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German Pages 306 [307] Year 2010
Lethen · Löschenkohl · Schmieder (Hrsg.) Der sich selbst entfremdete und wiedergefundene Marx
Helmut Lethen Birte Löschenkohl · Falko Schmieder (Hrsg.)
Der sich selbst entfremdete und wiedergefundene Marx
Wilhelm Fink
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung
Umschlagabbildung: Collage von Heinz Dieter Kittsteiner und Birte Löschenkohl
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Inhaltsverzeichnis
HELMUT LETHEN, BIRTE LÖSCHENKOHL, FALKO SCHMIEDER VORWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. KARL MARX, EIN REBELLISCHER BÜRGER DES 19. JAHRHUNDERTS ANDREAS ARNDT Hegel und Marx . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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FALKO SCHMIEDER Die wissenschaftlichen Revolutionen von Charles Darwin und Karl Marx und ihre Rezeption in der Arbeiterbewegung. . . . . . . . . . . . . . . .
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FRÉDÉRIC KRIER „Schreiben wir eine Phänomenologie des Werthes!“ Marx vs. Proudhon revisited. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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BIRTE LÖSCHENKOHL „Tout ce qu’on aurait pu être ici-bas“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses bei Marx und Blanqui GEORG BOLLENBECK Wie Marx die Kulturkritik überwindet, indem er sie aufhebt . . . . . . . . . . . .
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2. DER VON SICH SELBST ENTFREMDETE MARX – DER MARX DER ARBEITERBEWEGUNG HANS GÜNTHER Russische Revolution und apokalyptisches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 ROLF HECKER Rjazanovs Herausgabe der MEGA und oder vs. Marxismus-Leninismus . . . 131 OLAF KISTENMACHER „Nazis für jüdisches Kapital“ (Rote Fahne 182, 7. September 1932) . . . . . . 143 Antisemitische Stereotype und antifaschistisches Selbstverständnis in der Tageszeitung der KPD während der Endphase der Weimarer Republik, 1928-1933
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INHALTSVERZEICHNIS
THOMAS HAURY Antisemitismus in Karl Marx’ Frühschrift „Zur Judenfrage“? . . . . . . . . . . . . 161 STEPHAN GRIGAT Antisemitismus im Marxismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Warum die Linke mit Marx kritisiert werden muss 3. DER WIEDERGEFUNDENE MARX, ODER: DER MARX DER PHILOSOPHEN HANS-JOACHIM LENGER Die Mutter aller verrückten Formen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Marx, die Schrift und die Spekulation FRANK ENGSTER Zeit bei Marx – Das Maß als Mittel der Verzeitlichung . . . . . . . . . . . . . . . . 207 SAMI KHATIB Walter Benjamin und Karl Marx. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Der „Begriff der Geschichte“ und die „Zeit des Kapitals“ DIRK BRAUNSTEIN »Gleich ist zugleich nicht gleich« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Adornos rettende Kritik des Tausches CHRISTOPH HENNING Geschichtsphilosophie als Marxkritik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Kontinuitäten einer misslingenden Argumentationsstrategie im Blick auf Kittsteiner FRANK RUDA Proletarischer Aristokratismus und das Gattungswesen Mensch. . . . . . . . . . 277 Marx mit Badiou MATTHIAS ROTHE Wie und zu welchem Zweck Foucault Marx gebraucht . . . . . . . . . . . . . . . . 293 ZU DEN AUTOREN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
Vor dem Vorwort
Eine Erklärung des Umschlagbildes, die zugleich als Einleitung in das Werk hätte dienen können, würde an dieser Stelle stehen – weilte Heinz Dieter Kittsteiner, Initiator des Projektes, dessen Produkt vorliegendes Buch ist, noch unter uns. Uns an seiner Stelle an einer solchen Erklärung zu versuchen, schien uns wenig erfolgversprechend. Sie hätte, so Kittsteiner, dem Stil nach der Einleitung zu seinem Buch Weltgeist, Weltmarkt, Weltgericht gleichen sollen. Die Idee jedoch ist offensichtlich: Die Illustration basiert auf der Darstellung des an die Druckerpresse gefesselten Prometheus als Allegorie auf das Verbot der Rheinischen Zeitung, deren Chefredakteur Marx gewesen war (vgl. die Originalabbildung in MEW 1, S. 200 f.). In unserem Titelbild ist Prometheus durch Marx ersetzt und der preußische Adler, der ihm das Herz aus der Brust reißt, ist mit einem roten Stern dekoriert. Die ‚Ausbeutung‘ der Elemente in Marx’ Schriften und deren sukzessive Um- und Überformung zu einer Legitimationswissenschaft des ‚real existierenden Sozialismus‘ stellt sich damit als ein Problem für Marx dar. Ein zweites ist die Frage nach dem Akteur des historischen Prozesses. Marx ist im vorliegenden Bild nicht mehr an die Druckerpresse gefesselt, sondern an den ‚Proll‘, den Kittsteiner als den unter den Bedingungen des globalisierten Kapitalismus neugeborenen „GeschichtsAbderiten“1 dargestellt hat. Dieser Proll, in dessen Gestalt sich heute das zeigt, was sich Marx als Proletariat und damit historisches Subjekt des Klassenkampfes vorgestellt hatte, blickt selbstbewusst auf Marx herab, der sich zwischen Adler und Proll sichtlich unwohl fühlt. Dies unheilvolle Szenario wird von den Vertretern der Kritischen Theorie betrauert, die zu Füßen von Marx gruppiert sind und ihre Hände hoffnungsvoll oder verzweifelt in den Himmel heben. Ein Engel der Geschichte ist nirgendwo in Sicht.
1 Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner, Weltgeist, Weltmarkt, Weltgericht, München, 2008, S. 181.
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Der sich selbst entfremdete und wiedergefundene Marx Vorwort
Die linken Philosophen haben (daran mitgewirkt) die Welt zu verändern, (wollen sie mit diesen Änderungen nicht dauernd Schiffbruch erleiden) kömmt es darauf an, sie zu interpretieren.1 Heinz Dieter Kittsteiner
Warum heute noch – oder wieder – Marx lesen? Ist mit dem Untergang des ‚real existierenden Sozialismus‘, der den großen Systemstreit von Kapitalismus und Kommunismus entschieden hat, nicht auch die Frage nach der Relevanz von Marx beantwortet worden? Wer heute noch Marx lese, so konnte man lange Zeit hören, sei entweder nostalgisch und ein schlechter Verlierer, oder einem irrelevanten Nischendiskurs verpflichtet. Dem möchten wir mit Terry Eagleton eine einfache Gegenfrage stellen: Wie kann man heute, im globalen Kapitalismus, nicht Marx lesen?2 Wie kann man glauben, an der Lektüre des wohl hellsichtigsten Kritikers des Kapitalismus vorbeizukommen, obschon der Kapitalismus heute mehr denn je die global dominierende Wirtschaftsform darstellt? Marx’ Relevanz wird mindestens solange bestehen bleiben, wie der Kapitalismus uns erhalten bleibt – und mit dessen kurzfristigem Ende ist wohl kaum zu rechnen. Wer ein kritisches Erkenntnisinteresse an der Frage nach dem Wesen des Kapitalismus hat und wissen will, wie Gesellschaft, Ökonomie und Kultur miteinander verwoben sind und sich gegenseitig bedingen, der bleibt auf Marx’ Schriften verwiesen. Der wechselhafte Verlauf der Marx-Rezeption stellt eine Geschichte von Diskontinuitäten, Brüchen, Ungleichzeitigkeiten und nationalspezifischen Besonderheiten dar und sprengt auch heute noch jeden Versuch einer einheitlich sinnstiftenden Narration.3 Dennoch seien im Folgenden einige Wegmarken genannt, die
1 Heinz Dieter Kittsteiner, „Marxismus und Subjektivität. Ein Dialog, neuere Philosophie betreffend (II. Teil)“, in: Berliner Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik, Nr. 10, Berlin, 1978, S. 15. 2 Im Rahmen eines Vortrages am 08.10.2006 im ‚Streitraum‘ der Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin. 3 Lesenswerte Versuche dazu unternahmen in jüngerer Zeit beispielsweise Wolfgang Wippermann, Der Wiedergänger: Die vier Leben des Karl Marx, Wien, 2008; Jan Hoff, Alexis Petrioli, Ingo Stützle, Frieder Otto Wolf, Das Kapital neu lesen – Beiträge zur radikalen Philosophie, Münster, 2006.
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für das Unterfangen einer neuen Lektüre der Schriften von Marx von entscheidender Wichtigkeit sind. Die Geschichte des ,weltanschaulichen Marxismus‘4 der Arbeiterbewegung im langen 19. Jahrhundert wurde 1933 durch den radikalen Einschnitt, den der Nationalsozialismus bedeutete, abgebrochen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es die Studentenbewegung der 60er und 70er Jahre, die, in Deutschland vermittelt über die Kritische Theorie, in Frankreich über Jean-Paul Sartre und Maurice MerleauPonty, ein neues Interesse an der Marxschen Theorie artikulierte. Mit dem Ende der Studentenbewegung wurde es zunächst eher still um Marx. Insbesondere seit den 1980er Jahren kann das allgemein gesteigerte Misstrauen Marx gegenüber dann als Phänomen globalen Ausmaßes betrachtet werden, das schließlich um 1990 im Jubel um den Sieg der ‚Demokratie‘ über den ‚Kommunismus‘ kulminierte. In eben diesen Siegestaumel hinein hat Jacques Derrida sein Buch Marx’ Gespenster (1993) veröffentlicht. Er beharrt darauf, diesen Höhepunkt des Triumphs über Marx zugleich als einen Umschlagpunkt anzusehen, der zu einer kritischen Überprüfung des Marxschen Erbes und der Versuche, es loszuwerden, nötige. Das Ziel von Derridas Intervention ist es, eine neue Lektüre der Marxschen Theorie einzuleiten, die das theoretische Erbe danach befragt, was es zur Erhellung der Probleme der Gegenwart beitragen kann: „Es wird immer ein Fehler sein, Marx nicht zu lesen, ihn nicht wieder zu lesen und über ihn nicht zu diskutieren. Und das heißt auch, einige andere wiederzulesen – jenseits der ,Lektüre‘ oder der ,Diskussion‘ der Schule. Es wird mehr und mehr ein Fehler sein, ein Verfehlen der theoretischen, philosophischen, politischen Verantwortung. Seit die Dogmenmaschinerie und die ideologischen Apparate des Marxismus […] im Verschwinden begriffen sind, haben wir keine Entschuldigung mehr, nur noch Alibis, um uns von dieser Verantwortung abzuwenden. Ohne das wird es keine Zukunft geben. Nicht ohne Marx, keine Zukunft ohne Marx.“5 Dass der Niedergang der ‚real existierenden Sozialismen‘ – in Deutschland am prägnantesten am Fall der Berliner Mauer oder am Datum der Wiedervereinigung festzumachen – eine Zäsur für die Beschäftigung mit Marx darstellen musste, liegt auf der Hand. Bereits im Jahre 1985 allerdings hatten sich Ernesto Laclau und Chantal Mouffe mit ihrem Titel Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics radikal von einigen der grundlegendsten politischen Kategorien der marxistischen Denktraditionen abgewandt, indem sie folgendes Fazit aus den Debatten des Marxismus zogen: „Es ist nicht länger möglich, die Subjektivitätsund Klassenkonzeption, wie sie durch den Marxismus ausgearbeitet worden ist, seine Vorstellung vom historischen Verlauf der kapitalistischen Entwicklung und selbstverständlich auch nicht seine Konzeption des Kommunismus als einer trans-
4 Vgl. zu diesem Konzept Michael Heinrich, Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, Stuttgart, 2004, S. 19-26. 5 Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a. M., 2004, S. 29.
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parenten Gesellschaft, in der die Antagonismen verschwunden sind, beizubehalten.“6 Laclau/Mouffe brachen damit mit dem Repräsentationsanspruch des Proletariats, das der marxistischen Tradition als Repräsentant aller sozialen Kämpfe galt. Der Abschied vom Proletariat betrifft auch die diesem unterlegte Geschichts-Metaphysik als „identisches Subjekt-Objekt der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung“7, in deren teleologischem Fluchtpunkt die universelle menschliche Emanzipation in der kommunistischen Gesellschaft gesehen wurde. Laclau/Mouffes einflussreicher Titel macht deutlich, dass sich zumindest ein Teil der intellektuellen Linken bereits vor dem offiziellen Ende des ‚real existierenden Sozialismus‘ von bestimmenden Kategorien des ‚weltanschaulichen Marxismus‘ verabschiedet hatte – ohne deshalb kritiklos in herrschende Diskurse einzustimmen und sich gänzlich von Marx abzuwenden. Denn bei aller Kritik an bestimmten Elementen des Marxschen Denkens, an bestimmten Schulen der Auslegung seiner Schriften, verlangt die Kritik des real existierenden Kapitalismus nach wie vor nach einem Bezug zum Marxschen Werk. Doch welche Art von Lesbarkeit lässt sich heute für seinen Textkorpus zur Kritik der politischen Ökonomie reklamieren? Welchen analytischen Nutzen kann Marx heute haben? Das erste Phänomen, das bei dieser Frage unmittelbar augenfällig scheint, ist die derzeitige tiefe globale Krise des kapitalistischen Wirtschaftsund Finanzsystems. Es ist nicht absehbar, wie lange das Gespenst der Krise noch umgehen wird, und welche Folgen aus seinem Spuk resultieren werden. Sicher aber ist, dass die gravierenden globalen Probleme, mit denen die modernen Gesellschaften konfrontiert sind, fortbestehen werden: soziale Spannungen, globale Umweltzerstörung und regional ausgefochtene Weltordnungskriege. Dass diese existenziellen Problemfelder etwas mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem zu tun haben, lässt sich mit Marx systematisch begründen – unabhängig davon, dass seine Prophetie, der krisenhafte Kapitalismus werde sich irgendwann aus innerer Notwendigkeit selbst erledigen, im heutigen geschichtlichen Erfahrungsraum nur wenig Rückhalt finden kann.8 Aber auch ohne die geschichtsphilosophische Dramaturgie einer finalen Krise gibt Marx analytisches Werkzeug an die Hand, um Verlauf, Charakter und Wiederkehr kapitalistischer Krisen zu verstehen. Eines seiner Analyseergebnisse besteht beispielsweise darin, dass kapitalistische Krisen immanent dem Akkumulationsregime entspringen und deshalb nicht als Folge der Gier oder des exzessiven Gewinn-
6 Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie: Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien, 1991, S. 37. 7 Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik, Berlin, 1923, S. 164. 8 Schon in den 1930er Jahren formulierte Walter Benjamin gegen den Fortschrittsglauben des Parteimarxismus sehr eindringlich: „Die Erfahrung unserer Generation: daß der Kapitalismus keines natürlichen Todes sterben wird.“ Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Gesammelte Schriften, Bd. V.2, Frankfurt a. M., 1982, S. 819.
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strebens einzelner Akteure zu begreifen sind.9 Das Geheimnis von sozialer Ungleichheit, Verelendung und Existenzangst lässt sich nicht aus den moralischen Dispositionen von sogenannten ‚Heuschrecken-Kapitalisten‘ enträtseln. Mit Marx lässt sich erklären, dass das Problem von Krisen weit tiefer liegt, dass es in einer dem Kapitalismus immanenten Struktur begründet ist. Jeder einzelne Unternehmer ist dem ökonomischen Zwangsgesetz der Akkumulation unterworfen; Heinz Dieter Kittsteiner hat hierfür den Begriff der „objektiven Gier“ geprägt.10 Die dem Weltmarkt zugrundeliegende Struktur erlaubt es keinem Unternehmer, sich von diesem Prinzip der objektiven Gier loszumachen und gleichzeitig auf dem Weltmarkt zu überleben. Eine von Marx angeleitete Analyse des Kapitalismus kann zudem charakteristische Schwächen postmoderner Denktraditionen aufzeigen. Der entscheidende Referenzpunkt, in dem alle neueren, postmodernen Theorieansätze übereinstimmen, besteht in der Absage an die großen Erzählungen, an den Kollektivsingular ,der Geschichte‘ oder geschichtsphilosophische Grundbegriffe wie etwa ‚Fortschritt‘, ‚Entwicklung‘, ‚Totalität‘.11 Die konkreten Formen dieser Abkehr sind äußerst divers und können hier nur kursorisch angegeben werden: dazu gehören die Aufwertung historischer Diskontinuität, die Konzentration auf Mikrogeschichten, die Hinwendung zu den blinden Flecken, Rändern, Unschärfen und Überdeterminiertheiten von Theorien, die Negation des Universalitätsanspruchs der abendländischen Vernunft und die damit verbundene Konzeption lokaler, historisch gebundener Rationalitäten (im Plural), die Anerkennung der Partikularität und Perspektivität von Erkenntnis und die Ablehnung der Ideologiekritik usw. Es kann nicht darum gehen, die theoretischen Errungenschaften des postmodernen Denkens in Abrede zu stellen. Allerdings gilt es, einige entscheidende Fragen zu stellen. Denn wie soll es etwa möglich sein, sich allein auf postmoderne Konzepte von Mikrogeschichten und Partikularinteressen zu konzentrieren, obschon wir heute mehr denn je in einer Welt leben, in der das Kapital tatsächlich eine globale Universalgeschichte aus sich heraussetzt? Und wie steht es heute unter kapitalistischen Vorzeichen um die materielle Realität einer geschichtsmetaphysischen Gespenstigkeit namens Weltgeschichte? Der junge Marx hat den gesellschaftlichen Gehalt von Hegels Geschichtsphilosophie des absoluten Geistes entziffert und den Begriff des Weltgeistes kurzerhand in den des Weltmarkts übersetzt: „In der bisherigen Geschichte ist es allerdings ebensosehr eine empirische Tatsache, daß die einzelnen Individuen mit der Ausdehnung der Tätigkeit zur Weltgeschichtlichen immer mehr unter einer ihnen fremden Macht geknechtet worden sind (welchen Druck 9 Im Hinblick auf solche schon damals populären reduktionistischen Formen einer Kritik am Kapitalismus heißt es im Vorwort zur ersten Auflage des Kapitals 1867: „Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind.“ Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, MEW 23, S. 16. 10 Heinz Dieter Kittsteiner, Weltgeist, Weltmarkt, Weltgericht, München, 2008, S. 136 ff. 11 Symptomatisch etwa bei Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen, Wien, 1999 (orig. Paris, 1979).
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sie sich denn auch als Schikane des sogenannten Weltgeistes etc. vorstellten), einer Macht, die immer massenhafter geworden ist und sich in letzter Instanz als Weltmarkt ausweist.“12 So berechtigt die Kritik vieler postmoderner Denker an der traditionellen Geschichtsphilosophie und so notwendig die Abkehr vom dogmatischen Marxismus war, so prekär ist doch zugleich die schroffe Absage an eine ganze Denktradition, die von Hegel über Marx bis zur Kritischen Theorie reicht. Das Leitmotiv dieser Denktradition war der Befund der historischen Verselbstständigung des ‚Ganzen‘ gegenüber den Menschen, die es hergestellt haben. Verbunden mit der postmodernen Absage an die große Erzählung ,der Geschichte‘ war auch ein neues Zeitkonzept, das sich in der Abkehr von der Linearität und Zukunft und einer Hinwendung zu pluralisierten, gegenwartsfixierten Zeitkonzepten manifestierte. Beide Auffassungen fusionieren im Theorem des Posthistoire, das sich auf der manifest politischen Ebene als Plädoyer für die Achtung bestehender Differenzen verstehen lässt. Die affirmative Seite dieses Konzeptes trat nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus in Francis Fukuyamas Buch Das Ende der Geschichte (1992) besonders deutlich hervor, das als eine Generalabrechnung mit dem Marxismus verstanden wurde und einen endgültigen Triumph des Kapitalismus theoretisch untermauern sollte. Slavoj Žižek zufolge ist heute das ‚Ende der Geschichte‘ selbst schon historisiert, seitdem wir seit Anfang des neuen Milleniums wieder in der ‚Wüste des Realen‘ angekommen sind: „Am 11. September 2001 rasten zwei Flugzeuge in das World Trade Center, zwölf Jahre zuvor, am 9. November 1989, fiel die Berliner Mauer. Der 9. November kündigte die happy nineties an, Francis Fukuyamas Utopie vom ‚Ende der Geschichte‘: die Überzeugung, daß die liberale Demokratie im Prinzip gewonnen habe, daß die Suche nun vorüber sei, daß die Ankunft einer globalen, liberalen Weltgemeinschaft unmittelbar bevorstehe, daß die Hindernisse, die einem solchen ultrahollywoodmäßigen Ende noch entgegenstanden, rein empirischer und kontingenter Natur seien (lokale Widerstandsnester, in denen die Führer noch nicht begriffen hatten, daß ihre Zeit vorüber ist). Im Gegensatz hierzu ist der 11. September das wichtigste Sinnbild für das Ende der Clintonschen happy nineties und für den Anbruch des neuen Zeitalters, in dem überall neue Mauern entstehen: zwischen Israel und der West Bank, um die EU herum, an der Grenze zwischen den USA und Mexiko. Doch es scheint, als habe die Utopie Fukuyamas aus den Neunzigern zweimal sterben müssen. Der Zusammenbruch der liberaldemokratischen politischen Utopie am 11. September 2001 betraf nicht die ökonomische Utopie des globalen Marktkapitalismus; und wenn die Finanzkrise 2008 eine historische Bedeutung hat, dann als Zeichen für das Ende der ökonomischen Seite von Fukuyamas Utopie.“13 Heute, in Zeiten der globalen Krise, drängt sich also die Erkenntnis auf, dass man das Problem der Geschichte nicht einfach dadurch los wird, dass man es in wissenschaftlichen Texten für erledigt erklärt oder sich schlichtweg von ihm abwendet. Im Klartext aber heißt das: Es gibt 12 Karl Marx, Friedrich Engels, Die Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 37. 13 Slavoj Žižek, „Hoffnungszeichen“, in: Lettre International, Nr. 83 (2008).
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einen sachlichen Grund für den modernen Kollektivsingular ,der Geschichte‘, es gibt dieses Allgemeine. Wir sprechen von ihm, wenn wir ,Weltmarkt‘ oder ,Globalisierung‘ sagen. Reinhard Koselleck hat deshalb völlig zu Recht die historische Herausbildung der Kollektivsingulare um die Wende zum 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Entstehung der modernen Gesellschaft gesehen. Seine Analysen der merkwürdigen Selbstbezüglichkeit der modernen Bewegungsbegriffe verweisen auf die Erfahrung der Verselbstständigung der Verhältnisse, die Erfahrung einer Ohnmacht gegenüber ,der Geschichte‘, die zuerst von der Geschichtsphilosophie artikuliert worden ist. Die Einsicht in die bedrohliche Autodynamik der modernen, kapitalistischen Gesellschaft wird heute unter den Vorzeichen der ökologischen Krise und der damit verbundenen Gefährdung der Überlebensbedingungen der Menschheit zunehmend unabweisbar.14 Die gegenwärtige Lage ist wahrhaft paradox: Während bis vor kurzem die Gefährdung der Überlebensbedingungen der Menschheit ,nur‘ als Effekt eines atomaren Krieges denkbar schien, wird diese Gefährdung seit den 1980er Jahren im Zeichen der ,ökologischen Krise‘ als unerwünschte ,Nebenfolge‘ der herrschenden Form der ökonomischen Reproduktion der Gesellschaft konzipiert. In der Politik wird heute unter dem Schlagwort ‚Nachhaltigkeit‘ die Tatsache problematisiert, dass die moderne Gesellschaft in ihren bisherigen Formen nicht zukunftsfähig ist. Damit tritt ein Phänomen in den Blick, das schon Marx und seine Zeitgenossen, zum Beispiel Justus von Liebig, beunruhigt hat: der systematische Zusammenhang von kapitalistischer Wirtschaftsweise und Naturzerstörung.15 Die postmoderne Theoriebildung mit ihrer tumultuarischen Abkehr von Großbegriffen16 sowie ihrem Interesse für Mikrogeschichten und die narrativen Formen der Darstellung von Geschichte17 hat keine Instrumente erarbeitet, um dieses Thema angehen zu können. In neuerer Zeit hat Harald Welzer im Hinblick auf die dramatischen Prognosen der Klimaforscher eine Generalkritik an den Sozial- und Kulturwissenschaften geübt, die auf eben dieses fundamentale Manko zielt: „Wissenschaftshistorisch gibt es wahrscheinlich keine vergleichbare Situation, in der ein mit wissenschaftlicher Evidenz vorgezeichnetes Szenario über die Veränderung von Lebensverhältnissen in weiten Teilen der Welt von Sozial- und Kulturwissenschaften mit derartigem Gleichmut verzeichnet wird, wie es gegenwärtig der Fall ist. Dies zeigt einen Mangel an Unterscheidungsvermögen ebenso an wie an Verantwortungsbewusstsein.“18
14 Iring Fetscher, Überlebensbedingungen der Menschheit. Ist der Fortschritt noch zu retten?, Berlin, 1991. 15 Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 529. 16 Vgl. François Lyotard, „Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?“, in: Tumult, Heft 4 (1982), S. 131-142. 17 Vgl. Hayden White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore, 1973. 18 Harald Welzer, Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird, Frankfurt a. M., 2008, S. 45.
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Mit der Finanzkrise und dem Verständnis der Dynamik des globalen Weltmarktes, der problemorientierten Kritik postmoderner Theorien sowie der Umweltproblematik sind einige exemplarische und gewichtige Themenkomplexe angesprochen, zu deren Erhellung eine Beschäftigung mit Marx fruchtbar sein kann. Dass dies keine erschöpfende Darstellung ist, versteht sich von selbst. Ebenso, dass dieser Sammelband nicht angetreten ist, um Antworten auf all diese Fragen zu geben. Was vorliegender Band will, ist vielmehr – an ausgewählten Beiträgen und mit ganz unterschiedlichen Ansätzen und Voraussetzungen – das Potenzial der Marxschen Schriften auszuloten und produktiv zu verwenden. Die Annahme, die in gewisser Weise allen Beiträgen zugrunde liegt, lautet: Die kritische Analyse zeitgenössischer gesellschaftlicher Probleme sowie kulturwissenschaftliche und philosophische Fragestellungen brauchen Marx, und Marx braucht aktuelle und ihn aktualisierende Perspektivisierungen. Dieses Buch geht auf eine Tagung zurück, die im November 2008 in Frankfurt (Oder) an der Europa-Universität Viadrina stattfand. Gegliedert war sie in drei Themenblöcke; als Orientierungspunkt diente dabei die von dem amerikanischen Soziologen und Historiker Immanuel Wallerstein vorgenommene Einteilung in drei Phasen des Marxismus, denen jeweils ein Konferenztag gewidmet wurde. Die erste Phase betrifft Marx’ eigenes Wirken in seiner Zeit, die zweite Phase ist die der Arbeiterbewegung und der Einführung von real existierenden (Staats-) Sozialismen. Die dritte Phase des Marxismus, die „Epoche der tausend Marxismen“19, endet Wallerstein zufolge als Nachgeschichte des traditionellen Marxismus im Angesicht seiner endgültigen Niederlage, als deren Symbol der Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 verstanden werden kann. Der dritte Themenblock kümmert sich jedoch auch um einige Denker, die in die Phase des „Post-Marxismus“20 fallen – der nicht als eine Abkehr von Marx, sondern als die Phase nach den ‚real existierenden Sozialismen‘ zu verstehen ist, also als unsere eigene.
Karl Marx, rebellischer Bürger des 19. Jahrhunderts In der ersten Sektion wird das intellektuelle Umfeld von Marx als rebellischem Bürger des 19. Jahrhunderts ausgelotet. Marx erscheint in diesem Kontext als durchaus zeitgemäßer Denker, der wie viele andere den „revolutionären Bruch“ (Karl Löwith) in der Jahrhundertmitte zu verkraften hat. Wenn daher Heidegger sagt: „Denn nicht der deutsche Idealismus brach zusammen, sondern das Zeitalter war nicht mehr stark genug, um der Größe, Weite und Ursprünglichkeit jener
19 Immanuel Wallerstein, Unthinking Social Science. The Limits of Nineteenth-Century Paradigms, Cambridge, 1991, S. 178. 20 Vgl. hierzu Stuart Sim, Post-Marxism: an intellectual history, London, New York, 2000.
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geistigen Welt gewachsen zu bleiben…“21 – dann wird man fragen dürfen, ob dieser ‚Mangel an Stärke‘ nicht vor allem dem Triumph des Kapitalismus zu verdanken war. Marx wäre dann derjenige, der, noch als Schüler des Deutschen Idealismus, diesen Bruch am konsequentesten aufgenommen und ihn in seinen Schriften als „coupure épistémologique“ (Louis Althusser) reflektiert hat. Die These des wissenschaftlichen Einschnitts des Marxschen Werkes wird in den Beiträgen zur ersten Sektion in verschiedenen perspektivischen Ausgestaltungen diskutiert. Andreas Arndt widmet sich dem Verhältnis der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie zur Hegelschen Philosophie und vertritt die These, dass Hegels Theorie des objektiven Geistes bis in die späten Aufbaupläne des Kapital den Rahmen vorgibt. Frédéric Krier geht der Frage nach, ob Proudhons System der ökonomischen Widersprüche und Marx’ Kapital als zwei Emanationen eines im Herbst 1844 gemeinschaftlich entworfenen Projekts anzusehen sind, eine Phänomenologie des Werts zu schreiben. Falko Schmieder fokussiert die epistemologische Parallelität der wissenschaftlichen Revolutionen von Darwin und Marx und zeigt auf, dass diese in den populären Anschlussbewegungen des Darwinismus und Marxismus nicht nachvollzogen worden sind. Neben der Geschichtsphilosophie bildete sich in der Kulturkritik eine Denkform heraus, die ebenfalls auf die historisch neuen Erfahrungen der modernen Gesellschaft reagierte. Dadurch ergaben sich viele sachliche Berührungspunkte mit der Marxschen Theorie. Georg Bollenbeck widmet sich in seinem Beitrag der Frage nach dem Verhältnis von Marx zur Kulturkritik. Eine seiner Thesen ist es, dass die zeitgenössisch kursierenden kulturkritischen Befunde von Marx aufgegriffen, verschärft und in eine „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ integriert wurden; andererseits weist Bollenbeck aber auch darauf hin, dass auch noch im Kapital Vorstellungen und normative Geltungsansprüche nachweisbar sind, die aus dem Arsenal der Kulturkritik stammen. In einer solchen Perspektive öffnet sich auch der Blick dafür, dass die Kulturkritik nach Marx ihrerseits häufig auf dessen Konzepte zurückgegriffen und sie im Hinblick auf neue Erfahrungen weiter verarbeitet hat. So kann erklärt werden, dass fruchtbare Innovationen für eine neue MarxLektüre häufig von ‚bürgerlichen‘ Denkern ausgegangen sind. Dies gilt in besonderer Weise für viele Klassiker der ,ersten Kulturwissenschaft‘, deren Werke häufig in direkter Auseinandersetzung mit Marx entstanden sind. Unter den frühesten Denkern sind Georg Simmel mit seiner Philosophie des Geldes (1900) und dem daran anschließenden Konzept der ,Tragödie der Kultur‘ sowie Max Weber zu nennen, der sein Konzept moderner Rationalisierung und sein Theorem von den religiösen Ursprüngen des Kapitalismus in Die protestantische Ethik und der ,Geist‘ des Kapitalismus (1904) als Gegenentwurf zu Marx konzipiert hat. Auch Siegfried Kracauers kulturphilosophische Schriften wie Die Angestellten (1930) waren durch eine Marx-Lektüre vermittelt.
21 Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, in: Ders., Gesamtausgabe, 2. Abteilung, Bd. 40, Tübingen, 1983, S. 49.
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Der von sich selbst entfremdete Marx: der Marx der Arbeiterbewegung Der zweite thematische Block behandelt Marx in seiner weltanschaulichen Funktion als Stichwortgeber der historischen Arbeiterbewegungen und des ‚real existierenden Sozialismus‘. Eine ‚Entstalinisierung‘ und Entideologisierung von Marx’ Denken hat zwar im akademischen Diskurs wie auch in weiten Kreisen linker Intellektueller längst stattgefunden. Dennoch ist eine der Hauptassoziationen, die auch heute noch in Verbindung mit Marx auftauchen, der ‚real existierende Sozialismus‘ – von der Sowjetunion über China bis zur DDR. Hier gilt es noch einmal nachzuforschen, inwieweit sich die ‚marxistischen‘ Doktrinen in den Marxschen Schriften selbst verankern konnten, und wie daher das Verhältnis von Marx und der historischen, sich als marxistisch begreifenden Arbeiterbewegung zu fassen ist. Die Frankfurter Schule, die die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik maßgeblich angestoßen hatte, war selbst zugleich geprägt durch den Schrecken des Nationalsozialismus, der den Blick auf die gesamte zurückliegende Geschichte der Kultur und Philosophie – und damit auch auf die Marxsche Theorie und deren emanzipatorischen Anspruch – geändert hat. Die philosophischen Konsequenzen aus dem Zivilisationsbruch von Auschwitz zieht Adorno in seiner Negativen Dialektik (1962), die nicht zufällig mit einer Revision der Marxschen Feuerbach-Thesen – dem vermeintlichen Gründungsdokument des historischen Materialismus – beginnt: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“22 Dass die hiermit verbundene Absage an den Praxis- und Fortschrittsbegriff des traditionellen Materialismus zugleich im Bewusstsein der Notwendigkeit geschieht, die avanciertesten Einsichten der Philosophie vor dem Zivilisationsbruch präsent zu halten, demonstriert Dirk Braunsteins Analyse von Adornos Rezeption der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, mit der erneut auch das Erbe der Geschichtsphilosophie aufgerufen wird. Adornos resignative These von der verstellten Praxis wurde von den 68ern nicht geteilt. Sie griffen auf Theorien zurück, die dem revolutionären Spontaneismus ein tragfähiges Fundament verschaffen sollten. In diese Zeit fallen viele avancierte Versuche, die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie mit anderen kritischen Denkansätzen wie z.B. Sigmund Freuds Psychoanalyse zu verbinden oder zur Erhellung neuer zeitgenössischer Diskussionsgegenstände zu nutzen (Kritik der politischen Technologie, neue Medien, Warenästhetik, Feminismus). Das von der Studentenbewegung fahrlässig behandelte Thema der Vermittlung von (kritischer) Theorie und (emanzipatorischer) Praxis erwies sich jedoch bald als ein Problem, das nicht ohne Folgen für die ,Bewegung‘ bleiben konnte. Das Bewusstsein, dass kritische Theorie in Handlungslähmung führte, ließ diejenigen, die sich nicht mit einer kontemplativen Wissenschaft begnügen wollten, zur Lektüre der Schriften von Lenin und Mao greifen. Hier sollten die Formen empirischer Untersuchungen der 22 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt a. M., 1973, S. 15.
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sozialen Lage mit Organisationsarbeit und marxistischer Analyse verbunden werden. Was heute teils kurios erscheinen mag, galt einer marxistischen Universitätslinken vor allem in den 1970er Jahren als Mittel der Aufhebung von gesellschaftlicher Isolation. In vielen linken Zirkeln war eine ‚Schulung‘ in der Marxschen Theorie obligatorisch. Später war zu erfahren, mit welchem Grad an Realitätsverlust die Arbeit der sogenannten K-Gruppen verbunden war, die letztlich Modelle der III. Internationale en miniature imitierten. Neben den praktizistischen Gruppen existierten die ‚Kapital-Arbeitskreise‘ derer, die als ‚Seminarmarxisten‘ von den politischen Akteuren verachtet wurden, deren Einsichten aber einer neuen Marx Lektüre den Weg gebahnt haben.23 Heinz Dieter Kittsteiner war – wie er nicht ohne Stolz berichtet hat – einer von ihnen. Über der gesamten Szenerie der 60er und 70er Jahre lag der Schatten der Erfahrung der Repressivität der staatssozialistischen Systeme, in denen die Marxsche Theorie zu einer Legitimationswissenschaft umfunktioniert wurde. Dazu gehörte selbstverständlich eine spezifische Herausgeberpolitik der Marxschen Schriften, die Rolf Hecker an der Geschichte der MEGA (Marx-Engels-Gesamtausgabe) verfolgt. Die parteipolitisch erzwungene theoretische Rückbildung dokumentiert sich vor allem in den Vorworten und Fußnoten der populären MEW-Ausgaben (Marx-Engels-Werke). Die sich hier bekundende Unfähigkeit zu einem kritischen Umgang mit dem theoretischen Erbe tritt drastischer zu Tage am Umgang mit der eigenen Geschichte. Solschenizyns Schilderung des GULAG-Systems in Der Archipel Gulag (1974) wirkte wie ein Fanal, das viele westeuropäische Intellektuelle vom Glauben an historische Missionen kurierte. Dass diese Mission in der Sowjetunion ohnehin bereits auf einer historisch ungünstigen Grundlage entwickelt wurde, ist mittlerweile bekannt; Marx selber hatte schließlich eine Revolution als letztes im rückständigen Russland erwartet. Hans Günther geht einen Schritt weiter und argumentiert, dass der Marxismus in Russland nicht den von Engels postulierten Weg „von der Utopie zur Wissenschaft“24 zurückgelegt, sondern den entgegengesetzten Weg – von der Wissenschaft zur häretischen Apokalyptik – genommen hat. Das ‚russisch-häretische Denken‘ hat hier zu einer spezifischen Aufnahme und Überformung der Marxschen Vorstellungen geführt. Ein weiterer, maßgeblicher Grund für die rasche Abkehr von Marx lag in der Unterschätzung der Beharrungskräfte und Modernisierungspotenziale der kapitalistischen Gesellschaft, beziehungsweise in der überspannten Erwartung grundlegender sozialer Veränderungen. Heinz Dieter Kittsteiner hat dies in einem selbstironischen Rückblick auf seine Lektüre von Benjamins Über den Begriff der Geschichte im Jahr 1967 so geschildert: „Unsere Bilder, Transparente und rote Fahnen sollten in die Geschichte zurückleuchten und das unglücklich Abgeschlossene mit revolutionärer ,Jetztzeit‘ aufladen. Wir waren auf der Erde erwartet worden;
23 Vgl. zur Geschichte der neuen Marx-Lektüre Ingo Elbe, Marx im Westen: Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965, Berlin, 2008. 24 Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEW 19.
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die Vergangenheit hatte Anspruch auf unsere durch ,Praxis‘ verbürgte schwache messianische Kraft.“25 Einen insbesondere für die kritische Aufarbeitung des weltanschaulichen Marxismus wichtigen und kontroversen Themenkomplex, dem auch die hier dokumentierte Konferenz einen ganzen Abend widmete, stellt die Frage des Antisemitismus dar. In Bezug auf dieses Thema scheint das Auseinanderfallen von Gesellschaftsanalyse und Revolutionstheorie, das im Mittelpunkt vieler Marx-Rekonstruktionen der 70er Jahre stand, eine dramatische Zuspitzung zu erfahren. Marx selbst ist auf den modernen Antisemitismus noch nicht aufmerksam geworden. Sein Freund und theoretischer Weggefährte Friedrich Engels hat ihn nur als Ausdruck eines zurückgebliebenen Bewusstseins, also noch nicht in seinem im Vergleich zum traditionell-christlichen Antijudaismus spezifisch modernen Gehalt wahrgenommen. Andererseits erweisen sich im Rückblick gerade die Marxsche Kapitaltheorie und insbesondere seine Analyse des Fetischcharakters der ökonomischen Formen als unverzichtbar für eine Analyse und Kritik des Antisemitismus, der in Moishe Postones einschlägiger Darstellung als eine „besonders gefährliche Form des Fetischs“26 erscheint. Die Marxsche Fetischkritik aber ist auch in Bezug auf das proletarische Bewusstsein verbindlich. Vor diesem Hintergrund erscheint es weniger verwunderlich, dass sich sowohl die historische Arbeiterbewegung wie auch die zeitgenössische Linke für antisemitische Stereotype und Denkmuster anfällig erwiesen haben beziehungsweise erweisen. Während Olaf Kistenmacher die erstaunliche Nähe einiger Positionen der zur KPD gehörenden Parteizeitung Rote Fahne zu antisemitischen Positionen der Nationalsozialisten aufzeigt, verfolgt Stephan Grigat einige der aktuelleren Debatten der Linken, in denen er antisemitische Denkstrukturen wiederfindet. Die Diskussion entbrannte hier besonders an der Frage nach aktuellen Positionierungen zum NahostKonflikt und der Frage, ob heutiger Antizionismus per se als sekundärer Antisemitismus zu fassen sei – was von vielen Diskutanten verneint wurde. Sowohl Grigat als auch Kistenmacher heben die Bedeutung der Marxschen Analyse für eine Kritik antisemitischer Denkstrukturen hervor und wollen den Marxismus mit Marx kritisieren. Dies wird von Thomas Haury durch seine Analyse des Marxschen Textes Zur Judenfrage unterstrichen, in der er bei Marx eine Übernahme antisemitischer Stereotype diagnostiziert, die jedoch paradoxerweise der Kritik des Antisemitismus dienen sollen. Im eigentlichen Sinne antisemitische Denkstrukturen, so argumentiert Haury, seien bei Marx jedoch nicht vorhanden.
25 Heinz Dieter Kittsteiner, „Die ,Geschichtsphilosophischen Thesen‘“, in: Materialien zu Benjamins Thesen ,Über den Begriff der Geschichte‘. Beiträge und Interpretationen, hg. v. Peter Bulthaup, Frankfurt a. M., 1975, S. 39. 26 Moishe Postone, „Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch“, in: Antisemitismus und Gesellschaft, hg. v. Michael Werz, Frankfurt a. M., 1995, S. 29-43, hier S. 40; vgl. auch ders., Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen, Freiburg, 2005.
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Der wiedergefundene Marx: der Marx der Philosophen Hier ist zunächst zwei Missverständnissen vorzubeugen, die der Titel befördern könnte. Erstens: Der Marx der Philosophen hat immer existiert, vom 19. Jahrhundert bis heute – das Thema ist also nicht als historisch ‚nach‘ dem Marx der Arbeiterbewegung einzuordnen, auch wenn deren weitgehende Auflösung einer solchen ‚Wiederentdeckung‘ sicher Vorschub leistet. Zweitens ist mit Etienne Balibar zu konstatieren, dass es keine Philosophie von Marx gibt, weil Marx seinem Anspruch nach auf eine Überschreitung der Philosophie zielt. „[W]hatever may have been thought in the past, there is no Marxist philosophy and there will never be; on the other hand, Marx is more important for philosophy than ever before“27, so Balibar. Diese Wichtigkeit Marx’ für die Philosophie ist es auch, die es heute zu einem lohnenswerten Unterfangen macht, Marx innerhalb der Disziplinen von Philosophie und Kulturwissenschaften zu diskutieren, weiterzuentwickeln und eine interdisziplinäre, problemorientierte anstatt ‚schulphilosophische‘ Herangehensweise zu befördern. Ein besonders eindrucksvolles Zeugnis davon, wie innovativ eine Marx-Lektüre für die kulturwissenschaftliche Forschung sein kann, bieten sicher die Arbeiten von Walter Benjamin, der sein unvollendet gebliebenes PassagenWerk (1927–1940) als eine Auseinandersetzung mit den Marxschen Ausführungen zum ‚Fetischcharakter der Ware‘ verstand. Benjamin hat der Marxlektüre in völlig unorthodoxer Weise neue Perspektiven eröffnet. Seine Kritik am Geschichts- und Fortschrittsbegriff der Arbeiterbewegung speist sich aus einem messianischen Zeitbegriff, den Sami Khatib mit der Vorstellung einer an Marx anschließenden ‚Zeit des Kapitals‘ kontrastiert und damit die Interdependenzen von chronometrischlinearen und historisch-dynamischen Zeitkonzeptionen untersucht. Angeleitet von einer Bemerkung Benjamins nähert sich auch Birte Löschenkohl in ihrem Beitrag über eine kosmologische Schrift von Marx’ Zeitgenossen Auguste Blanqui und der darin aufgeworfenen Fragen nach Wiederholung und Wiederkehr an die Konstellation der Zeit und Geschichtsphilosophie des Kapitalismus an. Der Komplex Zeit, Zeitlichkeit und Geschichtskonzeption bzw. Geschichtsphilosophie im/des Kapitalismus stellt gemeinsam mit dem Thema des Antisemitismus den zweiten Brennpunkt des vorliegenden Bandes dar. Es scheint, dass hier besonders großer theoretischer Nachholbedarf besteht, was sicher mit der simplifizierenden und teleologischen Geschichtsphilosophie des traditionellen Marxismus zusammenhängt. Zentrale Vertreter der geschichtsphilosophisch argumentierenden Marxkritik finden sich bei Christoph Henning dargestellt und kritisiert. Eine weitgehend Marx-immanente Entwicklung der Zeit des Kapitals unternimmt hingegen Frank Engster. Er zeigt, dass die zeitliche Dimension des Kapitalismus bei Marx in der Geldform begründet liegt. Hans-Joachim Lenger nähert sich der zirkulären Form des zinstragenden Kapitals, der „Mutter aller verrückten Formen“, über eine von Jacques Derrida und Platon inspirierte Schilderung an. 27 Etienne Balibar, The Philosophy of Marx, London, New York, 2007.
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Die Möglichkeiten einer erneuerten und aktualisierten Marx-Lektüre zeigen sich vielschichtig und inspirierend und könnten vom biederen realsozialistischen Duktus kaum weiter entfernt sein. Es geht auch darum, auf der Basis neuer Ideen und Fragestellungen die Marxschen Schriften einer Relektüre zu unterziehen, und sich nicht allein mit der Analyse dessen zu beschäftigen, was in der Marx-Rezeption vielleicht schief gelaufen ist. Denn obschon der ‚real existierende Sozialismus‘ ein ‚toter Hund‘ sein mag, drohen doch umso deutlicher neue Formen einer regressiven Gesellschaftskritik. Einer neuen Auseinandersetzung mit Marx in den Kulturwissenschaften kommt weiter zu Gute, dass die Selbstkritik des Marxismus längst begonnen hat. So hat sich weitgehend abseits des Universitätsbetriebes eine neue Marx-Lektüre entwickelt, die nicht zufällig als Kritik des traditionellen Marxismus prozediert.28 Es ging hier vor allem darum, den fundamentalen epistemologischen Gegensatz zu fokussieren, der zwischen der Marxschen Theorie und dem weltanschaulichen Marxismus besteht. Die Diskussionen um die neue Marx-Lektüre sind lange Zeit auf den Rahmen der Kritik der politischen Ökonomie beschränkt geblieben.29 Erst in jüngerer Zeit ist hier eine Öffnung zu Fragestellungen zu beobachten, die über diesen Rahmen hinaus auf den Zusammenhang zwischen Ökonomie und Kultur und die Vermittlung verschiedener Ebenen kultureller Bedeutungsproduktion zielen und sich dabei oftmals als äußerst aufschlussreich erwiesen haben.30 Damit verbunden ist vor allem auch ein Anschluss an internationale Debatten zu Marx, die lange Zeit kaum zur Kenntnis genommen worden sind, obwohl sich viele sachliche Überschneidungen ergeben.31 So verlief die Wirkungsgeschichte des Marxschen Werks im englischsprachigen Bereich deutlich anders als hierzulande. Die Arbeiten von Raymond Williams und Terry Eagleton waren für die Literatur- und Kulturwissenschaften sehr einflussreich. Raymond Williams etwa haben wir den Begriff des ‚Cultural Materialism‘ zu verdanken; sein Schüler Eagleton kann als einer der bedeutendsten Literaturwissenschaftler in Großbritannien sowie in globaler Hinsicht gelten.32 Stewart Hall, Gründerfigur der Cultural Studies, hat Fragen der Kulturwissenschaften nie losgelöst von Problemstellungen des Marxismus untersucht. Edward P. Thompson und 28 Vgl. Moishe Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx, Freiburg, 2003. 29 Vgl. Michael Heinrich, Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition, Münster, 1999. 30 Vgl. beispielsweise Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M., 2005; Media Marx. Ein Handbuch, hg. v. Jens Schröter, Gregor Schwering, Urs Stäheli, Bielefeld, 2006; Hartmut Böhme, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek, 2006. 31 In vorliegendem Band ist abermals die globale Perspektive auf Marx, die globale Marxrezeption unterbelichtet geblieben – sehr zu unserem Bedauern. Dies ist einer der blinden Flecken in der Marxrezeption in Europa und besonders in Deutschland, dem wir an dieser Stelle leider nichts entgegenzusetzen haben – außer dem Appell, sich diesem Themenfeld vermehrt zuzuwenden. Einen wichtigen Schritt in diese Richtung geht Jan Hoff, Marx global. Zur Entwicklung des internationalen Marx-Diskurses seit 1965, Berlin, 2009. 32 Siehe insbesondere Terry Eagleton, Literary Theory: An Introduction, Minneapolis, 1983.
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Eric Hobsbawm haben als marxistische Historiker über Jahrzehnte die internationale Diskussion ihres Fachs mitbestimmt. Auch in Italien existierte eine produktive Auseinandersetzung mit der Marxschen Theorie: Antonio Gramsci prägte den noch heute in kulturellen Debatten einflussreichen Begriff der ‚Hegemonie‘, und die aus der politischen Praxis des Operaismus der 1970er Jahre entstammende Strömung des Postoperaismus um Autoren wie Antonio Negri und Paolo Virno gehört zu den innovativsten Marxaneignungen der letzten Dekaden. Wesentliche Impulse für eine neue Marxlektüre sind auch von den Debatten der französischen Nachkriegsphilosophie ausgegangen: Denker wie Jean-Paul Sartre, Maurice Merleau-Ponty, Maurice Blanchot, Georges Batailles oder Jacques Lacan veränderten den französischen Zugang zum Marxschen Denken in radikaler Weise. Für die 1960er und 70er Jahre kann insbesondere der Einfluss der Schriften von Louis Althusser und Etienne Balibar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Althusser und Balibar haben in Das Kapital lesen (1965) die Marxschen Schriften mit Elementen des Strukturalismus und der Epistemologie konfrontiert. Michel Foucault, der sich gegen den dogmatischen Marxismus aufgelehnt hat, ist Matthias Rothe zufolge dennoch ein weiteres Beispiel dafür, wie Marxsche Konzepte und Ideen in aktuelle Kontexte eingebracht werden können – denn auch wenn Foucault viele seiner Konzepte in expliziter Abgrenzung von Marx entwickelt hat, sind sie ohne diesen kaum denkbar. Auch viele der heute maßgeblichen Denker in Frankreich wie Alain Badiou und Jacques Rancière setzen sich explizit mit Marx auseinander. Frank Ruda bietet in seinem Beitrag in diesem Band eine durch Badiou angeleitete Neubestimmung zweier zentraler Denkfiguren bei Marx: der Entfremdung und des Proletariats. Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang Slavoj Žižek, der gegenwärtig als internationaler Popstar der Kulturwissenschaften erscheint. Seine Popularität hat er nicht trotz, sondern aufgrund seiner häufigen Bezugnahmen auf Marx, den er in einer wechselseitigen Lektüre mit Jacques Lacan auf eine neuartige Weise fruchtbar zu machen versteht.33 Es bleibt also zu hoffen, dass Marx immer wieder gelesen, neu verwendet und damit aktualisiert werden wird. Es fällt heute leicht, die Schwächen, Ungereimtheiten und Widersprüche im Werk von Marx wahrzunehmen. Andererseits verweisen gerade sie auf Fragen und Probleme, die bis heute aktuell geblieben sind. Bekanntlich finden sich bei Marx keine konkreten Anleitungen dazu, wie eine Neugestaltung der Gesellschaft ins Werk gesetzt werden kann; Rezepte für die Garküchen der Zukunft waren Marx suspekt. Kittsteiner hatte im Eingangszitat dieses Vorworts in einer Umformulierung der 11. Feuerbachthese darauf hingewiesen, dass es darauf ankomme, die Welt zu interpretieren, um sie wirklich transformieren zu können. Und solange wir im real existierenden Kapitalismus leben, sollten wir für eben diese Interpretation auf Marx zurückgreifen, um nicht wiederholt Schiffbruch zu erleiden. 33 Vgl. etwa Slavoj Žižek, Die Tücke des Subjekts, Frankfurt a. M., 2001.
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Danksagung Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die Birte Löschenkohl und Falko Schmieder gemeinsam mit Heinz Dieter Kittsteiner konzipiert hatten. Am 18.7.2008, etwa vier Monate vor dem geplanten Tagungstermin, ist Heinz Dieter Kittsteiner plötzlich und unerwartet in seiner Berliner Wohnung verstorben. Helmut Lethen, langjähriger Freund und intellektueller Weggefährte Kittsteiners, fand sich sofort bereit, das Projekt zu unterstützen und sich an der Leitung der Tagung zu beteiligen. Die Herausgeber möchten sich bei allen bedanken, die zum Gelingen der Tagung und des Bandes beigetragen haben. Dazu gehören insbesondere die MitarbeiterInnen des Lehrstuhls für Vergleichende Europäische Geschichte der Neuzeit an der Europa-Universität Viadrina (Frankfurt/Oder), allen voran Paul Kuder, Alexander Lahl und Elke Teichert. Ein besonderer Dank geht ferner an Raimar Zons und an die Fritz Thyssen Stiftung, die die Tagung großzügig gefördert und den vorliegenden Band durch Gewährung einer Druckbeihilfe finanziert hat. Dieser Band ist dem Andenken von Heinz Dieter Kittsteiner gewidmet34. In seinem Werk, das sich im Schnittpunkt von Kulturwissenschaften, Geschichte und Philosophie bewegt, hat Karl Marx stets einen besonderen Platz eingenommen.
34 Vgl. auch die von Gangolf Hübinger für die Kulturwissenschaftliche Fakultät der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder herausgegebene Gedenkschrift für Heinz Dieter Kittsteiner (19422008) mit Beiträgen von Inge Baxmann, Christoph Asendorf, Gangolf Hübinger, Ludolf Kuchenbuch, Karl Schlögel und Falko Schmieder sowie einer von Alexander Lahl und Elke S. Teichert zusammengestellten Bibliografie sämtlicher veröffentlichter Texte von Heinz Dieter Kittsteiner.
1. Karl Marx, ein rebellischer Bürger des 19. Jahrhunderts
ANDREAS ARNDT
Hegel und Marx
Wozu noch über Hegel und Marx sprechen? Hat Marx sich nicht selbst von aller (bisherigen) Philosophie zugunsten der empirischen Wissenschaften verabschiedet? Und überhaupt: ausgerechnet Hegel! Wer mag sich noch mit dem Absoluten einlassen? Und ist nicht der Hegel-Marxismus schon lange tot und beerdigt, noch vor dem Ende des Realsozialismus? Warum also spreche ich doch noch einmal über Hegel und Marx? Eine erste Antwort überlasse ich Marx selbst; sie stammt aus der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie: „Mit Recht fordert […] die praktische politische Partei […] die Negation der Philosophie. Ihr Unrecht besteht nicht in der Forderung, sondern in dem Stehnbleiben bei der Forderung, die sie ernstlich weder vollzieht noch vollziehen kann. Sie glaubt, jene Negation dadurch zu vollbringen, daß sie der Philosophie den Rücken kehrt und abgewandten Hauptes – einige ärgerliche und banale Phrasen über sie hermurmelt.“1 Der Gestus dieser Bemerkung ist Hegelsch: widerlegen lässt sich eine Position nur, wenn man sich in den Umkreis ihrer Stärke stellt. Ist der Gegner stark, dann kann seine Negation zu einem langen und mühseligen Geschäft werden. Marx wird, so werde ich zu zeigen versuchen, sein Leben lang nicht mit Hegel fertig werden. Hierfür gibt es Gründe in Marx’ eigener Theorie. Marx verfolgt, so meine These, ein an Hegel angelehntes Theorieprogramm. Die Kritik der politischen Ökonomie ist zentraler Bestandteil einer Auseinandersetzung mit Hegels Theorie des objektiven Geistes. Sie hat das Ziel, zu einer umfassenden Reformulierung derjenigen Zusammenhänge beizutragen, die Hegel in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts traktiert hatte. Hiervon handelt der erste Teil meiner Ausführungen (1). Die kritische Auseinandersetzung mit Hegels Realphilosophie führt nach Marx auf Punkte, an denen auch Hegels Wissenschaft der Logik infrage steht, weil deren Begriffsformen die realen Verhältnisse nicht mehr auf den Begriff bringen können. Die Kritik der Realphilosophie wird zur Kritik der Wissenschaft der Logik erweitert, woran das Marxsche Programm einer Reformulierung der Dialektik hängt. Hiermit beschäftige ich mich im zweiten Teil (2). Und schließlich ist drittens zu fragen, was dies alles bedeutet. Ist Marx ein halbherziger Hegelianer oder ein verhinderter Antihegelianer? Hat sein kritischer Umgang mit Hegel überhaupt etwas mit dem Kern seiner kritischen Theorie zu tun? Oder ist er bloßes Ornament, eine den Zeitumständen geschuldete Reverenz an einen (beinahe) toten Hund?
1 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW 1, S. 384.
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1. Gut fünf Jahre nach Hegels Tod, im Oktober 1836, bezog der 18jährige Karl Heinrich Marx die Berliner Universität, wo er sich am 22.10. an der Juristischen Fakultät immatrikulierte. Im Unterschied zu anderen prominenten Zeitgenossen war es nicht die Hegelsche Schule, die ihn nach Berlin gezogen hatte. „Ich hatte Fragmente der Hegelschen Philosophie gelesen, deren groteske Felsenmelodie mir nicht behagte“, heißt es in einem Rechenschaftsbrief an den Vater vom 10.11.1837.2 Begonnen hatte Marx, seiner Selbsteinschätzung zufolge, als „Idealist“ KantischFichtescher Prägung, der ein Sollen gegen die Wirklichkeit stellte. Das Unzureichende dieser Position habe er durch einen 300 Bogen starken rechtsphilosophischen Versuch eingesehen, den er im ersten Semester verfasste. Die Einsicht in das Unzureichende des Idealismus ließ Marx in eine intellektuelle Krise geraten und beförderte schließlich seinen physischen Zusammenbruch. Im Verlauf seiner Krankheit will er dann „Hegel von Anfang bis Ende, samt den meisten seiner Schüler, kennen gelernt“ haben.3 Jedenfalls geriet er in Stralau bei Berlin, wo er sich zur Genesung aufhielt, in Kontakt mit dem „Doktorklub“ der Junghegelianer. Gleichwohl erschien ihm Hegel nicht als Alternative zum früher gepflegten praktischen Idealismus. Um Hegel zu entgehen, verfasste Marx einen umfangreichen Dialog mit dem Titel Kleanthes, oder vom Ausgangspunkt und notwendigen Fortgang der Philosophie (diesmal im vergleichsweise bescheidenen Umfang von 24 Bogen), aber, so Marx: „Mein letzter Satz war der Anfang des Hegelschen Systems, und diese Arbeit, wozu ich mit Naturwissenschaft, Schelling, Geschichte einigermaßen mich bekannt gemacht, die mir unendliches Kopfbrechen verursacht und so geschrieben ist (da sie eigentlich eine neue Logik sein sollte), daß ich jetzt selbst mich kaum wieder hineindenken kann, dies mein liebstes Kind, beim Mondschein gehegt, trägt mich wie eine falsche Sirene dem Feind in den Arm“;4 Marx wurde Hegelianer wider Willen: „immer fester kettete ich mich an die jetzige Weltphilosophie, der ich zu entrinnen gedacht“.5 Die Wendung zu Hegel entsprang jedoch nicht einem bloß philosophischen Bedürfnis. Marx war vielmehr der Auffassung, dass in der besonderen Wissenschaft – in seinem Falle zunächst der Jurisprudenz – „ohne Philosophie […] nicht durchzudringen“ sei,6 wie er dem Vater schrieb. Für Marx bedeutet dies, dass die Philosophie selbst wissenschaftlichen Charakter hat, sofern sie – wie er es 1842 in Anlehnung an Hegel formuliert – „die geistige Quintessenz ihrer Zeit ist“.7 Ihre Leistung in bezug auf die Theorie des Staates und des Rechts bestehe vor allem darin, das Gravitationszentrum des Staates in ihm selbst gefunden zu haben: „Gleich vor und nach der Zeit der großen Entde2 3 4 5 6 7
Karl Marx, MEW Ergänzungsband 1, S. 8. Ebd., S. 10. Ebd., S. 9. Ebd., S. 10. Ebd., S. 7. Karl Marx, Der leitende Artikel in Nr. 179 der „Kölnischen Zeitung“, MEW 1, S. 97 f.
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ckung des Kopernikus vom wahren Sonnensystem wurde zugleich das Gravitationsgesetz des Staats entdeckt, man fand seine Schwere in ihm selbst“; es „begannen früher Machiavelli, Campanella, später Hobbes, Spinoza, Hugo Grotius, bis zu Rousseau, Fichte, Hegel herab, den Staat aus menschlichen Augen zu betrachten und seine Naturgesetze aus der Vernunft und der Erfahrung zu entwickeln, nicht aus der Theologie“.8 Zu fragen ist allerdings, ob der Vernunftstaat aus sich heraus auch das Ganze der Gesellschaft – Hegel nennt es ‚Sittlichkeit‘ – zu integrieren vermag, d.h., ob die anderen Sphären des sittlichen Lebens ihr Gravitationszentrum auch im Staat und seinem auf Freiheit basierten Recht finden. Bereits Hegel hatte ja erkannt, dass die bürgerliche Gesellschaft sich als eine eigene Sphäre neben dem Staat konstituiert hatte und eine Bedrohung für das sittlich-rechtliche Gemeinwesen darstellte: dieser Sphäre wohnte die Tendenz inne, sich und damit partikularen Interessen die Allgemeinheit des Staates zu unterwerfen. Aufgabe des Staates ist es für Hegel daher, die bürgerliche Gesellschaft als ein Negatives negativ zu behandeln, wie es bereits im Jenaer Naturrechtsaufsatz heißt.9 Marx sieht die Möglichkeit dazu durch die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft zunehmend infrage gestellt. Der Staat, so führt er in einem Brief an Arnold Ruge vom Mai 1843 aus, sei nicht mehr allein auf seiner eigenen Basis, d.h. politisch zu reformieren, denn das „System des Erwerbs und Handels, des Besitzes und der Ausbeutung der Menschen führt […] zu einem Bruch innerhalb der jetzigen Gesellschaft, den das alte System nicht zu heilen vermag“.10 Diese Erkenntnis nötigt schließlich zu einer erneuten Auseinandersetzung mit Hegels Rechtsphilosophie, die Marx in seinem Kreuznacher Manuskript 1843 unternimmt. Er setzt dort an, wo Hegel das Verhältnis des Staates zur bürgerlichen Gesellschaft im Paragraphen 261 so bestimmt, dass der Staat gegenüber dieser Sphäre einerseits als äußerliche Notwendigkeit auftrete und sie mit der Zwangsgewalt des Rechts beschränke, andererseits aber ihr immanenter Zweck sei. Die äußere Notwendigkeit bringt zum Ausdruck, dass der Staat nur einschränken, bändigen, nicht aber aufheben kann; genau diese Aufhebung muss aber aus systematischen Gründen erfolgen, und deshalb muss die bürgerliche Gesellschaft so konstruiert werden, dass der Staat als ihr immanenter Zweck erscheint. Dieses Zugleich von äußerer Notwendigkeit und immanentem Zweck bezeichnet Marx zu recht als „ungelöste Antinomie“.11 Hegel wolle diese Antinomie dadurch vermeiden, dass er Staat und bürgerliche Gesellschaft zu „Begriffssphären“, zu Momenten der Idee des Staates mache. Das wirkliche Verhältnis von Staat und bürgerlicher Gesellschaft werde somit zur bloßen Erscheinung einer Selbstvermittlung des Staates als sittlicher Idee. Das „wirk8 Ebd., S. 103. 9 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 4, Hamburg, 1968, S. 450. 10 Karl Marx, MEGA², III, 1, S. 52. 11 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, S. 204.
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liche Verhältnis wird von der Spekulation als Erscheinung, als Phänomen ausgesprochen. […] Die Wirklichkeit wird nicht als sie selbst, sondern als eine andere Wirklichkeit ausgesprochen […] Die Idee wird versubjektiviert, und das wirkliche Verhältnis von Familie und bürgerlicher Gesellschaft zum Staat wird als ihre innere imaginäre Tätigkeit gefaßt. […] Wenn aber die Idee versubjektiviert wird, werden hier die wirklichen Subjekte […] zu unwirklichen, anderes bedeutenden, objektiven Momenten der Idee“.12 Was auf den ersten Blick wie die Feuerbachsche Grundfigur der Hegel-Kritik aussieht – die Vertauschung von Subjekt und Prädikat in der Spekulation – hat bei Marx eine ganz andere Pointe. Was nach der einen Seite als spekulative Loslösung von der Empirie erscheint, stellt sich nach der anderen Seite als unkritischer Empirismus dar, der die Wirklichkeit so nimmt, wie sie sich unmittelbar darbietet. Hegel nehme „unkritischerweise eine empirische Existenz als die wirkliche Wahrheit der Idee“, und seine Philosophie sei durch ein „Umschlagen von Empirie in Spekulation und von Spekulation in Empirie“ charakterisiert.13 Dieser Einwand setzt voraus, dass Marx nicht einen Empirismus gegen Hegel aufbieten will, sondern mit Hegel zwischen Wesen und Erscheinung unterscheidet (was er ja tatsächlich bis in seine späte Phase hinein auch tut: „Alle Wissenschaft“, so heißt es im Kapital, „wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen“14). Anders gesagt – auch wenn es Vielen nicht passen mag –: Marx ist Essentialist, nicht Empirist. Der Vorwurf an Hegel lautet also, dass dieser das Wesen falsch bestimme und sich dadurch unkritisch zur Empirie, zur erscheinenden Wirklichkeit verhalte. Näher betrachtet sieht dies für Marx so aus, dass Hegel die tatsächlichen Vermittlungszusammenhänge der erscheinenden Wirklichkeit durch die Annahme verfehlt, diese seien als reine Selbstbezüglichkeit eines Wesens (im Falle der Rechtsphilosophie: des Staates als der Wirklichkeit der sittlichen Idee) zu rekonstruieren. Die Vermittlung werde so als Unmittelbarkeit, nämlich als Selbstbezüglichkeit, und damit als Versöhnung modelliert. Dagegen macht Marx geltend, es gebe in der erscheinenden Wirklichkeit Gegensatzbeziehungen, die sich nicht in eine solche Selbstbeziehung überführen, d.h. nicht auf ein Wesen reduzieren ließen: „Wirkliche Extreme können nicht miteinander vermittelt werden, eben weil sie wirkliche Extreme sind. Aber sie bedürfen auch keiner Vermittelung, denn sie sind entgegengesetzten Wesens. Sie haben nichts miteinander gemein, sie verlangen einander nicht, sie ergänzen einan12 Ebd., S. 206. – Marx bezieht sich auf § 262 der Grundlinien der Philosophie des Rechts: „Die wirkliche Idee, der Geist, der sich selbst in die zwei ideellen Sphären seines Begriffs, die Familie und die bürgerliche Gesellschaft, als in seine Endlichkeit scheidet, um aus ihrer Idealität für sich unendlicher wirklicher Geist zu sein, teilt somit diesen Sphären das Material dieser seiner endlichen Wirklichkeit, die Individuen als die Menge zu, so daß diese Zuteilung am Einzelnen durch die Umstände, die Willkür und eigene Wahl seiner Bestimmung vermittelt erscheint“. 13 Ebd., S. 241. – „Die gewöhnliche Empirie hat nicht ihren eigenen Geist, sondern einen fremden zum Gesetz, wogegen die wirkliche Idee nicht aus ihr selbst entwickelte Wirklichkeit, sondern die gewöhnliche Empirie zum Dasein hat“. (MEW 1, S. 206) 14 Karl Marx, Das Kapital, Bd. III, MEW 25, S. 825.
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der nicht. Das eine hat nicht in seinem eigenen Schoß die Sehnsucht, das Bedürfnis, die Antizipation des Andern“.15 Damit zielt Marx prinzipiell auf Hegels Theorie der Vermittlung in der Wissenschaft der Logik. Im Zusammenhang mit der zitierten Stelle heißt es: „Wenn aber Hegel Allgemeinheit und Einzelnheit, die abstrakten Momente des Schlusses, als wirkliche Gegensätze behandelt, so ist das eben der Grunddualismus seiner Logik. Das Weitere hierüber gehört in die Kritik der Hegelschen Logik.“16 Marx spielt darauf an, dass Hegel in seiner Theorie des Vernunftschlusses die Extreme – das Einzelne und das Allgemeine – mit dem medius terminus (hier: dem Besonderen) letztlich identisch werden lässt: „Die Extreme, im Unterschiede von dieser Mitte, sind nur als ein Gesetztsein, dem keine eigentümliche Bestimmtheit gegen die Mitte mehr zukommt.“17 Die logische Figur des Gegensatzes ist aber für Marx nur die Abstraktion vielfältiger realer Gegensatzbeziehungen in der erscheinenden Wirklichkeit. In dem Kreuznacher Manuskript unterscheidet er deren drei: „wirkliche Extreme“, die nicht eines Wesens sind; Polbeziehungen und Gegensätze, die ineinander übergehen, also Gegensatzbeziehungen vom Typ des Hegelschen Widerspruchs. Hegels Logik, so lässt sich Marx’ Kritik weiter präzisieren, habe für wenigstens einen Typ von Gegensatzbeziehungen – die erste – keine zureichende Begriffsform entwickelt. Die realphilosophische Vermittlung ‚wirklicher‘ Extreme – d.h. solcher, die nicht in eine selbstbezügliche Struktur aufgehoben werden können – werde daher über die inadäquate logische Form des Vernunftschlusses konstruiert. Dies führt zu einem Auseinandertreten von Wesen (Vernunftschluss) und erscheinender Wirklichkeit (realer Gegensatz). Anders gesagt: die Wissenschaft der Logik hat für Marx, entgegen ihrem Anspruch, die Formen, unter denen die erscheinende Wirklichkeit begrifflich zu fassen ist, nicht vollständig entwickelt. Die dialektische Methode kann daher nicht darin bestehen, dass der Begriff sich in der Realität wiederfindet, wie Hegel meint, wenn er schreibt, die Methode sei „die einzige und absolute Kraft der Vernunft nicht nur, sondern auch ihr höchster und einziger Trieb, durch sich selbst in allem sich selbst zu finden und zu erkennen.“18 Dem hält Marx entgegen: das „Begreifen besteht aber nicht, wie Hegel meint, darin, die Bestimmungen des logischen Begriffs überall wiederzuerkennen, sondern die eigentümliche Logik des eigentümlichen Gegenstandes zu fassen.“19 Tatsächlich hat Marx dieses Programm im Blick auf eine Kritik der Hegelschen Logik nur am Rande verfolgt. Seine Arbeit bestand vielmehr darin, historisch bestimmte reale Vermittlungsformen im Blick auf die inneren Bewegungsgesetze der bürgerlichen Gesellschaft zu erfassen. Hierbei bewegte er sich jedoch weiterhin im Rahmen desjenigen Projekts, dessen Problemskizze er 1843 in seinem Kreuznacher Manuskript vorgelegt hatte. Legt man die Gliederungsentwürfe Marx’ für sein Ge15 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, S. 292. 16 Ebd. 17 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 12, Hamburg, 1981, S. 124. 18 Ebd., S. 238. 19 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, S. 296.
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samtprojekt zugrunde, von dem die Bände 1–3 des „Kapital“ ja wiederum nur ein kleiner Teil sind, wird dies plausibel. Der Gliederungsentwurf etwa, wie er in dem Brief an Ferdinand Lasalle vom 22. Februar 1858 entwickelt wird, sieht insgesamt 6 Bücher vor: „1. Vom Kapital […]. 2. Vom Grundeigentum. 3. Von der Lohnarbeit. 4. Vom Staat. 5. Internationaler Handel. 6. Weltmarkt.“20 Diese Gliederung hat Marx trotz aller Verschiebungen im großen und ganzen offenbar nie aufgegeben. Sie entwickelt ganz offenkundig den Zusammenhang von bürgerlicher Gesellschaft und Staat, also der letzten beiden Kategorien der Hegelschen Theorie der Sittlichkeit im Rahmen des objektiven Geistes, einschließlich der Weltgeschichte (hier: internationaler Handel und Weltmarkt). Bereits 1843 hatte Marx Hegel dahingehend kritisiert, dass er den Zusammenhang von bürgerlicher Gesellschaft und Staat falsch entwickelt habe; das wissenschaftliche Projekt der Folgejahre lässt sich durchaus als Durchführung dieser Kritik verstehen. Das aber heißt: das Marxsche Projekt auch im „Kapital“ bewegt sich bewusst auf Augenhöhe mit einem Abschnitt der Hegelschen Geistesphilosophie als Realphilosophie und ist nicht in erster Linie auf die Wissenschaft der Logik bezogen, wie ‚kapitallogische‘ Interpretationen es gern unterstellen. Marx konnte daher auch nicht an einer durchgehenden Parallelisierung mit dem kategorialen Aufbau der Logik gelegen sein, den Hegel selbst nur tentativ zum Leitfaden seiner realphilosophischen Darlegungen nahm. Maßgebend hierfür ist vielmehr ein allgemeines Verständnis der Methode, wie sie Hegel im Schlussabschnitt der Begriffslogik entwickelt, und auch Marx bezieht sich (wie Lenin ganz richtig bemerkt hat) offenbar hierauf, wenn er von der dialektischen Methode spricht, die er mit und gegen Hegel zugrundelege. Tatsächlich führt die besondere Wissenschaft der Kritik der politischen Ökonomie Marx dann auch auf Punkte, an denen er mit der allgemeinen Auffassung der Methode bei Hegel und mit einzelnen kategorialen Zusammenhängen der „Wissenschaft der Logik“ in Widerspruch gerät. Hier liegen im Kapital Andeutungen auch für eine Kritik der Hegelschen Logik vor, die systematisch im Blick auf Hegel und das Marxsche Methodenverständnis zu entwickeln sind. Dabei sollte jedoch nicht vergessen werden, dass eine Kritik der Hegelschen Logik als Logik nicht Gegenstand der Kritik der politischen Ökonomie ist. Bereits in dem Kreuznacher Manuskript hieß es ja: „Das Weitere hierüber gehört in die Kritik der hegel’schen Logik.“21
20 Karl Marx, MEW 29, S. 551. – Hinzu kommen, worauf hier nicht weiter einzugehen ist, zwei von diesem Gesamtkomplex unabhängige weitere Teile, nämlich die Kritik und Geschichte der politischen Ökonomie und des Sozialismus sowie eine historische Skizze der Entwicklung der ökonomischen Kategorien und Verhältnisse. Vgl. Andreas Arndt, Karl Marx. Versuch über den Zusammenhang seiner Theorie, Bochum, 1985, S. 165-173. 21 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1, S. 292.
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2. Karl Marx bezieht sich wiederholt auf eine dialektische Methode, die aber, wie er betont, „nicht die Hegelsche“ sei, da er, Marx, „Materialist, Hegel Idealist. Hegels Dialektik ist die Grundform aller Dialektik, aber nur nach Abstreifung ihrer mystischen Form, und dies gerade unterscheidet meine Methode“.22 Es ist jedoch nicht sehr einfach festzustellen, worin die mystische Form der Dialektik bei Hegel bestehen soll. Der Hinweis auf den Gegensatz von Idealismus und Materialismus verwirrt in diesem Zusammenhang eher, da Marx gerade Hegel zu einem der Gründungsväter des von ihm in Anspruch genommenen Materialismus macht. Noch in der gemeinsam mit Friedrich Engels verfassten Schrift Die Heilige Familie (1844) bezeichnet Marx die Hegelsche spekulative Philosophie als Wegbereiter eines neuen Materialismus, der den Gegensatz des alten Materialismus zur „spekulativen Metaphysik“ endgültig hinter sich lässt. Hegel habe „auf eine geniale Weise“ die Metaphysik des 17. Jahrhunderts „mit aller seitherigen Metaphysik und dem deutschen Idealismus vereint“.23 Seine Philosophie, so heißt es weiter, sei die „notwendig-widerspruchsvolle Einheit“ der spinozistischen Substanz und des Fichteschen Selbstbewusstseins; das erste Element sei „die metaphysisch travestierte Natur in der Trennung vom Menschen, das zweite ist der metaphysisch travestierte Geist in der Trennung von der Natur, das dritte ist die metaphysisch travestierte Einheit von beiden, der wirkliche Mensch und die wirkliche Menschengattung.“24 In diesem Sinne, so betont Marx, sei der neue Materialismus – der die wirkliche Einheit von Natur und Geist zur Grundlage hat – „durch die Arbeit der Spekulation“ vollendet worden.25 Entsprechend heißt es auch in den Pariser Manuskripten (1844) ausdrücklich: „Denken und Sein sind […] zwar unterschieden, aber zugleich in Einheit miteinander.“26 Mit anderen Worten: Marx bewegt sich bewusst auf dem Boden der Identitätsphilosophie, und in dieser Hinsicht gilt ihm auch später noch Hegels Dialektik als „das letzte Wort aller Philosophie“.27 Nur auf dem Boden dieser fundamentalen Übereinstimmung lässt sich, wie noch zu zeigen ist, überhaupt deutlich machen, worin sich Marx von Hegel in der Frage der Dialektik unterscheidet.28 Halten wir zuerst die Gemeinsamkeiten fest. (1) Marx übernimmt offensichtlich von Hegel das Konzept des Widerspruchs, wobei er mit Hegel stillschweigend darin übereinkommt, den Widerspruch zu ontologisieren. Der „Hegelsche Widerspruch“, so heißt es im ersten Band des Kapital, sei „die Springquelle aller Dialektik“.29 Eine Rekonstruktion des Argumentationsganges des Kapital kann zeigen, wie Marx, be22 23 24 25 26 27 28
Karl Marx, MEW 32, S. 538 (Marx an Kugelmann, 6. 3. 1868). Karl Marx, Friedrich Engels, Die Heilige Familie, MEW 2, S. 132. Ebd., S. 147. Ebd., S. 132 Karl Marx, MEW Ergänzungsband 1, S. 539. Karl Marx, Brief an Ferdinand Lassalle, 31.5.1858, MEW 29, S. 561. Vgl. zum folgenden Andreas Arndt, „Was ist Dialektik? Anmerkungen zu Kant, Hegel und Marx“, in: Das Argument (50) 2008, Heft 1, S. 37-48. 29 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 623.
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ginnend mit widersprüchlichen Bestimmtheiten der Ware (Gebrauchswert und Tauschwert), schrittweise das Ganze der kapitalistischen Produktionsweise entwickelt. (2) Marx teilt, auch wenn diese These überraschend erscheinen mag, mit der Ontologisierung des Widerspruchs im Grundsätzlichen auch die hegelsche Ontologie.30 Das Kapital handelt nicht von Dingen oder Ideen, sondern von gesellschaftlichen Verhältnissen. Auch für Marx ist das, was in Wahrheit ist, die Relationalität. (3) Diese Relationalität entzieht sich, nicht anders als bei Hegel, der Anschauung und Vorstellung. Wiederholt betont Marx, dass Erscheinung und Wesen nicht zusammenfallen und deshalb wissenschaftliche Abstraktionsverfahren vonnöten sind. In diesem Sinne ist Marx’ dialektische Methode essentialistisch und dem Begriff verpflichtet: „die konkrete Totalität als Gedankentotalität, als ein Gedankenkonkretum“ ist „ein Produkt des Denkens, des Begreifens“.31 (4) Die dialektische Methode ist, wie bei Hegel, genetisch. Das Kapital, so schreibt Marx, sei „kein einfaches Verhältnis, sondern ein Prozeß “32 sowohl hinsichtlich seines inneren Zusammenhangs als auch hinsichtlich seines geschichtlichen Werdens: „Es wird […] historisch zur Totalität. das Werden zu dieser Totalität bildet ein Moment seines Prozesses, seiner Entwicklung.“33 Das Register der Übereinstimmungen kann jedoch nicht vergessen machen, dass Marx wiederholt mit starken Formulierungen den Gegensatz seiner dialektischen Methode zur hegelschen Dialektik hervorhebt. Der immer wiederkehrende Vorwurf lautet, Hegel habe die Dialektik mystifiziert. „Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.“34 „Mystisch“ meint außerhalb des engen Bezugs auf die theologische Mystik im Sprachgebrauch des 18./19. Jahrhunderts „geheimnisvoll“, „verworren“, „unklar“. Das Mystische verdeckt in diesem pejorativen Gebrauch etwas, was rational erschlossen werden könnte. Wenn Marx Hegel eine Mystifizierung der Dialektik, die er gleichwohl entdeckt und umfassend dargestellt habe, vorwirft, so wirft er ihm letztlich vor, seine Entdeckung falsch gedeutet und damit die „rationelle“ Erklärung des „Mystischen“ übersehen zu haben. Diese Kritik setzt in der Tat eine weitgehende Übereinstimmung in der Sache voraus, aber auch einen fundamentalen Punkt der Differenz, an dem Marx eine andere Grundlegung der Dialektik als Hegel vorschlägt. Dieser Punkt der Differenz ist unschwer auszumachen, es ist Hegels Konzeption des Begriffs als der wahren Wirklichkeit. Worum es dabei geht, ist jedoch nur dann zu verstehen, wenn man sich von dem gängigen Verständnis dessen freimacht, was bei Marx „Materialismus“ heißt. „Für Hegel“, so heißt es im Nachwort zur 2. Auf30 Vgl. Bertell Ollman, Dance of the Dialectic. Steps in Marx’s Method, Urbana, Chicago, 2003, S. 69 ff. 31 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Frankfurt a. M., Wien, o.J., S. 22. 32 Ebd., S. 170. 33 Ebd., S. 189. 34 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 27.
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lage des Kapital, „ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.“35 Marx wirft Hegel damit letztlich vor, die Voraussetzungen seines dialektischen Verfahrens misszuverstehen. Schon in den Pariser Manuskripten hieß es, Hegel gehe es um die „philosophische Auflösung und Wiederherstellung der vorhandnen Empirie“, also ihre Reproduktion aus dem Begriff.36 Entsprechend spricht er im Kapital von der Idee als „Demiurg des Wirklichen“,37 d.h. nicht als Schöpfergott, sondern als Weltbaumeister im Sinne von Platons Timaios, der die Welt aus vorgegebener Materie formt; hierauf hat Kittsteiner zuerst mit Nachdruck aufmerksam gemacht.38 Das heißt: Marx nimmt Hegel darin ernst, dass es ihm um das Begreifen der erscheinenden Wirklichkeit geht und nicht um eine bodenlose Konstruktion a priori. Wenn er gleichwohl das ‚Materielle‘ als hypokeimenon gegen die verselbständigte Idee ausspielt, dann deshalb, weil er der Auffassung ist, dass – wie er bereits in seinem Kreuznacher Manuskript 1843 zu zeigen versucht hatte – die Begriffsform der Idee in zentralen Punkten nicht derjenigen Begriffsform entspricht, die sich aus der Eigenlogik der Sache, d.h. der Umsetzung des ‚Materiellen‘ ins ‚Ideelle‘ ergeben müsste. Ich erinnere, dass es vor allem die absolute Selbstbezüglichkeit der Idee war, die Marx’ Einspruch hervorrief: nach ihrer Logik – der Logik des Vernunftschlusses – könnten reale Kollisionen und Vermittlungen nicht gedacht werden. Das bedeutet grundsätzlich: Die Momente, die bei Hegel in der dialektischen Methode als dem zu sich selbst gekommenen Begriff identisch geworden sind – Subjekt, Methode (als Werkzeug und Mitte) und Objekt – behalten für Marx so etwas wie eine konstitutive Äußerlichkeit gegeneinander. Der Begriff als Einheit des Voraussetzens und Vorausgesetztseins setzt, Marx zufolge, nicht zugleich seine eigene Voraussetzung39 und ist deshalb – sowenig übrigens wie die Materie oder sonst etwas – als rein selbstbezüglich zu denken. Beispielhaft hierfür sind Marx’ Ausführungen zum Verhältnis von Produktion und Konsumtion in der Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie von 1857 (dem sogenannten „Methodenkapitel“ der Grundrisse). Beide Relate sind so aufeinander bezogen, dass jedes das Andere als Moment enthält (produktive Konsumtion und konsumtive Produktion): „Hiernach für einen Hegelianer nichts einfacher als Produktion und Konsumtion identisch zu setzen“40. Tatsächlich gelingt dies aber nur unter der Voraussetzung, dass Produktion und Konsumtion als „Tätigkeiten eines Subjekts“ betrachtet wer35 36 37 38
Ebd. Karl Marx, MEW Ergänzungsband 1, S. 573. Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 27. Heinz Dieter Kittsteiner, Mit Marx für Heidegger. Mit Heidegger für Marx, München, 2004, S. 57 f. 39 Vgl. in diesem Sinne auch Marx’ Diktum in der ersten Auflage des Kapital: „Bloss der Hegel’sche ,Begriff‘ bringt es fertig, sich ohne äussern Stoff zu objektiviren“ (Karl Marx, Das Kapital. Urausgabe, hg. v. Fred E. Schrader, Hildesheim, 1980, S. 18). 40 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 15.
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den, aber: „Die Gesellschaft als Ein einziges Subjekt betrachten, ist sie […] falsch betrachten; spekulativ.“41 Die konstitutive Äußerlichkeit oder bleibende Differenz in der Vermittlung geht demnach daraus hervor, dass die Reflexions-Einheit sich nicht als Subjekt ausweisen lässt. „Dialektik“, so lautet seine generelle Formulierung im Methodenkapitel der Grundrisse, hebt „realen Unterschied nicht auf“.42 Dies gilt auch für das Verhältnis von Denken und Sein, die Marx ja, wie noch einmal ausdrücklich erinnert werden soll, als Einheit, aber eben als in sich real unterschiedene Einheit auffasst. Zwar gilt für Marx wie für Hegel in einem sehr starken Sinne, dass erst „die begriffne Welt als solche […] das Wirkliche ist“.43 Aber auch diese ideelle Reproduktion der Wirklichkeit ist nur Umformung des durch Anschauung und Vorstellung Gegebenen in eine konkrete Totalität. „Das reale Subjekt“ – hier im Sinne des subiectum oder hypokeimenon – „bleibt nach wie vor […] in seiner Selbständigkeit bestehn“.44 Auch hier bleibt der „reale Unterschied“ der Relate innerhalb ihrer Einheit. Nun würde, was Marx natürlich weiß, auch Hegel den Begriff als dasjenige ansehen, was Anschauung und Vorstellung aufhebt und insofern verarbeitet. Marx bestreitet Hegel aber die Konsequenz, dass sich der Begriff dabei nur mit sich selbst zusammenschließt. Für Marx dagegen erschließt der Begriff immer nur eine historisch bestimmte Totalität, deren Voraussetzungen ihre dialektisch-begriffliche Reproduktion nicht aus dem Begriff generieren, sondern nur als faktisch gegeben aufzunehmen vermag.45 Dies hängt, worauf ich hier nicht weiter eingehen kann, mit der Marxschen Kritik einer universellen Teleologie zusammen. Diese Kritik gestattet nur eine negative Dialektik eigener Art. Die Widersprüche, wie Marx sie denkt, sind Widersprüche im Endlichen, deren „Auflösung“ das Ende eines bestimmten Endlichen anzeigt, ohne daraus per Negation der Negation eine neue Gesellschaft als Position hervorgehen zu lassen. So heißt es im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapital, die Dialektik schließe „in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs“ ein und fasse „jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite“ auf“.46 Ein überwölbendes, selbstbezügliches Ganzes der dialektischen Bewegung ist hier nicht in Sicht.
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Ebd. Ebd., S. 29. Ebd., S. 22. Ebd. So sind die historischen Voraussetzungen des Kapitals, Vorfindlichsein des freien Lohnarbeiters und ursprüngliche Akkumulation, nicht aus dem Begriff des Kapitals selbst oder einer übergeordneten Entwicklungslogik der Ökonomie zu entwickeln, sondern als historisch kontingente Fakten aufzunehmen. 46 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 28.
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3. Marx, ich sagte es eingangs schon, ist nicht fertig mit Hegel. Sein wissenschaftliches Programm, von dem das Kapital – was immer wieder betont werden muss – nur ein Teil ist, ist offenbar an Hegels Theorie des objektiven Geistes angelehnt, und zwar in einem doppelten Sinne. Erstens will Marx Hegels umfassende Theorie des Sittlichen in der Moderne in eine ebenso umfassende Theorie der modernen Gesellschaft und des modernen Staates, wie sie sich auf Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise entwickeln, transformieren. Und zweitens folgt er dabei Hegel methodisch darin, den inneren Zusammenhang der erscheinenden Wirklichkeit auf einer nicht-anschaulichen, begrifflichen Ebene zu entwickeln. Hierbei stößt er auf Begriffsformen für Realprozesse, die nach seiner Auffassung aus den Begriffsformen herausfallen, wie sie Hegel in seiner Wissenschaft der Logik entwickelt hatte. Was dies letztlich bedeutet, ob Marx Hegel hinter sich lässt oder ob er ihn als das letzte Wort aller bisherigen Philosophie – wenn auch mit Modifikationen – weiter gelten lässt, bleibt unklar. Weder hat Marx das gesellschaftswissenschaftliche Parallel- oder vielleicht Alternativunternehmen zu Hegels realphilosophischer Theorie des objektiven Geistes vollendet oder auch nur dem Abschluss nahe gebracht, noch hat er die sich daraus nach seiner Auffassung ergebende Kritik der Logik über Andeutungen hinaus entwickelt. Um Marx’ Verhältnis zu Hegel zu klären, müssen wir daher systematisch über Marx hinaus denken. Nach meiner Auffassung sind es vor allem zwei Punkte, die dafür sprechen, das Thema nicht als bloß noch von historischer Bedeutung zu den Akten zu legen. Beide Punkte hängen zusammen mit dem Marxschen Kritikbegriff, auf den eine kritische Theorie der Gesellschaft schwerlich Verzicht leisten kann. Den ersten Punkt will ich nur kurz benennen, er betrifft das totalisierende Verfahren. Bekanntlich ist das Überschreiten der Bornierungen arbeitsteilig verfahrender Wissenschaften ein wesentliches Element der Marxschen Kritik. Ich denke hierbei z.B. an die durchgängige Reflexion der Gebrauchswertseite, des Stoffwechselprozesses als vermittelt durch den Verwertungsprozess und zugleich als dessen Bedingung, wodurch die Naturseite der Arbeit und mit ihr ein ganzer Kreis nicht der Ökonomie zugehöriger Disziplinen ins Spiel kommen. Und ich denke weiterhin an die durchgängige Historisierung ökonomischer Kategorien und Zusammenhänge. In beiden Fällen wird die kapitalistische Ökonomie als Moment von übergreifenden Prozessen, genauer: als deren historisch-spezifischer Ausdruck dechiffrierbar und damit verendlicht, was Bedingung einer Kritik ist, die auf eine mögliche Transformation bestehender Verhältnisse zielt. Der zweite Punkt betrifft den Einsatz einer wie immer auch kritisch auf Hegel bezogenen dialektischen Methode im Zusammenhang von erscheinender Wirklichkeit (Empirie) einerseits und den sie vermittelnden Verhältnissen (Wesen) andererseits. Hier teilt Marx sowohl Hegels Wertschätzung der Empirie als auch seine Kritik des Empirismus, wirft ihm aber zugleich vor, in eine falsche Metaphysik und damit wiederum in einen unkritischen Empirismus abgeglitten zu sein. Die Empirie auf den Begriff bringen und damit den Schein der bestehenden Verhält-
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nisse kritisieren heißt, Empirismus und (Verstandes)Metaphysik gleichermaßen kritisieren. Dies wird in Marx’ Auseinandersetzung mit den Methoden der politischen Ökonomie greifbar. Hatte Marx Hegel 1843 vorgeworfen, bei ihm schlage die Spekulation in einen platten Empirismus um, so kritisiert er in den Theorien über den Mehrwert das Umschlagen von Empirismus in Metaphysik als Folge eines Konstruktionsschemas, das der Oberfläche der erscheinenden Wirklichkeit verhaftet bleibt und dabei von den (historisch-spezifischen) Formunterschieden und dem „innren Band“ der Erscheinungen abstrahiert. Bei Adam Smith, so wirft Marx ihm vor, schlage der „grobe Empirismus […] in falsche Metaphysik, Scholastik um, die sich abquält, unleugbare empirische Phänomene direkt, durch einfache formelle Abstraktion, aus dem allgemeinen Gesetz herzuleiten oder ihm gemäß zurechtzuräsonieren“.47 Im Auflösungsprozess der ‚klassischen‘ Ökonomie ergibt sich aus Marx’ Sicht ein Umschlag in die Verstandesmetaphysik, deren Protagonist James Mill sei. Hier gehe es um eine formale Systematisierung von Theoriebeständen der klassischen Ökonomie: „Was er anstrebt, ist formell logische Konsequenz. […]Sein Rohstoff ist nicht mehr die Wirklichkeit, sondern die neue theoretische Form, wozu der Meister sie sublimiert hat. […] Mill will einerseits die bürgerliche Produktion als absolute Form der Produktion darstellen und sucht daher zu beweisen, daß ihre wirklichen Widersprüche nur scheinbare sind. Andrerseits [sucht er] die Ricardosche Theorie als die absolute theoretische Form dieser Produktionsweise darzustellen und die […] theoretischen Widersprüche dito wegzubeweisen“.48 Diese Charakteristik der Metaphysik stimmt mit dem überein, was Hegel als neuzeitliche oder Verstandes-Metaphysik bezeichnet hatte. Dies betrifft sowohl das Vorherrschen des Formalen, insbesondre des formallogischen Prinzips der Widerspruchsfreiheit, als auch das unkritische Aufnehmen gegebener Vorstellungen: wie die metaphysische politische Ökonomie nach Marx von dem Gegebensein der theoretischen Gegenstände ausging, so nahm, Hegel zufolge, die Verstandes-Metaphysik die Vernunftgegenstände „aus der Vorstellung auf, legte sie als fertige gegebene Subjekte […] zu Grunde“.49 Trotz aller Kritik an Hegel hielt Marx offenbar dafür, dass von seinen Denkmitteln weiterhin ein kritischer Gebrauch in Absicht der Kritik der erscheinenden Wirklichkeit zu machen sei. Man kann darüber streiten, ob wir inzwischen über bessere Denkmittel zum Zweck solcher Kritik verfügen. Ich bezweifle das. Aber das zu erörtern wäre ein anderer Vortrag.
47 Karl Marx, Theorien über den Mehrwert, Bd. 1, Berlin, 1956, S. 55. 48 Karl Marx, Theorien über den Mehrwert, Bd. 3, Berlin, 1962, S. 80 f. 49 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Berlin, 1966, S. 61, § 30.
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Die wissenschaftlichen Revolutionen von Charles Darwin und Karl Marx und ihre Rezeption in der Arbeiterbewegung
Mit den Namen Charles Darwin und Karl Marx verbindet sich im allgemeinen Bewusstsein die Erinnerung an zwei Wissenschaftler, die – nahezu zeitgleich1 – eine Revolutionierung der überkommenen Anschauungen vollzogen und das Wissen auf neue Grundlagen gestellt haben. Obwohl sich ihre Theorien auf verschiedene Gegenstandsfelder beziehen, wurden sie häufig in einen engen Zusammenhang gebracht. Eine Untersuchung dieser Bezugnahmen existiert bislang nicht; sie hätte es mit einer Vielzahl akzentuierter Wendungen zu tun. In seiner Grabrede auf Marx hat Friedrich Engels die Parallelität der wissenschaftlichen Revolutionen von Darwin und Marx herausgestellt: „Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte.“2 Ist hier noch die Rede von zwei getrennten Bereichen, so wurden in der Arbeiterbewegung die Theorien von Darwin und Marx zu einer Universaltheorie des naturgesetzlichen Fortschritts verschmolzen, der von einfachen zu immer komplexeren und höheren Formen führen und sich in der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft vollenden sollte. Der Erste Weltkrieg hat bei manchen Theoretikern das Vertrauen in die Sinnhaftigkeit der Geschichte erschüttert, was nicht ohne Konsequenzen für die Einschätzung des Verhältnisses der Theorien von Darwin und Marx bleiben konnte. So präsentierte etwa Theodor Lessing Darwin und Marx (im Bunde mit Hegel) als Denker, deren Theorien die als lebensfeindlichen Abstraktionsprozess gedeutete Geschichtsbewegung legitimiert hätten.3 Eine ähnliche Argumentation findet sich nach dem ,Zivilisationsbruch‘ von Auschwitz bei Hannah Arendt. Im letzten Kapitel ihres Buches Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft unternimmt sie den Versuch, das spezifisch Neue der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts sowie deren gesellschaftliche Entstehungsbedingungen und geistige Voraussetzungen herauszuarbeiten. Darwin und Marx erscheinen bei ihr als Stichwortgeber und theoretische Wegbereiter jeweils einer totalitären Ideologie: „Dem Glauben der Nazis an Rassegesetze lag die Darwinsche Vorstellung vom Menschen als einem eigentlich zufälligen Resultat einer Naturentwicklung zu Grunde, die nicht notwendig mit dem Menschen an ihr Ende gekommen zu sein braucht. Dem Glauben der Bolschewisten an Geschichtsgesetze liegt Marx’ Vorstellung von der menschlichen Gesellschaft als dem Resultat eines gigantischen 1 Darwins On the Origin of Species by means of Natural Selection und Marx’ Zur Kritik der politischen Ökonomie sind beide im Jahre 1859 – also vor 150 Jahren – erschienen. 2 Friedrich Engels, „Das Begräbnis von Karl Marx“, MEW 19, S. 335. 3 Vgl. Theodor Lessing, Die verfluchte Kultur, München, 1981, S. 26f.
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Geschichtsprozesses zu Grunde, der mit immer vergrößerter Geschwindigkeit seinem Ende entgegenrast und sich selbst als Geschichte aus der Welt schafft.“4 In den sechziger Jahren gab Arnold Gehlen dem Thema eine neue Wende, indem er seine viel diskutierte These vom Ende der großen Schlüsselattitüde unter Verweis auf Darwin und Marx (im Bunde mit Freud) exemplifizierte. Sie repräsentierten ein Denken, das unter den Bedingungen des ,Posthistoire‘ zum Anachronismus geworden wäre.5 Schon diese kurze Revue einiger Knotenpunkte der Debatte um die Bedeutung der Theorien von Darwin und Marx lässt die erklärungsbedürftige Heterogenität der Einschätzungen hervortreten. Der Verweis auf die unterschiedlichen politischen Interessen, die die jeweiligen Lektüren gesteuert haben, wäre zwar triftig, reichte aber zur Erklärung der disparaten Befunde keineswegs aus. Die beiden wissenschaftlichen Revolutionen von Darwin und Marx markieren epistemologische Einschnitte, die aufgrund ihrer Tragweite für die Prozesse der Selbstverständigung und politischen Willensbildung der modernen Gesellschaft sowie der sachlichen Schwierigkeiten ihres angemessenen Nachvollzugs die überkommenen Denkweisen provozieren. Offenbar haben die kontroversen Einschätzungen sachliche Gründe, die umso dringender der Erhellung bedürfen, als die Bedingungen und der Problemdruck, die zum politischen Gebrauch und Missbrauch beider Theorien geführt haben, ungebrochen fortbestehen. Deutlich wird das im Hinblick auf die ökologische Krise und das Problem der mangelnden Nachhaltigkeit, die die Theorien von Darwin und Marx in eine neue historische Konstellation versetzen. Der vorliegende Beitrag widmet sich den wissenschaftlichen Revolutionen von Charles Darwin und Karl Marx sowie ihrer Rezeption in der Arbeiterbewegung. Im ersten Teil liegt der Schwerpunkt auf den epistemologischen Brüchen und den Spezifika der neuen Ansätze, mit denen Darwin und Marx auf ihren jeweiligen Feldern die theoretischen Grundlagen für dezidiert historische Wissenschaften erarbeitet haben. Der Theorienvergleich im Modus der Rekonstruktion der Grundannahmen6 beider Ansätze verfolgt vor allem den Zweck, die epistemologische Parallelität der beiden theoretischen Revolutionen hervortreten zu lassen. Im zweiten Teil soll gezeigt werden, dass die beiden wissenschaftlichen Revolutionen im weltanschaulichen Marxismus der Arbeiterbewegung rückgängig gemacht beziehungsweise gar nicht nachvollzogen worden sind. Ihre Theorien wurden im Rahmen traditioneller Vorstellungsweisen interpretiert, mit denen Darwin und Marx gebrochen hatten. Zum Abschluss soll in kursorischer Form die im Haupttext ver-
4 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München, Zürich, 1986, S. 950. Arendt nimmt in diesem Zusammenhang auch auf die oben zitierte Passage von Friedrich Engels Bezug, dessen Ausführungen für ihre Konstruktion offenkundig bedeutsam gewesen waren (vgl. ebd., S. 951). 5 Arnold Gehlen, „Über kulturelle Kristallisation“, in: Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, hg. v. Wolfgang Welsch, Weinheim, 1988, S. 133-143, hier S. 135. 6 Vgl. zum Vergleich von Theorien Imre Lakatos, Philosophische Schriften, Bd. 1, hg. v. J. Worrall und J. Curie, Braunschweig, Wiesbaden, 1982, bes. S. 47 ff.
DIE WISSENSCHAFTLICHEN REVOLUTIONEN VON DARWIN UND MARX
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handelte Problematik noch einmal im Hinblick auf das aktuelle Problemfeld der ökologischen Krise resümiert werden.
1. Zur großen Überraschung seines Autors ist das Werk Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl sofort auf ein breites, weit über die engeren Fachgrenzen hinaus reichendes öffentliches Interesse gestoßen.7 Zu den begeisterten Lesern gehörten auch Karl Marx und Friedrich Engels. Keine drei Wochen nach dem Erscheinen des Werkes schreibt dieser an Marx: „Übrigens ist der Darwin, den ich jetzt gerade lese, ganz famos. Die Teleologie war nach der einen Seite hin noch nicht kaputtgemacht, das ist jetzt geschehen. Dazu ist bisher noch nie ein so großartiger Versuch gemacht worden, historische Entwicklung in der Natur nachzuweisen, und am wenigsten mit solchem Glück. Die plumpe englische Methode muss man natürlich in Kauf nehmen.“8 Marx äußert sich ein Jahr später in einem Brief an Ferdinand Lassalle in sehr ähnlicher Weise: „Sehr bedeutend ist Darwins Schrift und passt mir als naturwissenschaftliche Unterlage des geschichtlichen Klassenkampfes. Die grob englische Manier der Entwicklung muss man natürlich mit in den Kauf nehmen. Trotz allem mangelhaften ist hier zuerst der Teleologie in der Naturwissenschaft nicht nur der Todesstoß gegeben, sondern der rationelle Sinn derselben empirisch auseinander gelegt.“9 Marx und Engels haben also sehr deutlich gesehen, dass Darwins Evolutionstheorie einen radikalen wissenschaftsgeschichtlichen Einschnitt markiert. Dieser manifestiert sich u.a. in der fundamentalen Neubestimmung des Verhältnisses der Art zum Individuum. In den traditionellen Theorien wurden Arten wesentlich als „Summe konstruktionsgleicher Individuen“ und „Individuen als typenmäßige Vertreter ihrer jeweiligen Art verstanden“10; die Arten erschienen so „gleichsam als Stände“11, und individuelle Unterschiede galten als nebensächliche Momente, die nicht zum Typus vordringen. Bei Darwin dagegen, der wiederholt die Bedeutung der Erfahrungen aus der Züchterpraxis für seine Theorie herausgestellt hat12, erhal7 Vgl. Franz R. Wuketits, Darwin und der Darwinismus, München, 2005, S. 54 ff. 8 Friedrich Engels, „Brief an Karl Marx“, MEW 29, S. 524. 9 Karl Marx, „Brief an Ferdinand Lassalle“ vom 16.1.1861, MEW 30, S. 578; vgl. auch den „Brief an Friedrich Engels“ vom 19. 12. 1860 in MEW 30, S. 131. 10 Vgl. André Leisewitz, „Soziale Entwicklungsbedingungen der darwinschen Evolutionsbiologie“, in: Darwin und die Evolutionstheorie, hg. v. Kurt Bayertz, Bernhard Heidtmann, Hans-Jörg Rheinberger, Köln, 1982, S. 14-26, hier S. 17. 11 Vgl. Ferdinand Fellmann, „Darwins Metaphern“, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. XXI, 1977, S. 285-297, hier S. 288. 12 Charles Darwin, Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, Leipzig, 1990, S. 17. Vgl. zu diesem Aspekt weiterführend Peter McLaughlin, Hans-Jörg Rheinberger, „Darwin und das Experiment“, in: Darwin und die Evolutionstheorie, hg. v. Kurt Bayertz, Bernhard Heidtmann, Hans-Jörg Rheinberger, Köln, 1982, S. 27-43. „Die Verselbstständigung des menschlichen Moments der natürlichen Selektion zur ,künstlichen Selektion‘ hat selbst jene Voraussetzungen geschaffen, die nö-
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ten die Unterschiede zwischen den Individuen als Ausgangspunkte von Variationen eine Schlüsselstellung für sein Erklärungsprinzip. Dies hat Konsequenzen für den Begriff der Art, der radikal verzeitlicht und dem individuellen Streben nach Selbsterhaltung, dem ,struggle for life‘ subsumiert wird. Auf der Basis der Einsicht in den Mechanismus der natürlichen Selektion lässt sich die historische Dimension des Lebens erschließen. Das geschichtliche Werden der Flora- und Faunaformen kann nun aus einem einzigen, einheitlichen Prinzip erklärt werden. Zwar ist Darwin nicht der erste gewesen, der die natürliche Entwicklung als ein Prozessgeschehen beschrieben hat, seine Erklärung aber unterscheidet sich qualitativ von den vorangegangenen Ansätzen. Weder wird die Dynamik des Entwicklungsprozesses – wie dies bei Lamarck geschieht – aus einem den Organismen innewohnenden Trieb zur Ausdifferenzierung und Höherentwicklung erklärt, noch wird sie –wie etwa bei Geoffroy Saint-Hilaire – als bloße Folge einer Anpassung der Organismen an sich wandelnde Umweltbedingungen begriffen. Vielmehr beruht Darwins Evolutionstheorie auf dem Verständnis des Verhältnisses dieser beiden Momente beziehungsweise der spezifischen Beziehungen zwischen den Organismen.13 Die Prozesse der Ausdifferenzierung erfolgen nicht nach Maßgabe eines bestimmten Triebes oder im Hinblick auf einen vorbestimmten Zweck, sondern sie ergeben sich als Resultat eines blinden Wechselspiels der Lebensformen. Jede organische Struktur erweist sich in diesem Prozess als Instanz der Aneignung der Lebensressourcen und zugleich selbst als potentielle Lebensressource. Aus dieser blinden Interaktion, die Darwin mit den Begriffen ,struggle for life‘ und ,natural selection‘ erfasst hat, erwächst eine spezifische Tendenz der Entwicklung, die Marx im Auge hatte, als er davon sprach, dass Darwin im Zuge seiner Überwindung teleologischer Erklärungsmuster zugleich den „rationellen Sinn“ derselben empirisch auseinander gelegt habe.14 Die naturwüchsige Tendenz beziehungsweise Gerichtetheit der Entwicklung ist aber nicht als zielgerichteter Prozess zu interpretieren. Obwohl alle Ereignisse kausal verursacht sind, entziehen sich die konkreten Resultate jeder Vorhersage. Es handelt sich beim Entwicklungsprozess der Lebensformen nicht allein um einen irreversiblen Prozess, sondern ebenso um einen einzigartigen und unwiederholbaren, „dessen konkrete Resultate trotz seiner Entwicklungs-,Logik‘ insofern offen sind, als sie sich nicht auf eine Ausgangssituation zurückführen lassen, in der sie vordeterminiert wären.“15 Da sich in der Entwicklung der Lebewesen kein vorgegebener Zweck realisiert, kann nach Darwin im strengen Sinne auch nicht von einer ,Höherentwicklung‘ der Lebensformen gesprochen werden; am Maßstab der Existenzfähigkeit gemessen sind die bestehenden Arten gleich weit
tig sind, um ein Moment des Naturprozesses rein darzustellen, es so weit zu idealisieren, dass es sich dem Experiment unterwerfen lässt.“ (ebd., S. 35). 13 Vgl. Wolfgang Lefèvre, Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie, Frankfurt a. M., Berlin, Wien, 1984, S. 258. 14 Im Kapital kommt Marx auf dieses Thema unter dem Stichwort ,natürliche Technologie‘ zurück, vgl. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. I, MEW 23, S. 392 f. 15 Wolfgang Lefèvre, Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie, S. 261 f.
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entwickelt.16 Darüber hinaus wird das Verhältnis von Art und Individuum streng hierarchiefrei gedacht und selber der historischen Kontingenz anheim gestellt. Darwins Evolutionstheorie geht nicht mehr von einer Produktion und Reproduktion des Immergleichen bzw. vom Prinzip der Konstanz der Arten aus; vielmehr schließt nach Darwins Theorie die Reproduktion der Lebensformen ihren Wandel ein. In der Konsequenz aber heißt das, dass zur Theorie der Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl notwendig auch Reflexionen über das Aussterben gehören: „Indem Darwin die Individuen zugleich als Zweck und Mittel der Selektion begreift, erweist sich die Gliederung der organischen Welt in Arten ihrerseits als Funktion der Lebensfähigkeit der Individuen. Die Arten selbst werden damit dem Gesetz des Lebens im Sinne von Überleben unterstellt, ihre Zweckmäßigkeit liegt in den Überlebenschancen, die sie den Individuen bieten. Die hypothetische Erwägung einer ,Welt ohne Arten‘ zieht die letzte Konsequenz aus dieser neuen Betrachtungsweise. Die Arten verlieren somit ihre Idealität, die sie nicht nur bei Cuvier, sondern auch noch in Lamarcks Evolutionismus besitzen. Während für Lamarck ein natürliches Aussterben der Arten vollkommen ausgeschlossen bleibt, dehnt Darwin die Natürlichkeit des Todes auf die Art aus“17, wie folgendes Beispiel aus Darwins Hauptwerk verdeutlicht: „Die Art und Weise, wie Arten oder Gruppen erlöschen, scheint mir recht gut mit der natürlichen Auslese überein zu stimmen. Über das Aussterben brauchen wir uns nicht zu wundern; verwunderlich ist höchstens die Zuversichtlichkeit, mit der wir uns eine Zeitlang einbildeten, wir verständen die verwickelten Bedingungen, von denen das Dasein der Arten abhängt.“18 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Darwins Theorie einen radikalen Bruch mit dem vorangegangenen Entwicklungsdenken vollzieht und eine völlig neuartige Vorstellung vom Haushalt der Natur etabliert. Darwin zeigt nicht nur auf, dass die Natur eine Geschichte hat, sondern er liefert darüber hinaus eine tragfähige Theorie des historischen Naturprozesses. Diese Theorie durchbricht die Analogisierung von Phylo- und Ontogenese und sie überwindet das Dogma von der Unveränderlichkeit der Arten ebenso wie die teleologische Naturbetrachtung. Schließlich entwirft Darwin eine naturhistorische Perspektive, in der der Mensch nicht nur als Produkt eines blinden Selbstbewegungsprozesses der Materie, sondern – als gesellschaftliches Naturwesen – selbst als eine historisch immer bedeutsamer werdende Selektionsinstanz im Haushalt der Natur erscheint.
2. Vor diesem Hintergrund wird das große Interesse von Marx an Darwins Theorie leicht begreifbar. Im Folgenden soll vor allem die epistemologische Parallelität der 16 Vgl. Rolf Peter Sieferle, Die Krise der menschlichen Natur. Zur Geschichte eines Konzepts, Frankfurt a. M., 1989, S. 85. 17 Ferdinand Fellmann, „Darwins Metaphern“, S. 292 f. 18 Charles Darwin, Die Entstehung der Arten, S. 378.
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wissenschaftlichen Revolutionen fokussiert werden, die in den bisherigen Deutungen nur in reduzierter Form Beachtung erfahren hat.19 – In seinem Hauptwerk, dem Kapital, setzt sich Marx vor, die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse zu erforschen. Der Endzweck des Werkes sollte es sein, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen.20 Wie der Untertitel: ,Kritik der politischen Ökonomie‘ erkennen lässt, versteht Marx sein Unternehmen nicht nur als kritische Auseinandersetzung mit den Verhältnissen der kapitalistischen Gesellschaft, sondern zugleich auch als Kritik an der Wissenschaft, die sich mit diesen Verhältnissen bisher auseinander gesetzt hat. Zwar hat sich diese Wissenschaft mit der Struktur der kapitalistischen Gesellschaft beschäftigt, aber Marx zufolge ist es den Ökonomen nicht gelungen, ein angemessenes Bewusstsein von der Historizität, der Formbestimmtheit und den spezifischen Bewegungsgesetzen des von ihnen untersuchten Gegenstandsbereiches zu entwickeln. Die fundamentale Differenz zur gesamten Wissenschaft der politischen Ökonomie, die in dem Untertitel zum Ausdruck kommt, ergibt sich aus Marxens Entdeckung der von der bürgerlichen Ökonomie nicht gesehenen qualitativen Besonderheit bzw. historischen Formiertheit der gesellschaftlichen Verhältnisse.21 Von der politischen Ökonomie werden die kapitalistischen Produktions- und Verkehrsverhältnisse als natürliche – und damit als unhintergehbare, ewige – Verhältnisse angesehen. Die kapitalistische Produktionsweise stellt sich also nicht als eine historisch spezifische Produktionsweise dar, sondern als die natürliche Art und Weise des Produzierens. Zwar ist Marx zufolge der politischen Ökonomie durchaus die historische Gewordenheit der Verhältnisse bewusst, aber in ihrer naturalistischen Optik erscheinen die vorkapitalistischen Verhältnisse „als unentwickelte, unvollkommene und verkleidete, nicht auf ihren reinsten Ausdruck und ihre höchste Gestalt reduzierte, anders gefärbte Weisen“22 jener als naturgemäß unterstellten bürgerlichen Verhältnisse. Die älteren Formen der Produktion und des Verkehrs werden also so begriffen, als handele es sich um Abweichungen von einer Norm, um infantile (oder künstliche) Gebilde, die erst mit ihrem Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft ihre reife, natürliche Gestalt erhalten. 19 Die meisten Lektüren, die sich mit dem Verhältnis Marx-Darwin beschäftigen, sind an klassische Epistemologien gebunden. Die marxistischen Interpretationen rücken zumeist den Versuch von Marx und Engels ins Zentrum, Darwins Theorie als naturhistorische Grundlegung ihrer eigenen Theorie zu benutzen. Diese Deutung stellt beide Ansätze in ein Kontinuum materialistischer Theorien; die vorliegende Lektüre geht dagegen von einer epistemologischen Parallelität der wissenschaftlichen Revolutionen von Darwin und Marx und damit zugleich von einer wesentlichen Differenz aus, so dass die Frage nach dem Verhältnis beider Theorien in neuer Form dringlich wird. 20 Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 15 f. 21 „Die politische Ökonomie hat nun zwar, wenn auch unvollkommen Wert und Wertgröße analysiert und den in diesen Formen versteckten Inhalt entdeckt. Sie hat niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt, warum sich also die Arbeit im Wert und das Maß der Arbeit durch ihre Zeitdauer in der Wertgröße des Arbeitsprodukts darstellt?“ Ebd., S. 94 f. 22 Marx, Das Kapital, Bd. III, MEW 25, S. 884.
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Das Gesellschaftsbild der politischen Ökonomie erweist sich damit als Bestandteil des Paradigmas der Oeconomia naturae, mit dem Darwin in Bezug auf die Natur gebrochen hatte. Die Verhältnisse der Moral, der Ökonomie und Politik sind diesem Paradigma zufolge einer natürlichen Ordnung subsumiert, die als ein reguliertes Gleichgewichtssystem erscheint. Wie in Bezug auf die Ordnung der ersten Natur sind unter diesen Voraussetzungen systematische Fehlentwicklungen auf dem Feld der politischen Ökonomie ausgeschlossen.23 Vermeintliche Verletzungen des Gleichgewichts bzw. Störungen der harmonischen Ordnung als Folge rücksichtsloser Verfolgung des Privatinteresses erweisen sich ,in Wahrheit‘ als Aktionen, die der Erhaltung des Gleichgewichts und dem Wohl der Allgemeinheit gerade förderlich sind. Die klassische Formel für diese Konstruktion hat Mandeville geprägt: „private vices are public benefits“. Im Sinne dieser Formel hat auf dem Feld der politischen Ökonomie Adam Smith zu zeigen versucht, dass sich das Handeln der konkurrierenden Marktteilnehmer spontan zu einem Zusammenhang ordnet, der nicht nur stabil ist, sondern darüber hinaus auch wünschenswerte Ergebnisse produziert: Reichtum, Freiheit, Glück.24 Die deutsche Geschichtsphilosophie als Pendant der politischen Ökonomie hat vergleichbare natürliche Teleologien entworfen.25 Auch hier kommt regelmäßig als Korrektiv der Servomechanismus einer höheren Vernunft in Gang, um das blinde Walten der freien Konkurrenz auf eine Bahn zu lenken, die dem Gemeinwohl förderlich ist. Marx beansprucht nun zu zeigen, dass die Harmonievorstellungen der politischen Ökonomie aus einem falschen Begriff von der Natur ihres Gegenstandes folgen, und dass eine adäquate Darstellung der ökonomischen Dynamik und der Entwicklungstendenzen des Kapitalismus mit Notwendigkeit die historische Natur dieser gesellschaftlichen Ordnung offenbart. Er will den Nachweis führen, dass die kapitalistische Produktion aufgrund der ihr immanenten Widersprüchlichkeit und Dynamik „mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigene Negation“26 erzeugt. Das Kapital wird als ein prozessierender Widerspruch begriffen, der sich historisch verschärft und in periodischen Krisen eklatiert, so dass die historischen Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise aufscheinen. In welcher Weise diese stets neu sich erzeugenden Widersprüche ausgetragen werden, ist von der Theorie nicht vorherzusagen. Auf der abstrakt-logischen Ebene des Kapitals ist mit der Rede von der historischen Negation allerdings behauptet, dass der Widerspruch zwischen dem Drang des Kapitals, ins Unendliche zu wachsen und der Endlichkeit seiner Voraussetzungen nicht auf Dauer gestellt werden kann. Welche konkrete Form jedoch die ,notwendige‘ Negation annimmt, lässt sich nicht vorherbestimmen.
23 Vgl. Rolf Peter Sieferle, Die Krise der menschlichen Natur, S. 32 f. 24 Vgl. ebd., S. 194. 25 Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner, Out of Control. Über die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses, Berlin, Wien, 2004, S. 33-74. 26 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 791.
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Die epistemologische Parallelität der wissenschaftlichen Revolutionen von Darwin und Marx tritt besonders im Hinblick auf ihre kritische Aufhebung der wesentlich statischen und eindimensionalen traditionellen Konzepte in neue Theorieformen hervor, die es möglich machen, Probleme zu klären, die mit den traditionellen Denkmitteln nicht angegangen werden konnten. Darwin ist es, wie gezeigt wurde, gelungen, den traditionellen Gegensatz materialistischer und idealistischer Ansätze (Entwicklung resultiert aus der Anpassung an die Umwelt vs. aus einem inneren Trieb zur Höherentwicklung) zu Gunsten einer Sichtweise aufzugeben, die das Interesse auf das spezifische Verhältnis von Momenten der Umweltanpassung und der Wechselbeziehung zwischen den Lebewesen lenkt. Eine parallele Figur tritt an Marxens Kritik an den überkommenen Geldbegriffen hervor. Von den bürgerlichen Ökonomen wurde das Geld als ein (neutrales) Medium der Vermittlung gefasst, dem vorrangig die Aufgabe zufalle, die Vermittlung der – vermeintlich unter einer natürlichen (bzw. ewig-gleichen) Form der Produktion zustande gekommenen – Arbeiten und Produkte zu regeln. Unter dieser Voraussetzung konnte sich die Auffassung des Geldes nur zwischen den Alternativen Natur (Ding, Physis) und kultureller Konvention (Zeichen) bewegen. Von der Klassik wurde die Wertgegenständlichkeit als Ausdruck der unmittelbar verausgabten Arbeit gefasst, von der subjektiven Wertlehre unter dem Aspekt des Nutzens begriffen. Marx zeigt nun, dass sich beide Auffassungen des Geldes in Widersprüche verwickeln, solange nicht begriffen wird, dass das Geld „ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis darstellt, aber in der Form eines Naturdings von bestimmten Eigenschaften.“27 Diese Form sozialer Gegenständlichkeit steht jenseits der Gegensätze sinnlich/unsinnlich, real/ideal, materialistisch/idealistisch. Sie lässt sich erhellen im Hinblick auf den Doppelcharakter, den die Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen annehmen muss.
3. Es liegt auf der Hand, dass es für Marx wichtig wurde, das Verhältnis seines Ansatzes zu Darwins Theorie zu problematisieren. Neben der epistemologischen Parallelität der beiden wissenschaftlichen Revolutionen sind es zahlreiche sachliche Verschränkungen, die Marx herausfordern mussten. Bekanntlich hat Darwin wiederholt die große Bedeutung von Malthus für seine eigene Konzeption hervorgehoben28; darüber hinaus hat er auf die epistemologische Bedeutung der Züchterpraxis für die Erhellung der Prozesse der natürlichen Selektion aufmerksam gemacht und ausblickhaft den Menschen als immer bedeutsamer werdende Selek27 Vgl. Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, S. 22. 28 In der Einleitung der Entstehung der Arten heißt es: „In dem folgenden Kapitel soll der Kampf ums Dasein der organischen Wesen der ganzen Erde betrachtet werden, der eine unvermeidliche Folge der großen geometrisch fortschreitenden Vermehrung ist – die Lehre von Malthus auf das gesamte Tier- und Pflanzenreich angewendet.“ (Charles Darwin, Die Entstehung der Arten, S. 17).
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tionsinstanz begriffen. Der Nachweis der Bedeutung der Praxis (als Vermittlung von gesellschaftlichen und naturalen Bestimmungen) für die Erkenntnis- und Gesellschaftstheorie stand schon sehr früh im Mittelpunkt des Interesses von Marx. So heißt es in der Deutschen Ideologie: „Der Kirschbaum ist, wie fast alle Obstbäume, bekanntlich erst vor wenig Jahrhunderten durch den Handel in unsere Zone verpflanzt worden und wurde deshalb erst durch diese Aktion einer bestimmten Gesellschaft in einer bestimmten Zeit der ,sinnlichen Gewissheit‘ Feuerbachs gegeben.“29 Und es folgen Reflexionen, die schon vor Darwins Entdeckungen die Problematik sehr genau bezeichnen, die nach dem Erscheinen von dessen Hauptwerk an Dringlichkeit gewonnen hat: „Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann von zwei Seiten aus betrachtet, in die Geschichte der Natur und die Geschichte der Menschen abgeteilt werden. Beide Seiten sind indes nicht zu trennen; solange Menschen existieren, bedingen sich Geschichte der Natur und Geschichte der Menschen gegenseitig.“30 Bei seinem Versuch, die spezifische Form des gesellschaftlichen Naturverhältnisses zu erfassen, ist Marx auf den „Doppelcharakter der Arbeit“ im Kapitalismus gestoßen. Dieser bildet den „Springpunkt“, „um den sich das Verständnis der politischen Ökonomie dreht“31. Für Marx beruht die kapitalistische Epoche auf einer historisch eigentümlichen Produktionsweise, die einen radikalen Bruch mit naturalen Produktionsordnungen markiert.32 Wenn Marx im Zusammenhang der Entwicklung der modernen Gesellschaft von Naturgesetzlichkeiten, Naturgeschichte oder Naturnotwendigkeit spricht, dann heißt das also nicht, dass er die kapitalistische Produktionsweise für einen bloßen Appendix der Naturgeschichte hält – vielmehr handelt es sich bei diesen Bestimmungen um dezidiert kritische Begriffe, die die Naturwüchsigkeit des Kapitalismus als einer ,zweiten Natur‘ festhalten.33 Von einer zweiten Natur ist zu sprechen, weil die Entwicklung im Kapitalismus vermittelt durch den ökonomischen Konkurrenzkampf eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, die einen objektiven Zwang konstituieren; von einer zweiten Natur kann Marx sprechen, weil es sich bei diesen Gesetzen um historisch konstituierte handelt, die deshalb auch historisch revidierbar sind. Die historischen Gesetze setzen zwar die Gesetze der ersten Natur voraus und bleiben an diese gebunden, sie lassen sich jedoch nicht von ihnen aus erschließen. Das gleiche gilt in Bezug auf das Verhältnis des Kapitalismus zu allen vorangegangenen Produktionsweisen, deren Be29 Karl Marx, Friedrich Engels, Die Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 43. Schon in Marx’ Ökonomischphilosophischen Manuskripten aus dem Jahr 1844 heißt es: „Die Bildung der 5 Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte.“ MEW Ergänzungsband 1, S. 541 f. 30 Karl Marx, Friedrich Engels, Die Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 18. 31 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 56. 32 Marx fasst den Scheidungsprozess des Arbeiters vom Eigentum an seinen Arbeitsbedingungen und die Freisetzung des Individuums in das Bild der Durchtrennung der Nabelschnur (vgl. Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 93, 353); die sogenannte ,ursprüngliche‘ Akkumulation als Voraussetzung der kapitalistischen Produktionsweise wird als ein Prozess der „Expropriation“ dargestellt, der „in die Annalen der Menschheit eingeschrieben [ist] mit Zügen von Blut und Feuer.“ (ebd., S. 743). 33 Vgl. dazu Alfred Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, Frankfurt a. M., 1962, S. 33 f.; Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a. M., 1962, S. 347 ff.
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stimmungen er nicht einfach fortschreibt, sondern wesentlich negiert. Ein Interesse von Marx ist es, den historisch gewordenen Gegensatz beider Bestimmungen herauszuarbeiten, der darin kulminiert, dass die Gesetze der zweiten Natur zunehmend mit den Bestimmungen der ersten kollidieren. Die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise führt so zu einer systemisch bedingten Zerstörung ihrer natürlichen Voraussetzungen, was Marx – lange vor der Entstehung des Ökologiediskurses – in allgemeiner Form festgehalten hat: „Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“34 Es ist deshalb als logische Konsequenz des wissenschaftlichen Einschnitts seiner Theorie zu sehen, wenn Marx sich gegen unreflektierte Übertragungen oder Übernahmen von Darwins Begrifflichkeiten zur Erklärung gesellschaftlicher Sachverhalte gewandt und nachdrücklichen Wert auf die spezifische Form der Vermittlung und die Reflexion des Gegensatzes gesellschaftlicher und natürlicher Bestimmungen gelegt hat. Die Übertragungen erschienen ihm deshalb prekär, weil sie die Spezifik der Formen der gesellschaftlichen Vermittlung des Mensch-Natur-Verhältnisses in der modernen Gesellschaft negieren und damit eine Naturalisierung dezidiert historischer Bestimmungen betreiben. In diesem Sinne wendet sich Marx u.a. gegen Friedrich Albert Lange, der als einer der ersten Darwins Theorie in der Arbeiterbewegung popularisiert und im Rahmen des Versuchs einer systematischen Anwendung derselben auf die Gesellschaft den Begriff des Klassenkampfes mit dem Begriff des ,struggle for life‘ identifiziert hat.35 Marx merkt polemisch an: „Herr Lange hat […] eine große Entdeckung gemacht. Die ganze Geschichte ist nur unter ein einziges großes Naturgesetz zu subsumieren. Dies Naturgesetz ist die Phrase (der Darwinsche Ausdruck wird in dieser Anwendung bloße Phrase) ,struggle for life‘, ,Kampf ums Dasein‘, und der Inhalt dieser Phrase ist das Malthussche Bevölkerungs- oder rather Übervölkerungsgesetz. Statt also den ,struggle for life‘, wie er sich geschichtlich in verschiedenen bestimmten Gesellschaftsformen darstellt, zu analysieren, hat man nichts zu tun, als jeden konkreten Kampf in die Phrase ,struggle for life‘ und diese Phrase in die Malthussche Bevölkerungsphantasie umzusetzen.“36 Die Methode der Kritik der politischen Ökonomie steht im dezidierten Gegensatz zu evolutionistischen und biologistischen Konzeptionen. Für Marx ist der historische Prozess nicht als Verlängerung natürlicher Prozesse oder als Ausfaltung eines schon im Ursprung angelegten Wesens zu verstehen, sondern in der Kenntnis der entwickeltsten gesellschaftlichen Formen zu rekonstruieren. „Die Anatomie des Menschen ist ein 34 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 529-530. In neueren Rekonstruktionen der Marxschen Theorie wird dieser Aspekt besonders hervorgehoben; vgl. Moishe Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx, Freiburg, 2003, S. 463-577; Michael Heinrich, Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, Stuttgart, 2004, S. 223. 35 Vgl. Kurt Bayertz, „Darwinismus als Ideologie“, in: Darwin und die Evolutionstheorie, S. 105-120. 36 Karl Marx, „Brief an Ludwig Kugelmann“ vom 27.6.1870, MEW 32, S. 685 f. Ähnliche Polemiken finden sich bei Engels, vgl. den „Brief an P. L. Lawrow“ vom 12.11.1875, MEW 34, S. 169 ff.
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Schlüssel zur Anatomie des Affen.“37 Als Konsequenz seines Ansatzes ergibt sich so eine Subversion der zeitgenössischen Übertragungslogik. Statt die bürgerliche Gesellschaft in Naturkategorien zu denken, betont Marx vielmehr die bürgerlichen Formbestimmungen, die in die Analyse naturhafter Prozesse eingewandert sind.38 Darüber hinaus wird im Wandel philosophischer Denkmotive und Metaphorik ein gesellschaftlich-kultureller Wandel greifbar: „Es ist merkwürdig, wie Darwin unter Bestien und Pflanzen seine englische Gesellschaft mit ihrer Teilung der Arbeit, Konkurrenz, Aufschluss neuer Märkte, ,Erfindungen‘ und Malthusschem ,Kampf ums Dasein‘ wieder erkennt. Es ist Hobbes’ ,bellum omnium contra omnes‘ und es erinnert an Hegel in der Phänomenologie, wo die bürgerliche Gesellschaft als ,geistiges Tierreich‘, während bei Darwin das Tierreich als bürgerliche Gesellschaft figuriert“39.
4. Bei der Darstellung der sachlichen Parallelität der wissenschaftlichen Revolutionen von Darwin und Marx wurden bislang die Widersprüche und Inkonsistenzen beider Theorien unterschlagen. Auf diese ist nun kurz einzugehen, weil sie für das Verständnis der Rezeptionsgeschichte und ,praktischen Anwendungen‘ beider Theorien bedeutsam sind. Anders als im Falle des Darwinismus und Marxismus ist in Bezug auf die Theorien von Darwin und Marx von theoretischen Rückfällen in überkommene Erklärungsmuster zu sprechen, weil sich in den Arbeiten beider Wissenschaftler Erklärungsmuster finden, die hinter dem errungenen Reflexionsstand und Problembewusstsein zurückbleiben.40 Bei Darwin äußert sich das in der nicht preisgegebenen Annahme der Vererbung erworbener Eigenschaften und in zahlreichen teleologischen Denkfiguren; bei Marx in der merkwürdigen Konsequenzlosigkeit seiner Fetischtheorie in Bezug auf die Einschätzungen des Bewusstseinsstands der Arbeiter und in vielen Rückgriffen auf geschichtsphilosophisch-teleologische Zweck-Mittel-Argumente, so etwa, wenn er im Kapital den Kapitalismus als „historisches Mittel“ betrachtet, dem die „Aufgabe“ der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte zufalle.41 Vor dem Hintergrund der sachlichen Analyse des Kapitals müssen diese Passagen als theoretische Rückfälle hinter seine eige37 Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 42, S. 39. 38 Vgl. dazu auch Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 411: „Descartes mit seiner Definition der Tiere als bloßer Maschinen sieht mit den Augen der Manufakturperiode im Unterschied zum Mittelalter, dem das Tier als Gehilfe des Menschen galt.“ 39 Karl Marx, „Brief an Friedrich Engels“ vom 18.6. 1862, MEW 30, S. 249. 40 Eine detailliertere Untersuchung hätte also nicht nur die Parallelität der wissenschaftlichen Revolutionen, sondern auch die Parallelität der Rückfälle hinter das erreichte Niveau der Theoriebildung genauer zu entfalten, vgl. zu Marx Michael Heinrich, Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition, 2. Auflage, Münster, 1999. 41 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 260. Zur Kritik vgl. Heinz Dieter Kittsteiner, Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a. M., 1998, S. 123 f.
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nen sachlichen Einsichten gewertet werden, denn Marxens umfassende Darstellung des Prozesses der Selbstverwertung des Werts als des automatischen Subjekts der Geschichte hat ja gezeigt, dass es sich hier nicht um ein „Mittel“ handeln kann, das dem höheren Zweck der Entwicklung postkapitalistischer Gesellschaftsformen dient. An einigen Stellen trägt Marx sein teleologisches Verständnis an Darwin heran, wie an einer längeren Passage aus den Theorien über den Mehrwert sichtbar wird: „Wollte man behaupten, wie es sentimentale Gegner Ricardos getan haben, dass die Produktion nicht als solche der Zweck sei, so vergisst man, dass Produktion um der Produktion halber nichts heißt, als Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte, als Entwicklung des Reichtums der menschlichen Natur als Selbstzweck. Stellt man, wie Sismondi, das Wohl der einzelnen diesem Zweck gegenüber, so behauptet man, dass die Entwicklung der Gattung aufgehalten werden muss, um das Wohl der einzelnen zu sichern, dass also z.B. kein Krieg geführt werden dürfe, worin einzelne jedenfalls kaputtgehen […]. Dass diese Entwicklung der Fähigkeiten der Gattung Mensch, obgleich sie sich zunächst auf Kosten der Mehrzahl der Menschenindividuen und gar Menschenklassen macht, schließlich diesen Antagonismus durchbricht und zusammenfällt mit der Entwicklung des einzelnen Individuums, dass also die höhere Entwicklung der Individualität nur durch einen historischen Prozess erkauft wird, worin die Individuen geopfert werden, wird nicht verstanden, abgesehen von der Unfruchtbarkeit solcher erbaulichen Betrachtungen, da die Vorteile der Gattung im Menschenreich wie im Tier- und Pflanzenreich sich stets durchsetzen auf Kosten der Vorteile von Individuen, weil diese Gattungsvorteile zusammenfallen mit den Vorteilen besondrer Individuen, die zugleich die Kraft dieser Bevorzugten bilden.“42 Abgesehen davon, dass Marx hier die Entwicklung des Kapitals mit der Entwicklung der menschlichen Gattung identifiziert, behauptet er eine Priorität der Gattung gegenüber den Individuen und eine Teleologie der naturhistorischen Entwicklung, die weder mit seiner eigenen Theorie der Verselbstständigung des gesellschaftlichen Formzusammenhangs gegenüber den Produzenten noch auch mit Darwins Einsichten zu vereinbaren ist.
42 Karl Marx, Theorien über den Mehrwert, Teil 2, S. 107. Interpretiert Marx hier die Entwicklung des Kapitalismus ebenso wie Darwins Theorie im Rahmen einer evolutionistischen Fortschrittskonzeption, so wird Darwins Theorie einige Jahre später gerade aufgrund der mangelnden Kompatibilität mit evolutionären Modellen distanziert. Nach der Lektüre eines Werkes von Pierre Trémaux bescheinigt Marx dem Autor, einen „sehr bedeutenden Fortschritt“ über Darwin hinaus gemacht zu haben, wobei besonders hervorgehoben wird, dass der „Fortschritt, der bei Darwin rein zufällig, hier notwendig“ und dass das Buch „in der geschichtlichen und politischen Anwendung viel bedeutender und reichhaltiger als Darwin“ sei, vgl. MEW 31, S. 248 sowie Dieter Groh, „Marx, Engels und Darwin. Naturgesetzliche Entwicklung oder Revolution“, in: Politische Vierteljahresschrift 8, 544-559, hier S. 554.
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5. Mit der Darstellung der immanenten Widersprüchlichkeit und theoretischen Rückfälle von Darwin und Marx ist der Boden bereitet für das Verständnis der Rezeption ihrer Werke in der Arbeiterbewegung. Ganz allgemein lässt sich die These formulieren, dass die theoretischen Einschnitte, die sich mit den Namen Darwin und Marx verbinden, in der Rezeption ihrer Werke durch die marxistischen Theoretiker nicht nachvollzogen worden sind. Ihre Arbeiten wurden im Rahmen der traditionellen Denkformen interpretiert, von denen sich Marx und Darwin gerade abgesetzt hatten, wobei zu betonen ist, dass die marxistischen Theoretiker dabei an die rückwärtsweisenden Formulierungen anknüpfen konnten, die sich bei Darwin und Marx selbst finden lassen. Zunächst soll die Rezeption der Marxschen Theorie interessieren, wobei die Darstellung knapp gehalten werden kann, weil im Zuge der Neuen Marx-Lektüre zahlreiche Arbeiten vorgelegt worden sind, die es erlauben, den traditionellen Marxismus als eine Denkform zu beschreiben, die im Rückgriff auf die Marxsche Kritik des Fetischismus der ökonomischen Kategorien im Kapitalismus erhellt werden kann.43 Das Kernelement des traditionellen Marxismus bildet der naturalistische Arbeitsbegriff. Während es Marx um die Darstellung des inneren Zusammenhangs der Produktions- und Distributionssphäre und um den Nachweis ihrer spezifischen historischen Formiertheit zu tun gewesen ist, trennt der traditionelle Marxismus die Sphäre der Arbeit von den Verhältnissen der Distribution ab. Die Sphäre der Arbeit wird als natürlich angesehen und der Sphäre der Distribution (als einer ,künstlichen‘) gegenübergestellt. Aufgrund seines naturalistischen Verständnisses des Arbeitsbegriffs kann der Marxismus das Wesen des Kapitalismus allein in der Sphäre der Distribution lokalisieren; der Kapitalismus wird also mit den Erscheinungen der Distributionssphäre, der Vermittlung durch den anonymen Markt identifiziert. Er erscheint „als ein Ensemble äußerer Faktoren […], die auf den Produktionsprozess einwirken“44; der Arbeitsprozess erscheint als rein technischer Prozess und wird als solcher primär quantitativ und instrumentalistisch, als Ausdruck der gewachsenen Beherrschung der Natur durch den Menschen begriffen. Auf der Basis dieses naturalistischen Arbeitsbegriffs lassen sich alle anderen Elemente der ,marxistischen Weltanschauung‘ in ihrem systematischen Zusammenhang und Gegensatz zur Marxschen Theorie begreifen, was hier nur schlaglichtartig angedeutet werden kann: Die Kritik der politischen Ökonomie wird in doppelter Weise reduziert auf eine Philosophie der Praxis;45 der Marxsche kritische Ideologiebegriff wird preisgegeben und jedes Denken als unhintergehbar ideologisch ange43 Vgl. Moishe Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. 44 Ebd., S. 30. 45 Den Begriff ,Philosophie der Praxis‘ hat Antonio Labriola geprägt; er wurde von Antonio Gramsci aufgegriffen. Bezeichnenderweise geht er auf Marx’ Thesen über Feuerbach zurück, in denen zwar der Begriff der praktischen Vermittlung eine große Rolle spielt, aber die für den späten Marx zentrale Problematik der spezifischen historischen Form dieser Vermittlung noch weitgehend bedeutungslos ist.
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sehen; der im Hinblick auf die Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft ausgearbeitete Marxsche kritische Begriff der Naturgesetzlichkeit wird entdifferenziert und im Rahmen einer Theorie des Fortschritts und der allmählichen Höherentwicklung affirmativ verwendet; Herrschaft wird nicht mehr strukturell als Herrschaft verselbstständigter gesellschaftlicher Verhältnisse begriffen, sondern als Herrschaft einer Klasse über eine andere usw. Die merkwürdige Ironie der Geschichte besteht darin, dass sich im Marxismus eine Weltanschauung herausgebildet hat, die auf theoretischen Prämissen beruht, von denen sich Marx dezidiert abgesetzt hat. Es ist so keineswegs bloß ein passageres Bonmot, sondern als emphatischer epistemologischer Bescheid zu verstehen, wenn Marx selbst im Hinblick auf diejenigen, die sich auf seine Theorie berufen haben, ausgesprochen hat: „Alles was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin.“46
6. Die skizzierten systematischen Verkürzungen der Marxschen Theorie haben vergleichbare historische Gründe wie die problematische Aneignung der Schriften von Darwin, die nun skizzenhaft dargestellt werden soll. Ein erster gewichtiger Grund stellt der Bruch der neuen wissenschaftlichen Theorien mit dem Alltagsverstand dar, der die These der Historizität und Kontingenz der Arten in der Natur und der Formen der politischen Ökonomie als Zumutung erfährt. Ein zweiter Grund ist das Bedürfnis der sich formierenden Arbeiterbewegung nach einer Weltanschauung, die in den Zeiten gesellschaftlicher Unterdrückung und politischer Verfolgung oder Diskriminierung Halt gewähren und der politischen Bewegung eine stabile Identität verleihen konnte. Ein dritter Grund ist die für die Diskussion der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auffällige krasse Ungleichzeitigkeit der Gehalte der rivalisierenden Konfliktthemen, wie etwa an der Niveaudifferenz zwischen der Marxschen Auseinandersetzung mit der politischen Ökonomie und der die öffentliche Diskussion beherrschenden Auseinandersetzung zwischen atheistischen und theologischen Anschauungen zum Ausdruck kommt.47 Weitere wichtige Gründe sind schließlich in der wachsenden sozialen Bedeutung der Naturwissenschaften und in dem enormen Aufschwung der Technik zu sehen, die positivistischen und technokratischen Anschauungsweisen förderlich waren. Die zeitgenössische Rezeption des Darwinschen Werkes war vor diesem Hintergrund mit vergleichbaren Problemen wie diejenige der Marxschen Schriften belastet. Wie vielfach gezeigt worden ist, wurde Darwins Evolutions- und Selektionstheorie von den meisten Zeitgenossen als eine Fortschrittstheorie rezipiert. Ihre Implikationen,
46 Vgl. Friedrich Engels, „Brief an Conrad Schmidt“ vom 5.8.1890, MEW 37, S. 436. 47 Von großer Bedeutung für diese Auseinandersetzung waren die Werke von Ernst Haeckel. Lenin greift in seinem Buch Materialismus und Empiriokritizismus aus dem Jahre 1907 wiederholt affirmativ auf Haeckels hegelianisierende Evolutionsbiologie zurück.
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die genau in die Gegenrichtung zielten, wurden zunächst kaum verstanden.48 Vor diesem Hintergrund ist auch die Rede vom Darwinismus als problematisch einzuschätzen, denn bei genauerer Betrachtung vertraten viele Theoretiker, die sich auf Darwin beriefen, Auffassungen, die genauer als Spencerismus oder Neo-Lamarckismus bezeichnet werden müssten.49 Unmittelbar nach ihrem Erscheinen wurde Darwins Hauptschrift für die verschiedensten Zwecke und zur Legitimation unterschiedlichster Auffassungen verwendet. Ihre Attraktivität für die marxistischen Theoretiker ergab sich vor allem aus der Einbettung des Menschen in die natürliche Geschichte, die sich unter den Prämissen der herrschenden Fortschrittsideologie als Geschichte einer allgemeinen Höherentwicklung und Vervollkommnung darstellte. Wie Reinhard Mocek herausgestellt hat, war es ein Charakteristikum der sozialistischen Arbeiterliteratur seit ihren Anfängen, gegen die Ungerechtigkeiten in der sozialen Welt die Natur als Modell für ein anzustrebendes gerechtes Gesellschaftsgefüge heranzuziehen.50 Unter diesen Voraussetzungen lag eine Indienstnahme von Darwins Theorie nahe. Seit den 1870er Jahren lässt sich eine solche in verstärktem Maße beobachten. Innerhalb der Arbeiterbewegung gab es eine Vielzahl unterschiedlichster Positionen zu Darwins Werk, das zu keiner Zeit unumstritten gewesen war.51 Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass im Gegensatz zu konservativen Strömungen, die bei ihrer Berufung auf Darwins Theorie die Aspekte des Kampfes und der natürlichen Ungleichheit betonten, im Marxismus die allgemeine Tendenz der Höherentwicklung und die Gesetzmäßigkeit der natürlichen Entwicklung im Vordergrund standen. In dieser Weise interpretiert, konnte die Darwinsche Theorie als das naturgeschichtliche Komplement zur Marxschen Theorie beziehungsweise die Marxsche Theorie als gesellschaftliche Verlängerung der Darwinschen Theorie verstanden werden. Besonders deutlich wird das bei Karl Kautsky, der zwischen den Jahrzehnten nach Engels’ Tod und dem Ersten Weltkrieg als maßgeblicher Interpret der Marxschen Theorie angesehen wurde. In seinem marxistischen Klassiker Die materialistische Geschichtsauffassung versuchte er, das Studium der Entwicklungen in Natur und Gesellschaft in einem einzigen zusammenhängenden Denksystem zu erfassen, oder, in einem seiner Lieblingsbegriffe formuliert, sie in einem „widerspruchslosen Gesamtzusammenhang“ zu vereinen.52 Er suchte ein „Gesetz, dem menschliche wie tierische und pflanzliche Entwicklung unterworfen ist“. Sein Ziel war es, „das Gebiet der materialistischen Geschichtsauffassung so weit auszudeh48 Vgl. Rolf Peter Sieferle, Die Krise der menschlichen Natur, S. 80. 49 Vgl. Gregory Claeys, „The ,Survival of the Fittest‘ and the Origins of Social Darwinism“, in: Journal of the History of Ideas, Vol. 61, No. 2, S. 223-240, hier S. 228. 50 Reinhard Mocek, Biologie und soziale Befreiung. Zur Geschichte des Biologismus und der Rassenhygiene in der Arbeiterbewegung, Frankfurt a. M. u.a., 2002, S. 7 ff. 51 Vgl. Heinz-Georg Marten, Sozialbiologismus. Biologistische Grundpositionen der politischen Ideengeschichte, Frankfurt a. M., New York, 1983. 52 Vgl. John H. Kautsky, „Einleitung zur gekürzten Neuauflage der Materialistischen Geschichtsauffassung“, in: Karl Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung, hg. v. John H. Kautsky, Berlin, Bonn 1988, S. 35.
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nen, dass es sich mit dem der Biologie berührte“. Dies hatte zur Konsequenz, dass für ihn „die Geschichte der Menschheit nur einen Spezialfall der Geschichte der Lebewesen bildet, mit eigenartigen Gesetzen, die aber in Zusammenhang stehen mit den allgemeinen Gesetzen der belebten Natur.“53 Während die Marxsche wissenschaftliche Revolution gerade in der Erhellung dieser „eigenartigen Gesetze“ bestand, wurden sie in der materialistischen Geschichtsauffassung zum bloßen „Anhängsel der Naturgeschichte“54. Eine ganz ähnliche Verkehrung findet sich bei August Bebel, neben Kautsky der zweite führende Vertreter des Marxismus. Wie Reinhard Mocek dargelegt hat, unternahm Bebel „den ersten Versuch der deutschen Sozialisten, aus Darwins Lehre mehr herauszuholen als nur eine generelle Bestätigung für die marxistische Theorie; er erblickte in ihr mehr als nur den naturhistorischen Unterbau für die materialistische Geschichtsauffassung.“55 „Der Sozialismus“, so verkündete Bebel in seinem zum Klassiker der Arbeiterbewegung avancierten Buch Die Frau und der Sozialismus, „ist die mit klarem Bewusstsein und voller Kenntnis auf allen Gebieten menschlicher Tätigkeit angewandte Wissenschaft.“ Was damit gemeint war, verdeutlicht die folgende Passage: „Die Gesetze der Entwicklung, der Vererbung, der Anpassung gelten für den Menschen genauso, als für jedes andere Naturwesen; macht aber der Mensch keine Ausnahme aus der Natur, so muss auch die Entwicklungslehre auf ihn angewandt werden.“56 Dass Bebel hier eine Regelung sozialer Probleme nach den Gesetzen der Naturwissenschaften zuließ, hat Mocek zu der Vermutung veranlasst, hier „könnte so etwas wie der Auslöser, der Dammbruch im marxistischen Denken gegenüber dem neueren Biologismus gewesen sein.“57 Betrachtet man die marxistischen Texte näher, die solche „Anwendungen“ der Entwicklungslehre konkreter ins Auge fassen, dann lässt sich eine irritierende „terminologische Nähe zur faschistischen Eugenik und Rassenbiologie“58 erkennen. Mocek hat dieses Thema in seiner materialreichen Studie Biologie und soziale Befreiung aufgearbeitet und den historischen Weg vom proletarischen Biologismus zu der erstmals von Karl Kautsky so genannten „proletarischen Rassenhygiene“ und sozialistisch intendierten Eugenik rekonstruiert. Hier kann nur allgemein festgehalten werden, dass die sozialistische Rassenhygiene von der faschistischen Eugenik und Rassenbiologie grundsätzlich dadurch unterschieden ist, „dass nicht auf Ausrottung der anderen (der Fremden, Andersartigen, vermeintlich Niederen etc.), sondern auf Höherentwicklung aller gesetzt wurde“59. Dennoch lassen sich auch Überschneidungen finden, die bis in die jüngere Vergangenheit hinein so gut wie nicht erforscht worden sind. Wie die obigen Ausführungen hoffentlich verdeutlichen konnten, sind die biologistischen Argumentationsfiguren nicht als theoretische Entgleisungen, sondern als eine Konsequenz des 53 54 55 56 57 58 59
Karl Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung, S. 590. Alfred Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, S. 38. Vgl. Reinhard Mocek, Biologie und soziale Befreiung, S. 86 ff. August Bebel, zit. nach Reinhard Mocek, Biologie und soziale Befreiung, S. 87. Reinhard Mocek, Biologie und soziale Befreiung, S. 87. Ebd., S. 10. Ebd., S. 14.
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naturalistischen Kritikeinsatzes zu verstehen. Unter solchen Vorzeichen konnte die Marxsche Problematik der spezifischen gesellschaftlichen Formbestimmtheit nicht mehr ins Blickfeld gelangen. Der naive Fortschrittsenthusiasmus hat ganz übersehen lassen, „dass biologisch untersetzte Gesellschaftstheorien sich geradezu zwangsweise in der Gefahr befanden, missbräuchlichen Intentionen in biologisierenden Gedankengängen über Mensch und Gesellschaft blind, gar ratlos gegenüberzustehen.“60
7. Dass die Beschäftigung mit den Theorien von Darwin und Marx keine bloß antiquarische Tätigkeit ist, lassen schon die eingangs erwähnten Auseinandersetzungen erkennen, die keineswegs zufällig in gesellschaftlichen und politischen Krisen und Umbruchzeiten unternommen worden sind. Gegenwärtig verweist die so genannte ,ökologische Krise‘ auf den Erfahrungsgehalt beider Theorien. Der Kapitalismus ist unter den Bedingungen der Globalisierung zu einem geologischen Faktor geworden, der die Grenzen der natürlichen Tragfähigkeit der Erde schon deutlich überschritten hat61 und nicht nur den Fortbestand vieler Arten, sondern auch die Existenzbedingungen immer größerer Teile der Menschheit bedroht. Die seit den 1980er Jahren zu beobachtende Konjunktur des Überlebensbegriffs auf den Feldern der Kultur- und Sozialwissenschaften deutet auf eine Veränderung der allgemeinen Bewusstseinslage und auf die Wiederkehr von Phänomenen hin, die lange Zeit für überwunden galten. Wird die als Parallelbegriff zum Konzept des Überlebens zu verstehende politische Floskel der Nachhaltigkeit ernst genommen, dann sagt sie nichts anderes, als dass die Entwicklung des Kapitalismus in seinen bisherigen Formen nicht zukunftsfähig ist – eine Einsicht, die bereits die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie nahe gelegt hatte. Dennoch spielt seine Theorie im etablierten Wissenschaftsdiskurs (zumindest hierzulande) kaum eine Rolle. Vielleicht resultiert dieses Desinteresse auch aus der mangelnden Unterscheidung zwischen der Marxschen Theorie und dem weltanschaulichen System des Marxismus beziehungsweise aus einer verkürzten Lektüre der Marxschen Theorie, wie sie sich auch in den eingangs erwähnten Arbeiten von Theodor Lessing, Hannah Arendt und Arnold Gehlen findet. Gerade im Lichte der gegenwärtigen Krisen wird die Verselbstständigung der Verhältnisse und ihre fatale Eigendynamik, die bereits Marx als ein „Verhängnis“62 beschrieben hatte, immer mehr zu einem Problem, 60 Ebd., S. 15. 61 Vgl. Donella Meadows, Jørgen Randers, Dennis Meadows, Grenzen des Wachstums. Das 30-JahreUpdate, Stuttgart, 2007, die unter Zugrundelegung des von Mathis Wackernagel et. al. erarbeiteten Konzepts des ökologischen Fußabdrucks schätzen, „dass der menschliche Ressourcenverbrauch derzeit ungefähr 20% über der ökologischen Tragfähigkeit der Erde liegt.“ (S. XVII). 62 Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, S. 92. Üblicherweise wird der Begriff mit Georg Simmels Aufsatz „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“ assoziiert, vgl. ders., Gesamtausgabe, Bd. 14, Frankfurt a. M., 1996, S. 385-417.
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das mit naturwissenschaftlichen Mitteln allein nicht zu lösen sein wird. Auch wenn wir den geschichtsphilosophischen Erwartungshorizont von Marx nach den katastrophalen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht mehr teilen können, ist seine Analyse zur Aufklärung der gegenwärtigen Verhältnisse doch nach wie vor unverzichtbar.
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„Schreiben wir eine Phänomenologie des Werthes!“ Marx vs. Proudhon revisited.
Am 16. Oktober 1842 schreibt Marx in der Rheinischen Zeitung, „daß… Schriften, wie die von Leroux, Considérant und vor allem das scharfsinnige Werk Proudhons, nicht durch oberflächliche Einfälle des Augenblicks, sondern nur nach lang anhaltendem, eingehenden Studium kritisiert werden können“1. Wie wir im Folgenden sehen werden, hat Marx bisweilen seine eigene Ermahnung an die Augsburger Allgemeine Zeitung nicht befolgt; diese erste Erwähnung Proudhons zeigt jedoch den Stellenwert, den dieser für den jungen Marx zum Zeitpunkt seiner Konversion zum Sozialismus einnimmt. Diese herausragende Position streicht Marx erneut am 7. Januar 1843 in der Rheinischen Zeitung hervor, als er Proudhon als „konsequenteste[n], scharfsinnigste[n] sozialistische[n] Schriftsteller“2 bezeichnet. 1 Karl Marx, „Der Kommunismus und die Augsburger ‚Allgemeine Zeitung‘“, MEW 1, S. 108. 2 Karl Marx, MEGA², I.1, S. 417. Im gleichen Jahr bezeichnet auch Friedrich Engels Proudhon als den wichtigsten kommunistischen Autor Frankreichs, und gibt eine kurze Darlegung der ersten Denkschrift zum Eigentum: „The most important writer, however, in this line is Proudhon, a young man, who published two or three years ago his work: What is Property? (Qu‘est ce que la Propriété?) where he gave the answer: ‚La propriété c‘est le vol‘ , Property is robbery. This is the most philosophical work, on the part of the Communists, in the French language; and, if I wish to see any French book translated into the English language, it is this. The right of private property, the consequences of this institution, competition, immorality, misery, are here developed with a power of intellect, and real scientific research, which I never since found united in a single volume. Besides this, he gives very important remarks on government, and having proved that every kind of government is alike objectionable, no matter whether it be democracy, aristocracy, or monarchy, that all govern by force; and that, in the best of all possible cases, the force of the majority oppresses the weakness of the minority, he comes, at last, to the conclusion: ‚Nous voulons l‘anarchie!‘ What we want is anarchy; the rule of nobody, the responsibility of every one to nobody but himself.“ [„Der wichtigste Autor in diesem Feld ist Proudhon, ein junger Mann, der vor zwei bis drei Jahren sein Werk Was ist Eigentum? veröffentlicht hat, in dem er die Antwort gibt: ‚Eigentum ist Diebstahl‘. Dies ist das philosophischste Werk der Kommunisten in französischer Sprache, und, so ich ein französisches Buch auf Englisch übersetzt sehen will, so ist es dieses. Das Recht auf Privateigentum, und die Folgen dieser Institution, Wettbewerb, Immoralität, Elend, werden hier mit der Macht des Intellekts und einer wirklich wissenschaftlichen Forschungsarbeit entwickelt, die ich so noch nie in einem einzigen Band vereinigt sah. Des Weiteren macht er sehr wichtige Bemerkungen zum Prinzip der Regierung; und in dem er nachweist, dass jede Art von Regierung gleichermaßen abzulehnen sind, seien es Demokratie, Aristokratie, oder Monarchie; dass alle durch Ausübung von Gewalt regieren; und dass, im besten aller Fälle, die Gewalt der Mehrheit die Schwäche der Minderheit unterdrückt, kommt er schließlich zur Schlussfolgerung: ‚Was wir wollen ist die Anarchie!‘, die Herrschaft von niemanden, die Verantwortlichkeit eines jeden gegenüber keinem als sich selber.“];
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Ab Oktober 1843 befindet sich Marx im Pariser Exil; Proudhon ist jedoch zu diesem Zeitpunkt als Angestellter bei einer Binnenschifffahrtsfirma in Lyon tätig, ein Kontakt kommt zunächst nicht zustande. In einem Schreiben vom 1. Dezember 1843 an Marx geht Ruge davon aus, dass dieser einen Brief an Proudhon verfasst habe, um ihn zur Mitarbeit an den Deutsch-Französischen Jahrbüchern zu bewegen3; ein diesbezüglicher Brief von Marx ist jedoch nicht erhalten. Auch während dem neunwöchigen Aufenthalts Proudhons in Paris von Februar bis April 1844 kommt es zu keiner Kontaktaufnahme zwischen den beiden (die erste und einzige Ausgabe der Deutsch-Französischen Jahrbücher war zwischendurch ohne französische Beteiligung erschienen). Erst kurz nach Proudhons erneuter Rückkehr nach Paris am 23. September 18444 kommt es zu jenem Treffen, von dem Marx, anlässlich des Todes Proudhons im Jahr 1865, in einem Brief an Johann-Baptist Schweitzer, Redakteur des Social-Demokrat, berichtet: „Während meines Aufenthalts in Paris, 1844, trat ich zu Proudhon in persönliche Beziehung. Ich erwähne das hier, weil ich zu einem gewissen Grad mit schuld bin an seiner ‚Sophistication‘, wie die Engländer die Fälschung eines Handelsartikels nennen. Während langer, oft übernächtiger Debatten infizierte ich ihn zu seinem großen Schaden mit Hegelianismus, den er doch bei seiner Unkenntnis der deutschen Sprache nicht ordentlich studieren konnte. Was ich begann, setzte nach meiner Ausweisung aus Paris [Marx verlässt Paris am 1. Februar 1845 in Richtung Brüssel5] Herr Karl Grün fort. Der hatte als Lehrer der deutschen Philosophie noch den Vorzug, dass er selbst nichts davon verstand.“6
Proudhon geht weder in seinen Notizbüchern7 noch in seinem Briefwechsel auf die Debatten mit Marx ein, jedoch erwähnt er am 19. Januar 1845, in einem Brief an Frédéric Guillaume Bergmann, „les nouvelles connaissances que j’ai faites cet hiver“ [„die neuen Bekanntschaften, die ich in diesem Winter gemacht habe“]8. Bereits am 4. Oktober 1844 hatte er jedoch an Ackermann geschrieben:
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„Progress of Social Reform on the Continent“, New Moral World, No. 19, 4. November 1843, MEGA2, I.3, S. 503-504. Vergleiche Pierre Haubtmann, Pierre-Joseph Proudhon. Sa vie, sa pensée (1809-1849), Paris, 1982, S. 444. Abweichende Angaben, die man vor allem in Marx-Biographien findet, zum Beispiel bei Boris Nicolaïevski, Otto Maenschen-Helfen, La vie de Karl Marx. L’homme et le lutteur, Paris, 1997, S. 101 (hier wird das Treffen auf Juli 1844 datiert), sind von Haubtmann als falsch nachgewiesen worden, da sich Proudhon zu diesem Zeitpunkt nachweislich nicht in Paris aufhielt. Die Treffen von Marx und Proudhon können nur im Zeitrahmen 23. September 1844 [terminus a quo] bis 1. Februar 1845 [terminus ad quem] stattgefunden haben; vgl. Frédéric Krier, Sozialismus für Kleinbürger. Pierre Joseph Proudhon – Wegbereiter des Dritten Reiches, Köln, Weimar, Wien, 2009, S. 181. Proudhon verlässt Paris eine Woche später als Marx, am 7. Februar 1845, und kehrt nach Lyon zurück. Diese Behauptung widerspricht den Angaben bei Grün selber, wonach dieser Proudhon am 4. sowie am 20. Januar 1845, also vor der Ausweisung von Marx, getroffen hat; Grün, Karl, Die sociale Bewegung in Belgien und Frankreich. Briefe und Studien, Darmstadt, 1845, S. 401, 471. Karl Marx, „Über P.-J. Proudhon [Brief an J.B. v. Schweitzer]“, MEW 16, S. 27. Den Carnets, deren erste vollständige Ausgabe zur Zeit vorbereitet wird. Pierre Joseph Proudhon, Correspondance, II, Paris, 1875, S. 176.
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„J’emploie la dialectique la plus profonde, celle de Hegel; car tel est mon malheureux sort que, pour triompher des plus indomptables répugnances, je dois me servir des procédés les plus antipathiques au sens commun.“9 [„Ich benutze die tiefste Dialektik, die von Hegel; denn mein bedauernswertes Schicksal ist solcherart, dass ich, um über die unbezähmbarsten Widerstände zu triumphieren, die dem gesunden Menschenverstand am meisten entgegengestellten Vorgehensweisen nutzen muss“*].
Ein Hinweis auf die marxsche „Infizierung“ Proudhons mit dem Hegelianismus? Man beachte allerdings, dass Proudhon schon viel früher auf Hegel zurückgreift; so findet man bereits in der ersten Denkschrift über das Eigentum von 1840 die „formule hégelienne“ von These – Antithese – Synthese (Kommunismus – Eigentum – Assoziation)10. In der Création de l’ordre dans l’humanité von 1843 widmen sich die § 210 und 211 der Hegelschen Dialektik. Proudhon kritisiert dort ausdrücklich den trinitären Charakter dieser Dialektik, und wirft Hegel vor, alle Erscheinungen der Natur in eine willkürlich bestimmte partikulare Serie pressen zu wollen11. 9 Ebd., S. 158. 10 „Pour rendre tout cela par une formule hégelienne, je dirai: La communauté, premier mode, première détermination de la sociabilité, est le premier terme du développement social, la thèse ; la propriété, expression contradictoire de la communauté, fait le second terme, l’antithèse. Reste à découvrir le troisième terme, la synthèse, et nous aurons la solution demandée. Or, cette synthèse résulte nécessairement de la correction de la thèse par l’antithèse ; donc il faut, par un dernier examen de leurs caractères, en éliminer ce qu’elles renferment d’hostilité à la sociabilité ; les deux restes formeront, en se réunissant, le véritable mode d’association humanitaire.“ [„Um dies alles durch eine hegelsche Formel auszudrücken, würde ich sagen : Die Gemeinschaft, erster Modus, erste Bestimmtheit der Gesellschaftlichkeit, ist der erste Begriff der sozialen Entwicklung, die These; das Eigentum, als Widerspruch zur Gemeinschaft, bildet den zweiten Begriff, die Antithese. Bleibt also noch die Suche nach dem dritten Begriff, der Synthese, um die gewünschte Lösung zu finden. Jedoch resultiert diese Synthese notwendigerweise aus der Korrektur der These durch die Antithese; man muss also, durch eine letzte Prüfung ihrer Eigenschaften, alles daraus löschen was im Widerspruch zur Gesellschaftlichkeit steht; die beiden Überbleibsel werden, durch ihre Verbindung, den wirklichen menschlichen Assoziationsmodus bilden.“*]; Pierre Joseph Proudhon, Œuvres complètes, Bd. IV, Genf, 1982, S. 324-325. 11 „Le système de Hegel a remis en vogue le dogme de la Trinité : panthéistes, idéalistes, matérialistes, sont devenus trinitaires (…). Nous verrons (…) que la nature quand on l’embrasse dans son ensemble se prête aussi bien à une qualification quaternaire qu’à une classification ternaire ; qu’elle se prêterait probablement à beaucoup d’autres, si notre intuition était plus compréhensive ; par conséquent, que la création évolutive de Hegel se réduit à la description d’un point de vue choisi entre mille ; (…). Au reste, le système de Hegel a valu à son auteur de graves reproches : on s’est plaint que sa série n’était bien souvent qu’un artifice de langage, en désaccord avec les faits ; que l’opposition entre le 1er et le 2e terme n’était pas toujours suffisamment marquée, et que le 3e ne les synthétisait pas. Ces critiques n’ont rien qui nous surprenne : Hegel, anticipant sur les faits au lieu de les attendre, forçait ses formules, et oubliait que ce qui peut être une loi d’ensemble ne suffit plus pour rendre raison des détails. Hegel, en un mot, s’était emprisonné dans une série particulière, et prétendait par elle expliquer la nature, aussi variée dans ses séries que dans ses éléments.“ [„Durch Hegels System ist das Dogma der Dreifaltigkeit wieder im Kommen: Pantheisten, Idealisten, Materialisten sind Trinitarier geworden (…). Wir werden sehen (…), dass die Natur, wenn man sie in ihrer Gesamtheit betrachtet, sich genauso gut für eine viergliedrige Beschreibung denn für eine dreigliedrige Klassifizierung eignet; dass sie sich wahrscheinlich für viele weitere eignen würde, wäre unsere Intuition begriffsfähiger; dass folglich die evolutive Schöpfung Hegels sich auf einen unter tausend möglichen Blickwinkel beschränkt; (…). Ansonsten hat Hegels System seinem Autor
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Proudhon kennt jedoch, mangels französischer Übersetzungen, zum Zeitpunkt seiner Debatten mit Marx keine Hegeltexte aus erster Hand. Seine Hegelkenntnisse verdankt er wohl in erster Linie der Lektüre von Baron Barchou de Penhoëns deutscher Philosophiegeschichte12, sowie den Vorlesungen Victor Cousins an der Sorbonne (weitere Kenntnisse des Hegelschen Werkes erlangt Proudhon später, in den Jahren 1846-1849, durch die Lektüre von Willms monumentaler Histoire de la philosophie allemande in vier Bänden)13. Dass Marx Proudhon in Sachen Hegel eingeführt habe, ist folglich falsch. Allerdings steht außer Zweifel, dass Proudhon während seiner Kontakte mit Marx ein erneuertes Interesse an Hegel bekundet. So schreibt er am 19. Januar 1845 an Bergmann in Straßburg: „Je ne puis encore juger de la parenté qu’il y a entre ma métaphysique [gemeint ist die in der Création de l’ordre dans l’humanité dargelegte dialectique sérielle, der Versuch einer Verknüpfung von kantischen Antinomien und Fouriers seriellem Gesetz] et la logique de Hegel, par exemple, puisque je n’ai jamais lu Hegel ; mais je suis persuadé que c’est sa logique que je vais employer dans mon prochain ouvrage ; or cette logique n’est qu’un cas particulier, ou si tu veux, le cas le plus simple [sic !] de la mienne.“14 [„Ich kann, zum Beispiel, noch kein Urteil über die Verwandtschaft meiner Metaphysik und der Logik Hegels fällen, da ich Hegel nie gelesen habe; ich bin jedoch überzeugt, dass ich seine Logik in meinem nächsten Werk verwenden werde; jedoch ist diese Logik nur ein spezieller Fall, oder, wenn man so will, der einfachste meiner eigenen.“*]
Von diesem kommenden Werk (Système des contradictions économiques, ou Philosophie de la misère) berichtet Proudhon bereits in einem früheren Brief, datiert auf den 24. Oktober 1844, an Bergmann; er befürchtet dort, dass dieses eher die deutschen als die französischen Leser ansprechen wird15. Im gleichen Brief findet man ansonsten recht erstaunliche Aussagen von Proudhon, der die von ihm später zur
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schwere Vorwürfe eingebracht: man hat sich beschwert, dass seine Serie häufig nur ein sprachlicher Kunstgriff sei, der den Tatsachen widerspräche; dass die Gegenüberstellung des ersten und des zweiten Begriffs nicht immer genügend ausgeprägt wäre, und dass der dritte sie nicht synthetisieren würde. Diese Kritiken enthalten nichts, das uns überraschen könnte: Hegel, die Tatsachen antizipierend statt sie abzuwarten, forcierte seine Formeln, und vergaß dass ein allgemeines Gesetz nicht ausreicht, um die Gründe hinter den Einzelheiten wiederzugeben. Kurz, Hegel hatte sich in einer besonderen Serie eingeschlossen und gab vor durch sie die Natur erklären zu können, die so verschieden in ihren Serien ist, wie in ihren Elementen.“*]; Pierre Joseph Proudhon, Œuvres complètes, Bd. V, S. 162-163. Barchou de Penhoën, Auguste Théodore Hilaire, Histoire de la philosophie allemande depuis Leibnitz jusqu’à Hegel, 2 Bde., Paris, 1836. Vgl. Pierre Haubtmann, Pierre-Joseph Proudhon, S. 174-175. Pierre Joseph Proudhon, Correspondance, II, S. 176. Auch Marx schreibt in der Deutschen Ideologie von der Verwandtschaft zwischen Hegelscher und serieller Dialektik: „Das Wichtigste in Proudhons Buch ‚De la création de l’ordre dans l’humanité‘ ist seine dialectique sérielle, der Versuch eine Methode des Denkens zu geben, wodurch an die Stelle der selbständigen Gedanken der Denkprozeß tritt. Proudhon sucht vom französischen Standpunkte aus nach einer Dialektik, wie Hegel sie wirklich gegeben hat. Die Verwandtschaft mit Hegel ist hier also realiter vorhanden (…)“; MEW 3, S. 519. Vergleiche Pierre Haubtmann, Pierre-Joseph Proudhon, S. 451.
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Gottheit erhobene Gerechtigkeit hier gänzlich aus dem Blickwinkel seiner Analyse der ökonomischen Widersprüche eliminieren möchte. Statt moralisch-subjektiven Standpunkten soll das Studium der sozialen Verhältnisse vielmehr objektive Gesetze enthüllen: „Il faut abandonner le point de départ subjectif, adopté jusqu’ici par les philosophes et les législateurs, et chercher hors de la conception vague du ‚juste‘ et du ‚bien‘, les lois qui peuvent servir à la déterminer, et qui doivent nous être données objectivement dans l’étude des rapports sociaux créés par les faits économiques.“16 [„Wir müssen den subjektiven Ausgangspunkt, wie er bisher von Philosophen und Gesetzgebern gewählt wurde, aufgeben, und außerhalb der vagen Vorstellung des ‚Gerechten‘ und des ‚Guten‘ die Gesetze suchen, die dazu dienen, sie zu bestimmen und die uns objektiv durch das Studium der durch die ökonomischen Zustände geschaffenen sozialen Verhältnisse gegeben werden.“*]
Haubtmann spürt in diesen Zeilen den direkten Nachweis eines unmittelbaren Einflusses der Debatten mit Marx17. Noch deutlicher bezüglich seiner Pläne wird Proudhon am 19. Januar 1845; er habe bereits 400 Seiten einer allgemeinen Kritik der politischen Ökonomie unter dem Blickwinkel der sozialen Antinomien („critique générale de l’économie politique au point de vue des antinomies sociales“) geschrieben. Hierzu wende er, wie gesehen, die hegelsche Methode auf die Darstellung der Kategorien der Nationalökonomie an. Karl Grün bezeichnet dieses Vorhaben später, in der Einleitung zu seiner Übersetzung des Système des contradictions économiques, als das „Schreiben [einer] Phänomenologie des Werthes“18. Entwickeln Proudhon und Marx etwa gemeinsam während der „langen, übernächtigen“ Debatten im Winter 1844/45 das Grundkonstrukt sowohl des marxschen Kapitals als der proudhonschen Philosophie des Elends, der Weiterentwicklung der Kritik der politischen Ökonomie, die Engels in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern in Umrissen begonnen hatte19? In der Heiligen Familie würdigt Marx Proudhon, der bereits 1840 vorgab, einen „wissenschaftlichen Sozialismus“20 zu vertreten, denn auch als eigentlichen Begrün16 Pierre Joseph Proudhon, Correspondance, II, S. 166. 17 Pierre Haubtmann, Pierre-Joseph Proudhon, S. 450-451; ebenso Hans Pelger im Kommentar zu Karl Marx, Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons „Philosophie des Elends“, Berlin, Bonn, 1979 (Internationale Bibliothek, 12), S. XLIV. Man beachte jedoch auch, dass sich ähnliche Aussagen bei Marx erst über ein Jahr später, im Feuerbach-Kapitel der Deutschen Ideologie finden (siehe insbesondere MEW 3, S. 26-27). Spiegelt sich etwa in diesem Brief Proudhons bereits der „Bruch mit dem theoretischen Feld der politischen Ökonomie“ wieder, den Michael Heinrich im 4. Kapitel seiner Wissenschaft vom Wert erörtert (Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition, 4. korr. Auflage, Münster, 2006, S. 121-157)? 18 Karl Grün, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, II, Berlin, 2005, S. 522 19 Es sei darauf hingewiesen, dass im Nachlass Proudhons eine privatim von Grün und Ewerbeck angefertigte Übersetzung der Engelschen Umrisse erhalten ist; vgl. Pierre Haubtmann, Pierre-Joseph Proudhon, S. 525. 20 Pierre Joseph Proudhon, Œuvres complètes, Bd. IV, S. 339. Es soll in diesem Kontext jedoch nicht vergessen werden, dass bereits Fourier sich darauf behauptete, rein wissenschaftlich vorzugehen, und sich die fourieristische Schule dementsprechend gegen den Utopismus der saint-simonisti-
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der der Kritik der politischen Ökonomie, der jedoch zugleich noch in den Voraussetzungen, in den Kategorien der politischen Ökonomie befangen sei: „Wie die erste Kritik jeder Wissenschaft notwendig in Voraussetzungen, die sie bekämpft, befangen ist, so ist Proudhons Werk ‚Qu’est-ce que la propriété?‘ die Kritik der Nationalökonomie vom Standpunkt der Nationalökonomie aus. (…) Das Proudhonsche Werk wird also wissenschaftlich überschritten durch die Kritik der Nationalökonomie, auch der Nationalökonomie, wie sie in der Proudhonschen Fassung erscheint. Diese Arbeit ist erst durch Proudhon selbst möglich geworden (…). Proudhon (…) unterwirft die Basis der Nationalökonomie, das Privateigentum, einer kritischen Prüfung, und zwar der ersten entschiednen, rücksichtslosen und zugleich wissenschaftlichen Prüfung. Dies ist der große wissenschaftliche Fortschritt, den er gemacht hat, ein Fortschritt der die Nationalökonomie revolutioniert und eine wirkliche Wissenschaft der Nationalökonomie erst möglich macht. Proudhons Schrift ‚Qu’est-ce que la propriété?‘ hat dieselbe Bedeutung für die moderne Nationalökonomie, welche Sièyes’ Schrift ‚Qu’est-ce que le tiers état?‘ für die moderne Politik hat. Wenn Proudhon die weiteren Gestaltungen des Privateigentums, z.B. Arbeitslohn, Handel, Wert, Preis, Geld etc., nicht, wie es z.B. in den ‚Deutsch-Französischen Jahrbüchern‘ geschehen ist (siehe die ‚Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie‘ von F.Engels), selbst als Gestaltungen des Privateigentums fasst, sondern mit diesen nationalökonomischen Voraussetzungen die Nationalökonomen bestreitet, so entspricht dies ganz seinem oben bezeichneten, historisch gerechtfertigten Standpunkt.“21
Dass Proudhon noch nicht bis zur letzten Konsequenz, das heißt die Aufhebung jeglichen Eigentums, statt der bloßen „Vorstellung ‚gleichen Besitzes‘“22, fortschreite, so liege das an seinem „Unglück als Franzose und nicht als Deutscher geboren zu sein“23. Als schreibender „Proletarier“24 machte Proudhon, laut Marx, „zuerst darauf aufmerksam, dass die Summe der Saläre der einzelnen Arbeiter, selbst wenn jede individuelle Arbeit vollständig bezahlt würde, nicht die Kollektivkraft zahlt, welche sich in ihrem Produkt vergegenständigt, dass also der Arbeiter nicht als ein Teil der gemeinschaftlichen Arbeitskraft bezahlt wird.“25
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schen Schule wandte; Fouriers Vorgehensweise wurde wiederum von Proudhon als unwissenschaftlich kritisiert (vgl. Edward Castleton, „Pierre-Joseph Proudhon, critique des idées fouriéristes. Quelques observations préliminaires sur l’apport de ses manuscrits inédits“, in: Archives Proudhoniennes, XIV, Paris, 2008, S. 7-51), usw. usf. Man kann sich fragen, inwieweit die strikte Trennung zwischen „wissenschaftlichem“ und „utopischem“ Sozialismus, wie sie von Friedrich Engels nachhaltig geprägt wurde, methodologisch überhaupt Sinn macht; vgl. zu dieser Problematik auch den 2009 erscheinenden Tagungsband der Société Proudhon zur Tagung „Passages utopistes, traces et problématiques“, die am 6. Dezember 2008 in Paris stattfand. Friedrich Engels, Karl Marx, Die Heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten, MEW 2, S. 32-33. Ebd., S. 44. Ebd., S. 35. „Proudhon schreibt nicht nur im Interesse der Proletarier; er selbst ist Proletarier, Ouvrier. Sein Werk ist ein wissenschaftliches Manifest des französischen Proletariats und hat daher eine ganz andre historische Bedeutung als das literarische Machwerk irgendeines kritischen Kritikers.“; ebd., S. 43. Ebd., S. 55. Vergleiche folgende Stelle aus Qu’est-ce que la propriété ? (1840): „Une force de mille hommes agissant pendant vingt jours a été payée comme la force d’un seul le serait pendant cin-
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Pierre Haubtmann hat hieraus die These entwickelt, dass Marx die in der Heiligen Familie vorgenommene Zweiteilung Proudhons in den kritischen Proudhon Edgar Bauers, für den Proudhon laut Marx „durch das Absolute in der Geschichte, den Glauben an die Gerechtigkeit, zu einem theologischen Gegenstand geworden“26 ist, und den „wirklichen“ Proudhon, d.h. den Proletarier, der die Aneignung des sozial geschaffenen Mehrwerts durch den Kapitalisten als Diebstahl entlarvt, auch nach seinem endgültigen Bruch mit Proudhon beibehält: Der von Marx kritisierte Proudhon ist der Moralist, der Idealist, der mit „ewigen Prinzipien“ und „Kategorien“ operiert; den „Proletarier“ hingegen habe Marx gleichsam verinnerlicht, so dass er nicht mehr unter dem Namen „Proudhon“ in Erscheinung tritt27. Dass insbesondere Marx’ Mehrwerttheorie Proudhon viel verdankt, ohne dass Marx sich dabei explizit auf Proudhon bezieht, ist eine These, die in der ProudhonForschung einige Verteidiger hat. Am weitesten geht hierbei der 2008 verstorbene frühere Direktor des Institut Universitaire de Technologie Paris-Saint Denis, Jean Bancal, für den Marx’ Kapital wesentlich ein Plagiat Proudhons ist28, eine These die allerdings auch bereits von Leroy-Beaulieu im 19. Jahrhundert29 oder von Er-
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quante-cinq années ; mais cette force de mille a fait en vingt jours ce que la force d’un seul, répétant son effort pendant un million de siècles, n’accomplirait pas : le marché est-il équitable ? Encore une fois, non : lorsque vous avez payé toutes les forces individuelles, vous n’avez pas payé la force collective ; par conséquent, il reste toujours un droit de propriété collective que vous n’avez point acquis, et dont vous jouissez injustement.“ [Eine Kraft von tausend Leuten, die während zwanzig Tagen tätig ist, wird bezahlt wie die Kraft eines Einzigen, der während fünfundfünfzig Jahren arbeitet: jedoch schafft diese Kraft von tausend in zwanzig Tagen etwas, das der Einzelne, auch wenn er seine Handlung während einer Million Jahren wiederholen würde, nicht vollbringen kann: ist das ein gerechter Handel? Noch einmal, nein: auch wenn Sie alle individuellen Kräfte bezahlen, bezahlen sie nicht die gemeinschaftliche Kraft; folglich bleibt immer ein gemeinschaftliches Recht auf das Eigentum, das Sie nicht erworben haben, und das Sie ungerechterweise genießen.“*]; in: Pierre Joseph Proudhon, Œuvres complètes, Bd. IV, S. 217. Proudhon leitet also hier aus dem Unterschied zwischen der addierten individuellen Arbeitskraft und der gemeinsam angewandten Arbeitskraft einen Anrecht der Arbeiter auf den durch die kollektive Anstrengung (die „force collective“) geschaffenen Mehrwert. Vergleiche hierzu die analoge Entwicklung von Marx im ersten Band des Kapitals, Kapitel 11 über die Kooperation (MEW 23, S. 341-355). Friedrich Engels, Karl Marx, Die Heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, MEW 2, S. 43; vgl. Edgar Bauer, „Proudhon“, in: Allgemeine Literatur-Zeitung, vol. I, 5, April 1844, S. 40 Es ist überaus erstaunlich, dass Bauer bereits 1844 eine Vergöttlichung, eine Gottwerdung der Gerechtigkeit bei Proudhon erblickt; explizit findet man eine solche beim französischen Sozialisten erst 1858 in De la Justice dans la Révolution et dans l’église. Pierre Haubtmann, Pierre-Joseph Proudhon, S. 475-485. „(…) la théorie proudhonienne inspira fortement Karl Marx qui lui empruntera textuellement la plupart de ses éléments (…)“ [„die Proudhonsche Theorie hat Karl Marx stark beeinflusst, der ihr wortwörtlich die Mehrzahl seiner Bauteile entlieh“]; Jean Bancal, Proudhon. Pluralisme et autogestion, I, Paris, 1970, S. 41. Ausführlich entwickelt hat Bancal diese These 1951 in seiner unveröffentlichten Doktorarbeit Proudhon: vers une propriété-fonction, Kapitel „Influence des mémoires proudhoniens sur les principales thèses marxistes“ [„Einfluss der Proudhonschen Denkschriften auf die wesentlichen marxistischen Thesen“]. Paul Leroy-Beaulieu schreibt über die marxsche Mehrwerttheorie 1884 in Le collectivisme: „Karl Marx, sur ce point, n’a rien inventé. Il a simplement paraphrasé en un grand nombre de pages une idée de Proudhon. On peut le considérer, pour cette partie de sa doctrine, comme un plagiaire du célèbre controversiste français.“ [Karl Marx hat hierzu nichts erfunden. Er hat lediglich auf vielen
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nest Seillière im frühen 20. Jahrhundert30 aufgestellt worden war. Differenzierter hat 1993 Thierry Menuelle diesen Faden weitergesponnen, und Marx’ Proudhonlektüre genauer untersucht31. Selbst für Johannes Hilmer, der in erster Linie aus der Auseinandersetzung Proudhon gegen Marx einen historischen Trennstrich zwischen „libertären“ und „etatistischen“ Sozialismus ziehen will, ist die Verarbeitung von Proudhons Qu’est-ce que la propriété „ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie“32 33. Derselbe Hilmer, dessen Doktorarbeit nicht wenige Schwächen aufweist34, hat wohl die bisher gründlichste Analyse der marxschen Proudhon-Kritik im Elend der
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Seiten eine Idee von Proudhon umschrieben. Für diesen Teil seiner Lehre kann man ihn als Plagiator des berühmten französischen Kontroversialisten ansehen.“*]; zitiert nach Thierry Menuelle, Marx, lecteur de Proudhon, Paris, 1993, S. 232. Für Seillière ist „das ganze Kapital von Marx (…) nur eine mathematische Entwicklung [des] Axioms“ Eigentum ist Diebstahl; Ernest Seillière, Der demokratische Imperialismus. Rousseau – Proudhon – Karl Marx, Berlin, 1911 (Die Philosophie des Imperialismus, 2), 2. Auflage, S. 195. Thierry Menuelle, Marx, lecteur de Proudhon. Johannes Hilmer, Philosophie de la misère oder Misère de la philosophie ? Die marxsche Polemik im Kampf um die Führung der internationalen Arbeiterbewegung als Beginn der weltpolitischen Durchsetzung des etatistischen Sozialismus, Frankfurt a. M., 1997, S. 31. Ähnlich wie bei Haubtmann et al. ist es auch bei Hilmer insbesondere der Begriff der „force collective“, der einen wesentlichen Einfluß auf Marx’ Mehrwerttheorie ausgeübt habe; das „droit d’aubaine“ („Heimfallrecht“) als Oberbegriff für „alle Formen der Aneignung unbezahlter Arbeit bzw. der Bereicherung ohne eigene Arbeit“ (ebd., S. 31); schließlich die aus dem kooperativ-kollektiven Charakter der Veräußerung der Arbeitskraft abgeleitete Sozialisierung des Ertrags der Arbeit. Von marxistischer bzw. marxologischer Seite aus ist vergleichsweise selten auf den Einfluß Proudhons auf Marx eingegangen worden; zu nennende Ausnahmen sind Maximilien Rubel, für den Marx auf der Grundlage von Proudhons Qu’est-ce que la propriété die von Proudhon (bzw. vom „kritischen Proudhon“) vertretenen „bürgerlichen Moralvorstellungen“ durch eine „proletarische Ethik“ überwindet (vgl. Maximilien Rubel, Marx critique du marxisme, Paris, 2000, S. 87), sowie Hans Pelger, im Kommentar zur Neuausgabe des Elends der Philosophie. Pelger beklagt insbesondere dass die Thesen der „Proudhon-Forschung“ zum Einfluss Proudhons auf Marx von Seiten der „Marx/Engels-Forschung“ nicht beachtet würden, und durch die unkritische Beschäftigung mit der Heiligen Familie noch gestützt würden: „Dass Proudhon seinerseits auf Marx einen viel größeren Einfluss ausgeübt hat, sucht die Proudhon-Forschung, die vor allem von der deutschsprachigen Marx/Engels-Forschung selten oder nur sporadisch zur Kenntnis genommen worden ist, mit den einschlägigen Aussagen in der zur Zeit der ‚langen, oft übernächtigten Debatten‘ von Marx redigierten Heiligen Familie zu beweisen. Dabei wird sie durch jene – marxistische oder nichtmarxistische – Marx/Engels-Forschung unbewusst unterstützt, die das Proudhon-Kapitel wegen der revolutionstheoretischen Äußerungen sowie wegen der kritischen Bemerkungen über die Nationalökonomie zu den wichtigsten Passagen der Heiligen Familie rechnen möchte und die weder die Vielschichtigkeit der Kritik der kritischen Kritik im allgemeinen noch die des Proudhon-Kapitels im besonderen zu analysieren versucht.“; in: Karl Marx, Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons „Philosophie des Elends“, Berlin, Bonn, 1979, S. XLIV. Neben sehr oberflächlichen, und, da er im weiteren Verlauf der Arbeit nicht darauf zurückkommt, eigentlich überflüssigen Darstellungen der „politisch-ökonomischen Situation in den 1840er Jahren in Deutschland und Frankreich“ sowie des „Sozialismusbegriffs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, würde ich an Hilmers Arbeit insbesondere kritisieren, dass er eine Auseinandersetzung zwischen zwei Parteien (libertärer vs. etatistischer Sozialismus) in die 1840er zurückprojiziert, als diese noch gar nicht in der von Hilmer dargestellten Form konstituiert waren; auch die Betonung einer zwangsläufigen Linie von Marx und Engels zu Lenin, Stalin, Mao Tse Tung, Enver Hoxha usw. ist exzessiv und lädt geradezu zu Anachronismen ein.
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Philosophie geliefert. Proudhon selber, der bereits in seinem Brief vom 17. Mai 1846 – in dem er Marx seine Reserven zur Mitarbeit in einem kommunistischen Korrespondenzclub mitteilte und der den endgültigen Bruch zwischen den beiden markierte – davon sprach, dass er die „férule“ (d.h. die Zuchtrute) von Marx für sein bald erscheinendes Système des contradictions économiques erwarte35, empfindet die Misère de la philosophie nach Erscheinen als „tissu de grossièretés, de calomnies, de falsifications, de plagiats“ [„ein Gewebe von Grobheiten, Verleumdungen, Verfälschungen, Plagiaten“*]36, und nicht als ausgearbeitete Kritik. In Proudhons Exemplar der Misère findet sich dementsprechend das folgende, vernichtende Urteil: „Le véritable sens de l’ouvrage de Marx, c’est qu’il a regret que partout j’aie pensé comme lui, et que je l’aie dit avant lui.“ [„Der eigentliche Sinn des Buches von Marx ist, dass er bedauert, dass ich zu Allem das Gleiche wie er gedacht habe und es vor ihm ausgesprochen habe.“]37
35 „Mon prochain ouvrage, qui en ce moment est à moitié de son impression, vous en dira davantage. Voilà, mon cher philosophe, où j’en suis pour le moment: sauf à me tromper, et s’il y a lieu, à recevoir la férule de votre main ; ce à quoi je me soumets de bonne grâce, en attendant ma revanche.“ [„Mein nächstes Buch, das im Augenblick zur Hälfte druckfertig ist, wird Ihnen hierzu mehr verraten. Da also, geehrter Philosoph, stehe ich im Augenblick: wenn ich mich nicht irre, und wenn es Anlass dazu gibt, durch Ihre Hand die Zuchtrute zu erfahren; dieser Behandlung setzte ich mich gerne aus, und warte meine Revanche ab.“*]; zitiert nach Pierre Haubtmann, Pierre-Joseph Proudhon, S. 627. Zum Briefwechsel Marx-Proudhon, dort zum historischen Ereignis hochstilisiert, siehe Lutz Roemheld, „Marx – Proudhon: Their Exchange of Letters in 1846. On an episode of world-historical importance“, in: Democracy & Nature. The International Journal of Inclusive Democracy, vol. VI, no.1, März 2000, Download: http://www.democracynature.org/vol6/roemheld_ proudhon.htm. 36 Pierre Joseph Proudhon, Correspondance, II, S. 268 (Brief an Guillaumin vom 19. September 1847). 37 Zitiert nach Pierre Haubtmann, Pierre-Joseph Proudhon, S. 1060. Vergleiche hierzu Daniel Halévy: „Quand [Proudhon] écrit: ‚Les pages qui précèdent sont une copie de moi‘, il exagère. (…) Il n’en est pas moins vrai que Proudhon, premier d’entre les socialistes, s’était mis à l’école des économistes et avait entrepris de donner une forme scientifique à ce qui n’avait jusqu’ alors été que rêverie et utopisme. Or, c’est ce que se proposait de faire le jeune Marx. Devancé, il devait en éprouver du mécontentement. Il y a plus. (…) Système des contradictions économiques : gageons qu’à ce seul titre, Marx bondit. Nul titre n’eut mieux convenu à l’œuvre qu’alors même il méditait. Le Capital, (…) c’est le vrai Système des contradictions économiques, pensé à fond par un homme de métier.“ [„Wenn [Proudhon] schreibt: ‚Die vorangegangenen Seiten sind bloß eine Kopie von mir‘, so übertreibt er. (…) Es ist nicht desto trotz wahr, dass Proudhon, als Erster unter den Sozialisten, bei den Ökonomen in die Schule gegangen ist und unternommen hat, etwas eine wissenschaftliche Form zu geben, das bis dahin nur Träumerei und Utopismus war. Das jedoch war genau das, was sich der junge Marx vorgenommen hatte. Dass ihm jemand zuvorgekommen war, musste ihm Verdruss bereiten. Mehr noch. (…) System der ökonomischen Widersprüche: was wetten wir, dass Marx schon beim Titel in die Luft ging. Kein anderer Titel hätte besser auf das Werk gepasst, das er gerade im Sinn hatte. Das Kapital (…) ist das wahre System der ökonomischen Widersprüche, gründlich durchdacht von einem Mann des Fachs.“*]; Daniel Halévy, Proudhon d’après ses carnets inédits (18431847), Paris, 1944, S. 49.
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Marx erscheint bei Proudhon letztlich bloß als Neider, der sich ärgert, dass Proudhon mit seiner Kritik der politischen Ökonomie eher fertig geworden ist38. Hilmer hat seinerseits die tatsächlichen Schwächen, Fehler und Unterstellungen bei Marx herausgearbeitet, die darauf zurückzuführen seien, dass Marx Proudhons Système nur sehr oberflächlich gelesen habe39; Marx hat im Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie die Schrift gegen Proudhon selber als bloß polemischen Umriss seiner Kritik bezeichnet40. Neben nach Bedürfnis aus dem Kontext gerissenen Zitaten Proudhons, oder sogar direkten Falschzitierungen41, scheinen uns die folgenden Missverständnisse besonders hervorhebenswert: – Aus Proudhons Gedankenexperiment eines Extremfalls, in welchem er die gegenseitige Abhängigkeit von Gebrauchs- und Tauschwert darstellen will, leitet Marx ab, dieser stelle, „einmal die Nachfrage beiseite gelassen, (…) den Tauschwert der Seltenheit und den Gebrauchswert dem Überfluss gleich“42.
38 In den Einträgen Proudhons im Dezember 1847 zu einem geplanten (aber unveröffentlichten) Artikel über „Die Juden“ (die mit zu den virulentesten antisemitischen Passagen bei Proudhon gehören) wird der „Neid“ bei Marx gar zu einem spezifisch jüdischen Wesenszug; siehe Pierre Haubtmann, Pierre-Joseph Proudhon, S. 739. Man könnte fast sagen: der Jude Marx erscheint bei Proudhon in gewisser Weise als Widergänger des eifersüchtigen Gottes der Torah. 39 Im Brief an Annenkow, der wesentliche Argumentationslinien der Misère vorwegnimmt, schreibt Marx: „Ich habe es [Proudhons Buch] in zwei Tagen durchflogen, um Ihnen sofort meine Meinung mitteilen zu können. Da ich das Buch sehr eilig gelesen habe, kann ich nicht auf Einzelheiten eingehen (…).“ (MEW 4, S. 547). 40 Johannes Hilmer, Philosophie de la misère oder Misère de la philosophie?, S. 78; vgl. Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW 13, S. 10: „Die entscheidenden Punkte unsrer Ansicht wurden zuerst wissenschaftlich, wenn auch nur polemisch, angedeutet in meiner 1847 herausgegebenen und gegen Proudhon gerichteten Schrift ‚Misère de la philosophie etc.‘“. 41 „Dès lors que le communiste change le nom des choses, vera rerum vocabula, il avoue implicitement son impuissance et se met hors de cause.“ (Pierre-Joseph Proudhon, Système des contradictions économiques ou Philosophie de la misère, 3. Auflage, Bd. I, Paris et al., 1867, S. 181) wird bei Marx übersetzt: „Sobald der Ökonom [ich unterstreiche] (lies Herr Proudhon) den Namen des Dinges, vera rerum vocabula, wechselt, gesteht er implizite seine Ohnmacht ein und streckt die Waffen.“ (MEW 4, S. 88). Aus dem Kommunisten (communiste) Proudhons wird bei Marx also ein „Ökonom“: Bewusste Umwandlung des Zitats oder freudscher Lapsus? 42 Karl Marx, MEW 4, S. 72; vgl. Johannes Hilmer, Philosophie de la misère oder Misère de la philosophie?, S. 84-85; die betreffende Stelle findet sich bei Pierre-Joseph Proudhon, Système des contradictions économiques ou Philosophie de la misère, Bd. I, S. 64. Hilmer gesteht Marx allerdings zu, zu Recht auf die Vernachlässigung der Nachfrage bei Proudhon hinzuweisen. Im Wesentlichen kann man sagen, dass Proudhon bei der Gegenüberstellung Angebot und Nachfrage auf dem Sayschen Theorem „Jedes Angebot schafft sich eine Nachfrage“ aufbaut, wie rezent Edward Castleton in einem Artikel im Monde Diplomatique unterstrichen hat („Proudhon, l’infréquentable“, in: Le Monde Diplomatique, Januar 2009): Das Saysche Theorem ist für Proudhon revolutionär aufzufassen: Das dort im Idealzustand herrschende Gleichgewicht würde durch die Privilegien der Eigentümer und des unproduktiven „kapitalistischen Parasitismus“ gestört; Proudhon folgert dementsprechend aus dem Nichtzustandekommen des Sayschen Gleichgewichts die Notwendigkeit eines Umsturzes der Eigentumsordnung; vergleiche Pierre Joseph Proudhon, Œuvres complètes, Bd. V, S. 314. Thierry Menuelle, Marx, lecteur de Proudhon, S. 187, legt des Weiteren dar, dass Proudhon stets, im Unterschied zu Marx, den Schwerpunkt auf den Gebrauchswert, und nicht auf den Tauschwert der Arbeitskraft legt – Proudhon kommt es in erster Linie darauf an, die Arbeit aufzuwerten, nicht sie in ihrer Funktion als Tauschobjekt, das heißt als Ware, darzulegen.
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– Marx behauptet, Proudhon würde zwischen Rente und Zins nicht unterscheiden43, obwohl Proudhon dies ausdrücklich tut.44 – Marx unterliegt häufig dem Fehler, den Entwurf eines zukünftigen, idealen Gesellschaftsmodells bei Proudhon als Beschreibung des Gegenwärtigen aufzufassen; umgekehrt kritisiert Marx Proudhons „revolutionäre Zukunftstheorie“ vom Boden der „Theorie der gegenwärtigen, der bürgerlichen Gesellschaft“ aus. Allerdings extrapoliert Proudhon gerade die Ergebnisse der „bürgerlichen“ Nationalökonomie in eine utopische Zukunft und wirft den Ökonomen vor, dass ihre Theorie zwar ein erstrebenswertes Ziel darstelle, jedoch die alltäglichen wirtschaftlichen Gegebenheiten in der Praxis der ökonomischen Theorie widersprechen, Krisen, Elend und Ausbeutung hervorrufen, anstelle eines harmonischen Gleichgewichts von Produktion und Konsum usw.45 – Analog hierzu wirft Marx Proudhon unter anderem vor, dass die Reihenfolge der Kategorien bzw. „Epochen“ in seinem System der ökonomischen Widersprüche (Arbeitsteilung – Maschinen – Konkurrenz – Monopol – Steuer – Handelsbilanz – Kredit – Eigentum – Gemeinschaft – Bevölkerung) in keinster Weise der realhistorischen Entwicklung dieser Kategorien entspräche. Proudhon kritzelt zu diesem Vorwurf in sein Exemplar des Elends der Philosophie: „On est bien forcé, puisque dans la société, tout est, quoi qu’on dise, contemporain (…). Dites-moi donc comment vous vous y prendrez pour parler tour à tour des objets
43 Johannes Hilmer, Philosophie de la misère oder Misère de la philosophie?, S. 165; vergleiche Karl Marx, MEW 4, S. 174. 44 „Die Rente, haben wir im sechsten Kapitel gesagt, hat die größte Verwandtschaft mit dem Zins. Doch unterscheidet sie sich darin wesentlich, dass der Zins sich nur auf die Kapitale bezieht, die aus der Arbeit entsprungen, und durch die Ersparnis zusammengebracht sind, während die Rente vom Boden erhoben wird, dem allgemeinen Arbeitsstoff, dem ursprünglichen substratum jeden Wertes.“ (zitiert nach Johannes Hilmer, Philosophie de la misère oder Misère de la philosophie?, S. 165). 45 Später wird Proudhon den „Libertären“, hier gemeint die radikalsten Vertreter der Sayschen Schule (Bastiat, Molinari…), ebenfalls vorwerfen, den theoretisch durchaus zustimmungswürdigen Entwurf einer freien Marktwirtschaft im klassisch-liberalen Sinne auf die Gegenwart zu projizieren, während sie doch nur eine weitere Utopie sei, die es, im Gegensatz zum Kommunismus, noch nicht einmal zum Ansatz einer praktischen Umsetzung gebracht habe: „(…) la théorie de la liberté, ou de l’égoïsme bien entendu, irréprochable dans l’hypothèse d’une science économique faite et de l’identité démontrée des intérêts, se réduit à une pétition de principe. Elle suppose réalisées des choses qui ne le peuvent être jamais ; des choses, dont la réalisation incessante, approximative, partielle, variable, constitue l’œuvre interminable du genre humain. Aussi, tandis que l’utopie communiste a encore ses praticiens, l’utopie des libertaires n’a pu recevoir le moindre commencement d’exécution“ [„(…) die Theorie der Freiheit, oder des wohlverstandenen Egoismus, unangreifbar als Hypothese (unter der Voraussetzung) einer verwirklichten ökonomischen Wissenschaft und der nachgewiesenen Identität der Interessen, beschränkt sich (in der Praxis) auf eine Prinzipienerklärung. Sie setzt Dinge als verwirklicht voraus, die nie verwirklicht werden können; Dinge, deren unaufhörliche, herantastende, begrenzte, wechselhafte Verwirklichung das nie beendete Werk der Menschheit bildet. Auch hat die Utopie der Libertären, während der Kommunismus noch seine praktizierenden Vertreter hat, nie den kleinsten Beginn einer Ausführung erfahren“]; zitiert nach Pierre Joseph Proudhon, Liberté, partout et toujours, Paris, 2009, S. 208-209.
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de l’Econ. pol.?“46 [„Man kann doch nicht anders, da in der Gesellschaft, entgegen der geläufigen Meinung, alles gleichzeitig stattfindet (…). Sagen Sie mir doch wie Sie es unternehmen würden, nacheinander über die verschiedenen Objekte der politischen Ökonomie zu sprechen?“]47. – Marx karikiert geradezu Proudhons Dialektik, nach der „jede ökonomische Kategorien zwei Seiten [habe], eine gute und eine schlechte“. Die Synthese beschränke sich bei Proudhon darauf die „gute Seite [zu] bewahren und die schlechte beseitigen“48. Nicht nur, dass Proudhon selber diese Vorgehensweise kritisiert49, zeigt sie ein fundamentales Missverständnis der Proudhonschen Antinomien; keineswegs geht es Proudhon darum, die „schlechte“ Seite abzuschaffen, vielmehr hält Proudhon den antinomischen Charakter der ökonomischen Kategorien, d.h. ihre wechselseitige Bedingtheit, für zwangsläufig. In letzter Instanz wird Proudhon kurz vor seinem Tod zum Schluss kommen, dass sich die Antinomien nicht aufheben – jedoch sind auch bereits im System der ökonomischen Widersprüche die Synthesen selten, abgesehen vom konstituierten Wert als Synthese von Gebrauchs- und Tauschwert, von dem Proudhon in seinen späteren Werken jedoch nie wieder spricht50. – Diese zumindest verkürzte Sicht der Proudhonschen Methode führt insbesondere bei der Frage des „Werts der Arbeit“ zu Missverständnissen. Marx wirft Proudhon vor, den „Wert der Arbeit“ mit der zur Herstellung einer Ware nötigen Arbeitszeit zu verwechseln; Proudhon würde aus der Voraussetzung (!) gleicher Löhne den Preis der Produkte (respektive den „relativen Wert der Waren“) ableiten. Für Marx ist 1847 der Lohn selber noch nichts anderes als der „Wert der Arbeit“51. Nun schreibt Proudhon vielmehr, dass es verfehlt sei vom „Wert der Arbeit“ zu sprechen, der Lohn sei im Gegenteil als Anweisung auf das Pro46 Marx wird später zustimmend antworten: „Es wäre (…) unthubar und falsch, die ökonomischen Categorien in der Folge aufeinander folgen zu lassen, in der sie historisch die bestimmenden waren. Vielmehr ist ihre Reihenfolge bestimmt, durch die Beziehung, die sie in der modernen bürgerlichen Gesellschaft auf einander haben“; MEGA², II.1, S. 42. Zur Problematik „logische“ vs. „historische“ Darstellung bei Marx, siehe stellvertretend Heinz Dieter Kittsteiner, „‚Logisch‘ und ‚historisch‘. Über Differenzen des Marxschen und Engelsschen Systems der Wissenschaft“, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 13, 1977, S. 1-47. 47 Zitiert nach Pierre Haubtmann, Pierre-Joseph Proudhon, S. 1059. 48 Karl Marx, MEW 4, S. 131. Proudhon schreibt hierzu an den Rand: „Calomnie effrontée“ [in etwa „freche Verleumdung“]; siehe Pierre Haubtmann, Pierre-Joseph Proudhon, S. 1060. 49 „Qu’est-ce à dire, que toutes ces maximes surannées: Chaque chose a ses avantages et ses inconvénients; – la sagesse est dans le milieu et fuit les extrêmes; – ne pas confondre l’usage et l’abus, et d’autres balivernes, qui à l’analyse se réduisent à des conceptions absurdes?“ [„Was sollen diese ganzen überholten Maximen: Jede Sache hat gute und schlechte Seiten; – die Weisheit ist in der Mitte und meidet die Extreme; – Gebrauch und Missbrauch nicht verwechseln, und andere Albernheiten, die sich bei näherer Betrachtung auf absurde Vorstellungen beschränken.“]; Brief an Tissot vom 16. Dezember 1846, zitiert nach Pierre Haubtmann, Pierre-Joseph Proudhon, S. 651. 50 Zur „Konstituierung der Werte“ siehe Frédéric Krier, Sozialismus für Kleinbürger, S. 29. 51 „Was ist der Lohn? Der Wert der Arbeit.“ (Karl Marx, MEW 4, S. 87) Hilmer glaubt, gerade die Beschäftigung mit Proudhon habe Marx dazu geführt, den „imaginären Ausdruck“ „Wert der Arbeit“ aufzugeben; Johannes Hilmer, Philosophie de la misère oder Misère de la philosophie?, S. 94-97.
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dukt der zu verausgabenden Arbeitskraft zu begreifen (die diesbezügliche Passage wird von Marx als Beleg für die Proudhonsche „Konfusion“ zitiert52). In diesem Sinne sei die Arbeit, die als solches „vage und unbestimmt“ bleibt (d.h. also auch: nicht messbar ist53), keine Ware. Weisen wir im Übrigen auch darauf hin, dass Proudhon kein Anhänger der ricardianischen Arbeitswertlehre ist54, wie Marx, der zu dieser Zeit sehr wohl auf diesem Boden operiert, ihm fälschlicherweise unterstellt. Vielmehr scheinen in Proudhons System der ökonomischen Widersprüche die Arbeitswertlehre und Ansätze einer „monetären“ Wertlehre55 fröhlich zu koexistieren. Jean Bancal hat darauf hingewiesen, dass Proudhon auch hier einen Unterschied zwischen ökonomischer Theorie und kapitalistischer Praxis darlegt: Zwar wäre in der Theorie die verausgabte Arbeitskraft bzw. die hierzu durchschnittlich nötige Arbeitszeit die beste Maßeinheit, um den Wert einer Ware objektiv festzulegen (zu „konstituieren“), jedoch zeige die Praxis, dass der Wert der Ware, d.h. ihr Marktpreis, in der Konkurrenz letztlich willkürlich, durch eine nicht enden wollende Zahl von äußeren Umständen (mangelnde technische Organisation der Warendistribution, Monopole, Modephänomene, Vorgabe falscher Tatsachen, Eingriffe „nicht produktiver“ Agenten…) gebildet würde.56
52 „Say und die Ökonomen, welche ihm folgen, haben bemerkt, dass, da die Arbeit selbst der Schätzung unterworfen, kurz, eine Ware wie jede andere ist, es ein fehlerhafter Kreislauf sei, sie als Prinzip und entscheidenden Faktor des Wertes zu nehmen. Diese Ökonomen haben damit, mit Verlaub zu sagen, eine ungeheuerliche Unachtsamkeit an den Tag gelegt. Man sagt von der Arbeit, dass sie einen Wert (valoir) hat, nicht sowohl als eigentliche Ware als im Hinblick auf die Werte, welche man in ihr potentiell enthalten annimmt. Der Wert der Arbeit ist ein figürlicher Ausdruck, eine Antizipierung der Ursache vor der Wirkung; er ist eine Fiktion von demselben Kaliber wie die Produktivität des Kapitals. Die Arbeit produziert, das Kapital hat Wert (vaut)… Durch eine Art Ellipse sagt man Wert der Arbeit… Die Arbeit wie die Freiheit… ist etwas seiner Natur nach Vages und Unbestimmtes, was jedoch gemäß seinem Objekt bestimmte Form annimmt, d.h. welches durch das Produkt Realität wird.“ (Karl Marx, MEW 4, S. 87-88); im Originalkontext: Pierre-Joseph Proudhon, Système des contradictions économiques ou Philosophie de la misère, Bd. I, S. 81. 53 Proudhons Volksbank folgt dieser Logik insofern, dass das von ihr emittierte Geld, die „bons de circulation“ [„Zirkulationsscheine“], eine Anweisung auf zu erbringende Gegenleistungen ist, folglich durch die Produkte der zu leistenden Arbeit gedeckt sein soll. Es handelt sich hierbei keineswegs um Stundenzettel, wie bisweilen in der marxistischen Literatur behauptet wird, vermutlich auf Grund einer Stelle in den Grundrissen, wo Marx im Rahmen einer Kritik an Darimon und Proudhon auf Stundenzettel als Geldware eingeht; vergleiche Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf) 1857-1859, Berlin, 1953, S. 55. Stundenzettel kommen bei Proudhon nie vor, während Karl Marx sie für die erste Phase der kommunistischen Gesellschaft durchaus vorsieht; siehe Kritik des Gothaer Programms, Peking, 1971, S. 14. 54 Alain Béraud zeigt angesichts der Lesehefte Proudhons, dass dieser weit mehr von Adam Smith geprägt war, und die Lektüre von Ricardos Principles bereits nach dem ersten Kapitel abbrach; „Proudhon et Smith“, ungedruckter Vortrag auf der Tagung Proudhon, lecteur des économistes, 7. und 8. Juni 2008. 55 Siehe zum Beispiel die folgende Formulierung: „Der Wert… ist eine Formel, die in Münzbuchstaben das Verhältnis dieses Produkts zum allgemeinen Reichtum anzeigt.“ (zitiert nach Johannes Hilmer, Philosophie de la misère oder Misère de la philosophie?, S. 86). 56 Jean Bancal, Proudhon. Pluralisme et autogestion, I, S. 41-42.
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Letztlich drücken diese Missverständnisse eine tiefe Divergenz bezüglich der zu wählenden Vorgehensweise in der Kritik der politischen Ökonomie selber aus: Während Proudhon den Schriften der Ökonomen die real existierende Marktwirtschaft im Kapitalismus entgegenhält, um aus diesem Antagonismus heraus Ansatzpunkte zu entwickeln, auf deren Grundlage man die neue Gesellschaft, das Reich der Gerechtigkeit, aufbauen kann (ein im Wesentlichen evolutionärer Ansatz), will Marx die kategorialen Voraussetzungen der ökonomischen Wissenschaft selbst in Frage stellen (d.h. in letzter Instanz aufheben, um nicht zu sagen vernichten), indem er ihr System kritisch darstellt57, und die bürgerlichen Verhältnisse in ihrer ganzen Unmenschlichkeit enthüllen. Der epistemologische Bruch mit den Kategorien der bürgerlichen Ökonomen, die bei Marx als bloßer Schein der wirklichen Verhältnisse aufgefasst werden, soll dabei die theoretische Grundlage für die praktische Überwindung der Verhältnisse selber bilden. Was jedoch bleibt vom Projekt der „Phänomenologie des Wertes“, den Begriffen der ökonomischen Wissenschaft mittels der hegelschen Dialektik zu Leibe gehen? Marx macht Proudhon 1847 noch zum Vorwurf, dass er „von der Hegelschen Dialektik nur die Redeweise“58 kenne; jedoch kann man sich mit Michael Heinrich fragen, ob auch für Marx „mehr als ein ‚Kokettieren‘ mit der Hegelschen Ausdrucksweise“59 überhaupt möglich war. Marx selber wird später zu einem analogen Vorhaben Lassalles an Engels schreiben: „Er wird zu seinem Schaden kennenlernen, dass es ein ganz andres Ding ist, durch Kritik eine Wissenschaft erst auf den Punkt zu bringen, um sie dialektisch darstellen zu können, oder ein abstraktes, fertiges System der Logik auf Ahnungen eben eines solchen Systems anzuwenden.“60
Proudhon wird seinerseits unumwunden zugeben, dass sein System des ökonomischen Widersprüche gescheitert ist, dies gerade auf Grund des Rückgriffs auf die hegelsche Terminologie: „A propos du Système des Contradictions économiques, je dirai que si cet ouvrage laisse, au point de vue de la méthode, quelque chose à désirer, la cause en est à l’idée que je m’étais faite, d’après Hegel, de l’antinomie, que je supposais devoir se résoudre en un terme supérieur, la synthèse, distincte des deux premiers, la thèse et l’antithèse : erreur de logique autant que d’expérience dont je suis aujourd’hui revenu. L’ANTINOMIE NE SE RÉSOUT PAS : là est le vice fondamental de toute la philosophie hégélienne.“ [„Zum System der ökonomischen Widersprüche würde ich sagen, dass der Grund, weshalb das Buch unter dem Gesichtspunkt der Methode einiges zu wünschen übrig lässt, in der Vorstellung zu suchen ist, die ich mir nach Hegel von der 57 Hier ist natürlich der Verweis auf den bekannten Brief an Lassalle angebracht: „Die Arbeit, um die es sich zunächst handelt, ist Kritik der ökonomischen Kategorien oder, if you like, das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt. Es ist zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben.“ (MEW 29, S. 550). 58 Karl Marx, MEW 4, S. 132. 59 Michael Heinrich, Die Wissenschaft vom Wert, S. 170. 60 Karl Marx, MEW 29, S. 275.
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Antinomie gemacht hatte ; dass ich mir vorstellte, die These und die Antithese in einem dritten, von den ersten beiden unterschiedenen Begriff – der Synthese – auflösen zu können: ein logischer und empirischer Fehler, von dem ich seitdem abgekommen bin. DIE ANTINOMIE LÖST SICH NICHT AUF: hier liegt der grundsätzliche Fehler der ganzen hegelschen Philosophie.“] – „Je me suis aperçu depuis que les termes antinomiques ne se résolvent pas plus que les pôles opposés d‘une pile électrique ne se détruisent ; qu‘ils ne sont pas seulement indestructibles ; qu‘ils sont la cause génératrice du mouvement, de la vie, du progrès ; que le problème consiste à trouver, non leur fusion, qui serait la mort, mais leur équilibre, équilibre sans cesse instable, variable selon le développement même des sociétés.“ [„Ich habe seither festgestellt, dass sich die antinomischen Begriffe genauso wenig auflösen, wie sich die entgegengesetzten Pole einer elektrischen Batterie gegenseitig vernichten; dass sie nicht nur unzerstörbar sind; dass sie die Ursache für die Schaffung von Bewegung, Leben, Fortschritt sind; dass das Problem nicht darin besteht, ihre Verschmelzung herbei zu führen, was zum Tod führen würde, sondern ihr Gleichgewicht, ein beständig instabiles Gleichgewicht, wechselhaft wie die Entwicklung der Völker selber.“]61
(*Übersetzung des Autors)
61 Pierre Joseph Proudhon, Théorie de la propriété. Suivi d’un nouveau plan d’exposition perpétuelle, Paris, 1926, S. 52.
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„Tout ce qu’on aurait pu être ici-bas“ Die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses bei Marx und Blanqui
Das Verhältnis von Karl Marx und Auguste Blanqui mag nicht besonders freundschaftlich gewesen sein, es war aber doch von kritischer Solidarität gekennzeichnet. Die späteren Diskussionen zwischen den Anhängern Marxens und Blanquis waren, insbesondere auf Seiten der ‚Staatsmarxisten‘ und Sozialdemokraten, schon viel weniger wohlwollend. Die Debatten verliefen hier vorwiegend entlang der Alternativen ‚proletarische Massenrevolution‘ vs. ‚Aufstand einer bewaffneten Avantgarde‘; sie entzündeten sich dazu an Blanquis mangelhaftem Ökonomieverständnis. Blanqui war mit seinem Aktivismus beispielsweise Karl Kautsky völlig suspekt, musste man doch gemäß der sozialdemokratischen Doktrin geduldig auf das Eintreten der Revolution warten, bzw. wurde die Revolution teils gar zur Evolution gekürzt; in Wege zur Macht meint Kautsky entsprechend: „In ihrem Hinweis auf die Notwendigkeit der Eroberung der politischen Macht begegneten sich Marx und Engels mit Blanqui. Aber während dieser glaubte, die Staatsgewalt durch eine Verschwörung, durch einen Putsch einer kleinen Minderheit erobern und den proletarischen Interessen dienstbar machen zu können, erkannten Marx und Engels, daß Revolutionen nicht nach Belieben gemacht werden können, sondern daß sie unter gegebenen Umständen mit Notwendigkeit entstehen und unmöglich bleiben, solange diese Umstände nicht vorhanden sind, die sich nur allmählich bilden.“1 Der vorliegende Beitrag will nun diese Debatten nicht neu aufrollen, sondern vielmehr einen kleinen Spagat vornehmen, um eine Korrespondenz zwischen Marx und Blanqui entlang des Motivs der Wiederkehr bzw. der Wiederholung zu eröffnen. Wir wenden uns zu diesem Zwecke zunächst einem wenig rezipierten Werk zu: Blanquis 1872 erschienene Kosmogonie L’Éternité par les astres wird auch von versierten Blanqui-Kennern (und bereits die sind rar gesät) meist nur kurz und voll Unverständnis erwähnt.2 Diese etwas abseitige Schrift möchte ich als nächstes ana1 Vgl. Frank Deppe, Verschwörung, Aufstand und Revolution. Blanqui und das Problem der sozialen Revolution, Frankfurt a. M., 1970, S. 8 f. 2 In der wohl berühmtesten Blanqui-Biographie von Gustave Geffroy wird L’Éternité auf immerhin 17 von 442 Seiten präsentiert, vorwiegend als Reaktion auf Blanquis Einsamkeit im Fort du Taureau. Geffroy sieht L’Éternité offenbar als einen Schlussstrich, damit jedoch auch als von grosser Bedeutung, wenn er sagt, Blanqui schreibe mit L’Éternité „le hautain testament de sa pensée“. Gustave Geffroy, L’Enfermé, Paris, 1897, S. 387-403, hier 390. Mit ähnlicher Stossrichtung, aber auf nur zwei Seiten bei Frank Deppe, Verschwörung, Aufstand und Revolution, S. 159 f. Keine Erwähnung findet L’Éternité z.B. bei Maurice Paz, Un révolutionnaire professionnel, Blanqui, Paris, 1984.
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log zu Marx’ Charakterisierung der Wertbewegung in seinem unvollendeten Hauptwerk Das Kapital lesen, von dem bekanntlich nur der erste Band zu Marx’ Lebzeiten und von ihm selbst veröffentlicht wurde. Ferner werde ich einen kurzen Abstecher zum Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte machen. Anhand dieser Werke und der darin aufzuspürenden Motive von Wiederkehr und Wiederholung sollen die Zeitgenossen Marx und Blanqui nach ihrer Einschätzung zur Machbarkeit der Geschichte befragt werden. Ausgangspunkt ist Walter Benjamins Vermutung im Passagen-Werk, das zeitgleiche Wiederaufkommen der Idee der ewigen Wiederkunft bei Blanqui, Nietzsche und Baudelaire hinge mit der Entwicklung des modernen Kapitalismus zusammen. Benjamin hebt in seiner Querlektüre von Nietzsche, Blanqui und Baudelaire die Gleichzeitigkeit ihrer Wiederkunftsideen heraus. Nimmt man Benjamins Argumentation in ihren Konsequenzen ernst, so ließe sich der Kapitalismus letztlich als ein zyklischer, repetitiver, dabei aber sich beschleunigender und außer Kontrolle geratener Mechanismus charakterisieren. Die Idee der ewigen Wiederkunft sei nun als (ideologische) Reaktion hierauf zu lesen; Benjamin bezeichnet sie auch als „Schlummerkissen“, also als eine Idee, die in Zeiten wachsender Unsicherheit und schnellem Wandels eine bequeme, wenn auch fatalistische Hingabe an die Umstände (oder auch nur deren Akzeptanz) in all ihrer scheinbaren Unveränderbarkeit ermöglicht und befördert.3 Um die Stichhaltigkeit dieser Vermutung zu überprüfen, liegt es nahe, Marx und seine Kritik des Kapitalismus im Kapital zu konsultieren. Für Benjamin war Marx zwar ein grundlegender Bezugspunkt, er selbst hatte ihn jedoch nicht in seine Bemerkungen zur Wiederkunftsidee eingeschlossen. Marx stellt im Kapital dar, dass die Verhältnisse im Kapitalismus tatsächlich als selbsttätig bzw. naturwüchsig wahrgenommen werden, liefert also ein Argument für Benjamins Vermutung, dass die ökonomischen Verhältnisse im Kapitalismus als unkontrollierbar erscheinen. Bei Marx lässt sich damit allerdings nicht nur eine Erklärung dafür finden, warum Metaphern der Wiederholung und der ewigen Wiederkunft des Gleichen im Denken von Blanqui (und Nietzsche und Baudelaire) gerade im späten 19. Jahrhundert zu erneuter Prominenz gelangen seien mögen. Es lässt sich darüber hinaus die Marxsche Kapitalbewegung G–W–G' in ihrer selbstbezüglichen Repetition selbst als Analogon zur Idee der ewigen Wiederkunft lesen. Ferner findet sich das Motiv Die vielleicht gelungensten Darstellungen finden sich bei Miguel Abensour, „Libérer l’enfermé“, in: Louis Auguste Blanqui, Instructions pour une prise d’armes, hg. v. Miguel Abensour, Paris, 1972; ders., „W. Benjamin entre mélancolie et révolution. Passages Blanqui“ in: Walter Benjamin et Paris, hg. v. Heinz Wissmann, Paris, 1986 und bei Alan Spitzer, The Revolutionary Theories of Louis Auguste Blanqui, New York, 1957. Spitzer besteht darauf, L’Éternité im Kontext der „philosophic foundations of Blanquism“ zu lesen; „education and political action are inseperably joined in Blanuqi’s mind“, so Spitzer (S. 37). 3 „Der Gedanke der ewigen Wiederkehr kam auf als die Bourgeoisie der bevorstehenden Entwicklung der von ihr ins Werk gesetzten Produktionsordnung nicht mehr ins Auge zu blicken wagte. Der Gedanke Zarathustras und der ewigen Wiederkunft und die gestickte Devise des Schlummerkissens »nur ein Viertelstündchen« gehören zusammen.“ Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Gesammelte Schriften (GS), hg. v. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Bd. V.1, S. 175.
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der (aktiven) Wiederholung prominent im Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte. Die Frage lautet nun, woher die Faszination für die Figur der Wiederholung rühren mag. Könnte es sein, dass sich womöglich auf Marx ausdehnen ließe, was Benjamin von Blanqui behauptet: dass dieser nämlich in dem Moment, da er die von ihm verhasste bürgerliche Gesellschaft „als Sieger über sich zu erkennen genötigt war“4, in Zeiten des unbestreitbaren Triumphes des Industriekapitalismus, vor diesem kapitulierte? Sahen sich Marx und Blanqui dazu genötigt, sich von ihren ursprünglichen Plänen zu einer aktiven Umgestaltung der Geschichte – der sie beide, im Gegensatz etwa zu Nietzsche5, ihr gesamtes Leben gewidmet haben – und einem expliziten Fortschrittsdenken abzuwenden? Mit Blick auf einige ihrer Konzepte jedenfalls lässt sich, so meine ich, nicht ohne weiteres darauf beharren, dass die Geschichte – mit den Revolutionen des 19. Jahrhunderts als Lokomotiven – sich wirklich auf einer sinnerfüllten Linie oder Treppe zum Kommunismus bewegt. Sie lassen vielmehr vermuten, dass alles auch ganz anders kommen und vielmehr in einem „rasenden Stillstand“6 verharren könnte, einem in-sich-Kreisen, dessen Sinn nirgends aus sich selbst herausführt. Die Frage ist damit also die nach der (Un-)Verfügbarkeit des historischen Prozesses.7
Auguste Blanqui, L’Enfermé Bereits ein kurzer Blick auf Blanquis Leben macht deutlich, dass er es mit dem Versuch verbracht hat, Geschichte zu machen. Aussagen zu Blanquis Lebensdaten variieren in allen Biographien oder Werken mit biographischem Abriss; dennoch möchte ich einen kleinen Überblick über Blanquis Leben geben. Louis Auguste Blanqui wurde 1805 in Puget-Théniers in der Nähe von Nizza geboren. Er studierte, offenbar ohne größere Begeisterung, Juristerei und Medizin, um sich nachfolgend jedoch beinahe ausschließlich der Politik widmen. So war er seit seinem neunzehnten Lebensjahr Mitglied einer von Buonarroti, einem Babeuf-Schüler, geführten Geheimgesellschaft, deren erklärtes Ziel es war, das Restaurationsregime unter Ludwig XVIII mithilfe eines bewaffneten Aufstandes geschulter Berufsrevo4 Ebd., GS V.2, S. 1257. 5 Die Idee der „ewigen Wiederkunft des Gleichen“ findet sich bei keinem der von Benjamin genannten Denker so ausführlich beschrieben wie bei Nietzsche. Nietzsche ist zwar kein dezidierter Gegner des Kapitalismus (den er dennoch in anbetracht all seiner Hässlichkeit nicht eben begrüsst), allerdings kann seine Darstellung der ewigen Wiederkunft als unbewusste Reflektion auf die Dynamik des Kapitalismus gelesen werden – der er dann bekanntermassen mit einem heroisch-fatalistischen Aufruf zum „amor fati“, der Liebe zum Schicksal, begegnet. Vgl. hierzu meinen Beitrag „Die ewige Wiederkunft des G–W–G'. Marx’ Spuren in Nietzsches Werk“, in: Nietzsche – Philosoph der Kultur(en), hg. v. Andreas Urs Sommer, Berlin, New York, 2008, S. 161-72. 6 Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne, Frankfurt a. M., 2005, S. 460 ff. 7 Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner, Out of Control. Über die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses, Wien, 2004.
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lutionäre zu stürzen. Von seinem ersten, kurzen Gefängnisaufenthalt 1828 an beginnt sein Leben sich in eine zwischen unermüdlichem revolutionärem Aktivismus und Gefängnis- und Exilaufenthalten wechselnde Struktur einzupendeln. Seine Beteiligung an diversen Aufständen – unter anderem war er an der Julirevolution 1830 beteiligt, organisierte von 1831 an republikanische und sozialistische Geheimbünde, war 1848 unmittelbar nach seiner Begnadigung bereits wieder im Vorfeld des Pariser Juniaufstands aktiv und hatte im Oktober 1870 die Führung der Übergangsregierung nach dem Sturm auf das Hôtel de Ville inne – war stets gefolgt von langen Gefängnisaufenthalten. Genaugenommen müsste man vielleicht sagen, dass seine Gefängnisaufenthalte von kurzen Phasen der Freiheit und Agitation unterbrochen waren, auf die mit schöner Regelmäßigkeit wieder Inhaftierung folgte. Die Angaben zu seinen Gefängnisaufenthalten variieren; der französische Historiker Maurice Dommanget, der die bisher umfangreichsten Arbeiten zu Blanqui vorgelegt hat, listet seine Aufenthalte in Gefängnissen und im Exil in einer Tabelle auf und kommt für die Zeit zwischen 1828 und 1879 auf 43 Jahre und 2 Monate „vie irregulière“ (davon 33 Jahre und 7 Monate reine Gefängnisaufenthalte) – was für diesen Zeitraum etwa 10 Jahren in Freiheit entspricht.8 Blanquis letzter Gefängnisaufenthalt beginnt am 17 März 1871, einen Tag vor Ausbruch der Pariser Kommune. In einer Gefängnisburg auf einer Felseninsel vor der Küste der Bretagne, dem ‚Fort du Taureau‘, schrieb er die Kosmogonie L’Éternité par les astres, um die es uns im Folgenden gehen soll. Er blieb bis 1879 eingesperrt und starb 1881 – an den Folgen eines Anfalls, den er unmittelbar nach einer von ihm gehaltenen Rede erlitt. Mit den drei großen Revolutionen des 19. Jahrhunderts, 1830, 1848 und 1871, ist der Name Blanqui untrennbar verbunden, und er stellt wohl die augenfälligste Verkörperung des neuen Typus des ‚Berufsrevolutionärs‘ dar, der versucht, Geschichte zu machen.9 Der revolutionäre Eifer, seine Verteidigungsreden vor Gericht (die eher den Charakter von Anklagen hatten), seine ausgemergelte, dabei energetische und angsteinflößende Erscheinungsform10 und die Tatsache, dass er sich als „L’Enfermé“11, der Eingesperrte – auch und gerade aufgrund seiner Abwesenheit vom historischen Schauplatz – hervorragend zur Heroisierung eignete, haben ihn bereits zu Lebzeiten zu einer Legende gemacht. So bemerkt Joseph Proudhon voll Respekt, „Jede Konterrevolution erbleicht bei einem 8 Maurice Dommanget, Les idées politiques et sociales d’Auguste Blanqui, Paris, 1957; „Blanqui enchainé“ im „Annexe“ zum Buch (keine Paginierung). 9 Siehe zur Idee der ‚Machbarkeit‘ von Geschichte im Zuge der Französischen Revolution die Diskussion bei Frank Deppe, Verschwörung, Aufstand und Revolution, S. 15 f. 10 Alexis de Toqueville beschreibt ihn angewidert wie folgt: „Die Erinnerung an ihn erfüllt mich noch immer mit Schrecken und Ekel! Mit seinen ausgemergelten blassen Wangen, seinen weißen Lippen, seinem kränklichen bösen und unsauberen Gesicht von schmutziger Blässe, seinem halb vermoderten, in spärliche Wäsche gehüllten Körper, mit seinem alten, gebrechlichen und ausgezehrten Gliedmaßen bedeckenden schwarzen Gehrock sah er aus, als sei er gerade einer Schlammgrube entstiegen“. Zit. nach Arno Münster, „Einleitung des Herausgebers“, in: Louis-Auguste Blanqui, Schriften zur Revolution, Nationalökonomie und Sozialkritik, hg. v. Arno Münster, Reinbek, 1971, S. 7. 11 Gustave Geffroy, L’Enfermé, Paris, 1897.
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einzigen Namen – Blanqui“12; entsprechend spricht Walter Benjamin vom „Erzklang“ des Namen Blanqui.13 Wie zur Bestätigung dieser Einschätzungen lehnt es Blanquis Widersacher Thiers 1871 ab, ihn gegen die zahlreichen Gefangenen auszutauschen, die die Kommunarden im Gegenzug anbieten – Blanqui, so Thiers, sei einen ganzen Armeekorps wert.14
Die Unendlichkeit bevölkern Blanquis Schriften entsprechen in gewisser Weise seinem Leben. Meist handelt es sich um kurze, dezidiert praktische und auf begrenzte Fragen und Probleme der Politik ausgerichtete Schriften. Er verfasste Manifeste, Zeitungsartikel und seine Instruktionen für den Aufstand. Dort finden sich genaue Pläne, wie im Falle eines Aufstandes in Paris vorzugehen sei, inklusive Anleitungen für den Bau von Straßenbarrikaden. Die Instruktionen beginnen mit den folgenden Sätzen: „Dieses Programm ist rein militärisch; es lässt die politische und soziale Frage außer acht, denn dafür ist hier kein Raum. Übrigens ist es selbstverständlich, daß die Revolution zum Nutzen der Arbeit gegen die Tyrannei des Kapitals vollzogen wird und daß sie die Gesellschaft auf der Grundlage der Gerechtigkeit wieder errichten muß.“15 Ein zusammenhängendes theoretisches Hauptwerk veröffentlicht Blanqui nicht. Was wir heute unter dem Namen Critique Sociale16 kennen, war von ihm zwar als ein solches konzipiert worden, es wurde jedoch erst posthum aus seinen Aufzeichnungen (1834–1874) zusammengetragen. Während der erste Band des Buches noch als zusammenhängender Text nach Blanquis eigenen Angaben zusammengestellt werden konnte, ist der zweite Band durchweg fragmentarisch. Blanqui als einen reinen ‚Mann der Tat‘ darzustellen (wie oft geschehen), ist dennoch nicht korrekt. Wenn er auch keine Schriften von großer theoretischer Bedeutung hinterlassen hat, so zeugen die nachgelassenen Manuskripte in der Bibliothèque Nationale doch davon, dass er sich ausführlich mit Problemen der Philosophie, Politik und Naturwissenschaften beschäftigt haben muss. Obschon kaum rezipiert, stellt das einzig größere, von ihm selbst veröffentlichte theoretische Werk strenggenommen L’Éternité par les astres dar, so merkwürdig das anmuten mag. 1871, eingesperrt im Fort du Taureau, abgeschnitten von den politischen Ereignissen der Pariser Kommune, liest Blanqui in seiner Kerkerzelle die Exposition du système du monde und den Essai philosophique sur les probabilités von
12 Zit. nach Arno Münster, „Einleitung des Herausgebers“, S. 7. 13 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, GS I.2, S. 700. 14 „[R]endre Blanqui à l’insurrection, c’était lui envoyer une force égale à un corps d’armée“. Zit. nach Gustave Geffroy, L’Enfermé, S. 368. 15 Auguste Blanqui, „Instruktionen für den Aufstand“, in: ders., Schriften zur Revolution, Nationalökonomie und Sozialkritik, S. 156. 16 Auguste Blanqui, Critique Sociale, 2 Bde., Paris, 1885. (Bd. 1: „Capital et Travail“; Bd. 2: „Fragments et Notes“)
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Pierre-Simon Laplace sowie die Astronomie von Jérôme Lalande.17 Seine Reflexionen, auf der Astronomie von Laplace basierend, sind denn auch nicht allein als „unbeholfene Überlegungen eines Autodidakten“18 einzuschätzen. Sicherlich ist er Autodidakt, doch seine Kenntnisse der Astronomie des 19. Jahrhunderts sind auf dem neuesten Stand der Forschung und seine Überlegungen werden vom Fachpublikum entsprechend durchaus zur Kenntnis genommen.19 Seine Untersuchung gliedert sich in acht Teile, von denen die ersten vier seinen grundlegenden Annahmen zum Universum gewidmet sind. Das Universum sei unendlich sowohl in Bezug auf Raum und Zeit, ohne Grenzen und unteilbar.20 Blanqui geht weiter von einer beschränkten Anzahl von Elementen aus – er kennt 64, vermutet aber, dass es durchaus bis zu 100 sein könnten – aus der sich die Materie zusammensetzt, die den Weltraum füllt. Diese Materie ist ebenfalls unzerstörbar und ewig. „La matière n’est pas sortie du néant. Elle n’y rentrera point. Elle est éternelle, impérissable. Bien qu’en voie perpétuelle de transformation, elle ne peut ni diminuer, ni s’accroître d’un atome.“21 [Die Materie ist nicht aus dem Nichts entstanden. Sie kehrt auch nicht dorthin zurück. Sie ist ewig, unvergänglich. Obschon in immerwährender Transformation begriffen, kann sie weder ab- noch zunehmen, nicht um ein einziges Atom.]22
Aus dieser Konstellation folge, so Blanqui, dass die sich aus den zur Verfügung stehenden Elementen ergebende begrenzte Anzahl von Kombinationsmöglichkeiten in ewiger Zeit unendlich häufig und einander bis aufs Haar gleichend wiederholen müssten. Im fünften Kapitel geht er direkt auf Laplaces Schriften ein. Laplace komme zwar das Verdienst zu, über das Universum als geschichtlich, d.h. entstanden und immer noch in Entwicklung befindlich gedacht zu haben. So etablierte er die Vorstellung einer gemeinsamen Entstehung von Sonne und Planeten, und ging damit über die reine Himmelsmechanik hinaus. Blanqui kritisiert jedoch, Laplace habe sich am entscheidenden Punkt jeweils von den Konsequenzen seiner eigenen Theorie abgewendet. Denn hat man das Universum einmal verzeitlicht,
17 Siehe Karl Hans Bergmann, Blanqui, Ein Rebell im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M., 1986, S. 497 ff. 18 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, GS V.2, S. 1256. 19 Spitzer nennt in diesem Zusammenhang etwa Rezensionen in Republique Francaise, 18. März 1872 und Opinion Nationale, 25. März 1872 – siehe Alan Spitzer, The Revolutionary Theories of Auguste Blanqui, S. 37. 20 „[…] infini dans le temps et dans l’espace, éternel, sans bornes et indivisible.“ Auguste Blanqui, L’Éternité par les Astres, Paris, 2002, S. 29. 21 Auguste Blanqui, L’Éternité par les Astres, S. 30. 22 Hier und im folgenden gebe ich nach längeren Zitaten aus L’Éternité eine Übersetzung in eckigen Klammern an, da bis heute keine deutschsprachige Übersetzung publiziert wurde. Wo möglich, habe ich mich der im Passagen-Werk vorliegenden eigenhändigen Übersetzung von Benjamin bedient. Übersetzungen ohne Nachweis sind, wie hier, meine eigenen.
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stellt sich die Frage nach dem Ursprung und der Zukunft des Universums. Woher kommen wir, und wohin gehen wir?23 Blanqui entwickelt kurzerhand eine eigene Theorie mit deutlich geschichtsphilosophischen Implikationen. Er entwirft folgendes Szenario: Die Sterne und Planeten des Universums sind alle aus demselben Material, denselben 64 Elementen zusammengesetzt; sie unterscheiden sich nur in Dichte und Ausdehnung, müssen aber einen gemeinsamen Ursprung haben. Blanqui kennt das Phänomen der „weißen Zwerge“24, das Verglühen und Erlöschen der Sterne. Es gibt ihm zufolge nur zwei Möglichkeiten: Entweder wird das ganze Universum erlöschen; diese Annahme war zu seiner Zeit durchaus verbreitet, und hat zu der Vermutung geführt, mit der sukzessiven Abnahme der Energie (Entropie-Gesetz) müsse das Universum früher oder später den Kältetod sterben. Oder aber, und das ist Blanquis Idee, das Universum muss sich aus dem ewiggleichen Vorrat an Atomen kontinuierlich wiedererschaffen. Die unzerstörbare Materie sorgt dann dafür, dass die Sterne einen Lebenszyklus haben, in dem sie immer wieder von neuem geboren werden. Die „gestorbenen“ Sterne kreisen zunächst als „Kadaver“ im Universum. Durch Zufall, Blanqui kann sich das auch nicht so genau erklären, kommen sie von ihrer Umlaufbahn ab und sammeln sich an einem Punkt, setzen durch die „Chocs“ des Aufpralls von weiteren Planeten und Sternen Energie frei, und sammeln schließlich alle Himmelskörper des betreffenden Sonnensystems in einem Feuerball, der das neue alte Zentrum des wiedererschaffenen Sonnensystems darstellt und aus seinem Inneren nach und nach seine „Kinder“ ausspuckt.25 Bis zu diesem Punkt klingen Blanquis Ausführungen, zumindest für Zeitgenossen, nicht besonders ungewöhnlich – abgesehen vielleicht von seinem amüsanten, bilderreichen und bisweilen erzählerischen Schreibstil. Doch nun kommt ein für L’Éternité entscheidendes Element hinzu: Doppelungen. Im Weltall verteilen sich Blanqui zufolge nicht nur strukturell ähnliche, sondern auch exakt gleiche Doppelgänger-Sonnensysteme. Auch unsere Erde hat einige Doppelgänger-Exemplare, auf der sogar hiesige Menschen und Staatsformen gedoppelt erscheinen. Denn die Materie, so Blanqui, hat das Bedürfnis, sich auf das gesamte Universum zu verteilen, und nicht nur einen so kleinen Fleck wie unser Sonnensystem zu besiedeln. Mit so begrenztem Material ist hier allerdings abermals die Wiederholung von Sonnensystemen unvermeidbar; die Prozedur der Wiederholung wie sie Blanqui für unser Sonnensystem vorgestellt hat, trifft also auch auf all die zahlreichen anderen Sonnensysteme zu, von deren Existenz Blanqui ausgeht.
23 „La question des origines est beaucoup plus sérieuse. Laplace en a fait bon marché, ou plutôt il n’en tient nul compte, et ne daigne ou n’ose même pas en parler.“ Auguste Blanqui, L’Éternité par les Astres, S. 59 f. 24 Ebd., S. 61. 25 Ebd., S. 63 f.
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„[…] avec un plan si monotone et des éléments si peu variés, il n’est pas facile d’enfanter des combinaisons différentes, qui suffisent à peupler l’infini. Le recours aux répétitions devient indispensable.“26 [ … mit einem so gleichförmigen Plan und einer so begrenzten Variation von Elementen ist es nicht einfach, derart zahlreiche unterschiedliche Kombinationen hervorzubringen, dass damit die Unendlichkeit bevölkert werden kann. Der Rückgriff auf Wiederholungen wird unumgänglich.]
Die anderen Sonnensysteme, sofern sie nicht unsere Doppelgänger sind, gleichen unserem dennoch bis zu einem bestimmten Grade – denn das Prinzip der Entstehung und Entwicklung, so Blanqui, muss in jedem Sonnensystem immer dasselbe sein. Es gibt zwar beinahe unzählbare Variationsmöglichkeiten; aber egal wie groß ihre Zahl ist, sie ist begrenzt und muss sich wiederholen. Die Wiederholungen, von denen Blanqui spricht, schließen die jeweilige Bevölkerung mit ein. Es muss in jedem Sonnensystem eine Erde mit Menschen geben. Zunächst, so Blanqui, gibt es in den Weiten des Universums jede Menge BeinaheDoppelgänger unseres Sonnensystems, deren Erden in Nuancen von unserer Erde abweichen. Ehe wir zu unseren echten, identischen Doppelgänger-Planeten gelangen, würden wir an Milliarden Erden vorbeikommen, die trotz aller Analogien auch teils beträchtliche Differenzen aufweisen.27 Die echten Doppelgänger-Planeten – und auf ihnen unsere menschlichen Doppelgänger – gleichen uns und unserer Erde dafür bis aufs Haar. Für das Schicksal jeder dieser Menschheiten folgt aus der ewigen Wiedergeburt ihres jeweiligen Sonnensystems, dass es keinen Fortschritt geben kann. „Ces sosies sont en chair et en os, voire en pantalon et paletot, en crinoline et en chignon. Ce ne sont point là des fantômes, c’est de l’actualité éternisée. Voici néanmoins un grand défaut: il n’y a pas progrès. […] Ce que nous appelons le progrès est claquemuré sur chaque terre, et s’évanouit avec elle. Toujours et partout, dans le camp terrestre, le même drame, le même décor, sur la même scène étroite, une humanité bruyante, infatuée de sa grandeur […]. Même monotonie, même immobilisme dans les astres étrangers. L’univers se répète sans fin et piaffe sur place. L’éternité joue imperturbablement dans l’infini les mêmes représentations.“28 [Diese Doppelgänger haben Fleisch und Blut, d. h. Hosen und Überzieher, Krinolinen und Chignons. Es sind keine Phantome sondern verewigte Wirklichkeit. Eines freilich fehlt daran: Fortschritt. Was wir so nennen, ist eingemauert in jede Erde und vergeht mit jeder. Stets und überall auf den Erden das gleiche Drama, die gleiche Dekoration, auf derselben schmalen Bühne, eine brausende Menschheit, berauscht von ihrer Größe. […] 26 Ebd., S. 77 f. 27 „Supposons néanmoins des diversités qui bornent le rapprochement à une simple analogie. On comptera par milliards des terres de cette espèce, avant de rencontrer une ressemblance entière. Tous ces globes auront, comme nous, des terrains étagés, une flore, une faune, des mers, une atmosphère, des hommes. Mais la durée des périodes géologiques, la répartition des eaux, des continents, des îles, des races animales et humaines, offriront des variétés innombrables.“ Ebd., S. 87. 28 Ebd., S. 108 ff.
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Die gleiche Monotonie, die gleiche Unbeweglichkeit auf den anderen Sternen. Das Universum wiederholt sich unendlich und tritt auf der Stelle. Unbeirrt spielt die Ewigkeit im Unendlichen stets und immer das gleiche Stück.29]
Es wäre nun zu fragen, wie dies Weltbild mit der Praxis und den Überzeugungen eines Berufsrevolutionärs zusammengeht. Wenn es stimmt, dass L’Éternité keine reine Zeitvertreibung war, sondern, wie Dommanget und Bergmann gezeigt haben, das Resultat einer langjährigen Beschäftigung mit Problemen der Astronomie und somit – wie bei Spitzer dargelegt – diese naturwissenschaftlichen Spekulationen als integraler Bestandteil von Blanquis Denken gesehen werden müssen, dann können seine Überlegungen nicht leichtfertig abgetan oder ignoriert werden.
Das perpetuum mobile der Zirkulation Kehren wir jedoch für den Moment Blanqui den Rücken und wenden uns Marx zu. Worin könnte also eine Parallele von Marxens Kapital zu Blanquis Kosmologie bestehen? Paul Laurent Assoun gibt in Marx et la répétition historique zu Bedenken, es sei kein Zufall, dass sowohl Blanqui als auch Marx ihre Überlegungen vom Atomismus her beginnen; bei Marx wäre das ‚Beginnen‘ auf sein Lebenswerk bezogen und verweist damit auf die Doktordissertation zu Demokrit, bei Blanqui verweist es auf den Anfang und die Basis von L’Éternité. Ob diese Feststellung jedoch sehr weit führt, ist zu bezweifeln.30 Im Kapital bezeichnet Marx die Wertbewegung bekannterweise mit der Formel Geld – Ware – mehr Geld, bzw. G–W–G'. In dieser Zirkulation „funktionieren […] beide, Ware und Geld, nur als verschiedene Existenzweisen des Werts selbst […]. Er geht beständig aus der einen Form in die andre über, ohne sich in dieser Bewegung zu verlieren, und verwandelt sich so in ein automatisches Subjekt.“31 Marx’ „automatisches Subjekt“ bezeichnet die Selbsttätigkeit und Ziellosigkeit in den unendlichen Wiederholungen des kapitalistischen Geschichtsprozesses. Unendlich ist die Bewegung bei Marx, da die Verwertung des Wertes nur in der Bewegung existieren kann; sie ist maßlos, denn wäre sie es nicht, so würde dies das Ende des automatischen Subjekts bedeuten.32 Marx bringt entsprechend den Vergleich eines „perpetuum mobile“ an: „Der kontinuierliche Kreislauf der zwei entgegengesetzten Warenmetamorphosen oder der flüssige Umschlag von Verkauf und Kauf erscheint im
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Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, GS V.1, S. 1257. Paul Laurent Assoun, Marx et la répétition historique, Paris, 1999, S. 215. Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 168 f. „Das Ende jedes einzelnen Kreislaufs, worin sich der Kauf für den Verkauf vollzieht, bildet daher von selbst den Anfang eines neuen Kreislaufs. Die einfache Warenzirkulation – der Verkauf für den Kauf – dient zum Mittel für einen außerhalb der Zirkulation liegenden Endzweck, die Aneignung von Gebrauchswerten, die Befriedigung von Bedürfnissen. Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist dagegen Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos.“ Ebd., S. 167.
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rastlosen Umlauf des Geldes oder seiner Funktion als perpetuum mobile der Zirkulation.“33 Marx’ Kapital, das automatische Subjekt, ist ein ständig werdendes und prozessierendes; als ein solches kann es „nicht aus der Zirkulation entspringen und es kann ebenso wenig nicht aus der Zirkulation entspringen. Es muß zugleich in ihr und nicht in ihr entspringen.“34 Die Frage nach Anfang oder Ende der Bewegung lässt sich innerhalb dieser (Kapital-)Logik, darin Blanquis Materie ähnlich, nicht stellen. Sowohl die Wertbewegung G–W–G' als auch die Wiederholung der Kombinationsmöglichkeiten der Materie bestehen in rastloser Bewegung, die kein außer ihrer selbst liegendes Telos kennt. Der Natur, so Blanqui, ist es ganz egal, was sie hervorbringt; sie arbeitet mit verbundenen Augen, zerstört, erschafft und transformiert in einer Art Blinde-Kuh-Spiel – alles andere ist ihr gleichgültig, eine Moral oder einen Sinn gibt es nicht.35 Dasselbe kann nun mit Fug und Recht vom Kapital behauptet werden, und in diesem Sinne wäre auch Lukács Rede vom Kapital als ‚zweiter Natur‘ einzuordnen. Nun ist Marx zwar beileibe kein Mechanist – doch aufgrund der Selbsttätigkeit der Kapitalbewegung und der scheinbaren Abwesenheit eines Anfangs oder Endes des von ihm dargestellten Prozesses muss, so Marx, „die Totalität des Prozesses als ein objektiver Zusammenhang, der naturwüchsig entsteht“36 erscheinen. In diesem Zusammenhang können die handelnden Menschen dann nur als „Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse“37 auftreten. Marx spricht bekanntlich von einer „Warenseele“ auf der einen und dem Menschen als „ökonomischer Charaktermaske“ auf der anderen Seite. Der Kapitalist ist bei Marx nicht mehr als „personifiziertes, mit Willen und Bewußtsein begabtes Kapital.“38 In der Logik dieser Verkehrung wird der Mensch gewissermaßen zum Objekt des automatischen Subjekts, und der Wert damit zum eigentlichen Akteur der Weltgeschichte, die nur aus endlos wiederholten Kapitalverwertungszyklen besteht.39 Wenn also das Subjekt der geschichtlichen Bewegung in die Kapitalverwertungsbewegung eingelassen ist, Marx’ Interesse in seiner Darstellung aber nach wie vor dem Nachweis einer absehbaren Überwindung des Kapitalismus gilt, dann muss auch jene Überwindung von und mit ebendiesem neuen ‚Geschichtssubjekt‘ geschaffen werden. Kittsteiner schreibt dazu: „Marx’ Utopie steht und fällt mit dem Gelingen des Nachweises, 33 Ebd., S. 144. 34 Ebd., S. 180 35 „Elle travaille à colin-maillard, détruit, crée, transforme. Le reste ne la regarde pas.“ Auguste Blanqui, L’Éternité par les Astres, S. 92. 36 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf), Berlin, 1953, S. 111. 37 Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 100. 38 Ebd., S.167. 39 Zu der mit der Entstehung der Rede von „Der Geschichte“ einhergehenden Subjekt / Objekt Umkehrung – die Geschichte arbeitet unabhängig von den Geschichtssubjekten, die dadurch gewissermaßen zum Objekt dieser Geschichte werden – vergleiche Reinhart Kosellecks Artikel „Fortschritt“ und „Geschichte“, in: Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Bd. 2, Stuttgart, 2004.
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dass die krisenhafte Verwertung des Kapitals wirklich den Boden für eine künftige Gesellschaft bereitet.“40 Dem Proletariat, Marx’ anderem Geschichtssubjekt, kann die ihm von Marx zugedachte Aufgabe dann nur gelingen, wenn es das Kapital auf seiner Seite weiß. Ist das Kapital auf seiner Seite?
Totenerweckungen Bei dem Versuch, sich der Beantwortung der Frage nach der Machbarkeit der Geschichte und der geschichtlichen Eigendynamik anzunähern, muss noch einmal auf den Unterschied von Wiederholung und Wiederkehr oder -kunft eingegangen werden. Bei Marx und bei Blanqui ist ja auch die Wiederholung ein Motiv, d.h. das wieder-holen bereits vergangener, missglückter oder niemals ergriffener Möglichkeiten. Dies ist der eigentliche, aktive historische Akt. Die Figur der Wiederkehr dagegen ist die Kehrseite der Wiederholung, sie bezeichnet eine passiv erduldete oder zumindest nicht kontrollierbare und als schicksalhaft erfahrene Wiederholung. Marx präsentiert die Wiederholung im Achtzehnten Brumaire als das grundlegende Motiv geschichtlicher Umwälzungen. Bei Hegel hatte er gelesen, dass sich alles in der Geschichte zweimal ereignen muss, um wirklich zu werden: „Durch die Wiederholung wird das, was am Anfang nur als zufällig und möglich erschien, zu einem Wirklichen und Bestätigten.“41 Die Wiederholung stellt insofern das eigentliche geschichtliche Bewusstsein dar. Nur wenn erinnert wird, kann wiederholt werden oder zumindest die Wiederholung in einem Ereignis erkannt werden. So ist die Marx’sche Behauptung, alle bisherige Geschichte stelle sich als die Geschichte von Klassenkämpfen dar, ohne die Kategorie der Wiederholung nicht denkbar – sie allein kann diese Kontinuität herstellen. Marx fügt dem jedoch bekannterweise die Heine’sche Wendung hinzu, derzufolge es sich bei der Wiederholung um eine Farce handle, die auf eine Tragödie folgt. Die Wiederholung erhält damit einen negativen Beigeschmack: zwar kann sie Tradition und Zusammenhang herstellen, aber in den bisherigen Revolutionen siegte, so Marx, die Phrase oder Zitation über den eigentlichen Inhalt. Aus der „Totenerweckung“ der Revolutionäre wollten diese zwar Kraft schöpfen: doch muss man sich den Inhalt der eigenen Kämpfe durch Analogiebildung verdecken, so erhält die Wiederholung ein passives und gegebenenfalls konservatives Element.42 Die Geschichte stellt sich also als eine Abfolge wiederholter Revolutionen und Umwälzungen dar; dieses Repertoire, diese Geschichte von Wiederholungen stellt wiederum den Fundus dar, aus dem die eigentliche Revolution ihre Kraft schöpfen kann. Denn die proletarische Revoluti40 Heinz Dieter Kittsteiner, Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a. M., 1998, S. 121. 41 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke Bd. 12, Frankfurt a. M., 1970, S. 380. 42 Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW 8, S. 116.
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on soll sich endlich ihres Inhaltes bewusst werden, der Inhalt hier über die Phrase hinausgehen. Ihre „Poesie“ könne sie nur aus der Zukunft schöpfen, denn was sie zu schaffen im Begriff sei, soll etwas noch nie dagewesenes sein, das ‚ganz Andere‘. Doch weil die (notwendige) Unbestimmtheit des Inhalts ihrer eigenen Kämpfe ihnen bewusst ist, schrecken sie zugleich vor ihm zurück. Sie „kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen“43, führen damit selber auch Wiederholungen durch – allerdings in kritischer und bewusster Absicht. Das letzte Ziel der proletarischen Revolution soll es Marx zufolge sein, sich völlig von den alten Voraussetzungen – damit von Wiederholungen – zu befreien, ganz im Sinne der Analogie die Marx zum Studium einer Fremdsprache aufmacht.44 Die Wiederholung kann also als historisches Moment der kommunistischen Bewegung dienen, soll aber letztlich von dieser überwunden werden. Soviel zur aktiven Wiederholung bei Marx. Wenn wir uns der Frage nach der Wiederkehr bei Marx zuwenden, schlage ich vor, zur Kapitalbewegung zurückzukehren. Führen wir uns die repetitive Kapitalbewegung vor Augen, so bleibt, wie eben dargestellt, nicht viel Hoffnung. Nur wenn es tatsächlich stimmt, dass der Kapitalismus darauf hinarbeitet, sich selbst abzuschaffen oder die Bedingung der Möglichkeit seiner Abschaffung herzustellen, wäre hier die Geschichte machbar und die Wiederkunft keine Wiederkunft im strengen Sinne. Wie Kittsteiner herausstellt, gibt es zwei sich überlagernde Zeitpfeile bei Marx, einen „aus dem Akkumulationsprozeß des Kapitals resultierenden“, den ich hier als den Zeitpfeil der Wiederkunft bezeichnen möchte, und einen „teleologisch-moralischen“, also auf die Verwirklichung der Utopie hinzielenden.45 Kittsteiner hat das mit dem Bild einer Spirale verdeutlicht, durch die eine aufsteigende Linie gezogen wird, die zum Kommunismus führen soll; die zyklische Zeit des Kapitals – in der Spirale dargestellt als ewig zirkuläre, ‚schlechte Unendlichkeit‘, die im prozessieren zwar eine Wertvermehrung mit sich bringt, aber keine außerhalb der wiederkehrenden Spirale liegende Tendenz hat – soll die lineare aus sich heraus setzen, indem sie die Grundlage für die radikale Veränderung der Gesellschaft schafft. Marx hat damit, so Kittsteiner, „den Zeitpfeil der Kapitalakkumulation überlagert mit dem zielgerichteten Zeitpfeil der Geschichtsphilosophie.“46 Nun ist die Frage, was bleibt, wenn die aufsteigende Linie, die Linie des teleologischen Fortschrittsdenkers Marx, aus der Zeitkonstellation herausgestrichen werden muss. Marx hatte diese Möglichkeit selbst formuliert: „Andererseits, wenn wir nicht in der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen Produktionsbedingungen und ihnen entsprechenden Verkehrsverhältnisse für eine klassenlose Gesellschaft verhüllt vorfänden, wären alle Spreng43 Ebd., S. 118. 44 „So übersetzt der Anfänger, der eine neue Sprache erlernt hat, sie immer zurück in seine Muttersprache, aber den Geist der neuen Sprache hat er sich nur angeeignet, und frei in ihr zu produzieren vermag er nur, sobald er sich ohne Rückerinnerung in ihr bewegt und die ihm angestammte Sprache in ihr vergißt.“ Ebd., S. 115. 45 Heinz Dieter Kittsteiner, Listen der Vernunft, S. 118. 46 Ebd., S. 124.
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versuche Donquichoterie.“47 Bliebe damit nur noch ein Fort-schreiten in ewiger Wiederholung derselben Bewegung, im Gegensatz zum Fortschritt in Richtung des Kommunismus?
Doppelgänger Blanquis gesamtes Leben besteht im Grunde, wie wir gesehen haben, aus einer einzigen Reihe von Wiederholungen. Unklar bleibt dabei stets, ob es sich bei den Wiederholungen um eine reine Sisyphosarbeit gehandelt hat – oder um eine ‚Revolution in Permanenz‘. Assoun meint in diesem Sinne, die Blanqui’sche Wiederholung sei nicht verzweifelt, sondern entspreche der blanquistischen Philosophie der Praxis. L’hymne blanquiste à la répétition n’est donc pas désespéré: il exprime la véritable philosophie d’une pratique sans référent externe que son exigence – le vouloir révolutionnaire –, au-delà de l’espoir et du désespoir, à la fois échec perpétuel et recommencement obstiné.48 [Der Blanquistische Hymnus auf die Wiederholung ist daher nicht verzweifelt: er drückt die eigentliche Philosophie einer Praxis aus, die keinem externen Referenten verpflichtet ist, nur ihrer eigenen Anforderung – dem revolutionären Willen –, jenseits von Hoffnung und Verzweiflung, zugleich ewiges Scheitern und hartnäckiger Neubeginn.]
Ähnlich meint auch Geffroy, dass Blanquis Darstellung in L’Éternité par les astres vielmehr Mut zur Wiederholung geben solle.49 Jacques Rancière meint in seinem Vorwort zur Neuausgabe von L’Éternité gar, der Aufruf zur permanenten Revolution in den Instruktionen für den Aufstand entspreche im Prinzip dem Tenor von Blanquis Kosmologie. „Les conseils d’activité incessante donnés aux émeutiers par ‚l’Instruction pour une prise d’armes‘ relèvent bien de la même rationalité qui nourrit l’hypothèse astronomique des ,chocs résurrecteurs‘. Ce travail est donc sans fin.“50 [Die Ratschläge zur permanenten Aktivität, die den Aufständigen in den ‚Instruktionen für den Aufstand‘ gegeben werden, entstammen derselben Rationalität, die auch der astronomischen Hypothese von den ‚wiederbelebenden Zusammenstößen‘ zugrundeliegt. Diese Arbeit ist demnach endlos.]
Rancière liest die Wiederkunft bei Blanqui, parallel zu einer verbreiteten Lesart von Nietzsches ewiger Wiederkunft, als die Aufforderung zum ewigen Kampf. Die Vision der ewigen Wiederkunft des Gleichen, wie sie Nietzsche in seiner Fröhlichen Wissenschaft einen Dämon sprechen lässt, scheint tatsächlich in diese Richtung zu 47 48 49 50
Karl Marx, Grundrisse, S. 77. Paul Laurent Assoun, Marx et la répétition historique, S. 216. Gustave Geffroy, L’Enfermé, S. 394. Jacques Rancière, „Préface“, in: Auguste Blanqui, L’Éternité par les Astres, S. 19.
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deuten. Denn wenn jeder Moment meines Lebens, und ich mit ihm, wiederkehren muss, ist dieser schließlich von größter Bedeutung. Die Entscheidung, die ich heute treffe, und die Handlung, die ich heute tätige, wird mir in alle Ewigkeit wiederkehren. Diese Idee fungiert dem Dämon dann als Prüfung, die denjenigen, der sie vernimmt, zur Verzweiflung treiben muss – wenn er nicht tatsächlich ausnahmslos hinter allem steht, was er getan hat.51 Dass Fortschritt auf dieser unserer Erde nicht möglich ist, hat Blanqui, wie vorhin erwähnt, deutlich gemacht. Mit Blick auf seine Doppelgänger-Vision könnte aber, um seine Kosmogonie als Bestätigung der Möglichkeit einer aktiven Wiederholung lesen zu können, die Frage nach den Interventionsmöglichkeiten und der Selbstständigkeit der Doppelgänger gestellt werden. Worauf Rancière und Assoun abheben, könnte die von Blanqui angedeutete Möglichkeit der Bifurkation in unseren Doppelgängerplaneten sein. Zu fragen wäre hier außerdem, ob die Möglichkeit zur Bifurkation nur auf die räumlich entfernten Doppelgänger zuträfe, oder ob dies ebenso von den unserer Erde nachfolgenden Erden gesagt werden könnte – sind auf ihnen Variationen möglich? Die Grundlagen unserer Doppelgänger-Erden jedenfalls, so Blanqui, sind exakt identisch, sofern es sich um echte Doppelgänger handelt: „La terre-sosie reproduit exactement tout ce qui se trouve sur la nôtre et, par suite, chaque individu, avec sa famille, sa maison, quand il en a, tous les événements de sa vie. C’est un duplicata de notre globe, contenant et contenu. Rien n’y manque.“52 [Die Doppelgänger-Erde reproduziert alles, was sich auf unserer Erde findet, aufs genaueste; dementsprechend auch jedes Individuum, mit seiner Familie, seinem Haus (wenn es eines hat), mit allen Ereignissen seines Lebens. Es ist ein Duplikat unserer Erde, sowohl der Form als auch dem Inhalt nach. Nichts fehlt dort.]
Damit scheint auf den Doppelgänger-Planeten keine Abweichung von der hiesigen Ordnung möglich. Allerdings schreibt Blanqui dann an einer Stelle, der menschliche Wille sei dasjenige Element, was diese Ordnung zu durchbrechen in der Lage sei.53 Eine Entscheidung für eine Möglichkeit, die sich an kritischen Punkten in der gegebenen Konstellation biete, bedeutet immer, die andere zu missachten; und unsere Doppelgänger könnten eben diese andere, von uns vielleicht fälschlicherweise verschmähte Möglichkeit wählen. „Une terre existe où l’homme suit la route dédaignée dans l’autre par le sosie. Son existence se dédouble, un globe pour chacune, puis se bifurque une seconde, une troisième fois, des milliers de fois.“54 [Es existiert eine Erde, auf der der Mensch den Weg verfolgt, der auf einer anderen von seinem Doppelgänger verschmäht wurde. Seine Existenz teilt sich, eine Erde für jede dieser Existenzen, zweigt dann ein zweites Mal ab, ein drittes Mal, mehrere tausend Male.] 51 52 53 54
Friedrich Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, Kritische Studienausgabe, Bd. 3, S. 570 [§341]. Auguste Blanqui, L’Éternité par les Astres, S. 86. Ebd., S. 96. Ebd., S. 89.
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Damit allerdings hätten sich diese Doppelgänger ‚entdoppelt‘, also als etwas anderes als unsere Doppelgänger geriert. Eine Abweichung dieser Art scheint Blanqui möglich. Doch legt er nahe, dass sie nur einmal, wohl zum Beginn der Doppelung (wenn man diesen Moment überhaupt als Zeitpunkt angeben kann; denn es verhält sich hier ja wie bei Marx’ Wert: Anfang und Ende sind im Prinzip unvorstellbar, die ewige Wiederholungsschleife ist immer bereits im Gange; entsprechend Blanquis Weigerung, in Bezug auf die Doppelgänger von Originalen und Kopien zu sprechen), möglich und dann für immer in die jeweilige Welt eingeschrieben sei – „on n’échappe pas à la fatalité“.55 Die Interpretation von Walter Benjamin und Frank Deppe folgt demnach der Vorstellung eines sich geschlagen wissenden Revolutionärs. L’Éternité par les astres bedeutet ihnen zufolge für Blanqui eine Flucht in den ‚bestirnten Himmel über ihm‘, als ihm keine andere Fluchtmöglichkeit mehr bleibt. Blanquis beinahe zärtliche Beschreibung seiner eigenen Doppelgänger auf den unzähligen Erden des Universums stimmen ihn versöhnlich; denn all das, was man hier hätte sein können, all das was im Rahmen der Möglichkeit lag oder liegt, das ist man in Gestalt eines Doppelgängers zu jeder Zeit – auf einem anderen Planeten. „Il possède ainsi des sosies complets et des variantes innombrables de sosies, qui multiplient et représentent toujours sa personne, mais ne prennent que des lambeaux de sa destinée. Tout ce qu’on aurait pu être ici-bas, on l’est quelque part ailleurs.“56 [Er besitzt also exakte Doppelgänger ebenso wie unzählige Varianten von Doppelgängern, die seine Person vervielfachen und repräsentieren, aber nur Bruchstücke seines Schicksals übernehmen. All das, was man hier unten hätte sein können, das ist man bereits irgendwo anders.]
Auch die großen historischen Momente haben ihre Variationen auf Doppelgängerplaneten. Irgendwo da draußen wurde die Schlacht von Waterloo nicht verloren, da ist Blanqui sich sicher.57 Wer weiß schon, wie es dann in der Geschichte ausgesehen hätte. Es gefällt ihm, sich vorzustellen, das er selbst irgendwo sehr, sehr weit entfernt, „dort wo der Pfeffer wächst“, jetzt gerade in Pantoffeln sein Journal liest, oder auch in der Schlacht von Valmy assistiert, die in diesem Augenblick in tausenden französischen Republiken auf anderen Planeten geschlagen wird.58 Und kommunizieren kann Blanqui mit seinen Doppelgängern auch nicht, er wird sie niemals sehen, denn sie sind zu weit entfernt. Er bedauert an einer anderen Stelle, dass wir dadurch nicht in der Lage seien, ihnen Ratschläge zu erteilen und sie möglicherweise vor Fehlentscheidungen zu bewahren. 55 Ebd. 56 Ebd. 57 „Les grands événements de notre globe ont leur contrepartie, surtout quand la fatalité y a joué un rôle. Les Anglais ont perdu peut-être bien des fois la bataille de Waterloo sur les globes où leur adversaire n’a pas commis la bévue de Grouchy.“ (Ebd.) 58 „Il est même flatteur de se savoir là-bas, bien loin, plus loin que le diable Vauvert, lisant en pantoufles son journal, ou assistant à la bataille de Valmy, qui se livre en ce moment dans des milliers de Républiques françaises.“ Ebd., S. 91.
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„Au fond, elle est mélancolique cette éternité de l’homme par les astres, et plus triste encore cette séquestration des mondes-frères par l’inexorable barrière de l’espace. Tant de populations identiques qui passent sans avoir soupçonné leur mutuelle existence!“59 [Im Grunde ist sie melancholisch, diese Ewigkeit des Menschen durch die Sterne, und noch viel trauriger ist die Isolation der brüderlichen Erden durch die unerbittliche Barriere des Weltraums. So viele identische Populationen vergehen, ohne etwas von ihrer gegenseitigen Existenz geahnt zu haben!]
Aus Fehlern kann hier nicht gelernt werden, und für Blanqui selbst bleibt es dabei, dass Fortschritt ihm auf dieser Erde nicht nur im Moment verwehrt ist. Er bleibt ihm in alle Ewigkeit verwehrt, denn diese Situation in seiner Kerkerzelle in Taureau, seine Niederlage wird ihm in alle Ewigkeit wiederkehren. „Tout être humain est donc éternel dans chacune des secondes de son existence. Ce que j’écris en ce moment dans un cachot du fort du Taureau, je l’ai écrit et je l’écrirai pendant l’éternité, sur une table, avec une plume, sous des habits, dans des circonstances toutes semblables. Ainsi de chacun. Toutes ces terres s’abîment, l’une après l’autre, dans les flammes rénovatrices, pour en renaître et y retomber encore, écoulement monotone d’un sablier qui se retourne et se vide éternellement lui-même. C’est du nouveau toujours vieux, et du vieux toujours nouveau.“60 [Darum ist auch jedes Menschenwesen ewig in jedem Augenblick seiner Existenz. Das, was ich in diesem Augenblick in einer Zelle des Forts Du Taureau schreibe, das habe ich geschrieben und das werde ich in alle Ewigkeit schreiben: an einem Tisch mit einer Feder, in Umständen (und Kleidern, B.L.), die aufs Haar den gegenwärtigen gleichen. So ist es mit jedem.61] [Alle diese Erden versinken nach und nach in den erneuernden Flammen, um aus ihnen wiedergeboren zu werden und erneut in sie hineinzufallen – gleich dem monotonen Fluss einer Sanduhr, die sich selbst stets von neuem umdreht und leert. Es ist von neuem immer das alte, und das alte stets erneut.]
Das Unbehagen in der Kapitalbewegung Projizieren wir Marx’ Kapitalbewegung auf die Sterne, erhalten wir ein Universum, das demjenigen Blanquis ähneln müsste. Übertragen wir wiederum Blanquis Kosmogonie auf die Gesellschaft, so präsentiert sich uns ein desillusionierendes Schreckensbild voll hoffnungsloser Aufstände und vergeblicher Versuche der Einflussnahme. Kittsteiner schreibt in Listen der Vernunft: „Die Zeit der industriellen Revolution hat eine ältere Zeitstruktur abgelöst, die Zeit des Feudalismus, die ihre eigenen Krisen und Schrecken hatte. Insofern hat der Zeitumbruch um 1800, in dem oszillierende oder kreisförmige historische Zeitmodelle durch lineare ersetzt
59 Ebd., S. 109. 60 Ebd., S. 107. 61 Ebd.
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werden, seinen realen Erfahrungsraum.“62 Ich möchte zu bedenken geben, ob nicht vielleicht der Erfahrung einer zunehmend beschleunigten Zeit, in der der ehemals vorhandene Glaube an die sichere Erreichbarkeit eines Ziels, auf das diese Bewegung hinarbeitet, verloren gegangen ist, eher wieder ein zyklisches Geschichtsbild entspricht. Insofern fragt die vorstehende kursorische Parallelisierung von Marx und Blanqui nach einem ihnen selbst möglicherweise verborgen gebliebenen Inhalt ihrer Schriften: Überlegungen zu einer Bewegung der Geschichte, deren Motor ein jeweils a-teleologischer und a-moralischer Bewegungskreislauf ist. Diese Bewegungen arbeiten auf keinen außerhalb ihrer selbst liegenden Zweck hin; eine ‚List der Vernunft‘ ist nicht zu behaupten. Sich das einzugestehen, war Blanqui vielleicht näher als Marx; während bei Blanqui der Streit zwischen exakten Doppelgängern und der Möglichkeit einer Bifurkation offen ausgetragen wird und tendenziell auf einen Sieg der Fatalität hindeutet, scheint dieser Zwist bei Marx verdeckter. Im Kapital lesen wir zwar wenig von der Revolution, aber sie bleibt als Perspektive durchweg erhalten. So bringt Marx’ Darstellung der Durchsetzung des Wertgesetzes es zwar auf den Begriff – der Wert ist nur sich selbst und seiner Verwertung verpflichtet – doch kaum bewegt er sich auf dem Gebiet der Empirie, sucht Marx, wie im Achtzehnten Brumaire, doch wieder nach Hinweisen auf eine bevorstehende Revolution, bzw. sieht er diese selbst qua ‚List der Vernunft‘ in der Geschichte am Werke und ruft ihr zu: „Brav gewühlt, alter Maulwurf!“63 Das Motiv der übermächtigen Wiederkehr dominiert zumindest bei Blanqui deutlich über das der aktiven Wiederholung. Mir scheint es auch bei Marx die bestimmendere Figur, zumal aus heutiger Perspektive. Kittsteiner selbst fasst das Ergebnis seiner Entflechtung der zwei Zeitbegriffe bei Marx wie folgt zusammen: „Das Kapital ist nur es selbst und sonst nichts; es ist kein ‚Mittel‘ für irgendeine nach ihm kommende Gesellschaftsformation.“64 Damit bliebe gemäß dem vorherigen Bild nur noch die Spirale bestehen, also nur eine ewig wiederkehrende Kapitalverwertung. Die Nietzschesche Drohung, dies Leben mit allem, was darin enthalten war, in Ewigkeit von Neuem leben zu müssen, wäre damit verwirklicht. Doch sie zeitigt nicht nur auf Seiten überzeugter Gegner des Kapitalismus großes Unbehagen. Die These vom ‚Ende der Geschichte‘ hatte ihre Popularität vielleicht mehr als der Begeisterung noch dem Schrecken zu verdanken, den sie bei ihren Rezipienten auslöste. Sehen viele auch keine Alternative zum Kapitalismus, so ist das explizite Aussprechen der Annahme, mit dem Kapitalismus sei die Welt nun in ihrem ultimativen Stadium und am Ende ihrer Entwicklung angekommen, für viele dennoch eine Schreckensvision. Vielleicht also kann gerade und nur die Darstellung des Kapitalismus in seiner ewigen und zerstörerischen Wiederholung zu einem so großen Unbehagen führen, 62 Heinz Dieter Kittsteiner, Listen der Vernunft, S. 125. 63 Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW 8, S. 196. 64 Heinz Dieter Kittsteiner, Mit Marx für Heidegger, mit Heidegger für Marx, München, 2004, S. 126 f.
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dass dies Unbehagen die Möglichkeit für einen Ausbruch zeitigen kann. Das wäre die Geste des Blanqui’schen Kniefalls, der mit der Wucht seiner Unterwerfung zugleich die bürgerliche Gesellschaft erschüttert; Benjamin formuliert das so: „Der Gedanke der ewigen Wiederkunft ist hier das »Neue«, das den Ring der ewigen Wiederkunft sprengt[,] indem es ihn bestätigt.“65 Ziehen wir in diesem Sinne L’Éternité, Das Kapital und den Achtzehnten Brumaire zusammen, so liesse sich vielleicht sagen, dass wenn das Kapital als nicht-teleologisch und zugleich unendlich vorgestellt wird, nur mit Motiven der Brechung, des Stillstellens und der Sprengung überhaupt dagegengehalten werden kann. So ist auch Marx in seiner Feststellung zu verstehen, dass die wahre Revolution ihre Poesie nur aus der Zukunft schöpfen kann, und dass die proletarische Revolution nach einem Durchgang durch Wiederholungen – einem Ringen mit der Wiederkunft – endlich in einer Situation ankommen muss, „die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze!“66 Diese Stelle aus dem Achtzehnten Brumaire klingt tatsächlich mehr noch nach einem messianistischen Bruch denn einer evolutionistischen Kontinuität zum Kommunismus. Darstellung und Kritik sind demnach im Motiv der Wiederkunft nicht zu trennen; die Darstellung unseres gesellschaftlichen Zusammenhangs als ewige Wiederkunft des Gleichen liefert ihre Kritik bereits mit, sei es auch keine, die in heiterem Vertrauen auf die Machbarkeit der Geschichte einfache Lösungsvorschläge parat hielte. Aber Benjamin hat ohnehin ganz richtig bemerkt, dass nichts die Arbeiterbewegung so korrumpiert habe wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom.67
65 Walter Benjamin, GS I.3, S. 1152. Blanqui hat diesen anklagenden Kniefall tatsächlich vollzogen: Als er im Dezember 1844 im Gefängnis-Hospital von Tours, in das er aufgrund von Tuberkulose verlegt geworden war, per Dekret die Amnestie von König Louis-Philippe erhält, besteht er in einem wütenden Brief darauf, weiterhin in Gefangenschaft zu bleiben. Zumindest sollten diejenigen, die seine Gesundheit so ruiniert hatten, nun auch für den von Ihnen verursachten Schaden aufkommen und die Kosten der medizinischen Behandlung tragen, oder ihn unter ihrer Obhut sterben lassen: „Un bruit me parvient auquel je ne dois pas croire, tant ce qu’il m’annonce me parait odieux. Je serais, dit-on, grâcié! Non! monsieur, non! cela n’est pas possible! Si je dois mourir, c’est entre les mains de ceux qui m’ont frappé a mort. […] Me faire grâce ! Mais c’est se débarrasser des frais de traitement de ma maladie! C’est m’achever plus surement. Je ne pourrais pas me faire soigner, moi! Je n’ai plus rien.“ Zit. nach Maurice Dommanget, Auguste Blanqui. Des origines à la révolution de 1848. Premiers combats et premières prisons, Paris, 1969, S. 310. 66 Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW 8, S. 118. 67 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, S. 698.
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Wie Marx die Kulturkritik überwindet, indem er sie aufhebt
1. „Auch wir“, so Friedrich Engels 1844 in einem Essay über Thomas Carlyles „Past and Present“, „greifen die Heucheleien des jetzigen christlichen Weltzustandes an; […] aber weil wir durch die Entwicklung der Philosophie zur Erkenntnis dieser Heuchelei gekommen und weil wir den Kampf wissenschaftlich führen, darum ist uns das Wesen dieser Heuchelei nicht mehr so fremd und unverständlich, wie es für Carlyle allerdings noch ist“.1 Der religionskritische Junghegelianer distanziert sich von Carlyles „deutsch-pantheistische[m] Standpunkt“, von dessen „Kultus der Arbeit“ und „Heroenkultus“. Aber dessen Kritik an der Massenarmut, an der heuchlerischen Bourgeoisie, am faulenzenden Adel, an der Herrschaft des „Mammonismus“, am Zerfall der Gesellschaft, an der „Leerheit und Hohlheit des Zeitalters“ stimmt er zu.2 Engels interessiert sich besonders für England, weil hier die höchste Entwicklungsstufe der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft beobachtet werden kann. Und er lobt Carlyle, weil er deren Widersprüche thematisiert und gegen den vorherrschenden liberalen Optimismus- und Beschönigungsdiskurs interveniert. Gerade in England ist das Vertrauen in den Fortschritt besonders groß. Dagegen wendet sich eine heterogene Gruppe von Intellektuellen, die man als „viktorianische Kulturkritiker“ bezeichnet hat: John Ruskin, Matthew Arnold und Thomas Carlyle.3 Dieser schottische Historiker, Schriftsteller und Übersetzer ist ein Vermittler der deutschen literarisch-philosophischen Kultur, deren Bildungsidee4 den kulturkritischen Blick auf das eigene Land entscheidend schärft. Carlyle schätzt Schiller, Fichte, Jean Paul und Novalis. Vor allem aber bewundert er Goethe, der in ihm einen „verbündeten Freund“ sieht. Unverkennbar steht er in einer deutschen Tradition, wenn er im Namen des autonomen Geistes und des schöpferischen Individuums über das „Chaos“ und das „Verderben“ seiner Zeit klagt. Dabei tritt er wie ein Prophet auf, der die Zeichen der Zeit erkannt hat und der, ausgehend von einem idealisierten Mittelalter, die eigene Zeit kritisiert. Er ist kein Philosoph, der 1 Friedrich Engels, „Die Lage Englands. ‚Past and Present‘ by Thomas Carlyle” [1844], MEW 1, S. 544. 2 Thomas Carlyle, Past and Present [1843], London, 1960. 3 Zum Gesamtkomplex von „Fortschrittsglaube und Kulturkritik“ im viktorianischen Zeitalter vgl. die überzeugende Übersicht von Hans Ulrich Seeber, „Vormoderne und Moderne“, in: Ders. (Hrsg.), Englische Literaturgeschichte, 2. Aufl., Stuttgart, Weimar, 1993, S. 285 ff. 4 Vgl. dazu Georg Bollenbeck, ‚Bildung‘ und ‚Kultur‘. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a. M., 1994.
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sich innerhalb eines Theoriezusammenhangs mit anderen Philosophen auseinandersetzt, sondern er ist ein Kulturkritiker, der in Frontstellung zum Zeitgeist das „age of machinery“ und den „philanthropic twaddle“ der Liberalen kritisiert. Jenes „auch wir“ meint bei Engels einen Vortrupp revolutionärer Intellektueller, die mit den von Karl Marx und Arnold Ruge herausgegebenen „Deutsch-Französischen-Jahrbüchern“ eine „kritische Zeitschrift“ publizieren wollen, in der ein philosophischer Radikalismus aufgrund einer veränderten Lagebeurteilung das Bündnis mit dem Kommunismus der Handwerker und Arbeiter sucht: Der Hegelsche Überbau der Versöhnung ist eingebrochen, der junghegelianische Kampf gegen die Religion ausgefochten, ein neues Zeitalter der sozialen und politischen Kämpfe scheint angebrochen. In diesem publizistischen Rahmen erscheint der Carlyle-Essay. An ihm kann man ablesen, wie sich Engels zustimmend auf kulturkritische Befunde bezieht; wie er sie zugleich, ohne mit dem normativen Punkt kulturkritischen Denkens zu brechen, in einen anderen Begründungszusammenhang überführen möchte. Dazu zählen die Kritik an den depravierenden Zuständen der industriekapitalistischen Gesellschaft, der Anspruch einer neuartigen Analysefähigkeit: „soziale Übel wollen erkannt sein“5 und die normative Zielbestimmung: „Erringung des freien, menschlichen Selbstbewusstseins, der Einheit des Menschen mit der Natur, und der freien selbsttätigen Schöpfung einer auf rein menschliche, sittliche Lebensverhältnisse begründeten neuen Welt“.6
2. Solch hochgemute Vorstellungen können keine Wiederbelebung einer humanistischen Marxinterpretation stützen, die letztlich bei der „Wesensbestimmung des Menschen“ stehen bleibt.7 Eine solche „Philosophie vom Menschen“ (Louis Althusser) verführt zu einer dualistischen Sicht des Verhältnisses von menschlichem Subjekt und Gesellschaft. Weil sie im Subjekt den Ursprung des Handelns ausmachen will, lebt für sie das handlungsgehemmte Subjekt im Zustand der Entfremdung. Sie verkennt, dass die „Kritik der politischen Ökonomie“ mit dem Produktions- und Zirkulationsprozess des Kapitals die strukturelle Determination der individuellen Akteure als Träger bestimmter Klassenverhältnisse und Interessen herausstellt. Im Zentrum steht der „Gesamtkapitalist“ bzw. der „Gesamtarbeiter“ als Käufer/Verkäufer der Ware Arbeitskraft – nicht das falsche Abstraktum „Wesensbestimmung des Menschen“ oder das falsche Konkretum „jeweilige Persönlichkeit“. In der kapitalistischen Produktion, die wesentlich Produktion von Mehrwert, Einsaugung von 5 Friedrich Engels, „Die Lage Englands. ‚Past and Present‘ by Thomas Carlyle” [1844], MEW 1, S. 531. 6 Ebd., S. 546. 7 Sozusagen denkstilprägend: Herbert Marcuse, „Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus“ [1932], in: Ders., Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt a. M., 1969, S. 26.
WIE MARX DIE KULTURKRITIK ÜBERWINDET, INDEM ER SIE AUFHEBT
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Mehrarbeit ist, fungieren die Individuen lediglich als Elemente des Systems. Darauf kann sich die „antihumanistische“ Lesart stützen. Die „Kritik der politischen Ökonomie“ analysiert die strukturelle Determination der Individuen innerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Aber zu beachten ist: Sie kann diesen Nachweis nur erbringen, indem sie die Individuen – sie sind es, sie sind es nicht – unterschiedlich bestimmt. Die Verkäufer der Ware Arbeitskraft sind Strukturelemente des Systems und sie sind zugleich „juxtastrukturelle Individuen“, deren Lebensansprüche gleichermaßen mit dem System produziert und vom System negiert werden. Auch im ökonomischen Hauptwerk erhalten die Lebensansprüche eine programmatische Aufladung. Zu ihnen zählt nicht nur das materialistische Selbsterhaltungstheorem, sondern auch die bildungsphilosophische Vorstellung von der geglückten Identität. Die „antihumanistische Lesart“ verkennt die Verpflichtung der Marxschen Theorie gegenüber einer normativen Vorstellung vom „ganzen Menschen“.
3. Es macht wenig Sinn, das „humanistische“ Frühwerk und das „szientistische“ Spätwerk gegeneinander auszuspielen.8 Die Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Theoriebildungsprozess und die Eigenarten der Theorie gewinnen an Kontur, wenn dem Einfluss des kulturkritischen Reflexionsmodus auf Marx nachgegangen wird. So bildet die Vorstellung von der „freien Individualität“ kein transitorisches Moment, das durch spätere Theoriebildungsprozesse getilgt wird. Im Gegenteil: Diese kulturkritisch imprägnierte Leitidee behält auch innerhalb des „Systems der politischen Ökonomie“ eine werkkonstitutive Bedeutung. Die bisher unterschätzte Wirkung der Kulturkritik auf die Theoriebildung und die Theorie bei Marx lässt sich auf zwei unterschiedlichen Ebenen mit unterschiedlicher epistemologischer Wertigkeit ausmachen: auf der Ebene der Empirie und der Axiomatik. Kulturkritik befördert den Bruch mit der philosophischen Spekulation durch die Hinwendung zur Empirie, indem sie Material über die gesellschaftlichen Zustände bereitstellt und somit den Blick auf die wirklichen Individuen und deren materielle Lebensbedingungen schärft. Gewiss, Engels und Marx können aus eigener Anschauung mit Blick auf Manchester oder London urteilen. Im „Kapital“ werden die Berichte der Fabrikinspektoren ausführlich zitiert, denn „sie liefern also eine fortwährende und offizielle Statistik über den Kapitalistenheißhunger nach Mehrarbeit“.9 Dort wird aber auch eine Schrift gelobt, die ihre empirische Gültigkeit auch nach 40 Jahren noch nicht verloren hat und die Carlyles sozialpolitische Abhandlung „Chartism“ als Quelle für die menschenunwürdi-
8 Vgl. auch Ingo Elbe, Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965, Berlin, 2008, S. 28 f. 9 Karl Marx, „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie“, in: MEW 23, S. 254.
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gen Zustände, unter denen die englische Arbeiterklasse lebt, ausgiebig nutzt.10 In der „Lage der arbeitenden Klasse in England“ (1844/45) schreibt Engels „Ganz einsam steht der Deutsch-Engländer Thomas Carlyle […] er geht der sozialen Unordnung von allen englischen Bourgeois am tiefsten auf den Grund und fordert Organisation der Arbeit“.11 Freilich bilden die kulturkritischen Befunde Carlyles lediglich eine Quelle für die empirische Anschauung als Voraussetzung begrifflicher Durchdringung. Wichtiger ist die zweite Wirkungsebene kulturkritischen Denkens: die Vorstellung von der freien Individualität, die sich schöpferisch-selbsttätig im Medium der freien Arbeit entfaltet. Diese Vorstellung fungiert als ein werkkonstitutives Axiom für die Kritik der politischen Ökonomie und damit auch als Leitidee für die geschichtstheoretische, teleologiefreie Verlaufsannahme „mögliche höhere Gesellschaftsform“. Zu beachten bleibt, dass Marx nicht über Ethik reflektiert oder den zu analysierenden materialen Sachverhalt durch „Deutung“ ethisch spiritualisiert.12 Diese Vorstellung lässt sich allerdings innerhalb der „Methode der politischen Ökonomie“ verorten, wenn man sich vergegenwärtigt, was Marx unter dieser Methode versteht. Demnach ist „die konkrete Totalität als Gedankentotalität, als ein Gedankenkonkretum, in fact ein Produkt des Denkens, des Begreifens […]“; sie ist aber keineswegs ein Produkt „des außer oder über der Anschauung und Vorstellung denkenden und sich selbst gebärenden Begriffs, sondern die Verarbeitung von Anschauung und Vorstellung in Begriffe“.13 Kulturkritik hat, indem sie „Anschauungen und Vorstellungen“ für die begriffliche Analyse liefert, einen methodisch notwendigen protokategorialen Status für die „Kritik der politischen Ökonomie“. Michael Krätke ist zuzustimmen, wenn er behauptet, die Durchleuchtung der marxistischen Tradition hinsichtlich ihrer Erkenntnisgewinne für eine aktuelle Theorie der Gesellschaft erfordere „die Versiertheit eines Marx-Philologen, die Kenntnisse eines Historikers des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft, den Überblick eines komparativ arbeitenden Sozialforschers, die analytische Schärfe eines gelernten Philosophen und außerdem gründliche Kenntnisse der Entwicklungen in vielen Einzelwissenschaften – mehr also, als ein einzelner Kopf normalerweise aushält“.14 In diese Aufreihung – das macht die Sache nicht einfacher – gehört auch noch ein Historiker des kulturkritischen Denkens. Denn dieses Denken bildet eine Voraussetzung für die kognitive Dignität und handlungsmotivierende Attraktivität der Marxschen Theorie. Kul-
10 Ebd. 11 Friedrich Engels, „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ [1845], MEW 2, S. 502. Vgl. auch Gustav Mayer, Friedrich Engels. Eine Biographie. Erster Band: „Friedrich Engels in seiner Frühzeit“, Frankfurt, Berlin, Wien, 1975, S. 150-219. 12 Christoph Henning, Philosophie nach Marx. 100 Jahre Marxrezeption und die normative Sozialphilosophie der Gegenwart in der Kritik, Bielefeld, 2005, S. 565 ff. 13 Karl Marx, „Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie“, MEW 13, S. 632. 14 Michael Krätke, „Marxismus als Sozialwissenschaft“, in: Materialien zum Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus, hg. v. W. F. Haug, Hamburg, 1996, S. 84.
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turkritik wirkt für die „Kritik der politischen Ökonomie“ werkkonstitutiv und sie wird durch deren spezifische „Abstraktionskraft“15 zugleich aufgehoben.
4. Zu klären ist, was der notorisch unterbestimmte, schlecht beleumdete und doch unvermeidbare Begriff Kulturkritik meint. Rousseau und Schiller können als Vordenker der Kulturkritik gelten, weil sie ohne metaphysische Gewissheiten und geschichtsphilosophischen Trost gegen die Moderne Verlustrechnungen aufmachen, an denen andere weiter schreiben werden. Beide bestimmen den Verlauf des Zivilisationsprozesses, die Gegenläufigkeit von Höherentwicklung und Verfall, als Entfremdung des Individuums von sich selbst, als misslingende Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft. Sie kritisieren die instrumentelle Vernunft, den Zustand der Wissenschaften und Künste. Ihre Universalkritik richtet sich gegen den depravierenden Zustand der sich herausbildenden bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft.16 Kulturkritik, so könnte man idealtypisch formulieren, ist eine spezifische Art des Denkens, die mit der Aufklärung entsteht und die seit der Aufklärung bis heute gegen die Verheißungen der Moderne interveniert – und dies mit einer bestimmten Haltung und bestimmten Denkmustern. Kulturkritiker sind im doppelten Sinne „disziplinlose Denker“. Sie denken affektiv und hypergeneralisierend, beanspruchen keine sachorientierte Interesselosigkeit, kein professionalisiertes Handlungsbewusstsein. Ihr Denken wird nie einen festen disziplinären Ort finden, aber es wird viele Disziplinen und Denkstile stimulieren: die frühe deutsche Soziologie, den Neomarxismus oder die Kritische Theorie.17 Als Denkmuster, mit dem Wissen generiert wird, enthält die Kulturkritik eine wertende Differenz zwischen eingeschönter Vergangenheit, einem Ideal als normativem Punkt (der Naturzustand, die Griechen, das Mittelalter, der „ganze Mensch“, die „freie Individualität“ oder der „Übermensch“) und den schlechten Verhältnissen und Verhaltensweisen in der Gegenwart. So entsteht eine „Steigerung des Anspruchniveaus“18 gegenüber den gegebenen Verhältnissen. Diese Diskrepanz zwischen Erwartungen und Erfahrungen bildet die motivierende Ausgangslage kulturkritischen Denkens. Sie schärft den gesellschaftlichen Blick und evoziert antithetische Gegenüberstellungen. Mit dem Denkmuster werden meta-politische Totalkonstruktionen generiert. Seit Rousseau tritt Kulturkritik mit dem umfassenden Anspruch auf, den Verlauf der Geschichte und den Zustand der Gesellschaft zu deuten. Im Unterschied zur Zeitkri15 Karl Marx, „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie“, MEW 23, S. 12. 16 Zum Gesamtkomplex vgl. Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München, 2007. 17 Vgl. dazu ebd., S. 233 ff. 18 Ich übernehme diese Formulierung von Michael Pauen, Pessimismus: Geschichtsphilosophie, Metaphysik und Moderne von Nietzsche bis Spengler, Berlin, 1997, S. 12.
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tik hat Kulturkritik ein Geschichtsbewusstsein „von langer Dauer“.19 Kulturkritik erwächst aus der wertenden Rekonstruktion unterschiedlicher zivilisatorischer Zustände; sie hinterfragt den Fortschritt des eigenen Zeitalters, lehnt die eigene Gegenwart mit Blick auf die Opfer der Individuen ab und sucht nach Auswegen in der Zukunft. Dieses triadische Denken unterscheidet sie von einem Fundamentalpessimismus, der nicht nur die gegenwärtige Epoche, sondern das Dasein schlechthin verwirft. Das, was Rousseau und Schiller antizipieren, bleibt als ein argumentatives Arsenal (häufig als „forgotten history“) für die Kritik an der Moderne lebendig, freilich nicht als hegemoniale fortschrittskeptische Vorstellung, sondern innerhalb einer „Koexistenz mehrerer Mentalitäten“ (J. Le Goff). Kulturkritische Pathologiebefunde zirkulieren im 19. Jahrhundert. Sie werden in der Romantik gefühlsmäßig-ästhetisiert, in der Geschichtsphilosophie Hegels als vernünftige Notwendigkeiten neutralisiert und in Marxens „Kritik der politischen Ökonomie“ als Indikatoren der kapitalistischen Produktionsweise analysiert.
5. Im Gegensatz zu Hegel bezweifelt Marx nicht nur die Vernünftigkeit des Bestehenden, sondern auch das Bestehen der Vernunft. Er greift kulturkritische Befunde auf und analysiert sie innerhalb einer „Verwissenschaftlichung des Sozialen“. Zugleich bleibt er der normativen Leitidee der „freien Individualität“ verpflichtet. Marx destruiert den Hegelschen Überbau der Versöhnung. Seine Kritik der politischen Ökonomie will die Zumutungen der Moderne als Resultate der kapitalistischen Produktionsweise auf den Begriff bringen. Auch er bezieht sich wie Hegel auf drei verschiedene Revolutionen: auf die ökonomische aus England, die politische aus Frankreich und die philosophisch-kulturelle aus Deutschland. Wie seine aufrührerischen Generationsgenossen opponiert der junge Marx gegen die deutschen Zustände und das Bürgertum, verachtet die Universitätsphilosophie und drängt auf eine praktische Verwirklichung der Philosophie. In seiner Auseinandersetzung mit der „kritischen Kritik“ der Junghegelianer und der Staats- und Rechtsphilosophie Hegels deutet sich die Eigenart seines Denkens an. Hier zeigt sich, dass er die philosophische Spekulation durch eine empirisch gesättigte Analyse der widersprüchlichen Bewegung der bürgerlichen Gesellschaft überwinden will und das Proletariat als „Totengräber“ dieser Gesellschaft bestimmt.
19 So schreibt Karl Löwith über Nietzsche: „Die wahre Zeit für Nietzsches philosophische Absicht ist also nicht seine eigene, durch Wagner und Bismarck beherrschte, sondern was Nietzsche als erprobter Entdecker der ‚Modernität‘ und Verkünder einer ältesten Lehre sah, das ist gesehen auf längste Sicht.“ Ders., Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Frankfurt a. M., 1969, S. 208.
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Dies geschieht keineswegs in der für die Kulturkritiker charakteristischen Denkhaltung einer „intentional-werthaften Welterklärung“.20 Marx erhebt den Anspruch nüchterner strenger Wissenschaftlichkeit. Von daher erklärt sich seine Absage an bloß affektive Attacken gegen die Ungerechtigkeiten der gesellschaftlichen Verhältnisse und gegen einen moralisierenden, lediglich an Einsicht und Menschlichkeit appellierenden „wahren“ Sozialismus. Er bemüht sich um systematische Ordnung, terminologische Genauigkeit und empirische Validität. In den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ (1844) legt er einleitend Wert auf die Feststellung, dass seine „Resultate durch eine ganz empirische, auf ein gewissenhaftes kritisches Studium der Nationalökonomie gegründete Analyse gewonnen worden sind.“21 In dieser zentralen Frühschrift verweist schon der Titel auf die Verbindung der beiden Wissensformen, aus deren Kritik die „Kritik der politischen Ökonomie“ entstehen wird. Marx will nicht mehr wie Hegel die Philosophie in den Rang einer Wissenschaft erheben, sondern er zielt im Bewusstsein der Diskrepanz von philosophischem Erkenntnisanspruch und gesellschaftlichen Realitäten auf eine neuartige Verwissenschaftlichung des Sozialen.22 Der Bruch mit der kulturkritischen Denkhaltung im Namen des gewissenhaften kritischen Studiums führt allerdings zu keiner völligen Auslöschung kulturkritischer Wert- und Wissensformen. So lassen sich überraschende Gemeinsamkeiten mit den Kulturkritikern Rousseau und Schiller ausmachen.23 Bei beiden dient das Identitätskriterium als Maßstab einer Kritik, die zugleich vom „wirklichen“ Menschen als geschichtsbedingtes und sich selbst bildendes Wesen ausgeht.24 Das bildet die motivierende Ausgangslage des kulturkritischen Denkens, nämlich eine geschichtsphilosophisch nicht mehr zu versöhnende Diskrepanz zwischen hoch gestimmten Erwartungen an die Möglichkeiten der „freien Individualität“ und den einschränkenden Realitäten der „gesellschaftlichen Verhältnisse“.25 Aus dieser Diskrepanz entsteht die allgemeine Problemkonfiguration kulturkritischen Denkens, nämlich die Annahme einer Entfremdung von sich selbst wie von der Gesellschaft 20 Ernst Topitsch, Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, Eine Studie zur Weltanschauungskritik, Wien, 1958, S. 222. 21 Karl Marx, „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“ [1844], MEW 40, S. 467. 22 Von daher erklärt sich auch seine Langzeitwirkung auf die Soziologie und Sozialgeschichte. Vgl. Jürgen Kocka, Klasse und Geschlecht, 2. erw. Aufl., Göttingen, 1992. Man denke an Max Webers Äußerung aus dem Jahre 1920 gegenüber Studenten: „Die Redlichkeit eines heutigen Gelehrten, und vor allem eines heutigen Philosophen, kann man daran messen, wie er sich zu Nietzsche und Marx stellt. Wer nicht zugibt, dass er gewichtige Teile seiner eigenen Arbeit nicht leisten könnte, ohne die Arbeit, die diese beiden getan haben, beschwindelt sich selbst und andere.“ Ders., Max Weber, Werk und Person. Dokumente, ausgewählt und kommentiert von E. Baumgarten, Tübingen, 1964, S. 554 f. Der Beitrag über die frühe deutsche Soziologie. 23 Zu dem Verhältnis von Schillers Zeitkritik zum späten Hegel und Marx vgl. Heinrich Popitz, Der entfremdete Mensch. Zeitkritik und Geschichtsphilosophie des jungen Marx [1953], Darmstadt, 1973, S. 33 ff. 24 Günther Buck, Rückwege aus der Entfremdung. Studien zur Entwicklung der deutschen humanistischen Bildungsphilosophie, Paderborn, 1984, S. 159 ff. 25 Vgl. Friedrich Schiller, „Ankündigung der Horen“, in: Schillers Werke – Nationalausgabe, Weimar, 1943 ff., Bd. 22, S. 106 ff.
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aufgrund gegenläufiger Entwicklungen des Zivilisationsprozesses. Auch bei Marx finden sich Spuren dieser motivierenden Ausgangslage und Problemkonfiguration. Auch sein Werk hat einen normativen Punkt, zielt auf eine „Totalkonstruktion“ und entwirft eine triadische Verlaufsannahme von langer Dauer. Doch werden diese genuin kulturkritischen Denkmuster innerhalb der „Kritik der politischen Ökonomie“ gleichzeitig zerstört und bewahrt. Die Marxsche Theorie rechnet kulturkritische Pathologiebefunde der kapitalistischen Produktionsweise zu, nicht der Zivilisation wie bei Rousseau oder Schiller und nicht der bürgerlichen Gesellschaft im Sinne Hegels. Damit wandelt sich ihre Indikatorenfunktion und Faktorenfunktion. Sie belegen nicht mehr wie bei Rousseau und Schiller kulturkritische Verfallsdiagnosen mit dem Ausweg Tugendrepublik bzw. „Reich des Ästhetischen“. Sie werden auch nicht wie bei Hegel einer gesellschaftlichen Sphäre zwischen Staat und Familie zugeordnet, und letztlich durch den Staat in einer übergeordneten Sphäre kontrolliert und aufgehoben. Sondern sie werden als notwendige Resultate einer kapitalistischen Produktionsweise begriffen, deren „Produktion um der Produktion willen […] zur Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte und zur Schöpfung von materiellen Produktionsbedingungen“ führt, „welche allein die reale Basis einer höheren Gesellschaftsform bilden können, deren Grundprinzip [! G.B.] die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist“.26
6. Marxens Abrechnung mit der Philosophie vollzieht sich zunächst auf dem Weg der philosophischen Auseinandersetzung. Marx transformiert Feuerbachs Kritik an der „religiösen Verkehrung“ in eine allgemeine „Kritik an den Verkehrungen der Welt selbst“. Gegenüber Hegel erhebt er den Vorwurf des „Mystizismus“, der darin bestehe, dass er die Wirklichkeit von der Logik bzw. der logisch bestimmten „Idee“ her zurechtkonstruiere. So mache Hegel die Idee des Staates zum Subjekt und die politische Gesinnung zum Prädikat.27 Er interessiere sich nicht für das wirkliche Dasein, sondern für den „sich wissenden und wollenden Geist“. Gegenüber der Sache der Logik beharrt Marx auf der Logik der Sachen, auf ihre Entstehung und immanenten Entwicklungstendenzen. Hegel, so der Einwand, denke zwar von falschen Voraussetzungen ausgehend in falscher Form, gelange aber durchaus zu wichtigen Einsichten. Dazu zählt vor allem der aus der „Phänomenologie“ übernommene Gedanke der „Selbsterzeugung des Menschen“; der Gedanke, dass der Mensch als Resultat seiner eigenen Arbeit aufgefasst wird. Freilich sei für Hegel die einzige Arbeit, die er anerkennt, die geistige Arbeit. Zudem sehe er nur ihre positiven Seiten als Fortschritt im Erkenntnis-, Bewusstseins- und Bewusstwerdungspro26 Karl Marx, „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie“, Bd. 1, MEW 23, S. 618. 27 Karl Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ [1843], MEW 1, S. 209 ff. Vgl. auch Andreas Arndt, Karl Marx. Versuch über den Zusammenhang seiner Theorie, Bochum, 1985, S. 50 ff.
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zess und als Beitrag zum allgemeinen Wohlstand.28 Ignoriert Marx damit Hegels kritische Schilderungen der depravierenden Arbeit unter Manufaktur- und Fabrikbedingungen? Nein. Er ist aber der Ansicht, dass Hegel deren Negativität nicht als dialektische Negation zur bürgerlichen Gesellschaft bestimmt, sondern stattdessen eine Versöhnung mit der gegebenen politisch-sozialen Wirklichkeit konstruiert.29 Sein Lob, Hegel stehe auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomie, enthält unausgesprochen den Vorwurf, den er gegen die bürgerliche Nationalökonomie erhebt, nämlich dass sie die Bedingtheit und Endlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft festschreibe. Marx anerkennt durchaus, dass Smith und Ricardo im Unterschied zu späteren Apologeten und liberalen Ideologen die depravierenden Realitäten der bürgerlichen Gesellschaft keineswegs beschönigen. Aber er kritisiert, dass sie Individualismus und Konkurrenzverhalten nicht als geschichtliche Resultate verstehen, sondern für naturgemäß halten und in die Frühgeschichte rückprojizieren: schon Jäger und Fischer treten bei ihnen als bürgerliche Subjekte, als Privateigentümer und Händler auf. Mit dieser entschiedenen Historisierung von Verhaltenweisen und Verhältnissen argumentiert Marx ähnlich wie Rousseau30, der ja im zweiten Teil seines „Diskurses über die Ungleichheit“ die Widersprüche seiner Zeit erklären will, indem er sie kritisch-genetisch rekonstruiert. Rousseau argumentiert entwicklungslogisch – aber nicht als Universalhistoriker, sondern, ausgehend vom gegenwärtigen Zustand der Zivilisation, als ein Kulturkritiker, der kein primäres Interesse an der Geschichte „an sich“ hat, sondern den die Vergangenheit lediglich interessiert, insofern sie Auskunft zu geben verspricht über den ursprünglichen Zustand der Menschen wie über die sukzessiven Veränderungen ihrer Affekte, Verhaltensweisen und Verhältnisse. Dieser „Entdecker der menschlichen Historizität“31 wirft den Naturrechtstheoretikern vor, sie hätten zwar die Notwendigkeit gefühlt, bis zum Naturzustand zurückzugehen, doch sei keiner bei ihm angelangt und deshalb hätten sie keine Kenntnisse von den Menschen. Sie behaupteten zwar, von der menschlichen Natur auszugehen, aber sie könnten nicht unterscheiden, was natürlich und was depraviert, also was letztlich das Resultat eines langen zivilisationsgeschichtlichen Prozesses sei. Rousseau aber sieht (ähnlich wie später auch Carlyle) im Konkurrenzverhalten keine Eigenschaft der ursprünglichen menschlichen Natur, sondern das Resultat eines Prozesses von Höherentwicklung und Verfall. So würden Hobbes oder Mandeville dazu verleitet, bestimmte historisch gewordene 28 Karl Marx, „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“ [1844], MEW 40, S. 574. 29 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Hegel das Problem von Massenarmut und übermäßigem Reichtum durchaus sieht und als dessen Lösung auch die Auswanderung vorschlägt. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, „Grundlinien der Philosophie des Rechts“, bes. § 245 und § 248, in: Theorie Werkausgabe, Bd. 7: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Frankfurt a. M., 1986. 30 Bereits 1843 schreibt Marx in der „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“ über die kritisch-genetische Methode: „So weist die wahrhaft philosophische Kritik der jetzigen Staatsverfassung nicht nur Widersprüche als bestehend auf, sie erklärt sie, sie begreift ihre Genesis, ihre Notwendigkeit“, MEW 1, S. 296. 31 Pierre Burgelin, La philosophie de l`existence de J. J. Rousseau, Paris, 1952, S. 191.
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Haltungen und Affekte als anthropologische Grundcharakteristika vorschnell festzuschreiben.32 Rousseau interessiert sich weniger dafür, wie man unter den gegebenen Verhältnissen produziert, sondern mehr dafür, wie depravierte Verhaltensweisen und depravierende Verhältnisse im Verlauf des Zivilisationsprozesses produziert wurden. Er lehnt die Ausweitung von Geldwirtschaft, Tauschhandel und Maschineneinsatz ab, weil die mit der ökonomischen Dynamik verbundene Konkurrenz sein Ideal der politischen Tugend destruiert. Deshalb plädiert er für eine gebremste Ökonomie der Handwerker und Bauern. Bemessen am Theoriestandard seiner Zeit kann er als Defizitärökonom gelten.33 Marx aber überbietet den Theoriestandard, mit der politischen Ökonomie gegen die politische Ökonomie argumentierend, seiner Zeit. Er bejaht die Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise, er bleibt aber gleichzeitig der kulturkritischen Problemkonfiguration verpflichtet. Gerade aus Sicht des Spätwerks wird die stimulierende Kraft des Frühwerks und seiner Thematisierung des Entfremdungsproblems für die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise deutlich. Helmut Reichelt betont in seiner Untersuchung zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs, man könne die Wertformanalyse als „Einlösung des Programms der vierten Feuerbachthese auf der Ebene der politischen Ökonomie“ lesen.34 Was Feuerbachs Religionskritik praktiziere, die Auflösung der scheinbaren Selbstständigkeit und Substantialität Gottes durch eine analytisch-reduktive Zurückführung auf das Wesen des Menschen, das entspräche einer Denkfigur der politischen Ökonomie, würden doch Smith und Ricardo verselbständigte Reichtumsformen auf das einheitliche Prinzip menschlicher Arbeit zurückführen. Hingegen sei es nun Marx’ Projekt, eine genetische Rekonstruktion der Notwendigkeit verselbstständigter Formen und ihres gegenständlichen Scheins aus historisch-spezifischen Vergesellschaftungsbedingungen der Arbeit heraus zu leisten. Innerhalb dieser Transformation von der „Religionskritik“ zur Ökonomiebzw. Gesellschaftskritik – das wird von H. Reichelt überlesen – verschwindet das Entfremdungsproblem aber keineswegs. Vom Spätwerk her gelesen ist die vierte Feuerbachthese aufschlussreich, auch weil sie zeigt, wie Marx das Phänomen der „religiösen Selbstentfremdung“ aufheben will, indem er bei der Partialkritik „der religiösen Selbstentfremdung, der Verdoppelung der Welt in eine religiöse, vorgestellte und eine wirkliche Welt“ nicht stehen bleibt, sondern darauf insistiert, dass
32 Rousseaus These, dass Hobbes die frühbürgerlichen Verhaltensweisen seiner Zeitgenossen verallgemeinert, belegt: C. B. Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Von Hobbes bis Locke, Frankfurt a. M., 1967. 33 Dazu Johannes Rohbeck: „So kommt Rousseau über eine Kritik des Merkantilismus, dessen ökonomische Voraussetzungen er teilt, nicht wesentlich hinaus.“ In: Ders., Die Fortschrittstheorie der Aufklärung. Französische und englische Geschichtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M., New York, 1987, S. 315. 34 Helmut Reichelt, Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx, Frankfurt a. M., 1970, S. 151.
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die Universalkritik an der der Selbstzerrissenheit und dem Sichselbst-Widersprechen dieser weltlichen Grundlage als „Hauptarbeit“ [! G.B.] noch zu leisten sei.35 Aus der Auseinandersetzung mit der Philosophie (Hegel, Feuerbach) und der Nationalökonomie gewinnt Marx die Kategorien seiner Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft als historisch-ökonomische Formation. Rückblickend auf seine „Revision der Hegelschen Rechtsphilosophie“ schreibt er in „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ (1859): „Meine Untersuchung mündet in dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen ´bürgerliche Gesellschaft´ zusammenfasst, daß aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei.“36 So wird die Hegelsche Trennung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat aufgelöst. Der Staat erscheint nicht mehr als „Wirklichkeit der sittlichen Idee“, sondern als profaner „Ausschuß zur Verwaltung der Bourgeoisiegeschäfte.“ Die „Anatomie-Metapher“ wird verständlich, wenn man die doppeldeutige Formel „Kritik der politischen Ökonomie“ näher bestimmt. Zunächst handelt es sich um eine Kritik an der politischen Ökonomie, um den Einwand, dass deren Denken den herrschenden Ideen der Bourgeoisie verhaftet bleibt, wenn es die Illusion erwecke, dass es bei der Aneignung von Besitz und bei der Beschaffung von Gütern rechtmäßig und moralisch zugehe, dass Aneignung erst durch eigene Arbeit oder durch den Tausch gleichwertiger Güter zustande komme. Für Marx kann mit diesem Ansatz nicht überzeugend erklärt werden, warum diejenigen, die viel arbeiten, arm und einige, die wenig arbeiten, reich sind. In der Zirkulation, sozusagen an der „Oberfläche“, wo Waren getauscht und Verträge geschlossen werden, lasse sich dies nicht zeigen. Deshalb soll, und das ist der entscheidende Schritt, der Produktionsprozess des Kapitals untersucht werden. Innerhalb dessen kann erkannt werden, wie durch den Gebrauch der Ware Arbeitskraft im Produktionsprozess mehr Wert geschaffen wird, als die Ware Arbeitskraft kostet.37 Diese Kritik an der politischen Ökonomie ist zugleich auch eine Kritik der politischen Ökonomie an der bürgerlichen Gesellschaft, die kategoriale Unterscheidungen vornimmt, um „Anschauung und Vorstellung“ in Begriffen zu verarbeiten. So gerät die Kritik der Theorie zu einer Kritik an der Wirklichkeit, die den theoretischen Anspruch, die gesellschaftlichen Widersprüche auf den Begriff zu bringen, mit dem praktischen Anspruch, als Theorie zur materiellen Gewalt zu werden, sobald sie die Massen ergreife, verbindet.38 35 Karl Marx, „Thesen Über Feuerbach“, MEW 3, S. 534. Hier zitiert nach dem von Engels 1888 veröffentlichten Text. Im Manuskript vom Frühjahr 1848 fehlt der Hinweis auf die „Hauptarbeit“. 36 Karl Marx, „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ [1859], MEW 13, S. 8. 37 Karl Marx, „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie“, MEW 23, S. 189 ff. 38 Vgl. Kurt Röttgers, „Kritik“, in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. hg. v. Hans Jörg Sandkühler, Bd. 2, Hamburg, 1990, S. 894. Die Minimierung der Differenz von Theo-
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7. Zur Frage der neuartigen psychischen und physischen Verelendung der Massen äußern sich Staatswissenschaftler, Nationalökonomen, Pfarrer, Schriftsteller und Kulturkritiker wie Carlyle. Sie alle suchen angesichts der „sozialen Misere“ nach einer Antwort auf die „soziale Frage“. Das tun auch Marx und Engels. Dabei blicken sie nicht alleine auf die sozialen Zustände in Deutschland, sondern vornehmlich auf „die Lage der arbeitenden Klasse in England“. So lautet der Titel einer fundierten sozialkritischen Analyse des jungen Fabrikantensohns Friedrich Engels. Ihr Untertitel wendet sich im Bewusstsein der „Feuerbachschen Auflösung der Hegelschen Spekulation“39 programmatisch gegen die philosophische Spekulation. Er lautet: „Nach eigener Anschauung und authentischen Quellen“. Gleichwohl versteht sich diese Schrift nicht als Dokumentation des Elends, sondern als Beitrag zu einer sozialistischen Theorie. Sie erklärt die „soziale Frage“, zu einer „Klassenfrage“. Sie bezieht ihr Material aus dem Zentrum der Industrialisierung, aus England. Als privilegierte „authentische Quelle“ dient dabei eine andere Schrift Carlyles, dessen sozialpolitische Abhandlung „Chartism“ (1840). In diesem Punkt werden Gemeinsamkeiten mit und Differenzen gegenüber der Kulturkritik deutlich. Rousseau kennt die Armut durchaus. Er kritisiert in seiner Genealogie der Ungleichheit den Gegensatz zwischen Arm und Reich ebenso wie die depravierenden Folgen der Berufsarbeit.40 Auch er geht davon aus, dass man den Menschen nur verstehen kann, wenn man die Gesellschaft kennt, und dass man die Gesellschaft nur erkennt, wenn man die Geschichte der Vergesellschaftung auf die Geschichte der Arbeit in ihrer dreifachen Verhältniseigenschaft (als Verhältnis gegenüber der Natur, als Verhältnis der Menschen zueinander und als Verhältnis zu sich selbst) rückbezieht. Auch er versteht seine Gegenwart als Resultat einer geschichtlichen Entwicklung, die er im zweiten Teil des „Diskurses über die Ungleichheit“ entfaltet und innerhalb deren die dreifache Dimension des Arbeitsbegriffs eine treibende Rolle spielt. Gemeint sind nicht „Arbeiten“ (ouvrages) lediglich im Sinne der Aneignung von Naturprodukten notwendig, sondern im Sinne von zielsetzender Arbeit (travail), als Voraussetzung für Arbeitsteilung, Naturbeherrschung, Eigentum und Ungleichheit der Vermögen.41 Die Menschen verbessern gegenüber der Natur ihre Bearbeitungs- und Arbeitstechniken: Metallriekritik und Sachkritik gründet in der Annahme, dass Kategorien Daseinsformen und Existenzbestimmungen der Gesellschaft ausdrücken sollen. 39 Friedrich Engels, „Die Lage der arbeitenden Klassen in England“ [1845], MEW 2, S. 233. 40 Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit [1755], kritische Ausgabe des integralen Textes, neu ed., übers. und kommentiert von Heinrich Meier, 5. Aufl., Paderborn, München, Wien, Zürich, 2001, S. 313. 41 Ebd., S. 194. Rousseau thematisiert mit dieser Unterscheidung das, was Lukács als Grundlage seiner Ontologie herausstellen wird, nämlich die grundlegende Bedeutung der Arbeit für das gesellschaftliche Sein: „Wenn man die spezifischen Kategorien des gesellschaftlichen Seins, ihr Herauswachsen aus den früheren Seinsformen, ihre Verbundenheit mit ihnen, ihre Fundiertheit aus ihnen, ihre Unterscheidung von ihnen, ontologisch darstellen will, muß dieser Versuch mit der Analyse der Arbeit beginnen.“ Georg Lukács, Ontologie Arbeit, Neuwied, Darmstadt, 1973, S. 5.
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urgie und Ackerbau, Arbeitsteilung und Kooperation sind die Grundlagen einer Gesellschaft. Dieser Einzelfortschritt kann allerdings nicht zum Fortschritt verallgemeinert werden, weil gerade damit (hier zeigt sich, wie Rousseau dem Zivilisationsprozess eine dialektische Ambivalenz einschreibt) das Elend wächst. Nun produzieren die Menschen mehr, als ihre natürlichen Bedürfnisse verlangen, und um dieses Mehrprodukt kommt Streit auf, wie überhaupt die Menschen, angestachelt durch künstliche Bedürfnisse, sich in lauernder Konkurrenz gegenüber stehen. Dieses Konkurrenzverhalten bezieht seine motivierende Kraft nicht nur aus dem Streben nach Reichtum angesichts eingeschränkter Ressourcen. Man will auch reich sein, um geachtet zu werden. Von daher wird Jean Starobinskis Hinweis, „Rousseau hat stets die Probleme des Bewußtseins an die der Ökonomie gebunden“, verständlich.42 Stolz und Neid, Betrug und Laster, sich Verstellen und Betrügen werden im „Diskurs über die Ungleichheit“ als Affekte und Verhaltensweisen erklärt, die mit der Produktionswirtschaft aufkommen. Rousseau ist ein Sozialphilosoph und politischer Denker, der zwar über die Ökonomie schreibt, der aber nicht als Theoretiker der Ökonomie gelten kann. Von daher erklärt sich die große Bedeutung, die er im zweiten Teil des „Diskurses über die Ungleichheit“ der Genese des Politischen und der hypothetischen Geschichte der Regierungen beimisst. Seine Kulturkritik ist konstitutiv für das „umfassende Programm republikanischer Bürgerlichkeit unter den Bedingungen der Moderne“.43 Die Einsicht in den Zusammenhang von dynamischer Warenproduktion – Reichtum – Konkurrenzverhalten wird in seinem gesellschaftlichen Reformprogramm, das an der klassischen aristotelischen Trias des Individuums, der häuslichen Gemeinschaft und des Staates orientiert ist, mitberücksichtigt. Die Dynamik der Ökonomie, des Geldes, der Tauschwirtschaft und der Maschinen (hier zeigt sich die für Rousseau charakteristische Kombination von modernen und modernitätsfeindlichen Elementen) soll in einer überschaubaren Welt der Handwerker und Bauern, einer Welt ohne großen Reichtum, still gestellt werden, eben weil diese Dynamik Verhältnisse schafft, die tugendhaftes republikanisches Verhalten des citoyen nicht zulassen. Marx hingegen analysiert und bejaht die Dynamik der Ökonomie. Die neue Massenarmut ist für ihn ein Resultat der kapitalistischen Produktionsweise. Auch er will die Entstehung und immanente Entwicklung der Gesellschaft analysieren. Auch er übernimmt die von Giambattista Vico eingeführte Vorstellung, nach der die Menschen ihre Geschichte selbst machen, freilich nicht aus „freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen überlieferten Umständen.“44 Im Gegensatz zu Rousseau konzentriert er sich nicht auf die Entwicklungsgeschichte der Menschheit seit dem „Naturzustand“, sondern auf eine systematische Zusammenfassung der ökonomischen Wissenschaft (hier zeigt sich der geringe Abstand von Theorie- und Sachkritik) und der Logik des 42 Jean Starobinski, Rousseau: eine Welt von Widerständen, Frankfurt a. M., 2003, S. 158. 43 Friederike Kuster, Rousseau – Die Konstitution des Privaten. Zur Genese der bürgerlichen Familie. Berlin, 2005, S. 15. 44 Karl Marx, „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, MEW 8, S. 115.
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Kapitals als die „alles beherrschende Macht der bürgerlichen Gesellschaft“. Innerhalb der systematischen Darstellung des Systems der kapitalistischen Produktionsweise ist das Historische zunächst nur dann von Belang, wenn es um die „ursprüngliche Akkumulation“ geht, in der die Produzenten von ihren Produktionsmitteln gewaltsam getrennt werden, um als „freie“ Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt verfügbar zu sein. Was die Kulturkritik dem Zivilisationsprozess als Verfallsgeschichte zurechnet, das erscheint so als eine notwendige Voraussetzung für die Herausbildung kapitalistischer Produktionsverhältnisse: „Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d. h. auf Seite der Klasse, die ihr eigenes Produkt als Kapital produziert.“45 So wird die kulturkritische Totalkonstruktion durch das „System der kapitalistischen Produktionsweise“ ersetzt.
8. Schon Rousseau kritisiert, dass sich die Resultate menschlicher Tätigkeiten unter den Bedingungen der gesellschaftlichen Ungleichheit in etwas den Individuen Fremdes und Feindseliges verwandeln. Die Gesellschaft wird von Menschen gemacht, sie kann sich gegenüber Menschen verselbstständigen und befindet sich am Ende im Zustand extremer sozialer Gegensätze. So zeigt sich in Rousseaus Denken die allgemeine Problemkonfiguration kulturkritischen Denkens, die Entfremdung von sich selbst und von der Gesellschaft, die gescheiterte Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft.46 Dieses seit Rousseau immer wieder reformulierte kulturkritische Zentralthema der Entfremdung erhält innerhalb der Kritik der politischen Ökonomie einen systemischen Begründungszusammenhang. Es geht nicht mehr um die im Verlauf des Zivilisationsprozesses verloren gegangenen „geglückten Identitäten“, vielmehr geht es darum, so heißt es schon in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ (1844), „die Entfremdung mit dem Geldsystem“ zu begreifen. Deshalb distanziert Marx sich vom spekulativen und idealistischen Denken der die Selbstentfremdung philosophierenden Junghegelianer wenn er in der „Deutschen Ideologie“ (1845/46) etwas maliziös „diese Entfremdung, um den Philosophen verständlich zu bleiben“ erwähnt.47 Sicherlich, der junge Marx gebraucht das Wort Entfremdung häufiger als der reife Marx. Und er tut dies zunächst ohne definitorische Abschließung und theoretisch-systematische Einbettung. Entfremdung wird – bemessen mit dem „wahren Wesen“ des Menschen – als Entfremdung von diesem verstanden. Marx übernimmt Phänomene, die Hegel in der „Phänomenologie des Geistes“ als Welt des 45 Karl Marx, „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie“, MEW 23, S. 675. 46 Freilich kennt Rousseau den Terminus noch nicht, aber er durchdenkt den Sachverhalt. Vgl. auch „alienation“, in: N. J. H. Dent, A Rousseau Dictionary, Oxford, 1992, S. 27-29. 47 Karl Marx, Friedrich Engels, „Die Deutsche Ideologie“, MEW 3, S. 34.
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„sich entfremdenden Geistes“ dargestellt hat.48 Die Grundlage für die Entfremdung bildet das Phänomen der „Entäußerung“: In der Gestaltung der Realität gelangt das Subjekt nicht zur Anschauung seiner selbst, weil diese Realität ihm ein Negatives, Äußerliches bleibt. Aber Hegel bestimmt die Entfremdung keineswegs gesellschaftskritisch. Er bestimmt sie als Strukturprinzip des Geistes, als konstitutiv für Geistigkeit überhaupt. Es gibt nichts Geistiges, das nicht ein Entfremdetes wäre.49 Der Begriff meint eine spezifische Dialektik, nämlich ein Stadium innerhalb der Entwicklung der selbstbewussten Individualität. Deren Individualität hat die wirkliche Welt geschaffen, aber diese Welt der Religion, der Staatsmacht und des Reichtums erscheint nicht als das eigene Produkt. Damit sind entscheidende Entfremdungsphänomene thematisiert, die Marx aufgreifen und radikalisieren wird, indem er die Annahme, die Entfremdung könne durch eine höhere Erkenntnisstufe überwunden werden, verwirft. „Die ganze Entäußerungsgeschichte“, so die Kritik an Hegel in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“, „und die ganze Zurücknahme der Entäußerung ist daher nichts als die Produktionsgeschichte des abstrakten […] des logischen spekulativen Denkens“. Der Philosoph selbst lege sich eine „abstrakte Gestalt des entfremdeten Menschen – als den Maßstab der entfremdeten Welt an“.50 Marx aber hat einen anderen „Maßstab“. Mit Feuerbach bestimmt er den Menschen als „wirklich, leibliches, gegenständliches“ Wesen; und gegen Feuerbach bestimmt er dieses Wesen als praktisch-tätiges, das weder als ein isoliertes Individuum noch als die bloß natürlich verbindende Allgemeinheit vieler Individuen sondern als „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ verstanden wird. Nochmals: Es gibt nicht den von Louis Althusser unterstellten epistemischen Bruch zwischen einem Humanismus, der auf die Rückkehr des Menschen zu sich selbst setzt, und einem Antihumanismus, der die philosophische Kategorie des Subjekts vertreibt.51 Marx transformiert in den ökonomischen Hauptschriften den kulturkritischen Entfremdungsbegriff zu einem sozialanalytischen Begriff. Entfremdung ist hier ein zentrales, genauer analysiertes Thema. Deshalb ist in den Hauptschriften, um das Begriffene zu bezeichnen, von „Versachlichung“ oder „Vergegenständlichung“, von „Fetischismus“ oder „Verselbstständigung“ die Rede. In einer umfassenden Bedeutung zeigt sich das Phänomen der Entfremdung in sozialen Beziehungen der warenproduzierenden Gesellschaft. Die besteht darin, dass den Menschen die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Arbeit als Beziehungen der Dinge, Sachen und Arbeitsprodukte als das erscheinen, was sie sind und zugleich auch nicht sind; also „nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse 48 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, „Phänomenologie des Geistes“, in: Theorie Werkausgabe: Phänomenologie des Geistes., Bd. 3, Frankfurt a. M., 1970, S. 324 ff. 49 Vgl. Ludwig Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes. Ein einführender Kommentar zu Hegels „Differenzschrift“ und zu „Phänomenologie des Geistes“, Frankfurt a. M., 2000. 50 Karl Marx, „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, MEW 40, S. 572. 51 Vgl. dazu Sebastiano Ghisu, „Entfremdungsdiskussion“, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, hg. v. Wolfgang Fritz Haug, Bd. 3, Hamburg, 1997, S. 469-479. Gajo Petrovic, “Alienation”, in: Dictionary of Marxist Thought, hg. v. Tom Bottomore, 2. Aufl., Oxford, 1999, S. 1116.
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der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen“.52 Besonders deutlich zeigt sich dies in der Form des zinstragenden Kapitals, das in der Zirkulation als werterzeugender Wert erscheint, den man „arbeiten“ lässt. So werden die Menschen untereinander fremd und der gesellschaftliche Zusammenhang erscheint ihnen als fremde Macht. Sie begegnen sich innerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse als „Personifikationen ökonomischer Kategorien“ und „Träger bestimmter Klassenverhältnisse“. In einer engeren aber „gesellschaftsanalytischen Schlüsselbedeutung“ meint Entfremdung als entfremdete Lohnarbeit, dass der Lohnarbeiter selbst zur Ware, zu einer verwertbaren Sache, zu einer „lebendigen Maschine“ wird, über deren Verwertung andere verfügen. „Die verselbständigte und entfremdete Gestalt, welche die kapitalistische Produktionsweise überhaupt den Arbeitsbedingungen und dem Arbeitsprodukt gegenüber dem Arbeiter gibt, entwickelt sich also mit der Maschinerie zum vollständigen Gegensatz.“53 Der eigentümliche Charakter der Arbeit besteht darin, dass der Arbeiter sich vom Produkt seiner Tätigkeit entfremdet, insofern es ihm als fremdes Eigentum erscheint. Dass er sich zudem von seiner Tätigkeit entfremdet, weil er ihr gegenüber („außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich“) eine Gleichgültigkeit entwickelt, weil sie nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses ist, sondern nur ein Mittel, um Bedürfnisse zu befriedigen; dass er sich schließlich vom menschlichen Gattungswesen entfremdet, von Arbeit als „freier bewusster Tätigkeit“. Indem die entfremdete Arbeit dem Menschen den Gegenstand seiner Produktion entreißt, entreißt sie ihm sein Gattungsleben. Was Rousseau, Schiller und Carlyle als Entfremdungsphänomene einer gegenläufigen Verfallsgeschichte zurechnen, das gerät bei Marx als Phänomen der kapitalistischen Produktionsweise zum treibenden Element einer dialektischen Gesellschaftstheorie mit innergeschichtlichem Ausweg. Die Widersprüche sollen nicht still gestellt werden – also kein überschaubares Gemeinwesen mit annähernd gleichem Besitz und gleicher Bildung als sozioökonomische Basis einer Tugendrepublik. Sie sollen auch nicht eingeklammert werden – also kein Reich des Ästhetischen jenseits der „Beschränktheit unserer Zustände“.54 Sie sollen auch nicht wie bei Carlyle durch die quasireligiöse Erlösungskraft der Arbeit und durch die Führungskraft der Herrschernaturen behoben werden.55 Für Marx ist ein Ausweg unter zwei Voraussetzungen möglich: Die Entfremdung muss zu einer „unerträglichen Macht“ geraten, gegen die man revolutioniert, und die Produktivkräfte müssen soweit entwickelt werden, dass nicht der Mangel verallgemeinert wird, dass vielmehr die Sphäre der materiellen Produktion als „Reich der Notwendigkeit“ zurückgedrängt wird, damit das „Reich der Freiheit“ 52 Marx bezeichnet dies auch als Fetischismus. Ders., „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie“, MEW 23, S. 87. 53 Ebd., S. 455. 54 Friedrich Schiller, „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“, in: Schillers Werke – Nationalausgabe, Bd. 20, S. 416. 55 Thomas Carlyle, Past and Present [1843], London, 1960, S. 276 ff.
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beginnen kann.56 Auch Schiller unterteilt in den „Briefen über die ästhetische Erziehung“ zwei Reiche: eine unvernünftige empirische Welt der einschränkenden Verhältnisse und eine transempirische vernunftbegründete Welt der Schönheit. Beide stehen sich unvermittelt gegenüber. Er beklagt das „nachteilige Verhältnis der Individuen bei allem Vorteil der Gattung“ und weist die Vorstellung vom notwendigen Opfer des Individuums im Dienste des Fortschritts zurück. Gegenüber Forderungen, im Namen des Einzelnen die schweißgetränkte Entwicklung der Gattung aufzuhalten, verweist Marx auf die produktive Logik einer „Produktion um der Produktion halber“. Die Höherentwicklung der Gattung Mensch wird – so der kalte Objektivismus – durch einen historischen Prozess erkauft, worin die Individuen geopfert werden. Das ist keine herrische Forderung im Interesse einer Geistesaristokratie wie bei Nietzsche. Es ist ein analytischer Befund, der dazu beitragen will, dass der Fortschritt nicht immer seinen Nektar aus den Schädeln der Erschlagenen trinken wird. In diesem Sinne bejaht Marx die Zumutungen der Moderne. Er ist ein Beschleunigungstheoretiker, einer, der die schockartige Dynamisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse durchdenkt und sie in einer dreistufigen geschichtstheoretischen Verlaufsannahme situiert, die nicht nach dem Schema „gute Vergangenheit“, „schlechte Gegenwart“ und „rettende Zukunft“ konstruiert ist.57 Aus Marxens Analyse der kapitalistischen Produktionsweise ergibt sich „eine die Form einer dialektischen Triade tragende Einteilung der gesamten Menschheitsgeschichte in drei Stufen“.58 Deshalb lobt er mit Blick auf eine rückständige feudale, patriarchalische und idyllische Vergangenheit die „revolutionäre Rolle“ der Bourgeoisie. Denn sie zerstört die alten sozialen Verhältnisse, wälzt die Produktion fortwährend um und erschüttert die gesellschaftlichen Zustände.59 Die ersten Gesellschaftsformen beruhen aufgrund der geringen menschlichen Produktivität und der isolierten Produktion auf persönlicher Abhängigkeit; die zweite Stufe beruht als ein komplexeres System der Naturbeherrschung und der Vergesellschaftung auf persönlicher Unabhängigkeit aufgrund sachlicher Abhängigkeit (Geld); schließlich die dritte Stufe der „freien Individualität“, „gegründet auf die universelle Entwicklung der Individuen und die Unterordnung ihrer gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Produktivität, als ihres gesellschaftlichen Vermögens“.60
56 Karl Marx, „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie“, in: MEW 25, S. 828. Dieser Gedanke findet sich auch schon in den Frühschriften vgl. Marx, Engels, „Deutsche Ideologie“, in: MEW 3, S. 34 f. 57 So liest ihn Hartmut Rosa, Beschleunigung, Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M., 2005, S. 89 ff. 58 Roman Rosdolsky, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen „Kapital“. Bd. II, Frankfurt a. M., 1968, S. 488. 59 Karl Marx, Friedrich Engels, „Manifest der kommunistischen Partei“ [1848], MEW 4, S. 464 ff. 60 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie [1857/58], Berlin, 1981, S. 75.
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9. Der Anspruch auf nüchterne Wissenschaftlichkeit, die „Kritik der politischen Ökonomie“ und die sich darauf beziehende dreistufige geschichtstheoretische Verlaufsannahme zeigen, dass Marx nicht als Kulturkritiker gelten kann. Die Analyse der kapitalistischen Produktionsverhältnisse ist eine materialistische, indem sie auf der Priorität des Seins gegenüber dem Bewusstsein beharrt. Aber sie ordnet das Bewusstsein dem Sein nicht hierarchisch unter. Erst die Anerkennung der Priorität des Seins der kapitalistischen Produktionsweise eröffnet die Möglichkeit zu einer Analyse, die ihre gesellschaftskritische Schärfe aus programmatischen Überschüssen erhält, die gegen die Priorität dieses Seins geltend gemacht werden. Es gibt keine „coupure épistemologique“ zwischen dem „philosophischen“ Frühwerk und dem „ökonomischen“ Hauptwerk. Konstitutiv für die Verwissenschaftlichung des Sozialen bleibt die Vorstellung vom „ganzen Menschen“. „Das Kapital“ kennt nicht nur den Arbeiter als Verkäufer der „Ware der Arbeitskraft“ und die Konsumtion dieser Arbeitskraft durch den Käufer, den „Kapitalisten“; es anerkennt auch den Arbeiter als Person mit Ansprüchen, die durch den „Werwolfs-Heißhunger nach Mehrwert“ negiert werden: „Zeit zu menschlicher Bildung, zu geistiger Entwicklung, zur Erfüllung sozialer Funktionen, zu geselligem Verkehr, zum freien Spiel der physischen und geistigen Lebenskräfte […] reiner Firlefanz“.61 Die Ansprüche des Arbeiters gegenüber den Zumutungen der kapitalistischen Produktion und die Ansprüche der kapitalistischen Produktion, die ihrerseits die Ansprüche des Arbeiters als Zumutung empfindet, gegenüber der Ware Arbeitskraft markieren einen Widerspruch, an dem sich soziale Kämpfe entzünden. Insofern ist diese Unterscheidung konstitutiv für den Zusammenhang von Werttheorie und Revolutionstheorie bei Marx. Sein Denken profitiert von einer Argumentationsfigur mit normativen Geltungsansprüchen, die aus der Welt des Bildungsbürgertums und des Neuhumanismus stammt, einer Vorstellung, die zur prätendierten Verwissenschaftlichung des Sozialen nicht zu passen scheint, die sozusagen aus dem Theorierahmen herausfällt: Es ist die Vorstellung von der universellen Entwicklung der Individuen, von „vollseitig entwickelten Menschen“62 oder vom „ganzen Menschen“, der sich in freier Tätigkeit selbstbestimmt jenseits des Reiches der Notwendigkeit entfaltet. Bei dieser Vorstellung handelt es sich um eine „ungeprüfte Voraussetzung“, genauer: um einen „operativen Begriff“. Das meint ein Begriffsmedium, das nicht eigens bedacht wird, dessen intellektuelles Schema aber für das Durchdachte entscheidend ist.63 Nur wer gesellschaftlich etwas will, sieht etwas. Marx anerkennt den Arbeiter in seiner Individualität – Hegels Vorstellung von der Bildung einer moralischen Person in Beziehung auf andere Personen im Rahmen eines geeigneten Rechtssystems 61 Karl Marx, „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie“, MEW 23, S. 280. 62 Vgl. ebd., S. 508. 63 Eugen Fink, „Operative Begriffe in Husserls Phänomenologie“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 11, 1957, S. 324 ff.
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lässt er nicht gelten. Der Nationalökonomie wirft er vor, sie kenne den Arbeiter nur als Arbeitstier. Marx denkt und kämpft für die „Befreiung der Arbeiterklasse“ nicht als Mitleidssozialist oder proletkultig, sondern weil in seiner Analyse der kapitalistischen Produktionsweise der Arbeiter „nur als Maschine zur Produktion von Mehrwert“ erscheint, er sich hingegen nicht als menschliches Gattungswesen entfalten kann, obwohl er den nötigen Reichtum für diese Entfaltung produziert.64 „Woher wohl dieses nachteilige Verhältnisse der Individuen bei allem Vorteil der Gattung?“, fragt Schiller im sechsten Brief über die ästhetische Erziehung.65 Die „Kritik der politischen Ökonomie“ knüpft an diese Fragestellung an, ohne die Ansprüche des Individuums als Gattungswesen aufzugeben. Die Parzellierung dieser Ansprüche „in einem dritten fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins“ lässt Marx nicht gelten66; stattdessen werden diese Ansprüche anerkannt und zwar im Zusammenhang mit der Bestimmung des kommunistischen Reichtums im Sinne „der Entfaltung der Produktivität und Genussfähigkeit“:67 „Was ist der Reichtum anders, als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten und Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen? Die volle Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der s.g. Natur sowohl, wie seine eigenen Natur? Das absolute Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen, ohne andre Voraussetzung als die vorhergegangene historische Entwicklung, die diese Totalität der Entwicklung, d. h. der Entwicklung aller menschlicher Kräfte als solcher, nicht gemessen an einem vorhergehenden Maaßstab, zum Selbstzweck macht? wo er sich nicht reproduziert in einer Bestimmtheit, sondern seiner Totalität producirt?“68 So dient die „freie Entwicklung eines jeden“ als werkkonstitutives Axiom für eine desanthropomorphisierende Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse.69 Kulturkritik wird innerhalb einer Verwissenschaftlichung des Sozialen aufgehoben. Ihr wird ein Ende gemacht, indem sie in einen neuen Theoriezusammenhang überführt wird, und in diesem Theoriezusammenhang wirkt die normative Vorstellung „vom ganzen Menschen“ zugleich werkkonstitutiv. Die Kritik an der unter das Kapital subsumierten Lohnarbeit ist ohne den kommunistischen „Maaß64 Karl Marx, „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie“, MEW 23, S. 621. 65 Friedrich Schiller, „Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“, 6. Brief, in: Schillers Werke – Nationalausgabe, Bd. 20, S. 322. 66 Ebd., 27. Brief, S. 410. Nebenbei bemerkt, es ist für einen Theoretiker der Kulturkritik aufschlussreich, wenn ein jüngerer postadornitischer Linksintellektueller im Geiste von Schiller und Marx das Verhältnis von Individuum und Gattung folgendermaßen bestimmt: „Wenn die Gattung so ist, wie ich sie beschreibe, hat jedes einzelne Exemplar derselben das unbedingte Recht, sein gattungsschaffendes und –überschreitendes Potential zu entfalten, soweit es eben kann. Das Interessanteste, was Menschen herstellen können, ist die Menschheit“. Dietmar Dath, Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift, Frankfurt a. M., 2008, S. 72. 67 Vgl. Lothar Kühne, „Bürgerlicher und kommunistischer Reichtum“, in: Ders., Haus und Landschaft. Aufsätze, Dresden, 1985, S. 231. 68 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin, 1981, S. 392. 69 Zum dialektischen Verhältnis von subjektiver Anthropomorphisierung und objektiver Desanthropomorphisierung vgl. (viel gescholten, seltener gelesen) Georg Lukács, Die Eigenart des Ästhetischen, Bd. 1, Berlin, Weimar, 1987, S. 169 f.
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stab“ „freie Individualität im Medium der freien selbsttätigen Arbeit“ nicht möglich. Bei Marx erhält die Argumentationsfigur vom „ganzen Menschen“ eine veränderte Kontur. Als privilegierte Medien der Selbstbildung gelten nicht mehr wie im Neuhumanismus die Wissenschaft und Künste, sondern umfassende „freie Arbeiten“. Wenn Marx von Arbeit spricht, dann werden die Gemeinsamkeiten und Differenzen gegenüber der Kulturkritik deutlich. Genau besehen verweist der Ausdruck auf drei unterschiedliche Begriffe: „Arbeit“ kann eine kulturanthropologische Grundannahme meinen; „Lohnarbeit“ dient als ein sozialanalytischer Begriff innerhalb der Bestimmung kapitalistischer Produktionsverhältnisse; „freie selbsttätige Arbeit“ als ein programmatischer Zielbegriff innerhalb der Bestimmung des kommunistischen Reichtums. Arbeit umfasst Entfremdung und Selbstverwirklichung, Reichtum schaffende und Elend produzierende Tätigkeit. Arbeit kann sozusagen als einfache Kategorie, als Grundbedingung des menschlichen Lebens, als Prozess zwischen Mensch und Natur, indem sich der Mensch den Naturstoff in seiner für sein Leben brauchbaren Form aneignet, verstanden werden. Insofern ist sie „nur der abstrakte Ausdruck für die urälteste Beziehung […], worin Menschen – sei es in welcher Gesellschaftsform immer – als produzierend auftreten.“70 Arbeit kann zudem als konkrete Kategorie „in historischen Formen als Sklaven-, Fronde-, Lohnarbeit“ erscheinen.71 Innerhalb der warenproduzierenden Gesellschaft nimmt Arbeit einen Doppelcharakter als nützliche Gebrauchswert schaffende Arbeit und abstrakte, wertbildende Arbeit an. Aber es gibt noch einen dritten normativen Arbeitsbegriff mit unterschiedlich gestaffelten ideengeschichtlichen Traditionen. Dazu zählen die Hochschätzung der Arbeit innerhalb der Fortschrittstheorie der Aufklärung; die neuhumanistische Vorstellung von der Bildungstätigkeit im Medium der Künste und der Wissenschaften; die Hegelsche Phänomenologie, deren Leistung laut Marx darin besteht, „den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eigenen Arbeit“ zu begreifen.72 Gemeint ist die „travail attractiv, Selbstverwirklichung des Individuums […], wirklich freie Arbeiten“73, die „als Bestimmung mit den Individuen in einer Besonderheit“ verwachsen sind.74 Außerhalb des Reiches der Notwendigkeit ist Arbeit dann nicht mehr Mittel zum Leben, sonder „das erste Lebensbedürfnis“.75 Begründungsdefizitär und traditionsreich ist die Marxsche Vorstellung von der „freien Individualität“. In der Hegelschen Geschichtsphilosophie meint „Mensch“ den abstrakten Vertreter der menschlichen Gattung und nicht eine Persönlichkeit in ihrer unwiederholbaren Individualität. Daran knüpft, materialistisch gewendet, die 6. These über Feuerbach an, in der es heißt: „das menschliche Wesen ist kein 70 71 72 73 74 75
Karl Marx, „Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie“, MEW 13, S. 635. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin, 1981, S. 505. Karl Marx, „Ökonomisch-philosophische Manuskripte“, MEW 40, S. 574. Ebd. Karl Marx, „Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie“, MEW 13, S. 635. Karl Marx, „Kritik des Gothaer Programms“ [1875], MEW 19, S. 21.
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dem Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ Das richtet sich gegen die essentialistische Konzeption von einem menschlichen Wesen als zeitlos allen Menschen innewohnende Eigenschaft. Stattdessen meint „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ die Gesamtheit der menschlichen Verhaltensweisen und Verhältnisse, das gesamte industrielle und kommerzielle Leben als realer Grund dessen, was die „Philosophen als ‚Substanz‘ und ‚Wesen‘ des Menschen“ vorgestellt haben.76 Umso mehr überrascht es, dass trotz dieser transpersonalistischen Bestimmung des menschlichen Wesens die normative bildungsbürgerliche Argumentationsfigur vom selbstbestimmten Individuum und dessen „allseitiger und freier Entwicklung“ im Werk immer wieder auftaucht. Marx steht hier Schiller näher als Hegel. Schillers Forderung, statt einer Verfassung zunächst Menschen für eine Verfassung zu schaffen, also zunächst von der Bildung des Individuums auszugehen, erscheint gleichermaßen konditional wie temporal modifiziert im „Manifest der Kommunistischen Partei“ (1848); hier allerdings nicht als Voraussetzung für eine künftige Gesellschaft, sondern als Kennzeichen einer künftigen Gesellschaft, die an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen treten soll. Erst diese Gesellschaft ermöglicht „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“77 Bekanntlich finden sich bei Marx keine Prognosen über den künftigen Charakter der kommunistischen Gesellschaft. Sie wird nicht als fest umrissenes Ziel entworfen, als ein Ideal, nach dem sich die Wirklichkeit zu richten hat. Genaueres erfährt man allerdings, wenn es um die Entwicklungschancen des Individuums in dieser zukünftigen Gesellschaft geht. Erst im „Reich der Freiheit“, das aufgrund der Produktivkraftentwicklung möglich wird, kann sich der „ganze Mensch“ entfalten. Offenbar behauptet sich in der systematischen Analyse der kapitalistischen Produktionsweise ein Ideal, das aus dem Arsenal der Kulturkritik stammt und das sich im mentalen Haushalt des Bildungsbürgertums als Leitbild etabliert. Marx ist davon geprägt. Aber er macht dessen Verwirklichung vom Verlauf der Klassenkämpfe und der Entwicklung der materiellen Lebensverhältnisse abhängig.
76 Karl Marx, Friedrich Engels, „Die deutsche Ideologie“, MEW 3, S. 38. Vgl. dazu Lucien Sève, Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, Frankfurt a. M., 1973, S. 82 ff. 77 Karl Marx, Friedrich Engels, „Manifest der Kommunistischen Partei“, MEW 4, S. 482.
2. Der von sich selbst entfremdete Marx – der Marx der Arbeiterbewegung
HANS GÜNTHER
Russische Revolution und apokalyptisches Denken
Der russische Marxismus und das revolutionäre Denken in Russland am Beginn des 20. Jahrhunderts unterscheiden sich wesentlich stärker von den entsprechenden europäischen Erscheinungen, als man allgemein annimmt.1 Dies hängt mit dem Phänomen der historischen Verspätung Russlands im Vergleich zu Europa zusammen. Sehr aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist das Vorwort Karl Kautskys zur russischen Übersetzung seines Buchs Vorläufer des neueren Sozialismus aus dem Jahr 1907. Er schreibt dort, dass „nirgends die oppositionellen Sekten, die durch das Christentum ins Leben gerufen wurden, einschließlich der Reformation, so viel Verständnis und Interesse hervorrufen wie in Russland, in dem bis heute religiöse Sekten existieren, die einen derartigen Charakter besitzen. Was für uns in Westeuropa nur noch von historischem Interesse ist, das stellt in Russland ein Mittel zum Verständnis eines gewissen Teils der Gegenwart dar“.2 Kautsky hofft, die sozialistische Bewegung werde das vollenden, „was der religiöse Kommunismus mit seinen kindlichen, ungeschickten Händen vergeblich anstrebte“.3 Die spätmittelalterlichen chiliastischen Bewegungen und die russischen Sekten des 18.-20. Jahrhunderts sind vergleichbar, insofern beide als „connecting link between pre-political and political movements“4 gelten können. Mit der russischen Kirchenspaltung des Jahres 1666 entstanden in Russland zwei schismatische Richtungen, die sich den Reformen des Patriarchen Nikon widersetzten – die Altgläubigen und die Sektierer. Infolge des Schismas wurden zum einen beträchtliche Teile des russischen Volkes aus der Kirche ausgeschlossen und entwickelten ihr gegenüber Gleichgültigkeit und Misstrauen, zum anderen unterwarf sich die offizielle Kirche zunehmend dem Staat.5 Es bildete sich der Gegensatz von orthodoxer und häretischer Kultur heraus, die eng aufeinander bezogen sind. In der Heterodoxie kommen viele verdrängte Probleme der Orthodoxie zum Ausdruck und zwar nicht nur im engeren Sinn religiöse, sondern allgemein kulturelle – soziale, ästhetische, sexuelle u.a.m. Die Häresie stellt sozusagen das Unbewusste der Orthodoxie dar. Während die Orthodoxien stets zu einer anti-apokalyptischen Haltung nei-
1 Vgl. Nikolaj Berdjaev, Istoki i smysl russkogo kommunizma, Paris, 1955. 2 Predšestvenniki novejšego socializma. Čast´ pervaja: Ot Platona do anabaptistov. Moskau, 4. Aufl., 1919, S. XI. 3 Ebd., S. XIV. 4 Yonina Talmon, “Pursuit of the Millenium: the Relation Between Religious and Social Change“, in: Archives Européennes, 1962, H. 1, S. 125-148, hier: S. 143. Kursiv im Original. 5 Einen guten Überblick über diese Problematik gibt Andrej Sinjawskij, Iwan der Dumme. Vom russischen Volksglauben, Frankfurt a. M., 1990, Kap. 4.
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gen, steht die Apokalypse im Zentrum der Heterodoxien.6 Auf diese Weise entstand in Russland seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine vom Staat wie von der Kirche bekämpfte Gegenkultur. Gewöhnlich werden die russischen Sekten in zwei Hauptrichtungen eingeteilt, die mystischen und die rationalistischen. Zu den letzteren gehören etwa die Duchoborcy (Geistkämpfer), die kirchliche Riten, Ikonen und hierarchisches Denken jeder Art ablehnen und großen Wert auf ein moralisches, arbeitsames Leben legen. Von den mystischen Sekten seien hier nur zwei genannt, die auf die russische Kultur der Jahrhundertwende einen besonders großen Einfluss ausübten – die Chlysten, die in ihren ekstatischen Reigentänzen die Vereinigung mit dem göttlichen Geist anstrebten, und die aus den Chlysten hervorgegangenen Skopzen (Verschnittenen), die durch verschiedene Formen der Kastration das sündige Fleisch abtöteten, da sie unter Berufung auf die Offenbarung in der Befreiung von der Sexualität zugleich die Befreiung vom Tod sahen. Für beide genannten Sekten, die im einfachen Volk verwurzelt waren, ist charakteristisch, dass sie im Gegensatz zur herrschenden kirchlichen Textkultur eine Art kollektive Körper-Kultur7 begründen, die sich durch ein „Umkippen des sublimsten Pneumatismus in krudeste Körperlichkeit“8 auszeichnet. Die Apokalypse verwandelt sich so in einen physisch-körperlichen Akt und wird zu einer Art „apocalypse now“. Weder zahlenmäßig noch ihrer kultureller Bedeutung nach waren die Sekten in Russland um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine quantité négligeable. Nach offizieller Zählung gab es in Russland um 1900 2,1 Millionen Altgläubige und Sektierer. Der Historiker und Politiker Pavel Miljukov nimmt dagegen für die Jahrhundertwende 20 Millionen und für das Jahr 1917 25 Millionen, davon 6 Millionen Sektierer an. Andere Schätzungen gehen davon aus, dass um 1900 15 bis 30 Prozent der russischen Bevölkerung Altgläubige bzw. Sektierer waren.9 Obwohl die russischen Sekten im Bauerntum entstanden waren, war ihr Wirkungskreis nicht auf das einfache Volk beschränkt. Zum einen existierten bestimmte Milieus (Kaufleute, Geistliche, Adel), in denen sie Verbreitung und Unterstützung fanden, zum anderen wirkten ihre Lehren auch in die Intelligenz und russische Hochkultur hinein, wo eine verbreitete „religiöse Unzufriedenheit“10 mit der offiziellen Kirche herrschte. Bekannt geworden ist vor allem die Nähe Lev Tolstojs zu Sektierern aus dem Volk. Häretisches Gedankengut aus dem Umkreis der Sektierer findet sich bei den religiösen Philosophen Vladimir Solov´ev oder Nikolaj Fedorov und bei einer Reihe von Denkern wie Nikolaj Berdjaev, Sergej Bulgakov u. a., die in ihren Anfängen dem Marxismus nahe standen. Die mit dem Interesse für häretische Vorstellungen gepaarte „religiöse Suche“ des beginnenden 6 Aage. A. Hansen-Löve, „Allgemeine Häretik, russische Sekten und ihre Literarisierung in der Moderne“, in: Wiener slawistischer Almanach, Sonderband 41, München, 1996, S.171-294, hier S. 173. 7 Vgl. Aleksandr Ėtkind, Chlyst. Sekty, literatura i revoljucija, Moskau, 1998, S. 79-81. 8 Aage. A. Hansen-Löve, „Allgemeine Häretik“, S. 201. 9 Vgl. Aleksandr Ėtkind, Chlyst, S. 36-38. 10 Aleksandr S. Prugavin, Raskol vverchu. Očerki religioznych iskanij v privilegirovannoj srede, Sankt Petersburg, 1909, S. 42.
RUSSISCHE REVOLUTION UND APOKALYPTISCHES DENKEN
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20. Jahrhunderts erfasste führende Autoren des Silbernen Zeitalters11 wie Dmitrij Merežkovskij, Vasilij Rozanov, Andrej Belyj oder Aleksandr Blok. Auch in den Petersburger Religiös-Philosophischen Vereinigungen wurden derartige Themen diskutiert.12 Der Schriftsteller Dmitrij Merežkovskij befürwortet ein Ins-Volk-Gehen der Intelligenz und vertritt die Ansicht, dass die Annäherung an das Volk am ehesten über die Sektierer zu erreichen sei. Praktische Konsequenzen aus seiner sektiererischen Orientierung zog der symbolistische Dichter Aleksandr Dobroljubov, der zum Gründer der bis in die Sowjetzeit existierenden Sekte der Dobroljubovcy wurde. Vasilij Rozanov, der sich kritisch mit den Sexualvorstellungen der orthodoxen Kultur auseinander setzte, beschreibt ausführlich seinen Besuch bei einer Chlystengemeinde.13 Der Philosoph Nikolaj Berdjaev besuchte im Jahr 1910 regelmäßig religiöse Versammlungen in dem Moskauer Wirtshaus Jama (Die Grube), in denen er mit Vertretern der verschiedenartigsten Sekten diskutierte: „Da waren die bessmertniki (Unsterblichen) und die Baptisten, die Tolstojaner und Evangeliumschristen verschiedener Richtungen, die Chlysten, die sich gewöhnlich verbargen, und, als Einzelgänger, Theosophen aus dem Volke. […] Ich war von der Intensität des geistigen Fragens, von der Faszination der einen oder anderen Idee, von der Suche nach der Wahrheit des Lebens und manchmal auch von der tiefsinnigen Gnosis sehr beeindruckt. Die sektiererische Tendenz bedeutet immer Einengung des Bewusstseins, Mangel an Universalismus, Reduktion der komplizierten Vielgestaltigkeit des Lebens. Aber welchen Vorwurf für die offizielle Orthodoxie stellten diese Gottsucher aus dem Volk dar! Der anwesende orthodoxe Vertreter machte eine jämmerliche Figur und wirkte wie ein Polizeibeamter.“14
Wie Berdjaev hatten viele Dichter und Denker der Jahrhundertwende ihre Gewährsleute unter den Sektierern. Offenbar drang die religiöse Suche auch in Kreise der sozialistischen und radikalen Jugend ein.15 In seinem Vortrag „Die Elementarkräfte und die Kultur“ (1908) bezieht sich der Dichter Aleksandr Blok auf das revolutionäre Potential der „elementaren Menschen“ (stichijnye ljudi) und zitiert aus dem Brief eines Sektierers: „Wir sind Mystiker besonderen Typs: auf russische Weise. Wir sind in der Tat Menschen der Erde, denn wir glauben, dass das Tausendjährige Reich unser nicht im Jenseits , nicht im Himmel, sondern auf Erden sein wird…“.16 Die Rache des Volkes an der Hochkultur wird sich nach Blok in Form eines vulkanischen Ausbruchs dionysischer Elementarkräfte vollziehen. Auch die Bolschewiki interessierten sich für die Sekten als potentielle revolutionäre Kraft und Bündnispartner. Diese Bemühungen sind vor allem mit dem Na11 Vgl. Michel Niqueux, „Le mythe des Xlysty dans la littérature russe“, in: Revue des études slaves 69 (1997), H. 1-2, S. 201-221. 12 Vgl. Jutta Scherrer, Die Petersburger Religiös-Philosophischen Vereinigungen, Berlin, 1973. 13 Vasilij Rozanov, Apokalipsičeskaja sekta (Chlysty i skopcy), Sankt Petersburg, 1914, S. 43-106. 14 Nikolaj Berdjaev, Die russische Idee, Sankt Augustin, 1983, S. 186. 15 Vgl. Aleksandr S. Prugavin, Raskol vverchu, S. 23; Kautsky, Predšestvenniki novejšego socializma, S. XI. 16 Alexander Block, Ausgewählte Werke, Bd. 2, München, 1978, S. 150. Kursiv im Original.
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men Vladimir Bonč-Bruevičs verbunden, der seit Beginn des 20. Jahrhunderts nicht müde wird, die Bedeutung der Sektierer für die Revolution hervorzuheben. Bonč-Bruevič sieht im russischen Sektierertum eine „Art fortschreitenden Entpuppungsprozeß“, der „unvermeidlich in einen religionsfreien Sozialismus münden“ werde.17 Nach der Revolution bekommt die Sektenfrage eine neue Relevanz. Manche Sekten begrüßen den Anbruch einer neuen Welt.18 Ihre Lage verschlechtert sich jedoch gegen Ende der 1920er Jahre. Im Zusammenhang mit Stalins Revolution von oben, der Kollektivierung der Landwirtschaft und der forcierten Industrialisierung, gewinnt die 1925 gegründete militante Gottlosenbewegung immer mehr an Bedeutung. Ab 1928 werden die Ansichten Bonč-Bruevičs zur Sektenfrage zunehmend einer Kritik seitens der Partei unterworfen. Bekennende Altgläubige und Sektierer unterliegen damit wieder, wie bereits im Zarenreich vor 1905, der Verfolgung durch staatliche Organe. Während viele russische Denker des beginnenden 20. Jahrhunderts die chiliastische Natur des Bolschewismus unterstreichen, dominiert im Westen die Einschätzung des Marxismus auf dem Hintergrund der aufklärerischen und sozial-utopischen Tradition.19 Zu den Ausnahmen zählen die in den 1920er Jahren erschienenen Arbeiten von Fritz Gerlich und Hans Mühlestein. Für Gerlich, der im Marxismus eine durch Kautsky repräsentierte materialistische neben einer durch Lenin vertretenen chiliastischen Seite sieht, ist das russische Proletariat ein „rückständiger Heiland“.20 Mühlestein, der die Revolution auf den russischen „Volks-Chiliasmus“ zurückführt, vertritt die Ansicht, dass der „Schein der marxistischen Phraseologie über die tieferen, eigentlichen ideologischen Grundelemente“21 hinwegtäuscht. Ohne den christlichen Chiliasmus des russischen Volkes wäre weder der Bolschewismus noch Lenin in die Annalen der Weltgeschichte eingegangen. Der Kommunismus sei nicht zufällig in dem „ökonomisch rückständigsten und zugleich notorisch religiösesten Volk Europas zum Durchbruch“22 gekommen. In seiner materialreichen Studie Russland und der Messianismus des Orients23 geht Manuel Sarkisyanz verschiedenen apokalyptischen Traditionen nach, die im russischen Volksglauben, 17 Eberhard Müller, „Opportunismus oder Utopie? V. D. Bonč-Bruevič und die russischen Sekten vor und nach der Revolution“, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 35 (1987), S. 509-533, hier S. 517. 18 Vgl. Kathy Rousselet, „Utopies socioreligieuses et révolution politique dans les années 1920“, in: Revue des études slaves 69 (1997), H. 1-2, S. 257-271. 19 In diesem Zusammenhang sei auf die Diskussion über die Frage verwiesen, ob man es bei den geschichtsphilosophischen Fortschrittskonzeptionen, darunter auch bei Marx, mit einer verweltlichten Eschatologie zu tun habe, wie dies etwa von Karl Löwith (Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart, 1953) vertreten wird. Ausführliche Kritik an der Säkularisierungsthese übt Hans Blumenberg (Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M., 1966). Auch Günther List (Chiliastische Utopie und radikale Reformation, München, 1973, S. 9-34) wendet sich gegen eine Generalisierung des Chiliasmus-Begiffs und plädiert dafür, die Fortschrittsideen der Neuzeit unter den Begriff der Utopie zu fassen. 20 Fritz Gerlich, Der Kommunismus als Lehre vom Tausendjährigen Reich, München, 1920, S. 114. 21 Hans Mühlestein, Russland und die Psychomachie Europas, München, 1925, S. 39. 22 Ebd., S. 126. 23 Manuel Sarkisyanz, Russland und der Messianismus des Orients, Tübingen, 1955.
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unter Altgläubigen und Sektierern sowie in der Philosophie und Literatur der Jahrhundertwende verbreitet waren und in das revolutionäre Denken einmündeten. Für Ernst Bloch lebt „im leicht entzündbaren Brudergefühl, im Adventismus der Sekten“ und in ihrem Grundmotiv der „unabgeschlossenen Offenbarung“ – er erwähnt hier die Sekte der Chlysten – , ein „ständig ungeschriebenes Wesen Joachim de Fiore“. Zu den großen Merkwürdigkeiten, die „christromantisch auf bolschewistischem Boden“ entsprangen, gehört für ihn der „Chiliast“ Aleksandr Blok mit seinem Revolutionspoem Die Zwölf.24 Die Betonung der Analogie zwischen Bolschewismus und häretischem Denken im russischen Kontext hängt vermutlich damit zusammen, dass hier das Sektierertum noch eine relevante Bezugsgröße darstellt. Zum anderen mag auch eine Rolle spielen, dass eine fundamentale Marxismus-Kritik im damaligen Russland vor allem vom Standpunkt einer religiösen Philosophie vorgetragen wird. Schließlich hat wohl auch das psychologische Erscheinungsbild der russischen Bolschewiki selbst derartige Vergleiche befördert. So erinnert die unduldsame Exaltiertheit der bolschewistischen Duma-Abgeordneten den Philosophen Sergej Bulgakov an die Wiedertäufer und andere kommunistische Häretiker des Mittelalters, die in Erwartung des Gottesreiches und des Neuen Jerusalem mit dem Schwert dem Tausendjährigen Reich den Weg ebnen wollen.25 In seinem informativen Überblick über die sowjetische Kultur der 1920er Jahre bringt René Fülöp-Miller den eigentümlichen Rationalismus der Bolschewiki mit dem „seltsamen Seelenleben der russischen Sekten“26 in Zusammenhang und erblickt in ihrem Hang zum Chiliasmus „gemeinsame Züge mit den Wiedertäufern, den Hussiten und ähnlichen Bewegungen“.27 Ähnlich wie Kautsky schätzt er diese Erscheinung als verspätetes Nachholen dessen ein, was einst in Mitteleuropa stattfand. In Russland ist, wie bereits erwähnt, die Einschätzung des Marxismus als chiliastische Bewegung durchaus verbreitet. Laut Sergej Bulgakov, der eine Parallele zwischen „Urchristentum und dem neuesten Sozialismus“ zieht, zeichnet sich die Eschatologie des Bolschewismus dadurch aus, dass sie zwar religiöse Züge trägt, dem Christentum gegenüber aber feindlich eingestellt ist.28 In der Apokalyptik des Bolschewismus sieht er eine vergröberte Neuauflage des auf Verwirklichung in der Geschichte abzielenden jüdischen Chiliasmus. Auch für Nikolaj Berdjaev ist die Zusammenbruchstheorie eine „Eschatologie, eine Lehre vom sozialistischen Ende der Geschichte und vom sozialistischen Jüngsten Gericht“, eine Wiedergeburt des Chiliasmus „auf neuer Grundlage“ und zwar eines Chiliasmus, „der dem christlichen entgegengesetzt ist“.29 Er unterscheidet zwei Seiten des Marxismus, eine wissenschaftliche, ökonomisch-deterministische und eine messianische und vertritt 24 Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung, Bd. 2, Frankfurt a. M., 1973, S. 597. 25 Sergej N. Bulgakov, Dva grada. Issledovanija o prirode obščestvennych idealov. Sankt Petersburg, 1997, S. 252. 26 René Fülöp-Miller, Geist und Gesicht des Bolschewismus, Zürich, Leipzig, Wien, 1926, S. 105. 27 Ebd., S. 113. 28 Sergej N. Bulgakov, Dva grada, S. 182. 29 Nikolaj Berdjaev, Novoe religioznoe soznanie i obščestvennost´, Moskau, 1999, S. 137.
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den Standpunkt, dass der russisch transformierte Marxismus vor allem die „messianische, mythenschaffende, religiöse Seite des Marxismus“ rezipiert und nicht die deterministische.30 Er führt dies vor allem auf die der russischen Kultur immanente „eschatologische Gespanntheit“ zurück: „Die Apokalypse spielte immer eine große Rolle, in der Masse unseres Volkes ebenso wie in der kulturell führenden Schicht, bei russischen Schriftstellern und Denkern“.31 Das Ungenügen an der ökonomisch-deterministischen Lehre des Marxismus, wie sie in Russland vor allem von Georgij Plechanov vertreten wurde, ist um die Jahrhundertwende in Russland extrem ausgeprägt und spiegelt sich etwa in der frühen Schrift Religion und Sozialismus (1908/1911) von Anatolij Lunačarskij, dem späteren Volkskommissar für Bildung der Sowjetunion, wider. Lunačarskij will den wissenschaftsgläubigen Marxismus um die subjektive, emotionale, religiöse, mythologische Komponente des sog. Gotterbauertums (bogostroitel´stvo), dem zeitweise auch Maksim Gor´kij anhing, bereichern. Die Apokalypse des Johannes schätzt er als „höchsten poetischen Ausdruck des revolutionärsten Teils der an Christus Glaubenden“.32 In seiner Behandlung der Geschichte des christlichen Sozialismus bezieht sich Lunačarskij ausführlich auf Kautskys Darstellung der spätmittelalterlichen chiliastischen Bewegungen, angefangen von der Lehre Joachims de Fiore bis hin zu Thomas Münzer. In Russland hat die Projektion der Apokalypse auf umwälzende historische Ereignisse seit der Glaubensspaltung eine lange Tradition. Revolutionäre Umbrüche werden häufig unter dem Aspekt endzeitlichen Geschehens gesehen.33 Für die Altgläubigen, die mit apokalyptischen Vorstellungen auf den Prozess der Modernisierung reagierten, war Peter der Große der Antichrist schlechthin. Seitdem werden entscheidende Umbruchsphasen der russischen Geschichte immer wieder von Endzeitvisionen begleitet, wobei die Bewertung je nach Standpunkt negativ oder positiv ausfällt. Einen großen Einfluss übte eine 1899/1900 erschienene geschichtsphilosophische Schrift Vladimir Solov´evs mit ihrer düsteren historischen Perspektive aus, in die eine Kurze Erzählung vom Antichrist eingefügt war. Auf sie bezogen sich viele nachfolgende symbolistische Autoren, unter ihnen auch Andrej Belyj in seiner von den Schrecken des russisch-japanischen Krieges ausgelösten Betrachtung Die Apokalypse in der russischen Poesie.34 Nach 1905 entstand ein regelrechter Revolutionsmythos der Symbolisten.35 Das revolutionäre Jahr 1905 bildete für viele Künstler und Denker die Wasser30 31 32 33
Nikolaj Berdjaev, Istoki i smysl russkogo kommunizma, S. 88. Nikolaj Berdjaev, Die russische Idee, S. 182. Religija i socializm, Bd. 2, Sankt Petersburg, 1911, S. 141. David M. Bethea, The Shape of Apocalypse in Modern Russian Fiction, Princeton, 1989, S. 184 macht in diesem Zusammenhang auf die lautliche Nähe der englischen Wörter “revolution“ und “revelation“ aufmerksam. 34 Andrej Belyj, Lug zelenyj, Moskau, 1910 (Repr. Moskau, 1967), S. 222-247. 35 Aage A. Hansen-Löve, „Apokalyptik und Adventismus im russischen Symbolismus der Jahrhundertwende“, in: Russische Literatur an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, hg. v. Rainer Grübel, Amsterdam, 1993, S. 231-325, hier S. 303-310.
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scheide zwischen einer apolitischen und einer politisch-sozialen Apokalyptik.36 Enttäuscht von der russischen Autokratie, sieht Dmitrij Merežkovskij in seiner Abhandlung über Dostoevskij „Der Prophet der russischen Revolution“ im Staat das Reich des Antichrist und hofft auf den „Untergang Russlands als eines selbständigen politischen Körpers und auf seine Auferstehung als Mitglied der universalen Kirche, der Theokratie“.37 Die russische Revolution, so der Autor in Der Zar und die Revolution, bilde den „Schlussakt in dem großen Weltendrama der Befreiung der Menschheit“.38 Eine wesentliche Rolle komme den Sekten zu, die eine so starke Überzeugungskraft und Tiefe erreichten, wie sie die Welt seit den Anfängen des Christentums nicht gekannt habe. Das Grundprinzip der Altgläubigen und Sektierer laute: „Wir sind Menschen, die kein Reich von heute besitzen und das Reich, das kommt, suchen“.39 In den „Auserwählten“ und „Märtyrern“ der revolutionärreligiösen Bewegung des russischen Volkes sieht Merežkovskij die treibende Kraft der religiösen Revolution, die sich früher oder später mit der sozial-politischen Revolution verbünden werde. Auch die Oktoberrevolution erscheint Merežkovskij im Licht endzeitlichen Geschehens, allerdings unter extrem negativem Vorzeichen. In einer klassischen chiliastischen Dreistufenformel bringt er in einem unmittelbar nach seiner Ausreise aus der Sowjetunion erschienenem Sammelband seine Hoffnung zum Ausdruck, das Dritte Russland werde den Bolschewismus besiegen: „Das Erste Russland ist das zarische, sklavische; das Zweite Russland ist das des bolschewistischen Grobians, das Dritte Russland ist das des freien Volkes“.40 Herr des Dritten Russland werde der „heilige, russische christliche Bauer“41 sein. Die Bolschewisten sind für Merežkovskij Söhne des Teufels: „Wenn der Bolschewismus aber nicht nur Politik ist, sondern Religion, Religion des Satans, dann muss der Sieg über den Bolschewismus ein Sieg Gottes über den Satan sein. Das heißt: das Wesen des Dritten Russland muss ein religiöses sein“.42 Das bourgeoise Europa sieht er, wenn es dies nicht versteht, dem Untergang geweiht. Zwei entgegengesetzte Interpretationen der Oktoberrevolution als negative und positive Apokalypse seien hier noch exemplarisch einander gegenübergestellt. Die eine beklagt den Untergang der alten, während die andere den gewaltsamen Anbruch einer neuen Welt begrüßt. Vasilij Rozanov gab Ende 1917 – Anfang 1918 eine in Fortsetzungen erscheinende in poetisch-publizistischem Stil gehaltene Schrift Apokalypse unserer Zeit heraus, in der er das durch die Februarrevolution 36 Vgl. Bernice Glatzer Rosenthal, „Eschatology and the Appeal of Revolution: Merezhkovsky, Bely, Blok”, in: California Slavic Studies, Bd. 9, Berkeley/Los Angeles/London 1980, S. 105-139, hier: S. 110. 37 Dmitrij Merežkovskij, „Prorok russkoj revoljucii. K jubileju Dostoevskogo”, in: Vesy 1906, H. 1, S. 27-45; H. 2, S. 19-47, hier: H.2, S. 47. 38 Dmitrij Mereschkowski, Der Zar und die Revolution, 2. Aufl., München, 1908, S. 94. 39 Ebd. S. 100. 40 D. Merežkovskij, Carstvo Antichrista, München, 1921, S. 10. 41 Ebd., S. 31. Merežkovskijs Wortwahl “krest´janin-christianin“ erinnert daran, dass im Russischen die Bezeichnungen für „Bauer“ und „Christ“ etymologisch nah miteinander verwandt sind. 42 Ebd., S. 29-30.
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herbeigeführte Ende der russischen Monarchie in endzeitlichem Licht deutet. Die Erschütterung der Fundamente der Kultur führt er auf die Leere zurück, die das herrschende Christentum hinterlassen habe: „Alles ist erschüttert, alle sind erschüttert. Alle gehen zugrunde. Alles geht zugrunde“.43 Gott habe das heilige Russland (Rus´) aufgegeben. In der Offenbarung des Johannes sieht Rozanov ein dem Geist des Evangeliums entgegengesetztes, ja antichristliches Buch, das ein schreckliches Gericht über die christlichen Kirchen verkünde. Die Apokalypse sei kein Wort, sondern ein Ereignis. Während das Evangelium die Geschichte als „gottmenschlichen Prozess“ und „Bund“ erzähle, verwerfe die Apokalypse diesen Bund wie einen „abgetragenen Gegenstand“.44 Eine völlig entgegengesetzte Bewertung der Revolution findet sich in dem während des Bürgerkriegs verfassten Artikel Christus und wir (1920) des jungen Schriftstellers Andrej Platonov, dessen zentraler sich auf das Matthäus-Evangelium (Kap. 12, 11) beziehender Satz lautet: „Das Reich Gottes wird mit Gewalt genommen“. Wie Christus, der „Prophet des Zorns und der Hoffnung“ die Händler aus dem Tempel vertrieben habe (vgl. Offenbarung, Kap. 18-19), so werde das Proletariat, in dem Christus weiterlebe, erfüllt von dem „Feuer der Rache“ mit Blei und Maschinengewehren die Reichen aus der Welt vertreiben. „Wir werden das Tier ersticken, von den Thronen und Sesseln vertreiben“.45 Nur der Zorn, der höher sei als jede himmlische Liebe, werde das Reich Christi auf Erden hervorbringen. Auf der russischen Kultur lastet, wie Vasilij Rozanov 1906 bemerkte, der „seltsame Geist der Kastration, der Negierung allen Fleisches“.46 Dies gilt nicht nur für die orthodoxe Kirche, die wegen ihrer Leibfeindlichkeit von Rozanov heftig attackiert wurde, sondern in potenzierter Form für die russischen Sekten, den späten Lev Tolstoj und einige der bekanntesten religiösen Denker wie N. Fedorov, V. Solov´ev oder N. Berdjaev und – wie paradox dies auch klingen mag – für das vorherrschende Selbstverständnis der russischen Revolutionäre der 1920er Jahre. Bei den Chlysten und Skopzen wird – wie bereits in den häretischen Bewegungen des ausgehenden europäischen Mittelalters – die natürliche durch die spirituelle Familie ersetzt, deren Mitglieder nicht als Mann und Frau, sondern als ‚Brüder und Schwestern‘ zusammenleben. Die Verwandlung des Menschen in geschlechtslose Wesen, in ‚Kinder‘ und ‚Engel‘, vollzieht sich unter dem Vorzeichen der bevorstehenden Apokalypse, die die Vermehrung der Menschen verbietet. Die als teuflisch verworfene Sexualität wird vor allem deshalb abgelehnt, weil sie der Fortpflanzung dient. Ansonsten gilt bei den Chlysten die Maxime: Ehe ist schlimmer als Unzucht. Hinter der Verneinung der Sexualität steht also eine anti-prokreative Einstellung, die auf Unterbrechung der genetischen Kontinuität des Menschengeschlechtes abzielt. Ziel der Bearbeitung des Körpers durch kollektive Ekstase bei den Chlysten bzw. durch Kastration bei den Skopzen war die geistige Transforma43 44 45 46
Vasilij Rozanov, Mimoletnoe, Moskau, 1994, S. 413. Ebd., S. 422. Andrej Platonov, Sočinenija, Bd. 1,Teil 2, Moskau, 2004, S. 27. Vasilij Rozanov, Mimoletnoe, S. 13.
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tion des Körpers, seine Einschreibung in die Transzendenz.47 Daher wurde die Negierung der Sexualität bzw. die Kastration als Aufhebung der Erbsünde und Sieg über den Tod verstanden. Das Denken einiger hervorragender Vertreter der russischen Kultur der Jahrhundertwende ist nicht ohne den Einfluss häretischer Vorstellungen denkbar. Der Philosoph Vladimir Solov´ev, den das Problem der Selbstkastration ernsthaft beschäftigte, vertrat in seiner Abhandlung Der Sinn der Geschlechtsliebe (1892-94) die Ansicht, der wahrhafte Mensch könne nicht Mann oder Frau sein, sondern nur deren höhere Einheit. Die Linie der Vermehrung des Menschengeschlechts werde in der weiteren Entwicklung durch höhere Formen brüderlicher Beziehungen ersetzt, die er als Syzigie bezeichnet.48 Radikalisiert werden diese Gedanken in Nikolaj Berdjaevs Schrift Der Sinn des Schaffens (1916), in der er den Androgynismus als endgültige Überwindung der geschlechtlichen Trennung der Menschen und als Weg zur Gottgleichheit des Menschen propagiert. In der als abstoßend empfundenen Geschlechtlichkeit sieht er „nicht nur die Quelle des Lebens, sondern auch die Quelle des Todes“.49 Das Neue Testament verneine ebenso die Ehe wie auch die Sexualität. Es gelte daher, die libidinöse Energie auf den schöpferischen Akt umzulenken. Eine utopische Variante der Verneinung des Geschlechts und des Zeugungsverbots hält Nikolaj Fedorov in seiner Philosophie der gemeinsamen Sache bereit. Er begründet dies damit, dass die Kinder sich, metaphorisch ausgedrückt, vom Blut der Eltern nähren. Geburt und Tod gehören für ihn, wie für Berdjaev, zusammen. Die Unterbrechung dieses negativen Kreislaufs ist nur möglich durch das Prinzip der Keuschheit, durch die Reinigung der Geburt von allem Sinnlichen.50 An die Stelle der Fortpflanzung tritt die im wörtlichen Sinn verstandene „Auferweckung der Väter“, d. h. aller vorangegangenen Generationen, durch die vereinigte Anstrengung der „Söhne“. „Das Zeugen von Kindern wird ersetzt durch die Auferweckung der Vorfahren, wodurch die Söhne Engeln gleich werden“.51 Das fedorovsche Projekt steht unter dem drohenden Zeichen der apokalyptischen Hure des Industrialismus, der den Aufstand der Söhne gegen die Väter und sexuelle Verführung propagiert. Weltbekannt geworden ist Lev Tolstojs seinerzeit vieldiskutierte Novelle Die Kreutzersonate, in welcher der Autor seiner Ablehnung der Sexualität vehementen Ausdruck verleiht. Kein Wunder, dass das Werk mit den Ideen der Skopzen in Zusammenhang gebracht wurde. Tolstoj erhielt Hunderte von Bekennerbriefen von Skopzen, von denen er einige beantwortete. 47 Vgl. Laura Engelstein, Castration and the Heavenly Kingdom. A Russian Folktale, Ithaca, London, 1999, S. 17. 48 Vgl. Wladimir Solowjow, Deutsche Gesamtausgabe, Bd. 7, Freiburg i.Br., 1953, S. 268-272. Die genannte Schrift brachte Solov´ev den Ruf eines russischen Origenes ein. 49 Filosofija tvorčestva, kul´tury i iskusstva v dvuch tomach, Bd. 1, Moskau, 1994, S. 191. 50 Vgl. Nikolaj Fedorov, Filosofija obščego dela, Bd. 1, Vernyj, 1906 (Repr. Lausanne, 1985), S. 312316. 51 Ebd., Bd. 2, Moskau, 1913 (Repr. Lausanne, 1985), S. 214.
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In den Debatten des Silbernen Zeitalters um die Jahrhundertwende kam es zu einer eigenartigen Konvergenz häretischer Vorstellungen mit den Bestrebungen von Teilen der russischen Intelligenz, deren dekadente erotische Utopie besagte, „that they could conquer death by resisting nature´s procreative imperative and rejecting traditional notions of gender“.52 Der „seltsame Geist der Kastration“ war also sowohl in der niederen wie in der hohen Kultur präsent und konnte nach der Revolution von 1918 unter veränderten ideologischen Vorzeichen aktualisiert werden. In seiner Studie Sex in Public untersucht Eric Naiman Tendenzen der 1920er Jahre, die er unter dem zugespitzten Etikett eines „Diskurses der Kastration“ zusammenfasst. Hierher gehört etwa die den kollektiven männlichen Körper glorifizierende Rhetorik des Proletkult, die nicht auf Reproduktion, sondern auf „universal production through masculine conglomeration“53 abzielt, oder auch die damit verbundene „Metallisierung“ des maskulinen Körpers.54 Die Verdrängung des weiblichen Körpers in der offiziellen sowjetischen Ikonographie bis zum Beginn der 30er Jahre ist ganz augenfällig.55 In der Einschätzung der Sexualität dominierten – ungeachtet des spektakulären Libertinismus einer Aleksandra Kollontaj mit der ihr zugeschriebenen „Glas-Wasser-Theorie“ – Vorstellungen, die in unterschiedlicher Abstufung eine strikte Ökonomie der Sexualität befürworteten. Sexuelle Aktivität bringe einen Verlust von Lebensenergie mit sich, außerdem solle die Libido, die den Menschen ohnehin individualisiere, lieber in sozial nützliche kollektive Energie und Schöpfertum umgeleitet werden: „Es ist nötig, dass das Kollektiv eine frohere und stärkere Anziehungskraft ausübt als der Partner in der Liebe“.56 In dem Jahrzehnt nach der Revolution wird die spirituelle Familie der revolutionären „Brüder und Schwestern“ über die natürliche Familie gestellt. Eine Abkehr von dieser experimentellen, „sektiererischen“ Phase der sowjetischen Entwicklung und eine Umwertung von Körperlichkeit, Sexualität, Familie und Zeugung von Nachwuchs erfolgt zu Beginn der 30er Jahre. Diese Entwicklung geht zusammen mit dem Aufstieg des „Vaters“ Stalin, unter dem die auf egalitärer Brüderlichkeit beruhende Ideologie abgelöst wird durch den Mythos der Großen Familie. Vergleichbare Probleme waren auch für die Sekten charakteristisch, die einerseits egalitär strukturiert waren, andererseits aber die bedingungslose Unterwerfung unter einen charismatischen „Christus“ vorsahen. Im Zuge der Umorientierung auf Familie und Nachkommenschaft wird die Rolle des Weiblichen und der Sexualität, soweit sie der Zeugung von Nachkommenschaft dient, neu definiert. Im Zusammenhang mit einem Prozess gegen die Skopzen in den Jahren1929/30 ist die Vermutung geäußert worden, dass die Ver52 Olga Matich, Erotic Utopia. The Decadent Imagination in Russia´s Fin de Sìècle, Madison, Wisconsin, 2005, S. 4. 53 Eric Naiman, Sex in Public. The Incarnation of Early Soviet Ideology, Princeton, N.J., 1997, S. 71. 54 Vgl. Rolf Hellebust, Flesh to Metal. Soviet Literature and the Alchemy of Revolution, Ithaca, N.Y., 2003. 55 Vgl. Victoria E. Bonnell, Iconography of Power, Berkeley, 1997. 56 Aaron E. Zalkind, Polovoj vopros v uslovijach sovetskoj obščestvennosti, Leningrad, 1926, S. 13.
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folgung der bis dahin geduldeten Kastration eine Abkehr vom Ideal des frühbolschewistisch-skopzischen geschlechtslosen Körpers und eine Ausrichtung auf eine prokreative Gesellschaft beinhalte.57 Die Entwicklung von der Verdrängung des weiblichen Körpers in der nachrevolutionären Periode zu seiner Rehabilitierung in den 30er Jahren spiegelt sich deutlich in der sowjetischen Kunst und Literatur, wobei die Evolution des Schriftstellers Andrej Platonov ein besonders anschauliches Beispiel darstellt.58 Mit der Revolution als endzeitlichem Ereignis sind höchste Erwartungen verbunden. Dazu gehört u. a. auch die Hoffnung auf Unsterblichkeit. Während die orthodoxe Kirche die Lehre vom Leben nach dem Tod verkündet, kreist die häretische Denktradition um Formen der Überwindung des Todes im Diesseits. Die Angehörigen der Chlystensekte, die sich durch körperliche Techniken in einen Zustand der Vergeistigung versetzten, sahen sich aufgrund dieser Tatsache als unsterbliche Wesen, als eine Art Gottmenschen. In ähnlicher Weise vermeinten die Skopzen, sich durch chirurgische Bearbeitung ihrer Körpers in einen höheren Zustand engelgleicher Unschuld zu versetzen. Auch dem Philosophen V. Solov´ev schwebte ein kollektiver Zustand der unsterblichen vereinigten Menschheit vor, der durch Unterbrechung der generischen Kontinuität erreicht werden könne. Berdjaev spitzt diesen Gedanken noch weiter zu, indem er den Kreislauf von Geburt und Tod durch das Ideal der Androgynie unterbrechen will, das für ihn Voraussetzung der Gottähnlichkeit des Menschen ist. Eine zentrale Bedeutung kommt der Überwindung des Todes bei Nikolaj Fedorov zu, der in seiner Philosophie der gemeinsamen Sache das Projekt einer von den Toten auferweckten unsterblichen Menschheit entwickelt. Die mit der Auferweckung der Väter befassten vereinigten Söhne sollen die Welt in einen „brüderlichen Zustand“ überführen, wie er in unterschiedlichsten Häresien und Utopien beschworen wird. Bei Fedorov schlägt die häretisch-religiöse Motivation jedoch bereits in eine technisch-utopische um.59 Erstaunlich ist, dass der Gedanke der physischen Unsterblichkeit weit über den genannten Kreis hinaus auch unter marxistischen Künstlern, Denkern und Wissenschaftlern Anhänger fand.60 Richtungen wie die des Immortalismus und Biokosmismus erfreuten sich in der Sowjetunion einer großen Popularität. Zum einen existierte die in vielen chiliastischen Bewegungen verbreitete Erwartung, dass die Revolution als kosmische Umwälzung eine Neue Welt ohne Leiden und Tod herbeiführen werde61, zum anderen spielte die Überzeugung eine Rolle, dass es auf57 Viktor Živov, „Skopcy v russkoj literature (Po povodu knigi N. Volkova)“, in: Novoe literaturnoe obozrenie 1966, H. 18, S. 396-400. Rez. von: Nikolai Volkov, La secte russe des castrats, hg. v. Claudio Sergio Ingerflom, Paris, 1995. 58 Vgl. Keith Livers, Constructing the Stalinist Body, Lanham, 2004, S. 27-89. 59 Dmitry Shlapentokh, „Bolshevism as a Fedorovian Regime“, in: Cahiers du monde russe et soviétique 38 (1996), H. 4, S. 429-465 sieht in Fedorovs Philosophie eine autoritäre und technokratische Vorgabe für den sowjetischen Kollektivismus. 60 Vgl. Michael Hagemeister, Nikolaj Fedorov. Studien zu Leben, Werk und Wirkung, München, 1989. 61 Vgl. Norman Cohn, Das Ringen um das tausendjährige Reich, Bern, München, 1961, S. 202.
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grund des von den Fesseln des Kapitalismus befreiten technischen Fortschritts keine Beschränkungen für das Menschenmachbare gebe. Der Glaube an „Wunder“ erlebt gerade in der Stalinzeit eine erstaunliche Renaissance. Die marxistisch-leninistische Ideologie, lehnte zwar jede mit der Transzendenz verbundene Unsterblichkeit als mystisch ab, eröffnete jedoch andererseits „große Schlupflöcher im Bereich der physischen Unsterblichkeit.62 Davon zeugt u. a. das große Interesse, das die fedorovsche Auferweckungs-Projekt in den 1920er Jahren unter Künstlern, Denkern und Politikern hervorrief. Die in diesem Zusammenhang zu nennende Einbalsamierung der Leiche Lenins kann als eine der „rätselhaftesten Entscheidungen der Sowjetmacht“63 gelten. Anknüpfend an Fedorov und andere kosmistische Vorstellungen entwickelt Valerian Murav´ev seine Idee von der „Beherrschung der Zeit“, die die Menschen zu unsterblichen Wesen und „Siegern über den Tod“64 machen könne. Der Mensch müsse so umgestaltet werden, dass er für den Tod unangreifbar sei. Da die bloße Askese nicht ausreiche, sei die Lösung in der Überwindung der Zweigeschlechtlichkeit zu suchen: „Das, was heute die Liebe zwischen Mann und Frau ausmacht, wird in verbesserter Form und ohne das Hässliche der ihr heute eigenen Exzesse in den Wechselbeziehungen der neuen Menschen auftauchen. Diese Liebe wird sich in jene höchste Freundschaft verwandeln, die die Weisen bis heute vergeblich suchen“.65 Der Zusammenhang von Revolution und Apokalypse steht im Zentrum von Andrej Platonovs Roman Čevengur, der in den Jahren 1926-29 entstand, aber erst 1988 in der Sowjetunion erscheinen konnte. Der Roman ist durch seine eigentümliche Mischung naiver, grotesker und lyrischer Elemente und seinen von der sprachlichen Norm abweichenden Stil bemerkenswert. Ich möchte im Folgenden nur auf einige mit der Sektenproblematik verbundene Motive eingehen. In Voronež, wo Platonov 1899 geboren wurde, waren in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zahlreiche Sekten verbreitet und konnten dem Autor als lebendiges Anschauungsmaterial dienen. Die Romanhandlung setzt in der Zeit des Kriegskommunismus (1918-21) und des Übergangs zur Neuen Ökonomischen Politik ein, hebt aber dann mit der Beschreibung der Stadt Čevengur, in der angeblich der Sozialismus verwirklicht sein soll, ins Utopische ab. Die beiden zentralen Gestalten des Romans sind der auf der Suche nach Wahrheit und Sozialismus umherstreifende Saša Dvanov und sein Gefährte Stepan Kopenkin, ein sozialistischer Don Quijote, der auf seinem Ross Proletmacht unterwegs zum Grab seiner Braut Rosa – gemeint ist Rosa Luxemburg – 62 Irene Masing-Delic, Abolishing Death. A Salvation Myth of Russian Twentieth Century Literature, Stanford, Cal. 1992, S. 5. 63 Michail Jampol´skij, „Der feuerfeste Körper. Skizze einer politischen Theologie“, in: Die Musen der Macht, hg. v. Jurij Murašov, Georg Witte, München, 2003, S. 285-308. Vgl. auch Bruno Ennker, Die Anfänge des Leninkults in der Sowjetunion, Köln, Weimar, Wien, 1997, S. 321-328. 64 Valerij N. Murav´ev, Ovladenie vremenem, Moskau, 1983 (Repr. München, 1983), S. 81. 65 Zit. nach: Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, hg. v. Boris Groys, Michael Hagemeister, Frankfurt a. M., 2005, S. 469.
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ist. Die beiden gelangen in die Stadt, um den dortigen Sozialismus zu prüfen. Dort warten die Čevengurer nach der Liquidierung bzw. Vertreibung der Bourgeoisie auf den Anbruch des Sozialismus. In der Stadt wird nicht gearbeitet, da man sich einzig auf die wärmende und nährende Kraft der Sonne verlässt. Es herrscht ein Kommunismus der Armut und Brüderlichkeit. In die Stadt werden umherziehende „Vaterlose“ und „Sonstige“, d. h. ihrer Klassenzugehörigkeit nach Undefinierbare, eingeladen. Der Čevengurer Sozialismus hält jedoch der kritischen Prüfung seitens Saša Dvanovs und Kopenkins nicht stand. Der Tod eines Kindes und das Versiegen der Kraft der Sonne werden als Zeichen des Niedergangs gedeutet. Am Ende fällt die Stadt einem militärischen Überfall zum Opfer. Betrachtet man den Roman unter dem Aspekt apokalyptischer Vorstellungen, dann lassen sich mehrere Stränge unterscheiden. Zentral ist das Motiv des „Endes der Zeit“, der Erlösung von der lastenden Not und Schwere des Lebens. Die Apokalyptik tritt oft in absurder Verquickung mit der bürokratischen Sprache der Revolution auf. Die Bolschewiki „organisieren“ der Čevengurer Bourgeoisie „auf der Grundlage der Wiederkunft des Herren“ das Jüngste Gericht, die verschreckten Angehörigen der Halbbourgeoisie flüstern „vom Jahr des Herrn, vom tausendjährigen Reich Christi, vom künftigen Frieden der durch Leiden erneuerten Erde“ und Karl Marx blickt „von den Wänden wie ein fremder Herr Zebaoth“.66 Aufgrund seiner Parallelen zum europäischen Chiliasmus wurde Čevengur als „russisches Münster“67 tituliert. Die Anabaptisten, die 1534/35 die Herrschaft über die westfälische Stadt übernommen hatten, vertrieben die „Gottlosen“ und verteilten ihren Besitz an Gleichgesinnte, die von außerhalb in das Neue Jerusalem strömten. Die Parallelen zwischen Münster und Čevengur sind zahlreich: in beiden Fällen werden Gütergemeinschaften eingerichtet und die vorhandenen Vorräte aufgezehrt. Werden in Münster alle Bücher außer der Bibel verbrannt, so gilt in Čevengur nur das Wort von Karl Marx in seiner Auslegung durch die Bolschewiki. In der Stadt lässt sich wie in Münster ein Übergang von anarchisch-egalitären zu dogmatisch-bürokratischen Vorstellungen feststellen. Schließlich wird dem Neuen Zion Münster wie dem Sozialismus in Čevengur durch den Ansturm äußerer Kräfte ein Ende gesetzt. Parallelen zu den Ereignissen in Čevengur finden sich auch in der Geschichte der hussitischen Bewegung. Während jedoch bei den böhmischen Taboriten nach der Enttäuschung über das Ausbleiben der erwarteten Wiederkehr Christi 1419/20 der Adventismus in revolutionären Chiliasmus umschlägt68, verhält es sich bei Platonov umgekehrt. Der revolutionäre Aktivismus der Einwohner Čevengurs erstarrt nach der Beseitigung der Bourgeoisie und dem damit angeblich eingetretenen Ende der Zeit in einer passiven, fatalistischen Grundhaltung. Über die Ereignisse von Münster oder das hussitische Tabor konnte sich Platonov u. a. bei Kautsky oder Lunačarskij informieren. 66 Andrej Platonov, Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen, Berlin, 1990, S. 293. 67 Vladimir Varšavskij, „Čevengur i Novyj Grad“, in: Novyj žurnal 1976, H. 122, S. 193-213. 68 Robert Kaliovoda, Das hussitische Denken im Lichte seiner Quellen, Berlin, 1969, S. 62-81.
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Eine wesentliche Rolle spielt in dem Roman der Chronotop des Weges und der Suche nach dem Reich der Gerechtigkeit. Platonov kann hier auf zahlreiche Vorlagen wie z. B. die volkstümliche Legende vom Belovod´e (Land des weißen Wassers) zurückgreifen.69 Auf das irgendwo hinter China vermutete Paradies des „Japanischen Reiches“ könnte der Spitzname „Japaner“ des Führers der Čevengurer Bolschewiken hinweisen. Das in dem Roman ausgeprägte nomadische Element ist mit dem Wahrheitssucher Saša Dvanov verknüpft, der den Sozialismus stets in der Ferne sucht, ebenso mit dem im Namen Rosas umherstreifenden Kopenkin oder mit der Gestalt des „Botengängers“ Luj, der den Sozialismus als ununterbrochene Bewegung der Menschen in die Ferne versteht. Auch in der Präsentation der Körperlichkeit und Sexualität lassen sich zahlreiche aus dem Sektierertum stammende Muster in dem Roman nachweisen. In Übereinstimmung mit den erwähnten religionsphilosophischen und häretischen Vorstellungen leben die Čevengurer Brüder und Schwestern in der asexuellen „geistigen“ Gemeinschaft der Wärme des Čevengurer Kommunismus miteinander. Die Helden Saša Dvanov und Kopenkin verehren ihre geliebten Frauen Sonja bzw. Rosa nur von ferne. Bezeichnenderweise ist es nur der als Verkörperung des bürokratischen und Eigentumsprinzips negativ gezeichnete Halbbruder Saša Dvanovs, der offen ein Verhältnis mit einer Geliebten unterhält. Die Frauen, die nach der Vertreibung der Bourgeoisie in die Stadt geholt werden, sind alle abgemagert und unansehnlich und taugen nur zu „Genossinnen“. Schließlich durchzieht den Roman auch eine Linie des auf Nikolaj Fedorov zurückgehenden Auferweckungs-Motivs. Saša Dvanov sammelt alle möglichen vergessenen Gegenstände verstorbener armer Menschen, um sie einer Erlösung im Sozialismus zuzuführen und fühlt sich verpflichtet, in Čevengur etwas Gutes für seinen im Grabe liegenden Vater zu tun. Nachdem er dies nicht verwirklichen kann, taucht er nach dem Untergang der Stadt in den See ein, in dem der Vater sich einst in der Suche nach der Wahrheit ertränkte. Die genannten Beispiele vermitteln einen Eindruck davon, in welch befremdlicher Mischung bolschewistischer Jargon, Apokalyptik und sektiererische Motive in dem Roman koexistieren. Der Roman thematisiert das groteske und klägliche Scheitern der Apokalypse. Auf ihn trifft die Feststellung zu, dass das chiliastische Christentum in Russland Beute einer politischen Lehre wurde und in einem „wahren Kataklysmus von Politik hilflos und spurlos unterging“.70 Apokalyptisches Denken und Marxismus in Russland stehen zwar in keinem direkten Zusammenhang, doch ist die häretisch-apokalyptische Tradition einer von mehreren Strömen, die in die Flut der russischen Revolution einmündeten. Ihre Berücksichtigung trägt der Besonderheit der russischen Revolution in einem im Vergleich zu Europa verspäteten bäuerlichen Land und ihrer Differenz zum europäischen Sozialismus stärker Rechnung als eine „marxistische“ Interpretation, 69 Vgl. Chans Gjunter [Hans Günther], „Čevengur i ,Opon´skoe‘ carstvo“. K voprosu narodnogo chiliazma v romane A. Platonova”, in: Russian Literature 32 (1992), S. 211-226. 70 Hans Mühlestein, Russland und die Psychomachie Europas, S. 77.
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die die Theorie von Marx gewaltsam verbiegt, um sie auf russische Verhältnisse anwendbar zu machen. Für die überwiegend bäuerlichen Akteure war die Revolution nicht nur ein politischer Machtwechsel, sondern eine „rebellion against time and ist limits: backwardness, oppression, suffering, and death“.71 Das apokalyptische Verständnis der Revolution versprach eine Durchbrechung des Teufelskreises der zyklischen Zeit und den Anbruch eines neuen Kosmos. Diese Vorstellung, die in Platonovs Roman Čevengur ihren exemplarischen literarischen Ausdruck findet, beflügelt nach der Revolution reale Hoffnungen auf eine Überwindung der Zeit und auf Unsterblichkeit. Das apokalyptische Denken scheint typisch für eine Gesellschaft zu sein, in der evolutionäre Prozesse schwach entwickelt sind72 und der Fortschritt katastrophische Formen annimmt. Betrachtet man den russischen Marxismus unter dem Aspekt der Rekonstruktion der Marxschen Lehre und der Entmystifizierung des geschichtsphilosophischen Denkens73, so tritt zutage, dass sich das revolutionäre Denken in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch eine deutliche Tendenz zur Remystifizierung auszeichnet. Der Marxismus, der den Anspruch erhebt, den Weg von der Utopie zur Wissenschaft zurückgelegt zu haben, entwickelt sich aufgrund anderer historischer Voraussetzungen im russischen Kontext rückläufig – von der Wissenschaft zur Apokalyptik.
71 Robert C. Williams, „The Russian Revolution and the End of Time: 1900-1940“, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 43 (1995), S. 364-401, hier: S. 365. 72 Darauf machte bereits Petr Čaadaev in seinen Philosophischen Briefen (1829-31) aufmerksam. Vgl. Peter Tschaadjew, Apologie eines Wahnsinnigen, Leipzig, 1992, bes. S. 11-29. 73 Vgl. Heinz D. Kittsteiner, Naturabsicht und Unsichtbare Hand, Frankfurt, Berlin, Wien, 1980.
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Rjazanovs Herausgabe der MEGA und oder vs. Marxismus-Leninismus
Heinz-Dieter Kittsteiner hat 1977 über Differenzen des Marxschen und Engelsschen Systems der Wissenschaft geschrieben. In jener Zeit wurde in West und Ost über ‚Logisches‘ und ‚Historisches‘ in bezug auf den ersten Abschnitt des ersten Bandes des Kapitals diskutiert. Ich war involviert in jene Diskussionen, die sich am Lehrstuhl für Politische Ökonomie an der ökonomischen Fakultät der Moskauer Staatlichen Lomonosov-Universität abspielten. Als ich 1979 darüber auf einer MEGA-Konferenz in Halle berichtete1, kannte ich wohl Kittsteiners Aufsatz aus der IWK2, der eine Reihe von Anregungen für diese gab. Ich möchte hier keinen theoriegeschichtlichen Exkurs abhandeln, aber wir haben in Erinnerung an Kittsteiners Aufsatz für die von mir mitherausgegebenen Beiträge zur Marx-EngelsForschung. Neue Folge 1995 den Titel gewählt: „Engels’ Druckfassung versus Marx’ Manuskripte zum III. Buch des ‚Kapital‘“.3 Die Edition aller Manuskripte von Marx zum 2. und 3. Band des Kapitals in der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA²) hat uns in den letzten zehn Jahren immer wieder diese Problematik vor Augen geführt. Es ist wohl angemessen, wenn ich als MEGA-Editor an diesen Beitrag Kittsteiners zur Marx-Engels-Forschung eingangs erinnere. Heute möchte ich jedoch nicht über die Forschungsergebnisse der II. Abteilung der neuen MEGA² berichten4, sondern ich will mich auf das Feld der Editionsgeschichte der Werke von Marx und Engels begeben und zwar genauer gesagt, der Frage nachgehen, wie sich die von Rjazanov eingeleitete Herausgabe einer ersten MEGA in den 1920er Jahren auf die Doktrin des Marxismus-Leninismus ausgewirkt hat, oder umgekehrt, wie Parteipolitik und Werkinterpretation die weitere Herausgabe einer MEGA dann in den 1930er Jahren unmöglich gemacht haben. 1 Siehe Rolf Hecker, „Einige Probleme der Wertformanalyse in der Erstausgabe des ,Kapitals‘ von Karl Marx“, in: Arbeitsblätter zur Marx-Engels-Forschung, hg. v. d. Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg, H. 8, 1979, S. 76–94. 2 Heinz Dieter Kittsteiner, „,Logisch‘ und ,Historisch‘. Über Differenzen des Marxschen und Engelsschen Systems der Wissenschaft. (Engels’ Rezension „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ von 1859)“, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 13. Jg., H. 1, 1977, 1–47. 3 Vgl. Carl-Erich Vollgraf, Richard Sperl, Rolf Hecker, „Engels’ Druckfassung versus Marx’ Manuskripte zum III. Buch des ,Kapitals‘“, in: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge 1995, hg. v. Carl-Erich Vollgraf, Richard Sperl, Rolf Hecker, Hamburg, 1995. 4 Siehe dazu den jüngsten Sammelband Re-reading Marx. New Perspectives after the Critical Edition, hg. v. R. Bellofiore, R. Fineschi, London, 2009.
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Der Weg Rjazanovs zur MEGA Schon allein wenn man Biografie von David Borisovič Rjazanov aufmerksam verfolgt, wird deutlich, dass nur er genau der richtige Mann am rechten Ort war. 1870 geboren, also in einem Jahrgang mit W. I. Lenin, soll er schon als Zehnjähriger F. C. Schlossers Weltgeschichte für das deutsche Volk gelesen haben. Er wurde aus dem Gymnasium in Odessa ausgeschlossen, offiziell wegen „Unfähigkeit in Griechisch“, aber er bewegte sich Mitte der 1880er Jahre bereits in Kreisen revolutionärer Jugendlicher. 1889 nahm er am Gründungskongress der Zweiten Internationale teil, nicht weil er delegiert worden war, sondern weil er seit Anfang des Jahres an der Sorbonne in Paris studierte – da lag es nahe, mal vorbei zu schauen. Als er nach Russland zurückkehrte, wurde er verhaftet. Im Petersburger Gefängnis las er das Kapital und die Schriften der Klassiker. Von 1900 bis 1917 (mit Unterbrechung der Revolutionszeit von 1905–07) hielt sich Rjazanov in Westeuropa auf, vor allem in Paris, dann aber in Deutschland, u.a. in Berlin, dann in Wien und seit 1915 in der Schweiz (Oberägeri, Zürich). Ab 1907 beschäftigte sich Rjazanov intensiv mit Marx und Engels und er konnte regelmäßig in der Neuen Zeit und der Wiener Zeitschrift Der Kampf Aufsätze veröffentlichen. 1909 erhielt er von der Stiftung der Anton-Menger-Bibliothek den Auftrag, die Dokumente und Protokolle der Internationalen Arbeiter-Assoziation zu sammeln und herauszugeben (von ihm als „Urkundenbuch der Internationale“ bezeichnet). Für dieses Projekt besuchte er die Bibliotheken in London, Paris, Rom, Florenz sowie in Deutschland und der Schweiz. Bis 1914 wurde der erste Band in Druck gegeben, erschien jedoch infolge des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs nicht mehr. In dieser Zeit gelang es Rjazanov, freundschaftliche Kontakte mit führenden Vertretern der europäischen Sozialdemokratie zu pflegen, so u.a. mit Karl Kautsky, August Bebel, Victor Adler, Otto Bauer, Eduard Bernstein, Karl Renner und Clara Zetkin. Ihm wurden Studien im Archiv der deutschen Sozialdemokratie in Berlin ermöglicht, in dem er „als erster die dort vorhandenen Marx-Papiere geordnet“ hat. Er fertigte eine Übersicht über den Marx-Engels-Nachlass an und sortierte die Bücher Ex Libris Marx und Engels aus, die in den allgemeinen Bestand eingeordnet worden waren. Besondere Bedeutung erlangte für Rjazanov auch die Möglichkeit, Studien bei Carl Grünberg in Wien zu betreiben und sich an dem von ihm herausgegebenen Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung zu beteiligen. Im Sommer 1910 arbeitete Rjazanov für einige Wochen in Paul und Laura Lafargues Haus in Draveil, wo sich nach Eleanor Marx-Avelings Tod (1898) der Familienbestand des Marx-Nachlasses befand. Nach dem Freitod der Lafargues im November 1911 holte er Ende 1912 im Auftrag des SPD-Vorstandes den Nachlass nach Berlin. Zuvor war er um den Jahreswechsel 1910/11 an der Ausarbeitung des Wiener Editionsplanes der Werke von Marx und Engels aus Anlass von Marx’ bevorstehenden 30. Todestag beteiligt.5 5 Siehe Götz Langkau, „Marx-Gesamtausgabe – dringendes Parteiinteresse oder dekorativer Zweck? Ein Wiener Editionsplan zum 30. Todestag, Briefe und Briefauszüge“, in: International Review of Social History, H. 28, 1983, S. 105–142.
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Nach den Erinnerungen von Fritz Brupbacher konnte Rjazanov „wegen eines Kommas in der Handschrift von Marx in einem ungeheizten Waggon vierter Klasse nachts von Wien nach London reisen“.6 Neben dem Projekt der IAA sammelte und identifizierte er die Korrespondenzen von Marx und Engels in den Zeitungen New York Daily Tribune, The Peoples Paper und der Neuen Oder-Zeitung. Sie wurden von ihm als Gesammelte Schriften. 1852–1862 in zwei Bänden 1917 herausgegeben. Bis 1917 veröffentlichte Rjazanov etwa 130 Artikel, Rezensionen, Schriftenpublikationen u.a., darunter eine Vielzahl im Ergebnis seiner Marx-Engels-Studien. Er hatte sich in diesen Jahren die Beinamen „Bukvoed“ (Buchstabenpedant) und „Bookworm“ erworben, wie er in Briefen Dritter untereinander manchmal bezeichnet wurde.
Wie war der Stand der Herausgabe der Werke von Marx und Engels am Ausgang des Ersten Weltkriegs? Nach dem Ersten Weltkrieg waren von Marx und Engels die wichtigsten Schriften in Einzelausgaben bekannt. Ihr Briefwechsel war von Mehring – wie ebenso eine große Marx-Biografie – veröffentlicht, die Korrespondenzen für die New York Daily Tribune waren von Rjazanov herausgegeben worden. Kautsky hatte aus dem handschriftlichen Nachlass die Theorien über den Mehrwert und die berühmte Einleitung von 1857 ediert. Ebenso hatte er gemeinsam mit Rjazanov eine Volksausgabe des ersten Bandes des Kapitals veröffentlicht. Alle diese und weitere MarxEngels-Ausgaben, ebenso die Veröffentlichungen von Manuskripten und Briefen in der Neuen Zeit, waren von unterschiedlichem editorischen Herangehen gekennzeichnet. So wurden z.B. in der Briefedition Auslassungen aus gegenseitiger persönlicher Rücksichtnahme vorgenommen, ohne Kriterien dafür öffentlich zu machen – ein Verfahren, das unter veränderten Parteienkonstellationen in den 20er Jahren zu Schuldzuweisungen untereinander führte.7 Aber schauen wir uns an, in welchen pateipolitischen Konstellationen diese Veröffentlichungen standen. Wie bereits erwähnt, hatten sich führende Vertreter der Sozialdemokratie bereits 1910/11 darüber verständigt, wie man sich bei Freigabe der Texte von Marx ab 1913 verhalten sollte und überlegt, wie im Interesse einheitlicher sozialdemokratischer Weltanschauung „einer wilden, ungeregelten und wertlosen Massenproduktion“8 der Hemmschuh angelegt werden könnte, vor allem Kapital-Editionen, worauf im Folgenden noch eingegangen werden wird. Ge-
6 Fritz Brupbacher, ‚Ich log so wenig als möglich‘. 60 Jahre Ketzer. Selbstbiographie, Zürich, 1973, S. 183. 7 Siehe das Vorwort von David Rjazanov zum ersten Briefband der MEGA, in: MEGA III/1, Berlin, 1929, S. VIII ff. 8 Adolf Braun an Karl Kautsky, 18. Januar 1911, zitiert nach Götz Langkau, „Marx-Gesamtausgabe – dringendes Parteiinteresse oder dekorativer Zweck?“, S. 131.
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meint waren „verunzierte Ausgaben“ von bürgerlichen Verlegern9, nicht weniger allerdings miteinander konkurrierende aus den eigenen Parteiverlagen. Man war sich zu jenem Zeitpunkt bewusst, dass eine Marx-Engels-Ausgabe in „hohem Parteiinteresse“10 lag, ja ein „Gebot der Partei“11 war. Für die sozialdemokratischen Funktionäre gehörte es zum Selbstverständnis, dass nur ein Parteiverlag eine solche Aufgabe übernehmen konnte. Nach dem Ersten Weltkrieg und der erfolgten Spaltung der organisierten Arbeiterbewegung wurde das Unterfangen, Marx und Engels herauszugeben, nicht einfacher. Die KPD ordnete sich der Kommunistischen Internationale unter und mit dem Beschluss des V. Weltkongresses 1924 über die Marx-Engels-Ausgabe in russischer und deutscher Sprache, die am Marx-Engels-Institut in Moskau vorbereitet werden sollten, verblieb ihr die Aufgabe, Marx und Engels in der Bildungsarbeit zu vermitteln. Auf der anderen Seite der „Barrikade“ sah sich die SPD in der vertraglichen Situation, die Rjazanov erreicht hatte, dass ihr gesamter Archivbestand für das Moskauer Marx-Engels-Institut und damit zur Vorbereitung der MEGA fotokopiert werden konnte. Ihr war damit zunächst eigener Handlungsspielraum genommen.12
Die erste MEGA – „annähernd“ historisch-kritisch – was heißt das? Mit der MEGA1 vollbrachte Rjazanov eine zu jener Zeit einzigartige editorische Leistung.13 Anknüpfend an die bisherigen Erfahrungen bei der Veröffentlichung von Marx-Engels-Dokumenten, auf der Grundlage der darüber geführten vielfältigen Diskussionen seit der Jahrhundertwende, widerspiegelten die ersten Bände der MEGA1, die seit 1927 erschienen, einen neuen editorischen Standard. Voraussetzungen für die Edition einer Gesamtausgabe waren vor allem: – Eine nationale und internationale Zusammenarbeit, die einerseits die Unterstützung des Projekts durch die Kommunistische Internationale, andrerseits die Zusammenarbeit mit dem Vorstand und dem Archiv der deutschen Sozialdemo9 Siehe David Rjazanov an Karl Kautsky, 14. Dezember 1911, zitiert nach Götz Langkau, „MarxGesamtausgabe “, S. 140. 10 Die Werke von Karl Marx nach Erlöschen des Urheberschutzes [Wiener Editionsplan], Dossier Parteiarchiv, Div. III/1, IISG Amsterdam, zitiert nach Götz Langkau, „Marx-Gesamtausgabe“, S. 126. 11 Gustav Eckstein an Karl Kautsky, 6. Januar 1911, Nachlaß Kautsky, IISG Amsterdam, DX 57, zitiert nach Götz Langkau, „Marx-Gesamtausgabe“, S. 129. 12 Siehe dazu: Erfolgreiche Kooperation: Das Frankfurter Institut für Sozialforschung und das Moskauer Marx-Engels-Institut (1924–1928), hg. v. Carl-Erich Vollgraf, Richard Sperl, Rolf Hecker, Hamburg, 2000 (Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge. Sonderband 2). 13 Über die Hintergründe der Gründung eines Marx-Engels-Instituts in Moskau, über die Beschlüsse der Kommunistischen Internationale zur Herausgabe des literarischen Nachlasses von Marx und Engels siehe Rolf Hecker: „Erfolgreiche Kooperation: Das Frankfurter Institut für Sozialforschung und das Moskauer Marx-Engels-Institut (1924–1928)“, in: Erfolgreiche Kooperation, S. 9–118.
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kratie und dem in Frankfurt a.M. neu geschaffenen Institut für Sozialforschung unter Leitung von Carl Grünberg einschloss. Die Zusammenstellung eines kompetenten Mitarbeiterstabes mit notwendigen Kenntnissen auf Spezialgebieten (Geschichte, Sprachkenntnisse); das Frankfurter Instituts für Sozialforschung leistete wertvolle Unterstützung bei der Findung entsprechender Mitarbeiter. Die materielle Voraussetzungen; dazu gehörten die Niederlassung des MarxEngels-Instituts im Palais der Fürsten Dolgoruki in Moskau, der notwendige Erweiterungsbau, die Bibliothekseinrichtung und vor allem stellte die sowjetische Regierung eine ausreichende Summe Goldrubel zur Verfügung, um die Tätigkeit von Korrespondenten im Ausland, die Beschaffung der für die Kopierarbeiten notwendigen Apparate und den Ankauf von Büchern und Archivmaterial im Ausland zu gewährleisten. Die Bildung von fachspezifischen Kabinetten und einer wissenschaftlichen Auskunftsabteilung, die bio-bibliografisches Material erstellte und die Neueingänge katalogisierte und entsprechende Register aufbaute. Und nicht zuletzt organisierte Rjazanov eine straffe Disziplin und Ordnung der Mitarbeiter in ‚seinem‘ Institut.
Die MEGA-Bände entsprachen international verbreiteten Editionskriterien, in einigen textdarbietenden und kommentierenden Fragen gingen sie darüber hinaus. Die MEGA1 knüpfte einerseits an positive Ergebnisse und fruchtbare Erfahrungen auf dem Gebiet der historisch-kritischen Edition neuerer Texte an, andererseits gelang es, sich aus den widerspruchsvollen theoretischen und methodischen Streitereien der Editionswissenschaft, wie sie in den zwanziger Jahren besonders zu Tage traten – positivistische Ahistorizität und Akzentlosigkeit zum einen, irrationale Vorstellungen von einem unabhängigen geistigen Schaffensprozess des Schriftstellers zum anderen –, weitgehend herauszuhalten. Als erste Ausgabe, die speziell für wissenschaftliche Zwecke konzipiert und eingerichtet war, begründete sie auf dem Gebiet der Marx-Engels-Edition im besonderen und für die junge Literaturwissenschaft der Sowjetunion im Allgemeinen eine neue Tradition. Nicht unerheblich waren die Widerstände seitens Stalins und anderer Politbürokraten, die den Wert und den Nutzen nicht anerkannten und gegen die sich Rjazanov z.T. mit Kompromissen in der Edition durchsetzen musste. Obwohl die Ausgabe von den Parteigremien beschlossen worden war, hatte Rjazanov weitgehende Unabhängigkeit, sowohl in politischer als auch in finanzieller Hinsicht. Er widersetzte sich nach Lenins Tod einer parteipolitisch-propagandistischen Vereinnahmung der MEGA1. Er stand als Person und mit seinem Institut zwischen den Strömungen in der internationalen Arbeiterbewegung. Das Marx-Engels-Institut war kein Institut des Marxismus-Leninismus – es war ein Hort der Erforschung der Ideengeschichte von Marx und Engels und des Sozialismus. Hinzu kam die Größe des Unternehmens, das ja neben der redaktionellen Arbeit am Marx-Engels-Institut auch die Tätigkeit der Marx-Engels-Archiv Verlagsgesellschaft m.b.H. in
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Frankfurt, später des Marx-Engels-Verlags G.m.b.H. in Berlin, und die drucktechnische Herstellung durch J. B. Hirschfeld in Leipzig einschloss.14 Die neuen Maßstäbe der Edition drückten sich also vor allem darin aus, dass die MEGA1 Authentizität und Vollständigkeit (Manuskripte, Exzerpte, Briefe Dritter) anstrebte, der Textabdruck ebenso belangvolle Varianten aus Handschriften und Drucken verzeichnen sollte, hohe Maßstäbe an Entzifferung und Autorschaftsbestimmung gestellt wurden, erstmals die Kategorie der „Dubiosa“ eingeführt wurde, Manuskripte und Exzerpte in die Edition einbezogen wurden, Originalsprachlichkeit mit moderner Orthographie verband; textkritische Kommentierung (detaillierter Quellennachweis) erarbeitet wurde. Es gab jedoch auch eine Reihe von „Kinderkrankheiten“ in der Edition, die, abgesehen davon, dass noch nicht alles Material erforscht und zusammengetragen war und den Bearbeitern handschriftliche Originale in der Mehrzahl nicht zur Verfügung standen, sich auswirkten. Dazu gehörten: 1. Die MEGA besaß kein festes, verbindliches System für den Aufbau der Bände. So finden sich in den einzelnen Bänden bestimmte Informationen und Kommentare an unterschiedlichen Stellen. 2. Die Texte weisen Unterschiede im Grad der Modernisierung und Vereinheitlichung der Orthographie und Interpunktion auf. 3. Einige Handschriftenstellen wurden nicht exakt entziffert und einige Autorschaftsbestimmungen nicht sorgfältig genug vorgenommen. 4. Uneinheitlich wurde in der Wiedergabe von Varianten in Handschriften und Drucken verfahren, Kriterien für die Auswahl wurden nicht transparent gemacht. 5. Es wurde auf eine strenge chronologische Anordnung verzichtet, zugunsten einer Kombination von Chronologie und Gruppenbildung nach logisch-inhaltlichen Gesichtspunkten. 6. Der Erläuterungsapparat wurde auf textkritische und bibliographische Anmerkungen begrenzt, auf Sacherläuterungen wurde fast vollständig verzichtet. Daran wird deutlich, dass es dringend geboten war, verbindliche Editionskriterien zu formulieren.15
Die Edition von Einzelwerken und die Deformation des Marx-Bildes Im Folgenden möchte ich an zwei Beispielen zeigen, wie durch die Editionspraxis ein der jeweiligen Partei genehmes Marx-Bild geformt wurde. Erstens geht es um die Edition des „Kapitals“. Es ist hier nicht der Raum, um auf die einzelnen „Kapital“-Ausgaben, die nach dem Ersten Weltkrieg bis 1933 heraus14 Siehe ebd. 15 Siehe Rolf Hecker, „Rjazanovs Editionsprinzipien der ersten MEGA“, in: David Borisovi Rjazanov und die erste MEGA, hg. v. Carl-Erich Vollgraf, Richard Sperl, Rolf Hecker, Hamburg, 1997 (Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge. Sonderband 1), S. 7–27.
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gegeben wurden, einzugehen, ich beschränkte mich auf die sog. Volksausgaben von Karl Kautsky und dem Moskauer Marx-Engels-Lenin-Institut. Karl und Benedikt Kautsky hatten 1926 bzw. 1929 in Fortsetzung der 1914 mit Band 1 begonnenen Volksausgabe des Kapitals Band 2 und 3 veröffentlicht. Nach dem Rechenschaftsbericht über Texteingriffe zu urteilen, gingen die Herausgeber dabei behutsam vor. Karl Kautsky orientierte sich daran, dass „der zweite und dritte Band nicht druckfertig von Marx hinterlassen, sondern aus vorbereitenden Fragmenten von Engels zusammengefügt worden“16 seien. Deshalb sei er aufgefordert worden, den „Text an der Hand der Marxschen Manuskripte nachzuprüfen und richtigzustellen“. Diese „ungeheure“ Arbeit, „die Engels fast ein Jahrzehnt lang beschäftigte“, habe er jedoch nicht wiederholen können. Auch bei der Herausgabe des 3. Bandes wurde „größte Originaltreue“ angestrebt, eigene Bemerkungen wurden ausdrücklich gekennzeichnet, es galt auch hier das für den 2. Band festgestellte. Deshalb gab Kautsky der Hoffnung Ausdruck, dass sämtliche Manuskripte von Marx veröffentlicht werden müssten, um „Vermutungen“ zu bestätigen oder zu widerlegen, „Engels habe nicht immer den Marxschen Gedankengang voll erfasst und die Manuskripte nicht immer diesem Gedankengang entsprechend angeordnet und redigiert“. Nur eine „wissenschaftliche Institution mit großen Hilfsmitteln und zahlreichen Arbeitskräften könnte diese sicher bedeutungsvolle Aufgabe lösen“17 und er verwies auf die 13 Bände, die Das Kapital in der ersten MEGA umfassen sollte. Die 1932/33 vom Marx-Engels-Lenin-Institut veranstaltete Volksausgabe aller drei Bände des Kapitals stellte sich in scharfer Polemik gegen die Kautskysche Ausgabe. Der seit 1931 amtierende Direktor des mit dem Lenin-Institut vereinten Marx-Engels-Instituts, Vladimir Vladimirovič Adoratskij, erklärte einführend, dass deren Erscheinen beschleunigt werden musste, nicht nur weil die Meißnersche Originalausgabe vergriffen war, sondern weil die von Kautsky veranstaltete Ausgabe „einen unzuverlässigen Text bringt“ und den „Marxismus grob fälschenden Vorworte“ enthalten würde. Die Herausgabe von Marx durch Kautsky diene als Vorwand „für den Kampf gegen den Marxismus“.18 In der Vorbemerkung der Redaktion zum 3. Band werden die Verdienste von Engels herausgestrichen und keine Zweifel an der von ihm geleisteten redaktionellen Arbeit gehegt, über die er selbst „alles Nötige“ in seinen Vorworten gesagt habe. Die redaktionellen Eingriffe des Moskauer Instituts wurden beschränkt auf: a) Korrekturen auf Grund des Zitatvergleichs; b) Verbesserungen auf Grund des Marxschen Manuskripts, also von Druck- und Entzifferungsfehlern: „Sowohl der Zitatenvergleich wie der Vergleich mit dem Marxschen Manuskript hat übrigens zahlreiche Flüchtigkeiten und Fehler der Kautskyschen Ausgabe gezeigt.“; c) redaktionelle Verbesserungen von Schreiboder Rechenfehlern, die sich auch z.T. auf das Marxsche Manuskript stützen konn16 Karl Marx, Das Kapital, Zweiter Band, Volksausgabe, hg. v. Karl Kautsky, Stuttgart, 1926, S. X f. 17 Karl Marx, Das Kapital, Dritter Band, Volksausgabe, hg. v. Karl und Benedikt Kautsky, Stuttgart, 1929, S. XI. 18 Karl Marx, Das Kapital, Erster Band, Moskau 1932, Vorrede, S. 20*, 18*.
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ten.19 Aus der Volksausgabe erwuchsen auch wichtige methodologische Ansätze für die Bearbeitung des „Kapitals“ innerhalb der II. Abteilung der MEGA².20 Mit dieser Volksausgabe wurden eindeutig die Unantastbarkeit der Engelsschen Edition aller drei Bände und deren „untrennbare theoretische Einheit“, in der dem ersten Band das Primat zukomme, proklamiert. Zugleich wurde im Kampf gegen den „Renegaten“, „Philister“ und „Fälscher“ Kautsky eine verschärfte ideologische Ausdrucksweise der Kommunistischen Internationale gegenüber der Sozialdemokratie übernommen, der in dieser Form von Rjazanov nicht geführt und ihm deshalb auch nachträglich angelastet wurde. Ebenso wurde das absolute Wahrheitsund Editionsmonopol der Kommunistischen Partei an Marx bzw. Engels verkündet.21 Kommen wir zweitens zum Beispiel der „Kritik des Gothaer Programms“ – wer „erfand“ eigentlich den Titel für die von Marx 1875 angefertigten „Randglossen“ zum Programmentwurf, der auf dem Parteitag in Gotha diskutiert wurde?22 Bekanntlich hatte Engels die „Randglossen“ im Vorfeld der Programmdebatte in Eisenach 1891 in der Neuen Zeit veröffentlicht. Dann blieb es lange ziemlich still um dieses Dokument, erst als nach dem Ersten Weltkrieg und der Spaltung der Arbeiterbewegung die Programmdebatte in der KP angekurbelt wurde, gab es verschiedene Ausgaben: Karl Kreibisch (gründete 1921 die KPČ); Karl Korsch (1922) und Hermann Duncker (1928). Letzterem erging es mit seiner kommentierten Ausgabe nicht so gut: Ein von der Programmkommission der Kommunistischen Internationale gebilligter, von Stalin und Nikolaj Bucharin ausgearbeiteter Programmentwurf lag noch nicht in deutscher Sprache vor – Dunckers Vorstoß in der Programmdebatte musste also scheitern. 1933 erschien in der Bibliothek des Marxismus-Leninismus die Ausgabe Kritik des Gothaer Programms erstmals unter diesem Titel. Sie enthält neben Marx’ Randglossen auch Briefe von Marx und Engels zum Gothaer Programm, dann den in Gotha vorliegenden Text nebst beschlossenen Änderungen und – nun kommt die eigentliche Innovation – Lenin über die Kritik des Gothaer Programms, vor allem mit Auszügen aus seiner Schrift Staat und Revolution. Dabei folgt der neue redaktionel19 Karl Marx, Das Kapital, Dritter Band, Moskau, 1933, S. 11*. Vgl. Akte Materialien zur Herausgabe des „Kapitals“ in deutscher Sprache, Bd. III, Schriftwechsel 1933/34, RC, f. 71, op. 4, d. 85. – Siehe auch Rolf Hecker, „Fortsetzung und Ende der ersten MEGA zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus (1931–1941)“, in: Stalinismus und das Ende der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe (1931–1941), (Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge. Sonderband 3), Hamburg, 2001, S. 252–267. 20 Siehe Eike Kopf, „Die Vorbereitungsarbeiten zur Veröffentlichung des ‚Kapitals‘ in der ersten MEGA“, in: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung, H. 14, Berlin 1983, S. 79–97. 21 Siehe Carl-Erich Vollgraf, „Editionen im Wind ihrer Zeit: Die Volksausgaben von Band III des Kapital durch die Kautskys 1929 und das Moskauer IMEL 1933“, in: Geschichtserkenntnis und kritische Ökonomie, hg. v. Carl-Erich Vollgraf, Richard Sperl, Rolf Hecker, Hamburg, 1999 (Beiträge zur Marx-Engels-Forschung: Neue Folge 1998), S. 61–96. 22 Siehe Götz Langkau, „Kritik des Gothaer Programms? Bibliographische Beobachtungen zur Fernwirkung einer ideologischen Weichenstellung“, in: Das Spätwerk von Friedrich Engels. Zur Edition in der Marx-Engels-Gesamtausgabe, Hrsg. und Red.: Carl-Erich Vollgraf, Richard Sperl und Rolf Hecker, Hamburg, 2008 (Beiträge zur Marx-Engels-Forschung: Neue Folge 2008), S. 60–93.
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le Titel des Buches Lenins Exzerpt nach dem deutschen Original, das er russisch überschrieben hatte: Kritika Gotskoj Programmy. Diese Ausgabe ist die ‚Geburtsstunde‘, um Lenin neben Marx und Engels als Klassiker zu installieren. Die Titelschöpfung erweist sich als dauerhaft. 1941 wird ein weiterer Teil in das Buch aufgenommen: „Stalin über die Diktatur des Proletariats, über Sozialismus und Kommunismus und über die Entwicklungswege des Staates im Sozialismus und Kommunismus“ – insgesamt 49 von 156 Seiten, also ein Drittel des Umfangs! Zugleich erscheint der vierte Klassiker auf dem Titelbild.23 Übrigens greifen die Nachkriegsausgaben von 1946 und 1955, wenn auch unter Weglassung des vierten Teils, auf die Kommentierung von 1941 zurück, also immer auf der Grundlage des von Stalins gebilligten Kurzen Lehrgangs der Geschichte der KPdSU, der die offizielle Parteilinie zur Interpretation des Marxismus-Leninismus vorgab.
Marx in Stalinischer Interpretation und das Ende der ersten MEGA Es ist zunächst auf Rjazanovs Biografie zurückzukommen. In der Nacht vom 15. zum 16. Februar 1931 wurde er verhaftet und seine Wohnung im Gartenhäuschen auf dem Gelände des Marx-Engels-Instituts durchsucht. Vom 1. bis 9. März 1931 wurde in Moskau der Prozess gegen die „konterrevolutionäre Organisation der Menschewiki“ durchgeführt. Rjazanov wurde ins Gefängnis nach Suzdal in politische Isolationshaft überführt. Anfang April erhielt er im Gefängnis das Heft 5 der Zeitschrift Bolševik, in dem durch das Marx-Engels-Lenin-Institut unter der neuen Leitung von Adoratskij der Brief von Marx an seine Tochter Jenny vom 11. April 1881 veröffentlicht wurde.24 Die Herausgeber beschuldigten Rjazanov, dass er diesen Brief versteckt habe, weil er eine vernichtende Kritik an Kautsky enthalte. Am 10. April 1931 richtete Rjazanov einen Brief an die Redaktion, in dem er erklärte, dass er diesen Marx-Brief von der Schwester Martovs unter dem Ehrenwort erhalten habe, ihn noch nicht zu veröffentlichen. Aber er hatte bereits keinen Einfluss mehr auf die Editionspraxis. Mit der ‚Säuberung‘ des Marx-Engels-Instituts und der Vereinigung mit dem Lenin-Institut wurde eine der kommunistischen Partei unterstellte Einrichtung geschaffen, deren Selbständigkeit weitgehend eingeschränkt wurde. Vor allem ging es, wie bereits erwähnt, um die Durchsetzung ideologischer Dogmen Stalinischer Prägung. Damit verbunden waren personelle Veränderungen, d.h. es wurden Parteiarbeiter, auch aus Deutschland und Österreich, eingestellt. Die Organisations23 In dem Karikaturenband Grüß Gott! Da bin ich wieder. Karl Marx in der Karikatur, hg. v. Rolf Hecker, Hans Hübner, Shunichi Kubo, Berlin, 2008, S. 81, haben sich die Herausgeber den Spaß erlaubt, die Abbildung von zwei Umschlägen des Manifests der Kommunistischen Partei von Marx und Engels aufzunehmen: die 6. Auflage von 1951 und die 8. Aufl. von 1953 – die Köpfe der vier Klassiker auf erstem v.l.n.r. mit Marx im Vordergrund, und auf zweitem v.r.n.l. mit Stalin im Vordergrund! 24 Siehe Karl Marx an Jenny Marx vom 11. April 1881, MEW 35, S. 177–181.
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struktur innerhalb des Instituts wurde neu gestaltet und die Gewichtung der einzelnen Abteilungen verschoben (Primat der KPdSU-Abteilung). Die internationalen Verbindungen wurden neu gestaltet, vor allem wurden alle Kontakte zur Sozialdemokratie abgebrochen, den internationalen Korrespondenten wurde gekündigt und der noch bis 1933 bestehende Marx-Engels-Verlag in Berlin musste geschlossen werden (glücklicherweise konnten Druckmattern von MEGA-Bänden und anderes Eigentum des Verlags vor dem Zugriff der Nazis gerettet werden und nach Leningrad gebracht werden). Nach 1931 wurde der ‚neue Kurs‘ des Instituts in Publikationen, aber auch während der Vorbereitung des Karl-Marx-Jahres 1933 in der Öffentlichkeit deutlich. Die gesamte Kampagne der Kommunistischen Internationale zum Marx-Jahr stand unter dem Motto „Marx gehört uns!“. Die dazu verfassten 35 Thesen erschienen in einer Auflage von 200.000 Exemplaren. Jedoch war eine kontinuierliche Arbeit des Instituts nicht möglich, da bereits 1937 eine neue Säuberungswelle durch das Marx-Engels-Lenin-Institut zog und damit erneut personelle und strukturelle Veränderungen eintraten. Fast alle ausländischen Mitarbeiter wurden verhaftet und für viele lautete das Urteil „Tod durch Erschießen“. Auch Rjazanov wurde in seinem Verbannungsort Saratov am 22. Juli 1937 verhaftet. Am 21. Januar 1938 fand eine geschlossene Gerichtsverhandlung der auswärtigen Session des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR statt. Nach fünfzehn Minuten wurde das Urteil verkündet: Erschießung und Konfiszierung des persönlichen Eigentums. Die Hinrichtung Rjazanovs erfolgte am gleichen Tag in Saratow.
Resümee Häufig wird die Frage gestellt, wann und warum die erste MEGA eingestellt wurde.25 Der erste Teil der Frage kann nicht mit einem konkreten Datum beantwortet werden, wenn auch im Jahr 1936 einige für das Ende der MEGA entscheidende politische Vorgänge in der UdSSR liegen. Die Gründe für ihre Einstellung sind jedoch nicht allein in den im Marx-Engels-Lenin-Institut erfolgten Entscheidungen zu suchen, sondern vor allem in der Stalinischen Wissenschaftspolitik, die mit dem ‚Kampf an der ideologischen Front‘ eine ‚Gleichschaltung‘ (oder Einschwörung auf die von Stalin erhobenen Dogmen des Marxismus-Leninismus) zu erreichen suchte. Politisches und ideologisches Unangepasstsein wurde zunehmend mit juristischen Mitteln unterdrückt, die in den ‚Schauprozessen‘ in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre ihren Höhepunkt fanden. Wie bereits erwähnt, gehört zu den Gründen für das Ende der MEGA auch, dass eine Verbreitung der Schriften von Marx und Engels in Deutschland mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten unmöglich wurde; Kommunisten und Sozial25 Siehe den Band Stalinismus und das Ende der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe (1931-1941), hg. v. Carl-Erich Vollgraf, Richard Sperl, Rolf Hecker, Hamburg, 2001 (Beiträge zur Marx-EngelsForschung. Neue Folge. Sonderband 3).
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demokraten wurden verfolgt; eine Rezeption von Marx und Engels wurde lebensgefährlich. So befand sich die MEGA nach der Verhaftung und politischen Ausschaltung ihres spiritus rector und der ‚Säuberung‘ des Marx-Engels-Lenin-Instituts von „unliebsamen Opportunisten, Brandleristen und Versöhnlern“ in schwierigem politischen und wissenschaftlichen Fahrwasser. Die zunehmenden Strudel von Denunziation, Verleumdung und Intrigen in der Leitung und unter den Mitarbeitern des Instituts schafften Unsicherheiten für eine kontinuierliche Arbeit an der MEGA. Andere Schwerpunkte der wissenschaftlichen, editorischen und ideologisch-propagandistischen Tätigkeit rückten in den Vordergrund: ‚gesäuberte‘ Lenin-Ausgabe, Stalins Werke und die Geschichte der KPdSU(B) und der Kommunistischen Internationale, ‚populäre‘ Schriften von Marx und Engels, wie die ‚Volksausgabe‘ des Kapitals und von Rjazanovs Einführungen „gereinigte“ Bände der russischen MarxEngels-Werkausgabe. Die Marx-Engels-Forschung wurde pervertiert: während einerseits der ‚Sieg‘ über Rjazanov und Kautsky mit der Publikation der bis dahin unveröffentlichten Marx/Engels-Briefe an die Führer der deutschen Sozialdemokratie, die der erstere im Einverständnis mit Kautsky der späteren Edition in der MEGA vorbehalten hatte und die den letzteren zum ideologischen ‚Hauptfeind‘ werden ließen, gefeiert wurde, wurden andererseits Briefe und Dokumente über den unehelichen MarxSohn Frederick Demuth, die Rjazanov ebenfalls vertraulich behandelt hatte, mit Stalins Einverständnis in den Tresoren des Parteiarchivs versteckt gehalten.26 Dieser Selektion stand eine vollständige Veröffentlichung des literarischen Nachlasses von Marx und Engels im Wege.
26 Siehe Heinrich Gemkow, Rolf Hecker, „Unbekannte Dokumente über Marx’ Sohn Frederick Demuth“, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, H. 4, Berlin, 1994, S. 43–59.
OLAF KISTENMACHER
„Nazis für jüdisches Kapital“ (Rote Fahne 182, 7. September 1932) Antisemitische Stereotype und antifaschistisches Selbstverständnis in der Tageszeitung der KPD während der Endphase der Weimarer Republik, 1928-1933
Nach mehreren Jahrzehnten politischer Auseinandersetzungen und historischer Forschung lässt sich nicht mehr leugnen, dass die Geschichte der parteikommunistischen Linken Beispiele für verschiedene Formen des Antisemitismus aufweist.1 Nach wie vor umstritten ist dagegen, ob und inwieweit dieser Antisemitismus von links in einem strukturellen Zusammenhang mit linken Vorstellungen, Denkweisen, mit dem Antikapitalismus oder Antiimperialismus steht. In der Tageszeitung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), Die Rote Fahne, bildete das Stereotyp vom ‚reichen und mächtigen Juden‘ bzw. des ‚jüdischen Kapitals‘ in der ganzen Epoche der Weimarer Republik ein wiederkehrendes Muster, das auch nicht aufgegeben wurde, als die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) mit ihrer antisemitischen Hetze gegen das „raffende Kapital“ populärer und gefährlicher wurde.2 In den Jahren 1928 bis 1933, in denen die KPD gerade als antifaschistische Partei gefordert war3, benutzte das Zentralorgan der KPD das antisemitische Stereotyp vielmehr, um ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis von Nationalsozialisten und ‚reichen Juden‘ zu konstruieren.4 Die Rote Fahne brachte Beiträge mit Überschriften wie „Jüdischer Warenhausbesitzer finanziert Nazipropaganda“, „Juda soll nicht verrecken! Nazianleihe für Warenhäuser. So sieht der Kampf der Nazis gegen Zinsknechtschaft und jüdisches Warenhaus-Ka1 Matthias Brosch/u. a. (Hg.), Exklusive Solidarität. Linker Antisemitismus in Deutschland. Vom Idealismus zur Antiglobalisierungsbewegung, Berlin, 2007. Micha Brumlik/Doron Kiesel/Linda Reisch (Hg.), Der Antisemitismus und die Linke, Frankfurt am Main, 1991. Léon Poliakov, Vom Antizionismus zum Antisemitismus, übersetzt von Franziska Sick/Elfriede Müller/Michael T. Koltan, Freiburg im Breisgau, 1992. 2 George L. Mosse, Die Geschichte des Rassismus in Europa (Towards the Final Solution. A History of European Racism), übersetzt von Elfriede Burau/Hans Günter Holl, Frankfurt am Main, 1990, S. 213-225. 3 Gruppe MAGMA, „… denn Angriff ist die beste Verteidigung“. Die KPD zwischen Revolution und Faschismus, Bonn, 2001, S. 120-130. 4 Häufiger als von Jüdinnen oder Juden ist in diesem Beitrag von ‚Juden‘ – mit Anführungszeichen – die Rede. Damit soll betont werden, dass in antisemitischen Aussagen nicht von realen Jüdinnen und Juden die Rede war und dass auch das gesellschaftliche Bild, das man sich z. B. in der Weimarer Republik von ‚Juden‘ machte, nichts mit der Realität von Jüdinnen und Juden zu tun haben musste.
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pital in Wirklichkeit aus“, „Hitler proklamiert die Rettung der reichen Juden“ oder „Nazis für jüdisches Kapital“.5 In historischen Darstellungen wird die KPD der Jahre 1928 bis 1933 als ein Instrument der Kommunistischen Internationale und der KPdSU unter dem Vorsitz Josef W. Stalins gezeichnet. Der Vorsitzende der KPD, Ernst Thälmann, über dessen intellektuellen Fähigkeiten Zeitgenossinnen und Zeitgenossen entsetzt waren6, habe wie eine Marionette die Anweisungen aus Moskau befolgt.7 Anstatt die gefährlicher werdende Gefahr des Nationalsozialismus zu bekämpfen, habe sich die KPD in den Kampf gegen den „Hauptfeind Sozialdemokratie“ verrannt und sogar mit der NSDAP zusammengearbeitet. Evelyn Anderson, die 1927 der KPD beigetreten und 1929 zur SPD gewechselt war, erinnert sich 1945 an das „groteske Schauspiel“, dass im Berliner Verkehrsbetriebe-Streik „Kommunisten und Nationalsozialisten Arm in Arm standen“. Der Anblick dieser perversen Einheitsfront war für die meisten Gewerkschaftler, Sozialisten und sogar für viele Kommunisten so abstoßend, daß sich die ursprüngliche Sympathie für den Streik und die Streikenden in Abscheu und Feindseligkeit verwandelten.8
Gleichzeitig imitierte die KPD den „Personenkult“ der NSDAP. Thälmann wurde als „Führer“ der KPD bezeichnet, und kommunistische Delegationen grüßten sich mit „Heil Moskau“.9 Wenn in diesem Beitrag die Verwendung des antisemitischen Stereotyps vom ‚reichen, mächtigen Juden‘ in der Tageszeitung der KPD analysiert wird, geht es nicht darum, diese Verwendung mit dem rassistischen Antisemitismus der NSDAP gleichzusetzen. Weder waren die antisemitischen Aussagen in der Roten Fahne, so befremdlich sie aus heutiger Perspektive erscheinen mögen, mit der Hetze in der nationalsozialistischen Presse identisch, noch ist es meines Erachtens generell analytisch zweckmäßig, Antisemitismus in seinen verschiedenen Erscheinungsfor5 „Jüdischer Warenhausbesitzer finanziert Nazipropaganda“, Rote Fahne 174, 29. Juli 1930. „Juda soll nicht verrecken! Nazianleihe für Warenhäuser. So sieht der Kampf der Nazis gegen Zinsknechtschaft und jüdisches Warenhaus-Kapital in Wirklichkeit aus“, Rote Fahne 284, 5. Dezember 1930. „Hitler proklamiert die Rettung der reichen Juden“, Rote Fahne 208, 15. November 1931. „Nazis für jüdisches Kapital. ‚Beim Streik haben mir die Nazis geholfen, jetzt helfe ich ihnen!‘ – Gute antifaschistische Arbeit“, Rote Fahne 7. September 1932. 6 Margarete Buber-Neumann, Von Potsdam nach Moskau – Stationen eines Irrwegs, Köln-Lövenich, 1981, S. 117. Rosa Meyer-Leviné, Im inneren Kreis. Erinnerungen einer Kommunistin in Deutschland 1920-1933, übersetzt von Barbara Bortfeldt, Frankfurt am Main, 1982, S. 112. 7 Ossip K. Flechtheim, Die KPD in der Weimarer Republik, Frankfurt am Main, 1976, zweite unveränderte Auflage, S. 248-288. Hermann Weber, Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik, zwei Bände, Frankfurt am Main, 1969. Kritisch dazu Bert Hoppe, In Stalins Gefolgschaft. Moskau und die KPD 1928-1933, München, 2007. Klaus-Michael Mallmann, Kommunisten in der Weimarer Republik. Sozialgeschichte einer revolutionären Bewegung, hg. von Wilfried Loth, Darmstadt, 1996. 8 Evelyn Anderson, Hammer oder Amboss. Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, übersetzt von Walter D. Schultz, Frankfurt am Main, 1981, S. 209-210. 9 Flechtheim, KPD in der Weimarer Republik, S. 256.
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men mit dem nationalsozialistischen Vernichtungsantisemitismus gleichzusetzen. Auch wenn der Vorwärts, die Tageszeitung der Sozialdemokratie, im Mai 1930 berichtete, Mitglieder der KPD hätten sich im Berliner Landtag an den „Juden raus“-Rufen der Nationalsozialisten beteiligt10, lassen sich aus dem, was die Rote Fahne über das ‚jüdische Kapital‘ schrieb, nicht einfach, wie Christian Striefler behauptet, die „Übertritte von Kommunisten zur NSDAP“ erklären.11 Eine solche Sichtweise, die sich auf die Gemeinsamkeiten zwischen der KPD und der NSDAP konzentriert und hierüber Parallelen zwischen links und rechts herzustellen versucht, muss den gesellschaftlichen Charakter des Antisemitismus ausblenden. Antisemitische Vorstellungen wurden aber nicht sozusagen von außen in die Gesellschaft der Weimarer Republik hineingetragen.12 Mehrere Untersuchungen zum Antisemitismus in der Weimarer Republik zeigen, dass der Antisemitismus während dieser Epoche nicht, wie lange Zeit angenommen, seine gesellschaftliche Basis verloren hat. So schreibt Cornelia Hecht: „Niemals zuvor trat der Antisemitismus in Deutschland so vehement und radikal auf, wie in jenen vierzehn Jahren.“13 Die Beiträge in der Tageszeitung der KPD, in denen sich antisemitische Stereotype finden lassen, machen deutlich, dass die KPD von den gesellschaftlich verbreiteten Vorurteilen und Denkweisen nicht frei war – obwohl die deutsche kommunistische Partei den Antisemitismus stets ablehnte und die Rote Fahne die Erklärungen Wladimir I. Lenins und Josef W. Stalins gegen den Antisemitismus abdruckte.14 Der Fokus auf die Jahre 1928 bis 1933 soll verdeutlichen, dass die KPD ihre Haltung zu dem, was auch die KPD die „Judenfrage“ nannte, nicht revidierte, als der Erfolg der Nazi-Bewegung unübersehbar wurde. In der Forschung wird darauf verwiesen, dass die falsche Einschätzung des Antisemitismus der NSDAP durch die KPD auf einem blinden Fleck, auf Ignoranz beruht habe. Enzo Traverso schreibt: „Unfähig, im Faschismus ein neues Phänomen zu erblicken, behielt die deutsche Linke gegenüber dem Antisemitismus ihre traditionell gleichgültige und bagatelli-
10 Vorwärts, 16. Mai 1930, zitiert nach: Donald L. Niewyk, Socialist, Anti-Semite and Jew. German Democracy Confronts the Problem of Anti-Semitism 1918-1933, Baton Rouge, 1971, S. 180. 11 Christian Striefler, Kampf um die Macht. Kommunisten und Nationalsozialisten am Ende der Weimarer Republik, Berlin, 1993, S. 192. 12 Detlev Claussen, Grenzen der Aufklärung. Die gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus, Frankfurt am Main, überarbeitete Neuausgabe, 1994. Lars Rensmann, Kritische Theorie über den Antisemitismus. Studien zu Struktur, Erklärungspotential und Aktualität, Berlin/Hamburg, 1998. Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays, München, 1990, zweite Auflage. 13 Cornelia Hecht, Deutsche Juden und Antisemitismus in der Weimarer Republik, Bonn, 2003, S. 12. Vgl. Dirk Walter, Antisemitische Kriminalität und Gewalt. Judenfeindschaft in der Weimarer Republik, Bonn, 1999. Hecht und Walter widersprechen der Auffassung Winklers, der Antisemitismus sei in der Weimarer Republik langsam zurückgegangen und habe keine gesamtgesellschaftliche Basis gehabt. Heinrich August Winkler, „Die deutsche Gesellschaft der Weimarer Republik und der Antisemitismus“, in: Bernd Martin/Ernst Schulin (Hg.), Die Juden als Minderheit in der Geschichte, München, 1981, S. 271-289. 14 „Lenin über Juden“, Rote Fahne 2, 3. Januar 1931. „Stalin über Antisemitismus“, Rote Fahne 28, 3. Februar 1931.
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sierende Haltung bei.“15 Aber die Verwendung antisemitischer Stereotype in der Roten Fahne ergab sich nicht nur aus einer passiven Übernahme gesellschaftlich verbreiteter Vorstellungen. Das Stereotyp vom ‚reichen Juden‘ wurde im Zentralorgan der KPD nicht nur einfach wiedergegeben, sondern in die sonstige Berichterstattung eingefügt, legitimiert und erhielt besonders 1928 bis 1933 eine spezifische ‚antifaschistische‘ Ausrichtung. Die meisten Beiträge in der Roten Fahne, die in den letzten Jahren der Weimarer Republik im Titel die Worte ‚Jude‘ oder ‚jüdisch‘ enthielten, waren nämlich gegen die ‚reichen Juden‘ und gegen die Nationalsozialisten gerichtet. Das Zentralorgan der KPD benutzte also ein antisemitisches Stereotyp, um damit die antisemitische NSDAP zu attackieren. Ganz neu war die Strategie der Roten Fahne in der Geschichte der sozialistischen und kommunistischen Presse nicht. Nach Julia Schäfers Analyse hatte sich schon die sozialdemokratische Satirezeitschrift Der Wahre Jacob „antisemitischer Vorlagen [bedient], um – so das Paradox – die Antisemiten anzugreifen“.16
Nationaler Antisemitismus und Antisemitismus als besonders gefährliche Form des Kapitalfetischs Die elaboriertesten Studien zum Antisemitismus von links knüpfen an die vielfältigen Erkenntnisse und Beobachtungen der Frankfurter Schule an.17 Thomas Haury und Klaus Holz betonen die Besonderheit des antisemitischen Feindbildes im modernen Nationalismus und arbeiten darüber den Unterschied des Antisemitismus gegenüber anderen Formen des Rassismus heraus: Im modernen Nationalismus sei ‚der Jude‘ nicht nur der Feind der deutschen oder französischen Nation, sondern der Feind des nationalen Prinzips selbst. ‚Die Juden‘ seien gewissermaßen das „‚Anti-Volk‘“, als „Verkörperung der zersetzenden Moderne, als ‚Feind aller Völker‘“.18 Eingang in die parteikommunistischen Ideologien habe dieses Feindbild durch die „marxistisch-leninistische Verschmelzung von Klassen- und Volksbegriff“ gefunden, die es ermöglichte, den Staatssozialismus nicht nur durch Bezugnahme auf die Klasse, sondern auch auf die Nation, das Volk zu legitimieren.19 Haury verweist in seiner Studie zum Antisemitismus in der frühen DDR darauf, 15 Enzo Traverso, Die Marxisten und die jüdische Frage. Geschichte einer Debatte (1843-1943), übersetzt von Astrid St. Germain, Mainz, 1995, S. 185. 16 Julia Schäfer, Vermessen – gezeichnet – verlacht. Judenbilder in populären Zeitschriften 1918-1933, Frankfurt am Main/New York, 2005, S. 189. 17 Theodor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, übersetzt von Milli Weinbrenner, Frankfurt am Main, 1999; ders., „Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute“, in: Das Argument. Berliner Hefte für Probleme der Gesellschaft 29 (1964), S. 88-104. Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno: „Elemente des Antisemitismus“, in: Dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main, 1992, S. 177-217. 18 Thomas Haury, Antisemitismus von links. Nationalismus, kommunistische Ideologie und Antizionismus in der frühen DDR, Hamburg, 2002, S. 461, S. 94. 19 Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg, 2001, S. 469.
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dass bereits die KPD der Weimarer Republik „innerhalb der kommunistischen Ideologie die Identität von ‚nationalem‘ und ‚proletarischen‘ Interesse“ behauptet habe.20 Moishe Postone hebt in einem 1979 erstmals veröffentlichten kurzen Text ein anderes Motiv hervor. Ausgehend von der Beobachtung, dass der moderne Antisemitismus die ‚abstrakte‘ Seite der kapitalistischen Vergesellschaftung, das Finanzkapital, die Börse, ablehnte, während die ‚konkrete‘ Seite, die Arbeit, die Produktion, das industrielle Kapital, als scheinbar natürlich angesehen wurde, bezeichnet Postone den modernen Antisemitismus als eine Form des „fetischisierten ‚Antikapitalismus‘“. Diese Form des ‚Antikapitalismus‘ beruht also auf dem einseitigen Angriff auf das Abstrakte. Abstraktes und Konkretes werden nicht in ihrer Einheit als begründende Teile einer Antinomie verstanden, für die gilt, daß die wirkliche Überwindung des Abstrakten – der Wertseite – die geschichtlich-praktische Aufhebung des Gegensatzes selbst sowie jeder seiner Seiten einschließt. Statt dessen findet sich lediglich der einseitige Angriff gegen die abstrakte Vernunft, das abstrakte Recht und, auf anderer Ebene, gegen das Geld- und Finanzkapital. […] Der ‚antikapitalistische‘ Angriff bleibt jedoch nicht bei der Attacke auf das Abstrakte als Abstraktem stehen. Selbst die abstrakte Seite erscheint vergegenständlicht. Auf der Ebene des Kapitalfetischs wird nicht nur die konkrete Seite naturalisiert und biologisiert, sondern auch die erscheinende abstrakte Seite, die nun in Gestalt des Juden wahrgenommen wird.21
Entsprechend bezeichnet Postone den modernen Antisemitismus als „eine besonders gefährliche Form des Fetischs“.22 Ein solcher personifizierender ‚Antikapitalismus‘ weist stets Affinitäten zu Verschwörungstheorien auf. Stephan Grigat macht deswegen in der „Ignoranz gegenüber der Fetischkritik“ die „Gründe“ für den „spezifisch linken Antisemitismus“ aus.23 Bei der folgenden Analyse der Roten Fahne werden beide Ansätze – Antisemitismus im Zusammenhang mit dem Nationalismus von links und Antisemitismus als Form des fetischisierten ‚Antikapitalismus‘ – kombiniert. Nicht zuletzt in der 1930 verabschiedeten „Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes“, dem zweiten Programm der KPD seit dem Gründungsparteitag, präsentierte sich die KPD nicht nur als die einzige nationale Partei, sondern auch als die einzige Arbeiterpartei.24 Der Nationalismus von links lässt sich nicht nur auf Stalins Theorem vom „Sozialismus in einem Lande“ oder der Staatstheorie 20 Haury, Antisemitismus von links, S. 271-272. 21 Moishe Postone, „Antisemitismus und Nationalsozialismus“, übersetzt von Dan Diner/Renate Schumacher, in: Ders., Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen, Freiburg, 2005, S. 189. Hervorhebung im Original. 22 Postone, „Antisemitismus und Nationalsozialismus“, S. 192. 23 Stephan Grigat, Fetisch und Freiheit. Über die Rezeption der Marxschen Fetischkritik, die Emanzipation von Staat und Kapital und die Kritik des Antisemitismus, Freiburg, 2007, S. 23, S. 316. 24 Lothar Berthold, Das Programm der KPD zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes vom August 1930. Die Grundlage der Politik der KPD zur Herstellung der Aktionseinheit und zur Gewinnung der Volksmassen für die Lösung der Lebensfragen der deutschen Nation, Berlin, 1956.
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des Marxismus-Leninismus zurückführen, sondern konnte ebenso an ältere Denkformen anknüpfen. Die Verknüpfung von „nationaler und sozialer Befreiung“ passte zu der fetischisierten Vorstellung von Ausbeutung, vom Verhältnis von Arbeit und Kapital. Nach dieser einfachen und griffigen Vorstellung existierte die Produktion, die ‚Arbeit‘ und die dazugehörige Arbeiterschaft unabhängig oder außerhalb des Kapitalismus, und die „konkrete Arbeit“ war gewissermaßen „das nichtkapitalistische Moment“, das lediglich von der Herrschaft des Kapitals oder der Kapitalisten befreit werden müsse.25 Für einen solchen personifizierenden Antikapitalismus lassen sich anhand der Roten Fahne unzählige Beispiele anführen. Das heißt nicht, dass die KPD die Kapitalisten generell als ‚Juden‘ identifizierte. Aber innerhalb des personifizierenden Antikapitalismus der KPD nahmen die ‚jüdischen Kapitalisten‘ durch die ganze Epoche der Weimarer Republik hindurch eine besondere Rolle ein.
Nationalismus und Arbeitsfetisch. Die KPD in Konkurrenz zur NSDAP Die Rote Fahne druckte die „Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes“ am 24. August 1930 auf der Titelseite ab.26 In der Programmerklärung fanden sich keine Aussagen über die ‚Juden‘ oder den Antisemitismus. Aber vom ersten Satz an präsentierte sich die KPD gegenüber der NSDAP nicht als internationale sozialistische Arbeiterpartei, sondern als die eigentlich nationale Partei – und zwar angeblich im Gegensatz zur NSDAP, von der in der Programmerklärung als dem „nationalverräterischen“ Faschismus die Rede war.27 Die Faschisten (Nationalsozialisten) behaupten, sie seien eine ‚nationale‘, eine ‚sozialistische‘ und eine ‚Arbeiter‘partei. Wir erwidern darauf, dass sie eine volks- und arbeiterfeindliche, eine antisozialistische, eine Partei der äußersten Reaktion, der Ausbeutung und Versklavung der Werktätigen sind.28
Im Februar 1931 gelang es der KPD tatsächlich, mit dem Reichswehrleutnant Richard Scheringer der NSDAP ein prominentes Mitglied abzuwerben, und sogleich zitierte die Rote Fahne Scheringer mit der Aussage: „Nur die Kommunistische Partei kann den Kampf um die soziale und nationale Befreiung organisieren und zum Siege führen!“29 Bereits der Titel der Programmerklärung zeigte, dass die KPD den Nationalismus nicht nur einfach von der politischen Gegenseite übernahm, sondern dass sie die Bewahrung nationaler Interessen als genuin linkes Pro25 Postone, „Antisemitismus und Nationalsozialismus“, S. 185. 26 „Parteiprogramm zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes“, Rote Fahne 197, Sonntag, 24. August 1930. 27 Berthold, Programm der KPD, S. 234. 28 Berthold, Programm der KPD, S. 232. 29 „Scheringer an die Berliner SA.-Proleten“, Rote Fahne 80, 8. April 1931. Hervorhebungen im Original.
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gramm verstanden wissen wollte. Zwar wies das Zentralkomitee der KPD (ZK) die Fremdenfeindlichkeit der NSDAP zurück und betonte, dass es, um „das deutsche Volk zu befreien“, nicht ausreiche, „die Macht des Auslandskapitals zu brechen, sondern die Herrschaft der eigenen Bourgeoisie im eigenen Lande muß gleichzeitig gestürzt werden“.30 Aber bereits in den ersten Jahren der Weimarer Republik hatte die Rote Fahne die Agitation gegen die Bourgeoisie im eigenen Lande nationalistisch aufgeladen.31 Auch wenn Rosa Luxemburg, die große Ikone der KPD, bis zum Ende der Weimarer Republik im Kopf der Roten Fahne zusammen mit Karl Liebknecht als Begründerin der Zeitung genannt wurde, prägte nicht Luxemburgs klare Ablehnung des „Selbstbestimmungsrechts der Nationen“32 die Position der KPD zum Nationalismus, sondern die Positionen Wladimir I. Lenins und Josef W. Stalins.33 1932 bezeichnete die Rote Fahne Luxemburgs Haltung zur „nationalen Frage“ ausdrücklich als „Fehler“.34 Die Gleichsetzung von nationaler und sozialer Befreiung war kein neuer Propagandatrick der stalinistischen KPD-Führung, um sich gegenüber der NSDAP zu profilieren. Bereits 1923, während des so genannten Schlageter-Kurses, hatte sich die KPD als nationale Partei präsentiert, die „die Kolonie Deutschland“ vor der Ausbeutung, dem „internationalen Schacher“, schützen wolle.35 Karl Radek, der Vertreter der Kommunistischen Internationale (Komintern) in Deutschland, hatte Albert Leo Schlageter, einen Faschisten, der im Ruhrkampf 1923 vom französischen Militär exekutiert worden war, als Vorbild für die deutschen Kommunisten gepriesen.36 Die Rote Fahne veröffentlichte daraufhin eine kurze Diskussion zwischen Radek, anderen Vertretern der KPD und Ernst Graf von Reventlow, einem bekannten Mitglied der Deutsch-Völkischen Freiheitspartei. In dieser Diskussion verwahrte sich Paul Frölich, Mitglied der Zentrale der KPD, gegen den Vorwurf Reventlows, die KPD sei „„ausgesprochen vehement antideutsch, antinational“.37 Auch Clara Zetkin widersprach 1923 in einer Reichstagsrede dem Vorwurf, die 30 Berthold, Programm der KPD, S. 233. 31 Olaf Kistenmacher, „Vom ‚Judas‘ zum ‚Judenkapital‘. Antisemitische Denkformen in der KPD der Weimarer Republik, 1918-1933“, in: Brosch/u. a. (Hg.), Exklusive Solidarität, S. 69-86. 32 Rosa Luxemburg, „Nationalitätenfrage und Autonomie“ (1908), in: Dies., Internationalismus und Klassenkampf, hg. von Jürgen Hentze, Neuwied/Berlin, 1971, S. 220-278. 33 Wladimir Iljitsch Lenin, „Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ (1914), in: Ders., Werke 20, Dezember 1913-August 1914, Berlin, 1968, S. 397-461. Jossif Wissarowitsch Stalin, „Marxismus und nationale Frage“ (1913), in: Ders., Werke. Band 2: 1907-1913, Dortmund, 1976, S. 266-333. 34 „Leninismus und nationale Frage. Lenin gegen Rosa Fehler. Der Kampf für die soziale und nationale Befreiung“, Rote Fahne 16, 21. Januar 1932. Hervorhebungen im Original. 35 „Der internationale Schacher um die Kolonie Deutschland“, Rote Fahne 9, 26. Februar 1923. Zum Schlageter-Kurs siehe Louis Dupeux, „Nationalbolschewismus“ in Deutschland 1919 – 1933. Kommunistische Strategie und konservative Dynamik, übersetzt von Richard Kirchhoff, München, 1985, S. 178-205. Harald Jentsch, Die KPD und der „Deutsche Oktober“ 1923, Rostock, 2005, S. 114-124. Otto Wenzel, 1923. Die gescheiterte Deutsche Oktoberrevolution (Die Kommunistische Partei Deutschlands im Jahre 1923, 1955), Münster, 2003, S. 114-124. 36 „Leo Schlageter, der Wanderer ins Nichts“, Rote Fahne 144, 26. Juni 1923. 37 „Nationale Frage und Revolution“, Rote Fahne 177, 3. August 1923.
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KPD wäre „antinational, weil [sie] international“ sei.38 In der historischen Kommunismusforschung besteht eine umfangreiche Diskussion, inwieweit die KPD mit dem Schlageter-Kurs von ihrer bisherigen Politik abwich oder inwieweit Radeks Rede „nur eine verbreitete Auffassung originell formulierte“.39 Jedenfalls hatte der KPD-Vorsitzende Heinrich Brandler bereits im Januar 1923 die Parole ausgegeben, die KPD müsse die „ehrlich national empfindenden Elemente“ aus dem nationalistischen Lager herauszulösen.40 Schon 1920 hatte August Thalheimer, nach Luxemburgs Ermordung der führende Theoretiker der KPD, in der Auseinandersetzung mit dem „Nationalbolschewismus“ des Hamburger KPD-Flügels festgestellt: „Die nationale Befreiung ist die notwendige Folge der sozialen Befreiung.“41 Wie Radeks Rede zu Ehren Schlageters deutlich machte, war die Einheit von sozialer und nationaler Befreiung durch das Konzept ‚Arbeit‘ möglich. Das Konzept ‚Arbeit‘ bezog sich nicht nur auf die „deutschen kommunistischen Arbeiter“, sondern konnte auch auf das „werktätige Volk“ oder „das deutsche Volk“ ausgedehnt werden. Zugleich wurde die Verelendung auf die „Schieber“ und „Spekulanten“ zurückgeführt, die nicht nur außerhalb des „Lager[s] der Arbeit“, sondern auch außerhalb des „deutsche[n] Volk[es]“ stünden. Wer im Dienste der Schieber, der Spekulanten, der Herren von Eisen und Kohle versuchen will, das deutsche Volk zu versklaven, es in Abenteuer zu stürzen, der wird auf den Widerstand der deutschen kommunistischen Arbeiter stoßen.42
Der Nationalismus der KPD konnte auf diesen Vorstellungen von ‚Arbeit‘ als produktiv und vom Kapital als ‚parasitär‘ aufbauen. So bezeichnete die Rote Fahne 1923 ausdrücklich Kapitalisten als ‚antinational‘ und „Landesverräter“.43 In verschiedenen Variationen bezog sich Radek in der Schlageter-Rede auf das ‚arbeitende Volk‘ oder das „Volk der kämpfenden Arbeit“: Vereinigt zu einem siegreichen, arbeitenden Volk, wird Deutschland imstande sein, große Quellen der Energie und des Widerstandes zu entdecken, die jedes Hindernis überwinden werden. Die Sache des Volkes zur Sache der Nation gemacht, macht die Sache der Nation zur Sache des Volkes. Geeinigt zu einem Volk der kämpfenden Arbeit, wird es Hilfe anderer Völker finden, die um ihre Existenz kämpfen.44
Entsprechend der behaupteten Einheit von nationalen und sozialen Interessen war sich Radek sicher, dass die „große Mehrheit der national empfindenden Massen 38 Tânia Puschnerat, Clara Zetkin. Bürgerlichkeit und Marxismus. Eine Biographie, Essen, 2003, S. ˙ 314. 39 Harald Jentsch, Die KPD und der „Deutsche Oktober“ 1923, Rostock, 2005, S. 119. 40 Heinrich Brandler, zitiert nach: Wenzel, 1923, S. 113. Hervorhebung im Original. 41 „Kommunismus, Nation und Krieg“, Rote Fahne 70, 6. Mai 1920. Hervorhebung im Original. 42 „Leo Schlageter, der Wanderer ins Nichts“, Rote Fahne 144, 26. Juni 1923. 43 „Der kapitalistische Landesverrat. Die Verschacherung der Haldenkohle“, Rote Fahne 115, 23. Mai 1923. „Dollar 80000. Anti-national-Hymne. Dirigent Hugo Stinnes“, Rote Fahne 125, 3. Juni 1923. „Die kapitalistischen Landesverräter. Wo bleiben die Landesverrats-Verfahren?“, Rote Fahne 147, 29. Juni 1923. 44 „Leo Schlageter, der Wanderer ins Nichts“, Rote Fahne 144, 26. Juni 1923.
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Abbildung „Entfernt die Parasiten. Wählt Kommunisten“, Rote Fahne 268, 20. November 1925
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nicht in das Lager des Kapitals, sondern in das Lager der Arbeit gehört“.45 Die Darstellung der ‚Arbeit‘ in der Tageszeitung der KPD hatte also eine doppelte Funktion: Einerseits beschrieben Beiträge in der Roten Fahne die tatsächliche Lohnarbeit in der Weimarer Republik als entfremdet, eintönig und gesundheitsschädigend.46 Andererseits dienten die Begriffe ‚Arbeit‘ und ‚Arbeiter‘ dazu, durch sie die KPD und ihre Mitglieder zu identifizieren und zu vereinen. In dieser Gegenüberstellung von Arbeit und Kapital wurde die geläufige Vorstellung von ‚Arbeit‘ als dem „vermeintlich außerhalb der Besonderheit kapitalistischer Gesellschaft“ Existierenden reproduziert, das auch in einer nachkapitalistischen Gesellschaft weiter bestehen sollte und bereits im Kapitalismus das Refugium des Widerstands darstellte.47 Für diese fetischisierte Vorstellung vom Verhältnis von Arbeit und Kapital lassen sich auch nach der offiziellen Beendigung des Schlageter-Kurses Beispiele finden. Die Titelseite der Roten Fahne vom 20. November 1925 zeigte einen riesigen Arbeiter, der heroisch in einer Fabriklandschaft stand. In seinen großen und kräftigen Händen hielt er zwei deutlich kleinere, dickliche, ängstlich guckende Männer in Frack und mit Zylinder. Daneben die Worte: „Entfernt die Parasiten. Wählt Kommunisten“.48 Sich von der Herrschaft des Kapitals zu befreien, sollte so ähnlich funktionieren, wie seinen Garten von Schädlingen zu befreien. In der gleichen Ausgabe fand sich eine weitere Illustration, die eine kräftige Hand zeigte, die in einem Getreidefeld drei Ähren, die die Köpfe von Kapitalisten tragen, herausriss. Darüber stand: „ausjäten!“49 In solchen Illustrationen wurde die kapitalistische Wirtschaft als organischer Zusammenhang dargestellt, den man nur von den kapitalistischen ‚Schädlingen‘ befreien müsse. In seiner Neuinterpretation der kritischen Theorie von Marx schreibt Moishe Postone, dass diese fetischisierte Vorstellung von der ‚Arbeit‘ und der kapitalistischen Produktion die Arbeiterbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts geprägt habe. Die Arbeiterbewegung sei auch davon ausgegangen, dass „die Produktionsweise des Sozialismus wesentlich die gleiche sein werde wie die des Kapitalismus: Das Proletariat und seine Arbeit werden im Sozialismus ‚zu sich selbst kommen‘“.50 Die Entwicklung in der Sowjetunion zeigte nicht nur, dass nach der Russischen Revolution die kapitalistische Produktionsweise nicht überwunden wurde. Vielmehr ergänzte die russische Kommunistische Partei sie um staatliche Zwangsmaßnahmen, wie E. H. Carr ausführt: Der Kriegskommunismus hatte wichtige Folgen für die Organisation des Arbeitslebens. Die anfängliche Hoffnung, daß man zwar auf die Grundbesitzer und die Angehörigen der Bourgeoisie Zwang ausüben müsse, daß aber die Tätigkeit der Arbeiter durch freiwillige Selbstdisziplin geregelt werde, wurde bald enttäuscht. […] Lenin 45 46 47 48 49 50
„Leo Schlageter, der Wanderer ins Nichts“, Rote Fahne 144, 26. Juni 1923. „Die Arbeit“, Rote Fahne 360, 9. August 1922. Postone: „Antisemitismus und Nationalsozialismus“, S. 185. „Entfernt die Parasiten. Wählt Kommunisten“, Rote Fahne 268, 20. November 1925. „Statt Schwindelaufwertung – wirkliche Entschädigung“, Rote Fahne 268, 20. November 1925. Moishe Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx, übersetzt von Christoph Seidler/u. a., Freiburg im Breisgau, 2003, S. 116.
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fand plötzlich gute Worte für Akkordlöhne und das Taylor-System – eine damals moderne amerikanische Methode zur Förderung der Arbeitsleistung, die er einst selbst als ,die Versklavung des Menschen an die Maschine‘ verurteilt hatte.51
In der „Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes“ griff das ZK der KPD zum einen die Vorstellung von der Arbeitswelt als einem organischen Ganzen wieder auf und versprach, die nationale Wirtschaft von den unproduktiven „Schmarotzer[n]“ zu befreien. Zum anderen drohte die KPD mit dem sowjetischen Arbeitszwang: Mit eisernem proletarischem Besen werden wir alle Schmarotzer, Großindustriellen, Bankiers, Junker, Großkaufleute, Generale, bürgerliche Politiker, Arbeiterverräter, Spekulanten und Schieber aller Art hinwegfegen. […] Mit bolschewistischer Rücksichtslosigkeit werden wir allen bürgerlichen Faulenzern gegenüber das Prinzip durchführen: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.52
‚Antikapitalismus‘ und Antisemitismus. Die KPD gegen Nazis und ‚reiche Juden‘ 1932 erschien die einzige Erklärung des ZKs zur so genannten „Judenfrage“. In diesem Text, „Kommunismus und Judenfrage“ betitelt, behauptete das ZK, dass die KPD es als „ihre Aufgabe“ verstehe, „im Rahmen der ideologischen Bekämpfung des Faschismus auch die antisemitische Demagogie zu vernichten“.53 Nach den Erinnerungen ehemaliger KPD-Mitglieder fand eine genauere Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus jedoch kaum statt. Karl Retzlaw oder auch Hans Jäger, der in der KPD für die „Antinaziarbeit“ zuständig war, berichten, dass der Antisemitismus die KPD nicht „besonders beschäftigte“.54 Peter Gingold, der Anfang der 1930er-Jahre dem Kommunistischen Jugendverband beigetreten war, erinnerte, dass es „keine speziellen Veranstaltungen gegen den Antisemitismus“ gegeben habe, obwohl der Antisemitismus „einen wichtigen Stellenwert in der Agitation“ gehabt habe. „Es ging gegen die Nazis, und das hieß für mich auch immer gegen den Antisemitismus, den ich in meiner Jugend schon zu spüren bekommen hatte.“55 51 Edward Hallett Carr, Die Russische Revolution. Lenin und Stalin 1917-1929, übersetzt von Friedrich W. Gutbrod, Stuttgart/ u. a., 1980, S. 31-32. 52 Berthold, Programm der KPD, S. 236-237. 53 ZK der KPD, „Kommunismus und Judenfrage“, in: Der Jud‘ ist Schuld...? Diskussionsbuch über die Judenfrage, Basel/u. a., 1932, S. 283. 54 Hans Jäger, zitiert nach: Striefler, Kampf um die Macht, S. 192. Karl Retzlaw, Spartakus. Aufstieg und Niedergang. Erinnerungen eines Parteiarbeiters, Frankfurt am Main, fünfte Auflage 1985, S. 310. 55 Peter Gingold/Tjark Kunstreich, „‚Wie kann man da nicht Kommunist sein?‘ Ein Gespräch mit Peter Gingold über Antisemitismus und Befreiung“, in: Arbeitskreis Kritik des deutschen Antisemitismus (Hg.), Antisemitismus – die deutsche Normalität. Geschichte und Wirkungsweise des Vernichtungswahns, Freiburg, 2001, S. 256-257.
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Die Auseinandersetzung der KPD mit dem Antisemitismus der NSDAP blieb in der ganzen Weimarer Republik einem Deutungsmodell verhaftet, das Antisemitismus primär als Instrument der herrschenden Klassen verstand. Antisemitismus verstand die KPD als ein Propagandamittel, das die herrschenden Klassen dazu benutzten, um von den eigentlichen Ursachen der Verelendung abzulenken. Diese Deutung implizierte aber, dass Antisemitismus von den ausgebeuteten, unteren Schichten und zum Beispiel auch innerhalb der Parteibasis der NSDAP durch einen nicht bewussten Antikapitalismus motiviert sei, eine Art „Sozialismus der dummen Kerls“.56 Um bei dieser Deutung bleiben zu können, musste die Rote Fahne selbst das Stereotyp von den ‚reichen Juden‘ immer wieder reproduzieren. Das zeigte sich schon im 1920 auf Deutsch veröffentlichten ABC des Kommunismus, in dem Nikolaj I. Bucharin und Jewgenij A. Preobraschenskij in dem über „Antisemitismus und Proletariat“ schrieben: Du bist arm, weil dich die Juden berauben, – sagten die Herren von den Schwarzen Hunderten und trachteten die Empörung der unterdrückten Arbeiter und Bauern von den Gutsbesitzern und Bourgeoisie ab, gegen die ganze jüdische Nation zu lenken. […] In der letzten Zeit ist in allen Ländern eine Verstärkung der Judenhetze seitens der bürgerlichen Klassen zu verzeichnen. […] Das ist ein sicheres Zeichen dafür, daß die bürgerliche Ordnung im Westen am Vorabend des Zusammenbruchs steht und daß die Bourgeoisie sich von der Arbeiterrevolution loszukaufen versucht, indem sie ihr die Mendelsohns und Rothschilds opfert.57
Anders als in dem 1890 veröffentlichten Brief von Friedrich Engels an die Wiener Arbeiterzeitung fehlte nicht nur eine Erwähnung eines jüdisches Proletariats58, sondern ‚die Juden‘ erschienen im ABC des Kommunismus nur noch als Vertreter der Bourgeoisie, als „die Mendelsohns und Rothschilds“. 1932 erwähnte das ZK der KPD zwar in seiner Erklärung „Kommunismus und Judenfrage“ auch die „jüdischen werktätigen Massen“.59 Aber bis auf einzelne Berichte über die „jüdischen werktätigen Massen in der USSR.“ blieb der Ausdruck in der Roten Fahne ohne Konkretion60, wohingegen mehrere Beiträge von einem „jüdischen Kapital“ handelten. In den meisten Artikeln, die die Worte ‚Jude‘ oder ‚jüdisch‘ in der Überschrift enthielten, behauptete die Rote Fahne, dass die NSDAP vom ‚Kapital‘ und auch vom ‚jüdischen Kapital‘ Geld erhalte und dass sie deswegen auch keine anti56 Diese Formel wird oft August Bebel zugeschrieben, der es jedoch auf den österreichischen Sozialdemokraten Ferdinand Kronawetter zurückführte. Hermann Bahr, Der Antisemitismus. Ein internationales Interview (1894), hg. von Claus Pias, Weimar: VDG 2005, S. 21-24. Zur Haltung der Sozialdemokratie zur antisemitischen Bewegung siehe Rosemarie Leuschen-Seppel, Sozialdemokratie und Antisemitismus. Die Auseinandersetzungen der Partei mit den konservativen und völkischen Strömungen des Antisemitismus 1871-1914, Bonn, 1978, S. 69-86. 57 Nikolaj I. Bucharin/Jewgenij A. Preobraschenskij, Das ABC des Kommunismus. Populäre Erläuterung des Programms der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki), Zürich, 1985, S. 198. 58 Friedrich Engels, „Über den Antisemitismus“, in: Iring Fetscher (Hg.), Marxisten gegen Antisemitismus, Hamburg, 1974, S. 55. 59 ZK der KPD, „Kommunismus und Judenfrage“, S. 285. 60 „Die jüdischen werktätigen Massen in der USSR.“, Rote Fahne 54, 5. März 1929.
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kapitalistische Partei sei. Damit reproduzierte die Rote Fahne die Vorstellung, ‚Juden‘ stünden vor allem auf Seiten des Kapitals und griffen als mächtige Strippenzieher in die Politik ein. Martin Jay schreibt, die Vorstellung, dass ‚reiche Juden‘ und Nazis zusammenarbeiteten, wurde von vielen Linksintellektuellen geteilt.61 Man kann annehmen, dass mit Beiträgen wie „‚Das Dritte Reich schützt die jüdischen Warenhäuser‘“, „Nazianleihe für Warenhäuser“ mit dem Untertitel „So sieht der Kampf der Nazis gegen Zinsknechtschaft und jüdisches Warenhaus-Kapital in Wirklichkeit aus“ oder „Nazis für jüdisches Kapital“62 in erster Linie die NSDAP getroffen werden sollte. Mit ihnen sollten die Nazis lächerlich gemacht werden. Doppelbödig war die Strategie des Zentralorgans der KPD insofern, als einer antisemitischen Partei nachgewiesen werden sollte, dass diese es mit ihrem Antisemitismus nicht ernst meinte, dass der Antisemitismus der NSDAP keine wirkliche Gefahr für die ‚reichen Juden‘ bedeute und daher auch kein wirklicher Antisemitismus sei. Damit reproduzierte die Tageszeitung der KPD zugleich Vorstellungen über ‚Juden‘, die den Antisemitismus nährten und legitimierten. Sogar in einem der größten Artikel, der über die antisemitische Gewalt in der Weimarer Republik berichtete und der den Titel „Judenpogrome – Polizeiverbrechen“ trug, wies die Rote Fahne darauf hin, dass „kein Kapitalist bedroht wurde“.63 Ein weiterer Beitrag, in dem die antisemitische Gewalt der Nazis angesprochen wurde, erschien 1929 unter der Überschrift „Die Blutsauger des deutschen Volkes im Scheunenviertel“. Die Überschrift zitierte, wie gleich zu Beginn zu lesen war, lediglich „eine Lüge“ der Nationalsozialisten, auch wenn Anführungszeichen fehlten, die die Rote Fahne sonst oft benutzte.64 In diesem Beitrag wurde dem völkischantisemitischen Stereotyp von ‚den Juden‘ als reich, mächtig und als „Blutsauger des deutschen Volkes“ die Beschreibung einer Wirklichkeit entgegengesetzt, in der Jüdinnen und Juden zu den „Aermsten der Armen“ gehörten. Allerdings gab der Autor im zweiten Absatz einem „jüdischen Großkapital“, das nicht mit Namen genannt wurde, eine Mitschuld an den Pogromen der Nationalsozialisten im Scheunenviertel: Die Pogrome, die diese von dem jüdischen Großkapital gut bezahlten Horden durchführen, sind Mörderfeldzüge gegen arme Proletarier, die nicht nur in dem tiefsten
61 Martin Jay, „Anti-Semitism and the Weimar Left”, in: Ders., Permanent Exiles. Essays on the Intellectual Migration from Germany to America, New York, 1985, S. 87. 62 „‚Das Dritte Reich schützt die jüdischen Warenhäuser‘“, Rote Fahne 243, 17. Oktober 1930. „Juda soll nicht verrecken! Nazianleihe für Warenhäuser. So sieht der Kampf der Nazis gegen Zinsknechtschaft und jüdisches Warenhaus-Kapital in Wirklichkeit aus“, Rote Fahne 284, 5. Dezember 1930. „Nazis für jüdisches Kapital“, Rote Fahne 182, 7. September 1932. 63 „Zur Unterstützung der Young-Ausplünderung. Judenpogrome – Polizeiverbrechen. Hitlers Sturmabteilungen zertrümmern Fensterscheiben – SPD.-Polizei überfällt das Leichenbegängnis des Genossen Gustav Menzel“, Rote Fahne 240, 14. Oktober 1930. 64 Wie z. B. in der Überschrift: „‚Arbeiterpolitik‘ der Nationalsozialisten“, Rote Fahne 227, 9. November 1929.
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Elend dieser kapitalistischen Gesellschaft ihr Dasein fristen, sondern Sklaven einer mittelalterlichen Zurückgebliebenheit sind.65
Der Beitrag setzte voraus, dass die Leserinnen und Leser wüssten, wer mit „dem jüdischen Großkapital“ gemeint sein könnte. In dem Beitrag „Nazis für jüdisches Kapital“, dem letzten vor der Machtübernahme der NSDAP, der in der Überschrift den Begriff ‚jüdisch‘ enthielt, war ‚der Jude‘ wieder der Chef, der Kapitalist, der „Generaldirektor“, der mit den Angestellten, die Nationalsozialisten waren, kooperierte und gegen die Proletarierinnen und Proletarier agierte: Die Nazis, die schon während des Streiks die Streikbrecherrolle gespielt hatten, dienten jetzt ihrem jüdischen Chef, Generaldirektor Goldberg, indem sie Zutreiber- und Spitzeldienste übernahmen. Goldberg lehnte jedes Vorgehen gegen die Nazis ab, als diese mit Totschlägern bewaffnet im Betrieb herumliefen, mit der Begründung: ‚Beim Streik haben sie mir geholfen, jetzt helfe ich ihnen.‘ So demonstrierten die Kumpane ihre Zusammengehörigkeit, und so demonstrierten die Nazis ihren Kampf gegen das ‚jüdische Kapital‘.66
Im Beitrag selbst wurde der Ausdruck „jüdisches Kapital“ zitierend gebraucht, in der Überschrift nicht. Aber ganz generell distanzierte sich die Rote Fahne nicht von einem Ausdruck wie „jüdisches Kapital“. Der Begriff „jüdisches Kapital“ eignete sich sogar besser als Eigennamen, um die behauptete wesensmäßige „Zusammengehörigkeit“ der „Kumpane“ zu konstruieren. In dem Beitrag „‚Das Dritte Reich schützt die jüdischen Warenhäuser‘“ gingen in der Argumentationslinie die Ausdrücke „die jüdischen Warenhäuser“, „Warenhauskapital[]“ und „Kapital“ ineinander über. Dass das Stereotyp der „jüdischen Warenhäuser“ in der Nazi-Ideologie eine spezifische Rolle spielte, blieb dabei unhinterfragt. Anders gesagt, der Artikel stellte den Hass von Nationalsozialisten auf die „jüdischen Warenhäuser“ als Ausdruck eines Antikapitalismus dar, an den die KPD anschließen könnte. Der Beitrag war wie eine Anzeige gestaltet und zitierte lediglich einen Satz aus dem Völkischen Beobachter: „In einem Dritten Reich werden die Schaufenster jüdischer Geschäfte weit besser geschützt sein als unter der Schupo der Herren Zörgiebel und Weiß“, um diese Aussage folgendermaßen zu kommentieren: Millionen nationalsozialistischer Wähler sind von den Nazi-Volksbetrügern mit ihrer lächerlichen und verlogenen Agitation gegen die Warenhäuser, insbesondere die jüdischen Warenhäuser, genarrt worden. Jetzt präsentiert sich Hitler als besserer Schutzpatron und Polizist des Warenhauskapitals! Müssen da den von den Nazis genarrten Werktätigen nicht die Augen aufgehen? Kann man sich etwas Schimpflicheres vorstellen, als dieses feige Kriechen der Nazis vor dem Kapital?67 65 „Die Blutsauger des deutschen Volkes im Scheunenviertel“, Rote Fahne 183, 19. September 1929. 66 „Nazis für jüdisches Kapital“, Rote Fahne 182, 7. September 1932. Hervorhebung im Original. 67 „Das Dritte Reich schützt die jüdischen Warenhäuser“, Rote Fahne 243, 17. Oktober 1930. Hervorhebungen im Original.
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Noch andere Beiträge in der Roten Fahne behaupteten, dass die NSDAP von den ‚reichen Juden‘ finanziert wurde.68 Hermann Remmele, Mitglied des ZKs der KPD, nutzte die Behauptung einer unmittelbaren Beeinflussung der Nationalsozialisten durch einen namentlich genannten ‚jüdischen Kapitalisten‘ 1930 in der direkten Auseinandersetzung mit der NSDAP. Zu dieser Zeit, da die Rote Fahne immer wieder von gewalttätigen Angriffen auf Mitglieder der KPD berichten musste69, organisierten die KPD und die NSDAP wiederholt gemeinsame Diskussionsveranstaltungen. Auf einer solchen Veranstaltung mit Joseph Goebbels behauptete Remmele, dass die NSDAP seit Ende der 1920er-Jahre auf ihren „Schlachtruf“ „Juda verrecke“ verzichte, weil „die nationalsozialistische Gauleitung von dem Juden Jakob Goldschmidt […] große Geldmittel zur Verfügung gestellt bekam“: „Deutschland erwache! Juda verrecke!“ lautet der nationalsozialistische Schlachtruf, unter dem sie sich auf revolutionäre Arbeiter stürzen, wenn sie sich in der Uebermacht, oder unter dem Schutz der sozialfaschistischen Zörgiebel-Polizei fühlen. Unter dem Mantel der Judenhetze versuchen sie ihre konterrevolutionäre Todfeindschaft gegen das revolutionäre Proletariat zu verbergen. In letzter Zeit aber verschwindet der zweite Teil des Schlachtrufes. Und das kommt nicht von ungefähr. So hat u. a. der Gauleiter von Berlin, Dr. Goebbels, einen Parteibefehl erlassen, daß der Ruf ‚Juda verrecke!‘ in Zukunft nicht mehr angewendet werden dürfe. Bald danach berichtete die bürgerliche Presse, daß die nationalsozialistische Gauleitung von dem Juden Jakob Goldschmidt, einem vielfachen Millionär und Generaldirektor der Danatbank, große Geldmittel zur Verfügung gestellt bekam.70
Zu dieser Argumentationsweise hatte Remmele sich nicht spontan entschlossen. Sie entsprach genau der Darstellung der Roten Fahne, die am 17. November 1929 einen Beitrag mit der Überschrift gebracht hatte: „Im Auftrag Jakob Goldschmidts. Goebbels verbietet: ‚Juda verrecke‘“.71 Die Einschätzung Remmeles und der Roten Fahne über die Entwicklung der antisemitischen Ideologie der Nationalsozialisten wird durch die Forschung nicht belegt. So schwächte die NSDAP mitunter ihre antisemitische Propaganda kurzfristig ab, was sich mit dem „Legalitätskurs der NSDAP“ erklären lässt.72 Gleichzeitig, schreibt Wolfram Meyer zu Uptrup, nahm insbesondere Goebbels sich nach dem Jahr 1930 nicht zurück, sondern forderte nach dem Erfolg der NSDAP bei den Reichstagswahlen vom 14. September 1930,
68 „Jakob Goldschmidt finanziert die Nazis“, Rote Fahne 169, 3. September 1929. „Jüdischer Warenhausbesitzer finanziert Nazipropaganda“, Rote Fahne 174, 29. Juli 1930. „Goebbels am jüdischen Flügel“, Rote Fahne 45, 22. Februar 1931. 69 „Die Fratze des Nationalsozialismus. ‚Mit rohester Gewalt gegen den Bolschewismus‘ – Die Terrorgruppen der Nazis – Bildet antifaschistische Arbeiterwehren“, Rote Fahne 184, 20. September 1929. 70 Hermann Remmele, Sowjetstern oder Hakenkreuz. Die Rettung Deutschlands aus der Youngsklaverei und Kapitalsknechtschaft, Berlin, 1930, S. 13-14. 71 „Im Auftrag Jakob Goldschmidts. Goebbels verbietet: ‚Juda verrecke‘“, Rote Fahne 234, 17. November 1929. 72 Walter, Antisemitische Kriminalität, S. 215.
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„der Judenfrage muss allenthalben größere Aufmerksamkeit geschenkt werden“.73 Bedeutender jedoch als die Frage, ob Remmele in der Einschätzung der NSDAPPropaganda Recht gehabt habe oder nicht, war das Bild von ‚dem Juden‘, das er selbst in seiner Rede zeichnete: Dem „Juden Jakob Goldschmidt“ wurden Reichtum und Macht zugesprochen – die er nicht als ‚Jude‘, sondern als Direktor der Danat-Bank innehatte74 –, und diese Macht sollte es ihm allein ermöglichen, die NSDAP von ihrem „Ruf ‚Juda verrecke‘“ abzuhalten. Für eine solche Argumentationsweise gab es in der Roten Fahne bereits im Sommer 1923 ein Vorbild, als Stalin in der KPdSU und der Komintern noch nicht die Macht übernommen hatte. In einer Sonderausgabe der Roten Fahne, genannt Deutschlands Weg, erschien eine Karikatur, die ‚Juden‘ in für antisemitische Darstellungen typischer Weise zeigte, sie als „Hakennasen“ bezeichnete und behauptete, dass das Verhältnis von „Hakennasen“ und „Hakenkreuzparade“ darin bestehe, dass die Nationalsozialisten von „jüdische[n] Großindustrielle[n]“ „gewaltige Gelder“ erhielten. Die Karikatur zeigte einen Aufmarsch von Nationalsozialisten; am Rand des Aufmarschs standen zwei ‚Juden‘ mit den für antisemitische Karikaturen typischen Nasen, hängenden Lidern, und beide sahen trotz eleganter Kleidung ungepflegt und unrasiert aus. Die Karikatur in Deutschlands Weg war überschrieben mit: „Geld stinkt nicht oder: so sieht ihr Antisemitismus aus!“; unter ihr stand „Hakenkreuzparade vor Hakennasen in Wien, eine wahre Begebenheit“: Der Industriellenverband in Wien zahlt an die Nationalsozialisten dortselbst, die bekanntlich mit Hitler und Horthy Hand in Hand arbeiten, gewaltige Gelder. Bei der letzten Hakenkreuzler- und Frontkämpferparade war eine Deputation jüdischer Großindustrieller (unter ihnen Kolischer und Herzfelder) zugegen, die sich ansahen, was ihnen für ihr Geld geboten wird. Die Kapitalistenpresse war zufrieden[.]75
Diese Karikatur war insofern für das Jahr 1923 ungewöhnlich, als die KPD zur Zeit des Schlageter-Kurses weniger die Faschisten attackierte als versuchte, auf verschiedenen Ebenen Bündnisse mit führenden Vertretern völkischer Parteien zu bilden oder jedenfalls deren Anhängerinnen und Anhängern mit der Argumentation zu gewinnen, dass auch die KPD gegen das „Judenkapital“ oder die „beschnittenen“ Kapitalisten kämpfe. Ruth Fischer, Mitglied der Parteizentrale, ermunterte 1923 auf einer Veranstaltung, zu der „besonders die völkischen Gegner“ eingeladen waren, ihr Publikum: „Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie.“76 Karl Radek bot in der bereits erwähnten, von der Roten Fahne 73 Wolfram Meyer zu Uptrup, Kampf gegen die „jüdische Weltverschwörung“. Propaganda und Antisemitismus der Nationalsozialisten 1919-1945, Berlin, 2003, S. 239. 74 Zur Person Jakob Goldschmidt siehe Martin Münzel, Die jüdischen Mitglieder der deutschen Wirtschaftselite 1927-1955. Verdrängung – Emigration – Rückkehr, Paderborn/u. a., 2006, S. 9699, 176-179. 75 „So sieht ihr Antisemitismus aus“, Deutschlands Weg, Sonderausgabe der Roten Fahne, 29. Juli 1923. 76 Franz Pfemfert, „Die schwarzweiszrote Pest im ehemaligen Spartakusbund“, in: Die Aktion 14, 1923.
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Abbildung „So sieht ihr Antisemitismus aus“, Deutschlands Weg, Sonderausgabe der Roten Fahne, 29. Juli 1923
dokumentierten Diskussion Reventlow an, dass „die Vereinigung der kommunistischen Arbeiter mit den nationalistischen kleinbürgerlichen Massen […] ein Ende der Herrschaft der beschnittenen und unbeschnittenen Kapitalisten bedeuten würde“.77
77 Karl Radek: „Kommunismus und deutsche nationalistische Bewegung“, Rote Fahne 188, 16. August 1923.
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Was in diesem Beitrag rekonstruiert wurde, bewegte sich auf der Ebene des Gesagten. Trotzdem ist es aus drei Gründen notwendig, die Entwicklung antisemitischer Stereotype in der Roten Fahne kritisch zu analysieren: Zum einen lässt sich an der KPD ablesen, inwieweit in der Weimarer Republik antisemitische Stereotype auch dort bestanden und weiterentwickelt wurden, wo es Antisemitismus offiziell nicht geben durfte. Zum zweiten ist die Traditionslinie des linken Antisemitismus aufzuarbeiten, der mit den stalinistischen Verfolgungen der 1930er- und 1940er-Jahre zwar seine extremste Ausprägung fand, aber nicht erst mit Stalin begann. Die Präsentation von ‚Juden‘ als Vertretern des Kapitals, als „jüdisches Kapital“ oder „jüdische Kapitalisten“ fand sich in der Roten Fahne auch schon vor der Stalinisierung der KPD und konnte sogar an eine längere Tradition in der sozialistischen und kommunistischen Linken anknüpfen.78 Drittens: Dadurch dass ‚Juden‘ im Zentralorgan der KPD vor allem als Vertreter des Kapitals dargestellt wurden, konnte die Verwendung von antisemitischen Stereotypen als etwas politisch Linkes erscheinen. Doch auch die völkischen Parteien identifizierten ‚Juden‘ mit Kapitalismus.79 In der Schlussphase der Weimarer Republik nahmen mehrere Artikel in der Roten Fahne eine bedeutende Wendung vor, für die es bereits 1923 ein Vorbild gegeben hatte: Sie zählten ‚Juden‘ nicht nur zur herrschenden Klasse, sondern machten sie überdies für den Erfolg der Nationalsozialisten mit verantwortlich. Damit stand die Verwendung antisemitischer Stereotype nicht nur in einem antikapitalistischen, sondern auch in einem ‚antifaschistischen‘ Kontext. So konnten die Nationalsozialisten attackiert werden und gleichzeitig eine bestimmte Form des Antisemitismus von links weiter bestehen.80
78 Vgl. die Beiträge von Stephan Grigat und Thomas Haury in diesem Band. Am Ende der Weimarer Republik entwickelte die KPD eine antizionistische Position, die sich nicht nur gegen die zionistische Bewegung, sondern auch gegen ältere jüdische Gemeinden im britischen Mandatsgebiet richtete. In „Kommunismus und Judenfrage“ schrieb das ZK 1932, die KPD bekämpfe den „Zionismus genauso wie den deutschen Faschismus“. Olaf Kistenmacher, „Gegen das ‚jüdische Kapital‘ und den ‚zionistischen Faschismus‘“, in: Phase 2, 29 (2008). 79 Arthur Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik, hg. von Kurt Kersten, Hamburg, 1991, S. 113. 80 Für Anregungen und Kritik habe ich Christine Achinger, Stephan Grigat, Thomas Haury, Judith Heckel, Regina Mühlhäuser, Agnieszka Pufelska, Veronika Springmann, Mo Urban und Gerhard Wolf zu danken.
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Antisemitismus in Karl Marx’ Frühschrift „Zur Judenfrage“?
Der Aufsatz Zur Judenfrage aus dem Jahr 1844, den Karl Marx im Alter von 25 Jahren verfasste, wird bis heute kontrovers diskutiert. Ist diese Marxsche Frühschrift antisemitisch und bildet sie bis heute eine wichtige Grundlage des Antisemitismus in der Linken bis hin zu deren Feindschaft gegenüber Israel, wie mit Edmund Silberner zahlreiche Autoren behaupten?1 Oder ist Zur Judenfrage, wie Erich Fromm in Abwehr dieser Vorwürfe schrieb, ein „brillanter Aufsatz“, in dem Marx lediglich „polemisch“ „einige kritische Bemerkungen … über die Juden“ trifft?2 War für Marx gar „the critique of anti-Semitism … absolutely central to his understanding and definition of socialism“, wie jüngst der britische Soziologe Robert Fine behauptete?3 Derlei unterschiedliche Bewertungen der Marxschen Frühschrift werden bis heute immer wieder deutlich durch den politischen Standpunkt des jeweiligen Autors zur Linken im Allgemeinen und zu Marx im Besonderen geprägt. Doch darüber hinaus gibt es zwei tieferliegende Ursachen für die höchst unterschiedlichen und meist gegensätzlichen Interpretationen des Textes: Erstens ist Zur Judenfrage inhaltlich ohne Kenntnis der hegelianischen Denkfiguren und die philosophischpolitischen Entwicklung von Marx innerhalb der damaligen Diskussion der Junghegelianer kaum angemessen zu verstehen. Zweitens explizieren nur die wenigsten Autoren ihren Begriff von Antisemitismus: Ihre jeweiligen Kriterien, anhand derer Zur Judenfrage gemessen und beurteilt wird, bleiben meist eher diffus und unbegründet.
Der philosophiegeschichtliche Hintergrund der Marxschen Schrift Dass Marx sich überhaupt mit der „Judenfrage“ befasste – mit diesem Begriff bezeichnete man seinerzeit die im Vormärz erneut anhebende, kontroverse Diskussion um die Emanzipation der Juden – lag einzig daran, dass sein ehemaliger Lehrer und Freund, der Junghegelianer Bruno Bauer 1843 dazu zwei Schriften publiziert hatte – „Die Judenfrage“ und „Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden“ –, die seinerzeit breit rezipiert und diskutiert wurden. In diesen lehnte 1 Als neuere Beiträge vgl. z. B. Micha Brumlik, Deutscher Geist und Judenhaß, München, 2000, S. 280 ff; Thomas Haury, Antisemitismus von links, Hamburg, 2002, S. 160 ff. Bereits 1899 wurde der Marxsche Text von Tomás G. Masaryk (Die philosophischen und sociologischen Grundlagen des Marxismus. Studien zur socialen Frage, Wien, 1899, S. 454) als antisemitisch bewertet. 2 Erich Fromm, Das Menschenbild bei Marx, Frankfurt a.M., Berlin, 1982, S. 11. 3 www.engageonline.org.uk/journal/index.php?journal_id=10&article_id=33 (13.12.2006).
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Bauer die rechtliche Gleichstellung der Juden als Juden ab und begründete dies mit einem Konglomerat aus genereller Religionskritik, philosophisch verbrämtem christlich-theologischem Antijudaismus und antisemitischen Stereotypen. Bauer behauptete, zwischen dem sich als christlicher Staat definierenden Preußen und den Juden bestünde ein religiöser Gegensatz, der nur gelöst werden könne durch die Aufhebung aller Religion: Der Jude dürfe nicht mehr jüdisch und der Staat nicht mehr christlich sein.4 Denn ein christlicher Staat könne infolge des Ausschließlichkeitsanspruches der christlichen Religion die Juden politisch nicht emanzipieren. Doch ginge es nicht an, dass allein der christliche Staat sein religiöses Vorurteil ablege, während die Juden ihr religiöses Vorurteil weiterhin pflegen könnten. Auch die Juden müssten also ihre Religion aufgeben, denn es sei grundsätzlich unmöglich, gleichzeitig Jude und Staatsbürger sowie „Mensch“ im emphatisch-allgemeinen Sinn zu sein. Dies begründete Bauer mit dem seines Erachtens überaus problematischen „Wesen des Juden“5 – und dessen deutlich judenfeindlich geprägte „philosophische“ Darlegung war das Hauptanliegen seiner beiden Pamphlete zur „Judenfrage“. Das Wesen des Juden sei seine Religion. Deswegen stünden für den Juden im Zweifelsfall das jüdische Religionsgesetz oder die Weisung des Rabbi immer über „seinen Pflichten gegenüber dem Staat und seinen Mitbürgern“.6 Darüber hinaus verpflichteten die zahlreiche Vorschriften ihrer Religion die Juden, in „ewiger Absondrung“ unter den anderen Völkern zu leben, das von ihrer Religion formulierte Auserwähltheitspostulat erhebe sie gar noch über alle anderen Völker:7 Die Juden könnten daher, solange sie Juden sein wollten, nicht „Mensch“ im allgemeinen Sinne sein. Die Juden könnten somit weder Staatsbürgerrechte erhalten, noch seien sie „fähig …, die allgemeinen Menschenrechte zu empfangen“.8 Um überhaupt in Genuss der Emanzipation zu kommen, müssten die Juden erst einmal in Vorleistung treten und dem Judentum entsagen. Das gelte zwar prinzipiell ebenso für den Christen, aber – dies stand für den protestantischen Theologen Bauer außer Frage – dieser stünde der „wahren Emanzipation“ viel näher als der Jude. Zur Begründung dieser These rekurrierte er auf die Hegelsche Parallelisierung der Religionsgeschichte mit den Stufen der Entwicklung des menschlichen Selbstbewusstseins. Bei Hegel bildete das Christentum die höchste Stufe des menschlichen Selbstbewusstseins, Bauer fügte noch eine weitere, die atheistische Philosophie als letzte und höchste Stufe hinzu.9 Wolle der Jude sich emanzipieren, so Bauer, müsse er sich erst einmal zum Niveau des Christentums hinaufarbeiten und dann dieses überwinden.
4 5 6 7 8 9
Vgl. Bruno Bauer, Die Judenfrage, Braunschweig, 1843, S. 53 ff. Vgl. ebd., S. 2. Ebd., S. 65. Ebd., S. 19, 100. Ebd., S. 19. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt, 1970, S. 241 ff, 385 ff.
ANTISEMITISMUS IN KARL MARX’ FRÜHSCHRIFT „ZUR JUDENFRAGE“?
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Auch den alten christlichen Vorwurf, die Juden würden zäh und uneinsichtig an ihrem seit Christus veralteten Glauben festhalten, kleidete Bauer in ein fortschrittlich-philosophisches Gewand: Das „Vergehen“ der Juden liege nicht darin, dass sie Christus als Messias verneinten; vielmehr verstießen sie gegen das geschichtliche Gesetz des Fortschritts: „Die Geschichte will Entwicklung, … Fortschritt …; die Juden wollten immer dieselben bleiben, sie stritten also gegen das erste Gesetz der Geschichte“.10 Die Juden „haben sich erhalten … gegen die Geschichte“, der Jude zu Zeiten des Christentums sei daher der Jude, der „trotz seiner Geschichte existiert … – kurz der geschichtswidrige Jude“.11 Im Gegensatz zu allen anderen „geschichtsfähigen und geschichtlichen Nationen“ in Europa, seien die Juden „das Volk der Chimäre“ mit einer bloß „chimärischen Nationalität“.12 Auch die judenfeindlich-antisemitischen Motive des jüdischen Wuchers und der jüdischen Geldmacht fehlen nicht in Bauers Charakterisierung der jüdischen Wesens: Die Juden hätten die der bürgerlichen Gesellschaft inhärenten ökonomischen Unsicherheiten und Wechselfälle „– vermittelst des Wuchers – ausgebeutet und ausschließlich … zu ihrer Domäne gemacht … Wie die Götter Epikurs in den Zwischenräumen der Welt wohnen …, so haben sich die Juden außerhalb der bestimmten Standes- und Corporationsinteressen fixiert, in den Ritzen und Spalten der bürgerlichen Gesellschaft eingenistet“.13 Die Juden würden so, obwohl ihnen die politischen Rechte vorenthalten würden, „in der Praxis eine ungeheure Gewalt“ besitzen: „Der Jude, der in Wien z. B. nur toleriert ist, bestimmt durch seine Geldmacht das Geschick des ganzen Reichs. Der Jude, der in dem kleinsten deutschen Staat rechtlos seyn kann, entscheidet über das Schicksal Europas.“14 Die Juden, so Bauers Urteil, stellten sich selbst außerhalb aller anderen Völker – durch ihr religiöses Wesen und ihrem Auserwähltheitsdünkel wie auch durch ihr ökonomisches Gebaren. Um zur Emanzipation fähig und berechtigt zu sein, müsse der Jude „das chimärische Privilegium seiner Nationalität, sein phantastisches, bodenloses Gesetz“, müssten die Juden „den ausschließlichen Glauben an ihre bodenlose Nationalität … zum Opfer bringen, ehe sie sich auch nur im Entferntesten in Stand setzen können, an wirklichen Staats- und Volksangelegenheiten aufrichtig und ohne geheimen Vorbehalt Theil zu nehmen“.15
10 11 12 13 14 15
Bruno Bauer, Die Judenfrage, S. 5. Ebd., S. 12, 34. Ebd., S. 61, 47, 61. Ebd., S. 9. Ebd., S. 114. Bruno Bauer, „Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden“, in: ders., Feldzüge der reinen Kritik, Frankfurt a.M., 1968, S. 175-195, hier S. 194; ders., Die Judenfrage, S. 61.
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Inhalt und Argumentationsgang von Zur Judenfrage Marx Aufsatz Zur Judenfrage erschien zusammen mit seiner berühmt gewordenen Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie 1844 in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern, die wegen der deutschen Zensur in Paris herausgegeben werden mussten. „Zur Judenfrage“ ist eine Rezension der Bauerschen Schriften und gleichzeitig mehr als das: Denn damals, von 1843 bis 1846 vollzog sich die für seine weitere theoretische Arbeit entscheidende Wendung des jungen Marx zu einer radikalen Kritik nicht nur der zurückgebliebenen politischen Verhältnisse in Deutschland, sondern auch der bürgerlichen Gesellschaft selbst in Verbindung mit einem grundlegenden Umbruch in der Logik seiner Theorie: der sukzessiven Entwicklung einer materialistischen Gesellschaftstheorie über die Kritik, Überwindung und Weiterentwicklung der Hegelschen und junghegelianischen Theoreme. Die seinerzeit verfassten Aufsätze von Marx sind allesamt Ausdruck seiner intensiven philosophischen Auseinandersetzung mit Hegel, Bauer, Hess und Feuerbach, deren Begriffe, Theoreme und Argumentationsweise Marx mittels seiner neu gefunden ‚materialistischen‘ Herangehensweise zu kritisieren, neu zu synthetisieren, zu radikalisieren und in Hegelschen Sinne „aufzuheben“ versuchte. So trug Marx’ Rezension zwar den Titel „Zur Judenfrage“; allerdings ging es ihm zum wenigsten um eine Erörterung der Emanzipation der Juden. Sein Hauptziel war, die Argumentationen und Auffassungen seines früheren Dozenten, Lehrers und Freundes als widersprüchlich, inhaltlich falsch und nicht radikal genug aufzuweisen und im Gegenzug die bürgerliche Gesellschaft von Grund auf zu kritisieren sowie die Überlegenheit seiner neuen Methode der „materialistischen Umstülpung“16 zu demonstrieren. Der rund dreißig Druckseiten umfassende Text „Zur Judenfrage“ besteht aus zwei unterschiedlich umfangreichen Teilen. Im 24 Seiten umfassenden ersten Teil ging es Marx darum, das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft herauszuarbeiten und gleichzeitig von Grund auf zu kritisieren. Sein zentrales Argument gegen Bauer lautete, dass dieser die Frage nach den Bedingungen der Emanzipation prinzipiell falsch, nämlich als religiöse stelle. Bauer sehe Religion als das Haupthindernis für die Emanzipation und fordere deshalb vom Staat wie von dessen Bürgern die Aufhebung jedweder Religion. Damit verkenne Bauer sowohl das Wesen des modernen politischen Staates als auch das der politischen Emanzipation: Die Menschenrechte Freiheit, Gleichheit, Sicherheit und Eigentum formulierten nichts anderes als das Recht des egoistischen isolierten Einzelnen, vom Staat geschützt seinen privaten Eigennutz zu verfolgen. Der politische Staat befreie sich selbst von der Religion und erkläre sie zur Privatsache der Bürger; der Bürger selbst aber bleibe in ihr befangen. Dies könnte man empirisch am Beispiel der USA sehen: Hier sei der „politische Staat in seiner vollständigen Ausbildung“ zu studieren, hier gebe
16 Georg Lukács, „Zur philosophischen Entwicklung des jungen Marx (1840-1844)“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 2. Jg. 1954, S. 288.343, hier S. 289.
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es bereits die „vollendete politische Emanzipation“ – doch gleichzeitig sei Amerika auch „das Land der Religiosität“.17 Die politische Emanzipation der Staatsbürger erfordere somit weder Aufhebung noch Aufgabe der Religion. Ebenso sei auch die von Bauer behauptete Unmöglichkeit der Geltung der Menschenrechte für die Juden die Folge seiner auf die Religion zentrierten Sicht; diese gälten selbstverständlich für Christen wie Juden gleichermaßen, nicht umsonst beinhalteten die Menschenrechte doch immer auch die Glaubensfreiheit. Konträr zu Bauer sprach sich Marx hier klar und ohne Einschränkung für eine allgemeine Emanzipation der Juden aus. Das eigentliche philosophisch-politische Ziel von Marx – dies wird bereits in seiner Charakterisierung der Menschenrechte deutlich – ging jedoch weit über eine Kritik von Bauers Ablehnung der Emanzipation der Juden und der Kritik der rückständigen deutschen Verhältnisse hinaus. Marx wollte die Religionskritik zu einer radikalen Kritik von modernem Staat und bürgerlicher Gesellschaft wenden und weiterzutreiben: „Die Religion gilt uns nicht mehr als der Grund, sondern nur noch als das Phänomen der weltlichen Beschränktheit. Wir erklären daher die religiöse Befangenheit der Staatsbürger aus ihrer weltlichen Befangenheit.“ Damit aber war, ganz anders als die immanente Religionskritik der Junghegelianer bislang argumentiert hatte, für Marx ein völlig neuer, ´materialistischer´ Weg zur Überwindung von Religion aufgewiesen: „Wir behaupten, dass sie ihre religiöse Beschränktheit aufheben, sobald sie ihre weltliche Schranke aufheben.“18 Worin aber lag für Marx der grundsätzliche Mangel des politischen Staats und der bürgerlichen Gesellschaft? Die Revolution des Bürgertums habe die bislang ungeschiedenen Sphären von Staat und Gesellschaft gleichsam entmischt und als diametrale Gegensätze herausgebildet: Auf der einen Seite sei der politische Staat als die ideale Sphäre des Allgemeinen entstanden, was auf der anderen Seite die Befreiung der Elemente der Gesellschaft vom Staat und die „Auflösung der … Gesellschaft in unabhängige Individuen“ zur Folge habe.19 Die so entstandene „Sphäre des Egoismus, des bellum omnio contra omnes“ stünde damit aber in einem diametralen Gegensatz zum Staat als der Sphäre des Allgemeinen.20 Aufgrund dieser zutiefst problematischen Aufspaltung führe nunmehr jeder Mensch „ein doppeltes … Leben, ein Leben im politischen Gemeinwesen, wo er sich als Gemeinwesen gilt, und das Leben in der bürgerlichen Gesellschaft, worin er als Privatmensch tätig ist, die andern Menschen als Mittel betrachtet, sich selbst zum Mittel herabwürdigt und zum Spielball fremder Mächte wird.“21 Um diesen seiner Ansicht nach unmenschlichen Zustand philosophisch kritisieren zu können, berief sich Marx auf das „Gattungswesen“ Mensch: Dessen Wesen sei Gesellschaftlichkeit. Die „Spaltung zwischen dem politischen Staat und der 17 18 19 20 21
Karl Marx, Zur Judenfrage, MEW 1, S. 351. Ebd., S. 352. Ebd., S. 369. Ebd., S. 356. Ebd., S. 355.
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bürgerlichen Gesellschaft“, der „Widerstreit zwischen dem allgemeinen Interesse und dem Privatinteresse“ und die „Zersetzung des Menschen“ in einen abstraktunwirklichen Citoyen und einen empirisch-alltäglichen Bourgeois waren für Marx daher nichts anderes als eine Entfremdung des Menschen von seinem Gattungswesen, die aufgehoben werden müsse.22 Marx hielt ausdrücklich fest, dass er die politische Emanzipation als einen „großen Fortschritt“ ansehe; jedoch sei diese noch nicht die endgültige, „menschliche Emanzipation“.23 Diese wahre „menschliche Emanzipation“ aber sei „innerhalb der bisherigen Weltordnung“ nicht möglich:24 „Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch, in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit … Gattungswesen geworden ist, … und … die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.“25 Der erste Teil von „Zur Judenfrage“ endet so gewissermaßen mit einer ebenso offenen wie zentralen Frage: Wo wäre diese, rein philosophisch hergeleitete, Veränderung der „bisherigen Weltordnung“ zur Verwirklichung und Vollendung der wahren „menschlichen Emanzipation“ anzusetzen? Auf den vierundzwanzig Seiten des ersten Teils von „Zur Judenfrage“ fanden Juden und Judentum so gut wie keine Erwähnung; innerhalb Marx Darstellung und Kritik der politischen Emanzipation im bürgerlichen Staat galt ihm das Judentum als eine Religion unter anderen, die reine Privatsache des Einzelnen sei. Erst auf den sieben letzten Seiten des zweiten Teils seiner Rezension finden sich jene umstrittenen Sätze, die immer wieder als Beleg für einen Marxschen Antisemitismus zitiert werden. Hier ging Marx ein auf Bauers theologisch-philosophisch begründete These, dass die Juden weniger fähig zur Emanzipation seien, da das Judentum bewusstseinsphilosophisch eine Stufe unter dem Christentum stünde und die Juden daher, im Gegensatz zu den Christen, der Menschheit und ihrer Weiterentwicklung durch ihre Emanzipation nichts gäben. Auch an diesem Punkt wollte Marx die Überlegenheit seiner Sichtweise und Methode demonstrieren und Bauers Thesen widerlegen, umstülpen und überbieten. Vor allem aber glaubte Marx, mittels der Juden und des Judentums die Antworten auf die im ersten Teil offen gebliebenen Fragen vor Augen führen zu können: was die gesellschaftliche Ursache der im ersten Teil offengebliebene postulierten Entfremdung des Menschen von seinem Wesen sei, worauf die philosophisch hergeleitete radikale Veränderung der „bisherigen Weltordnung“ konkret ziele und worin also die „menschliche Emanzipation“ bestünde. Dass Bauer vergleichende theologische Überlegungen anstellte, ob eher die Christen oder die Juden sich von ihrer Religion frei machen könnten, war für Marx 22 23 24 25
Ebd., S. 356, 356, 357. Ebd., S. 356, 361. Ebd., S. 356. Ebd., S. 370.
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nur ein weiterer Beleg dafür, dass Bauer ständig weltliche als religiöse Fragen und damit von Grund auf falsch betrachte. Marx dagegen wollte „die theologische Fassung der Frage … brechen“ und fragte statt dessen sowohl nach den ‚materialistischen‘ Grundlagen des Judentums als auch nach der hieraus folgenden Emanzipationsfähigkeit.26 Im ersten Teil von „Zur Judenfrage“ hatte Marx postuliert, die Existenz von Religion generell sei nur „das Phänomen der weltlichen Beschränktheit“, weswegen durch die Aufhebung der weltlichen Befangenheit die Religion zwangsläufig aufgehoben werde.27 Diese Sätze bezog er hier nun konkret auf das Judentum: „Die Frage nach der Emanzipationsfähigkeit des Juden verwandelt sich uns in die Frage, welches besondre gesellschaftliche Element zu überwinden sei, um das Judentum aufzuheben?“28 Um dies ‚materialistisch‘ zu beantworten, müsse man, so Marx, ganz anders als Bauer „den wirklichen weltlichen Juden, nicht den Sabbatsjuden, … sondern den Alltagsjuden“ betrachten.29 Marx’ überaus reduktionistische Frage nach dem einen ‚materialistischen‘ Merkmal, welches den „wirklichen Juden“ ausmache und zugleich auch die jüdische Religion erklären sollte, beantwortete Marx, indem er umstandslos das gängige antijüdisch-antisemitische Stereotyp übernahm: Marx behauptete ‚Geld und Schacher‘ als die empirische Basis der jüdischen Lebenswelt und des Judentums insgesamt: „Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus der Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld.“30 Und nach dieser Logik folgerichtig erklärte Marx: „Eine Organisation der Gesellschaft, welche die … Möglichkeit des Schachers aufhöbe, hätte den Juden unmöglich gemacht. Sein religiöses Bewusstsein würde wie ein fader Dunst … sich auflösen.“31 Diese Sätze werden immer wieder als Beleg für den Antisemitismus von Marx zitiert: Marx formuliere hier sein Ziel der Auflösung des Judentums, das er gleichzeitig mit Geld und Schacher gleichsetze. Zweifelsohne stellt Marx hier Judentum und Geldwirtschaft in eine enge Verbindung; allein: Erstens ging es ihm auf dem Gebiet der Religion, wie im ersten Teil von „Zur Judenfrage“ oder auch in der „Einleitung“ klar ausgesprochen, um die Auflösung jedweder Religion.32 Zweitens, und dies ist weitaus entscheidender, ging es ihm auf ökonomischen Gebiet ebenfalls nicht um die Juden: Sein Hauptinteresse galt, dies zeigt der ganze Gedankengang seines Textes, der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt, ihrer Kritik und Überwindung. Wie sein damaliger politischer Weggefährte Moses Hess in seinem Essay
26 27 28 29 30 31 32
Ebd., S. 372. Ebd., S. 352. Diese und alle folgenden Hervorhebungen im Original. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Ebd., S. 372, 378. Schon Ende 1842 postuliert Marx, dass generell jedwede Religion “mit der Auflösung der verkehrten Realität, deren Theorie sie ist, von selbst stürzt“ (MEW 27, S. 412).
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„Über das Geldwesen“33, glaubte auch Marx, ‚Schacher und Geld‘ seien die gesellschaftliche Ursache der von ihm beklagten Entfremdung des Menschen und benutzte das antijüdische Bild des „Judentums“ ohne Skrupel als scheinbar ideales Illustrationsmittel für seine generelle Kritik der Geldwirtschaft: „Wir erkennen also im Judentum ein allgemeines gegenwärtiges antisoziales Element, welches durch die geschichtliche Entwicklung, an welcher die Juden … eifrig mitgearbeitet, auf seine jetzige Höhe getrieben wurde … auf welcher es sich notwendig auflösen muss.“34 Marx benutzte hier zum einen eindeutig ohne jeglichen Widerspruch das antijüdische Bild des Judentums für seine Argumentation; zum anderen aber tat er dies – und dieses Faktum muss ebenso festgehalten werden – mit dem Ziel, ein „allgemeines gegenwärtiges antisoziales Element“ kenntlich machen, welches der Entfremdung zugrunde liege. Und ebenso ist deutlich, dass Marx, anders als später der moderne Antisemitismus, die Juden keinesfalls als die Urheber dieser Entwicklung betrachtete. Nicht die Juden waren bei Marx für die Entfremdung verantwortlich, sondern die generelle „geschichtliche Entwicklung“, an der die Juden nur „mitgearbeitet“ hätten. Pointiert könnte man formulieren: Marx identifizierte Judentum mit Geldwirtschaft, nicht aber die Geldwirtschaft mit dem Judentum. Nunmehr glaubte Marx die Voraussetzung für die von ihm postulierte, im ersten Teil rein philosophisch hergeleitete „menschliche Emanzipation“ konkretisieren zu können: „Die Emanzipation vom Schacher und vom Geld, also vom praktischen, realen Judentum wäre die Selbstemanzipation unserer Zeit.“35 An diesen Passagen wird deutlich, dass Marx den Begriff „Judentum“ hier in dreierlei symbolischen Bedeutungen benutzte, zwischen denen er ständig changierte. „Judentum“ bezeichnete bei ihm einmal die Gesamtheit der Juden, sodann die jüdische Religion als solche, und zuletzt verwendete Marx „Judentum“ als Chiffre36 für das von ‚Schacher und Geld‘ bestimmte Denken und Handeln der Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft. Nur durch den ständigen semantischen Wechsel zwischen den drei Bedeutungen von „Judentum“ klingt die Marxsche „philosophische Argumentation“ scheinbar schlüssig; und eben deshalb können seine Postulate als Antisemitismus gedeutet werden: Sie können jedoch erst dann adäquat verstanden werden, wenn man in Rechnung stellt, in welcher Bedeutung Marx „Judentum“ jeweils gerade benutzt – aus dem Zusammenhang gerissen und konkret wörtlich genommen klingen sie tatsächlich wie Antisemitismus. Bauer hatte geschrieben, die hinter der geschichtlichen Entwicklung des Bewusstseins zurückgebliebenen Juden würden der Welt nichts geben, wenn sie ihr Wesen aufgäben; Marx konnte nunmehr das genaue Gegenteil postulieren: „Wenn der Jude dies sein praktisches Wesen als nichtig erkennt und an seiner Aufhebung arbeitet, arbeitet er … an der menschlichen Emanzipation schlechthin und kehrt sich 33 Moses Hess, „Über das Geldwesen“, in: ders., Philosophische und sozialistische Schriften 1837-1850, Berlin, 1961, S. 329-348, hier S. 347f. 34 Karl Marx, Zur Judenfrage, MEW 1, 372 f. 35 Ebd., S. 372. 36 Fritz Raddatz, Karl Marx. Eine politische Biographie, Hamburg, 1975, S. 64.
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gegen den höchsten praktischen Ausdruck der menschlichen Selbstentfremdung.“37 Und über die changierende Bedeutung von „Judentum“ gelangt Marx zu seiner häufig zitierten Formulierung: „Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum.“38 Oft wird gerade dieser Satz isoliert zitiert und außerhalb seines Kontextes missverstanden, so als ob Marx hier wie die späteren antisemitischen Agitatoren des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts die Juden zum Weltübel erklärte, das verschwinden müsse. Aus Marx’ Gesamtargumentation und seinem Wortgebrauch heraus aber ist evident, dass Marx in diesem Satz mit „Judentum“ keineswegs die jüdische Minderheit und die jüdische Religion meinen kann, sondern das ökonomische Prinzip bezeichnen will, das aufgehoben werden müsse: Trotzdem aber benutzt Marx hier zweifelsohne „Judentum“ als negative Chiffre für die Geldwirtschaft, auch wenn er diese keineswegs allein an die Juden knüpfte noch diesen kausal zur Last legte. Diese Art der Benutzung antijüdischer Motive durchzieht den gesamten zweiten Teil von „Zur Judenfrage“. So hatte Bauer behauptet, der einerseits zwar rechtlose, nur geduldete Jude würde andererseits durch seine Geldmacht die Geschicke Europas bestimmen. Dem stimmte Marx zu – und erweiterte es ins Generelle, wenn er schrieb, dass „durch ihn und ohne ihn [den Juden] das Geld zur Weltmacht und der praktische Judengeist zum praktischen Geist der christlichen Völker geworden“ sei und damit „die Christen zu Juden geworden sind. … Der Widerspruch, in welchem die praktische politische Macht des Juden zu seinen politischen Rechten steht, ist der Widerspruch der Politik und Geldmacht überhaupt. Während die erste ideal über der zweiten steht, ist sie in der Tat zu ihrem Leibeignen geworden.“39 Auch in dieser Passage argumentiert und bebildert Marx offensichtlich wieder nach dem gleichen Modus: Er akzeptiert ohne Bedenken das gängige, auch Bauers Text durchziehende antijüdische Stereotyp und baut es als verallgemeinerte Metapher in seine Kritik der bürgerlichen Gesellschaft ein, um zu zeigen, dass das Geld die Politik dominiere und der „Schachergeist“, für den Marx umstandslos „Judengeist“ als Chiffre verwendete, die gesamte Gesellschaft bestimme. Wieder identifizierte Marx die Juden explizit weder als Verursacher noch als einzige Träger dieser Entwicklung, denn sein Ziel war es, das Verhältnis zwischen privater ökonomischer und dem allgemeinen Interesse generell zu kritisieren. Während Bauer die jahrhundertelange Fortexistenz der Juden inmitten der doch eigentlich religiös „fortschrittlicheren“ Christenheit mittels des alten theologisch-antijüdischen Stereotyps ihrer „Zähigkeit“ und ihres „Starrsinns“ begründet hatte, glaubte Marx, auch dieses Phänomen ‚materialistisch‘ entschlüsseln und erklären zu können: „Das Judentum hat sich neben dem Christentum gehalten … weil der praktisch-jüdische Geist, weil das Judentum in der christlichen Gesellschaft selbst sich gehalten und sogar seine höchste Ausbildung erhalten hat. Der 37 Karl Marx, Zur Judenfrage, MEW 1, S. 372. 38 Ebd., S. 373. 39 Ebd., S. 373 f.
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Jude, der als ein besonderes Glied in der bürgerlichen Gesellschaft steht, ist nur die besondere Erscheinung von dem Judentum der bürgerlichen Gesellschaft. Das Judentum hat sich nicht trotz der Geschichte, sondern durch die Geschichte erhalten. Aus ihren eignen Eingeweiden erzeugt die bürgerlichen Gesellschaft fortwährend den Juden.“40 Zum einen behauptete Marx ,materialistisch‘ gegen Bauers Ansicht, nicht die Juden und eine ihnen inhärente „Zähigkeit“, sondern die Verfasstheit der christlich-bürgerlichen Gesellschaft, in der Schacher und Geld zum ökonomischen Grundprinzip geworden waren, sei die Ursache dafür, dass das Judentum sich mit der Geschichte erhalten habe. Zum anderen benutzt Marx „Judentum“ wieder in einem Satz zugleich als Bezeichnung sowohl der Religion, als auch der sozialen Gruppe, als auch als Chiffre zur Bezeichnung des „Geldmenschen“ per se. Denn diesen (und wohl kaum den religiösen Juden) erzeuge die bürgerliche Gesellschaft aus sich heraus ständig neu. Bauer hatte, das alte theologisch-antijüdische Ressentiment bewusstseinsphilosophisch verkleidend, vom „geschichtswidrigen Juden“ geschrieben und diesem vorgeworfen, er halte zäh an seinem „bodenlosen“ veralteten Gesetz und seiner daher nur „chimärischen Nationalität“ fest. Marx nahm auch diese Begriffe Bauers auf, allerdings um sie ihm Rahmen seines Ziels einer radikalen Kritik der bürgerlichen Gesellschaft zu verallgemeinern und sie so zu einer generellen Kritik des modernen bürgerlichen Rechts zu benutzen: „Die chimärische Nationalität des Juden ist die Nationalität des Kaufmanns, überhaupt des Geldmenschen. Das grund- und bodenlose Gesetz des Juden ist nur die religiöse Karikatur der grund- und bodenlosen Moralität und des Rechts überhaupt, der nur formellen Riten, mit welchen sich die Welt des Eigennutzes umgibt.“41 Auch den Inhalt der jüdischen Religion glaubte Marx nun ‚materialistisch‘ aus der jüdischen Lebenspraxis erklären zu können. Hierzu griff er auf Feuerbachs Charakterisierung der jüdischen Religion, wie dieser sie in „Das Wesen des Christentums“ niedergelegt hatte, zurück. Von der jüdischen Religion und Gottesvorstellung im Besonderen hatte Feuerbach behauptet, ihr konstitutives Prinzip bilde der „Utilismus“, der „die Natur nur als Object … des Egoismus“ erscheinen lasse und über sie gebieten wolle.42 Jehova sei „nichts … als die personifizierte Selbstsucht des israelitischen Volkes“.43 Marx übernahm Feuerbachs antijüdische Charakterisierung der jüdischen Religion und verband sie mit der Geldkritik von Moses Hess – wiederum um die bürgerliche Gesellschaft an sich zu kritisieren: „Welches war an und für sich die Grundlage der jüdischen Religion? Das praktische Bedürfnis, der Egoismus. … Das praktische Bedürfnis, der Egoismus ist das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft … Der Gott des praktischen Bedürfnisses und Eigennutzes ist das Geld. Das Geld ist der eifrige Gott Israels, vor welchem kein 40 41 42 43
Ebd., S. 374. Ebd., S. 375. Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Leipzig, 1841, S. 144. Ebd.
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andrer Gott bestehen darf. … Das Geld ist das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Daseins, und dies fremde Wesen beherrscht ihn, und er betet es an. Der Gott der Juden hat sich verweltlicht, er ist zum Weltgott geworden.“44 Dass Marx keineswegs in das Judentum als Urheber der von ihm beklagten Entwicklung bezichtigen wollte wird immer wieder deutlich. Vielmehr schrieb er von Geschichte, sozialen Prozessen und Entwicklungen. ‚Schuld‘ oder ‚Urheberschaft‘ von Individuen, Gruppen oder ‚Völkern‘ waren keine Kategorien, in denen Marx dachte. So hielt Marx mehrmals klar fest, dass die bürgerliche Gesellschaft erst in der christlichen Welt und durch das Christentum sich habe herausbilden können: „Die bürgerliche Gesellschaft vollendet sich erst in der christlichen Welt. Nur unter der Herrschaft des Christentums, welche alle nationalen, natürlichen, sittlichen, theoretischen Verhältnisse dem … Menschen äußerlich macht, konnte die bürgerliche Gesellschaft … alle Gattungsbande des Menschen zerreißen, den Egoismus … an die Stelle dieser Gattungsbande setzen, die Menschenwelt in eine Welt atomistischer, feindlich sich gegenüberstehender Individuen auflösen. … Nun erst konnte das Judentum zur allgemeinen Herrschaft gelangen und den entäußerten Menschen, die entäußerte Natur zu veräußerlichen, verkäuflichen …, dem Schacher anheimgefallenen Gegenständen machen.“45 Wieder ist aus Marx’ Argumentationsgang einsichtig, dass er hier den Begriff ‚Judentum‘ in seiner dritten symbolischen Bedeutung benutzt: als Chiffre für das allgemeine Primat von Geld und Schachergeist in der bürgerlichen Gesellschaft. Doch gleichwohl verwendete er damit die antijüdischen Metaphern, die das Jüdische in der ökonomischen Sphäre mit Geld, egoistischem Gewinnstreben, Reichtum und Macht zusammenführten. Marx beschloss seine Rezension mit jenen am häufigsten zitierten Sätzen, die – auf der Basis der wechselnden und teilweise metaphorischen Bedeutung von „Jude“ und „Judentum“ – seinen Gedankengang wie auch den chiliastischen Fluchtpunkt seiner philosophischen Kritik der bürgerlichen Gesellschaft in pointierter Form zusammenfassten: „In der jetzigen Gesellschaft finden wir das Wesen des … Juden … nicht nur als Beschränktheit des Juden, sondern als die jüdische Beschränktheit der Gesellschaft. Sobald es der Gesellschaft gelingt, das empirische Wesen des Judentums, den Schacher und seine Voraussetzungen aufzuheben, ist der Jude unmöglich geworden, … weil der Konflikt der individuell-sinnlichen Existenz mit der Gattungsexistenz aufgehoben ist. Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum.“46
44 Karl Marx, Zur Judenfrage, MEW 1, S. 374 f. 45 Ebd., S. 376; vgl. S. 374. 46 Karl Marx, Zur Judenfrage, MEW 1, S. 377.
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Antisemitismus bei Marx? Wie ist nun Zur Judenfrage zu bewerten? Hierzu bedarf es, neben dem oben skizzierten philosophiegeschichtlichen Hintergrund und der immanenten Textanalyse, eines ausgewiesenen und sinnvoll trennscharfen Antisemitismusbegriffs. Zentral für das Verständnis des modernen Antisemitismus ist, diesen als ein strukturiertes Weltbild zu verstehen, denn der Antisemitismus ist mehr als eine bloße Ansammlung von negativen Einzelstereotypen über die Juden: Er entwirft eine in sich stimmige Gesamterklärung der modernen Gesellschaft nach einer spezifischen Denklogik. Auf der inhaltlichen Ebene nimmt der moderne Antisemitismus drei zentrale Zuschreibungen vor: Die Juden seien erstens die Träger des „kapitalistischen Geistes“ und die Herrscher über das Geld, die Banken, die Börse, den Handel und damit über die Wirtschaft insgesamt. Mittels dieser Machtbasis würden die Juden zum zweiten insgeheim auch die Politik zu bestimmen und eine an sich bestehende Einheit von „Volk“ und „Nation“ zu zerstören suchen, sei es als Kreditgeber des Staats, sei es indem von ihnen gekaufte Politiker eine gegen das „Volk“ gerichtete Politik betrieben, sei es indem sie die Arbeiter zum Klassenkampf aufstachelten. Drittens erklärt der moderne Antisemitismus die Juden für alle verunsichernden und abgelehnten Phänomene der modernen Kultur verantwortlich: Kritische Presse, moderne abstrakte Kunst, triviale Massenkultur, Individualismus, großstädtische Lebensformen, Verfall traditioneller Moralvorstellungen, Familienformen und Autoritätsbeziehungen, Frauenemanzipation etc. – überall lautet das Urteil: Zersetzung des Guten und Eigenen durch die Juden. Der moderne Antisemitismus erklärt somit auf der inhaltlichen Ebene die unverstandene und verunsichernde moderne Gesellschaft in ihren drei zentralen Bereichen – kapitalistische Wirtschaft, parlamentarische Parteiendemokratie und moderne plurale Kultur – mittels des bösen Wirkens der Juden. Für alle abgelehnten Phänomene werden „die Juden“ verantwortlich erklärt. Positiver Fluchtpunkt des modernen Antisemitismus ist die antimoderne Wunschvorstellung des „Volkes“: die Konstruktion einer von Natur aus gegebenen Gemeinschaft, die Sicherheit, Stabilität, und Orientierung, Einheit und Gleichförmigkeit garantiert. Auf der Ebene seiner immanenten Logik wird das antisemitische Weltbild durch drei eng miteinander verschränkte Denkmuster in sich stimmig strukturiert. Das erste dieser Denkmuster ist die Personalisierung: Alle unverstandenen gesellschaftlichen Prozesse werden auf das intentionale Handeln einer identifizierbaren Gruppe zurückgeführt, die als geheimer Drahtzieher den Lauf der modernen Welt bestimme – Verschwörungstheorie im Weltmaßstab ist die zwangsläufige Folge derartiger Personalisierung. Das zweite zentrale Strukturmerkmal ist der daraus resultierende extreme Manichäismus: Wenn alles Böse dem Geist und dem Wirken einer kleinen Gruppe entspringt, dann wird automatisch ein vom innersten Wesen böser und nahezu omnipotenter Feind konstruiert, durch den das imaginierte gute Eigene existentiell
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bedroht werde. Von der Vernichtung diese Feindes hänge folglich das eigene Überleben ab. Die Rhetorik von zwingend gebotener Notwehr, unbedingtem Kampf und endgültiger Erlösung durch Vernichtung des Bösen ist jeder Form des modernen Antisemitismus inhärent. Das dritte den modernen Antisemitismus kennzeichnende Strukturmerkmal ist die Konstruktion der Eigengruppe als ethnische Gemeinschaft „Volk“ bzw. „Nation“ in Gegenlage zu den Juden. Die Juden als Personifizierung der modernen Gesellschaft bilden das Anti-Prinzip, dessen die antimoderne Gemeinschaftsvorstellung „Volk“ als qua Natur gegebene, sichere und harmonische Gemeinschaft logisch bedarf, sie sind der „ideale Feind“, in dessen Bekämpfung die ersehnte Gemeinschaft sich real konstituieren soll. Zwischen Antisemitismus und Nationalismus besteht ein enger ideologischer Zusammenhang. Wird „Antisemitismus“, wie hier vorgeschlagen, als ein ideologisches Weltbild gefasst, in dem spezifische Inhalte – die Erklärung der abgelehnten modernen Gesellschaft in ihren zentralen Bereichen Wirtschaft, Politik und Kultur – mittels spezifischer Denkstrukturen – Personalisierung und Verschwörungstheorie, Manichäismus sowie Konstruktion der Gemeinschaft „Volk“ in Gegenlage zum „AntiVolk“ der Juden – in sich stimmig verknüpft werden47, so ist auch ein differenziertes und begründetes Urteil über Marx’ „Zur Judenfrage“ möglich, das sowohl dessen ambivalentem Charakter gerecht wird, als auch die differierenden Urteile über diesen Text erklärt. Mittels des hier skizzierten Antisemitismusbegriffs wird deutlich, dass sich bei Marx auf der inhaltlichen Ebene – und hierauf gründet Silberners Bewertung von „Zur Judenfrage“ – eindeutig ein zentrales antijüdisches Stereotyp findet: die Verbindung der Juden sowohl mit Geld und Handel als auch dem „kapitalistischen Geist“. Marx nahm im zweiten Teil seiner Rezension dieses seinerzeit weit verbreitete Stereotyp auf und benutzte es in immer neuen Varianten zur Kritik der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt. Dies lag zum einen darin begründet, dass Marx zur Entstehungszeit dieses Textes noch völlig dem Alltagsverständnis von Ökonomie verhaftet war und wie sein damaliger Mitstreiter Moses Hess im Geld die Ursache des von ihm gleichzeitig als Fortschritt begrüßten wie als Entfremdung und halbe Emanzipation kritisierten gesellschaftlichen Wandlungsprozesses sah. Von kapitalistisch organisierter Produktion oder „Kapitalismus“ war bei Marx noch nicht die Rede. Diese Sicht legte es für ihn nahe, das seinerzeit allgemein verbreitete Juden-Geld-Stereotyp – welches doch gleichfalls ein Produkt und eine Ausdrucksform eben dieses oberflächlichen Verständnisses der Ökonomie darstellt – aufzugreifen, um mit ihm die Ursache der behaupteten Entfremdung in der bürgerlichen Gesellschaft vor Augen führen zu können.48 47 Idealtypisch ist dies etwa in den Schriften von Antisemiten wie Wilhelm Marr, Eugen Dühring, Adolf Stoecker, Heinrich Class oder Edouard Drumont zu finden. Vgl. die ausführliche Entwicklung des hier nur skizzierten Antisemitismusbegriffs anhand dieser und weiterer Quellen in: Thomas Haury, Antisemitismus, S. 25-159. 48 Nachdem Marx mit der eingehenden ökonomietheoretischen Analyse des Kapitalismus als Produktionsweise begonnen hatte, war bezeichnenderweise das Geld-Juden-Stereotyp in seinen Schrif-
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Dass Marx das Judenbild kritiklos übernahm, lag zum zweiten aber auch in seiner gerade gefundenen „kritischen“ Methode begründet. Marx ging es bei seiner Kritik Bauers am wenigsten um die „Judenfrage“, vielmehr wollte er die Überlegenheit seiner ,materialistischen‘ Methode demonstrieren, schien sie doch zugleich die kritische Erkenntnis der bürgerlichen Gesellschaft und die Erkenntniskritik des (jung-) hegelianischen Idealismus zu ermöglichen. Bauer hatte behauptet, die Religion sei der Kern des Judentums. Marx dagegen kehrte die Beziehung um und fragte nach einem praktisch-gesellschaftlichen Kern des Judentums und fand das antijüdische Stereotyp, das mit ,Geld und Schacher´ eine scheinbar ,materialistische‘ Antwort offerierte. Ebenso glaubte Marx auch die jüdische Religion, deren Charakterisierung er von Feuerbach übernommen hatte, als Ausdruck dieser Praxis erklären zu können, passte doch die nach dem antijüdischen Stereotyp als „Schacher“ gefasste „Praxis“ umstandslos zu diesem Bild der jüdischen Religion – denn es war von demselben Stereotyp geprägt. All das schien genau zusammenzupassen und so die ,materialistische‘ Methode von Marx bestens zu bestätigen. Diese hatte, angewandt auf Hegel, grundlegende Erkenntnisse über dessen Rechtsphilosophie wie über die von dieser thematisierten Gesellschaftsformation erbringen können. Doch in Zur Judenfrage versuchte Marx seine Methode am falschen Objekt zu beweisen: Bei der Umkehrung von Subjekt und Prädikat musste Marx in diesem Fall theoretisch wie methodisch Schiffbruch erleiden. Denn das Bild von „realen Juden“ und das Bild der jüdischen Religion standen nicht in einem Verhältnis von „Basis und Überbau“, sondern waren beide von einem unerkannten ideologischen Dritten, der antisemitischen Denkform, bestimmt – so dass Marx durch seine „materialistische Umstülpung“ nichts anderes tat, als das antijüdische Stereotyp selbst aufs Neue zu reproduzieren. Auf der Ebene der den Text strukturierenden Logik dagegen – und auch dies ist für eine Bewertung entscheidend – findet sich in seiner Schrift keine der drei grundlegenden Strukturen des antisemitischen Denkens. Erstens findet sich bei Marx an keiner Stelle eine Personalisierung gesellschaftlicher Prozesse. Nirgends benennt er die Juden als historische Verursacher von Geldwirtschaft und bürgerlicher Gesellschaft, noch gar als geheime Herrscher der Welt. Statt dessen benennt Marx explizit „die geschichtliche Entwicklung“ als die Ursache der Ausbreitung der Geldwirtschaft und schreibt darüber hinaus, dass der „praktisch-jüdische Geist“ – das rein auf Erwerb gerichtete Streben – sich „nur unter der Herrschaft des Christentums“ habe vollenden können und „die bürgerliche Gesellschaft fortwährend den Juden“ – den Typus des seinen Eigennutz verfolgenden „Geldmenschen“ – „aus ihren eignen Eingeweiden erzeugt“. Marx benutzte das Juden-Geld-Stereotyp ohne Bedenken – aber er verwendet es als eine Chiffre, um mit dieser beispielhaft die Ursache der behaupteten Entfremdung vor Augen zu führen, um die bürgerliche Gesellschaft generell zu kritisieren, nie aber um die Juden als deren historische Urheber oder wahre Herrscher zu verdammen. ten nie wieder von Bedeutung. Vgl. bereits die „philosophisch-ökonomische Manuskripte“ von 1844 (MEW 40, S. 465-588).
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Ebenso fehlt bei Marx auch jeglicher Manichäismus. Dies liegt begründet in der Logik der hegelianischen Dialektik, innerhalb derer Marx argumentierte, und der damit inbegriffenen Interpretation der geschichtlichen Entwicklung als Fortschritt. Von „Jude“ und „Christ“ ist zwar die Rede, aber weder verkörpert ersterer das per se Gute noch letzterer das absolut Böse. Vielmehr behauptete Marx einen dialektischen Prozess zwischen beiden Religionen, der zur Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft geführt habe, nicht aber irgendeine „Zersetzung“ alles „guten, alten Eigenen“ durch die Juden: Die hegelianische Dialektik als Grundlogik schließt Manichäismus aus. Und schon gar nicht ist bei Marx die den antisemitischen Manichäismus kennzeichnende Vorstellung zu finden, Juden und Christen seien in einen schicksalhaften, die Menschheitsgeschichte entscheidenden Kampf verwickelt, der nur die Alternative entweder eigener Untergang oder „Entfernung“ der Juden ließe. Vielmehr befürwortete Marx – gegen Bauer – im ersten Teil der Judenfrage klar die radikal-liberale Position einer umstandslosen allgemeinen Emanzipation der Juden.49 Auch das dritte zentrale Strukturelement des modernen Antisemitismus, die Konstruktion eines „Volkes“ als Gegen-Gemeinschaft zur modernen Gesellschaft in Gegenlage zum „Anti-Volk“ der Juden, ist bei Marx nicht zu finden. Weder tauchen bei Marx „Völker“ als Kategorie auf, noch wird irgendeine andere Form von Gemeinschaft als Gegensatz und Gegenbild zu den „Juden“ konstruiert; die Suche nach und die Konstruktion von nationaler Identität waren für Marx weder hier noch in seinen anderen Schriften ein Thema. Als Fazit der Analyse des Marxschen Textes lässt sich festhalten, dass Marx einerseits, wie seinerzeit weit gebräuchlich50, „Juden“ und „Judentum“ völlig unkritisch als Metapher für Schacher, Geldwirtschaft und Zirkulationssphäre benutzte und damit kritiklos eine zentrale judenfeindliche bzw. antisemitische Zuschreibung aufnahm. Andererseits fehlen bei Marx Personalisierung und Verschwörungstheorie, Manichäismus wie auch die Konstruktion einer antimodernen Gemeinschaft „Volk“ in Gegenlage zu den Juden, und damit die grundlegenden Strukturen des modernen antisemitischen Weltbildes. Marx verwendet somit ausgiebig das zu seinem Verständnis der Wirtschaft passende und seine Methode bestätigende zentrale antijüdische Stereotyp – aber innerhalb einer nicht-antisemitischen Denklogik. Seine Kritik der modernen bürgerlichen Gesellschaft weist keine der grundlegenden Denkstrukturen des Antisemitismus auf. Somit ergibt ein nur paradox zu formulierender Befund: Marx’ Text „Zur Judenfrage“ ist einerseits 49 Auch erklärte sich Marx 1843 dazu bereit, eine entsprechende Petition an den Rheinischen Provinziallandtag zu unterstützen (MEW 27, S. 418). In „Die heilige Familie“ spricht er sich für die Emanzipation der Juden aus und referiert zustimmend Argumente jüdischer Verfechter der Emanzipation (Gabriel Riesser, Gustav Phillipson und Samuel Hirsch; vgl. MEW 2, S. 91 ff, 99 ff, 112 ff). 50 Dies findet sich außer bei Moses Hess (Geldwesen, S. 345f) auch bei Ludwig Börne, in seiner gegen den Antisemitismus gerichteten Schrift „Der ewige Jude“ (in: ders., Über den Antisemitismus, Wien, 1885, S. 41) und ebenso auch bei Heinrich Heine (vgl. Helmut Hirsch, Marx und Moses. Karl Marx zur „Judenfrage“ und zu Juden, Frankfurt a.M., 1980, S. 64).
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nach dem hier vorgeschlagenen Begriff des modernen Antisemitismus zweifelsohne nicht als antisemitisch zu klassifizieren, gleichwohl aber hat Marx in seinem Text ein zentrales antijüdisches Stereotyp aufgenommen, reproduziert und so am Netz kollektiver Symbole seiner Zeit mitgeknüpft.51
51 Vgl. als ausführlichere Interpretation des des Marxschen Textes, die auch dessen Wirkung innerhalb und außerhalb der Linken thematisiert: Thomas Haury, „Karl Marx und seine Frühschrift ‚Zur Judenfrage‘ (1843/44) – Entstehungskontext und Rezeptionsweisen“, in: Kapitalismusdebatten um 1900 – Über antisemitisierende Semantiken des Jüdischen (= Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur, hrsg. von Dan Diner, Bd. 6), hg. v. Nicolas Berg, Leipzig, 2009 (i. E.).
STEPHAN GRIGAT
Antisemitismus im Marxismus Warum die Linke mit Marx kritisiert werden muss
Will man nicht Akademismus um seiner selbst willen betreiben, so braucht man sich heute nicht mehr lange mit der seit über hundert Jahren andauernden Diskussion aufzuhalten, wie antisemitisch Karl Marx war. Thomas Haury hat zuletzt eine Zusammenfassung dieser Diskussion und eine der differenziertesten Analysen von Marx’ Frühschrift „Zur Judenfrage“, die den Ausgangspunkt für die Kontroversen über Antisemitismus im Marxschen Werk lieferte, vorgelegt.1 Geht es einem hingegen ganz im Sinne des „unzufriedenen Schreibtischsubjekts Marx“2 um Kritik im Interesse einer noch zu verwirklichenden allgemeinen Emanzipation, gilt es die Frage anders zu stellen: Wie antisemitisch sind die Marxisten heute? Inwiefern sind jene Linken, mit denen wir in der Gegenwart konfrontiert sind, zum Protagonisten antisemitischer Ressentiments geworden? Wenn von einem spezifisch linken Antisemitismus die Rede ist, lassen sich vier Punkte unterschieden, die in der Literatur behandelt werden: Erstens die marxistischen Klassiker, ihr Umgang mit Antisemitismus und ihr Verhältnis zum Judentum; zweitens die sich auf diese Klassiker berufende traditionelle Arbeiterbewegung sowie die inzwischen selbst historische Neue Linke; drittens das Verhältnis der Linken zum israelischen Staat; viertens die Affinitäten falscher linker Kapitalismuskritik zu antisemitischen Ressentiments. Antisemitismus in der Linken bringt in vielen Punkten nur das zum Ausdruck, was für den gesamtgesellschaftlichen Antisemitismus charakteristisch ist. Aber am Zusammenhang von linken Argumentationen und antisemitischen Ressentiments kann beispielhaft gezeigt werden, wie die mal auf Unvermögen, mal auf Desinteresse, mal auf Unwillen rückführbare Ignoranz gegenüber der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie mit einer gewissen Notwendigkeit zu antisemitischen Denkformen selbst noch bei jenen Subjekten führt, die sich als progressive Antagonisten der herrschenden Verhältnisse begreifen. Die Ideologie des Antisemitismus, die in der postnazistischen Welt bekanntlich ohne bekennende Antisemiten auskommt und existiert3, ist für Linke schon deswegen attraktiv, weil sie sich stets den Anschein des Rebellischen gibt, auch wenn sie 1 Vgl. Thomas Haury, Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR, Hamburg, 2002, S. 160 ff. 2 Clemens Nachtmann, „Autoritärer Staat und Verfall des Gebrauchswerts. Das endlose Ende der politischen Ökonomie“, in: Bahamas, Nr. 28, 1999, S. 51. 3 Vgl. Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M., 1997 (1947), S. 226.
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nichts weiter ist als nörgelndes und zeterndes Einverständnis. Hannah Arendt wusste schon in den 1950er Jahren, dass es sich bei der Annahme, Antisemitismus sei ausschließlich ein Phänomen der politischen Rechten, um ein hartnäckiges Vorurteil handelt.4 Zum Antisemitismus bei den Frühsozialisten, in der europäischen Arbeiterbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts und zum Verhältnis der marxistischen Klassiker zum Judentum liegen mittlerweile zahlreiche Studien vor. Zum Antisemitismus in den Staaten des Realsozialismus ist ebenso geforscht worden wie zum antisemitisch aufgeladenen Antizionismus der Neuen Linken in den meisten europäischen Ländern oder auch in den USA,5 so dass hier nur schlaglichtartig beleuchtet werden soll, worum es geht, wenn von einem spezifisch linken Antisemitismus die Rede ist, um daran anschließend zu thematisieren, inwiefern diese linken Denkformen mit der Ignoranz gegenüber einer Kritik an wertförmiger, fetischistischer und staatlich organisierter Vergesellschaftung zusammenhängen. Auch wenn die überwiegende Mehrheit der Linken ihrem Selbstverständnis nach immer zu den Gegnern des Antisemitismus gehörte, lässt sich eine Tradition des linken Antisemitismus bis zum Frühsozialismus zurückverfolgen. Von Blanqui bis Fourier, von Saint-Simon über Proudhon bis Bakunin kann von der Verharmlosung antisemitischer Ressentiments bis zu offen rassistisch-antisemitischen Argumentationen alles nachgewiesen werden.6 In der europäischen Arbeiterbewegung ist Antisemitismus immer wieder geleugnet, verharmlost oder entschuldigt worden. In den schlimmsten Fällen wurde er – legitimiert als konsequenter Antikapitalismus – offen propagiert.
4 Vgl. Arendt, Hannah, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S. 91. 5 Vgl. Léon Poliakov, Vom Antizionismus zum Antisemitismus, Freiburg, 1992; Gruppe MAGMA, „… denn Angriff ist die beste Verteidigung.“ Die KPD zwischen Revolution und Faschismus, Bonn, 2001; Martin Kloke, Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses, Frankfurt a. M., 1994; Angelika Timm, Hammer, Zirkel, Davidstern. Die SED und der Staat Israel, Bonn, 1997; Margit Reiter, Antisemitismus von links. Die österreichische Linke und Israel nach der Shoah, Innsbruck, 2001; Christina Späti, Die schweizerische Linke und Israel. Israelbegeisterung, Antizionismus und Antisemitismus zwischen 1967 und 1991, Essen, 2006; Michael Lerner, „Amerikanische Linke und Antisemitismus. Über fortschrittliche Politik in Zeiten gesellschaftlicher Sinnkrisen“, in: Antisemitismus und Gesellschaft. Zur Diskussion um Auschwitz, Kulturindustrie und Gewalt, hg. v. Michael Werz, Frankfurt a. M., 1995; Steve Cohen, That’s funny, you don’t look anti-semitic. An anti-racist analysis of left anti-semitism, Leeds, 1984; Jack Jacobs, On Socialists and „the Jewish Question“ after Marx, New York, London, 1992; Peter Ullrich, Begrenzter Universalismus. Sozialismus, Kommunismus, Arbeiter(innen)bewegung und ihr schwieriges Verhältnis zu Judentum und Nahostkonflikt, Berlin, 2007; Peter Ullrich, Die Linke, Israel und Palästina. Nahostdiskurse in Großbritannien und Deutschland, Berlin, 2008. Zur Kritik an Ullrich vgl. die Rezension von Olaf Kistenmacher zu Begrenzter Universalismus: http://www.rote-ruhr-uni.com/cms/IMG/pdf/rezension-ullrichbegrenzter-universalismus-28-1-08.pdf (Zugriff: 20. 8. 2009). 6 Vgl. Micha Brumlik, „Antisemitismus im Frühsozialismus und Anarchismus“, in: Der Antisemitismus und die Linke, hg. v. Micha Brumlik, Doron Kiesel, Linda Reisch, Frankfurt a. M., 1991, S. 7 ff.
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Als radikalste Form eines linken Antisemitismus können die stalinistischen Kampagnen gegen Zionismus und Kosmopolitismus gelten.7 Die von Lenin geführte Oktoberrevolution hat den russischen Juden zunächst zahlreiche Vorteile im Vergleich zur Zarenzeit gebracht. Die Leninsche Theorie, insbesondere seine Imperialismustheorie, weist zwar gewisse strukturelle Ähnlichkeiten zum Antisemitismus auf8 und war auf Grund ihrer jahrzehntelangen hegemonialen Stellung in fast allen Fraktionen der Linken auch in dieser Hinsicht geradezu stil bildend. Mit diesen strukturellen Affinitäten der Leninschen Theorie zur antisemitischen Ideologie, die nie in eine inhaltliche umkippte, ging aber Lenins leidenschaftliches Engagement gegen den Antisemitismus einher.9 Mit Stalin kam jedoch ein Mann an die Macht, der bereits im Kampf um Lenins Nachfolge Antisemitismus als Mittel einsetzte. Für die spätere Entwicklung ist anzunehmen, dass Stalin sich von einem taktischen zu einem überzeugten Antisemiten gewandelt hat, der am Ende seines Lebens eine gewaltsame Umsiedlung der sowjetischen Juden in Erwägung zog. Nach dem Zweiten Weltkrieg unterstützte die Sowjetunion für kurze Zeit das Projekt der israelischen Staatsgründung. Spätestens Ende der 1940er Jahre wurde der Antizionismus jedoch zur offiziellen Staatsdoktrin – und zu einem Element staatlicher Ideologie und Praxis, bei dem die Regierungen der SU, Polens oder auch der DDR auf die Gefolgschaft ihres Staatsvolks rechnen konnten, wie sonst bei kaum einem anderen Thema. Während in Lenins Antizionismus, „in der Welt vor Auschwitz, als die Begriffe noch stimmten“10, der Zionismus als ein Nationalismus neben vielen anderen abgelehnt wurde, bekämpfte der Antizionismus nach dem Zweiten Weltkrieg den Zionismus als eine besondere Form des Nationalismus, die prinzipiell illegitim sei und alle anderen Nationen bedrohe. In Osteuropa wurde diese Transformation durch die stalinistischen Führungen vollzogen und auch nach der Entstalinisierung beibehalten. In Westeuropa war der Antizionismus nach 1945 lange eine Domäne der extremen Rechten. Mit Ausnahme der dogmatischen, an der SU orientierten kommunistischen Parteien war die Linke Westeuropas bis 1967 positiv gegenüber Israel eingestellt. Nach dem Sechs-Tage-Krieg änderte sich das schlagartig. Zum einen setzte eine linke Kritik an der israelischen Regierungspolitik ein, die sich zu recht gegen den von konservativer Seite sofort erhobenen pauschalisierenden Antisemitismus-Vorwurf zur Wehr setzte. Zum anderen beginnt in dieser Zeit eine antizionistische Agitation, die eindeutige Affinitäten zum Antisemitismus aufweist, und die bald fast in der gesamten Linken hegemonial werden sollte. Von der linken Sozialdemokratie über Grüne und Alternative, feministische Gruppierungen, 7 Vgl. Louis Rapoport, Hammer, Sichel, Davidstern. Judenverfolgung in der Sowjetunion, Berlin, 1992; Arno Lustiger, Rotbuch: Stalin und die Juden. Die tragische Geschichte des Jüdischen Antifaschistischen Komitees und der sowjetischen Juden, Berlin, 2002. 8 Vgl. Robert Bösch, „Unheimliche Verwandtschaft. Anmerkungen zum Verhältnis von MarxismusLeninismus und Antisemitismus“, in: Krisis, Nr. 16/17, 1995, S. 161 ff. 9 Vgl. Thomas Haury, Antisemitismus von links, S. 98 ff. 10 Dan Diner, „Täuschungen: Israel, die Linke und das Dilemma der Kritik“, in: Der Antisemitismus und die Linke, hg. v. Micha Brumlik, Doron Kiesel, Linda Reisch, Frankfurt a. M., 1991, S. 78.
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K-Gruppen, Autonome und Antiimperialisten bis zu den bewaffneten Gruppen lassen sich Äußerungen und Aktionen finden, die jede Differenzierung zwischen Antizionismus und Antisemitismus überflüssig erscheinen lassen. Das Spektrum reicht dabei von der Reproduktion antisemitischer Denkmuster in der Beschreibung des Nahost-Konflikts11, der Anwendung doppelter Standards gegenüber Israel sowie der Delegitimierung und Dämonisierung des jüdischen Staates bis hin zur Selektierung jüdischer Geiseln bei der Flugzeugentführung nach Entebbe 1976 und Anschlägen wie jenem auf das Jüdische Gemeindezentrum am 9. November 1969 in Berlin.12
Ressentiment und Kritik Inwiefern hat dieser linke Antisemitismus etwas mit linker Theorie zu schaffen? Ist der Antisemitismus von links gar in der Kritik der politischen Ökonomie angelegt? War also Marx der Stichwortgeber dieses Antisemitismus? Marx und Engels waren keineswegs wüste Antisemiten, wie beispielsweise in den einflussreichen Arbeiten Edmund Silberners behauptet wird.13 Zwar finden sich sowohl in den Marxschen Frühschriften als auch in zahlreichen Briefen von Marx und Engels Formulierungen und Argumentationen, die ein verzerrtes Bild vom Judentum zeichnen und auf antisemitische Klischees zurückgreifen; die Interpretation des von Marx 1844 veröffentlichten Textes „Zur Judenfrage“ „as a call to eliminate Jews“14 oder als „antisemitische Hetzschrift (…), die vor Judenhass geradezu sprüht“15 beruht jedoch ebenso auf einem Unverständnis der Marxschen Argumentation wie der von Heimo Kellner kürzlich in der 1897 von Theodor Herzl gegründeten „Illustrierten Neuen Welt“ erhobene Vorwurf, Marx habe seinen „handfesten Antisemitismus ausgelebt“.16 Der Text „Zur Judenfrage“ lädt jedoch zu Missverständnissen geradezu ein. Es ginge darum, zu erklären, warum der junge Marx sich in einem Text, der sich gegen eine antisemitische Hetzschrift wendet, antisemitischer Stereotypen bedient. Das Instrumentarium für diese Erklärung findet sich allerdings nicht in liberalen Demo11 Vgl. Volker Weiß, „‚Volksklassenkampf‘ – Die antizionistische Rezeption des Nahostkonflikts in der militanten Linken der BRD“, in: Antisemitismus – Antizionismus – Israelkritik. Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXXIII, hg. v. Moshe Zuckermann, Göttingen, 2005, S. 214 ff. 12 Vgl. Wolfgang Kraushaar, Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus, Hamburg, 2005. 13 Vgl. Edmund Silberner, Sozialisten zur Judenfrage, Berlin, 1962; ders., Kommunisten zur Judenfrage. Zur Geschichte von Theorie und Praxis der Kommunisten, Opladen, 1983. Ähnliche Vorwürfe finden sich bei Henryk M. Broder, Der ewige Antisemit. Über Sinn und Funktion eines beständigen Gefühls, Frankfurt a. M., 1986, S. 30, S. 107, S. 211 ff. Zur Kritik an Silberners Thesen siehe Detlev Claussen, Grenzen der Aufklärung: Die gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus, Frankfurt a. M., 1994, S. 85 ff. sowie Haury, Antisemitismus von links, S. 160 ff. 14 Julius Carlebach, Karl Marx and the Radical Critique of Judaism, London, 1978, S. 405. 15 Philipp Gessler, Der neue Antisemitismus. Hinter den Kulissen der Normalität, Freiburg, 2004, S. 87. 16 Heimo Kellner, „Im Jahre 1968 sprudelte Marxismus aus allen Poren der zornigen Jugend“, in: Illustrierte Neue Welt, Nr. 6/7, 2008, S. 7.
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kratie- und Totalitarismustheorien, in denen in jüngster Zeit auffällig oft über einen linken Antisemitismus gesprochen wird, sondern in der entfalteten Marxschen Kritik der politischen Ökonomie. Die frühe Kapitalismuskritik von Marx hat noch nicht jene Begriffsschärfe entwickelt, wie wir sie aus der entwickelten Kritik der politischen Ökonomie kennen, auch wenn sich selbst noch im „Kapital“ vereinzelt Formulierungen über Juden und das Judentum finden, die einen bei der Lektüre stocken lassen. Beispielsweise ist von Waren als „innerlich beschnittenen Juden“17 die Rede. Als Antisemitismus können solche Formulierungen allerdings nur von einer völlig begrifflosen political correctness aus verstanden werden. Der späte Marx schwankt stets zwischen der Illustration der realen Abstraktheit des Werts mit Bildern des Judentums einerseits und christlichen und vorchristlichen andererseits.18 Gerade dort, wo er die reale Abstraktheit des Werts mit den Begriffen der Fetischkritik zu fassen versucht, überwindet er die hilflosen, mangels Begrifflichkeit sich nicht von der Sprache der Antisemiten lösen könnenden Formulierungen aus „Zur Judenfrage“ und liefert zugleich ein unabdingbares Instrumentarium zur Kritik eines ressentimentgetriebenen Verständnisses kapitalverwertender Gesellschaften. Die Kritik der Kette von Mystifikationen, wie Marx sie im „Kapital“ und in den „Theorien über den Mehrwert“ entwickelt, ist zentral für die Kritik des modernen Antisemitismus: Die mystifizierteste Form des Kapitalfetischs ist nach Marx die Form des zinstragenden Kapitals. Das produktive Kapital erscheint in der Bewegung G-G´ nicht mehr. Der Kapitalfetisch kommt damit zu seiner vollen Entfaltung: „Im zinstragenden Kapital ist daher dieser automatische Fetisch rein herausgearbeitet, der sich selbst verwertende Wert, Geld heckendes Geld, und trägt es in dieser Form keine Narben seiner Entstehung mehr.“19 Auch wenn der Zins nur ein Anteil am in der Produktion durch die Aneignung fremder Arbeit produzierten Mehrwert ist, scheint es doch so, als würde hier Geld mehr Geld produzieren. Bereits Marx war bewusst, dass das Kapital in „dieser seiner wunderlichsten und zugleich der populärsten Vorstellung nächsten Gestalt“ der bevorzugte „Angriffspunkt einer oberflächlichen Kritik“20 sein wird – einer Kritik, die in der sozialistischen Bewegung nie mehr verschwinden sollte, maßgeblich zu den Affinitäten linker Kapitalismuskritik zum Antisemitismus beigetragen hat und auch heute im Rahmen der Globalisierungsdebatte wieder aktuell ist. Zur Kritik der Antiglobalisierungsbewegung wird man also notwendigerweise auf Marx zurückgreifen müssen. Die Begriffsschärfe der entfalteten Kritik der politischen Ökonomie ist notwendig, um das Umschlagen einer Ökonomiekritik in ein verfolgendes Ressentiment zu verunmöglichen oder zumindest entscheidend zu erschweren. Eine Kapitalismuskritik, die keinen Begriff von kapitaler Vergesellschaftung hat, die nichts wissen will von den realen Abstraktionen, welche die Menschen beherrschen und sich hinter dem Rücken und doch durch ihr Handeln durchsetzen, die nichts wissen 17 18 19 20
Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. I, MEW 23, S. 169. Vgl. Gerhard Scheit, Suicide Attack. Zur Kritik der politischen Gewalt, Freiburg, 2004, S. 304. Karl Marx, Das Kapital, Bd. III, MEW 25, S. 405. Karl Marx, Theorien über den Mehrwert, Bd. III, MEW 26.3, S. 458.
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will von den Gesetzen der kapitalen Warengesellschaft, wie Marx sie in der Wertformanalyse und in seiner Kritik des Fetischismus ins Visier genommen hat, wird über eine ressentimenthafte Suche nach Schuldigen nicht hinauskommen, keinerlei Beitrag zur allgemeinen Emanzipation leisten und statt dessen immer wieder den Antisemitismus bedienen oder selbst zu seinem Protagonisten werden, wie man heute wohl besonders deutlich beim venezolanischen Präsidenten Hugo Chavez studieren kann.21 Ein zentrales Moment des modernen Antisemitismus ist der Hass auf die abstrakte Seite der kapitalistischen Warenproduktion, die in den Juden biologisiert wird.22 Am deutlichsten wurde das bei der im Nationalsozialismus vorgenommenen Trennung in deutsches „schaffendes Kapital“ und jüdisches „raffendes Kapital“. Die Grundlage dieser Trennung ist aber keine Erfindung der nationalsozialistischen Ideologie, sondern die tendenziell allen Subjekten der bürgerlichen Gesellschaft geläufige Unterscheidung in Arbeitsplätze schaffende, verantwortungsbewusste Industriekapitalisten einerseits und das unproduktive Kapital der Zirkulationssphäre andererseits. Adorno und Horkheimer sahen hier in unmittelbarer Fortführung der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie einen der wesentlichen Gründe für antisemitische Projektionen in wertverwertenden Gesellschaften: Erst in der Sphäre der Zirkulation wird den Produzierenden der Wechsel präsentiert, „den sie dem Fabrikanten unterschrieben haben. (…) Die Verantwortlichkeit der Zirkulationssphäre für die Ausbeutung ist gesellschaftlich notwendiger Schein.“23 Der vom Waren- Geld- und Kapitalfetisch getrübte Blick der bürgerlichen Subjekte tendiert dazu, an der Zirkulationssphäre hängen zu bleiben. Die gesichtslosen und jederzeit auswechselbaren Charaktermasken, die sie dort vorfinden, substituieren die Antisemiten durch die Juden. Gerade in den heutigen Debatten über die Globalisierung finden sich auch in der Linken zahlreiche Argumentationen, die zwar nicht zwangsläufig inhaltliche Affinitäten, aber zumindest strukturelle Ähnlichkeiten zum Antisemitismus aufweisen.24 Diese Ähnlichkeiten bereiten den Boden dafür, dass maßgebliche Teile der internationalen Antiglobalisierungsbewegung mittlerweile keine Probleme mehr haben, mit deklariert antisemitischen Terrorrackets gemeinsame Konferenzen zu veranstalten, wie beispielsweise das „International Forum for Resistance, Anti-imperialism, Peoples’ Solidarity and Alternatives“ im Januar 2009 in Beirut. Die Unbegriffenheit der globalen Kapitalverwertung und die ressentimenthafte Kritik an ihren Erscheinungsformen in Kombination mit der Tendenz, den Staat als Hüter des Allgemeinwohls gegen die als verwerflich wahrgenommenen Kräfte 21 Vgl. Philipp Lenhard, „Äquivalenzprinzip, Almosen, Antisemitismus. Venezuelas Petro‚Sozialismus des 21. Jahrhunderts‘“, in: Bahamas, Nr. 52, 2007, S. 26 ff. 22 Vgl. Moishe Postone, „Antisemitismus und Nationalsozialismus“, in: ders., Deutschland, die Linke und der Holocuast. Politische Interventionen, Freiburg, 2005, S. 165 ff. 23 Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 198. 24 Vgl. Andreas Exner, „Antisemitismus und Globalisierungskritik. Thesen zu einem Verhältnis“, in: Blinde Flecken der Globalisierungskritik. Gegen antisemitische Tendenzen und rechtsextreme Vereinnahmung, hg. v. Attac Österreich, Wien, 2005, S. 9 ff.
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der Ökonomie in Anschlag zu bringen und diese Ökonomie in eine konkretistisch verklärte produktive und eine moralisch zu attackierende spekulative aufzuspalten, führen mit einer gewissen Notwendigkeit zu einem ressentimenthaften Konkretisierungswahn im Angesicht des Realabstrakten der wertverwertenden Gesellschaft. Antisemitismus in der Linken ist in den vorherrschenden linken Vorstellungen von Kapitalismus und Imperialismus, von Staat und Nation, von Faschismus und Nationalsozialismus begründet. Die personalisierender Kapitalismuskritik zuwiderlaufende Marxsche Erkenntnis, dass sich die Menschen im Austausch- und Produktionsprozess als „ökonomische Charaktermasken“, als „Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse“25 gegenübertreten, hat für große Teile der traditionellen Linken keine Rolle gespielt. Kapitalismus wurde und wird in dieser Linken nicht als fetischisierte gesellschaftliche Totalität begriffen, sondern als eine Addition aller Kapitalisten, denen die Arbeiterklasse als prinzipieller Antagonismus scheinbar unversöhnlich gegenüber steht. Das zu Kritisierende, das zu Bekämpfende, das Abzuschaffende ist dadurch – und darin besteht die fatale strukturelle Ähnlichkeit zum Antisemitismus – nicht mehr ein gesellschaftliches Verhältnis, sondern es sind Menschen, die einen Teil, eine Seite dieses gesellschaftlichen Verhältnisses vermeintlich oder tatsächlich repräsentieren. Vorschub wurde solchem dichothomischen und personalisierenden Denken dadurch geleistet, dass Ideologie in der leninistischen Linken nicht mehr wie noch bei Marx als notwendig falsches Bewusstsein, sondern nur mehr als Schein, als Betrug, als bewusst eingesetztes Herrschaftsmittel, als Manipulationsinstrument ‚der Herrschenden‘ gegen ‚die Beherrschten‘ verstanden wurde und wird.26 Mit ihrem verkürzten Imperialismusverständnis haben große Teile der Linken Herrschaft auf Fremdherrschaft und Kapitalismus auf Ausbeutung durch fremdes Kapital reduziert. Die unkritische Bezugnahme auf den Befreiungsnationalismus im Trikont führte zur Affirmation von Kategorien wie Staat, Nation und Volk. Ein solcher Antiimperialismus, der zwischen der Kritik imperialistischer Politik einerseits und der vorbehaltlosen Parteinahme für die Opfer solcher Politik andererseits nicht unterscheiden kann, führt nahezu zwangsläufig zu jener Kollaboration mit diversen Diktatoren, völkischen Nationalisten und Antisemiten, wie sie von großen Teile der Linken in den letzten Jahrzehnten praktiziert wurde und bis heute praktiziert wird. In weiten Teilen der Linken ist der Nationalsozialismus lange Zeit darauf reduziert worden, eine besonders abscheuliche, von den aggressivsten Fraktionen der Bourgeoisie dominierte Form von Klassenherrschaft zu sein. Der Vernichtungsantisemitismus der Nazis ist lange weit gehend ignoriert, oder aber lediglich als ein Mittel zur Durchsetzung etwas außerhalb seiner selbst, als Herrschaftsmittel und Ablenkungsmanöver, begriffen worden.
25 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 100. 26 Vgl. Stephan Grigat, Fetisch und Freiheit. Über die Rezeption der Marxschen Fetischkritik, die Emanzipation von Staat und Kapital und die Kritik des Antisemitismus, Freiburg, 2007, S. 89 ff.
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Eine Linke, die den Nationalsozialismus nur als besonders extreme Form der Unterdrückung der Arbeiterklasse begreift, vom nationalen Konsens und von Auschwitz aber nichts wissen will, die staatsapologetisch argumentiert, anstatt in der staatsbürgerlichen Vorstellung vom ‚Allgemeinwohl‘ die modifizierte Ideologie der Volksgemeinschaft zu erkennen, die nicht die fetischisierte Herrschaftsform der Nation, sondern nur ‚übertriebenen‘ Nationalismus kritisiert, die den Wert affirmiert, aber die angeblichen ‚Auswüchse‘ des freien und wurzellosen Kapitalismus anprangert, die eine personalisierende Kapitalismus- und Staatskritik betreibt und daher nicht Politik als Formprinzip, sondern Politiker, nicht die Form Staat, sondern nur eine ‚abgehobene‘ oder ‚volksfremde‘ Bürokratie, und die nicht das Kapitalverhältnis, sondern die Kapitalisten kritisiert, wird die Grundlagen der antisemitischen Ideologie immer wieder reproduzieren.
Antizionismus als geopolitische Reproduktion des Antisemitismus Besonders deutlich wird das beim Antizionismus. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist die antizionistische Ideologie zu neuem Leben erwacht und weist weit über den Kreis marxistischer Kleingruppen hinaus. Die Existenz von Antisemitismus in der Linken ist heute evident. Angesichts der ausufernden Literatur, die ihn wieder und wieder belegt27, kann sein Leugnen heute nur mehr als eine seiner Ausdrucksformen angesehen werden. Im Antizionismus tritt er als eine spezifische Form des Antisemitismus nach Auschwitz auf, der sich aus Mangel an konkreten Hassobjekten gegen den kollektiven Juden, den Staat Israel, richtet. Dass die im Antizionismus angelegten Vernichtungsphantasien nicht Realität geworden sind, verdankt sich der israelischen Staatsgewalt. Was das für eine materialistische Kritik bedeutet, die stets Kritik der Staatlichkeit impliziert, wäre dringend zu diskutieren.28 Der Antizionismus der Linken „ist die Anwendung des antiimperialistischen Schemas auf den Konflikt zwischen Israel und der palästinensischen nationalen Befreiungsbewegung. (…) Das antiimperialistische Weltbild ist den antisemitischen Stereotypen gegenüber nicht nur nicht immun, sondern es tendiert, wird es zum Antizionismus konkretisiert, dazu, diese selbst hervorzubringen.“29 Ideologiekritische Ansätze können nicht nur zeigen, inwiefern der Antisemitismus die Biologisierung und Personalisierung des real Abstrakten kapitalakkumulierender Ökonomie betreibt, sondern sie können auch deutlich machen, inwiefern der Antizionismus eine geopolitische Reproduktion des Antisemitismus darstellt.30 27 Einen Überblick, wenn auch mit Beiträgen von sehr unterschiedlicher Qualität, bietet Exklusive Solidarität. Linker Antisemitismus in Deutschland. Vom Idealismus zur Antiglobalisierungsbewegung, hg. v. Matthias Brosch u. a., Berlin, 2007. 28 Vgl. Stephan Grigat, Fetisch und Freiheit, S. 328 ff. 29 Thomas Haury, „Zur Logik des bundesdeutschen Antizionismus“, Nachwort in: Léon Poliakov, Vom Antizionismus zum Antisemitismus, hg. v. Léon Poliakov, Freiburg, 1992, S. 141. 30 Vgl. Initiative Sozialistisches Forum, Furchtbare Antisemiten, ehrbare Antizionisten. Über Israel und die linksdeutsche Ideologie, Freiburg, 2002, S. 17 ff. Dabei geht es nicht um den politischen Antizio-
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Der Antizionismus bedient sowohl das linke als auch das deutsch-europäische Bedürfnis nach Abspaltung und Projektion. Die Gewaltsamkeit der eigenen Staatswesen wird verdrängt und auf Israel projiziert: „Blind für ihr eigenes Gewordensein muss das an Israel denunziert werden, worin die bürgerlichen Gesellschaften an ihre Robespierres, Franklins und Lenins gemahnt werden könnten. Weil die Konstitution Israels nicht abgeschlossen ist (…) erscheinen seine Staatsmänner als Barbaren, wo sie doch nur Vollstrecker nachgeholter bürgerlicher Revolutionierung sind (…).“31 Der Antisemitismus als ökonomische Seite des Judenhasses konstruiert sich das Bild des Shylock-Juden und spaltet darin jene notwendigerweise zum Kapital gehörigen, aber als bedrohlich, unmoralisch, illegitim, volksfremd, zersetzend und zerstörend empfundenen Elemente des ökonomischen Prozesses ab. In neueren Diskussionen ist darauf verwiesen worden, wie dieses schon für den vormodernen Antisemitismus charakteristische Bild in der antizionistischen Propaganda ergänzt wird durch das Bild des Rambo-Juden32, dessen sinnbildliche Verkörperung der israelische Soldat ist. So wie sich der Antisemitismus im Gegensatz zum Rassismus nicht gegen die tatsächlich oder vermeintlich Unterlegenen richtet, sondern gegen die als überlegen Wahrgenommenen33, so richtet sich der Antizionismus ebenso wie der Antiamerikanismus nicht gegen die Loserstaaten in der internationalen Konkurrenz der Souveräne, sondern gegen jene, denen ihr Erfolg verübelt wird. Schon dadurch kann sich der Antizionismus ganz ähnlich wie der Antiamerikanismus den Schein des Rebellischen und die Aura moralischer Dignität geben, die ihn gerade für Linke interessant macht, auch wenn er damit nur seinen Konformismus und seine Perfidie zu kaschieren versucht.34 Hätte die marxistische Linke ein ideologiekritisches Staatsverständnis entwickelt, würde sie am ehesten begreifen, inwiefern Israel heute als Jude unter den
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nismus vor Auschwitz, der sich gerade als linksradikaler mit dem Verweis auf die anstehende allgemeine Emanzipation, die auch den Antisemitismus aus der Welt schaffen würde, noch halbwegs legitimieren konnte, sondern den postnazistischen Antizionismus, dessen Kern es ist, Juden mit welcher Begründung auch immer das Recht auf einen eigenen Nationalstaat selbst noch nach der Shoah, nach dem Scheitern nicht nur des bürgerlichen Gleichheitsversprechens, sondern auch der kommunistischen Emanzipationserwartung, zu verwehren. Initiative Sozialistisches Forum, „Go straight to Hell“, in: Phase 2, Nr. 12, 2004, S. 63. Vgl. Andrei S. Markovits, „Antiamerikanismus und Antisemitismus in Europa“, in: Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte, hg. v. Doron Rabinovici, Ulrich Speck, Natan Sznaider, Frankfurt a. M., 2004, S. 218. Vgl. Stephan Grigat, Fetisch und Freiheit, S. 310 ff. Eine Kritik des Antizionismus kann und muss zunächst gar nichts aussagen über die je spezifische Ausgestaltung israelischer Politik und zionistischer Praxis. Es geht ihr auch nicht in erster Linie um diese, sondern um die Kritik einer Ideologie, die sich selbst für die realen Verhältnisse im Nahen Osten nicht sonderlich interessiert. Ähnliches gilt für eine Kritik des Antiamerikanismus, der nicht zu verwechseln ist mit einer dringend gebotenen Kritik an der Rolle der USA im globalen Prozess von ökonomischer Ausbeutung und politischer Herrschaft. Für eine Kritik der Ressentiments gegenüber den USA und ihrer Verwandtschaft mit dem Antisemitismus vgl. Scheit, Gerhard, „Monster und Köter, großer und keiner Teufel. Thesen zum Verhältnis von Antiamerikanismus und Antisemitismus“, in: Amerika. Der „War on Terror“ und der Aufstand der Alten Welt, hg. v. Thomas Uwer, Thomas von der Osten-Sacken, Andrea Woeldike, Freiburg, 2003, S. 101 ff.
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Staaten fungiert. Der Antisemitismus versetzt Juden in eine ausweglose Situation. Dem reichen Juden wird sein Erfolg angekreidet, der arme als Schnorrer verachtet. Der Assimilant erscheint als heimtückischer Zersetzer des Volkskörpers, der Traditionsbewusste als anpassungsunfähiger Sonderling. Der sexuell Aktive gilt als Verderber und Verführer der Jugend, der Enthaltsame als impotenter Schwächling. Im Antizionismus wird das klassische Bild des geldgeilen, vergeistigten und wehrunfähigen jüdischen Luftmenschen durch jenes des alles niedertrampelnden, auf territoriale Expansion und völkische Homogenität setzenden Israeli ergänzt. Was auch immer Juden tun, sie liefern den Antisemiten stets nur neues Material zur Illustration ihres Wahns. Was auch immer Israel tut, es ist und bleibt in den Augen großer Teile der Linken Schuld an Elend und Zerstörung in der Region.35 Passt ein Verhalten einmal nicht in die projektive Bilderwelt der Antisemiten und Antizionisten, wird es gerade dadurch integriert, dass in solch einem unerwarteten Agieren eine besondere Perfidie zwecks Verschleierung der wahren Absichten vermutet wird.
Kritik des linken Antisemitismus als Apologie der Verhältnisse Die Kritik an solch einem von links forcierten Antizionismus sollte ebenso wie die Diskussion über antisemitische Stereotype im Marxschen Werk und den Antisemitismus des Marxismus davor bewahrt werden, als moralisch scheinbar einwandfreies Argument gegen radikale Gesellschaftskritik in Anschlag gebracht zu werden.36 Bei rechten Marx-Kritikern fungiert der Vorwurf des Antisemitismus gegen den Autor der Kritik der politischen Ökonomie als billiger Vorwand für die Hetze gegen materialistische Gesellschaftskritik. Man denke nur an Konrad Löw, dessen wüste Tirade „Mythos Marx“37 keine Kritik darstellt, sondern Ausdruck antiemanzipatorischer Ressentiments eines Autors ist, der Publikationen wie der „NationalZeitung“ Interviews gibt38 und in seinen Arbeiten selbst antisemitische Klischees verbreitet. Hans-Olaf Henkel, der ehemalige Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, empört sich heute mit Verweis auf einen angeblichen Marxschen Antisemitismus, der den Straftatbestand der Volksverhetzung erfülle, über
35 Halten sich die israelische Armee und jüdisch-israelische Siedler im Gaza-Streifen auf, gelten sie als Besatzungsmacht. Ziehen sie sich zurück, errichten sie ‚das größte Gefängnis der Welt‘. Reagiert Israel auf die permanenten Angriffe aus dem Gaza-Streifen mit Sanktionen oder wie Ende 2008 mit Gegenschlägen, dreht es an der ‚Gewaltspirale‘, reagiert ‚unverhältnismäßig‘ oder setzt seine ‚Auslöschungspolitik‘ fort. Nimmt es den andauernden Raketenbeschuss tatenlos hin, wird das ‚zionistische Regime‘ in arabischen und iranischen Zeitungen als ‚zahnloser Papiertiger‘ verhöhnt, der nicht mal seine eigene Bevölkerung schützen könne. 36 Vgl. dazu Stephan Grigat, Gerhard Scheit, „In memoriam Leopold Spira“, in: Weg und Ziel, Nr. 2, 1998, S. 3. 37 Konrad Löw, Der Mythos Marx und seine Macher. Wie aus Geschichten Geschichte wird, München, 1996. 38 Vgl. http://www.archiv-2004.national-zeitung.de/NZ32_3.html (Zugriff: 15. 2. 2009).
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den finanziellen Beitrag der Bundesregierung zur Marx-Engels-Gesamtausgabe.39 Eine ähnliche Instrumentalisierung der Antisemitismuskritik in der politischen Auseinandersetzung ließ sich unlängst in der deutschen Diskussion über Managergehälter beobachten. Dem Präsidenten des Instituts für Wirtschafsforschung Hans-Werner Sinn ging es mit seiner Gleichsetzung der gegenwärtigen Kritik an Managern mit antisemitischen Parolen aus den 1920er Jahren40 eben so wenig wie dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff, der diese Parallelisierung aufgriff41, um Kritik antisemitischer Denkmuster, für welche die aktuelle Debatte über Heuschrecken, Spekulanten und Spitzenmanager genügend Anlass bieten würde, sondern um wohlfeile Munition bei der Verteidigung der Charaktermasken des Kapitals. In einigen neueren Publikationen soll nicht mehr erklärt werden, wie aus der Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und dem Willen zur Veränderung, wie aus der Sehnsucht nach dem ganz Anderen eine mal ressentimenthafte, mal regressive, mal mörderische Partizipation am gesellschaftlichen Unheil im Wege seiner scheinbaren Bekämpfung wurde, sondern die Sehnsucht nach dem Anderen und der Wille zur Veränderung selbst sollen diskreditiert werden.42 Dagegen gilt es deutlich zu machen, dass der linke Antisemitismus, dass das mal indifferente, mal von Misstrauen geprägte, mal hasserfüllte Verhalten der Linken gegenüber Israel nicht aus der Radikalität ihrer Gesellschaftskritik resultiert, sondern aus einem Mangel an Radikalität. Der linke Antisemitismus resultiert nicht aus dem Marxschen Denken und der linke Antizionismus nicht aus der materialistischen Kritik der Politik und des Staates, sondern aus dem Desinteresse großer Teile der Linken gegenüber dem Materialismus und der Marxschen Kritik. Die Nähe zu antisemitischen Denkmustern gerade bei jenen linken Theorien und Vorstellungen, welche die Marxsche Kritik konsequent ignoriert haben und ignorieren, resultiert nicht aus der „radikale(n) Verwerfung alles Bestehenden und (dem) militante(n) Willen, es völlig umzugestalten“43, sondern gerade aus einem Mangel an Radikalität.44 Dementsprechend kann es nicht um ein Verwerfen der 39 Vgl. Andreas Unterberger, „Henkel: Der Kampf um die Mitte“, Wiener Zeitung, 15. April 2008, S. 10. Ein weiteres Beispiel für solch einen Missbrauch der Antisemitismuskritik war die Forderung der österreichischen rechts-konservativen Jungen Europäischen Studenteninitiative Anfang der 1990er Jahre nach einer Umbenennung des Karl-Marx-Hofes, die mit dem vermeintlichen Antisemitismus von Marx begründet wurde. 40 Vgl. http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/Finanzen-Finanzkrise;art130,2645880, 27. 10. 2008 (Zugriff: 8. 3. 2009). 41 Vgl. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,588983,00.html, 7. 11. 2008 (Zugriff: 8. 3. 2009). 42 Vgl. beispielsweise Philipp Gessler, Der neue Antisemitismus; Wolfgang Kraushaar, Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus; Hans Rauscher, Israel, Europa und der neue Antisemitismus. Ein Handbuch, Wien, 2004. 43 Thomas Haury, Antisemitismus von links, S. 231. 44 Für die deutsche und österreichische Linke gilt es zur Erklärung ihrer Israelfeindschaft neben ihrer mangelhaften Ökonomie- und Staatskritik ihre Verstickung ins nationale Kollektiv in Betracht zu ziehen, die den Antizionismus als attraktive linke Variante der Schuldabwehr und –relativierung im Kontext der unaufgearbeiteten nationalsozialistischen Vergangenheit erscheinen ließ. Vgl. dazu
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Marxschen Kritik gehen, sondern nur darum, den Marxismus mit Marx zu kritisieren. Die liberalen Totalitarismustheorien müssten so gesehen vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Sozialistische und kommunistische Bestrebungen tendieren dann zur totalen Herrschaft und zum Antisemitismus, wenn sie bürgerliche Vergesellschaftungsformen wie Staat, Nation und Wert adaptieren, wenn also geglaubt wird, man könne diese Vergesellschaftungsformen für die eigenen emanzipativen Zwecke dienstbar machen, wie es in Formulierungen wie „sozialistische Warenproduktion“ und „planmäßige Anwendung des Wertgesetzes“ in der ehemaligen Sowjetunion zum Ausdruck kam.45 Die bürgerliche Gesellschaft tendiert nicht dann zu Totalitarismus und Antisemitismus, wenn sie kommunistische Elemente in sich aufnimmt, sondern die sozialistisch-kommunistische Gesellschaft tendiert zu Totalitarismus und Antisemitismus, wenn sie bürgerliche Vergesellschaftungsformen in sich aufnimmt.46 Bei dieser Feststellung geht es keineswegs um eine Geringschätzung bürgerlicher Freiheitsrechte, die heute ganz im Gegenteil gegen eine Linke verteidigt werden müssen, die sich theoretisch immer mehr einem poststrukturalistisch inspirierten Kulturrelativismus hingibt47 und praktisch ihre Emanzipationsbemühungen immer öfter gemeinsam mit Gruppierungen wie Hisbollah und Hamas in die Tat umzusetzen versucht. Die Verheißungen individuellen Glücks, die in der bürgerlichen Gesellschaft in aller Regel nur Verheißungen bleiben, hätte sich der Realsozialismus durchaus zum Vorbild nehmen sollen. Sie hätten eventuell eine Barriere vor der antisemitischen Propaganda bilden können. Mit der Übernahme des wertverwertungsimmanenten Produktivitätsideals aber hat der Sozialismus sich die Vorstellung vom Schaffenden einerseits und dieses Schaffen torpedierenden zersetzenden Kräften andererseits zu eigen gemacht – und damit den Antisemitismus geradezu abonniert.48 Gerade im Herrschaftsbereich des Marxismus-Leninismus äußerte sich dieser Antisemitismus neben den Kampagnen gegen den „Kosmopolitismus“ und nach der kurzzeitigen, vor allem taktischem Kalkül bei den Bemü-
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Lars Rensmann, Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden, 2004, S. 310 ff. Vgl. Stephan Grigat, „Kritik und Utopie. Gesellschaftskritik am Ende des 20. Jahrhunderts und der Marxsche Kommunismus“, in: Weg und Ziel, Nr. 4, 1997, S. 18 ff. Vgl. Jürgen Elsässer, „Ehrbarer Antisemitismus?“, in: Was tun? Über Bedingungen und Möglichkeiten linker Politik und Gesellschaftskritik, hg. v. Wolfgang Schneider, Boris Gröndahl, Hamburg, 1994, S. 389. Diese Überlegungen Elsässers stammen aus einer Zeit, in der er noch nicht den Stichwortgeber für den Antiamerikanismus in der deutschen und europäischen Friedens- und Antiglobalisierungsbewegung gegeben hat (vgl. Jürgen Elsässer, Der deutsche Sonderweg. Historische Last und politische Herausforderung, Kreuzlingen, München, 2003) und sich mit seiner „Volksinitiative gegen das internationale Finanzkapital“ auch noch nicht NPD-Positionen und -Sprache zu eigen gemacht hatte. Vgl. Andreas Benl, „Delegierte Regression. Der europäische Kulturrelativismus: eine Form der Kollaboration mit dem Islamismus“, in: Der Iran – Analyse einer islamischen Diktatur und ihrer europäischen Förderer, hg. v. Stephan Grigat, Simone Dinah Hartmann, Innsbruck, Bozen, Wien, 2008, S. 236 ff. Vgl. Robert Bösch, „Unheimliche Verwandtschaft“, S. 161 ff.
ANTISEMITISMUS IM MARXISMUS
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hungen um ein Zurückdrängen des britischen Einflusses im Nahen Osten geschuldeten Unterstützung der israelischen Staatsgründung, in der hemmungslosen Propaganda gegen den jüdischen Staat, die sich zeitweise zur direkten Beteiligung am arabischen Krieg gegen Israel radikalisierte. Aber auch die antizionistische Sowjetpropaganda und die Beteiligung von NVA-Piloten an syrischen Angriffen auf Israel im Jom-Kippur-Krieg 1973 können unmöglich Marx vorgeworfen oder auf ihn zurückgeführt werden. Gleiches gilt für die notorische Unfähigkeit der Linken, eine adäquate Kritik des politischen Islam zu formulieren oder für die antiisraelischen Ausfälle von Gruppen wie beispielsweise der Antiimperialistischen Koordination, welche die Avantgarde jenes Teils der Linken darstellt, der ein Bündnis mit dem islamischen Djihadismus nicht nur propagiert, sondern bereits praktiziert. Ganz im Gegensatz zu den gegenwärtigen linken Apologeten des Islams wie beispielsweise dem Chef der deutschen Linkspartei Oskar Lafontaine, der explizit Gemeinsamkeiten zwischen linken und islamischen Vorstellungen betont49 und dafür von Islamisten Lob einstreicht50, hatte Marx hinsichtlich der vermeintlichen ‚Religion des Friedens‘ schon 1854 festgestellt: „Der Koran und die auf ihm fußende muselmanische Gesetzgebung reduzieren Geographie und Ethnographie der verschiedenen Völker auf die einfache und bequeme Zweiteilung in Gläubige und Ungläubige. Der Ungläubige ist ‚harby‘, d.h. der Feind. Der Islam ächtet die Nation der Ungläubigen und schafft einen Zustand permanenter Feindschaft zwischen Muselmanen und Ungläubigen.“51 Im selben Text hatte er sich auch der Situation der in Palästina lebenden Juden gewidmet und notiert: „Nichts gleicht aber dem Elend und den Leiden der Juden in Jerusalem; (…) sie sind unausgesetzt Gegenstand muselmanischer Unterdrückung und Unduldsamkeit.“52 In Erinnerung an solche Äußerungen darf man davon ausgehen, dass Marx für große Teile der heutigen globalen Linke nur Hohn, Spott und Verachtung übrig hätte. Es ist dies eine Linke, die sich entscheidend an der Agitation gegen den jüdischen Staat beteiligt, die Kritik am Islam als Rassismus denunziert, zusehends das offene Bündnis selbst noch mit djihadistischen Gruppen sucht und sich für die existentielle Bedrohung, die für Israel und seine Bevölkerung vom iranischen Regime ausgeht,53 bestenfalls gar nicht interessiert. Wohlgemerkt: bestenfalls. Denn große Teile der globalen Linken, von marxistischen Kleingruppen in Deutschland und Österreich bis zu den ungleich einflussreicheren neuen Helden der lateinamerikanischen Linken wie Hugo Chavez, Daniel Ortega und Evo Morales, haben sich
49 Vgl. http://www.linksfraktion.de/wortlaut.php?artikel=1556369698, 13. 2. 2006 (Zugriff: 5. 3. 2009). 50 Vgl. http://www.islamische-zeitung.de/?id=7660, 30. 8. 2006 (Zugriff: 5. 3. 2009). 51 Karl Marx, „Die Kriegserklärung – Zur Geschichte der orientalischen Frage“, MEW 10, S. 170. 52 Ebd., S. 176. 53 Vgl. Grigat, Stephan: „Die iranische Bedrohung. Über die Freunde der Mullah-Diktatur und den Existenzkampf des jüdischen Staates“, in: Der Iran – Analyse einer islamischen Diktatur und ihrer europäischen Förderer, S. 16 ff.
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STEPHAN GRIGAT
schon längst mit Leuten wie Mahmut Ahmadinejad, Ali Chamenei und Hassan Nasrallah zum Djihad gegen Israel und den Westen vereint. Sollte in der Zukunft doch noch einmal der Versuch unternommen werden, jenseits der klassenkämpferischen und etatistischen Borniertheit des traditionellen Marxismus die Kritik an Staat und Kapital dadurch geschichtsmächtig werden zu lassen, dass unzufriedene und leidende Menschen in Reflexion auf die sie knechtenden gesellschaftlichen Zwänge sich aus dem Interesse an allgemeiner Emanzipation als ein „seiner eigenen Konstitution wie Logik gemäß ins Nichts sich aufhebender antagonistischer Anti-Souverän der zum revolutionären Subjekt sich assoziierenden Individuen“54 konstituieren, um im Kommunismus die Freiheit der sich ihrer gesellschaftlichen Konstitution bewussten Individuen zu verwirklichen, so wird dieser Versuch gegen große Teile der heutigen Linken durchzusetzen sein. Will sich solch ein Versuch nicht mit jenen Teilen der Linken gemein machen, die Karl Marx zwar als Ikone vor sich her tragen, aber viel eher in der Tradition von Pierre-Joseph Proudhon und Ferdinand Lassalle stehen als in jener der Kritik der politischen Ökonomie; die von der Kritischen Theorie Theodor W. Adornos und Max Horkheimers nichts wissen wollen, aber den Khomeini-Bewunderer Michel Foucault verehren und dem Antizionisten Edward Said die Stange halten; und die einem der frühesten Kritiker des linken Antisemitismus wie Jean Améry55 bestenfalls mit Gleichgültigkeit begegneten, während sie in ihren schlimmsten Ausprägungen Stalin und Mao, Pol Pot und Idi Amin nachrannten; wenn solch ein Versuch also nicht teilhaben will an jenem Aufklärungsverrat, für den die überwiegende Mehrheit der sich als marxistisch begreifenden Linken heute steht, so wird er die Kritik am linken Antisemitismus und an der marxistischen Israelfeindschaft zu einem seiner Ausgangspunkte nehmen und ein materialistisch fundiertes Verständnis des Zionismus als Notwehrmaßnahme gegen den in einer den Verwertungsimperativen des Kapitals und den Herrschaftsimperativen des Staates gehorchenden Gesellschaft sich stets reproduzierenden Antisemitismus entwickeln müssen.
54 Joachim Bruhn, „Der Untergang der Roten Armee Fraktion. Eine Erinnerung für die Revolution“, in: Stadtguerilla und soziale Revolution. Über den bewaffneten Kampf und die Rote Armee Fraktion, hg. v. Emile Marenssin, Freiburg, 1998, S. 21. 55 Vgl. Jean Améry, „Der ehrbare Antisemitismus“, in: ders., Werke, Bd. 7, Stuttgart, 2005 (1969), S. 191.
3. Der wiedergefundene Marx, oder: der Marx der Philosophen
HANS-JOACHIM LENGER
Die Mutter aller verrückten Formen Marx, die Schrift und die Spekulation
Seitdem, was zunächst eine „internationalen Finanz- und Kreditkrise“ genannt wurde, auch die so genannte Realökonomie erfasst hat und damit Begriffe des „Realen“ ebenso wie die einer „Ökonomie“ zur Disposition stellt, Bestimmungen der Häuslichkeit des oíkos ebenso wie die des nómos eines Gesetzes; und seitdem sich diese Disposition nun schon seit Monaten im Wirtschaftsteil internationaler Tageszeitungen, in Börsenkommentaren, Expertisen und Regierungsverlautbarungen dis-poniert, im Wortsinn also auseinanderlegt oder sogar zerlegt, ohne dass ein Ende absehbar wäre, scheint eine marginale Marx’sche Formulierung irritierend genug, um bei ihr einzuhaken und sie zum Ausgangspunkt einiger Überlegungen zu machen. Sie findet sich im Dritten Band des Kapitals, in einer Parenthese, die Marx sagen lässt, „wie das zinstragende Kapital überhaupt die Mutter aller verrückten Formen ist, so daß z.B. Schulden in der Vorstellung des Bankiers als Waren erscheinen können…“1 Nun hat man das zahlende Publikum in den vergangenen Monaten mit derart „verrückten Formen“ ja hinlänglich vertraut gemacht, wohl allein schon, um es weiteren Überraschungen gegenüber abzuhärten; etwa mit jenen Praktiken einer „Verbriefung“, in der die Schuldverschreibungen amerikanischer HäusleBauer zu Paketen umgepackt, neu verschnürt und mit großem Gewinn auf so genannten Finanzmärkten verhökert wurden. Denn die verrückte „Vorstellung“ dieses postalischen Systems blieb ja keineswegs aufs so genannte Reich der Ideen beschränkt. Ebenso wenig reduziert sie sich auf eine Inszenierung, wie man sie als theatralische Vorstellung kennt. Viel eher sprengt sie alle Einfassungen und Rahmungen, und seien es die eines Bühnenraums. Wie alle Ausnahmezustände, so verdienen auch solche Eklats jedenfalls jede Aufmerksamkeit. Denn die verrückten Vorstellungen gehen mit Ent-Stellungen einher, die einen doppelten Vorzug aufweisen. Ebenso, wie sie etwas ent-stellen, eine Physiognomie etwa, die sich verzerrt, so ent-stellen sie auch, was zuvor verstellt war. Solche Ent-Stellungen ver-rücken gewissermaßen, was bestimmte Sachverhalte zuvor nicht hatte hervortreten lassen, sie rücken also beiseite und stellen eben dies zu. Und das lässt sich bei Marx dann lesen. „Gibt es etwas Verrückteres“, so notiert er im bereits erwähnten Dritten Band, „als z.B. die Bank von England 1797 bis 1817, deren Noten nur durch den Staat Kredit haben und die sich dann vom Staat, also vom Publikum, in der Form von Zinsen für Staatsanleihen, bezah1 Karl Marx, Das Kapital, Bd. III, MEW 25, S. 483.
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len lässt für die Macht, die der Staat ihr gibt, diese selben Noten aus Papier in Geld zu verwandeln und sie dann dem Staat zu leihen?“2 Es genügt zu lesen, um sich in der verrückten Welt wieder zu finden, in der man es auch heute noch auszuhalten hat, bis auf weiteres zumindest. Nicht anders nämlich verschulden sich die öffentlichen Haushalte gerade in diesen Wochen und Monaten mit unvorstellbaren Milliardenbeträgen, um jene Banksysteme zu stützen, bei denen sich dieselben öffentlichen Haushalte dann mit neuen Krediten versorgen, um jene Schulden abzubezahlen, die ihnen dabei entstanden sind, und nicht zuletzt die zuvor kreditierten Kapitalgeber mit fälligen Kreditzinsen zu versorgen. Und doch, nicht weniger irritierend als diese Verrücktheiten dürfte deshalb die Metaphorik sein, in der sich die Marx’sche Anklage vorträgt. Denn tatsächlich durchquert das Spiel von Verstellungen, Entstellungen und Zustellungen nicht nur die Verhältnisse. Es beherrscht auch die Beweisführung des Anklägers, der diese Verhältnisse vor Gericht stellt. Die Metapher der „Mutter“ etwa, aus der alle diese Verrücktheiten hervorgehen sollen, ist so wenig unschuldig wie jede andere Metapher auch, und sei es die der „Verrücktheit“. Warum also springt sie hier ein? Worin bestehen ihre Techniken, worin möglicherweise die Techniken der Metapher „im allgemeinen“? Eingeführt, um einen „eigentlichen Begriff“ durch einen „übertragenen“ zu ersetzen, versetzt oder verrückt ihn die Metapher seinerseits an einen anderen Schauplatz. Und, damit nicht genug: sie lädt ihn so mit einem Mehr-an-Bedeutung auf, lässt ihn, um einen gewissen Mehrwert bereichert, zu sich zurückkehren – ganz so wie ein semiotisches Kapital, das mit Zinsen schwanger geht, und sei es das Kapital jener „Revolution“, an die Marx seinen Text adressiert.
I. Was nämlich diesen „anderen Schauplatz“ angeht, so ruft die „Mutter aller verrückten Formen“ offenbar eine ganze Familienszene auf den Plan. Bekanntlich ist diese Szene bei Marx keineswegs singulär. Nicht nur in der Kritik der politischen Ökonomie kehrt sie in vielfachen Anspielungen wieder. „Arbeit“ beispielsweise, so klingt es noch in seiner Kritik des Gothaer Programms nach, „ist nicht die einzige Quelle der von ihr produzierten Gebrauchswerte, des stofflichen Reichtums. Die Arbeit ist sein Vater, wie William Petty sagt, und die Erde seine Mutter.“3 Dies, so will es scheinen, soll den unhintergehbaren Ausgangspunkt jeder weiteren Überlegung umreißen. Nützliche Arbeit, so weiß es die marxistische Klippschule seither, wird – einer historisch-überhistorischen Bestimmung gleich – in jeder gesellschaftlichen Ordnung geleistet. Die genealogische Allianz von Arbeit und Erde, so einer ihrer Lehrsätze, charakterisiert jede Ökonomie, schreibt der Ökonomie „im allgemeinen“ das Gesetz vor. In sich selbst regulär, garantiert dieses Gesetz nicht nur die Regularität von Hervorbringungen, die nützliche Arbeit am Naturstoff zu Ge2 Ebd., S. 557 f. 3 Karl Marx, Das Kapital, Bd.I, MEW 23, S. 58.
DIE MUTTER ALLER VERRÜCKTEN FORMEN
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brauchswerten amalgamiert. Mehr noch: die familiale Genealogie des Vaters verbürgt, in „ökologischer Absicht“ gleichsam, eine Traditionslinie der Geschlechter, die den Gesellschaften das Eigentum an der Erde apodiktisch entzieht, um diese Erde in verbessertem Zustand den Nachfahren vererben zu können: „Selbst eine ganze Gesellschaft“, schreibt Marx, „eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.“4 Und doch, umso weniger haben es patrilineare Bindungen dieser Art nur mit rechtmäßigen Abkömmlingen oder Söhnen zu tun. In diesen Familienszenen geht es drunter und drüber, gibt es Verrückungen und Verrücktheiten, die alle Normalitäten und Gewohnheiten durchkreuzen. Gewisse Verwirrungen vorausgesetzt, tauchen dann Sprösslinge auf, die aus der Art schlagen, unrechtmäßige Bastarde oder Missgeburten, die das genealogische Ordo des Vaters im Innersten bedrohen. Es handelt sich um Nachkommen, die sich ihrem angestammten Platz entziehen, diesem Platz entrücken und dann als „verrückte Formen“ im Wortsinn eine furchtbare Monstrosität an den Tag legen. All dies zeigt die Marxsche Kritik denn auch unwiderlegbar – und wer wollte es leugnen, wo für einen Banker Schulden zu Waren werden, die sich sogar mit Gewinn verkaufen lassen? Wer immer jedenfalls in dieser verrückten Welt zu lesen, zu verstehen und zu agieren sucht, sieht sich unversehens in eine Wüste der Ökonomie und des Sinns verschlagen. Woraus nun entspringt die tief greifende Störung, woraus die Verrücktheit, die sich im zinstragenden Kapital abzeichnet? Jeder Kredit, so wird sich vorläufig sagen lassen, spielt im Medium der Zeit. Er besteht im Credo eines Glaubensbekenntnisses, das sich auf Zäsuren einer Antizipation und insofern eines Aufschubs stützt. Vorweggenommen wird, was später, zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, als Schuld zu erstatten sein wird, die sich folglich als Kredit adressiert oder als Schuldverschreibung verbrieft. So jedenfalls das Credo des Kredits. Ein postalisches System, das über der Zustellung wacht, steht für dieses Glaubensbekenntnis ein. Es lässt Rechte und Ansprüche zirkulieren, indem es sie in verbriefte Ansprüche verwandelt. Sie sind neben dem Adressaten mit einem Zeitindex versehen, der ihre Zustellfristen terminiert. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Briefe ihren Bestimmungsort erreichen, um sich als das zu bewähren, was sie sind: Briefe einer Schuld – adressiert mit jener Lacanscher Präzision einer symbolischen Ordnung, die sich an ihrem Ort, zu ihrer Zeit zustellt. Doch zugleich ist das alles andere als selbstverständlich. Das sýmbolon dieser Ordnung, das sich zum Kontrakt der Gastmarke fügte, so lernten wir von HansDieter Bahr, wird des Risses nämlich nicht ohne weiteres inne, der die Bruchstücke dieses sýmbolon spaltete. Indem er im Moment seiner Zusammenfügung als Wiederholung dieses Spalts hervortritt, macht sich im sýmbolon denn auch ein Gemurmel vernehmbar, das wie aus einem „Jenseits“ hervortritt: unentscheidbar, wie Hans-Dieter Bahr sagt, weil „hin- und hergerissen vom Verdacht, der Gast, der 4 Karl Marx, Das Kapital, Bd. III, MEW 25, S. 784.
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diesen Rissen auftaucht, werde sich als göttlich ‚symbolischer‘ oder ‚diabolischer‘ Traum-Bote erweisen.“5 Solche Traum-Boten jedenfalls tauchen postalisch aus Virtualitäten auf, die einem ungeheuerlichen Verdacht ausgesetzt sind. Sie könnten sich als unbeherrschbar erweisen. Schuldbriefe, so wurde uns erst neuerdings von den zuständigen Fachleuten eröffnet, die das wussten und deshalb auch machten, lassen sich nämlich jederzeit selbst verbriefen. Sie lassen sich tranchieren, klonen, streuen, ohne dass noch ein Adressat zur Verantwortung zu ziehen wäre, der für Schuld und Schulden aufkäme. In Waren oder „Finanzprodukte“ verwandelt, die immer neue Märkte und „Finanzprodukte“ hervorbringen, vervielfachen sie sich dann ins Unabsehbare. Sie mutieren zu Kettenbriefen und treten Irrfahrten an, die das oiko-semiotische Ordo im Innersten bedrohen. Sie machen den Adressaten ebenso unkenntlich, wie sie die Zustellfristen der Schuld durcheinander bringen. Den Schriften scheint insofern eine Virtualität innezuwohnen, die nicht kalkulierbar ist. Überall, so diagnostiziert es Platon, der erste Analytiker dieser Kredit- und Finanzkrise, schweifen sie umher, ohne zu wissen, zu wem sie reden sollen und zu wem nicht. Umso strenger muss das postalische Reglement sein, um die Schriftsysteme transparent und kontrollierbar zu halten. Nur so lässt sich der Zerstreuung des lógos, den atemberaubenden Entwertungen und verrückten Finanzkrisen, die hier drohen, zuvorkommen. Nur so lassen sich die Terminierungen der Zeit sicherstellen, in denen sich „Zukunft“ als kalkulierbares Termingeschäft projektieren und verfügen will. Im Bruch einer Order, die sich im symbolischen Universum der Schuld und ihrer Begleichung, ihres Fälligkeitsdatums verfügen wollte, könnte sich dagegen eine Zeitlichkeit, eine Räumlichkeit anmelden wollen, derer das väterliche Symbol nicht mächtig wird. Weshalb sie sich vorläufig oder bis auf weiteres auch nur den Verrücktheiten einer Mütterlichkeit zuschreiben lässt, die es sorgsam aus den Ordnungen von Zeit und Zeichen auszuschließen gilt. Es genügt, ein Beispiel aus den Annalen dieser Postalik herauszugreifen, um zu wissen, worum es sich handelt. Im November 1837 schreibt der angehende Doktor der Jurisprudenz Karl Heinrich Marx einen Brief an den Vater, der vieles in einem ist: Rechenschaftslegung, Rechtfertigung ebenso wie Liebesbeweis, Erstattung einer Schuld wie inständige Bitte darum, im Zeichen dieser Schuld und ihrer Begleichung als rechtmäßiger Sohn anerkannt zu werden. Immerhin berichtet er von nicht weniger als seinen studentischen Irrungen und Wirrungen, die ihn auf Abwege geraten ließen. Die Mutter muss von all dem ja nichts wissen, wie der Autor des Briefes dem Vater nahe legt, weshalb er ihn auch bittet, ihr nicht alle Seiten seiner Letter zu zeigen. Keineswegs will er die Mutter nämlich in Unruhe versetzt wissen; alles bleibt zwischen Vater und Sohn auszuhandeln. Und ganz so, als sei selbst seine abschließende Versicherung noch nicht hinreichend, in der er seinem Wunsch Ausdruck verleiht, „dass ich selbst Dich an mein Herz pressen und mich ganz aussprechen kann“,6 ergänzt Marx sein Schreiben sodann um ein Postskriptum: „Verzeihe, teurer Vater, die unleserliche Schrift und den schlechten Stil; es ist beinahe 5 Hans-Dieter Bahr, Die Sprache des Gastes. Eine Metaethik, Leipzig, 1994, S. 235. 6 Karl Marx, Brief an den Vater, MEW Ergänzungsband 1, S. 11.
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4 Uhr, die Kerze ist gänzlich abgebrannt und die Augen trüb; eine wahre Unruhe hat sich meiner bemeistert, ich werde nicht eher die aufgeregten Gespenster besänftigen können, bis ich in Eurer lieben Nähe bin.“7 Ich habe mich oft gefragt, warum dieser Brief bei Jacques Derrida in Marx’ Gespenster keine Aufnahme gefunden hat. Versammelt er doch alles, wovon in Derridas Studie die Rede ist: den abwesenden Vater nicht anders als die Gespenster, die sein Name umgehen lässt; eine nächtliche Schreibszene nicht anders als die Unleserlichkeit der Schrift und den schlechten Stil, der den Duktus des Gedankens furcht; die Unruhe der Mutter, die es zu vermeiden gilt, und die eigene, selbst mütterlich anmutende des angehenden Doktors, der sie umso weniger unterdrücken kann und deshalb an jene Unmöglichkeit einer väterlichen Nähe adressiert, die allein die Gespenster wenn nicht vertreiben, so doch wenigstens besänftigen könnte. Was nämlich hieße es, sich „ganz auszusprechen“? Was erlaubt der väterlichen Nähe, die aufgeregten Gespenster zu besänftigen? Welche einzigartige Präsenz könnte sie gewähren, um den Schreibenden – an der Mutter vorbei, weil ihren unruhigen Platz einnehmend – von der Unruhe zu befreien, die ihn bemeistert? Keineswegs wird man sich damit zufrieden geben können, hier so etwas wie eine Psychoanalyse des künftigen Gelehrten Dr. Marx in Gang zu setzen. Denn tatsächlich öffnet der Brief des jungen Studenten die Akten eines Prozesses, der älter ist als die Kritik der politischen Ökonomie; älter auch als die Ökonomien und Topiken, in denen Freud die Ordnungen des Unbewussten aufzeichnen wird. Umgekehrt werden Marx wie Freud in diesem Prozess vielmehr selbst ihren Auftritt gehabt haben. Die Schreibszene nämlich, in der Marx die Nähe des abwesenden Vaters beschwört, versetzt mitten in eine Ordnung, durch die hindurch der okzidentale lógos seiner selbst inne zu werden sucht. Bekanntlich handelt es sich um jene Szene, in der Platon auf den „Vater des lógos“ zu sprechen kommt, mit dem in Korrespondenz steht, wer das Wort ergreift, und in der folglich die Maxime ausgegeben werden wird, sich der Schriften umso kalkulierter zu enthalten. Denn wie mit der Malerei, so verhält es sich auch mit ihnen: „Du könntest glauben“, so die berühmte Stelle im Phaidros, „sie sprächen, als verständen sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so bezeichnen sie doch nur stets ein und dasselbe. Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht. Und wird sie beleidigt oder unverdienterweise beschimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters Hilfe; denn selbst ist sie weder sich zu schützen noch zu helfen imstande.“8 Bekanntlich hat Jacques Derrida dieser familialen Struktur eine eingehende Untersuchung gewidmet, indem er Platons Pharmazie öffnete.9 Die hält, wie man seither weiß, allerhand Hilfsmittel und Artefakte vorrätig, derer sich der lógos versichert, um lógos sein und sich durch die Schriften hindurch ganz aussprechen zu können. Allerdings muss diese 7 Ebd., S. 11 f. 8 Platon, Phaidros, 275 d-e, Sämtliche Werke Band IV, Hamburg, 1983, S. 56. 9 Vgl. Jacques Derrida, „Platons Pharmazie“, in: ders., Dissemination, Wien, 1989, S. 69 ff.
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Pharmazie dabei die ebenso hilfreichen wie gefährlichen Techniken eines phármakon, einer Arznei wie eines Giftes, verordnen und insofern die Unentscheidbarkeit selbst ins Spiel bringen. Und zweifellos wäre, um die Techniken und unentscheidbaren Wirkungen dieses phármakon eingehender in Augenschein zu nehmen, sehr viel mehr nötig als ein kurzer Rekurs auf Derrida, wie er hier möglich ist; zumal er sich im vorliegenden Zusammenhang ja – durch die platonischen Pharmazie hindurch – einer Inventur der Marx’schen zuzuwenden sucht.
II An dieser Stelle muss deshalb die Erinnerung daran genügen, wie tief die Strukturen des platonischen lógos in Anordnungen einer familialen Genealogie eingelassen sind. „Der lógos“, so schreibt Derrida, denn so entnimmt er es dem platonischen Text, „ist ein Sohn, also, und einer, der ohne die Gegenwart, ohne den gegenwärtigen Beistand seines Vaters zugrunde ginge. Seines Vaters, welcher (ver-)antwortet. Der für ihn antwortet und für ihn die Verantwortung übernimmt, für ihn bürgt. Ohne seinen Vater ist er freilich nichts mehr als eine Schrift.“10 Und damit einer „verrückten Form“ zum Verwechseln ähnlich, die einer gewissen Mütterlichkeit entspringt. In jedem Fall sind die Prozessakten des Familiengerichts damit geöffnet. Wer nämlich spricht? Wer antwortet? Wer übernimmt die Verantwortung für die umlaufenden Schriftzeichen, wer steht für sie ein, wer bürgt für sie? An wen müssen sie adressiert werden, um verantwortliche Schriftzeichen zu sein, welche Nähe müssen sie aufsuchen, um Gewähr zu bieten, das Schuldige zu erstatten und sich ganz aussprechen zu können? Oder, anders gefragt: wer überwacht die Bahnungen einer Postalik, ohne die das Credo eines Kredits platzen und in die Verrücktheiten einer irregulär gewordenen Matrix abstürzen müsste? Die Schrift nämlich, so will es der platonische Gestus, indiziert allemal die Abwesenheit des Vaters. Derrida verweist auf eine ganze Reihe von Modalitäten, in denen sich diese Abwesenheit zuspielen kann. Man kann vom Vater getrennt sein; man kann ihn verloren haben aufgrund eines natürlichen oder gewaltsamen Todes; nicht zuletzt aber kann er Opfer eines Vatermords geworden sein. Und tatsächlich wird sich die platonische Anklage auf diesen Punkt zusammenziehen. Indem die Schrift den abwesenden Vater substituiert, bejaht und affirmiert sie bereits dessen Abwesenheit. Stets bewegt sie sich deshalb an der Schwelle oder in der Nähe des Vater-Mords, den sie in Szene setzt, indem sie Schrift ist. Und darin besteht nicht nur die Gefahr, mit der sie den lógos bedroht. Darin zeichnet sich ebenso vor, worin der verantwortliche, lebendige lógos bestehen müsste: „Der lebendige lógos,“ so Derrida, denn so entnimmt er es der Gebrauchsanleitung der platonischen Pharmazie, „er erkennt seine Schuld an, lebt von dieser Anerkennung und verbietet sich den Vatermord, hält sich für fähig, sich diesen zu verbieten.“11 10 Ebd., S.85. 11 Ebd., S. 86.
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In gewisser Weise sind Anerkennung und Schuld vom Vater also nicht zu trennen. Und nicht zufällig erinnert Derrida daran, dass das griechische tókos – die Hervorbringung oder das Hervorgebrachte, die Geburt und das Kind, die menschliche oder tierische Leibesfrucht – ebenso auch die Zinsen oder den Gewinn eines Kapitals bezeichnet. Jeder seiner Abkömmlinge entspricht einem Einkommen, das dem Vater von Rechts wegen zusteht. In ihnen schreibt sich eine Rückkehr zum Ursprung vor, die einer Aneignung oder Wiederaneignung und damit einem Einkommen oder Gewinn entspricht. Deshalb können sich um den Platz des Vaters auch alle Bestimmungen gruppieren, die den lógos als Wort und als Sammlung auszeichnen werden. Er lebt von der Anerkennung einer Schuld, die sich verbriefte und deshalb auf ihren Ursprung zurückkommt, um sich der Hilfe und des Beistands ihres Vaters zu versichern, sich ganz aussprechen und so die Schuld zu begleichen. Womit aber, zweitens, ebenso festgestellt wäre, dass der lógos keineswegs der Vater „ist“. In dessen Nähe situiert, hält er gleichwohl irreduziblen Abstand zu ihm ein. „Das Gute“, so resümiert Derrida, „(der Vater, die Sonne, das Kapital) ist also die verborgene, illuminierende und blendende Quelle des lógos.“12 Nicht schon im lógos also ist das Gesetz zu entziffern, sondern in dem, was im lógos ebenso sichtbar wie unsichtbar bleibt, indem es ihn seinerseits blendet. Den lógos zeichnet lediglich die Nähe aus, die er zu dieser Quelle unterhält, ohne deshalb mit ihr eins zu sein. Selbst ist er nur eine Art Abglanz, Hilfsmittel und insofern seinerseits phármakon. Darin allerdings erweist er sich zugleich als Einfallstor der Schrift, nimmt er an diesem Punkt selbst Züge einer Schrift an. Die „andere Rede“, jene des lógos nämlich, von der Platon sagt, sie sei die „ebenbürtige Schwester“ der ersten, erscheint nur insofern als besser und kräftiger, als sie „mit Einsicht geschrieben wird in des Lernenden Seele, wohl imstande, sich selbst zu helfen, und wohl wissend zu reden und zu schweigen, gegen wen sie beides soll.“13 Und folgerichtig stimmt Sokrates dem Phaidros zu, als dieser zusammenfasst: „Du meinst die lebende und beseelte Rede des wahrhaft Wissenden, von der man die geschriebene mit Recht wie ein Schattenbild ansehen könnte.“14 Das Original und sein Schatten also; wobei das Original selbst nur eine Art Schatten ist. Insofern hätte man es schon nicht mehr, wie Derrida resümiert, mit einer Opposition von gesprochener und geschriebener Rede, von phoné und grámma zu tun. Wo sich die lebendige Rede mit Einsicht in die Seele einschreibt, ist Platon vielmehr erstmals genötigt, „eine andere Art von Schrift ins Auge zu fassen: nicht nur als eine wissende, lebendige und beseelte Rede, sondern als eine Einschreibung der Wahrheit in der Seele.“15 Zweierlei Schrift also: der Abgrund, der sich zunächst an der verantwortlichen mündlichen Rede einerseits, der verantwortungslosen, toten, verderblichen und vatermörderischen Schrift andererseits aufge12 13 14 15
Ebd., S. 92. Platon, Phaidros, 276a, S. 56. Ebd. Jacques Derrida, „Platons Pharmazie“, S. 167.
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tan hatte, öffnet sich nunmehr im Innern des grámma. Das gesprochene Wort selbst ist eine Inschrift. Um der Bedrohungen Herr zu werden, die daraus entstehen, wird die Pharmazie freilich umso sorgfältiger sortiert werden müssen. Welche Schrift nämlich, welche Wahrheit und welche Seele? Marx jedenfalls weiß, nicht anders als Platon, um die Gefahren, die dem lógos aus Schriften entstehen, die sich von ihrer lebendigen Quelle abgekoppelt haben. Was er den „Fetisch“ nennt, besteht in der gespenstischen Art und Weise, in der die Warenwelt mit eigenem Leben begabt zu sein scheint. Und wenn das Zinskapital die „Mutter aller verrückten Formen“ ist, so erklärt Marx, dann weil in ihm die Vorstellung vom Kapitalfetisch vollendet ist. Als Geld fixiert, erscheint es als Kraft, durch eine „eingeborne geheime Qualität, als reiner Automat“ Mehrwert zu erzeugen. Jeglicher Kontrolle entzogen, muss diesem Kapital deshalb umso gebieterischer das Gesetz des abwesenden, wiederkehrenden oder sich wiederholenden Vaters in Erinnerung gerufen werden: „Das Produkt vergangner Arbeit“, so macht Marx, der Ankläger, geltend, „die vergangne Arbeit selbst, ist hier an und für sich geschwängert mit einem Stück gegenwärtiger oder zukünftiger lebendiger Mehrarbeit. Man weiß dagegen, dass in der Tat die Erhaltung, und insoweit auch die Reproduktion des Werts der Produkte vergangner Arbeit nur das Resultat ihres Kontakts mit der lebendigen Arbeit ist…“16 Der Prozess, der über den platonischen Pharmazien eröffnet wurde, tritt damit in ein neues Stadium. Ohne Kontakt mit der lebendigen Arbeit, ohne von ihr geschwängert zu werden, sei’s in der Vergangenheit, sei’s in Zukunft, sind die umlaufenden Werte nur tote Schrift, Schatten eines Schattens, Simulakren eines verrückt gewordenen Automaten. Ohne sich an den Vater zu adressieren, der sie hervorbrachte, ohne auf ihn zurückzukommen, ohne Kontakt mit ihm, ohne von ihm immer neu geschwängert zu werden, bleiben die Schuldverschreibungen monströse Gespenster. Sie irren umher, ohne zu wissen, an wen sie sich wenden sollen. Gegenwärtig oder zukünftig, jetzt oder später, immer neu oder in Skansionen einer Wiederholung bleiben sie auf die Hilfe oder den Beistand einer Instanz angewiesen, der sie ihre Herkunft verdanken und schulden. Nicht anders als die „lebendige Rede“ in der platonischen Schriftökonomie wird die politische Pharmazie des Dr. Marx so um die gebieterische Instanz einer „lebendigen Arbeit“ angeordnet. Wo beispielsweise Geldkapital vorgeschossen wird, so erinnert uns Marx, der Ankläger, da existiert es keineswegs schon „als verwertetes oder mit Mehrwert geschwängertes Kapital, als Kapitalverhältnis.“17 Ohne Intermissionen einer phallischen Instanz kommt dieses Verhältnis also nicht aus. Überall hält die pharmazeutische Kunst zu einer kalkulierten Verausgabung des väterlichen Samens an. Ein spermatologisches Kalkül der Fruchtbarkeit, ließe sich sagen, das dem Regime eines sich vermehrenden und deshalb zirkulierenden Werts untersteht; tatsächlich verhält es schon die platonische Engführung von Schrift und Samen, wie Derrida schreibt, zur „Bevorzugung einer Schrift gegenüber einer anderen, einer fruchtbaren Spur gegenüber 16 Karl Marx, Das Kapital, Bd. III, MEW 25, S. 412. 17 Karl Marx, Das Kapital, Bd.II, MEW 24, S. 92.
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einer sterilen Spur, eines zeugungsfähigen, weil im Drinnen abgelegten Samens gegenüber einem im Draußen in reinem Verlust: im Risiko der Dissemination, vergeudeten Samen.“18 Die fruchtbare Spur nämlich verbleibt im Drinnen, was immer bedeutet, die zirkuläre Bewegung einer Wiederaneignung zu vollziehen. So sehr sie sich dem Draußen exponiert, so sehr muss sie davor geschützt bleiben, sich an dieses Draußen zu verlieren. Der Same muss Bahnen einhalten, die der lógos ihm anweist. Er ist also fruchtbar nur insofern, als sich der lógos seiner bemächtigt hat; und dies ruft nunmehr einen Dissens auf. „Der Samen“, schreibt Derrida, „muss sich also dem lógos unterwerfen. Und sich somit Gewalt antun, denn das natürliche Bestreben des Spermas widersetzt sich dem Gesetz des lógos…“19 Deshalb scheint sich hier auch widerrufen zu wollen, was den lógos zuvor als Figur einer Nähe zum Vater bestimmt hatte. Nunmehr tritt dieser lógos selbst ein Regime an, das den Platz des Vaters aus einem spermatologischen Kalkül der Fruchtbarkeit erst hervorgehen lässt. Der Zerstreuung, dieser Gefahr eines äußersten, nicht ökonomisierbaren Außen, muss bereits im Innen mit Gewalt begegnet worden sein. Das „lebendige Wort“ des platonischen Vaters wie auch die „lebendige Arbeit“ bei Marx sind gleichermaßen Resultat einer Unterwerfung, die der Dissemination des Semens Herr werden soll. Der Samen, das Semen nämlich „ist“ die Zerstreuung. Und insofern sie unterdrückt wird, errichtet sich das väterliche Gesetz auf einem Vergessen, das tiefer reicht als alles, was sich im Bann väterlicher Zeugungskraft in Erinnerung rufen, vom spermatologischen Kalkül als Gewinn aneignen ließe. Innen und Außen erweisen sich insofern als unentscheidbar miteinander verkreuzt; und um das niederschreiben zu können, muss Marx nicht anders als Platon den reinen Verlust, das äußerste Risiko einer Dissemination immer schon ins Spiel gebracht haben. Was sich schlagend in der Überproduktionskrise manifestiert, in der Antwort und Verantwortung ausbleiben; wie Marx, der Ankläger, geltend macht, ereignet sie sich als „die plötzliche Erinnerung aller dieser notwendigen Momente der auf das Kapital gegründeten Produktion: daher allgemeine Entwertung infolge des Vergessens derselben.“20 Eine Erinnerung, die das Außen einer nicht-ökonomisierbare Schrift also im Innern der väterlichen Instanz virulent werden lässt, um diese Instanz selbst zu entwerten: das Kapital also, die blendende Sonne, die Quelle des lógos. Sie erfasst nicht nur die umlaufenden Schriftzeichen, sondern das gesamte Gefüge, das sie emittierte. Deshalb kann sich diese Anamnese auch nicht in den Binnenbezirken einer väterlichen Ökonomie zutragen, die für das Credo kursierender Werte einzustehen versprach. Indem Dr. Marx in Erinnerung ruft, was sich in der auf das Kapital gegründete Produktion fundamental vergaß, um sich in der Schrift zuzustellen, führt er das grámma also wie ein gefährliches phármakon ein. Nicht etwa spielt diese Adresse nur mit dem Vatermord; sie führt ihn aus. Die Erinnerung und das 18 Jacques Derrida, „Platons Pharmazie“, S. 168. – vgl. Platon, Phaidros, 276b f., S. 56 f. 19 Jacques Derrida, „Platons Pharmazie“, S. 173. 20 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW 42, S. 329.
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Vergessen, die Anamnese und der plötzliche Schlag einer Entwertung, in dem sie sich ereignet: man weiß um den strategischen Wert, den diese Frage schon in den Rezepturen der platonischen Pharmazie besaß. Gewichtige Probleme hatten sich hier aufgedrängt: wird das phármakon der Schrift die Erinnerung etwa möglich machen? Wird sie die Seelen der Lebenden nicht vielmehr Vergessen eingeben, indem sie die Innerlichkeit des Sich-selbst-Erinnerns in der Äußerlichkeit der Schrift verausgabt und jedes Kapital heillos zerstreut? Marx jedenfalls bedient sich der Schrift wie eines Gifts, um in Implosionen einer Entwertung daran zu erinnern, dass es mit dem Kapital nichts ist. Niemand weiß besser als er, wie sehr die Krise Exzessen einer Erinnerung gehorcht, die sich selbst in uneinlösbaren Schuldverschreibungen verliert und einem reinen Verlust gleichkommt. Erst so aber wird das Kapital seiner selbst inne, er-innert es sich im Wortsinn; um den Preis indes, einer schlagartigen Entwertung ausgesetzt zu werden, die es seinerseits annihiliert.
III Wovon spricht diese Adresse an den Vater deshalb, wenn nicht davon, dass es mit ihm nichts ist? Dass er sich den Platz des Vaters widerrechtlich angeeignet hatte, um ihn für ein trügerisches Spiel zu missbrauchen? Dass die Simulakren seiner Fruchtbarkeit nur aus einer Usurpation hervorgegangen waren? Und hatte nicht schon die Monstrosität der verrückten Formen auf tief greifende Störungen der patrilinearen Genealogie erwiesen, die dies anzeigten? Blendend traten sie schon dort in Erscheinung, wo der „Wert“ die Gestalt des Geldkapitals annimmt. Es unterscheidet sich, wie Marx weiß, „als ursprünglicher Wert von sich selbst als Mehrwert, als Gott Vater von sich selbst als Gott Sohn, und beide sind vom selben Alter und bilden in der Tat nur eine Person, denn […] sobald der Sohn und durch den Sohn der Vater erzeugt, verschwindet ihr Unterschied wieder und sind beide Eins…“21. Phantasmatische Junggesellenschöpfung, ist dieser Widersinn den verrückten Formen allerdings zum Verwechseln ähnlich, wie sie der mütterliche Automat freisetzt. Umso weniger kann deshalb auf phallische Intermissionen gesetzt werden. Tatsächlich gibt es sie nur unter Bedingungen des Kapitalverhältnisses, in Ordnungen einer Spermatologie dieses Verhältnisses, eines lógos also, der sich des Semens bemächtigte und dessen Dissemination gewaltsam still stellen sollte. Die „Arbeit“ jedenfalls, die aus dieser Usurpation hervorgeht und dem zirkulierenden Wert ein „Mehr“ injiziert, ist insofern kein Erstes. Was sich auf Schritt und Tritt bestätigt, wo Marx diese „Arbeit“ begrifflich zu fassen sucht. Denn wie steht es um die Sinnlichkeit, die Gegenständlichkeit und Wirklichkeit, an die er appelliert, um von dieser „Arbeit“ sprechen zu können? Diese „Gegenständlichkeit“, mit denen die „Arbeit“ den Phantasmagorien, den Perversionen und Verrücktheiten Paroli bieten soll, schreibt jedenfalls nicht als einfache Gegebenheit, vielmehr immer neu als 21 Karl Marx, Das Kapital, Bd.I, MEW 23, S. 169 f.
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Einschnitt einer Differenz: „Denn sobald es Gegenstände außer mir gibt“, heißt es bereits in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten, „sobald ich nicht allein bin, bin ich ein andres, eine andre Wirklichkeit als der Gegenstand außer mir. Für diesen 3ten Gegenstand bin ich also eine andre Wirklichkeit als er, d.h. sein Gegenstand. Ein Wesen, welches nicht Gegenstand eines andren Wesens ist, unterstellt also, dass kein gegenständliches Wesen existiert.“22 Um mich gegenständlich zu mir und anderen verhalten zu können, muss sich also ein drittes „Wesen“ bereits zu mir verhalten haben. „Gegenständlichkeit“ kommt mir, immer unzeitgemäß, von einem anderen zu, wird zugestellt, um mich als gegenständlich zuallererst empfangen zu lassen. Der Gegenstand spielt sich aus Differenzen zu, die ihrerseits eine ihr vorgängige Differenz wiederholen. Ganz so wie in einer sich beständig entziehenden, weil differierenden „Matrix“, ließe sich vielleicht hinzusetzen: um eine winzige, aber alles entscheidende Nuance in sich verschoben, einer patrilinearen Logik entzogen, scheint sich die Frage nach einer bestimmten „Mütterlichkeit“ zu wiederholen. Die Gegenständlichkeit der Arbeit nämlich empfängt sich ihrerseits, stellt sich zu. Indem sie das Sinnliche wie das Intelligible eröffnet, hat sie sich als Spur aus beiden zugleich zurückgezogen, um den Endlichen ihre Endlichkeit zu eröffnen. Und darin ließe sich ein Begriff des Singulären entziffern, den die Tradition in Begriffen eines „Materialismus“ beständig suchte. Denn, wie Elisabeth Weber sagt: „Die Verwerfung der Endlichkeit (eine Verwerfung, die sich in einer Mythifizierung des Todes ausdrücken kann) verneint die Differenz, die jedes mit Sprache begabte Wesen durchquert: eine infinitesimale und unendliche Öffnung und Alteration. Die Verfolgung, diese absolute Negierung des anderen und der nicht identfizierbaren Differenz, ist untrennbar von der Verneinung der Andersheit im Herzen des ‚Selben‘, einer Andersheit, deren Spuren schlechthin die Sterblichkeit und die geschlechtliche Differenz sind.“23 Genau besehen, könnte deshalb die Rede von einem „dritten Wesen“ oder einem „dritten Geschlecht“, das Platon zu bedenken scheint, selbst noch zu weitgehende Zugeständnisse machen. Dem Sinnlichen ebenso vorausgehend wie dem Intelligiblen, kann dieses „Wesen“ nämlich weder einfach dem einen oder anderen zugerechnet werden; und dies macht den Begriff dieses „Wesens“ in sich selbst noch fragwürdig. Viel eher müsste es als Einschnitt gedacht werden, über den keine Wesenslogik Macht hat. Weshalb Derrida schreiben kann, das phármakon sei „die vorgängige Mitte, in der sich die Differenzierung im allgemeinen und die Opposition zwischen dem eidos und seinem anderen vollzieht; diese Mitte ist analog zu der, die später, nach der philosophischen Entscheidung und ihr gemäß, der transzendentalen Einbildungskraft vorbehalten sein wird, dieser ‚verborgenen Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele‘, die weder einfach dem Sinnlichen noch dem Übersinnlichen angehört, weder der Passivität noch der Aktivität.“24
22 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, MEW 40, S. 578 f. 23 Elisabeth Weber, Verfolgung und Trauma, Wien, 1990, S. 211. 24 Jacques Derrida, „Platons Pharmazie“, S. 141 f.
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Welchen Wert also sollte der Topos der „Arbeit“ in diesen Oiko-Semiosen annehmen können, die diesen Oppositionen von Aktivität und Passivität entgehen? Wie könnte die Entwertung der Phallogo-Zentrismen vor einem Wert halt machen, der sich im Grund seiner selbst unablässig teilt und zerstreut? Und bliebe noch von Pettys Diktum, das Marx nicht müde wird, immer neu zu zitieren: die Arbeit sei der Vater, die Erde die Mutter des Reichtums? Jeder Platz, der einem kommenden Vater zugewiesen wäre, erweist sich hier von einem anderen bereits geschnitten, indem er ihn geteilt hat, in ihm differiert und sich wiederholt. Die „vorgängige Mitte“, von der Derrida spricht, in der sich die „Differenzierung im allgemeinen“ vollzieht, schreibt sich dieser Zuteilung lediglich als Verfehlung ein, um sie an einen anderen Platz zu verweisen, noch bevor sie sesshaft werden könnte. Weshalb Christoph Tholen bemerken kann: „Dieses Gesetz des Platzverweises ‚widerlegt‘ die Unterstellung einer wie immer theologisch verbürgten absoluten Vaterschaft von Gesetzen. Gott als Platzhalter zu fingieren, der den Mangel nicht kennt, sondern für dessen eschatologische Beseitigung einsteht und der im ontotheologischen Diskurs unter dem Namen des Vaters angerufen wird, ist notwendig imaginär-abschließende Verkennung, d.h. Abdankung der Frage nach dem Gesetz.“ Woraus folgt, „dass jeder politische oder theologische Messianismus der phantasmatischen Funktion gehorcht, das unabschließbare Loch der Wiederholung – den Verlust als ein Mehr an und als Lust – zu stopfen.“25 Und ist es nicht diese Mehrlust eines Verlusts, die den vatermörderischen Ankläger Marx an den Vater wird schreiben lassen? Tatsächlich, nie war bei ihm von anderem die Rede, als er seinen Brief nach Trier aufsetzte. Die Unruhe der Mutter umgehend, wird seine Schrift von dieser Unruhe immer schon durchquert. Im übrigen fehlte die Mutter, woran Derrida erinnert, bereits in der platonischen Familienszene nur scheinbar: „Wenn man richtig nach ihr sucht – wie etwa in jenen Suchbildrätseln – , so wird man vielleicht ihre unstete Gestalt, verkehrt herum gezeichnet, im Laubwerk erkennen können, in der Tiefe eines Gartens, eis Adonidos kepous. In den Gärten des Adonis.“26 – Einst nämlich hatte Aphrodite die Königstochter Myrrha mit Liebe zu ihrem Vater Cinyras gestraft. Die Tochter schlich sich, nachdem ihre Amme den Vater betrunken gemacht hatte, in dessen Schlafgemach und wurde von ihm schwanger. Als ihr Vater entdeckte, wer seine Geliebte gewesen war, zog er das Schwert gegen sie. In diesem Augenblick verwandelte Aphrodite sie in einen Myrrhenbaum, und als das väterliche Schwert fiel, entsprang dem Spalt, den es hinterließ, Adonis. Sofort verfiel Aphrodite dessen Schönheit, doch auch Persephone erhob Ansprüche auf den schönen Jüngling. Sie hinterbrachte Ares, dem Kriegsgott, dass Aphrodite ihn mit einem Sterblichen betrog, der zudem weibisch sei. Der, rasend vor Eifersucht, tötete den jagenden Adonis in Gestalt eines Ebers. Aus dem Blut des Gemordeten
25 Georg Christoph Tholen, „Vom Gesetz des Symbolischen“, in: Übertragung und Gesetz, hg. v. Armin Adam, Martin Stingelin, Berlin, 1995, S. 254. 26 Jacques Derrida, „Platons Pharmazie“, S. 161.
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ließ Aphrodite die Anemonen wachsen.27 Adonis, diese verrückte Form unfruchtbarer väterlicher Verausgabung, den Weichling mit verschwenderischem Samen, den Bastard und unreifen Abgott der Frauen, dieses obszönen Gegenbild der Ehe ehren die Frauen seither in den Adonis-Gärten, in die sich der platonische Dialektiker nur des unernsten Spiels wegen verirren darf. Welche Zeitlichkeit also dürfte sich hier anmelden? Welche Temporalisierung unterbricht jene Logik des Kredits, der Ökonomie von Schuldverschreibungen und ihrer Gewalten einer Adressierung? Und welche Gespenster sind es, die den angehenden Doktor deshalb quälen? Lassen sie sich beim Namen nennen? Wie anders könnte die Unruhe, die ihn bemeistert, sich ganz aussprechen, ganz zu Wort kommen? Und wie die Schuld beglichen werden, die sich in all den Texten verbriefte, welche geschrieben wurden, wie könnten die Schulden abgetragen werden, die sich ins Gespenstische akkumulierten, indem sie sich verbrieften? Und doch oder umso mehr: müsste ihre Re-Adressierung an ein väterliches Gesetz der Arbeit zugleich nicht widerrufen, was der spätere Gelehrte als „Revolution“ zu adressieren sucht? Verlangt die Akkumulation fiktiven oder imaginären Kapitals, das die Kredit- und Finanzmärkte ebenso mit beispielloser Gewalt verwüstet wie die Realität einer Ökonomie, etwa nicht selbst immer neu nach der Erfindung jener „lebendigen Arbeit“ als ihres „anderen Vaters“? Nach einer Instanz also, die den toten Schriften erneut Mehrwert injizieren, die verrückt gewordene Mutter schwängern, ihre Hysterien ordnen und wieder um ein väterliches Zentrum gruppieren könnten? Ruft der Bankrott der Märkte also nicht selbst nach einer Spermatologie, die den hysterischen Ausfällen der Zeit, dieser „Mutter aller Verrücktheiten“ Vernunft beibringen soll, indem sie die Schriften schwängert? Erweist sich deshalb, mit Marx, gegen ihn oder durch seine Schriften hindurch, die Feier der Arbeit oder die Onto-Theologie des Vaters nicht selbst noch als eine Erfindung des Kapitals sui generis, gut genug, die Proletarier an die Kandare zu nehmen, ihnen die Lasten des Zusammenbruchs aufzubürden, die Arbeit nämlich mit göttlicher Würde auszustatten, um die Ausbeutung wie das Elend der Arbeitenden ein weiteres Mal zu maximieren? Oder wie ließe sich anders ein „Materialismus des Unkörperlichen“ denken, dessen différance sich unter vielen Namen anschreiben lässt, und sei es dem des „Kommunismus“? Wie ließe er sich aufrufen und präsent machen? Denn welche Präsenz und welche Wirklichkeit eines „Werks“ wären das, bliebe dieser Materialismus, weil unkörperlich und differentiell, doch selbst von Gespenstern heimgesucht, sobald er „Werk“ werden will? Lässt sich auf den Kommunismus also tatsächlich – spekulieren? Lässt sich „mit ihm“ gar spekulieren? Und was verbindet noch dieses speculum mit der Spektralität der Gespenster, die im Zeichen des Vaters immer neu umgehen? Wie nämlich wirkt das Unentscheidbare einer Pharmazie auf diesen Vater ein, von der Derrida sagen kann: „Das phármakon ist also ‚ambivalent‘, weil es genau die Mitte bildet, in der die Gegensätze sich entgegensetzen können, die Bewegung und das Spiel, worin sie aufeinander bezogen, ineinander 27 Vgl. Robert von Ranke-Graves, Griechische Mythologie, Hamburg, 1992, S. 58 f.
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verkehrt und verwandelt werden […] Das phármakon ist die Bewegung, der Ort und das Spiel (die Hervorbringung der) Differenz. Es ist die différance der Differenz.“28 Mittlerweile jedoch ist die Nacht zu weit fortgeschritten. Soeben hat der angehende Doktor der Jurisprudenz Karl Heinrich Marx sein Postskriptum abgeschlossen. Ein Blick auf die Uhr, es ist 4 Uhr morgens, die Augen sind trübe, die Kerze flackert, und die Gespenster, die ihn quälen, wollen umso weniger weichen. Allemal gehen sie in den Schriften um, die sich an den Vater adressieren. Sich ganz aussprechen zu können, hat er gerade geschrieben; doch nichts wird diesem „vollen Sprechen“ Aussicht auf Erfüllung bieten. Noch das Sprechen teilt sich in einer Schrift, ist Signatur eines irreduziblen Aufschubs, eines Vatermords, der sich in Phantasmen widerrufen will, ohne sich widerrufen zu lassen. Denn das Außen „ist“ das Innen, und immer trifft die Erinnerung dieses Innen deshalb wie ein Schlag, unter dem es sich zerstreut. Keine Gegenwart eines Vaters deshalb, die sich nicht als Abwesenheit eines Toten wiederholen und den Vater disseminieren würde. Und mit ihm die „Muter aller verrückten Formen“. Längst hat der junge Student der Jurisprudenz mittlerweile selbst die Physiognomie des späteren Gelehrten, die vatermörderischen Züge Platons angenommen. Und seine Schreibszene klingt aus, wie Derrida über den Augenblick berichtet, in dem dieser die Pharmazie hatte schließen wollen: „Die Nacht geht vorbei. Am Morgen vernimmt man, wie an die Tür geschlagen wird. Sie scheinen von draußen zu kommen, dieses Mal, die Schläge… Zwei Schläge… vier… Doch vielleicht ist es ein Rest, ein Traum, ein Stück Traum, ein Echo der Nacht… dieses andere Theater, diese Schläge von draußen…“29
28 Jacques Derrida, „Platons Pharmazie“, S. 143. 29 Ebd., S.190.
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Zeit bei Marx – Das Maß als Mittel der Verzeitlichung1
Die zeitliche Dimension des Kapitalismus scheint bei Marx auf die geschichtliche Gewordenheit und Durchsetzung des Kapitalismus hinauszulaufen. Dem Historischen Materialismus galt es sogar als das Kritische der Marxschen Methode schlechthin, dass sie den Kapitalismus als geschichtlich geworden begründet und ihn zudem von seiner Veränderbarkeit und von seiner Überwindung her bestimmt.2 Indes ist die zeitliche Dimension des Kapitalismus damit noch nicht erschöpft, im Gegenteil, hier kommt das Geschichtliche sogar „zu spät“. Denn der Kapitalismus ist – gleichsam noch „vor“ seiner geschichtlichen Gewordenheit und Durchsetzung – die Produktion von Geschichte selbst. Es kommt in Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie nicht auf die Rekonstruktion der geschichtlichen Entstehung und Durchsetzung des Kapitalismus an, jedenfalls nicht „zuerst“. Es kommt nicht zuerst auf ein geschichtliches Werden in der Zeit an, sondern darauf, dass der Kapitalismus ein konstitutives Umgehen mit der Zeit ist, und zwar „zuerst“ ein ökonomisches Umgehen mit einer zeit-losen, abstrakten Zeit. Auch die geschichtliche Gewordenheit des Kapitalismus ist aus dem Umgang mit dieser abstrakten Zeit heraus zu begreifen. Rekonstruktion des Kapitalismus kann daher nur heißen, die Methode zu entwickeln, auf welche Weise die kapitalistische Produktionsweise den Umgang mit dieser Zeit durchsetzt, und zwar so, dass erst das Durchsetzen in die Zeit fällt und ein geschichtliches Werden begründet. Es versteht sich von selbst, dass diese „Methode der Verzeitlichung“ oder vorsichtiger, der ökonomische Umgang mit einer abstrakt-zeitlosen Zeit nicht geschichtlich abgeleitet werden kann, wenn umgekehrt das geschichtliche Werden samt den Vorstellungen davon eben diesem ökonomischen Umgang mit einer solchen Zeit geschuldet sind. Wie immer daher diese Methode oder dieser Umgang zu verstehen sind, sie müssen jedenfalls logisch-kategorial entwickelt werden. Allerdings ist die Logik nur die halbe Wahrheit. Denn so wenig der ökonomische Umgang mit der abstrakten Zeit durch eine geschichtliche Rekonstruktion begründet werden kann, sondern logisch-systematisch begründet werden muss, so wenig geht diese Logik ohne die Zeit auf. Die Logik der Ökonomie, so wird zu zeigen sein, ist 1 Der Beitrag entwickelt die These meiner Dissertation, die den Zusammenhang von Maß, Kritik und Zeit am Geld festmacht. Es versteht sich von selbst, dass dieser Zusammenhang hier nur skizziert werden kann und entsprechend dicht ausfallen muss. Ausführlich dazu siehe meine Dissertation, die bald erscheinen wird. 2 Vgl. Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, MEW 20, S. 248 f.; zum Begriff „Historischer Materialismus“ vgl. ders.: Über historischen Materialismus, MEW 22, S. 298 ff.
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die Verzeitlichung der abstrakten Zeit. “Ökonomie der Zeit“, so Marx, „darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf.“3 Die Frage ist also:
1. Wie ist die kritische Darstellung einer Ökonomie der Zeit möglich? Marx hat seine Kritik des Kapitals als eine „Kritik durch Darstellung et vice versa“ bezeichnet; er folgt hier dem Dialektik- und Kritikbegriff Hegels. Die Pointe des Marxschen Kritikbegriffs – so meine These – ist, dass das Maß der Kapitalismuskritik nur in dem Maß liegen kann, dass der Kapitalismus an sich selbst hat. Mit anderen Worten, der kritisierte Kapitalismus muss durch sich selbst das Maß seiner Kritik abgeben – nur so kann die „Kritik durch Darstellung“ von Anfang an immanente Kritik sein. Das „Abgeben“ des Maßes muss in die immanente Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie fallen, das „Abgeben“ ist aber auch buchstäblich zu nehmen. D.h. das Maß der Kapitalismuskritik muss zwar in der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft selbst ausgewiesen werden und kann nicht getrennt davon oder vorweg gezeigt werden. Und doch muss zuerst das „Abgeben“ dieses Maßes gezeigt werden. Es muss zuerst gezeigt werden, wie der Kapitalismus sein eigenes Maß aus sich heraussetzt, sodass es eine gleichsam abgelöste Existenz führt, und erst durch dieses Abgeben des Maßes ist auch der Kritik die Möglichkeit einer kritischen Entwicklung des Kapitals gegeben. Und in der Tat steht im Kapital Bd. I das Abgeben am Anfang der Entwicklung der Kapitalform, nämlich in der berühmten Wertformanalyse.4 Sie zeigt auf logisch-systematische Weise, wie die kapitalistische Ökonomie durch die Aussonderung und Fixierung einer Ware, der Geldware, das Maß des Werts für sich abgibt. Das Maß der kapitalistischen Gesellschaft ist also das Geld, und zwar das Geld in seiner ersten Bestimmung als Maß des Werts. Im Kapital fällt dann die eigentliche Entwicklung des Maßes, und mit ihm die kritische Darstellung der kapitalistischen Gesellschaft, in die Entwicklung zunächst der Zirkulationssphäre5 und schließlich der Kapitalform des Geldes.6 Im Zuge dieser Entwicklung zeigt Marx, dass das Geld nicht nur Maß des Werts ist, sondern auch Mittel seiner Realisierung (nämlich durch den Austausch und das Zirkulieren der Waren als Tauschwerte), und schließlich zeigt er durch die dritte, selbstbezügliche Bestimmung des Geldes als Kapital, dass das Geld Maß und Mittel nicht des Werts, sondern seiner Verwertung ist. Oder vielmehr ist das Geld Maß, indem es Tauschmittel ist, und es ist Maß und Tauschmittel, weil es Kapital ist. Letztlich stellt das Geld nicht weniger dar als, wie Marx sagt, ein Produktionsverhältnis, aber das Geld stellt das Pro3 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, MEW 42, S. 105. 4 Karl Marx, Das Kapital. Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Bd. I, MEW 23, Abschnitt I, Kapitel 1, S. 49 ff. 5 Siehe ebd., Abschnitt I, Kapitel 2 und 3, S. 99 ff. 6 Siehe ebd., Abschnitt II-VII, S. 161 ff.
ZEIT BEI MARX – DAS MASS ALS MITTEL DER VERZEITLICHUNG
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duktionsverhältnis wie die Messung einer natürlichen Qualität und eines Naturprozesses dar.7
2. Die drei Bestimmungen des Geldes und die Verzeitlichung der Zeit Damit ist skizziert, wie eine kritische Darstellung der Ökonomie möglich ist. Sie ist möglich durch die Entwicklung der drei Geldfunktionen, und die Entwicklung muss mit dem Abgeben des Maßes anfangen. Doch wie steht es nun um die gesuchte zeitliche Dimension? Wenn Marx die Kapitalform über das Abgeben des Maßes und die drei Funktionen des Geldes entwickelt hat, dann muss auch in jenem Abgeben und in dieser Entwicklung die Ökonomie der Zeit enthalten sein. Es gilt demnach, die drei Geldfunktionen in die Zeit zu übersetzen, um durch die drei Geldfunktionen dasjenige Produktionsverhältnis zu entwickeln, das sich selbst in einer Ökonomie der Zeit gründet. Noch vor der eigentlichen Entwicklung muss jedoch, wie betont, das „Abgeben“ des Maßes stehen. Das Abgeben des Maßes des Werts und das Identisch-Halten der Zeit durch ihre quantitative Identifikation Der Anfang des Kapitals kreist in der Analyse der Wertform der Ware darum, dass die kapitalistische Gesellschaft durch sich selbst das Maß ihrer objektiven Bestimmung abgibt. Die Waren setzen durch den Ausschluss irgendeiner beliebigen Ware genau dadurch, durch Ausschluss und Fixierung, eine Geldware heraus, die für eine reine, übersinnliche und abgelöste Werteinheit steht und für die wertförmige Vermittlung aller anderen Waren maßgeblich ist, für ihr Übergehen als Werte.8 Die ausgeschlossene und fixierte Ware, die für die Einheit aller anderen steht, gilt als Geld und setzt alle anderen Waren ein und demselben Verhältnis aus, nämlich ihrem eigenen. Das Ausschließen und Fixieren einer Geldware versetzt sozusagen 7 „Alle Illusionen des Monetarsystems kommen daher, dass dem Geld nicht angesehen wird, dass es ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis darstellt, aber in Form eines Naturdings von bestimmten Eigenschaften.“ Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW 13, S. 22. 8 Vgl. dazu insbesondere den Übergang oder besser den Übersprung der allgemeinen Wertform in die Geldform: Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 79 ff. Der Übersprung ist mehrfach kritisiert worden. Hans-Georg Backhaus, Michael Heinrich und Gerhard Göhler sehen hier einen unvermittelten Bruch im Darstellungsgang. Allerdings interpretieren sie die Wertformanalyse auch nicht als „Abgeben“ des Maßes. Entsprechend werden der Übersprung und der Bruch im Darstellungsgang nicht als ein „Ursprung“ thematisiert, der gerade als Bruch eingeführt werden muss, weil der Bruch der Unableitbarkeit des Geldes nachkommt. Es ist von grundlegender Bedeutung, das Maß an den Anfang zu stellen. Wenn die Interpretationen der Wertformanalyse nur um den Zusammenhang von Arbeit und Warenaustausch kreisen, aber nicht zum Konstitutionszusammenhang von Maß und gemessener Qualität vordringen, kann folgerichtig auch die Kapitalform des Geldes nicht als Konstitutionszusammenhang von Messung und Verwertung entwickelt werden.
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alle anderen in ein Selbstverhältnis und „beschließt“ gleichsam, dass alle Waren durch das Geld als identische Werte übergehen und dadurch maßgeblich sind für – sich selbst. Nun wird auch deutlich, warum das Abgeben des Maßes wörtlich zu nehmen ist, und warum das Abgeben an den Anfang der Kapitalismuskritik gehört. Denn wenn Marx’ Wertformanalyse zeigt, dass eine Ware als übersinnliche Werteinheit gilt, weil sie von allen abgelöst und fixiert ist, dann kommt der Wertformanalyse für die Kritik des Kapitals in gewisser Weise derselbe vorgezogene und zugleich herausgehobene, abgelöste und „vor“-empirische Status zu, der auch dem Geld in der kapitalistischen Gesellschaft zukommt.9 Das Abgeben des Maßes ist somit darum der Einstieg in die Entwicklung der Kapitalform, weil das Geld für eine übersinnlich-ideelle Werteinheit steht, für die spekulative Identität aller Waren, sodass im Geld das Maß des Werts „abgegeben“ ist. Dieses Maß muss als Mittel einer blind-naturwüchsigen, aber objektiv gültigen, unmittelbaren Bestimmung der Ökonomie durch sie selbst reflektiert werden, ganz so, als würde die Ökonomie sich im Maß an sich selbst halten und durch das Maß und unmittelbar im Maß sich selbst identifizieren. Bevor diese Selbstidentifikation näher entwickelt wird, gilt es zu fragen, wie denn nun das Maß mit der Zeit zusammenhängt? Was bedeutet es in zeitlicher Hinsicht, dass der Gesellschaft durch eine ausgeschlossene und fixierte Geldware eine übersinnlich-ideelle Werteinheit für das rein gesellschaftliche Verhältnis der Waren (ab-) gegeben ist? Und was bedeutet es in zeitlicher Hinsicht, dass diesem gesellschaftlichen Selbstverhältnis durch das Geld die Möglichkeit gegeben ist, durch Werte in-sich überzugehen und sich im Übergehen objektiv gültig zu messen, nämlich quantitativ in Bestimmung zu setzen? Indem das Geld aus der Warenwelt ausgeschlossen und herausgesetzt ist, steht es nicht nur für eine übersinnlich-ideelle Werteinheit, sondern mit dieser Einheit wird auf spekulative Weise nicht weniger als die Identität der Ökonomie in Anspruch genommen. Genauer gesagt, wird die Ökonomie durch das Geld identisch gehalten. „Identisch-Halten“ heißt, dass erstens das Geld immer für ein und dieselbe, reine und unbestimmte, abgelöste und übersinnliche Werteinheit steht; zweitens, dass alle Waren sich im Geld an diese Einheit halten und im Geld gleichsam durch ihre eigene Einheit gebrochen werden; und Identisch-Halten heißt drittens, dass sie als qualitativ identische Werte gemessen werden, indem sie quantitativ umgeschlagen zur Erscheinung kommen. Auf diese Weise hält das Geld mit der Werteinheit auch die Zeit gleichsam identisch. Die Waren und ihre Werte (also ihr „rein gesellschaftliches Verhältnis“) können sich zwar ändern, aber diese Veränderung in der Zeit kann sich nur geltend machen, weil das Maß selbst sich als Zeit nicht ändert, sondern eben zeitlos gültig bleibt.
9 Das Geld misst als Maß des Werts ein „rein gesellschaftliches Verhältnis“, in das „kein Atom Naturstoff eingeht“, Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 62, ähnlich S. 71 u. S. 97.
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Genauer betrachtet, ist es die gemessene Qualität, die zeit-los ist, denn ihre quantitative Identifikation hält die Qualität zeitlos; die Qualität der Qualität ist dieses rein quantitative Sein, der Wert ist sonst nichts. Als Maß dieser rein quantitativ bestimmten Qualität setzt das Geld das gesellschaftliche Verhältnis einer Zeit aus, die wie Newtons abstrakt-physikalische Zeit10 und wie Kants subjektive Anschauungsform a priori funktioniert11; nur dass diese abstrakte Zeit keine natürliche Qualität und keine a priori gegebene, rein subjektive Anschauungsform ist, sondern eine absolute Qualität wie das Übergehen von Sein und Nichts in Hegels Seinslogik: Die Zeit ist ihr reines In-sich-Übergehen, die dadurch genau diese Qualität durch ihre Quantifizierung ist. Mit anderen Worten, durch ihre Quantifizierung zeitigt sich die Zeit auf zeitlose Weise, als ob sie sich selbst identifizierte. Es ist gleichsam die Qualität der Qualität, rein quantitativ umzuschlagen und sich selbst zu begrenzen, sodass die Qualität unmittelbar, in diesem quantitativen Umschlagen, ineins identisch bleibt und sich selbst bestimmt.12 Dieses Umschlagen und Vereinigen von Qualität und Quantität ist das Geld. Indem das Geld das rein gesellschaftliche Verhältnis der Waren quantitativ umschlägt, stellt es auf diese Weise dessen Identität fest. Das Feststellen der Identität ist buchstäblich im Sinne eines zeitlosen Fixierens zu verstehen: Es gibt durch die Messung des rein gesellschaftlichen Verhältnisses der Waren eine zeitlose, weil rein quantitativ identifizierte Zeit. Und das Geld gibt diese Zeit, indem sich das Übergehen des gesellschaftlichen Verhältnisses der Waren im Geld ereignet, hier quantitativ umschlägt und im Quantifizieren zeitlos gehalten bleibt. Die spekulative Identität zwischen dem Maß und der gemessenen und in Wert gesetzten Qualität, kurz, zwischen Geld und Zeit, wird im Folgenden durch die drei Geldfunktionen durchgeführt. Die zeitlose Zeit wird dabei vereinfacht abstrakte Zeit genannt, in Anlehnung an den Begriff der abstrakten Arbeit, die Marx als Substanz des Werts bestimmt. Jedenfalls ist diese zeitlose Zeit „vor“ der Zeit noch nicht als geschichtliche Zeit zu verstehen. Es geht im Gegenteil darum, die Zeit gleichsam von sich selbst zu unterscheiden und zu einer geschichtlichen Zeit zu kommen, die erst durch eine Messung und zeitlose Identifikation geschichtlich geworden ist. Dafür ist die quantitative und zeitlose Bestimmung des gesellschaftlichen Verhältnisses durch das Geld der Anfang, denn dadurch ist die Zeitigung des rein gesellschaftlichen Verhältnisses gegeben. Dem gesellschaftlichen Verhältnis ist, gemessen durch das Geld, gleichsam die bewusstlos-naturwüchsige Selbstzeitigung gegeben, und genau das gilt es durch die Entwicklung des Maßes zu zeigen. Mit anderen Worten, das Maß muss als methodisches Mittel der Verzeitlichung der Zeit entwickelt werden. 10 Vgl. Isaac Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, Hamburg, 1988, S. 44 (zuerst lat., London, 1687). 11 „Die Zeit ist eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt. […] Die Zeit ist also a priori gegeben. In ihr allein ist alle Wirklichkeit der Erscheinungen möglich.“ Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg, 1990, A 31. 12 Vgl. G. W. F. Hegel, Die Wissenschaft der Logik I, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 5, Frankfurt a. M., 1969.
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Um diese Verzeitlichung zu erschließen, muss für die erste Bestimmung des Geldes als Maß des Werts abschließend festgehalten werden, dass durch das Geld mit der Identität der Waren als Werte gerechnet werden kann. Oder vielmehr ist das Geld quantitativ bestimmt durch ein gesellschaftliches Verhältnis, das durch das Geld auf blind-naturwüchsige Weise unmittelbar mit sich selbst rechnen muss. Weil, oder besser: indem durch das Geld mit der Identität der Zeit gerechnet wird, identifiziert das Geld das Zeitlose aller quantitativen Bestimmungen; das Geld hält eine reine, übersinnliche Werteinheit zeitlos, indem es diese Werteinheit im Wertverhältnis der Waren quantitativ einlöst. Zwar erhält die Zeit dadurch auch eine endliche Bestimmung; aber diese Bestimmung ist als rein quantitative doch stets zeitlos gehalten. Dieses Übergehen des gesellschaftlichen Verhältnisses im Geld ist auch die Zeitigung der zeitlosen Zeit. Die Zeit geht nicht nur durch ihre quantitativen Bestimmungen über, sondern durch ihre quantitative Identifizierung tritt die zeitlos gehaltene Zeit unmittelbar gleichsam in sie selbst, in ihre Realität ein. Das Einlösen einer durch Quantifizierung zeitlos gehaltenen Zeit fällt in die zweite Bestimmung des Geldes. Die zweite Geldfunktion: Die Vergegenwärtigung der abstrakten Zeit durch ihre quantitative Realisierung Durch das Rechnen mit der Identität der abstrakten Zeit geht das Maß ins Mittel über. Das Maß geht über in das Mittel einer unmittelbaren und bewusstlosen Selbstidentifikation der Ökonomie im Sinne der eben angedeuteten Zeitigung durch die Realisierung quantitativer Verhältnisse. Dieser Übergang des Maßes ins Mittel ist der Übergang der ersten in die zweite Bestimmung des Geldes, in der das Maß zum Mittel des Austauschs der Waren wird sowie zur Realisierung ihres gesellschaftlichen Verhältnisses durch den Tauschwert. Wie sieht nun dieses Übergehen der ersten beiden Funktionen aus? Wird das Maß, durch das die abstrakte Zeit in Anspruch genommen wird und im Geld gleichsam da und anwesend ist –, wird dieses Maß als Tauschmittel eingesetzt, so wird das Wertverhältnis der Waren praktisch realisiert. Die ideelle Werteinheit tritt praktisch in das gesellschaftliche Verhältnis der Waren ein, und indem das Geld zwischen den Waren verkehrt und sie als Werte zirkulieren lässt, tritt die unmittelbar Realität ihres gesellschaftlichen Verhältnisses ein. Erst das Tauschmittel hält die Waren also auf praktische Weise an ihr Maß, mithin an die abstrakte Zeit, und erst das Tauschmittel realisiert die abstrakte Zeit durch die Vergegenwärtigung der Tauschwerte. Mehr noch, das Maß wird zum Mittel, das wertförmige Übergehen der Waren quantitativ umzuschlagen und dadurch unmittelbar dessen Identität zu reflektieren. Dem Übergang des Maßes ins Tauschmittel entspricht auch ein Übergang der zeitlosen Zeit. Genauer gesagt, wird das Übergehen in sie selbst der Zeit im Tauschwert auf quantitative Weise gegenwärtig. Wenn daher die Maßfunktion des Geldes
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die Identität einer abstrakten, zeitlosen Zeit durch die Quantifizierung des rein gesellschaftlichen Verhältnisses der Waren in Anspruch nimmt, dann ist die Tauschmittelfunktion die Realisierung der Maßfunktion und die Realisierung der gemessenen Zeit. Das rein gesellschaftliche Verhältnis der Waren, im Tausch auf praktische Weise ans Maß der abstrakten Zeit gehalten und gleichsam durch die eigene Identität gebrochen, tritt dadurch in die Realität ein und kommt je in-sich reflektiert zur Erscheinung. Auf diese Weise wird die Werteinheit, für die das Geld steht, einerseits beständig quantitativ durch die Realisierung der Tauschwerte in Bestimmung gesetzt; diese Realisierung lässt das Geld zu einem sich spezifizierenden Quantum werden. Andererseits nimmt diese Realisierung die Form des Austauschs und der Zirkulation der Waren an. Jeder Kauf und Verkauf unterbricht gleichsam das gesellschaftliche Verhältnis der Waren, ihr reines Übergehen in sich, und doch ist die Unterbrechung der Moment, in dem das gesellschaftliche Verhältnis in das Geld eintritt, quantitativ feststellt wird und auf quantitative Weise im Geld währt. Folgerichtig ergeben all die Tauschakte eine ständige Vergegenwärtigung des Wertverhältnisses der Waren. So führt die serielle Wiederholbarkeit und Messbarkeit des Wertverhältnisses durch ein und dasselbe Maß zur Formalisierung der abstrakten Zeit, und das Tauschmittel führt diese Formalisierung, mithin die Maßfunktion, praktisch durch. Bislang scheint es also, als ob die Tauschmittelfunktion die Waren an ihr Maß hält, sodass sie durch die Identität der abstrakten Zeit gemessen werden und rein quantitativ im Geld währen. Die Identität der Zeit wird im Austausch der Waren quantitativ ins Positive gewendet und zu einem rein gesellschaftlichen Sein; das rein gesellschaftliche Sein der Wertsubstanz ist mithin eine quantitativ identisch und zeitlos gehaltene Zeit. Die Substanz existiert darin, dass das gesellschaftliche Verhältnis durch das Übergehen der Waren als Werte andauernd auf quantitativ bestimmte Weise im Geld vergegenwärtigt wird, sodass das Übergehen zur Reflexion des gesellschaftlichen Verhältnisses wird. Indes besteht Marx darauf, dass genau diese Realität ebenso Schein ist. Das Gegenwärtig-Halten des Wertverhältnisses durch das Realisieren des Tauschwerts, mithin die Maß- und Tauschmittelfunktion des Geldes, das alles ist ein Scheinen der Realität oder die Realität des Scheins. Der Schein vergeht, wenn der Tauschwert als Moment der Verwertung durchsichtig wird. Diese Verwertung fällt in die dritte Bestimmung des Geldes. Die dritte Bestimmung des „Geld als Geld“: Tautologischer Selbstbezug und Form exzessiver Verwertung durch den Eintritt der Zeit in sie selbst Marx bezeichnet die dritte Funktion tautologisch: „Geld als Geld“. Allerdings enthält diese Tautologie nichts weniger als den kapitalistischen Selbstbezug des Geldes, von Marx formalisiert als G-W-G'. Marx’ Entwicklung der Kapitalform des Geldes zeigt, dass die kapitalistische Bestimmung des Geldes, ganz im Widerspruch zu
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seinem tautologischen Selbstbezug, aus einer exzessiven Verwertung resultiert. Das Geld muss sich einer Verwertung durch die Arbeit und die Produktionsmittel unterziehen, denn erst dadurch verwirklicht es seinen Selbstbezug und wird seiner kapitalistischen Bestimmung adäquat. Das Geld muss sich nicht nur in jene Verwertung, also in Arbeit und Kapital, entäußern, es muss sich darin auch so auslegen, dass es durch die Realisierung der Resultate dieser Verwertung wieder zu sich zurückkehren wird. Diese Notwendigkeit der Auslegung des Geldes in die Bestandteile seiner Rückkehr zeigt schon eine neue zeitliche Dimension an. Oder vielmehr kommen nun erst die drei Bestimmungen ein und derselben, bislang im Maß noch abstraktzeitlos und im Tauschmittel lediglich quantitativ gegenwärtig gehaltenen Zeit ins Spiel, nämlich Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Diese Unterscheidungen, so wird gleich zu zeigen sein, geschehen in der Zeit, weil das Geld durch seinen Selbstbezug auf spekulative Weise mit der Identität der Zeit rechnet und sie dadurch ihrer Bestimmung durch Arbeit und Kapital aussetzt. Bevor auf die Bestimmung der Zeit durch Arbeit und Kapital eingegangen wird, sehen wir bereits jetzt, warum die bislang gezeigte Gegenwart des Wertverhältnisses der Waren in der Zirkulation nur ein Schein ist: weil die Zirkulation bereits eine Rückkehr ist.13 Das Übergehen und Zirkulieren der Waren als Werte ist bereits die Rückkehr des in die Produktion ausgelegten Geldes, mithin die Verwirklichung seines kapitalistischen Selbstbezugs. Die ersten beiden Funktionen des Geldes vergegenwärtigen also lediglich, was in der Produktion gewesen ist. Maß und Tauschmittel geben eine vergangene Produktion durch die Realisierung und Vergegenwärtigung ihrer Resultate lediglich wieder. Mehr noch, Marx zeigt durch die Kritik der einfachen Zirkulation einerseits und durch die Entwicklung der Kapitalform des Geldes andererseits, dass die Maß- und die Tauschmittelfunktion nicht einfach das gesellschaftliche Verhältnis der Waren realisieren (auch wenn es so scheint), sondern sie messen dadurch die Verwertung von Arbeit und Kapital. Folgerichtig gehen die ersten beiden Bestimmungen des Geldes auch nicht erst in seine dritte über, sondern beide, die Maß- und die Tauschmittelfunktionen, treten überhaupt erst innerhalb des übergreifenden Selbstbezugs G-G' ein. Sie ereignen sich innerhalb der dritten Bestimmung des „Geld als Geld“, und es ist dieser Selbstbezug, der einem Rechnen mit der Identität der Zeit entspricht und der die Zeit ihrer Bestimmung durch Arbeit und Kapital aussetzt. Weil das Geld in seinem Selbstbezug auch seine Maß- und Tauschmittelfunktion übergreift und überhaupt den gesamten Kapitalkreislauf G-W-G' enthält, müssen wir, um zum Wesen der Ökonomie der Zeit zu gelangen, diese selbstbezügliche Form in ihren Inhalt auseinanderlegen. Genauer gesagt, muss das -W- in G-W-G' in seinen Inhalt auseinandergelegt werden, um zur quantitativen Bestimmung der Ware durch Arbeit und Kapital zu gelangen. Dann erst tritt hervor, dass das Geld 13 „Die Rückkehr des Kapitals zu seinem Ausgangspunkt ist überhaupt die charakteristische Bewegung des Kapitals in seinem Gesamtkreislauf.“ Karl Marx, Das Kapital, Bd. III, MEW 25, S. 359.
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im Tauschwert der Waren die Bestimmung der Zeit durch Arbeit und Kapital trifft: Es misst im Wertverhältnis der Waren das Verhältnis von toter und lebendiger Arbeitszeit sowie von notwendiger und zusätzlicher Arbeitszeit. Die tote, die lebendige und die untote Arbeit: c, v und abstrakte Arbeit Bislang hat die dritte Bestimmung ergeben, dass das Geld als Maß und Tauschmittel die Vergangenheit einer Produktion vergegenwärtigt, in die es sich selbst ausgelegt hat. Für die Zeitlichkeit der Ökonomie ist aber nicht diese Vergegenwärtigung einer vergangenen Produktion wesentlich; wesentlich ist vielmehr ein Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit in der Produktion selbst. Marx fasst nämlich auch den Austausch von Arbeit und Kapital zeitlich, und zwar als Austausch von gegenwärtiger lebendiger Arbeit mit vergangener toter Arbeit. Lebendige Arbeitszeit, das ist die Verausgabung der Ware Arbeitskraft; tote Arbeit, das ist dieselbe Arbeitszeit, aber als bereits vergangene und vergegenständlichte Arbeitszeit aufseiten des Kapitals, insbesondere in den Produktionsmitteln. Diese im Kapital aufbewahrte und akkumulierte Vergangenheit der Arbeitszeit bezeichnet Marx als konstantes Kapital (c), die lebendige Arbeitszeit der Ware Arbeitskraft dagegen als variables Kapital (v).14 Die lebendige Arbeitszeit vergeht also nicht einfach, sondern sie wird aufseiten des Kapitals gleichsam aufbewahrt und akkumuliert, und sie ist dann auch nicht wirklich tot, sondern sie drängt auf Verwertung, nämlich auf Übertragung durch genau die lebendige Arbeitszeit, der sie einmal entsprungen ist.15 Die lebendige Arbeit wird dadurch von ihrer eigenen Vergangenheit beherrscht, von einer in konstantem Kapital auf Verwertung drängenden toten Arbeitszeit, die durch die lebendige Arbeit übertragen und wieder zum Leben erweckt werden soll.16 Es ist geradezu der Grundzug der Marxschen Kritik schlechthin, in den Phänomenen und Gestalten der kapitalistischen Gesellschaft, durch alle ökonomischen Kreisläufe hindurch, diese spekulative Identität von lebendiger und toter Arbeitszeit einzuholen. Diese spekulative Identität ist unterschiedslos in den Waren ver14 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 214-225 und die folgenden Abschnitte. 15 Wenn die Begriffe „Entfremdung“ und „Herrschaft“ für die Bestimmung der kapitalistischen Ökonomie überhaupt noch angemessen sind, dann hier, in der Unvergänglichkeit der Vergangenheit durch ihre Verwertung: Die lebendige Arbeit beherrscht im konstanten Kapital auf entfremdete Weise, durch die eigene Vergangenheit: sich selbst. Alle lebendige Arbeit ist daher, welche konkrete Gestalt sie auch annimmt, spezifisch kapitalistische „Arbeit der Übertragung“ vergangener, toter Arbeitszeit. Sie ist zudem spezifisch kapitalistisch, indem sie auch – oder vielmehr zugleich – das Zusetzen neuer Arbeitszeit ist. 16 Die Substanz des Werts, die abstrakte Arbeit, ist dieses Wesen „zwischen“ lebendiger und toter Arbeit. Die lebendige Arbeit wird durch Verausgabung in die Waren nicht zur abstrakten Arbeit im Sinne einer toten Arbeitszeit, sondern die abstrakte Arbeit ist untot, d.h. in ihr kehrt die lebendige Arbeit wieder. Sie lebt nicht nur im Übergehen der Waren als Werte weiter und kehrt im Zirkulieren wieder, sondern sie kehrt auch als Kapital in den Produktionsprozess zurück, und als konstantes Kapital ruft sie dann erneut lebendige Arbeit zur Übertragung an.
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endlicht und muss hier, in den Waren, realisiert werden. Demnach muss mit der Realisierung der Waren auch die Verwirklichung des gesamten Kapitalverhältnisses einhergehen. Durch diese Realisierung, so gilt es als nächste zu zeigen, fallen tote und lebendige Arbeit in die Zeit. Das ekstatische Werden der Zeit: Der Gebrauchswert der ekstatischen Ware Arbeitskraft Marx fasst die Unterscheidung des Kapitals in seine konstanten und variablen Bestandteile zusammen als „organische Zusammensetzung“ des Kapitals, wobei unter „organisch“ das Zeitliche seiner Verwertung zu verstehen ist. Das zeitlich Variable innerhalb der Verwertung kommt der Ware Arbeitskraft zu. Somit ist für die Verwertung nicht die zuletzt gezeigte Verwertung der toten Arbeitszeit durch die lebendige Arbeitszeit entscheidend; entscheidend ist umgekehrt die Verwertung der lebendigen Arbeitszeit durch die tote. Nicht die „Arbeit der Übertragung“ toter Arbeitszeit durch lebendige Arbeitszeit ist für die Verwertung entscheidend; diese Übertragung sorgt nur für Konstanz. Die Ware Arbeitskraft wird dagegen zur Variablen, weil sie mit dieser Übertragung auch neuen Wert zusetzt, mehr noch ihrer Verwertung entspringt auch der Mehrwert, mithin das Exzessiv-Werden der Zeit. Für dieses Entspringen des Mehrwerts und das exzessive Werden der Zeit kommt alles es auf die Ware Arbeitskraft an. Es ist der Gebrauchswert dieser einen Ware, der die Zeit exzessiv und der die Arbeitskraft zu einer besonderen, zeitlichekstatischen Ware werden lässt; die Besonderheit dieser Ware besteht nämlich darin, dass ihrer Verwertung die angekündigte Verzeitlichung der Zeit entspricht. Denn Marx zufolge ist der Tauschwert der Arbeitskraft zwar, wie bei jeder gewöhnlichen Ware auch, durch den Wert ihrer Reproduktionskosten bestimmt; im Lohn erhält sie daher den Tauschwert für ihre Produktion, also nur ein Äquivalent. Aber der Tauschwert dieser einen Ware ist Gebrauchswert für das Kapital, die Arbeitskraft ist das Vermögen für die Produktion abstrakten Reichtums, und zwar schlicht darum, weil diese eine Ware mehr Tauschwert produziert, als sie selbst zur Reproduktion benötigt (und im Lohn erhält).17 Nur der Tauschwert dieser einen Ware ist dadurch Äquivalent und Nicht-Äquivalent zugleich. Oder vielmehr ist sie eben nicht beides zugleich, vielmehr beruht der Mehrwert auf einer unterschiedlichen Bestimmung ein und derselben abstrakten Zeit, und diese Unterscheidung muss in die Zeit fallen. Jetzt erst, in diesem Fallen, ist die Zeit im herkömmlichen, 17 Marx hat den Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft nicht nur als „Kraft“, sondern auch als „Vermögen“ und „reine Subjektivität“ bezeichnet, vor allem in den Grundrissen, wo er sich noch nicht auf den Begriff „Arbeitskraft“ festgelegt hat. Entscheidend für die Bestimmung der Arbeitskraft ist und bleibt aber, dass sowohl ihr Vermögen, als auch ihr Gebrauchswert, als auch ihre produktive Kraft buchstäblich in der Zeit liegen, nämlich darin, dass diese eine Ware durch die Produktion all der gewöhnlichen Tauschwerten ihren eigenen Tauschwert übersteigt. Ihr Gebrauchswert ist der Tauschwert, dieser Tauschwert: mehr Tauschwert zu produzieren, als sie selbst zur Reproduktion benötigt.
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„vulgären“ Sinne zu verstehen, d.h. als verfallende, ablaufende und verräumlichte Zeit. Die Unterscheidung muss in die Zeit fallen, damit die Ware Arbeitskraft durch das Kapital verzeitlicht wird und eine Differenz eröffnet. An dieser Differenz hängen, so ist als nächstes zu zeigen, das exzessive Werden der Zeit, aber auch, so wird im Anschluss daran zu zeigen sein, die Normalisierung der Zeit. Mehrwert: Das exzessive Werden der Zeit, die bleibt Was zunächst die Unterscheidung der abstrakten Zeit nur als solcher betrifft, also noch bevor die Unterscheidung in die Zeit fällt, so unterscheidet Marx die Arbeitszeit in notwendige und zusätzliche Arbeitszeit. Allein indem Marx die Arbeitszeit analytisch teilt, zeigt er bereits ihre unterschiedliche Bestimmung, nämlich entweder die Arbeitskraft zu reproduzieren (dieser Teil entspricht dem Lohn), oder die zusätzliche Arbeitszeit zu sein, die aufseiten des Kapitals unentgeltlich angeignet wird (das entspricht dem Profit). Diese Teilung der Arbeitszeit geht daraus hervor, dass dieselbe Arbeitszeit der Ware Arbeitskraft beides reproduzieren muss, sich selbst und das Kapital. Dadurch kommt nun diejenige Differenz ins Spiel, die buchstäblich in der Zeit liegt. Denn die produktive Kraft, die der Arbeitskraft als Ware zukommt: mehr Wert zu produzieren, als sie selbst zur Reproduktion benötigt, diese produktive Kraft löst sich ja nur in der Zeit ein, nur durch die Differenz zwischen der Reproduktion der Ware Arbeitskraft und dem produzierten Wert. Die Unterscheidung von notwendiger und zusätzlicher Arbeitszeit kann nur dann eine Differenz ergeben zwischen dem von der Arbeitskraft produzierten Wert und dem ihrer eigenen Reproduktion, wenn diese Unterscheidung in die Zeit fällt, in die Realisierung einerseits der produzierten Warenwerte und andererseits der Reproduktion der Ware Arbeitskraft. Verkürzt gesagt, hängt die Produktivkraft der kapitalistischen Ökonomie mit der Produktion dieser Differenz zusammen. Sie hängt näher betrachtet, zusammen mit der Reduzierung der zur Reproduktion der Ware Arbeitskraft notwendigen Arbeitszeit, denn die Reduzierung führt durch die Senkung der gewöhnlichen Warenwerte auch zur Senkung der Reproduktionskosten der besonderen Ware Arbeitskraft, mithin zur Vergrößerung des Anteils zusätzlicher Arbeitszeit. Nach Marx ist die dem Kapitalismus adäquate Methode, die produktive Kraft der Arbeitskraft durch Senkung und Ersetzung notwendiger Arbeitszeit (mithin durch Senkung der Warenwerte) zu steigern, die Methode „relativer Mehrwertproduktion“. Hier führt insbesondere das Einschreiben von Wissenschaft und Technik ins Produktionsmittel zur effektiveren Verzeitlichung des variablen Kapitals durch das konstante.18 Darauf soll hier nicht weiter eingegangen werden. Es reicht festzuhal18 Die beiden Formen der Mehrwertproduktion, der absoluten und der relativen, werden im Kapital in den Abschnitten III, IV und V entwickelt: Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 192-556.
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ten, dass zur Ausbeutung des Vermögens der Ware Arbeitskraft zusätzliche Arbeitszeit produziert werden muss, und diese zusätzliche Arbeitszeit muss wiederum durch die Reproduktionskreisläufe realisiert werden und hier in die Zeit fallen, um in der Zeit zur Differenz zwischen den produzierten Warenwerten und dem Wert der Ware Arbeitskraft zu werden. Damit der Mehrwert sich realisiert, muss diese Differenz durch ihre Realisierung also in die Zeit fallen. Sie muss aber auch aus der Zeit herausfallen, und sie fällt aus der Zeit heraus, indem sie ins Geld fällt: Nur hier, im Geld, wird der Mehrwert im Zuge der Realisierung der Resultate der Produktion gleichsam aufbewahrt und, von den Tauschwerten aller Waren getrennt, rein als solcher in einem extra Quantum im Wortsinn heraus gestellt. Nur im Geld ist der Mehrwert in reiner, abstrakt-allgemeiner Gestalt akkumulierbar und erscheint als Gewinn, ganz so, als ob das Geld in seiner quantitativen Bestimmung die zusätzliche Arbeitszeit von der notwendigen trennte, und ganz so, als ob es mit der Identifikation der Verwertung auch einer Differenz in der Zeit Raum gäbe. Nur über das Geld kann die Teilung von notwendiger und zusätzlicher Arbeitszeit zur Differenz in der Zeit werden, zur Differenz zwischen den von der Ware Arbeitskraft produzierten Tauschwerten und ihrem eigenen Tauschwert, denn nur das Geld kann diese Differenz ausbeuten und dem Mehrwert auf quantitative Weise Raum geben, ganz so, als sei die Zeit über die Reproduktionskreisläufe von Arbeit und Kapital exzessiv geworden und als sei dieser Exzess im Geld „angehalten“ oder „aufgehalten“. So kommt es, dass die gesamte Verzeitlichung der Zeit an der Verzeitlichung des variablen durch das konstante Kapital hängt, mithin an der Produktion zusätzlicher Arbeitszeit sowie an ihrer Realisierung und Ausbeutung durch die drei Geldfunktionen. Allerdings sind die Ausbeutung der „ekstatischen“ Ware Arbeitskraft und das exzessiv-Werden der Zeit nur die eine Seite der Verwertung. Marx stellt denselben Verwertungsprozess auch, wie oben angekündigt, als Normalisierung der Verzeitlichung dar. Marx zeigt in der Umwandlung der Verwertung in die Preisbestimmung der Ware, dass die Verwertung durch Durchschnittsgrößen ermittelt wird, genauer, durch die gesellschaftlich notwendige Durchschnittsarbeitszeit. Wenn die Waren als Äquivalente übergehen, so sind es diese aus der Verwertung ermittelten Durchschnittsgrößen, die darin realisiert werden, und durch die Ermittlung dieser Größen erhebt sich die Verwertung, wenn auch blind und gleichsam hinterrücks, zum Maß ihrer selbst.
Von der relativen Mehrwertproduktion handelt vor allem der Abschnitt IV Die Produktion des relativen Mehrwerts, S. 331-530.
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Die Ermittlung gesellschaftlich notwendiger Durchschnittsarbeitszeit im Geld: Die Erhebung der Verwertung zum Maß ihrer selbst Fassen wir kurz die zeitliche Qualität, die das Geld in Wert setzt, zusammen! Zuerst wurde gezeigt, dass das Geld die Qualität der abstrakten Zeit quantitativ umschlägt, sodass die Zeit im In-sich-Übergehen unmittelbar sich selbst bestimmt. Dass das Wertverhältnis der Waren durch dieses Umschlagen von Qualität und Quantität bestimmt wird, das ist die Qualität quantitativer Verhältnisse. Diese Qualität quantitativer Verhältnisse ereignet sich durch den Eintritt der Zeit in sie selbst: Indem das Geld die Waren als Resultate der Verwertung von toter und lebendiger Arbeitszeit misst, erhält die abstrakte Zeit nicht nur ihre quantitative Bestimmtheit und wird im Geld durch quantitative Verhältnisse gegenwärtig gehalten, sie wird dadurch auch verzeitlicht und exzessiv. Genau genommen gilt die Verzeitlichung aber für jedes individuelle Kapital. Entsprechend führen die quantitativen Verhältnisse zu keinem einheitlichen Eintritt der Zeit in sie selbst, und die Verzeitlichung ist dann auch kein weltweit einheitliches Werden. Stattdessen stellt das Geld die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen her. Denn nicht nur die Ware Arbeitskraft ist ja eine Variable, sondern mit ihr ist auch die Produktivität der individuellen Kapitale variabel. Die Produktivkraft der Arbeit wird durch das konstante Kapital gesteigert und ändert sich, und folgerichtig vergegenwärtigt das Geld unterschiedliche Produktionsverhältnisse; es vergegenwärtigt in den Warenwerten unterschiedliche Produktivkräfte der einzelnen Arbeiten, die unterschiedliche Produktivität der individuellen Kapitale und sogar ganzer Nationalökonomien. Und doch bringt das Geld alle Arbeiten und Kapitale, indem es sie durch ihre Resultate an dasselbe Maß hält, auf einen gemeinsamen Nenner. Insofern die Produktivkraft der einzelnen Arbeiten, der individuellen Kapitale und ganzer Nationalökonomien unterschiedlich ist und doch durch dieselbe abstrakte Zeit gemessen wird, insofern entsteht hier eine Ungleichzeitigkeit verschiedener „Eigenzeiten“. (Globalisierung ist dann, vereinfacht gesagt, dem Universalismus geschuldet, dass das Maß durch die Messung der Produktivkraft die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen herstellt.) Doch damit nicht genug. Wenn das Geld dafür sorgt, dass die Verwertung aller einzelnen Kapitale sich einheitlich misst, so ermittelt die gesamte Ökonomie, wenn sie im Geld gleichsam hinterrücks durch sie selbst gebrochen wird und zugleich in sie selbst eintritt, auf blind naturwüchsige Weise auch selbst ihre Durchschnittswerte. Denn Marx zufolge misst das Geld gerade nicht die Dauer einzelner Arbeitszeiten und gibt sie im Tauschwert wieder, sondern es misst das Verhältnis von toter und lebendiger sowie notwendiger zu zusätzlicher Arbeitszeit. Und auch diese Verhältnisse werden im Messen nicht einfach in Wertgrößen übersetzt, die Messung ist vielmehr die Bildung der allgemein notwendigen Durchschnittsarbeitszeit sowie einer allgemeinen Profitrate. Diese Bildung der Durchschnittsgrößen scheint in die Zirkulation und Realisierung der Tauschwerte zu fallen. Indes ist auch hier wieder die Sphäre der einfachen Zirkulation ein Schein, denn die Bildung der Durchschnittsgrößen ist keine arith-
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metische Ermittlung aus fertig gegebenen Wertgrößen. Stattdessen geht mit der Identifikation der Produktion durch die Zirkulation und Realisierung ihrer Resultate eine gesamtgesellschaftliche Umwandlung der Verwertung in Preise einher. Auf diese unter dem Stichwort „Transformationsproblem“ bekannt gewordene Umwandlung soll hier nicht eingegangen werden. Entscheidend ist, dass das Geld über die Realisierung der Warenwerte das Verhältnis von toter und lebendiger Arbeitszeit misst und dass es im Tauschwert dieses Verhältnis nicht wiedergibt, ohne aus ihm durch eine Umwandlung der Verwertung in Preise allgemein notwendige Durchschnittsgrößen zu ermitteln. Und weil diese Form der Messung eine Umwandlung ist, in der alle Arbeitszeiten und alle Kapitale eine Gesamtarbeitszeit bilden, ergeben sie paradoxerweise genau den Durchschnitt, von dem sie dadurch im Einzelnen zugleich abweichen. Wenn daher das Geld im Preis das gesellschaftliche Verhältnis zur Erscheinung bringt, so hat es nicht nur das gesellschaftliche Verhältnis quantitativ identifiziert, sondern durch eine Umwandlung auch die gesellschaftliche Allgemeinheit und die gesellschaftliche Totalität miteinander identifiziert; in den Durchschnittsgrößen ist die gesellschaftliche Allgemeinheit (die Produktivität der Verwertung) mit der gesellschaftlichen Totalität (der Gesamtarbeitszeit all der individuellen Kapitale) identifiziert worden. So kommt es, dass im Preis die gesamte Ökonomie je schon auf in-sich reflektierte Weise erscheint. Allerdings ist diese Wahrheit der Erscheinung nur die halbe Wahrheit, denn im Preis sind die Verwertung und ihre Umwandlung auch unwiederbringlich ausgelöscht. Mehr noch, sie sind im Preis nicht spurlos verschwunden, sondern erst durch den Preis kann es scheinen, als sei er aus der Verwertung und aus dem Übergehen von Werten ermittelt worden. Dieselbe Reflexion und Umwandlung, die Durchschnittsgrößen ermittelt und im Preis erscheinen lässt, dieselbe Reflexion und Umwandlung bringt auch den Wert zum Verschwinden, aber so, dass er zum notwendigen Schein wird. Geld stellt also beides heraus, im Gewinn die exzessiv gewordene Zeit, in den Warenpreisen die gesellschaftlich notwendige Durchschnittsarbeitszeit. Es beutet einerseits die Verzeitlichung der Ware Arbeitskraft aus und gibt die zusätzliche Arbeitszeit gleichsam im Gewinn zurück, und es ermittelt andererseits aus der Arbeitszeit nur einen stets neuen gesellschaftlich notwendigen Durchschnitt. Zudem misst das Geld durch die Resultate der Verwertung von Arbeit und Kapital nicht nur die produktive Kraft ihrer Verwertung, sondern es misst die eigene Auslegung darin. Die Messung ereignet sich in der Umwandlung genau der Verhältnisse, die das Geld durch seine Auslegung in die konstanten und variablen Bestandteile der Produktion eingegangen ist und aus denen es in der Messung ihrer Resultate zurückkehrt. Bringt man die drei Geldfunktionen auf eine Formel – also das Umschlagen und Vereinigen von Qualität und Quantität, die das Geld als Maß und Tauschmittel durchführt, während es selbst quantitativ als Kapital umschlägt –, bringt man die drei Funktionen auf eine Formel, so gibt die Verwertung im Geld das Maß für sich ab, und zugleich erhebt sie sich zum Maß ihrer selbst. Das Abgeben, mit dem die
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Wertformanalyse den Anfang macht, stellt sich nun als Erhebung der Verwertung zum Maß ihrer selbst heraus. Damit zieht die „erste Pointe“ des Maßes: dass das Maß die durch Messung identifizierte Qualität erst mit sich bringt, eine zweite Pointe nach sich, nämlich dass das Maß sich ebenso entwickeln muss wie das Gemessene. Im Geld wird zwar nur eine zeitlos-abstrakte Zeit für die Messung der Resultate der Verwertung in Anspruch genommen, aber weil darin die Produktivkraft ermittelt und die gesellschaftlich notwendige Durchschnittsarbeitszeit vergegenwärtigt wird, darum ist das Maß jeweils ein spezifisches, sich ständig aktualisierendes Maß. Das Geld, obwohl es nur für eine reine, übersinnliche Werteinheit steht, wird zum sich spezifizierenden Quantum, weil es durch seine drei Funktionen die Verzeitlichung der Zeit durch die Verwertung von toter und lebendiger Arbeitszeit durchführt und dabei als Kapital quantitativ umschlägt. Das Geld schließt somit durch seine Maßfunktion seinen kapitalistischen Selbstbezug, und zwar so, dass es die Produktivität einer in die Selbständigkeit entlassenen Verwertung erschließt. Ja, letztlich muss das Geld in Form der Zirkulation messen, was es selbst in toter und lebendiger Arbeit gewesen ist. Das Geld muss dieselbe Verwertung, in die es sich auslegt, durch die Messung ihrer Resultate quantitativ identifizieren; sein Auslegen muss dem Geld also in den Waren das eigentliche „Objekt“ der Messung werden. Und seine Auslegung wird dem Geld nur zum Objekt, indem die Verwertung von v und c in ihren Resultaten, den Waren verendlicht wird, sodass das Geld, wenn es die Produktion nachträglich und äußerlich, in Form der Zirkulation der Waren, identifiziert, dadurch aus der Auslegung zurückkehrt und quantitativ umgeschlagen ist. So wird das Geld, indem ihm in den Waren das Auslegen in die variablen und konstanten Mittel seiner Rückkehr zum Objekt einer Messung wird, zur „automatischen Subjektivität“ (Marx). Weil die abstrakte Zeit – obwohl das reine Sein, ein Übergehen nur in-sichselbst oder die unmittelbare Identität –, weil die abstrakte Zeit im Geld in sich selbst eintritt und quantitativ bestimmt wird, sodass ihre Identität reflexiv wird und in ein Selbstverhältnis gerät, darum ergibt sich die Notwendigkeit eines doppelten Zeitbegriffs. Es gibt durch das Geld einerseits eine zeitlose Zeit, die durch ihre rein quantitative Bestimmung gegenwärtig oder zeitlos gehalten ist, aber diese quantitativ identifizierte Zeit resultiert andererseits aus ihrer Verzeitlichung durch die Verwertung von toter und lebendiger Arbeitszeit. Genauer gesagt, ist es ein und dieselbe Zeit, die doppelt bestimmt ist. Die Qualität der zeitlosen Zeit besteht einerseits darin, allein quantitativ bestimmt zu sein, aber die Qualität quantitativer Verhältnisse besteht wiederum darin, dass die Zeit gleichsam in-sich selbst eintritt, sodass ihre Identität reflexiv wird und sich verzeitlicht. Nun, da alle drei Funktionen entwickelt sind, soll zum Abschluss gezeigt werden, inwiefern das Geld mit der Verzeitlichung der Zeit auch ein methodisches Umgehen mit der Zeit ermöglicht.
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Das spekulative Rechnen mit der Zeit: Das Auslegen des Geldes in die Mittel seiner Rückkehr als Rechnen mit der Gewordenheit der Zukunft; Futur II oder G-G' Der reflektierte Umgang mit der Zeit findet durch alle drei Bestimmungen des Geldes statt. Fasst man diese drei Funktionen zusammen, so stellt sich im Geld, wie eingangs erwähnt, das bewusstlose Rechnen mit einer im Rechnen quantitativ ebenso bestimmten wie zeitlos identisch gehaltenen Zeit ein. Es stellt sich einerseits durch das individuelle Denken und Handeln all der einzelnen Subjekte ein, und doch ist und bleibt es andererseits das Geld, das mit der Identität der Zeit rechnet, und zwar auf eine naturwüchsig-bewusstlose, auf eine unmittelbare sowie auf eine gesamtgesellschaftliche Weise. Sowohl jenes vereinzelt-individuelle und verstandesmäßige wie auch dieses gesamtgesellschaftliche, überindividuell-„vernünftige“ und objektive Rechnen ist wiederum einerseits streng mathematisch und quantitativ eindeutig, denn durch das Geld misst die kapitalistische Gesellschaft ihr Selbstverhältnis wie eine Naturqualität und wendet es quantitativ ins Positive. Andererseits ist dasselbe Rechnen ein spekulatives Rechnen und für die Subjekte im Geld unverfügbar gehalten – dass das Geld die Verzeitlichung in seinen quantitativen Bestimmungen zwar identifiziert und gegenwärtig, aber auch unverfügbar hält, das macht ja gerade seine „automatische Subjektivität“ aus. Im Gegensatz zum rein mathematischen Rechnen, das mit einer reinen Identität rechnet, die zeitlos bleibt, und im Gegensatz zur Naturwissenschaft, die mit einer Natur rechnet, deren Eigenschaften in der Zeit identisch bleiben, führt das Geld im Rechnen mit Arbeit und Kapital die abstrakte, zeitlose Zeit in eine Verzeitlichung, die das Rechnen nicht fertig werden lässt und in die Geschichte führt. Dieses Rechnen der Ökonomie mit sich selbst im Geld soll den Abschluss der Skizze bilden. Erst jetzt erst, nachdem das Maß der abstrakten Zeit als Mittel ihrer Verzeitlichung durch Arbeit und Kapital entwickelt ist, wird deutlich, dass der Eintritt der Zeit in sie selbst zur automatischen Subjektivität des Geldes wird, sodass die kapitalistische Ökonomie einerseits blind und hinterrücks mit sich selbst rechnen kann, andererseits aber unverfügbar gehalten ist. Erst darauf aufbauend kann begründet werden, warum es so scheint, als ob das Geld sich selbst zeitigte, aber nicht nur in der Verwertung von Arbeit und Kapital, sondern auch in anderen Auslageund Anlageformen, etwa im Kredit und im Zins, in der Spekulation und im Aktien- und Finanzkapital. In dieser Selbstzeitigung des Geldes wirken seine drei Funktionen zusammen, sodass das Rechnen mit der Identität der Zeit methodisch wird. Und das Auslegen des Geldes in die Mittel seiner Rückkehr ist im ganz praktischen Sinne dieses Auseinanderlegen der Methode in die Form ihres Inhalts. Wird das methodische Rechnen mit der Zeit in eine Form ausgelegt, muss auch diese Form zeitlich auszulegen sein, und zwar im Sinne des Futur Perfekt, des Futur II. Das Futur II ist gleichsam die Zeit der dritten Bestimmung des Geldes, die Zeit seiner automatischen Subjektivität durch seinen Selbstbezug Geld-als-Geld, jenes Selbstbezugs, der sich durch den Inhalt der Form G-W-G', die Verwertung, begründen muss. Futur Perfekt heißt, dass die Gegenwart an ihrer Zukunft und
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durch ihre Zukunft „gemessen“ wird. Mit anderen Worten, im Kapitalismus wird von der Gewordenheit der Gegenwart ausgegangen. Die Gegenwart ist aber nicht nur durch das Vergangene geworden, sondern die Gegenwart wird in Rücksicht auf die Gewordenheit auch der Zukunft bestimmt. Die Gegenwart wird bestimmt durch das, was sie in Zukunft gewesen sein soll. Denn in der Auslegung des Geldes geht es um seine kapitalistische Bestimmung, darum, was das Auslegen des Geldes in Zukunft wert gewesen sein wird. Oder vielmehr kann gerade nicht im Voraus berechnet werden, was die Auslegung des Geldes in Zukunft, nach seiner Rückkehr, wert gewesen sein wird; nur in einem spekulativen Sinne kann das Geld methodisch in seine Selbstzeitigung ausgelegt werden, nur spekulativ kann mit der Identität der Zeit methodisch gerechnet werden. Für die Verwertung des Werts hat Marx das spekulativ-methodische Auslegen des Geldes in die Elemente seiner Rückkehr, wie oben skizziert, ausführlich gezeigt. Er zeigt, dass die Quantität des Geldes in die variablen und konstanten Elemente der Verwertung ausgelegt werden muss, und dass sich erst in der Realisierung ihrer Resultate, erst durch das Übergehen und Zirkulieren der Warenwerte, herausstellen wird, was, gleichsam rückwirkend, die Verwertung, und mit ihr das Auslegen des Geldes darin, wert gewesen sein wird. Zudem wird das Geld im variablen und konstanten Kapital nicht nur in die Mittel seiner Rückkehr ausgelegt, sondern in die Mittel seiner vermehrten Rückkehr. Dasselbe gilt nun auch für andere Auslegungen und Anlagen des Geldes, insbesondere für Kreditgeld und Zins. Es kommt allerdings mit Marx darauf an, hier eine Art Axiom geltend zu machen: Die Zeitigung im Sinne des G’ kann nur aus der Verzeitlichung der Ware Arbeitskraft durch das Kapital herkommen. Alle Vermehrungen des Geldes müssen früher oder später darauf zurückgeführt werden, wo immer sich das Geld auch befindet, wie immer es auch ohne Verwertung vermehrt worden sein mag. Das ist die letzte Konsequenz daraus, dass sich die quantitative Bestimmung des Geldes in letzter Instanz allein aus der Verwertung von toter und lebendiger Arbeitszeit ergibt. Das Geld selber muss diese „letzte Konsequenz“ ziehen, wenn es in seinen quantitativen Bestimmungen das gesellschaftliche Verhältnis vergegenwärtigen und darin wiederum dessen Produktionsverhältnis wiedergeben muss. Diese letzte Konsequenz ergibt sich schlicht daraus, dass das gesellschaftliche Verhältnis im Geld sich selbst entsprechen muss. Genauer gesagt, ist es die Verwertung, die sich im Geld selbst entsprechen muss. Darum müssen alle anderen Vermehrungen des Geldes, die das Geld (noch) nicht durch die Verwertung vermehrt haben, früher oder später ins Verhältnis zur Verwertung gesetzt werden – eben das macht zur Zeit die Krise aus.
3. Schluss Wir können nun die am Anfang gestellte Frage beantworten: Eine immanente „Kritik durch Darstellung et vice versa“ ist durch die Entwicklung der drei Geldfunktionen möglich – aber nur indem gezeigt wird, dass das Geld selbst eine Dar-
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stellung ist. Die quantitative Bestimmung des Geldes, das ist die Darstellung einer Verwertung, und durch diese Darstellung wird die Verwertung nicht nur realisiert und identifiziert, sondern auch reflexiv. Dadurch ist das Geld die Qualität einer bloßen Identifikation, die unmittelbar mit der identifizierten Qualität verschränkt ist: Der Verwertung ist ihre Identifikation und Darstellung durch das Geld keine äußerliche Reflexion, sondern sie tritt darüber in sie selbst ein. Dieser Eintritt der Verwertung in sie selbst ist nur durch ihre Auflösung in die Zeit angemessen zu bestimmen, wobei es eben das Geld ist, das diese Auflösung durchführt und sie dem Bewusstsein und der Wissenschaft gleichsam vorenthält. Es ist geradezu der historische Materialismus des Geldes, die Zeit durch eine Messung quantitativ zu „erkennen“ und dadurch in sie selbst übergehen zu lassen, sodass die Zeit im quantitativen Übergehen in ein Selbstverhältnis eintreten kann. In der quantitativen Bestimmung des Geldes bleibt die Zeit anwesend, und dadurch kann in der kapitalistischen Gesellschaft mit der Zeit gerechnet werden; die Zeit bleibt aber auch unverfügbar und unberechenbar, weil in den quantitativen Bestimmungen des Geldes es das Geld selbst ist, das rechnet und im Rechnen den Wert der Zeit „begreift“. Der reflektierte Umgang mit der Zeit ist untrennbar mit den Funktionen des Geldes verbunden, weil das Geld im Auslegung in die konstanten und variablen Elemente seiner Rückkehr, im Realisieren der Resultate dieser Elemente und in seiner Spezifizierung als Quantum sowie in seinem Umschlagen als Kapital dieses Rechnen ist. Angesichts des gewaltigen Umfangs der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie konnte dieses Rechnen mit der Zeit nur skizziert werden. Man verstehe das Unterfangen aber nicht falsch! Es geht nicht darum, aus Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie erneut – immer noch? – eine Theorie zu machen. Nur dass diesmal für die Gesellschaft das Rechnen mit der Zeit durch das Geld Substanz und Subjekt sind (oder Substanz als Subjekt), statt die Arbeit und ihre Klasse. Es geht im Gegenteil darum, mit Marx „hinter“ die Naturalisierung und Ontologisierung der Zeit zu kommen und dadurch eher eine Kritik der Wissenschaft als eine wissenschaftliche Kritik anzufangen. Solange jedenfalls die Zeit wie eine von der Natur gegebene Qualität hingenommen wird, solange kann die Frage nach der spekulativen Identität von Wert und Geld nicht einmal angemessen gestellt werden. Obwohl die neue Marx-Lektüre im deutschsprachigen Raum seit nunmehr über 40 Jahren um die Verschränkung von Geld und Wert kreist, und obwohl die neuere französische Philosophie, ihre Marx-Lektüre eingeschlossen, noch länger um die Kritik der Repräsentation kreist und eine Dekonstruktion der Präsenz angefangen hat, wurde weder hier noch dort gefragt, warum das Maß als konstitutiv reflektiert werden muss für die qua Messung identifizierte Qualität. Niemand hat mit Marx gefragt, warum die kapitalistische Gesellschaft sich im Geld an ein und dieselbe Zeit hält, und warum das Geld mit der quantitativen Identifikation dieser Zeit dieselbe erst anwesend sein lässt, während es gleichzeitig für ihre Verzeitlichung und Ausbeutung sorgt. Niemand hat nach Marx je gefragt, warum im Kapitalismus überhaupt eine scheinbar natürliche Zeit durch lebendige und tote Arbeit in Wert gesetzt und zu einer rein gesellschaftlichen Qualität wird, und warum die
ZEIT BEI MARX – DAS MASS ALS MITTEL DER VERZEITLICHUNG
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Verwertung und Ausbeutung dieser Zeit zur Produktivkraft wird, und warum das Geld das Produktionsverhältnis dafür ist. Niemandem ist aufgefallen, dass in Marx’ Kapitalismuskritik das Geld durch die Identifikation des gesellschaftlichen Verhältnisses auch eine Art Übersetzung von Natur und Gesellschaft übernimmt und ein Paradox ergibt: die Naturalisierung einer rein gesellschaftlichen Qualität ist zugleich die Vergesellschaftung durch eine Naturqualität. Der Kern der Ökonomie, der Zusammenhang von Wert und Geld, ist zwar als Rätsel zugegeben worden. Das Rätsel wäre aber auch seine Lösung, würde das Geld wenigstens konsequent zu einem Rätsel entwickelt. Zu einem Rätsel, für das es keine Lösung gibt, weil die zeitliche Form des Rätsels die Lösung seines Inhalts ist: Das Geld setzt tote und lebendige Arbeitszeit durch die Messung ihrer Resultate einer Selbstverwertung aus, und dasselbe Geld, das diese Verwertung misst, muss sich in sie auch auslegen und in der Verzeitlichung der Zeit durch Arbeit und Kapital auf quantitative Weise umschlagen.
SAMI KHATIB
Walter Benjamin und Karl Marx Der „Begriff der Geschichte“ und die „Zeit des Kapitals“
Gegen Abend fand mich Brecht im Garten bei der Lektüre des ‚Kapital‘. Brecht: ‚Ich finde das sehr gut, daß Sie jetzt Marx studieren – wo man immer weniger auf ihn stößt, und besonders wenig bei unsern Leuten.‘ Ich erwiderte, ich nähme die vielbesprochnen Bücher am liebsten vor, wenn sie aus der Mode seien. Walter Benjamin, 19381
„Es ist nicht schwierig, führt aber nicht sehr weit, Benjamin seine Mißverständnisse der Marxschen Theorie nachzuweisen“2, resümierte am deutlichsten 1982 Benjamins Herausgeber Rolf Tiedemann. Zwei Jahre später hielt Heinz Dieter Kittsteiner dagegen: „Erstens ist es schwierig, und zweitens führt es weit.“3 Wie weit ein solches Unternehmen hätte führen können, hat der Autor dieses Einspruchs seinerzeit in seinem Benjaminaufsatz Erwachen aus dem Traumschlaf4 anzureißen vermocht. Seither ist die Konstellation Benjamin-Marx trotz einer unüberblickbaren Vielzahl von neuen Benjaminforschungsarbeiten bis auf wenige bemerkenswerte Ausnahmen5 nicht mehr weiter erkundet worden. Um diese einst kontrovers 1 Walter Benjamin, Tagebuchnotizen 1938, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. VI, Frankfurt a. M., 1985, S. 537. Benjamin wird im Folgenden im Text (GS) nach der Ausgabe Benjamin, Walter, Gesammelte Schriften, hg. v. Hermann Schweppenhäuser, Rolf Tiedemann, 7 Bde., Frankfurt a. M., 1972 ff. zitiert. 2 Rolf Tiedemann, „Einleitung des Herausgebers“, in: Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, GS V, S. 28. 3 Heinz Dieter Kittsteiner, „Erwachen aus dem Traumschlaf. Walter Benjamins Historismus“, in: ders., Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a. M., 1998, S. 150. 4 Heinz Dieter Kittsteiner, „Erwachen aus dem Traumschlaf. Walter Benjamins Historismus“, in: ders., Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a. M., 1998. 5 Eine Antwort auf Kittsteiner findet sich bei Wohlfarth, Irving: „Re-Fusing Theology. Some First Responses to Walter Benjamin‘s Arcades Project“, New German Critique, No. 39/Second Special Issue on Walter Benjamin, Autumn 1986, S. 3-24. Für neuere Ansätze einer Benjamin-Marx-Lektüre siehe u. a. Susan Buck-Morss, The Dialectics of Seeing. Walter Benjamin and the Arcades Project, Cambridge (Mass.), 1989; Slavoj Žižek, Der erhabenste aller Hysteriker: Psychoanalyse und die Philosophie des deutschen Idealismus, Wien, 1992; Margaret Cohen, Profane Illumination. Walter Benjamin and the Paris of Surrealist Revolution, Berkeley u.a., 1993; Peter Osborne, The Politics of Time. Modernity and Avant-Garde, London, New York, 1995; Martin Blobel, Polis und Kosmopolis, Bd. I-III, Würzburg, 1999 f.; Mattias Fritsch, The Promise of Memory. History and Politics in Marx, Benjamin, and Derrida, New York, 2005; Löwy, Michael, Fire Alarm. Reading Walter Benjamin‘s ‚On the Concept of History‘, London, 2005; Ji-Hyun Ko, Geschichtsbegriff und historische Forschung
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diskutierte Konstellation6 heute wieder in den Blick zu nehmen, gilt es zunächst eine höchst wechselvolle Rezeptionsgeschichte abzutragen, in der Benjamin vom sogenannten „Kultautor“ der marxistisch antiautoritären Studentenbewegung in den späten 1960er und 1970er Jahren über den wieder- und neuentdeckten Postmodernen avant la lettre in den 1980er Jahren und schließlich zur omnipräsenten Zitiermaschine in den heutigen Geisteswissenschaften weitergereicht wurde. Entspannen sich um Benjamins Marxismus einst universitätslinke Kontroversen7, scheint Benjamin heute, am Ende der Postmoderne, im Pantheon der europäischen Kulturgüter angekommen, inventarisiert und philologisch nach allen Seiten hin ausgedeutet. Sein eigenartiger Marxismus, vorgetragen im apodiktischen Gestus eines linksradikalen Intellektuellen, ist zur Idiosynkrasie eines unkonventionellen Bildungsbürgers, die ätzende Sprachmilitanz des „destruktiven Charakters“ in die „rettende Kritik“ der Moderne umgedeutet. Textliche Anknüpfungspunkte, Benjamin und Marx heute wieder ins Gespräch zu bringen, finden sich indes zuhauf – zuvorderst in Benjamins Exposés und Konvoluten seines unvollendeten Passagen-Werks (1927-40), den Baudelaire-Studien (1937-39) und in seinen letzten Thesen Über den Begriff der Geschichte (1940). Benjamins Interesse für die „politische Praxis des Kommunismus“ begreift selbige anfangs „nicht als theoretisches Problem sondern zunächst als verbindliche Haltung“8; sein späteres theoretisch-philosophisches Interesse an Marx entzündet sich erst an der Lektüre von Georg Lukács’ bahnbrechender Aufsatzsammlung Geschichte und Klassenbewußtsein (1923), der er in einer Rezension von 1929 zugute hält, das „geschlossenste philosophische Werk der marxistischen Literatur“ (GS III, 171) zu sein. Benjamins erste Marxoriginallektüre Ende der 1920er Jahre interessiert sich allerdings noch nicht für den Lukácsschen Problemkreis von „Entfremdung“, „Fetischcharakter“ und „Verdinglichung“, sondern mit Klassenkämpfe in Frankreich für eine Schrift, die zusammen mit Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte vielleicht als „Marxsches Passagen-Werk“ zu bezeichnen wäre. Ab Mitte der 1930er Jahre beginnt Benjamin schließlich mit einer gründlichen Lektüre des
bei Walter Benjamin. Ein Forschungsprogramm zu Benjamins Kategorien Geschichte, Moderne und Kritik, Frankfurt a. M., 2005; Esther Leslie, „Ruin and Rubble in the Arcades“, in: Walter Benjamin and the Arcades Project, hg. v. Beatrice Hanssen, London, New York 2006, S. 87-112; Irving Wohlfarth, „Die Passagenarbeit“, in: Benjamin Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Burkhardt Lindner, Stuttgart, 2006, S. 251-74. 6 Vgl. u. a. Materialien zu Benjamins Thesen „Über den Begriff der Geschichte“, hg. v. Peter Bulthaup, Frankfurt a. M., 1975. 7 Vgl. exemplarisch die Benjamin-Ausgabe der Berliner Zeitschrift Alternative, insbesondere den Artikel von Heinz Dieter Kittsteiner, „Die ‚Geschichtsphilosophischen Thesen‘“, Alternative, 56/57 (Oktober/Dezember 1967), S. 243-251. 8 Benjamin an Scholem, Brief vom 16.9.1924, in: Walter Benjamin, Gesammelte Briefe, hg. v. Christoph Gödde, Henri Lonitz, Bd. II, Frankfurt a. M., 1996, S. 483.
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ersten Bands des Kapital9, außerdem der Marxschen Frühschriften10 und der Manuskripte des Karl Marx-Buchs von Karl Korsch11. Das bekannteste und im Briefwechsel mit Adorno heftig umstrittene Ergebnis dieser Lektüren ist sicherlich Benjamins Adaption der Marxschen Theorie des „Fetischcharakters der Ware“ in der Figur der „Phantasmagorie“. Die hier vorgeschlagene Gegenüberstellung findet mit Benjamins letzten Thesen Über den Begriff der Geschichte (1940) allerdings auf einem Terrain statt, auf dem Benjamin und Marx auf den ersten Blick kaum gegensätzlicher zueinander stehen könnten. Waren für Marx die „Revolutionen […] die Lokomotiven der Geschichte“ (MEW 7, 85)12, so verstand doch Benjamins berühmtes Diktum die Revolutionen als den „Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“ (GS I, 1232) Wenn wir nach Marx „nicht in der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen Produktionsbedingungen und ihnen entsprechenden Verkehrsverhältnisse für eine Klassenlose Gesellschaft verhüllt vorfänden, wären alle Sprengversuche Donquichoterie.“13 Benjamin dagegen wähnt sich jenseits der Aporien von (objektiv) „materiellen Produktionsbedingungen“ und (subjektiv) voluntaristischen „Donquichoterien“, denn für seinen messianischen Zeitbegriff „war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.“14 (GS I, 704) Nicht zuletzt wegen seines anti-evolutionistischen bzw. nicht-fortschrittsgläubigen Begriffs der Geschichte befand Hannah Arendt einst, dass Benjamin „der wohl der seltsamste Marxist gewesen sein“ dürfte, „den diese an Seltsamkeiten nicht arme Bewegung hervorgebracht hat“15. In der Tat lässt Benjamins eigenwillige Verschmelzung von materialistischer Theologie und messianischem Marxismus ihn als singuläre Gestalt im Kontext des kritischen Marxismus erscheinen, die in keine Schublade so recht passen will. Diese Sonderstellung im Blick, versuche ich im Folgenden die Konstellation Benjamin-Marx entlang ihrer Geschichts(zeit)model9 Vgl. u. a. das Konvolut X (Marx) des Passagen-Werks, GS V, 800 ff. Eine erste Rezeption des Marxschen Kapital lässt sich bereits auf die späten 1920er Jahre datieren, in denen Benjamin im Rahmen seiner Studien zu den frühen Passagen-Entwürfen Notiz von der Marxschen Theorie des „Fetischcharakters der Ware“ und des Kapitels zum „Tendenziellen Fall der Profitrate“ nimmt. Vgl. GS V, 1036 und Tiedemanns Ausführungen in: GS V, 24, Anm. 12. 10 Vgl. die Ausgabe Karl Marx, Der historische Materialismus. Die Frühschriften, hg. v. S. Landshut, J. P. Mayer, 2 Bde., Leipzig, 1932. 11 Vgl. Walter Benjamin, GS V, 812 ff. Benjamin hatte vermutlich über Brecht Einsicht in das Manuskript des späteren Korsch-Titels (vgl. Karl Korsch, Karl Marx, Frankfurt a. M., 1967). 12 Die Schriften von Marx werden im Folgenden – wenn nicht anders angeben – im Text („MEW“) nach der Ausgabe Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, 43 Bde., hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin, 1956 ff. zitiert. 13 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin, 1953, S. 77. (Im Folgenden im Text zitiert als „Gr“). 14 Dieses berühmte Zitat klingt tatsächlich nach einer anarchistisch-messianischen Radikalisierung der Lukácsschen Revolutionstheorie seines Lenin-Buchs, von dem Benjamin ab 1925 Kenntnis hatte: „Ist der Grundcharakter der Zeit revolutionär, so kann eine akut revolutionäre Situation jeden Augenblick eintreten. Zeitpunkt und Umstände ihres Eintretens sind kaum jemals genau vorausbestimmbar.“ (Georg Lukács, Lenin, Neuwied, Berlin, 1967, S. 29.) 15 Hannah Arendt, Walter Benjamin. Bertolt Brecht. Zwei Essays, München, 1971, S. 18.
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le zwischen Fortschritt und Linearität, Zyklik und Wiederholung in den Blick zu nehmen. Meine Engführung schlägt – mit Benjamin für Marx – zunächst vor, Benjamins Kernmotiv einer Kritik sozialdemokratischer und historistischer Geschichtsvorstellungen kapitaltheoretisch zu entschlüsseln. Danach versuche ich – mit Marx für Benjamin – aus Marx’ Kapital- und Geschichtsbegriff zwei Geschichtszeitmodelle herauszudestillieren, deren zeittheoretische Struktur mit Benjamin gegenzulesen wäre.
Mit Benjamin für Marx Wenn Benjamin mit seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte (1940) seinerzeit die größtmögliche Abkehr vom sozialdemokratischen Revisionismus wie vom Stalinismus, mithin überhaupt vom traditionellen Marxismus zu vollziehen versuchte, bleibt die Frage, wie er im Anschluss an Marx dennoch an der Vorstellung einer proletarischen Revolution festhalten und sich noch 1940 fast schon trotzig als „historischen Materialisten“ bezeichnen konnte. Zum Marxschen Text lassen sich auf den ersten Blick nur wenig Brücken schlagen, scheint doch zwischen Benjamins revolutionärem „Tigersprung ins Vergangene“ (GS I, 701) und der von Marx’ im Achtzehnten Brumaire als weltgeschichtliche „Totenbeschwörungen“ (MEW 8, 116) gescholtenen Wiederaufführungen vergangener Geschichtsszenen kaum Vermittlung möglich. Die produktive Nähe von Benjamin und Marx ist also nicht einfach gegebenen, sondern verlangt aufgespürt zu werden. Als Einstieg bietet sich eine Marxlesart an, die Benjamin als Notiz für seine Geschichtsthesen formuliert hat. „Man kann im Werk von Marx drei Grundbegriffe namhaft machen und die gesamte theoretische Armatur des Werks als Versuch betrachten, diese drei Begriffe unter einander zu verschweißen. Es handelt sich um den Klassenkampf des Proletariats, um den Gang der geschichtlichen Entwicklung (den Fortschritt) und um die klassenlose Gesellschaft. Bei Marx stellt sich die Struktur des Grundgedankens folgendermaßen dar: durch eine Reihe von Klassenkämpfen gelangt die Menschheit im Verlaufe der geschichtlichen Entwicklung zur klassenlosen Gesellschaft. = Aber die klassenlose Gesellschaft ist nicht als Endpunkt einer historischen Entwicklung zu konzipieren. = Aus dieser irrigen Konzeption ist unter anderm, bei den Epigonen [,] die Vorstellung von der ‚revolutionären Situation‘ hervorgegangen, die bekanntlich nie kommen wollte [.] = Dem Begriff der klassenlosen Gesellschaft muß sein echtes messianisches Gesicht wiedergegeben werden, und zwar im Interesse der revolutionären Politik des Proletariats selbst.“ (GS I, 1232)
Bereits hier fällt auf, dass sich Benjamins Marxlektüre noch an den Dogmen des zum „historischen Materialismus“16 erstarrten Parteimarxismus abarbeiten musste. 16 Benjamins Verwendung der Bezeichnungen „historischer Materialist“ bzw. „historischer Materialismus“ erscheint in den Thesen Über den Begriff der Geschichte nur auf den ersten Blick widersprüchlich. Bezieht er sich auf ersteren durchweg positiv, so scheint letzterer eine distanzierende
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Seine Aufzählung der drei Marxschen „Grundbegriffe“ hat mindestens einen entscheidenden vierten „vergessen“: den des Kapitals. Dieses geradezu symptomatische „Vergessen“ – soviel sei vorweggenommen – wird entscheidende Auswirkungen für Benjamins Kritik des kapitalistischen Geschichtskontinuums haben. Dessen ungeachtet interessiert hier zunächst, welche Variation Benjamin der Trias von Klassenkampf des Proletariats, geschichtlicher Entwicklung und klassenloser Gesellschaft angedeihen lässt. Sein geschichtspolitischer Einspruch ist zugleich anti-teleologisch (kein Endpunkt der Geschichte), anti-evolutionistisch (keine Entwicklung zu diesem Endpunkt) und anti-deterministisch (keine vorgängige Bestimmung des revolutionären Kairos). Bekanntlich war diese Kritik in erster Linie gegen den Fortschrittsglauben eines Arbeiterbewegungsmarxismus gemünzt, der selbst noch im Angesicht von Faschismus und Weltkrieg auf den unvermeidlichen Sieg des Sozialismus setzte. Die Revolutionstheorie des schließlich zerschlagenen oder stalinisierten Parteimarxismus war spätestens mit dem Hitler-Stalin-Pakt unrettbar blamiert. Doch Benjamins geschichtspolitische Intervention reicht über ihren tagespolitischen Kontext hinaus, berührt sie doch eine der entscheidenden Grundkonstanten in seinem Denken. Sein Misstrauen gegen bürgerliche und später sozialistische Fortschrittsrhetoriken reicht bis in einen Text aus dem Jahr 1912, in dem er bereits warnt, dass wir „[v]erlieren durch all die glorreichen Fortschritte“ (GS II, 25). Zwei Jahre später, 1914, in einer Ansprache vor Studenten findet sich dieser Gedanke bereits ausformuliert, wie er sich auch in seinen Geschichtsthesen hätte finden können. Zur Kritik steht „eine Geschichtsauffassung, die im Vertrauen auf die Unendlichkeit der Zeit nur das Tempo der Menschen und Epochen unterscheidet, die schnell oder langsam auf der Bahn des Fortschrittes dahinrollen.“ (GS II, 75) In den Geschichtsthesen hat Benjamin diesen Gedanken bis in seinen zeitpolitischen Kern radikalisiert. Wenn Benjamin Geschichte nicht mehr als Abfolge objektiv konstatierbarer Gegebenheiten, als „Kausalnexus“ (GS II, 479) begreifen will, geht es ihm letztlich um das Aufdecken des Akts der Geschichtsschreibung selbst. „Will man die Geschichte als einen Text betrachten“ (GS I, 1238), dessen Bedeutung immer erst in der Zukunft – also nachträglich – fixiert wird, stellt sich die Frage nach dem Subjekt der Geschichtsschreibung. Geschichte ist Siegergeschichte; nun aber soll „die Politik […] den Primat über die Geschichte“ (GS V, 491) erhalten. Benjamins geschichtspolitischer Primat zielt in seiner Kritikbewegung in scheinbar zwei unterschiedliche Richtungen: Während seine Historismuskritik auf die objektivistische Fiktion einer Historiographie abzielt, die zu ergründen trachtet, „wie es denn eigentlich gewesen ist“ (GS I, 695), gilt seine Kritik am Parteimarxismus einer politischen Selbstentwaffnung im Namen einer überhistoriWendung zu beinhalten. Es ist hier sehr aufschlussreich, dass Benjamin in der ersten These den „historischen Materialismus“ in Anführungszeichen erwähnt (GS I, 693), während er ab der fünften These (GS I, 695ff.) selbst im Namen des historischen Materialismus’ (ohne Anführungszeichen) spricht, den er auf seinen eigenen anti-historistischen Begriff der Geschichte verpflichten will.
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schen Fortschrittstendenz. Im Zielpunkt beider Kritiken steht allerdings dasselbe objektivistisch-evolutionistische Geschichtsbild: Geschichte als abgeschlossene Vergangenheit und kausale Abfolge von objektiv gegebenen und/oder subjektiv zu verstehenden Ereignissen, die die faktischen „Rohdaten“ zur Anfüllung eines homogenen und leeren Zeitkontinuums zu liefern hätten. Die Parallelität in Benjamins Kritikbewegungen wundert nicht weiter, wenn man sich Kittsteiners Hinweis vergegenwärtigt, dass der Historismus im 19. Jahrhundert gleichzeitig mit dem historischen Materialismus aus dem Zerfall der Geschichtsphilosophie hervorgegangen ist.17 Ohne Kittsteiners an gleicher Stelle vertretene These hier diskutieren zu wollen, wonach Benjamin aufgrund einer Lesbarkeits- und Verstehenstheorie des Geschichtstexts weniger als „historischer Materialist“ denn als „materialistischer Historist“ zu gelten habe18, interessiert im Folgenden die revolutionstheoretische Reichweite dieses in Abkehr von Historismus und Vulgärmarxismus entwickelten Geschichtsbegriffs. Benjamin denkt Revolution als einen Akt retroaktiver Geschichtsschreibung, der im Zitieren vergangener Epochen Geschichte um-schreibt, nachträglich erlöst und dergestalt der Vorstellung eines abgeschlossenen Geschichtskontinuums entreißt: „Jeder Augenblick ist das jüngste Gericht für das, was in irgendeinem frühern Geschehen ist.“ (GS I, 1174) Um diese Konstruktion nachvollziehen und von einer anthropozentrischen Verstehenslehre des Geschichtstexts (Historismus) absetzen zu können, bedarf es eines Verständnisses, wie Benjamin das Verhältnis von Leser/Historiker und Geschichtszitat konzipiert. „Das Geschehen, das den Historiker umgibt und an dem er teil nimmt, wird als ein mit sympathetischer Tinte geschriebener Text seiner Darstellung zu Grunde liegen. Die Geschichte, die er dem Leser vorlegt, bildet gleichsam die Zitate in diesem Text und nur diese Zitate sind es, die auf eine jedermann lesbare Weise vorliegen. Geschichte schreiben heißt also Geschichte zitieren. Im Begriff des Zitierens liegt aber, daß der jeweilige historische Gegenstand aus seinem Zusammenhange gerissen wird.“ (GS V, 595)
Bezieht man diese Stelle aus den Passagen-Konvoluten nun auf die berühmte Stelle aus der 14. Geschichtsthese, wonach die Geschichte „Gegenstand einer Konstruktion [ist], deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet“ (GS I, 701), so ergibt sich folgendes Verständnis. Der Akt des Zitierens bezeichnet genau den Moment der Unterbrechung des Geschichtskontinuums, zugleich den berühmten „Tigersprung ins Vergangene“, der im Kapitalismus nur als „Mode“ erscheint, „unter dem freien Himmel der Geschichte“ aber derjenige ist, als „den Marx die Revolution begriffen hat.“ (GS I, 701) Das geschichtliche Zitat, das im Augenblick der Revolution mit Jetztzeit aufgeladen wird, meint also keineswegs eine tatsächlich identische Wiederholung von Vergangenem, wie 17 Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner, „Erwachen aus dem Traumschlaf. Walter Benjamins Historismus“, S. 153. 18 Vgl. ebd., S. 171.
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sie Marx als „Farce“ und bürgerlichen „Aberglauben an die Vergangenheit“ denunziert hatte. (MEW 8, 115 ff.) Bei Benjamin geht es vielmehr um ein anderes Zitieren – um ein Zitieren, das nicht auf einen bestimmten „historischen Inhalt“ abzielt, sondern den historischen Akt der Geschichtsschreibung selbst wiederholt. Genau das ist auch mit der Benjaminschen Retroaktivität des Geschichtstexts gemeint, wie sie Slavoj Žižek herausgearbeitet hat: „Revolution ‚delivers‘ the past failed attempts by repeating them in their ‚possibility‘, it retroactively realizes their potentials which were crushed in the victorious course of ‚official‘ history.“19 Die Möglichkeit, vergangene gescheiterte Revolutionen in ihrer Möglichkeit zu wiederholen, wiederholt damit ihre Geste des Sprengens ihres jeweiligen historischen Kontinuums, verflüssigt sozusagen nachträglich den einstmals geschriebenen Geschichtstext. Auf der Rückseite dieser öffnenden Bewegung des scheinbar Abgeschlossenen erstarrt der Geschichtstext zum dialektisches Bild, „worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt“ ( GS V, 578). Nur dem wahren Historiker – zugleich dem historischen Materialisten – stellen sich diese flüchtigen Bilder „im Augenblick der Gefahr […] unversehens“ (GS I, 695) ein. Politisch fällt diese Geschichtswiederholung, das Ergreifen des aufblitzenden Bildes mit dem revolutionären Griff nach der Notbremse der Weltgeschichte zusammen. Ohne die Fäden dieser diffizilen Theorie des Geschichtsbilds an dieser Stelle in Gänze entwirren zu können, fällt bereits hier auf, dass für Benjamin der Moment der Revolution – der „Kairos“ – weder jenseits eines zeitlichen Kontinuums („Chronos“) vorzustellen noch als lineare Ereignisabfolge mit gerichtetem Zeitpfeil (Vergangenheit–Gegenwart–Zukunft) zu konzipieren ist.20 Wie Benjamin angesichts einer solchen zeitpolitischen Revolutionsvorstellung den Notausgang aus der Marxschen Revolutionslokomotive ausgerechnet mit Marx selbst finden konnte, hat nicht nur in der marxistischen Benjaminrezeption für viel Verwirrung gesorgt. Doch Benjamin und Marx teilen ein entscheidendes Moment: die Möglichkeit des Denkens einer anderen Zeitform als der des Kapitalismus. Marx geht es letztlich um „disposable time“, um „Zeit, die nicht durch unmittelbar produktive Arbeit absorbiert wird, sondern zum enjoyment, zur Muße, [so] daß sie zur freien Tätigkeit und Entwicklung Raum gibt.“ (MEW 26.3, 252) Während für Marx dieses Emanzipationsprogramm noch in der Geschichte – als Austritt aus der Vorgeschichte – machbar scheint, stellt Benjamin trocken fest: „Die Erfahrung unserer Generation: daß der Kapitalismus keines natürlichen Todes sterben wird. (GS V, 819) Ein natürlicher Tod des Kapitalismus innerhalb der Geschichte – sei es durch politische Faktoren (Revolution/Reform) 19 Slavoj Žižek, Enjoy Your Symptom! Jacques Lacan in Hollywood and out, 2. Aufl., London, New York, 2001, S. 80. Vgl. zum Motiv der Retroaktivität bei Benjamin auch ders., Der erhabenste aller Hysteriker: Psychoanalyse und die Philosophie des deutschen Idealismus, S. 151-171. 20 Vgl. zu Benjamins diskontinuierlichem Zeitverständnis Giorgio Agambens Aufsatz „Zeit und Geschichte. Kritik des Zeitpunkts und des Kontinuierlichen“, in: ders., Kindheit und Geschichte, Frankfurt a. M., 2004. Vgl. zur inneren Struktur und Verflochtenheit der beiden altgriechischen Zeitauffassungen „Kairos“ und „Chronos“ vom selben Autor Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt a. M., 2006, S. 72 ff., insbes. S. 82-85.
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oder kapitalimmanente Tendenzen der Produktivkraftentwicklung – kann mit Benjamin also nicht mehr vorgestellt werden. Entsprechend sucht er die historischpolitische „Wahrheit“ nicht mehr auf Seiten eines objektiven historischen Prozesses, sondern nur noch im „nicht-natürlichen“ messianischen Stillstellen des Geschehens, im revolutionären Kurzschluss von Gegenwart und Vergangenheit als „Jetztzeit“. Letztere bezeichnet Benjamin in der 18. These auch als Zeit, „die als Modell der messianischen [Zeit] in einer ungeheuren Abbreviatur die Geschichte der ganzen Menschheit zusammenfaßt“ (GS I, 703). Diese insistierende, enorm verdichtete und nicht (ver)fließende Jetztzeit widerspricht nicht nur jeder herkömmlichen Vorstellung von Geschichte als linearer Abfolge; sie lässt sich auch nicht als Bergsonsche durée oder Husserlsche „phänomenologische Zeit“21 denken. Vielmehr eröffnet sie eine völlig neue Zeitdimension, die Benjamin bereits in seinen ersten Passagen-Entwürfen Ende der 1920er Jahre an der Figur des dialektischen Bilds auszuweisen versuchte. „Zum dialektischen Bilde. In ihm steckt die Zeit. Sie steckt schon bei Hegel in der Dialektik. Diese Hegelsche Dialektik kennt aber die Zeit nur als eigentlich historische, wenn nicht psychologische, Denkzeit. Das Zeitdifferential, in dem allein das dialektische Bild wirklich ist, ist ihm noch nicht bekannt. Versuch, es an der Mode aufzuzeigen. Die reale Zeit geht in das dialektische Bild nicht in natürlicher Größe – geschweige denn psychologisch – sondern in ihrer kleinsten Gestalt ein. – – Ganz läßt sich das Zeitmoment im dialektischen Bilde nur mittels der Konfrontation mit einem andern Begriffe ermitteln. Dieser Begriff ist das ‚Jetzt der Erkennbarkeit‘.“ (GS V, 1037 f.)
Benjamins eigene Dialektik von falschem historischem Prozess und „wahrer“ Jetztzeit stützt sich also nicht nur auf eine Kritik bestimmter Zeitformen, sondern auch auf eine spezielle Erkenntnistheorie bzw. Theorie (historischer) Wahrheit, die bis in ein Textfragment aus dem Jahr 1920/21 zurückreicht: „Die Welt ist jetzt erkennbar. Die Wahrheit besteht im ‚Jetzt der Erkennbarkeit‘. […] Das Jetzt der Erkennbarkeit ist die logische Zeit, welche anstatt des zeitlosen Geltens zu begründen ist.“ (GS VI, 46) Gut 15 Jahre später nimmt er diesen Gedanken im PassagenWerk wieder auf, indem er ihn für seine Theorie des gefährlichen/revolutionären Lesens des Geschichtstexts einer doppelten Historisierung unterzieht. „Der historische Index der Bilder sagt nämlich nicht nur, daß sie einer bestimmten Zeit angehören, er sagt vor allem, daß sie erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen. Und zwar ist dieses ‚zur Lesbarkeit‘ gelangen ein bestimmter kritischer Punkt der Bewegung in ihrem Innern. Jede Gegenwart ist durch diejenigen Bilder bestimmt, die mit ihr synchronistisch sind: jedes Jetzt ist das Jetzt einer bestimmten Erkennbarkeit. In ihm ist die Wahrheit mit Zeit bis zum Zerspringen geladen. (Dies Zerspringen, nichts anderes, ist der Tod der Intentio, der also mit der Geburt der echten historischen Zeit, der Zeit der Wahrheit, zusammenfällt.)“ (GS V, 577 f.)
21 Edmund Husserl, „Über ursprüngliches Zeitbewußtsein“, in: ders., Aufsätze und Vorträge (19111921), hg. v. Thomas Nenon, Hans Rainer Sepp, Gesammelte Werke, Bd. XXV, Dordrecht, 1987, S. 220.
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Der „historische Index“ steckt also nicht nur in den Bildern, sondern auch im Leser bzw. genauer: im Akt des Lesens. Das „zur Lesbarkeit gelangen“ ist für Benjamins Geschichtsbilder nicht einfach gegeben, sondern historisch doppelt verortet. Benjamins Originalität besteht gerade darin, dass er sich mit einer einfachen marxistischen bzw. historistischen Historisierung (‚das Verstehen des historischen Bilds in der Totalität seiner Epoche‘) nicht zufrieden gibt, sondern der „Wahrheit“ einen zweifachen „Zeitkern“ zuspricht, „welcher im Erkannten und im Erkennenden zugleich steckt“ (GS V, 578). In den Geschichtsthesen heißt der zeitpolitische Gegner nun nicht mehr nur „zeitloses Gelten“ (1920/21) oder „zeitlose Wahrheit“ (1935), sondern zuvorderst „homogene und leere Zeit“. Letztere wäre im Folgenden mit Marx als „Zeit des Kapitals“ zu dechiffrieren. Zuvor ist aber noch zu klären, wie Benjamin seine frühe vormarxistische und in strenger Nicht-Intentionalität konzipierte Wahrheitstheorie – „Wahrheit ist der Tod der Intention“ (GS I, 216) – bis in seine letzten Thesen durchhalten kann. Die Lösung besteht darin, dass er seine historische Erkenntnistheorie des „Jetzt der Erkennbarkeit“ mit dem Marxschen Revolutionssubjekt – dem Proletariat – in Eins schiebt. Hierin erinnert sein Ansatz stark an eine messianisch-anarchistische Version des Lukácsschen „Standorts des Proletariats“ aus dem Verdinglichungsaufsatz.22 Dieses Zusammenziehen des im „Jetzt der Erkennbarkeit“ aufblitzenden (unwillkürlichen bzw. unintentionalen) „wahren“ Bilds der Vergangenheit mit dem tätig involvierten, interessierten (erkennenden) Geschichtssubjekt findet sich in einer Notiz zu den Geschichtsthesen deutlich ausformuliert: „Das im Jetzt seiner Erkennbarkeit aufblitzende Bild der Vergangenheit ist seiner weiteren Bestimmung nach ein Erinnerungsbild. Es ähnelt den Bildern der eignen Vergangenheit, die den Menschen im Augenblick der Gefahr antreten. Diese Bilder kommen, wie man weiß, unwillkürlich. Historie im strengen Sinn ist also ein Bild aus dem unwillkürlichen Eingedenken [,] ein Bild, das im Augenblick der Gefahr sich dem Subjekt der Geschichte sich plötzlich einstellt. Die Befugnis des Historikers hängt an seinem geschärften Bewußtsein für die Krise, in die das Subjekt der Geschichte jeweils getreten ist. Dieses Subjekt ist beileibe kein Transzendentalsubjekt sondern die kämpfende unterdrückte Klasse in ihrer exponiertesten Situation. Historische Erkenntnis gibt es allein für sie und für sie einzig im historischen Augenblick.“ (GS I, 1243)23 22 Vgl. Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik, Berlin, 1923, S. 164 ff.; vgl. auch ders., Lenin, S. 33. An dieser Stelle fällt besonders auf, wie weit sich Benjamins Marxismus von Positionen entfernt hat, wie sie sich beispielsweise bei Horkheimer oder Adorno finden. Die immer noch häufig vorgenommene Einordnung Benjamins in die Vorgeschichte der frühen „Kritischen Theorie“ ist daher zum Verständnis der Originalität des Benjaminschen Ansatzes wenig hilfreich. 23 Diese nicht in die Endfassung der Geschichtsthesen aufgenommene Variante zeigt exemplarisch, wie Benjamin mit seinen Denkmotiven operiert, changiert und experimentiert. In der Figur des unwillkürlichen Erinnerungsbilds verarbeitet Benjamin seine Proustlektüre der mémoire involontaire und verbindet sie mit seiner eigenen materialistischen Erkenntnistheorie des Passagen-Werks: „Das dialektische Bild ist zu definieren als die unwillkürliche Erinnerung der erlösten Menschheit.“ (GS I, S. 1233) Letztere wiederum wird vom Marxschen (bzw. Lukácsschen) Revolutionssubjekt, dem Proletariat, erkämpft (vgl. dazu auch GS II, S. 1054).
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Ohne in eine gewiss reizvolle Diskussion der philosophisch-politischen Konsequenzen dieser Erkenntnistheorie einzusteigen24, breche ich die Einlassung zu Benjamins Begriff der Geschichte hier ab und resümiere die wichtigsten Motive für die folgenden Überlegungen zum Marxschen Zeitbegriff des Kapitals: 1) Benjamins Geschichtsbegriff ist es nicht um abgeschlossene, ontologisch voll konstituierte und objektiv konstatierbare Geschehnisse zu tun, sondern um die nachträgliche Befreiung/Erlösung eines unterdrückten Möglichkeitsraums in der Textur der Geschichte selbst. Die (gefährliche) Lesbarkeit dieses Geschichtstexts ist in eine erkenntnistheoretische Revolutionstheorie eingewoben, die in einer doppelten Historisierung den historisch Artikulierenden – den wahren Historiker (GS I, 1238) – und das historisch Artikulierte – das wahre Bild der Vergangenheit (GS I, 695) – zusammentreten lässt. Dieser flüchtige Kreuzungspunkt ist das emphatische Jetzt, das „Jetzt der Erkennbarkeit“, in dem nur dem handelnden Geschichtssubjekt (‚Proletariat‘) das wahre Geschichtsbild (‚dialektisches Bild‘) blitzhaft und unwillkürlich vor Augen tritt. 2) Entsprechend zieht Benjamins messianisch-erkenntnistheoretische Neufassung des „historischen Materialisten“ die Aufgabe des „wahren Historikers“ und des Politikers/Revolutionärs zusammen. Einerseits wird der Historiker zum politischen Akteur, der die messianische Adressierung des Vergangenen nicht ausschlagen kann25, andererseits kann sich der Politiker nicht mehr auf einen positivistisch verkürzten, rein akteurbezogenen Politikbegriff verlassen. Schon Benjamins prophetisches Diktum aus dem Aphorismus Feuermelder (1928) erteilt jeder Klassenkampfvorstellung, die „der schlechten Unendlichkeit im Bilde der beiden ewig ringenden Kämpfer“ (GS IV, 122) huldigt, eine klare Absage: „Nur in Terminen rechnet der wahre Politiker. […] Bevor der Funke an das Dynamit kommt, muß die brennende Zündschnur durchschnitten werden. Eingriff, Gefahr und Tempo des Politikers sind technisch – nicht ritterlich.“26 (GS IV, 122) Dieser nicht-ritterliche oder besser unheroische Akt des Eingriffs, der Entscheidung, des Ergreifens der revolutionären Chance schreibt Geschichte im wörtlichen Sinn: in ihm wird retroaktiv über vergangene Geschichtsschreibungen neu entschieden. 3) Benjamins Motiv des disruptiven Geschichtszitats suspendiert jeden Geschichtsbegriff, der als additive Abfolge von objektiven Geschehnissen konzipiert ist: das revolutionäre Aufladen des Vergangenen mit Jetztzeit sprengt ein Geschichtsmoment aus der „dinghaften ‚geschichtlichen Kontinuität‘“ (GS II, 468) heraus. Dazu muss Benjamins Begriff der Geschichte mit einer zeittheoretischen Vorstellung brechen, die es seit Kant gewohnt war, ein lineares, leeres und homogenes Zeitkontinuum als transzendentale Form von geschichtlichen Ereignissen anzunehmen. Konsequenter Weise läuft Benjamins Kritik vulgärmarxistischer und 24 Vgl. dazu den – soweit ich überschauen kann – gelungensten Beitrag in diese Richtung von Werner Hamacher, „Jetzt. Benjamin zur historischen Zeit“, in: Benjamin Studien/Studies, Bd. 1, hg. v. Helga Geyer-Ryan, Paul Koopman, Klaas Yntema, Amsterdam, New York, 2002, S. 145-83. 25 Vgl. die 2. Geschichtsthese, Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, GS I, S. 693 f. 26 Hervorhebung von mir, S.K.
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historistischer Historiographien auf die Dialektik zweier Zeitformen hinaus: Jetztzeit als verdichtete, historisch kontrahierte Zeit versus „homogene und leere Zeit“ (GS I, 701).
Mit Marx für Benjamin Mit Marx ließe sich nun zeigen, dass es Benjamins Kritik der „homogenen und leeren Zeit“ mit einer Zeitform zu tun hat, die unter anderen Vorzeichen heute, im Zeitalter eines globalen Weltkapitalismus, tatsächlich reale Weltzeit geworden ist. Diejenigen Eigenschaften, die Benjamin mit Blick auf die Zeitvorstellung des traditionellen Marxismus scharf kritisiert – „unendliche Aufgabe“, „unaufhaltsamer (als ein selbsttätig eine grade oder spiralförmige Bahn durchlaufender) Fortschritt“, „unendliche Perfektibilität“ (GSV, 178/GS I, 700) – treffen ironischerweise genau auf das geschichtspolitische Selbstbild des siegreichen Bezwingers des Parteikommunismus zu: auf den Kapitalismus und seine Geschichtszeit. Die Parallelität der Benjaminschen Kritik an Historismus und Sozialdemokratie wäre also beim Wort zu nehmen und dahingehend zu untersuchen, inwiefern sich historistische Geschichts- und normative Forschrittsbegriffe bereits im Zeitalter des Hochkapitalismus als zwei geschichtspolitische Antworten auf dasselbe Unbehagen einer „Unverfügbarkeit des historischen Prozesses“ (Kittsteiner) deuten lassen. Kompliziert wird dieses Unterfangen allerdings dadurch, dass hier genau zu unterscheiden wäre, was eigentlich als ideologische oder utopisch-normative Reaktionsform auf gewisse Ohnmachtserfahrungen und was als geschichtlicher Realprozess zu verstehen wäre. Der Marxsche auf hohem Abstraktionsniveau entworfene Begriff des realen Fort-Schreitens des Kapitals als beständig-dynamischem Wechselkreislauf von Geld–Ware–Mehr-Geld (G-W-G’) wäre also zunächst von jeder normativ-teleologischen Aufladung zu trennen. Dem steht entgegen, dass sich die Marxsche Theorie einer Entfaltung der Produktivkräfte durchaus als untergeschobene Geschichtsteleologie deuten lässt. Auch Marx kennt ein Telos des Weltgeschehens: den Kommunismus bzw. die klassenlose Gesellschaft, der Benjamin ihr „echtes messianisches Gesicht wieder[geben]“ (GS I, 1232) und von den Zumutungen sozialdemokratisch-normativer Idealbildungen befreien wollte. Trotzdem bleibt mit Kittsteiner der Befund, dass es Marx mit „zwei Zeitpfeilen“ zu tun hat: mit „dem der Geschichtsphilosophie und dem der Politischen Ökonomie.“27 Wenn es hier nun gerade darauf ankommt, diese beiden Bedeutungsschichten des Forschrittsbegriffs – einerseits Norm und andererseits realgeschichtliche Bewegung – auseinanderzuhalten, gilt es zu bedenken, dass bei Marx „[b]eide Zeitpfeile, der teleologisch-moralische und der aus dem Akkumulationsprozeß des Kapitals resul-
27 Heinz Dieter Kittsteiner, „Geschichtsphilosophie und Politische Ökonomie. Zur Konstruktion der historischen Zeit bei Karl Marx“, in: ders., Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a. M., 1998, S. 117f.
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tierende, […] undurchdringlich verflochten“28 sind. Benjamins Begriff der Geschichte, der sich theoretisch nicht weiter auf „das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft“ (MEW 23, 15) eingelassen hat, fokussiert nur die erste Bedeutung des Fortschrittsbegriffs. Kittsteiner versteht daher Benjamins Fortschrittskritik in erster Linie politisch motiviert, da sie unterschätze, „daß die Struktur der Geschichte des Kapitalismus in der von der Kapitalakkumulation erzeugten historischen Zeit mit diesem gewöhnlich als Fortschritt bezeichneten Begriff eines hinter dem Rücken der Produzenten sich vollziehenden Prozesses identisch ist.“29 Und dieser Prozess weist sich, wie wir mit Marx ergänzen können, „in letzter Instanz als der Weltmarkt“ (MEW 3, 37) aus. Was bei Benjamin also konsequent unterbelichtet bleibt, betrifft den Umstand, dass der normative Fortschrittsbegriff des Parteikommunismus nur ein Echo auf den wirklichen Geschichtsprozess, auf das wirkliche Subjekt als Kapital und „automatisches Subjekt“ (MEW 23, 169) ist, das „hinter dem Rücken “ (MEW 23, 59) seiner Akteure prozessiert. Benjamins messianischer Geschichtsbegriff muss deshalb aber nicht verworfen werden, erlaubt er doch – mit Marx für Benjamin – eine kapitaltheoretische Lesart. Da sich aus naheliegenden Gründen ein schematisches Modell simpler Rückbeziehungen zwischen „Basis“ (‚der geschichtliche Realprozess‘) und „Überbau“ (‚Forschrittsideologie‘) verbietet, bleibt zunächst nur eine symptomatische Lektüre des vorhandenen Ideologietexts. Das Stichwort für eine solche Lektüre hat Benjamin mit seiner Kritik der Konkurrenzvorstellung des Fortschrittsglaubens selbst geliefert: Auf der Rückseite des Gedankens der ewigen Wiederkunft des Gleichen, den er im Denken Nietzsches, Baudelaires und Auguste Blanquis aufgefunden hat, erkennt er zugleich „die Spur der ökonomischen Umstände“ (GS I, 663). Diese Spur führt zu den realen Wirtschaftskrisen der Epoche des Hochkapitalismus, durch die sich Ende des 19. Jahrhunderts „die Sicherheit der Lebensverhältnisse […] sehr verminderte“ (GS I, 663). Der Gedanke der ewigen Wiederkunft erfuhr erst dann weitere Verbreitung, „als die Bourgeoisie der bevorstehenden Entwicklung der von ihr ins Werk gesetzten Produktionsordnung nicht mehr ins Auge zu blicken wagte.“ (GS V, 175) Genau in diesem mythisierenden Zug erkennt Benjamin die grundsätzliche Parallelität von Wiederkunfts- und Fortschrittsgedanken. „Der Glaube an den Fortschritt, an eine unendliche Perfektibilität – eine unendliche Aufgabe in der Moral – und die Vorstellung von der ewigen Wiederkehr sind komplementär. Es sind die unauflöslichen Antinomien, angesichts deren der dialektische Begriff der historischen Zeit zu entwickeln ist. Ihm gegenüber erscheint die Vorstellung von der ewigen Wiederkehr als der ‚platte Rationalismus‘ als der der Fortschrittsglaube verrufen ist und dieser letztere der mythischen Denkweise ebenso angehörig wie die Vorstellung von der ewigen Wiederkehr.“ (GS V, 178) 28 Heinz Dieter Kittsteiner, „Geschichtsphilosophie und Politische Ökonomie. Zur Konstruktion der historischen Zeit bei Karl Marx“, in: ders., Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a. M., 1998, S. 118. 29 Heinz Dieter Kittsteiner, „Erwachen aus dem Traumschlaf. Walter Benjamins Historismus“, in: ders., Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a. M., 1998, S. 176.
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Während der Fortschrittsglaube im Bild des linearen Zeitpfeils zu beschreiben wäre, steht für den Gedanken der ewigen Wiederkehr das Bild des Kreises, des ewigen Zyklus. Hier interessiert nun die Überlegung, inwiefern die von Benjamin kritisierten Geschichtszeitmodelle eine kapitaltheoretische Lesart nahelegen. Mit Marx ließe sich dann zeigen, dass die Zeitdimension des Kapitals genau zwischen den Polen von linearem Pfeil (Fortschrittsgedanke) und Zyklus (Wiederkunftsgedanke) oszilliert.30 Für dieses Oszillieren der Kapitalakkumulation G-W-G’ bietet sich das Bild der aufsteigenden Spirale an, die prozesshafte Gerichtetheit (G-G’) und Wiederholung (G-W; W-G) vereinigen kann. Wie aber lassen sich diese beiden Momente zeittheoretisch genauer fassen? Dazu ist zunächst auf Marx’ zeittheoretische Ausführungen zum Kapitalbegriff zurückzugreifen, die selbst wiederum von einem weiteren – utopischen – Zeitpfeil überlagert werden.
Die Zeit des Kapitals In den Grundrissen schreibt Marx, „die Ökonomie der Zeit, darein löst sich schließlich alle Ökonomie auf“ (Gr, 89). Bereits in Das Elend der Philosophie lautet seine Diagnose: „Die Zeit ist alles, der Mensch ist nichts mehr, er ist höchstens noch die Verkörperung der Zeit. Es handelt sich nicht mehr um die Qualität. Die Quantität allein entscheidet alles: Stunde gegen Stunde, Tag gegen Tag; aber diese Gleichmachung der Arbeit ist keineswegs das Werk von Herrn Proudhons ewiger Gerechtigkeit. Sie ist ganz einfach ein Ergebnis der modernen Industrie.“ (MEW 4, 85)
Gegen diese zeittheoretische Gleichmachung beharrt Marx – darin strukturell Benjamin nicht unähnlich – auf einer emanzipatorischen Zeitform, die auf das „absolute Herausarbeiten seiner [des Menschen, S.K.] schöpferischen Anlagen“ abzielt und „[n]icht irgend etwas Gewordnes zu bleiben sucht, sondern in der absoluten Bewegung des Werdens ist“. (Gr, 387) Tatsächlich hallt diese Opposition – hier die absolute Bewegung des qualitativen Menschwerdens, dort die bloß quantitative Ökonomie der Zeit – in Benjamins Gegenüberstellung von „Jetztzeit“ und „homogener und leerer Zeit“ wider. Auch Kittsteiner erkennt bei Marx zwei Zeitbegriffe: „einen utopischen Zeitbegriff“ und „einen Zeitbegriff, bezogen auf das Kapital“.31
30 Die Idee, dass sich die Kapitalzirkulation mit der Figur der ewigen Wiederkehr zusammendenken ließe, ist an sich nicht neu. Explizit ausgesprochen hat diesen Gedanken zuerst Lyotard in seinen Bemerkungen über Wiederkehr und Kapital (1973), wonach die „geregelte Wiederkehr nichts anderes als das Kapital [ist].“ (Jean-François Lyotard, Intensitäten, Berlin, 1978, S. 20.) Wiederaufgenommen und ausgearbeitet findet sich dieses Motiv in der Nietzscheforschung bei Birte Löschenkohl, „Die ewige Wiederkunft des G – W – G‘. Marx’ Spuren in Nietzsches Werk“, in: Andreas Urs Sommer (Hrsg.), Nietzsche – Philosoph der Kultur(en), Berlin; New York, 2008, S. 161-72. 31 Heinz Dieter Kittsteiner, Mit Marx für Heidegger – mit Heidegger für Marx, München, 2004, S. 122.
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Systematisch ausgearbeitet findet sich diese Opposition bei Peter Osborne, der folgende konzeptuelle Paarungen bei Marx identifiziert: „Socially capitalism wage labour alienation value Temporally quantitative homogeneous
v. v. v. v.
communism free activity appropriation wealth
v. empty
qualitative v. absolute movement of becoming“32
Kompliziert wird diese Gegenüberstellung allerdings dadurch, dass Marx’ Begriff der Zeit des Kapitals selbst wiederum über zwei Zeitmodalitäten verfügt, die sich einer einfachen Zuordnung in dieses Schema sträuben. Kittsteiner hat die spezifische Zeitstruktur des Kapitals mit einem Bild aus Musils Der Mann ohne Eigenschaften veranschaulicht: „Der Zug der Zeit ist ein Zug, der seine Schienen vor sich her rollt.“33 Der Zeitpfeil des Fortschritts des Kapitals „ist das Resultat des In-sichKreisens der Verwertungsbewegung.“34 Anders ausgedrückt: aus der Bewegung des sich selbst bewegenden Werts entspringt die „historische Zeit des Kapitals.“35 Letztere ist nicht die lineare Zeit, die die Arbeitszeit in Stunden und Minuten misst, sondern diejenige Zeit, die sich mit der „abstrakten Arbeit“36 und damit der Entwicklung der Produktivität ständig beschleunigt. Bezogen auf den Produktions32 Peter Osborne, „Marx and the Philosophy of Time“, Radical Philosophy, 147 (January/February 2008), S. 17. Osbornes Versuch, Marx zeitphilosophisch zu lesen, dekliniert diese Marxschen Oppositionen für einige der wichtigsten zeitphilosophischen Positionen des 20. Jahrhundert durch: Deleuze, Bergson, Heidegger, Benjamin, Althusser. (Vgl. ebd.) 33 Musil zitiert nach Heinz Dieter Kittsteiner, Mit Marx für Heidegger – mit Heidegger für Marx, München, 2004, S. 120. 34 Heinz Dieter Kittsteiner, Mit Marx für Heidegger – mit Heidegger für Marx, München, 2004, S. 120. 35 Heinz Dieter Kittsteiner, Mit Marx für Heidegger – mit Heidegger für Marx, München, 2004, S. 120. 36 Abstrakte oder „abstrakt menschliche“ Arbeit wird von Marx als diejenige Arbeit bestimmt, die den Wert einer Ware im Unterschied zum Gebrauchswert bildet. (Vgl. MEW 23, 52ff.) Trotz Marx’ unglücklicher Formulierung einer „wertbildenden Substanz“ (MEW 23, 53) soll das Verständnis der abstrakten Arbeit hier weder empiristisch im Sinne einer physiologisch gleichförmigen Arbeit noch substantialistisch im Sinne eines „greifbaren“ objektiven Maßstabs des Werts verstanden werden. Vielmehr ist mit abstrakter Arbeit gemeint, „daß die Waren nur Wertgegenständlichkeit besitzen, sofern sie Ausdrücke derselben gesellschaftlichen Einheit, menschlicher Arbeit, sind, daß ihre Wertgegenständlichkeit also rein gesellschaftlich ist“. (MEW 23, 62, Hervorhebung von mir, S.K.). Dieses rein gesellschaftliche Verhältnis lässt sich nur in der Wertgegenständlichkeit der Waren ausdrücken, deren Maß letztlich im Geld gesetzt ist. Die fertige Geldform soll aber nicht davon ablenken, dass die von der abstrakten Arbeit gestiftete „gespenstige Gegenständlichkeit“ (MEW 23, 52) seltsam „unfassbar“ – eben gespenstisch – bleibt. Nichtsdestotrotz vermittelt sich durch diese Gegenständlichkeit ein reales Gesellschafts- und Machtsverhältnis. Woraus aber die abstrakte Arbeit, sprich der Wert der Waren letztlich besteht, ist nur relational vorstellbar als endlose Verweiskette aller gesellschaftlichen wertbildenden Arbeiten. Bereits hier wird deutlich, dass die von Marx zur Bestimmung der wertbildenden (abstrakten) Arbeit angeführte „gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“ (MEW 23, 53) eine fiktionale Größe bezeichnet, die nicht empirisch berechenbar ist. Das in dieser fiktiven Arbeitszeit ausgedrückte Zeitverhältnis ist aber zugleich real – wenn auch nicht empirisch fassbar, wie im Folgenden zu zeigen sein wird.
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prozess und die historische Entwicklung des Arbeitstags lässt sich mit der Verkürzung und Intensivierung eine „Beschleunigung der historischen Zeit insgesamt“37 verzeichnen. Wenn sich die historische Zeit letztlich als Zeit des Kapitals herausstellen sollte, haben wir es nach Kittsteiner mit zwei Zeitbegriffen zu tun: mit einem abstrakten unabhängigen Zeitmaß, aus dem sich die alltagssprachliche Vorstellung einer linearen oder, wie Benjamin schreibt, „homogenen und leeren Zeit“ speist, und einer dynamischen historischen Zeit des Kapitals, die sich abhängig vom jeweiligen Produktionsniveau konstituiert. Eine ähnliche Unterscheidung taucht im Unterschied von konkreter und abstrakter Arbeit auf: die Zeitform der abstrakten Arbeit scheint einer anderer Ordnung anzugehören, als die der konkreten Arbeit. Absolute Messgeräte, sprich Uhren gibt es nur für letztere. Für die Zeit des Kapitals im Unterschied zum vulgären Zeitbegriff eines in der Zeit Seienden gibt es im herkömmlichen Sinn kein Zeitmaß. Die Zeit des Kapitals ist nämlich, wie Kittsteiner schreibt, „nur insofern ‚in‘ der Zeit, als sie in einen kosmologischen und einen thermodynamischen Zeitpfeil eingebettet ist. Seinen historischen Zeitpfeil aber generiert das Kapital in seiner Bewegung selbst.“38 Anders ausgedrückt: das Kapital ereignet sich in einer Zeit, die es selbst zu erzeugen scheint. Eine verwandte Interpretation der eigentümlichen Zeitstruktur des Kapitals findet sich in Moishe Postones umfangreicher Marxstudie Time, Labour and Social Domination (1993). Auch Postone folgt den unterschiedlichen Zeitdimensionen von konkreter und wertbildender bzw. abstrakter Arbeit, wobei es ihm vor allem um ihre wechselseitige Bedingtheit zu tun ist. Die Beschleunigung der konkreten Arbeit, sprich die Verkürzung der konkreten Arbeitszeit im Industriekapitalismus, schlage sich in einem erhöhten Produktivitätsniveau nieder, das wiederum dazu führe, dass auch die abstrakte Arbeitszeit „kürzer“, „kleiner“ und somit „dichter“ werde. Diese wechselseitige Bestimmung beschreibt Postone als „Tretmühleneffekt“: „Zunehmende Produktivität vergrößert die pro Zeiteinheit produzierte Wertmenge – bis diese Produktivität verallgemeinert wird. An diesem Punkt fällt die in dieser Zeitperiode erzielte Wertgröße wegen ihrer abstrakten und allgemeinen zeitlichen Bestimmung auf ihr vorheriges Niveau zurück. Das Ergebnis ist eine neue Bestimmung der gesellschaftlichen Arbeitsstunde sowie ein neues Basisniveau der Produktivität.“39
„Dieses Paradox“, so Postones Resümee, „kann auf der Grundlage abstrakter Newtonscher Zeit nicht aufgelöst werden. Vielmehr verweist es auf eine andere, übergeordnete Art von Zeit.“40 Diese übergeordnete Zeit ist, wie sich herausstellen wird, die Zeit des Kapitals, die selbst nicht im herkömmlichen abstrakten Zeitmaß einer linearen Zeit messbar ist, sondern die Bewegung dieser abstrakt zeitlichen 37 Heinz Dieter Kittsteiner, Mit Marx für Heidegger – mit Heidegger für Marx, München, 2004, S. 123. 38 Heinz Dieter Kittsteiner, Mit Marx für Heidegger – mit Heidegger für Marx, München, 2004, S. 124. 39 Moishe Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx, Freiburg, 2003, S. 436. 40 Moishe Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx, Freiburg, 2003, S. 440.
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Koordinatenachse selbst ausdrückt. Diese dunkelste Stelle in Postones Marxinterpretation verdient eine genauere Betrachtung, denn die Schwierigkeit liegt tatsächlich darin, dass beide Zeitformen – die der konkreten und die der abstrakten Arbeit – ineinander verschränkt sind. Rein empirisch betrachtet ereignen sich beide Arbeiten „zur selben Zeit“, in der selben gegenständlichen Tätigkeit des Produzierens, logisch aber fallen beide auseinander. Denn die abstrakte, wertbildende Arbeit lässt sich nicht linear wie die konkrete messen: sie wirkt sich erst retroaktiv aus, nachdem sie sich in allen anderen gesellschaftlichen Arbeiten – und damit am erreichten Produktivitätsniveau einer Gesellschaft – gespiegelt hat. Die logische Struktur der abstrakten Arbeitzeit ist also eine gekrümmte, eine in die Zukunft gespannte und retroaktiv in die Gegenwart eingreifende, die sich nicht im Maßstab einer absoluten, linear prozessierenden Zeit messen lässt.41 Wir haben es hier also, ähnlich wie oben mit Kittsteiner herausgestellt, mit einer Zeitform zu tun, die nicht die Bewegung in der Zeit ausdrückt, sondern selbst die dynamisch sprunghafte Bewegung der Zeit darstellt.42 Auch Postone führt für diese Bewegung der Zeit, Zeit des Kapitals oder Zeitform der abstrakten Arbeit den Begriff der „historischen Zeit“43 ein, der sich deutlich von dem der abstrakten bzw. chronometrischen Zeit unterscheidet. Die Bewegung des Kapitals ist also einerseits in der Zeit, zeitigt verschiedene Gebrauchswerte; andererseits kann das Kapital in seiner aufsteigenden Bewegung G-W-G’ konkrete Arbeitszeiten als „abstrakte Arbeit“ akkumulieren, verdichten. Diese Verdichtung lässt sich nur räumlich in einer größeren Menge der in jeder Kapitalzirkulation herausgesetzten Dinge (Waren) messen. Dieser Umstand scheint nicht nur mit einer Newtonschen Zeitvorstellung, sondern auch mit den Kantischen Transzendentalformen der Anschauung, Raum und Zeit, nicht hinreichend vereinbar. Der Raum wird hier selbst zu einer Funktion der Zeit, die sich mit jeder Umlaufzeit des Kapitals beschleunigt. Die zeitliche Dimension jedes Umschlags drückt sich wiederum in einem in die Zukunft gerichteten Zeitpfeil aus, da die Richtung der Kapitalzirkulation als Akkumulation vorgegeben ist. 41 Die Untersuchung einer „unsichtbaren“, auf die Produktionsform bezogenen Zeitform hatte bereits Louis Althusser gefordert: „Wir gehen noch einen Schritt weiter und sagen, daß man sich nicht mit der Reflexion der Existenz sichtbarer und meßbarer Zeiten begnügen darf, daß man vielmehr aus strikter Notwendigkeit die Frage nach der Existenzweise u n s i c h t b a r e r Z e i t e n , R h y t h m e n u n d P r ä g u n g e n stellen muß, die unter der Oberfläche jeder sichtbaren Zeit zu enthüllen wären. Schon eine einfache Lektüre des ‚Kapital‘ zeigt uns, daß sich Marx dieser Forderung zutiefst bewußt gewesen ist. Sie zeigt uns z. B., daß die Zeit der ökonomischen Produktion, sofern sie nur eine spezifische (entsprechend den verschiedenen Produktionsweisen wechselnde) Zeit ist, wie jede spezifische Zeit auch eine k o m p l e x e , n i c h t - l i n e a r e Z e i t i s t : eine Zeit der Zeit, e i n e k o m p l e x e Z e i t , d i e m a n n i c h t a u s d e r k o n t i n u i e r l i c h e n Z e i t d e s L e b e n s o d e r d e r U h r e n h e r a u s l e s e n k a n n , die man vielmehr – ausgehend von den Produktionsstrukturen – konstruieren muß.“ Louis Althusser; Étienne Balibar: Das Kapital lesen, Bd. 1, Reinbek, 1972, S. 132 (Sperrung von mir, S.K.). 42 Vgl. Moishe Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx, Freiburg, 2003, S. 442. 43 Moishe Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx, Freiburg, 2003, S. 442.
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Ohne hier in die Fallstricke der Postoneschen Argumentation näher einzusteigen44, bleibt als vorläufiges Fazit, dass Benjamins „Jetztzeit“ und Marx’ „historische Zeit“ mehr teilen, als es zunächst den Anschein hatte: beide operieren mit einem nicht-linearen Modus retroaktiver Bedeutungs-/Wertproduktion, beide können in Termini Kantscher bzw. Newtonscher Zeit nicht hinreichend ausgedrückt werden, beide stehen in einem – wenn auch fundamental unterschiedlichen – Spannungsverhältnis zur linear-abstrakten bzw. chronometrischen Zeit.
Der „Begriff der Geschichte“ als subtraktive Sprengung der „Zeit des Kapitals“ Benjamin hat im Inkognito einer Kritik des Fortschrittsglaubens und des Historismus die paradoxe Zeitstruktur des Kapitals aufgespürt und mit seinem Geschichtsbegriff gegen die im Kapitalverhältnis gestiftete Verbindung von Zeit und Vergesellschaftung rebelliert. In dieser Kritikbewegung erweist sich sein Geschichtsbegriff nicht nur als „modern“ insofern er um die „Ausschaltung der Autonomieposition des Menschen“45 unter kapitalistischen Bedingungen weiß, sondern – und darin trifft er sich mit Marx – als eminent modernistisch46: er findet sich mit der „falschen“ Kapital-Geschichte nicht ab, hält der modernen Erfahrung einer „Unverfügbarkeit des historischen Prozesses“ eine retroaktive Um-Schreibbarkeit des Gewesenen entgegen und beharrt auf der grundsätzlichen Unabgeschlossenheit des Historischen. Hierin radikalisiert er Marx’ Diktum aus dem Achtzehnten Brumaire, wonach die „Menschen […] ihre eigene Geschichte [machen], aber […] nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ (MEW 8, 115) Um die Machbarkeit von Geschichte geht es auch Benjamin; lastet jedoch dort die „Tradition aller toten Geschlechter“ wie der berühmte „Alp auf dem Gehirne der Lebenden“ (MEW 8, 115), so ist hier allen Geschlechtern – den toten und den lebendigen – „eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat.“ (GS I, 694) Aus dieser Kraft – sei sie auch noch so schwach – bezieht Benjamins Begriff der Geschichte sein sprengendes Potential. Vielleicht ist Potential hier nicht der richtige Ausdruck, geht es doch bei dieser eigentümlichen Kraft nicht um ein zu aktualisierendes, bereits vorhandenes Potential, sondern um eine bestimmte historische Adressierung, die durch ihre subjektive/kollektive Annahme erst als diese schwache Kraft wirken kann. Der revolutionäre „Einschuß einer Vergangenheit in die Textur der Gegenwart“ (GS II, 479) sprengt nicht nur das Geschichtskontinuum des Kapitals und seine korrespondierenden Geschichtsmythen 44 Vgl. dazu die Diskussion bei Peter Osborne, „Marx and the Philosophy of Time“, Radical Philosophy, 147 (January/February 2008), S. 19 f. 45 Heinz Dieter Kittsteiner, Naturabsicht und unsichtbare Hand. Zur Kritik geschichtsphilosophischen Denkens, Reinbek, 1980, S. 157. 46 Vgl. Peter Osborne, „Marx and the Philosophy of Time“, Radical Philosophy, 147 (January/February 2008), S. 18.
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– sei Geschichte in ihnen als dämonisch-schicksalhafte „ewige Wiederkunft“ oder teleologisch progressives Fort-Schreiten vorgestellt –, sondern zielt auf den zeitpolitischen Kern kapitalistischer Geschichtsschreibung („homogene und leere Zeit“). Damit leugnet Benjamins messianischer Marxismus keineswegs die (wirkliche) Erfahrung einer Unverfügbarkeit der (falschen) Kapital-Geschichte, sondern versucht letztere selbst zu historisieren. Mit dieser doppelten Historisierung – einer Historisierung des Historischen/des Geschichtstexts – entgeht Benjamins Geschichtsbegriff der falschen Alternative, entweder die an ein „automatisches Subjekt“ (MEW 23, 169) verlorene Autonomieposition durch fortschrittsgläubige Geschichtsmythen wieder zu erschleichen oder diese Unverfügbarkeit durch zynische Kapitulation noch einmal zu bestätigen. Dass er sich der kapitaltheoretischen Reichweite seines Sprengversuchs des kapitalistischen Geschichtskontinuums nicht voll bewusst war, dass er seine Vorstellung von „Jetztzeit“ nicht kritisch gegen die dynamische Zeitstruktur des Kapitals absetzen konnte, dass das zu Sprengende nicht nur in den Phantasmagorien der Sozialdemokratie, des Historismus oder bei Blanqui, Baudelaire oder Nietzsche, sondern zuvorderst im Realen der Kapitalbewegung G-W-G’ zu suchen ist, nimmt nichts von der Brisanz seines messianischen Geschichtszeitbegriffs. Im Gegenteil: mit seiner insistierenden „Jetztzeit“ hat Benjamin nicht nur einen Gegenbegriff zur „homogenen und leeren“ Zeitform einer bloß quantitativ bestimmten qualitätslosen Arbeitskraft gebildet, sondern darüber hinaus eine Zeit beschworen, die einer radikal anderen Ordnung angehört als der dynamisch-historischen Zeitdimension des Kapitals. Mit der Eröffnung dieser anderen Zeitordnung liegt Benjamin quer zu den Traditionslinien einer bestimmten Kulturkritik, die es gewohnt ist, im Namen einer lebendigen, eigentlichen, vorgängigen oder ursprünglichen Qualität (Leben, Sein, Potenz, Mensch) gegen eine mechanistische, subsumtionslogische, quantitative oder formale Gleichmacherei des Kapitals zu rebellieren. Zwar finden sich auch bei Benjamin Anleihen aus lebensphilosophischen, existentialistischen, vitalistischen oder humanistischen Argumentationsmustern, doch sein eigentümlicher Messianismus bezieht seine Kraft aus anderer Quelle. Nur dank dieser materialistischen, „bucklige[n]“ (GS I, 693) Theologie, gespeist aus einer Erfahrung, „die uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen“ (GS I, 1235/V, 589), kann er es mit dem Kapital, der „Mutter aller verrückten Formen“ (MEW 25, 483) aufnehmen. Benjamins messianische Zeitpolitik weiß darum, dass dem verrückten Tanz des sich selbstwertenden Werts mit seiner doppelten Zeitstruktur (linear-abstrakt/dynamisch-historisch) weder im Namen einer bloßen Utopie, eines Ideals oder einer nietzscheanischen Überaffirmation beizukommen ist. Schon in dem frühen Fragment Welt und Zeit (1919/20) schreibt er: „Meine Definition von Politik: die Erfüllung der ungesteigerten Menschhaftigkeit.“ (GS VI, 99) Ein Benjaminsches Sprengen des kapitalistischen Geschichtskontinuums meint daher nicht Steigerung, sondern Stillstellung, Unterbrechung: weniger Explosion, denn Implosion, Entzug, Subtraktion.
DIRK BRAUNSTEIN
„Gleich ist zugleich nicht gleich“ Adornos rettende Kritik des Tausches
Für Viola
Wenn es regnet, wird die Straße naß. „Mit politischer Ökonomie hat sich Adorno nie befaßt.“1 Denn: „Aus seiner Abneigung gegen die Befassung mit der Ökonomie hat Adorno im privaten Gespräch nie ein Hehl gemacht.“2 Woraus folgt: „Die Wirtschaftswissenschaften waren sicherlich seine Sache nicht!“3 – – die von Marx übrigens auch nicht, der ebenfalls aus seiner Abneigung, sich mit der „ökonomischen Scheiße“4 zu befassen, im Privaten nie ein Hehl gemacht hat. Aber „gerade darin, daß er von Ekel erfaßt genau das angepackt hat, wovor er sich geekelt, die Ökonomie“, erblickt Adorno die „Genialität von Marx.“5
I. Weil nun, wie man zu wissen meint, der Tausch als ökonomische Kategorie für Adorno zentral ist, wird dieser kurzerhand und blindlings als einer der „Gründungsväter des Zirkulationsmarxismus“6 deklariert. Daß es so einfach um Adornos Tauschbegriff allerdings nicht bestellt ist, läßt sich anhand einer Passage aus der Negativen Dialektik zeigen, die zugleich auf den ökonomiekritischen wie auf den utopischen Gehalt von Adornos Philosophie verweist. Es heißt dort: „Kritik am 1 Jürgen Habermas, Philosophisch-politische Profile, Frankfurt a.M., 1987, S. 178. 2 Helmut Reichelt, „Die Marxsche Kritik ökonomischer Kategorien. Überlegungen zum Problem der Geltung in der dialektischen Darstellungsmethode im ‚Kapital‘“, in: Emanzipation als Versöhnung. Zu Adornos Kritik der „Warentausch“-Gesellschaft und Perspektiven der Transformation, hg. v. Iring Fetscher u. Alfred Schmidt, Frankfurt a. M., 2002, S. 142. 3 Jürgen Ritsert, „Realabstraktion. Ein zu recht abgewertetes Thema der kritischen Theorie?“, in: Kein Staat zu machen. Zur Kritik der Sozialwissenschaften, hg. v. Christoph Görg u. Roland Roth, Münster, 1998, S. 331. 4 Karl Marx an Friedrich Engels, 2. April 1851, MEW 27, S. 228. 5 Theodor W. Adorno, „Theodor W. Adorno über Marx und die Grundbegriffe der soziologischen Theorie“, in: Hans-Georg Backhaus, Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur marxschen Ökonomiekritik, Freiburg i.Br., 1997, S. 513. 6 Gerhard Hanloser, Karl Reitter, Der bewegte Marx. Eine einführende Kritik des Zirkulationsmarxismus, Münster, 2008, S. 14.
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Tauschprinzip als dem identifizierenden des Denkens will, daß das Ideal freien und gerechten Tauschs, bis heute bloß Vorwand, verwirklicht werde. Das allein transzendierte den Tausch.“7 Adorno legt seinem Tauschbegriff hier den Tausch zugrunde, der erst ermöglicht, daß die Konsumtion auf die Produktion übergreift. Es ist die eine „entscheidende[…] Stelle, […] wo es sich um die Ware Arbeitskraft handelt“, an der es, „indem es mit rechten Dingen zugeht, zugleich nicht mit rechten Dingen zugeht.“8 Da beim Tausch „etwas gleich und zugleich nicht gleich“9 ist, liege der „Schein im Tauschvorgang […] im Begriff des Mehrwerts“10, dem die reale Aneignung der Mehrarbeit durch den Käufer der Arbeitskraft unter Einhaltung des Äquivalententauschs zugrunde liegt. Die Offenlegung dieses Prinzips durch Marx bezeugt für Adorno, daß jener „die Dialektik ernst[nimmt]“ und „nicht einfach bloß mit ihrer Terminologie [kokettiert].“11 Die dialektische Pointe, die Adorno von Marx erkannt sieht, ist die, daß die „Behauptung der Äquivalenz des Getauschten, Basis allen Tausches“ gerade „von dessen Konsequenz desavouiert“ wird. „Indem das Tauschprinzip kraft seiner immanenten Dynamik auf die lebendige Arbeit von Menschen sich ausdehnt, verkehrt es sich zwangvoll in objektive Ungleichheit, die der Klassen.“12 Alex Demirović bemerkt skeptisch, eine solche Interpretation sei mit der Marxschen Theorie „nur eingeschränkt vereinbar, da Marx ja die Ansicht vertritt, dass mit der kapitalistischen Form des Äquivalententauschs kein Betrug stattfindet: Die Arbeitskraft wird im Durchschnitt zu ihrem vollen Wert entgolten; Gleichheit ist damit schon verwirklicht.“13 Genau das meint aber auch Adorno, der jedoch zugleich erkennt, daß sich durch die Verwirklichung der Gleichheit im Tausch die Ungleichheit der Klassen sowie der Individuen reproduziert. Während Demirović sagt, Marx mache „in seinen Analysen deutlich, wie durch die marktvermittelte Herausbildung eines Durchschnitts gesellschaftlich notwendiger Arbeit das Problem des Maßstabs für Gleichheit gelöst wird“14, so hält Adorno ebenso wie Marx fest, daß sich dieser Maßstab gerade durch seine Anwendung im Tausch selbst negiert. „Das ist die entscheidende Wendung bei Marx, daß er nicht einfach […] sagt: Das ist alles nicht wahr. Sondern er sagt: Wir wollen, um überhaupt diesen ungeheuren Apparat zu verändern, ihn aus seiner eigenen Kraft heraus in Bewegung setzen. […] Anstatt den Anspruch der bürgerlichen Gesellschaft, Harmonie zu 7 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann (unter Mitwirkung v. Gretel Adorno, Susan Buck-Morss u. Klaus Schultz), Frankfurt a. M., 1970 ff. [im folgenden zitiert als AGS], Bd. 6, S. 150. 8 Theodor W. Adorno, Philosophische Terminologie. Zur Einleitung. Band 2, Frankfurt a. M., 1974, S. 261 f. 9 Adorno, „Theodor W. Adorno über Marx …“, S. 506. 10 Ebd., S. 508. 11 Ebd., S. 506. 12 Adorno, „Einleitung zum ‚Positivismusstreit in der deutschen Soziologie‘“, in: AGS, Bd. 8, S. 307. 13 Alex Demirović, „Freiheit und Menschheit“, in: Vereinigung freier Individuen. Kritik der Tauschgesellschaft und gesellschaftliches Gesamtsubjekt bei Theodor W. Adorno, hg. v. Jens Becker, Heinz Brakemeier, Hamburg, 2004, S. 22 f. 14 Ebd., S. 23.
„GLEICH IST ZUGLEICH NICHT GLEICH“
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leisten, einfach zu verwerfen, nimmt er ihn ganz ernst und fragt: Ist die Gesellschaft, die ihr lehrt, wirklich identisch mit ihrem Begriff? Entspricht eurer Welt des freien und gerechten Tausches wirklich, wie ihr behauptet, eine freie und gerechte Gesellschaft? Er bleibt auch darin dem Prinzip der Dialektik treu, daß er sagt, sie ist es und sie ist es nicht.“15 Die Lehre vom Mehrwert nennt Adorno das „Kernstück der Marxischen Theorie“16 nicht nur, weil sie das Aufeinandertreffen von Produktion und Konsumtion, also einen im Grunde ökonomischen Sachverhalt beschreibe, sondern zugleich die „das Ganze zusammenhaltende gesellschaftliche Dynamik, die die gesellschaftlichen Konflikte und Bedingungen produziere. Die Mehrwerttheorie sei ebenso ökonomisch wie gesellschaftlich zu verstehen, als Indifferenzpunkt von Wirtschaft und Gesellschaft.“17 Die Mehrwertproduktion als Resultat und Zweck des Tauschs von Lohn gegen Arbeitskraft ist „der Punkt, an dem die Hegelsche Geschichtsphilosophie ebenso mit der klassischen Nationalökonomie zusammenhängt, wie mit dieser ebenfalls Marx zusammenhängt, – es ist so, daß gerade dadurch, daß die Menschen ihre eigenen, ihre je eigenen individuellen Interessen verfolgen, sie zu Exponenten, zu Vollstreckern eben jener geschichtlichen Objektivität werden, die, indem sie dann in jedem Augenblick bereit ist, auch gegen ihre Interessen sich zu wenden, dann gerade auch zu dem über sie hinweg sich Durchsetzenden wird. Das ist ein Widerspruch: daß das, was über die Menschen hinweg sich durchsetzt, sich durchsetzt vermöge ihrer selbst, vermöge ihrer eigenen Interessen. Aber da die Gesellschaft, in der wir leben, antagonistisch ist, da der Weltlauf, in den wir eingespannt sind, antagonistisch ist, so ist dieser, wenn Sie wollen: logische Widerspruch, […] eben nicht […] ein Widerspruch, der an einer unzulänglichen und nicht genügend sauberen Begriffsbildung läge; sondern er ist ein Widerspruch, der aus der Sache selber folgt.“18 Wenn also an der Kritischen Theorie bemängelt wird, es gebe in ihr „ein bleibendes Spannungsverhältnis von Totalitäts- und Antagonismusdiagnose“, was „zweifelsfrei unbefriedigend“ sei, insofern „Adorno bisweilen über der Totalität den Klassencharakter kapitalistischer Gesellschaft aus den Augen“19 verliere, dann verhält es sich Adorno zufolge hingegen vielmehr so, daß sich die „antagonistische Totalität“20 erst mittels der Widersprüche erhält. Auch bei Adorno ist der funda15 Adorno, Philosophische Terminologie, S. 261. 16 Adorno, „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Einleitungsvortrag zum 16. Deutschen Soziologentag“, in: AGS, Bd. 8, 359. 17 Seminarprotokoll v. Ellen Schölch vom 3. Dezember 1957, zit. n. Alex Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt a. M., 1999, S. 463. 18 Adorno, Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit (1964/65), in: Ders., Nachgelassene Schriften, hg. v. Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt a. M., 1993 ff. [im folgenden zitiert als ANS], Bd. IV.13, S. 41 f. 19 Kolja Lindner, „Rien ne va plus – Wolfgang Pohrts Theorie des Gebrauchswerts“, in: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge, hg. v. Carl-Erich Vollgraf, Richard Sperl u. Rolf Hecker, H. 2007, Berlin, Hamburg, 2007, S. 217. 20 Adorno, „Aspekte“, in: AGS, Bd. 5, S. 274.
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mentale Antagonismus, wie bei Marx, der der Klassen; die Diagnose gesellschaftlicher Totalität impliziert die des gesellschaftlichen Antagonismus und umgekehrt. „Die Gesellschaft erhält sich nicht trotz ihres Antagonismus am Leben sondern durch ihn“21. Da das einzelne Individuum sich nur durch das Kapitalverhältnis reproduzieren kann, reproduzieren die Individuen unweigerlich auch diese „Zwangsbeschaffenheit der Gesellschaft“22, durch die „jeder von uns mit Haut und Haaren von dieser Gesellschaft gefressen wird“23. Und weil jeder seine Funktion im Kapitalprozeß bei Androhung des persönlichen Untergangs erfüllen muß, besteht der objektive Klassengegensatz fort, solange die Gesellschaft sich durch diesen Gegensatz erst konstituiert. „Nur dadurch, daß in dieser Weise die Gesellschaft gespalten ist und eine Menge Verfügender denen gegenübersteht, die von den Produktionsmitteln getrennt sind, – nur vermöge dieses Antagonismus hat bis heute jedenfalls das Leben überhaupt sich perpetuiert.“24
II. Adorno wirft Marx allerdings vor, genau dies zu affirmieren. Er erkennt bei ihm das „Moment von der Bejahung des Zusammenschlusses der Menschheit zum Ganzen“ und kritisiert, daß „das Motiv, daß bei allen Opfern und allem Leiden die Menschheit sich doch reproduziert, auch in Marx enthalten ist; und wenn man mit Recht nach dem idealistischen, in einem exakten philosophischen Sinn idealistischen Moment bei Marx fragen darf, dann wäre ganz sicher diese Konstruktion die eigentlich affirmative bei Marx, der dann der ja auch bei ihm überwiegende Geschichtsoptimismus korrespondiert. Die Gestalt, in der dieses Hegelsche Motiv bei Marx sich findet – fast bis zur Unkenntlichkeit umgeformt, aber dennoch von einer außerordentlichen Gewalt –, ist die im übrigen sehr dunkle und schwierige Theorie von dem sogenannten Wertgesetz, also dem Inbegriff der nach dem Tausch sich vollziehenden gesellschaftlichen Akte, durch die insgesamt das Leben der Gesellschaft sich erhält und sogar, mit allen Katastrophen, Marx zufolge sich erweitert reproduziert.“25 Auch Marx entgehe schließlich nicht der „Metaphysik
21 Adorno, Negative Dialektik, S. 314. – „Ich beschränke mich also darauf, Ihnen hier als Modell für diese antagonistische Gestalt der Gesellschaft nur das anzuführen, daß nicht die Gesellschaft mit ihren Widersprüchen oder trotz ihrer Widersprüche sich am Leben erhält, sondern durch ihren Widerspruch hindurch; das heißt, daß die auf den Profit gegründete Gesellschaft, die in diesem objektiven Motiv des Profits bereits die Spaltung der Gesellschaft notwendig in sich enthält, – daß eben dieses Motiv, durch das die Gesellschaft gespalten und potentiell zerrissen ist, zugleich das ist, durch das hindurch die Gesellschaft ihr eigenes Leben reproduziert.“ (Adorno, Vorlesung über Negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung 1965/66, in: ANS, Bd. IV.16, S. 20.) 22 Adorno, Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft (1964), in: ANS, Bd. IV.12, S. 112. 23 Ebd. 24 Adorno, Zur Lehre von der Geschichte, S. 76. 25 Ebd., S. 73 f.
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der Produktivkräfte“26, mit der er „etwas wie die metaphysische Substantialität dieser Produktivkräfte voraussetzt“ und die „schließlich etwas dem Glauben an den Hegelschen Weltgeist außerordentlich Verwandtes ist“27. Damit kehre „ein äußerst bedenkliches Theorem des deutschen Idealismus bei Marx fast unverändert wieder[…]; vor allem bei Engels, es ist im ‚Anti-Dühring‘ ausdrücklich formuliert, – daß nämlich die Freiheit eigentlich soviel sei wie daß man bewußt das Notwendige tue; was natürlich nur dann einen Sinn ergibt, wenn das Notwendige, der Weltgeist die Entfaltung der Produktivkräfte a priori recht hat und ihm der Sieg verbürgt ist.“28 „Der Gedanke, daß kein Mangel sein soll, daß niemand mehr in der Welt hungern soll, also der Gedanke der Erfüllung der Abschaffung der Not, setzt selber jene Steigerung der Produktivkräfte und damit eben jene Naturbeherrschung voraus, die nicht nur mit dem anti-stofflichen Prinzip aufs tiefste verwachsen ist. Sie läßt überhaupt nur sich denken, indem den Menschen, die doch mit der äußeren Natur auch ihr Inneres beherrschen lernen sollen, immerzu Versagungen zugemutet werden. Die Konzeption eines Zustandes ohne Versagungen, die Entfesselung der Produktivkräfte, die Abschaffung der Not, also jenes utopische Moment der schrankenlosen Erfüllung setzt seinem eigenen Sinn nach, um überhaupt möglich zu sein, eben die Einschränkung, die Askese, ein bestimmtes Moment von Repression, von Unterdrückung voraus.“29 Die weitere Geschichte der Menschheit entscheide sich daran, „ob es ihr gelingen wird, aus dieser furchtbaren Verstrickung herauszukommen: Was das Andere meint und ins Andere führen soll, um sich zu verwirklichen, entwickelt selber das Prinzip in sich, gegen das es sich wendet; dadurch steht es stets in Gefahr, eben wieder in den Mythos zurückzufallen.“30 Die Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft verlängert die Herrschaft, welche immer ihre Form sei, und ist dergestalt eine ständig „notwendige Änderung, damit alles bleibt wie es ist.“31 Trotz aller inneren gesellschaftlichen Dynamik bleibt das Ganze der Gesellschaft „immer dasselbe […] – die Fortdauer der ‚Vorgeschichte‘“, 26 Adorno, „Vorlesung über Negative Dialektik“, S. 142. – Diesen Ausdruck hat, wie Adorno an gleicher Stelle sagt, sein Jugendfreund Alfred Seidel geprägt: „Um eine einheitliche Geschichtskonstruktion geben zu können, mußte [Marx] wie [Hegel] von einem die Geschichte bewegenden Agens ausgehen. Die Hegelsche Metaphysik des Geistes lehnt er ab und setzt an deren Stelle als Realist, der er war, die Wirtschaft […]. So konnte das die Geschichte bewegende Agens nur ein wirtschaftliches sein und zwar die Faktoren, die die Produktivität der Arbeit hervorrufen oder steigern, also die ‚Produktivkräfte‘. […] Da diese das die Geschichte bewegende Agens sein sollen, wurden sie verabsolutiert und zu einer metaphysischen, wenn auch immanent metaphysischen Entität erhoben, in unbewußter Analogie mit der religiös-metaphysischen, also transzendent-metaphysischen Geschichtsphilosophie vom Alten Testament bis auf Hegel.“ (Alfred Seidel, Bewußtsein als Verhängnis, hg. v. Hans Prinzhorn, Bonn, 1927, S. 209 f.) 27 Adorno, „Vorlesung über Negative Dialektik“, S. 143. 28 Ebd.; vgl. Adorno, Philosophische Terminologie, S. 22. – Zu Engels vgl. ders., „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft“, MEW 20, S. 106. 29 Adorno, Philosophische Terminologie, S. 188. 30 Ebd. 31 Demirović, „Zur Dialektik von Utopie und bestimmter Negation. Eine Diskussionsbemerkung“, in: Kritische Wissenschaften im Neoliberalismus, hg. v. Christina Kaindl, Marburg, 2005, S. 144.
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das „unablässig als ein anderes, Ungeahntes, alle Bereitschaft Übersteigendes sich verwirklicht, getreuer Schatten der sich entfaltenden Produktivkräfte.“32 Die beständige Entfaltung der Produktivkräfte, in deren bloßem Wort bereits „eine Drohung“33 mitklinge, ist selbst Ausdruck der „rücksichtslosen Naturbeherrschung“34; ist ein blindes Moment des Immergleichen, dessen, was Adorno als Mythos begreift.35 Dagegen wendet sich Adorno im vielzitierten Aphorismus „Sur l’eau“ in den Minima Moralia, in dem er sich so weit wie nirgends sonst einer positiven Beschreibung erfüllter Utopie annähert.36 Sie bestünde gerade in einem menschlichen Dasein jenseits des Zwangs zur Produktion: „Die naiv unterstellte Eindeutigkeit der Entwicklungstendenz auf Steigerung der Produktion ist selber ein Stück jener Bürgerlichkeit, die Entwicklung nach einer Richtung nur zuläßt, weil sie, als Totalität zusammengeschlossen, von Quantifizierung beherrscht, der qualitativen Differenz feindlich ist. Denkt man die emanzipierte Gesellschaft als Emanzipation gerade von solcher Totalität, dann werden Fluchtlinien sichtbar, die mit der Steigerung der Produktion und ihren menschlichen Spiegelungen wenig gemein haben. Wenn hemmungslose Leute keineswegs die angenehmsten und nicht einmal die freiesten sind, so könnte wohl die Gesellschaft, deren Fessel gefallen ist, darauf sich besinnen, daß auch die Produktivkräfte nicht das letzte Substrat des Menschen, sondern dessen auf die Warenproduktion historisch zugeschnittene Gestalt abgeben. Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und läßt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen. Einer Menschheit, welche Not nicht mehr kennt, dämmert gar etwas von dem Wahnhaften, Vergeblichen all der Veranstaltungen, welche bis dahin getroffen wurden, um der Not zu entgehen, und welche die Not mit dem Reichtum erweitert reproduzierten.“37 Adorno bezieht sich hier auf die Marxsche Rede von den Produktionsverhältnissen als ‚Fessel‘ der Produktivkräfte. An prominenter Stelle im Kapital spricht Marx – nicht ohne Pathos – von der revolutionären Kraft der Zentralisation der Kapitale und vertraut dabei auf eine Art geschichtsphilosophische Anomalie, die von der Kritik der politischen Ökonomie durch nichts gedeckt ist: „Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die 32 33 34 35
Adorno, Minima Moralia, in: AGS, Bd. 4, S. 267 f. Adorno, Negative Dialektik, S. 302. Adorno, Philosophische Terminologie, S. 187. „Mythos ist nicht das was nicht der Fall ist sondern das Immergleiche, Zusammengebackne, der Welt; Widerstand dagegen ist Geist, Subjekt. Der Geist kann in einer Realität ohne die Lebensnot aus der er stammt und deren Male er trägt, sich bis ins Innerste verändern und müßte es, er wird nicht einfach vergehen. Vor jeder gewonnenen Konkretion zergeht der abstrakte Nihilismus als Spuk. […] Mythos = der Klumpen der Welt: so ist es so wird es bleiben so soll es sein.“ (Adorno, „Graeculus (II). Notizen zu Philosophie und Gesellschaft 1943–1969“, in: Frankfurter Adorno Blätter, hg. v. Rolf Tiedemann, H. VIII, München, 2003, S. 35.) 36 Eine weiterreichende Interpretation dieses Aphorismus findet sich in Gerhard Schweppenhäuser, Theodor W. Adorno zur Einführung, 2. Aufl., Hamburg, 2000, S. 105 ff. 37 Adorno, Minima Moralia, S. 179.
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Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“38 Fortschritt als Anwachsen der Produktionskräfte und des materiellen Reichtums zu begreifen, ist selbst noch Resultat einer letztlich idealistischen Geschichtsauffassung, der Adorno nicht folgt. Solange die Menschen die Natur beherrschen müssen, werden sie auch von ihr beherrscht, denn im Versuch, sich über sie zu erheben, verstricken sich die vergesellschafteten Individuen nur immer weiter in sie. Müßte Natur nicht mehr beherrscht werden, so wären die Menschen ihr nicht mehr ohnmächtig ausgeliefert, sondern die Menschheit wäre womöglich mit ihr versöhnt. Diese Versöhnung von Subjekt und Objekt, „theologische[s] Urbild“39 der Utopie Adornos, ist für ihn nicht im Sinne eines Zurück zur Natur zu denken,40 „so wie Freiheit nur durch den zivilisatorischen Zwang hindurch, nicht als retour à la nature real werden kann“41 – sondern als Fortschreiten über die Dichotomie von Natur und Gesellschaft hinaus. Das gäbe als Resultat bestimmter Negation „das Nichtidentische frei, entledigte es noch des vergeistigten Zwanges, eröffnete erst die Vielheit des Verschiedenen, über die Dialektik keine Macht mehr hätte. Versöhnung wäre das Eingedenken des nicht länger feindseligen Vielen, wie es subjektiver Vernunft anathema ist. Der Versöhnung dient Dialektik.“42
III. Während Marx den Tausch „als den von Gleichem und doch Ungleichem enthüllt“, zielt Adorno trotz „Kritik der Ungleichheit in der Gleichheit auch auf Gleichheit, bei aller Skepsis gegen die Rancune im bürgerlichen Egalitätsideal, das nichts qualitativ Verschiedenes toleriert.“43 Mit dieser Kritik des Egalitätsideals bezieht sich Adorno „auf einen Zustand der Fülle, in dem es repressiv wäre, die Beefsteaks zu zählen, die jeder ißt, weil jeder ohnehin so viele essen kann wie er will, während manche vielleicht in einem solchen Zustand es verschmähen werden, weiter Fleisch zu essen. Solange es nicht so weit ist, hat noch die vulgärmaterialis38 Karl Marx, Das Kapital (Bd. 1), MEW 23, S. 790 f. 39 Rolf Tiedemann, „Begriff, Bild, Name. Über Adornos Utopie der Erkenntnis“, in: Frankfurter Adorno Blätter, hg. v. Rolf Tiedemann, H. II, München, 1993, S. 94. 40 „Es ist verwunderlich, daß der Gedanke zum verbreiteten Klischee werden konnte, Adorno strebe à la Rousseau zurück zu einer unverstümmelten, nicht zugerichteten Natur, wie sie angeblich war, bevor der schaltende und waltende Mensch über sie herfiel. Die Dialektik wird nicht abgebrochen, es gibt der Geist den Geist nicht auf. […] Abstrakt formuliert: der Vorwurf der ‚Naturfrömmigkeit‘ übersieht, daß Adorno das ‚Zwischen‘ denkt, den Punkt der Regression und der Utopie des Geistes, ohne einen der beiden Pole preiszugeben.“ (Eckart Goebel, „Das Hinzutretende. Ein Kommentar zu den Seiten 226 bis 230 der Negativen Dialektik“, in: Frankfurter Adorno Blätter, hg. v. Rolf Tiedemann, H. IV, München, 1995, S. 112.) 41 Adorno, Negative Dialektik, S. 150. 42 Ebd., S. 18. 43 Ebd., S. 150.
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tische Phrase vom Teilen recht.“44 Bis dahin wäre „[z]art […] einzig das Gröbste: daß keiner mehr hungern soll.“45 Was, wie Adorno an mehreren Stellen bemerkt, nach dem heutigen Stand der Produktivkräfte ohne weiteres möglich wäre,46 reicht zur Einrichtung einer wahrhaft emanzipierten Gesellschaft allerdings nicht hin. Denn daß auf der einen Seite Überfluß produziert wird, auf der anderen aber Mangel am Notwendigsten herrscht, ist kein Verwaltungsproblem, sondern das eine ergibt sich aus dem anderen. Selbst die Überwindung des Kapitalismus zum Zweck der Befreiung der Produktivkräfte reichte nicht aus, die Gesellschaft zu versöhnen, d.h. den Widerspruch von Allgemeinem und Besonderem zu schlichten. Die materielle Versorgung aller schließt weder eine neue Form von Herrschaft aus, noch wäre sie allein schon Garantin des „Glücks der Menschheit, welches das der Einzelnen wäre“47. Bereits 1944 schreibt Adorno, man könne zumindest sagen, „daß in der heutigen objektiven Situation der Gedanke an eine notwendige Übergangsperiode zum Vollsozialismus dem Stand der materiellen Produktivkräfte so widerspricht, daß er schon wie eine Ausrede der sich festsetzenden Herrschaft klingt. Immerhin muß man gerechterweise sagen, daß auch die bedächtigsten Marxisten, die schon eigentlich keine mehr waren, die erste Phase erheblich kürzer sich vorstellten als die Christen die Zeit zwischen der Geburt Jesu und der Parusie, ein Zeitraum, der so ungefähr mit der ganzen Zeitlichkeit sich deckt.“48 Das bedeutet nicht, daß Glück „ein Pluraletantum [ist], es ist das der Gattung oder es ist nicht“49, wie Tiedemann meint. Das „Bild des Glückes ohne Schande“50 zeigt den Menschen, der nicht länger als phylogenetisch und sozial zwangsvergattetes Individuum bloßes Exemplar wäre – ohne allerdings darum als Ausgestoßener der Gesellschaft gegenüberzustehen: „Utopie wäre die opferlose Nichtidentität des Subjekts.“51 Die schlechte Gleichheit, die das „geläufige Argument der Toleranz“52, nach dem alle Menschen gleich 44 Adorno, „Contra Paulum“, in: Theodor W. Adorno u. Max Horkheimer, Briefwechsel 1927–1969. Band II: 1938–1944, hg. v. Christoph Gödde u. Henri Lonitz, Frankfurt a. M., 2004, S. 497 f. 45 Adorno, Minima Moralia, S. 178. 46 So z.B. Adorno, „Diskussionsbeitrag zu ‚Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?‘“, in: AGS, Bd. 8, S. 585: „[D]ie Produktivkräfte, die materiellen Produktivkräfte haben sich heute derart entwickelt, daß bei einer rationalen Einrichtung der Gesellschaft die materielle Not nicht mehr nötig wäre. Daß ein solcher Zustand, und zwar auf der ganzen Erde, in tellurischem Maßstab sich herstellen ließe, das wäre im neunzehnten Jahrhundert als kraß utopistisch verfemt worden […]. Dadurch, daß die objektiven Möglichkeiten so unendlich erweitert sind, besitzt jedenfalls die Art Kritik am Utopiebegriff, die an der Perpetuierung des Mangels orientiert war, eigentlich keine Aktualität mehr.“ (Denselben Gedanken führt Adorno in nur leicht abgewandelten Worten auch in einer Vorlesung aus: Adorno, Zur Lehre von der Geschichte, S. 99.) 47 Adorno, Negative Dialektik, S. 345. 48 Adorno, „Contra Paulum“, S. 493. 49 Tiedemann, „‚Gegenwärtige Vorwelt‘. Zu Adornos Begriff des Mythischen (I)“, in: Frankfurter Adorno Blätter, hg. v. Rolf Tiedemann, H. V, München, 1998, S. 10. 50 Adorno, „Graeculus (I). Musikalische Notizen“, in: Frankfurter Adorno Blätter, hg. v. Rolf Tiedemann, H. VII, München, 2001, S. 16. 51 Adorno, Negative Dialektik, S. 277. 52 Adorno, Minima Moralia, S. 115.
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seien,53 kolportiert, wäre aufgehoben in einer Gesellschaft, in der man „ohne Angst verschieden sein kann.“54 Sie „wäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen“55 im „Stand eines Unterschiedenen ohne Herrschaft, in dem das Unterschiedene teilhat aneinander.“56 Damit wendet sich Adorno gegen den „Kultus der Gemeinschaft als Selbstzweck“, der anzeige, „daß man an den Inhalt der Gemeinschaft, eine menschenwürdige Einrichtung der Welt, vergessen hat. […] Eine wirkliche Gemeinschaft aber wäre eine von freien Menschen.“57 Dazu müßte Adorno zufolge der Tausch werden, was er aufgrund seiner Abkunft vom Identitätsprinzip auch sein könnte: gerecht. „In einer richtigen Gesellschaft […] würde der Tausch nicht nur abgeschafft sondern erfüllt“58. Zwar „erheischt Humanität, daß dem Zug um Zug, Gleich um Gleich ein Ende bereitet werde; daß der verruchte Tausch von Äquivalenten aufhöre, in dem der uralte Mythos in der rationalen Ökonomie sich wiederholt. Der Prozeß hat jedoch seinen dialektischen Knoten daran, daß, was über dem Tausch ist, nicht hinter diesen zurückfalle; daß nicht dessen Suspension abermals Menschen als die Objekte von Ordnung um den vollen Ertrag ihrer Arbeit bringe. Die Abschaffung des Äquivalententauschs wäre dessen Erfüllung; solange Gleichheit als Gesetz herrscht, wird der Einzelne um Gleichheit betrogen.“59 In der Folge zerfiele auch das System aller anderen ökonomischen Kategorien wie Klassen, Waren, Geld und Kapital – der Tausch wäre nicht länger ökonomisch60, die Menschheit würde „vom gerechten Tausch erlöst […], indem er endlich gerecht sich erfüllt.“61 53 „Menschsein wird zur allgemeinsten und leersten Gestalt des Privilegs: strikt angemessen einem Bewußtsein, das kein Privileg mehr duldet und doch gänzlich in dessen Bann steht. Ideologie aber ist solche Allmenschlichkeit – Fratze der Gleichheit dessen, was Menschenantlitz trägt – deshalb, weil sie die ungemilderten Unterschiede gesellschaftlicher Macht, die von Hunger und Überfluß, von Geist und fügsamem Schwachsinn an den Menschen unterschlägt. Mit keuscher Rührung läßt sich der Mensch im Menschen anrufen, ohne daß es irgendeinen etwas kostete“ (Adorno, Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, in: AGS, Bd. 6, S. 457). 54 Adorno, Minima Moralia, S. 116. 55 Ebd. 56 Adorno, „Zu Subjekt und Objekt“, in: AGS, Bd. 10.2, S. 743. – „Erst wenn die Totalität zergeht, die so lange fortbesteht, wie sich ein Ganzes als Ganze aufwirft dadurch, dass es ein Nichtidentisches, Fremdes, Anderes schafft und ausgrenzt, kommt es zu Menschheit. Menschheit stellt demnach nicht etwas dar, was im Prinzip schon ist, sondern wird hier als ein völlig neues und andersartiges Stadium der Geschichte, des Handelns und des Denkens verstanden. Denn Menschheit ist jenseits jeder noch so umfassend gedachten Totalität, sie ist ‚Pluralität, eine Assoziation freier einzelner Menschen‘“ (Demirović, „Freiheit und Menschheit“, S. 30 f. Das Zitat findet sich in Adorno, „Diskussionsbeitrag zu ‚Spätkapitalismus …‘“, S. 586). 57 Adorno, „Thesen gegen die musikpädagogische Musik“, in: AGS, Bd. 14, S. 438. 58 Adorno, Negative Dialektik, S. 291. 59 Adorno, „Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie“, in: AGS, Bd. 11, S. 508. 60 „Denn würden die Lohnarbeiter nach Maßgabe ihrer verausgabten Arbeitskraft entlohnt, also nicht eines Teils ihres Produkts enteignet, dann gäbe es keinen Mehrwert, keinen Profit und schließlich keine Kapitalakkumulation. Die Verwirklichung des Tausches transzendierte den Tausch.“ (Demirović, „Freiheit und Menschheit“, S. 22.) 61 Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, S. 514.
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Das Unrecht, das darin besteht, daß „die Doktrin des Gleich um Gleich Lüge ist“62, herrscht nach Adorno durchgängig von der Urgeschichte bis zur Gegenwart.63 Ein Zeugnis dessen erkennt er im „urbürgerlichen“64 Spruch des Anaximander, dessen Übersetzung lautet: „Anfang und Ursprung der seienden Dinge ist das Apeiron (das grenzenlos-Unbestimmbare). Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit; denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung.“65 Diesen „Fluch des Anaximander“66 deutet Adorno als frühes Zeugnis „des Rechts das der Gerechtigkeit Hohn spricht“67. Er weise auf Aspekte „archaischer Rechtsverhältnisse von Rache“68 hin, die mythisch legitimiert wurden: „Das Recht, das sich als Buße des Unrechts bestimmt, gleicht diesem sich an und wird damit selber zum Unrecht, Ordnung zur Zerstörung: das aber ist das Wesen des Mythos, wie es im vorsokratischen Gedanken nachhallt“69. Zum anderen werde in dem Spruch die Dynamik angedeutet, die „das Immergleiche blind […] wiederholt“70 und die sich bis in die Gegenwart fortsetze. „Die vergesellschafteten Subjekte sind ihrer selbst und der Gesellschaft noch nicht mächtig“71 –: „Geschichte hat bis heute kein wie immer konstruierbares Gesamtsubjekt.“72 „Insofern verharrt, trotz aller Rationalisierung, der soziale Prozeß im irrationalen Zyklus. Historische Dialektik – schon die Hegelsche – läuft in gewissem Sinn auf die Konstanz von Vergängnis hinaus. Was einmal bei Marx, mit schwermütiger Hoffnung, Vorgeschichte heißt, ist nicht weniger als der Inbegriff aller bisher bekannten Geschichte, das Reich der Unfreiheit.“73 Daher „insistiert die dialektische Theorie auf perennierenden Kategorien, die in der modernen rationalen Form der Gesellschaft lediglich ihre Erscheinungsweise änderten. Daher sind bei Marx Ausdrücke wie der der ‚Lohnsklaverei‘ für die freie Lohnarbeit keine bloßen Metaphern.“74 Son-
62 Adorno, „Fortschritt“, in: AGS, Bd. 10.2, S. 636. 63 „Das jüngste Unrecht, das im gerechten Tausch selber gelegene, in seiner verhängnisvollen Gewalt erkennen, heißt nichts anderes als mit der Vorzeit es identifizieren, die von ihm vernichtet wird.“ (Adorno, „Reflexionen zur Klassentheorie“, in: AGS, Bd. 8, S. 373.) 64 Adorno, „Erfahrungsgehalt“, in: AGS, Bd. 5, S. 323. 65 Zit. n. Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. v. Walther Kranz, 11. Aufl., Zürich, Berlin, 1964, Bd. 1, S. 89. 66 Adorno, „Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien“, in: AGS, Bd. 5, S. 32. 67 Adorno an Horkheimer, 10. Januar 1945, in: Adorno u. Horkheimer, Briefwechsel 1927–1969. Band III: 1945–1949, hg. v. Christoph Gödde u. Henri Lonitz, Frankfurt a.M., 2005, S. 12. 68 Adorno, Negative Dialektik, S. 264. 69 Adorno, „Versuch über Wagner“, in: AGS, Bd. 13, 112 f. 70 Adorno, „Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien“, in: AGS, Bd. 8, S. 234. 71 Ebd. 72 Adorno, Negative Dialektik, S. 299. 73 Adorno, „Über Statik und Dynamik“, S. 234. 74 Ebd. – In weniger wissenschaftlichen als polemischen Schriften spricht Marx zuweilen vom Gegensatz von „Kapital und Lohnsklaverei“ (Marx, „Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation“, MEW 17, S. 342.)
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dern Ausdruck historischer Konstanz von Herrschaft und Ausbeutung von der Sklaverei bis hin zur Lohnarbeit.75 Zugleich sei das Unrecht, das im Äquivalententausch steckt, aber „die Bedingung möglicher Gerechtigkeit. Die Erfüllung des immer wieder gebrochenen Tauschvertrags konvergierte mit dessen Abschaffung; der Tausch verschwände, wenn wahrhaft Gleiches getauscht würde; der wahre Fortschritt dem Tausch gegenüber nicht bloß ein Anderes sondern auch dieser, zu sich selbst gebracht.“76 Daß eine emphatische Idee von Gerechtigkeit bis heute nicht verwirklicht ist, bedeutet für Adorno nicht, daß sie deshalb preiszugeben, das Prinzip der Gleichheit abstrakt zu negieren, der Tausch nach Äquivalenten einfach abzuschaffen sei. Denn „würde als Ideal verkündet, es solle, zur höheren Ehre des irreduzibel Qualitativen, nicht mehr nach gleich und gleich zugehen, so schüfe das Ausreden für den Rückfall ins alte Unrecht. Denn der Äquivalententausch bestand von alters her gerade darin, daß in seinem Namen Ungleiches getauscht, der Mehrwert der Arbeit appropriiert wurde.“77 Die blinde Negation, in der „Vernunft die Einzelinteressen abstrakt [überspränge]“, „reproduzierte das schlechte Partikulare. Das Verweilen beim Konkreten ist unauslöschliches Moment dessen, was von der Partikularität sich befreit, während doch deren Bestimmtsein in solcher Bewegung ebenso als beschränkt bestimmt wird wie die blinde Herrschaft eines Totalen, das der Partikularität nicht achtet.“78 Während in der bestehenden Gesellschaft wertvermittelt getauscht wird, kann die Lösung Adornos nicht die sein, nach Abschaffung des Äquivalententauschs zukünftig unmittelbar ungleich zu tauschen. „Annullierte man simpel die Maßkategorie der Vergleichbarkeit, so träten anstelle der Rationalität, die ideologisch zwar, doch auch als Versprechen dem Tauschprinzip innewohnt, unmittelbare Aneignung, Gewalt, heutzutage: nacktes Privileg von Monopolen und Cliquen.“79 Seine Utopie ist vielmehr, daß in „nachkapitalistischen Gesellschaften […], in denen ja sicher nicht davon die Rede sein kann, daß nicht mehr getauscht würde“80, jeder Tausch für sich gerecht wäre, ohne daß die partikulare Gerechtigkeit von einer allen Individuen übergeordneten Totalität kassiert würde. Adornos Kritik der politischen Ökonomie ist Kritik an einer Gesellschaft, die stets noch Resultat eines Fortschritts ist, der in all seiner immanenten Dynamik als ganzer zugleich ein Statisches ist, insofern er nicht über sich hinausgeht, sondern 75 „Nur die Form, worin diese Mehrarbeit dem unmittelbaren Produzenten, dem Arbeiter, abgepreßt wird, unterscheidet die ökonomischen Gesellschaftsformationen, z.B. die Gesellschaft der Sklaverei von der der Lohnarbeit.“ (Marx, Das Kapital [Bd. 1], MEW 23, S. 231.) 76 Adorno, „Fortschritt“, S. 636 f. 77 Adorno, Negative Dialektik, S. 150. 78 Adorno, „Zur Schlußszene des Faust“, in: AGS, Bd. 11, S. 134 f. 79 Adorno, Negative Dialektik, S. 150. – „Von je, gar nicht erst bei der kapitalistischen Aneignung des Mehrwerts im Tausch der Ware Arbeitskraft gegen deren Reproduktionskosten, empfängt der eine, gesellschaftlich mächtigere Kontrahent mehr als der andere. Durch dies Unrecht geschieht im Tausch ein Neues, wird der Prozeß, der die eigene Statik proklamiert, dynamisch. Die Wahrheit der Erweiterung zehrt von der Lüge der Gleichheit.“ (Adorno, „Fortschritt“, S. 636.) 80 Adorno, Einleitung in die Soziologie (1968), in: ANS, Bd. IV.15, S. 57.
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immer nur Mittel zum Selbstzweck ist: Fortschritt an und für sich. An der Ökonomiekritik wie sie Marx geübt hat, erkennt Adorno die Schwäche, daß sie in „verdinglichtes und oft wahrhaft ‚ökonomistisches‘ Denken“ zurück- und damit einer „Fetischisierung der Sphäre Ökonomie“81 anheimfällt. Adorno hingegen geht es darum, „den dialektischen Kern der Marxischen Ökonomie herauszubringen, der gleichsam malgré lui-même vorhanden ist, und zu zeigen, daß die entscheidenden Begriffe wie der der Ware, der Produktivkräfte, der Profitrate wirklich ‚sich selbst bewegen‘. Das ist aber nur dann möglich, wenn man ihn nicht als System der Nationalökonomie, nicht einmal als die Darstellung der Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Wirtschaft auffa[ß]t, wie er selber es wollte, sondern als im Kern eines jeglichen Begriffs objektiv von der kritischen Intention beherrscht. Er wollte keine Deskription der Dynamik des freien und gerechten Tausches geben, sondern spielt die Melodie ‚will der Herr Graf ein Tänzchen wagen‘: Ihr sprecht von freiem und gerechtem Tausch – gut, Ihr sollt ihn haben, aber dabei wird sich zeigen, daß er gerade indem er seinen Begriff erfüllt das Gegenteil von freiem und gerechtem Tausch ist, nämlich seinem Sinne nach die Aneignung des Mehrwerts einschließt. Weniger ökonomistisch geredet: daß das Tauschverhältnis, zur Totalität erhoben, aufs Klassenverhältnis herauskommt. Gleich ist ungleich. Und diesen Kern, den freilich die orthodoxen Marxexegeten am letzten zugeben werden, halten wir eben für dialektisch.“82
81 Adorno an Jürgen von Kempski, 27. Januar 1950, Theodor W. Adorno Archiv, Br 740/8 (Typoskript-Durchschlag). 82 Ebd. – „Will der Herr Graf ein Tänzchen wagen“, die Arie aus Mozarts Hochzeit des Figaro, zitieren zwar auch Marx und Engels in einem Artikel in der Neuen Rheinischen Zeitung vom 12. August 1848 (Marx und Engels, „Das deutsche Reichsbürgerrecht und die preußische Polizei“, MEW 5, S. 365), Adorno dürfte aber eher das bekannte Wort aus der Einleitung zur „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ im Sinn haben, dem zufolge man die „versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen [muß], daß man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt“ (Karl Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“, MEW 1, S. 381).
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Geschichtsphilosophie als Marxkritik? Kontinuitäten einer misslingenden Argumentationsstrategie im Blick auf Kittsteiner
Im Folgenden geht es um Ideengeschichte im Rückblick auf das Werk HeinzDieter Kittsteiners. Thematisiert wird das Verhältnis zwischen der Theorie von Karl Marx und ihrer philosophischen Kritik. Eine solche Gegenüberstellung wird jedoch erst verständlich, wenn man die Wirkungsgeschichte problematisiert, aus der auch die Kritik noch schöpft – das ist hermeneutisches „Einmaleins“. Ein wichtiger Zweig der Wirkungsgeschichte der Marx’schen Theorie ist ihre Deutung als Geschichtsphilosophie. Sie führte im 20. Jahrhundert zu seltsamen Stellvertreterkämpfen, denn in den Debatten um die Möglichkeit und Gestalt einer Geschichtsphilosophie wurde in vielen Fällen Marx implizit mitverhandelt. Ich möchte hier eine These des jungen Kittsteiner verteidigen – auch gegen den älteren Kittsteiner: Die Marx’sche Theorie wird missdeutet, wenn man sie als Geschichtsphilosophie versteht. Mit einer Kritik an der Geschichtsphilosophie ist daher noch keine Kritik an Marx gegeben, mit ihrer Verteidigung noch kein Argument für ihn. Doch genau das war die Unterstellung, mit der die Debatten um die Geschichtsphilosophie geführt worden sind. Diese Unterstellung ist, kurz gesagt, falsch. Um dies zu zeigen, will ich vorgehen wie folgt: Zunächst umreiße ich den Unterschied zwischen Philosophie und Wissenschaft bei Marx (1), um dann zu entwickeln, warum die Marx’sche Theorie keine „Geschichtsphilosophie“ ist (2). Im Anschluss möchte ich andeuten, wie es zu der metonymischen Verschiebung von Marxismus zu „Geschichtsphilosophie“ gekommen ist (3), um dann an Beispielen aufzuzeigen, wie die Theorie von Marx hier verfehlt wird (4). Zuletzt werden die Schriften von Kittsteiner in diese These eingeordnet (5).
1. Philosophie und Wissenschaft Eine philosophische Kritik an Marx hat ihm seinen „Szientismus“ vorgehalten. Dieser Vorwurf und der einer Geschichtsphilosophie legen sich gegenseitig lahm: Ich kann jemandem nur eines von beiden vorwerfen, doch nicht zugleich Szientismus und eine spekulative Philosophie der Geschichte. Doch mit dem Szientismusvorwurf ist etwas Richtiges getroffen: In der Tat hatte der als Philosoph startende Marx ab 1844 vor, menschliche Anliegen im Interesse der Praxis aus einer spekulativ-philosophischen Behandlungsart in eine empirische Behandlung zu überfüh-
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ren. Dahinter stand die Überzeugung, dass sich philosophische Ideen (wie „Freiheit und Gleichheit“) nicht unmittelbar in der Realität verwirklichen können, um die Strafe der Ideologisierung dieser Ideen. Sie müssen zuerst „wissenschaftlich“ behandelt werden, weil sich nur so konkrete Schritte ermitteln lassen.1 Wie kann man aber diese Unterscheidung von Philosophie und Wissenschaft begreiflich machen? Ich möchte dazu folgende Deutung vorschlagen: Philosophie stellt Sinnfragen, die auf das Ganze einer Thematik gehen. Sie haben daher einen Bezug auf das Handeln. Phänomene, die auf uns einstürmen (von der Unermesslichkeit des Himmels2 über Naturkatastrophen bis zur verwirrenden Pluralität der Lebensformen), müssen im Interesse der Angstvermeidung durch Einbindungen in Sinnzusammenhänge in das normale Leben integriert werden. Sinnfragen lassen sich durch Wissenschaften weder beantworten noch abweisen. Sinnantworten können aber einzelwissenschaftlichen Forschungen, die auf das Besondere gehen, auch keine Konkurrenz machen. Die Absicht speziell der Geschichtsphilosophie ist es nun, angesichts der erschütternden Brachialität mancher Ereignisse sowie der unermesslichen Fülle des historischen Materials, die sich in der Geschichtsschreibung seit der Neuzeit abzeichnet, dem Betrachter eine Sinndeutung desselben anzubieten. Daher sprach Theodor Lessing von Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, und daher fragte Karl Löwith nach dem Sinn der Geschichte.3 Welcher Sinn dies sein kann, ist nicht unser Thema – es sei nur angedeutet, dass es ein weltbildstabilisierender, also „kontemplativer“ und identitätsbezogener Sinn sein kann, der die Werte einer Kultur in das Chaos der historischen Mannigfaltigkeit einzubinden erlaubt4; und andererseits ein handlungsbezogener Sinn, der etwa umwälzende politische Absichten einer kleineren Gruppe mit dem kulturellen Selbstverständnis der größeren Bezugsgruppe „versöhnt“.5 Ironischerweise hat gerade die Beschreibung des funktionalen Sinnes solcher Geschichtsphilosophien (etwa bei Nietzsche und Mannheim) den
1 1844 fordert Marx dazu auf, „die Abstraktion zu verlassen und sich einmal die von ihr freie Natur anzusehn“ (MEW 40, S. 586), denn das Denken kann aus sich heraus nicht zu sachhaltigen Schlüssen kommen. 2 Zur Bedrohlichkeit ungedeuteter Himmelsphänomene Hans Blumenberg, Die Vollzähligkeit der Sterne, Frankfurt a. M., 1997. Auch in der Populärkultur tritt sie auf, etwa im Comic Asterix in der Angst des Majestix, ihm könnte der Himmel auf den Kopf fallen. 3 Theodor Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen (1919), Berlin, 2009; Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie (1949), Stuttgart, 1973. 4 Zu den „Chaos-Metaphern“ Kittsteiner, „Objektivität und Totalität. Vier Thesen zur Geschichtstheorie von Karl Marx“, in: Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, Band 1: Objektivität und Parteilichkeit, hg. v. Reinhardt Kosellek u.a., München, 1977, S. 159-170, hier S. 161. 5 Karl Mannheim, Ideologie und Utopie (1929), Frankfurt a. M., 1985, unterscheidet politische Tendenzen wie Konservativismus, Liberalismus, Sozialismus und Faschismus anhand ihrer Geschichtsphilosophien.
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Glauben an solch kulturelle Selbstversicherungen erschwert. Das Bewusstsein ihrer Funktionalität kann derselben also zum Verhängnis werden.6 Wie stehen Sinndeutungen nun zur Einzelforschung? Auch wissenschaftliche Fragen werden stets aus einem Sinnhorizont gestellt, der philosophisch explizit gemacht werden kann. Aber in der Wissenschaft selbst kann dieser Sinnhorizont dann kein Argument mehr sein. Denn wie eine wissenschaftstheoretische Feststellung keine neuen wissenschaftlichen Fakten schafft, fügen auch Sinndeutungen dem Wissen über Tatsachen nichts hinzu – auch dann nicht, wenn die Tatsache selbst, wie bei der Motivationsforschung, eine Sinndeutung ist. Zweck der einzelwissenschaftlichen Forschung ist eine Erklärung; nicht nur in der Naturwissenschaft. Dafür sind zunächst Daten einzuholen, die es vorher nicht gab (entweder durch Messungen bzw. Experimente, oder durch Quellenstudium bzw. Interviews). Aus diesen Daten wird dann durch intelligente Kombination neues, erklärungsmächtiges Wissen geschaffen. Dieses Einzelwissen muss intersubjektiv nachprüfbar sein. Dafür reichen Sinndeutungen allein nicht aus, da diese den Menschen gerade dazu dienen, sich zu unterscheiden.7 Die Absicht einer Theorie der Zellteilung kann z.B. die verlässliche Herstellung von Medikamenten sein, die Absicht einer Geschichte der französischen Revolution hingegen eine Erklärung, wie es zum jakobinischen Terror kommen konnte und wie er sich in Zukunft vermeiden ließe. Beide Erkenntnisse sind Sinndeutungen und praktischen Anwendungen zugänglich, doch kann eine Sinndeutung die Einzeltheorien nicht falsifizieren. Sie kann sie nur so oder so ausdeuten, nur diese oder jene praktische Konsequenz aus ihr ziehen. Deutungen können Erklärungen nicht umstoßen, das können nur andere Erklärungen. Man muss diese Unterscheidung von Philosophie und Einzelwissenschaft nicht mitmachen. Doch legt man sie als diejenige zugrunde, die Marx sich Mitte der 1840er Jahre zu eigen machte, kann das erklären, warum Marx aus der Philosophie ausbrechen wollte und sich um eine wissenschaftliche Behandlungsart bemühte. Man kann die Philosophie nicht verwirklichen, ohne sie aufzuheben; sonst würde man die Welt nicht verändern, sondern würde nur eine weitere „Interpretation“, eine weitere Sinndeutung hinzufügen, die am Weltlauf selbst nichts verändern könnte, weil sie kein intersubjektiv verlässliches Wissen schafft.8 Es ließe sich zwar 6 Vgl. Alfred Seidel, Bewusstsein als Verhängnis. Fragmente über die Beziehungen von Weltanschauung und Charakter oder: über Wesen und Wandel der Ideologien (1924), Bremen, 1980, und sein tragisches Schicksal. Marx hingegen schrieb der Desillusionierung keine tragische, sondern eine befreiende Wirkung zu: „alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen“ (MEW 4, S. 465). 7 Vgl. Amartya Sen, Identity and Violence. The Illusion of Destiny, New York, London, 2006. Wissenschaftlichkeit hat daher durch ihre Transzendierung partikularer Sinnhorizonte einen zivilisierenden Effekt: Partikulare Weltanschauungen werden im Hinblick auf eine und darum potentiell ‚universalisierbare‘ Wahrheit überschritten. Sachlichkeit ist dafür Voraussetzung (nicht Ergebnis). So präjudiziert ‚gute Ernährung‘ als Motiv ökotrophologischer Untersuchungen nicht, was wirklich gesund ist. 8 Die Formulierungen von Marx, an die ich mich hier anlehne, finden sich in MEW 1, S. 385 und MEW 3, S. 7. Hiermit soll übrigens nicht behauptet werden, dass es bei Marx einen epistemischen
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einwenden, dass Ideen auch unmittelbar praktisch werden können. Doch läßt sich aus ihnen oft das eine wie das andere folgern – es folgt aber keine klare Handlungsanweisung: Philosophische Ideen allein liefern eben noch keine scharfe „Waffe der Kritik“ (MEW 1, 385), weil sie als Deutung von Fakten noch kein Wissen von diesen Fakten sind. Auf die Vermittlungsschritte von Wissenschaft und Praxis bleibt die Philosophie angewiesen.
2. Marx als Geschichtsphilosoph? Was erbringt diese Unterscheidung in Bezug auf die Marx’sche Theorie? Wenn Geschichtsphilosophien Sinndeutungen des Geschichtsablaufs sind, oder genauer: seiner Totalität, dann fallen darunter z.B. Modelle wie das Fortschrittsdenken der Aufklärung, die Dekadenztheorie Rousseaus oder Nietzsches Zyklusmodell.9 Mit Kittsteiners Doktorvater Taubes gesprochen: „Die Frage nach dem Wesen der Geschichte kümmert sich nicht um einzelne Ereignisse in der Geschichte“.10 Marx hingegen ging es gerade um solche Ereignisse. Er steigt daher aus der Geschichtsphilosophie aus. Das gilt schon für den journalistischen jungen Marx. Zwar ließ er sich zu Statements hinreißen wie diesem: „Die deutsche Philosophie ist die ideale Verlängerung der deutschen Geschichte“ (MEW 1, 383). Doch das meint gerade, dass die Philosophie einen praktischen Auftrag hat, den sie – wie Marx immer klarer wird – als Philosophie nicht erfüllen kann. Marx und Engels wollten historische Ereignisse verstehen, aber nicht aus kontemplativ-„antiquarischem“ oder monumentalem Interesse, wie Nietzsche es nannte, sondern aus praktisch-kritischem Interesse – um besser in das Geschehen „eingreifen“ zu können.11 Dafür jedoch war ein Verständnis der tatsächlich wirkenden Kräfte vonnöten. Philosophischen Gesamtdeutungen, die von der Kontingenz historischer Einzelheiten abstrahierten und die ihnen von Hegel her bestens vertraut waren12, standen sie daher skeptisch gegenüber, wie folgende Stellen zeigen:
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‚Bruch‘ gäbe. Man muss in seinem Werk – ob früh oder spät – stets verschiedene Ebenen unterscheiden; das ist aber bei jedem Autor so. Vgl. Richard Schäffler, Einführung in die Geschichtsphilosophie, Darmstadt, 1974; Emil Angehrn, Geschichtsphilosophie, Stuttgart u.a., 1991; und Johannes Rohbeck, Geschichtsphilosophie zur Einführung, Hamburg, 2004 (letztere waren mit Kittsteiner Assistenten an der FU Berlin). Jacob Taubes, Abendländische Eschatologie (1947), München, 1991, S. 3. So bereits Helmut Fleischer, Marxismus und Geschichte, Frankfurt a. M., 1969. Bezug genommen wird auf Friedrich Nietzsche, „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ (Ungezeitgemäße Betrachtungen II, 1874), Kritische Studienausgabe, Bd. I, München, 1999, S. 243-334. Zu diesem Denkstil siehe Ingrid Gilcher-Holtey, Eingreifendes Denken. Die Wirkungschancen von Intellektuellen, Weilerswist, 2007. „Die Hegelsche Geschichtsphilosophie ist die letzte, auf ihren »reinsten Ausdruck« gebrachte Konsequenz dieser gesamten Deutschen Geschichtsschreibung, in der es sich nicht um wirkliche, nicht einmal um politische Interessen, sondern um reine Gedanken handelt“ (MEW 3, S. 39).
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„Die Geschichte tut nichts, sie ‚besitzt keinen ungeheuren Reichtum‘, sie ‚kämpft keine Kämpfe‘! Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche, lebendige Mensch, der das alles tut, besitzt und kämpft; es ist nicht etwa die ‚Geschichte‘, die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre – als ob sie eine aparte Person wäre – Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen“ (Engels, MEW 2, 98; vgl. MEW 2, 83). „Wenn man jede dieser Entwicklungen für sich studiert und sie dann miteinander vergleicht, wird man leicht den Schlüssel zu dieser Erscheinung finden, aber man wird niemals dahin gelangen mit dem Universalschlüssel einer allgemeinen geschichtsphilosophischen Theorie, deren größter Vorzug darin besteht, übergeschichtlich zu sein“ (Marx, MEW 19, 112).
Diese Ablehnung der Geschichtsphilosophie ist nicht durch eine Abneigung gegenüber der Geschichte motiviert, wie später in Strukturalismus und „Neuer Marxlektüre“. Es ist vielmehr eine Skepsis gegenüber ihrer philosophisch-spekulativen Behandlungsart. Es wird als Anzeichen für „faule Vernunft“ (Kant) oder mangelnde „intellektuelle Aufrichtigkeit“ (Max Weber) gelesen, wenn geschichtsphilosophische Formeln als Explanans benutzt werden. Marx hegt dann den Verdacht, dass der Gegenstand nicht hinreichend studiert worden ist, wie diese Stelle demonstriert: „Für Proudhon u. a. ist es natürlich angenehm, den Ursprung eines ökonomischen Verhältnisses, dessen geschichtliche Entstehung er nicht kennt, dadurch geschichtsphilosophisch zu entwickeln, dass er mythologisiert, Adam oder Prometheus sei auf die Idee fix und fertig gefallen, dann sei sie eingeführt worden etc.“ (MEW 13, 616; zur Proudhonkritik siehe den Beitrag von Frédéric Krier in diesem Band).
Nun ließe sich einwenden, dass Marx und Engels doch selbst eine Geschichtstheorie entworfen haben. Hier gilt es allerdings zu differenzieren. Es gibt mindestens drei verschiedene Textsorten, die mit Geschichte zu tun haben. Wovon ist genau die Rede? Einerseits hat Marx selbst historische Schriften verfasst. In ihnen geht es jedoch nicht um Sinndeutung in der Totalen, sondern um letztlich handlungsorientierte Analysen einzelner Konstellationen.13 Das Scheitern der erhofften 1848erRevolution sollte nicht durch hochtrabende Phrasen, sondern durch eine rekonstruierende Analyse des tatsächlichen Geschehens erklärt werden. Weitere Partien, die sich als Geschichtsphilosophie verstehen ließen (und später „historischer Materialismus“ genannt wurden) finden sich im „Vorwort“ zur Kritik der Politischen Ökonomie (MEW 13, 7-11). Sie gehen teilweise auf die Deutsche Ideologie zurück, wo Marx und Engels von französischen und englischen Historikern die Methode der empirischen Geschichtsschreibung übernahmen, die in sozi13 Gemeint sind die Frankreichschriften von 1850/52 (MEW 7/8), die keineswegs „vorkritisch“ sind, wie die „Neuen Marxlektüre“ es zuweilen hinstellt. Noch kurz vor seinem Tod wendet sich Marx historischen Studien zu, diesmal ethnologischen Studien zur Frühgeschichte; siehe Lawrence Krader (Hg.), Karl Marx: Die ethnologischen Exzerpthefte, Frankfurt a. M., 1976.
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alen Strukturen und technischen Entwicklungen nach Erklärungen für historische Ereignisse sucht (MEW 3, 28). Doch selbst die Aussage, dass in der historischen Entwicklung die Produktivkräfte oft in Widerspruch mit den Produktionsverhältnissen geraten sind (MEW 13, 9), ist weder eine Aussage über einen Automatismus noch eine Sinndeutung der Geschichte14, sondern eine Verallgemeinerung von Einzelfällen, die als Heuristik für weitere Studien dienen soll. Seine „allgemeinsten Resultate“ (MEW 3, 27, ähnlich MEW 13, 8; MEW 40, 467) hängte Marx daher schon in der Deutschen Ideologie tief: „Diese Abstraktionen haben für sich, getrennt von der wirklichen Geschichte, durchaus keinen Wert. […] Sie geben […] keineswegs, wie die Philosophie, ein Rezept oder Schema, wonach die geschichtlichen Epochen zurechtgestutzt werden können“ (MEW 3, 27).
Wirklich schwierig für die Ansicht, dass Marx kein Geschichtsphilosoph ist, sind erst Textpartien, in denen Marx auf die Zukunft zu sprechen kommt. Kittsteiner grenzt in seiner Dissertation gerade diese Partien aus, worauf noch zurückzukommen ist (s.u., 5.). Partien zur Zukunft gibt es sowohl im emphatischen Frühwerk wie im nüchterneren Spätwerk.15 Dafür drei Beispiele. Anfang 1844 provoziert der Journalist Marx mit der Behauptung, dass die politische Revolution in der „verspäteten Nation“ Deutschland (Helmuth Plessner) um so gründlicher ausfallen werde als im Westen: „Wenn alle innern Bedingungen erfüllt sind, wird der deutsche Auferstehungstag verkündet werden durch das Schmettern des gallischen Hahns“ (MEW 1, 391). Gemeint war damit die Abschaffung der Klassenschranken. Auch die Pariser Manuskripte von 1844, die das Ziel als ökonomische Revolution radikalisieren, treffen emphatische Aussagen über die Zukunft: „Dieser Kommunismus ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung“ (MEW 40, 536). Und schließlich skizziert Marx noch im Kapital eine Option für die Zukunft: „Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert“ (MEW 23, 791).
14 Anders Hayden White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a. M., 1991, S. 365 ff., der verschiedene „Geschichtsphilosophien“ auf ihre Stilmittel untersucht (bei Marx findet er eine „Metonymie“). Die Entscheidung, Marx als Geschichtsphilosophen zu behandeln, fällt schon im Vorfeld. Ebenso wenig überzeugt die geschichtsphilosophische „Umarmung“ der politischen Ökonomie bei Rolf-Peter Sieferle, Die Revolution in der Theorie von Karl Marx, Frankfurt a. M. u.a., 1979, S. 115 ff, der ihr eine spekulative Logik der „Vollendung“ unterschiebt (so noch Sieferle, Karl Marx zur Einführung, Hamburg, 2007, S. 137 ff.). 15 Siehe Ralf Dahrendorf, Marx in Perspektive. Die Idee des Gerechten im Denken von Karl Marx, Hannover, 1952, S. 167 ff.; Thilo Ramm, „Die künftige Gesellschaftsordnung nach der Theorie von Marx und Engels“, in: Marxismusstudien 2, Tübingen, 1957, S. 77-119; sowie Michael Heinrich, „Geschichtsphilosophie bei Marx“, in: Geschichtsphilosophie oder das Begreifen der Historizität, hg. von Diethard Behrens, Freiburg/Br., 1997, S. 127-139.
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Diese Stellen sind oft als „Prophetie“ gedeutet worden (s.u.).16 Aus zwei Gründen möchte ich jedoch auch hier nicht von Geschichtsphilosophie sprechen: Erstens sind solche Stellen stets nur am Rande, d.h. am Ende systematischer Ausführungen zu finden. Sie sind daher als stilistische Manierismen zu deuten und zu entschärfen. Sie zeigen in einer pointierten Abschlussformel noch einmal das erkenntnisleitende Interesse auf, wie in einem Schlussakt einer Symphonie. Solch ein Interesse ist nicht selbst Teil der Theorie, es ist – mit Wittgenstein gesprochen – kein „Zug“ im Sprachspiel.17 Zweitens ist zu bedenken, dass Marx die Philosophie in zwei Richtungen verwindet: Nicht nur in Richtung der Wissenschaft, sondern parallel auch in Richtung Politik. Marx stellt seine Wissenschaft in den Kontext einer politischen Bewegung und ist daher an Handlungsanweisungen interessiert. Die wenigen Stellen, in denen Marx sich emphatisch über die Zukunft äußert, möchte ich daher in einer Hermeneutik der Textsorten als Ermunterung an die Adresse dieser Bewegung verstehen. Sie haben keinen wissenschaftlichen oder philosophischen Status, sondern einen praktischen. Es wird eine Möglichkeit aufgewiesen, auf die sich die politische Bewegung hin orientieren soll. Es handelt sich um eine politische Verortung – erst eine hermeneutisch unangemessene Vertheoretisierung erzeugt die „philosophische“ Lesart solcher Appelle. Der Großteil der Marx’schen Theorie besteht gerade nicht aus solchen Stellen. Seine Theorie, die er als wissenschaftliche verstand, funktioniert anders: Erstens kritisiert sie bürgerliche Vorstellungen über die und Legitimierungen von der bestehenden Ordnung (Ideologiekritik). Doch darin geht die Theorie nicht auf – denn böte eine Kritik keine alternativen Erklärungen an, bliebe sie billig, da sie die Möglichkeit dieses „außerhalb“ nicht nachwiese.18 Zweitens erklärt sie daher synchron die Struktur dieser Gesellschaft auf der Grundlage des ökonomischen Prozesses im Kapitalismus (Klassentheorie). Drittens gewinnt sie diachron Bewegungsgesetze dieses Kapitalismus (Krisentheorie), mit der sich soziale Konflikte und gesellschaftliche Dynamiken erklären lassen.19 Es gibt bei alldem in Richtung 16 Etwa von Karl Kautsky, Der Weg zur Macht. Politische Betrachtungen über das Hineinwachsen in die Revolution, Berlin, 1909, Kapitel 2 (nach www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1909/macht/ index.htm, alle Zugriffe vom 08.01.2009); Josef Schumpeter, Capitalism, Socialism and Democracy (1942), New York, 1975, S. 5f., und anderen (genaueres dazu bei Christoph Henning, Philosophie nach Marx. 100 Jahre Marxrezeption und die normative Sozialphilosophie der Gegenwart in der Kritik, Bielefeld, 2005, S. 384 ff.). 17 „Einen wissenschaftlichen Gehalt … können solche Passagen aber nicht beanspruchen … Diese geschichtsphilosophischen Passagen sind jedoch nicht konstitutiv für die wissenschaftliche Analyse“. Michael Heinrich, „Geschichtsphilosophie bei Marx“, S. 138. So präjudiziert ,gute Ernährung‘ als Motiv ökotrophologischer Untersuchungen nicht, was wirklich gesund ist. 18 Daher bleibt eine bloße ‚Ökonomiekritik‘, die sich auf die Kritik der ‚Form‘ beschränkt, vorreflexiv. Sie belässt es bei der abstrakten Negation – eine Rückkehr zur Utopie, die zudem ungreifbar bleibt (vgl. meine Besprechung von Ingo Elbe, Marx im Westen, Berlin, 2008, in: Marx-EngelsJahrbuch 2008, Berlin, 2009, S. 149-158). 19 Diese Themen habe ich andernorts erläutert: Christoph Henning, „Übersetzungsprobleme. Eine wissenschaftstheoretische Plausibilisierung des Marx’schen Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate“, in: Marx-Engels-Jahrbuch 2005, Berlin, 2006, S. 63-85; sowie: „Theoriegeschichte als Vademecum. Kleine Geschichte des Klassenbegriffes in der Gesellschaftstheorie“, in: ‚Realität‘ der
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Vergangenheit ein Bewusstsein historischer Bedingtheit (oder „Pfadabhängigkeit“, wie es heute heißt), in Richtung der Zukunft eine – wenn auch kanalisierte – Offenheit. Alle drei Bereiche (Ideologiekritik, Klassenanalyse und Krisentheorie) sind für die Philosophie von hohem Interesse, aber sie sind nicht selbst philosophisch, da sie über Sinndeutungen hinausgehen. Eine notwendige historische Entwicklung oder dergleichen spielt in den Theorien keine explanative Rolle. Es handelt sich also nicht um Krisentheorie.
3. Geschichtsphilosophie als Deutungschiffre des Marxismus Offensichtlich wird der wissenschaftliche Kern übersprungen, wenn manieristische Schlussformeln für das Ganze genommen werden. Wie kommt es also dazu, dass dieses theoretische Gebäude als Geschichtsphilosophie wahrgenommen wurde? Ein naheliegender Grund ist, dass man mit dem anspruchsvollen Theoriekorpus Probleme hatte (nicht nur aufgrund der Editionslage) und daher eine handliche Kurzformel brauchte. Wer brauchte diese Kurzformel? Zunächst die, die sich auf Marx beriefen. Die Sozialdemokratie zählte Marx unter ihre Gründer, konnte aber im konkreten Fall kaum Vermittlungen zwischen ihrer politischen Praxis und der vorgeblich zugrundeliegenden Theorie herstellen. Wenn Marx hier als Geschichtsphilosoph ausgelegt wurde, hatte das schon die Funktion einer Ausfallbürgschaft: Der Hinweis auf eine geschichtsphilosophische Absicherung des politischen Handelns machte die Verbindung zwischen Theorie und Praxis ein für alle mal im Großen, statt sie jedesmal im Kleinen zu machen. Wenn das Proletariat mit „Naturnotwendigkeit“20 die Bourgeoisie besiegen würde, weil die Logik der Geschichte auf ihrer Seite sei, dann musste man im Detail nur noch wenig zeigen und hatte damit gewissermaßen einen ‚Blankoscheck‘. Der heute viel gescholtene Friedrich Engels hat dem in gewisser Weise Vorschub geleistet, etwa als er 1892 über den „Sozialismus in Deutschland“ schrieb: „Die konterrevolutionäre, momentane Übermacht kann den Triumph des Sozialismus vielleicht um einige Jahre verzögern, aber nur, damit er dann um so vollständiger und endgültiger wird“ (MEW 22, 251).
Hier wird eine praxisbezogene Redeweise in eine theoretische Gewissheit überführt, die wirklich von Geschichtsphilosophie zu sprechen erlaubt. Eine frühe und überaus schwerwiegende sozialdemokratische Debatte drehte sich dann um die Wertigkeit dieser „materialistischen Geschichtsauffassung“. Eduard Bernstein, der Klassengesellschaft – ‚Klassengesellschaft‘ als Realität? Dresdner Beiträge zur Soziologie 2, hg. v. Gunther Gebhard u.a., Münster, 2007, S. 77-123. 20 Marx meinte damit das Handeln Einzelner, nicht die Geschichte. Handeln aus „Notwendigkeit“ will die „nicht mehr zu beschönigende, absolut gebieterische Not“ (MEW 2, 38) wenden, die die Bedürfnisse uns aufzwingen; „das war immer ein Muss von der Sorte: wenn es regnet, muss ich den Schirm aufspannen“ (Dietmar Dath, Heute keine Konferenz. Texte für die Zeitung, Frankfurt a. M., 2007, S. 293).
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Marx und Engels noch persönlich kennen gelernt hatte, setzte sich 1899 von dieser Auffassung ab, die er eigens zu diesem Zweck überzog: „Materialist sein heißt zunächst, alles Geschehen auf notwendige Bewegungen der Materie zurückzubeziehen“.21 Bernstein unterschiebt Marx hier einerseits einen Naturalismus, andererseits einen historischen Determinismus.22 Beides sind so offensichtlich abstruse Positionen, dass Bernstein dagegen leicht recht haben kann. Karl Kautsky, der Verfechter der Orthodoxie, reagierte darauf scharf; aber nicht mit einer Korrektur der überzogenen Zuschreibung. Er übernahm sie vielmehr und verteidigte gerade diese Überziehung gegen Bernstein: „Ich kann da nirgends die geringste Abschwächung oder Einschränkung des Determinismus entdecken“.23 Dabei nahm Kautsky sogar die bei Bernstein karikierend gemeinte Nähe zur Religion in Kauf, etwa wenn er schrieb: „Ohne Prophezeiungen geht es in der Politik einmal nicht“.24 Bereits in dieser frühen Marxrezeption kam es also zu verschobenen Verhältnissen. Da die marxistische Theoriearbeit im deutschsprachigen Raum zumeist in enger Parteinähe vor sich ging, ist es kein Wunder, dass sich gerade diese geschichtsphilosophische Marxlesart zu einem geronnen Vorurteil verfestigte. Das ist hier nicht weiter auszuführen, verwiesen sei lediglich auf die resultierende philosophische Überlastung der Krisentheorie. Wenn eine ökonomische Theorie im Interesse der Partei die historische Notwendigkeit der kapitalistischen ‚Endkrise‘ – den sprichwörtlichen „großen Kladderadatsch“25 – beweisen soll, kann sie an dieser zu hohen Erwartung nur scheitern. Sie scheitert aber damit nicht ökonomisch, sondern erst philosophisch. Denn wird die ökonomisch zum Teil recht ausgefeilte Krisentheorie fälschlich als „Zusammenbruchsgesetz“ verstanden, wird den Gegnern die Kritik leicht gemacht.26 Gerade die offensichtlich überfliegende Geschichtsphilosophie scheint es unnötig zu machen, sich mit der eigentlich ökonomischen Materie eingehender auseinander zu setzen – eine Entwicklung mit fatalen Folgen, auch für den theoretischen Marxismus selbst.27 21 Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie (1899), Reinbek, 1969, S. 32. 22 Erkennbar an Worten wie „Prädestinatorisch“; ebd., S. 34. 23 Karl Kautsky, „Bernstein und die materialistische Geschichtsauffassung“ (1899), in: Materialien zum politischen Richtungsstreit in der deutschen Sozialdemokratie 1890-1917, hg. v. Peter Friedemann, Frankfurt a. M., 1978, Bd. 1, S. 391-410, ca. S. 397, hier zitiert nach www.marxists.org/ deutsch/archiv/kautsky/1899/xx/auffassung.htm. 24 Karl Kautsky, Der Weg zur Macht, Kap. III. Bernstein dagegen hatte gespottet: „So ist der Materialist ein Calvinist ohne Gott“ (Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus, S. 32). 25 Von einem solchen sprach August Bebel anno 1911, allerdings meinte er damit den möglichen Völkerkrieg. 26 Henryk Grossmann, Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems, Leipzig, 1929. 27 Im Osten resultierte daraus eine falsche Siegesgewissheit, die als Legitimation des Unrechts diente: „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist“ (W. I. Lenin, Werke, Bd. 19, Ostberlin, 1960, S. 6). Im westlichen Marxismus – vor allem dem deutschsprachigen – führte dies zu der bis heute spürbaren Ökonomievergessenheit, aber auch zu einem Rückzug von der Geschichte.
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War dies aber die Selbstinterpretation der Marxisten, warum sollten Außenstehende – d.h. bürgerliche Theoretiker, die sich einen Begriff vom Marxismus machen wollten – anders vorgehen? Immerhin gab es ja einige Marxzitate, die sich so deuten ließen. Wenn man nun ansieht, unter welcher Chiffre der Marxismus in Übersichtswerken abgehandelt wird, dann ist die „Geschichtsphilosophie“ überaus zentral. Ein Beispiel: Wilhelm Windelbands über Generationen gelesenes Lehrbuch führt Marx wie folgt ein: „Zu der Zeit, als Feuerbachs aus der Hegelschen Dialektik entarteter Materialismus … noch in Blüte stand, schufen Marx und Engels die materialistische Geschichtsphilosophie des Sozialismus“.28 Dabei kam der Selbstdeutung der Marxisten eine Eigenart des akademischen Feldes entgegen. Es gibt dort bestimmte Rezeptionsmuster, die die eigene Prägung noch in die rezipierten Inhalte hinein liest. Im deutschen Fall ist das die Imprägnierung durch den Geist, oder besser: den „Deutschen Geist“.29 Ein deutscher Gelehrter nimmt eine Theorie überhaupt erst dann zur Kenntnis, wenn sie „geistig“ irgendwie von Rang ist – und wie sollte ein Materialismus von Rang sein? Um ihn zur Kenntnis zu nehmen, muss er zunächst ins Geistige transformiert, d.h. „philosophisiert“ werden.30 Die Deutung der Marx’schen Theorie als Geschichtsphilosophie tat nun genau das. Noch vor den wichtigen soziologischen Werken von Georg Simmel und Max Weber hat ein Leipziger Dozent namens Paul Barth ein Buch verfasst, dessen Name Programm war: Die Philosophie der Geschichte als Soziologie ordnet Marx umstandslos als Geschichtsphilosophen ein. Natürlich sei aber sein ökonomischer Determinismus angesichts der „Selbstständigkeit der Ideen“ abzuweisen.31 Es geht mir hier nicht um einzelne Inhalte, sondern um die Lesart der Marx’schen Theorie als Geschichtsphilosophie. Diese nämlich hat Schule gemacht. In der Folge wurde sie vor allem in der Sozialtheorie als „Geschichtsphilosophie“ gedeutet. Dafür einige Beispiele: Ernst Troeltsch gab seine erstaunlich positive Darstellung der Marx’schen Theorie in einem Buch über Geschichtsphilosophie.32 Leopold von Wiese liest Marx’ Werk in einem Lehrbuch von 1926, das er 1954 neu auflegt, als Geschichtsphilosophie: „Die Grundgedanken, auf denen … der Marxismus ruht, sind geschichtsphilosophische Glaubenssätze“.33 Alfred Weber – der Bruder von 28 In: Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie (zuerst 1891), hg. v. Heinz Heimsoeth, Tübingen, 1957, S. 565. 29 Siehe etwa Ernst Robert Curtius, Deutscher Geist in Gefahr, Berlin/Leipzig, 1932. 30 Analysiert hat dieses „Feld“ Pierre Bourdieu, Die politische Ontologie Martin Heideggers, Frankfurt a. M., 1988. 31 Paul Barth, Die Philosophie der Geschichte als Soziologie (zuerst 1897), erweiterte Auflage, Leipzig, 1922, S. 743 (siehe S. 709 in der Zweitauflage von 1915). Engels hatte Barths erste Werke noch lesen können, zur Debatte darum siehe Peter Goller, Marx und Engels in der bürgerlichen Ideologie und in der sozialistischen Theorie. Gesammelte Studien, Wien, 2007, S. 104 ff. 32 Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, Tübingen, 1922, S. 314-359. 33 Leopold von Wiese, Soziologie. Geschichte und Hauptprobleme (1926), Berlin, 1954, S. 120, vgl. S. 107. Max Adlers Unterscheidung einer stationären bürgerlichen und einer „evolutionistischen“
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Max – stellte 1921 lapidar fest: „Und der Marxismus … ist auch nichts anderes, als eine solche zivilisatorisch konzipierte Eschatologie“.34 Sein Hauptanliegen war es fortan, dem „Geschichtsmaterialismus“ eine kultursoziologische Geschichtsdeutung gegenüberzustellen. Die Liste ließe sich fortsetzen. Programmatisch sind daran zwei Dinge wichtig: Erstens die Absetzung von der westlichen Soziologie, die mit Comte und Spencer früh Furore gemacht hatte, dabei aber ‚positivistisch‘ war – und Positivismus war für viele deutsche Gelehrte bis zu Adorno ein Gräuel. Man konnte erst dann etwas entgegensetzen, wenn man die eigene Tradition als Soziologie verstand. Dafür eigneten sich vor allem Hegel und seine geschichtsphilosophischen Erben: Dilthey und Marx. Dies hat u.a. Hans Freyer stark gemacht: „Die Soziologie ist aus der Geschichtsphilosophie erwachsen“.35 Die zweite Funktion einer ‚Philosophisierung‘ war die Neutralisierung der politischen Gehalte. Marx’ Kritik an der gegenwärtigen Welt und seinen Aufruf, sie zu verändern, konnten deutsche Gelehrte nur bedingt mitmachen. Durch die Deutung als ‚Geschichtsphilosophie‘ konnte man um die politökonomischen Details kürzen (das hatte der Marxismus vorgemacht) und Marx dennoch effektiv kritisieren, um sich von ihm abzusetzen. Man denke an den Ausspruch Rudolf Stammlers, eine Partei zu Veränderung eines deterministischen Geschehens zu gründen sei genauso sinnlos wie eine Partei zur Verhinderung der Mondfinsternis.36 Das sagt im Grunde gar nichts über die politische Ökonomie aus, scheint Marx aber dennoch zu ‚erledigen‘. Die metonymische Verschiebung konnte dazu führen, dass man von Geschichtsphilosophie anstelle von Marxismus sprach – besonders deutlich ist diese Verschiebung dort, wo man es zunächst gar nicht vermutet, nämlich in der Kritischen Theorie. Gab der junge Habermas unverblümt zu verstehen, der Titel „Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht“ sei eine Chiffre für recht verstandenen Marxismus37, so war Horkheimer ständig besorgt, sein Institut durch allzu offene Exponierung von Marxismen zu gefährden. Schon er hatte 1930 über dieses Thema gearbeitet, dabei aber Giambattista Vico in den Vordergrund gestellt.38 Die Dialektik der Aufklärung von 1947 entwarf dann eine veritable eigene Geschichtsphilosophie, die gut ohne Marx auskam. Alfred Schmidt konnte die Kritische Theorie
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marxistischen Soziologie gehe in „Prophetie“ über (S. 119). Ähnlich auch Franz Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. 1, Stuttgart, 1922, S. 40 f., 140 ff. Alfred Weber, „Gesellschaftsprozess, Zivilisationsprozess und Kulturbewegung“ (1921), in: ders., Prinzipien der Geschichts- und Kultursoziologie, München, 1951, S. 44-92, hier S. 86. Hans Freyer, „Typen und Stufen der Kultur“, in: Handwörterbuch der Soziologie, hg. v. Alfred Vierkandt, Stuttgart, 1931, S. 294-308, hier S. 294. Freyer bezieht sich offen auf Marx, grenzt sich aber gegen die westliche Soziologie ab. An Dilthey arbeiteten sich auch René König, Helmuth Plessner, Max Horkheimer und Karl Mannheim ab; ohne Marx bleibt das Bild jedoch unvollständig. Rudolf Stammler, Wirtschaft und Recht in der materialistischen Geschichtsauffassung, Leipzig, 1896. Jürgen Habermas, „Zwischen Philosophie und Wissenschaft, Marxismus als Kritik“ (1960), in: ders, Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Frankfurt a. M., 1971, S. 228-289, hier S. 234. Max Horkheimer, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Stuttgart, 1930.
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daher kurzum als Geschichtsphilosophie darstellen.39 Der Titel „Geschichtsphilosophie“ hielt dabei den verklausulierten Marxbezug offen (der der Kritischen Theorie erst ihren Nimbus gab), ohne auf ihn zu verpflichten. Diese Verbindung zwischen Marxismus und Geschichtsphilosophie war keineswegs notwendig, doch die Assoziation war auch nach 1945 weit verbreitet. Der kalte Krieg hat sicher seinen Teil dazu beigetragen, führte man doch auf östlicher Seite Lenins Wort vom „sterbenden Kapitalismus“ im Mund.40 Wenn Clemens Albrecht u.a. von einer „intellektuellen Gründung der Bundesrepublik“ durch die Frankfurter Schule sprachen, dann kann man davon ausgehen, dass die Geschichtsphilosophie und ihr impliziter Marxbezug in der Bundesrepublik semantisch stark aufgeladen war – eine ideale Spielwiese für Philosophen.41
4. Kritik der Geschichtsphilosophie als misslingende Marxkritik Nach alldem wundert es kaum, dass es nach 1945 Debatten um die Geschichtsphilosophie gab. Der ‚Sinn der Geschichte‘ musste in einem Land zum Problem werden, das gerade noch halb Europa beherrscht hatte, große Schuld auf sich geladen hatte und nun in zerbombten Städten saß. Geschichte war offensichtlich ein Problem. Geschichtsphilosophie wandte sich dem zu, ohne empirische Einzelfragen zu stellen. Es ging ihr um den Sinn des Ganzen, jenseits individueller Zurechnung. Sie hatte also auch, um mit Arnold Gehlen zu reden, eine Entlastungsfunktion.42 Nun sprach Jens Hacke jüngst von einer anderen, „liberalkonservativen Begründung der Bundesrepublik“. Da es sich dabei eher um eine philosophische Gegengründung handelt43, musste sie sich zur prominenten Rolle der Geschichtsphilosophie in der kritischen Begründung irgendwie verhalten. Meine Lektüre dieser Debatten ist eine symptomatische. Ich unterstelle, dass stets über Marx und seine Adepten mitverhandelt wird: Marx ist auch dort, wo er nicht genannt wird, ein Stachel im Fleisch. Günter Rohrmoser, der als rechts-konservativer Philosoph eine 39 Alfred Schmidt, Die Kritische Theorie als Geschichtsphilosophie, München, 1976. Zum Thema auch Norbert Bolz, Geschichtsphilosophie des Ästhetischen. Hermeneutische Rekonstruktion der Noten zur Literatur Th. W. Adornos, Hildesheim, 1979; sowie Wolfgang Bialas, Geschichtsphilosophie in kritischer Absicht im Übergang zu einer Teleologie der Apokalypse, Frankfurt a. M., 1994. 40 W. I. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1917), Werke XXII, Ostberlin, 1960, S. 191-309, hier S. 307. 41 Clemens Albrecht u.a., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a. M., New York, 1999. 42 Bemerkenswert reflexiv hat sich Gehlen zum Fürsprecher solcher „Entlastungen“ gemacht (derer er angesichts seiner Vergangenheit auch bedurfte); zudem inszenierte er effektvoll eine Gegen-Geschichtsphilosophie (s.u.). 43 Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen, 2006, lehnt zwar die Gründerthese im Bezug auf die Frankfurter ab, da sie nicht „staatstragend“ genug gewesen seien (S. 12), datiert den „Verfassungspatriotismus“ der Ritterschule aber auf die frühen 1970er Jahre (S. 14); da war Adorno bereits verstorben und Horkheimer hatte sich längst in die Schweiz (!) zurückgezogen.
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gewisse Distanz vom ‚liberalkonservativen‘ Milieu hatte, so dass er ihr Geheimnis sehen und aussprechen konnte, hat dafür einen Begriff geprägt: Es handele sich bei vielen Philosophien, die in der Nachkriegszeit berühmt werden, wenn nicht um explizite Marxismuskritik wie bei Karl Popper44, dann doch um eine „implizite Marxismuskritik“.45 Eine solche sei z.B. bei Hannah Arendt, Carl Schmitt, Gehlen und Heidegger am Werk. Rohrmoser hat damit eine ältere Diagnose von Georg Lukács aktualisiert, meines Erachtens zurecht. Solch implizite Marxkritiken wurden auch auf dem Feld der Geschichtsphilosophie ausgetragen.46 Da Marx nach obiger Diagnose jedoch gar kein Geschichtsphilosoph war, musste es dabei zu Verzerrungen kommen. Diese will ich in aller Kürze nachzeichnen, indem ich die grundlegenden Kritikstrategien diskutiere, die sich aus der geschichtsphilosophischen Marxlesart ergeben. Dabei ist schon die Fülle der vertretenen Positionen ein Argument gegen sie, denn es können nicht alle zugleich wahr sein – missversteht man ‚Dialektik‘ nicht als Freibrief gegen den Satz vom Widerspruch, muss etwa die Hälfte dieser Positionen falsch sein. Welche Möglichkeiten gibt es nun, Marx geschichtsphilosophisch zu lesen? Zunächst kann man als Kritiker die unterstellte Geschichtsphilosophie von Marx annehmen oder ablehnen. Nehmen wir sie zunächst als richtig an; welche Möglichkeiten gibt es, sie dennoch zurückzuweisen? Eine erste Möglichkeit ist es, die Geschichtsphilosophie zu radikalisieren und Marx damit als bloße Vorstufe, als überholt und veraltet darzustellen. Dieses Argument entwickelt Hans Freyer. Auch für ihn ist Marx Geschichtsphilosoph, doch „die Soziologie ist die rechtmäßige Erbin der Geschichtsphilosophie“.47 Ein Erbe setzt einen Todesfall voraus. Marx’ Geschichtsphilosophie ist für Freyer tot, weil sie nur für das 19. Jahrhundert galt. Das 20. Jahrhundert sei zu einer neuen Problematik fortgeschritten („Rasse“ statt Klasse), der Marx nichts mehr zu sagen habe.48 Diese Marxneutralisierung durch Radikalisierung hat innerhalb des Marxismus einen Vorläufer bei Lenin höchstselbst.49 Nach Vorarbeiten von Rudolf Hilferding und Nikolai Bucharin hatte er für das 20. Jahrhundert den Imperialismus als neues „Stadium“ mit anderen ökonomischen Gesetzen ausgerufen. Das musste Freyer nur umbesetzen. Die These, die Marx’sche Theorie sei einmal richtig gewesen, habe sich aber überlebt, haben seither auch andere vertreten: Zu den Lieblingswendungen von Jürgen Habermas gehören beispielsweise die drei Worte „heute nicht mehr“, etwa bezüglich des Klassenkonfliktes oder des Nationalstaates. Ein Fortsetzung dieses 44 Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1944), 2 Bde., München, 1974, und Das Elend des Historizismus (1957), Tübingen, 1965. 45 Günter Rohrmoser, Marxismus und Menschlichkeit. Eine kritische Bilanz der Versuche, die Selbstentfremdungen des Menschen zu überwinden, Freiburg, 1974, S. 57. 46 So bei Odo Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze, Frankfurt a. M., 1973. 47 Hans Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Logische Grundlegung des Systems der Soziologie (1930), Darmstadt, 1964, S. 125. 48 So vor allem in Hans Freyer, Revolution von rechts, Jena, 1931. 49 Vgl. W. I. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus.
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Denkens ist auch das Ausrufen von historischen Stufen mit jeweils neue Gesetzen: „industrielle“ bzw. postindustrielle Gesellschaft, Fordismus und Postfordismus, Moderne und Postmoderne, Kontroll- und Disziplinargesellschaft usw.50 Spätestens die Finanzkrise hat den Zeitgenossen allerdings vor Augen geführt, dass Marx keineswegs veraltet ist. Seine Theorie ist als Beschreibung einer historischen Stufe gründlich missverstanden. Sie benennt als dynamische Theorie vielmehr die Wirkmächte des Wandels im Kapitalismus (etwa den Turnus von Freihandel und Protektionismus). Eine Theorie, die diese permanente Umwälzung zum Thema hat51, kann darum nur schlecht durch eben diesen Wandel ‚widerlegt‘ werden. Eine andere Möglichkeit, die zunächst als richtig bewertete Marx’sche Geschichtsphilosophie zu neutralisieren, ist die Stillstellung der Geschichte. Lange vor Francis Fukuyama haben Denker wie Alexandre Kojève und Arnold Gehlen mit der These vom „Ende der Geschichte“ die marxistische Variante durch die ihrerseits geschichtsphilosophische These einer Vollendung spekulativ überboten.52 Diese Deutung bleibt solange fragwürdig, wie es menschliche Möglichkeiten gibt, die noch nicht ausgeschöpft sind. Selbst das Aufzeigen einer ökologischen Grenze fordert ja eher zum Wandel auf. Welche Macht soll also als das den historischen Wandel aufhaltende (‚katechontische‘) Element auftreten, wenn nicht selbst wieder eine Partei in der Geschichte, die die erreichte Position verewigen will? Im Osten war dies die Nomenklatura, im Westen konservative Eliten, die sich durch den Wandel bedroht sahen – all das lässt sich sozialtheoretisch gut mit Marx (und Karl Mannheim) erklären. Es taugt darum ebenfalls kaum als Marxwiderlegung. Bleibt noch die Kritikstrategie, die Marx’sche Theorie zwar als Geschichtsphilosophie, aber als im Ansatz ‚falsches Denken‘ „zu lesen – falsch deswegen, weil Entwicklung nur aus einer religiösen Perspektive in den Blick komme.“ Diese Lesart zerfällt wieder in zwei konträre Positionen. Man kann entweder sagen, dass es eigentlich keine geschichtliche Entwicklung gibt („nichts Neues unter der Sonne“, Koh 1.9), und die Idee von einer solchen daher ein grundlegender Irrtum ist. Der Vorwurf war hier, dass Marx die Geschichte zu sehr religiös aufgeladen hat. Oder man kann sagen, dass Aussagen über den Verlauf der Geschichte grundsätzlich nur von einer religiösen Warte aus gemacht werden dürfen. Dann kritisiert man Marx als jemanden, der nicht zu viel, sondern zu wenig Religion hat – auch hier wieder ein klarer Widerspruch.
50 Schon die These der „Industriegesellschaft“ (beim späteren Freyer oder Helmut Schelsky) war eine Marxkritik: Marx habe, hieß es, die „Subjektrolle der Technik“ nicht erkannt. Näheres in Christoph Henning, Philosophie nach Marx, S. 215 ff. 51 „Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne … sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren“ (MEW 4, 465). Darum lässt sich aber auch keine einzelne ‚Staatsform‘ als notwendig ableiten. 52 So auch Lutz Niethammer, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende? Reinbek, 1989, S. 18 ff., 74 ff.; vgl. Johannes Rohbeck, Geschichtsphilosophie zur Einführung, S. 115 ff.; Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York, 1992; sowie Beat Wyss, Trauer der Vollendung. Von der Ästhetik des Deutschen Idealismus zur Kulturkritik an der Moderne, München, 1985.
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Die erste Variante, der Religionsverdacht, ist wirkmächtig von Karl Löwith vertreten worden. Er erklärt die Marx’sche Geschichtsphilosophie als Gipfel einer geistesgeschichtlichen Verirrung. Nach seiner Diagnose steht Marx am Ende eines fatalen Hineinziehens religiöser Vorstellungen eines Heilsgeschehens in die irdische ‚Weltgeschichte‘. Andere Autoren haben ähnliche Diagnosen vertreten. Schon hier lässt sich allerdings ein Widerspruch wahrnehmen: Löwith sieht wie etwa Talmon in der Marx’schen Heilslehre jüdisch-alttestamentarische Bezüge53, Jacob Taubes und Eric Voegelin dagegen – wohl vermittelt über die Heideggerkritik von Hans Jonas – eine gnostische Erlösungslehre, die die Menschen aus der ‚Entfremdung‘ zu retten verspricht.54 Schon diese beiden Deutungen: jüdisch oder gnostisch, sind latent unverträglich. Es gibt eben nicht nur eine religiöse Perspektive. Sehen wir aber zunächst auf das größere Dilemma: Man kann die vorgeblich Marx’sche Position auch von einer ihrerseits religiösen Warte aus kritisieren. Dann wäre das Problem nicht, dass Marx Weltgeschichte zu sehr religiös auflädt, sondern vielmehr, dass er dies zu wenig tut. Marx denke Weltgeschichte noch in zu säkularen Kategorien und sei damit zwar ein Prophet, aber ein ‚falscher‘. Die wirkliche Weltgeschichte müsse noch mehr religiös aufgeladen werden als Marx, der Atheist, das tut.55 Offensichtlich legen sich diese beiden Kritikstrategien gegenseitig lahm: Man kann nicht zugleich zu viel und zu wenig säkularisieren. Mehr noch: im Grunde sind beide falsch, da Marx gar nicht säkularisiert. Er beschreibt sowohl die Wirkkräfte in der bisherigen Geschichte wie auch die Möglichkeiten für die Zukunft in einer säkularen Sprache. Keine ernsthafte Annahme von Marx ist überweltlich oder heilsbedeutsam. Dies wird von den Kritikern allererst hineingelesen. Das sei kurz erläutert: Die Säkularisierungsthese basiert allein auf Analogien.56 Marx nimmt an, dass es schwere Probleme gibt, dass diese möglicherweise in eine große Krise führen, sich aber lösen lassen werden, wenn wir richtig vorgehen (der Problemdiagnose dient die ökonomische Theorie), und dass das Leben der meisten Menschen sich dann 53 Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen; J. L. Talmon, Politischer Messianismus. Die romantische Phase, Köln/Opladen, 1963, S. 175 ff. 54 Jacob Taubes, Abendländische Eschatologie; Eric Voegelin, Wissenschaft, Politik und Gnosis, München, 1959; vgl. Hans Jonas, Gnosis und spätantiker Geist. Erster Teil: Die mythologische Gnosis (1934), Göttingen, 1954. 55 So etwa Walther Bienert, Über Marx hinaus zum wahren Menschsein. Eine kritische Analyse der Marxschen Anthropologie in ihrer Begegnung mit dem christlichen Menschenbild, Frankfurt a. M., 1979; oder Angelika Senge, Marxismus als atheistische Weltanschauung. Zum Stellenwert des Atheismus im Gefüge des marxistischen Denkens, Paderborn, 1985; im Ansatz gibt es dies auch bei Taubes, der sich auf Hans Urs von Balthasar bezog. Auch der spätere Kritiker Nikolai Berdjajew wollte Marx ja zunächst selbst spiritualisieren. Der Fehlschluss dieser Denkart ist aus meiner Sicht, dass Marx’ Theorie von seinem „Atheismus“ abhängig gemacht wird; näheres dazu bei Christoph Henning, Philosophie nach Marx, S. 384 ff. 56 „Der Ausnahmezustand hat für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung wie das Wunder für die Theologie“. Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München, Leipzig, 1922, S. 56. Schmitt unternimmt eine deutliche Setzung, wenn er von „substantiellen Identitäten“ spricht (ebd., S. 59).
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hoffentlich bessert, da es nicht mehr von andren Menschen und den Marktgesetzen beherrscht würde. Es gibt natürlich eine entfernte Analogie zur Heilsgeschichte, in der das jetzige Leben als Prüfung, eine apokalyptische Zeit als Verschärfung und ein ‚neues Jerusalem‘ als Aussicht für die Zukunft gelten. Nur ergibt sich daraus noch keine Abhängigkeit eines Narratives vom anderen (eine solche könnte auch andersherum laufen).57 Doch genau darauf beruht die Säkularisierungsthese seit Carl Schmitt: Der Religion wird das Patent auf geschichtliche Modelle zugesprochen.58 Jede noch so entfernte Ähnlichkeit erscheint so als Abhängigkeit und wird zu einer „Kategorie geschichtlichen Unrechts“.59 Doch dieses religiöse Primat gilt nur, solange man religiös – genauer: katholisch – herangeht. Doch es gibt in der Politik keinen guten Grund, das zu tun, nicht einmal einen religiösen. Ein Beispiel kann das Abwegige dieser Unterschiebung klar machen. Wenn bei einer Fahrt auf der Autobahn das Auto stottert, könnte der Fahrer denken: „Gleich brennt der Motor, dann muss ich anhalten und den ADAC anrufen. Der soll den Motor reparieren, und danach kann ich hoffentlich besser weiterfahren.“ Auch hier liegt eine entfernte Ähnlichkeit vor: Es gibt ein Problem, eine Zeit der Krise, einen Retter und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Doch nichts lässt auf eine illegitime Abhängigkeit von einer religiösen Substanz schließen. Zwar könnten gebildete Menschen eine entfernte Analogie sehen, die sich ironisch ausdrückt in der Bezeichnung des ADAC als ‚gelbe Engel‘. Aber das bedeutet gar nichts. Niemand würde Autofahrer oder ADAC deswegen als falschen Propheten kritisieren (immerhin bezahlt man ja dafür). Und niemand würde behaupten wollen, dass Priester besonders gute Automechaniker sind. Die Analogisierung mit religiösen Mythen mag als Glasperlenspiel reizvoll sein, als Marxkritik ist sie ungeeignet. Eher lässt sich umgekehrt dieses Denken mit Marx kritisieren. Dieser hatte schon die Junghegelianer seiner Zeit als ‚Theologen‘ kritisiert. Das meinte nicht, dass sie stets mit apokalyptischen Kategorien hantierten, sondern einen bestimmten ‚Ableitungs‘-Denkstil. ‚Theologen‘ in der Marx’schen Bestimmung denken in einem deduktiven System und setzen an die oberste Stelle „Gott“. Aus ihm wird dann der Rest abgeleitet: Dass es eine Welt gibt, dass es Engel und Menschen gibt etc. Die Junghegelianer blieben für Marx deswegen Theologen, weil sie das Denkmodell beibehielten und nur den obersten Begriff auswechselten. Wer statt Gott ‚Natur‘, ‚Selbstbewusstsein‘ oder ‚der Mensch‘ sagt, aber weiterhin meint, er könne aus diesem Begriff alles weitere ablei-
57 Ernst Bloch, der „Theologe“ unter den Marxisten, hat daher den Spieß umgedreht und in der Jüdisch-Christlichen Überlieferung den weltlichen Kern freigelegt (Atheismus im Christentum, Frankfurt a. M., 1968). Die Theologie der Befreiung ging ähnlich vor. 58 Das ist seltsam, weil es schon vor und neben ihr historisches Denken gegeben hatte und weil Heilsgeschichte auf Irdisches eigentlich wenig geben kann. Doch genau diese katholische Vermengung von Politik und Religion (vs. Mt 15, 21) setzt Schmitt als Norm. Das war es auch, was Autoren wie Walter Benjamin und Paul Tillich daran kritisierten. 59 Hans Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, Frankfurt a. M., 1974, S. 77.
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ten, der bleibe Theologe.60 In genau diesem Modell denkt aber Löwith: Er nimmt Begriffe von Marx61, und stellt sie in sein Murmelbahn-Modell der Philosophie (oben kommt der Grundbegriff hinein, unten kommen die Sachgehalte heraus). Löwith glaubt, dass die Marx’sche Theorie so funktioniert, und unterstellt ihm deshalb einen atheistischen Glauben62, aus dem die Theorie irgendwie „abgeleitet“ worden sein müsse.63 Marx hatte allerdings die Philosophie in Wissenschaft überführen wollen (siehe 1.). Eine solche lässt sich gerade nicht aus obersten Begriffen deduzieren. Die politische Ökonomie lässt sich nur auf ihrem eigenen Feld kritisieren. Und eine solche Kritik gibt es weder bei Löwith noch bei Taubes. Die impliziten Marxkritiken sind im Gewande sowohl der überbietenden oder stillstellenden Geschichtsphilosophie wie auch der Kritik an der Geschichtsphilosophie gescheitert. Sie verwickeln sich untereinander in Widersprüche und basieren auf polemischen Überzeichnungen und verfehlten Zuschreibungen. Ihr Marx war ein Popanz, konstruiert zum Zwecke der Widerlegung.
5. Kittsteiners Marx Kommen wir damit zu Kittsteiners Lesart dieses Problems. Auch hier gilt es zu differenzieren. Die obige Lesart kommt vor allem dem Kittsteiner der späten 1970er Jahre recht nahe. Seine These in jener Zeit ist eindeutig: Marx ist kein Geschichtsphilosoph. „Marx Kritik der Politischen Ökonomie ist keine Geschichtsphilosophie, sondern eine Wissenschaft sui generis von der Totalität der kapitalistischen Gesellschaft“.64
Kittsteiner deutet die Geschichtsphilosophie hier als ambivalente Auffangposition für den gescheiterten Aufbruch der Neuzeit: Nach der langen Beherrschung durch absolute Systeme wollten die Menschen sich endlich selbst bestimmen, und sie glaubten dies zunächst auch zu können. In Marx’schen Worten: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte“. Aber sie machen sie, wie sie bald feststellen, nicht 60 „Diese Auffassung ist wirklich religiös, sie unterstellt den religiösen Menschen als den Urmenschen, von dem alle Geschichte ausgeht, und setzt in ihrer Einbildung die religiöse PhantasienProduktion an die Stelle der wirklichen Produktion der Lebensmittel und des Lebens selbst“ (MEW 3, 40). Begriffs-Theologismus kann es auch unter anderen Vorzeichen geben – man glaubt, aus nur einem Begriff (sei es „der Wert“, die „Anerkennung“ oder die „Rechtfertigung“) lasse sich das Weitere folgern und Empirie sei nur Veranschaulichung dieser Logik. 61 Etwa die „neuen Menschen“; Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, S. 41. 62 „Geist des Prophetismus“, ebd., S. 46. 63 „Die grundlegende Voraussetzung des kommunistisches Manifestes ist nicht der Antagonismus von Bourgeoisie und Proletariat, … der Antagonismus liegt vielmehr darin, dass die eine Klasse Kinder der Finsternis und die andere Kinder des Lichts sind“. Ebd., S. 47. Dadurch trägt erst Löwith Begriffe wie „Erbsünde“, „Eschatologie“, „Reich Gottes“ oder „auserwähltes Volk“ hinein. Bezugnahmen auf derlei, etwa bei Wilhelm Weitling, hatten Marx und Engels stets gebrandmarkt und höchstens karikiert. 64 Heinz Dieter Kittsteiner „Objektivität und Totalität“, S. 165.
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nur „nicht unter selbstgewählten … Umständen“ (MEW 8, 115), sondern auch mit nicht intendierten Ergebnissen. Pläne gehen nicht immer auf. Wollte man diesen Eigensinn der Geschichte erfassen, waren Wirkfaktoren zu benennen, die das Ergebnis der Handlungen der Menschen von ihren Intentionen ablösten. Dem diente die Geschichtsphilosophie. Doch ihre Aussagen blieben nur solange „philosophisch“, wie die wirklichen Faktoren nicht erfasst waren. Dies aber, so Kittsteiner, habe Marx getan. Er habe die reale „Substanz“ dessen gefunden, was Kant und Smith nur in den philosophischen Formeln „Naturabsicht und unsichtbare Hand“ umschreiben konnten.65 Der historische Materialismus hört auf, Philosophie zu sein, weil er die Fragen nach dem Wirkfaktor in der Geschichte auf exaktere Weise beantworten kann. Das hört sich zunächst recht vernünftig an. Bereits hier gibt es jedoch zwei offene Stellen: Erstens kann Kittsteiner Marx nur vom Vorwurf der Geschichtsphilosophie freisprechen, indem er seine Zukunftsbetrachtungen aus der Untersuchung ausscheidet. Wie andere vor ihm (s.o., Fn. 16) sieht Kittsteiner keine Verbindung zwischen der „ökonomischen Krisentheorie“ und dem „revolutionären Erwartungshorizont“, und kürzt darum um den letzteren – ein seltsamer Zug für ein Buch zur Geschichtsphilosophie: „Diese Bruchstelle der Marx’schen Theorie nehmen wir zum Anlass, seinen auf die Arbeiterklasse gerichteten Erwartungshorizont von der wissenschaftlichen Einlösung des Erfahrungsraumes der ihm vorgängigen Geschichtsphilosophien zu trennen. Nur mit dem letzteren haben wir hier zu tun“, alle Fragen der „geschichtsphilosophischen Umhüllung … müssen ausgeblendet bleiben“.66
Gerade diese Erwartungen waren der eigentliche Gegenstand der impliziten Marxkritik modo Geschichtsphilosophie. Ich habe oben vorgeschlagen, diese Partien als praktische Handlungsaufforderung zu lesen: „Notwendigkeit“ meint keine historische Zwangsläufigkeit, Vorsehung oder Teleologie, sondern die praktische Notwendigkeit für leidende Menschen, den Herd ihrer Probleme anzugehen. Hier muss man keineswegs spekulativ werden. Doch indem Kittsteiner diesen Punkt ausblendet, ist er gegen eine erneute geschichtsphilosophische Aufladung von Marx nicht gefeit, sobald es um mehr geht als Rekonstruktionen von Kant und Smith. Der zweite offene Punkt ist die Verkürzung der ‚Substanz der Geschichte‘ auf einen Begriff, in diesem Fall die Arbeit.67 Gerade das: die Wirklichkeit aus obersten 65 Heinz Dieter Kittsteiner, Naturabsicht und unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a. M. u.a., 1980, S. 82. 66 Ebd., S. 84. So verständlich es biographisch ist, revolutionäre Erwartungen von der deutschen Arbeiterklasse von 1980 abzuziehen – im historischen Rückblick (Kittsteiner geht hier bis 1750 zurück; ebd., S. 37) sind solche Erhebungen keineswegs selten; auch wenn sie meist gewaltsam niedergeschlagen wurden, wie noch 1953 in Berlin. Erst ihre Dekontextualisierung führt zu Schmitts „theologischer“ Semantik des Ausnahmezustands – für Marx sind sie die Regel. Zwischenzeitlich hielt Kittsteiner Geschichtsphilosophie und Ökonomie übrigens für „undurchdringlich verflochten“ (Listen der Vernunft. Motive geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a. M., 1998, S. 118). 67 Heinz Dieter Kittsteiner, Naturabsicht und unsichtbare Hand, S. 82. „Diesen nicht-menschlichen Grund der Geschichte findet Marx nun gerade im ‚Begriff der Arbeit‘“ (ebd., S. 77). Dieser tritt – obzwar nur im Denken – als „begriffliches Äquivalent“ an die Stelle Gottes (ebd., S. 219).
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Begriffen abzuleiten und nur das entsprechende Wort auszuwechseln, hatte Marx als ‚Theologie‘ kritisiert. Legte Kittsteiner Marx hier auf den „Begriff Arbeit“ fest68, so stellt noch der späte Kittsteiner lapidar fest: „Der Weltgeist ist der Weltmarkt“.69 Damit ist Kittsteiner wieder in den heimatlichen Hafen der Geschichtsphilosophie eingelaufen. Denn das unterstellt, dass es einen Weltgeist gibt, der bisher nur unter dem falschen Namen firmiert habe. An der Marxstelle, auf die sich Kittsteiner hier bezieht, heißt es jedoch nur: die Menschen stellten sich die Schikanen des Weltmarktes bislang fälschlicherweise als „Weltgeist“ vor. Für Marx gibt es einen solchen Weltgeist nicht, schon gar nicht im chaotisch agierenden Markt.70 Wenn der spätere Kittsteiner diese Karikierung bei Marx zu einer Identifizierung macht, vollzieht er genau das, wovor der frühe Kittsteiner gewarnt hatte: eine Geschichtsphilosophisierung der Marx’schen Theorie. Sie hat zur Folge, dass die ökonomischen Details in der transzendentalen Totalschau des Philosophen verwischt werden.71 So kommt es, dass Kittsteiner Marx – wie so viele andere vor ihm – nun wieder zuschreibt, er vertrete einen Determinismus. Das ist schlicht falsch. Aus dieser philosophisch festgeschriebenen Deutung folgen jedoch zwei Veränderungen der Marx’schen Theorie, die ich daher nicht mitmachen möchte: Erstens folgert Kittsteiner daraus eine „relative Ewigkeit“ des Kapitalismus.72 Er steigt also gerade an der Stelle, wo Marx das historische Denken wichtig war, indem es die Endlichkeit aller historischen Formen – und damit auch des Kapitalismus – aufzeigte, aus der Geschichte aus und bezeugt dem Kapitalismus, wenn auch widerwillig, gerade die Naturnotwendigkeit, um deren Destruktion es Marx einmal gegangen war. Zweitens verwendet Kittsteiner dafür sogar – worauf die Ewigkeit schon hindeutet – religiöse Kategorien. Wenn er das Kapital „Fürst der Welt“
68 Ähnlich seinerzeit Ernst Michael Lange, Das Prinzip Arbeit. Drei metakritische Kapitel über Grundbegriffe, Struktur und Darstellung der „Kritik der politischen Ökonomie“ von Karl Marx, Berlin, 1980. 69 Heinz Dieter Kittsteiner, Weltmarkt, Weltgeist, Weltgericht, München, 2008, S. 67. 70 Hegel hatte den Weltgeist ohne Ironie herangezogen: „Es hat sich also erst aus der Betrachtung der Weltgeschichte selbst zu ergeben, dass es vernünftig in ihr zugegangen sei, dass sie der vernünftige, notwendige Gang des Weltgeistes gewesen“. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1830), Werke 12, Frankfurt a. M., 1970, S. 12. Marx aber spricht davon, dass „die einzelnen Individuen mit der Ausdehnung der Tätigkeit zur Weltgeschichtlichen immer mehr unter einer ihnen fremden Macht geknechtet worden sind (welchen Druck sie sich denn auch als Schikane des sogenannten Weltgeistes etc. vorstellten), einer Macht, die immer massenhafter geworden ist und sich in letzter Instanz als Weltmarkt ausweist“ (MEW 3, 37). 71 „Marx ist kein Ökonom“ (Heinz Dieter Kittsteiner, Mit Marx für Heidegger – Mit Heidegger für Marx, München, 2004, S. 59). 72 Mündlich in einem Interview mit einer Studentin, das zur Trauerfeier erklang. Ähnlich hier: „Ware und Geld in ihrer Bewegung, sind im strengen Sinne nicht verstehbar … Es sind die Selbstvergegenständlichungen einer nicht mehr überwindbaren Gesellschaftsform“. Heinz Dieter Kittsteiner, Mit Marx für Heidegger – Mit Heidegger für Marx, S. 222. „Die Repräsentanten des Kapitals, Ware und Geld, haben uns längst gelehrt, uns ihnen anzuverwandeln“ (Ders., Wir werden gelebt. Formprobleme der Moderne, Hamburg, 2006, S. 164). Zur Kritik dieser Lesart siehe meine Besprechung in Christoph Henning, „Geplänkel im Überbau. Zur Kritik neuerer Marxliteratur“, in: Philosophische Rundschau 2/2005, S. 124-143.
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nennt, so war ihm diese gnostische Kategorie von Jacob Taubes bestens vertraut.73 Bei aller Ironie der Belesenheit bleibt das eine ‚Vergottung‘ weltlicher Dinge, die nicht nur bei Christen Befremden auslöst. Geht Kittsteiner mit dieser Einordnung von Marx in religiöse Geschichtsspekulationen nicht hinter den Anfang seines Denkens zurück? Er müsste nun seine Kritik der Geschichtsphilosophie noch einmal schreiben – gegen sich selbst. Die Selbsteinschätzung „Nun bin ich kein ‚Geschichtsphilosoph‘“ jedenfalls war falsche Bescheidenheit.74 Ich schließe daher mit einer scheinbar nebensächlichen Beobachtung. Ich hatte gesagt, dass die wenigen geschichtsphilosophischen Andeutungen von Marx keine theoretischen Aussagen mehr sind, sondern im Sinne eines hermeneutisch reicheren Ansatzes als praxisbezogene Redeweise zu lesen sind, welche appellativ Möglichkeiten für eine bessere Zukunft benennt. So möchte ich auch die späten Äußerungen von Kittsteiner verstehen. Wenn er in seinem letzten Buch Comics einbezieht, sich offen über ‚Prolls‘ und ihre Jeeps mokiert und sich zu Aussagen hinreißen lässt wie: „Der Weltgeist ist weiblich“75, dann sind das offensichtlich nicht mehr Aussagen im Sinne der strengen Wissenschaft. Auch Kittsteiners Geschichtsphilosophie hat offenbar einen praktischen Sinn. Ob dieser in der Mahnung zur „Entschleunigung“ des Unvermeidbaren aufgeht, wie er an einer der wenigen Stellen zu diesem Thema andeutete76, oder ob es noch eine „hidden agenda“ gab, müssen wir jetzt leider ohne ihn herausfinden. Möglicherweise war Kittsteiner wieder auf dem Weg zu einem philosophischen Protest gegen die falschen Verhältnisse, ganz im Sinne des jungen Marx. Er wäre in keiner schlechten Gesellschaft.
73 Heinz Dieter Kittsteiner, Mit Marx für Heidegger – Mit Heidegger für Marx, S. 222. „Sozialökonomie ist für Marx Heilsökonomie“ (Jacob Taubes, Abendländische Eschatologie, S. 184). „Gegründet ist die Kritik von Marx und Kierkegaard im Zerfall von Gott und Welt, der urtümlichen Voraussetzung der Selbstentfremdung, wie es in den Studien zur Apokalyptik und Gnosis gezeigt worden ist“ (Ebd., S. 176, vgl. S. 37). Eine Abhängigkeit eines Narrativs vom anderen ist damit noch lange nicht erwiesen. Es handelt sich eher um den Zerfall von Marx und Kierkegaard, der Taubes mit Löwith zusammenbindet; der Marx’sche Text, den Taubes reichlich zitiert, stützt diese These jedenfalls nirgendwo. Zum Marxverständnis von Taubes siehe Manfred Lauermann, „Materialistische oder apokalyptische Geschichtsphilosophie? Jacob Taubes‘ Tractata ad Marx“, in: Abendländische Eschatologie. Ad Jacob Taubes, hg. v. Richard Faber u.a., Würzburg, 2001, S. 221-239. 74 Heinz Dieter Kittsteiner, Out of Control. Über die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses, Berlin/ Wien, 2004, S. 43. Furore gemacht hat der Disput mit Wehler, in dem Letzterer nicht gut abschneidet. Hans-Ulrich Wehler, „Die Hybris einer Geschichtsphilosophie“, in: Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Zum Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft, hg. v. Rainer M. Kiesow, Dieter Simon, Frankfurt a. M., New York, 2000, S. 119-127. 75 Heinz Dieter Kittsteiner, Weltmarkt, Weltgeist, Weltgericht, S. 47. „Faustregel Nr. 1: Hinter dem Steuer eines Geländewagens sitzt immer ein/eine Proll“ (ebd., S. 174). „Der Audi schont die Beine der Fußgänger zu sehr und der Nissan trifft den Kinderkopf nicht richtig“ (ebd., S. 177). 76 Heinz Dieter Kittsteiner, Wir werden gelebt, S. 165.
FRANK RUDA
Proletarischer Aristokratismus und das Gattungswesen Mensch. Marx mit Badiou.
„Frères de l’immense histoire ! […] Peuples de tous les temps! De tous les lieux ! Vous êtes parmi nous !“ (Alain Badiou)1 „[…] es hängt […] mit einer Notwendigkeit zusammen, den Humanismus zu verschieben […]. Das ist die große und tiefgreifende Forderung unserer Zeit.“ (Jean-Luc Nancy)2
Das Verschieben, Durchdenken und Transformieren des Humanismus ist eine Forderung unserer Zeit. Diese Forderung ist eine Forderung der Praxis, einer Praxis des Denkens. Doch was genau meint, dass dies eine Forderung der Zeit an die Praxis des Denkens ist? Es meint sich von den vorherrschenden, scheinbar evidenten Bestimmungen des Menschen, seiner Fähigkeiten und seiner Limitierungen abzusetzen, um den Menschen als Menschen neu, anders zu denken.3 Für eine solche Absetzung aber, so wird die zentrale These lauten, denen die folgenden Zeilen unterstehen, liefert niemand anderes als Marx wichtige Indizien, Hinweise und mehr noch: ein Modell.4 Ich werde folglich zu behaupten suchen, dass es möglich ist, in ihm ein Denken eines neuen, transformierten, kurz, eines anderen Humanismus aufzutun. Die folgenden Ausführungen werden daher den Versuch unternehmen, eine Lektüre des frühen Marx anzubieten, die das traditionelle Bild des frühen humanistischen Marx ebenso zu verschieben suchen, wie sie behaupten werden, dass dieser den Humanismus verschoben hat. Dabei verstehen sich meine Bemerkungen methodisch als eine lecture Badiousienne, die eine forcierte Lektüre,
1 Alain Badiou, L’écharpe rouge, Paris, 1979, S. 108 f. 2 Jean-Luc Nancy, „Derridas Spuren. Über das Risiko und die Schrift im Herzen der Stimme, JeanLuc Nancy im Gespräch mit Sergio Benvenuto“, in: Lettre International 70, Herbst 2005, S. 100. 3 Eine der entscheidenden Bestimmungen die das Wesen des Menschen und seine Fähigkeiten betrifft, ist diejenige, dass die einzigen beiden Erscheinungsformen des Menschen Individuen und Gemeinschaften sind. Diese Bestimmung ist eines der Axiome dessen, was Badiou den „demokratischen Materialismus“ nennt. Vgl. dazu: Alain Badiou, Logiques des mondes. L’être et l’événement, 2, Paris, 2006, S. 9-49. Es wird mir im Folgenden in gewisser Weise um eine Bestimmung der Fähigkeit des Körpers gehen, jenseits sich selbst zu sein. 4 Zur Tragweite des Modellbegriffs vgl. Alain Badiou, Das Konzept des Modells. Einführung in die materialistische Epistemologie der Mathematik, Wien, 2009.
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eine lecture forcée5, ist: Weniger wird es in einer solchen Lektüre darum gehen Begriffe, Konzepte oder Konzeptionen der Philosophie Alain Badious einzuführen und zu erläutern als vielmehr sein Denken für eine transformierte und transformierende Rekonstruktion Marxens fruchtbar zu machen. Dabei geht die Lektüre von einer Frage aus, die sich in eine Bestimmung des Menschen bei Marx eingetragen findet. Die Bestimmung lautet: Der Mensch vermag universell zu produzieren und eben dies zeichnet ihn als Menschen aus. Die Frage lautet: Was meint diese universelle Produktion, die das entscheidende Charakteristikum des Menschen für den frühen Marx ist und inwiefern kann diese Form der Produktion dem Menschen als besonderem, ja singulärem Gattungswesen eigentümlich sein?
Diagonal zur Tradition oder Der Humanismus ist ein Inhumanismus: Mit ein wenig Willen zur Formalisierung lassen sich zumindest drei traditionelle – klassisch gewordene – Formen der Bezugnahme auf die Texte des frühen Marx, drei Positionierungen zum Frühwerk Marxens, unterscheiden. Dabei nehmen die ersten beiden durch unterschiedliche Auslegungen des früh Marxschen Humanismus ihre Gestalt an, dem in der letzten Form der Bezugnahme eine eher verminderte Bedeutung zukommt. Die erste dieser Formen der Bezugnahme werde ich schlicht die humanistische Bezugnahme nennen. Ihr entscheidendes Charakteristikum besteht darin, die Wahrheit des Marxschen Denkens in Gänze in dessen
5 Ich möchte an dieser Stelle anmerken, dass es sich im Folgenden nicht um den Versuch einer Dekonstruktion des frühen Marx handelt. Zwar teile ich grundsätzlich die Bemerkung Nancys, die das Motto des Textes darstellt und die Nancys selbst eher auf das Denken Derridas und Deleuzes bezieht, jedoch, so die These, finden sich relevante Anhaltspunkte eines Versuchs einer Verschiebung des Humanismus bei jenem für humanistisch gehaltenen Marx, den unter anderem das Denken Nancys allzu leicht wie einen toten (da noch auf religiösen Pfaden wandelnden) Hund behandelt. Es handelt sich bei dem Einsatz der folgenden Überlegungen vielmehr darum einen „Interpretations-Schnitt“ (Vgl. Alain Badiou, Peut-on penser la politique?, Paris, 1985, S. 14. Vgl. auch: Alain Badiou, Ist Politik denkbar?, herausgegeben und übersetzt, sowie mit einem Nachwort versehen von Frank Ruda und Jan Völker, Berlin, 2009, im Erscheinen) zu forcieren und dessen Konsequenzen zu folgen. Zugleich kann ich hier auf andere zeitgenössische Versuche verweisen, die unternehmen Marx, Badiou und die Frage des Humanismus zusammenzubringen; vgl. dazu etwa die interessanten Bemerkungen bei Nina Power, Marx, Feuerbach and Non-Philosophy, auf: marxandphilosophy.org.uk/power2007.doc, Nina Power, „Philosophy’s Subjects“, in: Parrhesia. A Journal of Critical Philosophy, Number 3, 2007, S. 55-72. Nina Powers Versuch führt jedoch letztlich dazu, das Denken Alain Badious mit einer Minimalanthropologie versehen zu wollen, um zu erklären, wie die Möglichkeit der Subjektivierung zu erläutern ist. Vgl. dazu: Nina Power, „Towards an Anthropology of Infinitude: Badiou and the Political Subject“, in: Cosmos and History. The Journal of Natural and Social Philosophy, Vol 2, No. 1-2 (2006), The Praxis of Alain Badiou, S. 186-209. Dies ist eine Konsequenz, die ich, wie im Folgenden deutlich werden sollte, ablehne, da sie erneut versucht in das Denken des Subjekts eine objektive Dimension einzutragen, wohingegen Badious Unternehmen gerade die Wette eingeht, dass sich eine non-objektive Subjektivität denken lässt, die zugleich nicht die eines absoluten Anfangs ist, sondern von Bedingungen abhängt. Jedoch ist dabei wichtig zu beachten: eine Bedingung hat nicht die Form eines Objekts.
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Frühschriften zu situieren.6 Was dieser Positionierung gemäß dem späten Marx beständig als Wahrheit beigegeben werden muss, ist gerade das humanistische Denken, welches wesentlich über eine Auslegung der Marxschen Konzeption des Menschen im Sinne eines substantiell bestimmten, freiheitlichen Gattungswesens erläutert wird. Dieses Gattungswesen trägt im so verstandenen Humanismus die Last als Kampfbegriff den bestehenden Entfremdungszusammenhängen, der Höllenwelt wie man mit einem leicht abgeänderten Wort Lenins sagen kann7, sowohl eine dem menschlichen Wesen angemessene Form der Produktion, der kollektiven Organisation als auch der rationalen und freiheitlichen Selbstbestimmung- und verwirklichung entgegenzusetzen. Damit versteht die humanistische Bezugnahme den frühen Marx als Theoretiker der Ent-Entfremdung, die allein deswegen schon zu erreichen ist, da die Verfassung der menschlichen Natur, des Gattungswesens Mensch, bereits die Ressourcen und Möglichkeiten enthält, um sie in die Tat umzusetzen. Die statthabenden Verstellungen des Wesens des Menschen vermögen in einem emanzipatorisch-revolutionären Akt aufgehoben, das meint letztlich: rückgängig gemacht zu werden, da die verstellte menschliche Natur nicht bloß verstellte, sondern auch ermöglichende, befreiende, d.h. entstellende Natur ist. Das Gattungswesen des Menschen wird so zugleich als Motor und Ausgangspunkt der Kritik verstanden als auch – und man kann an dieser Stelle den aristotelischen Subtext8 kaum übersehen – als diejenige Möglichkeitsinstanz verstanden, aus der heraus sich eine wahrhafte Verwirklichung der dem Menschen eingetragenen Zweckursache denken und verstehen lässt. Zwar ist deren Verwirklichung noch durch die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse verstellt, aber zugleich stellt sie den entscheidenden Hebel einer allgemeineren, geschichtsphilosophischen und letztlich ontologisch abgesicherten Verwirklichungs- wie Ermöglichungsmaschinerie dar. Die humanistische Bezugnahme wird in der zweiten Form der Bezugnahme kritisch aufgenommen. Das bedeutet die Bezugnahme auf den Humanismus des frühen Marx wird mit der ersten Positionierung zum Frühwerk geteilt, jedoch wird dieser zugleich als Konzeption in seinen Prämissen negiert. Diese zweite Form der Bezugnahme werde ich daher – die klassische Bezeichnungsweise aufnehmend – die antihumanistische nennen.9 Auch in ihr ist augenscheinlich der Entwurf, der für das Verständnis des frühen Marx wesentlich ist, der Humanismus. Diese zweite 6 Paradigmatisch für diese zu nennen ist hier natürlich: Erich Fromm, Das Menschenbild des frühen Marx. Mit den wichtigsten Teilen der Frühschriften von Karl Marx, Frankfurt a. M., 1963. 7 Maxim Gorki, W. I. Lenin, Moskau, 1973, S. 61 f. 8 Ob diese Deutung dem Aristotelischen Begriff der Gattung gerecht wird oder nicht, kann ich an dieser Stelle nicht weiter diskutieren. Eine kritische Lesart des frühen Marx, die dieser humanistischen Bezugnahme weiterhin aufsitzt, findet sich in: Giorgio Agamben, The Man without Content, Stanford, 1999, S. 68-94. 9 Ich denke dabei vor allem an die Lektüren Louis Althussers. Vgl. etwa: Louis Althusser, „Sur le jeune Marx“ (Questions de Théorie), in: ders., Pour Marx, Paris, 1986, S. 45-84 (in der deutschen Ausgabe nicht enthalten); ders., „Les ‚Manuscrits de 1844‘ de Karl Marx“, in: ebd., S. 153-160 (in der deutschen Ausgabe nicht enthalten) und: Louis Althusser, „Marxismus und Humanismus“, in: ders., Für Marx, Frankfurt am Main, 1968, S. 168-202. Auch an dieser Stelle lasse ich viele Details dieser Auslegung, der Klarheit der Unterscheidung halber, bewusst aus.
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Bezugnahme teilt folglich mit der ersten die Rekonstruktion des humanistischen Bildes, gewinnt aber ihre eigentümliche Form allererst über eine spezifische Perspektive auf das Marxsche Gesamtwerk, genauer: über die These eines epistemologischen Bruchs zwischen frühem und spätem Marx, der vor allem einen Bruch mit dem Humanismus und den ihm eingetragenen ideellen Bestimmungen eines menschlichen Wesens und seiner Zweckursachen bezeichnet. Der so bezeichnete Bruch ist vor allem ein Bruch mit den philosophisch abgesicherten Bestimmungen der menschlichen Natur und ihrer Funktion innerhalb der Theorie der Umwälzung bestehender Verhältnisse. Marx wird für die antihumanistische Bezugnahme zu Marx, wenn er sich von den ideellen Bestimmungen den realen Widersprüchen zuwendet und das kann er allererst, wenn er die (proto-) substantialistische, letztlich aristotelische Konzeption des Gattungswesens Mensch aufgibt, den Humanismus fahren lässt und endlich zum rigiden Kritiker der politischen Ökonomie avanciert. Die dritte Form der Bezugnahme auf die Frühschriften versteht sich als eine im weitesten Sinn werkimmanente, welche ihre Konsistenz nicht oder nicht notwendig durch den Bezug auf das ‚Menschenbild‘ des frühen Marx – und einer Kontinuität oder einem Bruch mit diesem – gewinnt. Ich möchte diese dritte Form der Bezugnahme die a-humanistische nennen, da sie sich selbst als eine mehr oder minder bruchlose Rekonstruktion der Entwicklung des Marxschen Denkens versteht. Dieser Lesart folgend ändert sich zwischen frühem und spätem Marx weniger die Ausrichtung des Unternehmens, als die Mittel und Beschreibungsinstrumentarien, die Form der Kritik etwa, mit denen er versucht dieses voran zu treiben10 Die a-humanistische Bezugnahme auf den frühen Marx versucht folglich die These zu etablieren, dass die Differenz zwischen spätem und frühem Marx eine Differenz der Mittel, Begriffe und Konzeptionen ist. Weder wird eine Unabdingbarkeit des Humanismus deklariert noch deren Negation und Kritik das Wort geredet. Vielmehr ist es die dem Marxschen Denken eigene Zweckursache, welche sich kontinuierlich, Schritt für Schritt, im Früh- wie im Spätwerk und weiter bis hin zum Kapital verwirklicht. Meine folgenden Überlegungen setzen als Versuch an, eine Diagonale dieser drei Bezugnahmen zu präsentieren. Weder werde ich also mit der humanistischen Bezugnahme behaupten, dass der frühe Marx einen (proto-) substantialistischen Begriff des Menschen und dessen Zweckursache hat, den es zu kultivieren und zu erhalten gelte. Noch werde ich behaupten, dass Marx erst dann zu Marx wird, wenn er mit einem so verstandenen humanistischen Projekt bricht. Schließlich werde ich auch nicht behaupten, dass der Humanismus keine zentrale Rolle für die Philosophie11 des frühen Marx spielt. Ich werde zu zeigen versuchen, 10 Diese Position lässt sich mit vielerlei Namen verbinden, ich möchte an dieser Stelle aber nur auf das Werk Ernst Blochs hinweisen. 11 Ich spreche an dieser Stelle dezidiert von der ‚Philosophie‘ des frühen Marx. Es sollte im Folgenden deutlich werden, dass sich, in meiner Lesart, nur aus einer philosophischen Perspektive der weiter unten näher erläuterte Begriff der Wahrheit ergeben kann. Diese Perspektive limitiert zugleich nicht die universelle Dimension (der Praxis) der Politik. Sie wird vielmehr durch die Bedingtheit der Philosophie durch Politik in ihrer spezifischen Verfasstheit denkbar. Zur ‚Philosophie Marxens‘, aus einer differenten, da spinozistischen, Perspektive: Étienne Balibar, La philosophie de
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dass 1. der Humanismus, der sich nur im Verbund mit der Marxschen Konzeption des Gattungswesens Mensch denken lässt, eine gewichtige Rolle in der Philosophie des jungen Marx spielt; 2. dass man diesen Humanismus auf eine Weise verstehen kann, die sich von der humanistischen wie anti-humanistischen Bezugnahme absetzt. Ich werde so zu erläutern suchen, dass er 3. auf eine Weise denkbar ist, welche die antihumanistischen Bezugnahme in transformierter Form – in ihrer Kritik des ‚humanistischen Humanismus‘ – aufzunehmen fähig ist, um schließlich zu behaupten, dass sich damit die Konzeption eines politischen Universalismus gedacht findet, die sich keineswegs auf das Marxsche Frühwerk beschränken muss, sondern vielmehr in diesem – bei Marx – seine ursprüngliche „Denkbarkeit“12 gewinnt. Es wird mir folglich weder um Positivierung, noch um Kritik oder um eine Suspension des Humanismus zu tun sein, sondern um eine Diagonale zwischen diesen dreien. Genauer: es wird mir um die Affirmation eines anderen Humanismus des frühen Marx gehen. Ich werde versuchen einen Humanismus der Unmöglichkeit freizulegen – und gerade nicht einen Humanismus der angelegten Möglichkeit des Menschen. Ich verstehe das Folgende als eine affirmative Bezugnahme auf den Inhumanismus des frühen Marx.
Entfremdung als Notwendigkeit. Das Proletariat: Den Ausgangspunkt meiner Untersuchung bildet eine eher strukturelle Bemerkung Jacques Rancières13, der in seinem Beitrag zu Lire le Capital der Frage nach der vermeintlichen historischen Notwendigkeit oder der Kontingenz des Entfremdungsgeschehens nachgehend, folgende interessante Diagnose formuliert: „Nun stellt sich das Problem des Ursprungs der Entfremdung der Arbeit: entweder ist die Entfremdung ein Unfall und dann wir sind auf eine Problematik des Ursprungs der schlechten Geschichte verwiesen, die mit jener der Philosophie der Aufklärung vergleichbar ist, oder die Entfremdung ist ein notwendiger Prozess, der der Entwicklung der Menschheit inhärent ist. Es ist diese zweite Lösung, die von Marx im dritten Manuskript [der ökonomisch-philosophischen Manuskripte, F.R.] gewählt wird, in dem die Entfremdung des Wesens als Bedingung der Verwirklichung einer menschlichen Welt erscheinen wird.“14 Selbst ein oberflächlicher Blick in die Marx, Paris, 2001. Zur Konzeption der Politik als Bedingung der Philosophie in welcher Wahrheit statthaben kann: Alain Badiou, „Philosophie et Politique“, in: ders., Conditions, Paris, 1992, S. 213-250. 12 Vgl. zum Begriff der „Denkbarkeit“: Sylvain Lazarus, Anthropologie du nom, Paris, 1996. Denkbarkeit bedeutet hier, wie Badiou die Lazarus’sche These reformuliert, ein „Umschlagen dessen, was ist, hin zu dem, was es geben kann oder vom Bekannten zum Unbekannten.“ Alain Badiou, Über Metapolitik, Zürich, Berlin, 2003, S. 46 13 Ich lasse an dieser Stelle bewusst die inhaltlichen Pointierungen Rancières außer Acht und nehme primär die strukturelle Dimension in den Blick. 14 Jacques Rancière, „Le concept de critique et la critique de l’économie politique des ‚Manuscrits de 1844‘ au ‚Capital‘“, in: Louis Althusser, Etienne Balibar, Roger Establet, Pierre Macherey, Jacques Rancière, Lire le capital, Paris, 1965, S. 81-200, hier: S. 103 f. (Meine Übersetzung, F.R.).
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Marxschen Manuskripte von 1844 zeigt, dass man Rancière in dieser Hinsicht Recht geben muss. Denn Marx macht dort deutlich, dass Entfremdung kein kontingentes Faktum, sondern vielmehr ein geschichtlich notwendiges Resultat der national-ökonomisch verfassten und bewegten Gesellschaft beschreibt. Versucht man in dieser strukturellen Weise den Ort der Entfremdung in der Theorie des frühen Marx zu bestimmen, so kann man folglich zunächst festhalten, dass es sich bei dem Entfremdungsgeschehen um eine geschichtlich notwendige Bedingung handelt. Es muss zur vollständigen „Entwesung“15 des Menschen kommen, damit es überhaupt zur Konstitution einer wirklich menschlichen Welt kommen kann. Folglich ergibt die Entfremdungsannahme in Marx’ Konzeption nur Sinn, wenn man sie mit einem mit der Entfremdung verbundenen Effekt zusammen denkt. Wie lässt sich aber die Notwendigkeit der Entfremdung konkret verstehen?16 Erinnert man die Einsicht Lukács‘ und nimmt an, dass Marx vom „Standpunkt des Proletariats“17 aus zu denken sucht, so vermag sich eine erste Antwort abzuzeichnen. Dazu ist es hilfreich, die Bestimmung, welche der frühe Marx vom Proletariat gibt, hinzuzunehmen. Marx bestimmt das Proletariat als Bildung: „einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welcher einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt, und kein besondres Recht in Anspruch nimmt, weil kein besondres Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird, […] einer Sphäre endlich, welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der bürgerlichen Gesellschaft und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat. […]. Wenn das Proletariat die Auflösung der bisherigen Weltordnung verkündet, so spricht es nur das Geheimnis seines eignen Daseins aus, denn es ist die faktische Auflösung dieser Weltordnung.“18 Das Proletariat ist als Klasse und als Stand keine Klasse und kein Stand der bürgerlichen Gesellschaft. Es ist vielmehr akute Auflösung der bestehenden Weltordnung19, da es „durch sich selbst kein Eigentum besitzt, durch welches die Bourgeoisie den
15 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), MEW Ergänzungsband 1, S. 562. 16 Augenscheinlich sollte sein, dass die humanistische Position die These der Notwendigkeit der Entfremdung für den frühen Marx außer Acht lässt, da sie die Entfremdung eher als historisch kontingente Verstellung des menschlichen Wesens versteht. 17 Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik, Darmstadt, Neuwied, 1975, S. 267. 18 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW 1, S. 390. 19 Man könnte an dieser Stelle vom Proletariat als einer „Un-Klasse“ sprechen. Die Relevanz des Präfixes „Un“ wird in der Folge noch deutlich werden.
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Menschen bestimmt.“20 Oder, um eine Formulierung von Stathis Kouvelakis zu nutzen, das Proletariat „confronts […] society with its own impossibility.“21 Warum besteht folglich die Notwendigkeit der Entfremdung? Der Mensch muss zunächst in der Entwicklung des ökonomisch-historischen Prozesses sein ganzes Wesen entäußern – zum unmöglichen Menschen werden –, um ganz Mensch werden zu können. Das bedeutet, dass alle Bestimmungen des Wesens des Menschen in diesem geschichtlichen Prozess externalisiert, veräußerlicht werden und ausschließlich den vom Menschen produzierten Dingen zukommen müssen, damit eine wahrhafte Wesensbestimmung des Menschen – und das bedeutet für Marx auch: universelle Produktion22 – denkbar wird. Für den frühen Marx ist es notwendig, dass dem Wesen des Menschen keine Bestimmungen, keine Attribute zukommen, da jede dem Wesen eigene Bestimmung verhindern würde, dass er „universell produziert“23. Der geschichtliche Prozess, der das Wesen des Menschen von allen Bestimmungen entleert, ist eben deswegen notwendig, um nicht beständig in eine Partikularisierung des Allgemeinen zurückzufallen, d.h. um nicht beständig das Universelle der menschlichen Produktion auf das dem Wesen Eigene und damit auf Partikulares zu beschränken. Eine Universalität oder Allgemeinheit, so lässt sich die dahinter liegende Intuition deuten, die von bestimmten und bestimmenden Wesensbestimmungen oder Eigenschaften abhängt, welche das Wesen des Menschen zu totalisieren vermögen, ist keine wahrhafte Universalität. Man kann den Marxschen Einsatz der Notwendigkeit der Entfremdung vor allem gegen jede Partikularisierung eines Allgemeinen und auf einen neuen, wahren Universalismus ausgerichtet verstehen. Das menschliche Wesen als Wesen mit ihm eigenen Bestimmungen zu denken, würde bedeuten, das Wesen selbst als Eigentümer (seiner Bestimmungen) zu verstehen. Doch der Nationalökonom weiß nichts vom Menschen. Dies ist die erste und fundamentale Marxsche Kritik der Ökonomie. Diese Distanz zur Nationalökonomie ist notwendig, um den Eintrag jeglicher Logik des (Privat-)Eigentums in der Wesensbestimmung des Menschen zu vermeiden und eine wirkliche, uneingeschränkte universale Gleichheit als Ausgangspunkt, kurz: Kommunismus zu setzen. Um ein Universelles der Produktion und damit eine Universales aller Beliebigen in der Form der (beständigen) Produktion (dieses Universalen und der Gleichheit) zu denken, muss das Wesen des Menschen als bestimmungsloses gedacht werden. Die Theorie der Entfremdung findet damit ihren systematischen Ort in dem Versuch Marxens, einen wahrhaften, uneingeschränkten (politischen) Universalismus24 zu denken.
20 Alain Badiou, L’hypothèse communiste. Circonstance 5, Paris, 2009, S. 196. (Meine Übersetzung, F.R.). 21 Stathis Kouvelakis, Philosophy and Revolution. From Kant to Marx, London, New York, 2003, S. 331. 22 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), MEW Ergänzungsband 1, S. 517. 23 Ebd. 24 Ich orientiere mich bezüglich des Begriffs des „Universalismus“ an einer Reihe von Arbeiten Alain Badious. Vgl. dazu etwa: Alain Badiou, Paulus oder die Begründung des Universalismus, München,
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‚Un‘-Gleichheit. Gleichheit wird gewesen sein: Vom Anspruch einen solchen Begriff der Universalität, der universellen Gleichheit als in actu denken zu können – damit folglich „(d)ie Gleichheit als Grund des Kommunismus“25 keinem partikularen Attribut geschuldet ist –, ergibt sich die Denknotwendigkeit der vollständigen Entfremdung, des „völligen Verlusts des Menschen“26. Der Mensch muss zum „Unwesen“27 werden. Das meint hier: weder besitzt der Mensch ein Wesen, noch besitzt er einfach kein Wesen – ist er die Negation des Wesens. Vielmehr ist und besitzt der Mensch ein Un-Wesen, das seine konstitutive Unbestimmtheit auszeichnet. Man kann sich hier hilfreich an die Unterscheidung der drei Urteilsformen bei Kant in der Kritik der reinen Vernunft erinnern28: Das positive Urteil schreibt einem Subjekt ein Attribut zu („X ist tot“); das negative Urteil negiert diese Attribution („X ist nicht tot“), was dazu führt, dass dieses Urteil in ein positives unkehrbar wird („X ist nicht tot, d.h. X lebt“). Das unendliche Urteil nun schreibt einem Subjekt ein Non-Attribut zu („X ist untot, d.h. weder lebt X, noch ist X tot“). Damit unterminiert das unendliche Urteil die vorgegebenen Möglichkeiten der Unterscheidung. Jedoch ist die Einsicht in die konstitutive Bestimmungslosigkeit des Menschen, in das Un-Wesen des Menschen für Marx allererst mit der Emergenz des Proletariats gegeben. Denn mit dieser Emergenz wird deutlich, dass der Mensch bereits immer ein Un-Wesen gewesen sein wird.29 Es gibt keine Substanz, die ihm zu Eigen gewesen sein wird; kein (bestimmtes und bestimmendes) Eigentum, das ihn als Menschen wesentlich zum Menschen gemacht haben wird. Sucht man Gleichheit auf eine (konstruierbare und vereinheitlichte) Bestimmung des menschlichen Wesens zu gründen, so ist damit bereits die Universalität des Menschen verloren30 und die Rede von wirklicher Gleichheit kann nur zu einer „Phrase“31 verkommen. Das bedeutet: Marx kann nicht auf eine Ent-Entfremdung hoffen, mit der er die Rückkehr in eine Art menschlich-„paradiesische(n) Urzustand“32 vor der Entfremdung verbinden wür-
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2002; Alain Badiou, Théorie du Sujet, Paris, 1982; Alain Badiou, Manifest für die Philosophie, Wien, 1997. Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), MEW Ergänzungsband 1, S. 553. Ebd. – Marx nennt bezeichnet diesen Verlust an anderer Stelle als den sich „ganz abhanden gekommene(n) Mensch(en)“ oder als die „absolute Armut […].“ Vgl. Ebd., S. 523 und Ebd., S. 540. Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), MEW Ergänzungsband 1, S. 531. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt, 1956, Bd. 2, S. 112-113. Ich übernehme die Struktur dieses Arguments von Slavoj Žižek. Vgl. dazu etwa: Slavoj Žižek, Die politische Suspension des Ethischen, Frankfurt a. M., 2005, S. 49. Dass es sich hierbei notwendig um die Zeitlichkeit des Futur II handelt, wird im Folgenden noch deutlicher werden. Vgl. dazu auch Alain Badious Überlegungen zur „wahrhaften Zeit der realen Politik“: Alain Badiou, Peut-on penser la politique?, S. 107. Man müsste an dieser Stelle deutlicher machen, wie jeder Reaktionär auf das Prinzip der Konstruierbarkeit setzt. Vgl. dazu: Alain Badiou, Das Sein und das Ereignis, Berlin, 2005, S. 299-365. Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), MEW, Ergänzungsband 1, S. 554. Ebd., S. 552.
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de, den er aus eben diesen Gründen bei den Theoretikern der Nationalökonomie vehement kritisiert. Vielmehr ist die vollkommene „Entwesung“33 des Menschen, die Bedingung dafür, dass das Proletariat, sobald es an seiner materiellen Stätte34 oder Bedingung (nämlich der Arbeiterklasse) emergiert, unmittelbar eine Dimension der Universalität enthält, die für jeden Beliebigen35 da ist. Wenn den Menschen eine Universalität auszeichnet, da sein Wesen an keine Bestimmung gebunden ist, dann kann diese Universalität zugleich nur wirklich universal sein, wenn sie in einen Prozess universaler Produktion übergeht. Es geht folglich darum wie man die Bestimmungslosigkeit, welche die Gleichheit aller Beliebigen ermöglicht, und die Produktion von Gleichheit zusammen denken kann: als Produktion von Bestimmungslosigkeit. Das ereignishafte Erscheinen36 des Proletariats muss als eine Inauguration eines Prozesses verstanden werden, in dem ein, jeden Beliebigen (prinzipiell) einschließendes, (kollektives) Subjekt zur universellen Produktion (einer Gleichheit aller Beliebigen) kommt. Doch wie kommt es bei Marx zur ereignishaften Emergenz des Proletariats und wie zum Prozess der universellen Produktion? Marxens Antwort lautet: es bedarf einer „wirkliche(n) kommunistische(n) Aktion.“37
Wirklich kommunistische Aktion und wirklicher Kommunismus: Die wirklich kommunistische Aktion benennt einen ereignishaften Einbruch in die Strukturen der geschichtlich-gesellschaftlichen Dynamik, der die eigentümliche „Universalität des Menschen“38 als etwas aufscheinen lässt, was (logisch) ‚vor‘ den Strukturen des Staates und der bürgerlichen Gesellschaft gewesen sein wird. 33 Ebd., S. 562. 34 Hier rekurriere ich auf das Verhältnis von Ereignisstätte, Ereignis und Subjekt in der Theorie Badious. Die Arbeiterklasse wäre die Ereignisstätte des Proletariats. Vgl. dazu: Alain Badiou, Das Sein und das Ereignis, S. 123-130. Dass es hier notwendig ist, eine Unterscheidung zwischen Proletariat und Arbeiterklasse einzuführen, wird auch zeitgenössisch oftmals außer Acht gelassen. Vgl. Ernesto Laclau, „God only knows“, in: Marxism today, Dezember 1991, S. 56-59. Deutlich artikuliert ist dies in Laclaus Auseinandersetzung mit Slavoj Žižek, in der Laclau, zunächst Žižek zitierend und anschließend kommentierend, bemerkt: „‚Marx distinguishes between working class and proletariat: the working class effectively is a particular social group, while the proletariat designates a subjective position […].‘ Now, to start with, Marx never made such a distinction.“ Ernesto Laclau, „Why constructing a People is the Main Task of Radical Politics“, in: Critical Inquiry 32, Sommer 2006, S. 646-680, hier: S. 659 f. Das Zitat Žižeks stammt aus: Slavoj Žižek, „Against the Populist Temptation“, in: Critical Inquiry 32, Sommer 2006, S. 551-574. 35 Dass der Universalismus sich in dieser Hinsicht zunächst als universale Adressierung innerhalb eines potentiell unendlichen Prozesses verstehen lässt, wird verständlich, wenn man Badious Theorie der Treue und Untersuchung mitdenkt. Vgl. dazu: Alain Badiou, Das Sein und das Ereignis, S. 229296. 36 Vgl. zum Begriff des Ereignisses ebd., S. 199-228. Inwiefern damit das Erscheinen eines zuvor Inexistenten verbunden ist, macht deutlich: Alain Badiou, Logiques des mondes, S. 338-342. Vgl. dazu auch: Alain Badiou, Théorie du sujet, S. 275-280. 37 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), MEW Ergänzungsband 1, S. 553. 38 Ebd., S. 515.
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Damit ist Marx in gewissem Sinn Essentialist, aber zugleich ist die Essenz des Menschen, die hier bestimmt wird, allein in der zeitlichen Form des Futur antérieur zu denken, als eine unbestimmte. Die Universalität wird vor den Strukturen des Staats gewesen sein werden. Durch das Ereignis einer wirklichen kommunistischen Aktion wird aus der Unmöglichkeit der universalen Produktion unter den gegebenen kapitalistischen Eigentums– und Produktionsverhältnissen eine „unmögliche Möglichkeit“39, die ein neues Subjekt, das Proletariat, erscheinen lässt, dem zuvor keine Bestimmungen der Existenz zugekommen sind.40 Die Wirklichkeit – im Wortsinn – der kommunistischen Aktion besteht darin, die gesamte bisherige Geschichte und ihre Gesetze in eine „Vorbereitungs- […] geschichte“41 zu verwandeln, indem sie noch die so stabil scheinenden Gesetze der Veränderung, man könnte mit Badiou sagen: das Transzendental der Veränderung42, verändert. Deutlich sollte sein, dass die wirklich kommunistische Aktion von der geschichtlich notwendig produzierten Stätte des Ereignisses, an welcher das Proletariat erscheinen kann, determiniert ist. Sie ist keine Aktion reinen Anfangens.43 Wie schon Hegel in seiner Rechtsphilosophie von 1830 deutlich macht, ist Armut ein notwendig und keineswegs zufälliges Produkt der Bewegung der bürgerlichen Gesellschaft.44 Armut ist und besteht, wie es beim frühen Hegel heißt, in der Unmöglichkeit, „etwas vor sich zu bringen.“45 Die bürgerliche Gesellschaft produziert bereits für Hegel permanent das, was ihr eigenes Prinzip –: dass nämlich jeder seine Freiheit in der Art und Weise verwirklicht, dass er durch eigene Arbeit seine Subsistenz ermöglicht – verunmöglicht. Für Hegel scheint damit bereits die Einsicht auf, dass wenn in der bürgerlichen Gesellschaft Armut notwendig produziert wird, jeder arm werden kann, jeder latent arm ist.46 Eine universale Logik der doppelten Latenz. Auch bei Marx kann es erst an der notwendig produzierten Bedingung – der 39 Alain Badiou, Peut-on penser la politique?, S. 101. 40 Wie Marx in der heiligen Familie schreibt: „Da aber Nichthaben nicht bloß eine Kategorie, sondern eine ganz trostlose Wirklichkeit ist, da der Mensch, der nichts hat, heutzutage nichts ist, da er von der Existenz überhaupt […] abgeschnitten ist […] scheint das Nichthaben durchaus berechtigt, als höchster Gegenstand des Nachdenken für Proudhon dazustehen.“ Karl Marx, Friedrich Engels, Die heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten, MEW 2, S. 44. 41 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), MEW Ergänzungsband 1, S. 544. 42 Zum Begriff des Transzendentals bei Badiou, vgl.: Alain Badiou, Logiques des mondes, S. 107-201. 43 Es handelt sich damit augenscheinlich nicht um ein dezisionistisches Motiv, das sich mit der kommunistischen Aktion verbindet. Weder Marx noch Badiou lassen sich in die Nähe Carl Schmitts bringen. 44 Vgl. dazu etwa: G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen, in: ders., Werke, Frankfurt am Main, 1986, Bd. 7, S. 387 ff. 45 G.W.F. Hegel, Jenaer Realphilosophie. Vorlesungsmanuskripte zur Philosophie der Natur und des Geistes von 1805-1806, Berlin, 1969, S. 232.. 46 An dieser Stelle wäre, um den Übergang von Hegel zu Marx aus dieser Perspektive neu zu beleuchten, das Verhältnis von dem, was Hegel in der Rechtsphilosophie den „Pöbel“ nennt und dem Marxschen Proletariat zu klären. Ich habe den Versuch einer Klärung an anderer Stelle unternommen – vgl. Frank Ruda, Hegels Pöbel. Eine Untersuchung der Hegelschen Rechtsphilosophie, Dissertation (unveröffentlicht).
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Armut der Arbeiterklasse, welche die (logische) Stätte des Erscheinens darstellt – zu einer Emergenz des Proletariats, durch eine kommunistische Aktion kommen. Die Arbeiterklasse ist die Bedingung der ereignishaften Emergenz des Proletariats und deswegen eben nicht identisch mit ihm.47 Es handelt sich um eine strikt lokalisierte, ja, lokale, und dennoch unmittelbar universale Aktion. Universal ist sie, da das Proletariat – der völlige Verlust des Menschen48 und nicht nur der Verlust des materiellen Eigentums – jeden Beliebigen betrifft, da jeder Beliebige latent arm und damit latent Proletarier gewesen sein wird. Kommt es aber zu einem ereignishaften Einbrechen einer wirklichen kommunistischen Aktion und bringt diese das Proletariat in die Existenz, dann schließt sich an dieser Stelle die Frage an, wie der frühe Marx den Prozess der universalen Produktion, der strukturell auf das Ereignis folgt, entwickelt.
Salto Mortale. Universale Produktion und Produktion von Universalität: Wie erläutert Marx die universale Produktion, die 1. nur unter den Bedingungen radikaler Entfremdung und der Auflösung aller Wesensbestimmung des Menschen denkbar wird; 2. nur durch eine wirkliche kommunistische Aktion, die in die bestehende geschichtliche Situation ereignishaft einbricht und noch die Gesetze der Veränderung verändert, eingesetzt wird und, die schließlich 3. vom Proletariats-Subjekt abhängt, das zunächst den Agenten der kommunistischen Aktion und in der Folge das Subjekt der universellen Produktion angibt? Wie sucht Marx also dem Anspruch zu genügen, eine Universalität zu denken, die eine Gleichheit aller Beliebigen einsetzt und doch entschieden an die Produktion dieser Gleichheit gebunden bleibt? Was durch die wirkliche kommunistische Aktion eingesetzt wird, ist die prozessuale Entfaltung eines Subjekts, die Marx als „werktätiges Gattungsleben“49 bezeichnet. Zunächst verbindet sich damit, dass in dem Prozess eines solchen universell produzierenden Gattungslebens nicht länger auf anthropologische Bestim47 Es finden sich, wie bereits angemerkt, viele Verstellungen der Unterscheidung von Arbeiterklasse und Proletariat. Badiou formuliert diese Einsicht deutlich, wenn er über den ‚Vulgär-Marxismus‘ bemerkt: „[…] er dachte die Arbeiterklasse als Klasse der Arbeiter. […] Dies verhinderte nicht, dass das Wissen (und – Paradox – das marxistische Wissen selbst) immer noch der Ansicht sein konnte, dass ‚die Arbeiter‘ unter eine Determinante der (soziologischen oder ökonomischen) Enzyklopädie fielen […].“Alain Badiou, Das Sein und das Ereignis, S. 376. In dieser Hinsicht ist die Unterscheidung von Arbeiterklasse und Proletariat wesentlich, um die Reichweite der Marxschen Konzeption nicht vorschnell zu verkennen. In Badiouscher Terminologie müsste man sagen, dass zwar die Arbeiterklasse am „Rande der Leere“ innerhalb der historischen Situation existiert und damit als präsentiert aber nicht repräsentiert gilt, dass aber zugleich die Elemente aus denen es sich zusammensetzt in der Situation nicht existieren. Das Proletariat ist in dieser Hinsicht eines ihrer Elemente, das in der Situation nicht gezählt wird und daher in ihr nicht erscheint, ein Name, der aus der Leere, mit der jede Situation vernäht ist, selbst gezogen ist. 48 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), MEW Ergänzungsband 1, S. 390. 49 Ebd., S.517.
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mungen rekurriert werden kann. Vielmehr haben in ihm „ontologische Wesens(Natur-)bejahungen“50 des Menschen statt und in ihm ist „die Brüderlichkeit der Menschen […] keine Phrase, sondern Wahrheit […].“51 Die universelle Produktion führt in ihrem Prozess zu ontologischen Wesensbejahungen der (vollständig unbestimmten) Natur des Menschen, welche die Brüderlichkeit, d.h. die Gleichheit aller Beliebigen, als Wahrheit entfalten. Wie kann man diese noch dunkel scheinende Formel verstehen? Zunächst kann man festhalten, dass der Prozess der universellen Produktion immanent mit dem verbunden ist, was Marx hier „Wahrheit“ nennt und diese zugleich mit einer ontologischen Wesensbejahung zusammenhängt. Universelle Produktion ist so zunächst eine Produktion von Wahrheit, welcher selbst wiederum eine ontologische Dimension zukommt. Sucht man nun diese erste, noch abstrakte, Bestimmung des Prozesses der universellen Produktion mit dem notwendig bestimmungslosen Wesen des Menschen zusammenzubringen, das durch die wirkliche kommunistische Aktion aufscheint, wird eine weitere Konsequenz deutlich: die universelle Produktion, die das Wesen des Menschen bejaht, hat dessen Unbestimmtheit im Prozess der Produktion zu erhalten, da sie ansonsten keine Bejahung des menschlichen Wesens zu sein fähig wäre. Wie kann man aber eine Produktion denken, die zugleich die konstitutive Unbestimmtheit erhält? Oder um zunächst in eine leicht differente Richtung zu fragen: wenn Marx impliziert, dass sich diese ontologische Wesensbejahung im werktätigen Gattungsleben auf das bezieht, was er den Menschen als „Gattungswesen“52 nennt, wie lässt sich dieses Gattungswesen, das in der universellen Produktion bejaht wird, verstehen? Man kann eine Antwort auf diese Fragen geben, wenn man sich die Verfahrensweise der universellen Produktion genauer vor Augen führt. Ein Beispiel, das Marx anführt, ist hier hilfreich: „Wie erst die Musik den musikalischen Sinn des Menschen erweckt, wie für das unmusikalische Ohr die schönste Musik keinen Sinn hat, [kein] Gegenstand ist, weil mein Gegenstand nur die Bestätigung meiner Wesenskräfte sein kann […], darum sind die Sinne des gesellschaftlichen Menschen andre Sinne, wie die es ungesellschaftlichen; erst durch den gegenständlich entfalteten Reichtum des menschlichen Wesens wird der Reichtum der subjektiven menschlichen Sinnlichkeit, wird ein musikalisches Ohr, ein Auge für die Schönheit der Form, […] teils ausgebildet, teils erzeugt.“53 Liest man diese beispielhafte Erörterung Marxens als Darlegung der Struktur universeller Produktion, wird der Sachverhalt deutlicher. Im Prozess universeller Produktion, dem Prozess, der logisch nach der wirklichen kommunistischen Aktion beginnt, bildet das konstitutiv unbestimmte menschliche (Kollektiv-)Subjekt „gesellschaftliche Organe“54 aus, die rückwirkend dessen Wesen bestimmen. So bedeutet die Erfindung der Musik eine rück50 51 52 53 54
Ebd., S.562. Ebd., S. 564. Ebd., S. 515. Ebd., S. 541. Ebd., S. 540. Ich kann an dieser Stelle nicht auf die interessante Diskussion eingehen, wie sich der Marxsche Begriff des Organs zu dem Badiouschen verhält. Vgl. dazu: Alain Badiou, Logiques des mondes, S. 471-497.
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wirkend eintretende Bestimmung des Menschen, der ein musikalisches Ohr gehabt haben wird. Die universelle Produktion ist deswegen einerseits eine Produktion von Bestimmungen des menschlichen Wesens, die gegenständlich, wirklich und objektiv werden. Diese Bestimmungen sind objektiv, da sie die Wesenskonstitution des Menschen auf eine Art und Weise verändern, die dessen Wesen für immer transformieren haben werden. Dabei verläuft dieser Bestimmungsprozess aber andrerseits in einer ihm eigenen Zeitlichkeit ab. Denn die retroaktive Bestimmung des Menschen im Prozess der universellen Produktion, besser: die Bestimmung dessen, was ein Mensch gewesen sein wird, vermag nicht auf eine vorgängige Wesensbestimmung des Menschen zu rekurrieren, sondern ergibt sich allererst nachträglich und zwar im Prozess seiner Bestimmung. Daher ist die Zeitlichkeit der universellen Produktion die des Futur antérieur. Die Bestimmung des Un-Wesens Mensch ist damit nicht länger an eine vorgegebene Möglichkeit des Menschlichen gebunden, die sich in diesem Prozess der Produktion verwirklichen würde, sondern vielmehr schafft dieser Prozess selbst kontinuierlich rückwirkend die Bedingungen der eigenen Möglichkeit. Deswegen kann Marx auch behaupten, dass „der Kommunismus […] nicht als solcher das Ziel der menschlichen Entwicklung“55 ist, da der durch die kommunistische Aktion eingesetzte Prozess universeller Produktion aufgrund seiner eigenen Logik kein Ziel kennen kann. Vielmehr ist der Prozess in actu oder nicht, ist Kommunismus in actu oder ist nicht.56 Geht man nicht davon aus, dass dem Menschen ein bestimmtes Wesen zukommt, welches sich im Prozess der Produktion verwirklicht, sondern er vielmehr konstitutiv unbestimmt ist, dann kann der Prozess seiner Bestimmung – den die universelle Produktion benennt – keine immanente Grenze, keine inhärente Limitierung kennen, sondern muss– zumindest potentiell – als unendlich gedacht werden. Der Prozess der universellen Produktion verläuft daher über eine konstante Konvertierungen dessen, was dem Menschen unmöglich scheint – unmöglich, da 1. ihm keine Bestimmungen dessen zukommen, was ihm möglich ist und 2. er in geschichtlichen Unmöglichkeiten steht – in „unmögliche Möglichkeiten“57, die darauf verweisen, was dem Menschen möglich gewesen sein wird. Erscheint es vor der Erfindung der Musik unmöglich, dass dem Menschen ein musikalisches Ohr zukommt, so tritt mit der Erfindung der Musik eine Konvertierung dieser Unmöglichkeit in eine Möglichkeit im Futur antérieur ein. Man kann auch sagen, dass sich das Proletariat als Subjekt der universellen Produktion in der potentiellen Unendlichkeit dieses Prozesses beständig selbst rückwirkend als das bestimmt, was es gewesen sein wird. Ein stetes „Durchsichselbstsein“58 in der Hervorbringung der retroaktiven Bestimmungen neuer ge55 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), MEW Ergänzungsband 1, S. 546. 56 Es sollte deutlich sein, dass ich hier ,Kommunismus‘ nicht im Sinne der Ausdrücke ‚kommunistische Parteien‘, ‚kommunistischer Staaten‘ – einer contradictio in adjecto – verwende. Es besagt hier zunächst, in einer negativen Bestimmung, dass die Logik der Klassen, der Unterdrückung einer Klasse durch eine andere, überkommen werden kann. Dazu auch: Alain Badiou, De Quoi Sarkozy est-il le nom? Circonstances 4, Paris, 2007, S. 130 f. 57 Alain Badiou, Peut-on penser la politique?, S. 101. 58 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), MEW Ergänzungsband 1, S. 545.
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sellschaftlicher Organe des eigenen universalen Wesens. Das Proletariat ist das Subjekt dieses Prozesses der universellen Produktion und was es produziert ist die Universalität, die Marx das „Gattungswesen“59 nennt. Das bedeutet aber auch, dass es keine Bedingung der Zugehörigkeit geben kann, die reglementierte, wer und wer nicht an diesem Prozess der universellen Produktion mitarbeiten kann. Vielmehr ist in ihr „ein Moment, worin sie mit der Gesellschaft im allgemeinen fraternisiert […].“60 Marx gibt in einem anderen Kontext ein Bild an, das für die Bestimmung der Verfahrenslogik dieses Prozesses tauglich ist. Denn die Bewegung der universellen Produktion, dessen Subjekt das Proletariat ist, gleicht „einem salto mortale, nicht nur über die eignen Schranken“ hinweg, „sondern zugleich über die Schranken der modernen Völker […].“61 Die salto mortale Bewegung ermöglicht, dass der Prozess der universellen Produktion keine Schranken und Begrenzungen kennt, sondern vielmehr als universelle Produktion zugleich rückwirkende Produktion des Universalen ist. Schritt für Schritt wird, ohne Regel, ohne Gesetz der Produktion und ohne eine vorgängige wesenhafte Bestimmung, in je singulären geschichtlichen Situationen62 eine Bestimmung nach der anderen hervorgebracht, die rückwirkend die universale Dimension des Gattungswesens Mensch entfalten. Das Gattungswesen ist konstitutiv unbestimmt, und über die potentielle Unendlichkeit seiner aufeinander folgenden Bestimmungen, die jedes Mal Schritt für Schritt rückwirkend das Wesen selbst transformieren, bleibt es unbestimmt. Denn der Prozess erlaubt weder ein Gesetz des Verfahrens, eine bestimmte Bedingung der Zugehörigkeit, noch einen Punkt, an dem die Verwirklichung des Menschen-Möglichen erreicht wäre, anzugeben. Diese Produktion zeichnet sich vielmehr durch das aus, was ich eine immanente Bestimmbarkeit nennen möchte. Einerseits ist das Wesen des Menschen bar aller Bestimmungen. Es ist aller Bestimmungen durch die statthabende Entfremdung entkleidet. Andrerseits beschreibt die universelle Produktion einen Prozess der Produktion, der Schritt für Schritt – in je singulären geschichtlichen Situationen –, und durch das Subjekt dieses Prozesses, durch das Proletariat, angetrieben, Bestimmungen hervorbringt, die das Gattungswesen rückwirkend neu bestimmen. Dies besagt, dass das Wesen des Menschen immer ein Un-Wesen ist und bleibt, da es aufgrund der internen Unendlichkeit dieses Prozesses zu keiner Substantialisierung einer Bestimmung, zu keiner Verwesentlichung kommen kann. Die universelle Produktion (des Proletariats) und die Produktion des Universellen (des Gattungswesens Mensch) ist und bleibt aus diesem Grund bestimmbar. Eine solche Produktion von Universalität durch ein lokales und stets singuläres Subjekt hat Alain Badiou einen „proletarischen Aristokratismus“63 genannt. Proletarisch, da 59 Ebd., S. 515. 60 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts (§261313), MEW 1, S. 388. 61 Ebd., S. 386 f. 62 Zum Begriff der geschichtlichen Situation, vgl.: Alain Badiou, Das Sein und das Ereignis, S. 199204. 63 Alain Badiou, Dritter Entwurf eines Manifestes für den Affirmationismus, herausgegeben und um ein Gespräch mit Alain Badiou erweitert von Frank Ruda und Jan Völker, Berlin, 2007, S. 33.
PROLETARISCHER ARISTOKRATISMUS UND DAS GATTUNGSWESEN MENSCH
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der hier in Spiel kommende Begriff der Wahrheit sich allein in der Ordnung der Produktion denken lässt und aristokratisch, da diese Produktion von dem getragen und angetrieben wird, was zunächst als Minorität64, eben als Inexistentes erscheint. Aristokratisch folglich, da es einem geschichtlich lokalisierten singulärem Subjekt – dem Proletariat – zukommt, eine Ausnahme von dem, was in der Situation möglich scheint einzusetzen, die hic et nunc eine universale Dimension besitzt, da sie in die Produktion des Universalen führt. Proletarisch folglich, da es sich in diesem Prozess um eine Synthese aus Singulärem und Universalem handelt, um eine Dimension, die für jeden Beliebigen da ist. So ist Brüderlichkeit keine Phrase mehr, sondern Wahrheit. Oder, wie sich mit Badiou resümieren lässt: „You know that Marx names ,generic humanity‘ humanity in the movement of its own emancipation; and ,proletariat‘, the name ,proletariat‘ is the name of the possibility of generic humanity in an affirmative form. ,Generic‘ names for Marx the becoming of the universality of human beings, and the proletarian historical function is to deliver the generic form of the human being. So Marx’ political truth is on the side of genericity, and never on the side of particularity. It’s formally a matter of desire, creation or invention, and not a matter of law, necessity or conservation.“65 Marx Humanismus ist ein Humanismus der Unmöglichkeit, ein Inhumanismus kollektiver Schöpfung von vorab undenkbaren Möglichkeiten.
64 Dass es sich bei einer Minorität nicht um eine Partikularität handelt, sollte deutlich sein. Vgl. dazu auch: Gilles Deleuze, Félix Guattari, Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin, 1992, S. 396-407. Ist das Proletariat in der Marxschen Konzeption ein objektiver Träger des Heterogenen, der heute abhanden zu sein scheint, dann lässt sich an dieser Stelle die Frage nach der Reichweite dessen stellen, was Badiou die erste und zweite Sequenz der kommunistischen Hypothese nennt. Diese Frage hat jede Erneuerung der Kritik der politischen Ökonomie zu beantworten, um nicht konstitutiv in einem Denken zu verharren, dass Politik als Subjektivierung objektiv gegebener ökonomischer Widersprüche versteht und damit aber im Reich dessen verbleibt, was Badiou den Staat nennt. Vgl. dazu: Alain Badiou, De Quoi Sarkozy est-il le nom?, S. 129-155; Alain Badiou, L’Hypothese communiste. Circonstances 5, Paris, 2009, S. 85-133. 65 Alain Badiou, Politics. A non-expressive dialectics, Typoskript.
MATTHIAS ROTHE
Wie und zu welchem Zweck Foucault Marx gebraucht
1. Marx und Foucault aufeinander zu beziehen, ist in Deutschland und Frankreich (beinahe) eine Mode geworden. Autoren wir Etienne Balibar1, Ulrich Brieler2 oder Thomas Lemke3 haben dieses Thema jüngst diskutiert und gerade widmete die Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaften eine ihrer Ausgaben4 der Erkundung der Nähen und Fernen beider Denker. Die Entdeckung des späten Foucaults, seiner Studien zur Gouvernementalität, hat der Debatte noch einmal eine neue Wendung gegeben. Die mögliche Kompatibilität seiner Idee einer gouvernementalen Vernunft mit neueren marxistischen Staatstheorien, etwa der von Nico Poulantzas oder Bob Jessop, soll dabei einen Indikator für die generelle Vereinbarkeit Foucaults mit Marx bzw. mit dem Marxismus abgeben.5 Was also könnte noch hinzugefügt werden? Ich denke, zu allererst ist ein Innehalten notwendig und die angemessene Frage könnte dann eher lauten: Was steht bei (vielen) dieser Diskussionen überhaupt auf dem Spiel? Was hängt schließlich davon ab, ob Foucault nun Marxist oder Neomarxist oder ob Marx überhaupt ein wichtiger Einfluss war, warum will man unbedingt wissen, ob Foucault Marx richtig oder falsch gelesen hat? Sicher ist ein Einsatz in diesen Debatten die Positionierung im linken Feld und Foucault nur ein willkommener Anlass, aber mitgetragen wird, mehr oder weniger reflektiert, dabei auch die Voraussetzung, dass Marx nach wie vor den Standard für ein kritisches Denken vorgibt und diskutiert wird Foucault dann nur als Fall einer möglichen Abweichung davon. Man jongliert mit Buchstaben und exerziert an dem toten 1 Etienne Balibar, „Foucault und Marx. Der Einsatz des Nominalismus“, in: Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, hg. v. François Ewald, Bernhard Waldenfels, Frankfurt a. M., 1991, S. 39-65. 2 Ulrich Brieler, „‚Erfahrungstiere‘ und ‚Industriesoldaten‘. Marx und Foucault über das historische Denken, das Subjekt und die Geschichte der Gegenwart“, in: Geschichte schreiben mit Foucault, hg. v. Jürgen Martschukat, Frankfurt a. M., 2002, S. 42-78. 3 Thomas Lemke, Marx ohne Anführungszeichen, unter http://www.thomaslemkeweb.de/publikationen/Marx%20ohne%20Anfuehrungszeichen.pdf (zuletzt aufgerufen am 18.03.2009). 4 Gesellschaftstheorie nach Marx und Foucault, Prokla 151, Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 38 Jg., Nr. 2, Juni 2008. 5 Vgl. etwa Thomas Biebricher, „Staatlichkeit, Gouvernementalität und Neoliberalismus“, in: Gesellschaftstheorie nach Marx und Foucault, Prokla 151, Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 38 Jg., Nr. 2, Juni 2008, S. 307-322; Ingo Elbe, „Thesen zu Staat und Hegemonie in der Linie Gramsci-Poulantzas“, unter http://www.rote-ruhr-uni.com/cms/spip.php?page=recherche&recher che=Staatstheorie (zuletzt aufgerufen am 18.03.2009).
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Foucault endlich ohne Widerstand durch, was dieser zu Lebzeiten immer zu vermeiden und zu kritisieren suchte, jene Verschiebung der Aufmerksamkeit von der Wirklichkeit zum Text. Es darf also nicht um diese Fragen gehen, stattdessen möchte ich etwas anderes in den Blick rücken: Foucault als Strategen und mithin als Beispiel eines Einzelkämpfers, der sein Ziel setzt, seine Gegner identifiziert und daraufhin zu denken beginnt6, Foucault, der Marx als einen Einsatz im Kampf gebraucht. Das soll keinesfalls heißen, dass Theorie bei ihm zum bloßen Instrument wird, um mit John Stuart Mill zu sprechen: „The truth of an opinion is part of its utility. If we would know whether or not it is desirable that a proposition should be believed, is it possible to exclude the consideration of whether or not it is true?“7 Foucault war spätestens seit In Verteidigung der Gesellschaft (1975-1976) bemüht, diesen Zusammenhang systematisch auszuarbeiten8 und die Frage, wie die Wahrheit (und nichts als die Wahrheit) zum Einsatz im Kampf gemacht werden kann, hat nicht zuletzt auch seine Beschäftigung mit der antiken Stoa motiviert.9 Marx ist also für Foucault von Interesse, insofern er zugleich wahr, d.h. die entsprechende Lesart tatsächlich plausibel sowie eine angemessene Beschreibung der Welt und nützlich im Rahmen eines Zieles und eines Kampfes ist. Die Wahrheit wird zur Bedingung nicht zuletzt dafür, dass man sich selbst glauben kann und mithin widerstandsfähig ist. Im Folgenden gilt es also zum einen, verschiedene Ziele und die ihnen entsprechenden Gebrauchsweisen von Marx zu identifizieren und zum anderen, überhaupt plausibel zu machen, dass die Rede vom ‚Gebrauch‘, die Distanz zur Sache und freie Verfügungsgewalt impliziert, eine angemessene ist, mithin dass die Marxreferenzen Foucaults nicht den inhärenten Sachzwängen seiner Theorie geschuldet und daher alternativlos sind.
6 Darin kann Foucault durchaus Lektionen erteilen, ein Vorbild sein, das zwar nicht zum Nachahmen geeignet ist, aber, um mit Kant zu sprechen, zur Nachfolge. 7 John Stuart Mill, „On Liberty“, in: The Basic Writings of John Stuart Mill, hg. v. Dale E. Miller, New York, 2002, S. 3-119, hier S. 24. 8 Es ist sicher kein Zufall, dass Foucault die Frage nach der Möglichkeit von nützlicher Wahrheit im Rahmen der Beschäftigung mit den Utilitaristen, die sein Konzept von gouvernementalité wesentlich inspirierten, explizit zu verhandeln beginnt. Indem er wie diese Freiheit als das begreift, was im Verhältnis der Regierenden zu den Regierten zur Disposition steht (vgl. Michel Foucault, La Naissance de la biopolitique: Cours au collège de France (1978-1979), Seuil, 2004, S. 65) und nicht als einen bereits vorgängigen ‚Spielraum‘, macht er erfolgreichen Widerstand zugleich davon abhängig, die eigene Position gegenüber anderen und sich selbst ausweisen zu können. Der Liberalismus (als Regierungsrationalität) im engeren Sinne ist dann aber dadurch definiert, dass er dieses Freiheitsverständnis auf besondere Art ausnutzt, ganz bestimmte Freiheiten zu produzieren, und damit den Menschen auf vorrangig ökonomische Weise regierbar zu machen sucht. 9 In der antiken Kultur einer Sorge um sich hat Foucault wohl ein Beispiel für die Möglichkeit gefunden, die Wahrheit auf eine Weise in Kopf und Körper zu verankern, dass sie den, der sie besitzt, nahezu unangreifbar macht und beispielsweise einen Sokrates dazu befähigt angesichts seiner Verurteilung zu sagen (und zu glauben): Sie können mich zwar töten, aber schaden können sie mir nicht (vgl. Platon, Apologie).
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2. Aber warum überhaupt Marx? Marx war in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in Frankreich, zumal für einen Linken, eine unhintergehbare Referenz. Niemand kam an ihm vorbei, man musste sich zu Marx äußern und darüber, wie man dies tat, wurden Allianzen geschlossen und aufgekündigt. Auch Schweigen war bereits eine Stellungnahme. Nicht wenige Kritiken an Foucaults Buch Wahnsinn und Gesellschaft (1961) bemängelten die fehlenden expliziten Marxbezüge. Marx im Munde zu führen war also auch eine Überlebenstechnik im Feld des Politischen, ohne dass dies notwendigerweise reflektiert wurde. Foucault aber, so scheint es mir, hat dies getan. Denn er war nicht nur Diskursanalytiker und damit auf Zwänge dieser Art spezialisiert, sondern von jeher auch weniger an Theorien als an Problemen interessiert. Man sollte davon ausgehen, dass er sich sehr bewusst in den Marxdiskurs einschrieb und dessen Regeln für sich ausnutze.10 So erwiderte er 1975 auf die Frage nach seinem Verhältnis zu Marx und zum Marxismus: „Es gibt eine Art Spiel, das ich betreibe. Es geschieht mir oft, dass ich Passagen oder Texte von Marx zitiere, aber ohne dass ich mich dabei verpflichtet fühle, das kleine Authentizitätssiegel hinzuzufügen, das darin besteht, ein richtiges Zitat zu fabrizieren, die Quelle sorgsam in der Fußnote aufzuführen und eine ausführliche Reflexion über den zitierten Ausschnitt anzustrengen. Etwas, was man normalerweise tun muss, damit man als Marxkenner anerkannt und von den marxistischen Zeitungen gewürdigt wird …“ Und er beschließt seine Antwort mit der Bemerkung (und stellt damit klar, dass er keineswegs nur spielt): „Muss denn ein Physiker, wenn er Physik betreibt Newton oder Einstein zitieren? Er nutzt sie, aber er bedarf keiner Anführungszeichen …“11 Wie und wofür genau aber nutzt Foucault Marx? Ich denke, es lassen sich zumindest drei Tendenzen isolieren: i) Marx im Einsatz gegen die Marxisten (etwa von 1966 bis 1978), ii) Marx als Medium für die Formulierung der eigenen Positionen und damit eben zugleich als ein Mittel, dem eigenen Denken die nötige Akzeptanz zu verschaffen (etwa von 1961-1977), iii) Marx zum Schutz vor der Vereinnahmung durch den Gegner, als Reaktion auf eine gefährliche Nähe zum Neoliberalismus oder allgemeiner formuliert, zur Bestimmung seiner eigenen Position (etwa von 1978-1984).
10 Foucault, so könnte man sagen, tat selbst das, was er Marx in Bezug auf das ökonomische Denken des 19. Jahrhunderts zuschrieb, er bewegte sich in den Marxdiskursen wie ein Fisch im Wasser und versuchte dabei auch, ihre Funktionsbedingungen zu ändern, vgl. Abschnitt 4. 11 Michel Foucault, „Entretiens sur la prison: le livre et sa méthode“, in: Dits et Écrits 1954-1988 par Michel Foucault, hg. v. François Ewald, Daniel Defert, Gallimard 1994 (1975), Bd. 2, S. 740-753, hier S. 752. Alle Zitate aus Dits et Écrits sind vom Verfasser übersetzt.
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3. Warum war der Marxismus für Foucault ein Gegner? Auf einige zentrale Punkte gebracht: Ob seiner institutionellen Verankerung im Wissen (Marxismus als Wissenschaft) und in der Praxis (Organisationsform Partei) und den von diesen Verankerungen ausgehenden Machtwirkungen (Disqualifizierung anderer Praxen und Wissensformen). Die Leitideen des wissenschaftlichen Marxismus, etwa eine gesetzmäßige Geschichte und ein souveränes Subjekt in Form des Gattungsmenschen als deren Grundlage, eine Revolutionstheorie, die zwischen Haupt- und Nebenwidersprüchen unterschied und so zu definieren suchte, welche Formen von Widerstand sich überhaupt lohnen sowie die Absicherung und Exekutierung dieser Ideen in einem Parteiapparat und in einer Textpraxis, die darin bestand, jedwedes Handeln aus den ‚Quellen‘ abzuleiten und jedes Versagen, selbst den Stalinismus, auf Lesefehler zurückzuführen, all diese Momente, durch die das Feld möglichen Widerstandes kolonialisiert wurde, und zwar um den Preis eines Kontaktverlustes mit der Wirklichkeit, hat Foucault in Theorie und Praxis unablässig angefochten. Sein proklamiertes Ziel war es, den vielfältigen neuen sozialen Bewegungen am Ende der 60er Jahre, die eben kaum im Rahmen eines Kampfes für die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise, einer großen Revolution also, ihren Platz fanden, dennoch eine Rechtfertigung zu verschaffen.12 Marx musste dabei zum Einsatz werden, denn er war die Währung in den politischen Auseinandersetzungen der Epoche.13 Man könnte Foucaults Vorgehen als eine Bemühung beschreiben, Marx zugleich aufzugeben und zu retten, oder genauer gesagt, ihn aus der Vereinnahmung durch die Marxisten zu befreien, das heißt, Marx als Garanten einer Globaltheorie außer Kraft zu setzen und ihn bzw. seine Überlegungen damit als Waffe für alle möglichen Zwecke verfügbar zu halten. Und als geeignete Strategie, sie produzierte umgehend einen Skandal, erwies sich das Historisieren.14 Die einschlägige Stelle (im wahrsten Sinne des Wortes, Foucault wurde Zeit seines Lebens immer wieder auf sie angesprochen) findet sich in Die Ordnung der Dinge und lautet: „Der Marxismus (hier im Sinne von Marx selbst und seinen Schülern, Anm. d. Verf.) ruht im Denken des 19. Jahrhunderts wie ein Fisch im Wasser.“15 Marx und Ricardo, so Foucault, realisieren nur zwei 12 Dieses Anliegen verhandelt Foucault explizit an verschiedenen Stellen, u.a. in der ersten Vorlesung der Vorlesungsreihe In Verteidigung der Gesellschaft von 1975-1976 am Collège de France. 13 So wurde diese Rechtfertigung durchaus auch noch in der offiziellen marxistischen Terminologie formuliert, Deleuze und Foucault konstatieren beispielsweise 1972 in einem Gespräch, dass die vielfältigen neuen sozialen Bewegungen „selbstverständlich Verbündete des Proletariats sind (…) Sie dienen tatsächlich der Sache der Revolution, indem dem sie genau dort kämpfen, wo die Unterdrückung zum Tragen kommt“, Michel Foucault, „Les intellectuels et le pouvoir“, in: Dits et Écrits (1972), Bd. 2, S. 306-315, hier S. 314. 14 In einem Gespräch mit dem japanischen Philosophen Yoshimoto nennt Foucault selbst dieses Vorgehen eine Strategie bzw. ein Kampfmittel, vgl. Michel Foucault, „Méthodologie pour la connaissance du monde: comment se débarrasser du marxism“, in: Dits et Écrits (1978), Bd. 3, S. 595-618, hier S. 602. 15 Michel Focault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M., 1996 (1966), S. 320.
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aufeinander verweisende Optionen in der Wissensdisposition ihrer Zeit. Bei beiden werde die Geschichte über die Historizität der Ökonomie zum Abschluss gebracht. Im Falle Ricardos vollziehe sich dies dadurch, dass die Ökonomie schrittweise die Wahrheit über den Menschen enthüllt, bei Marx hingegen geschehe es durch einen plötzlichen Umbruch, der aber die Geschichte ebenso beendet. Diese Perspektive relativiert nicht nur die überzeitliche Gültigkeit der Marxschen Thesen, sie streicht auch Marx als Sprecher und letzten Ankerpunkt für die Wahrheitsproduktion aus, denn was hier zur Debatte steht sind keine Subjekte mehr, sondern Diskurspositionen. Er interessiere sich, so Foucault, für das Funktionieren von Aussagen, da sei es unerheblich, wer etwas sagt, „Marx, pour moi, ça n’existe pas …“, heißt es dann folgerichtig.16 Marx ist aber, so gibt Foucault dennoch zu, in einem viel fundamentaleren Sinne Diskursbegründer gewesen. Er habe, wie auch Nietzsche und Freud, ein neues Verhältnis der Zeichen und Dinge initiiert, indem er die politische Ökonomie zu einer Analysemethode der Gesellschaft gemacht hat, die deren radikale Geschichtlichkeit hervortreten lässt.17 Ein solcher Marx liefert aber Argumente für seine eigene Vergänglichkeit (und legitimiert nebenher die Foucaultsche Diskursanalyse). Marx wird im Spiel gehalten, indem er gegen sich selbst antritt. Er wird gerettet, jedoch ohne dass er noch ungeprüft Standards vorgeben kann, die Gültigkeit seiner Theoreme kann sich nur noch im Hier und Jetzt erweisen. Im Widerspruch dazu scheint Foucault gelegentlich durchaus die Person Marx und mithin die wahre Marxlektüre zu verhandeln, etwa wenn er von einem Marx spricht, der durch den ideologischen Gebrauch der Geschichte „verfälscht“ worden sei18, bei Marx fänden sich interessante Dinge über den Körper und „der Marxismus (…) hat das vollkommen verdunkelt zugunsten des Bewusstseins und der Ideologie …“19, der Marxismus lege, soweit es um den Klassenkampf gehe, die Aufmerksamkeit zu sehr auf die Klasse und zu wenig auf den Kampf, Marx selbst sei da viel subtiler gewesen und habe sich sehr für militärische und strategische Fragen interessiert20, diejenigen, die bei Marx vor allem die Idee vom Staat und von juristischen Superstrukturen hervorheben, würden ihn „rousseauisieren“21, dies sei vor allem das Projekt der Sozialdemokraten im 19. Jahrhunderts gewesen etc. Und auch wenn Foucault Glucksmanns Buch Les Maîtres Penseurs „ein großes Buch der Philosophie“ nennt22, ein Buch, das immerhin Marx in Person für die 16 Michel Foucault, „Questions à Michel Foucault sur la géographie“, in: Dits et Écrits (1976), Bd. 3, S. 28-40, hier S. 38. 17 Vgl. dazu Michel Foucault, „Nietzsche, Freud, Marx“, in: Dits et Écrits (1967), Bd. 1, S. 564-579, hier S. 566-571; Michel Foucault, „Qu’est-ce qu’un auteur?“, in: Dits et Écrits (1969), Bd. 1, S. 789-820, hier S. 804-805; Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M., 1981 (1969). 18 Michel Foucault, Archäologie, S. 25. 19 Michel Foucault, „Pouvoir et corps“, in: Dits et Écrits (1975), Bd. 2, S. 754-760, hier S. 757. 20 Michel Foucault, „Non au sexe roi“, in Dits et Écrits (1977), Bd. 3, S. 256-269, hier S. 268. 21 Michel Foucault, „Les mailles du pouvoir“, in: Dits et Écrits (1981), Bd. 4, S. 182-201, hier S. 189. 22 Michel Foucault, „La grande colère des faits“, in: Dits et Écrits (1977), Bd. 3, S. 277-281, hier S. 281.
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stalinistischen Verbrechen in die Verantwortung nimmt, begibt er sich allem Anschein nach selbst auf das Feld der von ihm denunzierten marxistischen Textpraxis. Aber liest man genauer, so wird deutlich, dass es um etwas ganz Anderes geht. Marx und seine Theorien werden zwar nicht in historischen Diskursformationen aufgelöst, aber als Einsätze in den gegenwärtigen Kämpfen identifiziert, im Feld der Strategien verortet.23 Es ist kein „wahrer“ Marx, den Foucault vom falschen unterscheidet. Er lässt allenfalls einige Möglichkeiten, Marx zu lesen (nutzbar zu machen), die im strategischen Zugriff der Marxisten oder Sozialdemokraten etc. ausgeblendet werden, aufscheinen. Ebenso legt seine Rezension zu Glucksmann alle Aufmerksamkeit auf die Strategie, er stimmt Glucksmann zu, soweit es die Notwendigkeit des Manövers betrifft, das die Person Marx als Einsatz nimmt und opfert. Dementsprechend misst er den Wert des Buches an seiner Wirkung (am Erfolg): „ … der Skandal, den man kaum vergeben konnte, bestand nicht darin Lenin oder einer anderen heiligen Person zukünftige Fehler anzulasten, sondern darin, zu zeigen, dass es sich nicht um ‚Fehler‘ handelte, dass man sehr wohl auf der richtigen Linie geblieben war; dass der Stalinismus die Wahrheit (…) eines politischen Diskurses ist, der jener von Marx und anderem vor ihm war (…) Der Eklat der Maîtres Penseurs, seine Schönheit, die Aufregung darum, der Donner und das Lachen sind nicht einer Laune geschuldet, sondern der Notwendigkeit“, so Foucault weiter, die Wirklichkeit des Terrors gegenüber den Texten zur Geltung zu bringen.24 Und er sieht schließlich in Glucksmanns Projekt (ob nun zu Recht oder zu Unrecht) einen groß angelegten Versuch, die Philosophie selbst in die Perspektive von Zielen und Kämpfen zu stellen und sie auf diese Weise mit Wirklichkeit aufzuladen.25 Er lässt sich also keineswegs auf den Diskurs um die Person Marx und die wahre Lektüre ein, er wahrt auch hier die Distanz (ein Erzähler, der sich in die Perspektive seine Hauptfigur begibt): Der Marx verschwindet im Feld der Strategien und jeder, der es wünscht, kann sich folglich dort mit einschreiben. Marx wird durch das ‚Strategisieren‘ ebenso wie durch das Historisieren wieder verfügbar gemacht.
4. Mit diesem bloßen Verfügbarmachen verschafft sich Foucault genau den Aufschub oder den Spielraum, der nötigt ist, um Marx für die Formulierung und Verbreitung seiner eigenen Thesen, als Medium, nur zu nutzen und ihn eben nicht zugleich propagieren zu müssen. Eine zweite Bedingung der Möglichkeit für eine 23 Dies ist nicht zuletzt ein Indiz für die Angemessenheit einer Lesart, die Foucaults Marxverhältnis vorrangig im Kontext von Strategien versteht. 24 Michel Foucault, „La grande colère“, S. 278. 25 Foucaults selbst formuliert die Frage so: Mit welchen Strategien bemächtigt sich die Politik der Philosophie, macht Rousseau, Nietzsche und Marx usw. zu Staatsphilosophen, vgl. Michel Foucault, „La philosophie analytique de la politique“, in: Dits et Écrits (1978), Bd. 3, S. 534-551, hier S. 538-539; Michel Foucault, „Méthodologie“, S. 601.
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unbefangene Umgangsweise mit der ‚Autorität‘ ist: für das eigene Unternehmen nicht notwendig auf sie angewiesen zu sein. Und auch diese Bedingung, so scheint es mir, erfüllt Foucault. Der Streit darum, wie nah oder fern er Marx steht, entzündete sich lange Zeit vor allem an seinen Bücher Überwachen und Strafen (1975) und der Wille zu Wissen (1976). Denn es gibt sowohl dort als auch in den Gesprächen und Interviews, mit denen Foucault ihr Erscheinen kommentiert, eine Reihe von Verweisen auf Marx. „Das Wachstum einer kapitalistischen Wirtschaft hat die Eigenart der Disziplinargewalt hervorgerufen,“ heißt es beispielsweise in Überwachen und Strafen26 und Foucault zitiert das Kapital, allerdings nur grob, mit Verweis auf das Kapitel, um den Zusammenhang zwischen den neuen Produktionsmethoden, der Arbeitsteilung und den Disziplinartechniken zu betonen. Aber wenn man seine Arbeit deshalb als Versuch begreift, die Reproduktion der Ware Arbeitskraft in den nicht unmittelbar ökonomischen Bereichen der Gesellschaft zu analysieren, ein Vorhaben, zu dem sich Anregungen sowohl bei Marx als auch bei Foucaults Lehrer Althusser finden27, hieße das, sein Projekt in ein anderes einschreiben. Die Hinweise auf Marx dienen lediglich dazu, einen Rahmen abzustecken: Industrialisierung und Entstehung des Kapitalismus. Das aber sind Allgemeinplätze und eine Vielzahl von Theorien hätte dazu herangezogen werden können. Und dieser Rahmen ist selbst nur (noch) eine Art Platzhalter, bemüht Foucault sich doch bereits darum, die besondere Historizität und Eigengesetzlichkeit bestimmter Milieus in den Blick zu bekommen, um, wie er es beinahe zeitgleich in einer Vorlesung formuliert, eine Geschichte der Macht zu schreiben, die nicht auf die Regeln der ökonomischen Ordnung reduziert werden kann.28 Dass seine Ergebnisse dennoch Antworten auf die Frage nach den vielfältigen Formen der Reproduktion der Ware Arbeitskraft liefern können, steht auf einem anderen Blatt und diese Tatsache, so könnte man sagen, macht sich Foucault dann selbst zunutze, um seine Ideen besser zu lancieren. Auch wenn Foucault seine Geschichte der Sexualität in die Nähe der Marxschen Analysen rückt und ankündigt, er habe vor, so wie Marx das Elend des Proletariats aus den Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus erkläre, die sexuelle Misere aus positiven Mechanismen abzuleiten29, liegen die Ähnlichkeiten nicht in der Sache, allenfalls in der Form, sind relativ vage und wiederum ist der Vergleich mit Marx alles andere als zwingend, immerhin gab es den Strukturalismus und eine Vielzahl anderer Perspektiven, die der Analyse von Mechanismen und Strukturen den Vorrang gaben. 26 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M., 2000 (1975), S. 284. 27 Vgl. dazu den Artikel von Christian Schmidt, „Die Reproduktion der Gesellschaft und die Praktiken der Freiheit“, in: Gesellschaftstheorie nach Marx und Foucault, Prokla 151, Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 38 Jg., Nr. 2, Juni 2008, S. 237-254. 28 Michel Foucault: Il faut défendre la société. Cours au Collège de France (1975-1976), Gallimard, 1997, S. 15. 29 Michel Foucault, „Non au sexe roi“, S. 258-259.
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Und schließlich bezieht sich Foucault nicht nur bei seinen Studien zum Gefängnis und zur Sexualität auf Marx, sondern auch bei dem Versuch, die Macht in den Begriffen von Krieg und Kampf zu fassen, – ein anderes prominentes Projekt der 70er Jahre. Foucault lobt in verschiedenen Interviews und kleinen Artikeln die historischen Schriften von Marx, weil sie vor allem Kämpfe und nicht Klassenkämpfe analysieren und nutzt die Marxschen Analyseergebnisse für die eigenen Argumente („Man muss an Marx erinnern, der gesagt hat …“30; „jenes hinterhältige System der Verschuldung über das Marx gesprochen hat …“31; „erinnern Sie sich an das, was Marx erzählt hat von Massakern an der Arbeiterklasse …“32 ; „… jene berühmte industrielle Reservearmee, von der Marx gesprochen hat“33 etc.). Das sollte aber nicht vergessen machen, dass er in seinen Vorlesungen am Collège de France nicht Marx, sondern den konservativen Adligen Henri de Boulainvilliers als denjenigen identifiziert, der die Geschichte als Geschichte von Kämpfen zu lesen gelehrt hat, Marx erscheint in der Foucaultschen Darstellung nur am Rande und nur als dessen Abkömmling.34 Erneut also ergeben sich die Referenzen auf Marx nicht zwangsläufig, sie hätten ebenso gut weggelassen oder durch andere ersetzt werden können. Die Frage sollte daher nicht lauten, ob das Foucaultsche Denken mit dem Marxschen vereinbar ist und ob man die Foucaultschen Ergebnisse nicht im Sinne von Marx verstehen kann, – beides ist sicher möglich, nur, warum ist es wünschenswert – sondern, weshalb Foucault ohne sachliche Notwendigkeit Marx weiterhin und nicht selten herbeizitiert. Eine Antwort darauf wäre eben die bereits genannte: Er nutzt ihn, solange dies Erfolg versprechend ist, als Medium und Akzeptanzvorkehrung für seine Überlegungen.35 30 Michel Foucault, „La naissance de la médecine sociale“, in: Dits et Écrits (1977), Bd. 3, S. 207-228, hier S. 210. 31 Michel Foucault, „Le jeu de Michel Foucault“, in: Dits et Écrits (1977), Bd. 3, S. 298-329, hier S. 306. 32 Michel Foucault, „Le pouvoir, une bête magnifique“, in: Dits et Écrits (1977), Bd. 3, S. 368-382, hier S. 376. 33 Michel Foucault, „La folie de la société“, in: Dits et Écrits (1977), Bd. 3, S. 477-499, hier S. 497. 34 Michel Foucault, Il faut défendre la société, S. 69. 35 Wenn man den Marx ‚zusammenfassen‘ wollte, den Foucault mit all seinen verstreuten Bemerkungen aufgreift, dann ist es nicht der hegelianische, dialektisch-historische Marx und nicht der anthropologische, humanistische Marx, es ist der Marx der historischen Formenanalyse der Gesellschaft (das Kapital), der Theoretiker der Kämpfe (historische Manuskripte) und schließlich der Marx, für den die Revolution einen radikalen Neuanfang bedeutet. Das letzte Moment nimmt Foucault für sich in Anspruch, wenn er die Idee einer Dialektik ohne Synthese verfolgt (vgl. Michel Foucault, „Zum Begriff der Übertretung“, in: Schriften zur Literatur, hg. v. Karin von Hofer, München, 1974. (1963), S. 69-89; Michel Foucault, „C’était un naguer entre deux mots“, in: Dits et Écrits (1966), Bd. 1, S. 554-557), die Möglichkeit eines vollkommenen Bruchs mit der Gegenwart, eine beinahe spirituelle Konversion anvisiert; vgl. auch die Gründe, die er rückblickend für seinen Eintritt in die Kommunistische Partei angibt (Michel Foucault, „Entretien avec Michel Foucault“, in: Dits et Écrits (1980), Bd. 4, S. 41-95, hier S. 51-52) und seine Kommentare zur iranischen Revolution (Michel Foucault, Dits et Écrits (1978) Bd. 3, S. 662-716). Auf diese durchaus problematische Konstruktion, die wiederum sehr wenig mit Marx selbst zu tun hat – Foucault entwickelt sie mit Hilfe ganz unterschiedlicher theoretischer Instrumente (zuletzt in seinen Studien zur Antike) – kann hier nicht mehr eingegangen werden.
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5. Zum Ende der 70er Jahre hin und in den 80er Jahren ändert sich die Art und Weise, in der Foucault über Marx spricht (erneut). Marx wird nun weniger bemüht, um eine Argumentation zu entwickeln oder abzusichern, sozusagen ins laufende Denken eingebaut, stattdessen resümiert Foucault Marx’ Bedeutung für sein Werk. Marx habe seine Machtanalysen und theoretischen Prämissen im Grunde vorweggenommen: Er habe nicht die Macht analysiert, sondern lokale Mächte (die Fabrik, die Armee etc.), er habe auf ihrer milieuspezifischen Eigengesetzlichkeit bestanden, Marx sei zudem ein großer Theoretiker der Disziplin und der Vielfalt ihrer Techniken gewesen.36 „Es ist sicher“, so Foucault in einem Gespräch, „dass Marx, selbst wenn man zugesteht, dass er gerade verschwindet, eines Tages wieder erscheint“37, – eine Formulierung, die vielleicht nicht zufällig an die prophetische Schlusspassage der Ordnung der Dinge erinnert. Diese Referenzen (Verbeugungen) stehen, wie ich finde, in einem auffälligen Gegensatz zur Bedeutung, die Marx zu dieser Zeit tatsächlich noch für Foucault haben könnte oder besser gesagt, Foucaults Projekte zu dieser Zeit, die Geschichte einer Sorge um sich und die Geschichte der Gouvernementalität, lassen sich kaum noch in Marxschen Begriffen reformulieren. Das ist an der marxistisch orientierten Kritik auch ablesbar. So wirft Urs Marti Foucault vor, Konflikte auf Fragen der Verhaltensführung zu reduzieren und die Verfügungsmacht über ökonomische Mittel, die immerhin eine gewichtige Ressource für Einflussmöglichkeiten abgibt, vollkommen auszublenden.38 Aber Foucault blendet nicht die Ökonomie aus, er kehrt nur den Begründungszusammenhang um und sucht zu zeigen, durch welche Formen des Regierens die Ökonomie überhaupt erst dazu kommen kann, eine bestimmte Rolle, etwa als Machtressource, zu spielen. Damit ist er jedoch in der Tat weiter denn je von Marx entfernt und zugleich auf einem Terrain, das gemeinhin vom Liberalismus und Neoliberalismus besetzt wird: Er bestimmt Freiheit als etwas, was in der Unabhängigkeit der Regierten von den Regierenden besteht und eröffnet (beinahe) einen Raum für Verhandlungen.39 Vielleicht reagiert Foucault mit seinem Lob und Bekenntnis auf eben diese Nähe. Er betont seine politische Herkunft; er verortet sich explizit und emphatisch in einer Tradition. Marx würde dann, vereinfacht gesagt, als Ausweis des Linkseins
36 Michel Foucault, „Les mailles“, S. 186-189, vgl. auch den 1982 gehaltenen und posthum erschienenen Vortrag „Die Techniken des Selbst“ (Michel Foucault, „Les techniques des soi“, in: Dits et Écrits (1988), Bd. 4, S. 783-813). 37 Michel Foucault, „Structuralisme et poststructuralisme“, in: Dits et Écrits (1983), Bd. 4, S. 431457, hier S. 457. 38 Urs Marti, „Kapitalistische Macht und neoliberales Regieren“, in: Gesellschaftstheorie nach Marx und Foucault, Prokla 151, Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 38 Jg., Nr. 2, Juni 2008, S. 289-305. 39 Vgl. John Stuart Mills Essay On Liberty (1859), das dieses Selbstverständnis auf mitreißende und eindrucksvolle Weise ausformuliert.
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herhalten müssen, – eine Absicherung nach außen und gegenüber sich selbst, die ihm das Denken in der gefährlichen Nähe gestattet. Aber Foucault setzt Marx auch ein, um sich eine solche, vorgeblich liberale Position überhaupt erst zu erarbeiten. So bringt er ihn in einen fiktiven Dialog mit den neoliberalen Theoretikern und markiert auf diese Weise, – in zweifacher oder genauer zweistufiger Absetzung – den politischen Ort, den er selbst noch einnehmen kann, ohne in die (ökonomische) Falle zu tappen. Die Neoliberalen, so Foucault, würden mit Marx über zwei Dinge streiten: Über die Rolle der Arbeit im ökonomischen Prozess und über das Schicksal des Kapitalismus. Dass die Arbeit ihrer konkreten Form beraubt wird, sei für Marx ein Resultat der kapitalistischen Ökonomie, für die Neoliberalen hingegen ein Problem der ökonomischen Theorie. Sie machen die interne Rationalität der Arbeitenden zum Gegenstand ihrer Überlegungen, erkennen in ihnen Akteure, die sich selbst als Ressource begreifen und dementsprechend einzusetzen suchen, selbstbestimmt handelnde Individuen also. Was das Schicksal des Kapitalismus betrifft, so würden sie Marx entgegenhalten, dass es den Kapitalismus und die Logik des Kapitals nicht gäbe, sondern nur historisch spezifische Formen von Kapitalismus, eine je bestimmte institutionellen Verfasstheit der Ökonomie.40 Foucault bezieht dabei keine Position, er legt die Argumentationsfiguren und die Einsätze frei: Welche Probleme haben die Neoliberalen zu lösen? Sie müssen zeigen, dass der Kapitalismus überlebensfähig ist und dass er den Menschen nicht entfremdet, sondern ihm im Gegenteil Spielräume eröffnet. Die Annahme einer Geschichtlichkeit des Kapitalismus teilt Foucault ebenso wie die Idee, dass es eine interne Rationalität des Verhaltens – z.B. als Ressource für Widerstand – zu erschließen gilt. Aber die analytischen Instrumente, die er nun, wo das Feld der Positionen mit Marxens Hilfe frei liegt, in den laufenden und in den darauf folgenden Vorlesungen zur Hermeneutik des Subjekts (1979-1980) entwickelt, stimmt er so ab, dass sie den homo oeconomicus und die Vorstellung von einer Geschichte, die sich in ökonomisch-institutionellen Formen vollzieht, ohne dass dabei die Rolle der Ökonomie selbst zur Disposition steht, nur noch als Varianten einer Selbstsorge bzw. einer Gouvernementalität auszeichnen. Er ent-naturalisiert, und dies wäre sicher im Sinne von Marx, die Formen von sozialer Herrschaft und macht Alternativen denkbar.
40 Michel Foucault, La Naissance, S. 170, 226-228.
Zu den Autoren
ANDREAS ARNDT, apl. Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin und Leiter der Arbeitsstelle Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; Vorsitzender des Vorstandes der internationalen Hegel-Gesellschaft seit 1992. Wichtigste Veröffentlichungen: Karl Marx. Über den Zusammenhang seiner Theorie, Bochum, 1985; Dialektik und Reflexion, Hamburg, 1994; Die Arbeit der Philosophie, Berlin, 2003; Unmittelbarkeit, Bielefeld, 2004, Hegels Seinslogik (Mithg.), Berlin, 2000; Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘ heute (Mithg.), Berlin, 2004; Zwischen Konfrontation und Integration. Zur Logik internationaler Beziehungen bei Hegel und Kant (Mithg.), Berlin, 2007; Schleiermacher: Briefwechsel (Mithg.), 8 Bde., Berlin und New York, 1985-2008; Schleiermacher: Schriften (Hg.), Frankfurt a. M., 1996; Schleiermacher: Vorlesungen über die Dialektik (Hg.), Berlin und New York, 2002. GEORG BOLLENBECK, Professor für Germanistische Literaturwissenschaft / Kulturwissenschaft im Fachbereich 3 Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaften der Universität Siegen. Studierte Germanistik, Geschichte, Politologie und Philosophie an der Universität Bonn. Wichtigste Veröffentlichungen: Zur Theorie und Geschichte der Arbeiterlebenserinnerungen, Kronberg/Ts., 1976; Armer Lump und Kunde Kraftmeier. Der Vagabund in der Literatur der zwanziger Jahre, Heidelberg, 1978; Oskar Maria Graf. Eine Bildmonographie, Reinbek, 1985; Till Eulenspiegel. Der dauerhafte Schwankheld. Zum Verhältnis von Produktions- und Rezeptionsgeschichte, Stuttgart, 1985; Theodor Storm. Eine Biographie mit Abbildungen, Frankfurt a. M., 1988; „Bildung“ und „Kultur“. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a. M., 1994; Tradition – Avantgarde – Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne (1880-1945), Frankfurt a. M., 1999; Semantischer Umbau der Geisteswissenschaften nach 1933 und 1945 (Mithg.), Heidelberg, 2001; Kulturelle Moderne und bildungsbürgerliche Semantik I – III (Mithg.), Wiesbaden, 2000-2003; Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München, 2007. DIRK BRAUNSTEIN promoviert über „Adornos Kritik der politischen Ökonomie“ in Berlin. Studium der Philosophie in Bochum und Köln. Wichtigste Veröffentlichung: „Kritik üben“, in: Theorie als Kritik, hg. v. Fabian Kettner, Paul Mentz, Freiburg i.Br., 2008.
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FRANK ENGSTER, promoviert an der FU Berlin über den Zusammenhang von Geld, Maß und Zeit. Wichtigste Veröffentlichung: Sohn-Rethel und das Problem einer Einheit von Gesellschafts- und Erkenntniskritik, Philosophische Gespräche 15, hg. v. Helle Panke e.V., Berlin, 2009. STEPHAN GRIGAT, Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft und am Institut für Judaistik der Universität Wien, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kampagne www.stopthebomb.net in Österreich, Studium der Politikwissenschaft in Berlin und Wien, Forschungsstipendiat in Tel Aviv. Wichtigste Veröffentlichungen: Fetisch und Freiheit. Über die Rezeption der Marxschen Fetischkritik, die Emanzipation von Staat und Kapital und die Kritik des Antisemitismus, Freiburg, 2007; Feindaufklärung und Reeducation. Kritische Theorie gegen Postnazismus und Islamismus (Hg.), Freiburg, 2006; Der Iran – Analyse einer islamischen Diktatur und ihrer europäischen Förderer (Mithg.), Wien u.a., 2008. HANS GÜNTHER, Professor em. für slavische Philologie der Universität Bielefeld. Wichtigste Veröffentlichungen: Das Groteske bei N.V. Gogol´, München, 1968; B. Arvatov, Kunst und Produktion (Mithg.), München, 1972; Marxismus und Formalismus (Mithg.), München, 1973; Die Verstaatlichung der Literatur. Entstehung und Funktionsweise des sozialistisch-realistischen Kanons in der sowjetischen Literatur der 30er Jahre, Stuttgart, 1984; Der sozialistische Übermensch. M. Gor´kij und der sowjetische Heldenmythos, Stuttgart, Weimar, 1993; The Culture of the Stalin Period, London, 1990; Socrealističeskij kanon (Mithg.), Sankt Petersburg, 2000; Sovetskaja vlast´ i media (Mithg.) Sankt Petersburg, 2006. THOMAS HAURY, Soziologe, Historiker und Dozent, promovierte 2001 mit einer Studie über Antisemitismus in der Linken. Wichtigste Veröffentlichungen: Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus, Hamburg, 2002; „Der neue Antisemitismusstreit der deutschen Linken“, in: Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte, hg. v. Doron Rabinovici u. a., Frankfurt a. M., 2004; „,… ziehen die Fäden im Hintergrund‘. No Globals, Antisemitismus und Antiamerikanismus“, in: Gerüchte über die Juden. Antisemitismus und aktuelle Verschwörungstheorien, hg. v. Hanno Loewy, Essen, 2005; „‚Das ist Völkermord!‘ Das antifaschistische Deutschland im Kampf gegen den ‚imperialistischen Brückenkopf Israel‘“, in: Exklusive Solidarität. Linker Antisemitismus in Deutschland, hg. v. Matthias Brosch u. a., Berlin, 2007. ROLF HECKER, Professor für Geschichte der Arbeiterbewegung, Vorsitzender des Berliner Vereins zur Förderung der MEGA-Edition e.V. Studierte Wirtschaftswissenschaften und Geschichte der ökonomischen Lehrmeinungen in Moskau. Wichtigste Veröffentlichungen: Mitarbeit an MEGA2-Bänden II/6, II/8, II/10, II/12, II/13; Neubearbeitungen von MEW, Bd. 1, 41, 8; Mitherausgeber der Bei-
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träge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge (jährliche Erscheinungsweise seit 1991) sowie „Erfolgreiche Kooperation. Das Frankfurter Institut für Sozialforschung und das Moskauer Marx-Engels-Institut (1924-1928)“, in: Erfolgreiche Kooperation: das Frankfurter Institut für Sozialforschung und das Moskauer MarxEngels-Institut (1924-1928), Hamburg, 2000; „Fortsetzung und Ende der ersten MEGA zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus (1931-1941)“, in: Stalinismus und das Ende der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe (1931-1941), Hamburg, 2001; Familie Marx privat. Die Foto- und Fragebogen-Alben von Marx’ Töchtern Laura und Jenny (Mithrsg.), Berlin, 2005; Grüß Gott! Da bin ich wieder. Karl Marx in der Karikatur (Mithrsg.), Berlin, 2008; Marx als Denker. Neue Forschungsergebnisse zu Werk und Biografie der 1990. Zum 125. Todestag, Berlin, 2008. CHRISTOPH HENNING, arbeitet seit 2009 am eigenen SNF-Projekt „Perfektionismus als politische Philosophie“ am Fachbereich Philosophie der Universität St. Gallen (Schweiz). Studierte Philosophie, Soziologie und Musikwissenschaften in Dresden und Berlin sowie politische Ökonomie in New York. Wichtigste Veröffentlichungen: Philosophie nach Marx, Bielefeld, 2005; Marxglossar (Hg.), Berlin, 2006; Deutsch-Jüdische Wissenschaftsschicksale (Mithg.), Bielefeld, 2006; „Was bleibt von der Marx’schen Philosophie? Zu Marx’ moralischem Perfektionismus“, in: Was bleibt? Karl Marx heute, hg. v. Beatrix Bouvier u.a., Bonn, Trier, 2009, S. 175-198. „Verbesserung des Menschen: Warum, und in welcher Hinsicht?“ in: Philosophische Rundschau 2/2009 (im Druck). SAMI KHATIB, Lehrbeauftragter und Doktorand am Institut für Kommunikationsgeschichte und angewandte Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin. Studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und Philosophie in Göttingen und Berlin, promoviert derzeit mit einer Arbeit über Walter Benjamins Geschichts-, Zeit- und Ideologiebegriff an der Freien Universität Berlin. Wichtigste Veröffentlichung: „Geschichte, Retroaktivität, Text. Erkundungen zum ‚Begriff der Geschichte‘ mit Walter Benjamin und Slavoj Žižek“, in: Retrospektivität und Retroaktivität. Erzählen, Geschichte, Wahrheit, hg. v. Marcus Andreas Born, Würzburg, 2009. OLAF KISTENMACHER, Doktorand an der Universität Bremen. Studierte Philosophie, Geschichte und Psychologie in Hamburg. Seit 2008 Mitglied im Villigster Forschungsforum zu Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus e. V. Wichtigste Veröffentlichungen: „Vom ‚Judas‘ zum ‚Judenkapital‘. Antisemitische Denkformen in der KPD der Weimarer Republik, 1918-1933“, in: Exklusive Solidarität. Linker Antisemitismus in Deutschland. Vom Idealismus zur Antiglobalisierungsbewegung, hg. v. Matthias Brosch u.a., Berlin, 2007; „From ‚Jewish Capital‘ to the ‚Jewish-Fascist Legion in Jerusalem‘. The Developement of ‚Antizionism‘ in the German Communist Party in the Weimar Republic, 1925-1933“, in: Engage Journal 3, 2006; (mit Regina Mühlhäuser), „‚Vergangenheitsbewältigung‘. Mastering the ‚Holokaust‘ in, through and with Film“, in: Atlantic Communications. The
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Media in American and German History from the Seventeenth to the Twentieth Century, hg. v. Norbert Finzsch, Ursula Lehmkuhl, Oxford, New York, 2004. FRÉDÉRIC KRIER, Berater beim Unabhängigen Gewerkschaftsbund Luxemburgs (OGBL). Studierte Geschichte und Europastudien in Luxemburg, Straßburg und Frankfurt an der Oder; Promotion 2007 bei Heinz Dieter Kittsteiner an der Europa-Universität Viadrina. Wichtigste Veröffentlichungen: Sozialismus für Kleinbürger. Pierre Joseph Proudhon – Wegbereiter des Dritten Reiches, Köln, Weimar, 2009; „Aperçu des publications de et sur Proudhon en Allemagne nazie (1933-1945). Suivi de: Lectures de Proudhon par Carl Schmitt“, in: Archives Proudhoniennes, vol. XIII, Paris, 2007; „40 années de la CGJL“, in: Conférence Générale de la Jeunesse Luxembourgeoise. 40ème anniversaire 1961-2001, hg. v. Théo Tibesart, Joël Meyer, Luxemburg, 2001. HANS-JOACHIM LENGER, Professor für Philosophie an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Wichtige Veröffentlichungen: Marx zufolge. Die unmögliche Revolution, Bielefeld, 2004; Vom Abschied. Ein Essay zur Differenz, Bielefeld, 2001; Mnema. Derrida zum Andenken (Hg. mit Georg Christoph Tholen); Fragen an Deleuze. Fragen an Wenders. Das Digitale, Hamburg, 2003; „Unsichtbarkeit. Zur An-Ästhetik des Krieges“, in: Krieg, hg. v. jour fixe initiative, Münster, 2009. In Kürze erscheint: Virtualität und Kontrolle (Hg. mit Michaela Ott, Sarah Speck, Harald Strauß), textem-Verlag. HELMUT LETHEN, Prof. em. für Neueste deutsche Literatur an der Universität Rostock; Gastprofessuren in den USA, Österreich und den Niederlanden 1996-2004; seit Oktober 2007 Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) Wien. Wichtigste Veröffentlichungen: Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit, Berlin, 2006; Cool Conduct. The Culture of Distance in Weimar Germany, Los Angeles, 2002; Plessners „Grenzen der Gemeinschaft“. Eine Debatte (Mithg.), Frankfurt a. M., 2002; gem. mit Rainer Grübel und Ralf Grütemeier, Orientierung Literaturwissenschaft, Reinbek, 2001; Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a. M., 1994; Convention and Innovation in Literature (Mithg.), Amsterdam, Philadelphia, 1989; Neue Sachlichkeit 1924-1932. Studien zur Literatur des ‚weißen Sozialismus‘, Stuttgart, 1970, 2. Aufl. 1976. BIRTE LÖSCHENKOHL, studierte Soziologie, Philosophie und Musikwissenschaften in Hamburg und Berlin, Kulturwissenschaften in Frankfurt/Oder und European Literature and Culture in Cambridge/UK und promoviert derzeit in Frankfurt/ Main mit einer Arbeit über das Motiv der Wiederholung und Wiederkehr in der Moderne. Wichtigste Veröffentlichungen: „Amor Fati – Die ewige Wiederkunft des G-WG'. Marx’ Spuren in Nietzsches Werk“, in: Nietzsche – Philosoph der Kultur(en), hg. v.
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Andreas Urs Sommer, Berlin, New York, 2008; „Die Geburt der Metaphysik aus dem Geiste des Träumers. Über den Zusammenhang von Traum und Erkenntnis in der Götzendämmerung“, in: Nietzsche im Film: Projektionen und Götzen-Dämmerungen. Nietzscheforschung 16, hg. v. Volker Gerhardt, Renate Reschke, Berlin, 2009. MATTHIAS ROTHE, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Medien- und Kommunikationswissenschaften an der Europa Universität Viadrina, Frankfurt/ Oder, Studium der Germanistik und Philosophie in Rostock, Hamburg, London. Wichtige Veröffentlichungen: Lesen und Zuschauen im 18. Jahrhundert, Würzburg, 2005; „Von den Möglichkeiten normativer Differenzierung im Kontext der Subjekttheorie Foucaults“, in: Der Mensch ist nicht gegeben, hg. v. Moritz Baßler, Arne Klawitter, Rostock, 2005; Stil, Stilbruch, Tabu, Stilerfahrung nach der Rhetorik (Mithg.), Berlin, 2008; Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte (Mithg.), Bielefeld, 2009. FRANK RUDA, wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB 626 der FU Berlin. Studierte Philosophie und Literaturwissenschaft in Bochum und Paris. Wichtigste Veröffentlichungen: Alain Badiou, Dritter Entwurf eines Manifests für den Affirmationismus (Mithg.), Berlin, 2007; Jacques Rancière, Ist Kunst widerständig? (Mithg.), Berlin, 2008; Alain Badiou, Ist Politik denkbar? (Mithg.), Berlin, 2009; „Von der Treue als subtraktiver Institution“, in: Ereignis und Institution. Anknüpfungen an Alain Badiou, hg. v. Gernot Kamecke, Henning Teschke, Tübingen, 2008; „Alles verpöbelt sich zusehends! Namenlosigkeit und generische Inklusion“, in: Soziale Systeme 14 (2008), Hb. 2, hg. v. Sina Farzin, Sven Opitz, Urs Stäheli, Stuttgart, 2008; „Was ist ein Marxist? Lenins Wiederherstellung der Wahrheit des Namens“, in: Namen. Benennung, Verehrung, Wirkung (1850-1930), hg. v. Tatjana Petzer, Sylvia Sasse, Franziska Thun-Hohenstein, Sandro Zanetti, Berlin, 2009. FALKO SCHMIEDER, seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt ,Theorie und Konzept einer interdisziplinären Begriffsgeschichte‘ am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin; vom WS 2007/08 bis WS 2008/09 Gastprofessur in Vertretung des Faches Kommunikationsgeschichte/Medienkulturen an der FU Berlin. Leiter des Forschungsprojekts „Übertragungswissen-Wissensübertragungen. Zur Geschichte und Aktualität des Transfers zwischen Lebensund Geisteswissenschaften (1930/1970/2010)“ am ZfL Berlin. Wichtigste Veröffentlichungen: Ludwig Feuerbach und der Eingang der klassischen Fotografie. Zum Verhältnis von anthropologischem und Historischem Materialismus, Berlin, Wien, 2004; „Von der Methode der Aufklärung zum Mechanismus des Wahns. Zur Geschichte des Begriffs ,Projektion‘“, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Jg. 47, Hamburg, 2005; „Für eine neue Lektüre der Feuerbach Kritik der Thesen und der Deutschen Ideologie“, in: Karl Marx und die Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert. Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge, Hamburg, 2006. Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften. Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte (Mithg.), Berlin, New York, 2008.