere, mit schönen Erfolgen etwa bei den leiblichen Regungen und den Gefühlen. Diese Methode versagt aber vor den Situationen wegen der chaotischen Mannigfaltigkeit ihres Hofes der Bedeutsamkeit. Das darf bei besonnenem Erkenntnisstreben, auch wenn man sich im Interesse wichtiger Einsicht in Strukturen darüber hinwegsetzt, nicht vergessen werden, denn die primäre Bedeutsamkeit der Situationen ist der Mutterboden jeder Erkenntnis und durch Konstellationen nicht ausschöpfbar. Dies zu ignorieren, macht die Einseitigkeit der konstruktiven Vernunft in der dominanten europäischen Intellektualkultur aus, seit der großen Wende in der 2. Hälfte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts, die ich als die Entstehung der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Denkweise beschrieben habe. 27 Vorher herrscht – deutlich erkennbar bei Denkern wie Anaximenes, Parmenides, Heraklit, Empedokles und den Pythagoreern – die explikative Vernunft in Gestalt eines archaischen Eindrucksdenkens, das leibnahe, dynamische, impressive Situationen typisiert und zur systematisch konstruierenden Klassifikation benützt. Von dieser Art sind auch die Gedankensysteme der klassischen chinesischen Kultur und der lange und mächtig die dominante europäische Intellektualkultur durchziehenden Unterströmung, die sich im Netzwerk von Humoralpathologie, Astrologie, Alchemie, paracelsischer Medizin und Signaturenlehre, der Magia naturalis eines Giovanni della Porta usw. verästelt und heute noch in 27 Ders.: Husserl und Heidegger. A. a. O., S. 75–88 und zum Näheren ders.: Der Ursprung des Gegenstandes. Von Parmenides bis Demokrit. Bonn 1988; ders.: Anaximander und die Anfänge der griechischen Philosophie. Bonn 1988 und ders.: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O., S. 285 ff.

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Konstruktive und explikative Vernunft

der Populärastrologie mit Charakteristik von Menschentypen durch Tierkreiszeichen weiterlebt. 28 Ich plädiere keineswegs für ein Heimweh nach solchen z. T. schwerfälligen und phantastischen Spekulationen, die mit dem Scheitern der romantischen Naturphilosophie obsolet geworden sind, wohl aber für den Respekt des Erkennens vor der primären Bedeutsamkeit der Situationen und den Verzicht auf die anmaßende Einseitigkeit der konstruktiven Vernunft durch eine Einsicht, die die Kruste der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Denkweise durchbringt, um der Lebenserfahrung besser gerecht zu werden; dieser Einsicht dient meine gesamte philosophische Arbeit.

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Vgl. ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O., S. 22 f.

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8. Phänomenologie und Konstruktivismus

Den Begriff der Philosophie bestimme ich seit Jahrzehnten so: Philosophie ist Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung. Ihr obliegt die besinnliche Vermittlung zwischen den objektiven und den für jemand subjektiven Tatsachen. Eine Tatsache ist objektiv oder neutral, wenn jeder sie aussagen kann, falls er nur genug weiß und gut genug sprechen kann. Sie ist subjektiv, wenn höchstens Einer, und zwar im eigenen Namen, sie aussagen kann. Ich habe oft gezeigt, dass namentlich die Tatsachen des affektiven Betoffenseins in diesem Sinne subjektiv sind, gleichsam zugeschnitten auf jemand wie Wünsche und Sorgen in eigener Sache. An diesen Tatsachen aber hängt die Vertrautheit mit sich selbst. Was jemand ist, kann er aufsagen, indem er sich auf lauter objektive Tatsachen beruft; dass er es selber ist, kann er keiner objektiven Tatsache entnehmen, sondern nur dem Zeugnis seines affektiven Betroffenseins, und auch nicht jedem solchen Zeugnis in gleicher Weise. Wer z. B. in loderndem Zorn oder heller Begeisterung sich selbst vergisst, wird von seinem Affekt so mitgerissen, dass er von sich abgelenkt ist. Nur durch affektives Betroffensein, das sich auf primitive Gegenwart hin zusammenzieht, wird dem Menschen eindringlich, dass es sich um ihn selber handelt. Das Erleben der Person ist gewöhnlich in fünf Dimensionen entfaltet, von denen jede durch einen polaren Gegensatz aufgespannt ist: Hier und Weite, Jetzt und Dauer, Sein und Nichtsein, Identität und Verschiedenheit, das Eigene und das Fremde. In allen Anfällen des Plötzlichen im weitesten Sinn bricht diese Entfaltung dadurch zusammen, dass die jeweils ersten Pole der fünf Polaritäten zur primitiven Gegenwart verschmelzen. Sie ist ein ziemlich seltener Ausnahmezustand, der aber im zur Bewusstheit unentbehrlichen vitalen Antrieb des spürbaren Leibes, der Konkurrenz von Engung und Weitung als Spannung und Schwellung, als die Enge des Leibes beständig vorgezeichnet ist. Philosophie hat einen anderen Ursprung als Wissenschaft, die 105 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Phänomenologie und Konstruktivismus

sich nur an objektive Tatsachen hält, und ist im Personsein des Menschen als Bedürfnis tiefer verankert als Wissenschaft. Dieses Bedürfnis ergibt sich aus der Spreizung zwischen subjektiven und objektiven Tatsachen, ohne die es nicht zur Dimension des Eigenen und Fremden käme. Die philosophische Vermittlung zwischen beiden Klassen von Tatsachen kann in beiden Richtungen erfolgen. Wenn der philosophierende Mensch ganz aus dem Eigenen der für ihn subjektiven Tatsachen hervor spricht, indem er denkend auf die objektiven zugeht, kann er ein ausgezeichnetes Vermögen der unwissenschaftlichen Philosophie, die sich literarisch z. B. in Aphorismen und im philosophischen Tagebuch auslebt, in die Tat umsetzen. Philosophie ist nicht darauf angewiesen, Wissenschaft zu sein; im Gegenteil, unwissenschaftliche Philosophie hat ein unentbehrliches und unersetzliches Eigenrecht. Wissenschaftlich wird Philosophie in umgekehrter Richtung, indem sie, ausgehend von den objektiven Tatsachen und in ihnen verweilend, die Subjektivität des Eigenen, wo der Mensch sich selbst als sich selbst erfasst, heraushebt und begreifend durchleuchtet, um von dort aus vergewissernd den Zugang zu objektiven Tatsachen zu bahnen, etwa im Sinn der Kantischen Fragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Eine solche wissenschaftlich-philosophische Vermittlung ist möglich, weil es zu jeder subjektiven Tatsache die objektive gibt, dass es sie gibt, und weil Einer die für den Anderen subjektiven Tatsachen zwar nicht aussagen, aber benennen und daher so gut wie dieser darüber sprechen kann. Wissenschaftliche Philosophie besteht also darin, dass der Philosophierende sich in objektivierender Einstellung, an Hand objektiver Tatsachen, auf sich selbst in der Subjektivität der für ihn subjektiven Tatsachen besinnt und sich dann von sich aus, in der Perspektive dieser Subjektivität, den objektiven Tatsachen zuwendet mit der Frage: Was muss ich gelten lassen? Die so verstandene wissenschaftliche Philosophie ist in reifer Form Phänomenologie. Phänomenologie ist der fragende und vergewissernde Rückgang von Annahmen, die sich im Ernst bestreiten lassen, auf die Sachverhalte, denen der Phänomenologe jeweils nicht im Ernst bestreiten kann, dass es sich um Tatsachen handelt. Ihre Methode ist die phänomenologische Revision, die durch möglichst weitgespannte Variation Annahmen auf die Probe stellt und dadurch zugleich aus dem eigenen komplexen Glauben einzelne Annahmen herausholt, so dass man im Vollzug der phänomenologischen Revision besser kennen lernt, was man selber glaubt, um dies dann wiederum auf die Probe zu stellen. Dabei 106 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Phänomenologie und Konstruktivismus

kommt es entscheidend darauf an, sich nicht nur um die Achse einsamer Selbstbesinnung zu drehen, sondern sich auch den Zeugnissen Anderer offen zu halten, damit der Spielraum der Variation breiter wird als die Borniertheit der ursprünglich eigenen Perspektive. Für die Entscheidung, was er als Phänomen gelten lässt, ist dann aber jeder mit sich allein. Naive Gewissheit kann im Mitmachen aufgehen; kritisch geprüfte Gewissheit ist dagegen wesentlich einsam. Das ist ja auch im täglichen Leben so, noch vor aller Philosophie. Wenn jemand z. B. zweifelt, wie viele Münzen oder Geldscheine er bei sich hat, und den Zweifel nicht allein überwindet, kann er einen Anderen bitten, nachzuzählen, und aus der Übereinstimmung Gewissheit schöpfen, aber nur, wenn er sich sicher ist, was er gehört hat; ob er aber, als der Andere sein Ergebnis nannte, »zehn« oder »zwanzig« oder »eine Million« oder sonst etwas gehört hat, muss er mit sich selbst ausmachen. Kein Konsens kann ihm die einsame Entscheidung abnehmen, und Skrupulanten haben bei so etwas oft die größten Schwierigkeiten. Phänomenologie ist also ebenso angewiesen auf vielseitige Offenheit für fremde Perspektiven wie auf die Einsamkeit bei der Entscheidung darüber, was ein Phänomen ist, d. h. ein Sachverhalt, dem der sich besinnende Phänomenologe zu der betreffenden Zeit nicht im Ernst den Glauben, dass es sich um eine Tatsache handelt, verweigern kann. Diese Einsamkeit ist kein Nest für den Eigensinn der Selbstbestätigung; im Gegenteil, der wichtigste Ertrag der phänomenologischen Revision ist das Aufbrechen starrer Einstellungen und Blickbahnen der Vergegenständlichung, wodurch Zusammenhänge und ganze Massen von Erfahrungen, die von der Vergegenständlichung übergangen und zerrissen waren, dem Begreifen erst zugänglich werden. Aber das Kriterium theoretischer Anerkennung ist allerdings in der Phänomenologie anders als in der Naturwissenschaft. Der Naturwissenschaftler erkennt in seiner Sicht das an, was intermomentan und intersubjektiv identifizierbar ist, so dass dasselbe Individuum zu verschiedenen Zeiten und verschiedene Individuen zugleich oder zu verschiedenen Zeiten mit demselben Ergebnis darauf zurückkommen können, z. B., indem ein Experiment wiederholt wird. Der Phänomenologe erkennt an, was er gelten lassen muss, indem die Gewissheit, dass es sich um eine Tatsache handelt, ihm invariant gegen die Variation von Annahmen beharrt. Dieses auf einsame Prüfung abgestellte Kriterium schränkt ihn beim Gebrauch von Hypothesen ein, gestattet ihm aber Zugang und Toleranz für viele Erfahrungen, die der Naturwissenschaftler abweisen muss, weil inter107 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Phänomenologie und Konstruktivismus

momentane und intersubjektive Identifizierbarkeit sowie Quantifizierbarkeit und Manipulierbarkeit (d. h. Verschiebbarkeit in bloß einer quantitativen Dimension bei Fixierung anderer Dimensionen des Messobjekts) nur in wenigen bestimmten Merkmalklassen vorkommen, hauptsächlich bei den primären Sinnesqualitäten, die sich als Gestaltmerkmale an der Oberfläche fester Körper im Aufblick abzählen lassen. Der Antrieb der Philosophie dazu, wissenschaftlich zu werden, stammt ursprünglich und hauptsächlich aus dem Dialog. Wenn zwei Menschen sich mit einander darum bemühen, sich auf ihr Sichfinden in ihrer Umgebung zu besinnen, wird es früher oder später dazu kommen, dass der eine den Anderen fragt: Wie meinst du das? Woher weißt du das? Die erste Frage führt zur Definition, die zweite zur Begründung. Auf beiden Wegen wird der Gedankengang stufenförmig gegliedert, so dass er vom relativ Vertrauten und Einleuchtenden zu etwas aufsteigt, das der Stützung und Durchleuchtung von unten her bedarf und sie verfehlt, wenn eine günstige Ordnung der Stufen oder Schichten verlassen wird. Das Beharren auf solcher Ordnung in angemessener Zusammensetzung der durch Analyse gesonderten Einzelschritte ist das allgemeine Prinzip des Konstruktivismus, das in klassischer Vorbildlichkeit Descartes in seinen »Regulae ad directionem ingenii« auseinandergesetzt hat. Als wissenschaftliche Philosophie ist die Phänomenologie dem Konstruktivismus verpflichtet. Man muss aber verschiedene Gestaltungen dieses Ideals unterscheiden, je nach dem, welche Ansprüche an die Basis der Konstruktion gestellt werden; hinsichtlich des Aufbaus über dieser Basis sind sich alle Konstruktivismen darin einig, dass es sich um eine geregelte, übersichtliche, kontrollierbare und nach unten jederzeit durchschaubare Folge aufsteigender Schritte kombinierenden Definierens und Begründens handeln soll. Bei der ersten, schwächsten Form von Konstruktivismus, die ich als Phänomenologe mir zu eigen mache, wird für die Basis nur gefordert, dass sie relativ trivial, d. h. durchschnittlich jedermann jederzeit frisch oder in der Erinnerung zugänglich ist; es soll also nichts ausgeschlossen werden, als das Bauen auf den Wolken esoterischer Erleuchtungen, während solche Ausnahmezustände allerdings phänomenologisch ernst genommen werden können und sollen; das ist aber eine Aufgabe für die Konstruktion über der Basis. Die zweite, stärkere Form des Konstruktivismus verlangt für die Basis, dass sie aus einfachen, keiner Zergliederung mehr zugänglichen Urbestandteilen besteht; das sind die »simplices naturae« des Des108 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Phänomenologie und Konstruktivismus

cartes, der in den »Regulae« dieses Programm ausarbeitet, dem noch die moderne Naturwissenschaft verbunden ist, wenn sie z. B. als Physik der Elementarteilchen von der unruhigen Suche nach unzerlegbaren kleinsten Einheiten getrieben wird und dabei, längst unter die Atome hinab, inzwischen von den quarks zu den strings gelangt ist. Ein Konstruktivist des zweiten Typs, darin gleich Descartes, ist Goethe in seiner Farbenlehre, in der gegen Newton entwickelten Theorie der dioptrischen Farben. Die dritte Form des Konstruktivismus ist die im modernen Sinn naturwissenschaftliche; sie stellt an die Bestandteile der Konstruktionsbasis obendrein die Forderung, dass es sich um Merkmale der vorhin beschriebenen Art handeln muss, die also intermomentan und intersubjektiv optimal identifizierbar, quantifizierbar und manipulierbar und somit im Wesentlichen primäre Sinnesqualitäten sein sollen. Da ich mir die erste Form des Konstruktivismus schon zu eigen gemacht habe, brauche ich mich im Folgenden nur mit der zweiten und der dritten Form kritisch zu beschäftigen. Wer einfache Urelemente der Konstruktion postuliert, wie Descartes, Goethe und die Physiker der modernen Hochenergiephysik, scheint sich nicht genug überlegt zu haben, was einzelne Gegenstände sind. Man setzt gewöhnlich als selbstverständlich voraus, dass alles einzeln ist, und fragt dann nur, von welcher Art dieses oder jenes Einzelne sei. Das ist sehr voreilig schon für einen sehr weiten Begriff vom Einzelnen, der sich nicht auf das im landläufigen Sinn Konkrete, Individuelle oder Sinnfällige beschränkt, sondern ebenso Zahlen, Mengen, Relationen, Gattungen, Begriffe usw. als einzelne Gegenstände gelten lässt. Ein Gegenstand ist im hier gemeinten Sinn einzeln, wenn er zählt, d. h. als Element einer endlichen Menge deren Anzahl um 1 erhöht und also durch sein Verschwinden um 1 herabsetzt. Mengen sind möglich nur als Umfänge von Gattungen. Demnach kann etwas nur einzeln sein, wenn es Fall einer Gattung und Element ihres Umfangs ist. Einzelne Gegenstände, wie z. B. irgend ein Haar, setzen also dafür, dass sie einzeln sein können, die Existenz von Gattungen voraus, sowie die Existenz von Sachverhalten, nämlich von solchen ihres Fall-seins von Gattungen, wodurch sie, wie Heidegger sagt, nicht bloß etwas, sondern etwas als etwas sind. Das zu verkennen, ist der grobe Irrtum des Nominalismus. Es gibt allerdings eine Ausnahme. Die primitive Gegenwart ist das Einzige, was unvermittelt von sich aus ohne Rücksicht auf etwas, wovon sie Fall sein könnte, einzeln sein kann. Wer – z. B. durch Schreck, Bestürzung, Ruck – in die Enge des Plötzlichen getrieben wird, gewinnt eine 109 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Phänomenologie und Konstruktivismus

Eindeutigkeit vor aller Subsumtion, ohne Rücksicht darauf, worum es sich handeln könnte. Von dieser Sonderstellung der primitiven Gegenwart und ihren Konsequenzen, deretwegen ich sie als das principium individuationis bezeichne, ist hier nicht zu sprechen. Das Gesagte genügt aber schon, um die Hoffnung auf einen »logischen Aufbau der Welt«, der im Geiste Carnaps oder des Descartes ihre Konstruktion aus einfachen Urelementen gestatten könnte, zunichte zu machen. Als Fall einer Gattung (etwas als etwas) ist das Einzelne nämlich, statt einfach, ein Verband und sogar eine unendlich lange Kette, wenn auch die Gattung einzeln sein soll usw., so dass sich die Schrittfolge endlos verlängert. Daher bedarf das Einzelne, damit es in der angegebenen Weise zählt, zusätzlich zu seiner Verstrickung in das Fallsein einer Besonderheit (»haecceitas«) durch Kontrast, nämlich durch Abhebung von einem Mannigfaltigen, das nicht aus lauter einzelnen Gegenständen besteht. Wie diese Abhebung mit dem eben erwähnten principium individuationis zusammengehört, ist hier nicht zu erörtern. Wenn alle Gegenstände einzeln wären, könnte demnach kein Gegenstand einzeln sein. Mit logischer Notwendigkeit zieht das Mannigfaltige einzelner Gegenstände – das numerische Mannigfaltige, wie ich mich ausdrücke – daher ein Mannigfaltiges anderer Art mit sich, das ich als das chaotische Mannigfaltige terminologisch fixiert habe; besser wäre vielleicht gewesen, es »binnendiffus« zu nennen. Es handelt sich um Mannigfaltiges, in dem es entweder ganz oder teilweise an Identität und Verschiedenheit fehlt, so dass gar nicht oder nicht vollständig feststeht, was darin womit identisch und wovon verschieden ist, so dass nicht alles darin einzeln sein kann und das Ganze keine Anzahl hat. In solches Mannigfaltiges ist unser ganzes Leben getaucht. Chaotische Mannigfaltigkeit kommt in zwei Gestalten vor, nichtssagend und vielsagend. Nichtssagend können zeitliche und räumliche Kontinua sein, z. B. die Fristen einer durchdösten Dauer, wenn sie nicht doch etwas zu bedeuten haben. Vielsagend ist chaotisches Mannigfaltiges, wenn es trächtig ist mit Bedeutungen, die sozusagen dem potentiellen Sprecher etwas auf die Zunge legen, etwas zu verstehen geben, auch wenn er nicht fähig ist, es herauszusagen. In der deutschen Philosophie hat man von Bedeutsamkeit sonst in dem relationalen Sinn gesprochen, dass etwas für etwas bedeutsam sein, z. B. für das Seinkönnen, die Möglichkeiten des »Daseins« (Heidegger), oder als Teil für den Lebenszusammenhang (Dilthey). Ich fasse Bedeutsamkeit absolut, als Eigenschaft von etwas, 110 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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das etwas zu bedeuten oder zu sagen hat, weil es mit Bedeutungen geladen ist. Solche Bedeutungen sind Sachverhalte, Programme oder Probleme. Wenn diese – allenfalls genügen schon Sachverhalte – ein chaotisch-mannigfaltiges, binnendiffuses Ganzes bilden, das sich durch einen irgendwie durchgehenden Zug zusammenhält und nach außen abgehoben ist, wobei in dem Ganzen auch noch beliebige andere Gegenstände, darunter namentlich Atmosphären des Gefühls, Platz finden können, spreche ich von einer Situation. In diesem Sinn ist Situation ein ubiquitärer und geradezu der grundlegende Gegenstandstypus. Ich habe eine umfassende und differenzierte Phänomenologie der Situationen entwickelt, auf die ich hier nicht eingehen kann; ich begnüge mich mit einem einzigen Beispiel. Jedes Ding begegnet mit einem typischen oder auch individuellen Charakter, der mehr oder weniger ständig die Gesichter wechselt, deutlich z. B. bei Näherung und Entfernung oder Veränderungen der Beleuchtung. Gesicht und Charakter sind Situationen. Der Charakter integriert in chaotischer Mannigfaltigkeit Sachverhalte als Protentionen, auf die man unwillkürlich erwartend gefasst ist, während sie sich meist erst bei Enttäuschung einzeln herausstellen. Innerhalb des Charakters sind solche Protentionen nochmals eingeschmolzen in den partiellen Situationen, die authentische Eigenschaften des Dinges sind, dass es z. B. »eigentlich« blau oder kreisrund ist. Solche authentischen Eigenschaften bestehen ja, wie schon Hans Cornelius bemerkt hat, keineswegs nur darin, dass das Ding gelegentlich »wirklich« blau und rund aussieht, sondern sie umfassen im Ring um diese ausgezeichneten Darbietungen alle protentional antizipierbaren Metamorphosen, »was geschehen würde, wenn …«, aber nicht alle einzeln, sondern in binnendiffuser Ganzheit ohne Zahl. Programme sind dem Charakter des Dinges als Aufforderungscharaktere oder Verweisungen der Brauchbarkeit, der Anziehung und Abstoßung, der Konvention, des Prestiges usw. eingeprägt; Probleme gehören nicht so regelmäßig dazu, wohl aber manchmal als Rätsel oder Gefahren. Situationen sind selbst einzelne Gegenstände, hinter denen sich nur noch das ganz zerlaufene, nicht ganzheitlich abgehobene Mannigfaltige breiten kann, wie wenn wir, dösend in der Sonne, Vieles durchlaufen, in dem nichts einzeln wird und das sich nicht zusammenschließt; vor allem aber sind sie die trächtige Fülle, aus der auf dem Weg über Explikation von Bedeutungen der genannten Arten Einzelnes aller Art von sich aus hervortreten oder abgerufen werden kann. Die dominante europäische Intellektualkultur verleugnet die 111 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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Situationen und ersetzt sie durch Konstellationen, Arrangements einzelner Faktoren; daraus ergibt sich die Fahndung nach einfachen Urelementen, die kombinatorisch arrangiert werden können. Ein Phänomenologe, der die vielseitige und als Spender von Einzelheit unentbehrliche Bedeutung der Situationen erkannt hat, kann dieser Hoffnung keinen Glauben schenken. Er kann sich dem Konstruktivismus von zweiter Form, der die Basis der Konstruktion aus einfachen Urelementen oder – wie Carl Friedrich von Weizsäcker die für diese Rolle von ihm ausersehenen Uralternativen einmal mit prägnantem Neologismus genannt hat – aus »Ur’s« bilden will, nicht mehr anschließen. In dieser Zuspitzung muss er die Übertreibung sehen, durch die der Rationalismus des Descartes sich überschlägt und den Boden der Tatsachen verlässt. Diese Kritik am Konstruktivismus von zweiter Form ist aber nur so lange stichhaltig, wie dieser als umfassendes Programm mit dem Anspruch auf vollständige Durchsetzbarkeit auftritt, im Sinne des schon bei Platon reich belegten Buchstabengleichnisses, das nahelegt, die Welt als einen Text zu lesen, der wie aus Buchstaben aus vielfältig wiederkehrenden Typen unzerlegbarer Elemente – »Element« heißt ursprünglich der Buchstabe – in bestimmter Anordnung aufgebaut ist. Wenn dieses Buchstabengleichnis auf eingeschränktem Feld, in einem besonderen Gegenstandsbereich, durch Strukturanalyse realisiert werden kann, handelt es sich um einen Glücksfall; in diesem Sinn ist der Konstruktivismus von zweiter Form ein heuristisches Ideal begreifender Durchleuchtung. Man braucht nicht immer auf Situationen zurückgehen. Die Phonologie erreicht dieses Ideal in fast phänomenologischer Nähe zur direkten Lebenserfahrung, ebenso die Darstellung der Farbenordnung im Ostwald’schen Doppelkegel. Von den berühmten Beispielen glänzender naturwissenschaftlicher Hilfskonstruktionen, z. B. in der Chemie und neuerdings in der Genetik, brauche ich nicht zu sprechen. Mir selbst ist es gelungen, die Dynamik des spürbaren Leibes in solcher Weise aufzuklären, dass ich, des Buchstabengleichnisses mich bedienend, von einem Alphabet der Leiblichkeit gesprochen habe. Unter dem eigenen Leib eines Menschen verstehe ich das, was er von sich in der Gegend seines Körpers spüren kann, ohne sich auf das Zeugnis der fünf Sinne und des perzeptiven Körperschemas zu stützen. Dieser Leib hat eine Statik räumlicher Formung, wovon hier nicht zu sprechen ist, und eine Dynamik, deren Achse der vitale Antrieb ist. Man sieht leicht, dass der Antrieb auf dem Ineinandergreifen entgegengesetzter Impulse der Engung 112 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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und Weitung beruht. Wenn nämlich die Engung aushakt, wie im heftigen Schreck, ist der Antrieb weg, und ebenso, wenn die Weitung gleichsam ausleiert, wie in der Müdigkeit beim Einschlafen; in beiden Fällen schwindet das Bewusstsein, das also des Antriebs bedarf, der zusammen mit seiner Reizempfänglichkeit und seiner Zuwendbarkeit zu Reizen die volle Vitalität bildet; im bloßen leiblichen Geschehen der Atmung ist der Antrieb noch frei von Reizempfänglichkeit und Zuwendung, während z. B. hochgradige Nervosität ein Zustand gesteigerter Reizempfänglichkeit und eben dadurch verminderter Zuwendbarkeit des Antriebs ist. Engung und Weitung können im vitalen Antrieb sich die Waage halten oder das Übergewicht über den Konkurrenten erhalten; sie können unverschiebbar kompakt zusammenhängen oder in rhythmischem Wechselspiel überwiegen; sie können sich auch teilweise aus dem Antrieb abspalten, ohne dass dieser erlischt. Einige weitere Grundzüge, die ich übergehe, kommen hinzu, und damit entsteht ein Alphabet leiblicher Dynamik, mit dem ich mich anheischig mache, alle Typen leiblicher Regung und Zustände leiblichen Befindens im Wachen wie im Schlafraum gleichsam durchzubuchstabieren. Das ist auffällig, weil für die dominante europäische Intellektualkultur der spürbare Leib im Schatten der Vergegenständlichung steht, im Gegensatz zu dem von der Naturwissenschaft auf das Feinste konstruktiv durchdrungenen sichtbaren und tastbaren Menschenkörper. Ich freue mich besonders, wenn es gelingt, auf einem so breiten Gebiet der Lebenserfahrung, das üblicher Weise als irrational in die Ecke der Vergegenständlichung gestellt wird, die voll entfaltete analytisch-rekonstruktive Methode des cartesischen Konstruktivismus zu bewähren. Etwas Ähnliches, wie beim Leib, habe ich bei den Gefühlen unternommen. Als allgemeines Erkenntnisrezept, als »regula generalis ad directionem ingenii«, scheitert dieser Konstruktivismus aber an den Situationen, deren chaotisch-mannigfaltiger Vorrat an Bedeutsamkeit sich nicht aus unzerlegbaren Elementen zusammensetzen lässt. Auf die erste Form des Konstruktivismus, die bloß eine relativ triviale, durchschnittlich jedermann jederzeit frisch oder in der Erinnerung zugängliche Konstruktionsbasis verlangt, und die zweite Form, die dafür einfache, unzerlegbare Elemente vorsieht, folgt mit abermaliger Verschärfung die dritte Form des Konstruktivismus, die an der Basis bloß solche Merkmale zulässt, die in besonderem Maß intermomentan und intersubjektiv identifizierbar, quantifizierbar und in frei wählbaren Dimensionen selektiv variierbar, daher für 113 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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Messung, Statistik und Experiment geeignet sind. Dieser Typ pflegt in der modernen Wissenschaft zu überwiegen; es gibt aber auch Gegenbeispiele. So wählte Carnap in »Der logische Aufbau der Welt« eine cartesische Konstruktionsbasis, die aus Ähnlichkeitserinnerungen als einfachen Bausteinen bestehen sollte und damit sicher nicht die von der dritten Form geforderte besondere Eignung besaß. Historisch entsteht die dritte Form im antiken Atomismus bei Leukipp und Demokrit zusammen mit einem radikalen Wechsel des Paradigmas der europäischen Intellektualkultur, den ich als den Übergang zur psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Denkweise beschrieben und in die zweite Hälfte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts, kurz vor Platon, gelegt habe. 1 Zuvor bestand die dominierende Abstraktionsbasis – verstanden als der Filter, der von der unwillkürlichen Lebenserfahrung das festhält, was dann in Begriffe, Theorien und Bewertungen eingeht – aus typisierten Situationen in Gestalt vielsagender Eindrücke, wobei den vordemokritischen Philosophen namentlich der Gegensatz des flink Beweglichen und des Ruhenden, Schwerfälligen, Sperrigen vorschwebte, ähnlich wie den Trägern der klassischen chinesischen Kultur der etwas anders gelagerte Gegensatz von Yang und Yin; das ist eine Denkform, die sich als Unterströmung der dominanten europäischen Intellektualkultur in vielen Gestalten, z. B. durch Humoralpathologie und Astrologie, bis ins 18. Jahrhundert oder gar noch bis in die romantische Naturphilosophie fortsetzt. Das neue Paradigma ersetzt dieses Denken in typisierten und standardisierten, leiblich spürbaren Kräften, die vielsagende Eindrücke mit chaotisch-mannigfaltiger Bedeutsamkeit sind, durch den Psychologismus, der das Erleben des Individuums durch Einweisung in eine Innenwelt zentralisiert und abgrenzt, und den Reduktionismus, der die nach Abzug aller Innenwelten verbleibende Außenwelt bis auf wenige Klassen von Merkmalen, die vorzüglich momentan und intersubjektiv identifizierbar, quantifizierbar und manipulierbar sind, und hinzugedachte Träger dieser Merkmale (Atome oder Substanzen) abschleift; dazu kommt die Introjektion, die den ganzen Abfall der Abschleifung, namentlich die Bedeutsamkeit der Situationen und die Atmosphären des Gefühls, aber auch sogar die spezifischen oder sekundären Sinnesqualitäten, in der Innenwelt ablädt. In der Folge überwuchert die reduktionistisch ver-

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armte Außenwelt aus konstruktivistischem Interesse der Intellektualkultur mehr und mehr die psychologistisch zurechtgemachten Innenwelten; so wird die Seele heute mehr und mehr durch das reduktionistisch gedachte Gehirn ersetzt, getreu dem Vorbild Demokrits, der die Seele aus körperlichen Atomen nach Art von Feuerteilchen oder Sonnenstäubchen gebildet sein ließ. Daraus ergibt sich ein Anspruch auf eine Monopolstellung des Konstruktivismus von dritter Form für die Erkenntnis: Begriffe sollen so aufgebaut werden, dass nur Daten verwendet werden, die intermomentan und intersubjektiv bequem identifizierbar, quantifizierbar und manipulierbar sind. Der Bildner theoretischer Begriffe von wissenschaftlichem Anspruch gleicht dann gewissermaßen dem Erfinder, der im Patentamt sein Konstrukt mit Anspruch auf Patenterteilung vorführt und sich gefallen lassen muss, dass die bewertenden Techniker sein Gerät studieren, indem sie die Bauteile auseinandernehmen und zusammensetzen, diese und ihre Funktionen messen und eventuell manipulativ in der einen oder anderen Dimension variieren. Ein Beispiel ist die Einführung von Grundbegriffen der euklidischen Geometrie durch Dingler mit der technischen Praxis des Abschleifens von drei Platten an einander. Die Unzulänglichkeit der dritten Form des Konstruktivismus, wenn er nicht nur als Modell für spezielle Anwendungen, sondern als allgemeines Erkenntnismodell gemeint ist, ergibt sich aus dem skizzierten geschichtlichen Werdegang des Reduktionismus und aus dem, was ich vorhin gegen den Nominalismus und über subjektive Tatsachen gesagt habe. Einer gewissen Gefahr der Verführung durch diese Illusion sind aber auch solche konstruktivistischen Theorien der Erkenntnis ausgesetzt, die, obwohl kritisch feiner gebildet als grobe Naturalismen, den Handlungsbegriff zu sehr in den Mittelpunkt stellen. Dabei kann sich nämlich der Anspruch eindrängen, bei der Bildung von Begriffen das Gemeinte immer durch Handlung in einer Weise vorzumachen, die den Forderungen der dritten Form des Konstruktivismus an die Konstruktionsbasis genügt. Auch diese Hoffnung ist eine Illusion. Die Handlung selbst, das Leitmotiv aller solchen operativen Theorien, ist nämlich von solcher Art, dass sie nicht so demonstriert werden kann, wie die dritte Form des Konstruktivismus es verlangt. Wittgenstein suchte das Spezifische der Handlung mit der Frage abzuheben: »Was ist das, was übrig bleibt, wenn ich von der Tatsache, daß ich meinen Arm hebe, die abziehe, daß mein Arm

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sich hebt?« 2 Es ist wohl klar, dass dieser Überschuss, der das Handeln ausmacht, nicht in Gestalt intermomentan und intersubjektiv bequem identifizierbarer, quantifizierbarer und manipulierbarer Merkmale nach Art der primären (unspezifischen) Sinnesqualitäten vorgewiesen werden kann. Ich habe, Begriffe der leiblichen Dynamik und der vorhin erwähnten Entfaltung der primitiven Gegenwart nach fünf Dimensionen verwendend, den Handlungsbegriff so eingeführt: Aktivität im allgemeinsten Sinn liegt vor, wenn die Zuwendung des vitalen Antriebs zu einem Reiz oder Thema dem eigenen Streben gemäß ist, im Gegensatz zur Passivität, bei der entweder gar keine solche Zuwendung erfolgt oder diese mit Widerstreben oder Indifferenz verbunden ist. Reize im hier gemeinten Sinn sind Situationen, Themen dagegen einzelne Programme […]. Auf Reize hin können auch Tiere, Säuglinge und Idioten aktiv sein. Eine Spezialform von Aktivität ist das Handeln oder Tun. Es setzt Entfaltung der Gegenwart voraus, also personale Emanzipation und namentlich Emanzipation des Dieses, wodurch aus Situationen Themen (im eben definierten Sinn) explizit hervortreten. Handeln ist Zuwendung des vitalen Antriebs an ein solches Thema in Übereinstimmung mit dem eigenen Streben des personalen Subjekts. […] Auf die Körperbewegung kommt es dabei nicht an. Handeln, das mit einer solchen Bewegung verbunden ist, ist dann körperliches Handeln, wenn dem Handeln im schon beschriebenen Sinn ein maßgeblicher kausaler Einfluss auf die Ausführung der betreffenden Bewegung zugeschrieben werden darf. 3

Die hier verwendeten Begriffe genügen wenigstens für die leibliche Dynamik, meinem Anspruch nach, der zweiten Form des Konstruktivismus, sonst (außer vielleicht der Rede von kausalem Einfluss) wenigstens der ersten Form, aber keine Rede kann davon sein, dass dies auch für die dritte, vom Reduktionismus bevorzugte Form zuträfe. Wie könnte man aber auf andere Weise den Ausdruck »Handlung« zirkelfrei mit begrifflich bestimmtem Sinn versehen? Lorenzen und Schwemmer schlugen vor: »Die Befolgung einer Aufforderung soll eine Handlung heißen.« 4 Das ist zu eng, weil viele Handlungen unaufgefordert stattfinden. Aber auch abgesehen davon enthält der Vorschlag einen circulus vitiosus, weil Aufforderungen selbst Handlungen und nur als solche bestimmbar sind. Gleiches gilt für ein von Dirk 2 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (Werkausgabe Bd. 1.). Frankfurt 2006, S. 467 (§ 621). 3 Hermann Schmitz: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. Bonn 1994, S. 212 f. 4 Paul Lorenzen, Oswald Schwemmer: Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie. Mannheim 1973, S. 110.

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Phänomenologie und Konstruktivismus

Hartmann vorgebrachtes unterscheidendes Merkmal: »Im Gegensatz zu bloßem Verhalten sind Handlungen also unterlaßbar.« 5 Unterlassen ist dem Begriff nach das Nicht-Stattfinden von Handlungen. Konstruktivistisches Denken hat eine natürliche Nähe zum Handlungsbegriff, weil Konstruieren selbst ein Handeln ist. Daraus folgt aber nicht, dass in der Konstruktionsbasis, in dem Stoff, aus dem konstruiert wird, Handlungen einen Vorzug vor Geschehnissen anderer Art erhalten sollten. Auch der sehr ausgereifte Konstruktivismus, der jetzt von Marburg her als Methodischer Kulturalismus die Stimme erhebt und namentlich in der Auseinandersetzung mit dogmatischem Übermut aus Verkennung der Schranken der Naturwissenschaft wichtige Einsichten erbringt, scheint gegen diese Versuchung noch nicht ganz gefeit zu sein. Wenn z. B. Peter Janich, wenn ich ihn recht verstehe, Erfahrung nur »als Weg, Erkenntnis als Widerfahrnis am Erfolg und Misserfolg im Handeln zu gewinnen« 6, gelten lassen will, scheint er mir dem Handeln zu viel zuzumuten. Was sich mir so einprägt, dass es in meine Erinnerung einwächst, ist eine Erfahrung, die ich gemacht habe, auch wenn sie mir ohne mein Handeln zugestoßen ist.

Dirk Hartmann, »Kulturalistische Handlungstheorie«, in: ders., Peter Janich (Hrsg.): Methodischer Kulturalismus. Frankfurt 1996, S. 70–112, hier S. 73. 6 Peter Janich: »Kulturalistische Erkenntnistheorie statt Informationismus«, in: ebd., S. 115–156, hier S. 135. 5

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9. Zur Rehabilitierung des Verstehens als wissenschaftlicher Aufgabe

Noch vor einem Jahrzehnt war die Beschäftigung mit dem Verstehen in den Kulturwissenschaften, die sogenannte Hermeneutik, große Mode in der deutschen Universitätsphilosophie. »Die Naturwissenschaften erklären – die Geisteswissenschaften verstehen«: Das war Diltheys Devise, von Heidegger und Gadamer mit einer gewissen geheimnisvollen Weihe erneuert. Leider hielt man sich viel zu sehr an Worte, und als Signal oder gleichsam philosophisches Parteiabzeichen ist das Wort »Verstehen« durch seine enorme Vieldeutigkeit arg verführerisch. In vielen Fällen meint »Verstehen« das Innehaben oder Beherrschen von Regelsystemen, etwa wenn vom Verstehen einer Sprache die Rede ist oder von einem Arzt oder Autofahrer, die sich auf ihre Kunst verstehen. So sagt man auch, jemand verstehe die Funktion einer Maschine, ohne sie selbst betreiben zu können. In ganz anderem Sinn glaubt man, einen Menschen zu verstehen, oder man kann ihn nicht verstehen, oder vertraute Freunde sagen zuversichtlich zu einander: »Wir verstehen uns schon.« Mancher Ältere kann heute wie eh und je die Jugend nicht mehr verstehen. Dabei haben die jungen Leute ausgeprägte Regelsysteme für ihr Tun und Treiben spontan entwickelt oder sich andienen lassen. Die kann auch jener Ältere erlernen und wohl gar aktiv beherrschen, aber trotzdem hat er die Jugend noch nicht verstanden; er versteht einfach nicht, wie sich die jungen Leute bei so etwas wohlfühlen und so etwas ernst nehmen können. Die Rede vom Verstehen in den Geisteswissenschaften hat bei dieser Art von Verstehen ihren Sitz im Leben. Wie der ältere Mensch der Jugend von heute, tritt der Geisteswissenschaftler den Zeugnissen fremder Kulturen und Denkweisen nahe, um verstehen zu lernen, wie Menschen dazu kommen oder kamen, sich so zu verhalten. Das bloße Verstehen von Texten ist also kein zulängliches Modell des geisteswissenschaftlichen Verstehens. Michael Ventris, der das kretische Linear B entzifferte, kam aus der britischen Abwehr, wo er sich mit gleichartigen Methoden bemüht hatte, die 118 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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verschlüsselten Meldungen des deutschen Feindes zu erraten. Der Detektiv, allgemein der Rätsellöser, müssen es immer wieder mit dem Versuch des Verstehens probieren, so gut wie manchmal mit naturwissenschaftlichen, technischen oder gar mathematischen Methoden, aber sie wollen, solange sie bloß in ihrer Rolle bleiben, auf weniger hinaus als der Geisteswissenschaftler: Sie wollen den Menschen, dem sie auf die Spur oder auf die Schliche kommen, nicht eigentlich verstehen. Erst wenn sie etwas mehr Besinnlichkeit aufbringen, als der Routinebetrieb verlangt, wollen sie auch dies, und dann geraten sie in die Dimension, die den Hermeneutiker interessiert. Was ist das für ein Zuwachs, der ein Verstehen hermeneutisch relevant macht, im Gegensatz zum Verstehen einer Formelsprache oder der Funktionsweise einer Maschine? Die vorhin erwähnten Hermeneutiker par excellence und ihresgleichen haben darauf keine klare Antwort gegeben. Ihr Unglück war es, dass sie sich auf den schon zu Anfang des 19. Jahrhunderts debütierenden hermeneutischen Zirkel versteift haben, einen Unbegriff. Läge im Ernst ein Zirkel an der Wurzel des Verstehens, so wäre dieses trivial und ohne Erkenntniswert. Das braucht es aber nicht zu sein, solange Gelegenheit ist, die Vormeinungen und Antizipationen durch Erfahrung korrigieren zu lassen. Jeder nicht gerade krankhaft amusische Mensch hört Melodien und, wenn er leidlich musikalisch ist, auch kompliziertere Musikgebilde, indem er von der Vorwegnahme eines Ganzen aus, in die oft genug seine Wünsche und Abneigungen, sein Geschmack, wohl gar seine Weltanschauung eingemischt sind, auf die einzelnen Töne und Phrasen, die gerade erklingen, zurückkommt und umgekehrt das Ganze von diesen Gliedern her sich aufbauen lässt. Dabei gibt es stets die Chance der enttäuschenden Korrektur: Es wird nicht die Melodie daraus, mit der er gerechnet hatte; die Sache nimmt eine überraschende Wendung. Darin ist kein logischer Zirkel, und ebenso wenig sollte man von einem Zirkel des Verstehens reden. Stegmüller hat diesen 1972 in Kiel kritisch unter die Lupe genommen, unter dem bezeichnenden Titel seines Vortrags: »Der sogenannte Zirkel des Verstehens« 1. An anderer Stelle schreibt er über »die sogenannte Metho-

Wolfgang Stegmüller: »Der sogenannte Zirkel des Verstehens«, in: Kurt Hübner, Albert Menne (Hrsg.): Natur und Geschichte. X. deutscher Kongreß für Philosophie (Kiel 1972). Hamburg 1973, S. 21–45.

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de des Verstehens« 2. Man ahnt, hier soll das Kind, das Verstehen, gleich mit dem Bade, dem hermeneutischen Zirkel, ausgeschüttet werden, und in der Tat sagt Stegmüller in jenem Kieler Vortrag, unter allen erkenntnistheoretischen Gegenüberstellungen, die ihm bekannt sind, sei die von Erklären und Verstehen »die mit Abstand unfruchtbarste«. Er spricht als Dolmetscher der amerikanischen, vom Neopositivismus inspirierten Wissenschaftstheorie, die alle empirischen Wissenschaften auf ein einheitliches, von Hempel und Oppenheim angegebenes Erklärungsschema verpflichten möchte, eine moderne Variante der ersten syllogistischen Figur des Aristoteles, wobei im Obersatz ein allgemeines Gesetz, im Untersatz die Subsumtion der gerade relevanten Objekte unter den im Obersatz angesprochenen Mittelbegriff des Schlusses und im Schlusssatz die Angabe des zu erklärenden oder auch vorauszusagenden Sachverhalts steht. Dieses Rezept hat sich in der Wissenschaftstheorie so eingebürgert, dass 1975 der Verfasser eines Dilthey-Buches schon in der Einführung schreibt: »Wenn Einsicht darüber zu herrschen scheint, daß die Methode des Verstehens […] ungeeignet ist, geisteswissenschaftliches Gegenstück zum HO-Schema zu sein, so muß gefragt werden, warum diese Diskussion nicht schon längst ad acta gelegt worden ist.« 3 Nichts Wesentliches ändert sich, wenn man, wie neuerdings vorgeschlagen wird, unter den Obersätzen des erklärenden Syllogismus außer der Feststellung von Gleichförmigkeiten des Naturlaufs auch geschichtlich wechselnde Regeln, nach denen die Menschen sich richten, zulässt. Aus Amerika schallt es herüber: Der Versuch, den Geisteswissenschaften ein apartes Verstehen zu vindizieren, hat sich totgelaufen. Ich glaube, dass dieser Grabgesang zu früh kommt. Was die großen Historiker und sonstigen Geisteswissenschaftler faktisch geleistet haben, geht über ein Erklären aus allgemeinen Gesetzen und Regeln gar zu weit hinaus. Einer der größten ist Thukydides; wenn man aber einmal – wie Hermann Strasburger getan hat 4 – die ganz gescheiten Gemeinplätze auflistet, die im Buch des Thukydides für die Rolle von Gesetzen und Regeln in Betracht kommen, fällt das Ergeb2 Ders.: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie. Bd. 1: Wissenschaftliche Erklärung und Begründung. Berlin 1969, S. 360–375. 3 Hans Ineichen: Erkenntnistheorie und geschichtlich-gesellschaftliche Welt. Frankfurt 1975, S. 10. 4 Hermann Strasburger: »Die Entdeckung der politischen Geschichte durch Thukydides«, in: Hans Herter (Hrsg.): Thukydides. Darmstadt 1968, S. 412–476, hier S. 455.

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nis so dürftig aus, dass mir ein Versuch, Thukydides an den Kriterien hypothetisch-deduktiver Erklärung zu messen, nicht viel besser vorkäme als ein Vorwurf gegen Sophokles und Goethe, deren beste Dichtungen seien als Beispielsammlungen grammatischer Regeln für ABC-Schützen noch nicht brauchbar genug. Thukydides ist auch nicht bloß ein geschickter Erzähler, sondern er bringt es fertig, das Geschehen auf seine Hintergründe hin durchsichtig zu machen. Das ist die Hauptleistung des geschichtlichen Verstehens. Es führt in den Hintergrund ein, aus dem das Geschehene und Gestaltete sich abhebt. Bloßes Berichten und Erzählen ist wie eine Zeichnung ohne Schraffur: Es stellt die Fakten mehr oder weniger geordnet neben einander. Sowie dagegen geschichtlich verstanden ist, treten diese aus einem nur teilweise erhellten Hintergrund mit plastischem Relief hervor. Aber was heißt das nun ohne Bild, und wie verhält sich solches Verstehen zum Erklären? Um eine begrifflich klare Antwort zu finden, sollte man sich von der wenig befriedigenden Tradition der romantischen Hermeneutik bis zu Gadamer erst einmal losmachen und auf Erfahrungen besinnen, die uns solche Redewendungen in den Mund legen wie diese: »Ich verstehe die jungen Leute nicht mehr«, »Ich kann dich sehr gut verstehen«, »Wir zwei verstehen uns«. In solchen Fällen liegt namentlich dann, wenn die Worte dem Sprecher nicht oberflächlich und abgeschliffen vom Mund gehen, eine Sensibilität für Eindrücke zu Grunde, die bei manchen Menschen so hervorsticht, dass wir sie auszeichnend »verständnisvoll« nennen: etwa einen lebenserfahrenen Arzt oder eine reife Frau, die mit feinem, taktvollem Verständnis auf vielseitige und verschlungene Probleme ihrer Mitmenschen einzugehen vermögen. Der geschickte Diplomat und Staatsmann, der »mit allen Wassern gewaschene« Menschenbehandler benützen dasselbe Talent zu oft weniger erfreulichen Zwecken, etwa als Demagoge, gerissener Kaufmann oder erotischer Verführer. Was ist ein Eindruck, und wie kann man intelligent mit Eindrücken umgehen? Denken Sie sich bitte z. B. vor eines der großen hintergründigen Porträts der Spätrenaissance- und Barockzeit hin, wie Tizian, Tintoretto, Rembrandt, Velasquez, El Greco u. a. sie gemalt haben. Man blickt in ein fesselndes Gesicht, das dem Betrachter mit einem Schlage vieles sagt, aber man kann nicht genau sagen, was es einem sagt; jede Formulierung bleibt hinter dem zurück, was sich als Vergangenheit, Möglichkeit und Problematik des dargestellten Menschen ahnen lässt, und doch ist der vorschwebende Eindruck keineswegs vage und diffus, sondern prägt sich so scharf und unver121 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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wechselbar ein, dass er einen so leicht nicht wieder los lässt. Auch ist es keine dumme Redensart, wenn wir ein solches Gegenüber »vielsagend« nennen, auch wenn wir nicht genau sagen können, was es uns sagt: Eine reiche Mannigfaltigkeit von Mitteilungen liegt darin, die wir gleichsam en bloc verstehen, ohne sie einzeln herausheben zu können. Wenn wir sie ausformulieren könnten, hätten sie z. B. die Form von Fragen (als Probleme), von Aufforderungen (als Normen, etwa Regeln), von Stoßseufzern (als Wünsche), von Ankündigungen und Lehren (als Sachverhalte). Mit dem Porträt kommen wir nicht weiter, außer indem wir darüber nachsinnen und es in unser Leben einwachsen lassen. Anders im Umgang mit Menschen. Auch da spielen solche vielsagenden Eindrücke, aus denen man nur Weniges sagend herausholen kann, eine maßgebliche Rolle. Wer einem Menschen begegnet, auf den er angewiesen ist, kann über diesen Partner oft nicht mehr als so viel sagen, dass er mit ihm »kann« oder »nicht kann«, dass dieser ihm sympathisch ist oder nicht, und hat doch schon sehr viel mehr von ihm verstanden, wie sich u. U. daran zeigt, dass er ihn zusehends geschickter »zu nehmen weiß«. Der kluge und wachsame Reisende, der in eine fremde Gegend kommt, wird sich mit Äußerungen über die Einheimischen und deren Lebensart anfangs oft gern zurückhalten, weil er mit seinem intelligenten Nachspüren hinter den vielsagenden Eindrücken, die er empfängt, oft schon viel weiter ist als mit dem, was er von dem Gespürten ausformulieren kann. Jeder solche Eindruck ist ein Vorverständnis, und es gibt eine spezifische intuitive Intelligenz, die von Eindruck zu Eindruck korrigierend und bereichernd am Vorverständnis weiterbaut, bis im günstigen Fall ein Verstehen »einschnappt«, das zwar nicht beliebig abrufbare Informationen über das Verstandene bereithält, aber wie ein im Gefühl verankerter Maßstab ist, der im richtigen Moment, wenn es darauf ankommt, ziemlich sichere und aufschlussreiche Gewissheit schenkt. Diese intuitive Intelligenz des Verstehens, die im innigen Zusammenleben zu zweit oder in größeren Gruppen zu solidarischem Verstehen im Sinne der Redensart »Wir verstehen uns schon« führen kann, ist von anderer Art als die analytische Intelligenz und mit dieser zwar verträglich, aber doch störbar durch allzu eifriges Abrufen einzelner Sachverhalte, Programme und Probleme in der Rede, die hier leicht zum Zerreden wird. Sie ist das Augenmaß, das nach Max Weber für den guten Politiker unerlässlich ist und diesen für seine Eingriffe ins Leben seiner Mitmenschen den passenden Augenblick und die richtige Dosierung finden lässt, wo bloß rationale 122 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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Berechnung kläglich versagen würde, ebenso aber die kluge Frau, den erfahrenen Arzt und den gewiegten Menschenkenner auszeichnet, die alle mit Eindrücken umzugehen verstehen. Aber was hat das nun mit dem Verstehen in den Geistes- und Geschichtswissenschaften zu tun? Dieses ist durchaus keine Beweismethode, sondern eher eine spezifische Begabung, die dem Geisterwissenschaftler nötig ist wie dem geschickten Sportler, Musiker oder Mathematiker die seinige: die Begabung zur Sensibilität und Bildsamkeit für Eindrücke, durchaus analog der eben als Augenmaß beschriebenen praktischen Intelligenz, aber mehr kontemplativ gerichtet und daher keineswegs regelmäßig mit dieser verbunden. Zusammen mit Begabung ist geschichtliches Verstehen aber auch kunstmäßiges Üben, nicht nach Rezepten, die es für das Verstehen überhaupt nicht gibt, sondern im jeweiligen Vollzug »vor Ort«, so, wie man früher ohne Anstandsbücher die feine Lebensart der Salons des Adels und gehobenen Bürgertums erwarb und pflegte. Den begabten Geisteswissenschaftler befähigt das Verstehen, seinem Gegenstand in gewissem Sinn Leben einzuhauchen, nicht als ob er die Toten auferwecken und in seine Zeit versetzen könnte, sondern so, wie man von einer Dichtung sagt, dass sie lebendig (nicht steif, hölzern und gekünstelt) sei. Worum es dabei geht, hat Simmel einmal im Zuge einer Parteinahme für Goethe gegen Schiller deutlich gemacht: Er »weist darauf hin, dass die Goetheschen Gestalten, im Gegensatz zu den Schillerschen, ihr Wesen nicht durch das erschöpfen, was sie auf der Bühne sagen. Es sei ihnen eigen, ›daß alles, was sie sagen und tun, nur als der zufällig beleuchtete, zu Worte kommende, dem Beschauer zugewandte Teil einer ganzen gerundeten, eine Unendlichkeit anderer möglicher Äußerungen einschließenden Persönlichkeit erscheint‹.« 5 In gleicher Weise gibt der Historiker vergangenen Menschen und Zuständen Leben zurück, indem er die Situationen, in denen jene sich gefunden und aus denen hervor sie sich verhalten haben, in geschichtlichem Verstehen rekonstruiert und das ihm beachtliche Tun und Lassen dieser Menschen als Verhalten zu solchen Situationen und den für sie aus diesen hervortretenden Sachverhalten, Programmen und Problemen vor den geschichtlich angemesse5 Georg Simmel: »Über Goethes und Kants moralische Weltanschauung«, in: Der Tag, Nr. 287 vom 21. 8. 1908, zitiert nach: Käthe Friedemann: »Die Rolle des Erzählers in der Epik«, in: Volker Klotz (Hrsg.): Zur Poetik des Romans. Darmstadt 1965, S. 162–196, hier S. 188 f.

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nen Hintergrund stellt. Darin liegt auch eine gewisse Erklärungsleistung. Man erfährt nämlich, warum, d. h. im Verhalten wozu oder im Bann wovon, die Menschen dies oder jenes getan und gelassen haben. In diesem Sinne kann man sagen, der Historiker erkläre durch sein geschichtliches Verstehen. Mit Deduktion aus allgemeinen Gesetzen hat dieses Erklären aber nichts zu tun, auch dann nicht, wenn es sich nicht um allgemeine Naturgesetze handelt, sondern um zeittypische Regelsysteme, gewissermaßen um Axiome, die einer einzelnen Kultur auf den Leib geschrieben sind. Natürlich darf kein Historiker solche Regeln vernachlässigen; es gibt sie in reicher Fülle, und sie sind wichtig genug. Der Hintergrund menschlichen Tuns und Lassens, den das Verstehen erschließt, unterscheidet sich von allen »Systemmengen« aber dadurch, dass er kein zahlfähiges Gefüge ist, sondern ein vielfältig schillerndes Ineinander von Nuancen und Valeurs mit ungenauen Einflussgraden, woraus sich einzelne Sachverhalte, Programme (darunter auch Regeln) und Probleme oft nur unvollständig wie Torsi abheben. Man kann sich das an undurchsichtigen Problemlagen klarmachen, an denen man grübelt, bis man sich zu einer Lösung oder Entscheidung durchgerungen hat. Viele und wichtige geschichtliche Situationen sind in der Tat von dieser Art. In welchem Sinn ist das beschriebene Verstehen eine wissenschaftliche Aufgabe? Es lässt sich ja nie beweisen, dass richtig verstanden worden ist, jedenfalls nicht so, dass der Zweifler nur zu registrieren und zu rechnen brauchte, um als vernünftiger Mensch unweigerlich überzeugt zu werden. Der Historiker oder Philologe befindet sich hier in derselben prekären Lage wie der Psychologe, der seine Versuchspersonen nicht bloß wie Maschinen betrachtet, deren Reaktionen auf Reize er möglichst verständnisblind als kaltblütiger Behaviorist registriert, sondern sein Augenmerk darauf richtet, dass er es mit lebenden und fühlenden Menschen zu tun hat. In diesem Augenblick hat er sich bereits auf Hypothesen eingelassen, die die rigiden Ansprüche zwingender Wissenschaft lockern. Trotzdem hat er dadurch keinen Freibrief erworben, der ihm gestattete, Befunde wegzulassen, umzubiegen oder zu erfinden, wenn die Sache dadurch besser verständlich wird, sondern er darf im Dienst seiner Hypothese, dass diese Sache lebt und fühlt und denkt, nur so viel behaupten, wie er nach kritischer Sichtung der Befunde verantworten kann. So verhält es sich auch mit dem Historiker, einschließlich des Kunst-, Literatur-, Rechts- und Religionshistorikers. Er ist Wissenschaftler, solange er mit der Gewissenhaftigkeit eines Detektivs alle Spuren 124 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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sichtet und siebt und sein Urteil darüber hinaus immer an der Frage prüft, ob seine Konstruktionen an diesen Spuren vernünftig befestigt sind; zugleich aber ist er mehr als Wissenschaftler, indem er sich von diesen Spuren durch seine belehrbare und anpassungsfähige Sensibilität für Eindrücke zu einem Bild des geschichtlichen Hintergrundes führen lässt. So ist er im Idealfall Diener zweier Herren, Dichter und Wissenschaftler zugleich, der in dieser Rolle die einzelnen Tatsachen ermittelt, in jener aber, auf dieser fußend, dem geschichtlichen Tun und Lassen seine vergangene Lebendigkeit zurückgibt. Beide Rollen brauchen sich nicht zu stören, geraten aber doch leicht in Spannung zu einander, so dass große Geschichtsschreibung oft ein kentaurenhaftes Wesen annimmt, wie Kurt von Fritz, seine Prüfung der historischen Zuverlässigkeit des Thukydides mit einem anschaulichen Vergleich abschließend, ausgeführt hat. 6 Deshalb ist es ungerecht und irreführend, die Theorie der Geschichtsschreibung, wie es neuerdings üblich geworden ist, ganz in der Wissenschaftstheorie aufgehen zu lassen. In Nicolai Hartmanns Ausdrucksweise dürfte die wissenschaftliche Seite der Historie als ihr stärkerer Wert (dessen Fehlen ein ärgerer Mangel ist) gelten, die dichterische aber als der höhere (dessen Vorhandensein, wenn beide zur Verfügung stehen, mehr ins Gewicht fällt). Aber warum soll man auf die dichterische Seite nicht ganz verzichten, etwa zu Gunsten einer Erklärungswissenschaft nach Hempel und Oppenheim ohne Rücksicht auf Verstehen? Weil Menschen nun einmal lebendige Wesen sind und wichtiger als alle Reinkultur der Wissenschaft die Aufgabe ist, ihnen als solchen gerecht zu werden, wozu freilich der nüchterne Tatsachensinn und die kritische Kontrolle gehören, die der Zucht wissenschaftlicher Methodik bedürfen.

Kurt von Fritz: Die griechische Geschichtsschreibung. Bd. 1: Von den Anfängen bis Thukydides. Text. Berlin 1967, S. 823.

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IV. Anthropologisches

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10. Gesundheit

Die grundlegende und allgemeine Formel zur Charakteristik der Gesundheit stammt von Aristoteles. Sie betrifft bei ihm aber nicht die Gesundheit, sondern die Lust. Platon hatte die Lust als den Prozess des Übergangs von einem Mangel zur Behebung dieses Mangels ausgegeben. Damit wollte er sie, skeptisch gegen Lust, zur bloßen Vorstufe der Vollkommenheit, die ohne Lust sei, herabsetzen. Dagegen wendet sich Aristoteles. Lust könne kein Prozess sein, denn jeder Prozess könne schneller oder langsamer stattfinden, aber es habe keinen Sinn, von schneller und langsamer Lust zu sprechen. Für Aristoteles verträgt sich Lust mit Ruhe und Vollkommenheit, sie ist die Auszeichnung eines Lebewesens, das in der Fülle seiner Kraft seine naturgemäße Anlage unbehindert in Aktion versetzen kann, also das, was Karl Bühler »Funktionslust« nennt. Demgemäß bestimmt Aristoteles im 7. Buch der »Nikomachischen Ethik« Lust als den ungehemmten Vollzug der naturgemäßen Fähigkeit (er sagt: des naturgemäßen Habitus, wobei Habitus das Gegenteil von Mangel oder Privation ist) eines Wesens. 1 Diese Formulierung lässt sich mit einigen Einschränkungen von der Lust auf die Gesundheit übertragen. Zunächst ist zu fordern, dass der Vollzug sozialverträglich ist. Wenn ein Mensch seinen Mitmenschen mit der unbehinderten Ausübung seiner natürlichen Anlage über Gebühr lästig fällt, wird man ihn für krank, etwa für einen Psychopathen, halten. Ferner bedeutet eine Behinderung durch bloße äußere Umstände keine Einschränkung der Gesundheit. Schließlich müssen auch solche Behinderungen ausgeschlossen werden, die auf moralischem Versagen beruhen. Bosheit und Niedertracht sind keine Krankheiten. Die Grundidee des Aristoteles, dass es auf die ungehinderte Entfaltbarkeit der eigenen Natur und der darin angelegten Fähigkeiten ankommt, lässt sich bei Berücksichtigung die1 Aristoteles: NE. 1153a14 f.; vgl. dazu Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. III/2: Der Gefühlsraum. Freiburg, München 2019, S. 491–495.

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ser Bedenken gut zur Bestimmung des Sinnes der Rede von Gesundheit benützen. Es ergibt sich dann etwa folgende Formulierung: Ein Lebewesen ist gesund, wenn es die zu seiner Natur gehörigen Fähigkeiten unbehindert entfalten kann, solange diese Entfaltung sozialverträglich ist und abgesehen von der Behinderung durch äußere Umstände und durch moralisches Versagen seinerseits. Es könnte scheinen, als ob damit ein Wegweiser gefunden sei, dem sich ohne Probleme folgen ließe, um die Gesundheit zu finden. Die Probleme ergeben sich aber erst bei dem Versuch, den gewiesenen Weg zu gehen. Aristoteles dachte biologisch. Demgemäß ist seine Definition glatt anwendbar auf Pflanzen und Tiere. Bei ihnen hat es klaren Sinn, von ihrer spezifischen Natur zu sprechen und dieser einen Katalog von naturgemäßen Fähigkeiten zuzusprechen, deren unbehinderte Ausübbarkeit unter günstigen Umständen als die Gesundheit des betreffenden Lebewesens zu gelten hat. Bei einer Pflanze handelt es sich z. B. um den gesunden Wuchs zu der betreffenden Vollform, um die gehörige Behauptung gegen Trockenheit, Regen und Wind und die Photosynthese. Im Fall der Tiere ist der Katalog komplizierter. Ein Löwe muss gut schlafen, scharf sehen, jagen, fressen, ausscheiden, sich paaren, je nach Geschlecht brüllen oder gebären können und die dazu erforderlichen Körperteile, Körperformen und Körperfunktionen entsprechend ausbilden. Auch der Mensch ist ein Tier. Seiner tierischen Natur kann man ebenso wie der des Löwen, und in ziemlich ähnlicher Weise, einen Katalog naturgemäßer Fähigkeiten zuordnen, deren unter günstigen äußeren Umständen unbehinderte Ausübbarkeit die Gesundheit des Menschen als Tier ausmacht. Mit der Erhaltung und Wiederherstellung der so verstandenen tierischen Gesundheit des Menschen beschäftigt sich die gesamte somatische Humanmedizin, sofern sie bloß eine solche ist. Der Augenarzt z. B. bemüht sich um die Wiederherstellung oder Erhaltung der natürlichen Sehfähigkeit, so gut das nach Lage des Falls möglich ist; ebenso könnte er sich um die Augen einer Kuh oder eines Huhns bemühen, und bei experimentellen ophthalmologischen Arbeiten am Tiermodell kommt so etwas vielleicht wirklich vor. Der somatische Mediziner ist insofern ein Veterinär des Menschen. Wenn er sich nur an der anatomischen und funktionalen Integrität des körperlichen Menschentieres orientiert, braucht er aus der Unterscheidung zwischen Gesundheit und Krankheit kein Problem zu machen, da über den Katalog der naturgemäßen Fähigkeiten dieses Tieres hinlängliche Über130 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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einstimmung besteht. Der orthopädische Chirurg, der ein gebrochenes Bein auf den Weg zur Heilung bringt, kann sich sicher sein, dass er damit einen Beitrag zur Wiederherstellung der Ausübbarkeit der naturgemäßen Fähigkeiten desjenigen Tieres leistet, das sein Patient eben auch ist. Die Schwierigkeit der Anwendung der aristotelisierenden Gesundheitsformel beginnt erst beim Menschen, sofern er nicht nur ein Tier oder ein ganz besonderes Tier ist. Die offene Frage ist, ob und wie man von einer Natur dieses Menschen mit einem Katalog von Fähigkeiten, deren sozialverträgliche Ausübbarkeit ohne Behinderung durch äußere Umstände und moralisches Versagen seine Gesundheit wäre, sprechen darf. Die aristotelische und scholastische Tradition hat sich die Antwort auf diese Frage zu leicht gemacht. Sie meint, das Menschliche als spezifische Differenz zur generischen Tiernatur glatt hinzufügen zu können, als den Logos, die Fähigkeit vernünftiger Rede, und kommt so zur Definition des Menschen als vernünftiges Tier (animal rationale). Da die spezifische Differenz nach Aristoteles mehr als die Gattung bei der Wesensbestimmung ins Gewicht fällt, ist demgemäß der Mensch für Thomas von Aquino in erster Linie Vernunftwesen, dem seine tierische Natur unterworfen werden muss. In Wirklichkeit ist das spezifisch Menschliche aber kein glatt und unproblematisch anfügbarer Zusatz zur Tiernatur, sondern eine sehr dynamische, labile und zwiespältige Ergänzung, die mehr oder weniger den Versuch durchkreuzt, die gesunden, naturgemäßen Fähigkeiten des Menschen im Vollsinn zu einem Katalog zu bündeln. In diese Schwierigkeit will ich jetzt einführen, indem ich auf die Grundgedanken meiner Anthropologie zurückkomme. Da ich diese nach vielen Darstellungen als mehr oder weniger bekannt voraussetzen darf 2, werde ich bei dieser Skizze auf ausführliche Einführung der Begriffe und Begründung verzichten. Der Mensch im Vollsinn ist Person. Eine Person ist ein Bewussthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung. Selbstzuschreibung besteht darin, einen Fall mehrerer Gattungen für sich selbst zu halten, also z. B. in meinem Fall einen Mann, einen Menschen, einen Professor, einen Deutschen, einen Philosophen für mich selbst. Indem ich die Rollen, die ich als solcher Fall je einer Gattung als die meinen 2 Zur Einführung vgl. Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie. Freiburg, München 2010 und ders.: Bewusstsein. Freiburg, München 2010.

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anerkenne, überlege, vergleiche, auf einander abstimme oder gegen einander ausspiele, kann ich mir über meine Stellung in meiner näheren und ferneren Umgebung und über meine Aufgabe und Verantwortung klar werden, solche Stellungen, Aufgaben, Verantwortungen übernehmen oder kritisieren, Rechenschaft ablegen usw. Das macht mich zur Person. Die Selbstzuschreibung ist ein identifizierendes Sichbewussthaben; sie setzt ein nicht identifizierendes Sichbewussthaben voraus, damit für die Identifizierung des betreffenden Professors, Deutschen, Mannes usw. ein Relat, womit identifiziert wird, in der zur Selbstzuschreibung erforderlichen Weise vorliegt. Ich muss schon ohne Identifizierung wissen, dass es sich um mich handelt, mit dem der Fall solcher Gattungen identifiziert werden soll; sonst führt die fortschreitende Identifizierung nur ins Unendliche zu einer Anhäufung immer weiterer Gattungen, aus denen nie ein Grund für die Annahme zu gewinnen ist, dass gerade ich der Fall aller dieser Gattungen sei. Dieses vorgängige, nicht identifizierende Sichbewussthaben, das durch die Selbstzuschreibung bloß ergänzt wird, besteht im affektiven Betroffensein, weil dessen Tatsachen subjektiv, d. h. durch ihre bloße Tatsächlichkeit (ohne Rücksicht auf ihren Inhalt) an den Betroffenen adressiert sind, mit der Folge, dass höchstens er sie aussagen kann. Im affektiven Betroffensein findet man also identifizierungsfrei sich und das, was einen betroffen macht. Wie gelingt es, in diesem Zusammenhang identifizierungsfrei sich selbst zu finden? Das ist nur möglich durch die leibliche Engung, das »Zusammenfahren« z. B. vor Schreck, beim plötzlichen Einbruch des Neuen, das Dauer zerreißt, Gegenwart exponiert und die zerrissene Dauer ins Nichtmehrsein verabschiedet; die exponierte Gegenwart ist die primitive, in der die erlittene Engung als Hier (absoluter Ort), das Plötzliche als Jetzt (absoluter Augenblick), die aufdringlich hervortretende Wirklichkeit (das Sein), die absolute Identität als dieses, das es selbst und von der verabschiedeten Dauer verschieden ist, und die Subjektivität des Betroffenseins, selbst dieses zu sein, das betroffen wird, untrennbar und ununterscheidbar verschmelzen. Dabei fehlt mit der Aussicht auf Gattungen die relative Identität von etwas mit etwas, d. h. eines Falles dieser Gattung mit einem Fall jener (meist einer anderen) Gattung, und damit die Möglichkeit der Identifizierung; statt dessen sorgt der Zusammenfall von absoluter Identität und Subjektivität für ein identifizierungsfreies Sichbewussthaben in der primitiven Gegenwart. Diese ist ein seltener, vielleicht nie ganz erreichter Ausnahmezustand, der aber beständig als Aussicht vorgehalten 132 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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wird durch die Engungskomponente des spürbaren vitalen Antriebs, in dem Engung und Weitung als Spannung und Schwellung gegenläufig – einander hemmend und gerade dadurch aktivierend – verschränkt sind. Der vitale Antrieb übergreift den Leib in der Einleibung als gemeinsamer Antrieb, der Leiber mit Leibern und – vermittelt durch Brückenqualitäten, nämlich Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere – mit leiblosen Gestalten (Dingen und Halbdingen) zusammenschließt. Aus Dauer, primitiver Gegenwart, leiblicher Dynamik mit dem vitalen Antrieb als Achse und leiblicher Kommunikation, deren wichtigste Gestalt die Einleibung ist, bildet sich das Leben aus primitiver Gegenwart, das Tiere und Säuglinge führen, sowie Personen bei routinierten Verrichtungen und in Zuständen der Fassungslosigkeit. Es ist von der primitiven Gegenwart her durch absolute Identität und Verschiedenheit vor Verwechslungen (z. B. Apraxie) geschützt und von Situationen, deren binnendiffuse Bedeutsamkeit Mannigfaltiges integriert, durchzogen. Die Bedeutsamkeit besteht aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme und/oder Probleme sind, und ist in dem Sinn binnendiffus, dass im Leben aus primitiver Gegenwart in ihr nichts, sonst wenigstens nicht alles, einzeln ist; einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Dies ist, schnell ohne Abschweifung in Erläuterungen und Begründungen skizziert, die präpersonale Unterschicht der Person. Diese erhebt sich aus ihr zunächst durch satzförmige Rede, mit der es gelingt, über die die Situationen ganzheitlich bearbeitenden Rufe und Schreie hinaus einzelne Bedeutungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit herauszuholen und zu verknüpfen. Damit werden Sachverhalte als Gattungen und Sachverhalte des Fallseins unter Gattungen bereitgestellt, mit deren Hilfe Beliebiges im Mannigfaltigen vereinzelt werden kann; denn Einzelheit ist, wie sich leicht zeigen lässt, absolute Identität mit Fallsein von Gattungen. Aus der Vereinzelung ergibt sich die Entfaltung der in der primitiven Gegenwart verschmolzenen fünf Momente durch Aufspannung in fünf Dimensionen (Ortsraum, modale Lagezeit, Sein und Nichtsein, relative Identität, das Eigene und Fremde) zur Welt als dem Rahmen oder Feld möglicher Vereinzelung. Eine von diesen Dimensionen, die letztgenannte, ist die Dimension der Subjektivität. Der absolut identische Bewussthaber des Lebens aus primitiver Gegenwart erhebt sich durch Selbstzuschreibung, sich als Fall von Gattungen zu verstehen, zum einzelnen Subjekt. Damit hat er aber noch nicht den Ertrag der Selbstzuschreibung für das Personsein gewonnen, nämlich das Ver133 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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mögen zum Umgang mit den Rollen, die ihm als Fall mehrerer Gattungen zufallen, in frei verfügender und Stellung nehmender Reflexion am Leitfaden relativer Identität. Dazu fehlt noch die Neutralisierung, wie in schweren Träumen, in denen er zwar schon als einzelnes Subjekt in Selbstzuschreibung vorkommt, aber dank der verbliebenen Subjektivität aller Bedeutungen für ihn keinen Abstand von dem, was ihm zufällt, zu ungebunden prüfender Reflexion hat. Die Neutralisierung der Bedeutungen, die mit der Vereinzelung einhergeht, besteht im Abfall der Subjektivität für den affektiv Betroffenen; es entstehen neutrale oder objektive Bedeutungen, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann. Von den neutralisierten Bedeutungen heben sich die für die Person subjektiv bleibenden als das Eigene im Gegensatz zum Fremden ab, in Gestalt der persönlichen Situation, die volkstümlich als die Persönlichkeit einer Person bezeichnet wird, und als persönliche Eigenwelt gegenüber einer persönlichen Fremdwelt. Die Abgrenzung ist nicht scharf, denn zwischen dem Eigenen und dem Fremden entstehen breite Grauzonen, in denen das Eigene durch zunehmende Neutralisierung von Bedeutungen in das Fremde ausläuft. Die Abhebung des Eigenen vom Fremden durch Vereinzelung und Neutralisierung ist personale Emanzipation. Sie verschafft der Person ihre vorhin angegebene spezifische Leistungsfähigkeit, sich von sich Rechenschaft geben, sich in beweglicher Überlegung auf dieses oder jenes Fallsein unter einer Gattung festlegen, sich einordnen zu können. Andererseits bedarf sie zur bloßen Möglichkeit der Selbstzuschreibung, nämlich zum Schöpfen des Relats durch nicht identifizierendes Sichbewussthaben, des Rückgangs in die Aussicht auf primitive Gegenwart durch personale Regression, d. h. Eintauchen in das Leben aus primitiver Gegenwart im leiblich-affektiven Betroffensein ohne Sonderung des Eigenen und Fremden. Der Mensch ist nur Person, indem er zwiespältig zwischen personalem Leben und präpersonalem Leben aus primitiver Gegenwart, zwischen personaler Emanzipation und personaler Regression, in der Mitte steht, wechselnd zwischen Niveaus personaler Emanzipation, die sich durch die Ausprägung der Scheidung des Eigenen vom Fremden unterscheiden, und oft auf mehreren Niveaus zugleich. Durch Prozesse der personalen Emanzipation und personalen Regression, der Explikation von Bedeutungen aus der persönlichen Situation und der Implikation in sie angesichts von Herausforderungen entwickelt sich lebenslang die persönliche Situation wie eine zähflüssige Masse, in 134 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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der viele partielle Situationen wie zähflüssige Massen gleiten und sich reiben. Diese rasch durcheilende Skizze aus der Anthropologie hat die unentbehrlichen Voraussetzungen geschaffen, um beurteilen zu können, in welchem Sinn noch bei Personen von einer Natur mit natürlichen Anlagen gesprochen werden darf, deren Ausübbarkeit unter hinlänglich günstigen Umständen als die Gesundheit der Person bestimmt werden könnte. Diese Natur müsste in erster Linie in der Fähigkeit bestehen, sich im Zwiespalt von personaler Emanzipation und personaler Regression zu stabilisieren und zurechtzufinden. Dafür hat die Person ihre Fassung, eine partielle Situation in ihrer persönlichen Situation. Die Fassung besteht darin, in spielerischer Identifizierung, ohne Fiktion und ohne Verwechslung, sich mit etwas zu identifizieren, das eindeutiger ist als das, was die Person wirklich ist. Solcher Festlegung bedarf die Person, um sich nicht zu entgleiten, sei es im Zwiespalt von personaler Emanzipation und Leben aus primitiver Gegenwart, sei es im Entgleiten der Person in Neutralisierung, das sie durch persönliche Formgebung in einer sich selbst objektivierenden Fassung auffängt. Die Fassung besteht teils in der Übernahme sozialer Rollen, teils in einem Gehabe, einer inneren Haltung, womit die Person an Herausforderungen heran oder von ihnen weg tritt, z. B. bedächtig oder zupackend, liebenswürdig oder misstrauisch. Für die Wahl der Fassung gibt es keinen Kanon. Die Person verschafft sich dadurch gleichsam eine zweite Natur über der tiermenschlichen, näher bei der personalen Emanzipation oder bei der personalen Regression. Dem entsprechen verschiedene Typen von Gesundheit als Gelegenheiten zu ungehinderter Ausübung der Fähigkeiten, die diese zweite Natur dem Menschen auf Grund seiner persönlichen Situation verschafft. Ich gebe dafür zwei Gedichte von Goethe zur Veranschaulichung der divergierenden Möglichkeiten personaler Gesundheit. Zuerst ein Gedicht auf den Dichter Christoph Martin Wieland, Goethes Zeitgenossen und Vorgänger am Fürstenhof in Weimar: Lebensweisheit, in den Schranken Der uns angemessnen Sphäre, War des Mannes heitre Lehre, Dem wir manches Bild verdanken. Wieland hieß er! Selbst durchdrungen Von dem Wort, das er gegeben, War sein wohlgeführtes Leben Still, ein Kreis von Mäßigungen.

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Geistreich schaut’ er und beweglich, Immerfort aufs reine Ziel, Und bei ihm vernahm man täglich: Nicht zu wenig, nicht zu viel. Stets erwägend, gern entschuldgend, Oft getadelt, nie gehasst; Ihr mit Lieb und Treue huldgend, Seiner Fürstin werter Gast. 3

Ein Leben in vorsichtig-liebenswürdiger Dosierung und Selbstbeschränkung der Lebenskraft! Geradezu ein Schulbeispiel gesunder Fassung, wie die Weisen es uns nahelegen, aber etwas zu sehr gedämpft durch personale Emanzipation; es fehlt die Gesundheit der Kraft, des Wagemuts. Das nun bietet im Übermaß die Vision des jungen, dem Sturm und Drang verhafteten Goethe, die ihm sicherlich bei der Vorüberfahrt an einer mittelalterlichen Burgruine am Rhein aufstieg, in dem Gedicht »Geistesgruß«: Hoch auf dem alten Turme steht Des Helden edler Geist, Der, wie das Schiff vorübergeht, Es wohl zu fahren heißt. Sieh, diese Sehne war so stark, Dies Herz so fest und wild – Die Knochen voll von Rittermark, Der Becher angefüllt – Mein halbes Leben stürmt ich fort, Verdehnt’ die Hälft in Ruh. Und du, du Menschenschifflein dort, Fahr immer, immerzu! 4

Der Ritter hat sich in Abenteuern und alkoholischen Exzessen ausgetobt und danach sein Leben auf der Burg vertrödelt. Er hat sich eine Fassung mit dem Akzent auf personaler Regression zugelegt, die altersweise Belehrer kaum als Vorbild einer besonders gesunden Lebenshaltung gelten lassen dürften, aber er hat jedenfalls aus dem Vollen gelebt, während Wielands Leben sich nach dem Gedicht in ziemlich dünner Luft abspielte, und hat darüber keineswegs die Fassung Johann Wolfgang von Goethe: »Maskenzug. Bei Allerhöchster Anwesenheit Ihro Majestät Kaiserin-Mutter Maria Feodorowna in Weimar«, in: ders.: Goethes sämtliche Werke. Band 31 (Propyläen-Ausgabe). Berlin 1925, S. 200–238, hier S. 213. 4 Johann Wolfgang von Goethe: »Geistesgruß«, in: ders.: Goethes sämtliche Werke. Band 2 (Propyläen-Ausgabe). München 1909, S. 22. 3

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verloren, wie seine geisterhafte Anwesenheit auf dem hohen Turm, lange nach seinem Tod, mit gutmütig herablassendem Wohlwollen erkennen lässt. In der Perspektive der Fassung, in die als zweite Natur der Ritter eingegangen ist, hat er die dieser Natur gemäßen Fähigkeiten voll und ungehindert, hoffentlich auch sozialverträglich, ausgelebt, und daher wird man ihm im Sinne der aristotelischen Formel eine eigentümliche Gesundheit bescheinigen dürfen. Goethes Wieland und alter Ritter sind zwei Lösungen der jeder menschlichen Person zufallenden Aufgabe, im Zwiespalt zwischen personaler Emanzipation und präpersonaler Verwurzelung eine eigene Lebensform zu finden. Dieser Zwiespalt, zusammen mit dem verwandten Zwiespalt zwischen Subjektivität und ihrem Entgleiten in den Grauzonen zur Neutralität hin, vereitelt die Glättung personalen Menschseins zu einem einheitlichen Leitbild der menschlichen Natur mit einem überschaubaren Katalog von Fähigkeiten, deren ungehinderte Ausübung das Kennzeichen der Gesundheit wäre. Statt dessen muss jede Person ihre eigene Gesundheit finden. Personales Menschsein ist durch seinen eingepflanzten Zwiespalt eine Krankheit, die sich ihre eigene Gesundheit bestimmen muss, über die elementare tierische Gesundheit hinaus, die der somatische Arzt als Humanveterinär zu befördern sucht. Auf dieses Leitbild einfacher tierischer Gesundheit beruft sich das feuchte Weib, das in Goethes berühmter Ballade »Der Fischer« aus bewegtem Wasser hervorrauscht und den einsamen Angler unter anderem mit den Worten bestrickt: Ach wüßtest du, wie’s Fischlein ist So wohlig auf dem Grund, Du stiegst hernieder, wie du bist, Und würdest erst gesund. 5

Die Person muss dagegen ihre eigene Gesundheit in einer Fassung finden, die die ungehinderte Entfaltung der in ihrer Persönlichkeit, ihrer persönlichen Situation, einschließlich der diese tragenden und ihr die vitale Antriebskraft spendenden leiblichen Disposition, angelegten Fähigkeiten möglichst begünstigt, soweit die Weckung dieser Fähigkeiten sozialverträglich ist. Das ist die von Nietzsche beschworene »große Gesundheit – eine solche, welche man nicht nur hat,

5 Johann Wolfgang von Goethe: »Der Fischer«, in: ders.: Goethes sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe. Bd. 1. Hrsg. v. Eduard von der Hellen. Stuttgart, Berlin 1902, S. 106 f.

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sondern auch beständig noch erwirbt und erwerben muss, weil man sie immer wieder preisgibt, preisgeben muss!« 6, eine Gesundheit, die nur in schwingender Anpassung der Fassung beim Reiten auf den Wellen personaler Emanzipation und personaler Regression zu gewinnen und zu bewahren ist. Sie kann in Widerspruch mit der tierhaft natürlichen Gesundheit geraten; der große Mathematiker Leonhard Euler, der größte Erfinder der Mathematikgeschichte, soll sich gefreut haben, als er im Alter erblindete, weil der Druck der Ablenkungen damit endlich abnähme. Diese große Gesundheit muss die Person zwar selbst finden, aber nicht allein. Von sich selbst, von der eigenen Persönlichkeit, kann sie keinen Eindruck haben. Die persönliche Situation ist segmentiert, in dem Sinn, dass sie immer nur in Ausschnitten zum Vorschein kommt; wohl aber kann sie in vielsagenden Eindrücken, d. h. impressiven Situationen, deren Bedeutsamkeit mit einem Schlage präsent ist, plakatiert werden, aber diese Plakate sind truganfällig und auch nur dem Mitmenschen zugänglich, der oft schon beim ersten Eindruck in der Begegnung prägnant zu spüren meint, mit welcher Persönlichkeit er zu tun hat, und diesen Eindruck in zunehmender Vertrautheit prüfen, verfeinern oder berichtigen kann. An die eigene Persönlichkeit kommt die Person nur synthetisch, von fragmentarischen Einblicken in das eigene Verhalten und Reagieren aufsteigend, heran; deswegen wirkt es wenig überzeugend, wenn sie über sich pauschale Charakterisierungen abgibt, zu denen der Mitmensch viel eher befugt ist. Daher ist der Mitmensch berufen, ihr dabei zu helfen, sich in die Entfaltung der für die ihrer Persönlichkeit angehörigen Fähigkeiten günstigste Fassung einzuleben. Dazu ist besonders sein liebender Blick befähigt, der von einem impressiven Leiteindruck, den der Liebende von der persönlichen Situation des Geliebten empfängt, gefesselt und geleitet wird und damit unwillkürlich den Geliebten zu dessen Möglichkeiten leitet. 7 Obendrein gibt es soziale und zeittypische Ideale, nach denen die Person sich so formen kann, dass sich ein die Genossen der betreffenden Population überzeugender Eindruck von Gesundheit ergibt, wie die Kalokagathie der altgriechischen Adelsgesellschaft. Ein allgemeiner Kanon der Gesundheit für Personen ist demnach nicht möglich. Wohl aber kommen gelegentlich evidente Eindrücke, Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft (Kritische Studienausgabe. Hrsg. v. Gorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 3). München 1999, S. 636 (§ 382). 7 Hermann Schmitz: Die Liebe. Bonn 1993, S. 90–97 (Kapitel »Der Leiteindruck«). 6

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impressive Situationen vor, die den Beobachter davon überzeugen, mit einem exemplarisch misslungenen oder exemplarisch gelungenen Fall personaler »großer« Gesundheit zu tun zu haben. Für beide Möglichkeiten stehen Formulierungen Goethes bereit. Für das Extrem des Misslingens lautet eine solche: »Es gibt problematische Naturen, die keiner Lage gewachsen sind, in der sie sich befinden, und denen keine genug thut. Daraus entsteht der ungeheure Widerstreit, der das Leben ohne Genuß verzehrt.« 8 Für das Gelingen stehen die schönen Verse über die idealisierten Arkader im 3. Akt des 2. Teils von »Faust«: Hier ist das Wohlbehagen erblich, Die Wange heitert wie der Mund, Ein jeder ist an seinem Platz unsterblich: Sie sind zufrieden und gesund. 9

Der Gegensatz entsteht durch das verschiedene Verhältnis der erworbenen Fassung zu den prospektiven partiellen Situationen in der persönlichen Situation, den oft geheimen Wunsch-, Leit- und Schreckbildern, die der Person, auch ohne deutlich hervorzutreten, vorzeichnen, worauf sie hinaus und wovon sie weg will, und auch unter einander im Konflikt geraten können. Wie schwer diese prospektiven Anteile der eigenen Persönlichkeit der Person zugänglich sein können, zeigt sich bei schwierigen Lebensentscheidungen von beträchtlicher Tragweite, vor denen oft ein quälendes Hin- und Herwälzen der Argumente für und wider einsetzt, unter dem sich eine Art von Kneten der persönlichen Situation verbirgt, bis diese preisgibt, was bezüglich der zur Entscheidung anstehenden Alternative zu ihr, d. h. zu ihren prospektiven Anteilen, passt; wenn es dahin kommt, wird das Wälzen der Argumente ruckartig abgebrochen, denn die Entscheidung ist gefallen. Nun gibt es Menschen, denen die Abstimmung ihrer Fassung auf das, was sie eigentlich wollen, d. h. worauf ihre persönliche Situation, ob auch unerkannt, hindrängt, ganz und gar misslingt, wie Goethes problematischen Naturen, vielleicht, weil diese prospektiven partiellen Situationen in unschlichtbarem Streit miteinander liegen. Auf der anderen Seite kann es Menschen geben, Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen. Hrsg. v. Max Hecker (Schriften der Goethe-Gesellschaft. Bd. 21). Weimar 1907, S. 24 (Nr. 134). 9 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Zweiter Teil. (Goethes sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe. Bd. 14. Hrsg. v. Erich Schmidt). Stuttgart, Berlin 1906, Verse 9550– 9553. 8

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deren Fassung sich besonders gut den prospektiven partiellen Situationen in ihrer persönlichen Situation anschmiegt, und dann meint man, einem in ausgezeichneter Weise personal gesunden Menschen zu begegnen, aber auch ein solcher Eindruck kann eine Kehrseite haben und fragwürdig werden, weil der grundsätzliche Zwiespalt des Personseins nicht zu heilen ist: eine interessante und fruchtbare Krankheit.

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11. Der Nihilismus und die Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart

Nietzsche hat den Nihilismus, dass dem Menschen nichts mehr an sich wichtig ist und seinem Willen nicht mehr ein beharrliches Ziel vorgibt, sondern alles nur noch wie eine Laune dem Belieben als Spielball dienen kann, für seine Zeit und erst recht für das folgende Jahrhundert diagnostiziert bzw. prognostiziert und darauf zurückgeführt, dass die obersten Werte entwertet worden seien. Diese Diagnose ist kaum glaubhaft, wie das Beispiel der alten Griechen zeigt. Die Griechen waren in diesem Sinne keineswegs im Großen und Ganzen Nihilisten, und dennoch fehlten ihnen die obersten Werte. Ihre wichtigsten Werte waren nämlich personifiziert in Gestalt von Göttergestalten, die wie Dionysos und Apollon zueinander konträr standen oder gar wie Aphrodite und Artemis nach dem »Hippolytos« des Euripides einander bekriegten, so dass es keine obersten Werte gab, die das Wertesystem vereinheitlicht hätten. Das Fehlen solcher obersten Werte reicht also nicht zum Nihilismus aus. Nietzsche hat den Nihilismus an der falschen Stelle gesucht, nämlich bei den Objekten des Willens, die mehr oder weniger entwertet worden seien. Tatsächlich ist diese Wurzel aber auf der Subjektseite zu suchen in einer Krise des Selbstbewusstseins, die ihren Ausgang in Deutschland im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts bei Johann Gottlieb Fichte nahm und sich sodann mit langfristigen Folgen ausgebreitet hat und auch noch in der Gegenwart fortwirkt. Fichte hatte nämlich die Eigenart der subjektiven Tatsachen, dass höchstens einer sie im eigenen Namen aussagen kann, entdeckt am Selbstbewusstsein, nämlich als die Tatsache, dass ich selbst jeweils etwas bin, wodurch eine Tatsache in einer ihm nicht ganz durchsichtigen Weise herausgehoben wurde gegenüber den Tatsachen, die das betreffen, was ich demnach bin. Er spricht davon, dass im Gegensatz zu den Tatsachen, was überhaupt los ist und was ich jeweils bin, die Tatsache, dass ich selbst dieses oder jenes bin, nicht gelernt werden könnte, weder aus der Erfahrung noch aus apriorischen Prinzipien, sondern dass man dies von sich aus mitbrin141 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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gen müsste. Nun ist Fichte aber mit der Eigenart dieser subjektiven Tatsachen nicht zurechtgekommen, weil er alle Tatsachen mit all seinen Zeitgenossen und seinen Vorgängern für objektiv hielt, und zwar für objektiv in folgendem Sinn: Eine Tatsache ist objektiv, wenn jeder sie aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann. Dagegen ist die Tatsache subjektiv, wenn immer nur höchstens einer im eigenen Namen sie aussagen kann, obwohl auch andere so gut wie er in der Lage sind, darüber zu sprechen, und zwar mit geeigneten Kennzeichnungen und Benennungen. Die richtige Einordnung der subjektiven Tatsachen in die Tatsachen überhaupt ist Fichte nicht gelungen. Stattdessen ist er, um diesen Tatsachen gerecht zu werden, von allen vermeintlich immer nur objektiven Tatsachen ausgewichen, und zwar zunächst auf das Ich, das sich selbst setzt als Tathandlung im Gegensatz zu allen Tatsachen. Und dann, nachdem diese Lösung sich als unhaltbar, weil allzu weltfremd erwies, ist er sich selbst korrigierend und geschichtlich weit folgenreicher ausgewichen auf die Deutung des Ich als Schweben über allen Tatsachen im Zirkel von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Bestimmen und Bestimmtwerden durch das Nicht-Ich. Diese Deutung des Ich als ein Schweben, die Novalis dann aufgenommen hat, ist geschichtlich sehr folgenreich gewesen, und zwar in zwei Beziehungen. Einerseits bei Kierkegaard und den ihm nachfolgenden Existenzialisten, wobei das Schweben verstanden wurde nach Kierkegaard als ein Höhenschwindel, der als Angst das Subjekt oder den Geist, wie er sagt, fasst, wenn er aus der Höhe hernieder sieht auf seine eigenen Möglichkeiten und im Schwindel dann irgendein endliches Gehäuse, wie Jaspers es ausdrückt, fasst und sich darin verschanzt, um überhaupt noch irgendeinen Halt zu haben. Das ist das Grundmotiv der Existenzphilosophie. Die andere, geschichtlich eher noch folgenreichere Auswertung von Fichtes Schweben des Ich über allen Tatsachen findet sich bei Friedrich Schlegel als romantische Ironie. Diese romantische Ironie besteht in einem Virtuosentum, aus dem Abstand von allen beliebigen Standpunkten sich auf jeden beliebigen versetzen zu können und ebenso von jedem beliebigen Standpunkt sich wieder zurückziehen zu können. Diese virtuose Wendigkeit, die die Not des Schwebens zu einer Tugend macht, hat sich dann weiter entwickelt im 19. Jahrhundert zur Figur des Dandys, und während sie bei Friedrich Schlegel und Novalis noch mehr ein poetisches Spiel war, ist diese Ironie von Max Stirner blutig ernst genommen und ins Nihilistische umgedeutet worden, indem er sich aus einem Vers von Goethe den Wahlspruch 142 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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zu eigen machte: »Ich hab’ mein Sach’ auf nichts gestellt«. 1 Daran nun knüpft Nietzsche an mit seiner Diagnose des Nihilismus, die ja vielmehr zurückgeht auf Jacobi, der dieses von Fichte für das Ich vorgesehene Schweben über allen Tatsachen und allen Standpunkten bereits als Nihilismus bezeichnet hatte, unmittelbar während Fichte seine These aufstellte. Dieser Nihilismus ist in diesem Sinne als romantische Ironie zu verstehen, verschärft durch Max Stirner, indem nämlich jetzt der Mensch aus einem großen Abstand heraus mit allen möglichen Standpunkten zu spielen lernt. Das ist heute noch ganz besonders durch die Technik und die technischen Möglichkeiten der Kommunikation – am harmlosesten ist noch das Radio – den Menschen direkt nahegelegt worden. Friedrich Schlegel hat die Büchse der Pandora aufgemacht, die sich seither als das ironistische Zeitalter ergießt und mit der Macht der Technik zusammengeht, die dem Menschen ein irreführendes Souveränitätsgefühl beibringt, während er in der Tat von der Technik ganz und gar abhängig ist. Nietzsche, der selbst der romantischen Ironie verpflichtet ist, bezeichnet sich zum Beispiel als Souverän, der sich auf seine Leidenschaften und Erregungen setzen kann wie auf Pferde, ja wie auf Esel, also der mit seinen Gefühlen spielen kann, und er gibt sich aus als freier Geist, ja als sehr freier Geist, für den der Grundsatz der Assassinen gilt: Nichts ist wahr, alles ist erlaubt. Hier wird schon bei Nietzsche aus der romantischen Ironie die Folgerung gezogen, die der Philosoph Feyerabend in die noch kürzere Formel brachte: »Anything goes«, »alles Beliebige geht«, und damit sind wir in der Tat beim Nihilismus in der eben angezeigten Weise. Während nämlich die Existentialisten nach Kierkegaard dieses Etwas ganz besonders wichtig nahmen, was Kierkegaard als die ewige Seligkeit im Interesse des Ich ausgab, ist doch die ironistische Konsequenz dieses Schwebens in scheinbarer Souveränität über allen Standpunkten mit beliebiger Zugriffsmöglichkeit geschichtlich noch folgenreicher geworden. Ich will noch den Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Tatsachen etwas ausführen, weil es darauf hinausläuft, dass die theoretische Überwindung jedenfalls dieses Nihilismus abhängt von der Verdeutlichung dieses Unterschiedes, während die praktische Überwindung eine Sache der Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart ist. Der begriffliche Unterschied zwischen objektiven und für jemand subjektiven Tatsachen wurde schon erläutert. Die objekti1

Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. Freiburg 2009, S. 13.

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ven Tatsachen, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann, sind, sofern sie einen Menschen betreffen, für ihn zufällig. Denn jede von diesen Tatsachen könnte ebenso gut für einen anderen Menschen gelten, und das gilt sogar für alle diese Tatsachen zusammen, für alles, was das Leben und die Person eines Menschen ausmacht, mit allen zugehörigen Attributen, das heißt Eigenschaften und Relationen, sofern sie in objektiven Tatsachen aufgehoben werden können, denn nicht nur jedes einzelne solches Attribut könnte ebenso gut auch einem anderen zukommen, sondern das gilt auch für alle diese Attribute, wie sich daran zeigt, dass es zwar aussichtslos, aber widerspruchsfrei ist, wenn ein Mensch, der mit seinem Leben unzufrieden ist, sich in ein anderes Leben, eine andere Person hineindenkt, was ganz unmöglich und ganz widerspruchsvoll wäre, wenn er mit der Summe der Eigenschaften und Relationen, also insgesamt der Attribute seines Lebens und seiner Person identisch wäre, als Zusammenfassung aller dieser Merkmale. Denn dann entstünde ja der Widerspruch, dass er selbst mit allen diesen seinen Attributen gleichzeitig damit unvereinbar andere Attribute hätte, nach denen er sich sehnt, indem er in die Haut eines Anderen hereinzuschlüpfen begehrt und entsprechenden Träumereien nachhängt. Das gelingt ohne jeden Anstoß, und daran zeigt sich, dass dieser Gesamtbestand dessen, was zu der Person gehört an Attributen, sofern es in objektiven Tatsachen aufgehoben ist, der Person zufällig ist, es könnte auch dieselbe Person ganz andere Attribute und ein anderes Leben haben. Dagegen ist das Zeugnis des affektiven Betroffenseins in der Tat unvermeidlich und hat den Charakter der Notwendigkeit und nicht der Zufälligkeit. Affektiv betroffen ist die Person dann, wenn ihr etwas nahegeht, wenn etwas sie mitnimmt, sie ergreift, sie in seinen Bann zieht, und das kann sowohl in erhebender Weise geschehen als auch ganz besonders, und dann noch eindrücklicher, in engender und eventuell niederdrückender Weise, also beim Schmerz und bei der Sorge und bei der Bedrückung. Daher ist es im affektiven Betroffensein notwendig, dass der Betroffene sich selbst spürt, denn es wäre ein Widerspruch, das eigene Betroffensein, das einen trifft und mitnimmt, zu spüren, ohne sich selbst als den so Betroffenen zu spüren. Dieser Widerspruch wäre aber nicht nur logisch wie im Fall des »Cogito ergo sum« des Descartes, sondern diese Notwendigkeit wäre auch eine erlittene Notwendigkeit, denn im affektiven Betroffensein, besonders in dem engenden, das jede Ausgelassenheit ausschließt, wird der Mensch spürbar mitgenommen und der Wirklich144 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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keit eines ihm angetanen Zwanges gewiss, während er beim bloßen Betrachten gewissermaßen draußen bleibt; insofern ist das bloße Betrachten unverbindlich, als ob die Welt wie durch ein Schaufenster nur betrachtet werde. Lukrez im Anfang des 2. Buches seines epikureischen Lehrgedichtes »de rerum natura« vergleicht den epikureischen Philosophen einem Strandgänger, der einen Seesturm mit Genuss betrachtet, dem die Schiffer, die auf dem Meere der Leidenschaften umgetrieben werden, gnadenlos ausgesetzt sind. Im Fall dieser Schiffer befindet sich der ernstlich vom affektiv Betroffensein heimgesuchte Mensch im Gegensatz zum bloßen Betrachter. Dadurch bekommt das affektive Betroffensein für den Betroffenen, insofern es ihm sich selbst als so betroffen zeigt, eine gewisse Durchschlagskraft, einen Ernst, der beim bloßen Betrachten fehlt und sich dadurch zum Ausdruck bringt, dass er hier spürt, dass es tatsächlich er selbst ist, der sich mit Notwendigkeit begegnet, im Gegensatz zu alledem, was ihm an objektiven Tatsachen entgegenkommt als seine Attribute. Diese besondere Nuance des Ernstes der Notwendigkeit gibt nun den Tatsachen des affektiven Betroffenseins ein Gewicht, das sie über die objektiven Tatsachen hinaushebt, zum Beispiel in meinem Fall, dass ich selbst so betroffen bin über die Tatsache hinaus, dass ein gewisser Hermann Schmitz, von dem ich allerlei weiß, in solcher Weise betroffen ist. Das wäre nur eine objektive Tatsache, aber dass ich selbst dieser Hermann Schmitz bin, das ist die Tatsache, wodurch dieser Ernst hinzukommt, den ich auf mich nehmen muss, indem mir etwas so nahegeht, dass ich mich dem nicht mehr entziehen kann. Dies ist diese Nuance, die jeder Mensch nur im eigenen Namen sagen kann, denn im Gegensatz zu dem, was ihm als objektive Tatsache mitgeteilt wird, was er als objektive Tatsache zur Kenntnis nimmt, ist dieser Umstand, dass er eben er selbst ist, so wie er sich im affektiven Betroffensein erfährt, eine subjektive Tatsache, die nur er sagen kann, kein anderer, denn kein anderer ist er selbst, der dies sagen kann. Wenn der Andere so etwas sagt, dann ist es von ihm selbst gesagt und nicht von dem, auf den es jetzt ankommt. Insofern haben die Tatsachen des affektiven Betroffenseins dieses Besondere, dass höchstens einer im eigenen Namen sie aussagen kann, auch wenn die Anderen ebenso wie er darüber sprechen können, und diese Besonderheit unterscheidet sie von allen objektiven Tatsachen, die jeder aussagen kann, wenn er nur genug weiß und gut genug sprechen kann. Hiermit ist ein Unterschied zwischen den objektiven Tatsachen und den subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins ge145 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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funden, der in einem sachlichen Kriterium verankert ist und insbesondere dem Irrtum vorbeugt, den man begehen würde, wenn man das Besondere dieser subjektiven Tatsache lediglich darin sehen würde, dass auch ganz gewöhnliche Tatsachen zusätzlich eine gewisse Bewertung aufgesetzt haben, eine Bewertung ihrer Wichtigkeit im Sinne der Redensart »Jeder ist sich selbst der Nächste«, seinen Interessen nach, die man insbesondere den Egoisten unterstellt. Es handelt sich nicht um eine zusätzliche Bewertung gewöhnlicher Tatsachen, sondern um Tatsachen eigener Art, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie dem Betreffenden als für ihn notwendig entgegentreten und dass sie nur von ihm selbst ausgesagt werden können, auch wenn Andere so gut wie er darüber sprechen können. Ein solches Kriterium für diese subjektiven Tatsachen, dass ich es bin, um den es sich handelt, hat Fichte nicht gefunden, sondern mit verschiedenen Redensarten nur umkreist. Er ist damit nicht fertig geworden, weil er alle Tatsachen für objektiv hielt und daher das Besondere dieser subjektiven Tatsachen in ein Ich verlegte, das entweder nur sich selbst setzt oder vielmehr über allen Tatsachen zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit schwebt. Dieses Schweben hat starke geschichtliche Wirkungen gehabt, diese erhöhte Besorgnis und Aufmerksamkeit auf sich selbst als Schwebenden in der Existenzphilosophie und außerdem in der Virtuosität der romantischen Ironie, die dann in den Nihilismus übergeht. Soweit zum Nihilismus. Die Überwindung des Nihilismus geschieht theoretisch durch die Einsicht in die Sonderstellung der subjektiven Tatsachen als echte Tatsachen, die ihren Sitz im affektiven Betroffensein haben, praktisch aber geschieht sie durch die Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart. Eine Verankerung, die nicht darin besteht, dass man sich ausschließlich auf die Gegenwart konzentriert und die Vergangenheit und Zukunft dahingestellt sein lässt, sondern diese Verankerung besteht darin, dass der Lebenswille schon an dem Gegenwärtigen genügend Nahrung findet, selbst wenn das, was noch bevorsteht, das Zukünftige, nur Enttäuschungen zu bieten hätte. Ein Beispiel für eine solche Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart ist die Liebe, und zwar sowohl als Paarliebe als auch als karitative Liebe, die Frau von Guyon um 1700 zu dem Bekenntnis veranlasste, dass sie an der Liebe und an der tätigen Liebe unbedingt festhalten würde, selbst wenn sie wüsste, dass sie von Gott zur Hölle vorherbestimmt sei. Dies also ist die Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart. Aber was ist denn nun die Gegenwart? Die zeitliche Gegenwart, von der 146 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Der Nihilismus und die Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart

hier die Rede ist, ist die Auswirkung der primitiven Gegenwart in der Zeit. Die primitive Gegenwart entsteht dadurch, dass in die Weite des Urkontinuums noch vor der Trennung in Raum und Zeit, wie man es in Augenblicken der Gedankenlosigkeit und des Dahindämmerns, der Selbstvergessenheit oft erlebt, dass in diese Weite des Urkontinuums der Angriff des Neuen eindringt, was leiblich zur Engung etwa im Schreck führt, im übrigen aber in die zur Dauer werdende Weite einen Riss hineinbringt, indem etwas davon durch den Schock bei der Ankunft des Neuen in die Vergangenheit des Nichtmehrseins versinkt, während auf der anderen Seite diese zerrissene Dauer sich fortsetzt, und zwar so, dass sie offen steht für weiteres Eindringen des Neuen, das abermals das Kontinuum zersetzt. In dieser Wunde, diesem Eingriff hat die primitive Gegenwart ihren Sitz mit ihren fünf Momenten der Herausgehobenheit, die möglich wird durch den Riss in der zur Dauer gewordenen Weite. Von diesen fünf Momenten ist das erste das Hier; man kann sich das deutlich machen an einem plötzlichen Ruf, der einen im Dahindösen befindlichen oder in irgendwelchen eigenen, fern liegenden Gedanken begriffenen Menschen herausreißt durch den Anruf mit dem eigenen Namen. Zwar befindet er sich hier zunächst an einem Ort, einem absoluten Ort, denn man kann nur getroffen werden, indem man sich an einem Ort befindet. Aber dieser Ort ist ein absoluter Ort, das heißt ist ohne räumliche Orientierung zu anderen Orten; der Mensch fühlt sich herausgerissen. Zweitens findet er sich in einem Augenblick, der ebenso herausgerissen ist. Drittens fühlt er sich dem Sein der Wirklichkeit plötzlich ohne Gelegenheit zum Ausweichen gegenübergestellt, indem er von diesem Ruf betroffen wird. Er fühlt etwas als dieses Eindeutige, das sich abhebt von anderen im Gegensatz etwa zu den Teilen eines intensiven Kontinuums einer Qualität etwa beim Lauterwerden oder beim Hellerwerden oder beim Kräftigerwerden oder beim Wärmerwerden. Da haben wir sehr viele Teile, die hinzukommen, sogar in einer bestimmten Ordnung hinzukommen, aber ohne Identität und Verschiedenheit. Es wäre sinnlos, unter diesen Teilen, die im Wärmerwerden hinzukommen, nach solchen zu suchen, die als sie selbst hinzukommen und von anderen unterschieden sind. Das geschieht erst, wenn man von der Wärme etwa zur Messung der Wärme auf einem bestimmten Stand mit dem Thermometer übergeht, aber davon ist hier nicht die Rede. Diese identitätslose Ergossenheit des Seienden wird unterbrochen durch den Moment des Selbstseins der absoluten Identität als verschieden von Anderem. Ich 147 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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nenne die Identität absolut, weil sie noch nicht die relative Identität mit etwas ist, und diese absolute Identität verbindet sich nun an letzter Stelle in der primitiven Gegenwart mit dem Ich-Moment; das ist das Betroffene im affektiven Betroffensein im Beispielsfall von dem plötzlichen schreckhaft ergreifenden Anruf. Dieses affektive Betroffensein ist das fünfte Moment, und dieses affektive Betroffensein gehört notwendig zusammen mit dem vierten Moment, dem Selbstsein als verschieden von Anderem, der Abhebung von etwas aus dem bloßen Kontinuum. Denn wenn alles bloß dem Ansturm des Neuen nachgäbe und gleichmäßig damit sich abfände oder davontreiben ließe, dann würde nichts davon sich selbst abheben, und von den fünf Momenten ist es eben dieses subjektive Moment, das affektive Betroffensein, das sich dem Ergreifenden zuwendet, ihm gewissermaßen Stand hält und offen bleibt und dazu aber auch in gewisser Weise schon Stellung nimmt. Es ist also notwendig dafür, dass etwas als es selbst sich abhebt und als verschieden von Anderem. Dieser Zusammenhang zwischen Identität und Subjektivität kommt der Subjektivität zugute, insofern das Betroffene diese absolute Identität von etwas und jemandem, der betroffen ist, annimmt und nicht gewissermaßen zerläuft in einen bloßen anonymen Zustand; es kommt dem Selbstsein, dem anderen Moment zugute. Diese fünf Momente Hier, Jetzt, Sein, Dieses, Ich der primitiven Gegenwart nisten sich ein in dem Spalt, der durch den Andrang des Neuen und das Vergehen der Weite als Dauer entsteht; er wird gefüllt von der primitiven Gegenwart. Die zeitliche Gegenwart ist nur die Auswirkung der primitiven Gegenwart auf die Dauer, zu der die Weite in der Zeit geworden ist, und zwar so, dass in der zeitlichen Gegenwart sich die beiden Momente der Dauer trennen als vergehende und ins Nichtsein versinkende und in Dauer als fortwährende, die offen ist für eine Zukunft, in der sich Weiteres ereignen kann, insbesondere wieder Neues eindringen kann. Diese beiden Momente verbinden sich zwiespältig und ambivalent zur zeitlichen Gegenwart. Sie hat also sozusagen zwei Richtungen, zwei Pole, wie auf einer Kippschaukel, wo der Betreffende in der zeitlichen Gegenwart sich selbst im labilen Gleichgewicht halten muss, weil er nach zwei Richtungen gezogen wird, einerseits zum Vergehen, andererseits zum Fortwähren hin. Die Seite des Vergehens ist gleichzeitig eine Seite des Entzugs der Dauer, die ins Nichtsein verfällt. Und dadurch ist immer weniger Dauer vorhanden, das heißt in Richtung auf dieses Extrem der vergehenden Dauer wird die Gegenwart eng, sie wird gedrängt, sie wird schnell, sie wird 148 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Der Nihilismus und die Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart

dauerlos. Und in Richtung auf das neue, das noch zu erwarten ist, wird die Gegenwart weit und langsam und schwer. Das entspricht etwa dem synästhetischen Gegensatz zwischen den hellen, hohen Tönen auf der einen Seite und den tiefen, dunklen Tönen und Geräuschen auf der anderen Seite. Diese Entsprechung wird vermittelt durch die Leiblichkeit, die ebenso in die Zeitlichkeit hineinwirkt wie in die synästhetischen Charaktere der Sinnesqualität. Diese Zwischenstellung der zeitlichen Gegenwart ist ein gewissermaßen unsicheres, zwiespältiges Element, das aber dem Menschen vielerlei Gelegenheit gibt, und zwar einerseits die Gelegenheit, sich auf die Seite der Entfaltung zu verlegen und die Entfaltung von Neuem zu kultivieren, wie in solchen Zuständen der Ruhe, wie etwa Rousseau sie von seinem Aufenthalt auf der St. Peterinsel berichtet, wo ihm nur noch das reine Gefühl des Daseins übrig blieb, als der Genuss von allem Werden verschont zu bleiben. Das andere Extrem ist die Komplikation, der Verstrickung in den Untergang, in Gefahrensituationen und dergleichen. Zwischen den beiden Extremen, die aber nur einseitig sind und den Zwiespalt der Gegenwart zwischen beiden Seiten verdecken, findet sich jeweils der gegenwärtige Mensch. Die zeitliche Gegenwart ist die schmale Brücke des Seienden zwischen zwei Massen des Nichtseienden, die auf dieser Brücke ihr Gesicht wechseln: der noch nicht seienden Zukunft und der nicht mehr seienden Vergangenheit. Die Brücke ist nicht nur schmal, sondern auch wackelig wegen des Zwiespalts zwischen fortbestehender und vergehender Dauer. Der Mensch auf dieser schmalen und gebrechlichen Brücke sehnt sich weg und trauert über den Abschied von dem, was nicht mehr ist. Er rettet sich aus diesem Unwohlsein in das offene Feld der Zukunft, in das er sich mit Planen und Fantasieren, Wagen, Bangen und Hoffen projiziert. Er gleicht damit dem Existenzialisten nach Kierkegaard, der im Höhenschwindel des Schwebens über den Möglichkeiten den Halt verliert, mehr noch dem romantischen Ironiker mit seinem eleganten Schweben über allen Standpunkten und Perspektiven. Die Flucht in die Zukunft ist die verbürgerlichte moderne Gestalt der romantischen Ironie, die zu dem Nihilismus mit der Maxime führt: Alles ist möglich. Die Gegenwart ist dann mediatisiert zum bloßen Stützpunkt des Ausblicks in die Zukunft, in der die Technik dem Menschen ein riesiges Angebot für Stadien auf dem Lebensweg von Weiche zu Weiche anbietet und damit das einstimmige Wollen ins Beliebige zersetzt. Gegen diese nihilistische Verführung habe ich die Verankerung des Lebenswillens in 149 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Der Nihilismus und die Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart

der Gegenwart aufgeboten, wo der Mensch im Wirklichen einen Stützpunkt für seine Bereitschaft zum Leben finden kann, ohne die Zukunft und die Vergangenheit gering zu achten. Mein philosophisches Bemühen geht dahin, die Chancen der Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart auszuloten, z. B. das leiblich affektive Betroffensein von Atmosphären des Gefühls und die mit diesen erfüllten Situationen voll binnendiffuser Bedeutsamkeit, aus denen der Mensch einzelne bedeutsame Sachverhalte, Programme und Probleme schöpfen und verbinden kann. Dazu gehören auch die vielsagenden Eindrücke, die als Halbdinge mit unterbrechbarer Dauer den Menschen nahe- und nachgehen. Diese Reserven der Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart möchte ich den Menschen nahebringen und durch aufklärendes Sprechen vor Vorurteilen schützen.

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12. Gedächtnis und Erinnerung in neophänomenologischer Sicht

Für das bewusst erneuerbare (reproduzierbare) Erbe seines vergangenen Lebens findet der Deutsche in seiner Muttersprache zwei Wörter mit deutlich unterschiedener, aber sachlich eng zusammengehöriger Bedeutung: Gedächtnis und Erinnerung. Bergson, der beides »souvenir« nennt, 1 quält sich mit der Unterscheidung, bei der ihm die deutsche Sprache bequemer behilflich gewesen wäre; freilich erspart ihr glückliches Angebot nicht die präzise Definition. Für das Gedächtnis ist sie leicht: Ein Gedächtnis ist eine erworbene Kompetenz. Eine Kompetenz im hier gemeinten Sinn ist eine beharrliche Disposition zu einem in starrer oder variabler Ausführung wiederholbaren Verhalten im Dienst einer Aufgabe (eines Programms); die Kompetenz ist erworben, wenn sich ein Prozess der Aneignung durch das Individuum zeitlich (nicht notwendig scharf) abgrenzen lässt, was z. B. für das Atmen und die Verdauung nicht der Fall ist. Gedächtnisse sind hiernach ebenso Kompetenzen zur Darbietung von Wissen, z. B. nach Auswendiglernen oder wissenschaftlichem Studium, wie Kompetenzen anderer Art des Könnens, z. B. Deutsch sprechen, Gehen, Schwimmen, Maschine schreiben, Klavier spielen. Erinnerung kann dagegen gefasst werden als bewusst sein von etwas für jemand, für den dieses Bewusste als enthalten in etwas, das er in der Vergangenheit selbst erlebt hat, charakterisiert ist, und zwar bewusst in abgehobener oder in unabgehobener Weise, wobei die abgehobene vielfach von Datierungen des früheren Erlebens begleitet ist. 2 Unabgehoben ist z. B. das Erinnerte, das frisch nachklingt oder Henri Bergson: Matière et mémoir. Essai sur la relation du corps à l’esprit (Oeuvres. Hrsg. v. André Robinet). Paris 1963, S. 159–379, hier S. 223 f. sowie generell Kapitel II (S. 223–275). 2 Die Schreibweise »bewusst sein von etwas« soll der Verwechslung mit Husserls Ausdruck »Bewusstsein von etwas« für intentionale Akte vorbeugen; hier ist nur das Vorkommen von etwas als bewusst (spürbar, merklich) gemeint. Die Wahl der Worte »als enthalten in etwas« statt »als etwas« ist wegen der Erinnerung an negative Sach1

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Gedächtnis und Erinnerung in neophänomenologischer Sicht

nachschwingt, ohne dass man darauf achtet. Die folgende Darstellung hat die Aufgabe, Gedächtnis und Erinnerung in der Sicht der von mir begründeten Neuen Phänomenologie zu analysieren, 3 d. h. hinter alle beliebig verfügbaren Annahmen und Hypothesen zum Thema tunlichst auf Phänomene zurückzugehen. Ein Phänomen im gemeinten Sinn ist für jemand zu einer Zeit ein Sachverhalt, dem der Betreffende dann nicht im Ernst den Glauben, dass es sich um eine Tatsache handelt, entziehen kann; wünschenswert ist die Aufdeckung von Phänomenen, die diese Eigenschaft für möglichst viele (im Bestfall: alle) Menschen zu möglichst langen Zeiten (im Bestfall: immer) haben. Die beabsichtigte Untersuchung gewinnt Spannung im Zeichen von Problemen, die die Rätsel des Gedächtnisses und der Erinnerung betreffen. Ich formuliere vier solche Probleme, je zwei für beide Themen: a) Auf welche Weise dauert die Kompetenz, die ein Gedächtnis ist, nach dem Erwerb? Der Physiologe Ewald Hering drückt dieses Problem etwas naiv, aber eingängig so aus: »Was mir gestern bewußt war und heute wieder bewußt wird, wo war es von gestern auf heute?« 4 b) Wie gelingt die Mobilisierung der Kompetenz zum aktuellen Verhalten? c) Wie wird das Vergangensein bei der Erinnerung erfahren? d) Wie wird den als vergangen erinnerten Sachverhalten usw. angesehen, dass ich selbst (in meinem Fall) es war, der sie einmal erlebt hat? Zu diesen Fragen sind einige Zusätze zu machen, um ihre Brisanz an den Tag zu bringen: Zu a): Es gibt zwei klassische Antworten, die phänomenologisch nicht haltbar sind. Die eine ist so populär, dass sie heute in nicht enden verhalte gewählt; vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. IV: Die Person. Freiburg, München 2019, S. 361 (dort im Anschluss an August Gallinger). 3 Vgl. Hermann Schmitz: »Die phänomenologische Methode in der Philosophie«, in: ders.: Neue Phänomenologie. Bonn 1980, S. 10–27 und ders.: »Wozu Neue Phänomenologie?«, in: Michael Großheim (Hrsg.): Wege zu einer volleren Realität. Neue Phänomenologie in der Diskussion. Berlin 1994, S. 7–18 (wiederabgedruckt im vorliegenden Band). 4 Ewald Hering: Über das Gedächtniss als eine allgemeine Function der organisirten Materie. Vortrag gehalten in der feierlichen Sitzung der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften am XXX. Mai MDCCCLXX. Wien 1876, S. 9.

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wollender Wiederholung siegesgewiss von Gelehrten und in der Presse und sonstigen Meinungsmedien als die herrschende, öffentliche Meinung verbreitet wird. Sie lautet: Der Gedächtnisvorrat wird im Gehirn aufbewahrt, speziell in Gestalt von Engrammen oder assoziativen Bahnungen zwischen Nervenzellen. Empirische Grundlage dieser Lehre ist die vernünftig gesicherte Beobachtung (kein Phänomen im angegebenen Sinn!), dass eine ziemlich gute Korrespondenz zwischen Gehirnzuständen und intellektuellen Leistungen bzw. Ausfällen besteht. Daraus zu schließen, dass intellektuelle Leistungen – z. B. des Gedächtnisses – aus dem Gehirn hervorgingen, ist phantastische Metaphysik; niemand hat eine Idee davon, wie so etwas erfahren werden könnte. Im Gehirn spielen sich so wenig Ablagerungen und Abräumungen von Gedanken und Könnerschaften wie Wahrnehmungen oder Vorstellungen ab, sondern elektrische und chemische Vorgänge, die eine obligate »Begleitmusik« zu Leistungen und Erfolgen von vielerlei Art sind, wie wenn ein Klavierspieler auf nicht abstellbarer Schallplatte eine Sängerin begleitet. Die andere Antwort wirkt heute antiquiert, war früher aber ebenso populär wie heute die Berufung auf das Gehirn. Sie lautet: Der Gedächtnisvorrat wird in der Seele gespeichert. Augustinus brachte in den »Confessiones« 5 dafür das klassische Bild eines Schatzhauses, in dessen weiten Hallen Gedächtnisbilder gestapelt sind, zur rhetorischen Brillanz. Dabei wird die Seele widerspruchsvoll als das Gegenglied zum Körper, das mit diesem zusammen den Menschen ausmacht, und doch nach dem Körpermodell nach Art eines Hauses mit gestapelten Vorräten gedacht. Die Idee der Seele ist überhaupt abwegig, als ideologisch motivierte Verformung der noch zu besprechenden persönlichen Situation. 6 Zu b): Wenn die Vorstellung von einer Ablagerung des Gedächtnisvorrats überhaupt legitim ist, zieht sie die Frage nach sich, wie und von wem aus dem Lager etwas abgeholt werden kann. Die beiden klassischen, aber phänomenologisch unbrauchbaren Antworten auf die erste Frage lassen die zweite offen, wenn man nicht den Abladeplatz selbst zur Abholvorrichtung machen will; Diderot prägte dafür

Augustinus: Confessiones. Buch X, Kap. VIII, 12. Hermann Schmitz: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. Bonn 1994, S. 189– 196 und ders.: Husserl und Heidegger. Bonn 1996, S. 75–88. 5 6

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1778 die paradoxe Formel: »Der Leser – das ist das Buch selbst« 7. Diese beiden Probleme betreffen ebenso wie das Gedächtnis die Erinnerung. Speziell auf diese sind die beiden folgenden zugeschnitten. Zu c): Wittgenstein grübelt an der Vorstellung herum, dass jemand sich zum ersten Mal in seinem Leben an etwas erinnert: »Weiß er, dass es Erinnern ist, weil es durch Vergangenes hervorgerufen wurde? Und wie weiß er, was Vergangenes ist? Den Begriff des Vergangenen lernt ja der Mensch, indem er sich erinnert« 8. Diese vermeintliche Schwierigkeit, dass man Vergangenes entdeckt haben müsse, um sich erinnern zu können, und sich erinnern müsse, um Vergangenes zu entdecken, wäre keine mehr, wenn man bei Begegnung mit Vergangenem in Gestalt des Erinnerns an dem Begegnenden die Vergangenheit ablesen könnte, wie an grünen Gegenständen deren grüne Farbe. Das ist aber unmöglich; ich habe bewiesen, dass Vergangenheit kein Attribut ist, d. h. nichts, das für die Identität des Vergangenen – dass es diese und keine andere Sache ist – von Bedeutung wäre. 9 Wenn etwas nicht für die Identität einer Sache wesentlich ist, kann man es aber auch nicht an dieser ablesen. Zu d): Fichte sagt einmal: »Ich schreibe, ich habe also eine Vorstellung von meinem Schreiben, es schreiben aber auch andere neben mir. Woher weiß ich nun[,] daß mein schreiben nicht das schreiben [sic!] eines andern ist?« 10 An der objektiven Tatsache, dass da jemand schreibt, der »Johann Gottlieb Fichte« heißt, findet er kein registrierbares Anzeichen dafür, dass er es selbst ist. Die entsprechende Aufgabe, dies dennoch zu bemerken, stellt sich beim Erinnern dadurch, dass das Erinnerte dem sich Erinnernden als etwas, das er selbst erlebt hat, bewusst sein muss. Sie wird dadurch kompliziert, dass er sich dabei auf etwas beziehen muss, das er früher einmal war, aber vielleicht nicht mehr ist. Zu der Aufgabe, zu merken, dass es sich bei Denis Diderot: »Elemente der Physiologie«, in: ders.: Philosophische Schriften. Bd. 1. Hrsg. v. Theodor Lücke. Frankfurt 1967, S. 592–771, hier S. 703. 8 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (Werkausgabe Bd. 1.). Frankfurt 2006, S. 579. 9 Hermann Schmitz: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O., S. 52–56 und ders.: Husserl und Heidegger. A. a. O., S. 46 f. 10 Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bd. IV/2. Kollegnachschriften 1796–1804. Hrsg. v. Reinhard Lauth, Hans Gliwitzky. Stuttgart-Bad Canstatt 1978, S. 232. 7

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etwas, das gerade geschieht, um einen selber handelt, kommt hier also die weitere hinzu, in der Vergangenheit, zu der die Brücken durch deren Vorbeisein und vielleicht durch zwischenzeitliche Veränderungen abgebrochen sind, dennoch sich selbst wiederzufinden. Diese Probleme lassen sich ohne Ausholen in grundlegende und schwierige Themen philosophischer Überlegung nicht angehen. Ich werde daher zwei Abschnitte über die Zeit und die Lebensgeschichte vorausschicken, ehe ich mich erst der Erinnerung und dann dem Gedächtnis zuwende. Die Schwierigkeit des Gegenstandes im Verein mit der Knappheit des hier zur Verfügung stehenden Raumes zwingt mich dabei dazu, die Darstellung skizzenhaft eng zusammenzuziehen und für genauere Ausführungen und Begründungen auf frühere Veröffentlichungen zu verweisen.

Die Zeit Die Zeit quält das Leben und Denken der Menschen. Sie quält ihr Leben durch die Grausamkeit des Abschieds von dem, was vorbei – also nicht mehr – ist 11 und quält ihr Denken durch damit verbundene Paradoxien, von denen einige – die von Augustinus aufgegriffene der antiken Skeptiker und die moderne von McTaggart – zwar Scheinprobleme sind, die als Einwände gegen das Sein der Zeit nicht ernstlich ins Gewicht fallen, 12 während triftiger Anlass zu theoretischer Verwirrung dadurch entsteht, dass die Zeit in der Zeit verläuft, als ein Prozess des Wachsens der Vergangenheit, des Schrumpfens der Zukunft und der fortwährenden Verschiebung der Gegenwart. 13 Die Zeit, um die es sich dabei handelt, ist die modale Lagezeit, in der sich Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: »Trilogie der Leidenschaft. An Werther«, in: ders.: Goethe. Poetische Werke. Bd. 1. Berlin 1965, S. 496 f., hier S. 497: »Scheiden ist der Tod!«; vgl.: »In jeder großen Trennung liegt ein Keim von Wahnsinn; man muß sich hüten, ihn nachdenklich auszubrüten und zu pflegen.« (ders.: Maximen und Reflexionen. Hrsg. v. Max Hecker (Schriften der Goethe-Gesellschaft. Bd. 21). Weimar 1907, S. 210 (Nr. 997); vgl. auch die Reflexion über den Sinn des Wortes »vorbei« in: Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Zweiter Teil. (Goethes sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe. Bd. 14. Hrsg. v. Erich Schmidt). Stuttgart, Berlin 1906, Verse 11595– 11603. 12 Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie. Bonn 1990, S. 250–254. 13 Ders.: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O., S. 117 f. 11

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die modale Einteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit der lagezeitlichen Anordnung der Ereignisse durch die Relation des Früheren zum Späteren oder Gleichzeitigen vereinigt; dabei sind Vergangenheit und Zukunft nicht mehr rein, sondern durch Besetzung mit vergangenen und zukünftigen Gegenwarten vergegenwärtigt. Die Wirklichkeit der modalen Differenzen ist trotz metaphysischer und physikalischer Versuchungen nicht vernünftig bestreitbar. 14 Wenn man wissen will, was wir der Zeit verdanken, in der Weise, dass sie uns für die von ihr dem Leben und Denken auferlegten Qualen gewissermaßen entschädigt, muss man hinter die Vergegenwärtigung 15 der Zukunft und Vergangenheit und damit hinter die lagezeitlichen Verhältnisse des Früher-, Später- und Gleichzeitigseins auf eine primitivere Zeiterfahrung zurückgehen, in der die Zeit sich nur noch als reine Modalzeit darstellt. Das einfachste Beispiel dafür ist der Schreck, durch den jemand aus der gleitenden Dauer des Dahinlebens und Dahinwährens – z. B. in Träumereien, Routine oder Dösen – gerissen wird. Der Schreck zerreißt unter dem Druck eines einbrechenden Neuen die gleitende Dauer, so dass sie abgeschieden in eine Vergangenheit zurücksinkt, die dabei erst ein vieldeutiges »Einst« oder »Vorbei« ohne Datierung durch vergangene Gegenwarten ist. Durch die Zerreißung exponiert er Gegenwart auf der Spitze des Plötzlichen als primitive Gegenwart, in der ununterscheidbar, bis die normale Orientierung der erwachsenen Person zurückkehrt, das zeitliche Jetzt verschmolzen ist mit dem räumlichen Hier, mit der Subjektivität für mich, dass etwas mich selber angeht, weiter mit der Wirklichkeit, die sich hier ursprünglich abzeichnet und, da sie kein Attribut 16 ist und kein Kriterium hat, nur aus dieser Quelle uns vertraut wird, 17 und schließlich mit der Eindeutigkeit der Auszeichnung von etwas als genau Dieses durch Identität und Verschiedenheit. In solcher Reinheit ist primitive Gegenwart ein seltener Ausnahmezustand; vorgezeichnet ist sie aber während des bewussten Erlebens beständig als die Enge des Leibes, woran der vitale Antrieb hängt, die antagonistische Vgl. ebd., S. 116 f. Dieses Wort ist hier nicht im Sinne einer bewussten Reproduktion zu verstehen, sondern im ontologischen Sinne einer Überformung der Zukunft und Vergangenheit mit Gegenwarten. 16 Vgl. Hermann Schmitz: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O., S. 52– 55. 17 Vgl. ebd., S. 49–56, 102–105 und ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O., S. 42–54. 14 15

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Konkurrenz von Engung und Weitung, die z. B. in Angst und Schmerz, Beklommenheit, Konzentration und Erschütterung zur Enge hin betont ist und unser Leben am Zerfließen und Versinken in Trance, Dämmern und Schlaf hindert, darüber hinaus aber sogar an partieller Abspaltung privativer Weitung aus dem vitalen Antrieb als das Enge und Schwere, wovon man erleichtert loskommt, noch spürbar ist. Ich habe diese Achse der spürbaren leiblichen Dynamik oft und eingehend herausgearbeitet. 18 Trotz ihrer seltenen Reindarstellung ist die primitive Gegenwart unentbehrlich als Quelle der Möglichkeit, etwas als Einzelnes zu finden, das dieses oder jenes ist, statt ohne Identität und Verschiedenheit in chaotischer Mannigfaltigkeit – der Eigenschaft eines Mannigfaltigen, keine Anzahl zu haben, weil gar nicht oder nicht durchgängig feststeht, was darin womit identisch und wovon verschieden ist – versunken zu sein wie z. B. die ineinander verschwimmenden Fristen des Dösens in gleitender Dauer. Die primitive Gegenwart ist das einzige Ereignis der Art, dass etwas unmittelbar von sich aus einzeln ist, ohne der Beziehung auf eine Gattung als deren Fall zu bedürfen. Sonst ergibt sich diese Angewiesenheit aus dem Sinn der Rede von Einzelnsein: Einzeln (mit Identität und Verschiedenheit) ist etwas als etwas, das zählt, d. h. als Element einer Menge bei jeder umkehrbar eindeutigen Abbildung, auf deren Möglichkeit die Anzahl der Menge beruht 19, als ein Glied eines Paares vorkommt. Mengen sind aber Umfänge von Gattungen; Sachen sind daher einzeln nur unter einem Gesichtspunkt, indem sie nicht einfach etwas sind, sondern, wie Heidegger 20 sagt, »Etwas als Etwas«, wobei das erste Etwas der Fall, das zweite die Gattung ist und das Wort »als« den Sachverhalt anzeigt, dass jenes ein Fall von diesem ist; denn es ist das Selbe, A als B zu verstehen, oder dies zu verstehen, dass A B oder ein B ist. Sachverhalte aber sind, wie ich gezeigt habe, 21 unabhängig Vgl. ders.: System der Philosophie. Bd. II/1: Der Leib. Freiburg, München 2019; ders.: System der Philosophie. Bd. II/2: Der Leib im Spiegel der Kunst. Freiburg, München 2019 und ders.: Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik. Hrsg. v. Hermann Gausebeck und Gerhard Risch. Paderborn 1992. 19 Die Anzahl einer Menge M ist die Eignung einer beliebigen Menge dazu, umkehrbar eindeutig auf M abgebildet zu werden (vgl. dazu ders.: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O.). Der Gedanke dieser Definition geht auf Frege zurück, der damit den natürlichen, auf das Zählen als den Sitz der Zahl im Leben gestützten Zahlbegriff entdeckt hat. 20 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1977, S. 149. 21 Vgl. Hermann Schmitz: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O., S. 56– 65. 18

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von der Sprache Abhebungen von der Wirklichkeit, weil durch sie die Fraglichkeit – im Sinne der prinzipiellen Möglichkeit, etwas in Frage zu stellen, auch wenn kein Frager da ist – in die Welt kommt, verstanden als Gestelltsein von etwas vor die Wirklichkeit als Instanz möglicher Entscheidung. Da die Wirklichkeit (d. h. das Sein, das Dasein, die Existenz) nur von der primitiven Gegenwart her zugänglich und verstehbar ist – wir spüren gleichsam den Sinn von Sein, den wir nicht aussagen können, in der Vorzeichnung der primitiven Gegenwart durch den vitalen Antrieb –, Sachverhalte aber als Abhebungen Wirklichkeit voraussetzen und die Einzelheit von Sachen Sachverhalte voraussetzt, kann es für uns einzelne Sachen nur unter Voraussetzung der allein unvermittelt einzelnen primitiven Gegenwart geben; diese ist daher die Quelle des Einzelnseins und in diesem Sinn das principium individuationis in einem radikaleren Sinn, als ihn die Scholastiker mit diesem Ausdruck verbanden. Damit zeichnet sich ab, was wir der Zeit verdanken, so dass wir für die Grausamkeit und Verlegenheit, die sie uns antut, gewissermaßen entschädigt werden: durch das Aufzucken oder die Vorzeichnung des fünffach erweiterten Plötzlichen, das die primitive Gegenwart als Hier-Jetzt-Dasein-Dieses-Ich ist, 22 die Möglichkeit, dass sich uns einzelne Sachen aus chaotischer Mannigfaltigkeit abheben, sowie das Sein, die Sachverhalte und die Subjektivität, dass uns etwas angeht und dadurch etwas in der Welt zu dem wird, was wir selber sind. Die primitive Gegenwart mit der auf sie als den Angelpunkt gestützten – hier nicht zu erörternden – leiblichen Dynamik und leiblichen Kommunikation 23 teilen die Menschen mit den Tieren, aber bei ihnen entfaltet sie sich obendrein nach ihren fünf Momenten, gleichursprünglich als Emanzipation des Hier, Emanzipation des Jetzt, Emanzipation des Seins, Emanzipation des Dieses und personale Emanzipation der Subjektivität. Für das Kleinkind ist sein Leben zunächst wie für das Tier ein Leben in primitiver Gegenwart auf dem Hintergrund gleitender Dauer mit leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikation. Dieses Leben ist – im Rückblick aus entfalteter Gegenwart gesehen – eine Folge von Situationen, die durch BedeutsamVgl. ders.: System der Philosophie. Bd. I: Die Gegenwart. Freiburg, München 2019, S. 197–206. 23 Vgl. dazu ders.: System der Philosophie. Bd. II/1: Der Leib. Freiburg, München 2019; ders.: System der Philosophie. Bd. II/2: Der Leib im Spiegel der Kunst. Freiburg, München 2019 und ders.: Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik. Hrsg. v. Hermann Gausebeck und Gerhard Risch. Paderborn 1992. 22

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keit in Gestalt einer chaotisch-mannigfaltigen Ganzheit von Sachverhalten, Programmen und Problemen, von denen nichts einzeln hervortritt, zusammengehalten werden. Zunächst sind alle diese Sachverhalte, Programme und Probleme für das Kind subjektiv. Dass Programme wie z. B. Wünsche (Wunschprogramme) und Probleme wie Sorgen auf jemand »zugeschnitten« sein können, leuchtet ein; ich habe darüber hinaus seit 1964 oft am affektiven Betroffensein den Nachweis geführt und wiederholt, dass auch Sachverhalte, und unter diesen die Tatsachen, nicht bloß objektiv und neutral sind, so das prinzipiell jeder, der genug weiß und gut genug sprechen kann, sie auszusagen vermag, sondern zu einem beträchtlichen Teil auch subjektiv, so dass höchstens einer, sehr oft also niemand, sie im eigenen Namen auszusagen vermag, obwohl die Anderen sie kennzeichnen und benennen können; 24 solche Tatsachen sind also auf jemand zugeschnitten wie Wünsche und Sorgen. Dieser, »für« den die Sachverhalte – unabhängig von ihrer Tatsächlichkeit – sind, ist beim Leben in primitiver Gegenwart, und weitgehend sogar als erwachsene Person in entfalteter Gegenwart, kein Subjekt mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung, sondern eine Situation oder ein Milieu von Sachverhalten, Programmen und Problemen, so dass dann das Wort »mich« in der Wendung »subjektiv für mich« nicht als Pronomen zu verstehen ist, sondern adverbial wie »hier« und »jetzt«, etwas wie »mich« in der Wendung »Ich fürchte mich«, womit ja nicht gemeint ist, dass ich den Menschen, der ich bin, fürchte. 25 Auf dieser Grundlage ereignet sich die personale Emanzipation, wodurch die Fähigkeit zur Selbstzuschreibung (sich für etwas oder etwas für sich zu halten) entsteht, zusammen mit der Emanzipation des Dieses. Naheliegende Gelegenheiten sind dafür Überraschung und Enttäuschung. Wenn ein Tier, oder ein Kleinkind vor dem geVgl. ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O., S. 5–9. Außerdem dort und häufig an anderen Stellen von mir an Hand eines Ausspruches des Satzes »Ich bin traurig« geführten Nachweis der Subjektivität von Sachverhalten und speziell Tatsachen bediene ich mich zu diesem Zweck seit 1969 der von mir »frei nach Dürrenmatt« erzählten Geschichte von einem Mann, der nach langer Umschreibung plötzlich merkt, dass er selbst zum Fenster herausgestürzt werden soll (vgl. ders.: Husserl und Heidegger. A. a. O., S. 1), ferner einer Zeile aus einem Gedicht von Salomon Gotthold Lange (vgl. ders.: Die Liebe. Bonn 1993, S. 24 f.). 25 Ders.: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O., S. 105–108; ders.: Husserl und Heidegger. A. a. O., S. 167–183 und ders.: »Bewusstsein als instabiles Mannigfaltiges«, in: Sybille Krämer (Hrsg.): Bewusstsein. Philosophische Beiträge. Frankfurt 1996, S. 167–183. 24

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wöhnlich in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres durch Entfaltung der Gegenwart einsetzenden Erwachsen, überrascht wird, ist es verblüfft, indem eine Situation abreißt, die durch eine neue, auf die es sich wieder einstellt, ebenso ganzheitlich abgelöst wird; dem zur Person erwachsenden oder erwachsenen Menschen heben sich dagegen aus einer chaotischen Mannigfaltigkeit von Protentionen – d. h. Sachverhalten, auf die er unwillkürlich erwartend gefasst war, ohne dass sie einzeln hervortreten – dann einzelne als dementierte und dementierende ab, und dadurch ergibt sich in der Situation eine Spaltung, die es möglich macht, dass von einem Teil der zuvor ganzheitlich in die Situation eingebundenen Sachverhalte, Programme und Probleme die Subjektivität abfällt und sie, etwa dank einer Enttäuschung, in bloße Objektivität entlassen werden. Damit entsteht eine Sphäre des Fremden, das mich nicht mehr angeht, gegenüber einer Sphäre des Eigenen, in die sich die Subjektivität zurückzieht; das ist der Anfang personaler Emanzipation. Da die primitive Gegenwart der Sitz der Wirklichkeit im Leben – als Grund ihrer Verstehbarkeit – ist und Sachverhalte Abhebungen von der Wirklichkeit sind, müssen alle Sachverhalte ursprünglich subjektiv sein; denn in der primitiven Gegenwart ist Wirklichkeit mit Subjektivität verschmolzen. Die Objektivität, wodurch es objektive Sachverhalte gibt, und damit objektive Tatsachen, die jeder, wenn er nur genug weiß und gut genug sprechen kann, so gut wie jeder Andere auszusagen vermag, entsteht erst durch personale Emanzipation, indem die Subjektivität-für-jemand von Sachverhalten abfällt. Das bedeutet natürlich nicht, dass jede objektive Tatsache erst einmal für jemand subjektiv gewesen und einzeln in Objektivität entlassen worden sein müsste. Grundlegend für die Entfaltung der Gegenwart ist die Emanzipation des Dieses in der Weise, dass aus dem Leben in primitiver Gegenwart einzelne Sachverhalte, Programme und Probleme hervortreten, mit der Folge, dass die Form des Dieses – der Identität und Verschiedenheit – aus dem engen Horizont der primitiven Gegenwart und leiblichen Kommunikation freigesetzt und durch den ganzen chaotisch-mannigfaltigen Weltstoff, ohne ihn aufzehren und sich von der Angewiesenheit auf die reine Modalzeit und die primitive Gegenwart als das principium individuationis lösen zu können, hindurch erstreckt werden kann. Dadurch entsteht aus dem Weltstoff die Welt als der Horizont des freien Dieses. Insbesondere wird das chaotisch-mannigfaltige, vieldeutige Einst oder Vorbei der reinen Modalzeit mit vergangenen Gegenwarten besetzbar, so dass die datierende 160 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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Erinnerung einsetzen kann, und auf der anderen Seite kann in den Andrang des Neuen, der die Zukunft der reinen Modalzeit als Gegenwart abreißendes und in sie eintretendes Geschehen ist, die Zukunft als Dimension künftiger Gegenwarten projiziert und damit der thematischen Erwartung zugänglich gemacht werden. Für beide Extrapolationen der Gegenwart ist die Emanzipation des Dieses von dem in primitiver Gegenwart mit ihm verschmolzenen Sein erforderlich, damit bestimmte einzelne Gegenwarten ins Nichtmehrseiende und ins Nochnichtseiende eingetragen werden können. Auf diese Weise wird die Emanzipation des Jetzt zu einer nivellierten Folge von Augenblicken vergangener, gegenwärtiger oder künftiger Gegenwart vollendet, und die Anordnung dieser Folge durch die Beziehung früherer Ereignisse zu späteren oder gleichzeitigen ergibt die modale Lagezeit. Diese ist durch eine zu Gunsten der Vergangenheit auf Kosten der Zukunft beständig sich verschiebende Gegenwart paradox stigmatisiert und verrät sich dadurch als Perspektive eines ambivalenten Geschehens, das zwischen modaler Lagezeit und reiner Modalzeit schillert. 26

Die Lebensgeschichte Die personale Emanzipation bei Entfaltung der Gegenwart ist der Anfang zur Bildung und Umbildung der Persönlichkeit eines Menschen als seiner persönlichen Situation. Ehe ich auf diesen roten Faden der Lebensgeschichte eingehe, empfiehlt es sich, meinen überaus fruchtbaren und leistungsfähigen Situationsbegriff und dessen Einteilung ins Auge zu fassen. Zu einer Situation in meinem Sinn gehört erstens Ganzheit durch Zusammenhang in sich und Abgehobenheit nach außen, zweitens ein mindestens aus Sachverhalten, aber meistens auch aus Programmen und Problemen bestehender Hof oder Hintergrund der Bedeutsamkeit und drittens eine Binnendiffusion dieses Hofes, wodurch er im schon erklärten Sinn mehr oder weniger chaotisch-mannigfaltig ist; außerdem kann Beliebiges zu der Situation gehören, wobei Atmosphären des Gefühls oft wichtig sind, aber auch fehlen können. Situationen können auch aus lauter Programmen oder Problemen bestehen und enthalten dennoch Sachverhalte, weil Programme programmierte, Probleme problematische Sachverhalte 26

Vgl. ders.: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O., S. 116 ff., 209 f.

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(oft untatsächliche) mit sich bringen, z. B. ein Wunsch den erwünschten, ein Zweck den bezweckten Sachverhalt und ein Satz einer Sprache, der eine Regel – ein Programm für unbestimmt häufig möglichen Gehorsam – ist, den Sachverhalt, dass ihm gehorsame Aussprüche stattfinden, wenn jemand einen Sachverhalt, ein Programm und ein Problem darstellen und damit unter Umständen weitere Ziele (z. B. Mitteilung an Andere) erreichen will. Der Situationsbegriff soll auf phänomenologisch angemessene Weise den Gedanken präzisieren, dass Bedeutung oder Bedeutsamkeit ursprünglich ist und nicht erst nachträglich einer an sich bedeutungslosen (stummen, toten) Welt durch projizierende Subjekte aufgedrückt wird, etwa entsprechend ihren vitalen oder sonstigen Bedürfnissen; in der schon begründeten Einsicht, dass einzelne Sachen erst durch Sachverhalte möglich sind, hat dieser Gedanke eine wichtige Stütze. Ihm dient ferner die Einsicht, dass von vornherein nicht irgend welche Sinnesdaten oder deren (substantielle) Träger wahrgenommen werden, sondern vielsagende Eindrücke, d. h. impressive Situationen, die in einem Augenblick ganz – einschließlich ihres chaotisch-mannigfaltigen Hintergrundes oder Hofes der Bedeutsamkeit – zum Vorschein kommen. 27 Den impressiven Situationen stehen die segmentierten gegenüber, die nie in einem Augenblick ganz zum Vorschein kommen, wie eine Sprache und die Persönlichkeit (persönliche Situation) eines Menschen. Eine andere Einteilung der Situationen ist die in aktuelle, deren jeweiliger Zustand durch beliebig dicht gelegte Querschnitte bestimmt werden kann, und zuständliche, bei denen dies nicht der Fall ist. Aktuelle Situationen sind z. B. die sozialen, wie etwa das Gespräch, aber auch der Blickkontakt, wenn Blicke sich aneinander messen und damit den binnendiffusen Hof einer Bedeutsamkeit schaffen, in dem mehr oder weniger explizit vielerlei an Sachverhalten, Programmen und Problemen enthalten ist, z. B. bezüglich des momentanen oder überdauernden Verhältnisses von Dominanz und Unterwerfung zwischen den Blickpartnern; aktuell sind weiter Gefahrensituationen wie die von mir gern als Beispiel herangezogene des Autofahrers, der einem drohenden Unfall nur durch augenblickliches Ausweichen, Bremsen oder Beschleunigen entgehen kann und dann blitzartig und ganzheitlich, aber binnendiffus – ohne Vgl. ders.: »Situationen oder Sinnesdaten – Was wird wahrgenommen?«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Bd. 19/2 (1994), S. 1–21 (wiederabgedruckt im vorliegenden Band).

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vereinzelte Überlegung – die relevanten Sachverhalte, die Probleme der Gefahr und die Programme möglicher Rettung mit einem Schlage der rettenden Tat berücksichtigen muss. Eine impressive, aber zuständliche Situation ist der jedem Ding angesehene (oder angehörte) typische oder individuelle Charakter, in dessen ganzheitlichem, aber chaotisch-mannigfaltigem Hof der Bedeutsamkeit Sachverhalte als Protentionen vorkommen, auf die man unwillkürlich erwartend gefasst ist, ferner Programme in Gestalt der anschaulichen Aufforderungscharaktere von Brauchbarkeit, Prestige, Konvention, Verführung, Abstoßung usw. und eventuell Probleme wie Rätsel und Gefahren. Zuständliche, meist segmentierte Situationen sind außer den schon genannten segmentierten Situationen (Sprache, Persönlichkeit) diejenigen, die man als den jeweiligen »Geist« von Lebensgemeinschaften aller Art (Freundschaft, Feindschaft, Ehe, Familie, soziales Milieu, Gemeinde, Volk mit landschaftlich usw. gebundenen Untergruppen) bezeichnen kann. Dabei ist zu beachten, dass es von einer segmentierten Situation sehr wohl einen Eindruck, der aber trügen kann, geben mag, z. B. wenn man von der Persönlichkeit eines Menschen u. U. blitzschnell, ja auf den ersten Blick, einen vielsagenden Eindruck gewinnt, der der Prüfung und eventuell der Korrektur durch Explikation einzelner Sachverhalte aus seinem Hof der Bedeutsamkeit und Messung solcher Explikate an Erfahrungen, die man mit dem Menschen macht, bedarf. Wittgenstein führt seine verdienstliche Polemik gegen die Annahme innerseelischer Vorgänge bei Hoffnungen, Denkungen, Absichten usw. gern mit Hinweis auf die »Weise des Dauerns, wodurch sich die vermeintlichen seelischen Vorgänge und Zustände von echten Vorgängen und Zuständen (z. B. dem Auflauf eines Schmerzanfalls) unterscheiden, etwa durch Fehlen genauer Datierbarkeit und Abmessbarkeit sowie der von Augenblick zu Augenblick registrierbaren Entwicklung«. 28 Es dürfte sich dann um – oft recht kurzfristige – zuständliche Situationen handeln. Dieser Überblick über Situationen im Allgemeinen liefert Rüstzeug für die Betrachtung von Struktur und Dynamik der persönlichen Situation und die darauf bauenden Ausführungen über Erinnerung und Gedächtnis. Die Lebensgeschichte einer Person, d. h. eines Bewussthabers (alias Subjekts) mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung, Vgl. dazu ders.: Selbstdarstellung als Philosophie. Metamorphosen der entfremdeten Subjektivität. Bonn 1995, S. 414.

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ist die Geschichte ihrer persönlichen Situation, die meist »Persönlichkeit« genannt und zur Seele verformt wird. 29 Diese Geschichte beginnt mit der für das Individuum ersten Entfaltung der primitiven Gegenwart und verläuft mit lawinenartiger Erweiterung der persönlichen Situation durch Prozesse der personalen Emanzipation und personalen Regression, der Explikation und der Implikation. Personale Emanzipation ist Abstandnahme von primitiver Gegenwart durch Objektivierung subjektiver Sachverhalte, Programme und Probleme, personale Regression dagegen deren Resubjektivierung im Rückfall auf primitive Gegenwart (lebhaftes affektives Betroffensein durch Gefühle oder – namentlich engende – leibliche Regungen, Erschütterung, Fassungslosigkeit, Jähzorn, Lachen, Weinen) oder in diffuse Ergossenheit ohne die Spitze des Plötzlichen (dumpfes Brüten, ekstatische Raserei usw.). Die Selbstgewissheit, dass es sich bei etwas um mich selber handelt, beruht auf personaler Regression zur primitiven Gegenwart hin; die von personaler Emanzipation freigegebenen objektiven Tatsachen enthalten, wie zuerst Fichte bemerkt hat, 30 nichts davon. Bei vollendeter personaler Emanzipation ohne Gelegenheit des Abstiegs zur primitiven Gegenwart in personaler Regression wäre kein Grund zur Selbstzuschreibung mehr vorhanden, und es bliebe nur ein subjektloses Bewusstsein, das niemandes Bewusstsein wäre, aus Vorfindungen ohne Vorfindenden und Vorgefundenes (ohne Subjekt und Objekt) im Sinn von Avenarius 31 und im Geist des Physikalismus. Explikation ist Vereinzelung aus der chaotischen Mannigfaltigkeit des Hofes der Bedeutsamkeit der persönlichen Situation, Implikation Einschmelzung in chaotische Mannigfaltigkeit. Sowohl personale Emanzipation als auch personale Regression können sowohl explizieren als auch implizieren. 32 Die wichtigste Leistung für Implikation in die persönliche Situation vollbringt jedoch das Vergessen. Vergessen ist kein Verlieren, sondern Wechsel des Mannigfaltigkeitstyps durch Einschmelzung in chaotische Mannigfaltigkeit. Ohne Vergessen könnte die Integration Vgl. ders.: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O., S. 189–196. Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bd. IV/2. Kollegnachschriften 1796–1804. A. a. O., S. 232. 31 Vgl. Richard Avenarius: Der menschliche Weltbegriff. Leipzig 1912, S. 119. Dazu vgl. Hermann Schmitz: Die entfremdete Subjektivität. Von Fichte zu Hegel. Bonn 1992, S. 59–64. 32 Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. IV. A. a. O., S. 287–473 und ders.: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O., S. 178–188. 29 30

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des durch personale Emanzipation und personale Regression zugeführten Stoffes in die persönliche Situation nicht gelingen; das Hinzukommende bliebe in Brocken nebeneinander liegen, und die Bildung einer zusammenhängenden Persönlichkeit wäre aufgehalten oder vereitelt. Das Vergessene kann durch reproduzierende, explikative Leistungen von Erinnerung oder Gedächtnis aus chaotischer Mannigfaltigkeit wieder freigesetzt werden. Wichtig ist dafür und für die Nachhaltigkeit des Vergessenen in der persönlichen Situation die persönliche leibliche Disposition, die die »geschichtliche« Oberstimme der persönlichen Situation – deren in personaler Emanzipation und personaler Regression bei Aktion, Passion und Reaktion durch Auseinandersetzungen und Erfahrungen begriffenen Anteil, den ich faute de mieux als persönlichen Charakter bezeichnet habe, ohne ein festes Gefüge zu meinen – als weitgehend autonome Unterstimme begleitet; ihre Variabilität kann besonders in den Dimensionen der Stärke und Schwäche des vitalen Antriebs sowie seiner Bindungsform (bezüglich Schwingungsfähigkeit und Spaltbarkeit) charakterisiert werden. 33 Aus dieser Dynamik von Bildung und Umbildung der persönlichen Situation ergibt sich deren komplizierte Struktur. Das Betroffensein durch personale Regression auf primitive Gegenwart zu schlägt in die Persönlichkeit gleichsam Wunden, die durch Vergessen in die persönliche Situation einheilen, aber als Kristallisationskerne der Erinnerung auch ohne explizierende Weckung nachhaltig weiterwirken. Sie bilden dann Inseln, die, gleich zähflüssigen Massen in einer sie umschließenden zähflüssigen Masse, als eingeschlossene Situationen in der persönlichen Situation gleiten. Dabei braucht es sich nicht um schädigende Einflüsse nach Art der »psychischen Traumata« durch frühkindliche sexuelle Erfahrungen im Sinne von Freud oder dergleichen zu handeln; auch die ungeahnte Güte und Ausstrahlungskraft eines Menschen kann so wirken, oder eine zugleich aufwühlende und befreiende Begegnung anderer Art, wie für Goethe die mit dem Familienbild im Hause Jabach im Juni 1774 in Köln. 34 Solche retrospektiven Anteile sind aber nur ein, keineswegs überwiegender, Ders.: System der Philosophie. Bd. IV. A. a. O., S. 315–346. Johann Wolfgang von Goethe: Dichtung und Wahrheit (Goethes sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe. Bd. 24. Hrsg. v. Richard M. Meyer). Stuttgart, Berlin 1904, S. 214 f. (14. Buch); vgl. auch Ernst Grumach, Renate Grumach (Hrsg.): Goethe. Begegnungen und Gespräche. Bd. 1: 1749–1776. Berlin 1965, S. 282 (Tagebuch von Johann Georg Jacobi zum 24. Juli 1774).

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Teil der in die persönliche Situation eingeschlossenen partiellen Situationen; ebenso gehören dazu Situationen, die weder in die Vergangenheit noch in die Zukunft verweisen und daher präsentische Anteile heißen können, sowie die besonders schwer gegenständlicher Abhebung zugänglichen prospektiven, in die Zukunft gerichteten Situationen, die man grob und eingängig, aber nicht ganz treffend als Wunsch-, Leit- und Schreck-»Bilder« (es sind keine Bilder, sondern zuständliche Situationen) klassifizieren kann; ihre Hebung, bis die prospektive Tendenz der eigenen Persönlichkeit hinlänglich deutlich wird, macht vor gewichtigen Lebensentscheidungen dem Betroffenen oft quälende Schwierigkeit. Ein großer Teil der Archetypen im Sinne von Carl Gustav Jung, wie besonders die Anima des Mannes, dürfte hierhin gehören. Präsentische Anteile unter den Situationen in der persönlichen Situation sind die Standpunkte eines Menschen (sofern sie nicht bloß in einzelnen Überzeugungen und Maximen bestehen), die (moralische) Gesinnung, die Lebenstechnik als die Methode, mit für die eigene Lebensführung relevanten Problemen umzugehen, die habituellen Interessen und ganz besonders – an der Grenze zu den prospektiven Anteilen – der Entwurf in eine Rolle, der den Menschen befähigt, seine segmentierte persönliche Situation als eine impressive, die im Augenblick ganz zum Vorschein kommt, aufzufassen und darzustellen, um so den Nachteil gegen den Mitmenschen auszugleichen, dass er, anders als dieser, von sich selbst keinen Eindruck haben kann. Über diese typischen Beispiele hinaus ist die Zahl der eingeschlossenen Situationen in einer persönlichen Situation unübersehbar groß; jede am Idiolekt, dem privaten Wortverständnis, beteiligte ganzheitliche Masse assoziativer Bedeutungen gehört dazu, und an Wittgensteins Hinweise ist zu denken. 35 Die Integration aller dieser partiellen Situationen in die persönliche Situation ist also eine sehr anspruchsvolle Aufgabe; wenn sie ganz oder teilweise disharmonisch ausfällt, entstehen Neurosen, und zwar nicht nur, wie die Psychoanalytiker lehren, durch störende Einwirkung retrospektiver Anteile, sondern auch von den präsentischen und prospektiven her. Angesichts dieses komplizierten Baues und in nie abgeschlossenem Auf und Ab begriffenen Umbaues jeder Persönlichkeit drängt sich die Frage auf, was der rote Faden ist, der ein Recht dazu gibt,

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daran zu glauben, dass es sich während der ganzen Lebensgeschichte um dieselbe Person handelt und nicht um ein beliebig gruppierbares und zerlegbares Aggregat, dessen Auffassung als Einheit eine Sache bloßer Bequemlichkeit wäre. Die objektiven Tatsachen der Lebensgeschichte geben keinen triftigen Grund für die Annahme einer in ihr beharrlichen Person. Sie lassen ebenso z. B. die Auffassung zu, dass mit jedem Morgen ein neuer Mensch sein Leben beginnt. Die Beharrlichkeit des Körpers während des Schlafs spricht so wenig dagegen, wie die Beharrlichkeit des Erdkörpers für Identität der darauf befindlichen Menschen ins Gewicht fällt. Ebenso wenig zwingend ist mein Wissen über den Menschen, der ich meiner Meinung nach gestern war, denn von manchen Dingen, mit denen ich vielfach umgehe, weiß ich ungefähr ebenso viel und halte sie doch nicht für mich. Dazu kommt die logische Schwierigkeit, dass ich jetzt bin, das Vergangene aber nicht mehr ist und nichts sowohl sein als auch nicht sein kann. Man kann ihr ausweichen, indem man sagt, dass ich zum einen Teil bin, zum anderen Teil nicht mehr bin, aber damit reduziert man mich auf eine Folge von Phasen gleich meiner Lebensgeschichte, und so verstehe ich mich nicht, wenn ich z. B. bei Ausbruch eines Brandes weglaufe, damit nicht ich selber lebendig verbrenne, nicht etwa: damit eine Phase nicht verbrennt, die einer Phase, die ich bin, künftig einmal folgen wird. Es geht also darum, dass ich ganz und gar, nicht bloß ein Teil von mir, der Mensch bin (ist), der früher einmal ein Anderer – z. B. ein heranwachsender Knabe, den es nicht mehr gibt – war und künftig einmal ein Anderer (z. B. ein Sterbender) sein wird. Die Aufgabe, dies logisch widerspruchsfrei und empirisch sachgemäß zu denken, wird nur durch die Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Tatsachen lösbar. Kein Widerspruch haftet an der durch meine Lebenserfahrung bezeugten, für mich subjektiven Tatsache, dass ich einmal jener Knabe war und künftig einmal jener Sterbende sein werde, jetzt aber ein Anderer als diese beiden bin; dagegen sind es objektive Tatsachen, dass jener Knabe nicht dieser jetzt gegenwärtige Mann ist und dieser nicht jener Sterbende. Die Identität der Person während ihrer Lebensgeschichte besteht also nur im Bereich der für sie subjektiven Tatsachen. Man kann von der Tatsache dieser Identität nicht die bloße Subjektivität abschälen, um eine im Übrigen mit ihr übereinstimmende objektive Rumpf-Tatsache zu behalten, so wie man, wenn ich traurig bin, von der Tatsache, dass ich traurig bin, die Subjektivität abschälen kann und dann die objektive Tatsache erhält, die auch die Anderen von mir aussagen können: dass 167 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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Hermann Schmitz traurig ist, ohne Rücksicht darauf, dass ich er bin. 36 Dagegen ist es eine objektive Tatsache, dass es die für mich subjektive Tatsache gibt, dass ich als ungeteilt der Selbe durch mein Leben beharre, indem ich jeweils Einer bin, (mindestens) ein Anderer war und (mindestens) ein Anderer sein werde. Keineswegs gibt es deswegen aber einen beharrenden Kern in wechselnder Schale, als ob ich mich mit dem Menschen von gestern und dem von heute kostümierte, so wie eine Frau das Kleid wechselt. Auch gibt die Subjektivität der Objektivität an Tatsächlichkeit nichts nach, im Gegenteil: Die objektiven Tatsachen sind abgeblasste Schattenbilder der subjektiven, so wie sich eine Erzählung zum gelebten Leben verhält.

Die Erinnerung Durch die vorstehenden Klärungen über die Zeit und die Lebensgeschichte sind die Rätsel der Erinnerung so gut zur Auflösung vorbereitet, dass diese wie eine reife Frucht gepflückt werden kann. Der von Wittgenstein 37 als anstößig empfundene Zirkel beruht auf seiner falschen Annahme, dass der Mensch den Begriff des Vergangenen lerne, indem er sich erinnert. Erinnerung gibt es erst in entfalteter Gegenwart mit vergegenwärtigter (d. h. in vergangene Gegenwarten gegliederter) Vergangenheit; die Urerfahrung der Vergangenheit gehört wie die des Seins dagegen schon der reinen Modalzeit an, aus der die modale Lagezeit der entfaltenen Gegenwart durch Überformung (Emanzipation des Jetzt aus primitiver Gegenwart) hervorgeht. Auf diesem primitiven Niveau kann nichts, wie zur Erinnerung erforderlich, als selbst erlebt bewusst sein, weil es mangels personaler Emanzipation noch keine Gelegenheit zur Selbstzuschreibung gibt. Die Vergangenheit der reinen Modalzeit, wohin die durch die Aussetzung der primitiven Gegenwart im Gefälle des geschehenden Neuen zerrissene Dauer zurücksinkt, ist ein absolut chaotisch-mannigfaltiges Einst oder Vorbei ohne Datierung, qualitativ reich nuanciert wie die reine Dauer (durée pure) nach Bergson und damit fähig, das Verhalten – z. B. der Tiere – mehr oder weniger zu steuern, aber in sich ohne Vereinzelung durch Identität und Verschiedenheit. Mit dieser Vergangenheit ist der Mensch dadurch vertraut, dass er leiblich ist; Leib 36 37

Ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O., S. 5–9. Vgl. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. A. a. O.

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und Zeit gehören unzertrennlich zusammen. 38 Die Vertrautheit mit Vergangenheit kommt ihm von da her, nicht von einem am Vergangenen abgelesenen Attribut, und wird auf die Erinnerung übertragen. Dies zur Auflösung des dritten Problems in der anfangs vorgeführten Fragereihe. Das vierte Problem betrifft die Möglichkeit der Selbstzuschreibung, die dazu gehört, in der Erinnerung etwas als etwas, das man selbst erlebt hat, bewusst zu haben. Wie komme ich darauf, welchen Rechtsgrund habe ich dafür, mich selbst für etwas zu halten und an etwas herauszufinden, dass es mich angeht, dass es etwas mit mir zu tun hat (z. B. ein gewisser Hermann Schmitz)? Die Struktur der für Menschen möglichen Selbstzuschreibung und ihrer Abhängigkeit von dem Selbstbewusstsein ohne Selbstzuschreibung, das zu jedem affektiven Betroffensein gehört und aufdringlich im Stande der selbstbewussten Selbstvergessenheit (z. B. in loderndem Zorn, in ekstatischen und panischen Zuständen, in dumpfer Trauer) wird, wenn jemand nicht mehr bei sich ist und sich dennoch intensiv spürt, habe ich so sorgfältig analysiert, dass ich hier nicht mehr darauf einzugehen brauche. 39 Die Evidenzgrundlage für die Möglichkeit der Selbstzuschreibung ist – um an meinem Fall zu exemplifizieren – die Subjektivität der für mich subjektiven Tatsachen, die sogar, wie sich gezeigt hat, ausreicht, um die Identität der Person im Lauf ihrer Lebensgeschichte zu ermöglichen, so dass die Person im Recht sein kann, wenn sie sich in der Erinnerung zuschreibt, etwas einmal erlebt oder bewusst gehabt zu haben. Die Selbstgewissheit, dass es sich bei etwas um mich selber handelt, wird von vornherein verfehlt und unverständlich, wenn man sie an der Selbstzuschreibung aufzuhängen sucht, als müsste man erst irgend etwas finden, das man dann für sich selber halten kann. Das würde bedeuten, objektive Sachverhalte und Tatsachen nachträglich mit Subjektivität zu schmücken; tatsächlich sind die für jemand (auch in adverbialem Sinn von »jemand«, s. o.) subjektiven Tatsachen primär und die entsprechenden objektiven deren abgeblasste Reste: Die Objektivität als spezielle Form der Tatsäch-

Vgl. Hermann Schmitz: »Zeit als leibliche Dynamik und ihre Entfaltung in der Gegenwart«, in: Zeiterfahrung und Personalität. Hrsg. v. Forum für Philosophie Bad Homburg. Frankfurt 1992, S. 231–246 und ders.: Husserl und Heidegger. 39 Ders.: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O., S. 105–108, 162–178; ders.: Selbstdarstellung als Philosophie. A. a. O., S. 12–18 und ders.: »Bewusstsein als instabiles Mannigfaltiges«. A. a. O. 38

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lichkeit entsteht, wie gesagt, erst durch Abfallen der Subjektivität bei personaler Emanzipation. Das erste Problem, der Erinnerung mit dem Gedächtnis gemeinsam, dreht sich um die dauerhafte Aufbewahrung des Stoffes, der erinnert werden kann. Es löst sich für die Erinnerung durch den Hinweis auf die persönliche Situation, in die durch Nachhaltigkeit und Vergessen gleichsam einheilt, was den Menschen betroffen macht, so dass er in den retrospektiven Anteilen seiner Persönlichkeit seine Vergangenheit wie einen Kometenschweif mit sich führt. Die Perspektive in die Vergangenheit, also in das hinein, was nicht mehr ist, ergibt sich aus der Entfaltung der Gegenwart vermöge der Emanzipation des Dieses vom (durch Paarung mit dem Nichtsein) gleichfalls aus der primitiven Gegenwart emanzipierten Sein, 40 weil Identität und Verschiedenheit nun auch ins Nichtsein erstreckt werden können; außer der datierenden Erinnerung wird auf diese Weise auch das in das noch nicht Seiende gerichtete Verhalten (datierendes Erwarten, Bezwecken, Planen, Hoffen, Fürchten) und das gegen die Modi der modalen Lagezeit indifferente Phantasieren möglich. Die Aufbewahrung in der persönlichen Situation unterscheidet sich von der vorhin abgelehnten Aufbewahrung in der Seele durch den ganz anderen Gegenstandstyp der persönlichen Situation: Während die Seele so etwas wie ein unkörperlicher Körper sein soll, der im Interesse der Abgrenzung des Erlebens als Haus mit Mauern, oder allenfalls als Strom (»Bewusstseinsstrom«; vgl. James und Husserl) mit Ufern, zur Innenwelt abgeschlossen wird und im Interesse der Zentrierung des Erlebens um eine Steuerung (z. B. Vernunft) herum geschichtet, sonst aber mit vielerlei Bewohnern wie Empfindungen, Vorstellungen, Urteilen, Gefühls- und Willensakten ausstaffiert wird, ist der Kernbestand einer Situation ein binnendiffuser Hof der Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen, und dieser Hof ist wegen seiner chaotischen Mannigfaltigkeit, trotz ganzheitlicher Abgehobenheit, keineswegs so abgeschlossen wie die Seele; die persönliche Situation gleicht einer zähflüssigen Masse, in der viele solche Massen, nämlich unübersehbar zahlreiche eingelagerte Situationen, schwimmen oder gleiten. Das zweite Problem betrifft die Mobilisierung des Erinnerungsstoffes in der Reproduktion. Hierbei handelt es sich um Explikation aus dem chaotischen Mannigfaltigen, in das das Erlebte durch Ver40

Ders.: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O., S. 114.

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gessen zusammengelaufen ist. Solche Explikation ist die Leistung der Emanzipation des Dieses in entfalteter Gegenwart. Der Mensch dürfte dadurch dem Tier überlegen sein, wenngleich ich nicht bezweifeln will, dass sich Ansätze zu solcher Emanzipation – eventuell auch zu personaler – schon im höheren Tierreich finden. Bei den Affen, auch bei einigen Haustieren (z. B. Hunden), mag es eine Grauzone geben. Das ist eine empirische Frage, die nicht der Philosoph, sondern unter den Wissenschaftlern höchstens der Zoologe entscheiden kann. Was in der Erinnerung expliziert wird, das sind einerseits Sachverhalte, Programme und Probleme, andererseits aber ganze Situationen, von denen die persönliche Situation in ihren retrospektiven Anteilen gefüllt ist. Man spricht oft von Bildern, die in der Erinnerung aufstiegen. Das dürfte ungenau sein, ebenso wie die schon getadelte Rede von Wunsch-, Leit- und Schreckbildern; solche sogenannten Bilder sind im Allgemeinen vielmehr Situationen im von mir definierten Sinn mit mehr oder weniger vage bildhaftem Kern oder bildhafter Garnierung. Die Explikation kann zwar durch personale Regression, indem der Mensch betroffen auf etwas stößt, oder durch personale Emanzipation der Abstandnahme vom Betroffensein mit Versetzung auf einen höheren Standpunkt ausgelöst werden, ist selbst aber meist ein passiv hinzunehmendes Ereignis, etwas, das einem einfällt, indem aus der chaotischen Mannigfaltigkeit des Vergessenen etwas hervorspringt. Dieses Ereignis kann mit der Zange des Suchens sowohl provoziert als auch verscheucht und aufgehalten werden. Das Suchen nach einer Erinnerung ist ein leibliches Handeln im von mir anderswo definierten Sinn, 41 nämlich Zuwendung des vitalen, konzentrativ zur Engung tendierenden Antriebs zu einem einzelnen, nicht in chaotische Mannigfaltigkeit versenkten Programm – einem Thema – in Übereinstimmung mit dem eigenen Streben der Person.

Das Gedächtnis Von der Erinnerung unterscheidet sich das Gedächtnis – die Masse erworbener Kompetenzen – einerseits dadurch, dass ihm die Bezugnahme auf etwas als früher einmal selbst Erlebtes nicht wesentlich ist, und andererseits dadurch, dass sein Vorrat im Allgemeinen willkürlich mobilisiert werden kann, während man bei Erinnerungen viel 41

Vgl. ders.: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O., S. 213.

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eher darauf angewiesen ist, dass sie einem einfallen. Der Vergleich zwischen Erinnerung und Gedächtnis liegt besonders nahe bei intellektuellen Kompetenzen, z. B. zur Darbietung von Wissen und zum Gebrauch einer Sprache, weil sich die Mobilisierungen beider Vermögen dann bequem in der Rede treffen können, sofern Erinnerungen erzählt werden. Gemeinsam hängen der Erinnerung und dem Gedächtnis die Probleme (1.) der Aufbewahrung und (2.) des Abrufs an. Für die Erinnerung beantwortet sich die Frage nach der Aufbewahrung glatt durch Untersuchung der persönlichen Situation in entfalteter Gegenwart. Das ist beim Gedächtnis nicht der Fall. Dessen Vorrat stammt nicht aus der Bildung und Umbildung der persönlichen Situation, denn er ist nicht angewiesen auf Sachverhalte, Programme und Probleme, die der Person in personaler Regression als für sie subjektiver nahegehen und durch personale Emanzipation in Objektivität entlassen werden. Nur zufällig ergeben sich Überschneidungen zwischen dem Gedächtnisstoff, z. B. dem Schulwissen oder der Fähigkeit zum Kopfstand (einer erworbenen sportlichen Kompetenz), und dem Stoff der Erinnerung; faktisch werden die Überschneidungen zwar zahlreich sein, aber prinzipiell ist der Vorrat des Gedächtnisses viel neutraler als der Stoff der Erinnerung, nicht so angewiesen auf Subjektivität für die Inhaberperson. Daher liegt für das Gedächtnis noch näher als für die Erinnerung die Versuchung, sich die Aufbewahrung des Vorrats als Ablagerung in einem neutralen Raum vorzustellen. Weinrich hat beobachtet, dass sich die traditionelle Metaphorik für die Aufbewahrung im Gedächtnis ziemlich vollständig auf zwei Sachgebiete verteilt, die er durch Unterscheidung der Magazinmetaphern von den Wachstafelmetaphern (und deren modernen Surrogaten: beschriebenes Buch, gefaltetes Tuch, belichtete Photoplatte) gegen einander abgrenzt. 42 Das Magazin, das rhetorisch besonders effektvoll Augustinus 43 begünstigt hat, ist ein Binnenraum, der fast beliebig gefüllt werden kann, ohne dass die Wände leiden (wenn man es nicht ungeschickt anstellt); dagegen erleidet die Wachstafel mit ihren Surrogaten, wie dem zerknitterten Tuch, durch die Eintragung eine Verletzung, die beim Wachs zwar leicht wieder ausgeglichen werden kann, aber im Fall »eines Tuchs,

42 Harald Weinrich: »Typen der Gedächtnismetaphorik«, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 9 (1964), S. 23–26. 43 Augustinus: Confessiones. Buch X, Kap. VIII, 12.

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welches die Falten, in die es oft gelegt ist, nachher gleichsam von selbst wieder schlägt« 44, in der Geschichte des Dinges langwierige Spuren hinterlässt. Insofern passt die Wachstafelmetaphorik besser für die aus persönlicher Betroffenheit hervorgehende und in die Persönlichkeit einheilende Erinnerung, die Magazinmetaphorik dagegen besser auf das neutralere Gedächtnis. Beide Metapherntypen haben – abgesehen von der Verfehltheit der Deutung menschlichen Erlebens mit Hilfe der Vorstellung von einer Seele 45 – den Nachteil, dem Empfänger den Widerspruch eines körperlosen Körpers zuzumuten. Dieser Nachteil verschwindet, wenn man, statt an die Seele, an einen richtigen festen Körper, das Gehirn, denkt, aber damit macht man sich lächerlich, weil man den gewaltigen Unterschied zwischen den elektrischen und chemischen Vorgängen im Gehirn und den gedanklichen und willentlichen Vorgängen bei Ausübung des Gedächtnisses übersieht, so beliebt dieser Trick, der den Menschen vom Nachdenken über sich durch Delegation an spezialisierte Naturwissenschaftler entlastet, bei Groß und Klein (Wissenschaftlern und Laienpublikum) heute auch ist. Demnach muss die Körpervorstellung in der Phänomenologie des Gedächtnisses vollständig aufgegeben werden. Entscheidende Hilfe leistet auch hier das Konzept der Situation, allerdings nicht der persönlichen Situation allein, wohl aber dieser in einer Hinsicht, die noch nicht zur Sprache gekommen ist. Durch die chaotische Mannigfaltigkeit, die Binnendiffusion, ihres Hofes der Bedeutsamkeit haben Situationen eine Schmiegsamkeit, die ihnen gestattet, trotz ihrer ganzheitlichen Abgehobenheit wie zähflüssige Massen ineinander einzugehen und zu gleiten. Auf diese Weise schließt die persönliche Situation unzählig viele partielle, mehr oder weniger gut aufeinander abgestimmte Situationen ein; sie kann aber ebenso selbst in umgreifende zuständliche Situationen eingehen. Der Erwerb einer Kompetenz, also eines Gedächtnisses, ist ein solches Eingehen der persönlichen Situation in eine solche zuständliche, sie umgreifende Situation. Besonders gut lässt sich das am Erwerb einer sprachlichen Kompetenz nachweisen. Ich habe das Lernen nach Regeln dem Ler-

Arthur Schopenhauer, »Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde«, in: ders.: Sämtliche Werke. Bd. III: Kleinere Schriften I. Hrsg. v. Wolfgang Freiherr von Löhneysen. Frankfurt 1986, S. 7–189, hier S. 175 (§ 45: »Gedächtnis«). 45 Vgl. Hermann Schmitz: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O., S. 189– 196. 44

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nen durch Hineinwachsen in Situationen mit dem Beispiel des Spracherwerbs gegenübergestellt. 46 Von einem bestimmten Alter an, das etwa bei 11–15 Jahren liegt und mit der erlangten Hirnreife zusammenfällt, kann man Sprachen nicht mehr wie ein Kind lernen, sondern braucht zusätzliches Training, ohne das sogar vollständiges ›Eintauchen‹ in die Zweitsprache häufig nur noch zu rudimentärem Erwerb führt. Hier ist doch fast mit Händen zu greifen, dass eine frühe Begabung verlorengeht, nämlich die Fähigkeit, sich naiv und locker mit Hilfe orientierender, Rahmen setzender und Winke gebender Erfahrungen, aber höchstens spärlicher Explikationen einzelner Regeln, in solche chaotisch-mannigfaltigen Regelganzheiten wie natürliche Sprachen einzuleben, statt der Rekonstruktion mit Hilfe einzeln eingeübter grammatischer und semantischer Regeln zu bedürfen. 47

Natürliche Sprachen sind zuständliche Situationen aus Programmen (Regeln) mit programmierten Sachverhalten; man kann sie als junges Kind »spielend« durch einfaches Hineinwachsen der persönlichen Situation lernen, oder später mit Hilfe systematischen Einübens von Regeln. Im zweiten Fall kommt man an die Schwelle zum erfolgreichen Gelernthaben, zum Erwerb der Kompetenz, wenn es gelingt, die Sprache zu »beherrschen« (wie man mit arroganter Übertreibung zu sagen pflegt) und flüssig zu gebrauchen, ohne sich um die Regeln noch kümmern zu müssen: Man hat sich in der Sprache »freigeschwommen«. Das ist der Punkt, wo dank der Mühe des Lernens die persönliche Situation des Lernenden in die Sprache als gemeinsame zuständliche Situation hineingeglitten ist. Ebenso verhält es sich mit dem Erwerb anderer Kompetenzen, die Gedächtnisse sind, z. B. beim Tanzen-, Schwimmen- und Klavierspiellernen. Beim Auswendiglernen eines Gedichtes wächst die persönliche Situation z. B. in die von dem Gedicht poetisch explizierte 48 hinein. Mit Gewalt haben naturwissenschaftlich orientierte Psychologen (Hermann Ebbinghaus, Georg Elias Müller u. a.) den Einfluss der Situationen auf das Gedächtnis zurückzudrängen versucht, indem sie den Erfolg des Einübens sinnloser Silben experimentell studierten, aber auch damit kann man der Einbindung persönlicher Situationen Ders.: System der Philosophie. Bd. V: Die Aufhebung der Gegenwart. Freiburg, München 2019, S. 66–74. 47 Ebd., S. 72. Vgl. Götz Wienold: Die Erlernbarkeit der Sprachen. Eine einführende Darstellung des Zweitsprachenerwerbs. München 1973, S. 38. 48 Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O., S. 72 f. und ders.: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O., S. 237. 46

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in zunächst aktuelle und daraus sich entwickelnde zuständliche Situationen nicht entgehen; das Vehikel der Bildung solcher Situationen ist in diesem Fall die Wahrnehmung durch Einleibung auf dem Weg über Gestaltverläufe und synästhetische Charaktere. 49 Aus dieser neuen Auffassung des Gedächtnisses als Anschluss der persönlichen Situation an sie umgreifende zuständliche Situationen ergibt sich die Auflösung der beiden noch offenen Probleme. Es gibt keinen Schatz des Gedächtnisses, den das Individuum durch Lernen für sich abfüllte und auf die Seite brächte, und keinen Ort, wo ein solcher Schatz aufbewahrt würde; umgekehrt verhält es sich so, dass im Erwerb einer Kompetenz die Persönlichkeit in etwas eingeht, das sie ganz oder teilweise in sich aufnimmt. Die räumliche Metaphorik ist auch in diesem Fall allerdings nicht wörtlich zu nehmen; Situationen wie eine beherrschte Sprache füllen keinen Raum und haben keinen Ort, und doch hat es klaren Sinn, zu sagen, dass ein Mensch mit seiner Persönlichkeit in sie hineinwächst oder sich in sie hineinlebt. Der Sprachschatz in der Seele ist eine Fiktion, aber das Eingehen von Situationen in Situationen ist phänomenologisch verifizierbar. Man kann das räumliche Bild auch so wenden: die Mobilisierung eines Gedächtnisses, einer erworbenen Kompetenz, ist keine Introspektion, kein Gang nach innen, sondern eher sozusagen eine Extraspektion, eine Anpassung an eine zuständliche Situation, der die persönliche angeschlossen ist. Dieser Anpassung entspricht die der Gedächtnisleistung entsprechende Gehirntätigkeit. Ich habe den Unterschied meiner Auffassung des Gedächtnisses von der traditionellen kürzlich mit der Voreiligkeit Kants bei seiner transzendentalen Erörterung des Begriffs vom Raume beleuchtet. 50 Kant schließt aus unserer Eingeweihtheit a priori in die geometrischen Gesetze des Raumes, dass dieser in uns (als Anschauungsform im Gemüt) enthalten ist. Er übersieht, dass sein Beweisgrund höchstens für eine innige, mehr als äußerliche Vertrautheit des Menschen mit dem Raum spricht, die aber auf zwei Weisen möglich ist: entweder so, dass der Raum – wie Kant will – intim dem Menschen zugehört, oder umgekehrt so, dass der Mensch so intim zum Raum gehört, dass er a priori in dessen Gesetze eingeweiht ist. Die Kantsche Auffassung – so habe ich geschrieben 51 – entspricht der traditionellen vom privaten Sprachschatz 49 50 51

Ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O., S. 135–147. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. B 40. Hermann Schmitz: Husserl und Heidegger. A. a. O., S. 74.

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oder Sprachbesitz des Einzelnen, die zweite meiner Auffassung der sprachlichen Kompetenz als Anschluss der persönlichen Situation an eine sie einschließende zuständliche. Dieser Anschluss ist allerdings nicht so glatt, dass die sprachliche Kompetenz des Einzelnen ohne Weiteres mit der lebendigen Gemeinsprache, für die sie Kompetenz ist, in deren Veränderungen zusammenginge; sie kann auch hinter der Gemeinsprache zurückbleiben oder sich abweichend entwickeln. Ebenso wenig ist diese Kompetenz aber bloße Privatsache; sonst könnte der kompetente Sprecher nur verstehen, was er an Reden selbst erfinden kann, aber tatsächlich ist er oft über sein eigenes Sprechvermögen hinaus in die gemeinsame Sprache eingeweiht. Demnach ist damit zu rechnen, dass sich beim Zugang der einzelnen Person zur gemeinsamen Sprache zuständliche Situationen bilden, die wie Berührungsflächen an beiden Seiten Anteil haben. Zuständliche Situationen lassen sich nicht von Augenblick zu Augenblick in einer beliebig dichten Serie von Querschnitten verfolgen; darin besteht ihr Gegensatz zur aktuellen Situation (s. o.). Sie stehen, ohne zeitlos zu sein, mit einer gewissen Indifferenz neben der Modalzeit mit einer Dauer, die der »duratio permanens« und dem »aevum« im Sinne der Scholastiker (besonders Suárez) verwandt ist. 52 Bewahrung gehört zu ihnen als eine gewisse Indifferenz gegen die Zeit, und so bewahrt das Gedächtnis, ohne deshalb der Veränderung und dem Verblassen entzogen zu sein. Während dies zur Auflösung des ersten Problems (Aufbewahrung des Gedächtnisvorrats) dient, gilt für das zweite Problem (Mobilisierung des Vorrats) grundsätzlich Gleiches wie bei der Erinnerung: Es handelt sich um Explikation von Situationen vermöge der Emanzipation des Dieses. Besonders deutlich wird das bei erschwerter Wortbesinnung, wenn einem ein Wort – etwa ein Eigenname – gemäß der Redensart »auf der Zunge liegt«, aber nicht wirklich einfallen will. Man hat es dann mit einem chaotischen Mannigfaltigen von Bedeutungen zu tun, das entweder absolut chaotisch ist oder doch schon einzelne Sachverhalte hervortreten lässt, wie z. B., dass das Wort mit einem gewissen Buchstaben beginnt. Dieses chaotische Mannigfaltige ist eine aktuelle Situation als Problem mit dem Programmcharakter eines starken Explikationsdruckes, der mit einer Befreiung endet, wenn das Wort gefunden ist. Ähnliches kann sich bei Ebd., S. 365. Vgl. auch ders.: System der Philosophie. Bd. IV. A. a. O., S. 487–491 und ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O., S. 267–269.

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der Explikation einer Erinnerung zutragen, wenn es sich z. B. darum handelt, einen fast vergessenen Traum heraufzuholen. Das Besondere an der Explikation des Gedächtnisses gegenüber der Explikation (Reproduktion) von Erinnerungen besteht aber darin, dass die Explikation nicht in die persönliche Situation zurückgreift, sondern in angelagerte Situationen, in die die persönliche Situation hineinpasst oder denen sie sich anpasst. Die zuständlichen Situationen, deren explizierende Mobilisierung einer Gedächtnisleistung (nicht notwendig als Handeln im oben 53 angegebenen Sinn) ist, verhalten sich zu dieser Leistung also nicht wie Akten, die aus dem Archiv der Seele geholt werden, sondern eher wie der schaffende Geist (intellectus agens) des Aristoteles, der mit seinem Vollzug (energeia) wie das Licht in die Seele scheint und in ihr eine Idee zum Aufleuchten bringt wie das Licht einer Farbe. 54 So begabt uns eine Sprache, die wir beherrschen, indem sie uns führt, mit den Satzaussprüchen, die wir ihr gemäß formen. Eine wichtige Unterscheidung, die ich zum Schluss einführen will, erweitert den Spielraum des Gedächtnisses über den Anschein hinaus, dass sich das Gedächtnis hauptsächlich auf neutrale, gegen Subjektivität gleichgültige Bestände beziehen könnte. Die umgreifenden Situationen, in die die persönliche Situation Eingang findet, lassen sich einteilen in bloß includierende, die ihr wie beherrschte Fremdsprachen und soziale Konventionen nur einen äußeren Rahmen des Verhaltens geben, und implantierende, die die persönliche Situation so in sich einpflanzen und durch sie hindurchwachsen, dass die Person gleichsam ein Stück von sich – einen wesentlichen Teil ihrer Persönlichkeit – verliert, wenn sie aus diesen Situationen herausfällt. Ich habe den Unterschied einmal am Verhältnis von Kameradschaft und Freundschaft verdeutlicht. Für beide Beziehungsarten ist eine gemeinsame Situation erforderlich, die die persönlichen Situationen der Partner umgreift. Bei guten Kameraden, die für einander eintreten, kann es sich um eine bloß includierende Situation handeln. Der eine Kamerad braucht mit der Persönlichkeit des anderen nicht so zu verwachsen, dass er durch eine implantierende Situation mit ihm verbunden ist, und kann doch ein treuer Kamerad sein. Anders verhält es sich bei der Freundschaft (einschließlich der geVgl. ders.: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. A. a. O., S. 213. Vgl. dazu ders.: Die Ideenlehre des Aristoteles. Bd. I/2: Aristoteles. Ontologie, Noologie, Theologie. Bonn 1985, S. 217–247. 53 54

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schlechtlichen Paarliebe), sofern sie nicht an der Oberfläche bleibt. Zur gründlichen, tiefen Freundschaft gehört, dass zwischen den persönlichen Situationen der Freunde die Horizonte verschmelzen (um eine Formulierung von Gadamer aufzugreifen), dass sie sich ineinander einleben, und daraus ergibt sich die Bildung einer ihre persönlichen Situationen implantierenden gemeinsamen Situation. Andere implantierende Situationen sind gleichsam ererbt, so die heimatliche Situation, der »Geist« der angestammten Familie oder sozialen Schicht mit als Würde gepflegter und überlieferter Eigenart, die religiöse, kulturelle oder völkische Tradition. Ohne Einbettung in den tragenden und Bedeutsamkeit spendenden Hintergrund gemeinsamer implantierender Situationen wird die persönliche Situation unsicher, von Verflachung und Vergröberung bedroht. Zum Hineinwachsen in eine implantierende Situation gehört, wie zum Erwerb anderer Kompetenzen, eine Lernphase, die als Sozialisiation bzw. als Anpassung an den Lebens- oder Freundschaftspartner bezeichnet werden kann. Wer diese Phase erfolgreich abschließt, besitzt Kompetenz für das Verhalten gemäß den Programmen der implantierenden Situation ebenso wie der kompetente Sprecher für das Verhalten gemäß den Regeln der Sprache. Daher kann man von einem Gedächtnis für implantierende Situationen sprechen, wovon die persönliche Situation durchwirkt und geprägt wird. In alten Hochkulturen kann diese Prägung eine durchgreifende Vormachtstellung in den persönlichen Situationen ihrer Angehörigen innehaben. In diesem Sinn hat man neulich vom »kulturellen Gedächtnis« gesprochen. 55 Dabei wird die Perspektive der Erinnerung gleichsam extrapoliert, indem die implantierende Situation dem Individuum, das Gedächtnis als Kompetenz für sie erwirbt, die Zugehörigkeit zu einer geschichtlich geformten Menschengruppe, deren Geschichte für sein Bewusstsein über die als selbst erlebt erinnerbare Vergangenheit hinausgeht, und den Halt der persönlichen Situation an dieser Geschichte verschafft.

Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992.

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13. Heimisch sein

Mancher Bewohner einer Stadt, der von auswärts zugezogen ist, kann früher oder später sagen, er fühle sich in dieser Stadt wie zu Hause, er sei in ihr heimisch geworden. Die Stadt ist ihm zum Wohnraum geworden. Woran liegt das? Soziale Beziehungen spielen sicherlich eine große Rolle: Man hat Freunde gefunden und eine Arbeitsstelle, wo man anerkannt wird, und dergleichen mehr. Aber man kann auch Freunde und ein ordentliches Arbeitsverhältnis haben und sich trotzdem in der Stadt fremd vorkommen, weil sie zu laut, zu groß oder irgendwie verwirrend ist. Auch gehören soziale Bande zur Nachbarschaft nicht unbedingt zum Heimischsein. Mancher Single fühlt sich in der Stadt dank eines behaglichen Appartements zu Hause, obwohl er an seine Freunde nur durch lange Telefongespräche und auf Wochenendreisen herankommt. Das Spezifische des Erfolges, als Fremder in einer Stadt nach einiger Zeit ganz heimisch »wie zu Hause« zu sein, ist nicht ein Sozialverhältnis, obwohl es sich vorzüglich im sozialen Zusammenleben realisiert. Nach meiner Meinung handelt es sich vielmehr um spezifische Bewegungsmöglichkeiten. Diese These will ich im Folgenden erläutern. Dazu muss ich erst einmal auf die Frage eingehen, was Bewegung ist. Nach der herrschenden Meinung, die der Physik nachspricht, besteht Bewegung im Wechsel des Ortes, wobei das System der Orte, die dabei in stetiger Bahn durchlaufen werden, konstant bleibt. Diese Meinung ist logisch anfechtbar. Sie scheitert daran, dass ihr gemäß Bewegung und ruhe als Ortswechsel bzw. Beharren am Ort polar zusammengehören. Die Orte, deren Angabe auf die Frage antwortet, wo etwas ist bzw. als Bewegtes war oder sein wird, sind relative Orte, die sich gegenseitig durch die Lage- und Abstandsbeziehungen an ihnen befindlicher Objekte identifizierbar machen. Im Besonderen bedarf es dazu ruhender Bezugsorte, wobei es nicht darauf ankommt, ob es sich um Ruhe in einem absoluten Raum oder um relative Ruhe handelt; die Bezugsorte müssen jedenfalls so lange ruhen, wie das betreffende 179 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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Ortssystem besteht. Wenn sie dieser Bedingung nicht genügten, blieben die in Beziehung zu ihnen bestimmten Orte nicht konstant, weil sich die Lage- und Abstandsverhältnisse, von denen ihre Bestimmtheit als diese Orte abhängt, ändern würden. Dann könnte eine Sache plötzlich an einem anderen Ort sein, ohne sich bewegt zu haben. Ruhe und Bewegung wären nicht mehr unterscheidbar. Das System der Orte könnte nicht mehr die Aufgabe erfüllen, als beharrende Unterlage die Abschätzung des Ausmaßes und des Ergebnisses einer Bewegung zu ermöglichen. Ein Ort, der sich dafür eignet, zu sagen, wo etwas ist, setzt also Ruhe von Bezugsobjekten voraus. Wenn Ruhe aber als Beharren am Ort verstanden wird, setzt sie ihrerseits den Ort voraus. Damit ist der Zirkel der Begriffsbestimmungen perfekt: Ruhe setzt den Ort voraus, und der Ort setzt Ruhe voraus. Mit einem Zirkel kann man nichts bestimmen. Das Scheitern dieser Einführung von Ort und Ruhe durch einander betrifft natürlich auch die Bewegung, solange sie als Wechsel des Ortes verstanden wird. Die Lehre aus diesem Misserfolg einer scheinbar selbstverständlichen Begriffsbildung kann nur sein, dass Ruhe und Bewegung nicht ursprünglich in einem System relativer Orte ihren Sitz haben, sondern dorthin aus tiefer liegenden, elementaren Schichten räumlicher Struktur übertragen sind, mit denen man schon vertraut sein muss, um Ruhe und Bewegung auf Orte beziehen zu können. Ich fasse sie unter dem Titel des leiblichen Raumes zusammen; auf das Selbe läuft es hinaus, von flächenlosen Räumen zu sprechen. Flächenlos sind die Räume des Wetters, des Schalls, der feierlichen oder drückenden Stille, des Windes, der einem entgegenschlägt, der freien Eigenbewegung, besonders in Gestalt spontaner Gebärde, des Schwimmens, des Spürens am eigenen Leibe, z. B. in der Brustgegend beim Einatmen. In allen diesen Räumen gibt es Ruhe, in den meisten auch Bewegung, aber ohne Ortswechsel, es sei denn, dass ihnen Orte durch Anleihe bei der üblichen Raumvorstellung eingedeutet werden. So ist z. B. die gespürte Bewegung des entgegenschlagenden Windes frei von Ortswechsel, solange man sich rein an die Erfahrung hält und diese nicht mit der seit der Antike als nützlich bewährten Verdinglichung des Windes zu bewegter Luft umdeutet. 1 Auch die flüssige EigenbeweEinzusehen, dass die Luft ein nicht empirisches Gedankengut ist, fällt sogar dem modernen Zeitgenossen schwer, obwohl schon Hobbes lehrte: »Um die Luft für etwas zu halten, bedarf es der Vernunft. Im Ausgang von welchem Sinn sollten wir denn urteilen, dass Luft besteht, da wir sie doch weder sehen noch hören noch schmecken

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gung kann nur in einem anderen System räumlicher Orientierung gelingen, als dem System relativer Orte, die sich durch ihre Lageund Abstandsbeziehungen zu einander bestimmen. Zwar hält sie sich oft an solche Orte, z. B. beim Gehen, Greifen und Werfen, nicht ebenso beim schwungvollen Rückwärtstanzen, in der Entfaltung der Gebärde, beim Sprechen und Kauen mit den Gliedmaßen des Mundes; aber wir würden gar nicht in Bewegung kommen, wenn wir auch nur den Einsatz unserer Großglieder, der Arme und Beine, nach Lagen und Abständen zwischen Orten bemessen wollten. Den Lehrling einer künstlich anzueignenden motorischen Kompetenz, wie Tanzen und Klavierspielen, erkennt man daran, dass er Lagen und Abstände der Stellung seiner Glieder aufsucht; sobald er flüssiges Können erreicht hat, lässt er sich von leiblicher Dynamik führen, die das Feld oder den Gegenstand ihrer Betätigung angeeignet hat. Die Achse dieser Dynamik ist der vitale Antrieb aus Engung und Weitung, die als Spannung und Schwellung konkurrierend verschränkt sind; man kann ihn gleichsam nackt, bloß in sich schwingend, am Einatmen beobachten. Dass Engung und Weitung im Antrieb zusammengehören, erkennt man daran, dass der Antrieb erstarrt, wenn die Engung aushakt, wie im heftigen Schreck, und erschlafft, wenn die Weitung ausläuft, wie beim Einatmen und Dösen. Zur Vitalität wird der Antrieb durch seine Reizempfänglichkeit und Zuwendbarkeit zu empfangenen Reizen. Engung und Weitung hängen nicht nur auf verschiedene Weisen – kompakt, schwingend, spaltbar – im Antrieb zusammen, sondern zwischen ihnen vermittelt überdies die leibliche Richtung, die unumkehrbar aus der Enge in die Weite führt, etwa als Blick, als Einatmen, als Schlucken und in die Bahnen der Gebärden, wie sie z. B. durch ergreifende Gefühle eingegeben werden. Solchen Bahnen folgt die geführte, aber nicht geplante Bewegung des Leibes und Körpers. Das sind erst Strukturen des einzeln spürbaren Leibes; sie treten aber in größere Zusammenhänge und Kontakte durch die leibliche Kommunikation ein, von der ich jetzt nur ihre wichtigste Art, die antagonistische Einleibung, ins Auge fasse. Der vitale Antrieb aus Engung und Weitung ist in sich dialogisch; dieser Dialog spreizt sich

noch riechen und auch nicht durch Tasten als ein Etwas erkennen könnten?« (Thomas Hobbes: Elemente der Philosophie I. Der Körper. Hrsg. v. Karl Schuhmann. Hamburg 1997, S. 321 (Kapitel XXX »Die Schwere«)). Vgl. auch Hermann Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie? Rostock 2003, S. 99–112 (Kapitel »Die Luft und was wir als sie spüren«).

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zur Konfrontation schon im eigenleiblichen Spüren etwa des Schmerzes, der nicht nur eigener Zustand, sondern auch eindringender Widersacher ist, mit dem man sich auseinandersetzen muss, sowie der reißenden Schwere, wenn man ausgleitet und stürzt oder sich gerade noch fängt. Sie ist nur noch ein wie aus dem Nichts überfallender, eindringender Widersacher, den man nicht erleiden kann, ohne mit ihm im Widerstand zu kommunizieren, gleichsam zu ringen. Zur Kommunikation mit begegnenden Gestalten wird solche antagonistische Einleibung immer dann, wenn man von solchen spürbar betroffen und angegangen wird. Das ist z. B. beim Blickwechsel der Fall, oder dann, wenn man sieht, wie eine wuchtige Masse sich drohend nähert. Dann springt man zur Seite oder dreht sich weg und entgeht dadurch unter günstigen Umständen dem Zusammenstoß durch eine spontan angepasste Bewegung, obwohl man den eigenen Körper dann gar nicht sieht, also nicht nach Lage und Abstand dem gefährlichen Angriffsobjekt anpassen kann. Es gelingt, weil der Blick als unumkehrbar aus der Enge in die Weite führende Richtung in einseitiger antagonistischer Einleibung wie gebannt an der Bewegungssuggestion der bedrohlich sich nähernden Masse, d. h. an der anschaulichen Vorzeichnung ihrer bevorstehenden Bewegung, hängt und diese in das aus solchen unumkehrbaren Richtungen gebildete motorische Körperschema 2, dem er selbst angehört, so überträgt, dass die vom motorischen Körperschema geführte Anpassung im Ausweichen gelingt. Diese Konfrontation ist eine Auseinandersetzung zwischen unumkehrbaren Richtungen, teils leiblichen, die ausstrahlend aus der Enge in die Weite führen, teils einstrahlenden, entgegenkommenden Bewegungssuggestionen, die ausgeführten Bewegungen weiterführend aufgeladen sind. Von dieser Art ist alle optisch-motorische Konfrontation, soweit sie planlos und unwillkürlich abläuft. Bisher habe ich nur von leiblicher Dynamik und Bewegung im leiblichen Raum gesprochen. »Leiblich« nenne ich zunächst alles, was jemand von sich selbst in der Gegend (nicht immer in den Grenzen) des eigenen Körpers ohne Beistand des Sehens, Tastens, Hörens, Riechens, Schmeckens spüren kann, also alle leiblichen Regungen wie Hunger, Durst, Schmerz, Angst, Wollust, Ekel, Frische, Müdigkeit, Wonne, Entzücken und alle Ergriffenheiten von Gefühlen; daraus entnehme ich die Struktur der leiblichen Dynamik, die durch leibNäheres zum motorischen Körperschema (das vom perzeptiven unterschieden werden muss) z. B. Hermann Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie? A. a. O., S. 31–34.

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liche Kommunikation den einzelnen Leib übertrifft und dem Raum, den ich insofern als leiblichen Raum bezeichne, eine Struktur aus Enge, Weite und Richtung verleiht. Bewegungssuggestionen und die hier nicht zu erörternden synästhetischen Charaktere geben den Gestalten im leiblichen Raum leibverwandte Züge, wodurch sie zu Mitspielern in leibliche Kommunikation werden können. Was noch fehlt, ist die Beteiligung relativer Orte, die sich durch Lagen und Abstände an ihnen befindlicher Gegenstände wechselseitig bestimmen d. h. identifizierbar machen. Eine ganz neue Art von räumlicher Orientierung und Organisation entsteht, wenn es zu einem System solcher relativer Orte – einem Ortsraum, sage ich – kommt. Dazu ist Gelegenheit, wenn der Blick durch Blickziele aufgehalten wird und zwischen diesen Zielen Netze paarender Verbindungen gezogen werden. Das ist z. B. am klaren nächtlichen Himmel möglich, wenn Sternbilder zusammengestellt werden. Dabei fehlt noch die Fläche. Solange sie fehlt, muss bei jedem Wechsel der Zuwendung das Netzwerk der Verbindungen neu geknüpft werden. Erst der Eintrag in eine Fläche, die den Zug der Blickrichtungen aus der Enge in die Weite quert, macht das Netz so stabil, dass es sich gegen Wechsel der Zuwendung invariant behauptet. Damit ist die Grundlage zur stabilen Ablesung von Lagen und Abständen an den Verbindungen geschaffen, als Grundlage eines konsolidierten Ortsraumes, in den dann auch der eigene Leib und Körper einbezogen werden kann. Zusammen mit der Ortsräumlichkeit nimmt der Raum dank der Fläche die Dreidimensionalität an. In flächenlosen Räumen wie den vorhin genannten gibt es auch keine Punkte, Linien und dreidimensionalen Volumina, obschon dynamisches Volumen, das der Schall besitzt und das die Körper haben, ehe sie dreidimensional werden. Die Fläche, die diese neue Raumform ermöglicht, ist leibfremd; am eigenen Leib, der meist ein durch die Engung im vitalen Antrieb zusammengehaltenes Gewoge verschwommener Inseln ist, kann man keine Flächen spüren, während man sie am eigenen Körper besehen und betasten kann. Daher sind die leiblichen Räume flächenlos. Man kann den Gegensatz der Strukturen im leiblichen Raum und im Ortsraum auf eine einfache Formel bringen: Es ist der Gegensatz von Unumkehrbarkeit und Umkehrbarkeit. Im leiblichen Raum sind alle Richtungen, die in die Weite ausstrahlenden und die von der Weite her einstrahlenden, unumkehrbar; sie verstricken manchmal größere Gruppen in komplizierte Konfigurationen, etwa auf den bevölkerten Gehwegen großer Städte während der rush hour, wenn die 183 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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Passanten einander, ohne darauf ihre Gedanken zu verwenden, dank flüchtigen, achtlosen Blickwechsels geschickt ausweichen, indem die Information des Blickes sofort in das motorische Körperschema übergeht. Dagegen sind die Verbindungen zwischen Blickzielen, über denen sich der Ortsraum bildet, nach zwei Seiten ablesbar, und daher können auch die Lage- und Abstandsverhältnisse, die diesen Verbindungen entnommen und von den Blickzielen auf die Orte übertragen werden, umgekehrt werden, im Fall des Abstandes so sehr, dass der Abstand von A nach B mit dem von B nach A übereinstimmt. In der Entwicklung der kindlichen Raumvorstellung ist ein großer Schritt getan, wenn dem Kind die Entdeckung dieser Umkehrbarkeit gelingt. Piaget hat seine Tochter Jacqueline dabei beobachtet, als sie ein Jahr, einen Monat und sieben Tage alt war. Jacqueline befördert einen Stab mit dem Arm auf ihren Rücken und dreht sich dann, um ihn zu suchen. Zunächst wendet sie sich auf die Seite, nach der er verschwunden ist, dann aber nach rechts, wenn sie ihn nach links befördert hat, und umgekehrt, und dieses Wechselspiel wiederholt sie oft in den folgenden Wochen. 3 Das kleine Mädchen hat die Umkehrbarkeit der Richtungen im Ortsraum entdeckt. Dieser knappe Auszug einiger Hauptgedanken aus meiner Phänomenologie des Leibes und des Raumes soll hier zur analytischen Klärung des Wohlbefindens, in einer Stadt wie zu Hause zu sein, genützt werden. Ich habe eine urtümliche und eine davon abgeleitete Form der Organisation oder Gliederung des Raumes unterschieden. Die urtümliche ist bestimmt von Enge, Weite und einem Konzert unumkehrbarer, einander treffender Richtungen aus der Enge in die Weite oder umgekehrt, also von Grundzügen leiblicher Dynamik. Die andere Form gliedert den Raum durch Lagen und Abstände zwischen Orten über umkehrbaren Verbindungen der dort befindlichen Gegenstände; sie wird durch die dem spürbaren Leib fremde Fläche ermöglicht, die dem Raum obendrein die Dreidimensionalität mit Punkten, Linien und Körpern als dreidimensionalen Volumina einbringt. Das Hören und das Spüren am eigenen Leib erschließen nur die urtümliche, fundierende Raumform; dem Sehen sind beide Formen in Gemengelage zugänglich. Dabei kommt es darauf an, zwischen dem Sehen in Ruhelage und dem optisch-motorischen Verhalten, dem Sehen in Bewegung, zu unterscheiden. Die Philosophie und 3 Jean Piaget: La construcion du réel chez l’enfant. Paris 1937, S. 185 (Observation 104).

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die Wissenschaften (Psychologie und Physiologie) haben sich, soviel ich weiß, fast nur an den ersten Typ gehalten. Das Sehen in Ruhelage hat es hauptsächlich mit dem Ortsraum zu tun; es ist ein Sehen von Gegenständen mit Lagen zu und Abständen von einander. Interessanter ist das motorische Sehen, das sich weitgehend an den Ortsraum hält, solange es mit ruhenden Gegenständen befasst ist, wie dem Boden beim Gehen, dem Ziel beim Greifen. Sobald aber auch der Gegenstand in Bewegung ist, insbesondere, wenn er auf den Sehenden zukommt, setzt mit der Aktivierung antagonistischer Einleibung die urtümliche, leiblich-dynamische Raumform sich durch. Beispiele habe ich schon angegeben, sowohl das Ausweichen in Gefahr bei drohender Näherung einer wuchtigen Masse als auch das gefahrlose Ausweichen auf bevölkerten Gehwegen; ein anderes Beispiel, bei dem es nicht um Ausweichen, sondern um das Einschwingen in gemeinsame Bewegung mit Bindung und Lösung an bzw. von einander geht, ist der Kontakt im Tanz. Was hat das aber mit dem Heimischsein zu tun? Ich habe den Gedanken angedeutet, dass dieses Befinden mit spezifischen Bewegungsmöglichkeiten zusammenhängt; dabei denke ich an Besonderheiten, die durch die beiden unterschiedenen Raumformen mit unumkehrbaren bzw. umkehrbaren Richtungen vorgegeben werden. Für das ursprüngliche und eigentliche Zuhausesein in der eigenen Wohnung ist die Umkehrbarkeit der Richtungen wesentlich. Die Wohnung ist gegliedert durch Stätten der Erledigung, zwischen denen man je nach Bedarf hin und her geht; dafür gibt es besondere Zimmer wie die Küche, das Badezimmer, den Abtritt, das Speisezimmer, das Wohnzimmer und in diesen Zimmern Möbel und Geräte, die abermals Stätten spezieller Erledigung sind. Alles ist an seinem Platz in einem Ortsraum mit umkehrbaren Verbindungen. Diese Raumform weicht der anderen, wenn man in der Stadt aus der eigenen Wohnung auf die Straße geht. Unbekannte Menschen mit unbekannten Geschäften kreuzen den Weg; Maschinen in Bewegung, namentlich Automobile (aber auch Fahrräder und dergleichen) hemmen ihn bedrohlich und zwischen zu beständigem Selbstschutz vor Lebensgefahr in einem nur formal geregelten System. Unter diesen Umständen ist das Umschalten auf das eben beschriebene optischmotorische Verhalten mit der Raumform leiblicher Dynamik dringend erforderlich. Dagegen ist die für das häusliche Leben bezeichnende Orientierung mit umkehrbaren Richtungen auf der städtischen Straße ganz untunlich. Auf der Straße geht man nicht hin und 185 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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her; man kann zwar umkehren und die Gegenrichtung einschlagen, aber das ist dann ein neuer Anfang des Benützens der Straße, während man im Benützen der häuslichen Wohnung ruhig fortfährt, wenn man von einer Stätte der Erledigung zur anderen und dann wieder zurück geht. Die Straße ist als Straße nur für den da, der sie jeweils in einer einzigen, für seinen Nutzen unumkehrbaren Richtung benützt, und sie führt ihn nicht zu einer ihr selbst eingeprägten Stätte der Erledigung, sondern zu irgend einem Ziel, das er sich selbst gesetzt hat, gegen das die Straße selbst aber indifferent ist. Sie führt als solche immer weiter, in unbestimmte Weite wie der leibliche Blick, und den Blickzielen, die diesen aufhalten, entsprechen die Ziele, die der Benützer der Straße mit seinem Gehen oder Fahren sich jeweils setzt. Nur ein Spezialtyp städtischer Straßen macht eine Ausnahme, die Flaniermeile, wo man hin und her geht, um zu sehen und gesehen zu werden, aber dazu bedarf es einer Gesellschaft, die die Muße des Genusses zweckfreier Selbstdarstellung hat, und die ist mit der belle époque des fin de siècle um 1900 im Wesentlichen vorbei. Wer heute auf der Straße hin und her geht, wirkt verwirrt oder als Bummler, bestenfalls als Suchender, der sich in die gehörige Straßenbenützung durch Finden der passenden Richtung einfädeln möchte. Man wird ihn ansprechen: »Wohin wollen Sie? Kann ich Ihnen den Weg zeigen?« Ganz normal ist sein Verhalten nicht. Ich habe mich, um den gemeinten Gegensatz scharf herauszuarbeiten, an das Leitbild einer verkehrsreichen Straße in einer Großstadt gehalten; in ruhigen Vorstädten wäre der Kontrast nicht so scharf. Dass er aber grundsätzlich auch auf andere Straßentypen passt, zeigt der Schluss eines schönen Gedichtes von Rilke 4, das der Stimmung des Spätherbstes gewidmet ist: Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Das ist ein Mensch, der sich nirgends heimisch fühlt, nicht einmal in einer eigenen Wohnung, geschweige denn in der Stadt. Zum Ersatz sucht er sich eine Straße aus, auf der er unruhig hin und her wandert, Rainer Marie Rilke: »Herbsttag«, in: ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1. Hrsg. v. Ernst Zinn. Wiesbaden 1955, S. 398.

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um so die grundlegende heimische Bewegungsform, das zwanglose Hin und Her zwischen Stätten der Erledigung, auch ohne solche Stätten zu imitieren, mit einem vergeblichen Versuch, ohne die aus solcher Erledigung fließende Ruhe so zu tun, als ob er wohnte. Dafür sucht er sich Allen aus, nicht gerade verkehrsreiche Hauptstraßen, aber auch nicht kurze Straßen in ruhigen Vorstädten. Dieser Mensch ist allein und wird es lange bleiben. Damit ist die soziale Seite des Heimischseins angesprochen. Auch ihr Fehlen sucht der Mensch ohne Haus durch sein unruhiges Hin und Her in den Alleen abzureagieren. Zum Heimischsein tragen die Freunde in der Stadt nämlich erst dadurch bei, dass man zwischen der eigenen Wohnung und der ihrigen pendeln kann, möglichst so, dass man nicht nur zu ihnen geht, sondern sie auch einmal zu Besuch kommen. Wenn der Verkehr nur in eine Richtung geht, indem man z. B. immer nur am Krankenbett des Freundes sitzen muss oder ausschließlich von diesem heimgesucht wird, dürfte es schwerer fallen, sich in der Gemeinschaft wie zu Hause zu fühlen. Zwischen der häuslichen Wohnung und der Stadt steht das Dorf, in dem man ebenso wie in der Stadt aus dem Haus auf die Straße gehen kann, während es dennoch hinsichtlich der von seiner räumlichen Gliederung vorgezeichneten Bewegungsweise nicht der Stadt gleicht, sondern der häuslichen Wohnung. Im Dorf gibt es den Bäcker, den Fleischer, den Apotheker, die Kneipe, die Kirche, den Friedhof usw., jedes solche Stück nur einmal als die für einen besonderen Bedarf bestimmte Stätte der Erledigung, und die Straßen und Wege im Dorf sind dazu da, zwischen diesen Stätten ebenso hin und her zu gehen, wie man in der eigenen Wohnung z. B. vom Wohnzimmer in die Küche oder auf den Abtritt und zurück geht. Dorfstraßen führen nicht in unbestimmbare Weite, sondern verbinden festliegende Orte, die wie Ecken zwischen Strecken sind. Man ist auf ihnen auch nicht wie in der Stadt gleich unter Fremden, und die Bedrohung des Lebens durch Verkehrsmaschinen zwingt nicht ebenso die leibliche Dynamik zu beständiger Wachsamkeit. Daher ist es im Dorf leichter, sich wie zu Hause zu fühlen, und der Versuch liegt nahe, die Stadt zum Wohnraum zu machen, indem man in ihr dorfartige Konstellationen wie Parzellen anlegt. Um die Raumform der Behausung und des Dorfes auf Segmente der Stadt zu übertragen, werden dort Stätten der Erledigung geschaffen, zwischen denen die Menschen hin und her gehen können, ohne ständig die Wege drohender Fahrzeuge zu kreuzen, und ohne dem Gesetz der Straße zu verfallen, das sie in dieser oder jener 187 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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Richtung vorwärts zieht oder treibt, unbestimmt weit oder zu einem beliebig wechselbaren Ziel. Statt dessen soll es in dem zum QuasiDorf umgewidmeten Stadtsegment eindeutig vorgegebene Stätten der Erledigung geben, Spielplätze für die Kinder, Sportplätze für die Älteren, einen Park zur abendlichen Erholung nicht nur für die Alten, Einkaufsmöglichkeiten in bequemer Nähe, auf jedes alltägliche Bedürfnis abgestimmt, Wirtshäuser und Kneipen. So werden Städte wohnlich. Die in den Straßen der Stadt herrschende Raum- und Bewegungsform entspricht demnach eher der urwüchsigen leiblichen Dynamik mit unumkehrbaren Richtungen, die entsprechende Form in der häuslichen Wohnung und im Dorf dagegen eher dem Ortsraum, der im mathematischen Koordinatennetz und damit in der Raumvorstellung der Naturwissenschaft die reinste Ausprägung gefunden hat. Diese Paarungen sind befremdlich, weil die Wohnung und das Dorf eher Stätten des vollen, urwüchsigen, unmittelbaren Lebens sind als das städtische Straßennetz, das eher als Konstrukt, als rationaler Überbau, imponiert. Das Befremden kann aber abgebaut werden, wenn man die Eigenart der Richtungen, die den Straßen dieses Netzes für das Gehen auf ihnen (in die eine oder die andere Richtung) eingeimpft sind, näher betrachtet. Diese Richtungen sind im höchsten Maße geschient, meist schnurgerade, und auch bei gekrümmtem Straßenverlauf auf genau abgegrenzten, meist ziemlich schmalen Bahnen festgehalten. Wer beim Gehen in einer Richtung erheblich nach rechts oder links ausschweift, wird als Verrückter oder Betrunkener früher oder später aus dem Verkehr gezogen. Die Ökonomie der Verteilung auf Fußweg, Fahrweg für Autos und Fahrweg für Fahrräder erzwingt solche Disziplin. Das Fahren im Auto, das der Kraft, dem Volumen und dem Lärm nach den Löwenanteil des städtischen Straßenverkehrs ausmacht, ist dieser Schienung der Richtungen in noch höherem Maß unterworfen als das Gehen zu Fuß. Der Fahrzeuglenker wird durch zugleich fest und bequem eingerichteten Sitz zu unbeweglicher Haltung seines Rumpfes angehalten, während sein Blick in verhältnismäßig engem Winkel konstant nach vorn gerichtet ist, wo er durch raffiniert angebrachte Spiegel auch über das Geschehen neben und hinter ihm informiert wird, und auch seine Arme und Beine sind beständig nach vorne engagiert im Dienst der zur Handhabung der Maschine eingesetzten Hände und Füße, die sich hauptsächlich in je einem schmalen horizontalen Band bewegen dürfen; nur bei nicht automatisierter Gangschaltung greift die rechte 188 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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Hand öfters aus dem Band heraus. In der ortsräumlich zwischen Stätten der Erledigung organisierten häuslichen Wohnung können sich im Gegensatz dazu die leiblichen Richtungen ohne Schienung frei entfalten. Die Hausfrau z. B., die in der Küche steht, greift bald von rechts, bald von links mit dieser oder jener Drehung nach würzenden Zusätzen zu der gerade auf dem Herd gewärmten Speise; sie hat die Wahl, sich zu beugen oder in die Knie zu gehen, um weiter unten etwas zu greifen, usw. Der Benützer eines Sessels oder Stuhles im Wohnzimmer kann seine Haltung variieren, straff sitzen oder sich räkeln, sogar »kippeln«. Dagegen ist nicht einmal vorstellbar, wie sich der Autolenker nach oben und unten bewegen sollte, ohne aus der Rolle zu fallen. Mit der Forcierung der unumkehrbaren leiblichen Richtung auf der Straße geht also ihre Verarmung und Fesselung zusammen. Dagegen schafft die ortsräumliche Gliederung der häuslichen Wohnung ein festes System, das der leiblichen Richtung die Ordnungsaufgabe abnimmt und sie in das Spiel freier Entfaltung entlässt. Diese andere Bewegungsform hat weitreichende Bedeutung für das Heimischwerden auf Grund des Zusammenhanges zwischen leiblicher Kommunikation und Situationen. Damit will ich mich zum Abschluss beschäftigen. Eine Situation, wie ich das Wort verstehe, ist Mannigfaltiges, das ganzheitlich d. h. nach außen mehr oder weniger abgehoben und in sich zusammenhängend, zusammengehalten wird durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit, die aus Bedeutungen, d. h. Sachverhalten, Programmen und/oder Problemen, besteht; binnendiffus ist die Bedeutsamkeit insofern, als die Bedeutungen in ihr nicht oder nicht sämtlich einzeln sind, wobei einzeln heißt, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Situationen sind das Element, in dem wir leben; es lässt sich zeigen – und ich habe es mehrfach gezeigt –, dass einzelne Sachen nur dadurch möglich sind, dass durch satzförmige Rede einzelne Bedeutungen aus Situationen expliziert und zu Konstellationen verknüpft werden, während Tiere, die über dieses Werkzeug der Explikation nicht verfügen, nur mit ganzen Situationen umgehen können, indem sie mit Identität und Verschiedenheit, die schon zur antagonistischen Einleibung gehören, ohne Einzelheit auskommen müssen. Eine wichtige Einteilung der Situationen ist die in aktuelle und zuständliche. Aktuelle Situationen sind solche, deren Verlauf in beliebig dichten Querschnitten, sozusagen von Augenblick zu Augenblick, verfolgt werden kann, z. B. Gespräche und sofortiger Bewältigung bedürftige Gefahren; zuständliche Situationen sind solche, die sich 189 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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nur über längere Fristen hin auf ihre Entwicklung abfragen lassen, z. B. Sprachen, Persönlichkeiten von Personen nebst darin eingeschlossenen partiellen Situationen, ferner Liebes- und Hasspaare. Leibliche Kommunikation ist eine überaus fruchtbare Quelle von Situationen. Das gilt sowohl für antagonistische als auch für solidarische Einleibung. Antagonistische Einleibung gebiert Situationen wegen des durch Spreizung des vitalen Antriebs als einer antagonistischen Konkurrenz von Spannung und Schwellung unvermeidlichen Ringens um Dominanz, ferner wegen der Beladung mit Atmosphären des Gefühls und mit hintergründigen zuständlichen Situationen. Solidarische Einleibung, bei der ein gemeinsamer vitaler Antrieb ohne Auseinandersetzung zwischen Partnern entsteht, schöpft Situationen z. B. im Singen, das die Bedeutsamkeit einer gefühlsgeladenen gemeinsamen Situation wie eine Stimmungsglocke über die Singenden legt, als Volks-, Arbeits-, Kriegs- oder Kirchenlied. Das sind zunächst aktuelle Situationen; ebenso bilden sich aber zuständliche Situationen in leiblicher Kommunikation. So wachsen Sprachen in einer unübersehbaren Serie von Gesprächen heran, Gruppengeister im Zusammenleben z. B. von Familien, und fast immer, wenn zwei Menschen im Zusammensein etwas näher auf einander eingehen, setzt sich im Wechsel der aktuellen Situation etwas ab, das bei erneutem Zusammentreffen als zuständliche Situation wieder auflebt und darüber mitentscheidet, wie sie mit einander auskommen. Das ortsräumlich zwischen Stätten der Erledigung ausgespannte Leben in der häuslichen Wohnung und im Dorf ist reich als Quelle zuständlicher Situationen. Das liegt zum großen Teil daran, dass die Erledigungen selbst aktuelle Situationen sind, von denen viele eine Bedeutsamkeit besitzen, die über die aktuelle Situation hinausreicht und in zuständliche Situationen mündet, in der sie mit Bedeutsamkeit aus anderen solchen aktuellen Situationen zusammenfließt. Daran hat die leibliche Kommunikation als antagonistische oder solidarische Einleibung entscheidenden Anteil. Es braucht sich nicht einmal um einen Austausch zwischen Personen oder auch nur zwischen Lebewesen zu handeln; auch die Vertiefung in eine Aussicht durch das Fenster oder einen künstlerischen oder kunstgewerblichen Gegenstand, ja in das Feuer des Kamins, kann bei einer häuslichen Erledigung durch leibliche Kommunikation eine aktuelle Situation zur zuständlichen sich weiten lassen. Ganz besonders geeignet sind aber gemeinsame Situationen unter Menschen oder zwischen Mensch und Tier. Daran wird die Bedeutung der ungeschienten Entfaltung leib190 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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licher Richtung besonders deutlich. Sie entscheidet über die Nuancen der Zuwendung, die maßgeblich in die zuständlichen Situationen eingehen, die sich über den aktuellen Situationen der momentanen Zuwendung bilden und umbilden. Die Art und Weise, wie ein Kuss gegeben wird, etwas als Begrüßungs-, Abschieds- oder Gutenachtkuss, wie ein Geschlechtsakt ausgeführt wird, kann durch die Nuancen frei sich entfaltender leiblicher Richtung mit viel reicherer Bedeutsamkeit gefüllt werden, als wenn die betreffende Erledigung als steifes Zeremoniell mit geschienten Richtungen ausgeführt werden müsste. Da die häusliche Wohnung solche freie Entfaltung gestattet, können sich in ihr reichhaltige zuständliche Situationen bilden, in die die Persönlichkeit oder persönliche Situation des Bewohners so einwächst, dass sich der Effekt des Zu-Hause-sein, des Heimischgewordenseins, ergibt. Anders verhält es sich mit dem städtischen Leben außerhalb von Wohnungen und anderen Stätten der Erledigung, zu denen Büros, Fabriken, Sportplätze, Schwimmbäder, Theater, Kinos, Museen, Kirchen und vielerlei mehr gehören. Solche Stätten der Erledigung sind in der Stadt, wenn ihr Betrieb nicht dürftig ist, reichhaltiger als auf dem Dorf, aber gleichsam wie Perlen aufgereiht auf den Perlenschnüren von Durchgangsstraßen, Episoden im Wirbel städtischen Verkehrs. In diesem Verkehr gilt, wie ich gezeigt habe, das Gesetz der Schienung leiblicher Richtungen, das der Bildung zuständlicher Situationen wenig günstig ist. Indem die Straße den Benützer unbestimmt weit führt, ohne ihm eine bestimmte Stätte der Erledigung anzuweisen, verstrickt sie ihn in eine bunte, unvorhersehbar wechselnde Folge aktueller Situationen, besonders von Situationen des Verkehrs. Diese hängen so wenig zusammen, dass sich selten eine sie überwölbende zuständliche Situation aus ihnen bildet, es sei denn die Tristesse einer groben Gleichförmigkeit im Durcheinander. Verstärkt wird dieser fetzenartige Wechsel aktueller Situationen durch die flankierende Auskleidung der Straßen mit Plakaten, z. B. Reklamen, und Beleuchtungen. In einer solchen Umgebung wird man nicht heimisch. Aber nicht alle Straßen der Stadt sind Durchgangsstraßen. Die Stadt hat mehr zu bieten. Würdige Straßen und Plätze, verwunschene Winkel mit Gesträuch und Gewässer, geheimnisvoll mit höchster Kunst angelegte Gärten wie in Kyoto nähren das Leben der Bewohner mit gefühlsträchtiger Bedeutsamkeit aktueller und zuständlicher Situationen. Sie geben dem Leben einen allgemeinen Hintergrund, ähnlich wie das fröhliche Treiben, das sich auch auf 191 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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Durchgangsstraßen entfalten kann, wenn sie einmal für den Verkehr gesperrt und zu Straßenfesten umfunktioniert werden. Der Erfolg ist bei dem zu fröhlichem Treiben auf der Straße nicht besonders begabten Menschen des Nordens oft nicht überzeugend, es sei denn auf dem Weihnachtsmarkt, da Weihnachten trotz alles Geschäftsrummels noch spontan als Fest erlebt wird. Diese Bedeutsamkeit eines allgemeinen Lebenshintergrundes in Gestalt von Würde, Schönheit und Fröhlichkeit einer Stadt muss für den Bewohner, damit er sich in ihr heimisch fühlen kann, ergänzt werden durch Stätten der Erledigung im täglichen Leben, teils in der eigenen Wohnung, in der er sich heimisch fühlt, teils außer ihr so, dass er sich wie zu Hause bewegen kann. Dazu kann in der Stadt, wie ich ausgeführt habe, die quasi dörfliche Ausgestaltung von Segmenten verhelfen.

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14. Fassung 1

»Fassung ist das, was man verliert, wenn man die Fassung verliert.« Diese amüsant zirkelhafte Formulierung bringt das Gemeinte sofort zur Anschauung, weil jeder weiß, dass man etwa vor Schreck, Bestürzung, Staunen, aber auch vor überwältigendem Glück die Fassung verlieren kann und das dann Verlorene eine ganz bestimmte Fassung ist, die wie ein Kleid abgeworfen wird, so dass der Betroffene nicht mehr das sonst übliche Instrumentarium hat, sich Herausforderungen zu stellen. Damit ist das anschaulich Vergegenwärtigte aber noch nicht begrifflich bestimmt. Wie wichtig diese Bestimmung ist, zeigt sich daran, dass es ihrer bedarf, um die Fassung vor dem Verdacht zu schützen, sie sei ein Vorwand, wie ein Vorhang, hinter dem sich der Mensch versteckt. Diesen Verdacht hat besonders Sartre geschürt, indem er den Menschen die Art, wie sie sich geben, als »mauvaise foi«, als Unredlichkeit, auslegte 2, und zwar als schicksalhafte Unredlichkeit, die nach seiner Meinung schon zum bloßen Fürsichsein im Sichbewussthaben gehört, weil dieses immer mit einem Abstand von sich selbst verbunden und also ein zwiespältiges Beisichsein sei. Ich will dagegen die Fassung als ein unentbehrliches Mittel der Selbstgestaltung erweisen, indem ich sie durch verschiedene Funktionen verfolge, die zusammen weit mehr und ergiebiger sind als die bloße Selbstdarstellung nach außen. Der ontologischen Gattung nach ist die Fassung eine spielerische Identifizierung. Personen haben die Fähigkeit, etwas ohne Verwechslung und ohne Fiktion als etwas anderes zu nehmen. Das einfachste Beispiel ist die Bildnahme. Wenn man nicht auf das Bild als Bild reDieser bislang unveröffentlichte Text ist hervorgegangen aus einem Vortrag, den Hermann Schmitz während eines Gesprächskreises mit Psychologen, Psychiatern und Philosophen vom 3. bis 5. November 2014 im Haus Tornow am See (Pritzhagen) gehalten hat. 2 Jean-Paul Sartre: L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique. Paris 1943 u. ö., S. 85–111 (Kapitel »La mauvaise foi«). 1

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flektiert, nimmt man es nicht als Bild sondern als das Abgebildete, z. B. als Landschaft oder, wenn es sich um ein gelungenes Portrait handelt, als das fesselnde Gesicht eines Menschen. Ebenso nimmt man den Schauspieler als die gespielte Figur, sowohl auf der Bühne als auch besonders im Film, wo nicht einmal der Schauspieler selbst erscheint, sondern die komplizierte Identifizierung einer Folge gefilmter Bilder erforderlich ist. Dass in solchen Fällen keine Verwechslung vorliegt, sollte klar sein. Kein Vernünftiger wird die bemalte Leinwand mit einer Landschaft verwechseln oder die Erscheinung eines Schauspielers in einem Hitlerfilm mit Hitler selbst, als triebe der in nächster Nähe sein Wesen oder Unwesen. Dass aber auch keine Fiktion vorliegt, zeigt sich an einem Zug der spielerischen Identifizierung, der sie als unechte Identifizierung erweist. Echte Identifizierungen sind, wie die Identität selbst, umkehrbar. Das gilt auch für fiktive Identifizierungen. Wenn ich sage, als Kaiser Wilhelm II. hätte ich eine andere Flottenpolitik gemacht, fingiere ich mich als den Kaiser, aber ebenso den Kaiser als mich. Die Identität spielerischer Identifizierung ist dagegen unumkehrbar. Der Schauspieler in der Rolle Adolf Hitlers wird als Hitler gesehen, aber Hitler doch nicht als dieser Schauspieler, sondern als die bekannte, schon verstorbene geschichtliche Persönlichkeit. Niemand wird annehmen, die im Bild gesehene Landschaft mit ihren weiten Horizonten habe auf der schmalen Tafel Platz. Besonders einleuchtend ist diese Unumkehrbarkeit bei einem weiteren Lieblingsfeld spielerischer Identifizierung, der Symbolik. In einem Lied der Hitlerjugend wurde gesungen: Unsre Fahne flattert uns voran Unsre Fahne ist die neue Zeit, Unsre Fahne führt uns in die Ewigkeit, Ja, die Fahne ist mehr als der Tod.

Kaum einer der begeisterten Sänger wird geglaubt haben, die neue Zeit sei weiter nichts als das vor uns her flatternde Tuch. Jesus, ein Stück Brot brechend, sagt beim Abendmahl: »Das ist mein Leib.« Er hütet sich vor der Umkehrung, zu sagen: »Mein Leib ist das da.« Dann läge die Frage allzu nahe: »Weiter nichts?« Beide Beispiele weisen darauf hin, dass spielerische Identifizierung keineswegs verspielt sein muss, sondern beschworener, ja heiliger Ernst sein kann. Die Möglichkeit spielerischer Identifizierung, die sich auf Einzelnes bezieht, beruht darauf, dass Einzelheit zu Stande kommt, wenn absolut Identisches Fall mindestens einer Gattung ist, bei relativer 194 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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Identität, mit etwas, Fall mehrerer Gattungen. 3 Zum Bewussthaben von Einzelnem gehört also Subsumption unter Gattungen. Die Person hat dafür einen Spielraum, in dem sie sich bei Fiktion absichtlich über Tatsachen hinwegsetzt, bei Verwechslungen unabsichtlich gegen solche verstößt. Außerdem hat sie in dem Spielraum die Chance, gegen Tatsachen so gleichgültig zu sein, dass sie weder zu einem absichtlichen Verwirrspiel greifen noch sich irren muss, und dann kommt es zur spielerischen Identifizierung. Die Gleichgültigkeit braucht keineswegs Unernst zu sein, wie sich schon gezeigt hat. Realistischer Ernst mit Rücksicht auf die Tatsachen ist nur eine von mehreren Weisen des Ernstes. Fassung als spielerische Identifizierung einer Person ist die spielerische Identifizierung ihrer durch sich selbst mit etwas, das eindeutiger ist als sie. Dass die Person in ihrer Fassung nicht aufgeht, ist nicht nur durch die Möglichkeit, diese zu verlieren, klar, sondern auch dadurch, dass sie zwischen mehreren Fassungen wechseln kann. Dabei kann sie aus der spielerischen Identifizierung in die Fiktion oder in die Verwechslung fallen. Im Fall der Fiktion wird die Fassung zur bloß aufgesetzten Fassung, mit der die Person ihr willkürliches Spiel treibt. So etwas kommt vielfach vor, aber immer nur als Zusatz zu einer unwillkürlichen Fassung, die der Kenner unter dem Spiel entdecken kann. Schwieriger ist der Fall der Verwechslung zu beurteilen. Ein Mensch, der sich mit seiner Fassung verwechselte, wäre ihr Automat ohne jeden ihm bewussten Spielraum im Verhältnis zu ihr. Solche Menschen wirken als unflexible Kreaturen, deren sich die Komödie, z. B. von Molière annimmt. Die voll lebendige Person schöpft aus einer Fülle von Möglichkeiten mit unwillkürlichem Einsatz ihre Fassung und behält bei dieser Schöpfung eine Wendigkeit, mit der sie sich den Umständen nicht verschließt. Deutlich ist das schon bei jungen Leuten, die sich eifrig mit einem Vorbild identifizieren, aber für verrückt gehalten würden, wenn sie sich ernstlich mit diesem verwechselten. Dieser grundsätzlichen Wendigkeit im Engagement für eine Fassung werden Romanschriftsteller mehr oder weniger gerecht. Beim Vergleich von »Madame Bovary« und »Effi Briest« ist mir aufgefallen, dass die Figuren Flauberts durch keine Spur von Reflexion in der Rolle wackeln, die der Schriftsteller ihnen auf den Leib geschrie-

3 Über Einzelheit vgl. Hermann Schmitz: Phänomenologie der Zeit. Freiburg, München 2014, S. 15–23.

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ben hat, während die Figuren Fontanes einen gewissen Abstand zu ihrer Fassung haben. Was leistet die Fassung für die Person? Ich werde vier Funktionen unterscheiden. An erster Stelle steht die Stabilisierung. Die Person ist von sich aus zwiespältig, ohne festen Stand. Auf der einen Seite bedarf sie zu ihrer Selbstzuschreibung vielfältiger Identifizierung als Fall mehrerer Gattungen, damit sie zwischen diesen Fällen vermitteln, Akzente setzen, integrieren oder das Verhältnis lockern kann und auf diese Weise Spielraum zur Selbstbestimmung und selbständigen Rechenschaft gewinnt; das erst macht sie zur Person statt zum Automaten, der sich wie die Tiere vom Programmgehalt (dem Nomos) von Situationen führen lässt. Auf der anderen Seite bedarf sie einer Kenntnis von sich vor jeder Identifizierung, weil in allen Kenntnissen, die nicht enthalten, dass es sich um sie selber handelt, kein Grund zu finden ist, der darauf zu schließen gestattete, dass die betreffenden bekannten Merkmale ihr selbst und nicht einem anderen zukommen. Es bedarf der für die Person subjektiven Tatsachen ihres affektiven Betroffenseins, um durch Abschälung der Subjektivität die Brücke zu schlagen zu objektiven Tatsachen, die die Person betreffen und die jeder aussagen kann, wenn er genug weiß und gut genug sprechen kann, während höchstens der Betroffene die subjektiven Tatsachen seines affektiven Betroffenseins auszusagen vermag; in umgekehrter Richtung, von den objektiven Tatsachen zu den subjektiven, führt kein Weg der Begründung. Das Sichfinden der Person in den für sie subjektiven Tatsachen bedarf der leiblichen Dynamik, genauer der primitiven Gegenwart und des vitalen Antriebs. Für die Selbstzuschreibung bedarf die Person der Vereinzelung und Neutralisierung (Abschälung der Subjektivität von subjektiven Tatsachen, Programmen, Problemen), zu der dafür vorausgesetzten identifizierungsfreien Kenntnis von sich aber der Resubjektivierung mit mehr oder weniger weit getriebener Einschmelzung der Gegenüberstellung des Eigenen und Fremden. 4 Das erste Bedürfnis befriedigt personale Emanzipation, das zweite personale Regression. Beide Tendenzen sind integriert im Lachen und im Weinen, aber diese gelegentliche Integration reicht nicht aus. Um sich im Zwiespalt von personaler Emanzipation und personaler Regression dauerhaft zu stabilisieren, gibt sich die Person eine Fassung. Bloße personale Regression würde zur Fassungslosigkeit mit 4

Zur Erläuterung vgl. z. B. ebd., S. 52–55, 88–93.

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Verlust der Selbstbestimmung führen, bloße personale Emanzipation sogar zum totalen Selbstverlust: die Person hätte keinen Anlass mehr, alles das, was sie in der Selbstzuschreibung als Fälle von Gattungen einsammelt, auf sich selbst zu beziehen. Die Fassung hält die Verbindung zum affektiven Betroffensein und stützt sie ab gegen Beschädigung der zur Selbstzuschreibung erforderlichen Vereinzelung und Neutralisierung durch personale Regression. Die Fassung ist eine partielle zuständliche Situation in der von mir analysierten persönlichen Situation, die die Person von den Anfängen der Neutralisierung an als ihre Persönlichkeit begleitet. 5 Die Bedeutungen (d. h. Sachverhalte, Programme und Probleme) in der persönlichen Situation und der sie umfassenden persönlichen Eigenwelt sind für die Person subjektiv; sie laufen aber in breiten Grauzonen in die durch Neutralisierung in die persönliche Fremdwelt abgeschobenen Bedeutungen aus, und die Person kann oft nicht unterscheiden, wie viel für sie noch subjektiv oder neutral und objektiv geworden ist. Um sich in diesen Grauzonen zurechtzufinden, benötigt die Person eine Stabilisierung anderer Art, nun nicht mehr zwischen personaler Emanzipation und personaler Regression, sondern zwischen Eigenem und Fremdem. Ihr gelingt diese Stabilisierung, indem sie in der persönlichen Fremdwelt, im Bereich des Neutralen und Objektiven, für sich eine Form findet, in der sie sich bejaht und das weitere Auslaufen in Neutralität und Verfremdung abfängt. Sie stilisiert sich nach dem Vorbild etablierter Menschentypen, z. B. als preußischer Offizier, Gentleman, Kavalier, kokette Verführerin, treusorgende Mutter usw. Der Mensch gibt sich eine Form, in der er sich behauptet und zugleich in die Objektivität entlässt. Auch das ist seine Fassung. Die dritte Funktion der Fassung antwortet dem Blick des Anderen. Die Person hat zu ihrer persönlichen Situation, ihrer Persönlichkeit, nur synthetischen Zugang, indem sie an einzelnen Erfahrungen mit sich zum Ganzen aufsteigt, ohne dies je zu erreichen. Von sich selbst kann man keinen vielsagenden Eindruck haben im Sinn einer impressiven Situation, die die ganze binnendiffuse Bedeutsamkeit der segmentierten persönlichen Situation mit einem Schlag zum VorVgl. ders.: System der Philosophie Band IV: Die Person. Freiburg, München 2019, S. 287–473; ders.: Der Spielraum der Gegenwart. Bonn 1999, S. 106–136; ders.: Jenseits des Naturalismus. Freiburg, München 2010, S. 301–348 und ders.: Bewußtsein. Freiburg, München 2010, S. 99–109.

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schein bringt. Der Mitmensch gewinnt von der Person, die er erblickt, dagegen schon oft bei der ersten Begegnung einen vielsagenden Eindruck, in dem sich ihm die ganze Persönlichkeit des Anderen wie in einem Plakat zusammenzuziehen scheint. Dieser erste Eindruck kann täuschen, aber er gewährt dem Mitmenschen einen analytischen Zugang zur persönlichen Situation des Anderen, vom Ganzen zum Detail weiterer Erfahrungen, an denen er den ersten Eindruck abklärt, ergänzt, korrigiert oder bestätigt. Durch diesen analytischen Zugang zur Persönlichkeit gegenüber hat der Mitmensch einen uneinholbaren Vorzug vor der erblickten Person. Dieser Vorteil zeigt sich darin, dass er viel eher als diese zu pauschalen Urteilen über sie befugt ist, indem er sie z. B. als zuverlässigen Menschen oder Leichtfuß, Streber, kurzentschlossen, kühn, Feigling, edelgesinnt, vornehm tuend usw. charakterisiert. Wer über sich selbst solche pauschalen Urteile abgibt, überzieht meist seine Kompetenz. Um diese Überlegenheit des Mitmenschen zu kompensieren, hält ihm die Person ihre Fassung als Ganzes von sich entgegen. Da sie ebenso den Mitmenschen erblickt wie er sie, entspinnt sich in der Begegnung ein nach beiden Seiten prinzipiell ausgewogener Konflikt von Blick und Fassung, der aber für Dominanz einer Seite offen ist. Sartre hat schon die Überlegenheit des fremden Blickes, auch bezüglich der Kompetenz zu pauschalen Urteilen, thematisiert, aber einseitig dessen Dominanz hervorgehoben, der der Erblickte, da er nach Sartres Meinung nicht zurückblicken kann, wehrlos bis zur Beschämung, so objektiviert zu werden, ausgeliefert sei. Das ist falsch; auch ist Sartre blind für die Hermeneutik des Blickes, die auf der anderen Zugangsweise (analytisch statt, wie beim Zugang zur eigenen Persönlichkeit, synthetisch) beruht. Im Konflikt von Blick und Fassung kann die eigene Fassung dem Mitmenschen starr wie ein Schild entgegengehalten werden, aber auch, und vielleicht mit größerem Erfolg, beweglich und geschmeidig, denn ihre stabilisierende Leistung braucht nicht in Fixierung zu bestehen, sondern ist in jeder Dimension, nach innen wie nach außen, mit elastischer Anpassung verträglich, oft im Bunde. Dann entwickelt sie sich dem Mitmenschen gegenüber zu einem intelligenten Fingerspitzengefühl des Eingehenkönnens, das bei wechselseitigem Gelingen zu solchen Reziprozitätsspiralen gegenseitigen Durchschauens führen kann, wie Laing in einem erdachten Beispiel ausmalt: »Zwischen Vater und Tochter herrscht möglicherweise folgende Situation: Er weiß, daß sie weiß, daß er sie attraktiver findet als ihre Mutter 198 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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findet; sie weiß, daß er weiß, daß sie weiß. Sie weiß, daß er weiß, daß sie sich von ihm angezogen fühlt, und er weiß, daß sie weiß, daß es so ist, usw.« 6 Solches Wissen wird eher selten intellektuell thematisch werden, sondern eher als latentes Begleitwissen in das eigenleibliche Spüren eingewickelt und bei Bedarf mobilisierbar sein. Die Fassung ist nämlich immer auch leiblich, da sie zwischen personaler Emanzipation und leiblicher Dynamik stabilisierend vermittelt. Durch ihre Anpassungsfähigkeit wird sie zum feinsten Fühler sensibler Einleibung. Ihr Schwingen macht es möglich, den Anderen am eigenen Leibe zu spüren und dadurch einen vielsagenden Eindruck zu empfangen; man sagt dann, man habe sich eigentümlich berührt gefühlt. Wer auf den Anderen eingehen will, muss seiner Fassung Spiel lassen, ohne sie aufzugeben; wer sie starr festhält, sieht am Mitmenschen vorbei. Die vier Funktionen der Fassung sind damit herausgearbeitet: Stabilisierung in der Dimension von personaler Emanzipation und personaler Regression; Stabilisierung in den Grauzonen zwischen persönlicher Eigenwelt und persönlicher Fremdwelt; Kompensation der Überlegenheit des Mitmenschen beim Zugang zur Persönlichkeit (der persönlichen Situation); Organ der Sensibilität in der Einleibung. Von der Funktion gehe ich nun zum Inhalt der Fassung über. Einen großen Anteil am Inhalt hat meist die Berufs- und Familienrolle. Wichtiger und rollenunabhängig ist das, was der Psychiater Jürg Zutt als die innere Haltung beschrieben hat. 7 Er gibt folgendes Beispiel: »Manche Haltungen, die aus bestimmten Wesenszügen hervorgehen, können fast dauernd die innere Haltung und damit das Handeln der Menschen bestimmen, so Aufrichtigkeit, Stolz, Liebenswürdigkeit, Bedächtigkeit. Aus diesen Grundhaltungen heraus entwickeln sich die Nuancen von Einzelhaltungen, wie z. B. Entgegenkommen, Abweisen, Begrüßen, Verabschieden.« 8 Andere Beispiele sind misstrauische Vorsicht, sanfte Bestimmtheit, Jovialität, oder Komplexe wie Freuds analer Charakter (ordentlich, sparsam, eigensinnig) und der von Tellenbach beschriebene melancholische Typ von Menschen, die vitale Unsicherheit durch ein Übermaß von Gewissen-

6 Ronald D. Laing, Herbert Phillipson, A. Russell Lee: Interpersonelle Wahrnehmung. Übers. v. Hans-Dieter Teichmann. Frankfurt a. M. 1975, S. 65. 7 Jürg Zutt: »Die innere Haltung«, in: ders.: Auf dem Wege zu einer anthropologischen Psychiatrie. Gesammelte Aufsätze. Berlin Göttingen, Heidelberg 1963, S. 1–88. 8 Ebd., S. 14.

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haftigkeit, Fürsorge, Dienstbarkeit und Einordnung kompensieren, dabei aber der Mutlosigkeit und Selbstvorwürfen ausgesetzt sind. 9 Die Fassung kann auch wechseln. Viele Menschen können mehrere Fassungen aufbieten, je nach den Umständen, auf die sie gefasst sind. Ein exemplarischer Fall solcher Vielseitigkeit war der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I., der Vater Friedrichs des Großen, ein Ausbund an Gemütlichkeit unter Kameraden im Tabakskollegium, zu Hause ein Familientyrann, einerseits pflichtbewusst mit festen Grundsätzen, pedantisch, gewissenhaft, schlicht, andererseits unbeherrscht mit leidenschaftlichem, ja brutalem Ungestüm, gewalttätig, verzagt und ängstlich, aber auch gemütlich derb; je nach der Situationseinstellung schwankt sein Persönlichkeitsbild. 10 Dieses Beispiel zeigt, wie eng der Wechsel der Fassungen mit dem Sprung zwischen Niveaus der personalen Emanzipation und personaler Regression zusammenhängt; darauf will ich nun noch eingehen. Personale Emanzipation und personale Regression sind durch Niveaus gestuft. Das lässt sich leicht an der von Aristoteles behandelten, in der heutigen englischen Philosophie als »weakness of will« missverstandenen Akrasie zeigen. Ein Musterbeispiel ist der faule Bettgenießer, der morgens mit dem Bewusstsein, wegen einer wichtigen Erledigung sofort aufstehen zu wollen, erwacht, es aber so warm und wohlig findet, dass er liegen bleibt und weiterschläft. Sein Wille wäre schwach, wenn er entweder keine Absicht bildete oder dieser nicht seinen vitalen Antrieb zuwendete; tatsächlich bildet er sogar zwei entgegengesetzte Absichten, von denen eine, die der Subjektivität des affektiven Betroffenseins nähere, den Zuschlag des vitalen Antriebs erhält. Er steht auf zwei Niveaus personaler Emanzipation, von denen das niedere, als Niveau personaler Regression, sich durchsetzt. Ein Niveau personaler Emanzipation ist höher als ein anderes, wenn es durch Neutralisierung und Vereinzelung sowie Entmischung der Grauzonen (z. B. durch Formfindung gemäß der zweiten Funktion der Fassung) den Unterschied des Eigenen und Fremden schärfer markiert. Von einem höheren Niveau personaler Emanzipation aus ist jedes niedrigere ein Niveau personaler Regression. Jedes Niveau personaler Regression ist also auch ein Niveau personaler Emanzipation. Der Übergang zu einem höheren Niveau, umgekehrt wie im Fall des faulen Bettgenießers, findet statt, wenn jemand mit einem Ruck sei9 10

Hubert Tellenbach: Melancholie. Berlin, Göttingen, Heidelberg 1961. Hermann Hoffmann: Das Problem des Charakteraufbaus. Berlin 1926, S. 130–135.

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nes vitalen Antriebs eine Hemmung aus Bequemlichkeit oder Widerwärtigkeit (einschließlich Angst) überwindet; das geschieht oft durch einen kurzfristigen Zusatz zur Fassung. Zutt gibt folgende Beispiele: Wer seinem Ärger nicht Luft machen will, lächelt maliziös, und wer sich zu einem schweren Gang aufmacht, legt sich einen besonders entschlossenen Schritt zu. 11 Zwei Niveaus personaler Emanzipation und entsprechend zwei Fassungen vereinigt ein Mensch, der sich selbst Mut zuspricht, seine Scham oder seinen Zorn belächelt oder beschämt oder einer lustigen Laune ein Stück weit die Zügel schießen lässt. Der Wechsel der Fassung bei Anpassung an die Umgebung besteht manchmal im Einschnappen eines anderen Niveaus personaler Emanzipation, so beim Soldatenkönig, der auf den Übergang vom Tabakskollegium in ein Milieu, dem er weniger gewachsen ist, mit Absenkung seiner Fassung auf ein Niveau personaler Regression reagiert. Von der Bedeutung für die Pathologie ist die Frage, ob der Wechsel der Fassungen eines Menschen ihm mehr oder weniger verfügbar ist bzw. einem seiner persönlichen Situation zugehörigen Programm der Anpassung an voraussehbare Umstände folgt, oder ob er ganz unvermittelt und unverfügbar eintritt. In diesem Fall handelt es sich um Hysterie. André Francois-Poncet, französischer Botschafter in Berlin 1931–1938, beschreibt drei Gesichter Hitlers, die man als drei bei diesem sukzessive Fassungen verstehen kann. 12 Das erste Gesicht nennt er »indifferent«; offenbar hielt Hitler dann an sich und war schwer zugänglich. Das zweite Gesicht trat auf, wenn gewaltige Emotionen wie ein Vulkan in beschwörenden und aggressiven Reden aus ihm hervorbrachen; in dieser Phase war er nicht ansprechbar. Wenn sie vorüber war, wurde er empfänglicher, und dann konnte man manchmal etwas von ihm erreichen. Dieser endogene, nicht von den Umständen abhängige Wechsel kann als hysterisch imponieren. Sicher hysterisch ist Kleists Penthesilea, Titelheldin seiner Tragödie. Nachdem sie den geliebten Achilles aus einer Mischung von Liebeshass und gekränkter Eitelkeit mit Zähnen und Hunden zerfleischt hat, verfällt sie zunächst in einen Stupor der Fassungslosigkeit und dann in einen Zustand seliger Verzückung, aus dem sie in Verzweiflung, Scham und Reue zur Realität zurückkehrt, um schließlich die Jürg Zutt: »Die innere Haltung«. A. a. O., S. 19. André Francois-Poncet: Als Botschafter in Berlin (1931–1938). Mainz 1947, S. 356 f.

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Konzentration auf diese Gefühle als unsichtbaren Dolch zur Selbsttötung zu benutzen. 13 Dieser unvermittelte, wenn auch kompensatorische Wechsel der Niveaus und Fassungen ist hysterisch. In krassen Fällen kann diese Krankheit bis zur Persönlichkeitsspaltung führen, durch unvermittelten Wechsel der Niveaus. Außer der echten, erlittenen Hysterie gibt es eine Pseudo-Hysterie, bei der der unvermittelte Wechsel der Fassungen als von Niveaus personaler Emanzipation nicht erlitten, sondern gemacht ist. Jakob von Uexküll berichtet von seinem Vater, einem baltischen Großgrundbesitzer: Er besaß die merkwürdige Fähigkeit, sich nur scheinbar ärgern zu können. Eines Tages saß ich mit meiner Mutter im Schatten der Bäume vor dem schönen Herrenhause von Heimar, als wir meinen Vater aus der Haustüre treten sahen, der einen nachlässigen Beamten mit zornbebender Stimme heruntermachte. ›Warum ärgert sich Papa so schrecklich?‹ fragte ich. ›Er ärgert sich gar nicht‹, erwiderte meine Mutter. Und wirklich trat mein Vater ganz ruhig an uns heran und sagte irgend etwas Gleichgültiges über das Wetter. Auf eine erstaunte Bemerkung von mir sagte er: ›Diese Leute haben nur vor einem zornigen Herrn Respekt. Deswegen braucht man aber nicht wirklich zornig zu werden.‹ 14

Uexkülls Vater hatte eines Zwecks halber die Fassung eines erschreckend Zornigen auf einem Niveau personaler Regression eingenommen und darüber sein Niveau personaler Emanzipation jederzeit einsatzbereit festgehalten. Die Grenzen zwischen dieser Pseudohysterie und der echten sind aber fließend. Man kann nicht ganz ausschließen, dass Hitler seinen hysterisch wirkenden rhetorischen Vulkanausbruch ähnlich wie der alte Uexküll manipulieren konnte. Andererseits ist der Pseudo-Hysteriker nicht dagegen gefeit, in hysterische Erkrankung abzugleiten.

Vgl. Hermann Schmitz: »Emotionale Selbsttäuschung«, in: Kerstin Andermann, Undine Eberlein (Hrsg.): Gefühl als Atmosphären (Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Sonderband 29). Berlin 2011, S. 35–41, hier S. 35 f. und 39 f. 14 Jakob von Uexküll: Nie geschaute Welten. München 1957, S. 21. 13

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V. Wahrnehmung

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15. Situationen oder Sinnesdaten – Was wird wahrgenommen?

Wer Wahrnehmung durch das übliche Beiwort als »sinnliche« Wahrnehmung bezeichnet, glaubt, etwas Unschuldiges und Selbstverständliches gesagt zu haben, das höchstens zur Abgrenzung gegen übersinnliche »Spökenkiekerei« erwähnt werden müsse. Tatsächlich suggeriert das kleine Beiwort aber gefährliche Missverständnisse. Es verteilt die Wahrnehmung auf periphere Köperteile, die sogenannten Sinnesorgane, und deren Fortsetzungen im Nervensystem einschließlich des Gehirns. Demgemäß gilt es als selbstverständlich, das Wahrnehmen und dessen Inhalte in fünf oder mehr Sinne, die psychophysischen Funktionen dieser anatomischen Apparate, einzuteilen, so dass »Wahrnehmen« nur noch ein abstrakter Oberbegriff für Sehen, Hören usw. als Funktion des optischen, akustischen usw. Apparates wäre. Man hat versucht, diese Einteilung zum Leitfaden einer phänomenologischen Forschungsrichtung zu machen, der Ästhesiologie. 1 Ich halte diesen Ansatz für verfehlt. Die phänomenologisch prägnanten Wahrnehmungstypen richten sich nämlich gar nicht nach den an der physiologischen Funktion orientierten Bezeichnungen »Sehen«, »Hören«, »Riechen« usw. Ich gebe ein Gegenbeispiel. Wir sehen nicht nur Farben usw., sondern auch Blicke. Kaum je ist die optische Wahrnehmung so präzis wie da, wo sie uns zu verstehen gibt, ob ein Mitmensch uns ansieht, ob er uns in die Augen blickt oder haarscharf daran vorbei. 2 Für eine physiologistische Auffassung der

Helmuth Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Aesthesiologie des Geistes. Bonn 1923; Erwin Straus: Vom Sinn der Sinne. Berlin 1935; Erwin Straus: »Die Ästhesiologie und ihre Bedeutung für das Verständnis der Halluzinationen (1949)«, in: ders.: Psychologie der menschlichen Welt. Gesammelte Schriften. Berlin, Göttingen, Heidelberg 1960, 236–269. 2 Eino Kaila: Die Reaktionen des Säuglings auf das menschliche Gesicht. Turku 1932, S. 20: »Es ist eine merkwürdige Tatsache der optischen Psychologie des Erwachsenen, daß man mit einer solchen Genauigkeit angeben kann, welche Stelle unseres Gesichts 1

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Situationen oder Sinnesdaten – Was wird wahrgenommen?

Sehleistung ist das rätselhaft. 3 Vom fremden Blick wird man getroffen wie vom Schall; man kann ihn wohl suchen, aber nicht abtasten wie eine farbige Oberfläche oder von verschiedenen Seiten fixieren. Nicht nur dies hat der gesehene Blick mit dem gehörten Schall gemein, sondern auch die eigentümliche Geschichtlichkeit, mit der Dauer dynamisch zu wachsen und neue Qualitäten anzunehmen. Ein anhaltendes, aufdringliches Geräusch wird langgezogen und schließlich unerträglich; dagegen kann eine aufdringliche Farbe, etwa ein gelber oder roter Fleck, beliebig lange im Gesichtsfeld verweilen, ohne sich dynamisch zu ändern. Der fremde, fest in die eigenen Augen gerichtete Blick jedoch wird noch schneller unerträglich als der langgezogene Pfiff. Farben können sich in der Fläche ausbreiten, Schälle und Blicke nicht. Angesichts solcher Verteilung von Übereinstimmung und Gegensatz wäre es phänomenologisch besser, vom Hören als vom Sehen des fremden Blicks zu sprechen, aber das geht nicht an, weil für dessen Wahrnehmung physiologisch das Auge, nicht das Ohr zuständig ist. Wer von Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken spricht, sollte sich demgemäß klarmachen, dass er phänomenologisch-physiologische Mischbegriffe verwendet, wobei die phänomenologisch und die physiologisch angemessenen Abgrenzungen sich nicht immer decken. Hier wird erstmals deutlich, was sich im Folgenden mannigfach bestätigen wird: Eine unbefangene Phänomenologie muss die Tatsachen der Wahrnehmung ohne Rücksicht auf die Physiologie des Alltags oder der Wissenschaft herausarbeiten, nicht, um sich gegen diese Wissenschaft abzuschotten, sondern um einen sauberen Vergleich erst möglich zu machen. Die Aufteilung der Wahrnehmung nach Sinnen ist so volkstümlich, dass man die Konsequenzen ihrer Fragwürdigkeit gleichsam gegen die gewachsene Sprache durchsetzen muss. Eine andere Vermengung von Phänomenologie der Wahrnehmung fällt dagegen den von einem anderen Menschen, der uns aus der Nähe anblickt, fixiert wird (rechtes oder linkes Auge, Nasenspitzenpartie usw.).« 3 Theodor Lipps: »Zur Einfühlung«, in: Psychologische Untersuchungen, Bd. 2 (1913), S. 111–491, hier S. 450: »In der Tat sieht der andere mich an, wenn die gerade Linie, die meine Nasenspitze oder mein Auge mit einem bestimmten Punkt im Inneren des Auges verbindet, bei dem andern auf die Stelle des direkten Sehens oder genauer auf die Netzhautgrubenmitte trifft. Aber woher weiß ich von dieser geraden Linie, zumal wenn ich von der Netzhaut und ihrer Mitte ebenso wie von jenem Punkt im Innern des Auges nichts weiß? Man kann sagen, ein anderer sähe mich an, wenn er zu mir spreche, aber ich weiß davon, daß er zu mir spricht, weil er sein Auge dabei auf mich gerichtet hat und nicht umgekehrt. So liegt auch hier ein Rätsel vor.«

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Situationen oder Sinnesdaten – Was wird wahrgenommen?

Philosophen, Naturwissenschaftlern und Psychologen zur Last, eine falsche Theorie, die im griechischen Altertum geschaffen wurde und längst den Rang der herrschenden Meinung bei Gelehrten, Gebildeten und halbgebildeten errungen hat. Ich meine den Physiologismus, d. h. die These, dass Botschaften aus der Außenwelt zum Menschen nur auf dem Weg über die Sinnesorgane und deren Fortsetzung im Nervensystem gelangen, und nur in dem Maße, wie diese Körperteile Reize aufnehmen und durchlassen. Dass wir nicht ohne Augen sehen und Vorgänge an diesen in hohem Maß darüber mitentscheiden, was wir sehen, ist eine schon im Alltag unverkennbare Tatsache; dass wir mit den Augen sehen, seien sie nebst Sehnerv und Sehrinde nun Werkzeuge wie Zangen oder, wie Gottfried Keller dichtet, »lieb[e] Fensterlein«, die »freundlich Bild um Bild herein« 4 lassen, ist ein physiologistischer Fehlschluss aus dieser Tatsache. Dass es sich um einen Fehlschluss handelt, kann man vielleicht auch einem entschlossenen Psychophysiker an einem inzwischen überwundenen Exzess des Physiologismus fasslich machen. Leibniz belegt seine These der Allgegenwart kleiner, unmerklicher Vorstellungen gern mit den Beispielen des Meeresrauschens und des Volksgemurmels, die nur vernehmlich würden, wenn man das Geräusch jeder einzelnen Welle zu jeder einzelnen Stimme höre. 5 So weit wird die psychophysische Korrelation heute nicht mehr getrieben, weil man inzwischen den Begriff der Schwelle für Wahrnehmbarkeit von Reizen konzipiert hat. Man braucht den Fehler, den Leibniz für die unterschwellige Reizung macht – eine notwendige Bedingung der Wahrnehmung in einen Kanal für diese umzudeuten – nur auf überschwellige Reizung zu übertragen, und man hat den physiologistischen Fehlschluss vor sich. Um diesen vermeiden zu lernen, kann man sich des Bildes der Begleitmusik bedienen. Ich stelle mir eine nicht abstellbare, endlos sich drehende Schallplatte vor, aus der ständig oder mit Pausen der Gesang einer Sängerin mit Klavierbegleitung ertönt. Der Gesang bedeutet die 4 Gottfried Keller: »Abendlied«, in: ders.: Sämtliche Werke. Bd. I: Gedichte. Hrsg. v. Kai Kauffmann. Frankfurt 1995, S. 407. 5 Vgl. u. a. Leibniz’ Brief an Arnauld (September 1687), in: Gottfried Wilhelm Leibniz: Die philosophischen Schriften. Zweiter Band. Hrsg. v. Carl Immanuel Gerhardt. Berlin 1879, S. 119; ders.: Nouveaux Essais sur l’entendement humain. Par l’auteur du systeme de l’harmonie preestable, in: ders.: Die philosophischen Schriften. Fünfter Band. Hrsg. v. Carl Immanuel Gerhardt. Berlin 1882, S. 74; ders.: Philosophische Abhandlungen 1702–1716, in: ders.: Die philosophischen Schriften. Sechster Band. Hrsg. v. Carl Immanuel Gerhardt. Berlin 1885, S. 488–629, hier S. 515, 534.

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Situationen oder Sinnesdaten – Was wird wahrgenommen?

Wahrnehmung, das Klavierspiel den Inbegriff der dazu erforderlichen körperlichen Vorgänge und Zustände. Da man beide Komponenten nicht trennen kann, ist die Klaviermusik notwendige Bedingung des Gesangs, aber sie ist keineswegs ein Kanal, durch den dieser seinen Weg nimmt. Der Physiologismus wäre phänomenologisch harmlos, wenn er nicht das Spektrum der Wahrnehmung verzerrte und verkürzte. Jeder vollsinnige Mensch nimmt Dunkelheit, Stille, leeren Raum, Zeit, Atmosphären, Situationen, Sachverhalte und Programme genau so gut und unmittelbar wahr wie Farben, Flächen und Bewegungen, aber der Physiologismus streicht jene aus der Liste, teils mangels ihnen entsprechender Signale an die Sinnesorgane, teils wegen einer für Sender solcher Signale unstatthaften Diffusion. Ich will einige Beispiele etwas ausführen, um das Gestrichene wieder zur Ehre des ganz normal Wahrgenommenen zu bringen. Ein besonders schlagendes unter ihnen ist die Stille, physiologisch nichts als Abwesenheit akustischer Reizung, phänomenologisch aber ein unter Umständen höchst aufdringlicher Gegenstand der Wahrnehmung mit Weite, Gewicht und Dichte, differenziert durch viele Nuancen: Es gibt brütende Mittagsstille, dumpf lastende »bleierne« Stille, zarte Morgenstille, friedliche Abendstille, lähmende und feierliche Stille usw. Fremdartige Sonntagsruhe, kühl-fahle Abenddämmerung können als Stimmungen unheimlich beklemmend in der Luft liegen. Natürlich ist es ein Verlegenheitsausdruck, hier von der Luft zu sprechen. Luft ist ja nur ein erdachter Körper, dazu bestimmt, viele Lebenserfahrungen zu koordinieren und für Prognosen handlich zu machen, darunter das Atmosphärische, das uns z. B. als drückende Sommerhitze oder herbe Frische eines Hochwalds, in dem wir frei aufatmen können, spürbar umgibt. Es ist sehr bezeichnend, dass die vom physiologistischen Vorurteil geleitete Wahrnehmungslehre für diese klimatische Wahrnehmung nicht einmal einen Namen gefunden hat, geschweige denn einen Platz im System der Sinne, der ihrer ganzheitlichen Eigenart ohne gekünstelte Zerlegung gerecht würde. Dabei ist die Wahrnehmung der momentanen klimatischen Atmosphäre in der Natur oder im Zimmer so geläufig, unmittelbar und aufdringliche wie das Sehen und Hören; über nichts kommen Fremde so schnell mit einander ins Gespräch wie über das Wetter, wohlgemerkt: das phänomenale Wetter, nicht den aus physikalischen Messgrößen rekonstruierten Zustand der Luft. Aber Atmosphären sind zu diffus und vielseitig, um unverkürzt als Sinnesreize in lokal abgegrenzte Körperteile einzuge208 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Situationen oder Sinnesdaten – Was wird wahrgenommen?

hen. Es gibt sie ja nicht nur als aktuelles Wetter oder Zimmerklima, sondern z. B., über die traditionelle Abgrenzung der Sinne hinweg, als optisch-klimatische, etwa optisch-thermische Atmosphären des Frühlingsmorgens, des trüben Novembertags, des friedlichen Sommerabends, der Naturstimmung vor dem Gewitter. Atmosphären, die im strengsten und unmittelbarsten Sinn wahrgenommen werden, sind ferner überpersönliche, kollektive Gefühle, wie die alberne oder strahlende Freude eines Festes, die kribbelige Aufgeregtheit einer Schlacht (Goethes »Kanonenfieber« 6), die Atmosphäre der Verlegenheit, in die ein Außenstehender nichtsahnend »hineinplatzt«, bis ihm das Wort auf den Lippen erstirbt, usw. Man kann solche Atmosphären auch züchten und pflegen, z. B. die Gemütlichkeit einer Wohnung, die einem eintretenden Besucher – ebenso wie die entgegengesetzte Kahlheit und Unbehaglichkeit – schon auf den ersten Blick auffällt, noch ehe er sich umgesehen hat. Von den Atmosphären unterschieden, aber meistens gleichsam mit ihnen vollgesogen, sind die Situationen, in denen beliebige Gegenstände mit Sachverhalten, Programmen und eventuell Problemen zu einem chaotisch-mannigfaltigen Ganzen zusammengeschlossen sind. Ich nenne Mannigfaltiges chaotisch, wenn zwischen seinen Teilen oder Elementen nicht durchgängig Verhältnisse der Identität oder Verschiedenheit bestehen, so dass jene nicht sämtlich einzeln sind und daher auch insgesamt keine Anzahl haben. Das Wort »chaotisch« meint hier also nicht Verworrenheit (unordentliches Durcheinander von vielerlei Einzelnen), sondern eher Verschwommenheit, confusio, Binnendiffusion größeren oder geringeren Grades. Die Sachverhalte, Programme und Probleme bilden in der Situation den Hintergrund der Bedeutsamkeit. Sachverhalte dieser Art sind z. B. die ProtentioJohann Wolfgang von Goethe: Kampagne in Frankreich (Goethes sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe. Bd. 28. Hrsg. v. Alfred Dove). Stuttgart, Berlin 1903, S. 58 f. (Brief vom 19. September nachts), bezüglich auf die Kanonade von Valmy: »Unter diesen Umständen konnt’ ich jedoch bald bemerken, daß etwas Ungewöhnliches in mir vorgehe; ich achtete genau darauf, und doch würde sich die Empfindung nur gleichnisweise mitteilen lassen. Es schien, als wäre man an einem sehr heißen Orte und zugleich von derselben Hitze völlig durchdrungen, so daß man sich mit demselben Element, in welchem man sich befindet, vollkommen gleich fühlt. Die Augen verlieren nichts an ihrer Stärke noch Deutlichkeit; aber es ist doch, als wenn die Welt einen gewissen braunrötlichen Ton hätte, der den Zustand so wie die Gegenstände noch apprehensiver macht. Von Bewegung des Blutes habe ich nichts bemerken können, sondern mir schien vielmehr alles in jener Glut verschlungen zu sein. Hieraus erhellet nun, in welchem Sinne man diesen Zustand ein Fieber nennen könne.«

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Situationen oder Sinnesdaten – Was wird wahrgenommen?

nen, d. h. das, worauf man in unwillkürlicher Erwartung sozialer Normalität oder angesichts bekannter Typen begegnender Gegenstände gefasst ist; zu den Programmen gehören die anschaulichen Aufforderungs- und Abstoßungscharaktere der Zuhandenheit für einen Gebrauch, des Prestiges, der Verführung, des sozial Gehörigen oder Ungehörigen, des »schreienden« Elends, der Abscheulichkeit usw., und Probleme der gemeinten Art sind z. B. wahrgenommene Zonen der Bedrohlichkeit, Rätselhaftigkeit, Unheimlichkeit, Unsicherheit im Hof der Bedeutsamkeit der jeweiligen Situation. Wie Sachverhalte, Programme und Probleme zu einem solchen Hof zusammenwachsen und dann durch Wahrnehmung mit einem Schlag erfasst und auch schon bewältigt werden, kann man sich an einer in der spezifisch modernen Lebenserfahrung typisch wiederkehrenden Situation deutlich machen, die ganz ohne Atmosphären der vorhin beschriebenen gefühlsartigen Beschaffenheit auskommt. Beim Autoverkehr auf dicht befahrenen Straßen, besonders bei schlechter Sicht und ungünstigen Bodenverhältnissen, ergeben sich immer wieder gefährliche Konstellationen, in denen der Lenker des Fahrzeugs nur durch sofortiges Ausweichen, Bremsen oder Beschleunigen einem Unfall entgehen kann. Wenn er zunächst Sinnesdaten aufnehmen, sich daraus ein Bild der Lage machen, aus diesem die relevanten Sachverhalte und Probleme entnehmen, nach solcher Diagnose einen Plan entwerfen und schließlich diesem gemäß seine Motorik einsetzen wollte, käme die Reaktion zu spät. Vielmehr muss der Lenker die Gefahrensituation einschließlich der relevanten Sachverhalte sowie der daraus sich ergebenden akuten Probleme und der Programme möglicher Rettung schlagartig und ganzheitlich sehen oder auch am eigenen Leib spüren und – oft ohne Analyse – blitzartig so handeln, wie man z. B. durch geschicktes Balancieren einen drohenden Sturz abwendet; dabei ist der Blick als eine der Richtungen des motorischen Körperschemas 7 in das motorische Verhalten integriert, und während leibliche Regungen (des Schrecks, der Spannung usw.) aufdringlich gespürt werden, treten Gefühle ganz zurück. Die eben geschilderte Situation der bewältigten Unfallgefahr ist ein gutes Beispiel für diejenigen Situationen, die in erster Linie als Zum motorischen Körperschema, das ich vom perzeptiven scharf unterscheide, vgl. u. a. ders.: System der Philosophie. Band III/1: Der leibliche Raum. Freiburg, München 2019, S. 239–259 und ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie. Bonn 1990, S. 124 f., 289–291.

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Situationen oder Sinnesdaten – Was wird wahrgenommen?

Gegenstände der Wahrnehmung in Betracht kommen. An sich ist mein Situationsbegriff – Situation als chaotisch-mannigfaltige Ganzheit, zu der mindestens Sachverhalte gehören – weiter und umfasst auch solche Situationen, die nur in Ausschnitten präsent werden, wie für jeden Menschen seine Persönlichkeit, die ich als die persönliche Situation bezeichne und ausführlich analysiert habe 8, ferner Lebensund Umgangsstile, beherrschte Sprachen usw. 9 Den für die Wahrnehmung primär relevanten Situationstyp bilden die Eindrücke; sie sind die Situationen, die in einem Augenblick ganz zum Vorschein kommen. Beispiele auffälliger Eindrücke sind der frische Eindruck, den man von einem Menschen hat oder beim Betreten eines mehr oder weniger aufgeräumten Zimmers oder in einer eigentümlichen Naturstimmung, oder die Eindrücke, die man auf einer Reise sammelt. Solche Eindrücke sind vielsagend, ohne dass man alles, was sie zu sagen haben, einzeln herausholen könnte; das verdanken sie dem chaotischmannigfaltigen Hof ihrer Bedeutsamkeit, in dem Sachverhalte, Programme und Probleme, die zu satzförmigem Sagen herausfordern, gleichsam lauern. Bezeichnend ist dafür der Anblick eines fesselnden Porträts, das dem Betrachter einen bestimmten Eindruck macht, von dem er nicht loskommt. Er hat dann mehr verstanden, als er sagen kann, und gerade das gibt dem Eindruck die fesselnde Kraft, weil die erst ganzheitlich erfassten, im Hof der Bedeutsamkeit binnendiffus eingeschlossenen Sachverhalte, Programme und Probleme zur Explikation drängen und sich dem Gefesselten gleichsam auf die Zunge legen wie ein Wort, das nicht gleich einfallen will. Ähnlich ist es beim gekonnten Umgang mit einem etwas undurchsichtigen Menschen. Man lernt, ihn zu »nehmen«, während noch ganz dürftig ist, was man von ihm zu sagen weiß. Man lernt es, weil der Eindruck ein Bescheidwissen gibt, das über das Formulierenkönnen hinausgeht. Es geht darüber nicht oder nicht bloß hinaus, weil man ein ungeschickter Sprecher ist, sondern weil die gewussten oder geahnten Sachverhalte, Programme und Probleme im Eindruck nicht sämtlich einzeln enthalten sind, sondern in chaotischer Mannigfaltigkeit. In diesen Fällen haften die Eindrücke an sinnfälligen, umschriebenen Objekten, und so ist es meistens; sie kommen aber auch ohne gegen8 Ders.: System der Philosophie. Band IV: Die Person. Freiburg, München 2019, S. 287–473. 9 Einen Überblick über die breite Anwendbarkeit des Situationsbegriffs gibt es in ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O., S. 65–84.

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Situationen oder Sinnesdaten – Was wird wahrgenommen?

ständliche Anbindung vor, wie der Eindruck einer tiefen und mächtigen oder drückenden, unheimlichen Stille. Darüber hinaus können sogar bei der Wahrnehmung von Gegenständen prägnante Eindrücke ohne Sinnesdaten auskommen; ein einleuchtendes Beispiel hat Weininger ausgemalt: In einem dichten Menschengedränge nehme ich z. B. ein Gesicht wahr, dessen Anblick mir durch die dazwischenwogenden Massen sofort wieder entzogen wird. Ich habe keine Ahnung, wie dieses Gesicht aussieht, wäre völlig unfähig, es zu beschreiben oder auch nur ein Kennzeichen desselben anzugeben, und doch hat es mich in die lebhafteste Aufregung versetzt, und ich frage in angstvoll-gieriger Unruhe: wo hab’ ich dieses Gesicht nur schon gesehen? 10

Eindrücke sind die natürlichen Einheiten der Wahrnehmung. Kaum brauche ich noch zu sagen, dass nicht an Eindrücke im Sinne von Beulen in einem fiktiven Seelenwachs zu denken ist, sondern an Gegenstände vom Typ der Situation, die dem Wahrnehmenden zustoßen, entgegenkommen oder vorschweben. So verwendet Hegel das Wort, wenn er zu Schillers »Wallenstein« schreibt: »Der Eindruck von diesem als einem tragischen Ganzen steht mir sehr lebhaft vor.« 11 Zwischen den Spitzen solcher auffälliger Eindrücke gibt es die Scharen der unauffälligen, nämlich überall, wo Normalität vorschwebt, sei es in den Kontexten sozialen Verhaltens oder bei der Wahrnehmung von Dingen und Halbdingen. Halbdinge füllen im Horizont unserer Wahrnehmung mindestens so viel Platz wie Dinge aus und dominieren aufdringlicher als diese, entgehen aber der herkömmlichen, von den klassischen Vorurteilen der Ontologie über Substanz und Akzidens eingeengten Wahrnehmungslehre über der zu einfachen Alternative: Ding oder Sinnesdatum. Halbdinge sind z. B. der Wind, die reißende Schwere (wie sie im Ausgleiten und beim Sturz erfahren wird), der elektrische Schlag, der Blick, die Stimme, die Grundfiguren der Musik (Melodie, Thema, Motiv, Tonika), charakteristische Geräusche wie ein Pfiff, ein hartnäckiges rhythmisches Tropfen oder der wie mit nadelspitzen stechende Lärm, der hartnäckige oder wiederkehrende Schmerz, ausgeprägte Kälte und brütende Hitze, tiefe Stille, die Nacht und sogar die Zeit, wenn sie drängt und »nicht vergehen will«, sei es in Langeweile oder in gespannter Erwartung. Von Dingen Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Wien, Leipzig 1922, S. 115. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: »Über Wallenstein«, in: ders.: Werke. Bd. I: Frühe Schriften. Frankfurt 1986, S. 618 ff., hier S. 619. 10 11

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unterscheiden sich Halbdinge auf zwei Weisen: dadurch, dass sie verschwinden und wiederkommen, ohne dass es Sinn hat zu fragen, wo sie in der Zwischenzeit gewesen sind, und dadurch, dass sie spürbar wirken und betroffen machen, ohne als Ursache hinter dem Einfluss zu stehen, den sie ausüben, vielmehr als die Einwirkung selbst, als das Band, das Hume, verhaftet in der Deutung der Kausalität als Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung, an diesem Verhältnis vermisste 12; so fehlt zum elektrischen Schlag der schlagende Arm, den erst die Physik als elektrischen Strom hinzudenkt, und nur im Witz antwortet die Mutter dem kleinen Kind, das sich erkundigt, was der Wind tut, wenn er nicht weht, mit der Auskunft, er habe sich gelegt. Von den Sinnesdaten unterscheiden sich die Halbdinge dadurch, dass sie gleich den Dingen einen Charakter haben, der sich im Wechsel ihrer Gesichter durchhält. Der Charakter ist der Typus, wodurch das Ding oder Halbding entweder als Gattung oder auch als Unikum in seiner ganzheitlichen Eigenart zum Vorschein kommt; er behängt oder bekleidet sich gewöhnlich (aber nicht in Weiningers vorhin angeführtem Beispiel) mit sinnlichen Qualitäten, mit denen zusammen er das jeweilige Gesicht des Dinges oder Halbdings bildet. Das Gesicht kann bis zur Unvergleichlichkeit wechseln, während der Charakter beharrt, z. B., wenn ein Vogel vorbeifliegt oder eine Lokomotive heranbraust; aber auch der Charakter kann ruckartig wechseln (bei Umschlag der Auffassung), während das Ding beharrt, ja sogar zum zwiespältig schillernden Rätsel werden. 13 Charakter und Gesicht sind jeweils Situationen, geladen mit einem Hof der Bedeutsamkeit der schon besprochenen, aus Sachverhalten (namentlich Protentionen), Programmen und Problemen chaotisch-mannigfaltig durchmischten Art. Sinnesdaten kommen zur Wahrnehmung meist nur in gebundener Form, nämlich eingebunden in die Gesichter von Dingen oder Halbdingen; reine Sinnesdaten begegnen wohl nur in tranceartigen Ausnahmezuständen, von denen nachher noch die Rede sein soll. David Hume: Enquiry concerning human understanding. Hrsg. v. Lewis Amherst Selby-Bigge. Oxford 1902 u. ö., S. 74: »All events seem entirely loose and separate. One event follows another; but we never can observe any tie between them.« 13 Das ist der Fall bei der von mir so genannten Husserl’schen Puppe (vgl. Edmund Husserl, Ludwig Landgrebe: Erfahrung und Urteil. Hamburg 1954, S. 99 ff.), dem seelenlosen Winkemann nach Frank Gotta (angeführt in: Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O., S. 149); weitere Belege in ders.: System der Philosophie. Band III/5: Die Wahrnehmung. Freiburg, München 2019, S. 144, Anmerkung 467 (dort nach C. M. Giessler). 12

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In der Praxis beruht die normale Wahrnehmung auf der Kompetenz zum Umgang mit Eindrücken in Auffassung und verständnisvoller Verarbeitung. Wie dramatisch schon ein partieller Ausfall dieser Kompetenz, nämlich bezüglich der den Dingen eingeprägten Programme des sozial Gehörigen, die Wahrnehmung schädigt, kann man den Zeugnissen einer von Blankenburg beobachteten psychiatrischen Patientin entnehmen, die nach ihren Worten vom »Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit« betroffen war. 14 Die Wahrnehmungslehre von den Griechen bis zur heutigen, stark physiologisch orientierten Psychologie nimmt von dieser Grundstruktur ihres Gegenstandsgebietes keine Notiz und bevorzugt die Aussonderung standardisierter, tunlichst nach Einzelsinnen eingeteilter Sorten von Merkmalen, die als Sinnesdaten oder gar Empfindungen mit einander und mit physischen Reizen verglichen werden. Die Entdeckung der Ganzheit in der Gestaltpsychologie und der diffus-gefühlshaften Komplexe in der dieser Strömung zugehörigen Leipziger Schule Felix Krügers hat solche Einseitigkeit zwar ein Stück weit korrigiert und viele wertvolle Einzelergebnisse gewonnen, sich aber doch viel mehr an Dingliches und Qualitatives (»Gestalt-«, »Komplexqualitäten«) gehalten und den Gegenstandstyp des Eindrucks mit dem chaotischmannigfaltigen Hof der Bedeutsamkeit verfehlt; auch ist diese Richtung, die zu den natürlichen Einheiten der Wahrnehmung immerhin Fühler ausstreckte, inzwischen ebenso wie die in dieser Hinsicht gleichfalls nicht ganz unfruchtbare Würzburger Schule abgetan, mehr oder weniger zu Unrecht. Dieser Reduktionismus wird vom Verlangen nach bequem identifizierbaren, quantifizierbaren und manipulierbaren Parametern geleitet und schafft sich den Anschein eines guten Gewissens durch den physiologistischen Fehlschluss. Dabei kann man von unzersetzten Eindrücken im Prinzip ebenso abstrahieren wie von den isolierten Merkmalen, die der Physiologismus auf der Gegenstandsseite der Wahrnehmung zurücklässt. Pindar und ein Hymnendichter des »Atharvaveda« stellen die Figur der Glanzgöttin mit Gold, Ross und Kampfkraft zusammen 15, weil sie, natürlich unabhängig von einander, von diesen Gegenständen, wie sehr Wolfgang Blankenburg: Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit. Ein Beitrag zur Psychopathologie symptomarmer Schizophrenien. Stuttgart 1971. Vgl. dazu Hermann Schmitz: System der Philosophie. Band V: Die Aufhebung der Gegenwart. Freiburg, München 2019, S. 43–48. 15 Pindar: 5. Isthmische Ode, Verse 1–10; Rudolf Otto: Gottheit und Gottheiten der Arier. Gießen 1932, S. 147 f., nach Atharvaveda 6,38. 14

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auch deren Merkmale abweichen, vielsagende Eindrücke empfangen, die ihnen Gleiches oder Verwandtes sagen. Auf Eindrücken beruht die chinesische Medizin, z. B. in der Pulsdiagnostik, und über ihnen errichtet sie, und mit ihr die klassische chinesische Kultur überhaupt, ein befremdliches, aber konsistentes Analogiensystem; ihm entspricht in Europa das astrologische, alchemistische und humoral-pathologische Welt- und Menschenbild, das lange in Blüte steht, z. B. bei Paracelsus mit den Grundbegriffen Salz, Schwefel und Quecksilber, womit nicht Stoffe im naturwissenschaftlichen Sinn gemeint sind, sondern standardisierte Eindrücke als Ecksteine eines analogisierenden Klassifikationssystems. 16 Keineswegs will ich zu einer Erneuerung solcher Systeme einladen, wohl aber zu einer phänomenologischen Erweiterung des Horizonts abseits der Blickschienen des Reduktionismus, den die modernen Naturwissenschaftler und Psychologen letztlich der antiken Philosophie verdanken, näher den Philosophen der Neuzeit, die ebenso wie ihre scholastischen Vorgänger die antiken Tendenzen aufnehmen und verstärken. Der Beschneidung des tatsächlichen Vorrats der Wahrnehmung entspricht in dieser Denkweise, die in der europäischen Intellektualkultur dominant geworden ist, eine fiktive Wucherung, die den Verlust kompensiert und im Grunde nicht weniger phantastisch ist als das astrologische oder alchemistische Weltbild. Mit den Fragmenten, die der Physiologismus, bestärkt vom Interesse an reduktionistischer Vergegenständlichung, auf der Gegenstandsseite der Wahrnehmung zurücklässt, kann man nämlich nicht leben. Unter Sachverhalten, Programmen und Situationen kann sich der Mensch zurechtfinden, aber nicht unter bloßen Sinnesdaten. Da man nicht mehr zugeben darf, dass das Benötigte mit einem Schlage wahrgenommen wird, muss man es vom Subjekt durch dessen tätige Zusätze nachholen lassen. Der Physiologismus ruft also den Rationalismus herbei, der dem Verstand (auch »Bewusstsein«, »Seele«, »Geist«, »Apperzeption«, sogar »Gemüt« benannt) die Aufgabe überträgt, mit Urteilen, Kategorien, Synthesen, »unbewussten Schlüssen« (Helmholtz) usw. nachzuholen, was bei der Zerschlagung der natürlichen Wahrnehmung verlorengegangen ist. Dieser Rationalismus, der bei Platon im »Theätet« zusammen mit der Inthronisierung des Physiologismus durch die Rede von Sinnes-Organen (d. h. Werkzeugen) einsetzt, erreicht mit Kant Ich verweise auf die Notizen und Literaturangaben in Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O., S. 22 f., Anm. 5 und 6.

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einen bizarren Gipfel. Seine bloße Spielart ist der sogenannte Empirismus (Locke, Condillac), der die nötige Verstandesarbeit auf die Kombination sinnlicher Elemente beschränkt. Mit der Aufdeckung des physiologistischen Irrtums sollte der Spuk des Streites zwischen Rationalisten und sogenannten Empiristen aus der Erkenntnistheorie verschwinden. Die Aufgabe, Eindrücke unversehrt zur Sprache zu bringen, ist in der europäischen Kultur seit der reduktionistischen Wende von Empedokles zu Demokrit in der 2. Hälfte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts 17 von den Denkern auf die Dichter übergegangen. Das Dichterische ist eine geschickte Sparsamkeit der Rede, die durch vorsichtige Explikation von Sachverhalten, Programmen und Problemen aus Situationen diese in ihrem chaotisch-mannigfaltigen Reichtum durchscheinen lässt, ohne sie durch zu vieles Herausholen zu zerreißen. Das gilt nicht nur für europäische Dichtung; man denke an japanische Haikus. In der europäischen Kultur besitzt die Dichtung aber zusätzliche Bedeutung durch ihre Alibifunktion, den ganzen Abfall der reduktionistischen Zersetzung der Situationen in ihre Regie zu nehmen, ohne mit dem in Philosophie und Wissenschaft herrschenden Reduktionismus konkurrieren zu können, da Dichten nicht das Recht zu prüfbaren Behauptungen und zu kontinuierlicher Revision des Gedichteten in Anpassung an fortschreitende Erfahrung mit sich bringt. Allerdings hat auch die mit solchen Vorrechten ausgestattete analytische Intelligenz einen schmalen Zugang zu vollständigen Eindrücken durch deren Rekonstruktion mit Hilfe von Typen. Diese entstehen durch Zusammensetzung von Gattungsbegriffen aus Merkmalen, die so geschickt gewählt sind, dass sie gemeinsam dem chaotisch-mannigfaltigen Reichtum eines vielsagenden Eindrucks nahekommen. Ein Beispiel ist die schlagende Charakteristik des analen Charakters durch Freud mit drei Merkmalen: sparsam, ordentlich, eigensinnig. Solche Menschen kennt man; es ist, als ob von drei Seiten ein plastisches Ganzes wie ein Kristall zusammenschösse. Es gibt nicht nur Menschentypen, sondern z. B. auch Krankheitstypen. Der angehende Arzt braucht eine Schulung durch Typen, um den intelligenten und elastischen Umgang mit Eindrücken zu lernen; statt dessen zersetzt ihm der heutige Unterricht die Situationen zu gewaltigen

Vgl. ders.: Der Ursprung des Gegenstandes. Von Parmenides bis Demokrit. Bonn 1988.

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Haufen einzelner Sachverhalte, mit denen allenfalls die analytische Intelligenz etwas anfangen kann. Da kaum jemand ein begabter Dichter ist, sind den meisten Menschen die sprachlichen Wege zur Darstellung dessen, was sie wirklich wahrnehmen, zum größten Teil versperrt. Die Kompetenz des intelligenten Bemerkens und vorsprachlichen Verarbeitens in der Wahrnehmung ist dagegen wie ein Eisberg, von dem nur eine ganz schmale Spitze in den Bereich sprachlichen Darstellungsvermögens hineinragt. Ein schlagendes Beispiel für diese vorsprachliche Kompetenz, die prompte Bewältigung einer Gefahrensituation auf der Straße durch den Autolenker, habe ich schon ausgeführt. Für den Umgang mit Eindrücken genügt nicht die Aufnahme und Registrierung von Merkmalen, die der sinnlichen Wahrnehmung meistens, z. B. als Rezeptivität der Sinnlichkeit nach Kant, zugeschrieben wird. Was darüber hinaus speziell im wahrnehmenden Umgang unter Menschen benötigt wird, bezeichnet Ortega y Gasset mit etwas altertümlich-poetischer Ausdrucksweise als den »›Takt‹ – ein vortrefflicher Ausdruck, der auf jenen Sinn der inneren Wahrnehmung anspielt, mit dem wir gleichsam die fremde Seele abtasten, ihre Umrisse, die Rauheit oder Weichheit ihres Charakters fühlen.« 18 Näher an die nüchterne Wirklichkeit führt ein Beispiel von Ludwig Klages heran, das auf die Phänomene hinführt, die Ortega mit seiner Umschreibung gemeint haben dürfte: Die feinfühlige Frau aus dem Volke, die dem heimkehrenden Gatten mit einem Blick leichte Gereiztheit, dem Sohn leichte Verstimmung ansieht, wäre, wenn darum befragt, völlig außerstande anzugeben, wie die Veränderung z. B. der Gesichtszüge beschaffen war, auf die sie ihr Urteil stützte. Sie würde sagen, sie habe leichte Gereiztheit und leichte Verstimmung gesehen; das aber wüßte sie nicht, welche Verschiebung beweglicher Gesichtszüge mit den ›gesehenen‹ Gemütszuständen einherging. 19

Zwar ist es sehr plausibel, dass die Frau so antworten würde, wie Klages ihr unterstellt, aber jetzt steht gerade in Frage, worin das Sehen bei der Wahrnehmung von Eindrücken besteht, und deswegen möchte ich eine ebenso plausible, aber spezifischere Auskunft bevorzugen: Die Frau könnte sagen, sie habe sich »eigentümlich berührt

José Ortega y Gasset: Über die Liebe. Meditationen. Übers. v. Helene Weyl. Stuttgart 1950, S. 214 f. 19 Ludwig Klages: Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck. Bonn 1950, S. 52. 18

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gefühlt«. Damit kommt die leibliche Resonanz zur Sprache, die statt der Sinnesorgane und Gehirnfunktionen das eigentliche, phänomenologisch fassbare Medium und Vehikel der Wahrnehmung ausmacht. Um so deutlicher zu werden, muss ich mit wenigen komprimierten Sätzen einen Seitenblick auf einen Ausschnitt aus der von mir oft und gründlich analysierten kategorialen Struktur der spürbaren leiblichen Dynamik werfen. Der spürbare Leib ist stets von antagonistischen Tendenzen der Engung und Weitung durchzogen, die teils als Spannung und Schwellung intensiv (simultan) und rhythmisch (mit Wechsel der Dominanzphasen in einer dennoch im Ganzen der Sukzession von einer der beiden Tendenzen primär geprägten Gestalt) konkurrieren, teils als privative Engung und privative Weitung partiell von einander abgespalten werden können. Dank der intensiven und rhythmischen Konkurrenz von Spannung und Schwellung ist das leibliche Befinden in sich dialogisch. Angst und Schmerz sind z. B. Auseinandersetzungen zwischen einem expansiven Drang und einer übermächtigen Hemmung. Im Schmerz ist der Dialog sogar schon paradox bis an den Rand einer Art Persönlichkeitsspaltung gesteigert. Der Schmerz ist nämlich sowohl eigener, belastender Zustand des Gepeinigten als auch ein auf diesen nach Art eines Halbdings (z. B. störenden Lärms) feindlich eindringender Widersacher; als eigener zustand drängt er expansiv zur entlastenden Entladung, als Widersacher hemmt er diese, indem er sich staut, bohrt und wühlt, also gleichfalls expansiv-dynamische Züge annimmt. Die Lösung dieser intensiv-simultanen Blockade gelingt während des Schmerzes nur symbolisch dem durchbrechenden Schrei oder dem gehemmten Stöhnen, wobei der Gepeinigte und sein Widersacher mit und gegen einander das Weite suchen und sich in dieser gemeinsamen Flucht als Antagonisten gegenseitig aufhalten. Angst und Wollust sind dagegen extreme Prototypen rhythmischer Konkurrenz von Spannung und Schwellung; Hemmung und Drang spielen sich dann das Übergewicht wie einen Ball zu, wodurch die Atmung keuchend wird, indem ein Ansatz überwiegender Schwellung auf überwiegende Spannung stößt, davon ruckartig abgefangen wird und dann wieder einsetzt. So liegt schon im primitiven leiblichen Befinden etwas von primärer Veräußerung, die nicht etwa einer kompakten Empfindung nachträglich angetan wird, als Dialog der Antagonisten Spannung und Schwellung, die gegen einander wirken wie bei einem Ringkampf. Eine Steigerungsform dieser dialogischen Exteriorisierung oder (besser) primären Exteriorisiertheit ist eine eigen218 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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tümliche Wahrnehmungsweise, die ich als Wahrnehmung mit verkehrten Fronten bezeichne. Die vorhin erörterte Wahrnehmung von Halbdingen liefert die Beispiele. Ich denke z. B. an das Wetter, das schwitzen oder frösteln macht, an die reißende Schwere, die den Menschen überfällt, wenn er stürzt oder zu stürzen droht, an den elektrischen Schlag und an den Wind, gegen den man ankämpft. In diesen Fällen wird ein Angriff gespürt, gegen den man sich behauptet, aber so, dass der Angriff mit dem Angreifer identisch ist. Die Ursache präsentiert sich als der Einfluss selbst, der am eigenen Leib gespürt wird, aber nicht als etwas vom eigenen Leib, sondern als eine fremde, ihn überfallende oder durchdringende Macht. Der Schmerz steht, wie ich eben beschrieben habe, mit paradoxem Doppelgesicht auf der Grenze des Eigenen und des in diesem Sinn halbdinglich Fremden. Dass der Widersacher nur am eigenen Leibe gespürt wird, aber als etwas Fremdes, das über ihn kommt, ist die Verkehrung der Fronten. Wenn die Spreizung des schon zum bloßen eigenen Leib gehörigen Dialogs von Engung und Weitung noch einen Schritt weitergeht, überschreitet sie diesen Leib und vereinigt ihn mit begegnenden Sachen (z. B. Personen, Leibern, unbelebten Körpern), die ihm nicht angehören, zu einem Gebilde, das die spezifische Struktur leiblicher Dynamik besitzt. Das ist leibliche Kommunikation des Typs, den ich als Einleibung bezeichne. Die flüchtig skizzierte Schrittfolge der Spreizung darf aber nicht als geschichtliche Reihenfolge verstanden werden, als sei der eigene Leib zunächst in sich abgeschlossen und werde durch Spreizung des innerleiblichen Dialogs nachträglich ergänzt. Die Einleibung ist vielmehr primär, wahrscheinlich schon im embryonalen Stadium und offenkundig in der symbiotischen Lebensweise des Säuglings. Dessen Verbundenheit mit Bezugspersonen wie der Mutter einschließlich frühkindlicher mimischer Nachahmung 20 ist geradezu ein Musterfall von Einleibung. Das gewöhnliche Sehen ist schon Einleibung. Wenn sich eine wuchtige Masse drohend nähert, bringt man sich unter günstigen Umständen in Sicherheit, indem man schnell geschickt zur Seite springt oder mit dem Kopf ausweicht usw. Das gelingt nur, weil man im Sehen mehr wahrnimmt, als man sieht, nämlich auch den eigenen Leib und Körper, den man dann nicht zu sehen pflegt, der aber mit dem Gesehenen durch Einleibung so verschmolzen ist, dass er damit Zur frühkindlichen mimischen Nachahmung vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. V. A. a. O., S. 94–97.

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ohne Reaktionszeit koagieren kann. Dies ist auch die Lösung des Rätsels, das der routinierte Autolenker mit seiner vorhin besprochenen prompten Bewältigung der Gefahrensituation auf der Straße aufgibt. Seine Leistung gleicht auf höherem Niveau mit größerem Komplikationsgrad der eben beschriebenen. In beiden Fällen stiftet die leibliche Integration durch Einleibung die Fähigkeit zum Koagieren ohne Reaktionszeit im Prinzip nicht anders als bei der Koordination der Glieder des eigenen Leibes im geschickten Balancieren, wenn man durch komplizierte Verschiebungen der Lagerung und Gewichtsverteilung blitzartig einen drohenden Sturz abfängt. In ähnlicher Weise ist Einleibung verantwortlich für das Koagieren ohne Reaktionszeit bei sportlichen und tierischen Kämpfen, in Fußballmannschaften wie im Wolfsrudel, beim Boxen, Fechten und Tennisspiel, beim gemeinsamen Rudern, Sägen und Musizieren. Sie ermöglicht die primäre Eingespieltheit auf einander, die der Wahrnehmung über das Registrieren von Merkmalen hinaus die Aneignung vielsagender Eindrücke zugänglich macht. Einleibung hat antizipatorische Kraft, weil sie am eigenen Leib das quasi leibliche Ganze, das über ihn hinausgeht und ihn ad hoc mit der aktuellen Situation zusammenschließt, vorwegnehmen lässt, prinzipiell nicht anders als so, wie man in jedem einzelnen Takt eines wohlbekannten Liedes schon die ganze Melodie hört. Diese vorwegnehmende Kraft der Einleibung kommt ebenso dem Autolenker in der unfallträchtigen Konstellation des Straßenverkehrs zugute, wie der feinfühligen Frau aus dem Volke, die dem heimkehrenden Gatten sofort leise Verstimmung anmerkt, weil sie sich eigentümlich berührt fühlt. Sie ist unentbehrlich für das Arrangement eines raffinierten Balletts, das sich unbeachtet täglich millionenfach auf den bevölkerten Gehwegen der Städte abspielt und das Kunststück des routinierten Autolenkers, einen Zusammenstoß in letzter Sekunde abzuwenden, ins Banale überträgt. Wenn ein Passant dem entgegenkommenden Nächsten nicht in die Arme laufen will, muss er nicht nur dessen Position berücksichtigen, sondern auch vorwegnehmen, wie dieser weitergehen wird, und obendrein seine Schritte gleich so lenken, dass er mit dem bevorstehenden Kurs der Nachfolgenden nicht kollidiert. Diese Aufgabe, die für eine mathematische Lösung wahrscheinlich zu kompliziert ist, wird von den ungeschulten und unvorbereiteten Straßenpassanten, von denen jeder unabhängig vom anderen nur sein eigenes Ziel im Kopf hat, durch flüchtige, beiläufige, achtlose, ständig wechselnde Einleibung in einander wie selbstverständlich anstandslos bewältigt. 220 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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Die integrierende und antizipatorische, Abstimmung auf einander bis in feinste Nuancen regelnde Kraft der Einleibung wäre noch wunderbarer, wenn sie ganz unvermittelt »einhaken« müsste. So wie aber die physiologischen Begleitvorgänge der Wahrnehmung durch Reizübertragungen als physikalisch-physiologische Mittelglieder Sender und Ziel verknüpfen, hat auch die Einleibung als phänomenaler Vollzug von Wahrnehmung Brücken in Gestalt von Qualitäten, die in gleicher Weise wahrgenommen und am eigenen Leib gespürt werden können. Es handelt sich hauptsächlich um die Bewegungssuggestionen, die ich, wenn sie an wahrgenommenen Gestalten (einschließlich der Bewegungen) vorkommen, als deren Gestaltverläufe bezeichne, und die synästhetischen Charaktere. Musik scheint in Bewegung zu sein; es gibt steigende, fallende, hüpfende, kreisende, stürmische, träge usw. Klangfolgen. In buchstäblichem Sinn braucht sich der Klang dabei keineswegs zu bewegen; das täte er nur, wenn er die Entfernung oder die Richtung wechselte, aber diese Variationsmöglichkeiten sind dürftig im Vergleich mit den rhythmischen und tonalen, an die sich der Eindruck von Bewegtheit der Musik in erster Linie heftet. In diesen Dimensionen bewegt sich die Musik nicht selbst, aber sie zeichnet Bewegungen vor, legt sie nahe, drängt sie auf, und der hörende Leib beginnt unwillkürlich mit entsprechenden Bewegungen der Suggestion mindestens ansatzweise zu folgen, bis im gelösten Tanz die schwingende Eigenbewegung mit der Wahrnehmung der den Schwung verleihenden und leitenden Musik stufenlos zusammenfließt; wer erst hören muss, um seine Schritte danach zu setzen, tanzt verkrampft. Dieses Beispiel macht deutlich, wie Gestaltverläufe in leibliche Bewegung spontan übernommen werden können, weil die Bewegungssuggestionen, die Impulse der Bewegung, auf beiden Seiten übereinstimmen. Aus demselben Grund werden lyrische Gedichte, die gleichsam unter die Haut gehen, d. h. den Hörer oder Leser leiblich spürbar in ihren Bann ziehen sollen, eher in Versen als in Prosa verfasst: Der Versrhythmus als Gestaltverlauf einer sukzessiven, eventuell von Pausen durchsetzten Gestalt springt als Bewegungssuggestion ohne Weiteres auf den gespürten eigenen Leib über. In gleicher Weise ist rhythmischer Schall jeder Art – Singen, Klatschen, Trommeln, Rufen – ein mächtiger Motor kollektiver Einleibung, der Gruppen und sogar große Massen von Menschen wie unter einer Stimmungsglocke zur festen Ganzheit eines übergreifenden Ad hoc-Leibes mit eigener Dynamik zusammenschließt; es ist schwer, sich dieser Suggestion zu entziehen. Die vorhin erwähnten musika221 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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lischen Halbdinge (Themen, Melodien usw.) sind Gestaltverläufe, und die klassische kontrapunktische und harmonische Musik von Buxtehude bis Brahms ist nur an der Oberfläche eine Folge akustischer Sinnesdaten, eigentlich aber ein Spiel halbdinglicher Gestaltverläufe im Medium des Klangs. Durch solche Gestaltverläufe haben Dinge Gebärden wie der römische Brunnen, dessen Gebärde stolz gelassener Aufrichtung Conrad Ferdinand Meyer aus der optischen Darbietung in den akustischen Rhythmus seiner Verse überträgt: Aufsteigt der Strahl, und fallend gießt Er voll der Marmorschale Rund […] 21

Es ist das Wesentliche der Gebärde, dass sie in einer faktisch ausgeführten Bewegung eine weiter ausgreifende vorzeichnet oder nahelegt und durch diese Bewegungssuggestion für eine Sinngebung suggestiv wird. So wirkt der zeigend auf einen nahen Menschen gerichtete Finger zudringlich, weil das gerade eben zentimeterlange Vorstoßen des Zeigefinders mit einem Gestaltverlauf, der den Adressaten wie ein Dolch zu durchbohren scheint, beladen ist, und eine straffende Aufrichtung mit winzigem Zurückwerfen des Kopfes imponiert spontan als ausladende Machtgebärde hochfahrenden oder trotzigen Stolzes; ein Augenaufschlag rührt, fleht oder verführt durch den Gestaltverlauf der winzigen Bewegung. Solchen wahrgenommenen Bewegungssuggestionen entsprechen die am eigenen Leib gespürten Als-ob-Bewegungen, z. B. des Sinkens bei Müdigkeit, des Schwellens bei Zorn und Wollust, der Erhebung und ausladenden Weitung im Stolz, des Schwebens in Glück und Freude. Sowohl von der Seligkeit als auch von der Angst sagt man, man schwebe in ihnen, aber während die Rede von Schweben in Angst und Bangigkeit wohl nur eine Metapher für die Unsicherheit ist, schwebt man in Seligkeit leiblich spürbar im Sinn einer Bewegungssuggestion privativer Weitung, auch wenn man ruhig sitzen oder liegen bleibt und nicht anders geht als gewöhnliche Menschen. Mit den Bewegungssuggestionen zusammen sind die synästhetischen Charaktere Brückenqualitäten für die Einleibung. Meist haften sie an sinnlichen Qualitäten und gelten als deren intermodale Erweiterungen, wie im Fall der warmen Farben oder hellen Klänge, aber sie kommen auch ohne solche Anbindung an sinnliche Qualitäten vor: Ich habe gezeigt, dass die synästhe21 Conrad Ferdinand Meyer: »Der römische Brunnen«, in: ders.: Werke. Erster Band. Hrsg. v. Gustav Steiner. Basel 1943, S. 96.

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tischen Massencharaktere des Schalls – etwa der schwere, ausladende, aber lockere Charakter dumpfen, dröhnenden Schalls und der spitze, dünne, scharfe, feste seines hellen Gegenstücks – weit eher den am eigenen (z. B. müde hingegossenen oder leicht und federnd ausschreitenden) Leib gespürten Regungen gleichen, als den entsprechenden Komplexen von Eigenschaften natürlicher Stoffe. 22 Solche synästhetischen Massencharaktere treten aber ohne sinnliche Qualitäten auch als Weite, Gewicht und Dichte ausgeprägter Stille hervor, wovon hier schon die Rede war. Sehr deutlich sind die synästhetischen Charaktere an den Vokalen, z. B. an i und u. Derselbe synästhetische Charakter verbindet das i mit der Farbe Gelb und dem Typus der Klangbilder und Gestaltverläufe in der Musik von Mozart, sowie mit dem gespannten, spitz und hüpfend beweglichen Ausschreiten, das mit diesem Charakter sowohl gesehen als auch am eigenen Leibe gespürt wird. Mit den Kategorien der leiblichen Dynamik, die ich in einem System – dem von mir so genannten Alphabet der Leiblichkeit – zusammengestellt habe, lassen sich Gestaltverläufe und synästhetische Charaktere weitgehend präzisieren und auf phänomenologisch angemessene Begriffe bringen; darauf kann ich hier nicht eingehen. Auch Konsonanten tragen synästhetische Charaktere, die ihnen einzeln oder in Gruppen eine dynamische Physiognomie geben. »Kein noch so energischer ›Ruhe‹-Ruf bringt eine laut diskutierende Menschengruppe zu so unmittelbarem Aufmerken wie ein einziges hell zischendes ›psst‹.« 23 Ein synästhetischer Charakter des Geräusches weckt in diesem Fall durch seine leiblich spürbare Eigenart eine ihm in dieser Hinsicht gleichende Bewegungssuggestion des Auffahrens, durch ähnlichen Schall übrigens auch bei Tieren 24; die dann bei zusätzlichen Alarmzeichen aus dem Stutzen in aufgescheuchte Flucht fallen. Einleibung, vermittelt durch Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere oder auch durch Blicke, die als leibliche Regungen sowohl am eigenen Leib gespürt als auch am fremden wahrHermann Schmitz: Subjektivität. Beiträge zur Phänomenologie und Logik. Bonn 1968, S. 58–65. 23 Otto König: Urmotiv Auge. Neuentdeckte Grundzüge menschlichen Verhaltens. München, Zürich 1975, S. 93. 24 König nennt (ebd.): »das Schwanzrasseln einer Klapperschlange, das Zähnerattern eines Siebenschläfers, das Drohguggern eines Murmeltieres, das Zischen einer Schlange, eines Geckos oder einer Meise, das Drohsummen einer Biene, eines Kolibris oder das Fauchen einer Katze«. 22

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genommen werden 25, ist die Normalform der Wahrnehmung von Eindrücken, Dingen und Halbdingen, deren Charaktere und Gesichter selbst Eindrücke oder wenigstens Situationen, die sich in Eindrücken präsentieren, sind. Diese Einsicht gewinnt einen besonderen Erklärungswert und damit Vorsprung vor allen traditionellen Theorien der Wahrnehmung, vor dem Problem der Partnerfindung unter Menschen und Tieren, der spontanen Du-Evidenz, es bei einem Gegenüber nicht mit einem Automaten, sondern mit einem anderen Bewussthaber zu tun zu haben. Die bisher, in den vergangenen Jahrtausenden, über die Quellen dieser Evidenz entwickelten Theorien sind schon seit geraumer Zeit als brüchig erkannt und bis zu meinem Vorschlag doch noch nicht ersetzt worden; es handelt sich um die Theorie des Analogieschlusses und die von Theodor Lipps hinzugefügte Einfühlungstheorie, zwischen denen z. B. Husserl endlos pendelt, so sehr er sich auch mit Worten dagegen sträubt. 26 Der Grundfehler dieser traditionellen Überlegungen besteht darin, dass sie sich vom Physiologismus verführen lassen, den Vorrat an Information, der dem einzelnen Subjekt zur spontanen Partnerfindung zur Verfügung steht, auf das Maß zu beschränken, das nach gängiger Ansicht durch physische Reize an die Sinnesorgane geleitet und dann im Gehirn oder anderswo so entschlüsselt wird, dass es sich dem Subjekt als Sinnesdatum nach Art primärer oder sekundärer Sinnesqualitäten darstellt. Dieser Vorrat, so stellt sich heraus, ist viel zu spärlich, um die Überzeugung, hier und jetzt es mit einem anderen Bewussthaber zu tun zu haben, vom Verdacht einer völlig willkürlichen und sprunghaften Unterstellung zu befreien. Erst wenn sich die Phänomenologie der Wahrnehmung vom Physiologismus konsequent emanzipiert und das Geschehen der Wahrnehmung unabhängig von den körperlichen Begleitvorgängen, deren unentbehrliche Wichtigkeit für jene dabei nicht im mindesten in Zweifel gezogen wird, als solches erforscht, ist eine bessere und hoffentlich zulängliche Fundierung der Du-Evidenz möglich. Wie sie aussieht, ist nach dem GesagVgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. III/2: Der Gefühlsraum. Freiburg, München 2019, S. 378–383; ders.: System der Philosophie. Bd. III/5. A. a. O., S. 70 (Übersicht über die Behandlung des Blickes in den vorangegangenen Bänden und Teilbänden des Werkes) sowie ders.: System der Philosophie. Bd. V. A. a. O., S. 31–33. Zahlreiche weitere Angaben von Seitenzahlen stehen in den Sachregistern vieler systematischer Bücher von mir zum Stichwort »Blick«. 26 Zur Charakteristik, Kritik und Überwindung dieser Projektionstheorien vgl. ders.: System der Philosophie. Bd. V. A. a. O., S. 74–88. 25

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ten klar: Die spontane Partnerfindung beruht auf Einleibung, wobei am eigenen Leibe etwas gespürt wird, das über den eigenen Leib hinausgeht und ihn zu einer Situation abrundet, die ihm durch den Hof der Bedeutsamkeit der in ihr sich abzeichnenden Eindrücke die Anwesenheit anderer Bewussthaber offenbart. Dazu ist eine spezielle Form der Einleibung nötig, nämlich wechselseitige Einleibung. Einleibung kann einseitig und wechselseitig sein. Einseitige Einleibung liegt vor, wenn der eigene Leib lediglich gefesselt und in Bann gezogen wird, wie bei der Faszination, die z. B. der Zuschauer der tollkühnen, lebensgefährlichen Kunststücke eines Zirkus- und Drahtseilakrobaten erleidet, oder bei der Hypnose durch den starren Blick eines Suggestors. Sie gewährt keine Du-Evidenz. Bei wechselseitiger Einleibung dagegen wandert die Dominanzrolle in kurzen Phasen hin und her, wie bei Druck und Gegendruck im Ringkampf. Ich habe gezeigt, dass wechselseitige Einleibung der Sitz der Du-Evidenz, als solcher aber nicht ganz untrüglich ist. 27 Sie bedient sich auch in dieser Anwendung der Vermittlung durch Gestaltverläufe und synästhetische Charaktere. Wenn die Polizei einen Menschen, der einen Verdächtigen, dem sie auf der Spur ist, gerade gesprochen und dabei aufmerksam angesehen hat, nach den dabei von ihm registrierten körperlichen Merkmalen fragt, fällt die Beschreibung oft beschämend dürftig aus, und mancher Ehemann soll seine Unfähigkeit, die Augenfarbe seiner gesuchten Ehefrau anzugeben, dem Detektiv betreten eingestanden haben. Das braucht nicht daran zu liegen, dass die Betreffenden nicht richtig hingesehen hätten, obwohl man sie dann gewöhnlich mit diesem Vorwurf belasten wird. Wahrscheinlich hätten sie sich wie Schnüffler anstellen müssen, um ihm zu entgehen. Was im normalen Umgang bei sozialadäquater Aufmerksamkeit der Wahrnehmung unwillkürlich am Partner bemerkt wird, ist nämlich von anderer Art als die Sinnesdaten, die man zum Aufsetzen eines Steckbriefs benötigt. Viel stärker als feste Formen prägen sich dabei gewöhnlich Bewegungssuggestionen (Gestaltverläufe) ein, wobei es sich etwa darum handelt, ob der Partner gerecht oder geduckt, straff oder lässig, großartig und weit ausladend oder eng, gepresst und kleinlich

Ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O., S. 147–151; ders.: Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik. Hrsg. v. Hermann Gausebeck und Gerhard Risch. Paderborn 1992, S. 175–199 und ders.: »Sind Tiere Bewußthaber? Über die Quellen unserer Du-Evidenz«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 46 (1992), S. 329–347.

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pp. in Haltung, Mimik und Gebärden, mit zusammengekniffenen Brauen oder Lippen, stechendem oder unstet schweifendem Blick pp. aufgetreten ist oder aufzutreten pflegt; an festen Formen fällt z. B. der kühne Schwung einer Nase wegen seines Gestaltverlaufs auf. Synästhetische Charaktere, z. B. der Stimme und Bewegungsweise 28, geben den Eindruck eines rauhen, schmeichelnden oder schmierigen Partners. Was ist das Übereinstimmende zwischen einem schmeichelnden Höfling und schmeichelnder Frühlingsluft? Es hat mit Sanftheit zu tun, woran von seiten des Lüftchens die milde Wärme und das Streifen der Haut beteiligt sind, von seiten des Höflings der Stimmklang, die Haltung und Bewegung. Zum komplexen Eindruck des Sanften tragen Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere viel bei, aber nicht alles Sanfte schmeichelt. Jemand kann sanft und dabei fest sein und auftreten; zum schmeichelnd Sanften gehört weniger Festigkeit als eine gewisse Weichheit, die abermals ein synästhetischer Charakter ist. Inzwischen ist so viel von (vielsagenden) Eindrücken als Gegenständen der Wahrnehmung die Rede gewesen, dass die Frage naheliegt, was für die Sinnesdaten übrigbleibt. Ich habe schon gesagt, dass sie in reiner Form, nicht eingebunden in die Gesichter von Dingen oder Halbdingen, wahrscheinlich nur in tranceartigen Ausnahmezuständen vorkommen. Dabei habe ich eine andere Form leiblicher Kommunikation im Auge, den Gegentyp zur Einleibung, den ich als Ausleibung bezeichne. Bei der Einleibung hat man es stets mit einem partnerschaftlichen Gefüge zu tun, wobei mehrere Figuren mit verteilten Rollen, aktiv oder passiv, selbständig oder unselbständig, in der Ganzheit eines übergreifenden Leibes oder Quasi-Leibes koagieren. Die Ausleibung teilt mit der Einleibung die Fesselung oder Fixierung des eigenen Leibes, aber nicht mehr in der Bindung an einen koagierenden Partner, sondern sozusagen als Auslaufen des spürbaren eigenen Leibes in eine Tiefe, in der sich kein Partner mehr fassen lässt. Ein gutes Beispiel ist die gefürchtete Autobahntrance: Der Autolenker, der in optisch reizarmer, trüber oder dunkler Umgebung eine lange gerade Straße befährt, ist in Gefahr, sich zu entgleiten und die Kontrolle über sein Fahrzeug zu verlieren. Das liegt nicht bloß an der Monotonie; denn wer die Straße entlang zu Fuß geht, hat Über synästhetische Charaktere der Geschwindigkeit vgl. ders.: System der Philosophie. Bd. III/1. A. a. O., S. 158 f. und ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. A. a. O., S. 146, 287 f.

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es nicht weniger langweilig, ist aber dieser Versuchung viel weniger ausgesetzt, weil er den Antagonismus von Spannung und Schwellung des Leibes durch die Anspannung seines rhythmischen Ganges unterhält. Den Autolenker, der seinen Blick in den Kanal der langen geraden Straße hineinlegt und sonst ruhig sitzt, saugt dagegen die Tiefe des Raumes durch diesen Kanal so an, dass ihm die Zurückhaltung durch leibliche Spannung, die ihn auf sich selbst hinweist, verlorengeht. Andere Fälle von Ausleibung sind von expansiver Bewegung und Richtung unabhängig, und die Tiefe, in die der eigene Leib gleichsam ausläuft, ohne einen Partner zu finden, ist dann zwar auch noch vorhanden, aber nicht mehr als Tiefe des Raumes, die sich in einer Richtung öffnet, sondern als Tiefe der Vertiefung in eine Qualität, die alle Zuwendung aufsaugt. So etwas kann beim Liegen in der warmen Sommersonne geschehen, wenn bei geschlossenen Augen nur noch die Wärme als absolute Qualität in tiefer Entspannung gespürt wird, vielleicht auch bei geschmäcklerischer Vertiefung in das edle Aroma einer Weinsorte, sicherlich aber beim Starren in Glanz, der tiefe Eindrücke mystischer Entrückung und Erleuchtung entbinden kann 29, aber auch als bloße Qualität alle Situationen und Eindrücke verdrängen kann und daher gern zum Hypnotisieren benützt wird, ebenso wie optische Ganzfelder, z. B. blaues Licht unter blauer Abdeckung, wodurch ein Zahnarzt schon 1923 die Anästhesie zur Ausschaltung des Schmerzes beim Zahnziehen erreichte. 30 Höchstens in solchen Ausnahmezuständen fällt die Hülle der Situationen ab, und dann können sich nackte Daten oder Qualitäten darbieten als ein Absolutes, das von keinem Hof der Sachverhalte, Programme und Probleme mehr umkleidet wird. Solche Erfahrung ist befremdlich und entrückend, und es fragt sich, ob nicht diese Begegnung mit dem Absoluten gerade als solche wieder einen Eindruck von tiefer, hintergründiger Bedeutung präsentiert. Aus dem Gewebe der Situationen und Eindrücke führt die Wahrnehmung also nie oder kaum je heraus.

Das trifft etwa auf das Initiationserlebnis des spätmittelalterlichen Mystikers Heinrich Seuse nach dem 2. Kapitel seiner Autobiographie zu (vgl. dazu Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. III/4: Das Göttliche und der Raum. Freiburg, München 2019, S. 188 f. und ders.: System der Philosophie. Bd. III/5. A. a. O., S. 100 f.). 30 Ders.: System der Philosophie. Bd. III/5. A. a. O., S. 94, 101, 218 f. 29

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16. Wahrnehmung als leibliche Kommunikation mit vielsagenden Eindrücken

Wahrnehmung verstehen wir gewöhnlich als sinnliche Wahrnehmung, als Wahrnehmung der fünf Sinne Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken durch ihre Sinnesorgane Auge, Ohr, Haut, Nase, Zunge; es soll nicht darauf ankommen, ob man die Liste durch ein paar Sinne mehr erweitert. Natürlich hat diese scheinbare Selbstverständlichkeit ein empirisches Fundament, aber sie ist sogar empirisch höchst unzulänglich. Ich zeige das am Sehen. Im ganz normalen Sehen nimmt man mehr wahr, als man sieht. Dafür gebe ich gerne folgendes Beispiel: Wenn man sieht, wie sich eine wuchtige Masse – z. B. ein Stein, ein Auto, eine schlagbereite Faust – drohend nähert, springt man geschickt zur Seite oder biegt sich oder dreht den Kopf weg, so dass unter günstigen Umständen ein Zusammenstoß ausbleibt. Das gelingt, obwohl man den eigenen Körper, den man in Bewegung setzt, dann nicht oder nur in einem kleinen, für die Bewegung bedeutungslosen Ausschnitt sieht, und den eigenen Leib, den man wenigstens spürt, erst recht nicht sieht. Dennoch gelingt die Feinabstimmung der Bewegung auf den persönlichen oder unpersönlichen Gegner wie bei einem gemeinsamen Tanz, und nicht einmal wie dann in eingeübten Bahnen, sondern in einer den unvorhergesehenen Umständen spontan angepassten Weise. Das ist nur möglich, weil dem Sehen ein räumlich einheitlich durchorganisiertes Feld vorliegt, das wesentlich mehr als das Gesehene umfasst, nämlich auch den gespürten eigenen Leib, der dann den zwar sicht- und tastbaren, aber unter solchen Umständen gewöhnlich weder gesehenen noch getasteten eigenen Körper vertritt. Wie wenig eine solche den spürbaren Leib mit dem wahrgenommenen Gegenüber ganzheitlich zusammenschließende Organisation des Raumes selbstverständlich ist, merkt man, wenn man mit dem Sehen das Hören vergleicht. Wenn man die wuchtige drohende Masse nicht herbeistürzen sieht, sondern nur heranbrausen oder -zischen hört, fehlt die Gelegenheit zur fein abgestimmten Ausweichbewegung; man kann sich dann höchstens 228 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Wahrnehmung als leibliche Kommunikation mit vielsagenden Eindrücken

ducken und bei dieser unspezifischen Reaktion hoffen, die Angriffsfläche verkleinert und dadurch die Gefahr ein wenig verringert zu haben. Soldaten im Trommelfeuer und Zivilisten im Keller unter dem Bombenhagel feindlicher Terrorangriffe aus der Luft können davon erzählen. Das Hören hat seine eigenen Chancen leiblicher Kommunikation, besonders der solidarischen; rhythmisches Rufen, Klatschen, Trommeln, Tanz- und Marschmusik, gemeinsamer Gesang schließen die Leiber spürbar unter einer dichten und oft hitzigen Stimmungsglocke zusammen. In antagonistischer leiblicher Kommunikation, d. h. bei der reagierenden Auseinandersetzung mit einem Partner, ist das Hören dem Sehen dagegen unterlegen. Was hat das Sehen ihm als Quelle solcher Überlegenheit voraus? Es ist der Blick, der keine gedachte Linie von der Netzhautgrube zu einem Blickpunkt oder gar, wenn man einem Mitmenschen ins Auge sieht, zu dessen Netzhautgrube ist, sondern eine leibliche Regung, die am eigenen Leib gespürt wird – sogar als sogenannter, aus dem optischen Feld abgezogener »Blick nach innen«, wenn man sich konzentriert – und am fremden Leib als Anschlag auf Dominanz wahrgenommen wird, wenn der Blick einen trifft; aber auch sonst sieht man den Blick als leibliche Regung des Anderen und weiß daher merkwürdig genau, wohin er blickt, auch ohne umständliches Untersuchen seiner Augenstellung. 1 Der Blick ist der Kanal oder Fühler, mit dem das sehende Wahrnehmen das wahrgenommene räumliche Feld so ganzheitlich organisiert, dass es außer dem Gesehenen den gespürten eigenen Leib umfasst und diesem dadurch eine unwillkürliche, fein angepasste Abstimmung seiner Bewegung auf das Gesehene ermöglicht. Wie kommt der Blick, der beim Hören kein Gegenstück hat, zu dieser räumlich organisierenden Kraft? Um diese Frage zu beantworten, muss ich vom motorischen Körperschema sprechen. Die räumliche Orientiertheit des Menschen am eigenen Körper hat zwei sehr unterschiedliche Systeme zur Verfügung: das perzeptive und das motorische Körperschema. Das perzeptive Körperschema ist das habituelle, aus Erfahrungen des Sehens und Tastens gewonnene Vorstellungsbild vom eigenen Körper. Wenn man z. B. mit geschlossenen Augen sitzt, kann man sich gewöhnlich ohne Mühe vergegenwärtigen, wie die verschiedenen Körperteile zu einander liegen Vgl. James J. Gibson: Die Sinne und der Prozeß der Wahrnehmung. Übers. v. Ivo Kohler u. a. Bern, Stuttgart, Wien 1973, S. 318 f. und Eino Kaila: Die Reaktionen des Säuglings auf das menschliche Gesicht. Turku 1932, S. 20.

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und was sie vermutlich zum Aussehen des Körpers beitragen. Dieses Körperschema ist über umkehrbare Verbindungsbahnen aufgebaut, an denen Lagebeziehungen und Abstände abgelesen werden können, die in Richtung und Gegenrichtung gleichberechtigt und gleich deutlich sind; der Abstand A nach B, z. B. vom Kopf zum Fuß, ist sogar gleich dem von B nach A, vom Fuß zum Kopf. Das Netz dieser Verbindungsbahnen ist zudem partikularisiert; es kann so gut wie im Ganzen in Ausschnitten abgerufen werden, indem man sich z. B. nur bis zu den Schultern oder nur Kopf und Rumpf vergegenwärtigt. Demgegenüber ist das motorische Körperschema die habituelle Orientiertheit am eigenen Körper, die zur geordneten Bewegung gehört. Es ist nicht wie das perzeptive Körperschema partikularisiert, sondern ganzheitlich; denn zwar kann sich die Eigenbewegung gelegentlich, z. B. beim Schreiben in sitzender Haltung, auf einzelne Körperteile konzentrieren, aber auch dann macht der ganze übrige Körper in unauffälliger Bewegtheit geordnet ständig mit, und das Normale ist die den ganzen Körper überlaufende Eigenbewegung, die nur durch absichtliche Beschränkung auf spezielle Beschäftigungen von einzelnen Gliedern abgezogen und auf einige beschränkt wird. Der wesentliche Unterschied des motorischen Körperschemas vom perzeptiven besteht aber darin, dass es nicht über umkehrbare Verbindungsbahnen organisiert ist, sondern über unumkehrbare Richtungen. Weil es ganzheitlich durchformt ist, bedarf es im Gegensatz zum perzeptiven Körperschema einer Bezugsstelle, gleichsam eines zentralen Nullpunktes, von wo aus der Peripherie ihre räumliche Bestimmtheit im motorischen Verhalten zugewiesen wird. Besonders wichtig ist dabei z. B. die Unterscheidung von rechter und linker Hand. Rechts und links sind relativ, rechts und links von etwas; wäre aber die rechte Hand nur relativ zur linken rechts, die linke nur relativ zur rechten links, so wären beide Bestimmungen beliebig austauschbar, z. B. durch Drehung des Hinblicks um 180 Grad. Dass die rechte Hand an sich und beständig rechts, die linke Hand an sich und beständig links ist, kann nur von einer Bezugsstelle her bestimmt werden, die gleichsam den Blickwinkel feststellt und in dessen Scheitel sitzt. Wo aber steckt diese Bezugsstelle? Befände sie sich z. B. beim Autofahren mit abgewinkeltem rechtem Arm am Steuerrade im rechten Ellenbogen, dann wären beide Hände links, und die Rechts-Links-Unterscheidung könnte sie nicht mehr trennen. Ebenso steht es mit Oben und Unten. Wenn die Bezugsstelle im Schienbein säße, wäre das motorische Verhalten der Illusion eines riesigen Oberkörpers und winzigen Unter230 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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körpers ausgesetzt, und der Mensch würde durch falsche Gewichtsverteilung bei der Bewegung stürzen. Wo sitzt die Stelle aber wirklich? Das wird im motorischen Verhalten niemals deutlich. Manche Psychologen haben sich darüber Gedanken gemacht, aber es bleiben Grübeleien, bestenfalls detektivische Kunststücke ohne unmittelbare Evidenz. Dabei ist es ganz leicht, vom Zentrum des motorischen Körperschemas, wenn ich mich so ausdrücken darf, die Peripherie zu finden; im motorischen Verhalten sind wir ohne Weiteres darüber orientiert, was rechte und linke Hand, rechter und linker Fuß ist, und dass die Füße weiter weg sind als die Kniee. Dagegen ist es unmöglich, in der Einstellung des motorischen Verhaltens von der Peripherie her das Zentrum zu finden, gleichsam das Dirigentenpult, von wo das Orchester die Einsätze erhält. Es befindet sich an einem streng absoluten, im motorischen Körperschema nicht durch räumliche Verhältnisse bestimmten Ort. Von da her wird das motorische Körperschema nicht durch umkehrbare Verbindungsbahnen mit daran ablesbaren Lagen und Abständen aufgespannt, sondern durch Richtungen, die unumkehrbar aus der Enge in die Weite führen. Es orientiert daher nicht über Lagen, sondern über Gegenden, und nicht über Abstände, sondern über Entfernungen, die sich von Abständen dadurch unterscheiden, dass sie nicht umkehrbar sind. Von dieser Struktur kann man sich auch ganz konkret und nicht nur durch Überlegung überzeugen. Wenn ein Jucken oder Brennen an einer Hautstelle ein störendes Insekt oder dergleichen zu verraten scheint, fährt die dominante Hand wie aus dem Nichts präzis dorthin, um den Störenfried zu zerquetschen oder zu vertreiben; man braucht sie nirgendwo zu suchen, geschweige denn ihren Abstand und ihre Lage zu der gereizten Stelle zu bestimmen, sondern sie fällt in das motorische Körperschema gleichsam ein und eilt auf einer seiner Richtungen schnurstracks zu der durch den Reiz frisch gebildeten Leibesinsel, die wie die Hand selbst absolut und nicht durch Lage und Abstand relativ örtlich bestimmt ist, weil sie im perzeptiven Körperschema gar nicht vorgesehen ist. Wenn man nach der gereizten Stelle nicht greifen, sondern nur darauf zeigen soll, dauert es länger; dann setzen Suchbewegungen zur Bestimmung von Lagen und Abständen ein, weil vom motorischen Körperschema auf das perzeptive umgeschaltet werden muss. Der Blick ist selbst eine der Richtungen des motorischen Körperschemas, die unumkehrbar aus der Enge in die Weite führen und ebenso der zielgerichteten Eigenbewegung beim Gehen, Greifen usw. 231 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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wie den Gebärden die Bahnen vorgeben, in die sich die Bewegung einschmiegt. Dass der Blick zum motorischen Körperschema gehört, erkennt man an der bruchlosen motorisch-optischen Koordination bei geschickten Ausweichbewegungen aller Art, z. B. der vorhin beschriebenen bei drohender Näherung einer wuchtigen Masse. In der Großstadt hasten die Menschen oft auf engem Raum dicht an einander vorbei, ohne sich zu reiben; ein flüchtiger Blick auf den Nebenmenschen genügt, um Schulter und Arm so weit einzuziehen, dass man haarscharf an ihm vorbeikommt, ohne der eigenen Schulter, dem eigenen Arm die mindeste Beachtung zu schenken. Der Blick und die betreffenden Körperteile wirken dann ebenso zusammen, wie die verschiedenen Körperteile beim Abfangen eines drohenden Sturzes durch geschicktes Ausbalancieren mit angepassten Änderungen der Haltung und Gewichtsverteilung. Das ist eine instinktive Meisterleistung des motorischen Körperschemas von gleicher Art wie die optisch-motorische Koordination. Das motorische Körperschema ist auf viele Weisen expansiv, z. B. beim Umgang mit Instrumenten, die es mit seinen Richtungen so durchdringt, dass der Klavierspieler, der Maschinenschreiber, der Autofahrer usw. ihre Werkzeuge wie die eigenen Glieder beherrschen, ohne sich an Lagen und Abständen orientieren zu müssen, ebenso, wie überhaupt alle flüssige Eigenbewegung dem Übergang zur richtungsräumlichen Orientierung im motorischen Körperschema verdankt wird und stümperhaft bleibt, solange man sich an Lagen und Abständen orientiert und also die betreffende Bewegungsweise (Tanzen, Schwimmen, Laufen, Schreiben, Radfahren, Klavierspielen usw.) noch nicht beherrscht. Die weiteste Expansion erreicht das motorische Körperschema aber durch den Blick. Dennoch ist dieser nicht allein das, was das räumliche Feld so einheitlich durchorganisiert, dass das Gesehene und der bloß gespürte eigene Leib bruchlos zusammengeschlossen werden. Die vorhin besprochene spontane Geschicklichkeit der Ausweichbewegung bei drohender Näherung einer wuchtigen Masse kann deutlich machen, was dem Blick zur Hilfe kommt. Die Bewegung richtet sich nicht nur nach der Erfassung des Gegenstandes, z. B. des fallenden oder geworfenen Steins, mit dem Blick, erst recht nicht nach rationaler Berechnung des Bevorstehenden, sondern nach Bewegungssuggestion, die der Blick von dem bewegten Gegner gleichsam auffängt. Jede Gebärde ist mit einer solchen Bewegungssuggestion beladen, manchmal sehr stark, auch wenn die Bewegung selbst gering ist. So gilt es als unschicklich, auf einen nahen 232 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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Mitmenschen mit dem Finger zu zeigen, obwohl die kleine Bewegung harmlos ist; sie ist aber mit einer Bewegungssuggestion beladen, die wie ein Dolch den Adressaten aufspießt und besonders peinlich wird, wenn von allen Seiten Leute auf einen Menschen mit dem Finger zeigen. Alle gesehenen Gestalten, ruhende und bewegte, ja auch die Bewegungen selbst, sind mit Bewegungssuggestionen beladen, die sie dem sie auffangenden Blick eindrücken, so dass das unwillkürliche Sehen zur leiblichen Kommunikation wird, da die betreffenden Bewegungssuggestionen sowohl an Gestalten wahrgenommen wie am eigenen Leib gespürt werden können. Solche leibliche Kommunikation kann sich zum vielstimmigen Konzert ausweiten. Auf den dicht bevölkerten Gehwegen großer Städte hasten die Menschenmengen allabendlich in Gegenrichtung an einander vorbei, ohne sich anzurempeln oder in die Arme zu laufen; dennoch muss jeder, um glatt vorbeizukommen, den bevorstehenden Kurs nicht nur des nächst Begegnenden, sondern auch den der dahinter und seitlich Auftauchenden berücksichtigen, um nicht, indem er dem einen ausweicht, mit den anderen zusammenzustoßen. Für das Durchkommen genügen flüchtige, achtlose Blicke gleichgültiger Passanten, von denen jeder nur sein eigenes Ziel im Sinne hat. Ein Netz oder Konzert von Blicken spannt dann ein einheitlich durchorganisiertes räumliches Feld auf, in dem sich jeder Teilnehmer geschickt bewegen kann. Es ist das Feld in einander greifender motorischer Körperschemata, zu denen jeweils ein Blick gehört, der zwar als leibliche Regung vom Typ der Richtung unumkehrbar aus der Enge in die Weite führt, aber für entgegenkommende Bewegungssuggestionen, die durch ihn in den spürbaren Leib übertragen werden, fein empfänglich und anpassungsfähig ist. Auf dieselbe Weise gelingt es dem Sehen einer drohend sich nähernden Masse, in der vorhin beschriebenen Weise mehr wahrzunehmen, als was gesehen wird, und dies mit dem Gesehenen räumlich zu integrieren. Das Gesagte betrifft erst die optisch-motorische Koordination. Anders gestaltet sich im Hören der Raum. Hier fehlt der Blick als Fühler; dafür drängen sich die Bewegungssuggestionen des Schalls dem Leib viel unmittelbarer auf als die optischen, treffen und führen ihn. Das gilt besonders für den Rhythmus, der die einer eventuell von Pausen unterbrochenen Folge von Signalen ganzheitlich aufgeladene Bewegungssuggestion ist, ebenso aber für die tonalen Bewegungssuggestionen der Musik. Diese bewegt sich eigentlich nur, wenn die Schallquelle wandert; was wir in erster Linie musikalische Bewegung 233 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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nennen, das Auf und Ab der Töne und dergleichen, besteht dagegen in kurzatmigen oder weit ausgespannten Bewegungssuggestionen, die den spürbaren Leib ergreifen und führen. Tanz- und Marschmusik fahren auf diese Weise den Menschen in die Glieder und gestatten ihnen die spontane Gestaltung eines eigenen leiblichen Richtungsraumes. Das ergibt sich aus einer Beobachtung von Erwin Straus, der darauf hinweist, dass die Menschen zwar nur gehemmt und vorsichtig rückwärts gehen, wenn die Sicht fehlt, aber trotzdem mit gleicher Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit – unter Führung durch die Musik, wie ich hinzufüge – rückwärts wie vorwärts tanzen. 2 Bisher habe ich die Wahrnehmung nur als leibliche Kommunikation mit Bewegungsanmutungen durch Vermittlung des motorischen Körperschemas charakterisiert. Das ist noch viel zu abstrakt. Konkret ist die Wahrnehmung leibliche Kommunikation mit vielsagenden Eindrücken, in denen die Bewegungssuggestionen allerdings eine wichtige Vermittlungsaufgabe haben. Ich gebe dafür gern ein Beispiel, das sozusagen durch Steigerung und Auffüllung des unscheinbaren Vorgangs geschickten Ausweichens vor einer wuchtigen drohenden Masse, wovon ich ausgegangen bin, entsteht, aber gleiche Struktur hat. Der Autofahrer, der auf dicht befahrener, regennasser Straße einem drohenden Unfall nur durch augenblickliches Ausweichen, Bremsen oder Beschleunigen entgeht, muss gleichzeitig auf zwei Kanälen – optisch durch den Blick nach vorn und im Spiegel zur Seite und nach hinten, taktil und vibratorisch mit Händen und Füßen oder auch dem Rumpf, dem sein Fahrzeug durch Erschütterungen etwas von der Straßenlage mitteilt – durch leibliche Kommunikation die relevanten Sachverhalte, die Probleme drohenden Zusammenstoßes mit dem nächsten Hindernis und eventuell bei Ausweichen begegnenden weiteren Widerständen sowie die Programme möglicher Rettung, die die Situation ihm anbietet, erfassen. All das muss im Handumdrehen mit einem Schlage geschehen, denn für Überlegung mit folgendem Entschluss ist keine Zeit. Auch genügt keine routinierte, eingeübte Reflexhandlung, denn die Umstände und damit die Gelegenheiten, der Katastrophe zu entkommen, sind immer anders. Dem Autofahrer pflegt sich dann die Gefahr als ganzheitliche, einmalig und charakteristisch durchformte Situation darzustellen, zusammengehalten durch eine Bedeutsamkeit, die aus Sachverhalten, 2 Vgl. Erwin Straus: »Die Formen des Räumlichen«, in: Der Nervenarzt, Jg. 3. (1930), S. 633–656, hier S. 654.

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Wahrnehmung als leibliche Kommunikation mit vielsagenden Eindrücken

Programmen und Problemen besteht, aber nicht aus lauter einzelnen, sondern so, dass die Bedeutsamkeit im Inneren diffus, im Ganzen aber prägnant ist und durch leibliche Kommunikation erfasst und geschmeidig verarbeitet wird. Was hier erfasst und verarbeitet wird, ist ein vielsagender Eindruck in meinem Sinn, d. h. eine aktuelle impressive Situation. Ich nenne eine Situation aktuell, wenn ihr Verlauf von Augenblick zu Augenblick durch beliebig dicht gelegte Querschnitte verfolgt werden kann, und impressiv, wenn die sie integrierende Bedeutsamkeit im Augenblick ganz zum Vorschein kommt, unbeschadet ihrer Binnendiffusion. Nicht aktuelle Situationen nenne ich zuständlich, nicht impressive segmentiert. Von einer Situation spreche ich, wenn drei Merkmale erfüllt sind: 1. Ganzheit, d. h. Zusammenhalt in sich und Abgehobenheit nach außen, 2. eine integrierende, d. h. die Ganzheit erzeugende Bedeutsamkeit, bestehend aus Sachverhalten, meist auch Programmen, oft Problemen, 3. eine Binnendiffusion dieser Bedeutsamkeit in dem Sinn, dass nicht alle Bedeutungen (d. h. eben Sachverhalte, Programme und Probleme) darin einzeln sind, weil nicht durchgängig feststeht, was in der Bedeutsamkeit womit identisch und wovon verschieden ist. Von Situationen ist die gesamte Lebenserfahrung durchsetzt, und unter diesen sind die vielsagenden Eindrücke, die hintergründig von segmentierten zuständlichen Situationen mitbestimmt werden, die natürlichen Einheiten der Wahrnehmung. Manche Eindrücke sind auffällig und bleiben der Erinnerung haften, z. B. bei der Begegnung mit einem Menschen, an einem fesselnden Porträt, auf Reisen, in einer eigenartigen Naturstimmung oder beim Betreten einer Wohnung, die einem gleich kahl oder behaglich vorkommt, noch ehe man sich umgesehen hat. Die meisten Eindrücke führen unauffällig unser Verhalten. Wir leben auf einem dichten Teppich von Eindrücken, aus dem sich gelegentlich auffällige Muster abheben. Jedes Ding begegnet z. B. mit einem sinnfälligen, typischen oder auch individuellen Charakter, der eine impressive, aber zuständliche Situation ist, geladen mit Protentionen, d. h. Sachverhalten, auf die wir unwillkürlich erwartend gefasst sind, während sie sich erst bei Enttäuschung einzeln abzeichnen, ferner mit Programmen der Anziehung und Abstoßung, des Prestiges, des Gehörigen, der Brauchbarkeit usw. und manchmal mit Problemen wie Rätseln und Gefahren. Der Charakter bekleidet sich mit wechselnden Gesichtern, die aktuelle impressive Situationen sind. Ganz von Eindrücken abhängig ist unser konventionell geregeltes Sozialverhalten. Ausnahmen vom konventionsgemäß Erwarteten 235 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Wahrnehmung als leibliche Kommunikation mit vielsagenden Eindrücken

liefern in diesem Zusammenhang die auffälligen Eindrücke. Auffällig wird auch der Ausfall der unauffälligen Eindrücke, die durch ihren Gehalt an Programmen das gewöhnliche Leben mit Selbstverständlichkeit führen. So etwas erlebte eine Patientin von Blankenburg, die diesen Ausfall als den »Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit« beklagte. 3 Sie stellte sich z. B. vor die Schaufenster von Kleidergeschäften, um durch grüblerisches Einüben die Erinnerung daran zu wecken und zu schärfen, welche Kleidungsstücke für welche Zwecke passend sind; sie war glücklich, wenn das Bescheidwissen darüber bei ihr »einschnappte«, aber auf dem Nachhauseweg war es zu ihrer Verzweiflung bald wieder weg. 4 Als häufig beobachteten Zug am veränderten Erleben im Haschischrausch bezeichnen Fränkel und Joel das »zergliederte, überbetonte, stückhafte Wahrnehmen […]. Etwa so: Es ist nur der Kopf eines Menschen da oder seine Krawatte. Eine Hand wird ›handlicher‹, ein Kragen ›kragenhafter‹. Ein metallener Behälter muß weggeräumt werden, da seine überaus eindringliche Form nicht mehr ertragen werden kann.« Eine Versuchsperson beschreibt dieses gewandelte Erleben so: Die Farben der Dinge und die Zimmerwände waren ohne jeden Dunstkreis, vollkommen deutlich. […] Am Eindrucksvollsten war das Fehlen einer Schicht, die man normalerweise kaum erlebt, und die ich mir momentan nur schwer klarmachen kann. Die Dinge haben normalerweise ein Drumrum, das in ihre Vergangenheit und Zukunft hineinragt, irgendwelche weiterreichenden Beziehungen sind an ihnen. Es gehört zu ihnen also eine ganze Sphäre, der zugleich ein etwas verminderter Wirklichkeitsgrad zukommt, etwa in dem Sinne, wie die Zukunft oder das räumlich weit entfernte nicht ganz so wirklich ist, wie das räumlich Nahe und Gegenwärtige. 5

In meiner Terminologie ist diese abnorme Verschiebung des Erlebens dadurch zu bestimmen, dass die Charaktere und Gesichter von Dingen, die zuständliche bzw. aktuelle impressive Situationen sind, schärfer hervortreten, und zwar auch deswegen, weil auf der anderen 3 Wolfgang Blankenburg: Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit. Ein Beitrag zur Psychopathologie symptomarmer Schizophrenien. Stuttgart 1971, von mir besprochen in Hermann Schmitz: System der Philosophie. Band V: Die Aufhebung der Gegenwart. Freiburg, München 2019, S. 41 ff. 4 Wolfgang Blankenburg: Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit. A. a. O., S. 45. 5 Fritz Fränkel, Ernst Joel: »Beiträge zur experimentellen Psychopathologie. Der Haschischrausch«, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Band 111 (1927), S. 84–106, hier S. 91 f.

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Wahrnehmung als leibliche Kommunikation mit vielsagenden Eindrücken

Seite die zuständlichen segmentierten Situationen, die gewöhnlich diese Charaktere und Gesichter unauffällig einbetten, ausfallen oder ganz zurücktreten. Schon im normalen Erleben bilden sie einen Hintergrund, der einem nicht ganz so greifbar wirklich vorkommt, weil die Bedeutsamkeit dieser Situationen aus dem Bereich der von der Patientin von Blankenburg so genannten natürlichen Selbstverständlichkeit nicht impressiv ist, d. h. nie in einem Augenblick ganz zum Vorschein kommt. Normale Wahrnehmung ist leibliche Kommunikation mit vielsagenden Eindrücken. Dieser Zusammenhang wird schlagartig in einer weiteren Störung des normalen Erlebens bei der Wahrnehmung deutlich, nach Maßgabe eines denkwürdigen psychologischen Experiments, das leider keine Beachtung gefunden hat, davon abgesehen, dass ich es aus einer mit dem Ende des 2. Weltkrieges eingegangenen Zeitschrift ausgegraben und mehrfach ausgewertet habe. Es handelt sich um den Kleint’schen Drehstuhlversuch. 6 Kleint drehte Versuchspersonen, die die Augen schlossen, mit unterschwelliger Geschwindigkeit, so dass sie von der Drehung nichts merkten, und ließ sie dann die Augen wieder öffnen. Das Ergebnis beschreibt er so: Beim Wiederöffnen der Augen tritt eine große Verwunderung ein, oft erscheint zunächst alles diffus, verstreut, wie beim Aufwachen aus einem Traum. Die jetzt gegenüberliegende Zimmerpartie erscheint fremd, unwirklich, unecht, wie eine Kulisse usw. Manchmal ist zunächst der Eindruck eines Chaos da, Farbkomplexe ohne Konturen, die keine ›Dinge‹ und nicht auf Gegenstände bezogen sind. Das Gesehene hat weniger Abstand, gehört mehr zu einem. Nach einer Weile stellt sich die normale Orientierung mit dem normalen Eindruck der Dinge wieder ein, wobei im Übergang noch der Eindruck, in einem anderen Zimmer zu sein, die Zusammengehörigkeit der erkannten Dinge nicht zu begreifen, und ähnliches vorhanden sein kann. Das Fremdheits- und Unwirklichkeitserlebnis ist meist mit mehr oder weniger starken Gefühlen der Beklemmung, Beunruhigung, Enttäuschung, Überraschung verbunden. 7

Was ist geschehen? Das in leiblicher Kommunikation durch den Blick und begegnende Bewegungssuggestionen aufgespannte und einheitlich durchorganisierte räumliche Feld, das, wie ich vorhin ausgeführt Herbert Kleint: »Versuche über die Wahrnehmung«, in: Zeitschrift für Psychologie, Band 149 (1940), S. 31–82; vgl. dazu Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. III/1: Der leibliche Raum. Freiburg, München 2019, S. 233–235 und ders.: System der Philosophie. Bd. III/5: Die Wahrnehmung. Freiburg, München 2019, S. 34 f. 7 Herbert Kleint: »Versuche über die Wahrnehmung«. A. a. O., S. 51. 6

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Wahrnehmung als leibliche Kommunikation mit vielsagenden Eindrücken

habe, beim Sehen das Gesehene und den spürbaren eigenen Leib umfasst, ist verloren gegangen, weil es wegen der Unbemerktheit der Drehung nicht in diese mitgenommen und dabei den veränderten Umständen angepasst werden konnte. Damit ist die Orientierung in der antagonistischen leiblichen Kommunikation, die das Sehen ist, zusammengebrochen und muss in Kontaktaufnahme neu aufgebaut werden. Mit der leiblichen Kommunikation sind die vielsagenden Eindrücke, die die Charaktere der begegnenden Dinge sind, ausgefallen. Es bedarf neuen Einspielens dieser Einleibung, damit es wieder zu dem »normalen Eindruck der Dinge« kommt. Gewöhnlich versteht man die Wahrnehmung nicht in dieser Weise, sondern vernachlässigt das Leibliche und denkt nur an Körper und Seele, indem man sich vorstellt, dass physische Reize der von der Physik beschriebenen Art auf Sinnesorgane treffen, von dort durch Nerven zum Gehirn geleitet und dabei qualitativ verwandelt werden und dann mit noch stärkerer, die Reichweite der Physik verlassender Verwandlung als Sinnesdaten einen Transport vom Gehirn in das Bewusstsein oder die Seele erleiden, wo eventuell der Verstand sie so ergänzt und zurechtmacht, dass sich ein brauchbares Bild der Umgebung ergibt. Das ist eine phantastisch-chimärische Vorstellungsweise. Die physischen Reize und ihre Verarbeitung sind für die Wahrnehmung nicht mehr als eine stereotype »Begleitmusik«, die im Gehirn blind endet. Von einem Transport aus dem Gehirn in die Seele, von einer Verwandlung des Reizes in Empfindung hat noch niemand etwas beobachtet. Die Phänomenologie der Wahrnehmung muss unabhängig von der Physiologie entwickelt werden und kann nur dann der sehr wichtigen und großartigen physikalisch-physiologischen Begleitforschung vernünftige Fragestellungen vorgeben. Die herkömmliche Auffassung macht es sich zu leicht mit der Einzelheit der Reize und Sinnesdaten, die nach Art einzelner Objekte naturwissenschaftlicher Messung aufgefasst werden. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 erhöht. Anzahlen sind Eigenschaften von Mengen; ich habe definiert: »Anzahl einer Menge M ist die Eignung einer beliebigen Menge dazu, umkehrbar eindeutig auf M abgebildet zu werden.« Daher kann einzeln nur sein, was Element einer Menge ist. Mengen sind Umfänge von Gattungen. Daher kann einzeln nur sein, was Fall einer Gattung ist. Fall-sein-einer-Gattung ist ein Sachverhalt. Also kann einzeln etwas nur unter Voraussetzung von Sachverhalten sein. Das gilt natürlich auch für einzelne Sachverhalte. Wenn alle Sachverhalte einzeln wären, käme es also zu einem regressus ad 238 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Wahrnehmung als leibliche Kommunikation mit vielsagenden Eindrücken

infinitum, und der Mensch, der unfähig wäre, diesen ganz zu durchlaufen, käme nie zu etwas Einzelnem. Daher muss es Sachverhalte auch in binnendiffuser Mannigfaltigkeit, ohne Vereinzelung, geben als Voraussetzung dafür, dass überhaupt etwas einzeln von Menschen gefunden werden kann, und wenn diese Mannigfaltigkeit ganzheitlich geschlossen und eventuell durch Programme und Probleme ergänzt wird, ergibt sich die Bedeutsamkeit von Situationen. Diese Voraussetzung verkennt die der gewöhnlichen Wahrnehmungslehre zu Grunde liegende Ontologie im Zeichen der Denkfehler des Nominalismus, des Projektionismus und des Konstellationismus, die darin zusammenwirken, die primäre Bedeutsamkeit der Situationen in etwas Nachträgliches umzudeuten. Der Nominalismus bestreitet die Existenz von Gattungen; der Projektionismus fasst Bedeutsamkeit als Produkt einer »Sinngebung des Sinnlosen« 8 auf, wie Theodor Lessing die Geschichte; der Konstellationismus verleugnet die binnendiffuse Mannigfaltigkeit und ersetzt sie durch eine Konstellation einzelner Faktoren. Diesen drei Gebrauchsanweisungen für rationalisierende Überformung der Lebenserfahrung muss man entgegenhalten: Nichts ist von selbst einzeln; einzeln ist etwas nur als etwas, durch seine Bestimmtheit als Fall einer Gattung, und diese Abhängigkeit führt auf die primäre Bedeutsamkeit der Situationen. Vor der beliebigen Ausstreuung der Einzelheit als Weltform, wodurch alles zum Gegenstand wird, steht mit engerem Horizont die dialogische Struktur der leiblichen Dynamik und leiblichen Kommunikation, worin Situationen entspringen. Leibliche Kommunikation gibt es schon am eigenen Leib, noch vor dessen Überschreitung in der Wahrnehmung. Ein Beispiel ist der Schmerz, der sowohl eigener leiblicher Zustand als auch ein dem eigenleiblichen Spüren entgegentretender Widersacher ist; wegen dieser Ambivalenz kann man im Schmerz nicht aufgehen wie in panischer Angst, die doch nicht weniger peinlich ist, sondern muss sich mit ihm auseinandersetzen, indem man zugleich mit ihm geht. Die Wurzel dieses Antagonismus ist die Achse leiblicher Dynamik, der vitale Antrieb als eigenleiblicher Dialog von Engung und Weitung als Spannung und Schwellung. Wenn die Engung aushakt, wie im heftigen Schreck, ist der Antrieb gelähmt; wenn das Band zwischen Engung und Weitung zur Weitung hin gleichsam ausleiert, wie beim Einschlafen, erschlafft der Antrieb.

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Theodor Lessing: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. München 1919.

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Wahrnehmung als leibliche Kommunikation mit vielsagenden Eindrücken

Die antagonistische leibliche Kommunikation ist eine erweiterte Gestalt dieses innerleiblichen Dialogs von Spannung und Schwellung. Das meint nicht, sie sei nachträglich. Einzeln ist der eigene Leib nur im Gefüge leiblicher Kommunikation.

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VI. Mensch und Welt

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17. Situationen und Konstellationen

In der philosophisch reflektierenden deutschen Soziologie der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts, etwa bei Tönnies, Scheler, Vierkandt und Schmalenbach, war die Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft als zweier Haupttypen sozialer Gruppen fundamental, wobei man sich – mit Rudolf Eislers Worten in seinem Lexikon der philosophischen Begriffe von 1927 – die Gesellschaft als durch Interessen und bewusste Zwecke, Konventionen und Verträge verbundene Gesamtheit dachte, während die Gemeinschaft von mehr organischer Art sei, beruhend auf mehr oder minder umfassender Gemeinsamkeit des Denkens, Wollens und Fühlens und dadurch ermöglichter Solidarität im Sinne eines Sich-eins-fühlens im Sein und Verhalten. Die englische Sprache gestattet eine parallele Gegenüberstellung von community und society. Es sollte aber klar sein, dass es sich nicht um eine Klassifizierung sozialer Gruppen handeln kann, weil dieselbe Gruppe manchmal unter beide Begriffe fallen würde. Das nächstliegende Beispiel ist eine Familie, in der die Eltern sich auseinandergelebt haben, aber die Familiensitte noch flüssig weiterführen, während die kleinen Kinder in der Solidarität der Familie wie in einer Gemeinschaft im Sinne von Tönnies gefühlsmäßig aufgehen, im Gegensatz zu dem heranwachsenden Knaben, der nur noch einzelne Regeln des Zusammenlebens in der Familie akzeptiert, gegen deren »Geist« aber aufbegehrt. Max Weber hat das gesehen; er sprach daher vorsichtiger nur von Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung. 1 Um den guten Kern der Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft zu retten, muss man davon abgehen, an Typen sozialer Gruppen zu denken, und beide Begriffe auf Typen des Verhältnisses von Angehörigen zu sozialen Gruppen umwidmen, z. B. – im eben angeführten typischen Fall – der kleinen Kinder, des Knaben und 1

Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1976, S. 23 f.

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der Eltern zu der Familie, in der sie zusammenleben. Um dabei einen sachlich angemessenen und begrifflich präzisen Erfolg zu haben, muss ich die Begriffe der Person und der Situation heranziehen. Die Gruppenangehörigen, um die es geht (schon die Kinder nach dem Säuglingsalter), sind Personen. Eine Person ist ein Bewussthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung, etwas für sich selbst zu halten. Genauer gesagt, besteht die Selbstzuschreibung darin, einen objektiven oder neutralen Sachverhalt zu subjektivieren. Ein Sachverhalt ist objektiv oder neutral, wenn jeder ihn aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann; er ist subjektiv, wenn höchstens einer im eigenen Namen ihn aussagen kann. Subjektiv sind die Sachverhalte des affektiven Betroffenseins. Ich habe das so oft nachgewiesen 2, dass ich jetzt nicht näher darauf eingehe. Die subjektiven Sachverhalte, speziell die subjektiven Tatsachen, des affektiven Betroffenseins stehen für die Selbstzuschreibung in Schlüsselstellung, weil sie ohne Selbstzuschreibung auskommen, zugleich aber der Selbstzuschreibung fähig sind. Wenn ich z. B. von plötzlichem Schmerz oder plötzlicher Freude befallen werde, brauche ich nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass da jemand Schmerzen hat oder Freude empfindet, und den mir zuzuschreiben, indem ich mich für ihn halte, sondern längst vor diesem Umweg spüre ich, dass ich leide oder glücklich bin. Andererseits kann ich die betreffenden Tatsachen als besonnene Person mir zuschreiben und dann in einer Feststellung über mich von mir aussagen. Dann sind sie weder rein subjektiv noch ganz neutral oder objektiv, sondern liegen gleichsam in einer Grauzone des Übergangs, keineswegs schon aus der Subjektivität im angegebenen Sinn entlassen, aber doch schon so weit neutralisiert, dass ich sie einordnen und mir von ihnen reflektierend Rechenschaft geben kann. Solche Ambivalenzen habe ich durch meine Logik der unendlichfachen Unentschiedenheit vor dem Widerspruch und damit der Unglaubwürdigkeit zu schützen gesucht. 3 Die Tatsachen des affektiven Betroffenseins sind daher für die Selbstzuschreibung unentbehrliche Brücken. Fichte sagt einmal: »Ich schreibe, ich habe also eine Vorstellung vom meinem Schreiben, es schreiben aber auch andere neben mir. Woher weiß ich nun[,] daß mein schreiben nicht das 2 Vgl. z. B. Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie. Bonn 1995, S. 5–9. 3 Vgl. ders.: Der Spielraum der Gegenwart. Bonn 1999, S. 89–97, vgl. dort auch S. 97 f. über die »Grauzonen«.

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schreiben [sic!] eines andern ist?« 4 Wenn an ein Schreiben ohne alles affektive Betroffensein gedacht wird, liegt darin kein Rechtsgrund für ein solches Wissen, eben aus dem von Fichte angeführten Grund, dass auch andere schreiben, vielleicht ebenso, und das Entsprechende gilt für alle anderen Eigenschaften, die jemand (einschließlich meiner selbst) mir durch Aussage neutraler, objektiver Sachverhalte zuschreiben mag; ja selbst wenn die Liste beliebig lang wird und auch solche Merkmale umfasst, die nur auf den Hermann Schmitz, der ich tatsächlich bin, zutreffen, so steht doch diesem Hermann Schmitz als einer durch lauter neutrale Tatsachen bestimmten Sache nicht an der Stirn geschrieben, dass gerade ich er bin. Michael Großheim zitiert folgende tiefsinnige Überlegung des Mathematikers Hermann Weyl: Leibniz glaubte den Widerstreit von menschlicher Freiheit und göttlicher Prädestination dadurch zu lösen, daß er Gott unter den unendlich vielen Möglichkeiten (aus zureichenden Gründen) gewisse, zum Beispiel die Wesen Judas und Petrus, zum Dasein erwählen läßt, deren substantielle Natur ihr ganzes Schicksal bestimmt. Die Lösung mag objektiv zureichend sein, sie zerbricht aber vor dem Verzweiflungsschrei Judas: Warum mußte ich Judas sein! Die Unmöglichkeit einer objektiven Fassung dieser Frage leuchtet ein; darum kann auch keine Antwort in Form einer objektiven Erkenntnis erfolgen. 5

Judas kann die ihm von Weyl zugeschriebene Frage sinnvoll nur stellen, weil er in der Gespensterwelt aus bloß objektiven Tatsachen, in die Leibniz ihn versetzt, keinen Grund findet, sich an einen bestimmten Platz – etwa den des Judas – zu begeben. In dem Augenblick, wo sein affektives Betroffensein hinzukommt, ist es mit dieser Rat- und Grundlosigkeit vorbei. Sein Verzweiflungsschrei belehrt ihn z. B. hinlänglich darüber, dass es sich in der Tat um ihn selber handelt, und nun ist nur noch die Frage, ob es sich bei den objektiven Sachverhalten, aus denen er seine Selbstzuschreibung schöpfte, wirklich um seine eigenen Bestimmtheiten handelt, oder ob er einer Täuschung erlegen ist, indem er etwa aus einem bösen Traum erwacht und Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bd. IV/2. Kollegnachschriften 1796–1804. Hrsg. v. Reinhard Lauth, Hans Gliwitzky. Stuttgart-Bad Canstatt 1978, S. 232. 5 Michael Großheim: Politischer Existentialismus. Subjektivität zwischen Entfremdung und Engagement. Tübingen 2002, S. 20, zitierend aus: Hermann Weyl: »Erkenntnis und Besinnung (Ein Lebensrückblick)«, in: ders.: Gesammelte Abhandlungen. Hrsg. v. Komaravolu Chandrasekharan. Berlin, Heidelberg, New York 1968, S. 631–649, hier S. 645. 4

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erleichtert feststellen kann, dass er gar nicht Judas, sondern Herr Müller ist. Das neugeborene Menschenkind ist ebenso wie das Tier (abgesehen allenfalls von gewissen Menschenaffen) keiner Selbstzuschreibung fähig, also noch keine Person, aber deswegen keineswegs ohne Selbstbewusstsein in Gestalt des Sichspürens durch affektives Betroffensein, etwa so, wie wir Erwachsenen in hyperkinetischen Erregungszuständen (rasender Zorn, panische Angst, ekstatischer Tanz u. a.) und hypokinetischen Lähmungszuständen (dumpfes Brüten) uns sogar besonders eindringlich spüren, während uns die Fähigkeit zur Selbstzuschreibung abhanden gekommen ist. Dieses präpersonale Selbstbewusstsein (besser: Sichbewussthaben) wird dadurch möglich, dass Identität primitiver ist als Einzelheit und dieser vorangehen kann. 6 Identität präsentiert sich ursprünglich im elementar-leiblichen Betroffensein von Engung, gestellt zu sein in unverwechselbarer Eindeutigkeit, abgerissen vom Dahinleben und Dahinwähren in gleitender Dauer ohne Einschnitte. Das ist der Schreck in allen seinen Formen, der die bewusstlose oder dösende Ergossenheit in Dauer und Weite zur Enge des Leibes zusammenreißt, an die sich der vitale Antrieb, die Achse der von mir vielfach analysierten leiblich spürbaren Dynamik, mit konkurrierend ineinander verschränkten Tendenzen der Engung und Weitung anschließt, und zwar keineswegs solipsistisch, sondern von vorn herein in leiblicher Kommunikation, so dass verschiedene Engen und vitale Antriebe in antagonistischer oder solidarischer Einleibung zusammengeschlossen sind. Auf dieser präpersonalen Stufe gibt es also durchaus schon Identität und Verschiedenheit, selbes und anderes, aber keineswegs Einzelnes. Einzeln ist, was als Element einer endlichen Menge deren Anzahl um 1 vermehrt; da Mengen Umfänge von Gattungen sind, kann etwas einzeln nur als Fall einer Gattung sein, d. h. unter irgendeinem Gesichtspunkt, der für Subsumtion in Frage kommt. Dazu bedarf es einzelner Sachverhalte des Fallseins und einzelner Gattungen, die auch Sachverhalte sind; statt dessen stehen dem präpersonalen Erleben nur ganze Situationen zur Verfügung, die sich in leiblicher Kommunikation bilden und umbilden und durch oft hoch intelligente Anpassungsleistungen verarbeitet werden. Eine Situation in hier gemeintem Sinn ist cha6 Vgl. Hermann Schmitz: Der Spielraum der Gegenwart. A. a. O., S. 56–63 und die weiter entwickelte Gegenüberstellung von Identität und Einzelheit in ders.: Was ist Neue Phänomenologie? Rostock 2003, S. 112–132.

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rakterisiert durch Ganzheit (d. h. Zusammenhalt in sich und Abgehobenheit nach außen), ferner eine integrierende Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen und eine Binnendiffusion dieser Bedeutsamkeit in der Weise, dass die in ihr enthaltenen Bedeutungen (d. h. Sachverhalte, Programme, Probleme) nicht sämtlich – im präpersonalen Erleben überhaupt nicht – einzeln sind. Die Ganzheit einer Situation zieht keineswegs notwendig Einzelheit nach sich. Man erkennt das etwa am Beispiel der Gefahrensituationen, die Menschen und Tiere mit spontaner leiblicher Intelligenz ohne Explikation einzelner Bedeutungen aus der ganzheitlich erfassten Bedeutsamkeit virtuos bewältigen. Ein glänzendes Beispiel ist die Leistung des Autofahrers, der auf regennasser, dicht befahrener Straße einem drohenden Unfall durch geschicktes Ausweichen, Bremsen oder Beschleunigen schlagartig entgeht. Er hat die Situation ganzheitlich erfasst und bewältigt, oft präpersonal, ohne sich zu besinnen, aber erst im Rückblick aus personaler Perspektive wird sie ihm zum einzelnen Ereignis, das er zählend einer Menge (z. B. von Ereignissen, besonders von Gefahren) anreiht, so dass es die Anzahl dieser Menge um 1 vergrößert. Im engenden affektiven Betroffensein ist Identität, verschmolzen mit Subjektivität (dass es sich um mich selber handelt, entsprechend für Andere), nebst Verschiedenheit also schon präsent, und sie entfalten sich im Umgang mit Situationen durch leibliche Dynamik und leibliche Kommunikation auf der Achse des vitalen Antriebs zur binnendiffusen Bedeutsamkeit subjektiver Sachverhalte, Programme und Probleme. Der Weg zur Person wird aber erst eingeschlagen, wenn sich die Identität durch die Bestimmtheit als Fall einer Gattung zur Einzelheit ergänzt. An erster Stelle steht dabei das Hervortreten einzelner Bedeutungen aus der binnendiffus-ganzheitlichen Bedeutsamkeit der Situationen. Dazu kommt es mit Hilfe der satzförmigen Rede, die im Gegensatz zu den Rufen und Schreien der Tiere und Säuglinge, die nur ganze Situationen wecken, mit Bedeutsamkeit füllen und diese abwandeln, einzelne Sachverhalte, einzelne Programme, einzelne Probleme aus ganzheitlichen Situationen herausholt und, um diese analytisch zu meistern, dem personalen Menschen zur Verfügung stellt. Wenn solche Vereinzelung von Bedeutungen gelungen ist, kann auch deren Objektivierung einsetzen. Ein suggestives Beispiel des Zusammengehens der Vereinzelung und der Objektivierung von Bedeutungen, namentlich von Tatsachen, ist die Enttäuschung. Das kleine Kind lebt zunächst in Situationen mit bloß für 247 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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es subjektiver Bedeutsamkeit im angegebenen Sinn von »subjektiv«, den ich stillschweigend von den Sachverhalten auf die Programme und die Probleme ausgedehnt habe. Diese Situationen sind voller Protentionen, d. h. unwillkürlich erwarteter Sachverhalte, die vor einer Überraschung oder Enttäuschung nicht einzeln hervortreten. Sowie sich aber nach dem Säuglingsalter diese frühe Zuversicht an einer Enttäuschung bricht, springt aus dem binnendiffusen Hof der Protentionen mindestens ein einzelner Sachverhalt heraus: Man merkt, was man erwartet hatte, weil es ausbleibt. An dessen oder deren Stelle treten weitere einzelne Sachverhalte, nämlich die harten Tatsachen, mit denen man sich nun abfinden muss. Beide Gruppen von Sachverhalten, die dementierten und die dementierenden, werden mehr oder weniger fremd; sie gehören nicht mehr so zu dem, woran man mit affektivem Betroffensein hängt, und die Subjektivität fällt von ihnen mindestens schrittweise ab; diese Neutralisierung reißt unter Umständen ganze Massen binnendiffuser Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen mit. Die Enttäuschung ist nicht der einzige Weg zur Neutralisierung, die mit den einzelnen Bedeutungen auch einzelne Sachen, die vermöge solcher Bedeutungen als etwas subsumiert und damit vereinzelt werden, in ein Licht von Fremdheit taucht. Gewöhnlich setzt dieser Prozess beim Kind in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres ein. Er ist der Weg zur Person mit einer Persönlichkeit. Das ist so zu verstehen: Im Prozess der Neutralisierung laufen die subjektiven Bedeutungen in Grauzonen des Übergangs zu objektiven gleichsam aus, und die Selbstzuschreibung ist die Resubjektivierung, womit der Mensch (zunächst das Kind) sich dagegen wehrt, dass alles für ihn in gleichmäßige Neutralität versinkt, so dass er selbst nichts mehr davon wäre (auch nicht der durch objektive Tatsachen bestimmte Mensch, der er ist, d. h. für den er sich halten kann, solange die Selbstzuschreibung über die Brücke des affektiven Betroffenseins gelingt). Da aber die Objektivierung vom affektiven Betroffensein und der Selbstzuschreibung aufgehalten wird, hebt sich der werdenden Person, die zum nicht mehr bloß identischen, sondern auch einzelnen Subjekt geworden ist, eine Zone ganz oder überwiegend für sie subjektiver Bedeutsamkeit von dem in neutrale Bedeutsamkeit entlassenen Fremden ab, und das ist die Keimzelle ihrer Persönlichkeit, genauer: ihrer persönlichen Situation, die sie fortan als Hülle und Partner zugleich umgibt und mit sich konfrontiert, durch Prozesse der personalen Emanzipation und Regression aus bzw. in präpersonales affektives Betroffensein, der Explikation 248 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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und Implikation in Auseinandersetzung mit begegnenden Situationen sich lebenslang fortwälzend; die Offenheit für das Begegnende stammt aus der Ambivalenz, mit der die Person ihre persönliche Situation, so sehr ihr diese auch Hülle und Partner ist, in präpersonaler leiblicher Dynamik und Kommunikation zugleich unterläuft. 7 Dabei bilden sich um die persönliche Situation herum gemeinsame Situationen, in die jene mehr oder weniger eintaucht. Mit diesen gemeinsamen, die persönliche Situation berührenden oder einbettenden Situationen will ich mich nun beschäftigen. Sie sind teils aktuell, so dass sich ihr Verlauf in beliebig dichten zeitlichen Querschnitten verfolgen lässt, teils zuständlich, d. h. auf längere Frist in der Weise angelegt, dass es immer erst nach geraumer Zeit sinnvoll ist, zu fragen, wie sich die Situation inzwischen entwickelt hat. Eine aktuelle Situation ist z. B. ein Gespräch, d. h. ein Unternehmen, in dem mehrere Menschen miteinander durch Sagen und Verschweigen herauszufinden suchen, was in dieser Situation und der großen Masse sie umgreifender und durchdringender aktueller und zuständlicher Situationen gerade dazu ansteht, als einzelner Sachverhalt, einzelnes Programm oder einzelnes Problem expliziert zu werden. Eine zuständliche Situation ist z. B. die persönliche Situation; es wäre sinnlos, in kurzen Abständen nachsehen zu wollen, was etwa von Minute zu Minute aus der Persönlichkeit einer Person geworden ist, während man nach längerer Zeit darauf gespannt sein kann. Die persönliche Situation kann zwar auch in aktuelle Situationen eingehen, z. B. in ein berauschendes oder erhebendes, den Menschen ganz mitreißendes Ereignis, aber mit viel durchgreifenderer Macht und regelmäßig wird sie gehalten von gemeinsamen zuständlichen Situationen, aus denen sie hervorwächst oder in die sie eingeht. Zu diesen gemeinsamen zuständlichen Situationen kann sie sich auf zwei Weisen verhalten: entweder so, dass sie in die aufnehmende Situation tief eingewachsen oder eingepflanzt (implantiert) ist, so dass eine Ablösung nur unvollständig möglich ist oder wenigstens tiefe Wunden reißt, oder so, dass nur ein lockeres, ziemlich leicht lösbares Verhältnis von Einfassung und Einpassung besteht. Im ersten Fall spreche ich von einer implantierenden, im zweiten von einer includierenden Situation. Den Unterschied kann man sich leicht am Spracherwerb klar7 Vgl. ders.: System der Philosophie. Band IV: Die Person. Freiburg, München 2019, S. 287–473; ders.: Der Spielraum der Gegenwart. A. a. O., S. 106–136 und ders.: Was ist Neue Phänomenologie? A. a. O., S. 155, 170–173.

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machen. 8 Das kindliche Lernen der Erstsprache, der sogenannten Muttersprache, unterscheidet sich vom Erlernen einer Fremdsprache durch den Erwachsenen als unwillkürliches Hineinwachsen in die Sprache als eine zuständliche Situation, die als ganzheitlich-binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Programmen und von diesen programmierten Sachverhalten besteht. Die Programme sind Rezepte dafür, wie man Sachverhalte, Programme, Probleme darstellen und eventuell mit der Darstellung weiterer Zwecke verbinden kann: die sogenannten Sätze, die Regeln wie die Kochrezepte sind, nur dass diese im Kochbuch einzeln nebeneinander stehen, während der Könner die gekonnte Sprache mit einem Schlage innehat, nicht als ein Inventar Stück für Stück, so wenig wie der kompetente Autofahrer in der Gefahrensituation auf regennasser, dicht befahrener Straße die relevanten Sachverhalte, die unmittelbaren und beim Ausweichen hinzukommenden Probleme und die Programme möglicher Rettung einzeln zur Kenntnis zu nehmen braucht, um angemessen zu reagieren. Die Sätze programmieren Sachverhalte, dass so gesprochen wird, falls es beliebt, sich der betreffenden Sprache zu bedienen, oder dies unwillkürlich geschieht; es kommt nicht darauf an, ob diese Sachverhalte jemals zu Tatsachen werden. Der Sprecher gehorcht dem Satz oder der Satzfolge, die er fast immer nicht wählerisch, sondern mit unwillkürlicher Einleibung in die Sprache, gleich der des geübten Klavierspielers in sein Instrument, aus der Sprache herausgreift, und er neigt dazu, sich zu korrigieren, wenn sein Gehorsam ernstliche Mängel aufweist, wenn er sich »verhaspelt«. Der frühkindliche Spracherwerb setzt eine die persönliche Situation des Kindes implantierende Situation voraus, aus der diese persönliche Situation hervorwächst und in die sie hineinwächst; die nackte Sprache genügt nicht, sondern das Kind findet sich in ihr nur deshalb zwanglos zurecht, weil es in seiner Lebenswelt – einem Geflecht ineinander verschachtelter und einander durchkreuzender Situationen – zu leben lernt und darin die Sprache wie vom Boden dieser Lebenswelt teils unwillkürlich, teils mit ergänzender Anstrengung und Nachhilfe, aufliest. Der Fremdspracherwerb, der nur auf der Grundlage einer bereits erworbenen Muttersprache möglich ist, setzt dagegen mit stümperhaftem Üben in einzelnen Schritten ein, bis eine Schwelle erreicht ist, von der ab

Ders.: System der Philosophie. Bd. V: Die Aufhebung der Gegenwart. Freiburg, München 2019, S. 66–74.

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auch die fremde Sprache als binnendiffus-ganzheitliche Bedeutsamkeit aus Sätzen geläufig gebraucht werden kann, ohne sich an einzelne Regeln halten zu müssen; in gleicher Weise erwirbt die Person nach der frühen Kindheit motorische Kompetenzen, z. B. für Schwimmen, Tanzen, Schreib- und Musikinstrumente. Eine so absichtlich und schrittweise erworbene Kompetenz pflegt ein loseres Verhältnis der persönlichen Situation zu der durch die Kompetenz angeeigneten hervorzubringen; diese wird dann im Verhältnis zur persönlichen Situation des Kompetenten zu einer diese bloß includierenden, nicht auch implantierenden Situation. Entsprechende Unterscheidungen, wie hier am Spracherwerb und seinen Folgen, kann man immer machen, wenn Menschen mit mehr oder weniger Erfolg sich Kompetenz für gemeinsame zuständliche Situationen erwerben. Hiermit wird nun die Antwort auf die anfängliche Frage leicht, wie sich Gemeinschaft und Gesellschaft nach den Vorgaben der deutschen Soziologie der zwanziger Jahre (bzw. »community« und »society« als englische Äquivalente) bei Umdeutung in Verhältnisse von Angehörigen zu sozialen Gruppen unterscheiden lassen: Eine soziale Gruppe ist für eine ihr angehörige Person eine Gemeinschaft, wenn sie für den Betreffenden von einer gemeinsamen Situation erfüllt ist, die seine persönliche Situation implantiert, und eine Gesellschaft, wenn unter den die Gruppe erfüllenden gemeinsamen Situationen keine solche implantierende, wohl aber eine seine persönliche Situation includierende vorkommt. Nach dem Gesagten ist es selbstverständlich, dass kein Mensch, der überhaupt flüssig sprechen lernt, ohne implantierende Situationen auskommt. Man braucht also, solange die Menschheit nicht ins Stottern gerät, das Aussterben implantierender Situationen nicht zu fürchten. Was man aber sehr wohl zu fürchten hat, ist ein seit langem vorbereiteter und eingeleiteter Zug der Zeit, der unter dem Diktat herrschender Meinungen im Dienst eines vermeintlichen Fortschritts zur Abkehr von der Sorge für implantierende Situationen und zum Versuch ihrer zunehmenden Zersetzung führt, zunächst zu bloß noch locker includierenden Situationen und dann weiter zu bloßen Vereinen, in denen die ganzheitlich-binnendiffuse Bedeutsamkeit, die eine soziale Gruppe für einen Angehörigen zur Gemeinschaft oder Gesellschaft macht, in lauter einzelne Regeln aufgelöst ist, auf die sich die Angehörigen, möglichst an Hand eines Registers gerichtsfähiger Paragraphen, im eigenen Interesse berufen können, ohne auf gemeinsame zuständliche Situationen, die sie verbinden, Rücksicht nehmen zu müssen. 251 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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Dieser Konstellationismus, der die Situationen in Konstellationen oder Vernetzungen einzelner Faktoren aufzulösen trachtet, ist sehr modern, als allgemeine Weltanschauung allerdings illusorisch, weil die Menschen der Situationen bedürfen, um überhaupt einzelne Faktoren zu finden. Etwas kann, wie schon gezeigt wurde, einzeln nur sein durch eine Bedeutung als Fall von etwas. Wenn nun jede solche Bedeutung wieder einzeln sein müsste, würde sich eine undurchlaufbare unendliche Kette des Fallseins von etwas als Voraussetzung des Findens von irgend etwas Einzelnem ergeben: Etwas wäre ein Fall von etwas, dieses ein Fall von etwas Zweitem, dieses von etwas Drittem usw. ad infinitum. Menschen kämen nie an etwas Einzelnes heran. Dass die Kette auch nicht so leicht zum Kreis umgebogen werden kann, habe ich anderswo gezeigt. 9 Tatsächlich gehört zum Einzelnsein nur beim ersten Schritt der Subsumtion ein einzelner Sachverhalt des Fallseins und eine einzelne (sachverhaltliche oder auch programmatische oder problematische) Gattung, wovon das Einzelne ein Fall ist; von da ab kann allmählich offenbleiben, um welche Gattungen aus einem diffusen, nicht in lauter Einzelnes durchgegliederten Vorrat von Bedeutungen es sich handelt, und konkret liegen solche Vorräte hauptsächlich in der binnendiffus-ganzheitlichen Bedeutsamkeit von Situationen. Insofern ist an eine Verzehrung der Situationen durch Konstellationen nicht zu denken. Auf der anderen Seite steht es den Menschen zu, Situationen explizierend aufzuspalten und aus ihnen Konstellationen zu gewinnen, mit deren Hilfe die Situationen mehr oder weniger rekonstruiert und auf menschliche Weise beherrscht werden können. Es kommt dabei darauf an, durch geschickte Auswahl der explizierten einzelnen Bedeutungen sich ein passendes Modell, ein Bild der Lage zu machen, das den Zugriff erlaubt, die Situation gleichsam in die Hand zu nehmen, mit ihr fertig zu werden. Auf diese Weise werden die Menschen den Tieren überlegen, denen sie in anderer Beziehung nachstehen; ihre wichtigste Waffe ist dabei die satzförmige Rede, die ihnen erlaubt, aus der binnendiffusen, ganzheitlichen Bedeutsamkeit einzelne Sachverhalte, Programme, Probleme herauszuholen und zu kombinieren. Das kann man ihnen nicht verdenken; anders könnten sie schwerlich überleben. Ganz anders ist aber der Drang zu beurteilen, sich über Situationen möglichst hinwegzusetzen und nur noch in 9 Vgl. ders.: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. Bonn 1994, S. 44 und ders.: Der Spielraum der Gegenwart. A. a. O., S. 43.

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Konstellationen zu leben. Die Wurzeln und das Wuchern dieser falschen Tendenz habe ich in einem Buch bis in die Antike und von da über das christliche Jahrtausend (312–1303), die spätmittelalterliche »devotio moderna«, die Reformation u. a. und die Aufklärung bis hin zum Ersten und Zweiten Weltkrieg analytisch verfolgt. 10 In unserer Zeit droht sie in immer rascherem Tempo überhand zu nehmen. Schuld daran hat einerseits das Leitbild der modernen Technik, die Maschine, die durch Vernetzung einzelner Bauteile konstruiert wird, andererseits und hauptsächlich aber eine soziale Tendenz zum Konstellationismus, die ich im eben angeführten Buch als die autistische Verfehlung des abendländischen Geistes bezeichnet habe: die Tendenz zur Isolierung und Nivellierung der Individuen durch Auflösung implantierender Situationen zu Gunsten vermeintlicher Selbstbestimmung des Einzelnen – als ob diese nicht viel besser durch Einpflanzung der persönlichen Situation in eine implantierende, die gleich der Muttersprache dem eigenen Wollen ein breites Spektrum von Möglichkeiten zur Auseinandersetzung und Gestaltung anbietet, gefördert würde. In jenem Buch habe ich die namentlich in der Geschichte des Christentums gelegenen Gründe untersucht, die dazu geführt haben, dass sich die moderne Aufklärung seit dem 18. Jahrhundert von der antiken (seit Xenophanes und der Sophistik) gerade durch diese autistische Verfehlung unterscheidet, kenntlich am Bündnis der Aufklärung mit dem Privatkapitalismus (beispielshalber in der Person Voltaires). Der Geist dieser Aufklärung kondensiert in der berühmten Parole der Französischen Revolution, die damals im Club des Cordeliers geprägt und später im zweiten Kaiserreich zur Staatsdevise erhoben wurde: »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«. Das klingt sehr schön, aber bei näherer Betrachtung erweist sich das in diesen Worten plakatierte Programm als brüchiger Ersatz für das Opfer der Haltung von Persönlichkeiten in implantierenden Situationen. Zunächst einmal ist das Ideal öffentlicher Gleichheit aller in sich widerspruchsvoll und daher undurchführbar; denn zur Aufrechterhaltung solcher Gleichheit bedarf es einer Elite von Gleichheitswärtern, die eo ipso den Beaufsichtigten ungleich sind. Das gilt erst recht, wenn die gewünschte Gleichheit bloß als Chancengleichheit verstanden wird, denn diese muss im Lauf des Lebens öfters wiederhergestellt werden, und dazu bedarf es der Gleichheitswärter. Weiter

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Vgl. Hermann Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. Bonn 1999.

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kollidieren die Ideale der Freiheit und Gleichheit, da die Menschen sich nicht bloß nebeneinander, jeder in seiner Kammer, sondern nur gegeneinander entfalten können. Zur Schlichtung dieses Konfliktes beruft die Parole die Brüderlichkeit, die aber kein unparteiischer Schlichter sein kann, da sie zur Partei der Gleichheit gehört; denn Brüder sind als Generationsgenossen gleich, und Brüderlichkeit ist eine symmetrische Relation. Sie gibt deswegen keinen Maßstab dafür an die Hand, was vorgezogen werden soll, wenn Freiheit und Gleichheit kollidieren. Der Nomos einer implantierenden Situation, d. h. der ihrer binnendiffusen Bedeutsamkeit einwohnende Programmgehalt, liefert Maßstäbe für Bevorzugung und Benachteiligung bei Kollision unverträglicher Ansprüche; der solche Maßstäbe nivellierenden Brüderlichkeit, ähnlich wie der christlichen Nächstenliebe, ist nichts darüber zu entnehmen. Daher wälzt sich das öffentliche Leben im Zeichen der Ideale der Französischen Revolution in endlosen mürrischen Kompromissen dahin, die mühsam vorgeben, jeweils den Ausgleich von Freiheit und Gleichheit gefunden zu haben, aber mangels einer Vorzugsordnung mit Maßstäben ohne begründendes Fundament sind. Solche Kompromisse treten z. B. im Namen der sozialen Gerechtigkeit auf, ohne dass es einen anerkannten und in einer organisierten Bevölkerung wie selbstverständlich geltenden Maßstab dafür gibt, wann diese verletzt ist. Daher darf jeder, dem irgend etwas fehlt, das ein anderer hat, sein Defizit namens der sozialen Gerechtigkeit zum Ausgleich anmelden. Wenigstens können dem Ausufern solcher Ansprüche nur künstliche Schranken entgegengesetzt werden, gegen die sich abermals ein Protest im Namen der sozialen Gerechtigkeit erheben kann, ohne dass dagegen ein Grund vorgebracht werden könnte, der nicht einem regressus in infinitum immer wiederholten Protestes gegen weitere Rückzugspositionen abwehrender Begründung ausgesetzt wäre. Soziale Gerechtigkeit ist, mindestens in einer Wohlstandsgesellschaft, ein Täuschungsmittel zur Selbstberauschung und als Waffe im sozialen Kampf. Proklos, der große Synthetiker des antiken Neuplatonismus, hat dessen originelle Konzeption der Vieleinigkeit (ἓν πολλά) in einer treffenden Parole zusammengefasst: »πάντα ἐν πᾶσιν, οἰκείως δὲ ἐν ἑκάστῳ«. »Alle in allen, aber eigentümlich in einem jeden.« 11 Ein deutscher Patriot im Ersten Weltkrieg hat dafür, sicherlich ohne an Proklos: Proklou diadochou stoicheiosis theologike/The Elements of Theology. Hrsg. v. Eric R. Dodds. Oxford 1992, S. 92 (Satz 103); vgl. auch ders.: Procli diadochi

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Proklos zu denken, eine ebenso schlagende Formulierung gefunden: »Alle für einen und einer für alle und doch jeder ganz er selbst.« 12 Proklos versteht diese von ihm anvisierte Vieleinigkeit durchaus auch politisch; ich habe einschlägige Stellen aus seinem Timaioskommentar so paraphrasiert: So wie im All jedes nach der ihm von der Schöpfung zugeordneten Natur handelt, werden auch im Staat die Geschäfte der Bürger verteilt, und jeder hat seinen Platz in der Ordnung nach Maßgabe seiner Natur. Die Weiberund Kindergemeinschaft im platonischen Idealstaat entspricht der Ordnung im All und zuvor der Art, wie die Götter einig sind: Alle sind Sprösslinge aller, alle sind in allen, aber jeder mit seiner Eigenart, und danach richtet sich Sokrates bei der Konzeption der Wächtergemeinschaft im Idealstaat. 13

Man kann das als idealisierende Vision des Zusammenlebens in einer sozialen Gruppe mit einer die persönlichen Situationen der Angehörigen implantierenden, von ihnen bejahten gemeinsamen Situation lesen. Damit wäre der Rehabilitierung des Ideals der Gemeinschaft in der von mir relativierend umformulierten Fassung als Gegenmodell zur bloßen Gesellschaft eine Vision eröffnet, und nicht zuletzt der diachronen Verantwortung, die auch Proklos bejaht 14, die aber den von der autistisch sich verfehlenden Aufklärung missleiteten Menschen unserer Tage mehr und mehr abhanden kommt: dass sie sich wieder als Medien verstehen, als Mittelglieder verantwortlich in einer Kette von Generationen. Dieser politische Ausblick ist für mich nur ein Ausschnitt aus einem Feldzug gegen den radikalen Konstellationismus, der darauf bedacht ist, Situationen durch Konstellationen oder Vernetzungen einzelner Faktoren nicht nur zu explizieren, sondern zu ersetzen. Die dichterische Rede, die der Zersetzung von Situationen entgegenwirkt, indem sie diese dank geschickter Sparsamkeit der Explikation aus binnendiffuser Bedeutsamkeit in unversehrter Ganzheit durchscheinen lässt 15, ist dem Wuchern dieses

in Platonis Timaeum commentaria. Hrsg v. Ernst Diehl. Bd. 2. Leipzig 1904, S. 44, Z. 17 f. 12 Ottmar Dittrich: Neue Reden an die deutsche Nation. Nach Vorgang von J. G. Fichte. Leipzig o. J., S. 1, von mir zitiert nach: Hermann Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland. Basel 1963, S. 201. 13 Hermann Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. A. a. O., S. 100. 14 Vgl. ebd., S. 112 über die Kollektivhaftung in der Generationenfolge nach Proklos. 15 Vgl. ders.: System der Philosophie. Band III/4: Das Göttliche und der Raum. Freiburg, München 2019, S. 535–562.

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Konstellationismus schon zum Opfer gefallen. Es gibt keine Dichter mehr. Das müsste anders werden, wenn die menschliche Kultur nicht in Sterilität ersticken soll.

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18. Die Weltspaltung und ihre Überwindung

In der Geschichte von Kulturen kann eine Wasserscheide des Denkens unauffällig eintreten und danach den Gang der Geschichte über Jahrtausende nachhaltig mitbestimmen. So etwas ist dem menschlichen Welt- und Selbstverständnis der europäischen Kultur in der zweiten Hälfte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts in Griechenland widerfahren, ablesbar etwa an der Folge der höchsten durch eine Generation getrennten Philosophen Empedokles und Demokrit und der Dichter Aischylos und Sophokles. Die Entwicklung, die zu diesem Umbruch führt, beginnt bei Homer. In der »Ilias« verstehen die Menschen und Götter ihr Erleben als unzentriert und offen. Sie nehmen ihr Schicksal nicht in die eigene Hand vernünftiger Planung und Entscheidung, sondern stehen ungeschützt im Konzert halbautonomer, teils treibender, teils hemmender Regungsherde, wie wir sie noch in Gestalt des sogenannten Gewissens kennen, nur dass die homerischen auch noch leiblich lokalisiert sind; ferner sind die Menschen den Impulsen ergreifender Mächte von Göttern und Gefühlen wie dem Zorn ungeschützt ausgesetzt. Diese dezentrale Organisation des Erlebens wirkt keineswegs chaotisch, aber ihr fehlt die Selbststeuerung. Der Odysseus der »Odyssee« ist darin schon weiter; er kann sich besser kontrollieren, den Göttern als Mit- oder Gegenspielern und den unwillkürlich aus dem eigenen Leib aufsteigenden Regungen mit mehr Selbstsicherheit entgegenstellen. In der anschließenden archaischen Lyrik empfindet sich der Mensch zwar noch als schwach vor ergreifenden Mächten, lässt sich aber die eigene Stellungnahme nicht nehmen. Die Ergriffenheit geht bis zur Besessenheit, so auch noch bei dem Tragiker Aischylos. Dagegen hat der Mensch des Sophokles ein Inneres, das er nach außen öffnen oder abschließen kann. Von Sophokles ist als Fragment der Vers überliefert: »das verschlossene Tor der Seele öff-

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nen.« 1 Das griechische Wort »psyché« kommt schon bei Homer vor, aber nicht im Sinn von »Seele«, sondern als die Lebendigkeit, die im Tod den Körper als schattenhafter Totengeist verlässt. Im Zuge des Bedürfnisses nach Selbstermächtigung wächst die Psyché in die Rolle einer Individualseele hinein. Bei Heraklit, im Anfang des 5. vorchristlichen Jahrhunderts, ist sie noch offen; er schreibt: »Grenzen der Seele wirst du nicht finden, und wenn du jegliche Straße abschrittest.« 2 Der Mensch des Sophokles hat eine Seele, deren Tore nach außen er öffnen und schließen kann. Dem gemäß kann er seine Gefühle manipulieren, hochtreiben oder anhalten. Im philosophischen Welt- und Selbstverständnis liegt ein entsprechender Bruch zwischen Empedokles und Demokrit. Die Welt des Empedokles wird vom Einwirken der überpersönlichen Atmosphäre Liebe und Streit auf die als Dämonen verstandenen, in räumlicher Zerstreuung zusammenhaltenden vier Elemente gestaltet, mit dem Menschen als Produkt ihrer Mischung und Entmischung, individuell integriert nur als unbewusste Gedächtnisspur aller dabei mitgemachten Verwandlungen. Demokrit ist der erste Philosoph, der Individualseele und Außenwelt, Form und Stoff, Seele und Körper hart gegenüberstellt und dem Menschen die vernünftige Steuerung der unwillkürlichen Regungen in seiner Seele und seines Körpers abverlangt. Er verfährt dabei reduktionistisch: Eigentlich gibt es nur das Leere und die darin wirbelnden Atome mit wenigen Merkmalen, nämlich Gestalt, Größe, Lage und Anordnung; alle sinnlichen Qualitäten sind nur Projektionen und gehören eigentlich in die Seele. Was sich hier abspielt, ist die Weltspaltung als Selbstspaltung des Menschen im Interesse der Selbstermächtigung gegen die unwillkürlichen Regungen, die in die Seele wie in ein Haus, das das gesamte Erleben eines Bewussthabers einschließt, eingebaut werden, so dass der Mensch als vernünftige Person Herr im eigenen Hause werden kann und nicht mehr unbeherrschbar einströmenden Impulsen ausgesetzt ist. Zu diesem Zweck wird die Welt zerlegt in je eine private Innenwelt für jeden Bewussthaber und eine zwischen den Innenwelten verarmt verbleibende, abgeschliffene Außenwelt, wobei der Abfall der Abschleifung tendenziell in den zunächst »Seele« genannten Innenwelten abgeladen, zum größten Teil aber übersehen und ver1 Sophopkles: frag. 393 (Tragicorum Graecorum Fragmenta. Bd. 4. Hrsg. v. Stefan Radt. Göttingen 1977, S. 342). 2 Heraklit: frag. DK 22 B 45 (= Diog. Laert. 9.7).

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gessen wird und dann doch in ungedeuteter Gestalt irgendwie in den Seelen wieder auftaucht. Dieses neue Welt- und Selbstverständnis wird im folgenden Jahrhundert, dem vierten vorchristlichen, von Platon und Aristoteles unübersehbar breit ausgebaut und mit einer kurzen Unterbrechung im Urchristentum sowie einem Nachklang der archaischen Weltanschauung in der natürlichen Magie des Renaissancezeitalters der europäischen Menschheit bis zur Gegenwart als selbstverständliche Vorgabe eingeschärft. Die Weltspaltung hat große geschichtliche Folgen, die durch das Christentum enorm verstärkt wurden. Zwei von ihnen habe ich als die dynamistische und die autistische Verfehlung des abendländischen Geistes identifiziert. Die dynamistische besteht in der Bindung des affektiven Betroffenseins an die Macht als leitendes Thema. Diese Tendenz steht als Selbstermächtigung der Person im Verhältnis zu den unwillkürlichen Regungen und wird bei Platon und im Hellenismus zum Leitmotiv der antiken Philosophie. Dieses Gentleman-Ideal, zunächst auf die Gebildeten beschränkt, gewinnt ungeheure Durchschlagskraft mit dem Christentum. Alle Themen des affektiven Betroffenseins, wie Macht, Ansehen, Liebe, Lust und Leid, Freundschaft, Familie, Reichtum, Alter, Krankheit und Tod werden der Rücksicht auf die Allmacht Gottes im Interesse des eigenen Glücks im Leben nach dem Tode unterstellt. Nachdem diese Allmacht durch die angeblichen Stellvertreter Gottes und ihre Gehilfen, die Kreuzfahrer, allzu ersichtlich profaniert, nämlich zu sehr irdischen Zwecken missbraucht worden war, begannen die Menschen vom späten Mittelalter, etwa von der Regierung Philipps des Schönen von Frankreich um 1300, an, die Macht, an die als Thema ihr affektives Betroffensein gebunden blieb, in die eigenen Hände zu nehmen, mit Säkularisierung des transzendenten Glücksideals zum Ideal irdischen Erfolges und Wohlergehens. Um 1500 beginnt das Zeitalter der imperialistischen Erdumrundung, um 1600 das Zeitalter der technischen Naturbemächtigung, bei der sich der Dynamismus mit dem Konstellationismus verbindet, der Deutung der Welt als Konstellation in der Weise eines riesigen Netzes aus Festpunkten und Beziehungen zwischen ihnen, das dazu da ist, vom Menschen nach Belieben umgeknüpft zu werden. Mit der dynamistischen und dynamistisch-konstellationistischen Verfehlung hängt die autistische zusammen. Die Abhängigkeit des transzendenten Glücks oder Unglücks von Gottes Allmacht versetzt die Menschen in eine Alarmstimmung, die ihnen das genaue Achten auf jedes Detail ihres Lebens und jeden Augenblick, der als der Todeszeitpunkt der entscheidende 259 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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sein könnte, auferlegt und sie in ihrem Selbstverständnis isoliert, just da sie in der Gemeinschaft der Kirche zusammen sind; denn niemand kann wissen, ob nicht der nächste Fromme zu den verdammten gehören wird. Jeder muss für sich selbst einstehen. Die Menschen verlieren das urwüchsige Vertrauen zu einander, das in der Antike noch zu gemeinsamen Situationen der politischen und religiösen Gesinnung geformt war und darin auch nicht durch die Ansätze zum introvertierten Dynamismus gestört wurde; dass die Christen diese gemeinsamen Situationen nicht mitmachten, war der Grund der Christenverfolgungen im römischen Kaiserreich. Die Entwöhnung vom urwüchsigen, von der Kultur zur gemeinsamen Situation geformten Vertrauen ist um 1600 schon so weit gediehen, dass Hobbes den Naturzustand der Menschen nur als Präventivkrieg aller gegen alle verstehen kann, da jeder dem Überfall des anderen zuvorkommen müsse, um nicht selbst überfallen zu werden. Hobbes wollte dieses Übel durch das größere eines schrankenlosen Despotismus heilen, Rousseau durch einen Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit, dem contrat social. Als ich die Weltspaltung durchschaut hatte, wenn auch nicht sogleich ihre geschichtlichen Konsequenzen, erfasste mich die philosophische Aufgabe meines Lebens: die unwillkürliche Lebenserfahrung – d. h. alles, was Menschen merklich widerfährt, ohne dass sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben – zusammenhängendem Begreifen wieder dadurch zugänglich zu machen, dass ich die wichtigsten Massen dieser Lebenserfahrung aus der Introjektion in die privaten Innenwelten zurückholte, aus der Vergessenheit, der sie durch die absichtliche oder vielmehr zum größten Teil unabsichtliche Verpackung in die Seele und Versteckung in deren Ecken und Winkel verfallen waren. Ich prägte dafür die Metapher: die Winde aus dem Schlauch des Äolus entlassen. Was mir an erster Stelle auffiel, war der spürbare Leib, der bei der Zerlegung des Menschen in Seele und Körper wie in einer Gletscherspalte verschwunden war. Ich meine den Inbegriff der Regungen, die jemand von sich, als zu sich selbst gehörig, in der Gegend, wenn auch nicht immer in den Grenzen, seines Körpers spüren kann, ohne sich der fünf Sinne und des aus ihren Erfahrungen gewonnenen perzeptiven Körperschemas – der habituellen Vorstellung vom eigenen Körper – zu bedienen. Dazu gehören erstens die bloßen leiblichen Regungen wie Angst, Schmerz, Hunger, Durst, Wollust, Ekel, Frische und Müdigkeit, zweitens die leiblichen Regungen, die affektives Betroffensein von Gefühlen sind, wie Zür260 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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nen, Sichschämen, Sichfreuen, Trauern, ferner die gespürte Motorik und die leiblichen Richtungen, die unumkehrbar aus der Enge in die Weite führen, wie der Blick, das Ausatmen. Es gelang mir, den Leib in diesem Sinne vom materiellen Körper, erst recht von der Seele, der Ausdehnung und der Dynamik nach zu unterscheiden. Der Menschen- oder Tierkörper ist stetig ausgedehnt, von Flächen begrenzt und durch Flächen schneidbar. Der Leib ist in einem flächenlosen Raum ausgedehnt wie der Schall, die einprägsame Stille, das Wetter, das Rückfeld, der auftreffende Wind, das Wasser für den Schwimmer, der sich ohne optische Verstellung vorwärts kämpft oder ruhig tragen lässt. Die Ausdehnung des Leibes ist nicht stetig, sondern gewöhnlich diskret als ein Gewoge verschwommener Leibesinseln mit nicht dreidimensionalem, sondern dynamischem Volumen, wie es auch der Schall und das Wasser für den Schwimmer hat. Die leibliche Dynamik beruht in der Dimension von Enge und Weite auf Engung und Weitung, die im vitalen Antrieb als Spannung und Schwellung ineinander verschränkt sind, sich aber auch teilweise voneinander lösen können. Beim Einatmen überwiegt erst die Schwellung, die allmählich, wenn auch in Sekundenschnelle, in überwiegende Spannung übergeht, die, ehe sie unerträglich wird, durch die Richtung des Ausatmens in die Weite abgeführt wird. Das ist ein Beispiel leiblicher Dynamik und dynamischen Volumens einer Leibesinsel. Die Leibesinseln werden durch die Spannung im vitalen Antrieb zusammengehalten. Außer den auf Leibesinseln verteilten leiblichen Regungen gibt es auch ganzheitliche, die ebenso wie die Leibesinseln einen absoluten, d. h. nicht erst durch Lagen und Abstände bestimmten, Ort haben. Die leibliche Dynamik überschreitet die Grenzen des eigenen Leibes in der leiblichen Kommunikation als Einleibung im Kanal eines gemeinsamen vitalen Antriebs, sogar auch mit Leiblosem, das durch Brückenqualitäten, die sowohl am eigenen Leib gespürt als auch an Gegenständen wahrgenommen werden, nämlich durch Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere, leibverwandt ist. Die Einleibung ist teils antagonistisch, d. h. mit Zuwendung zum Partner wenigstens von einer Seite, teils solidarisch ohne solche Zuwendung, wie bei Massenaufruhr, Massenpanik, gemeinsamem Singen, Rufen, Klatschen, Trommeln usw. Antagonistische Einleibung ist teils einseitig, wenn man von etwas gefesselt ist, teils wechselseitig wie beim Blickwechsel und dann Grundlage aller Kontakte. Außer als Einleibung im Kanal des vitalen Antriebs kommt leibliche Kommuni261 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Die Weltspaltung und ihre Überwindung

kation auch als Ausleibung im Kanal privativer, aus dem vitalen Antrieb sich lösender Weitung vor. Sie ist Versunkenheit in Weite, teils unaufhaltsam, wie wenn sich der Blick in die Tiefe des Raumes verliert, teils fixiert auf absolute, von den Umständen gelöste Eindrücke reiner Arten, wie Glanz, Wärme, Duft, Haut, Geschmacksaroma. Alle Wahrnehmung ist leibliche Kommunikation, besonders die des Ausdrucks. Wenn man den Leib genügend berücksichtigt, lässt sich die Unzulänglichkeit der Weltspaltung und der Seelenvorstellung demonstrieren. Ich benütze dazu die Analyse des Selbstbewusstseins. Das auszeichnende Merkmal des Selbstbewusstseins menschlicher Personen, die über das Niveau des Säuglings hinausgekommen sind, besteht in der Selbstzuschreibung, d. h. in dem Vermögen, einen Fall mehrerer Gattungen als sich oder sich als diesen zu begreifen. Ein türkischer Schuster in Kreuzberg ist z. B. ein Türke, Schuster, Berliner, Moslem, Familienvater usw.; indem er sich als dieser und zugleich als jener versteht, kann er sich vielseitig sehen, seine Möglichkeiten vergleichen, zu sich Stellung nehmen, seinem Leben Akzente geben usw. Das zeichnet Personen aus. Selbstzuschreibung ist ein identifizierendes Sichbewussthaben. Man identifiziert sich mit etwas oder etwas mit sich. Leicht kann man die Identifizierung zur Kennzeichnung ausbauen. Diese Kennzeichnung hat aber eine eigentümliche Schwäche. Durch alle anderen Kennzeichnungen wird man mit der gekennzeichneten Sache bekannt gemacht. Wenn ich selbst gekennzeichnet werde, muss ich dagegen die Kenntnis davon, dass es sich um mich handelt, schon mitbringen; sonst fehlt das Relat, das, womit identifiziert wird. Im Fall jenes Schusters z. B. würde die Identifizierung von einem Türken zu einem Moslem, einem Berliner usw. führen, aber wenn er nicht schon wüsste, dass es sich um ihn selbst handelt, käme er durch Identifizierung nie auf diesen Gedanken. Das liegt daran, dass in allen Angaben objektiver oder neutraler Sachverhalte, d. h. solcher, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann, kein Grund für die Annahme enthalten ist, dass es sich um mich handelt; alle diese Merkmale könnte einzeln und gemeinsam auch ein anderer haben. Identifizierendes Sichbewussthaben ist also nur durch ein nicht identifizierendes möglich, das der Selbstzuschreibung das Relat liefert, das, womit identifiziert wird. Dieses nicht identifizierende Sichbewussthaben besteht im affektiven Betroffensein von dem, was einem nahe geht, wovon er empfindlich berührt wird. Die Tatsachen des affektiven Betroffenseins sind für ihn 262 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Die Weltspaltung und ihre Überwindung

subjektive Tatsachen, die höchstens er aussagen kann, egal, was Andere wissen und wie gut sie sprechen können. Nur von den subjektiven Tatsachen führt durch Neutralisierung, durch Abschälung der Subjektivität, der Weg der Erkenntnis und Begründung zu den ärmeren objektiven Tatsachen, nie umgekehrt. Affektives Betroffensein ist aber immer leiblich im angegebenen Sinn. Nur durch seine Leiblichkeit ist also jemand befähigt, Person zu sein; sonst hätte seine Selbstzuschreibung für das, was er sich zuschreibt, nicht ihn selbst, dem zugeschrieben wird. Die subjektiven Tatsachen meines affektiven Betroffenseins, die als identifizierungsfreies Sichbewussthaben das identifizierende möglich machen, müssen mich ohne Identifizierung mit mir bekannt machen. Wie ist das möglich? Ich sehe nur eine einzige Gelegenheit: die plötzliche Ankunft des Neuen, die Dauer zerreißt, Gegenwart exponiert und die zerrissene Dauer ins Vorbeisein, das nicht mehr ist, entgleiten lässt, etwa im heftigen Schreck, wenn die Verschränkung von Engung und Weitung im vitalen Antrieb durch Überdehnung zur Engung hin reißt. Dann fallen fünf Momente zusammen: das Zusammenfahren in die Enge als absoluter Ort, das Plötzliche als absoluter Augenblick, das Sein oder die Wirklichkeit, die in das Dahinleben einbricht, die unausweichliche Exponiertheit von etwas als dieses in absoluter Identität, selbst zu sein, und die Subjektivität, selbst betroffen zu sein, in Anspruch genommen zu werden. Der Zusammenfall von absoluter Identität und Subjektivität meines Betroffenseins ersetzt die Identifizierung und macht mich ohne sie mit mir bekannt. Ich bezeichne dieses Ereignis als die primitive Gegenwart. Ohne primitive Gegenwart könnte niemand ahnen, dass er selbst etwas ist, und alles würde ihm in Verschwommenheit entgleiten; denn dem Begegnenden und Vorkommenden steht nicht ins Gesicht geschrieben, dass es selbst etwas ist, sondern dem gleitenden Dahinleben muss durch ein Abreißen, einen Ruck etwas als es selbst abgewonnen werden, und diese Exposition in primitiver Gegenwart liefert die Form der absoluten Identität, des Selbstseins, die dann auch ohne Ruck auf alles verteilt werden kann. Die primitive Gegenwart ist ein seltener Ausnahmezustand, der aber durch den vitalen Antrieb, die Achse der leiblichen Dynamik, dem Sichbewussthabens vorgehalten wird, indem der Zug der engenden Spannung das Maximum der Engung, das den Antrieb zerreißt, vorzeichnet. Zugleich überträgt der Antrieb aus der primitiven Gegenwart absolute Identität und Verschiedenheit in das anschließende 263 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Die Weltspaltung und ihre Überwindung

Leben aus primitiver Gegenwart, das Tiere, Säuglinge und erwachsene Personen in allen ihren unwillkürlichen, routinierten Vollzügen sowie ausnahmsweise in Fassungslosigkeit führen; dadurch sind Menschen und Tiere beim Üben ihrer unwillkürlichen Kompetenzen, z. B. der motorischen wie Gehen, Stehen, Kauen oder Sprechen (auch im Verhältnis zur Sprache, nach der sie sich sprechend richten) vor Verwechslungen geschützt, ohne vereinzeln zu müssen; Zerlegung in einzelne Schritte würde der Bewegung die Flüssigkeit nehmen. Das Leben aus primitiver Gegenwart kommt mit gleitender Dauer, primitiver Gegenwart, leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikation aus. Es ist ein Leben in Situationen, Eine Situation ist Mannigfaltiges, das zusammengehalten und abgegrenzt wird durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind; die Bedeutsamkeit ist binnendiffus in dem Sinn, dass nicht alles in ihr einzeln ist (beim Leben aus primitiver Gegenwart gar nichts). Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Es ist ein Grundfehler des abendländischen Denkens spätestens seit dem mittelalterlichen Universalienstreit, alles ohne Weiteres für einzeln zu halten und als Grundschicht aller Gegenstände bedeutungslose Einzelwesen, z. B. Dinge oder Weltpunkt oder Sinnesdaten, anzunehmen, die dann nachträglich von Interessen und Bedürfnissen mit Bedeutungen belegt wurden. Einzeln kann vielmehr nur sein, was eine Anzahl um 1 vermehrt, d. h. Element einer Menge und damit Fall einer Gattung ist; Gattungen sind spezielle Sachverhalte, oft mit Programmen und Problemen beladen. Das Einzelne ist sekundär gegenüber dem Bedeutsamen; vor der Geburt der Einzelheit ist das Mannigfaltige längst zusammengefasst in noch nicht einzelnen Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit, die schon den Tieren und Säuglingen und noch den erwachsenen Personen flüssig gestaltete Bewegung und Kommunikation in antagonistischer und solidarischer Einleibung möglich machen. Die Befangenheit dieser präpersonalen Vorstufe in Situationen wird durchbrochen durch die menschliche satzförmige, d. h. von den Sätzen einer Sprache als Regeln zur Erzeugung von Sprüchen geleitete, Rede, die im Gegensatz zu tierischem Rufen und Schreien, die nur ganze Situationen heraufbeschwören, modifizieren und beantworten, einzelne Sachverhalte, einzelne Programme, einzelne Probleme aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit herausholt und zu Konstellationen vernetzt. Unter den explizierten Bedeutungen befinden sich Gattungen, spezielle Sachverhalte, die die Vereinzelung beliebi264 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Die Weltspaltung und ihre Überwindung

ger Sachen als ihrer Fälle ermöglichen. Die absolute Identität bereichert sich zur relativen Identität von etwas mit etwas, d. h. zum Fallen einer Sache unter mehrere Gattungen, wodurch die Sache vielseitig und in vielen Zusammenhängen außerhalb der Situationen, denen sie entnommen ist, verwendbar wird. Menschliche Personen können auf diese Weise Situationen auseinandernehmen, selektiv im Hinblick auf ihre Interessen und Bedürfnisse als Konstellationen rekonstruieren und planend überholen. Sie sind nicht mehr wie die Tiere in Situationen gefangen. Aus den Konstellationen wachsen wieder Situationen zusammen, die abermals expliziert und in Konstellationen übersetzt werden, wieder zusammenwachsen usw. Im Zuge der Vereinzelung entfalten sich die fünf Momente der primitiven Gegenwart in fünf Dimensionen zur Welt als dem Rahmen oder Feld möglicher Vereinzelung. Der absolute Ort wird zum System relativer, der Lage und dem Abstand nach einander bestimmender Orte, die zu sagen gestatten, wo etwas ist. Der absolute Augenblick entfaltet sich zu einem System relativer Augenblicke in einer modalen Lagezeit, da sowohl durch die Beziehung des Früheren zum Späteren oder Gleichzeitigen geordnet als auch in Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges eingeteilt ist, mit dem Fluss der Zeit, dass das Vergangene wächst, das Zukünftige schrumpft und das Gegenwärtige wechselt. Das Sein entfaltet sich aus dem Gegensatz zum Nichtmehrsein der zerrissenen Dauer zum Gegenteil des Nichtseins überhaupt, mit der Möglichkeit, Einzelheit ins Nichtseiende zu übertragen, wodurch Planung, Phantasie, Erinnerung und Erwartung möglich werden. Die absolute Identität der primitiven Gegenwart und des Lebens aus dieser ergänzt sich zur relativen. Die Subjektivität entfaltet sich, indem der Bewussthaber sich durch Selbstzuschreibung zum Fall einer Gattung bestimmt und dadurch zum einzelnen Subjekt macht. Von den für ihn subjektiven Bedeutungen (Sachverhalten, Programmen, Problemen) fällt im Zuge ihrer Vereinzelung teilweise die Subjektivität ab; sie werden dann neutralisiert, entfremdet, versachlicht und bilden den Kern einer persönlichen Fremdwelt dessen, woran das Subjekt nicht mehr mit affektivem Betroffensein hängt. Gegenüber diesem Fremden wächst aus den subjektiv gebliebenen Bedeutungen eine Sphäre des Eigenen heran, in Gestalt einer zuständlichen (d. h. nur über längere Fristen auf Veränderungen befragbaren) persönlichen Situation (volkstümlich »Persönlichkeit« der Person genannt) mit vielen eingelagerten partiellen Situationen, die auf einander wirken oder sich auch reiben 265 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Die Weltspaltung und ihre Überwindung

und hemmen. Die persönliche Situation ist eingelagert in die persönliche Eigenwelt dessen, woran die Person in Zu- oder Abneigung mit affektivem Betroffensein »hängt«. Persönliche Situationen und persönliche Eigenwelt sind so etwas wie private Innenwelten, aber von anderer Art als die Seele, die alles Erleben eines Bewussthabers einschließende private Innenwelt. Ihre persönliche Situation und Eigenwelt wird die Person zwar nicht los, aber sie steckt nicht in ihr fest, sondern muss, um Person zu sein, präpersonal unter ihnen sein, durch die subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins und das Leben aus primitiver Gegenwart angebunden an die primitive Gegenwart, ohne die sie nicht zu sich und zu keiner Identität von etwas käme. Obendrein ist ihr die persönliche Situation nicht nur Hülle, sondern auch Partner und bisweilen schwieriger Widersacher, den sie wie ein Orakel befragen muss, um zu wissen, was sie will, deutlich oft bei schwierigen Lebensentscheidungen, unauffälliger aber auch beim Wollen im Kleinen. Dieser extrem knappe und magere Überblick über einige Befunde meines Versuches, die Winde aus dem Schlauch des Äolus zu lassen, gestattet mir nun einen Seitenblick auf die klassische europäische Philosophie, die seit Platon und Aristoteles im Wesentlichen von der Weltspaltung beherrscht wird. Die Seele als abgeschlossene private Innenwelt verstrickt diese Schule nicht nur in das vom naturwissenschaftlichen Weltbild noch verschärfte Rätsel, wie der Bewussthaber aus seiner Innenwelt wieder herauskommen, gleichsam aus dem Hause gehen, könnte, sondern erst recht in eine Verlegenheit darüber, wie er sich zu ihr verhält. Dass er in den Inhalten seiner Innenwelt aufgehen könnte, wie Hume, Mach und der frühe Husserl glauben, ist nur dem annehmbar, der ruhig am Schreibtisch sitzt; sobald ihm etwas allzu nahe geht, indem er etwa brennt oder von brennender Scham befallen wird, wird er schon merken, dass er selber leidet und nicht nur ein Haufen von Empfindungen oder Akten des Bewusstseins gewisse Modifikationen durchmacht. Wenn daher ein Unterschied zwischen dem Bewussthaber und seiner abgeschlossenen Innenwelt gemacht wird, muss sein Verhältnis zu dieser bestimmt werden. Gewöhnlich wird er als deren Bewohner gedacht, entweder im Oberstockwerk der Vernunft mit freiem Willen oder am Rand der Innenwelt, wie Husserls reines Ich und das »stehende und bleibende Ich« nach Kant. Aber tatsächlich hat die Person keinen solchen festen Platz in einer ihr zugewiesenen Domäne, von deren Hochsitz aus sie durch Konstitution (Husserl) oder Synthesis (Kant) den Erfahrungs266 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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stoff gestalten könnte. Die Person hat überhaupt keinen festen Platz in der Welt, sondern sie schwankt zwiespältig, sowohl simultan als auch sukzessiv, zwischen personalem und präpersonalem Leben und ist in diesem durch leibliche Dynamik und Kommunikation beständig an das ihr Widerfahrende angeschlossen, von dem sie affektiv betroffen wird; ohne dieses Betroffensein wäre sie nicht Person. Eine letzte Aufgipfelung erfährt die Weltspaltung in der monadologischen Weltanschauung Husserls und der ihm sich anschließenden älteren Phänomenologie. Die Innenwelt heißt nun nicht mehr »Seele«, sondern »Bewusstsein«. Dieses Bewusstsein ist eine Fiktion. Es genügt, vom Bewussthaben eines Bewussthabers zu sprechen, das keine Innenwelt ist, sondern ein vielfältiges, aber nicht aus Einzelnem zusammengesetztes Verhältnis der Verstrickung in sich und Begegnendes auf der Grundlage des affektiven Betroffenseins, das durch Prozesse der Vereinzelung, Neutralisierung und Resubjektivierung seinen Horizont zur Welt erweitert. In diesem Zusammenhang muss auch das die ältere Phänomenologie leitende Konzept der Intentionalität revidiert werden. Es ist im Kern singularistisch und rechnet nur mit Einzelnem, in der Weise, dass sich einzelne Akte des Bewusstseins darstellend, urteilend, wollend, liebend oder hassend auf einzelne intentionale Objekte richten. Dem liegt nach meiner Einsicht ein Zutunhaben in antagonistischer und solidarischer Einleibung mit affektiv Betreffendem in der Ganzheit von Situationen zu Grunde; nach der Explikation der Situationen durch satzförmige Rede werden daraus Konstellationen in der Weise, dass einzelne Sachen als Fälle von Gattungen durch Sachverhalte, Programme und Probleme vernetzt sind und nicht erst einzeln durch auf sie abzielende intentionale Akte aufgefangen werden müssen, um dann erst in Beziehung gesetzt zu werden. Das Konzept der Intentionalität sollte durch das der Explikation ersetzt werden. Diese Differenzen, verstärkt durch Abweichungen bezüglich der phänomenologischen Methode, veranlassten mich, der Traditionsbefangenheit der älteren Phänomenologie eine Neue Phänomenologie entgegenzusetzen. Diese hat mehr als mit Husserl mit Heidegger zu tun, der in »Sein und Zeit« durch das Konzept des In-der-Welt-seins der Weltspaltung widersteht und das affektive Betroffensein mit der geworfenen Befindlichkeit besser berücksichtigt. Allerdings beruht sein Motiv des In-der-Welt-seins auf der Anlehnungsbedürftigkeit des »Dasein« genannten Menschen, der seine Möglichkeiten ist, ihrer aber nicht habhaft ist, da er sie erst noch zu sein hat, und sich daher an begegnendes Seiendes halten 267 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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muss, das ihm seine Möglichkeiten vorgibt und sich durch die Konvergenz auf diese Möglichkeiten, die er ist, für ihn zu seiner Welt zusammenschließt. Diese einseitige Gründung des In-der-Welt-seins auf die Schwäche und Unbestimmtheit des Bewussthabers versäumt die Formung der Welt durch Vereinzelung, als Rahmen solcher Vereinzelung, aus Situationen und trägt die Schuld daran, dass Heidegger sogleich in einen naiven Realismus nach Art der mittelalterlichen Scholastiker zurückfällt und einem boshaften Interpreten Gelegenheit bieten könnte, das »Dasein« samt seiner »Welt« in ein realistisches Weltbild wie das von Nicolai Hartmann einzubauen. Mit der Weltspaltung entfällt auch die Introjektion, die Überladung der Seele oder des Bewusstseins mit Abfall aus der abgeschliffenen Außenwelt. Als der wichtigste Befund bei Überwindung der Introjektion gelten mir die Gefühle, die seit Platon und Aristoteles als private Seelenzustände gedeutet werden, sei es als gegenstandslose Lust und Unlust wie bei Spinoza, Kant und dessen Nachfolgern oder als intentionale Akte des Bewusstseins (Brentano, Husserl, Scheler u. a.). Ich unterscheide die Gefühle vom Fühlen. Gefühle sind Atmosphären, d. h. Besetzungen eines flächenlosen Raumes im Bereich erlebter Anwesenheit mit Anspruch auf totale Erfüllung dieses Raumes. Sie werden im Fühlen entweder bloß wahrgenommen oder ergreifen leiblich, indem sie dem ergriffenen Leib eine spontane Gebärdesicherheit eingeben, die willkürlich schwer nachzuahmen ist. Oft kann man beobachten, wie dasselbe Gefühl erst als Atmosphäre wahrgenommen wird und dann leiblich spürbar ergreift. So ruft Goethes Faust, als lüstern verliebter Spion Gretchens Zimmer betretend, aus: Wie atmet rings Gefühl der Stille, Der Ordnung, der Zufriedenheit! 3

Sein Gefühlszustand ist diesem zunächst konträr entgegengesetzt, aber man darf annehmen, dass er davon leiblich spürbar affiziert wird. Kein Mensch ist in dem Zimmer, als er mit Mephistopheles hineinkommt; es ist bloß die Atmosphäre, die ihn berührt. Ähnlich strahlt die Atmosphäre der Trauer, die dem traurig Ergriffenen gebietet, sich zurückzuziehen und in seine Trauer zu vertiefen, auf den ahnungslos hineinplatzenden Fröhlichen aus und lässt ihm bei einiger 3 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Erster Teil. (Goethes sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe. Bd. 13. Hrsg. v. Erich Schmidt). Stuttgart, Berlin 1903, Verse 2691 f.

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Feinfühligkeit einhalten, vielleicht gar sich scheu zurückziehen. Gefühle haben Autorität, indem sie dem Ergriffenen Normen als Programme für möglichen Gehorsam anbieten, oft mit Anspruch auf verbindliche Geltung. Wie es zu dieser Autorität kommt, kann man dem Vergleich der Gefühle mit anderen Atmosphären entnehmen, die gleichfalls einen flächenlosen Raum im Bereich erlebter Anwesenheit ausfüllen, aber keine Gefühle sind. Ich denke etwa an das phänomenale Wetter. Wenn man einen Ausflug vorhatte, der durch tristes Wetter vereitelt wird, wird man zwar traurig über die Vereitelung und ärgerlich über das Wetter, aber nicht unbedingt trist wie es. Wenn man dagegen von Zorn ergriffen wird, steigt im Leib spürbar ein aggressiver Impuls in der Weise auf, dass das Zürnen nur echt ist, wenn man anfangs den eigenen Impuls in den Dienst dieses Zornimpulses stellt; erst nach einer Anfangsphase des Mitmachens kommt die Gelegenheit zu Preisgabe oder Widerstand als persönlichen Stellungnahmen, und damit zur persönlichen Formung des Fühlens. Der Ergriffene nimmt immer erst Partei für das ergreifende Gefühl; wenn er es gleich beim Eintritt mit einer fertigen Stellungnahme begrüßt, empfängt er nur einen flüchtigen Anflug oder fühlt nicht echt. Das ist anders bei bloßen leiblichen Regungen, die im Allgemeinen nicht den kausalen Vorrang haben, den die Gefühle durch ihren stürmischen oder schleichenden Impuls und ihre Autorität besitzen. Man darf sie aber nicht verdinglichen. Gefühle sind Halbdinge, die sich von Volldingen durch unterbrechbare Dauer und Anwesenheit sowie durch eine unmittelbare Kausalität, in der Ursache und Einwirkung zusammenfallen, unterscheiden. Andere Halbdinge sind die Stimme, oft der Blick, der Wind, die reißende Schwere, wenn man ausgleitet und stürzt oder sich gerade noch fängt, der wiederkehrende Schmerz, ein Problem oder eine Melodie, die man nicht los wird, schrille Pfiffe, schneidende Kälte, die Nacht und die Zeit, wenn sie in Langeweile oder gespannter Erwartung unerträglich lang wird. Gefühle als Halbdinge werden aus unterbrechbarer Dauer geweckt, oft durch Zusammenhänge der privaten Lebensgeschichte, und sind dann nur dem so Disponierten fühlbar. Die Empfänglichkeit für sie schwankt stark, besonders nach Maßgabe der leiblichen Disposition. Es gibt ebenso Individualgefühle wie kollektive Gefühle, die auf einen Schlag Viele ergreifen und in Bann halten. Der heilige Geist im Urchristentum war ein solches Gefühl. Auf der Grundlage dieser Konzeption der Gefühle habe ich große Massen der Lebenserfahrung eingehend untersucht und charakterisiert: die Liebe, das Wohnen als 269 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Die Weltspaltung und ihre Überwindung

Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum (häusliche Wohnung, Kirche und Garten), das Recht, die Moral, die Religion, die ästhetischen Normen, die Werte.

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Bis zu Bossuet gängelt die Theologie alle spekulativen Konstruktionen des Gangs der Weltgeschichte. Mit Lessings »Erziehung des Menschengeschlechts« beginnt die Herrschaft eines pädagogisch-biographischen Konstruktionsprinzips der Geschichtsmetaphysik. Das geschichtliche Schicksal der Menschheit oder großer geschlossener Gruppen in ihr wird nach Art eines lebensgeschichtlichen Bildungsprozesses zurechtgelegt. Die geschichtsphilosophischen Entwürfe von Kant, Fichte, Hegel, Marx und Nietzsche folgen dieser Idee. Es ist die große Zeit des Bildungsromans in der deutschen Literatur. Der Gang der Weltgeschichte oder wenigstens deren Hauptstrang stellt sich den genannten Denkern als eine Art von Bildungsroman der Menschheit dar. Dieser Roman deutet die Geschichte als einen Weg zur Reife der Lebensform und des Selbstbewusstseins; Kant expliziert dieses Ziel als vollkommene Staatsverfassung, in der sich alle Anlagen der Menschheit völlig entwickeln können, Fichte als die »Epoche der Vernunftkunst«, die der »Stand der vollendeten Rechtfertigung und Heilung« sein werde, Hegel als das allgemeine Wissen der Freiheit im Beisichsein des Geistes. Der Sturz des deutschen Idealismus ändert nicht viel an der Herrschaft dieses Schemas und des damit bei Kant und Hegel verbundenen Vertrauens auf eine »List der Vernunft«, die die Leidenschaften der einzelnen – deren »ungesellige Geselligkeit« nach Kant – ohne deren Wissen und Willen in den Dienst des großen historischen Bildungsprozesses stellt. Diese List macht für Marx den sozial nivellierenden Kapitalismus zum unwillkürlichen Bahnbrecher der klassenlosen kommunistischen Gesellschaft; ebenso geht gemäß der Geschichtskonstruktion, die Nietzsche in seiner »Genealogie der Moral« vorlegt, aus der Unterdrückung der naiven Instinkte in der Unterschicht durch die die Machtübung tyrannischer Herrenrassen unabsichtlich die Bildung der Menschheit zur Verantwortlichkeit und Selbstdisziplin, zur Intelligenz und Feinheit des Gewissens hervor, allerdings auch die Vergiftung der Spon271 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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taneität durch die Moral des Ressentiment und damit die Aufgabe, den Bildungsertrag der Geschichte gemäß dem Zarathustra-Programm von diesem Krankheitskeim zu reinigen. Diltheys Geschichtsauffassung, die moderner und skeptischer ist, unterscheidet sich von den erwähnten Konstruktionen erst durch den Fortfall des Vertrauens auf eine pädagogische Teleologie der Geschichte, noch nicht dagegen hinsichtlich der Orientierung des Geschichtsverständnisses am Modell des Lebenslaufs. Dilthey sagt: »Das vollständige und in sich abgeschlossene, klar abgegrenzte Geschehen, das in jedem Teil der Geschichte, wie in jedem geisteswissenschaftlichen Begriff enthalten ist, ist der Lebensverlauf.« 1 Weil Dilthey glaubte, dass bloß im Innesein des eigenen bewussten Lebens, nicht in der Beobachtung des Naturgeschehens ein unmittelbar erlebbarer ganzheitlicher Zusammenhang – der sogenannte Strukturzusammenhang – sich präsentiere, kam er zu der fragwürdigen Forderung, dem Geschichtsverständnis eine geisteswissenschaftliche Psychologie zu Grund zu legen. 2 So zerfällt die biographisch-pädagogische Deutung des Geschichtsgangs nach Art eines Bildungsromans in ihre Komponenten, die pädagogisch-teleologische und die biographische; das moderne Bewusstsein fordert und gestattet heute nicht weniger Abstand von diesem zweiten großen Schema der Geschichtskonstruktion als gegenüber dem ersten, theologisch-eschatologischen der christlich geprägten Zeit. Dank solcher Distanz drängt sich aber erst die Frage auf, welche erkenntnistheoretischen Prämissen als selbstverständliche Voraussetzungen diesem zweiten großen Konzept der Geschichtsmetaphysik, der Deutung der Geschichte als Bildungsprozess der Menschheit, zu Grunde gelegen haben. Hinter diesem geschichtsmetaphysischen Schema und als sein Nährboden zeichnet sich das erkenntnistheoretische ab, das die Welt in Subjekt und Objekt gliedert und das Objekt als Außenwelt und damit als den Stoff deutet, in den das Subjekt so eingreift, dass es an dieser gestaltenden Leistung und an der Rück

Wilhelm Dilthey: »Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften«, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band VII. Hrsg. v. Karlfried Gründer, Frithjof Rodi. Stuttgart, Göttingen 1992, S. 71. 2 Wilhelm Dilthey: »Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie« (1894), in: ders.: Gesammelte Schriften. Band V. Hrsg. v. Georg Misch. Stuttgart, Göttingen 1957, S. 139–240, hier S. 206; vgl. ders.: »Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften«. A. a. O., S. 28 f., 71 f., 139 f. 1

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wirkung, die es dabei erleidet, sich selbst erfährt und bildet. Noch den großen Barockdenkern wie Descartes und Spinoza, erst recht den prägenden Geistern des Mittelalters wie Augustinus und Anselm von Canterbury, liegt dieses Schema fern, da sie den Menschen wesentlich als Seele verstehen, die wie die Außenwelt im Banne Gottes steht und sich unmittelbar auf diesen, nicht auf jene bezieht. In der Erkenntnistheorie des Occasionalismus bei Malebranche, der nur über die Schau der Ideen in Gott der Seele einen mittelbaren Zugang zur Körperwelt lässt, gelangt diese alte Erkenntnismetaphysik zum Gipfel und zum Ende. Erst danach gibt es die Chance, das Schicksal des Menschen und der Menschheit als einen Prozess der Bildung am Stoff der Welt zu verstehen, so, wie es im prototypischen Bildungsroman der Folgezeit »Wilhelm Meisters Lehrjahre« formuliert ist: »Alles außer uns ist nur Element, ja ich darf wohl sagen auch alles an uns; aber tief in uns liegt diese schöpferische Kraft, die das zu erschaffen vermag, was sein soll, und uns nicht ruhen und rasten läßt, bis wir es außer uns oder an uns, auf eine oder die andere Weise, dargestellt haben.« 3 Für die Geschichtsdeutung bringt diese Orientierung am Leitgedanken einer unmittelbaren Auseinandersetzung des menschlichen Subjekts mit dem Stoff der Außenwelt die Überzeugung mit sich, dass Streben, Handeln und Leiden des Menschen die Bausteine der Geschichte sind. Die Konzentration des historischen Blicks auf diese Faktoren verrät sich z. B. bei Ranke und Burckhardt in Leitsätzen ihres Geschichtsverständnisses. Seine »Absicht, die Mär der Weltgeschichte aufzufinden«, beschreibt Ranke als das Bemühen, die »Taten und Leiden dieses […] Geschöpfes, das wir selber sind, in ihrem Entstehen und ihrer Gestalt zu begreifen und festzuhalten«. 4 Den »duldenden, strebenden und handelnden Menschen« erklärt Jacob Burckhardt zum »einzigen bleibenden und für uns möglichen Zentrum« der Geschichte. 5 Noch Toynbee steht im Bann dieser Erdeutung der Geschichte als Gewebe menschlicher Aktion und Reaktion in Auseinandersetzung mit der Objektwelt; produktive Einfälle, die Antwort (»response«) auf eine kritische Lage (»challenge«) sind, gelten ihm in diesem Sinn als Wurzeln und Motive der kulturell Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre (Goethes sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe. Bd. 18. Hrsg v. Wilhelm Creizenach). Stuttgart, Berlin 1904, S. 150 (Sechstes Buch). 4 Leopold Ranke: Brief an seinen Bruder Heinrich vom 24. XI. 1826, in: ders.: Das Briefwerk. Hrsg. v. Walther Peter Fuchs. Hamburg 1949, S. 102 f. 5 Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Frankfurt 1960, S. 27. 3

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prägenden Geschichtsprozesse, die gleichsam Durchführungen dieser Motive mit voraussehbarem Rhythmus und Regelsystem sein sollen. Die Auffassung der Geschichte als Verkettung des Wirkens, Erleidens und Rückwirkens, das zwischen den Polen Subjekt und Außenwelt hin- und herspielt, scheint auf den ersten Blick so harm- und farblos, als könne sich keine gefährliche Einseitigkeit in ihr verbergen; es gibt aber beachtliche Motive dafür, an diesem Anschein zu zweifeln. Die alte, theologische Geschichtsauffassung erkannte in Gott eine die Geschichte beherrschende Macht an, die jener Polarität überlegen und der Wechselwirkung zwischen Subjekt und Außenwelt nicht unterworfen sein sollte. Zu dieser Auffassung führt kein Weg zurück. Dagegen fragt es sich, ob nicht eine moderne, phänomenologische, nur auf nüchterne Sichtung unwidersprechlich sich aufdrängender Tatsachen bedachte Betrachtungsweise in anderer Richtung erneut Hinweise auf geschichtliche Mächte liefern kann, die auf keiner Seite der Gegenüberstellung von Subjekt und Außenwelt Platz finden. In den schon erschienenen Teilen meines Werkes »System der Philosophie« habe ich die übliche Zerlegung des Weltstoffs für jedes Subjekt in Innenwelt und Außenwelt systematisch und historisch diskreditiert und als irreführend entlarvt; dafür und für die Begründung der Gedanken, die ich im folgenden meinen systematischen Publikationen entnehme, kann ich hier […] nur summarisch auf diese Publikationen verweisen, indem ich deren Kenntnis voraussetze. Ich habe z. B. gezeigt, dass Gefühle nach Maßgabe genauer phänomenologischer Sichtung und Analyse nicht private Zustände in sonst als Seele, Geist, u. dgl. bezeichneten Innenwelten erlebender Subjekte sind, sondern Atmosphären, die wie das phänomenale Klima – z. B. wie eine Frühlings- oder Gewitter- oder Novemberstimmung – in eigentümlich ganzheitlicher, genauerer Charakteristik durchaus fähiger Weise räumlich ergossen, freilich nicht durch Figuren, Dimensionen, Lagen oder Abstände gegliedert sind. Solche Gefühle können primär an umschriebenen Objekten zu haften scheinen, z. B. an einem Blick oder als Zauber und Liebreiz an einer anmutigen Gestalt oder Szene oder als numinose Mächtigkeit und Dämonie an einem heiligen oder weihevollen Platz, einem stillen Hochwald oder dergleichen; ebenso können sie einem einzelnen, von ihnen ergriffenen Subjekt als dessen anderen nicht so zugängliche Freude oder Scham usw. zuteil werden oder wie die klimatisch-optischen Atmosphären, die kollektive Aufregung in der Schlacht, die Atmosphäre der Verlegenheit, in die man hineinplatzen kann, die feierliche 274 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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oder dumpf brütende Stille, die Albernheit oder strahlende Freude eines Festes sowie die fremdartige Sonntagsruhe oder die kühle und fahle Abenddämmerung, die als Stimmungen fast erschreckend in der Luft liegen können, der Verteilung auf Subjekt und Objekt fast unzugänglich sein. Gefühle als Atmosphären sind phänomenal im Prinzip gleichgültig dagegen, ob sie überhaupt jemanden oder nur Einen oder – als kollektive Gefühle – Mehrere und vielleicht Viele langoder kurzfristig ergreifen. Wenn man von der phänomenologischen Analyse zur metaphysischen Deutung übergehen will, kann man sich solche Atmosphären, die das herkömmliche Schema des InnenweltAußenwelt-Gegensatzes sprengen, auf zwei Weisen zurechtlegen: Entweder gibt man dergleichen Phänomene als trügerischen Schein aus und rettet sich so die Chance der Zuflucht zu einer metaphysischen Monadenlehre mit säuberlich abgegrenzten Innenwelten, oder man beschränkt den Anteil der Subjekte an den sie einbettenden und ergreifenden Atmosphären auf eine Filterfunktion, die aus unzähligen, gleich Radiowellen überall ergossenen und sich durchdringenden Atmosphären jeweils einzelne auswählt und durch Resonanz verstärkt. Obwohl sich jede präzise phänomenologische Analyse grundsätzlich mit jeder widerspruchsfreien Metaphysik verträgt, würde ich, wenn ich die theoretisch stets unverbindliche Festlegung auf eine Metaphysik überhaupt wagen wollte, wohl das zweite Denkschema bevorzugen. Bisher habe ich nur Atmosphären, die Gefühle sind, herangezogen; ihnen der Art und der Bedeutung für den Geschichtsprozess nach verwandt sind die leiblichen Dispositionen, die ganzheitlichen und relativ langfristigen Grundstimmungen des spürbaren leiblichen Befindens. Auf meine Kriterien, der Abgrenzung zwischen dem Gefühl und dem leiblichen Befinden kann ich hier nicht eingehen. Wohl aber muss ich versuchen, mit wenigen Strichen die Existenz leiblicher Dispositionen anschaulich hervortreten zu lassen. Ich gehe von der Gegenüberstellung des hellen, hohen Schalls mit dem tiefen und dunklen aus. Zum hellen, hohen Klang der Fanfare oder Barocktrompete passt in leicht ersichtlicher Weise eine bestimmte Art von Körperhaltung und -bewegung, nämlich etwa ein leichtes und beschwingtes, aber zugleich konzentriertes und gespanntes, federndes Ausschreiten; dem dunklen, dumpfen Klang einer Bassgeige würde dagegen eher eine visköse, schwere, massige Haltungs- und Bewegungsweise als ein spitzes, leichtes Hüpfen entsprechen. Damit sind Unterschiede der leiblichen Disposition berührt, die nicht zuletzt 275 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

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am Gang zum Vorschein kommen, aber auch schon am eigenen Leib gespürt, nicht erst durch Beobachtung von außen wahrgenommen werden können. Solche leibliche Dispositionen können ebenso wie Gefühle nicht nur die private Eigenart einzelner Individuen prägen, sondern auch die kollektiven Stile von Kulturen, Zeitaltern, Rassen, Völkern; so liegt z. B. in intuitiv leicht fassbarer, freilich schwer explizierbarer und hier ohne Analyse und Prüfung nur eben anzudeutender Weise in jenem Stil der Leiblichkeit, der den hellen und hohen Klängen angemessen ist, eher etwas Gotisches, in dem anderen, massig-viskösen und schweren eher etwas Romanisches. Leibliche Dispositionen können, wie Sartre nahelegt, durch Ekel, aber auch durch Wollust getönt sein, ja sogar dem Hunger oder dem Durst mehr nahestehen, freilich ohne deshalb schon ein beharrliches Bedürfnis nach fester oder flüssiger Nahrung zu induzieren. Genauere Aufschlüsse über diese bei so flüchtiger Andeutung vielleicht befremdlichen Thesen habe ich anderswo gegeben. Die leiblichen Dispositionen können auf die Art, wie sich die Umwelt dem erlebenden Menschen präsentiert, gleichsam abfärben; dahin deutet schon die erwähnte Verwandtschaft gewisser leiblicher Dispositionen mit typischen Merkmalkomplexen von Schällen. 6 Gefühle und leibliche Dispositionen sind wie klimatische Atmosphären, in die das Erleben und Verhalten von Subjekten im Geschichtsverlauf eintauchen kann, ohne ihnen wie Objekten der sogenannten Außenwelt gegenüberzutreten und im Wechselspiel des Handelns und Erleidens ihrer habhaft zu werden. Sie können das Subjekt gleichsam hinterrücks beschleichen, ergreifen und erfüllen, ohne sich zur Auseinandersetzung anzubieten. Freilich gehört zur Ergriffenheit von Gefühlen auch die Chance der Auseinandersetzung mit, ja Distanzierung von ihnen. Als ganzheitliche Atmosphären, die von sich aus auf die Abgrenzung zwischen Subjekt und Umwelt keine Rücksicht nehmen, werden sie diesem aber doch in ganz anderer Weise zum Schicksal als die der Außenwelt zugerechneten Objekte und Konstellationen. Wenn es zu zeigen gelingt, dass solche ganzheitlichen Atmosphären den Gang der Geschichte wesentlich mitbestimmen, ist also eine Unzulänglichkeit des vorhin besprochenen Denkschemas erwiesen, das aus der Säkularisierung der theologischen Für tieferes Verständnis dieser Zusammenhänge verweise ich auf den Beitrag »Zwei Vorträge zur Wahrnehmungslehre« in: Hermann Schmitz: Subjektivität. Beiträge zur Phänomenologie und Logik. Bonn 1968, S. 33–68

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Geschichtsauffassung hervorgeht und die Geschichte bloß am Zusammenwirken der Pole Subjekt und Außenwelt im Streben, Tun, Rückwirken, Leiden und Lernen orientiert. Dieses Schema begann zu herrschen, als mit dem Verlassen des Glaubens an Gott als Herrn der Geschichte bloß noch Subjekt und Außenwelt als deren Teilnehmer in unmittelbarer Gegenüberstellung zurückblieben, und manifestierte sich seither in der Deutung der Geschichte nach Art eines Bildungsromans oder in der Weise, dass die Geschichte als Auswirkung produktiver Reaktionen einfallsreicher geschichtlicher Subjekte auf kritische objektive Lagen aufgefasst wurde; es muss nun vielleicht revidiert werden, wenn sich genügend Hinweise darauf finden, dass ganzheitliche Atmosphären, in die geschichtliche Subjekte wie in ein spürbares Klima unwillkürlich eintauchen, die Bildungen und Wandlungen der Geschichte wesentlich mitbestimmen. Einige Beobachtungen, die so etwas vermuten lassen, will ich nun knapp zusammenstellen. Besonders eindringlich spricht zu Gunsten solcher Vermutungen die Geschichte der künstlerischen Stile, nicht nur in den hohen Künsten, sondern ebenso z. B. im Kunstgewerbe, in der Mode-, Tracht-, Möbel- und Ornamentgeschichte. Was ich darüber zu sagen habe, ist in einem Buch 7 breit ausgeführt und eingehend begründet; ich komme jetzt nur mit wenigen Strichen knapp andeutend auf einiges davon zurück. Besonders liegt mir daran, die geschichtsphilosophische Bedeutung der Grundgedanken Heinrich Wölfflins hervorzukehren. Dessen kunsthistorische Thesen von der Geschichte des Sehens und der doppelten Stilwurzel besitzen eine geschichtsphilosophische Pointe, die bisher verborgen geblieben ist. Wölfflin vergleicht einmal die Zeitgenossen Terborch und Bernini. Im Gegenstand, im Ausdruck, in der Gebärde ihrer Werke unterscheiden sich beide Meister so radikal wie möglich; »vor den stürmischen Figuren Berninis«, so schreibt Wölfflin, »wird niemand an die stillen, feinen Bildchen Terborchs denken.« In der spezifisch malerischen Auffassung des Gegenständlichen findet er dennoch eine auffällige Übereinstimmung beider Zeitgenossen, verglichen mit der ganz andersartigen Weise des Sehens, die ihm ein Jahrhundert früher die künstlerische Darstellung zu beherrschen scheint. Deshalb glaubte Wölfflin sich berechtigt, von der Geschichte der Weltanschauungen, Gefühle und Ge7 Vgl. ders.: System der Philosophie. Bd. II/2: Der Leib im Spiegel der Kunst. Freiburg, München 2019.

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danken eine Geschichte des Sehens als zweite, von jener ersten im wesentlichen unabhängige Stilwurzel abzusondern. Dieser Gedanke bleibt unabhängig davon bedeutsam, ob Wölfflin vorschnell verallgemeinert hat. Er muss aber vor Wölfflins eigener Deutung, da wo diese in eine Sackgasse zu führen scheint, geschützt werden. Wölfflin suchte in seiner Blütezeit die Geschichte des Sehens von jeder Verstrickung in außerästhetische Prozesse zu reinigen und bloß als Bildungsgeschichte eines autonomen optischen Geschmacks hinzustellen. Die einfache, von mir andernorts ausgeführte Überlegung, 8 dass eine solche Geschichte nach Wölfflins eigenen Voraussetzungen viel schneller ablaufen müsste, als dieser zugibt, entwertet seinen Versuch reinlicher Absonderung einer bloßen Formgeschichte künstlerischen Sehens. Vielmehr wird Wölfflins Abgrenzung der Geschichte des Sehens im Ganzen der Kunstgeschichte erst fruchtbar und geschichtsphilosophisch brisant, wenn man sie im Licht von Wölfflins Jugendwerken deutet, der Dissertation »Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur« 9 und der Habilitationsschrift »Renaissance und Barock« 10. Hier hebt Wölfflin die maßgebliche Bedeutung des sogenannten Körpergefühls, der leiblichen Disposition in meinem Sinn, für die Stilgeschichte hervor und spielt diesen Gesichtspunkt geistreich gegen die übliche geistesgeschichtliche Betrachtungsweise aus, z. B. bei der Erörterung der Art des Zusammengehörens von Gotik und Scholastik. Im Licht dieses Geschichtsverständnisses wird die von Wölfflin entdeckte Eigenständigkeit der Geschichte des Sehens zum Anzeichen einer ebensolchen Eigenständigkeit einer Geschichte der leiblichen Dispositionen. Meine Überzeugung davon, dass es eine Geschichte der leiblichen Dispositionen gibt, die an der Geschichte des Stils in den Künsten maßgeblich beteiligt ist, habe ich in meinem genannten Buch so vielseitig begründet, gegen Bedenken präzisiert und der üblichen geistes- und sozialgeschichtlichen Erklärungsweise mit Anspruch auf Überlegenheit entgegengesetzt, dass es sich erübrigt, hier nochmals darauf einzugehen. Wichtiger ist an dieser Stelle der Hinweis, dass diese Geschichte der leiblichen Disposition in ihren Wirkungen

Vgl. ebd., S. 285. Heinrich Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur. München 1886. 10 Ders.: Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien. München 1888. 8 9

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weit über die Stilgeschichte hinausreicht und diese in Zusammenhang mit anderen Feldern geschichtlicher Entwicklung bringt. Auch dafür habe ich andernorts einige Belege geliefert. 11 Ein weiteres Beispiel will ich nun vorbringen. Alfred von Martin hat darauf hingewiesen, dass beim Übergang der Renaissancekultur in die gegenreformatorische des Barock gesellschaftliche Ideale auftauchen, in denen der Geist des Rittertums wieder durchzubrechen scheint. 12 Angesichts dieser Erscheinung kann ein geistes- und sozialgeschichtlicher Erklärungsversuch nur so lange befriedigen, bis man bemerkt, dass auch in der Anwendung gewisser Formmotive, die auf diese Weise kaum ausreichend verständlich gemacht werden kann, der damalige Manierismus der spätgotischen Kunst so auffällig nahekommt, dass man schon unter formgeschichtlichem Gesichtspunkt versucht sein kann, die eigentliche Renaissance trotz ihrer überragenden künstlerischen Bedeutung für einen fast nur episodischen Zwischenfall zu halten. 13 Wenn man jene sozialgeschichtliche und diese stilgeschichtliche Beobachtung zusammenhält, drängt sich die Vermutung auf, dass am Rückfall des gegenreformatorischen Zeitalters in eine größere Nähe zum Mittelalter, als die Renaissance sie besaß, viel stärker spontane, unwillkürliche, atmosphärische Umstimmungen – auch im Bereich der leiblichen Disposition – beteiligt waren, als die übliche Meinung gelten lässt. Autoren wie Nietzsche und Alexander Rüstow haben sich bitter über Luther und die Deutschen seiner Zeit beschwert, die durch die Reformation jene Reaktion verschuldet hätten, die dann zum Rückfall hinter die Renaissance in die Nähe des Mittelalters führte. Wenn meine Vermutung zutrifft, dürfen diese Anklagen gedämpft werden. Dann haben nämlich die geschichtlichen Entscheidungen, mit denen damals Luther und seine Anhängerschaft im Sinne einer genialen Antwort nach Toynbee auf die Herausforderung der Lage reagierten, die fragliche Entwicklung nur zum Teil bestimmt, weniger vielleicht als spontane, atmosphärische Umstimmungen, die bis in die leibliche Disposition hineinreichen. Dass atmosphärische Umstimmungen des vage so genannten Lebensgefühls, einschließlich der leiblichen Disposition, ein Zeitalter prägen können, leuchtet vielleicht besonders angesichts solcher SpuVgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. II/2. A. a. O., S. 260–264. Alfred von Martin: Soziologie der Renaissance. Frankfurt 1949, S. 122–124. 13 Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bd. II/2. A. a. O., S. 106 f., 117, 269. 11 12

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ren vitaler Schwäche und Dekadenz in der »Weltanschauung« im buchstäblichen, optischen Sinn dieses Wortes ein, wie sie aus dem späten Altertum überliefert werden. Aelian (ca. 200 n. Chr.) bezeugt den verbreiteten Eindruck seiner Zeitgenossen, die Flüsse würden seichter und die Berge niedriger; der Ätna sei auf dem Meer nicht mehr aus so weitem Abstand wie früher sichtbar, und Ähnliches gelte für den Parnass und den Olymp. 14 Zugleich und bald darauf verwandelt sich die Atmosphäre des Gefühls, von dem die Menschen beherrscht und ergriffen werden. »Die Welt wird immer unheimlicher und erschreckender.« 15 Die meisterhafte Pointierung der spätlateinischen Stilgeschichte, die Erich Auerbach im 2. und 3. Kapitel seiner »Mimesis« an Hand von Textbeispielen aus Petronius, Tacitus, Apuleius, Ammianus Marcellinus und Augustinus vollbracht hat, macht diesen Wandel einprägsam anschaulich, besonders seine Charakteristik der Darstellungsweise Ammians im 4. Jahrhundert: Etwas Drückend-Schweres, eine Verfinsterung der Lebensatmosphäre zeigt sich schon seit dem Ende des ersten Jahrhunderts der Kaiserzeit, bei Seneca ist es unverkennbar, und über das Düstere der taciteischen Geschichtsschreibung ist oft gesprochen worden. Hier bei Ammian aber ist es zu einer magischen und sinnlichen Entmenschlichung gekommen. […] Gewiß ist der taciteische Tiberius düster genug, aber er bewahrt doch noch viel von innerer Menschlichkeit und Würde. Bei Ammian ist allein das Magische, Groteske und dabei Schaurig-Pathetische übriggeblieben, und man erstaunt, welch ein Genie in dieser Richtung ein sachlich tätiger, ernsthafter hoher Offizier entwickelt; wie stark muß die Atmosphäre gewesen sein, wenn sie bei Menschen dieses Ranges und dieser Lebensführung (er hat offenbar einen großen Teil seines Lebens in harten und strapazenreichen Feldzügen zugebracht) solche Talente zur Entfaltung bringt! 16

Die Betrachtung der spätantiken Porträtplastik und der Religion, deren eigenartigstes Kennzeichen damals die Theurgie ist, festigen den Eindruck, dass ein ganzes Zeitalter von ergreifenden atmosphärischen Mächten dämonisiert und gleichsam verhext worden ist. Ich komme zu einem anderen Beispiel solcher Prozesse, das uns näher, sogar sehr nahe liegt. Alfred Weber hat gefragt:

Aelian: Variae Historiae. VIII 11. Alexander Rüstow: Ortsbestimmung der Gegenwart. Eine universalgeschichtliche Kulturkritik. Band II: Weg der Freiheit. Erlenbach, Zürich 1952, S. 203. 16 Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern 1959, S. 56. 14 15

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Wie war es möglich, daß innerhalb weniger als anderthalb Jahrhunderten ohne Änderung der Volkssubstanz in Deutschland an die Stelle des braven, verträumten und gutmütigen Deutschen, wie ihn bekanntlich Frau von Stael zur Goethezeit etwas herablassend, aber zutreffend als Durchschnittstyp gezeichnet hat, an die Stelle des Durchschnittsdeutschen jener Zeit der ›Dichter und Denker‹ zuerst der sehr realistische, geistig kurzgeschorene tatgewohnte, gar nicht verträumte Mensch der Bismarck-Ära treten konnte, was tatsächlich eine charakterliche Typverwandlung ersten Ranges darstellt? Und wie war es möglich, daß dann jene völlige Auflösung erfolgte, jene Desintegration des bisherigen Fixierungsansatzes in der Hitlerzeit, in der – das dürfen wir uns nicht verheimlichen – nicht bloß »oben« eine skrupellose, in Massenmorden sich ergehende Gangsterclique herrschte, sondern auch, was mindestens ebenso wichtig ist, in den breiten Bürgerschichten ein Charakterchaos eintrat, bei dem weitgehend keiner vor der Denunziation des anderen sicher war, nicht einmal die Eltern vor der seitens ihrer Kinder. 17

Sicherlich lassen sich politische, geistes- und sozialgeschichtliche Faktoren dieser Entwicklung mit Erfolg aufsuchen, aber der Eindruck drängt sich auf, dass eine solche verständig konstruierende Erklärung am Wesentlichsten vorbeigeht, wenn sie nicht auch ursprüngliche, gleichsam klimatische Umstimmungen der Atmosphäre des Erlebens, bis hinein in die leibliche Disposition, gelten lässt. Ein Beispiel dafür ist der überraschende Durchbruch des Jugendstils, der in Deutschland 1896 plötzlich einsetzt, gleichzeitig und z. T. schon vorher als art nouveau auch in Frankreich, England, ja Spanien und Italien. 18 Dolf Sternberger hat auf die hintergründige Bedeutung dieser Bewegung hingewiesen, die nicht die dekorativen und nicht einmal die Künste überhaupt allein erfasste, sondern in Mode, Tracht und Lebensweise, in Gedicht und Gedanken, ja in die Wissenschaft und Philosophie einwirkte, Wollen und Begehren derer, die von ihr berührt waren, wie durch eine geheime Droge verändernd. Es 17 Alfred Weber: Der dritte oder der vierte Mensch. Vom Sinn des geschichtlichen Daseins. München 1953, S. 39; vgl. auch schon Friedrich Nietzsche: Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile (Kritische Studienausgabe. Hrsg. v. Gorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 3). München 1980, S. 162 ff. (§ 190) und ders.: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (Kritische Studienausgabe. Hrsg. v. Gorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 5). München 1980, S. 140 ff. (§ 209). 18 Hierzu vergleiche man: Italo Cremona: Die Zeit des Jugendstils. München, Wien 1966; Jost Hermand (Hrsg.): Jugendstil. Darmstadt 1971 und ders.: Jugendstil. Ein Forschungsbericht 1918–1964. Stuttgart 1965.

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ist dies augenscheinlich und handgreiflich ein Phänomen nicht der Geistesgeschichte allein, sondern ebenso sehr und zugleich damit der Leibes- und Sinnengeschichte. 19

Tänzerische Impulse, wie die Schleiertänze der Loïe Fuller sie damals suggerieren 20, regen den Jugendstil an und pflanzen sich durch ihn in das Gepräge des Zeitalters hinein fort, als Symptome einer Umstimmung der leiblichen Disposition, die sich mit einer charakteristischen Aufregung des Gefühls verbindet: »Die Sehnsucht schwült aus jedem Winkel, jeder Falte der Seele«, bezeugt damals Melchior Lechter im Bann dieser neuartigen Ergriffenheit. 21 Eine Wandlung des erotischen Appetits zum »Babytype« schmaler, unerblühter Mädchenkörper mit zweideutig rührendem, knabenhaftem, ambivalentem Erotismus 22 hat sich von dort her tief in Geschmack und Lebensgefühl der Folgezeit hineingefressen, und ebenso folgenreich und langfristig ist diese von der Jugendbewegung umgestimmt worden, die damals, freilich ohne Anknüpfung an den Jugendstil 23, aber doch aus einem vergleichbar spontanen, rätselhaft plötzlichen und unwillkürlichen, auch wohl qualitativ verwandten Impuls hervorgeht. Man braucht nur an George und seinen Kreis, an viele ähnlich geschichtsmächtig aufgeregte und gestimmte Strömungen und Strebungen jener Zeit und deren kaum abgrenzbaren, aber tief und weit dringenden Einfluss auf Bewusstsein, Leben und Geschichte der Deutschen und anderer Völker zu erinnern, um mit Beifall Sternbergers Formulierungen aufgreifen zu können: »Wir haben noch keine Vorstellung und keinen Begriff von unserer eigenen unmittelbaren geistig-leiblichen Vorgeschichte, von der Epoche der Jahrhundertwende in ihrer Breite und Gewalt.« 24 Geschichtliche Wendepunkte brauchen nicht dramatische Krisen, Entschlüsse, Erfolge und Misserfolge in der Geschichte der Taten und Leiden zu sein; sie können auch in manchmal kaum minder präzis datierbaren unwillkürlichen Verwandlungen des Stils und der Atmosphäre bestehen, bei denen es den Menschen – manchmal erst kleineren, dann größeren Kreisen – unversehens anders zumute wird, Jost Hermand (Hrsg.): Jugendstil. A. a. O., S. 148. Ebd., S. 136, 280 f. 21 Ebd., S. 30. 22 Ebd., S. 104, 385. 23 Alexander Rüstow: Ortsbestimmung der Gegenwart. A. a. O., S. 620, Anm. 11; vgl. zudem ebd., S. 236–249. 24 Jost Hermand (Hrsg.): Jugendstil. A. a. O., S. 150. 19 20

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mit mehr oder minder einschneidenden Folgen für Gestalten, Erleben und geschichtliches Verhalten. Die Jahre um die letzte Jahrhundertwende sind eine solche Epoche. Die leibliche und emotionale Verzauberung des Befindens im Zeichen des Jugendstils und der Jugendbewegung ist nur ein Ausschnitt aus dieser schwer übersehbaren, vielgestaltigen Umwälzung, deren Art und Ausmaß sich Carl Gustav Jung von einer anderen Seite und mit anderen Voraussetzungen zu nähern sucht, indem er von einer kollektiven Inflation des WotanArchetypus spricht. 25 Atmosphärische Wandlungen des Gefühls und der leiblichen Disposition dürften auch die Wurzeln oder Quellen der Substanz jener Lebensstile sein, die Erich Rothacker in seiner bedeutenden Kultur- und Geschichtsphilosophie mit den Kulturen identifiziert hat. 26 Ein Mangel seiner Betrachtungsweise, die noch zu sehr im Banne der Gegenüberstellung von Subjekt und Umwelt, »challenge and response« steht, ist das Fehlen dieser Kategorie des Atmosphärischen, das unwillkürlich und diesseits aller dramatischen Auseinandersetzung und Stellungnahme Menschen und Geschichte prägt. Rothacker sagt: »Die Lebensformen […] sind nachverstehbar aus existentiellen Entscheidungen der handelnden Menschen und Gruppen angesichts bestimmter konkreter Lagen.« 27 Lage und Entscheidung sind Kategorien des Dramas der Geschichte; dieses Drama spielt sich aber auf einer Bühne ab, die nicht bloß durch den Boden der Tradition und die Kulissen und Requisiten der naturgegebenen Umstände zum Geschehen beiträgt, sondern ebenso durch das auf ihr herrschende eigenartige, irreduzible Klima, das man sich auch als Beleuchtung oder Tönung des Raums der Geschichte versinnlichen mag. Dieses Klima bildet sich aus kollektiv geschichtsmächtigen Gefühlen und leiblichen Dispositionen und ist allmählicher oder plötzlicher, unvorhersehbarer Wandlung fähig. In bewegten Zeiten kann es binnen weniger Jahre an einem sprunghaften Wechsel der Tendenz von Generationen zum Vorschein kommen; Charlotte Bühler hat einen interessanten Versuch unternommen, solchen Verschiebungen

Vgl. Carl Gustav Jung: »Wotan«, in: ders.: Aufsätze zur Zeitgeschichte. Zürich 1946, S. 1–23. 26 Erich Rothacker: Probleme der Kulturanthropologie. Bonn 1948, S. 147 ff. Vgl. ders.: Geschichtsphilosophie. München 1971, S. 37 ff. An beiden Stellen findet sich die thesenartige Kapitalüberschrift: »Kulturen als Lebensstile.« 27 Erich Rothacker: Geschichtsphilosophie. A. a. O., S. 70. 25

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an Hand von Tagebüchern Jugendlicher auf die Spur zu kommen. 28 So ein Klima gibt den Menschen ihre Haltungen, Stile, Impulse, Neigungen und spezifischen Gestaltungskräfte ein und bereitet sie dadurch zu den Einfällen und Entschlüssen vor, wodurch sie in der Geschichte der Taten und Leiden mitspielen und das klimatisch Mögliche selektiv zur eigentümlich geprägten Kultur hochstilisieren. Im Zeichen dieser neuen Anschauungsweise, die dem Anteil des Atmosphärischen an der Geschichte und an den geschichtlichen Ausprägungen menschlichen Lebens gerecht werden will, stellt sich der Zusammenhang in der Geschichte freilich komplizierter und gebrochener dar, als für das lange Zeit und bis heute herrschende historische Denken, dem dieser Zusammenhang als ein unendlicher Fortsetzung fähiges Gewebe von Taten und Leiden, ineinander greifenden Rhythmen der Auseinandersetzung zwischen kritischen Lagen und mehr oder minder einfallsreichen und mutigen Reaktionen entscheidender Menschen auf solche Lagen gilt. Die Kultur als Ganzes und die Eigenart des sie tragenden Lebensstils wird jeweils von Atmosphären, deren Bildung und Umbildung keinem Rhythmus und keinem Gesetz der Gleichförmigkeit zu unterstehen scheint, wesentlich mitbestimmt. Lediglich innerhalb der vom Thema zusammengehaltenen Spezialgeschichten einzelner Kulturgebiete, wie der Religions-, Rechts-, Kunst-, Philosophie-, Technik- und Medizingeschichte, sorgt die Beharrlichkeit der Aufgabe für eine Tendenz zu mehr oder minder linearer Konsequenz, zu einem »Fortschritt«, der aber an den Verwerfungsgrenzen zwischen heterogenen geschichtlichen Atmosphären immer wieder gebrochen und durch die Eigenart eines neuen Stils, eines neuen unwillkürlichen »Klimas« des geschichtlichen Lebens umgeprägt und abgelenkt wird. Die von mir angeregte Betrachtungsweise betont insofern die Eigenständigkeit des jeweils Neuen etwas stärker als den geschichtlichen Zusammenhang und nimmt so mit neuem Sinn die großen Maximen Rankes wieder auf: »Ohne Sprung, ohne neuen Anfang kann man von dem All-

Charlotte Bühler: Drei Generationen im Jugendtagebuch. Jena 1934; vgl. die telegrammstilartige Wiedergabe ihres Eindrucks ebd., S. 30: »Von einem Jahr zum nächsten, nachdem alles Jahre lang gleich war und schien oder sich kaum merklich änderte, jetzt bemerkenswerte Wandlungen. Freilich wie wir sehen werden, in langen Übergangszeiträumen Schritt für Schritt das Neue einführend, bis es ganz und geschlossen dasteht.«

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gemeinen gar nicht in das Besondere gelangen.« 29 »Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott […].« 30

Leopold von Ranke: »Politisches Gespräch«, in: ders.: Historisch-politische Zeitschrift, Bd. 2 (1833–1836), S. 775–807, hier S. 790. 30 Leopold von Ranke: Über die Epochen der neueren Geschichte (Aus Werk und Nachlass. Bd. 11. Hrsg. v. Theodor Schieder, Helmut Berding). München, Wien 1971, S. 59 f. 29

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20. Kollektive Atmosphären

Kollektive oder gemeinsame Atmosphären sind stets an gemeinsame Situationen gebunden, während gemeinsame Situationen auch ohne gemeinsame Atmosphären vorkommen. Die Klärung des Verhältnisses von Atmosphären und Situationen ist also von zentraler Bedeutung für das Verständnis kollektiver Atmosphären. Dafür muss aber zunächst die Eigenart der Atmosphären einerseits, der Situationen andererseits herausgearbeitet werden. Ich beginne mit den Atmosphären. Eine Atmosphäre ist eine ausgedehnte (nicht immer totale) Besetzung eines flächenlosen Raumes im Bereich erlebter Anwesenheit, d. h. dessen, was als anwesend erlebt wird. Die Zumutung flächenloser Räume hat für die gewöhnliche Einstellung etwas Befremdliches, weil man den Raum für dreidimensional hält und dafür als zweidimensionaler Ausschnitt die Fläche nötig ist, von der man durch Hinzufügung der Dicke oder Tiefe zum Raum aufsteigt. Auch den so eingestellten Menschen sollte man aber leicht von der Existenz flächenloser Räume überzeugen können, indem man ihn an den Raum des Schalls erinnert. Räumlich ist der Schall nicht nur durch Signale für Richtung und Entfernung, sondern er füllt selbst Raum durch sein Volumen, weit ausladend als dumpfer, sonorer Klang, scharf und spitz als heller Pfiff, wieder anders als Hall und Echo, sowie durch seine Bewegungssuggestionen, die von der Musik auf tanzende Leiber überspringen oder als stechender Lärm den Belästigten einengen. Der Schall hat keine Flächen; deshalb ist sein Volumen auch nicht dreidimensional, sondern dynamisch wie das einer ausladenden Gebärde. Flächenlos sind ferner der Raum des Wetters, etwa der trüben Atmosphäre eines Regentages oder der frischen Luft, wenn man aus dumpfer Stube ins Freie tritt, der Raum der einprägsamen (feierlichen, drückenden oder zarten) Stille, des entgegenschlagenden Windes, der frei sich entfaltenden Gebärde, des unauffälligen, dauernd durch kleine Bewegungen in Anspruch genommenen Rückfeldes, 286 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Kollektive Atmosphären

des Wassers für den Schwimmer, der sich vorwärts kämpft oder ruhig tragen lässt. Die wichtigsten flächenlosen Räume sind die des spürbaren Leibes und der Gefühle. Ich will mich hier nicht dabei aufhalten, wie ich den spürbaren Leib vom sicht- und tastbaren Menschen- oder Tierkörper der Ausdehnung und Dynamik nach unterscheide und den Gefühlen eine eigenartige Räumlichkeit zuspreche; ich habe mich darüber so oft und eingehend geäußert, dass ich das Gemeinte hier als bekannt voraussetzen darf. 1 Statt dessen will ich Atmosphären dem Typ nach differenzieren. Der Bedarf danach stellt sich z. B. beim Wetter ein. Ich meine nicht das naturwissenschaftlich konstruierte Wetter mit Luftdruck, Luftfeuchtigkeit usw. – schon die Luft ist ein Konstrukt 2 –, sondern das unmittelbar gespürte und gesehene Wetter, das nächstliegende Gesprächsthema noch unter Fremden. Dieses Wetter ist im angegebenen Sinn eine Atmosphäre, die oft den Raum erlebter Anwesenheit ganz erfüllt und darin den Gefühlen gleicht, braucht aber kein Gefühl zu sein. Man kann sich über das Wetter ärgern, wenn es z. B. lästig wird oder Pläne durchkreuzt, ohne von dieser Atmosphäre affektiv betroffen zu werden, in dem Sinn, dass etwas von ihr in das eigene leiblich-affektive Betroffensein überginge; wenn dies aber doch der Fall sein sollte, würde man sie gleich mit einer fertigen Stellungnahme aufnehmen und ihr Eindringen kontrollieren können. Das ist anders bei den Atmosphären, die Gefühle sind. Auch sie brauchen nicht ergreifend in das leiblich affektive Betroffensein überzugehen, aber wenn sie so eindringen, tun sie es stürmisch oder schleichend mit einem Impuls, dem gegenüber der Betroffene nicht von vornherein selbständig ist; er muss erst einmal Partei für das Gefühl nehmen und kann sich erst nach einer Anfangsphase in Preisgabe oder Widerstand selbständig dazu verhalten. Auch das Wetter kann von dieser Art sein; dann ist es ein Gefühl. Wegen dieser Verlaufsstruktur bezeichne ich das affektive Betroffensein von Gefühlen als Ergriffenheit.

1 Jüngste Zusammenfassungen in: Hermann Schmitz: Der Leib. Berlin, New York 2011; ders.: »Atmosphärische Räume«, in: Rainer Goetz, Stephan Graupner (Hrsg.): Atmosphären II. Interdisziplinäre Annäherungen an einen unscharfen Begriff. München 2012, S. 17–30; ders.: »Atmosphäre und Gefühl«, in: Christiane Heibach (Hrsg.): Atmosphären. Dimensionen eines diffusen Phänomens. München 2012, S. 39–56 und ders.: Atmosphären. Freiburg, München 2014, S. 13–49. 2 Hermann Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie? Rostock 2003, S. 99–112.

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Kollektive Atmosphären

Während dies das unterscheidende Merkmal der Gefühle von solchen Atmosphären, die zur totalen Erfüllung des Raumes erlebter Anwesenheit fähig sind, sein dürfte, unterscheiden sich Atmosphären des Gefühls von leiblichen Atmosphären durch ihren Anspruch, den Raum erlebter Anwesenheit total zu besetzen – ich würde sagen: zu erfüllen, wenn es nicht auch ein Gefühl der Leere gibt, das ich als Verzweiflung (im Gegensatz zur Trauer) beschrieben habe. Leibliche Atmosphären sind leibliche Regungen, die nicht auf einzelne Leibesinseln verteilt sind, sondern den ganzen spürbaren Leib umfassen, wie wenn man sich müde und lustlos fühlt oder gereizt, oder umgekehrt bei etwas warm wird und mit Eifer bei der Sache ist. Dann können zwar einzelne Leibesinseln beteiligt sein, aber die Regung ist so, dass man sich selbst im Ganzen so oder so betroffen weiß und nicht bloß etwas von sich hier oder dort. Solche ganzheitlichen leiblichen Regungen, wozu auch das bloß leibliche Behagen im Gegensatz zum Behagen als Gefühl der Geborgenheit gehört, strahlen nicht in den ganzen Raum erlebter Anwesenheit aus und erheben nicht den Anspruch, ihn ganz zu besetzen, wie die Gefühle, z. B. die Scham, die am Rand ihrer Ausstrahlung zur Peinlichkeit für die Anwesenden wird, oder die Trauer, die durch ihre Autorität die Fröhlichkeit des Fröhlichen, der ahnungslos an tief traurige Menschen gerät, niederschlägt oder dämpft; ich habe an diesem sozialen Gefühlskontrast, der konträre Gefühle von ihnen verwandten konträren leiblichen Regungen unterscheidet, ein spezifisches Merkmal der Gefühle abgelesen. Von den Atmosphären komme ich nun zu den Situationen. Eine Situation ist Mannigfaltiges, das durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind, zusammengehalten wird. Binnendiffus ist die Bedeutsamkeit, weil nicht alles (sehr oft nichts) in ihr einzeln ist; einzeln ist, was eine Anzahl um 1 erhöht. Anzahlen sind Eigenschaften von Mengen, Mengen Umfänge von Gattungen, die gewisse Sachverhalte sind. Einzeln kann etwas daher nur als Fall von etwas, einer Gattung, sein. Wenn diese von vorherein einzeln sein müsste, wäre wieder eine Gattung nötig, deren Fall sie wäre, und so fort ad infinitum; man käme nie zu etwas Einzelnem. Daher ist Einzelnes nur möglich, wenn Gattungen in satzförmiger Rede aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen entbunden werden und Sachen als ihre Fälle schon vereinzeln können, ehe sie selbst definitiv einzeln sind. So kann man in abstracto ableiten, dass Situationen benötigt werden, damit überhaupt etwas einzeln sein kann. Konkret sind Situationen 288 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Kollektive Atmosphären

der ursprüngliche Boden der gesamten Lebenserfahrung, schon beim Säugling, wohl schon beim Embryo. Wir gehen unablässig durch Situationen hindurch, die meist unauffällig und dann nicht einzeln sind. Alle Wahrnehmung geht auf Situationen, aus denen Einzelnes nur herausgegriffen und zu Konstellationen vernetzt werden kann. Ein Grundfehler der in Europa seit der Scholastik, namentlich der nominalistischen Spätscholastik, herrschenden Denkweise war und ist der Projektionismus, zu meinen, am Anfang der Lebenserfahrung werde Einzelnes aufgelesen, zusammengestellt und je nach Bedürfnissen und Interessen mit Bedeutungen behängt. Man hat sich die Voraussetzungen der Einzelheit nicht klargemacht. Situationen können aktuell und zuständlich sein. Aktuell sind Situationen, deren Verlauf sich in beliebig dichten zeitlichen Querschnitten, von Augenblick zu Augenblick, verfolgen lässt, z. B. Gefahren, Gespräche, Ausübungen motorischer Kompetenzen wie Gehen, Kauen, Sprechen, ferner Träume, Phantasien, Überlegungen; es lohn sich nicht, hier weiter aufzuzählen. Zuständlich sind Situationen, deren Verlauf, wenn sie nicht plötzlich abreißen, sich nur nach längeren Fristen sinnvoll abfragen lässt, z. B. eine Sprache, eine Persönlichkeit (d. h. zuständliche persönliche Situationen), eine motorische oder intellektuelle Kompetenz, die Standpunkte, die Fassung, die Gesinnung eines Menschen, der im Wechsel des Gesichtes sich durchhaltende Charakter, an dem man ein Ding als etwas von dieser Art oder einen Menschen als diesen (mit dieser Stimme, diesem charakteristischen Gang usw.) erkennt, Lebensformen eines Lebenskreises, in denen sich etwa eine Familie, ein Dorf, eine soziale Schicht eingerichtet hat, und so weiter. Situationen können individuell oder gemeinsam sein. Eine individuelle Situation ist für jede Person ihre zuständliche persönliche Situation, die sogenannte Persönlichkeit der Person. Sie bildet sich aus den Bedeutungen, die für die Person subjektiv sind, in dem Sinn, dass höchstens sie diese Bedeutungen sagen kann. Im präpersonalen Leben sind sie ohne Vereinzelung in Situationen versenkt. Im Zuge der Personwerdung können mit Hilfe satzförmiger Rede einzelne Bedeutungen abgerufen und neutralisiert, d. h. der Subjektivität für die Person entkleidet werden. Unter ihnen sind Sachverhalte, die Gattungen sind und viele Fälle haben können. Wenn für solche Fälle der tatsächliche oder untatsächliche Sachverhalt, dass sie existieren, für die Person neutral wird, werden ihr diese Fälle fremd. Gegenüber dem Fremden baut sich für die Person eine Sphäre des Eigenen auf, bestehend aus allem, woran sie in Zu- oder Abneigung hängt, und 289 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Kollektive Atmosphären

deren Kern ist ihre persönliche Situation, zur persönlichen Eigenwelt bereichert durch alle die Sachen, für die der tatsächliche oder untatsächliche Sachverhalt, dass sie existieren, für die Person subjektiv geblieben oder geworden ist. Daraus ergeben sich unübersehbar viele individuelle Situationen der Person, aktuelle sowohl wie zuständliche. Sie sind teilweise der persönlichen Situation als partielle Situationen inkorporiert. Ebenso ist die persönliche Situation in gemeinsame Situationen eingebunden, teils so fest, dass sie nicht ohne erhebliche Rückstände und Verwundungen daraus gelöst werden kann, teils so locker, dass der Person der Wechsel leicht fällt. Im ersten Fall handelt es sich um implantierende, im zweiten um includierende Situationen. Situationen, auch gemeinsame oder kollektive Situationen, brauchen nicht mit Atmosphären verbunden sein. Ein Gegenbeispiel sind flüssig gesprochene und verstandene Sprachen. Eine Sprache ist eine Situation, die ganz nur aus Programmen besteht, nämlich aus Regeln für die Formulierung von Sprüchen, die der Sprecher zur Darstellung von Sachverhalten, Programmen und/oder Problemen und zu darauf aufgebauten weiteren Zwecken benützen kann. Die Regeln sind die Sätze der Sprache. Sie werden vom Könner der Sprache in sprechendem und verstehendem Gehorsam benützt, ohne sie aus dem Ganzen der Situation, die für ihn (in den Grenzen seines Sprachschatzes) die Sprache ist, einzeln herauszuholen; nur die Erzeugnisse der Benutzung, die Sprüche, und die von ihnen dargestellten Bedeutungen werden einzeln. Eine Sprache ist eine zuständliche gemeinsame Situation, die obendrein segmentiert ist, in dem Sinn, dass ihre binnendiffuse Bedeutsamkeit niemals mit einem Schlage, als vielsagender Eindruck, ganz zum Vorschein kommt. Sprachen sind gemeinsame Situationen ohne Atmosphäre. Auf der anderen Seite kommen Atmosphären ohne Situationen vor, solange sie privat bleiben und nicht gemeinsam sind. Ein gutes Beispiel sind die Verstimmungen der Zyklothymiker, die ohne Anlass und ohne Deutung von Hochstimmung oder Depression überfallen werden. Unübertrefflich schildert Mörike solche Ereignisse in seinem Gedicht »Verborgenheit«: Laß, o Welt, o laß mich sein! Locket nicht mit Liebesgaben, Laßt dies Herz alleine haben Seine Wonne, seine Pein!

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Was ich traure, weiß ich nicht, Es ist unbekanntes Wehe; Immerdar durch Tränen sehe Ich der Sonne liebes Licht. Oft bin ich mir kaum bewußt, Und die helle Freude zücket Durch die Schwere, so mich drücket Wonniglich in meiner Brust. […] 3

Mörike sucht die Privatheit, um sich im Rückzug von der Welt dem Auf und Ab seiner Gefühle hinzugeben, die ihn undeutbar überfallen und so mächtige Atmosphären sind, dass er das Sonnenlicht nur durch Tränen sieht, in einer Atmosphäre des Gefühls, die ihm die Welt verschleiert, bis plötzlich wie aus dem Nichts, ohne bewusste Überlegung als Anlass, Freude über ihn kommt. Ein anderes Beispiel ist der Genuss anspruchsvoller klassischer Instrumentalmusik, die starke Atmosphären des Gefühls präsentiert, während es eine unverbindliche Spielerei bleibt, Vorschläge darüber zu machen, was der Komponist sagen will, um welche Sachverhalte, Programme oder Probleme es sich handelt, außer in Sonderfällen wie Bachs »Capriccio sopra la lontananza del suo fratello diletissimo«. Auch in diesen Fällen bleibt der Genuss, selbst wenn viele wie beim Konzert gemeinsam hören, Privatsache eines jeden, und es entwickelt sich keine Situation. Im Gegensatz dazu sind kollektive Atmosphären immer Atmosphären in Situationen. Das dürfte daran liegen, dass sie auf Einleibung beruhen. Einleibung ist eine der beiden Hauptformen – und die gewöhnlichere – leiblicher Kommunikation. 4 Sie beruht auf der leiblichen Dynamik in der für den Leib wichtigsten Dimension von Enge und Weite, nämlich auf dem vitalen Antrieb, in dem Engung und Weitung als Spannung und Schwellung antagonistisch verschränkt sind, einander hemmend und treibend. Der Antrieb kann im Alleinsein stattfinden, etwa bei der Atmung und Entleerung; er kann aber auch gemeinsamer Antrieb sein, und dann handelt es sich um Einleibung. Als Partner kommen andere Leiber von Menschen und Tieren in Betracht, aber auch leiblose Gegenstände, sofern sie mit Bewe3 Eduard Mörike: »Verborgenheit«, in: ders.: Mörikes Werke in einem Band. Hrsg. v. Wilhelm Rücker. Berlin, Weimar 1986, S. 66. 4 Hermann Schmitz: Der Leib. A. a. O., S. 29–53 (Kapitel »Leibliche Kommunikation«).

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gungssuggestionen und/oder synästhetischen Charakteren besetzt sind, leibnahen Brückenqualitäten, die ebenso am eigenen Leib gespürt wie an Gestalten wahrgenommen werden können; in Betracht kommen ferner Halbdinge wie der Wind, die unterbrechbar dauern und hinter deren Einwirkung keine unterscheidbare Ursache steht, sogar dann, wenn solche Halbdinge am eigenen Leib begegnen wie der zudringlich wiederkehrende Schmerz oder die reißende Schwere, wenn man ausgleitet und stürzt oder sich gerade noch fängt. Einleibung kann antagonistisch oder solidarisch sein. Antagonistische Einleibung gibt es nur, wenn von wenigstens einer Seite ein Beteiligter sich dem anderen zuwendet; solidarische Einleibung kommt ohne solche Zuwendung aus. Antagonistische Einleibung gibt es als einseitige und als wechselseitige. Sie ist einseitig, wenn jemand an etwas hängt, von dem er gefesselt oder fasziniert ist, so dass er in permanent abhängiger Stellung diesem maßgebenden Partner unterworfen ist. Bei wechselseitiger Einleibung, wie im Gespräch oder bei Kampfspielen, fluktuiert die Dominanzrolle, indem beide Seiten aneinander wechselweise die Initiative, und damit für den Augenblick die Dominanz, abgeben, die zu ihnen zurückkehrt, wenn sich entscheidet, ob die Initiative »landet«. Solidarische Einleibung kommt zu Stande, wenn Menschen oder Tiere durch einen gemeinsamen Antrieb zusammengeschlossen werden, ohne dass dieser davon abhängt, dass einer von den Beteiligten sich dem anderen zuwendet. Ein besonders deutliches Beispiel ist die Massenpanik, wenn jeder, rücksichtslos gegen die anderen, seinem Impuls »Nur weg von hier« als Treibkraft folgt, aber nur, weil es ein gemeinsamer Impuls ist, der auf alle überspringt und sie zu einer flüchtenden Masse vereinigt. Andere Beispiele sind Aufruhr, Massenekstasen, gemeinsames Singen von Volks-, Kriegs- und Kirchenliedern, politischen und sozialkämpferischen Hymnen, gemeinsames Musizieren, spontan abgestimmtes Mannschaftsspiel (auch in einem Wolfsrudel), Rufen, Klatschen und Trommeln (auch an eine Clique von Einpeitschern delegierbar). Solidarische Einleibung ist fast immer als zugleich antagonistische auf ein Thema bezogen; es gibt seltene Ausnahmen, z. B. motivloses ansteckendes Lachen, wie es als dämonisches Verhängnis in Homers »Odyssee« über Penelopes Freier kurz vor dem Freimord hereinbricht. 5 Einleibung ist die Heimstätte gemeinsamer Atmosphären und gemeinsamer Situationen, wie ich nun erklären will. An erster Stelle 5

Homer: Odyssee. 20, Vers 345–349.

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nenne ich leibliche Atmosphären, die unmittelbar aus dem gemeinsamen Antrieb erwachsen und keiner ergreifenden Gefühle bedürfen. Sie gleichen den am eigenen Leib bei Behagen, Müdigkeit usw. spürbaren Atmosphären, von denen schon die Rede war. Ein schönes Beispiel malt Edith Stein aus: [I]ch bin von anstrengender Tagesarbeit ermüdet und habe den Eindruck, daß ich heute zu gar nichts mehr fähig bin. Da kommt ein Freund zu mir herein, der noch ganz frisch ist, er trägt mir ein Problem vor, das ihn gerade beschäftigt, und bald sind wir mitten in der lebhaftesten Debatte und von meiner Müdigkeit spüre ich nichts mehr. […] ›[u]nser‹ gemeinsames Tun geht frisch vorwärts und die Frische, als von den beiden ausgehend und beide erfüllend erlebt, wird zur Bekundung einer Kraft, an der beide zehren, die ihr gemeinsames Eigentum ist. 6

Entsprechendes geschieht, wenn ein Lehrer in eine lustlose, angeödete Schulklasse mit einem interessanten Thema kommt und die Schüler durch sein Auftreten mitreißt. Wenn junge Menschen, denen es an Antrieb fehlt, begeistert an einer Clique teilnehmen, in der etwas los ist, in der es hoch hergeht, suchen und finden sie eine kollektive Atmosphäre, die vom Schwung eines rhythmisch bewegten gemeinsamen Antriebs belebt ist. Beim Fußballspiel steigern sich die Fans, die die begünstigte Spielermannschaft zur Aufbietung aller Kräfte treiben wollen, durch ihre Zurufe in die kollektive Atmosphäre eines sich selbst aufheizenden gemeinsamen Antriebs hinein. Wichtiger und vielseitiger als diese rein leiblichen gemeinsamen Atmosphären sind die ergreifenden Atmosphären des Gefühls, die sich ihnen auflagern und von dem gemeinsamen Antrieb der Einleibung ebenso angezogen werden wie von dem des Individuums. Alles Ergriffensein von Gefühlen ist leiblich affektiv, wenn auch oft zusätzlich geformt durch personale Stellungnahme in Preisgabe oder Widerstand, und sein Sitz im Leib ist der vitale Antrieb, der je nach der verfügbaren leiblichen Disposition von der ergreifenden Macht zum Schwingen aufgeregt oder durch Spalten zu privativer Weitung oder privativer Engung angeregt wird – lebhaft oder sanft, je nach der aufwühlenden oder beruhigenden Macht des Gefühls. Beim gemeinsamen Singen bestärken sich gegenseitig die solidarische Einleibung in die gemeinsam leiblich ausgeübten Bewegungssuggestionen und Edith Stein: »Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften«, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. V (1922), S. 1–283, hier S. 156, 169 f.

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die durch sie und den Text vermittelten Gefühle zu einer Art von Stimmungsglocke, die atmosphärisch über der Gruppe liegt und je nach dem von sentimentaler Fülle wie beim Volkslied oder von religiöser Andacht oder Nationalstolz oder Kampfgeist usw. erfüllt ist. Markant sind die kollektiven Atmosphären der Empörung im Aufruhr und von scheuchender Gewalt, die die Griechen »phobos« nannten, in der panischen Flucht. Herodot und Thukydides berichten wiederholt davon, dass solcher »phobos« ohne ersichtlichen Anlass plötzlich selbst in große Heere einfalle und sie auseinander treibe. 7 »Phobos« ist hier nicht ein Privatgefühl, sondern eine ergreifende Macht, die an solidarische Einleibung einer Menge entweder andockt oder die als gemeinsam ausbrechender Fluchtimpuls diese Einleibung erst erzeugt. Immer sind solche kollektiven Atmosphären in Situationen eingebettet. Situationen sind der Boden und das ursprüngliche Element aller Lebenserfahrung; aller Umgang mit Einzelnem ist nur durch Schöpfen aus ihnen möglich. Daraus folgt nicht, dass Atmosphären – ausgedehnte Besetzungen eines flächenlosen Raumes im Bereich erlebter Anwesenheit – immer in Situationen eingebunden sind. Individuelle Atmosphären können ja auch situationslos sein. Wenn aber der gemeinsame vitale Antrieb auf Partner verteilt ist, saugt sich der Antagonismus von Spannung und Schwellung mit diffuser Bedeutsamkeit voll, mit dem, was die Partner einander gleichsam zu sagen haben, und die Atmosphäre wird zur Situation. Vielleicht ist das keine genügende Erklärung, aber die Tatsache scheint mir festzustehen, das kollektive Atmosphären nicht situationslos sein können. Bisher habe ich kollektive Atmosphären nur in aktuellen Situationen betrachtet. Ebenso stark ist ihr Anteil an zuständlichen Situationen. Ich nenne zwei Beispiele, die Liebe und das Rechtsgefühl. Ich habe Liebe als Gefühl in einer Situation charakterisiert. 8 Weil die Situation zuständlich ist, kann man nicht nur auf einen Augenblick lieben, so wie man einen Augenblick lang zürnen oder neidisch sein kann. Das Verhältnis zwischen Situation und Atmosphäre des Gefühls ist in der Liebe nicht spannungslos. Das Gefühl ist in der Situation gleichsam aufgehängt. Die Aufhängung darf nicht zu locker und Vgl. Herodot IV 203, 3; VII 10 und Thukydides IV 125, 1; VII 80, 3; VIII 105, 3. Hermann Schmitz: Die Liebe. Bonn 1993, S. 63–66, 80–84 und ders.: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung. Freiburg, München 2005, S. 99–111.

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nicht zu fest sein. Im ersten Fall flattert die Liebe und wächst in die zuständliche Situation nicht ein. Im zweiten Fall versickert sie gleichsam in der gemeinsamen Situation wie Regen in einem feuchten Erdreich. Das Gefühl ist zwar noch da, kann aber nicht mehr ohne Weiteres in aktuelle Situationen hinein mobilisiert werden, weil es in Sachverhalten, Programmen und besonders Problemen des Zusammenlebens in binnendiffuser Bedeutsamkeit gefangen ist. Das gilt sowohl für die intime Liebe eines Paares als auch für die Liebe im größeren Kreis der Familie oder Gemeinde geistlicher oder weltlicher Art. Das Lieben als Fühlen des Gefühls und Mittragen an seiner Autorität ist unteilbar individuell; niemand kann für den anderen mitlieben. Gemeinsam ist die Atmosphäre, die von jedem besonders, aber in Erfüllung einer gemeinsamen Aufgabe, durch die für ihn subjektiven Tatsachen seines Liebens verwaltet wird. Das Entsprechende gilt für alle ergreifenden Gefühle. Die Atmosphäre kann gemeinsam sein, aber das Fühlen als Ergriffensein ist für jeden Teilnehmer sein besonderes. Eine andere kollektive Atmosphäre des Gefühls ist das Rechtsgefühl. Ich habe meine Lehre vom Recht kürzlich noch einmal straff zusammengefasst. 9 Hiernach bildet sich in einer Population aus Erfahrungen im Umgang mit Zorn und Scham ein gemeinsames Gefühl in einer gemeinsamen Situation, die darüber Aufschluss gibt, welche Ausbrüche dieser ergreifenden Mächte unerträglich sind; diese werden dann unter der Regie klug steuernder Vorgefühle entweder, ihrer eigenen kathartischen Tendenz gemäß, in die Strafe als Katharsis ausgelassen und aufgehoben, oder auf gleiche Weise wird solchen Ausbrüchen vorgebeugt. Das Recht im pathetischen Sinn als das, was in der jeweiligen Gemeinschaft recht und billig und nicht nur willkürlich als (vorgebliches) Recht gesetzt ist, beruht also auf solidarischer Einleibung in die Empfänglichkeit für ein von einer gemeinsamen Situation getragenes Gefühl, das vom Reichsgericht als »das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden« bezeichnet wurde. Die solidarische Einleibung wird an die Individuen der sich verzweigenden Population meist mit der Sozialisation in der Jugend, sonst mit dem Einwachsen des später Eintretenden in die gemeinsame Situation (z. B. die »deutsche Leitkultur«) weitergegeben.

Hermann Schmitz: Das Reich der Normen. Freiburg, München 2012, S. 41–140 (Kapitel »Das Recht«).

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Bisher habe ich mit Liebe und Rechtsgefühl nur kollektive Atmosphären in gemeinsamen zuständlichen Situationen herangezogen, die gegen die räumliche Umgebung gleichgültig sind. Ebenso große Wichtigkeit besitzen aber kollektive Atmosphären, bei denen diese Umgebung durch leibnahe Brückenqualitäten, Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere, in die solidarische Einleibung und die gemeinsame zuständliche Situation einbezogen ist. In diesem Sinn habe ich die Stimmung einer Stadt charakterisiert. 10 Das Ergebnis habe ich in den Satz gefasst: Die Stimmung einer Stadt beruht auf Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charakteren, die als leibnahe Brückenqualitäten bei den Anwesenden solidarische Einleibung bewirken, auf der sich Gefühle als Atmosphären mit bedeutsamen zuständlichen Situationen niederlassen und den Anwesenden mitteilen. 11

Die synästhetischen Charaktere betreffen etwa Geruch, Geräusche, Nebel, Luft, Regen, Dämmerung, während die Bewegungssuggestionen hauptsächlich an Bauformen (einschließlich Gartenbauformen) haften, gemäß dem Schlüssel, den ich für die Zuordnung fester Formen zu Typen leiblicher Regung durch Vermittlung wie Bewegungssuggestionen angegeben habe. Die Stadt kann in weiterem Sinn eine Wohnung sein. Ich habe die Wohnung als Stätte des Zusammenwirkens zwischen leiblichem Raum, Ortsraum und Gefühlsraum mehrfach und eingehend charakterisiert. Wohnungen im hier gemeinten Sinn sind außer der häuslichen Wohnung auch die Kirche (als Innenraum) und der Garten. Wohnen ist Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum. Weil Gefühle randlos ergossen sind, als Atmosphären, die den Anspruch auf totale Besetzung eines flächenlosen Raumes erlebter Anwesenheit stellen, müssen sie erst einmal durch Umfriedung eingefangen werden, um dann durch Züchtung oder Dämpfung in das gewünschte Klima des Gefühls gebracht zu werden. Die Züchtung und Dämpfung geschieht durch Regulierung der Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charaktere; dazu gehört die Gestaltung der Decke, der Wände, des Fußbodens, die Möblierung, der Regelung des Lichteinfalls, der Temperatur und der Geräusche. In der Kirche und im Garten werden zuHermann Schmitz: »Die Stimmung einer Stadt«, in: Anna-Katharina Gisbertz (Hrsg.): Stimmung. Zur Wiederkehr einer ästhetischen Kategorie. München 2011, S. 63–74. Vgl. außerdem ders.: Atmosphären. A. a. O., S. 92–108. 11 Hermann Schmitz: »Die Stimmung einer Stadt«. A. a. O., S. 64. 10

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sätzliche Instrumente entwickelt. Die so auf ein Gefühlsklima gestimmte Umgebung wirkt auf die Bewohner als Auslöser solidarischer Einleibung in eine gemeinsame Situation mit kollektiver Atmosphäre. Die Wohnung erzieht den Familiengeist. Aus aktuellen Situationen der Begegnung wachsen zuständliche. Die zuständliche Situation wächst aus aktuellen Situationen hervor, bei denen es sich um antagonistische Einleibung durch Begegnung handeln kann, wofür die Anlage der Wege typischer Erledigung in der Wohnung wichtig ist. Aber auch die Vertiefung in eine Aussicht durch das Fenster oder einen künstlerischen oder kunstgewerblichen Gegenstand, ja in das Feuer des Kamins, kann in der Wohnung aktuelle Situationen zu zuständlichen sich weiten lassen. Nicht nur aus aktuellen Situationen erwachsen zuständliche mit kollektiven Atmosphären des Gefühls, sondern auch das Umgekehrte kann der Fall sein. In den Jahren vor dem ersten Weltkrieg scheint sich ein Gefühl der Erschöpfung, des Festgefahrenseins der spätbürgerlichen Gesellschaft, ausgebreitet zu haben, dem der Dichter Georg Heym in seinem Tagebuch folgenden Ausdruck gab: Ach, es ist furchtbar. Schlimmer kann es auch 1820 nicht gewesen sein. Es ist immer das Gleiche, so langweilig, langweilig, langweilig. […] Geschähe doch einmal etwas. Würden einmal wieder Barrikaden gebaut. Ich wäre der erste, der sich darauf stellte, ich wollte noch mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren. Oder sei es auch nur, dass man den Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul, ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln. 12

Die Menschen standen nicht mehr zu ihren spätbürgerlichen Werten, sie vermissten auf schmierig gewordenem Boden den Halt und den Schwung eines einstimmigen Impulses, und wie eine Erlösung aus diesem Missbefinden erfuhren sie die Entladung der Spannung in dem »Wunder der inneren Einheit« 13, der weihevollen Erhebung der Völker beim Ausbruch des Krieges im August 1914, wovon Marianne Weber schrieb: Auf dem Marktplatz […] sammeln sich […] die Leute […], um die Kunde zu empfangen. Worte der Weihe und Kraft erklingen nicht. Sie stehen still beieinander und gehen still davon. Dennoch ist es eine Stunde höchster Georg Heym: Dichtungen und Schriften. Bd. 3: Tagebücher, Träume, Briefe. Hrsg. v. Karl Ludwig Schneider. Hamburg 1960, S. 138 f. 13 Thomas Raithel: Das »Wunder« der inneren Einheit. Studien zur deutschen und französischen Öffentlichkeit bei Beginn des Ersten Weltkrieges. Bonn 1996. 12

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Feierlichkeit – die Stunde der Entselbstung, der gemeinsamen Entrückung in das Ganze. Heiße Liebe zur Gemeinschaft durchbricht die Grenzen des Ichs. Sie werden eines Blutes, eines Leibes mit den anderen. Zur Bruderschaft vereint, bereit, ihr Leben dienend zu verlieren. 14

Nüchtern formuliert, besagt das Werden eines Leibes mit den anderen in der Bereitschaft, das eigene Leben zu verlieren, eine solidarische Einleibung über den Augenblick hinaus, auf dem Weg zu einer zuständlichen Situation. Eine kollektive Atmosphäre des Ungenügens in einer zuständlichen Situation stockender Lebendigkeit entlädt sich an einer wie ein Blitz einschlagenden aktuellen Situation zu einer entgegengesetzten kollektiven Atmosphäre großartigen Aufschwungs, die den Keim zu neuen zuständlichen Situationen mühsamer Erprobung der Bereitschaft in sich trägt.

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Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild. Tübingen 1926, S. 526.

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VII. Bibliographischer Nachweis der Beiträge

1.) »Wozu Neue Phänomenologie?«, in: Michael Großheim (Hrsg.): Wege zu einer volleren Realität. Neue Phänomenologie in der Diskussion. Berlin 1994, S. 7–18. 2.) »Alte und Neue Phänomenologie«, in: Hermann Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie? Rostock 2003, S. 1–8. 3.) »Die Absicht der Neuen Phänomenologie«, in: Hermann Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie? Rostock 2003, S. 9–24. 4.) »Mein System der Philosophie. Absicht, Methode, Grundgedanke«, in: Information Philosophie, Jg. 5/1 (1977), S. 2, 23. 5.) »Was ist ein Phänomen?«, in: Hermann Schmitz, Andrea Moldzio, Gabriele Marx: Begriffene Erfahrung. Beiträge zur antireduktionistischen Phänomenologie. Rostock 2002, S. 13–22. 6.) »Hase und Igel. Vom Pech des unbescheidenen Analytikers«, in: Natascha Adamowsky, Peter Matussek (Hrsg.): Auslassungen. Leerstellen als Movens der Kulturwissenschaft. Festschrift für Hartmut Böhme. Würzburg 2004, S. 61–67. 7.) »Konstruktive und explikative Vernunft«, in: Hermann Schmitz: Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie. Berlin 1997, S. 185–195. 8.) »Phänomenologie und Konstruktivismus«, in: Peter Janich (Hrsg.): Wechselwirkungen. Würzburg 1999, S. 103–114. 9.) »Zur Rehabilitierung des Verstehens als wissenschaftlicher Aufgabe«, in: Hermann Schmitz: Neue Phänomenologie. Bonn 1980, S. 47–58. 10.) »Gesundheit«, in: Hermann Schmitz: selbst sein. Über Identität, Subjektivität und Personalität. Freiburg, München 2015, S. 105–118. 11.) »Der Nihilismus und die Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart«, in: Hermann Schmitz: Wozu philosophieren? Freiburg, München 2018, S. 77–89.

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Bibliographischer Nachweis der Beiträge

12.) »Gedächtnis und Erinnerung in neophänomenologischer Sicht«, in: Integrative Therapie, Bd. 24 (1998), S. 190–213. 13.) »Heimisch sein«, in: Jürgen Hasse (Hrsg.): Die Stadt als Wohnraum. Freiburg, München 2008, S. 25–39. 14.) »Fassung« (unveröffentlicht). 15.) »Situationen oder Sinnesdaten – Was wird wahrgenommen?«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Bd. 19/2 (1994), S. 1–21. 16.) »Wahrnehmung als leibliche Kommunikation mit vielsagenden Eindrücken«, in: Hermann Schmitz, Andrea Moldzio, Gabriele Marx: Begriffene Erfahrung. Beiträge zur antireduktionistischen Phänomenologie. Rostock 2002, S. 54–64. 17.) »Situationen und Konstellationen«, in: Hermann Schmitz: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung. Freiburg, München 2005, S. 18–32. 18.) »Die Weltspaltung und ihre Überwindung«, in: Rostocker Phänomenologische Manuskripte, hrsg. v. Michael Großheim, Heft 14 (2012). 19.) »Zusammenhang in der Geschichte«, in: Kurt Hübner, Albert Menne (Hrsg.): Natur und Geschichte. X. deutscher Kongreß für Philosophie (Kiel 1972). Hamburg 1973, S. 143–153. 20.) »Kollektive Atmosphären«, in: Hermann Schmitz: Atmosphären. Freiburg, München 2014, S. 50–64. Die Herausgeber danken den Verlagen und Herausgebern für die freundliche Zustimmung zum Wiederabdruck.

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VIII. Namensregister

Aelian 280 Aischylos 257 Ammann, Hermann 97 Ammianus Marcellinus 280 Anaximenes 103 Anselm von Canterbury 273 Apuleius 280 Aristoteles 73, 98, 100–101, 120, 129–131, 177, 200, 259, 266, 268 Assmann, Jan 178 Auerbach, Erich 280 Augustinus 56, 153, 155, 172, 273, 280 Avenarius, Richard 164 Bach, Johann Sebastian 291 Bacon, Francis 52 Bergson, Henri 151, 168 Bernini, Gian Lorenzo 277 Blankenburg, Wolfgang 85, 214, 236– 237 Bossuet, Jacques Bénigne 271 Brahms, Johannes 222 Brentano, Franz 268 Bühler, Charlotte 283–284 Bühler, Karl 97, 129 Burckhardt, Jacob 273 Buxtehude, Dieterich 222 Carnap, Rudolf 110, 114 Condillac, Étienne Bonnot de 216 Cornelius, Hans 111 Demokrit 46, 48, 52–55, 103, 114– 115, 216, 257–258

Descartes, René 52, 101, 103, 108– 110, 112, 144, 273 Diderot, Denis 153–154 Dilthey, Wilhelm 90–93, 110, 118, 120, 272 Dingler, Hugo 115 Dittrich, Ottmar 255 Ebbinghaus, Hermann 174 Einstein, Albert 100 Eisler, Rudolf 243 El Greco 121 Empedokles 52, 77, 101, 103, 216, 257–258 Euler, Leonhard 138 Euripides 141 Feyerabend, Paul 143 Fichte, Johann Gottlieb 58, 61, 141– 143, 146, 154, 164, 244–245, 271 Flaubert, Gustave 195 Fontane, Theodor 196 Francois-Poncet, André 201 Fränkel, Fritz 236 Frege, Gottlob 33, 157 Freud, Sigmund 50, 165, 216 Friedrich Wilhelm I. 200 Fritz, Kurt von 125 Fuller, Loïe 282 Gadamer, Hans-Georg 88–89, 118, 121, 178 Galilei, Galileo 36 Gallinger, August 152 George, Stefan 282 Gibson, James J. 229

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Namensregister Goethe, Johann Wolfgang von 38, 46, 63–64, 71, 84–85, 98–99, 103, 109, 121, 123, 135–137, 139, 142, 155, 165, 209, 268, 273 Großheim, Michael 245 Gunkel, Hermann 33 Guyon, Frau von 146 Hartmann, Dirk 117 Hartmann, Nicolai 125, 268 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 58, 71, 83–84, 164, 212, 271 Heidegger, Martin 36, 43–44, 50–51, 58, 61, 72–73, 78, 88–89, 91–93, 96, 103, 109–110, 114, 118, 153–154, 157, 159, 169, 175, 267–268 Helmholtz, Hermann von 215 Hempel, Carl Gustav 120, 125 Heraklit 103, 258 Hering, Ewald 152 Herodot 294 Heym, Georg 297 Hitler, Adolf 53, 194, 201–202 Hobbes, Thomas 180–181, 260 Homer 77, 101, 257–258, 292 Hume, David 33, 63–64, 73, 100, 213, 266 Husserl, Edmund 33, 36, 43, 46, 50– 51, 58, 61, 67, 71–75, 77–78, 91, 96–97, 103, 114, 153–154, 159, 169–170, 175, 213, 224, 266–268 Jacobi, Friedrich Heinrich 143, 165 James, William 170 Janich, Peter 117, 299 Jaspers, Karl 142 Joel, Ernst 236 Jung, Carl Gustav 166, 283 Kaila, Eino 205, 229 Kant, Immanuel 45–46, 50, 54–55, 71, 78–79, 84, 88, 91, 175, 215, 217, 266, 268, 271 Keller, Gottfried 207, 229 Kierkegaard, Sören 58, 142–143, 149 Klages, Ludwig 217 Kleint, Herbert 237

Kleist, Heinrich von 201 König, Otto 223 Krüger, Felix 214 Laing, Ronald D. 198–199 Lange, Salomon Gotthold 159 Lechter, Melchior 282 Leibniz, Gottfried Wilhelm 92, 101, 207, 245 Leonhard, Laurence B. 97 Lessing, Gotthold Ephraim 271 Lessing, Theodor 239 Leukipp 114 Lipps, Theodor 206, 224 Locke, John 216 Lorenz, Konrad 97 Lorenzen, Paul 116 Lukrez 145 Luther, Martin 279 Mach, Ernst 100, 266 Malebranche, Nicolas 273 Martin, Alfred von 279 Marx, Karl 62, 271, 299–300 McTaggart, John 155 Merleau-Ponty, Maurice 36, 44, 51, 62 Meyer, Conrad Ferdinand 222 Minkowski, Eugéne 64 Molière 195 Mörike, Eduard 290–291 Mozart, Wolfgang Amadeus 223 Müller, Georg Elias 174 Newton, Isaac 71, 109 Nicolai, Friedrich 63 Nietzsche, Friedrich 58, 137–138, 141, 143, 271, 279, 281 Novalis 142 Oppenheim, Paul 120, 125 Ortega y Gasset, José 217 Ostwald, Wilhelm 112 Otto, Rudolf 61, 214 Paracelsus 36, 215 Parmenides 36, 103

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Namensregister Petronius 280 Philipp der Schöne 259 Piaget, Jean 184 Pindar 214 Platon 36, 44, 46, 48, 52–55, 100, 103, 112, 114, 129, 215, 259, 266, 268 Plessner, Helmuth 205 Porta, Giovanni della 103 Proklos 254–255 Ranke, Leopold von 273, 284–285 Rembrandt 121 Rilke, Rainer Maria 186 Rothacker, Erich 92, 283 Rousseau, Jean-Jacques 149, 260 Rüstow, Alexander 279–280

Tacitus 280 Terborch, Gerard 277 Thomas von Aquin 131 Thukydides 120–121, 125, 294 Tintoretto, Jacopo 121 Tizian 121 Tönnies, Ferdinand 243 Toynbee, Arnold J. 273, 279

Sartre, Jean-Paul 36, 44, 51, 57, 62, 193, 198, 276 Scheler, Max 36, 43, 50, 61, 92, 243, 268 Schiller, Friedrich 123, 212 Schlegel, Friedrich 142–143 Schmalenbach, Herman Friedrich 243 Schopenhauer, Arthur 35, 45, 173 Schwemmer, Oswald 116 Simmel, Georg 84–85, 123 Sophokles 121, 257–258 Spinoza, Baruch de 268, 273 Stegmüller, Wolfgang 119–120 Stein, Edith 293 Sternberger, Dolf 281–282 Stirner, Max 142–143 Strasburger, Hermann 120 Straus, Erwin 205, 234 Suárez, Francisco 176

Weber, Alfred 280–281 Weber, Marianne 297–298 Weber, Max 122, 243, 298 Weininger, Otto 212 Weinrich, Harald 172 Weizsäcker, Carl Friedrich von 102, 112 Weyl, Hermann 217, 245 Wieland, Christoph Martin 135–136 Wittgenstein, Ludwig 58, 115–116, 154, 163, 168 Wölfflin, Heinrich 277–278

Uexküll, Jakob von 34, 92, 202 Velasquez, Diego 121 Ventris, Michael 118 Vierkandt, Alfred 243 Voltaire 253

Xenophanes 253 Zelter, Carl Friedrich 46 Zutt, Jürg 199, 201

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IX. Sachregister

Abstraktionsbasis 40, 48, 50–51, 82, 99, 114 –, introjektionistisch-reduktionistische 39 –, kulturspezifische 36–37, 39, 41, 43 –, reduktionistische 40 Aktivität 116 Analogieschluss 224 Atmosphären 38–40, 51, 53, 208– 209, 258, 268–269, 274–275, 282– 284, 286–287, 290–291, 294–295 –, des Gefühls 40, 52, 83, 94, 99, 114, 150, 161, 190, 280, 288, 291, 293, 297 –, ganzheitliche 276–277 –, gemeinsame 286, 292–293 –, geschichtliche 284 –, individuelle 294 –, klimatische 274, 276 –, kollektive 286, 291, 293–298 atmosphärische Umstimmungen 279, 281 Aufklärung 253, 255 Ausleibung 226–227, 262 Bedeutsamkeit 52, 55, 61–62, 76–80, 84, 90–93, 102, 104, 110, 113–114, 133, 138, 162, 191, 247 –, binnendiffuse 76, 80, 83–86, 88– 89, 133, 150, 189, 197, 235, 247, 251–252, 254, 288 –, Hintergrund der 93, 95, 161–162, 192, 209 –, Hof der 39–40, 93–94, 103, 162– 163, 210–211, 213–214, 225 Betroffensein 83

–, affektives 42–43, 58–60, 66, 75, 91, 93, 105, 132, 134, 144–146, 148, 196–197, 244–248, 259, 262–263, 265–266, 287 –, leibliches 42, 44, 50, 246 Bewegung 41, 179 Bewegungssuggestionen 41, 99, 103, 133, 182–183, 221–223, 225–226, 232–234, 237, 261, 286, 292–293, 296 Bewussthaber 37, 57, 59, 131, 133, 163, 224–225, 244, 266–267 Bewusstsein 49–50, 66, 215, 266–268 Bildnahme 193 Blick 98, 162, 182–184, 186, 197–198, 205–206, 210, 223, 227, 229, 231– 233, 237, 261–262 Charakter (Wahrnehmung) 213, 224, 235–238 Dauer 148, 156–157, 168, 176, 246, 264 Dichtung 216, 255 Du-Evidenz 224–225 Dynamismus 259–260 Eindruck 40, 55, 77, 98, 121, 211–212, 214, 216–217, 224, 227, 235 –, auffälliger 235 –, erster 198 –, evidenter 138 –, unauffälliger 235–236 –, unwillkürlicher 33, 36 –, vielsagender 36, 40, 52, 55, 76–78, 85, 87, 94, 114, 122, 138, 150, 162–

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Sachregister 163, 197–199, 211, 215, 220, 226, 234–235, 237–238, 290 Einfühlungstheorie 224 Einleibung 133, 175, 199, 219–222, 226, 261, 267, 291–293 –, antagonistische 181–182, 185, 189–190, 246, 261, 292, 297 –, einseitige 225, 261 –, kollektive 221 –, solidarische 190, 246, 261, 292, 296–298 –, wechselseitige 225, 261 Einzelheit 59–60, 75–76, 85–86, 102, 109, 133, 157–158, 189, 194, 238, 246, 252, 264, 288 Enge 37, 57, 60, 105, 109, 156, 181– 184, 231, 233, 246, 261, 291 Engung 105, 112–113, 132–133, 147, 157, 181, 218–219, 239, 246, 261, 263, 291 –, privative 218, 293 Entfaltung 60, 105, 133, 149 Erinnerung 151–152, 154, 161, 163, 165, 168–170, 172, 176–178 Existenzialismus 143 Existenzphilosophie 59, 142, 146 Explikation 59–60, 79, 88–89, 96–97, 111, 134, 163–164, 170–171, 176– 177, 189, 211, 216, 248, 255, 267 –, schonende 84 Fassung 59, 135–140, 193, 195–201 –, aufgesetzte 195 –, unwillkürliche 195 Fassungslosigkeit 133, 164, 196, 201, 264 Freundschaft 84, 177–178 Gattung 73, 75, 77, 86, 102, 109, 132, 134, 157, 195–196, 238, 246, 252, 264–265 Gebärde 41, 99, 180–181, 222, 232, 268, 286 Gedächtnis 151–153, 163, 165, 170– 175, 178 –, kulturelles 178 Gefühle 38–39, 53, 57, 66, 113, 182,

260, 268–269, 274, 276, 287–288, 295–296 –, als Atmosphären 39, 43, 49, 275 –, Autorität der 269, 288, 295 –, Fühlen der 39, 268, 295 –, geschichtsmächtige kollektive 283 –, kollektive 38, 209, 269, 275 –, private 38 –, Räumlichkeit der 38, 287 Gegenwart 146, 149–150, 155–156, 161, 263 –, entfaltete 60–61, 168 –, Entfaltung der 42, 160–161, 164 –, primitive 42–43, 49, 60–61, 105, 109, 132–135, 147–148, 156–160, 196, 263–266 –, zeitliche 146, 148–149 Gehirn 115, 153, 173, 175, 218, 224, 238 Geisteswissenschaften 118–120, 123 Gemeinschaft 243, 251, 255 Geschichte 272, 274, 276–277, 282, 284 Geschichtsmetaphysik 271–272 Geschichtsphilosophie 271 Gesellschaft 243, 251, 255 Gesicht (Wahrnehmung) 212–213, 224, 236–237 Gestaltpsychologie 214 Gestaltverläufe 41, 175, 221–223, 225–226 Gesundheit 129–131, 135–139 Halbding 40, 56–57, 64, 72, 77, 133, 150, 212–213, 218, 222, 224, 226, 269, 292 Handeln 116–117, 171, 177 Handlung 116–117 Heimischsein 179, 187, 191 –, heimisch 186 –, heimisch fühlen 192 Hermeneutik 88–89, 118–119 hermeneutischer Zirkel 89, 119–120 Hysterie 201–202 Identifizierung 194

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Sachregister Identität 59–60, 147–148, 157, 167, 189, 209, 246, 263 –, absolute 148, 263, 265 –, relative 148, 265 Implikation 134, 164, 249 In-der-Welt-sein 43–44, 61, 267–268 Innenwelt 266, 274 –, private 48–50, 52, 55, 58, 62, 66, 258, 260, 266 Innenweltdogma 41, 43 Innenwelthypothese 37, 66 Intellektualkultur 49, 115 –, europäische 36, 38–41, 44, 48, 50– 51, 55–56, 58, 60, 63, 98–99, 101, 103, 111, 113–114, 215 Intelligenz 87, 96 –, analytische 78, 87–88, 122, 216– 217 –, hermeneutische 78, 87–88 –, intuitive 122 –, leibliche 87 Intentionalität 39, 42, 50, 267 Introjektion 37, 41, 43, 49, 66, 114, 260, 268 Introjektionismus 49 Ironie 142 –, romantische 142–143, 146, 149 Kausalität 56, 63–64, 213 Konstellation 79, 86, 88, 100, 102– 103, 112, 252, 255, 265, 267 Konstellationismus 86–88, 239, 252– 253, 255–256, 259 Konstrukte 34, 47, 82 Konstruktion 110, 125 Konstruktivismus 108–109, 112–113, 115–117 Körper 37, 62, 112–113, 153, 170, 173, 181–183, 219, 228–230, 238, 258, 260–261 Körperschema 230 –, motorisches 182, 184, 210, 229– 234 –, perzeptives 37, 112, 229–231, 260 Kunststile 277–278 Kyrenaiker 49

Leben, präpersonales 289 Lebenserfahrung 39, 78 –, normale 56 –, unwillkürliche 34, 47–48, 50–53, 60, 71, 82, 260 Lebensgefühl 279 Lebensgeschichte 163, 167, 169 Lebenswelt 36 Leib 37, 49, 53–54, 60, 66, 105, 112– 113, 133, 181, 183–184, 218–222, 225–226, 228–229, 233–234, 238, 260–261, 276, 287–288, 291 Leibesinsel 183, 231, 261, 288 leibliche Bewegung 221 leibliche Disposition 137, 165, 275– 276, 278–279, 281, 283, 293 –, Geschichte der 278 leibliche Dynamik 37, 53–54, 56, 60– 61, 157, 181–182, 184, 188, 196, 199, 218, 223, 239, 246–247, 249, 261, 291 leibliche Kommunikation 37, 41, 43– 44, 49, 53, 56, 60–61, 99, 181, 183, 190, 219, 226, 229, 233–235, 237– 240, 246–247, 249, 261, 291 –, antagonistische 238, 240 leibliche Regungen 210, 229, 260, 269, 288 leibliche Resonanz 218 leibliche Richtungen 57, 181–184, 189, 191, 261 Leiblichkeit 43–44, 149, 182 –, Alphabet der 112–113, 223 Liebe 83, 294–295 Mannigfaltigkeit –, binnendiffuse 239 –, chaotische 39, 76, 93, 110–111, 157, 170, 176, 209 –, numerische 76, 110 Musik 99, 119, 221–223, 229, 233– 234, 291 Naturwissenschaft 64, 71, 81, 107, 109, 113, 117, 119, 188, 215, 266 Neuplatonismus 254

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Sachregister Neutralisierung 59, 91, 134–135, 196–197, 248, 263, 265, 267 Nihilismus 141, 143, 146, 149 Nominalismus 76, 85, 101–102, 109, 239 Objektivierung 59, 164, 247–248 Objektivität 90, 160, 168–169 Ort 179–180 –, absoluter 42, 60, 132, 147, 231, 263, 265 –, relativer 60, 179–181, 183 Person 131, 133, 135, 137, 167, 193, 195–196, 244, 247–248, 266–267 –, Dauer der 59, 64 personale Emanzipation 42, 134–138, 158–161, 164, 168, 171, 196–197, 199, 248 –, Niveau 134, 200–202 personale Regression 134–136, 138, 164, 171, 196–197, 199, 248 –, Niveau 200–202 persönliche Eigenwelt 134, 197, 199, 266, 290 persönliche Fremdwelt 134, 197, 199, 265 Phänomen 36, 45, 47, 63–67, 71–75, 79–81, 107, 152 –, Sachbegriff 74, 79, 82 –, Sachverhaltsbegriff 45, 74 Phänomenologie 33, 35, 43–45, 47, 50–51, 61–62, 66, 71, 77–78, 106– 108, 206, 224, 238 –, alte 36, 38–39, 43, 46, 50, 267 –, Neue 39, 41, 43–44, 50–52, 54, 57, 60, 62, 152, 267 phänomenologische Reduktion 66 phänomenologische Revision 34, 80– 81, 106–107 Philosophie 35, 45–46, 50, 52, 105– 106, 108, 184 Physikalismus 164 Physiologismus 207–208, 214–215, 224 –, physiologistischer Fehlschluss 207, 214

Plakat 96, 138, 198 Plakat-Wahrheit 96 principium individuationis 110, 158, 160 Problem 42, 55, 58, 90, 93–95, 97, 111, 122, 124, 159, 161, 210, 250 Programm 42, 55, 58, 61, 77, 84–85, 88, 90, 93–95, 97, 111, 124, 159, 161, 210, 250 Projektionismus 76, 85, 92, 239, 289 Protentionen 77, 85, 95, 111, 160, 163, 210, 235, 248 Psychologismus 49, 55–56, 58, 114– 115 Pythagoreer 36 Rationalismus 63, 77, 112, 215 Raum –, flächenloser 54, 183, 286–287, 296 –, Gefühlsraum 54, 57 –, leiblicher 57, 180, 183 –, leiblicher Richtungsraum 234 –, Ortsraum 54, 57, 60, 183–185, 188 –, Richtungsraum 55 –, Weiteraum 54 Rechtsgefühl 295 Reduktionismus 36–38, 41–42, 49, 71, 81, 101, 114–116, 214–216, 258 Regungsherde 257 Sachverhalt 41, 46, 55, 74–77, 79, 85, 88, 90, 93–95, 97–98, 102–103, 111, 122, 124, 133, 157–161, 209, 235, 238, 250 Schmerz 218–219, 239 Schwellung 105, 133, 181, 190, 218, 227, 239–240, 261, 291 Seele 40–41, 48–49, 52–53, 66, 76, 96, 153, 170, 173, 175, 177, 215, 238, 258, 260–261, 266–268, 273– 274 Sehen 219, 229, 233, 238 Selbstbemächtigung 46, 49, 52 Selbstbewusstsein 246, 262 –, ohne Selbstzuschreibung 169 –, präpersonales 246 Selbstermächtigung 258–259

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Sachregister Selbstzuschreibung 59–60, 131–134, 159, 163, 168–169, 196, 244, 248, 262, 265 Sichbewussthaben –, identifizierendes 132, 262 –, identifizierungsfreies 132, 263 –, nicht identifizierendes 132, 134 Sinnesdaten 40, 56, 162, 210, 212– 215, 224–226, 238, 264 Situation 39, 43–44, 49, 55, 61, 76, 79, 83, 85, 90, 93–94, 97–98, 100, 102, 111–114, 123, 133, 160–161, 189, 211–213, 225, 227, 234–235, 246, 255, 264–265, 286, 288, 294 –, aktuelle 76, 94, 162, 176, 189–191, 220, 235, 249, 289, 297 –, gemeinsame 55–56, 76, 84, 96–97, 190, 249, 251, 260, 286, 290, 292, 295, 297 –, heimatliche 178 –, implantierende 84, 96, 177–178, 249–251, 253–254, 290 –, impressive 55, 76–77, 85, 94–95, 102–103, 138–139, 162–163, 197, 235 –, includierende 96, 177, 249, 251, 290 –, individuelle 289 –, kollektive 290 –, partielle 135, 166, 173, 190, 197 –, persönliche 40, 42, 55–56, 79, 84, 96–97, 134–135, 137–139, 161, 164–166, 170, 173–174, 177–178, 197, 201, 211, 248–249, 251, 253, 265–266, 289 –, segmentierte 76, 95, 138, 162–163, 235, 237, 290 –, soziale 95, 162 –, ungemeinsame 76 –, zuständliche 76, 83, 89, 95, 162– 163, 173–177, 189–191, 197, 235, 249, 251, 265, 289–290, 297–298 Spannung 105, 133, 181, 190, 218, 227, 239–240, 261, 263, 291 spielerische Identifizierung 135, 193– 195

Sprache 95–96, 174–177, 190, 250– 251, 290 Spracherwerb 174, 249–251 Stille 39, 64, 208 Subjektivierung 59 –, Resubjektivierung 164, 196, 248, 267 Subjektivität 41–43, 49, 57–62, 90– 91, 93, 106, 132–134, 148, 158, 160, 167–168, 170, 196, 244, 248, 263, 265 –, präpersonale 59–60 synästhetische Charaktere 41, 99, 103, 133, 175, 183, 221–223, 225– 226, 261, 292, 296 synästhetische Massencharaktere 99, 223 Tatsache –, objektive 35, 45–46, 49, 57–58, 65, 75, 90, 93, 105–106, 142–146, 154, 159–160, 164, 167–168, 196, 244– 245, 262 –, subjektive 42, 45, 49, 57–59, 75, 90–91, 93, 105–106, 141–143, 145– 146, 159, 167–169, 196, 244, 263 Verfehlung –, autistische 56, 253, 255, 259 –, des abendländischen Geistes 52, 60 –, dynamistische 259 –, dynamistisch-konstellationistische 259 –, ironistische 58 Vergegenständlichung, psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische 49–50, 55, 103–104, 114 Vergessen 164–165, 170 Vernunft 96 –, explikative 100, 103 –, konstruktive 100–103 Verschiedenheit 60, 147, 157, 189, 209, 246–247, 263 Verstehen 89, 118–121, 123–124 vitaler Antrieb 105, 112–113, 133, 157, 181, 190, 196, 239, 246–247, 261, 263, 291, 293

309 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Sachregister Wahrnehmung 37, 40, 77–78, 98, 101, 205–208, 212, 218, 226–228, 234, 237–238 –, klimatische 208 –, sinnliche 205 Weite 37, 57, 181–184, 186, 231, 233, 261, 291 Weitung 105, 113, 133, 157, 181, 218–219, 239, 246, 261–262, 291 –, privative 157, 218, 222, 262, 293 Welt 42–43, 49, 60, 66, 133, 160 Weltbemächtigung 49, 52

Weltspaltung 258–260, 262, 267–268 Weltstoff 42, 52–53, 60, 160, 274 Werte 51, 141 Wohnen 67, 270, 296 Wohnung 85, 185–192, 209, 296–297 Zahl 33, 111 Zeit 155–156, 158 –, Lagezeit 60 –, modale Lagezeit 155, 161, 168, 265 –, Modalzeit 156, 160–161, 168, 176

310 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Verzeichnis aller bei Alber aktuell lieferbaren Bücher von Hermann Schmitz

Atmosphären Verlag Karl Alber, 3. Auflage 2020 Kartoniert, 148 Seiten ISBN: 978-3-495-48674-0 ISBN (ebook): 978-3-495-86044-1 19,00 €

Die Gegenwart System der Philosophie, Band I Verlag Karl Alber, 1. Auflage 2019 Gebunden, 512 Seiten ISBN: 978-3-495-49081-5 49,00 € Wozu philosophieren? Verlag Karl Alber, 1. Auflage 2018 Gebunden, 160 Seiten ISBN: 978-3-495-48978-9 ISBN (ebook): 978-3-495-81763-6 29,00 € Ausgrabungen zum wirklichen Leben Eine Bilanz Verlag Karl Alber, 1. Auflage 2016 Gebunden, 400 Seiten ISBN: 978-3-495-48803-4 ISBN (ebook): 978-3-495-81803-9 29,99 € selbst sein Über Identität, Subjektivität und Personalität Verlag Karl Alber, 1. Auflage 2015 Gebunden, 256 Seiten ISBN: 978-3-495-48709-9 ISBN (ebook): 978-3-495-80804-7 29,00 €

Wie der Mensch zur Welt kommt Beiträge zur Geschichte der Selbstwerdung Verlag Karl Alber, 1. Auflage 2019 Gebunden, 120 Seiten ISBN: 978-3-495-49049-5 ISBN (ebook): 978-3-495-82051-3 24,00 € System der Philosophie 10 Bände im Schuber Verlag Karl Alber, 1. Auflage 2019 Gebunden, 5.384 Seiten ISBN: 978-3-495-49600-8 420,00 € Zur Epigenese der Person Verlag Karl Alber, 1. Auflage 2017 Gebunden, 168 Seiten ISBN: 978-3-495-48868-3 ISBN (ebook): 978-3-495-81367-6 29,00 € Bewusstsein Verlag Karl Alber 2. Auflage 2016 Kartoniert 144 Seiten ISBN: 978-3-495-48425-8 22,00 € Momentaufnahmen der Reflexion Fotografie und Philosophie (mit Langerock, Bernard) Verlag Karl Alber, 1. Auflage 2014 Gebunden, 80 Seiten ISBN: 978-3-495-48673-3 24,00 €

311 https://doi.org/10.5771/9783495824962 .

Verzeichnis aller bei Alber aktuell lieferbaren Bücher von Hermann Schmitz Gibt es die Welt? Verlag Karl Alber, 1. Auflage 2014 Kartoniert, 156 Seiten ISBN: 978-3-495-48668-9 ISBN (ebook): 978-3-495-86046-5 22,00 € Kritische Grundlegung der Mathematik Eine phänomenologisch-logische Analyse Verlag Karl Alber, 1. Auflage 2013 Kartoniert, 160 Seiten ISBN: 978-3-495-48561-3 24,00 € Jenseits des Naturalismus Neue Phänomenologie, Band 14 Verlag Karl Alber 1. Auflage 2010 Kartoniert ISBN: 978-3-495-48381-7 42,00 €

Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie Verlag Karl Alber, 4. Auflage 2014 Kartoniert, 136 Seiten ISBN: 978-3-495-48361-9 ISBN (ebook): 978-3-495-86096-0 18,00 € Das Reich der Normen Verlag Karl Alber, 1. Auflage 2012 Kartoniert, 368 Seiten ISBN: 978-3-495-48511-8 ISBN (ebook): 978-3-495-86075-5 29,00 €

Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung. Bd. 2: Nachantike Philosophie Verlag Karl Alber, 1. Auflage 2007 Gebunden, 853 Seiten ISBN: 978-3-495-48262-9 58,00 €

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