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German Pages 224 [225] Year 2015
Filme über sich selbst. Strategien der Selbstreflexion im dokumentarischen Film
2005-08-05 08-41-49 --- Projekt: T359.kumedi.meyer.dokumentarfilm / Dokument: FAX ID 00c391224912908|(S.
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F. T. Meyer (Dr. phil.) lehrt zur Medialität des Gesichts im Film an den Universitäten Köln, Bochum und Siegen. Seine Forschungsschwerpunkte sind der Dokumentar-, Avantgarde- und Industriefilm sowie die Darstellung des Körpers im Film.
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F. T. Meyer Filme über sich selbst. Strategien der Selbstreflexion im dokumentarischen Film
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Die vorliegende Arbeit wurde als Dissertation an der Universität Siegen, Fachbereich 3 (Medienwissenschaften) eingereicht.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2005 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: »Bilder der Welt und Inschrift des Krieges« von Harun Farocki, Deutschland 1988 Projektmanagement: Andreas Hüllinghorst, Bielefeld Herstellung: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-359-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt 1. Vorwort 7 2. Der Begriff »Realismus« als Gegenstand künstlerischer Konzeptionen 11 2.1 Verfahren der Wirklichkeitskonstruktion: eine historische Annäherung 11 | 2.2 Ansätze einer Genealogie von Subjektivität als Voraussetzung von Selbstreflexivität 24 3. Ansätze zur Wiedergabe der physischen Realität 39 3.1 »Das Leben, so wie es ist«: Naturalismus 39 | 3.2 Die Errettung der äußeren Wirklichkeit: Siegfried Kracauer 41 | 3.3 Das Verlangen nach Realismus: André Bazin 43 | 3.4 Authentizität im Dokumentarfilm 45 | 3.5 Klaus Wildenhahns Wirklichkeitskonzeption 46 4. Begriffsklärung: Selbstreflexivität versus Selbstreferentialität 51 4.1 Selbstreflexivität 51 | 4.2 Der selbstreferentielle Ausgangspunkt: Lumière 54 | 4.3 Selbstreferentialität 58 5. Von Vertov bis Kluge: Selbstreflexivität im Dokumentarfilm im historischen Längsschnitt 61 5.1 Vorüberlegungen 61 | 5.2 Selbstreflexion ex negativo: John Grierson und die britische Dokumentarfilmschule 62 | 5.3 »Der Mann mit der Kamera«: Dziga Vertov 75 | 5.4 Satire als selbstreflexive Strategie in Jean Vigos »A propos de Nice« 99 | 5.5 »Cinéma Vérité« und »Direct Cinema«: Dokumentarfilmkonzeptionen der frühen 60er Jahre 121 | 5.6 Der Akt des Schreibens: Chris Markers
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»Sans Soleil« 144 | 5.7 Die Konstruktion von Geschichte: Harun Farockis »Bilder der Welt und Inschrift des Krieges« 164 | 5.8 Von Nebensachen und blinden Regisseuren: Alexander Kluges »Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit« 176 6. Schlusswort: Selbstreflexivität, Essayismus und Postmoderne 203 6.1 Selbstreflexivität im Dokumentarfilm: die Auflösung von Linearität 205 | 6.2 Die Evidenz des Autors im Film 207 6.3 Technikverehrung, Rationalität und Überwindungsgestus: Merkmale der Moderne 208 | 6.4 Selbstreflexivität als Sicherungsinstanz des Partikularen 209 | 6.5 Ironie, Parodie und Satire: selbstreflexive Distanzierungsstrategien der Postmoderne 210 | 6.6 Selbstreferentialität bis zur Ekstase? 211 7. Bibliografie 213 8. Filmverzeichnis 221
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8. FILMVERZEICHNIS
1. Vorwort Selbstreflexivität ist ein Phänomen, das, obgleich es eine zentrale Position in der Gesellschaft und der Genealogie von Subjektivität einnimmt, als wenig erforscht gilt und dennoch überall anzutreffen ist. »Heutzutage, so ließe sich leichthin behaupten, kann wirklich alles ›selbstreflexiv‹ sein: die Fernsehserie genauso wie das Videospiel, die Computeranimation genauso wie der Werbecartoon, das Hollywoodkino genauso wie eine Dokumentation oder ein Experimentalfilm.«1 Es lässt sich demnach ein inflationärer Gebrauch eines zum bloßen Gütesiegel mutierten Begriffs feststellen, der jegliche theoretische und praktische Differenzierungskraft eingebüßt hat. Neben dem Experimentalfilm stellt besonders der Dokumentarfilm traditionell die mediale Plattform dar, um sich mit der eigenen Filmsprache selbstreflexiv auseinander zu setzen. Erstaunlich umso mehr, dass Dokumentarfilme als Objekte von Selbstreflexivität bislang kaum ausreichend untersucht worden sind. Über die Aussage, dass der Dokumentarfilm besonders aufklärerisch wirke, wenn er seine Konstruktionsprinzipien offenbare, gehen die Untersuchungsansätze bisher nämlich nicht hinaus; eine umfassende Analyse fehlt. Der Terminus »selbstreflexiver Dokumentarfilm« bildet eine Sinneinheit, die sich aus der strukturierenden Opposition zwischen dem möglichst hohen Anspruch auf Authentizität und Objektivität einerseits und seinen subjektiven Voraussetzungen andererseits ergibt. Es ist gerade dieses disjunktive Spannungsgefüge, das im Zentrum dieser Arbeit steht. Ausgangspunkt ist zunächst eine kulturhistorische Annäherung, in der zum einen die Suche nach oralen und visuellen Medien dargestellt werden soll, die geeignet erschienen, schon vor dem Dokumentarfilm Wahrheit und Wirk-
1. Amann, Frank; Kaltenecker, Siegfried; Keiper, Jürgen (Hg.) 1994: Film und Kritik. Selbstreflexivität im Film. Heft 2. Basel und Frankfurt a.M. S. 3. 7
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lichkeit »unvermittelt« zu präsentieren. Zum anderen geht es um die Vorstellung einer Genealogie von Subjektivität, die sich durch Medien erst artikuliert und entwickelt und auf deren Basis sich die spezifischen Ausprägungen von Selbstreflexivität im Dokumentarfilm niederschlagen. Die Entstehung medialer Wirklichkeit steht in einem unmittelbaren Kontext gesellschaftlicher, kultureller und technischer Entwicklungen, aus denen mimetische Konzepte resultieren, die Authentizität verbürgen sollen. Sie weisen bis in die Antike zurück. Gleiches gilt für die Untersuchung über die Entstehung des »Ichs«, die sich anschließt. Es versteht sich, dass sowohl die kulturhistorische Entwicklung von Authentizitätsstrategien als auch die Vorstellungen einer Genealogie von Subjektivität in dieser Arbeit nur andeutungsweise behandelt werden können. Eine ausführliche Darstellung differenzierter Probleme der Kulturgeschichte würde zu weit von den zentralen Überlegungen, die die Konventionen des klassischen Dokumentarfilms betreffen, wegführen. Dennoch dürfte klar sein, dass nicht mit der Fotografie, die gemeinhin als das erste mechanische Reproduktionsmittel betrachtet wird, das Objektivität ermöglichte, die Genese des Films anzusetzen ist, sondern wesentlich früher. Ebenso wenig, wie eine erschöpfende Darstellung kulturhistorischer Aspekte angestrebt wird, ist diese Arbeit als Überblick über selbstreflexive Dokumentarfilme konzipiert. So widmet sie bestimmten Filmemachern und bestimmten dokumentarischen Genres mehr Aufmerksamkeit als anderen; sie konzentriert sich auf Autoren und Werke, an denen sich bestimmte Grundzüge selbstreflexiver Filmsprache besonders klar veranschaulichen lassen. Die Abgrenzung selbstreflexiver Dokumentarfilme von benachbarten Phänomenen ist ein sehr schwieriges, ja methodisch bedenkliches Unterfangen, da selbstreflexive Formen und ihre Bezeichnungen sich im Laufe der Zeit entwickelt und verändert haben, so dass Grenzziehungen zwischen einzelnen Strategien fast unmöglich sind. Vor diesem Hintergrund erscheint ein Modell der Skalierung angemessen, bei dem die An- bzw. Abwesenheit bestimmter die Selbstreflexion konstituierender Operationen den Film näher zum Zentrum oder zur Peripherie des Untersuchungsfeldes rückt. Hinzu tritt die diskursive Komplexität von Subjektivität im Film, die nicht wirklich auszuschöpfen ist: Ein zentrales Anliegen von Selbstreflexivität liegt, besonders auch im Hinblick auf die untersuchten Dokumentarfilme seit den 60er Jahren, in der Offenhaltung des Problems der filmischen Repräsentation. 8
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1. VORWORT
Allen, die mich bei der Fertigstellung meiner Untersuchung unterstützt haben, gilt mein Dank. Von Dr. Rolf Bäumer erhielt ich – trotz des schwierigen Informationstransfers zwischen Stuttgart, Witten und Siegen – erste Anregungen in der Frühphase dieser Arbeit. Ohne die Vermittlung von PD Dr. Jürgen Kühnel hätte ich die Arbeit nicht beginnen können. Prof. Dr. Klaus Kreimeier, der diese Arbeit kontinuierlich betreut hat, verdanke ich zahlreiche Diskussionen, deren Ergebnisse mich ermuntert haben, bestimmte Konzeptionen fortzuentwickeln oder zu überdenken. Auch Martin Rehbocks ironisch-kritische Durchsicht des Manuskriptes hat meinen Blick für die Gestalt dieser Arbeit geschärft. Schließlich gilt mein Dank dem Graduiertenkolleg in Siegen, das dazu beigetragen hat, meinen Horizont während der Erstellung der Arbeit zu erweitern. Für eine letzte Durchsicht des Manuskriptes danke ich außerdem Gunther Weinell. Allumfassende Hilfe und Motivation, ohne die eine solche Arbeit nicht mit Freude geschrieben wird, verdanke ich – last, not least – meinen Freunden Dilek, Sevim, Tanja, Ide, Daniel und meinen Eltern.
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1. VORWORT
2. Der Begriff »Realismus« als Gegenstand künstlerischer Konzeptionen 2.1 Verfahren der Wirklichkeitskonstruktion: eine historische Annäherung Das Bedürfnis, einen objektiven Zugang zu einer Wirklichkeit über Medien zu erlangen, ist nicht erst mit Entstehung der Fotografie und des Films artikuliert worden. Historische Forschung zeigt, dass die inhaltliche und formale Vorstellung von Wirklichkeit eng an die jeweilige gesellschaftliche Entwicklung gebunden ist. Aus ihr resultieren vielfältige Methoden, Wirklichkeit zu erfassen und darzustellen. Auch der Dokumentarfilm basiert auf historischen und medialen Voraussetzungen, die seine kodifizierte Gestalt bestimmen und die im Rahmen selbstreflexiver Auseinandersetzungen aufgegriffen und sichtbar gemacht werden können. Grundsätzliche Theorien und historische Konstellationen, die bis heute einen Einfluss auf Methoden der Wirklichkeitsdarstellung ausüben, sollen im Folgenden paradigmatisch und im Hinblick auf die Themenstellung – d.h. ohne Anspruch auf Vollständigkeit – vorgestellt werden.
2.1.1 Die Antike: Platon und Aristoteles Verfahren, Wirklichkeit zu remodellieren und zu reorganisieren, reichen bis in die oralen Kulturen der antiken griechischen Kultur zurück. So lässt sich nachweisen, dass bereits der Mimus typisierte Vertreter bestimmter Stände in Alltagssituationen nachgeahmt hat und so das Leben zeigen sollte, »wie es ist«.1 Schon damals werden
1. Drei Bedeutungsschwerpunkte von Mimesis lassen sich feststellen. Zum ersten die direkte Nachahmung des Aussehens von Subjekten durch Rede, Lied oder Tanz. Zweitens die Nachahmung von Handlungen und drittens die Rekonstruktion 11
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Spott und Humor als Strategien eingesetzt, um Übermächtiges und Undurchschaubares zu relativieren.2 Vorweggenommen wird beim Mimus der Zusammenhang von Realismus und Aufklärung: »Was einmal der Lächerlichkeit preisgegeben worden ist, hat für eine Zeit seinen Schrecken verloren.«3 Hier lassen sich erste Ansätze erkennen, Typen nicht nur mimetisch zu charakterisieren, sondern zudem medial zu karikieren und in Frage zu stellen. Gottsched siedelt den Ursprung der Poesie bei Lieddichtern an, die in der Lage waren, Klänge der Natur nachzuahmen. Seiner Ansicht nach führten keltische Völker gereimte Lieder mit dem Zweck ein, Heldentaten mündlich besser überliefern zu können.4 Dass die Götter der »Heiden« vormals Menschen waren, zieht Gottsched als Grund dafür heran, warum sich bei den Lobgesängen für die Götter auch Spottgesänge einschlichen. Aus diesem Zusammenhang wird plausibel, warum im Griechischen ein satirisches Lied als Dithyrambus (Dithyrambe = Loblied bzw. kultisches Weihelied auf Dionysos) bezeichnet wurde.5 Tragödien und Komödien entstanden »aus den satirischen Spottliedern, die auf den Dörfern, an Fest-Tagen, von lustigen Köpfen, die Bauren zu vergnügen, gesungen wurden.«6 Was als Wirklichkeit definiert und formal dargestellt werden darf, ist bis heute – nicht zuletzt im Dokumentarfilm – eine Frage
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eines Bildes oder Abbildes einer Person oder einer Sache in materieller Form. Der Mime hatte die Aufgabe, den Lebensalltag darzustellen. Dazu hatte er zu vereinfachen, zu betonen und zu karikieren. Die Stimmigkeit der Ähnlichkeitsrelationen zwischen der Person im Alltag und der nachgeahmten Figur ist entscheidend. Vgl. Gebauer, Gunter; Wulf, Christoph 1992: Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft. Reinbek. S. 45 f. Wie Auerbach anmerkt, waren dem Realismusbegriff in der Antike enge Grenzen gesetzt: »Alles gemein Realistische, alles Alltägliche darf nur komisch, ohne problematische Vertiefung vorgeführt werden.« Auerbach, Erich 1994: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. 9. Aufl. Tübingen. Basel. S. 35. Kohl, Stephan 1977: Realismus. Theorie und Geschichte. München. S. 16. Vgl. Gottsched, Johann Christoph: »Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Vom Ursprunge und Wachstume der Poesie überhaupt.« In: Steinmetz, Horst (Hg.) 1972: Johann Christoph Gottsched. Schriften zur Literatur. Stuttgart. S. 20. Vgl. ebd., S. 25. Vgl. ebd., S. 26. 12
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2. DER BEGRIFF »REALISMUS« ALS GEGENSTAND KÜNSTLERISCHER KONZEPTIONEN
von politischer Brisanz geblieben: »Die Geschichte der Mimesis ist eine Geschichte der Auseinandersetzung um die Macht über die symbolische Welterzeugung, also die Macht, andere und sich selbst darzustellen und die Welt zu interpretieren.«7 Schon am Beispiel von Platon und Aristoteles lässt sich illustrieren, wie unterschiedlich Mimesisvorstellungen in der Antike aufgefasst worden sind. Bei Platon sind es didaktische Intentionen, die Malern und Dichtern das Recht einräumen, eine Welt des Scheins zu erzeugen, ohne einen Erkenntnisgewinn über Wahrheit zu ermöglichen. Allerdings waren bestimmte Charaktere prinzipiell ausgeschlossen, da ihre mimetische Darstellung gegen den platonischen Wahrheitsbegriff verstoßen hätte. Verboten waren die dichterische Nachahmung von Weichlingen, Wahnsinnigen und schlechten Männern sowie eine unvorteilhafte Charakterisierung von Göttern und Helden.8 Normative Determinanten im Rahmen von Wirklichkeitsinterpretationen spielen offensichtlich seit der Entstehung der Mimesis eine erhebliche Rolle. Es existiert eine lange Tradition in den Medien, die bis Platons Wirkungsästhetik zurückreicht, ausschließlich unter Einhaltung bestimmter Prämissen mimetische Verfahren zu didaktischen Zwecken einzusetzen. Ansätze, Authentizität herzustellen, lassen sich bereits früh feststellen: Die Dichter der oralen Kulturen entwickeln Mnemotechniken des Symbolgebrauchs, mit denen sie ihre dichterische Welt erzeugen, die sie – basierend auf Standardisierungen – mittels körperlicher Codes ausdrücken. Nicht nur eine psychische, sondern auch eine physische Teilhabe des Erzählers am Geschehen ist wichtig.9 Im Zentrum steht – und daher wird eine lineare Darstellung favorisiert – die Sicherung des Glaubwürdigkeitsanspruches der Erzählung. Eine fragmentarische oder gar selbstreflexive Vorgehensweise, die den Authentizitätsanspruch des Erzählers beeinträchtigen könnte, kristallisiert sich erst mit dem Entstehen einer modernen Künstlerpersönlichkeit heraus. Aus diesem Grund ist an eine Hinterfragung und Offenlegung der Konstruktionsprinzipien durch den Dichter in früheren Epochen nicht zu denken. Dies hätte seine Autorität als Erzählinstanz untergraben und ihn der Täuschung des Publikums überführt. In diesem Sinn kann bereits von einem latent
7. Gebauer; Wulf 1992: Mimesis, S. 12. 8. Vgl. ebd., S. 55. 9. Vgl. Auerbach, Erich 1994: Mimesis, S. 42 f. 13
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vorhandenen Wahrnehmungsvertrag zwischen Erzähler und Publikum gesprochen werden. Bis Mitte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts kommt oraler Mimesis eine bedeutende Funktion zu, bevor sich in Griechenland eine textgebundene Kultur durchsetzt.10 Erst als die Sprache der Dichter ihren bildhaften Charakter mit dem Aufkommen der Literatur einbüßt, wird die monopolistische Macht der oralen Erzählform zurückgedrängt. Der Begriff des schöpferischen Aktes lag bei Platon – anders als bei Aristoteles – außerhalb seiner Vorstellungskraft.11 Für Aristoteles kann Mimesis mehr leisten als unvollkommenes naturalistisches Abbilden, dennoch sieht er die Arbeit des Künstlers auf seine Funktion begrenzt, das Signifikante aus einer Materie zu extrapolieren. Materie enthält nach seiner Entelechie-Lehre immanente Formen, die durch die nachahmende Darstellung zu Tage treten. Damit determiniert er Kunst als bedeutungsstiftende Strukturleistung gegenüber einer gegebenen Wirklichkeit. Hervorzuheben ist, dass Aristoteles die Unterscheidung zwischen einer unabänderlichen, außerhalb jeder Wahrnehmung stehenden Wirklichkeit und der Welt als bloßem Abbild dieser Wirklichkeit aufgibt. Für ihn hat – im Gegensatz zu Platons Mimesis-Vorstellung – »die phänomenale Wirklichkeit Erkenntniswert für die eigentliche Wesensform der Dinge«.12 Die aristotelische Vorstellung führt zur Entstehung der Fabel bzw. des Plots und zu einer Dramatisierung der Protagonisten. Hierin äußern sich für Aristoteles die Gesetze des Lebens. Mimesis kann bei Aristoteles als Instrument zur Bildung fiktiver Welten charakterisiert werden. Die Schaffung von Wirklichkeit mit Mitteln der Inszenierung stellt für ihn ein akzeptiertes künstlerisches Mittel dar.
2.1.2 Das Mittelalter Vom Mittelalter (5. Jahrhundert) bis tief in die Zeit der Renaissance (15. Jahrhundert) gilt Gott als höchste nachzuahmende Instanz und Ausgangspunkt des Schöpferischen. Im Zentrum steht die Frage, wie die physische Abwesenheit Gottes repräsentiert werden kann. Grundlage für die Repräsentation Gottes bilden tradierte Vorstel-
10. Vgl. Gebauer; Wulf 1992: Mimesis, S. 74 f. 11. Vgl. Kohl, Stephan 1977: Realismus, S. 19. 12. Vgl. ebd., S. 29. 14
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2. DER BEGRIFF »REALISMUS« ALS GEGENSTAND KÜNSTLERISCHER KONZEPTIONEN
lungen und Bilder, die in jedes neue Werk einbezogen werden. Für die Mimesis im Mittelalter ist charakteristisch, dass antike Elemente in das christliche Denken aufgenommen werden.13 Beispielsweise setzt das Lothar-Kreuz für Kaiser Otto III. römisch-heidnische Traditionen mit christlichen Elementen in Beziehung. Ein anderes Exempel stellt das literarische Werk Libro de Buen Amor von Juan Ruiz dar. Es setzt sich in ambivalenter Weise mit Aussagen des Augustinus auseinander. Einerseits unterstützt Ruiz’ Werk die Befolgung augustinischer Bekenntnisse zum christlichen Glauben, andererseits distanziert es sich mittels Ironie von christlichen Normen. Auf diese Weise soll es den Leser provozieren, Bedeutung zu konstituieren. Ironie und Spott dienen dazu, geltende Repräsentationsansprüche der Kirche zu hinterfragen,14 gleichzeitig kann die Definition des mimetischen Vorganges als Reproduktion eines Vorbildes nicht mehr aufrechterhalten werden: »Vielmehr führt die Auseinandersetzung mit literarischen Vorbildern zu neuen Werken, die aus einer Amalgamierung heterogener Elemente bestehen.«15 Mit Ausbreitung des Buches rücken Fragen nach der Intertextualität, Fragmentarität und Selbstreferentialität sukzessive in den Mittelpunkt.16 Die transzendentale Verweiskraft der Kirche verliert in der Renaissance ihre Kraft, so dass sich schrittweise eine Neuorientierung in der Kunst durchsetzt. Es bildet sich ein individueller Anspruch des Künstlers auf »objektive Erkenntnis« heraus, der darin zum Ausdruck kommt, dass als absolut und für immer geltende Modelle der »imitatio Christi« des Mittelalters abgelehnt und durch »realistischere« ersetzt werden.17
13. Vgl. Gebauer, Wulf 1992: Mimesis, S. 93 f. 14. Nach Meinung Kohls wurde die Stiltrennungsregel der Antike im christlichen Mittelalter durch die Vorlage der Bibel aufgehoben. Fortan konnte das Ernste, Tragische und Bedeutsame auf der einen Seite und das Unbedeutende und Komische auf der anderen Seite dem Volk zugänglich gemacht werden. Dies lag vor allem an der Bibel, in der das Höchste mit dem Niedrigsten eine Verbindung einging. In der Praxis wurde allerdings das Leben der niedrigen Stände kaum ernst genommen. Vgl. Kohl 1977: Realismus, S. 42. 15. Gebauer; Wulf 1992: Mimesis, S. 95. 16. Vgl. ebd., S. 91 f. Hervorgehoben wird vor allem das auf Fragmentarität basierende Kompositionsprinzip Montaignes, das auf die Unvollkommenheit des menschlichen Wissens rekurriert und daher hier als selbstreferentiell bezeichnet wird. 17. Vgl. Kohl 1977: Realismus, S. 55. 15
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In der Malerei war die Christusdarstellung selbst zunächst mit einem Bilderverbot belegt. Legenden wurden herangezogen, um die Bilderproduktion der Maler gegenüber der Kirche zu legitimieren. Nach der Vera ikon-Legende hat eine Frau aus Mitleid Christus ein Leinentuch gereicht, mit welchem dieser sein schweißgebadetes Haupt trocknete.18 Der zurückgebliebene Abdruck des Gesichts auf dem Leinentuch gilt als Primärreliquie, die durch die Berührung mit Christus automatisch autorisiert wurde. Das göttliche Bild hat sich auf diesem Weg gewissermaßen selbst hervorgebracht. Hieraus resultiert eine ganze Bildtradition, die auf der Vera ikon beruht. Wie Sykora weiter ausführt, lässt sich im historischen Verlauf eine zunehmende Loslösung von Legenden dieser Art beobachten, mit dem Ergebnis, dass sich die Maler von ihrer mittelalterlich vorbestimmten Funktion als Gottesmaler hin zu einer gottunabhängigen, individuell bestimmten Position emanzipieren können. In die Aufnahme Gottes als Selbstbildnis, die den Status eines Zwischenmediums scheinbar vergessen lassen will, schieben sich zunehmend Bildelemente, welche die Subjektivität des Künstlers stärker im Bild präsent werden lassen. So gerät Dürers christologische Ikonografie (Albrecht Dürer, Selbstbildnis, 1500) zur Selbststilisierung des Künstlers. Auf göttliche Eingebungen, die das Bildnis legitimieren, wird verzichtet. »Der Zirkel der selbstreferentiellen Ursprungsmythen der Malerei hat sich damit dahingehend geschlossen, daß in Dürers Selbstporträt nur noch der Künstler/Autor als Ursprung seines eigenen Bildnisses auftritt.«19
2.1.3 Renaissance und Neuzeit Für Verfahren, die insbesondere auf visuelle Mimesis rekurrieren, stellt zunächst die Entwicklung der Zentralperspektive ein geeignetes Mittel dar. Die perspektivische Darstellungsmethode in der Renaissance basiert nicht mehr auf der theologisch fundierten Macht
18. Vgl. Sykora, Katharina 1996: Paragone. Selbstreflexivität im vorfilmischen Bild. In: Karpf, Ernst; Kiesel, Doron; Visarius, Karsten (Hg.): »Im Spiegelkabinett der Illusionen«: Filme über sich selbst. Arnoldshainer Filmgespräche; Bd. 13. Marburg. S. 38 f. 19. Vgl. ebd., S. 41. Auch in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts besitzen Selbstdarstellung und Kalligraphie eine lange Tradition. Vgl. hierzu Alpers, Svetlana 1985: Kunst als Beschreibung: holländische Malerei d. 17. Jh. Köln. S. 303. 16
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2. DER BEGRIFF »REALISMUS« ALS GEGENSTAND KÜNSTLERISCHER KONZEPTIONEN
der Kirche, sondern auf mathematisch-geometrischen Regeln der Wissenschaft. »Die Zentralperspektive, ein systematisierendes, konstruktives Prinzip, war die historische Bedingung und der Garant einer neuartigen Einheit der Komposition; sie ermöglichte eine wissenschaftlich begründbare, durch den ›Geist der Zeit‹ legitimierte und überzeugende ›Nachahmung der Natur‹.«20 Noch bis ins 19. Jahrhundert schrieb man der perspektivischen Konstruktion zu, Lebensechtheit zu vermitteln, aber ihre wissenschaftliche Legitimation konnte nicht aufrecht erhalten werden.21 Kennzeichnend für die Zentralperspektive ist, dass sie – im Unterschied zur Repräsentationsform der Camera obscura – einen vom Künstler vordefinierten Standort konzeptualisiert, von dem her sich das Bild in seiner vollständigen Authentizität erst erschließen kann. Einen vordefinierten Ort des Betrachtens sieht auch Johann Christoph Gottsched während einer Theateraufführung gegeben: »Die Zuschauer bleiben auf einer Stelle sitzen, folglich müssen auch die spielenden Personen alle auf einem Platze bleiben, den jene übersehen können, ohne ihren Ort zu ändern.«22 Nicht nur, dass er den für ihn unveränderbaren Standort des Zuschauers in seiner wirkungsästhetischen Konsequenz auf den inhaltlichen Charakter eines Theaterstückes überträgt, auch die Kategorien Zeit und Handlung müssen auf einer realen Referenz basieren, soll die Anschaulichkeit eines Stückes nicht herabgesetzt werden. Gottscheds poetische Ästhetik basiert auf dem Kriterium der Wahrscheinlichkeit, worunter »nichts anders als die Ähnlichkeit des Erdichteten mit dem, was wirklich zu geschehen pflegt; oder die Übereinstimmung der Fabel mit der Natur«23 zu verstehen ist. Seine Wirklichkeitsauffassung schließt »Gemeines« und »Alltägliches« aus und favorisiert stattdessen »seltsame und fürtreffliche Sachen«24, womit Gottsched sich in der Tradition eines narrativen, klassizistisch geprägten Dramenbegriffs bewegt.
20. Busch, Bernd 1989: Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie. München. Wien. S. 75.
21. Vgl. Crary, Jonathan 1996: Techniken des Betrachters: Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert. Dresden. Basel. S. 92.
22. Gottsched, Johann Christoph: »Versuch einer Critischen Dichtkunst. Von Tragödien oder Trauerspielen.« In: Steinmetz, Horst (Hg.) 1972: Johann Christoph Gottsched. Schriften zur Literatur. Stuttgart. S. 165. 23. Vgl. ebd., S. 129. 24. Vgl. ebd., S. 104. 17
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Im klassizistischen Drama erlebte die Instrumentalisierung von Objektivität und Wahrheit für die Legitimation von Machtansprüchen des Königs einen Höhepunkt: Der König allein ist dazu autorisiert, Geschichte zu produzieren. Der »hohe« Stil der französischen Tragödie ist davon geprägt, das Alltägliche und Kreatürliche von der Bühne auszugrenzen, um zu verhindern, dass Individuationsprozesse in Gang gesetzt werden.25 Der Wiederholungsmodus von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dient dazu, Raum und Zeit als universale Attribute der Substanz des Königs zu manifestieren: »Um die wahre Ordnung zu entdecken, braucht man eine einheitliche Handlung, denn nur ein straff durchgeführtes, kohärentes, von allen Seiten beleuchtetes Geschehen vermag die Natur der Dinge und die Essenzen der Personen zu zeigen.«26 Mimesis als Repräsentation der politischen Macht unterliegt der Kontrolle des Königs und seinem Symbolinventar. Formprinzipien und ein ausgeprägtes Kodifizierungssystem werden als grundlegend für ein normatives und »authentisches Drama« angesehen. Das Verhältnis von Geschichtsschreibung und Dichtung legt schon 1561 Julius Caesar Scaliger fest.27 Nach Scaligers Ansicht ist Geschichtsschreibung der »Wahrheit« verpflichtet und muss das »wirkliche« Geschehen nachahmen. Gottsched grenzt Anfang des 18. Jahrhunderts den Poeten vom Geschichtsschreiber ab. »Ein Geschichtsschreiber soll nicht nachahmen, was die Menschen zu tun pflegen oder wahrscheinlicherweise getan haben könnten, tun sollten oder würden, wenn sie in solchen Umständen befindlich wären: sondern man fordert von ihm, daß er getreulich dasjenige erzählen solle, was sich hier oder da vor Begebenheiten zugetragen.«28 Damit unterscheidet Gottsched nicht nur Geschichte von Dichtung, sondern er trennt gleichzeitig einen »faktischen« von einem »fiktionalen« Wirklichkeitsbereich.29 Die von Vertretern der Geschichtsschreibung erhobene Forderung, Geschichtsschreibung müsse Wahrheit verbürgen, hat bis heute für historische Dokumente, wie z.B. den Dokumentarfilm, hohe Geltungskraft behalten und wird im
25. 26. 27. 28.
Vgl. Auerbach 1994: Mimesis, S. 352 f. Gebauer; Wulf 1992: Mimesis, S. 176. Vgl. ebd., S. 112. Gottsched, Johann Christoph: »Versuch einer Critischen Dichtkunst. Von dem Charaktere eines Poeten.« In: Steinmetz, Horst (Hg.) 1972: Johann Christoph Gottsched, S. 40. Vgl. hierzu auch S. 85. 29. Vgl. Steinmetz, Horst (Hg.) 1972: Johann Christoph Gottsched, S. 377. 18
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2. DER BEGRIFF »REALISMUS« ALS GEGENSTAND KÜNSTLERISCHER KONZEPTIONEN
Rahmen dieser Arbeit an anderer Stelle ausführlich problematisiert.30 Die Möglichkeit eines unmittelbaren Erfassens von Bildern, wie es das Postulat der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts vorsieht, gewinnt für die Dokumentation von Ereignissen an Relevanz. Zu deren Prämissen gehörte, dass die holländischen Maler ihre Augen vorurteilsfreier benutzen wollten als andere. Alpers spricht in diesem Zusammenhang vom »Zeitalter der Beobachtung«. Die Camera obscura wird von den holländischen Malern benutzt,31 um vom Kosmos bis zum Körper alles zu beschreiben, was ihr Interesse weckt. Nicht die Darstellung überlieferten und sakrosankten Wissens steht im Mittelpunkt, sondern das Festhalten einer hohen Detailtreue von Gegenständen aus der Pflanzen- und Tierwelt, die insbesondere auch mittels Mikroskop und Teleskop gewonnen wurde.32 Schon lange vor dem Naturalismus gab es in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts eine Verknüpfung zwischen technischen Errungenschaften und dem in einem Bild »eingefangenen« Wissen. Voraussetzung ist dabei eine weitgehende Identität zwischen Sehvermögen und zeichnerischem Können, welche im künstlerischen Bild verwirklicht ist.33 Der holländischen Kunst schreibt
30. Der umgangssprachliche Gebrauch von Begriffen wie »Dokumentarfilm«, »Dokumentarreportage« und »Dokumentarspiel« – terminologisch basierend auf der Ableitung des lateinischen Begriffs »documentum« – ist dafür ein Hinweis. Vgl. Hattendorf, Manfred 1994: Dokumentarfilm und Authentizität. Ästhetik und Pragmatik einer Gattung. Konstanz. S. 44. Diese Definition ordnet »Dokumentarfilmen« die Qualität eines Beweises für die Wiedergabe von Wirklichkeit zu. Gerade das Verhältnis zwischen »offiziell« vermittelter Geschichtsschreibung und dem subjektiven Status von Erinnerungen ist von Filmemachern wie Alexander Kluge und Chris Marker aufgegriffen worden. 31. Vgl. Alpers, Svetlana 1985: Kunst als Beschreibung: holländischen Malerei d. 17. Jh. Köln. S. 88. 32. Bei der Benutzung des Mikroskops bzw. Teleskops wurde deutlich, dass das menschliche Auge nicht ausreicht, um Distanz und Größe von Gegenständen richtig einzuschätzen: »Wenn man die Relativität von Größenangaben, wie sie sich dem durch Linsen verstärkten Auge enthüllt, akzeptiert, stellt sich die Frage nach der Wahrheit oder dem Realitätsgehalt des Gesehenen. […] Wie bestimmen wir die Identität von Dingen in der Welt, wenn ihre Größe derart variiert?« Alpers 1985: Kunst als Beschreibung, S. 73. Daraus wurde der Schluss gezogen, dass Kunst hinter der Lebensnähe zurückbleibt. 33. Vgl. Alpers 1985: Kunst als Beschreibung, S. 49 f. 19
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Alpers die mediale Eigenschaft zu, »sich der Natur der Dinge anzugleichen«.34 Nicht Maß und Ordnung mit Sinn für Proportionen in der »perspektivischen« Arbeit der Italiener gelten als Vorbild, sondern die ungebändigte Fülle von Details interessiert, die man der Natur direkt zu entnehmen glaubt. Einem persönlichen Stil und Selbstausdruck übergeordnet ist die gesehene Natur. Statt unmittelbarer Begegnung mit der Natur herrscht ein großes Vertrauen in Apparate, in Vermittlungsinstanzen, welche die Natur repräsentieren können.35 Alpers hebt hervor, dass Bilder, die mit der Hilfe von Linsen erzeugt wurden, Eingang in die Kunst finden: »Kunstcharakter des Bildes und Unmittelbarkeit lassen sich offensichtlich miteinander vereinbaren.«36
2.1.4 Von der Camera obscura zur Fotografie Entscheidend mit beteiligt an der Entstehung dieses Prinzips ist die wissenschaftliche und technische Entwicklung der Camera obscura, deren Eigenschaft, eine perspektivische Darstellung abzubilden, vor allem von ungeschulten Malern eingesetzt wurde. Mit ihrer Hilfe wurden im Schnellverfahren perspektivische Darstellungen nachgezeichnet. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Reproduktionsfähigkeit von Wirklichkeit hat sich die Camera obscura stilbildend auf die holländischen Maler ausgewirkt. Anstatt sich mit der Mimesis der Wirklichkeit kritisch auseinander zu setzen, kopierten die Künstler die Abbildungsqualität des Apparats.37 Der Stellenwert der Camera obscura als Wahrnehmungsmodell verdeutlicht zudem Lockes Zimmermetapher. Er fasst den Verstand als einen abgeschlossenen Raum auf, in den durch Öffnungen Ideen der Umwelt hineinfinden. Der Camera obscura kommt dabei die Funktion des menschlichen Geistes zu: Dieser überwacht die Übereinstimmung zwischen äußerer Welt und innerer Repräsentation, mit dem Ziel, alles Regelwidrige auszuschließen.38 Ausgangspunkt in der holländischen Malerei ist die Überle-
34. 35. 36. 37. 38.
Vgl. ebd., S. 100. Vgl. ebd., S. 88. Vgl. ebd., S. 89. Vgl. ebd., S. 87. Vgl. Locke, John 1976: Über den menschlichen Verstand. 3. Aufl., unveränd. Nachdr. in Bd. 1. Hamburg. S. 185. 20
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2. DER BEGRIFF »REALISMUS« ALS GEGENSTAND KÜNSTLERISCHER KONZEPTIONEN
gung, »Wahrnehmung müsse als die Entstehung des Bildes auf der Netzhaut des Menschen verstanden werden«.39 Kepler definiert vor diesem Hintergrund das menschliche Auge als einen mechanischen Erzeuger von Bildern und das Sehen als Bildermachen. Schon seit der Antike wurde die Lochkamera, die als Vorläufer der Camera obscura gilt, für astronomische Beobachtungen eingesetzt. Kepler setzt sich mit der Optik auseinander und untersucht 1604 das Auge, wobei er feststellt, dass Sehen durch ein Netzhautbild geformt wird, das Kepler, so Alpers, »ausdrücklich als Bild oder Gemälde bezeichnete«.40 Die Entstehung eines Bildes im Auge erfolge analog gemäß dem Prinzip der holländischen Malerei: »Sie [die holländische Kunst – der Verfasser] verändert nichts an der Wirklichkeit, sie schildert die Dinge in ihrer visuellen Gegebenheit.«41 Dabei begreifen die holländischen Künstler das Bild als Fläche, auf der das Geschehen widergespiegelt wird. Das Abbildungsverhältnis von Bildern, die auf der Netzhaut entstehen, beziehen sie auf ihre künstlerische Konzeption, Bilder wiederzugeben: »Die holländischen Maler wollen die Welt ohne jede Vermittlung, ohne einen Zwischenraum zwischen Welt und Bild beschreiben.«42 Alpers zählt das Fragmentarische, die willkürliche Rahmung und die Unmittelbarkeit zu den Affinitäten zwischen der holländischen Malerei und ersten fotografischen Gehversuchen. Die Anfänge der Fotografie sind mit einem Enthusiasmus verbunden, der dank ihrer technischen Reproduktionsmöglichkeiten die Vorstellung etabliert, »die Photographie gebe der Natur das Mittel an die Hand, sich selbst, ohne Hilfe des Menschen, zu reproduzieren«.43 Wie Busch betont, avanciert die holländische und flämische Malerei zur typisch bürgerlichen Malerei des 19. Jahrhunderts. Seiner Meinung nach nehmen die Künstler der Biedermeierzeit wichtige Eigenschaften der Fotografie vorweg, die schon Alpers in der Epoche der holländischen Maler entdeckt hat: eine bewusste Detailtreue und die Fixierung eines überschaubaren Wirklichkeitsausschnitts. Im Mittelpunkt der Biedermeierzeit stand nicht der Versuch, sich mit der
39. 40. 41. 42. 43.
Busch 1989: Belichtete Welt, S. 89. Alpers 1985: Kunst als Beschreibung, S. 91. Gebauer; Wulf 1992: Mimesis, S. 209. Vgl. ebd., S. 211. Alpers 1985: Kunst als Beschreibung, S. 106. 21
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Wirklichkeit auseinander zu setzen, sondern das Bestreben, sich in ihr behaglich einzurichten und die Widrigkeiten der historischen Tendenzen zu verdrängen.44 Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert stellt die Camera obscura das Paradigma dar, mit dessen Hilfe der Status und die Möglichkeiten des Sehens beschrieben werden. Zum einen wird eine scharfe Trennung der Repräsentationsräume von innen und außen mit dem erkenntnistheoretischen Modell der Camera obscura verbunden, zum anderen verkörpert die Camera obscura die Vorstellung, wonach sich Licht von Punkt zu Punkt bewegt.45 Dass Licht von einem göttlichen Punkt ausstrahlt (und Licht sich aus Strahlen zusammensetzt), war zudem theologisch fundiert. Um 1820/1830 werden die Implikationen, die das Wahrnehmungsmodell der Camera obscura beinhaltet, brüchig. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wird nicht nur die Identität des Lichtes als etwas autonom Gegebenes immer problematischer, auch die Erkenntnis, dass Sehen an die Physiologie des menschlichen Körpers gebunden ist, führt zu einem Paradigmenwechsel. Die Gleichzeitigkeit des Bildes in der Camera obscura mit dem äußeren Objekt, wie sie noch bei Locke nie in Zweifel gezogen wurde, unterliegt in der Folgezeit einer sukzessiven Auflösung. Sowohl Aristoteles als auch Locke gingen bei ihren Theorien noch von der Gleichzeitigkeit der einfallenden wie ausgesendeten Lichtstrahlen aus. Mit der Seherfahrung im 19. Jahrhundert und der fortschreitenden Modernisierung gerät die apodiktische Behauptung von Wahrheit, wie sie durch die Camera obscura verkörpert wird, zunehmend unter Legitimationsdruck.46 Das Aufkommen optischer Geräte wie Stereoskop und Phenakistiskop (wörtlich: Augentäuschung) lässt terminologische Rückschlüsse über Wahrnehmung zu: Sinnliche Erfahrung ist grundsätzlich ein Erfassen von Unterschieden. Auf die Genealogie dieses den Betrachter zum Untersuchungsgegenstand erhebenden Theorieansatzes wird im folgenden Kapitel stärker eingegangen. Erwähnenswert ist an dieser Stelle, dass vor allem zwei Gründe genannt werden, warum die Fotografie optische Instrumente wie das Stereoskop verdrängte: Erstens wurde der körperliche Kontakt mit der Apparatur, die das Stereoskop voraussetzt, unakzeptabel. Zweitens begünstigte die Eigenschaft, dass durch das
44. Vgl. Busch 1989: Belichtete Welt, S. 131 f. 45. Vgl. Crary 1996: Techniken des Betrachters, S. 92 f. 46. Vgl. ebd., S. 26. 22
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Stereoskop eine referentielle Illusion gebrochen wird, die Verbreitung der Fotografie: »Die Fotografie besiegte das Stereoskop als Mittel des visuellen Konsums […], weil sie die Fiktion, das ›freie‹ Subjekt der Camera obscura sei noch immer möglich, wiederbelebte und fortsetzte.«47 William Henry Fox Talbot (1800-1877) begründet das Negativ-Positiv-Verfahren in der Fotografie. Talbots Interesse an der Fotografie resultiert aus dem Diskrepanzverhältnis zwischen seinen Reiseeindrücken und den – für ihn unbefriedigenden – abstraktzeichnerischen Wiedergabemöglichkeiten unmittelbarer Naturerlebnisse. Bereits in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts werden Zeichnungen bei der Beschreibung von Städten bevorzugt, da Feder und Papier leichter handhabbar sind und ihnen nicht zuletzt die Vermittlung eines Eindrucks intensiver Lebensnähe zugewiesen wird. Die Verwendung von Pinsel, Farbe und Leinwand beschränkt sich in der Regel auf den häuslichen Bereich.48 Im Zusammenhang mit Landkarten und Bildern wird häufig von »graphischen Aufzeichnungen« gesprochen, da mit ihnen die Vermittlung von Lebenswirklichkeit verbunden ist. »Graphisch« kann sowohl »mit Stift oder Feder gezeichnet« bedeuten als auch »lebendig oder lebensnah beschreibend«.49 Der Maler Hoogstraten behandelt Landkarten in seiner Abhandlung über Kunst unter dem Kapitel Malerei, weil er Zeichnen als eine Spielart des Schreibens versteht. Dies steht ganz im Geist der »Descriptio«, worunter ein genaues Registrieren der Welt verstanden wurde.50 Talbots Motivation, die Flüchtigkeit des Augenblicks zu konservieren, steht unter ähnlichen Vorzeichen; sein Vorhaben gewinnt mit der Entwicklung der Fotografie neue Dimensionen.51 Begriffe wie »einfangen«, »bannen« und »festhalten«, die Talbot bei der Entdeckung und Definition seiner fotografischen Technik angewandt hat, verweisen nicht nur auf den Glauben, mit den Mitteln der Fotografie einen menschlichen Machtzuwachs über die Vergänglichkeit der gegenständlichen Welt erhalten zu haben, sondern rekurrieren besonders auf die Hoffnung, mit Hilfe eines technischen Reproduk-
47. 48. 49. 50. 51.
Vgl. ebd., S. 139. Vgl. Alpers 1985: Kunst als Beschreibung, S. 244 f. Vgl. ebd., S. 270. Vgl. ebd., S. 248. Vgl. Busch 1989: Belichtete Welt, S. 189. 23
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tionsverfahrens Wirklichkeit authentisch abbilden zu können.52 Das hier deutlich werdende Bemühen, subjektive Bedingungen bei der Reproduktion von Bildern auszuschalten, nimmt Forderungen vorweg, wie sie mit der technischen Entwicklung des Films hinsichtlich einer »objektiven« Wiedergabemöglichkeit von »Wirklichkeit« aufgestellt wurden. Die »Exklusivität der Zeichen« wird mit Reproduktionstechniken wie der Fotografie, die eine bedürfnisorientierte Vervielfältigung ermöglichen, überwunden: Imitationen, Kopien und Fälschungen entstehen und erschweren eine Kontrolle. Es entstehen im 19. Jahrhundert neue soziale Klassen, die in der Lage sind, das aristokratische Monopol der Zeichen aufzulösen. »Das Problem der Mimesis ist hier kein ästhetisches Problem, sondern eines der gesellschaftlichen Macht, der Macht, Äquivalenzen herzustellen.«53 Die historisch bereits abgeschlossene Herausbildung von Subjektivität respektive die Vorstellung von einem Ich bildet die Voraussetzung, selbstreflexive Verfahren von Wirklichkeit zu entwickeln. Aus diesem Grund sollen skizzenhaft einige historische Entwicklungen aufgezeigt werden, die grundlegend für die Herausbildung und Annahme eines autonomen Ichs sind.
2.2 Ansätze einer Genealogie von Subjektivität als Voraussetzung von Selbstreflexivität 2.2.1 Auf dem Weg zur modernen Künstlerpersönlichkeit: Montaigne Die Genealogie von Subjektivität entzieht sich einer klar umrissenen Entstehungsgeschichte und einer exakten Definition. Die Konstruktion von Subjektivität kann nur situativ im jeweils vorherrschenden historischen Kontext geklärt werden. Im Rahmen dieser Arbeit sollen zentrale Komponenten von Subjektivität aufgezeigt werden, die nicht den Anspruch erheben, das ganze Feld abzuschreiten. Subjektivität kann gebunden sein an die Genieästhetik des 18. Jahrhunderts, in der dem Autor der Status eines autonom empfindenden und handelnden Subjektes zugesprochen wurde. Aus dieser Perspektive ist die Klärung von Subjektivität an die ungelöste Frage nach der Bestimmung der Existenz des Autors gekoppelt. In der
52. Vgl. ebd., S. 192. 53. Crary 1996: Techniken des Betrachters, S. 23. 24
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Antike steht nicht die Ergründung von Autorschaft zur Disposition, sondern die philosophische Erkenntnisproblematik. Erst nachdem Denken und Sprechen als nicht deckungsgleich aufgefasst worden sind, stellt sich intellektuelle Distanz gegenüber der Entstehung von Texten ein.54 So basieren noch die Grundzüge des Subjektes bei Augustinus auf Gottergebenheit. Augustinus richtet seinen Blick ins Innere, um auf diesem Weg göttliche Wahrheit zu erfahren; der daraus resultierende Selbstbezug untersteht noch der Legitimation durch Gott.55 Gewissheit, die sich durch Zweifel herausbildet und auf Descartes’ Methode vorausweist, ist bei Augustinus an den Glauben gekoppelt. Dennoch ist die Entstehung des modernen Subjektes nicht, wie Kleinschmidt betont, mit Descartes, sondern bereits mit Montaigne anzusetzen.56 Denn im Unterschied zu Augustinus benutzt Montaigne das Mittel der Introspektion nicht, um die Stimme Gottes zu empfangen und sein Dasein der göttlichen Autorität und Urteilskraft zu unterwerfen, sondern um sich selbst zu sammeln und die eigene Urteilsfähigkeit zu schärfen.57 Bürger setzt Montaigne an den Anfang moderner Subjektkonzeptionen, »weil er anders als Augustinus für seine Selbsterkundung keinen transzendenten Adressaten mehr braucht und das eigene Dasein nicht mehr durch das religiöse Schema von Weltverfallenheit und Leben in Gott perspektiviert.«58 Für Starobinski ersetzt Montaigne die Idee eines unveränderlichen Seins durch ein autonomes, nicht transzendiertes Sein.59 Auch Müller-Funk stimmt der Ansicht Starobinskis zu, dass die moderne neuzeitliche Subjektivität mit Montaigne begründet wird.60 Nicht nur Montaignes Herangehensweise, sich als Person im
54. Vgl. Kleinschmidt, Erich 1998: Autorschaft. Konzepte einer Theorie. Tübingen. Basel. S. 26.
55. Vgl. Bürger, Peter 1998: Das Verschwinden des Subjektes. Eine Geschichte der Subjektivität von Montaigne bis Barthes. Frankfurt am Main. S. 30 f.
56. Vgl. Kleinschmidt, Erich 1998: Autorschaft, S. 61. 57. Vgl. Starobinski, Jean 1993: Montaigne. Denken und Existenz. Übersetzt von Hans-Horst Henschen. Frankfurt. S. 29. Und Enzensberger, Hans Magnus (Hg.) 1998: Michel de Montaigne: Essais. Erste Moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett. Frankfurt a. M. 58. Bürger, Peter 1998: Das Verschwinden des Subjektes, S. 218 f. 59. Vgl. Starobinski, Jean 1993: Montaigne. Denken und Existenz, S. 325. 60. Vgl. Müller-Funk, Wolfgang 1995: Erfahrung und Experiment: Studien zur Theorie und Geschichte des Essayismus. Berlin. Klagenfurt. S. 63. 25
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Werk zu thematisieren, liegt im Erkenntnisinteresse dieser Arbeit; auch sein Streben, die Grenzen der menschlichen Vernunft aufzuzeigen, ist hier von Bedeutung, denn es wirkt bis heute im essayistischen Verfahren fort. Das Subjekt tritt als forschendes und als erforschtes auf. Nicht allein aus diesem Grund unterscheidet sich Montaignes Lebenskonzept radikal von dem des Augustinus: Weder unterliegt sein Leben göttlichen Interventionen, noch existiert für Montaigne ein himmlisches Paradies, für das es sich lohnen würde, sein alltägliches Leben darauf auszurichten. Montaigne sieht sich vielmehr irdischen Einflüssen wie Krankheiten und Alterungsprozessen ausgesetzt, die seine Wahrnehmung beeinflussen. Nicht die Sündhaftigkeit des menschlichen Körpers gilt es zu beherrschen, sondern es muss akzeptiert werden, dass dem Körper ein unabhängiger Status zukommt, der sich dem Willen widersetzt: Das Ich und der Körper stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander.61 Die Miteinbeziehung des Körpers beinhaltet für Montaigne sowohl den Kontakt zur Wirklichkeit als auch das Bekenntnis, als Mensch dem irdischen Leben verhaftet geblieben zu sein.62 Der Körper ist ein Stück der Welt, ein Teil der Natur. So liegt für Auerbach im Wesen der Natur der Grund für die Unbeständigkeit des Menschen.63 Die Übereinstimmung des Ichs mit der Natur findet ihren Ausdruck in der Offenbarung der inneren »Spontaneität«. Es geht nicht um Wahrheitssuche, sondern darum, die Evidenz der Natur zu akzeptieren und sie gelten zu lassen. Den Unregelmäßigkeiten der Natur folgen heißt, universale Weisheit erlangen zu können.64 Die Außenwelt interessiert Montaigne jedoch nur als Indikator und Erreger seiner Handlungen, keineswegs strebt er ihre Untersuchung an.65 Im vorwärtstreibenden Schwung der Selbstumkreisung artikuliert sich für Montaigne sowohl die umfassendste Selbstreflexion als auch die »intensivste und vollständigste Form von Handeln«.66 Hierunter versteht Montaigne die Zweckungebundenheit seines Schreibens; im Vordergrund steht bei so grundsätzlichen Handlungen wie Neh-
61. Vgl. Bürger, Peter 1998: Das Verschwinden des Subjektes, S. 36. 62. Vgl. Starobinski, Jean 1993: Montaigne. Denken und Existenz, S. 30. 63. Vgl. Auerbach, Erich 1994: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. 9. Aufl. (1. Aufl. 1946). Tübingen. S. 271-296, hier S. 275.
64. Vgl. Starobinski, Jean 1993: Montaigne. Denken und Existenz, S. 326. 65. Vgl. Auerbach, Erich 1994: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. S. 271-296, hier S. 278.
66. Starobinski, Jean 1993: Montaigne. Denken und Existenz, S. 343. 26
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men, Betasten und Erfassen allein die persönliche Erfahrung.67 Handeln wird nur in Richtung auf den Handelnden selbst als sinnvoll erachtet. Damit dies gelingen kann, muss das Bewusstsein in einem Zustand permanenten Misstrauens verharren, um die trügerischen Einwirkungen der Außenwelt abzuwehren.68 Nach Starobinski muss Montaignes Anklage der Betrügereien der Lebenswelt notwendigerweise eine Idee von Wahrheit zugrunde liegen. Hinter dieser Idee lässt sich aber keine konsistente Kontur von Wahrheit ausmachen. Vielmehr geht es Montaigne zunächst nur darum, Missmut über die Heuchelei zum Ausdruck zu bringen. Die Abkehr vom Schein geschieht auf einer räumlichen Ebene, im SichEntfernen vom scheinhaften Leben.69 Montaignes Rückzugsgebiet ist sein Turm, in dem er über das Leben in Zurückgezogenheit nachdenkt. Er verfolgt mit der Wahl der Einsamkeit das Ziel, Freiheit zu erreichen. Aber eine Umkehrung erfolgt: Melancholie und Kummer bedrohen die in der Einsamkeit erhoffte Freiheit. Die Souveränität der Psyche unterliegt dem Eindringen von störenden Geisteskräften. »Die dichte Intimität, die Montaigne in sich erschaffen wollte, die Fülle, die er an die Stelle der äußeren Zerstreuung zu setzen wünschte: nichts von alledem läßt sich erreichen.«70 Montaignes »Essais« markieren den Beginn autobiografischen Selbstverständnisses: erstens durch die Selbsttransparenz des Ichs, zweitens durch seinen Anspruch »unverfälschter Wiedergabe der eigenen Erfahrung« und schließlich drittens durch die Annahme, sein »Ich-Zustand« könnte über das Medium der Schrift zum Ausdruck kommen.71 In der flexiblen und sachlichen Haltung, mit der Montaigne den Gegebenheiten seines Gegenstands auf der Suche nach Erkenntnis gegenübertritt, sieht Auerbach die Entstehung einer wissenschaftlichen Methode. Dabei sind Experimente ein notwendiger Bestandteil, um einen Gegenstand möglichst genau zu beschreiben.72 Mit Montaigne, dessen Werk eine Selbstthematisierung, ein ästhetisches Bewusstsein sowie die Problematisierung der sinnlichen Erfahrungen kennzeichnet, kann sowohl der Beginn der
67. 68. 69. 70. 71. 72.
Vgl. ebd., S. 344. Vgl. ebd., S. 28. Vgl. ebd., S. 20 f. Vgl. ebd., S. 147. Vgl. Bürger, Peter 1998: Das Verschwinden des Subjektes, S. 36. Vgl. Auerbach, Erich 1994: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. S. 271-296, hier S. 277. 27
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wissenschaftlichen Methode angesetzt werden als auch der Beginn der Autorschaft im Sinne der Definitionen der Moderne.73 Die Problemlage, dass das auktoriale Ich von der Sprache abhängig ist, durch die es als Ich vermittelt wird, stellt sich nicht nur bei Montaignes »Essais«, auch in der weiteren Diskussion selbstreflexiver Medien stellt sich die Frage nach der Präsenz des Autors im Werk. Dieser Zusammenhang wird eingehender im historischen Längsschnitt bei der Analyse selbstreflexiver Filme behandelt.
2.2.2 Rationalität und Wahrnehmung: Descartes Nicht unmittelbare Auseinandersetzung mit der Welt, sondern Abgeschiedenheit bei der Suche nach Gewissheit kennzeichnet eine Gemeinsamkeit zwischen Montaigne und Descartes. Doch während Montaigne mit Büchern kommuniziert, will sich Descartes ausschließlich mit seinen Gedanken auseinander setzen.74 Montaignes Leitmotiv des »ich fühle« setzt sich bei Descartes zu der Gewissheit des »ich denke« durch. Während bei Montaigne der unabschließbare Erfahrungsgewinn des eigenen Ichs im Mittelpunkt steht und er »die zeit-typische Erfahrung der Unbeständigkeit aller irdischen Dinge neu zu perspektivieren«75 vermag, favorisiert Descartes das allgemein abstrakte Ich als Ausgangspunkt sicheren Wissens. Descartes (1596-1650) erhebt in seinem methodischen Skeptizismus den Zweifel zum Paradigma des Denkens: »Gewiß ist nur, daß ich bestimmte Vorstellungen habe und daß ich wahrzunehmen scheine; nicht aber, daß meine Vorstellungsverbindungen wahr und meine Wahrnehmungsinhalte wirklich sind.«76 Platons Erbe der »angeborenen Idee« bildet für Descartes die Grundlage einer Ablehnung sinnlicher Wahrnehmung.77 Descartes vertritt nicht nur die Ansicht, dass die eigentliche Erkenntnis durch sinnliche Wahrnehmung verunreinigt wird;78 darüber hinaus kons-
73. 74. 75. 76.
Vgl. Starobinski, Jean 1993: Montaigne. Denken und Existenz, S. 442. Vgl. Bürger, Peter 1998: Das Verschwinden des Subjektes, S. 37. Vgl. ebd., S. 35. Gabriel, Gottfried 1993: Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Von Descartes zu Wittgenstein. Paderborn. München. Wien. Zürich. S. 35-36. 77. Vgl. Descartes, René 1954: Meditationen. Über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen. Übersetzt und Herausgegeben von Artur Buchenau. Hamburg. S. 30 und 32. 78. Vgl. ebd., S. 65 f. 28
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tatiert er auch, dass visuelle Beobachtung einem Bewusstwerden der bereits implizit mitgegebenen Idee im Wege steht. Aus diesem Grund muss der Rationalismus das eigentliche Denken von der Eigentümlichkeit des bildlichen Vorstellens befreien. Nach Gabriel ist reines Denken für Descartes nicht anschaulich, sondern begrifflich: »Während der Empirismus zumindest die Tendenz hat, Denken im Prinzip als ein bildliches Vorstellen oder als Trennen und Verknüpfen von bildlichen Vorstellungen aufzufassen, kann der Rationalismus dem wegen seiner Abwertung dieser Erkenntnisquelle nicht zustimmen.«79 Descartes geht davon aus, dass man sich Objekte denken kann, ohne dass sie an eine »Vermittlung der Sinne« gekoppelt sein müssen.80 Dabei hat die Vernunft im Ich ihren Ort. Der Skeptizismus Montaignes ist ein anderer: Er wird mit dem Ziel, Gewissheit zu finden und nicht resignativ zu verharren, in einen methodischen Zweifel umgewandelt. Nur die Kontrolle über den Zustand des Ichs ermöglicht sichere Erkenntnis, so dass die von Montaigne vertretene Einheit von Körper und Geist bei Descartes aufgespalten werden muss. Das Ich bei Descartes unterliegt Anstrengungen, denn »als erkennendes muß es sich selbst beherrschen«.81 Das Geist-Ich erforscht die mechanische Ordnung der Natur, um so die erkannten Kräfte nutzbar zu machen. Die Antriebskräfte des Menschen müssen dazu rationalisiert und in Produktivität verwandelt werden. Die auf dieser Basis eingeführte Rationalität wirkt sich auch auf das Sehen aus und mündet in der maßgeblichen Herausbildung von visuellen Konventionen. Interessant ist vor allem das bis heute bestehende Spannungsverhältnis zwischen Rationalität und Irrationalität, wie es in dem Gegensatzpaar Descartes und Montaigne figuriert: Während Descartes an die Denkfigur der sicheren Erkenntnis glaubt, stellt Montaigne die Unbeständigkeit, Widersprüchlichkeit und Grenzen der menschlichen Erfahrung in den Vordergrund. Für Descartes hat Schreiben nicht den Status des Selbstzwecks, sondern es stellt eine Form dar, um seine Gedanken auszudrücken. Daher verwundert es nicht, dass bei Descartes der wissenschaftliche Traktat seine Berechtigung besitzt.82 Auf der Grundlage dieses rationalen Denkens verfolgt Descartes den Ansatz, die Natur mit dem Bestreben zu er-
79. 80. 81. 82.
Gabriel 1993: Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 41. Vgl. Descartes 1954: Meditationen, S. 54. Bürger, Peter 1998: Das Verschwinden des Subjektes, S. 40. Vgl. ebd., S. 38. 29
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klären, die Zukunft kalkulierbar zu machen. Montaigne hingegen betreibt eine phänomenologische Betrachtung: Er nimmt die Erscheinungen mit dem Bewusstsein war, dass sie sich dem vollen Zugriff des Subjektes entziehen. Das wahre Sein bleibt hinter den Erscheinungen unerreichbar versteckt. Diese Haltung sperrt sich bis heute gegen die Ambitionen der Wissenschaft, die von dem Bemühen geprägt ist, den Schein zu überwinden und Gewissheit zu erlangen. So konstatiert Starobinski: »Der Diskurs der modernen Wissenschaft entwickelt sich künftig in einer unaufhörlichen Polemik gegen die Trugbilder der sinnlichen Wahrnehmung und der undisziplinierten Einbildungskraft.«83 Hinter den Polen Descartes und Montaigne lassen sich Ansätze erkennen, die bis in die Gegenwart der modernen Medien hineinreichen. Auf der einen Seite aufklärerisch-ambitionierte Ansätze, die dem Primat der Wahrheitsfindung unterliegen, auf der anderen Seite künstlerische bzw. essayistische Verfahren, die Wahrnehmungskonventionen problematisieren und eine skeptische Grundhaltung gegenüber jedwedem Form- und Wahrheitsanspruch und gegen die Paradigmen der Wissenschaft einnehmen.84
83. Starobinski, Jean 1993: Montaigne. Denken und Existenz, S. 440. 84. Im Ausgangsfeld der Subjektivität, das einen Raum möglicher Subjektbestimmungen eröffnet und begrenzt, sieht Bürger neben den Polen Montaigne und Descartes auch Pascal, der 1670 seine Aphorismensammlung veröffentlicht. Dieser bekämpft mit Montaigne Descartes’ Vernunftparadigma, ohne mit seiner IchKonzeption an die reichen Erfahrungen wie bei Montaigne anzuknüpfen. Vielmehr lehnt Pascal beide Projekte ab und postuliert die Scheinexistenz des Subjektes. Er hebt immer wieder »das Ausgeliefertsein des Ichs an Einbildungskraft und Angst« hervor. Der Kernaspekt von Pascal ist, dass der Mensch immerzu bemüht ist, seiner eigenen Leere entweder durch die Hinwendung zu Gott oder durch Zerstreuung zu entkommen. Sobald der Mensch alleine ist, setzt er sich dem Lebensüberdruss (ennui) aus. Das enge Beziehungsgefüge, in das Montaigne, Descartes und Pascal miteinander eintreten, stellt für Bürger die Ausgangskonstellation moderner Subjektivität dar, wie sie in unterschiedlichen Facetten und Modifikationen immer wieder in Erscheinung tritt. Bis ins 18. Jahrhundert verschmelzen die divergierenden Subjektkonzeptionen immer mehr. Vgl. Bürger, Peter 1998: Das Verschwinden des Subjektes, S. 45 f. 30
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2.2.3 Subjektivität durch physiologische Voraussetzungen: das menschliche Auge Zeitlich parallel zu Descartes’ Rationalismus, den er in einem Zustand meditativer Selbstversenkung zu erreichen glaubt,85 setzt auch die technische Entwicklung der Camera obscura einen Individuationsprozess in Gang: Ein dunkler Raum wird als isoliert und abgeschlossen definiert. Damit verbunden ist eine Askese, die sich in einer Zurückgezogenheit und Isolation von Welt und Öffentlichkeit niederschlägt. Letztendlich wird das Sehen entkörperlicht. Eine vom Alltagsleben abgeschiedene Wahrnehmungssituation nimmt auch Locke wahr, wenn er den Weg der Erkenntnis in den Verstand beschreibt: »Denn meines Erachtens ist der Verstand einem Kabinett gar nicht so unähnlich, das gegen das Licht vollständig abgeschlossen ist und in dem nur einige kleine Öffnungen gelassen werden, um äußere, sichtbare Ebenbilder oder Ideen von den Dingen der Umwelt einzulassen.«86 Auch wenn – im Gegensatz zu Descartes – bei Locke die sinnliche Wahrnehmung den Stellenwert einer primären Operation im Rahmen der intellektuellen Fähigkeiten des Subjektes erhält87 – den Moment der Selbstreflexion verlegt Locke – wie schon Descartes – ins Innere: »Während der Geist […] Ideen von außen aufnimmt, gewinnt er, wenn er den Blick nach innen auf sich selbst richtet und sein eigenes Verhalten gegenüber seinen Ideen beobachtet, auf diesem Weg neue Ideen, die sich ebenso gut dazu eignen, die Objekte seiner Betrachtung zu werden, wie irgendwelche von denen, die ihm durch Dinge der Umwelt zugeführt werden.«88 Crarys These, »daß die Camera obscura ein Modell für die Beobachtung empirischer Phänomene und zugleich für nachdenkliche Introspektion bzw. Selbstbeobachtung war«89, erweist
85. »Ich will jetzt meine Augen schließen, meine Ohren verstopfen und alle meine
86. 87. 88. 89.
Sinne ablenken, auch die Bilder der körperlichen Dinge sämtlich aus meinem Bewußtsein tilgen, oder doch, da sich dies wohl kaum tun läßt, sie als eitel und falsch gleich nichts achten; ich will mich nur mit mir selbst unterreden, tiefer in mich hineinblicken und so versuchen, mich mir selbst nach und nach bekannter und vertrauter zu machen.« Descartes 1954: Meditationen. S. 27. Locke, John 1976: Über den menschlichen Verstand, 3. Aufl., unveränd. Nachdr. in Bd. 1. Hamburg. S. 185. Vgl. ebd., S. 166 f. Vgl. ebd., S. 138. Crary 1996: Techniken des Betrachters, S. 50. 31
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sich tendenziell als richtig, auch wenn Locke bei der Charakterisierung seines Wahrnehmungsmodells von dem Konstruktionsprinzip der Camera obscura abweicht, indem er von mehreren Öffnungen spricht, durch die Licht von außen in einen abgeschlossenen Raum eintritt. Bereits Kepler entdeckt, dass Sinnestäuschungen nicht allein in der Konstruktion der Lochkamera zu suchen sind, sondern in der Funktion des Auges, ohne dabei das Paradigma des »gemalten« und damit objektiven Bildes nach Vorbild der holländischen Maler aufzugeben.90 Alpers betont: »Die Leistung Keplers war es, das physikalische Problem der Entstehung von Netzhautbildern (die gesehene Welt) von den psychologischen Problemen der Wahrnehmung und Empfindung zu trennen. Die so definierte Optik beginnt mit dem das Licht empfangenden Auge und endet bei dem Bild auf der Netzhaut.«91 Kepler beschränkt sich auf das optische Bild im Auge und setzt sich nicht mit dem Vorgang der psychischen Wahrnehmung auseinander, wie dies rund zwei Jahrhunderte später Goethe tun wird. Wie Descartes steht auch Kant mit seiner subjektiven Erkenntnistheorie im Gegensatz zur unmittelbaren, »sinnlichen« Erkenntnis, der »Evidenz der Dinge«.92 Im Vorwort zur zweiten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« (1787) formuliert Kant die »Kopernikanische Wendung«, mit der eine neue Organisation und Positionierung des Subjektes stattfindet. Das Sehen verliert nach der Epoche Kants den Status als privilegierte Form der Erkenntnis und wird stattdessen selbst zu einem Objekt der Wissenschaft.93 So etwa in Goethes »Farbenlehre« (1810)94: Ein subjektives Phänomen, das auf der Netzhaut entsteht, wird von Goethe zwar noch als Zeichen einer optischen Wahrheit gewertet; besonders hervorzuheben ist jedoch, dass Goethe einen Betrachter als aktiven
90. 91. 92. 93.
Vgl. Alpers 1985: Kunst als Beschreibung, S. 89-95. Vgl. ebd., S. 94. Vgl. Crary 1996: Techniken des Betrachters, S. 77. »Wenn die Anschauung sich nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten müßte, so sehe ich nicht ein, wie man a priori von ihr etwas wissen könne; richtet sich aber der Gegenstand (als Objekt der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, so kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vorstellen.« Kant, Immanuel 1956: Kritik der reinen Vernunft. Hg. von Raymund Schmidt (nach der zweiten Auflage von 1930). Hamburg. S. 20. 94. Goethe, Johann Wolfgang 1953: Farbenlehre. Theoretische Schriften. Tübingen. 32
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Produzenten optischer Erfahrung ansieht und damit einen Paradigmenwechsel einleitet: »Die vom Konzept der Camera obscura a priori ausgeschlossene körperliche Subjektivität des Betrachters wird plötzlich zum Schauplatz, auf dem ein Betrachter möglich ist.«95 Die als absolut und objektiv geltenden Farbwerte der Newton’schen Theorie ersetzt Goethe in seiner nach-kantianischen Vorstellung durch die Entstehung wechselnder Farbschattierungen im menschlichen Subjekt. Mit seiner Entdeckung des subjektiven Sehens markiert Goethe eine der Voraussetzungen der Moderne. Der französische Metaphysiker Maine de Biran erklärte bereits Anfang des 19. Jahrhunderts, dass die innere Erfahrung autonom und primär sei, und postulierte einen basalen Unterschied zwischen inneren und äußeren Eindrücken. Hinter dem äußeren Menschen, der Untersuchungsobjekt logischer, moralischer und physiologischer Philosophie ist, verbirgt sich für Biran ein Mensch, »der sein eigenes Licht« besitzt. Die Leucht- und Erkenntniskraft dieses inneren Lichts wird jedoch nicht durch die von außen einfallenden Strahlen erhöht, sondern verdunkelt. Das innere Subjekt bleibt inkognito und widersetzt sich einer Erklärung.96 Für Crary ist besonders entscheidend, dass Biran »bereits zu Anfang des 19. Jahrhunderts den menschlichen Körper als ruhelos und aktiv begreift und dessen motilité, d.h. seine Willensakte gegen empfundene Widerstände, als Voraussetzung der Subjektivität erkannte«.97 Dass Psychologie ohne Einbeziehung der physischen Verfassung des Subjektes für die menschliche Wahrnehmung undenkbar ist, glaubt auch Schopenhauer.98 Er versucht einleitend in seinem Aufsatz »Über das Sehn und die Farben« seinen Leser zu überzeugen, »daß die Farben, mit welchen ihm die Gegenstände bekleidet
95. Crary 1996: Techniken des Betrachters, S. 76. 96. Vgl. Huxley, Aldous 1952: »Variationen über Maine De Biran.« In: ders., Themen und Variationen. Übersetzt von Herbert E. Herlitschka. München. S. 83-244, hier S. 181. 97. Crary 1996: Techniken des Betrachters. S. 79. Vgl. hierzu: Biran, Maine de 1982: »Considérations sur les principes d’une division des faits psychologiques et physiologiques.« In: Gonthier, Francois-Pierre: Œuvres complétes. Accompagnées de notes et d’appendices par Pierre Tisserand. Bd. XIII. Genève. Paris. S. 123-249. 98. Vgl. Schopenhauer, Arthur 1854: »Über das Sehn und die Farben.« In: Lütkehaus, Ludger 1987: Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden. Band III. Zürich. S. 633-728. 33
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erscheinen, durchaus nur in seinem Auge sind«.99 Vor diesem Hintergrund bezeichnet Schopenhauer die Reaktion des Auges auf einen Reiz (des Lichts) als »Tätigkeit der Retina«.100 Der betrachtende Körper und die betrachteten Gegenstände verschmelzen zu einem gemeinsamen Feld, so dass die Trennung von innen und außen obsolet ist. Schopenhauer gilt als ein Beispiel für die »physiologische Umdeutung der Kantianischen Vernunftkritik«. Er hält Kants »transzendentales Subjekt« für unzureichend, da dieses physiologische Gesichtspunkte nicht einbezieht. Darüber hinaus teilt Schopenhauer mit Goethe die Ansicht, dass ein durch längeres Betrachten gewonnener Farbeindruck anhält, obwohl die Vorlage des Farbeindruckes nicht mehr existiert.101 Hierzu gehört die Vorstellung, dass ein Betrachter auch mit geschlossenen Augen Farben sehen kann. Immer mehr setzt sich die Ansicht durch, dass die Verbindung zwischen Gehirn und Auge trüb ist und keineswegs hell und lichtdurchlässig wie bei der Camera obscura. Die zeitlose Anordnung der Camera obscura wird in der Erkenntnistheorie mit Beginn des 19. Jahrhunderts durch die unstabile Physiologie und Vergänglichkeit des menschlichen Körpers ersetzt. Vorausgegangen war mit der Entstehung der physiologischen (wissenschaftlichen und philosophischen) Optik des 19. Jahrhunderts die Entdeckung, dass nur aufgrund der Möglichkeiten des menschlichen Auges effektiv und rationell gearbeitet werden kann.102 Aus dem Umgang mit Schwächen und Mängeln des Sehens entwickelt sich eine Konvention des »normalen« Sehens. Aus diesen Forschungen entstehen das Phenakistiskop und das Stereoskop103, die beide der Erfindung der Fotografie ein halbes Jahrhundert vorausgingen.104 Dabei lässt sich die Zusammenführung von zwei vor-
99. 100. 101. 102. 103.
Vgl. ebd., S. 646. Vgl. ebd., S. 662. Vgl. ebd., S. 664 f. Vgl. Crary 1996: Techniken des Betrachters, S. 27. Den Effekt des Stereoskops, dass ein Betrachter durch zwei Röhren zwei Gegenstände als einen erblickt, kommentiert Schopenhauer als »schlagenden Beweis der Intellektualität der Anschauung«. Vgl. Schopenhauer 1854: »Über das Sehn und die Farben«, S. 654-655. 104. Bekannt als Apparat der Rekonstitution, erlebte das Phenakistiskop eine eigenwillige Verbreitung: Der einfache Apparat Plateaus wurde zu einem eleganten Spielzeug entwickelt. Die erste Weiterentwicklung bestand darin, dass die 34
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her getrennten Modellen beobachten: eines physiologischen Betrachters und eines Betrachters, der von der Außenwelt unabhängig individuelle Bilder in seinem Kopf produziert. Unter dem Eindruck der beginnenden Industrialisierung entsteht in den frühen dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts ein Betrachtertyp, für den Empfindungen austauschbar bleiben und somit keine festen Identitäten seiner visuellen Wahrnehmung sind.105 Zu den optischen Täuschungen, die Plateau aufgrund neuer technischer Entwicklungen im Verkehrswesen (Eisenbahn, Dampfschifffahrt) interessieren, gehört seine Beobachtung, dass Speichen, die sich schnell fortbewegen, ihre visuelle Entität verlieren106 und dass sich aus einem Flecken, der an der Oberfläche eines rotierenden Kreisels sitzt, bei schneller Bewegung der Eindruck einer stabilen Kreisform entwickelt.107 Im Zentrum der Forschung stand für Plateau, so Sadoul, die Untersuchung der Beharrlichkeit des Seheindruckes: »Le phénakistiscope était l’aboutissement de cinq ans de travaux sur la persistance des images rétiniennes.«108 Diese Untersuchung Plateaus bildet die Grundlage für die Erfindung des Phenakistiskops (1832), dessen Prinzipien von Sadoul als Ausgangspunkt für das moderne Kino angesehen werden. Plateaus Beschreibung des Phenakistiskops lautet: »Si plusieurs objets diffèrent entre eux graduellement de forme et de position se montrent successivement devant l’oeil pendant des intervalles très courts et suffisamment rapprochés, les impressions qu’ils produisent sur la rétine se lieront entre elles sans se confondre, et l’on croira voir un seul objet changeant graduellement de forme et de position.«109
105. 106.
107. 108. 109.
Scheiben einer Figurenserie, die gegen den Spiegel gehalten wurden, ausgetauscht werden konnten. Vgl. Sadoul, Georges 1948: Histoire générale du cinéma. Bd. 1: ›L’invention du cinéma‹. Paris. S. 25-31, hier S. 28. Vgl. Crary 1996: Techniken des Betrachters, S. 97. Roget (Peter Mark, 1779-1869) simulierte Alltagsbeobachtungen in seinem Labor: Er hatte durch einen Zaun die Intervalle von Wagenrädern beobachtet, die im Licht standen: »Il avait un jour observé à travers les intervalles d’une palissade obscure une roue de voiture qui passait en pleine lumière, et il avait eu la surprise de voir apparaitre à la place des rayons en mouvement une série de courbes immobiles sur la surface de la roue.« Sadoul, Georges 1948: Histoire générale du cinéma. Bd. 1: ›L’invention du cinéma‹. Paris. S. 25-31, hier S. 19. Vgl. ebd., S. 17. Vgl. ebd., S. 16. Plateau, Joseph 1829: Dissertation sur quelques propriétés des impressions, 35
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Ein prominentes Verfahren des Phenakistiskops besteht in der Anordnung von Pferdefiguren und deren Zergliederung von Bewegungsabläufen auf Bildstreifen nach dem Vorbild Muybridges. Plateau konnte mit seiner Erfindung, die er durch der Übernahme von Forschungsergebnissen von Weatstone und Faraday verbesserte, die Geschwindigkeit eines Gegenstandes messen, dessen Unbeweglichkeit vortäuschen und Effekte, vergleichbar mit dem Zeitlupenkino, erreichen.110 Die Dekomposition von Bewegungsabläufen, deren Untersuchung und die Reproduktion der Realgeschwindigkeit eines Objektes wurden mit dem Phenakistiskop ermöglicht. Die Entdeckung, dass bei schnell aufeinander folgenden Sinneseindrücken eine bestimmte Verschmelzung und Vermischung erfolgt, machten sich auch die Erfinder des Thaumatrops (wörtlich: Wunderdreher) und des Stroboskops (griech. strobos = Taumel, Wirbel, Strudel; scopein = beobachten, untersuchen) zunutze. Grundlage beider Geräte bildete die wissenschaftliche Erkenntnis, dass ein Eindruck, den das Gehirn von einem Bild hat, etwa eine Achtelsekunde anhält, nachdem das Bild verschwunden ist. Auch Crary stellt mit dem Erkenntnisstand des Biologen Johannes Müller im 19. Jahrhundert die Unfehlbarkeit menschlicher Wahrnehmung in Zweifel: »Der physiologische Apparat des Menschen […] ist seiner Natur nach alles andere als apodiktisch oder universell wie die ›Schauspiele‹ von Zeit und Raum, sondern mangelhaft, inkonsistent und Täuschungen wie Manipulations- und Stimulationsprozessen von außen unterworfen, die vermögen, die Erfahrung für das Subjekt zu produzieren.«111 Stereoskop und Phenakistiskop bieten zwar die Möglichkeit einer medialen Wirklichkeitserfahrung im 19. Jahrhundert, »geben aber nicht vor, das Reale sei irgend etwas anderes als das Produkt einer mechanischen Appara-
Dissertation Liège. Zit. in: Sadoul, Georges 1948: Histoire générale du cinéma. Bd. 1: ›L’invention du cinéma‹. Paris. S. 25. Das Zitat wurde durch Anne Vonderstein ins Deutsche übersetzt: »Wenn mehrere Objekte, die sich der Reihe nach durch Form und Stellung unterscheiden, eines nach dem anderen dem Auge in sehr kurzen Abständen und nah aneinander dargeboten werden, dann verschmelzen die von ihnen auf der Netzhaut hinterlassenen Eindrücke zu einem klaren Bild, und man wird glauben, ein und dasselbe Objekt verändere allmählich seine Form und Position.« 110. Vgl. Sadoul, Georges 1948: Histoire générale du cinéma, S. 22. 111. Crary 1996: Techniken des Betrachters, S. 98. 36
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tur.«112 Es sind diese optischen Geräte, die im 19. Jahrhundert die referentielle Illusion zwischen einem Betrachter und seinem Erkenntnisfeld suspendieren. Gerade der Wunsch nach »phantasmagorischen Effekten« führt dazu, dass ein körperlicher Kontakt mit der Apparatur zunehmend inakzeptabel wird. Die rasante Industrialisierung mit der damit verbundenen Modernisierung der Gesellschaft und der Entstehung einer neuen Bedürfnissituation kam der technischen Entwicklung einer rationellen Bilderproduktion durch die Fotografie und später den Film entgegen. Das Bedürfnis nach medial vermittelter Authentizität spielte dabei eine große Rolle.
Exkurs: Mimesis- und Subjektkonzeptionen im Dokumentarfilm Ansätze für einen didaktischen und funktionalen Umgang mit medial vermittelter Wirklichkeit lassen sich in unterschiedlicher Ausprägung von Platon über Aristoteles bis zu Descartes feststellen. Die Untersuchung der Mimesis unterliegt dem menschlichen Bedürfnis nach Wahrheit und Wirklichkeit, was sich in Konventionen niederschlägt, die zwar angesichts neuer technischer Errungenschaften permanent modifiziert werden, den Anspruch, eine authentisches Modell der Wirklichkeit darzustellen, jedoch nicht aufgeben. Im Film, und hier besonders im Dokumentarfilm, dem zugesprochen wird, Potenzen und Elemente vorangegangener Medien zusammenzuführen, ist der Anspruch auf Authentizität elementar. Bis in die Gegenwart stehen Konzepte, die teleologisch auf Wahrheitsfindung ausgerichtet sind, anderen gegenüber, die die Abhängigkeit der Wirklichkeitskonstruktion von der subjektiven Vermittlung und Instabilität der menschlichen Wahrnehmung in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung rücken. Im selbstreflexiven Dokumentarfilm steht nicht nur die apparative Medialität, die die technische Seite der Wirklichkeitskonstruktion widerspiegelt, zur Debatte; vielmehr wird eine Auseinandersetzung mit kulturell determinierten Wahrnehmungsweisen geführt, die ihren Ausgangspunkt beispielsweise in der Camera obscura, in der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, der Zentralperspektive oder der Fotografie haben. Die Relativierung aller Bestrebungen, den menschlichen Geist und seine Wahrnehmung zu beherrschen, setzt mit der Herausbildung der modernen Künstlerpersönlichkeit durch Montaigne an. Montaigne stellt die Selbsttransparenz des Ichs, die Möglichkeit einer unver-
112. Vgl. ebd., S. 136. 37
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fälschten Wiedergabe der eigenen Erfahrung und die Vorstellung, sein Ich-Zustand lasse sich über die Schrift wiedergeben, ins Zentrum seiner Zweifel. Bis in die Gegenwart lassen sich Elemente von Montaignes Subjektphilosophie im Film, besonders im essayistischen Dokumentarfilm, wiederfinden. Dabei werden die menschlichen Antriebskräfte nicht aus rationaler Perspektive betrachtet. Montaignes Konzept ist von der Skepsis geprägt, das wahre Sein hinter den Erscheinungen zu erreichen. Auch der essayistische bzw. selbstreflexive Dokumentarfilm problematisiert die Konstruktion der »Wirklichkeit« und die darin zum Ausdruck kommenden Prinzipien. Montaignes Überlegungen bleiben zunächst auf die Literatur und ihre Möglichkeiten beschränkt. Das vorherrschende Wahrnehmungsmodell der Camera obscura, das zwischen einem Innen des menschlichen Denkens unterscheidet, in das von außen die Ideen ungetrübt eintreten, wird erst allmählich mit Kant, Goethe und Schopenhauer, die den Betrachter als aktiven Produzenten optischer Erfahrung ansehen, obsolet. Die Trägheit des menschlichen Auges, um eine der elementaren physiologischen Prämissen des Filmes zu nennen, ist, wie zu sehen sein wird, immer wieder Anlass, um in konkreten historischen, politischen und ästhetischen Zusammenhängen, in denen die Filmarbeit von Filmemachern wie Vertov, Vigo und Kluge steht, die Macht des Dokumentarischen zu relativieren. Es ist die Trägheit des menschlichen Auges, die im Film die Illusion eines kontinuierlichen Bewegungsablaufes ermöglicht. Es verwundert daher kaum, dass dem Film eine ausgesprochene Affinität zur Wiedergabe der physischen Realtität und besonders dem Dokumentarfilm ein naturalistisches Programm zugesprochen werden. Darauf soll im nächsten Abschnitt eingegangen werden.
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3. Ansätze zur Wiedergabe der physischen Realität 3.1 »Das Leben, so wie es ist«: Naturalismus In Diskussionen um den Dokumentarfilm herrscht häufig nicht nur eine positivistische und technikgläubige Einschätzung seiner Grundlagen vor,1 sondern oftmals werden Filmströmungen wie das »Direct Cinema« in die Nähe des Naturalismus gerückt,2 so zum Beispiel, wenn Hattendorf von einem »naturalistischen Credo« des »Direct Cinema« spricht. Auch wenn sich hinter dem Begriff Naturalismus keine einheitliche Konzeption verbirgt, sollen skizzenhaft einige wesentliche Elemente des Naturalismus herausgearbeitet werden, da Konventionen des Naturalismus auf Dokumentarfilme bezogen werden, die im Rahmen selbstreflexiver Verfahren problematisiert werden. Eine »objektive« und »wirklichkeitsgetreue« Wiedergabe der sozialen Realität, die auch unterprivilegierte Klassen und deren Probleme zur Darstellung bringt, wird zum ersten Mal in der Literatur, noch einige Jahre vor der Erfindung des Films, in den Arbeiten Émile Zolas propagiert. Er ist der Begründer des literarischen Naturalismus und soll, zusammen mit den wesentlichen Charakteristika dieser Strömung, näher beleuchtet werden. Der Naturalismus gilt als eine der wichtigsten Kunstrichtungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die Bedeutung des französischen Wortes naturaliste als »Naturforscher«, »Präparator« weist auf eine hohe Affinität zu Wissenschaft und Kunst hin.3 Zum äs-
1. Vgl. Hattendorf, Manfred 1994: Dokumentarfilm und Authentizität. Ästhetik und Pragmatik einer Gattung. Konstanz. S. 15.
2. Vgl. ebd., S. 17. 3. Vgl. Kohl 1977: Realismus, S. 126 f. 39
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thetischen Prinzip wird die genaue Beschreibung der »Natur« erhoben.4 Methodische Basis ist dabei ein antimetaphysischer Positivismus, welcher auf Empirie und wissenschaftliche Experimente rekurriert. Im Rahmen der Genealogie des Naturalismus bilden sich einige Darstellungskonventionen in der Kunst heraus. Hierzu zählen die Illusion des Räumlichen, des Körperlichen und des Stofflichen sowie die angemessene Darstellung des zeichnerischen Details, des Anatomischen und der Farben. Im Rahmen des Naturalismus kommt es zu einer radikalen Befreiung von Formkonventionen. So wird in der Literatur und auf der Bühne beispielsweise auf klassische Gestaltungsmerkmale wie die Exposition einer Erzählung verzichtet. »Augenfällig ist hier beispielsweise der Verzicht des naturalistischen Theaters auf den traditionellen Dramenaufbau mit sorgfältig konstruierter Peripetie zugunsten einer detaillierten sprachmimischen Momentaufnahme, die dokumentarisch zu erfassen es keiner besonderen dichterischen Intuition mehr bedürfen sollte.«5 Eine herausragende Stellung im literarischen Naturalismus besitzt Émile Zola. Wissenschaftliches Denken und die Fähigkeit des Autors, mit seinen Stoffen die Aufmerksamkeit des Publikums zu erregen, werden als wesentliche Qualitätskriterien seiner Romane angesehen. Eine politische Dimension erhalten Zolas Romane durch seine Fähigkeit, soziale Probleme seiner Zeit so darzustellen, dass der Wunsch nach politischen Veränderungen geweckt wird. Mit der Darstellung sozialer Probleme rückt der Inhalt in den Vordergrund: »Das Prinzip der Wirklichkeitsnähe erweist sich für Frankreich hier im Bereich der sprachlichen Gestaltung zum ersten Mal stärker denn das Bestreben nach sprachlicher Stilisierung im Stil der Konvention.«6 Kritik am Naturalismus artikuliert sich in der Feststellung, er beschreibe lediglich existierende Missstände, ohne Auswege aufzuzeigen. Bemerkenswerterweise stößt er oft auf Ablehnung, wohl deshalb, weil diese Kunstform dem Verdikt begegnet, Natur ungestaltet wiederzugeben und auf Humor zu verzichten, so dass nichts als triviale Alltäglichkeit zur Darstellung komme. Davon kann jedoch keine Rede sein. Zola hat sich als Erster imstande gesehen, die Lebensbedingungen des Proletariats mit einfühlsamer Genauigkeit zu
4. Vgl. Zola in Bernard, Marc 1997: Zola. Hamburg. S. 18. 5. Kohl 1977: Realismus, S. 127. 6. Vgl. ebd., S. 130-131. 40
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3. ANSÄTZE ZUR WIEDERGABE DER PHYSISCHEN REALITÄT
schildern. Dazu hat er neue Wege eingeschlagen. Dokumentarische Unterlagen über die Situation der Arbeiter in einem Bergwerk genügten ihm nicht als Ausgangsmaterial zur Darstellung der Arbeiter in seinem Roman »Germinal«. Eine genaue Wiedergabe der Arbeitsverhältnisse in einem Bergwerk konnte für ihn nur ein längerer Aufenthalt unter Tage gewährleisten. Das Resultat seiner Bemühungen schlägt sich in einer lebensnahen Darstellung mit einer damit verbundenen authentischen Wiedergabe der sozialen Wirklichkeit nieder, ohne dass er seine Position als vermittelnder Autor in Frage gestellt hätte, denn »ein Kunstwerk ist ein Stück Natur, gesehen durch ein Temperament«.7 Auch wenn dieser Aussage spätere Dokumentarfilmschulen wie das »Direct Cinema« das Postulat gegenüberstellen, die Einflüsse des Autors bei der Wiedergabe von Wirklichkeit seien auszuschalten, überrascht es nicht, dass Charakteristika wie die Bearbeitung von Themen aus einer verdrängten sozialen Wirklichkeit, Genauigkeit in der Darstellung bis hin zu einer wissenschaftlichen Beobachtung und ein aufklärerischer Gestus8 Eingang in die Konzeptionen vieler Dokumentarfilme(r) gefunden haben. Bereits mit dem Aufkommen des Films werden Hoffnungen wach, über ein Medium der Wiedergabe von Erfahrung zu verfügen. Schließlich verbürgte die literarische Darstellung nach gängiger Meinung nicht den unmittelbaren historischen Beweis dafür, dass sich ein Geschehen – ohne Vermittlung eines Autors – so und nicht anders tatsächlich zugetragen hat. In dieser Hinsicht eint Kracauer und Bazin die Intention, Film als Medium der Erfahrung zu nutzen. Bei beiden bezieht Film seine Wirkungsmacht aus der Repräsentation von Objekten menschlicher Erfahrungswelt.
3.2 Die Errettung der äußeren Wirklichkeit: Siegfried Kracauer Wie bereits angedeutet, wird zunächst insbesondere mit der Erfindung der Fotografie technischen Reproduktionsbildern ein hoher Wirklichkeits- und Objektivitätsanspruch beigemessen. Theoretiker wie Kracauer sehen in der Fotografie »eine ausgesprochene Affinität
7. Zola zitiert in Bernard, Marc 1997: Zola. Hamburg. S. 136. 8. Nach Zola kommt dem Romancier des »experimentellen Romans« allein die Funktion zu, Mängel in der Gesellschaft aufzuzeigen, um Politikern die Grundlage zum Eingreifen zu liefern. Vgl. ebd., S. 30. 41
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zur ungestellten Realität«.9 Mit Entwicklung und Hinzunahme einer synchronen Tontechnik zum Bewegtbild wird eine besonders ausgeprägte authentische Wirkungskraft dokumentarischer Filmbilder unterstellt. Das Postulat, dass fotografische Bilder ihrem Wesen nach eine »ungestellte Realität« abbilden, wird von Kracauer auf kinematographische Bilder erweitert. Er betont, »daß Filme dann Anspruch auf ästhetische Gültigkeit erheben können, wenn sie sich ihren Grundeigenschaften gemäß verhalten; das heißt, sie müssen, wie die Fotografie, physische Realität wiedergeben und aufdecken«.10 Physische Realität kann insbesondere dann adäquat wiedergegeben werden, »wenn sich die formgebende Tendenz nicht über die realistische erhebt, sondern sich schließlich ihr einordnet«.11 Diese Aussage beurteilt den Einfluss der »formgebenden Tendenz« des Filmemachers skeptisch. Danach muss der subjektive Standpunkt des Filmemachers zugunsten einer wie auch immer artikulierten Objektivität in den Hintergrund treten. Thal charakterisiert das Zeitalter Kracauers als das Zeitalter der Entfremdung.12 Hierfür verantwortlich macht er den Zerfall der Religionen und die Entstehung miteinander konkurrierender Ideologien. Der zunehmenden Abstraktheit der sozialen Kontexte stellt Kracauer die »wirkliche« Qualität der Gegenstände entgegen. Diese können den Verlust an Wirklichkeitserfahrung kompensieren, da sie real sind und eine Dimension des seelisch-geistigen Kontinuums vermitteln. Letztendlich verbirgt sich hinter Kracauers pessimistischem Weltbild ein »empirisch-positivistischer Erfahrungsbegriff«. Ausdruck dieses Erfahrungsbegriffs ist die Affinität der Fotografie zur Wirklichkeit, die Kracauer auf den Film appliziert. Evident sind vier Kategorien, auf denen sein Theoriegebäude basiert:13 1. Affinität der Fotografie bzw. des Films zur nicht inszenierten Realität, 2. die Kategorie des Zufalls (z.B. Momentaufnahmen, Spontaneität),
9. Kracauer, Siegfried 1993: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. 2. Aufl. Frankfurt am Main. S. 45.
10. Vgl. ebd., S. 65. 11. Vgl. ebd., S. 67. 12. Vgl. Thal, Ortwin 1985: Realismus und Fiktion: Literatur- und filmtheoretische Beiträge von Adorno, Lukács, Kracauer und Bazin. Dortmund. S. 130.
13. Vgl. ebd., S. 133. 42
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3. ANSÄTZE ZUR WIEDERGABE DER PHYSISCHEN REALITÄT
3. prinzipielle Offenheit der Erzählung – das Leben verweist auf »Unendlichkeit« und »Endlosigkeit« außerhalb eines determinierten Bildausschnitts, 4. »das Unbestimmbare« (potenzielle Polyvalenz der Medien Fotografie und Film). Paradoxerweise bezieht Kracauer seine ästhetischen Forderungen nicht auf Dokumentarfilme, sondern auf fiktionale Filme, obwohl er sich gerade mit seinem Kriterium des Zufalls und der Darstellung des Lebensalltags in der Nähe des klassischen Dokumentarfilms bewegt.
3.3 Das Verlangen nach Realismus: André Bazin Nicht nur Kracauer reklamiert, dass dem Film als Erkenntnisquelle der Sinneserfahrung ein hoher Stellenwert zukomme, auch Bazins Theoriemodell einer Ästhetik der Schärfentiefe konzentriert sich auf die Frage, wie sich Wirklichkeit vorurteilsfrei beobachten und wiedergeben lässt. Bazin geht davon aus, dass die Malerei der Wahrnehmung ihrer Produktionsmerkmale Vorschub leistet und somit für die Darstellung von Wirklichkeit ungeeignet ist. Das Verlangen nach Reproduktion, bei dem die menschliche Gestaltung hinter der Illusion des Bildes verschwindet, können daher Fotografie und Film erfüllen, da sie »das Verlangen nach Realismus endgültig und ihrem Wesen gemäß befriedigen«.14 Bezogen auf die Intentionalität des Autors stellt Bazin im Vorgriff auf den Film unmissverständlich fest: »Alle Künste beruhen auf der Gegenwart des Menschen, nur die Fotografie zieht Nutzen aus seiner Abwesenheit.«15 So verwundert es nicht, dass Bazin neben Kracauer zu den prominentesten Vertretern gehört, die dem Medium Film eine wirklichkeitswiedergebende Funktion zuordnen. Auf das – für Bazins Theorie prägende – Verhältnis zwischen Montage und Schärfentiefe ist Kracauer allerdings nicht eingegangen. Ausschlaggebend für Bazins Theorie ist die Frage, ob ein Ereignis fragmentarisch dargestellt wird oder ob es in seiner äußeren Einheit zur Geltung kommt. Letzteres beinhaltet den zurückhaltenden Gebrauch der Montage. Durch den Einsatz der Schärfentiefe kann der dramatische Inhalt einer Szene in der Zeit analysiert werden. Als
14. Bazin, André 1975: Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films. Köln. S. 23. 15. Vgl. ebd., S. 24. 43
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Paradebeispiel für das methodisch »richtige« Verhältnis zwischen dem Einsatz der Montage und der Plansequenz, die Handlungen aus der Beobachterperspektive beschreibt, dienen Bazin Orson Welles’ Citizen Kane und der italienische Neorealismus.16 Aufgrund von drei Wirkungsannahmen beurteilt Bazin den Einsatz der Tiefenschärfe positiv gegenüber der Montage, die er auf das Nötigste reduziert sehen möchte: 1. Die Tiefenschärfe evoziert – unabhängig vom Inhalt – eine »wirklichere« Struktur der Wirklichkeit als die Wirklichkeit des Betrachters. 2. Der Betrachter wird – anders als bei der Fragmentarisierung einer Sequenz – bei der Tiefenschärfe stärker gefordert, eine selbständige Auswahl des Bildinhaltes zu treffen. 3. Ihrem Wesen nach widerspricht die Montage dem Polyvalenzprinzip, da sie die Selektion eines Bildinhaltes für den Betrachter anordnet. Gegen den bevorzugten Einsatz der Plansequenz lassen sich insbesondere zwei Punkte kritisch einwenden. Zum einen lässt sich gegen das Realismuspostulat der Plansequenz anführen, dass der Mensch in seiner Wahrnehmung so konstituiert ist, dass er in jeder Situation selektiv wahrnimmt – was einer Beobachterperspektive, welche die gesamte Situation in einer Einstellung erfasst, widerspricht. Der sukzessiven Wahrnehmung von Gegenständen entspricht daher eine Separation durch die Montage. Zum anderen ist einzuwenden, dass ein Unterschied zwischen menschlicher Wahrnehmung und kinematographischer Wiedergabe im Verhalten der Augen besteht. Während die Augen »Objekte in unterschiedlicher Entfernung immer wieder neu fokussieren, ist für das Zeiss-Objektiv des Cinématographe Lumière von einem Meter bis Unendlich alles scharf, was vor die Linse kommt«.17 Diese Eigenschaft der Kamera bezeichnet Loiperdinger als Qualität eines »Hyperrealismus«. Da für Bazin Schnitte eine elliptische Wiedergabe der Realität implizieren, weist er dem Einsatz der Schärfentiefe eine Verstärkung des filmischen Realismus zu. Die Hauptkritik an Bazin richtet sich gegen die von ihm vertretene These, dass die Tiefenschärfe gegenüber dem Schnitt dem Betrachter die moralische Freiheit der Wahl gibt,
16. Bazin 1975: Was ist Kino?, S. 40 f. 17. Loiperdinger, Martin 1996: »Lumières Ankunft des Zugs, Gründungsmythos eines neuen Mediums.« In: Loiperdinger, Martin; Kessler, Frank; Lenk, Sabine (Hg.): Kintop 5. Aufführungsgeschichten. Basel. Frankfurt. S. 37-70, hier S. 58. 44
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denn schließlich unterliegt auch die Tiefenschärfe der subjektiven Erzählweise des Regisseurs. Bazins phänomenologischer Ansatz ist von Bergsons Philosophie der Intention beeinflusst.18 Bergson lehnt eine strenge wissenschaftliche Methodik ab, die eine naturwissenschaftliche Verräumlichung des Zeitbegriffs mit Kriterien der Messbarkeit verbindet und die kraft einer Partikularisierung des Erkenntnisgegenstandes beansprucht, das »Wahre« oder »Ganze« zu ermitteln. Das Leben und die Natur befinden sich in ständiger Bewegung, in deren Verlauf sich die Regeln verändern. Diese prinzipielle Wechselhaftigkeit und Vielfalt der Natur möchte Bazin auf seine Wirklichkeitskonzeption übertragen. Film ist für Bazin »seinem Wesen nach eine Dramaturgie der Natur«19, wesentlich ist hierzu die »Errichtung eines offenen Raumes«.
3.4 Authentizität im Dokumentarfilm Für Klaus Kanzog sind vier Postulate relevant, in denen sich die Grundbedeutung von Authentizität im Dokumentarfilm niederschlägt. Hierzu gehört, dass ein Ereignis oder eine Sache existiert hat, dass der beschriebene Zustand vorlag, dass es sich um ein beobachtbares Ereignis handelt und dass das vermittelte Material aus der Zeit stammt, die es repräsentiert.20 Das erfolgreiche Umsetzen von Authentizitätsstrategien ist nach Hattendorf an fünf Bedingungen gekoppelt: »1. Die Echtheit des Ereignisses oder der Sache, auf die sich die Kommunikation bezieht. 2. Die Glaubwürdigkeit des Autors. 3. Die Glaubwürdigkeit der Vermittlung (> Gestaltung des Kommunikats). 4. Die Akzeptanz beim Rezipienten (> Wirkung). 5. Die Rezeptionsbedingungen (> Kontext).«21 Authentizitätsstrategien kommen im Dokumentarfilm nicht nur eine übergeordnete Funktion für das Gelingen des Wahrnehmungsvertrages zwischen filmischer Instanz und Rezipient zu; darüber hinaus
18. 19. 20. 21.
Vgl. Thal 1985: Realismus und Fiktion, S. 160 f. Bazin 1975: Was ist Kino?, S. 98 f. Vgl. Kanzog, Klaus 1991: Einführung in die Filmphilologie. München. S. 65. Hattendorf 1994: Dokumentarfilm und Authentizität, S. 19. 45
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soll ihr Zusammenwirken auf möglichst allen Mitteilungsebenen den Anspruch auf ungestellte Wirklichkeitswiedergabe modellieren. Dieser Anspruch auf Wiedergabe einer »objektiven Wirklichkeit« kann insbesondere im Rückgriff auf filmsprachliche Konventionen, die Glaubwürdigkeit filmisch manifestieren, realisiert werden. Die theoretischen Realismusabhandlungen Bazins und Kracauers billigen Einstellungen mit langen Beobachtungsphasen einen besonders hohen Aussagewert und eine Repräsentanz bezüglich einer gegebenen Wirklichkeit zu. Besonders an der Beurteilung des Stellenwerts präziser Beobachtungen mit größtmöglicher Zurückhaltung bei der Mise en scène hat sich die Diskussion der »Kreimeier-Wildenhahn-Debatte« entzündet.22 Kreimeier kritisiert, dass in einer zersplitterten Welt gesellschaftliche Widersprüche allein mittels Beobachtung nicht zur Erkenntnis gebracht werden können, und fordert einen Methodenpluralismus, der beispielsweise filmische Formen wie die Collage beinhaltet, während demgegenüber Wildenhahn die Aufdeckung von Widersprüchen durch genaue Beobachtung favorisiert.23
3.5 Klaus Wildenhahns Wirklichkeitskonzeption An Klaus Wildenhahns Dokumentarfilmkonzeption sollen paradigmatisch die Authentizitätskonventionen des Dokumentarfilms verdeutlicht werden. Schließlich verbindet sich mit seinem Namen der Anspruch, Wirklichkeit so darzustellen, »wie sie ist«. Er gilt als strenger Verfechter der Unmittelbarkeitsästhetik des »Direct Cinema«24 und nennt als entscheidenden Einfluss seiner Arbeit die Anregungen durch Richard Leacock.25 Von Wildenhahn sind bis heute
22. Vgl. hierzu: Wildenhahn, Klaus 1980: »Industrielandschaft mit Einzelhändlern. Nachtrag zu den Duisburger Debatten um den Dokumentarfilm.« In: Filmfaust Nr. 20, S. 3-16, und Kreimeier, Klaus 1980: »Darstellen und Eingreifen. Deutsche Dokumentarfilme auf der Duisburger Filmwoche/Gewerkschaftler machten mit.« In: Filmfaust Nr. 20, S. 17-18. 23. Wildenhahn verfolgt in seiner praktischen Filmarbeit seine theoretischen Kriterien weniger stringent, als dies seine normative Ästhetik erwarten lassen könnte. Dies kann an mehreren Filmbeispielen seines Gesamtwerkes nachgewiesen werden. 24. Vgl. Hattendorf 1994: Dokumentarfilm und Authentizität, S. 32. 25. Vgl. Voss, Gabriele, 1996: Dokumentarisch Arbeiten. Jürgen Böttcher, Richard 46
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nicht nur wichtige Impulse für die Dokumentarfilmpraxis ausgegangen, sondern auch für die Theoriedebatte.26 Für Wildenhahn – wie für viele Dokumentarfilmer – ist das Problem einer adäquaten Abbildbarkeit von Wirklichkeit zentral. Wildenhahn, der immer wieder in Diskussionen über den Dokumentarfilm normative Ansprüche vertreten hat, fordert ein Hinhören und Nichteingreifen des Filmemachers gegenüber dem Gefilmten. Das Postulat, nicht in den vorfilmischen Prozess einzugreifen und sich einer äußeren Umgebung auszusetzen, verweist auf Affinitäten der filmischen Arbeit Wildenhahns zum vorher skizzierten Naturalismus: »Das, was ich so gern mit vielen Worten beschreibe, daß man improvisiert, daß man sich von Strukturen erstmal weitgehend fernhält, daß man sich dem Geschehen anheim gibt, daß man in den Fluß der Ereignisse einsteigt und mitschwimmt, ohne feste Bezugspunkte einzubeziehen.«27 Eine aufklärerischen Prinzipien verpflichtete Herangehensweise spiegelt sich in Wildenhahns Methode wieder, Erkenntnisse zu liefern: »Ich fange sehr gern mit Rätseln an. Ich nenne das jetzt einfach Rätsel, es ist ein alltägliches, gefundenes, nicht ganz aufgeklärtes Ding. Was mich zunächst rätselhaft berührt und den Zuschauer auch. Von dem geht man dann schrittweise weiter. Dadurch wird ein ganz anderer Erkenntnisprozeß in Gang gesetzt. In dem schrittweisen Prozeß des Mitvollziehens kann eher eine Erkenntnis erfolgen, als wenn etwas nur gesagt wird.«28 In der Art und Weise, wie Wildenhahn Ereignisse oder Gegenstände, die über ein gewisses Erklärungspotenzial verfügen, darstellen und erläutern möchte, gleicht seine Methode einer wissenschaftlichen Entdeckungslust.29 Beobachtungen von Arbeitsabläufen bilden den thematischen Schwerpunkt bei Wildenhahn. Die
26. 27. 28. 29.
Dindo, Frank Herz, Johan van der Keuken, Volker Koepp, Peter Nestler, Klaus Wildenhahn im Gespräch mit Christoph Hübner. Berlin. S. 164. Vgl. Wildenhahn, Klaus 1975: Über synthetischen und dokumentarischen Film. Zwölf Lesestunden. Frankfurt am Main. Voss 1996: Dokumentarisch Arbeiten, S. 166. Vgl. ebd., S. 191. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die holländischen Maler des 17. Jahrhunderts Kunst als Mittel zur bildhaften Beschreibung einsetzen und in diesem Sinn von Alpers als praxisbezogene Handwerker angesehen werden, die »in Analogie zu dem nach Naturerkenntnis strebenden Experimentator zu sehen« sind. Alpers 1985: Kunst als Beschreibung, S. 77. 47
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Vorbereitungen der Preproduction umfassen dabei nur die Festlegung, mit welchen Protagonisten ein Thema verwirklicht werden soll. Ein vorkonzipiertes Drehbuch, das Auskunft über die Erzählstruktur liefert, existiert nicht. Wildenhahns Erzählstrategie ist gekennzeichnet durch die Darstellung des Alltags in der filmischen Erzählung. Diese beinhaltet, eine möglicherweise in der Struktur des Themas potenziell enthaltene Dramaturgie nur so weit zu verfolgen, wie sich die tatsächliche Situation entwickelt. In diesem Sinne spricht Wildenhahn von einem anarchistischen Moment, das sich aus der Unkalkulierbarkeit und Unvorhersehbarkeit des Lebens ergibt. In der Darstellung der Widersprüche des Alltags sieht Wildenhahn eine Abkehr von aristotelischen Regeln, auch wenn dadurch die Spannung für das Publikum vermindert wird.30 Dies bezeichnet Wildenhahn als »Störung« der Erzähldramaturgie. Intendiert ist damit keineswegs, Authentizität durch Irritationen in Frage zu stellen; vielmehr ist es Wildenhahns Hauptanliegen, den Mitvollzug von Erfahrung für den Rezipienten nach dem Motto zu ermöglichen: »Ähnlich habe ich das auch erfahren. Plötzlich spinnt man einen eigenen Faden weiter mit eigenen Erfahrungen, die sich über das Angebot des Filmes legen.«31 Diese Prämisse weist dem Dokumentarfilm als Hauptfunktion eine Orientierungsfunktion zu. Für Roth ist Wildenhahn einer der ersten Dokumentarfilmer, der erkennt, »daß nur ein sehr genaues Sicheinlassen auf einen eng begrenzten Raum Einsichten schafft, die über Allgemeinplätze hinausgehen«.32 Formale Aspekte treten bei der Konzeption eines solchen Dokumentarfilmbegriffs in den Hintergrund. Die Wahrnehmung von Interessen der Gefilmten, sie ausreden zu lassen und Entwicklungen über lange Zeiträume zu beobachten, konstituiert Wildenhahns filmische Arbeit: »Nicht sogenannte Experten werden befragt, wie in fast allen sich ›dokumentarisch‹ nennenden Features, sondern Menschen, die sonst nur Objekt der Berichterstattung (und der politischen Verhältnisse) sind; bei Wildenhahn werden sie zum Subjekt – Arbeiter, Bauern, aber auch Angehörige des Mittelstandes.«33 Eine solidarische Haltung gegenüber den Gefilmten ist für ihn unabdingbar, will man ihre Interessen
30. 31. 32. 33.
Vgl. Voss 1996: Dokumentarisch Arbeiten, S. 189 f. Vgl. ebd., S. 169. Roth, Wilhelm 1982: Der Dokumentarfilm seit 1960. München. S. 63. Vgl. ebd. 48
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ernst nehmen. Allerdings wird diese filmische Methode allgemein als ungeeignet eingestuft, Kritik an den Protagonisten zu üben, da die Aussagen der Gefilmten unkommentiert wiedergegeben werden. Wesentlich für die Darstellung klassischer Dokumentarfilmkonventionen ist jedoch die Aufrechterhaltung eines Objektivitätsanspruches. Ausgangspunkt ist dabei ein latenter Vertragsabschluss zwischen filmischer Instanz und Zuschauer. Dieser kommt zustande, wenn der Zuschauer von den persuasiv angelegten Authentisierungsstrategien überzeugt worden ist.34 Schon 1973 warnt der polnische Filmemacher Jerzy Bossak, von dem Wildenhahn weitere Anregungen erhalten hat, vor den Sanktionen bei Aufhebung dieses Vertrages: »Der Dokumentarfilmautor darf nämlich nicht vergessen, daß der Kinozuschauer ein strenger und unbarmherziger Hüter der Gesetze, die die Gattung regieren, ist. Er verlangt allein nach Tatsachen, die von der Kamera belauscht wurden oder belauscht werden konnten.«35 Allein das Drehverhältnis kann Auskunft über das Selektionsverhalten des Autors gegenüber seinem Rohmaterial liefern. Beispielsweise entsteht bei Wildenhahn oft ein Drehverhältnis von 1 zu 15: »So läßt sich nicht leugnen, daß auch beobachtende Filme durch extreme Verdichtung entstehen.«36 Diesen Sachverhalt kann Wildenhahn auch auf der Mitteilungsebene des Tones nicht dadurch umgehen, dass er hoch empfindliche Richtmikrofone ablehnt und sich für die Aufnahme eines »Atmo«-Mikrofons entscheidet, das vielfältige Seitentöne aufzeichnet. Ein Versetzen von Tönen verurteilt er als Nachinszenierung, obwohl er an anderer Stelle zugibt, einer Szene Filmmusik unterlegt zu haben.37 Den impliziten Einfluss der Kamerapräsenz auf die Protagonisten versucht Wildenhahn durch vertrauensbildende Maßnahmen zu kompensieren. Die lange Verweildauer eines kleinen Filmteams am Aufnahmeort soll die Protagonisten an die Präsenz des Aufnahmeteams gewöhnen und die Anwesenheit der Kamera möglichst
34. 35. 36. 37.
Vgl. hierzu Hattendorf 1994: Dokumentarfilm und Authentizität, S. 77. Wildenhahn 1975: Über synthetischen und dokumentarischen Film, S. 94. Roth 1982: Der Dokumentarfilm seit 1960, S. 88. In seinem Film Yorkshire erscheint in einer Einstellung ein Radio, aus dem Musik ertönt. In Wirklichkeit handelt es sich aber nicht um die Musik des eingeschalteten Radios, sondern um eine von Wildenhahn nachträglich eingebaute Filmmusik. 49
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»vergessen machen«. Im Gegensatz zu Leacocks frühen Filmen für Drew Associates verzichtet Wildenhahn auf die Verfolgung einer festgelegten Krisenstruktur. Stattdessen will er alltägliche Abläufe sichtbar werden lassen. Beispielsweise filmt Wildenhahn in Emden geht nach USA nicht den Moment, in dem die Arbeiter entlassen werden, sondern zwei Monate später, weil er davon ausgeht, die Nachwirkungen dieses Ereignisses verstärkt im Alltagsleben der Betroffenen zu finden. Wildenhahns Engagement äußert sich darin, dass er – in Opposition zu den etablierten Medien – über das Mittel der Beobachtung Konflikte von Unterprivilegierten aufzeigen möchte. Mit diesem Konzept arbeitet er einer harmonisierenden und entproblematisierenden Neigung zum Idyllischen, wie Busch den Naturalismus der Biedermeierzeit charakterisiert, entgegen.38 Appliziert man Wildenhahns Methode der »reinen Beobachtung« auf Themengebiete, die – wie beispielsweise der Golfkrieg – einer scharfen Zensur ausgesetzt sind, wird das Problem seines Verfahrens evident: Täuschungsmanöver durch militärische Simulation können mit dem Konzept einer vertiefenden Beobachtung allein nicht dekuvriert werden.
38. Vgl. Busch 1989: Belichtete Welt, S. 139. 50
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4. Begriffsklärung: Selbstreflexivität versus Selbstreferentialität 4.1 Selbstreflexivität Etymologisch wird der Begriff Reflexivität abgeleitet vom lateinischen reflexio/reflectere und bedeutet Rückbezüglichkeit. Modernen Künstlern wird allgemein zugeschrieben, dass sie über das Material, aus dem ihr Werk entstanden ist, reflektieren. In dieser Hinsicht wird Reflexivität als eine Grundlage der Moderne und Postmoderne angesehen. Für die Eingrenzung des Themenfeldes dieser Arbeit ist entscheidend, dass eine Rückbezüglichkeit diskutiert werden soll, bei der die menschliche Vorstellung im Mittelpunkt steht, zugleich Subjekt und Objekt innerhalb eines kognitiven Prozesses zu sein.1 Auf die skeptische Selbstbeobachtung der Wahrnehmung bei Descartes’ Epistemologie wurde bereits hingewiesen. Eine Reflexion im philosophischen Diskurs rekurriert auf eine Metapher, die aus einer optischen Tradition entstammt. Anstelle von Lichtstrahlen tritt das Bewusstsein, das kraft eines Mediums auf sich selbst verweist.2 Dieser Vorgang lässt sich als selbstreflexiv bezeichnen. Selbstreflexion (bzw. Subjektivität) ist kein Faktum, sondern ein Verhältnis (bzw. ein Vorgang) zu sich selbst, das diffus in der Schwebe bleibt, solange es nicht sprachlich artikuliert wird. Selbstbewusstsein setzt nach Ernst Tugendhat Sprache voraus: »Das Selbstbewußtsein wie im Übrigen alles Wissen wird immer nur dann
1. Vgl. Stam, Robert 1985: Reflexivity in Film and Literature. From Don Quixote to Jean-Luc Godard. Ann Arbor. S. xiii.
2. Vgl. Keiper, Jürgen: »Film auf Leinwand 3 x 4 m.« In: Amann, Frank; Kaltenecker, Siegfried; Keiper, Jürgen 1994: Film und Kritik. Selbstreflexivität im Film. Heft 2. Basel. Frankfurt. S. 86. 51
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ein bewußter Zustand, wenn es sich sprachlich artikuliert.«3 Übertragen auf den Film bedeutet dies, dass Selbstreflexion den Willen des Filmemachers impliziert, über sich selbst und seine Position im Kontext dokumentarischer Konventionen zu reflektieren und sich dabei filmischer Ausdrucksmöglichkeiten zu bedienen. Für die präzise Untersuchung selbstreflexiver Konzeptionen ist entscheidend, dass es sich um einen bewussten Vorgang handelt. Beispielsweise ist ein unabsichtlich ins Bild gesetztes Mikrofon noch kein Ausdruck einer filmischen Selbstreflexion im Dokumentarfilm, denn die Voraussetzungen des eigenen Handelns und Wollens werden nicht bewusst hinterfragt. Die Frage nach dem »wahren Ich« kann dabei weder in der selbstreflexiven Konzeption des Films noch durch andere selbstreflexive Beobachtungen in medialen Kontexten gelöst werden. Selbstreflexion im Dokumentarfilm beinhaltet sowohl das »explizite, begriffliche und in vergegenständlichender Perspektive unternommene Thematisieren des Bezugsgegenstandes von ›ich‹«4 als auch die Problematisierung der Authentizitätsstrategien des Genres, die immer auch Ausdruck gesellschaftlicher Konventionen sind. Die gesellschaftlichen Anforderungen, die an einen Dokumentarfilm gestellt werden, sieht Zimmermann besonders durch seine Selbstreflexivität erfüllt, denn »zu seinen Charakteristika gehört gerade auch das Aufbrechen eingeschliffener Darstellungs- und Rezeptionskonventionen nicht nur im Interesse von Aufklärung über gesellschaftliche Realität, sondern auch im Hinblick auf die medialen Vermittlungsformen und deren visuelle Codierungen, die die Sichtweisen und Bilderwelten des Mediums wie der Zuschauer prägen«.5 Glaubwürdigkeit ist gebunden an Erwartungen, die ein Empfänger an ein Programm stellt. Authentizitätsstrategien generieren Konventionen, die sich in Gattungserwartungen niederschlagen und im Rahmen selbstreflexiver Verfahren durchbrochen werden können. Die Spannung zwischen den Authentizitätsstrategien des Dokumentarfilms und intendierten Verstößen gegen sie lässt sich unter dem Begriff der Inkongruenz subsumieren. Inkongruenz kennzeich-
3. Tugendhat, Ernst 1979: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen. Frankfurt. S. 26.
4. Frank, Manfred 1991: Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis. Essays zur analytischen Philosophie der Subjektivität. Stuttgart. S. 7.
5. Heller, Heinz-B.; Zimmermann, Peter (Hg.) 1990: Bilderwelten – Weltbilder. Dokumentarfilm und Fernsehen. Marburg. S. 110. 52
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4. BEGRIFFSKLÄRUNG: SELBSTREFLEXIVITÄT VERSUS SELBSTREFERENTIALITÄT
net selbstreflexive Verfahren, die in unterschiedlichen Formen eine Abweichung vom Objektivitätsanspruch des Dokumentarfilms markieren. Eine sinnvolle Merkmalsbestimmung dafür, wie selbstreflexive Dokumentarfilme bestimmt werden können, liefert Nichols’ Dokumentarfilmtheorie, in der er zunächst vier vorherrschende Darstellungsmodi – vor allem innerhalb des angloamerikanischen Dokumentarfilmgenres – unterscheidet: »expository, observational, interactive, and reflexive«.6 Letztgenannte Strategie beschreibt er folgendermaßen: »The reflexive mode emphasizes epistemological doubt. It stresses the deformative intervention of the cinematic apparatus in the process of representation. Knowledge is not only localized but itself subject to question. Knowledge is hyper-situated, placed not only in relation to the filmmaker’s physical presence, but also in relation to fundamental issues about the nature of the world, the structure and function of language, the authenticity of documentary sound and image, the difficulties of verification, and the status of empirical evidence in Western culture.«7 Selbstreflexion umfasst somit mehr als die Reflexion des Mediums im Medium; vielmehr stehen auch die Voraussetzungen des Mediums zur Disposition. Auch die von Nichols beschriebenen »interaktiven« Dokumentarfilme werden in der vorliegenden Arbeit als spezifische Formen von Selbstreflexivität behandelt. Die Darstellung der Interaktion des Filmemachers mit den Protagonisten vor der Kamera – wenn auch mit der Absicht, die Authentizität des Gezeigten zu erhöhen – gilt dem Ziel, den Einfluss des Kamerateams auf die Protagonisten aufzuzeigen. Charakteristisch für selbstreflexive Verfahren ist, dass sie mit dem Mittel der Fragmentarisierung und Diskontinuität eine ganzheitliche Wiedergabe von Wirklichkeit auflösen. Verbunden ist damit ein Misstrauen gegenüber Repräsentationen der menschlichen Erfahrungswelt.8 Der Fokus dieser Arbeit wird auf markierte, d.h. sichtbare Merkmale selbstreflexiver Verfahren gelegt. Verfolgt wird daher ein Ansatz, der diskursives Wissen über das Medium einbezieht. Es soll dabei deutlich werden, dass der Begriff der Selbstreferentialität, der häufig synonym und wenig
6. Nichols, Bill 1991: Representing Reality: issues and concepts in documentary. Bloomington, Indianapolis. S. 32.
7. Vgl. ebd., S. 61. 8. Vgl. Stam, Robert 1985: Reflexivity in Film and Literature, S. XV. 53
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trennscharf mit Selbstreflexivität verwendet wird, als analytische Basiskategorie für den Dokumentarfilm unbrauchbar ist.
4.2 Der selbstreferentielle Ausgangspunkt: Lumière Entscheidend hinsichtlich einer Abgrenzung zwischen einer selbstreferentiellen und einer selbstreflexiven Strategie des Dokumentarischen in der Frühphase des Films ist die Frage nach dem gewollten und bewussten Einsatz filmästhetischer Mittel, mit dem der Illusionscharakter des Mediums außer Kraft gesetzt werden soll. Während in der Spät- bzw. Reifephase der Moderne mit selbstreferentiellen Codes des Films bewusst gespielt wird, treten bei Lumière selbstreferentielle Merkmale zutage, die dem imperfekten technischen Standard der damaligen Zeit geschuldet sind. In Lumières Konzeption kann von einer gewollten und gezielten Offenlegung einer Authentizitätsstrategie (noch) keine Rede sein. In diesem Kapitel sollen – auch vor dem Hintergrund einer Abgrenzung zum Phänomen selbstreflexiver Konzeptionen – einige selbstreferentielle Merkmale aufgezeigt werden, die den Schluss nahe legen, dass die Paniksituation, die unter den Zuschauern während der Einfahrt eines Zuges in Lumières Film Arrivée d’un Train À La Ciotat im Kinosaal angeblich entstanden ist, vermutlich nie stattgefunden hat. Die von Lumière angestrebte Wirkungsmächtigkeit des bewegten Bildes unterlag zahlreichen technischen Handicaps, die darauf hindeuten, dass in der Pionierzeit des Films das neue Medium stärker auf sich selbst verwies, als es den Autoren lieb sein konnte. Diesen Sachverhalt verdankt der Film der damaligen Zeit einer Reihe technischer Mängel: Nicht nur, dass Flecken, Kratzer, Schrammen und Bildsprünge durch Klebestellen das häufig fehlerhafte Filmmaterial kennzeichnen; zu den gängigen Mängeln der Anfangszeit, die Lefebvre nennt, gehören eine unregelmäßige Körnigkeit, ein variierender Kontrast und die ungleiche Stärke des Zelluloidträgers. Besonders das Flimmern im Filmbild wurde als gravierende Schwäche des Mediums angesehen.9 Lange bevor der strukturale Experimentalfilm bewusst die Materialität des Mediums in den thematischen Mittelpunkt stellt,
9. Vgl. Lefebvre, Thierry: »Flimmerndes Licht. Zur Geschichte der Filmwahrnehmung im frühen Kino.« In: Loiperdinger, Martin; Kessler, Frank; Lenk, Sabine (Hg.): Kintop 5. Aufführungsgeschichten. Basel, Frankfurt. S. 71-80, hier S. 73. 54
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4. BEGRIFFSKLÄRUNG: SELBSTREFLEXIVITÄT VERSUS SELBSTREFERENTIALITÄT
unterliegt Lumière bei seinem Versuch, die Wirklichkeit wiederzugeben, den unausgereiften Möglichkeiten der Filmwiedergabe.10 Zu den ungewollten Verweisen auf das Dispositiv des Mediums gehören ein unübersehbarer Flimmereffekt, der bei der Projektion des Filmes entstand, und eine unzureichende Lichtquelle, die dazu führte, dass der Lichtkegel nur ein Projektionsbild von etwa 2,5 Meter mal 1,5 Meter auf der Leinwand hervorbrachte. Zur unvermeidlichen Aufführungskonfiguration, die die technische Inszenierung nicht vergessen ließ, gehörte auch das laute Arbeitsgeräusch des Projektors, der im Kinoraum positioniert war. Bedenkt man darüber hinaus, dass die Vorstellung in Schwarz-Weiß und mit einer Dauer von lediglich 50 Sekunden vonstatten ging, muss der Eindruck einer Wirklichkeitstäuschung, die ein einfahrender Zug unter diesen Voraussetzungen des Kinos evoziert, bezweifelt werden. Nicht erst mit der Slapstickszene eines Gärtners, der sich ungewollt durch den Streich eines Lausbuben selbst nassspritzt, wird der Unterschied zwischen Realität und Fiktion problematisiert,11 sondern bereits mit dem idealtypischen Beispiel für die ungestellte Wirklichkeitswiedergabe schlechthin, der Einfahrt eines Zuges. Insbesondere den Zufälligkeitscharakter, den viele Filmkritiker12 apodiktisch dem Film zuschreiben, stellt Loiperdinger in Zweifel. Neben der zwangsläufig unumgehbaren Auswahl der Kameraoperationen durch Lumière schenkt Loiperdinger insbesondere der Inszenierung vor der Kamera seine Aufmerksamkeit. Dass keine der gezeigten Personen auf dem Bahnhof in die Kamera blickt, wertet der Autor als Ausgangspunkt für seine These, dass die Handlung vor der Kamera inszeniert ist. In seinen Überlegungen schließt er die Möglichkeit einer versteckten Kamera auf dem Bahnhof aus und favorisiert stattdessen eine Vermeidungsstrategie Lumières: »Der neuartige Apparat, das Hantieren an der Kurbel und die knatternden Geräusche des Cinématographe bei der Aufnahme erregen unweigerlich die Neugier von Passanten, die sich im Gehen umdrehen oder auch
10. Vgl. Loiperdinger, Martin 1996: »Lumières Ankunft des Zugs, Gründungsmythos eines neuen Mediums.« In: Loiperdinger, Martin; Kessler, Frank; Lenk, Sabine (Hg.): Kintop 5. Aufführungsgeschichten. Basel, Frankfurt. S. 37-70, hier insbesondere S. 43 f. 11. Vgl. hierzu Paech, Joachim: »Zur Theoriegeschichte des Dokumentarfilms.« In: Journal Film, Nr. 23, Winter 1990/91, S. 24-29, hier S. 25. 12. Vgl. beispielsweise Kracauer, Siegried 1993: Theorie des Films: die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Hg. von Karsten Witte. 2. Aufl. Frankfurt. S. 58. 55
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stehen bleiben und gaffen.«13 Dies ist in Arrivée d’un Train À La Ciotat nicht der Fall, da Lumière seine Verwandten als Laienschauspieler einsetzt, um die Authentizität der Bahnhofszene nicht durch Schaulustige zu gefährden. Die sichtbare Referenz der im Bild präsenten Protagonisten auf die Aufnahmesituation hätte die Realitätsillusion der Zuschauer, die glauben sollen, es handele sich um eine zufällige Außenaufnahme am Bahngleis, unweigerlich zerstört. Die bewusste Konstruktion einer für den Zuschauer inszenierten Zufälligkeit lässt vermuten, dass der Erzählstruktur des Filmes auch ein Drehbuch zugrunde gelegen hat.14 Interessanterweise ist es offenbar nicht der Eindruck von Authentizität, sondern das dem Medium anhaftende phantasmagorische Potenzial, das zu seinem Erfolg bei den Zuschauern geführt hat. Schon frühzeitig ist der Widerspruch zwischen Authentizität und selbstreferentieller Zeichenhaftigkeit des Mediums wahrgenommen worden. In dieser Hinsicht gilt Maxim Gorki als einer der ersten Schriftsteller, die sich mit dieser Problematik auseinander gesetzt haben. 1896 konstatiert der russische Erzähler und Dramatiker einen Realitätsverlust durch die Lumière-Filme: »Es gibt nicht einen Laut, und keine Farben. Alles dort – die Erde, die Bäume, die Menschen, Wasser und Luft – ist in eintöniges Grau getaucht.«15 Der deutliche Konstruktionscharakter des Mediums, der für Gorki durch den Mangel an Tönen und Farben sichtbar wird, führt nicht etwa dazu, dass mangels unerfüllter Authentizitätsversprechen das Publikum dem jungen Film den Rücken kehrt; vielmehr sehen viele in Lumières Film einen Hyperrealismus, der eine phantastische Erfahrung der alltäglichen Wirklichkeit zulässt und im Zeitalter des ausgehenden 19. Jahrhunderts das Bedürfnis nach Illusion befriedigen kann. »Die Neugier, Vertrautes und Bekanntes durch eine neue technische Erfindung auf ungewohnte Weise zu sehen und anders zu erfahren, ist im Frühling und Sommer 1896 offenbar das Hauptmotiv für einen Besuch des Cinématographe Lumière.«16 Das Publi-
13. Loiperdinger, Martin 1996: »Lumières Ankunft des Zugs, Gründungsmythos eines neuen Mediums«, S. 60-61.
14. Vgl. ebd., S. 65. 15. Gor’kij, Maksim 1896: »Über den Cinématographe Lumière.« In: Loiperdinger, Martin; Kessler, Frank; Lenk, Sabine (Hg.) 1996: Kintop 4. Aufführungsgeschichten. Basel. Frankfurt. S. 11-25, hier S. 13. 16. Loiperdinger, Martin 1996: »Lumières Ankunft des Zugs, Gründungsmythos eines neuen Mediums«, S. 48. 56
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4. BEGRIFFSKLÄRUNG: SELBSTREFLEXIVITÄT VERSUS SELBSTREFERENTIALITÄT
kum will nicht die Wirklichkeit, sondern das Bild des Wirklichen, das durch die Selbstreferentialität des Mediums geschaffen wird. Loiperdinger kommt zu dem für ihn selbst paradoxen Schluss: »Das Interesse des Publikums an dokumentarischen Projektionsbildern des Cinématographe Lumière war in erster Linie phantastischer Natur. Die Zuschauer wollten nicht die Wirklichkeit auf der Leinwand sehen, sondern von der Wirklichkeit sich unterscheidende Bilder dieser Wirklichkeit.«17 Dass die Relativierung des dokumentarischen Charakters des Filmbildes das Ziel von Lumière darstellt und dass damit bewusst die Authentizitätsstrategie des dokumentarischen Verfahrens im Sinne einer selbstreflexiven Konzeption offen gelegt werden soll, wie dies Zimmermann im Hinblick auf die Zerstörung und den Wiederaufbau einer Mauer verdeutlicht, darf vor diesem Hintergrund bezweifelt werden. Im vorliegenden Fall bedient sich Lumière eines Filmtricks: Als Filmvorführer hat er den zweiten Teil seines Filmes rückwärts laufen lassen, so dass sich eine von Arbeitern zum Einsturz gebrachte Mauer vor den Augen der Zuschauer blitzschnell wieder aufbaut.18 Aus heutiger Sicht greift Lumière zweifellos den dokumentarischen Status des Mediums an, damals jedoch wurde dieser schon darum nicht in Frage gestellt, weil keine Erfahrungen im Umgang mit dem Medium vorlagen. Auch aus dieser Perspektive erscheint Lumières Konzept allenfalls als selbstreferentiell – nicht als selbstreflexiv. Das Problem der Authentizität stellt sich in voller Schärfe mit dem 1. Weltkrieg. Anhand des Filmes The Battle Of The Somme (1916) zeigt Rother, wie ein militärisches Desaster propagandistisch in einen Erfolg umgemünzt wird. Während The Battle Of The Somme dank seiner ausgereiften Authentizitätsstrategie als »authentisch«, aber gleichzeitig als (historisch) »unwahr« gilt, kann man am deutschen Pendant Bei unseren Helden an der Somme (1917) den selbstreferentiellen und nachgestellten Status der Bilder ablesen, der die
17. Vgl. ebd., S. 49-50. 18. Auf den gleichen filmischen Effekt greift auch Vertov zurück: Die Auferstehung eines frisch geschlachteten Ochsen nimmt der Filmemacher zum Anlass, mit dem Vertrauen, das Zuschauer in Filmbilder gelegt haben, zu spielen. Vgl. Zimmermann, Peter: »Spöttischer Blick contra Leidensmiene. Die Schwierigkeit des Dokumentarfilms mit Ironie und Satire.« In: Ertel, Dieter; Zimmermann, Peter (Hg.) 1996: Strategie der Blicke: Zur Modellierung von Wirklichkeit in Dokumentarfilm und Reportage. Konstanz. S. 51-63, hier S. 56 f. 57
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propagandistische bzw. authentische Wirkung stark beeinträchtigt. Wie Rother hervorhebt, ist der Unterschied zwischen non-fiction und fiction vielen Beobachtern erst während des Krieges bewusst geworden.19
4.3 Selbstreferentialität In der Frühphase des Films artikuliert sich Selbstreferentialität zunächst durch die unbewusste und imperfekte Darstellung, die die mediale Konstruktion ungewollt aufdeckt. Der Anspruch der Wiedergabe eines unmittelbaren Wirklichkeitseindrucks wird durch die mangelnden technischen Möglichkeiten eingeschränkt. Eine selbstreflexive Auseinandersetzung des Filmemachers mit den filmischen Ausdrucksmöglichkeiten ist ebenso wenig intendiert wie eine damit verbundene Offenlegung der filmischen Authentizitätsstrategie.20 Daran hat sich bis heute nichts geändert, außer dass von dem bewussten Einsatz selbstreferentieller Codes gesprochen werden kann. Seit langem gehört die Darstellung von Kamera, Mikrofon oder Aufnahmeteam zum filmästhetischen Standard dokumentarischer Fernsehsendungen. Keineswegs ist damit die Infragestellung etablierter Darstellungsstrategien beabsichtigt, vielmehr geht es um ihre Stabilisierung. Die Rhetorik des Verweises auf die Apparatur beschränkt sich auf den gewünschten Effekt einer Steigerung von Authentizität. Selbstreferentialität bleibt in den Grenzen einer affirmativ ausgerichteten Selbstbespiegelung, die in ihrem Ausdrucksfeld häufig nicht über etablierte, auf die Evidenz der Unmittelbarkeit abzielende Elemente der selbstreferentiellen Strategie hinausgeht. Eine umfassende Reflexion herrschender Ausdrucksmöglichkeiten und eine kritische Revision der Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen der dokumentarischen Repräsentation können selbstreferentielle Filme nicht leisten. Eher sind sie geeignet, den Blick
19. Vgl. Rother, Rainer: »Bei unseren Helden an der Somme. Eine deutsche Antwort auf die Entente-Propaganda.« In: Loiperdinger, Martin; Kessler, Frank; Lenk, Sabine (Hg.) 1996: Kintop 4. Aufführungsgeschichten. Basel. Frankfurt. S. 123142. 20. Diskussionen über die Manipulationsmöglichkeiten und die Glaubwürdigkeit dokumentarischer Strategien kamen erst mit den Propagandafilmen des 1. Weltkrieges auf; sie sind Gegenstand von Untersuchungen bezüglich ihrer Selbstreflexivität geworden. 58
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4. BEGRIFFSKLÄRUNG: SELBSTREFLEXIVITÄT VERSUS SELBSTREFERENTIALITÄT
auf Machtverhältnisse zu verschleiern und im Angesicht einer sich unübersichtlich artikulierenden (Post-)Moderne den Verlust des Subjektes zu proklamieren, in der sich Prozesse scheinbar selbst generieren. Wie zu sehen sein wird, behandelt besonders Alexander Kluges Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit das Problem einer gesteigerten Selbstreferentialität, die sich von jeder Referenzbildung an ein »Außerhalb« des eigenen filmischen Zusammenhangs abkoppeln will. Nachdem auf den Zusammenhang zwischen Selbstreferentialität im frühen Kino und seinem Stellenwert in aktuellen dokumentarischen Strategien eingegangen worden ist, soll im folgenden historischen Längsschnitt die Genese selbstreflexiver Strategien anhand konkreter filmhistorischer Beispiele untersucht werden.
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5. Von Vertov bis Kluge: Selbstreflexivität im Dokumentarfilm im historischen Längsschnitt 5.1 Vorüberlegungen Um die Haupteigenschaften selbstreflexiver Dokumentarfilme herausarbeiten zu können, muss eine möglichst große Anzahl von Beispielen untersucht werden, so dass der Analyse und ihren Ergebnissen eine repräsentative Gruppe einschlägiger Filme zugrunde liegt. Nicht alle können in dieser Arbeit ausführlich besprochen werden; ich werde mich vielmehr auf exemplarische Untersuchungen solcher Filme beschränken, die ich als repräsentativ einstufen kann. Diese Konzentration auf die historisch-deskriptive Erklärung selbstreflexiver Strategien im Dokumentarfilm impliziert, dass diejenigen Aspekte, die weniger eng mit der Produktion, Konstitution und Rezeption selbstreflexiver Filme verbunden sind, für die Filminterpretation nur von nachgeordnetem Interesse sind. Das Ziel einer systematischen Beschreibung selbstreflexiver Dokumentarfilmstrategien erfordert methodische Sorgfalt. Somit müssen einzelne Untersuchungsergebnisse eingebunden werden in übergeordnete Modelle und Systeme, um Zusammenhänge zwischen Teilergebnissen und Teilbereichen besser veranschaulichen zu können. Doch welche Modelle sollen – und können – für die Analyse selbstreflexiver Verfahren im Dokumentarfilm fruchtbar gemacht werden? Die Arbeit mit Modellen kann nur schematisch und überblicksartig sein. Um konkrete selbstreflexive Verfahrensweisen erfassen zu können, bedarf es daher weiterer Theoriebausteine. Selbstreflexivität schlägt sich beispielsweise in essayistischen, satirischen und parodistischen Verfahren nieder. Diese Bereiche sind noch nicht in befriedigender Weise für die Untersuchung selbstre61
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flexiver Filme herangezogen worden. Auf die historische Entwicklung im Dokumentarfilm soll im Folgenden eingegangen werden; wie zu sehen sein wird, setzen sich essayistische Dokumentarfilme erst nach einer institutionellen Genrestabilisierung durch Grierson und mit dem Aufkommen des Methodenpluralismus Ende der 70er Jahre durch. Rein strukturalistische Theorieansätze, die den konkreten historischen Kontext nicht erfassen, werden nicht berücksichtigt. Bei selbstreflexiven Filmen ist stets schon der Bezug auf frühere Phänomene und somit eine historische Ebene gegeben. Demzufolge wird eine formale Analyse des auf sich selbst verweisenden Films immer mit einer geschichtlichen Dimension verbunden: Eine ausschließlich filmimmanente Analyse selbstreflexiver Filme wäre sinnlos. Synchronie und Diachronie können nicht diametral einander gegenübergestellt werden. Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht der Versuch, Selbstreflexivität im Dokumentarfilm anhand ihrer spezifischen historischen, ästhetischen und politischen Ausprägungen nachzuzeichnen, wobei nicht von Interesse sein kann, vorhandene Unterschiede einzuebnen.
5.2 Selbstreflexion ex negativo: John Grierson und die britische Dokumentarfilmschule Die Ausprägung der Gattungskonventionen des Dokumentarfilms erlebte mit der Dokumentarfilmschule um Grierson ab Mitte der 20er Jahre einen ersten, vorläufigen Höhepunkt. So schreibt Aitken Grierson einen bedeutenden Einfluss auf die britische Filmkultur zu und betont seinen Beitrag zur Filmtheorie,1 der zweifellos bis in die heutige Zeit reicht.2 Den traditionsbildenden Einfluss des »Voice of God«3-Dokumentarismus Grierson’scher Provenienz sieht auch Nichols gegeben: »The direct-address style of the Griersonian tra-
1. Vgl. Aitken, Ian 1990: Film and Reform: John Grierson and the Documentary Film Movement. London. S. 4.
2. Vgl. Rosen, Philip: »Document and Documentary: On the Persistence of Historical Concepts.« In: Renov, Michael (Hg.) 1993: Theorizing Documentary. New York. S. 58-89. 3. Der »Voice of God«-Dokumentarismus bezeichnet einen Dokumentarfilmmodus, bei dem einem Off-Kommentar Bilder unterlegt werden, die die Aussagen des Sprechers visuell illustrieren. 62
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5. SELBSTREFLEXIVITÄT IM DOKUMENTARFILM IM HISTORISCHEN LÄNGSSCHNITT
dition […] was the first thoroughly worked out mode of documentary.«4 Stellvertretend für viele, besonders ältere Arbeiten zum Dokumentarfilm glaubt Rabiger noch Anfang der 90er Jahre, die Anwendung des Begriffs »documentary« auf Grierson zurückführen zu können, der diesen Terminus 1926 zur Beschreibung von Flahertys Moana angewandt hat.5 Dieser Behauptung tritt Winston entgegen, der darstellt, dass schon 1898 der Terminus des Dokumentarischen im Zusammenhang mit der französischen Filmproduktion aufgetreten ist.6 Aufgrund der ästhetischen und politischen Dominanz, die die Dokumentarfilmschule um Grierson auf die Genese des Dokumentarfilms ausübt und deren Auswirkungen sich bis heute im Stil des »Direct Cinema« zeigen, erscheint es sinnvoll, das Ausgangsmaterial selbstreflexiver Verfahren, zu dem Grierson dank seiner Definitionsversuche des Dokumentarfilmbegriffs einen nicht unerheblichen Beitrag liefert, näher darzustellen.
5.2.1 Integration versus Individualität: Griersons Einflüsse und Voraussetzungen Grierson wird zunächst durch seine Eltern geprägt, die durch ihr soziales und politisches Bewusstsein der Erziehung einen hohen Stellenwert beimessen.7 Für Griersons Vater, der von religiösen Werten überzeugt ist, stellt Wissen die Grundlage zur Macht dar.8 Grierson studiert idealistische Philosophie, die unter dem Einfluss neokantianischer und neohegelianischer Doktrin steht. Der britische Idealismus kritisiert die sozialen Beziehungen des Kapitalismus und fordert soziale Reformen, die der Staat durchführen soll.9 Den
4. Nichols, Bill: »The Voice of Documentary«. In: Rosenthal, Alan (Hg.) 1988: New Challenges for Documentary. Berkeley. Los Angeles. London. S. 48-63, hier S. 48.
5. Vgl. Rabiger, Michael 1992: Directing the documentary. Boston. London. S. 15-19 und S. 285-287.
6. Vgl. Winston, Brian 1995: Claiming the Real. The Documentary Film Revisted. London. S. 8 f.
7. Vgl. Aitken, Ian 1990: Film and Reform, S. 24. 8. Vgl. Hardy, Forsyth (Hg.) 1947: Grierson und der Dokumentarfilm. Ins Deutsche übertragen von W. Flöttmann. Gütersloh. S. 16.
9. Vgl. Aitken, Ian 1990: Film and Reform: John Grierson and the Documentary Film Movement. London. S. 24. 63
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Mangel an Werten, der aus dem Konsumfieber des Kapitalismus resultiert, will Grierson mit Hilfe der sozialen Interventionsmöglichkeiten des Staates kompensieren. Ein Instrument sieht er in der staatlichen Förderung des Dokumentarfilms, mit dessen Hilfe er den Werteverfall der Gesellschaft aufhalten will, der durch eine fortschreitende Individualisierung ausgelöst wird und seinen Ausgangspunkt in einem übertriebenen Kapitalismus hat. Zwar ist dem Kapitalismus die utilitaristische Formel des rationalen Gebrauchs von Erfahrung zur Glückserfüllung inhärent, dennoch hat die Betonung materieller Güter eine moralische Verarmung zur Folge, die nur durch den staatlichen Eingriff in die individuelle Freiheit ausgeglichen werden kann.10 In einer immer komplizierter werdenden Umwelt sieht Grierson den Individualismus als Gefahr und favorisiert stattdessen Gemeinschaftsarbeit und gesellschaftliche Integration in das bestehende System, das er nicht beseitigen, sondern mit Hilfe des Dokumentarfilms reformieren will.11 Dabei unterscheidet er zwischen »guten« Ideologien, deren Hauptziel eine Integration des Individuums in gesellschaftliche Prozesse darstellt, und »schlechten« Ideologien, die das Gegenteil propagieren. Wie Aitken herausstellt, lehnt Grierson den Individualismus als potenziell negative Kraft ab, »[…] because it expressed the opposite principle to that of integration. Throughout his writings, terms such as ›personal‹, ›private‹, ›individualism‹, ›hedonism‹, ›disorder‹, and ›sophistication‹, were given negative connotations; whereas terms such as ›alliance‹ (sic) ›unity‹, ›bind‹, ›pattern‹, ›structure‹ (sic) ›interdependency‹, ›cooperative‹, ›locality‹, and ›duty‹, were given positive connotations.«12 Grierson kennzeichnet Werte, die ein Individuum in die Gesellschaft integrieren können, wie z.B. Loyalität, unhinterfragt als positiv. In ihnen sieht er sein Kriterium eines nutzbringenden Effektes für die Gesellschaft erfüllt. Demgegenüber lehnt er jeden Individualismus ab, da dieser ausschließlich egoistisch geprägt sei. In Griersons Konzept ist der Begriff der Individualität eindeutig negativ konnotiert, womit eine Problematisierung von Subjektivität a priori ausgeklammert ist, da (Selbst-)Reflexivität an sich keinen Nutzeffekt für die Gesellschaft mit sich bringt. Dieser Zusammenhang lässt sich auch auf die filmische Arbeit Griersons
10. Vgl. ebd., S. 26 f. 11. Vgl. Grierson in Hardy, Forsyth (Hg.) 1947: Grierson und der Dokumentarfilm, S. 296.
12. Aitken, Ian 1990: Film and Reform, S. 189. 64
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5. SELBSTREFLEXIVITÄT IM DOKUMENTARFILM IM HISTORISCHEN LÄNGSSCHNITT
übertragen: Film steht als Massenmedium ganz im Dienst einer Gesellschaft, deren Potenziale optimiert werden sollen.
5.2.2 Griersons Ausgangspunkte Der Verlust religiöser und sittlicher Werte, die nach Grierson in früheren Zeiten eine Wertegemeinschaft und eine demokratische Gesinnung sichergestellt haben, kann durch die Distribution dieser Werte über Medien aufgehalten werden.13 Grierson bringt schon damals das Paradigma einer schnelllebigen Welt ins Spiel, in der der Mensch seine Orientierungspunkte verloren hat, um darauf zu insistieren, dass es nicht mehr ausreicht, Informationen mit den Mitteln der traditionellen Erziehung zu verbreiten, sondern auch durch die Massenmedien Film und Rundfunk,14 die dank ihrer Wirkung geeignet seien, die Bürger auf ihre staatsbürgerlichen Pflichten hinzuweisen. Für Grierson spielt die Ablehnung der Denkfigur des »vernünftigen Bürgers«, die das Kernpostulat einer Demokratie ausmacht, eine besondere Rolle. Nach den amerikanischen Medienforschern Lippmann und Lasswell, von denen Grierson einige Anregungen erhalten hat, ist der »Durchschnittsbürger« nicht in der Lage, komplexe Probleme zu verstehen; aus diesem Grund soll er von der Regierung ausgeschlossen bleiben, die allein von wenigen, gut ausgebildeten Spezialisten geführt werden kann. Dieses Konzept des Minoritätenkonsenses, das auf einem sozialdemokratischen Konstitutionalismus basiert, lehnt das liberale Bildungsideal des 19. Jahrhunderts ab. Der »Durchschnittsbürger«, so fordert Grierson, sollte nicht mit rationaler Erziehung geformt werden, sondern mit emotionalen Mitteln; dem Dokumentarfilm fällt seinem Wesen nach diese Aufgabe zu: »[Der Dokumentarfilm] lehrt die neue Welt nicht durch Analyse verstehen. Einzig und zum ersten Male vermittelt er die neue Welt, indem er sie verkörpert und lebendig vor uns hinstellt.«15 Der Auffassung Aitkens, der Grierson in diesem Zusammenhang das Konzept einer wie auch immer zu denkenden Gleichrangigkeit zwischen ästhetischen und sozialen Aspekten zuweist, muss widersprochen werden. Wenn auch zu Beginn der britischen Doku-
13. Vgl. Grierson in Hardy, Forsyth (Hg.) 1947: Grierson und der Dokumentarfilm, S. 322.
14. Vgl. ebd., S. 187. 15. Vgl. ebd., S. 300. 65
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mentarfilmschule die Suche nach der »richtigen« Form einen gewissen Stellenwert innehatte, ging es Grierson in Wirklichkeit um die »staatsbürgerliche Erziehung der Zuschauer und nicht um künstlerische Experimente der Schöpfer«.16 Grierson äußert sich in seinen Texten unmissverständlich: »Der Dokumentarfilm war von Anfang an – als wir zuerst mit unseren Theorien über die gemeinnützigen Aufgaben von denjenigen Flahertys abgingen – eine ›antiästhetische‹ Bewegung. Ich vermute, wir haben alle eine persönliche ›künstlerische‹ Fähigkeit geopfert und die liebe Eitelkeit, die damit immer verschwindet.«17 Grierson spricht damit dem Dokumentarfilm jede Eignung ab, ästhetische Bildung zu befördern. Nach Griersons Worten ist die »Kunst« des Dokumentarfilms allenfalls »eine Nebenerscheinung einer guten und in die Tiefe gehenden Wiedergabe«.18 Mit dieser Haltung steht Grierson einer selbstreflexiven Konzeption, wie sie beispielsweise Vertov in Der Mann mit der Kamera artikuliert, diametral gegenüber, die den Rezipienten gerade über die Sichtbarmachung des ästhetischen Konstruktionsprozesses am Filmemachen partizipieren lassen will. Gleichzeitig schließt Grierson aus, dass Film als subjektives und selbstreflexives Artikulationsmedium in Frage kommen könnte. Die Umsetzung ästhetischer Vorstellungen bleibt bei Grierson allein der Malerei vorbehalten, wofür er drei Gründe nennt. Erstens behauptet er, dass das Hervortreten des Konstruktionscharakters ein immanentes Merkmal der Malerei sei. Zweitens fallen bei dieser vergleichsweise weniger Kosten an als bei der Produktion eines »Autorenfilms«, und drittens wird die Malerei nicht als adäquates Vehikel für erzieherische Zwecke angesehen.19 Hinzu kommt, dass nach Griersons Vorstellung nur ein Künstler, der sich nicht gegenüber der Gesellschaft entfremdet hat, eine Kunst schaffen kann, die eine soziale Funktion erfüllt.20 Die Gefahr einer Entfremdung des Autors gegenüber der Gesellschaft sieht Grierson im Aufkommen individueller Träume bestätigt, die er als »Romantizismus« ablehnt. Griersons Ansicht liegt offenbar die Argumentation von Marx zugrunde, dass im Kapi-
16. Toeplitz, Jerzy 1977: Geschichte des Films. Band 2. 1928-1933. Berlin. S. 285. 17. Grierson zitiert in Hardy, Forsyth (Hg.) 1947: Grierson und der Dokumentarfilm, S. 272.
18. Vgl. ebd., S. 333. 19. Vgl. ebd., S. 18. 20. Vgl. Aitken, Ian 1990: Film and Reform, S. 71. 66
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talismus der Künstler gegenüber der Gesellschaft entfremdet sei und das künstlerische Schaffen daher zur Dekadenz neige,21 und dies, obgleich Grierson weit davon entfernt ist, eine proletarische Revolution im Sinne von Marx herbeiführen zu wollen. Vielmehr geht es ihm darum, Marx zu instrumentalisieren, um jeden künstlerischen Individualismus einzudämmen. Der Dokumentarfilm im Umfeld von Grierson gilt als Gegenentwurf zur künstlerischen Autonomie, daher ist zu fragen, ob es sich um ein weiteres dokumentarisches Modell handelt, das den Anspruch erhebt, die physische Realität zu registrieren. Grierson liefert in seinen Schriften einige Hinweise, die tatsächlich den Eindruck entstehen lassen, es handele sich bei seinem Konzept um die bloße Wiedergabe der vorgefundenen physischen Realität. Er stellt drei Grundsätze auf: 1. Der Atelierfilm »nimmt gespielte Handlungen in künstlichen Szenerien auf. Der Dokumentarfilm will aber die lebendige Szenerie und die lebendige Handlung aufnehmen.«22 2. Nur Originaldarsteller und eine Originalszenerie sind geeignet, das wirkliche Leben darzustellen. 3. »Der Film hat ein besonderes Einfühlungsvermögen für die Hervorhebung einer Bewegung, die durch Tradition geformt oder durch die Zeit ausgeglichen wurde. […] Hinzu kommt, daß der Dokumentarfilm eine intime Vertrautheit und Wirkung erreichen kann, die den Ateliertechnikern mit ihren Scheindekorationen und den lilienzarten Darstellungskünsten eines Großstadtschauspielers nicht möglich sind.«23 Grierson spricht dem Dokumentarfilm nicht nur seinem Wesen nach Authentizität zu; darüber hinaus lassen sich die von ihm aufgestellten Kriterien in auffälliger Weise auf Flahertys wegweisenden Dokumentarfilm Nanuk, der Eskimo beziehen. Insbesondere dem Aspekt des Überlebenskampfes der Einwohner in einer Eiswüste, der in Nanuk dargestellt wird und dem ein hoher dramaturgischer Gehalt zu Eigen ist, misst Grierson einen großen Stellenwert bei. Für Grierson sind ungestellte, aus der Realität entnommene Bilder wahrhaftiger, da sie »ein historisches Produkt« darstellen, das durch
21. Ähnliche Vorwürfe gegen den »formalen Dokumentarfilm« artikulierten sich im Rahmen der Kreimeier-Wildenhahn-Debatte.
22. Grierson zitiert in Hardy, Forsyth (Hg.) 1947: Grierson und der Dokumentarfilm, S. 119.
23. Vgl. ebd., S. 120. 67
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die »Tradition vieler Jahrhunderte geformt« ist.24 Entscheidend ist dabei für Grierson, dass ein Überlebenskampf sozial und nicht individuell determiniert ist. Jeder Kampf, der nach Grierson durch eine Notwendigkeit bestimmt ist (z.B. das Überleben in menschenfeindlicher Umgebung), beinhaltet dramatische Ausdrucksformen. Aus diesem Grund favorisiert Grierson Nanuk und nicht Flahertys Moana, da es bei Moana nicht um einen unabwendbaren Kampf ging, sondern um die »naturale Schönheit«. »Grierson believed that representation of the social environment should have priority over representations of personal psychology, and that films should represent the interrelation of the individual and the social.«25
5.2.3 Narration als unabdingbare Voraussetzung für den Dokumentarfilm Die favorisierte Dimension des dramatischen Gehalts erschöpft sich jedoch nicht in der bloßen Wiedergabe einer dramatischen Geschichte im Film; der von Flaherty exemplarisch entwickelte Aspekt der Dramatisierung gilt auch für Griersons Behandlung des Stoffes. Seine Formel des »creative treatment of natural material«26 beinhaltet eine Montage des Filmmaterials unabhängig von der filmischen Wirklichkeit und ohne Rücksicht auf sie. Hardy hebt hervor, dass es Grierson darum gegangen sei, der Dramatisierung des Außergewöhnlichen, wie es Hollywood verkörpert, das Außergewöhnliche des Alltags entgegenzustellen.27 Rosen stellt in diesem Zusammenhang fest, dass das Dokumentarfilmethos Griersons auch als Reflex auf die kommerzialisierte Unterhaltungsfilmindustrie zu verstehen sei; ein indirekter Einfluss des Hollywooderzählstiles auf den britischen Dokumentarfilm, der nicht zuletzt durch Flaherty vermittelt wurde, liegt auf der Hand.28 Es stand für Grierson fest, dass der
24. Vgl. Toeplitz, Jerzy 1977: Geschichte des Films. Band 2. 1928-1933. Berlin. S. 287.
25. Aitken, Ian 1990: Film and Reform, S. 85. 26. Rosen, Philip: »Document and Documentary: On the Persistence of Historical Concepts.« In: Renov, Michael (Hg.) 1993: Theorizing Documentary. New York. S. 76. 27. Vgl. Hardy, Forsyth (Hg.) 1947: Grierson und der Dokumentarfilm, S. 21 f. 28. Vgl. Rosen, Philip: »Document and Documentary: On the Persistence of Historical Concepts«, S. 74. 68
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Dokumentarfilm das Reale dramatisieren müsse. Paradoxerweise war dabei für Grierson immer die fiktionalisierte Form der Narration ausschlaggebend für den Charakter des Dokumentarfilms, denn nicht dramatisiertes Material repräsentiert nur eine Erscheinung, nicht aber das für Grierson unabdingbare (aristotelische) Wesen eines Gegenstandes, das sichtbar gemacht werden muss. Auf den Film bezogen bedeutet dies beispielsweise eine Kritik an Ruttmans Film Berlin. Die Sinfonie der Großstadt, und zwar nicht etwa, weil dieser zu »formalistisch« oder »künstlerisch« sei, sondern aufgrund eines vorgeblich »naturalistischen« Modus, der nach Grierson mit sich bringt, dass die verborgenen Kräfte, die das Stadtleben in Berlin bestimmen, von Ruttman nicht aufgezeigt werden. So bleibt für Grierson Ruttmans Werk auf einer allgemeinen und abstrakten Ebene stehen, anstatt sich auf die besonderen Aspekte des Berliner Stadtlebens zu konzentrieren.29 Demgegenüber favorisiert Grierson Flahertys Nanuk, der Eskimo. Bei Nanuk ist Grierson noch unzweifelhaft im Glauben, dass es sich um »keine zurechtgemachte Handlung vor einem Hintergrund« handelt, »dessen dekorative Art sie bestimmte, sondern eine Handlung, die er aus dem Stoff selbst hervorgehen ließ«.30 Erstaunlicherweise wendet Grierson das fiktionalisierende Element der Dramatisierung auf seine Arbeit an, ohne es einzugestehen, während er sich im gleichen Moment vom fiktionalen Film stark distanziert. Weder der fiktionale Film noch künstlerisch dramatisiertes Dokumentarfilmmaterial (z.B. Ruttmanns Berlin. Die Sinfonie der Großstadt oder Wochenschauen) sind für Grierson dokumentarisch. In seinen Texten erkennt Grierson zwar, dass seine Wirklichkeitskonzeption notwendigerweise einem subjektiven Einfluss unterliegt, aber dieses Moment sollte dem Rezipienten verborgen bleiben. »Although he recognised that film interpreted reality, and was not mimesis, he did not believe that the average spectator should share that recognition and believed that a convincing illusion
29. Vgl. Aitken, Ian 1990: Film and Reform, S. 12. Einen wichtigen Aspekt, der von Kant und Hegel ausgeht und den Grierson in sein Konzept aufnimmt, stellt die Unterscheidung zwischen dem »Realen« und dem »Phänomenalen« dar. Danach ist das Empirische und Besondere dem Allgemeinen und Abstraktem vorzuziehen, da es das beste Verständnis der Wirklichkeit ermöglicht. 30. Grierson zitiert in Hardy, Forsyth (Hg.) 1947: Grierson und der Dokumentarfilm, S. 206. 69
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of reality was essential in order to make the narrative as powerful as possible.«31 Wie Winston darstellt, inszenierte Grierson in seinem Film Drifters sowohl die Aufnahme in der Kabine des Fischkutters als auch die Aufnahmen der schwimmenden Fische im Studio nach. Griersons Definitionen zum Dokumentarfilm, in denen er sich scharf vom fiktionalen Film abgrenzt und jede handwerkliche Verbindung zwischen dem Atelierfilm und dem Dokumentarfilm für junge Regisseure als unvorteilhaft bezeichnet,32 lassen erahnen, wie dogmatisch eine Konzeption erscheint, die den »Spielfilm als Feind Nummer eins«33 verurteilt, aber die Narrationsweise des Hollywoodkinos fraglos übernommen hat.34 In Griersons Vorstellung von Bildung, zu deren Voraussetzung gehört, eine unzugängliche Menge an Fakten zu zugänglichen dramatischen Mustern umzuformen, liegt nur ein Grund, warum eine Hinterfragung des Dokumentarfilmkonzepts und eine kritische Selbstanalyse, wie Rosenthal betont,35 ausgeblieben sind. Es sollen im Folgenden insbesondere institutionelle Gründe genannt werden, die eine systematische Verhinderung selbstreflexiver Ansätze begünstigen. Besonders in dieser Hinsicht ist die britische Dokumentarfilmtradition ein geeignetes Beispiel.
5.2.4 Institutionalisiertes Filmschaffen Grierson skizziert die Hauptaufgabe, die er von 1928 bis 1933 als Mitglied des Empire Marketing Board (EMB) einnimmt, folgendermaßen: »Für den Film hatten wir den knappen Auftrag, ›das Empire lebendig darzustellen‹. Man gab uns demgemäß die Weisung, den Film dazu zu benutzen (oder zu lernen, ihn dazu zu benutzen), um die Industrie, die Ernte, die Forschung, die Produktion, die fortschrittlichen Tätigkeiten aller Art lebendig darzustellen, kurz, das tägliche Tun und Treiben des arbeitenden britischen Commonwealth und Empire der Allgemeinheit zum Bewußtsein zu brin-
31. Winston, Brian 1995: Claiming the Real, S. 12. 32. Vgl. Grierson in Hardy, Forsyth (Hg.) 1947: Grierson und der Dokumentarfilm, S. 121.
33. Toeplitz, Jerzy 1977: Geschichte des Films 1928-1933. Berlin. S. 289. 34. Vgl. Winston, Brian 1995: Claiming the Real, S. 54. 35. Vgl. Rosenthal, Alan (Hg.) 1988: New Challenges for Documentary. Berkeley. Los Angeles. London. S. 31. Vgl. ebenso Winston, Brian 1995: Claiming the Real, S. 14. 70
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gen.«36 Der alte Kolonialgedanke, in dessen Tradition der Begriff »Empire« in Großbritannien durch Herrschaft und Ausbeutung konnotiert ist, sollte durch Kooperation in den Kolonialländern eine Akzentverschiebung erfahren. Um sein Ziel zu erreichen, will Grierson mit Hilfe von Propaganda die Bündelung aller gesellschaftlichen Kräfte mobilisieren. Dabei macht er auf den kirchlichen Hintergrund des Propagandabegriffs aufmerksam, um Propaganda sowohl für die Demokratie als geeignetes Mittel zur Erziehung zu legitimieren als auch zu verhindern, dass Propaganda in die Hände von Leuten fällt, die seiner Meinung nach von Erziehung wenig verstehen, wie z.B. den Werbefachleuten.37 Grierson macht keinen Hehl daraus, dass beim Versagen des Verstandes der Glaube nachhelfen muss. Entscheidend für ihn ist, dass die »Gesellschaft aus ihrer Verwirrung und Konfusion befreit werde und eine geistige Führung in der Form des Glaubens erhält«.38 Er betont, wie es weiter heißt, dass es gerade in revolutionären Phasen darauf ankomme, »den Menschen etwas vorzusetzen, woran sie glauben können«.39 Mit dieser Aussage befindet sich Grierson in Opposition zu satirischen Konzeptionen, wie beispielsweise Vigos A propos de Nice. Nicht zuletzt als gegenläufiger Reflex zum politischen Establishment haben besonders in Krisenzeiten satirische Strategien Konjunktur, um gerade auf die durch die Persuasion der Propaganda verdeckten politischen Defizite aufmerksam zu machen.
5.2.5 Sozialkritischer Anspruch und die Grenzen seiner Umsetzung Griersons politischer Vorwurf an Ruttman, Themen mit sozialem Sprengstoff in seinem Film Berlin. Die Sinfonie der Großstadt auszugrenzen, hat vor seinem eigenen Œuvre kaum bestand: »In Drifters zum Beispiel wurden die akuten ökonomischen Probleme des Heringfangs in der Nordsee überhaupt nicht berührt. Soziale Konflikte, die es in jedem Film gab, der sich ernsthaft mit den Industriebezirken Zentralenglands befasste, überschritten die vom Empire Marketing Board gesetzten Grenzen, innerhalb deren lediglich das Empire
36. Grierson zitiert in Hardy, Forsyth (Hg.) 1947: Grierson und der Dokumentarfilm, S. 149.
37. Vgl. ebd., S. 321 und 329. 38. Grierson zitiert in Hardy, Forsyth (Hg.) 1947: Grierson und der Dokumentarfilm, S. 310.
39. Vgl. ebd., S. 317. 71
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lebendig darzustellen war. Die Regisseure vermieden es, weitgehende wirtschaftliche und soziale Analysen vorzunehmen, und beschränkten sich darauf, die Tatsachen zu schildern und das darin enthaltene Material zu dramatisieren.«40 In eine gleiche Richtung wie Toeplitz gehen Gregor und Patalas, wenn sie feststellen, dass die Individualität und die Bedürfnisse der in den Filmen der britischen Dokumentarfilmschule präsentierten Menschen bis 1933 im Hintergrund bleiben, während die Darstellung ihrer Tätigkeit vordergründig behandelt wird.41 Auch Winston nennt mehrere Filmbeispiele, in denen nicht die unmenschlichen Bedingungen des industriellen Lebens im Mittelpunkt stehen, sondern in denen die Technikbegeisterung der Produzenten und Auftraggeber zum Ausdruck kommt.42 Winston geht aber noch einen Schritt weiter. Seiner Meinung nach entspricht die praktische filmische Umsetzung der Schule um Grierson keineswegs den aufgestellten theoretischen Ansprüchen, den Dokumentarfilm als Sprachrohr der unterprivilegierten Leute auf den Feldern und in den Fabriken einzusetzen.43 Vielmehr macht Winston darauf aufmerksam, dass in Filmen wie Industrial Britain, The Face of Britain und Workers and Jobs Slums und Fabriken geschönt dargestellt werden.44 Erschwerend kommt nach der Kritik des beteiligten Autors in Night Mail, W. H. Auden, hinzu, dass die Dokumentaristen der höheren Mittelklasse angehören und daher die Probleme der Proletarier nicht verstehen können.45 Verklärend wirkt aber auch ein Film wie Song of Ceylon, in dem die Probleme, die die Kolonialarbeit für die Einheimischen mit sich bringt, nicht angesprochen werden. Es überrascht daher wenig, dass Winston zum ernüchternden Ergebnis kommt: »The ›movement‹ usually thus concentrates on surfaces, even while managing to run from the social meaning of those surfaces.«46 Gestützt wird diese Feststellung zudem durch eine in Großbritannien herrschende Zensurbehörde, die jede Ausübung von Kritik am System überwacht. So konnte Man
40. 41. 42. 43. 44. 45.
Toeplitz, Jerzy 1977: Geschichte des Films. Band 2. 1928-1933. S. 290. Vgl. Gregor, Ulrich; Patalas, Enno 1962: Geschichte des Films, S. 182. Vgl. Winston, Brian 1995: Claiming the Real, S. 38. Vgl. ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 43. Vgl. Auden, zitiert in Rotha, Paul 1973: Documentary Diary. An Informal History of the British Documentary Film 1928-1939. New York. S. 141. 46. Winston, Brian 1995: Claiming the Real, S. 38. 72
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of Aran erst nach Überzeugungsarbeit die Zensur passieren, denn Armut durfte nicht gezeigt werden.47 Toeplitz zitiert den Vorsitzenden des Zensorenrates mit der Feststellung, dass gravierende soziale Probleme nicht Gegenstand britischer Filme seien. Die Darstellung eines sozialen Brennpunktes in einer südwalisischen Industrieregion mit einer Arbeitslosenquote von 60 Prozent bleibt in den Filmen der britischen Dokumentarfilmbewegung völlig ausgespart.48 Dafür allein eine starke Zensurbehörde verantwortlich zu machen, greift zu kurz. Zuerst geschieht dies aus Rücksichtnahme auf die Institutionen, die eine Selbstzensur der Autoren von vorneherein nahe legen.49 Grierson akzeptiert derart loyal die Grenzen des Systems, dass die Frage, ob es bei der Produktion des Empire Marketing Boards eine Selbstzensur der Regisseure gibt, fast schon überflüssig erscheint. Immerhin lässt Grierson durchblicken, so Toeplitz, »daß es manchen Personen oder Institutionen sehr mißfiel, wenn das Leben so gezeigt wird, wie es sich darstellt. Mitunter werden sogar Proteststimmen laut.«50 Es überrascht daher nicht, dass der Weg von Filmen wie Night Mail zu Propagandafilmen, die bestehende Differenzen zwischen einer Ober- und einer Unterschicht zugunsten einer nationalen Einheit aufzuheben versuchten, nicht weit war.51 Griersons Konzeption kann nicht als kritisch bezeichnet werden: »The films which he wanted made would neither give an objective account of contemporary reality, nor cultivate the critical faculties of the spectator.«52 Die Nähe zum Spielfilm ist weitaus ausgeprägter, als es Griersons rigorose und ablehnende Aussagen einräumen. So werden in Night Mail alle Szenen im Zuginneren in einem Tonstudio gedreht. Der Wunsch, die authentische Stimme der Arbeiter im Zuginneren wiederzugeben, war einfacher anzukündigen als einzuhalten, denn jede Synchronizität hätte eine enorme Intervention in das Geschehen erfordert;53 leichte, schallgedämpfte Kameras, mit denen
47. Vgl. Toeplitz, Jerzy 1979: Geschichte des Films. Band 3. 1934-1939. Berlin. 48. 49. 50. 51. 52. 53.
S. 242 f. Vgl. ebd., S. 244. Vgl. Auden zitiert in Rotha, Paul 1973: Documentary Diary, S. 141. Toeplitz, Jerzy 1977: Geschichte des Films 1928-1933, S. 289. Vgl. Winston, Brian 1995: Claiming the Real, S. 43. Aitken, Ian 1990: Film and Reform, S. 99. Vgl. Winston, Brian: »The Tradition of the Victim in Griersonian Documentary.« 73
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ein Geschehen verfolgt und mit synchronem Ton aufgenommen werden konnte, standen erst Ende der 50er Jahre zur Verfügung. Das Filmkonzept Robert Flahertys weist einige Affinitäten zu Griersons Arbeit auf: erstens in der bewussten Inszenierung von Szenen, zweitens in der als elementar angesehenen Dramatisierung des dokumentarischen Materials, drittens in der Übernahme der letztlich aus Hollywood stammenden Narrationsweisen. Schließlich prägt auch Flahertys Zusammenarbeit mit kommerziellen Organisationen, bei der er weitaus »mehr Kollege als Kritiker« der Filmindustrie gewesen ist, Griersons Verhältnis zur Industrie.54 Dokumentarfilm kann sich nach Griersons Meinung nur in Abhängigkeit vom Kapital entwickeln: »Geld gibt es für Filme, die Kassenerfolge oder Propagandaerfolge erzielen werden, aber nur für solche. Dies sind die engen Grenzen, innerhalb derer der Film sich entwickeln musste und sich weiter entwickeln wird.«55 Wenn Grierson von einem Einfluss des russischen Kinos auf seine filmische Arbeit spricht, so meint er in erster Linie den staatlich geförderten Film in der Sowjetunion, keineswegs die in jeder Hinsicht progressive Arbeit Vertovs, die unter der Herrschaft Stalins zunehmend diskreditiert und marginalisiert wird, weil sie von der staatlichen Doktrin abweicht. Ähnlich wie Flaherty, der ein Iglu kameragerecht nachbauen musste, um den Eindruck authentischer Szenen im Innenraum wiedergeben zu können, wissen auch die Produzenten der britischen Dokumentarfilmschule, dass sie für die Wahrung ihres authentischen Anscheins auf Inszenierungen angewiesen sind. Hierfür verantwortlich machen sie nicht ihren dogmatischen Anspruch, sondern die mangelnde technische Ausstattung (große, schwere Kamera, aufwendiger Beleuchtungspark, synchronisiertes Magnetophon), die nach ihrer Meinung nichts anderes als Inszenierungen zulässt. Rekonstruktion wird als vorübergehender Notbehelf angesehen, bis die Entwicklung einer geräuschlosen und tragbaren Kamera auch synchrone Ton-Bild-Aufnahmen erlaubt. Grundlage ist dabei eine emphatische Technikerwartung, die Ende der 50er Jahre in Erfüllung gehen sollte. An dem großen Irrtum, dass eine bessere Kameratechnik »weit tiefer als das menschliche Auge in
In: Rosenthal, Alan (Hg.) 1988: New Challenges for Documentary. Berkeley. Los Angeles. London. S. 273. 54. Vgl. Aitken, Ian 1990: Film and Reform, S. 79. 55. Grierson zitiert in Hardy, Forsyth (Hg.) 1947: Grierson und der Dokumentarfilm, S. 147. 74
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das innere Wesen der Dinge« schauen kann, wie Grierson es ausdrückt, ändert dies nichts.56
5.3 »Der Mann mit der Kamera«: Dziga Vertov »Der Mann mit der Kamera […] ist ein Versuch, die Fakten in hundertprozentiger Filmsprache zu formen. In diesem Film haben wir völlig auf die Kunstmittel des Theaters und der Literatur verzichtet.« 57
5.3.1 Die Entschlüsselung der Welt: Kino-Auge und Filmfakten Dziga Vertovs Film Der Mann mit der Kamera aus dem Jahr 1928 gilt als einer der ersten Filme, die die Untersuchung der dokumentarischen Filmsprache systematisch zum Thema machen58 und deren faszinierende Wirkung Kritiker insbesondere von der Selbstthematisierung des filmischen Entstehungsprozesses ableiten.59 Im Rahmen dieser Arbeit soll daher ausführlich auf die theoretische und praktische Filmkonzeption von Vertov eingegangen werden. Dabei geht es auch darum, das widersprüchliche Beeinflussungsnetz aus Futurismus, Formalismus und Konstruktivismus aufzudecken, das Vertovs genuin selbstreflexive Konzeption, seine theoretischen Schriften und sein Filmwerk Der Mann mit der Kamera geprägt hat. Schon das erste Manifest aus dem Jahre 1922 offenbart eine Reaktion Vertovs auf die genannten Kunstströmungen. Im Mittelpunkt steht die Erweiterung und Verbesserung der menschlichen Wahrnehmungsmöglichkeit mit Hilfe der Kamera,60 mit deren richtiger Anwendung die technikgeschichtliche Traditionslinie des Mikroskops und des Teleskops bei der Überwindung der Unvollkommenheit des menschlichen Auges vollendet werden kann:61 »Die
56. Grierson zitiert in Hardy, Forsyth (Hg.) 1947: Grierson und der Dokumentarfilm, S. 87.
57. Vertov, Dziga 1929: »Aus der Geschichte der Kinoki.« In Beilenhoff, Wolfgang (Hg.) 1973: Dziga Vertov. Schriften zum Film. München. S. 82-88, hier S. 85.
58. Vgl. Rabiger, Michael 1992: Directing the documentary. Boston. London. S. 285-287.
59. Vgl. Gregor, Ulrich; Patalas, Enno 1962: Geschichte des Films. Gütersloh. S. 98. 60. Vgl. Vertov, Dziga 1922: »Wir. Variante eines Manifestes.« In: Beilenhoff, Wolfgang (Hg.) 1973: Dziga Vertov. Schriften zum Film. München. S. 7-10, hier S. 8.
61. Vgl. Vertov, Dziga 1926: »Vorläufige Instruktion an die Zirkel des ›Kinoglaz‹.« 75
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Verfassung unseres Körpers während der Beobachtung, die Anzahl der von uns in einer Sekunde wahrgenommenen Momente dieser oder jener Erscheinung sind in keinster Weise verbindlich für die Kamera, die um so mehr und besser wahrnimmt, je vollkommener sie ist.«62 Nicht allein in dieser Hinsicht dürften die Bilder der Futuristen, insbesondere des Malers Ballas, einen prägenden Einfluss auf Vertov ausgeübt haben.63 Ballas legt bei seinen malerischen »Mehrfachbelichtungen« das kinematographische Prinzip des Fortdauerns der Bildeindrücke auf der Netzhaut zugrunde; wie bei Muybridges Bewegungsstudien verliert ein Gegenstand, der in Bewegung ist, seine festen Konturen. Im Film wird dieses Prinzip weiterverfolgt, hier geht es um »eine durch den Filmapparat zerlegte und filmisch erschaffene Bewegung«,64 eine »Vitesse abstraite«, die den Rahmen einer gegenständlichen Darstellung von Bewegung verlässt. In dem futuristischen Bestreben, den Menschen mit der Maschine zu verbessern, wird das Psychologische als menschliches Hindernis angesehen. Die Synthese von Mensch und Maschine befreit das Subjekt zum einen von seiner Schwerfälligkeit, zum anderen eröffnet sich damit auch die utopische Möglichkeit, einen neuen Menschen zu erziehen,65 einen Menschen, der für den revolutionären Neubeginn in der Sowjetunion steht. Im Kontrast dazu steht jene Gruppe von Filmemachern, die in den Studios Filme nach den Gesetzen des Marktes produzieren und die Flüchtigkeit und Ungenauigkeit des menschlichen Auges für
62. 63.
64.
65.
In: Beilenhoff, Wolfgang (Hg.) 1973: Dziga Vertov. Schriften zum Film. München. S. 41-53, hier S. 41. Vertov, Dziga 1923: »Kinoki – Umsturz.« In: Beilenhoff, Wolfgang (Hg.) 1973: Dziga Vertov. Schriften zum Film. München. S. 11-24, hier S. 15. Vgl. Harten, Jürgen 1974: »Einleitung.« In: Städtische Kunsthalle Düsseldorf 1974: Wir setzen den Betrachter mitten ins Bild. Futurismus 1909-1917. Malerei, Skulptur, Zeichnung, Musik, Architektur, Fotodynamik, Film, Bühne. Düsseldorf. (Ohne Seitenangaben) Bulgakowa, Oksana: »Malewitsch und der Film. Einführung von Oksana Bulgakowa.« In: Bulgakowa, Oksana (Hg.) 1997: Kasimir Malewitsch: Das weiße Rechteck. Schriften zum Film. Berlin. S. 6-20, hier S. 20. Vgl. Vertov, Dziga 1922: »Wir. Variante eines Manifestes.« In: Beilenhoff, Wolfgang (Hg.) 1973: Dziga Vertov. Schriften zum Film. München. S. 7-10, hier S. 8. 76
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ihre Zwecke ausnutzen,66 anstatt, wie Vertov fordert, die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit durch die technische Perfektion der Kamera zu substituieren. So kommt der Wirklichkeitserfassung mit der Kamera die Schaffung einer Hyperrealität zu: Dem »Kino-Ingenieur« obliegt allein die Aufgabe, während der Aufnahme dem menschlichen Sehvermögen verborgen gebliebene Prozesse darzustellen. Vertov beklagt 1923 das Fehlen von Filmen, die mit Hilfe der »aufrichtigen Kamera« von der »bedauerlichen Sklaverei des unvollkommenen und beschränkten menschlichen Auges« befreit worden wären.67 Er fordert, die Kameraarbeit nicht danach zu bewerten, ob sie die Arbeit des menschlichen Auges nachahmen kann, sondern inwieweit sie in der Lage ist, die Schwächen des menschlichen Auges hervortreten zu lassen.68 Aus dieser Perspektive steht er der damals üblichen Verwendung von 16 bis 17 Einstellungen pro Filmsekunde als auch zeitlichen und räumlichen Konventionen ablehnend gegenüber. Erst die Freiheit, mit der Montage beliebige Punkte des Universums zu verknüpfen, kann neue Sinnzusammenhänge generieren.69 Damit verlässt Vertov den Weg einer chronologischen Wiedergabe der Realität und verabschiedet die anthropologisch begründeten Kategorien gegenständlicher Raum- und Zeitwahrnehmung; dies beinhaltet schon zu dieser Zeit, die Möglichkeiten des Films selbstreflexiv zu untersuchen, darzustellen und dabei filmische Konventionen zu unterlaufen. Vertovs Herangehensweise ist weder identisch mit der Idee der Wiedergabe einer objektiven Wirklichkeit70 noch mit einem Konzept von Realitätsnachbildung, wie es mit dem Naturalismus assoziiert werden kann. Die imitatio naturae gilt als oberflächlich und verkörpert – spätestens seit der Entstehung des Futurismus – eine veraltete künstlerische Norm. Schließlich treten die Futuristen, wie Umberto Boccioni, dem Naturalismus entgegen: »Um eine Figur
66. Vgl. Beilenhoff, Wolfgang (Hg.) 1973: Dziga Vertov. Schriften zum Film. München. S. 147.
67. Vgl. Vertov, Dziga 1923: »Kinoki – Umsturz.« In Beilenhoff, Wolfgang (Hg.) 1973: Dziga Vertov. Schriften zum Film. München. S. 11-24, hier S. 14.
68. Vgl. ebd., S. 16. 69. Vgl. ebd., S. 20. 70. Vgl. Petric, Vlada 1987: Constructivism In Film. The Man With The Movie Camera. A Cinematic Analysis. Cambridge. London. New York. S. 4. 77
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zu malen, ist es nicht nötig, sie nachzubilden; ihre Atmosphäre muß wiedergegeben werden.«71 Deutlich wird, dass der inhaltliche Mitteilungscharakter des Filmmediums zugunsten eines »poetischen« Umgangs mit Filmsprache deutlich in den Hintergrund tritt.72 Vertov sieht die Funktion des Films in allen Gebieten der Wissenschaften und der Literatur sowie des Theaters nicht erfüllt und erhebt stattdessen – wie in seinem Werk Der Mann mit der Kamera thematisiert – die Sprache des Films zum Sujet der Darstellung. Der genuin selbstreflexive Anspruch kommt in einer seiner theoretischen Überlegungen zum Ausdruck: »Wenn beim Mann mit der Kamera nicht das Ziel, sondern das Mittel vordrängt, so liegt das offensichtlich daran, dass es eine der Aufgaben in dem Film war, diese Mittel zu demonstrieren und sie nicht zu verbergen, wie es gewöhnlich in anderen Filmen üblich war. Wenn ein Ziel des Films darin bestand, die Grammatik der filmischen Mittel kennenzulernen, so wäre es seltsam, wenn diese Grammatik verborgen geblieben wäre.«73 Da der Bezug zum Wirklichen bei Vertov keineswegs aufgegeben wird, überrascht nicht, dass Vertov von Malewitsch, dem Verfechter einer abstrakten Gegenstandslosigkeit, für seinen Film den Vorwurf einer unvollendeten Mischform zwischen »Trödel« und »Gestalt der Dynamik« erntet.74 Evident ist, dass in Vertovs Werk konkrete, sowohl aus dem Futurismus wie auch aus dem Formalismus und Konstruktivismus
71. Boccioni, Umberto 1910: »Die futuristische Malerei – Technisches Manifest 1910.« Zitiert nach: Städtische Kunsthalle Düsseldorf 1974: Wir setzen den Betrachter mitten ins Bild. Futurismus 1909-1917. Malerei, Skulptur, Zeichnung, Musik, Architektur, Fotodynamik, Film, Bühne. Düsseldorf. (Ohne Seitenangaben) 72. Von dem klassischen Dokumentarfilmbegriff, wie er im sozialistischen Realismus aufgefasst wurde, distanziert sich Vertov. Stattdessen setzt Vertov 1935 den Begriff des »poetischen Dokumentarfilms« ein, der zu dieser Zeit auf breite Ablehnung stößt. Vgl. Vertov in Tode, Thomas; Gramatke, Alexandra (Hg.) 1999: Dziga Vertov. Tagebücher/Arbeitshefte. Konstanz. S. 26. 73. Vertov, Dziga (Ohne Jahr): »Über die Liebe zum lebenden Menschen.« In: Beilenhoff, Wolfgang (Hg.) 1973: Dziga Vertov. Schriften zum Film. München. S. 64-73, hier S. 70. 74. Vgl. Malwewitsch, Kasimir 1929: »Die Gesetze der Malerei im Film.« In: Bulgakowa, Oksana (Hg.): 1997: Kasimir Malewitsch: Das weiße Rechteck. Schriften zum Film. Berlin. S. 95-110, hier S. 105 ff. 78
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herzuleitende Elemente aufgedeckt werden können, die Basis seiner selbstreflexiven Konzeption sind, denn für Vertov ist »›Kinoglaz‹ […] die dokumentarische filmische Entschlüsselung der sichtbaren und der dem menschlichen Auge unsichtbaren Welt«.75
5.3.2 Der Einfluss des Futurismus Immerhin erkennt auch Malewitsch, dass Vertov nicht bestrebt ist, »den Tratsch des Lebens wiederzugeben«, und sieht bei ihm das futuristische Prinzip der Verschiebung erfüllt,76 was nichts anderes bedeutet, als alltägliche Objekte aus einer ungewohnten Perspektive zu zeigen, um das Publikum zu ermuntern, eine kritische Position gegenüber der Kunst einzunehmen.77 Die Enthüllungen über die illusionsstiftenden Möglichkeiten der Filmtechnik sollen das Bewusstsein der Zuschauer durch einen kreativen Prozess erweitern, der für Vertov einen ähnlich hohen Stellenwert einnimmt wie das filmische Ergebnis. »Der Futurismus beruht auf einer vollständigen Erneuerung der menschlichen Sensibilität«, schreibt Marinetti in seinem wegweisenden, 1913 veröffentlichten Manifest.78 Marinetti nimmt in seinem Manifest, in dem er die »Verschmelzung des Instinktes mit der Leistungsfähigkeit des Motors und den geschulten Kräften«79 emphatisch einklagt, Vertovs Bewunderung für die futuristische Affinität zu Maschinellem, der Analogisierung des menschlichen Auges zur Kamera, vorweg. Schon in seinem Gründungsmanifest von 1909 fordert Marinetti eine Anthro-
75. Vertov, Dziga 1929: »Vom ›Kinoglaz‹ zum ›Radioglaz‹ (Aus den Anfangsgründen
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der Kinoki).« Zitiert in Beilenhoff, Wolfgang (Hg.) 1973: Dziga Vertov. Schriften zum Film. München. S. 74-81, hier S. 77. Vgl. Malwewitsch, Kasimir 1929: »Die Gesetze der Malerei im Film.« In: Bulgakowa, Oksana (Hg.) 1997: Kasimir Malewitsch: Das weiße Rechteck. Schriften zum Film. Berlin. S. 95-110, hier S. 109. Barnouw übersetzt Vertovs Pseudonym Dziga als Spinnkreisel und bezeichnet ihn als futuristischen Poeten. Vgl. Barnouw, Erik 1974: Documentary. A History Of The Non-Fiction Film. London. Oxford. New York. S. 52. Marinetti, F. T. 1913: »Zerstörung der Syntax. Drahtlose Phantasie. Befreite Worte. Die futuristische Sensibilität.« In: Städtische Kunsthalle Düsseldorf 1974: Wir setzen den Betrachter mitten ins Bild. Futurismus 1909-1917. Malerei, Skulptur, Zeichnung, Musik, Architektur, Fotodynamik, Film, Bühne. Düsseldorf. (Ohne Seitenangaben) Vgl. ebd. 79
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pomorphisierung von Geräten, der Vertov, betrachtet man sein Werk zunächst auf motivischer Ebene, durch die glorifizierende Ineinandermontage von Mensch und Stativ in seinem Film Der Mann mit der Kamera nachkommt. Im Modus der fliegenden Rotation eines Kameramanns wird Vertovs strukturelle Affinität zum Bewegungsablauf rotierender Maschinen auffällig. Diese Vision des emporsteigenden menschlichen Körpers interpretiert Petric als Vertovs enthusiastischen Ausdruck einer gesellschaftlichen Technologiebegeisterung, die allein in der Kontrolle der Arbeiter stehen soll. »The juxtaposition of circular-elliptical and vertical-diagonal patterns creates – through their continuous rotation – a surreal ambiance in which the cameraman appears to be flying among and over machines.«80 Neben Marinetti spielt vor allem Umberto Boccioni eine wichtige Rolle. Der italienische Künstler proklamiert in seinem Text »Die futuristische Malerei – Technisches Manifest 1910«, »daß Bewegung und Licht die Stofflichkeit der Körper zerstören«.81 Bei Vertov gilt dies nicht für die Figur des Kameramanns, der – im Gegensatz zu den oftmals abstrakt ins Bild gesetzten technischen Geräten – nie die Ebene der Repräsentation verlässt, so dass diese Sequenz als futuristische poetische Vision für die Vereinigung des Arbeiters mit seiner Arbeit gesehen werden kann. Die beibehaltene Figürlichkeit des Arbeiters im Film soll zur Identitätsfindung des Arbeiters vor der Leinwand einladen. Das 1916 von namhaften Futuristen publizierte Manifest »Der futuristische Film«82 bestätigt die Vermutung, dass Vertov Forderungen der Futuristen in seine filmische Konzeption integriert. So wird unter dem Punkt »Gefilmte Gleichzeitigkeit und gegenseitige Durchdringung von Zeit und Ort« implizit vorweggenommen, was Vertov in Der Mann mit der Kamera filmisch realisiert: Durch das
80. Petric, Vlada 1987: Constructivism In Film, S. 160. 81. Boccioni, Umberto: »Die futuristische Malerei – Technisches Manifest 1910.« In: Städtische Kunsthalle Düsseldorf 1974: Wir setzen den Betrachter mitten ins Bild. Futurismus 1909-1917. Malerei, Skulptur, Zeichnung, Musik, Architektur, Fotodynamik, Film, Bühne. Düsseldorf. (Ohne Seitenangaben) 82. Vgl. Marinetti, F. T.; Corra, B.; Settimelli, E.; Baila, G.; Chiti, R. 1916: »Der futuristische Film.« In: Städtische Kunsthalle Düsseldorf 1974: Wir setzen den Betrachter mitten ins Bild. Futurismus 1909-1917. Malerei, Skulptur, Zeichnung, Musik, Architektur, Fotodynamik, Film, Bühne. Düsseldorf. (Ohne Seitenangaben) 80
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Ineinandermontieren zweier unterschiedlicher Sujets in schneller Schnittfolge entsteht nicht nur der Eindruck einer thematischen Verknüpfung, der so genannte Phi-Effekt, sondern zudem verlieren die Orte ihren repräsentativen Charakter. Auch der Forderung einer animationshaften Darstellung von Objekten mit menschlichen Eigenschaften – siehe die Ineinandermontage von Mensch und Stativ – entspricht Vertovs programmatischer Stil. Selbst bei der Gestaltung von Kontrasten folgt der sowjetische Filmemacher den Forderungen der Futuristen im Wortlaut. Dem futuristischen Leitgedanken einer Zerstörung und Neukonstitution des Universums nach freien subjektiven Gesichtspunkten trägt Vertov mit einer »Bewegung des Aufruhrs, der Verkehrsmittel, der Nachrichtenübermittlung« und der »Sinnesempfindungen«83 Rechnung. Dass es Vertov im Wesentlichen um eine filmische Demonstration futuristischer Forderungen geht, liegt nahe und wird durch den Eindruck erhärtet, der durch die divergierende Montage sujethafter Elemente aus Schaukästen, Flirts, Hochzeiten und Grimassen entsteht, wie es in den futuristischen Manifesten nachlesbar ist. In Marinettis Gründungsmanifest von 1909 werden emphatisch die Maschinenwelt, die Rhythmen und die Dynamik einer sich verändernden Welt glorifiziert.84 »Wir werden die großen Menschenmassen besingen, die die Arbeit, das Vergnügen oder der Aufruhr erregt; besingen werden wir die vielfarbige, vielstimmige Flut der Revolution in den modernen Hauptstädten; besingen werden wir die nächtliche, vibrierende Glut der Arsenale und Werften, die von grellen, elektrischen Monden erleuchtet werden; die gefräßigen Bahnhöfe, die rauchenden Schlangen verzehren; die Fabriken, die mit ihren sich hochwindenden Rauchfäden an den Wolken hängen; die Brücken, die wie gigantische Athleten Flüsse überspannen, die in der Sonne wie Messer aufblitzen; die abenteuersuchenden Dampfer, die den Horizont wittern; die breitbrüstigen Lokomotiven, die auf den Schienen wie riesige, mit Rohren gezäumte Stahlrosse einherstampfen und den gleitenden Flug der Flugzeuge, deren Propel-
83. Harten, Jürgen: »Einleitung.« In: Städtische Kunsthalle Düsseldorf 1974: Wir setzen den Betrachter mitten ins Bild. Futurismus 1909-1917. Malerei, Skulptur, Zeichnung, Musik, Architektur, Fotodynamik, Film, Bühne. Düsseldorf. (Ohne Seitenangaben) 84. Vgl. Bulgakowa, Oksana: »Malewitsch und der Film. Einführung von Oksana Bulgakowa.« In: Bulgakowa, Oksana (Hg.) 1997: Kasimir Malewitsch: Das weiße Rechteck. Schriften zum Film. Berlin. S. 6-20, hier S. 16. 81
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ler wie eine Fahne im Winde knattert und Beifall zu klatschen scheint wie eine begeisterte Menge.«85 Marinettis Technikhymne liest sich wie ein Parcours durch die Motivgeschichte der europäischen Filmavantgarde der 20er und 30er Jahre. Die Ablehnung der als verbraucht deklarierten Vorbilder der Antike, die Konstitution des Universums nach elektrisch-dynamischen Prinzipien und schließlich die Synthetisierung von Kunst und Leben sind utopische Vorstellungen des Futurismus. Im 1916 veröffentlichten Manifest zum futuristischen Film belassen es die Futuristen nicht bei einer Wesensbestimmung für ihren idealtypischen Film, sie attackieren auch die etablierten Medien. Neben dem Theater wird auch das Buch als unzeitgemäßes Symbol einer vergangenen Epoche kategorisch abgelehnt. Das junge Medium Film tritt an die Stelle des Buches, denn Film verkörpert für die Futuristen ein Medium ohne tradierte Rückbezüglichkeit auf vergangene Formen. Von scharfer Kritik verschont bleiben aber nicht die Filme, die »viel traditionalen Abfall« des literarischen Theaters geerbt haben. Die Ablehnung von Dramen, Tragödien und Melodramen geht einher mit einer Bevorzugung der Darstellung von direkten, ungeplanten Ereignissen. Film darf das Theater nicht nachahmen, so lautet die Devise. Die Futuristen grenzen nicht nur das Kino vom Theater, der Fotografie und der Malerei ab, darüber hinaus proklamieren sie dessen Überlegenheit gegenüber allen anderen künstlerischen Ausdrucksformen. Der Film muss »anti-hübsch, entstellend, impressionistisch, synthetisch, dynamisch und freiwörtlerisch werden«.86 Statt einer Narration fordern die Futuristen »ein Potpourri von Objekten und Wirklichkeit, die sich in Chaos verwandeln«.87 Die Forderung, frei stehende Wörter in Bewegung zu versetzen und nicht zuletzt dabei die Möglichkeiten der Literatur zu erweitern, stößt zunächst 1910 bei Russlands Intellektuellen auf breite Resonanz. Der Literat Majakowskij gilt als einer der Ersten, der futuristische Elemente in seine Arbeit aufnimmt.88 Die Bewunderung der
85. Marinetti, F. T. 1909: »Gründung und Manifest des Futurismus.« In: Städtische Kunsthalle Düsseldorf 1974: Wir setzen den Betrachter mitten ins Bild. Futurismus 1909-1917. Malerei, Skulptur, Zeichnung, Musik, Architektur, Fotodynamik, Film, Bühne. Düsseldorf. (Ohne Seitenangaben) 86. Vgl. ebd. 87. Vgl. ebd. 88. Vgl. Russoli, Franco 1974: »Ausbreitung und Kulturerbe futuristischer Kunst.« In: Städtische Kunsthalle Düsseldorf 1974: Wir setzen den Betrachter mitten ins 82
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Futuristen für die rasante technische Entwicklung findet bei Majakowskij großen Anklang, was sich sowohl in seinen Hymnen auf die Fabriken und Maschinen zeigt wie auch in der Bewunderung der Brooklyn Bridge und des Eiffelturms. Statt einer narrativen Struktur der Wörter favorisiert Majakowskij eine rhythmische Organisation mit dem Ziel, eine musikalische Wirkung zu erreichen. Die rhythmische Organisation verlässt dabei bewusst etablierte Sinnstrukturen. Der Rezipient wird dazu eingeladen, die übliche Bedeutungskonstitution zu hinterfragen. Vertov, der noch vor seiner Auseinandersetzung mit dem Film begonnen hatte, Töne aus der Umwelt aufzunehmen, um sie neu zu kombinieren, ist vor allem vom musikalischen Rhythmus Majakowskijs beeindruckt. Vertov erkennt, dass Radio und Film in enger Beziehung stehen. »The act of recording as well as rearranging the perceptual elements of the visual and auditory world was of paramount importance for Vertov«,89 so Petric. Richter führt weiter aus: »Wertow studierte die Bewegung des aufgenommenen Materials nach Länge, Tempo und Art seiner emotionellen und dynamischen Qualität. Schließlich gelangte er dazu (aufgrund solcher Untersuchungen), mit Bildbewegungen rhythmisch musizieren zu können.«90 Bei Vertov unterstützt der Rhythmus nicht allein die thematische Bedeutung eines Wortes, es kommt ihm auch eine autonome Qualität zu. So wird die übliche Syntax mit der Absicht aufgebrochen, die lineare Suche nach Sinngehalt selbstreflexiv zu überprüfen. Beide, Vertov und Majakowskij, konvergieren in der Intention, »Lebenstatsachen« (life-facts) neu zu perspektivieren. Die Entdeckung der poetischen Struktur, die musikalische Funktion von Wörtern sowie die unterschwellige Einwirkung der Syntax91, mit der sich viele bild-
Bild. Futurismus 1909-1917. Malerei, Skulptur, Zeichnung, Musik, Architektur, Fotodynamik, Film, Bühne. Düsseldorf. (Ohne Seitenangaben) 89. Petric, Vlada 1987: Constructivism In Film, S. 25. 90. Hans Richter zitiert in Römhild, Jürgen 1976: Hans Richter. Der Kampf um den Film. Für einen gesellschaftlich verantwortlichen Film. München. Wien. S. 35. 91. Auch in diesem Zusammenhang kann ein nicht zu unterschätzender Einfluss des Futurismus geltend gemacht werden: Schon 1913, also drei Jahre vor Entstehung einer offiziellen formalistischen Schule, erklärt Marinetti, dass jede sinnvolle Syntax zusammenbrechen muss, handelt es sich um die Nacherzählung eines unmittelbar erlebten Erlebnisses in einer Extremsituation. Die dabei auftretenden Wortfetzen sind für ihn Ausdruck eines unverstellten (authentischen) Verhaltens des Erzählers, der notgedrungen auf ausgeklügelte Satzkonstruktio83
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rhythmische »Beats« Vertovs einer bewussten Wahrnehmung entziehen, verweisen auf die linguistischen Theorien der sowjetischen Formalisten.92 »Gerade die semiotische Sensibilität der Avantgarde hat im syntaktischen Organisationsfaktor des Rhythmischen das generell Gemeinsame von Film und Musik, Bild und Ton erkannt.«93
5.3.3 Der Einfluss des Formalismus Auch der russische Formalismus94 stellt einen weiteren, nicht zu unterschätzenden Anregungsfundus Vertovs dar.95 Sowohl die Untersuchung des literarischen Werkes und seiner Konstituenten als auch die Konzentration auf die Autonomie der literarischen Zeichen,96 beides selbstreflexive Grundsätze des russischen Formalismus, lassen sich auf Vertovs filmische Arbeit übertragen: Im Kern geht es auch hier um die Suche nach einer puren Filmsprache. Vertov tritt jedem Synkretismus entgegen, der eine Filmsprache hervorbringt, die ihre Entstehung einem literarischen Skelett verdankt und damit der Etablierung einer reinen Filmsprache entgegenwirken könnte. Er lehnt ganz im Sinne der formalistischen Schule97
nen verzichten muss. Vgl. Marinetti, F. T. 1913: »Zerstörung der Syntax. Drahtlose Phantasie. Befreite Worte. Die futuristische Sensibilität.« In: Städtische Kunsthalle Düsseldorf 1974: Wir setzen den Betrachter mitten ins Bild. Futurismus 1909-1917. Malerei, Skulptur, Zeichnung, Musik, Architektur, Fotodynamik, Film, Bühne. Düsseldorf. (Ohne Seitenangaben) 92. Vgl. Petric, Vlada 1987: Constructivism In Film, S. 25. 93. Stanislawski, Ryszard; Brockhaus, Christoph (Hg.) 1995: Europa, Europa. Das Jahrhundert der Avantgarde in Mittel- und Osteuropa. Bd. 2. Bonn: Kunstund Ausstellungshalle der BRD, S. 148-160, hier S. 154. 94. Auf das enge Verhältnis zwischen Futurismus und Formalismus weist Striedter hin. Vgl. Striedter, J. 1994: Russischer Formalismus. 5. Auflage. München. S. XV. 95. Sebeok stellt fest, dass der Formalismus den Film der 20er Jahre beeinflusst hat. Sklovskij definiert die Arbeitsweise in der Kunst als Methode, die eingeschliffene Normen verlässt und dabei die Konstruktionsprinzipien des Mediums offen legt. Vgl. Sebeok, Thomas A. 1986: »Russian Formalism.« In: Encyclopedic Dictionary of Semiotics: N-Z. Hg. von Thomas Sebeok. Berlin. New York. Amsterdam. S. 841-845, hier S. 842. 96. Vgl. Ehrlich, Victor 1964: »Grundbegriffe.« In, ders.: Russischer Formalismus. München. S. 189-211, hier S. 189. 97. Vgl. hierzu insbesondere Beilenhoff, Wolfgang (Hg.) 1974: Poetik des Films. 84
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eine Instrumentalisierung von Film und Literatur und die damit verbundenen Implikationen des fiktionalen Sujets und eines Helden für die Zwecke einer Mystifizierung strikt ab. An die Stelle des bürgerlich-depravierten Individuums wird das Kollektiv gesetzt. Der Held, der als traditionell-sentimentale Figur paradigmatisch im Roman auftritt, stellt für den russischen Filmemacher ein obsoletes Erzählparadigma des Individualismus dar.98 Die historische Wandlung des Films wird primär, nicht ausschließlich, als ein filmimmanenter Evolutionsprozess aufgefasst. Eine dabei a priori intendierte Verengung auf die Spezifika des »reinen Films« wird durch die zwangsläufige Hinwendung zur Untersuchung des evolutionären Moments aufgehoben; schließlich wird jede Form im formalistischen Sinn nur als »Differenzqualität«, als »Abweichung« von einem »geltenden Kanon« angemessen wahrgenommen, und folglich ist unausweichlich, dass »das Vorgegebene jeweils mitberücksichtigt werden« muss.99 Um selbstreflexiv Filmsprache zu untersuchen und erstarrte Konventionen zu relativieren, werden Satire und Parodie als geeignet angesehen.100 Nach Beilenhoff konvergieren Vertovs und Sklovskijs Intentionen bis in die terminologische Festlegung des Begriffs »Bloßlegung«. Ausgehend von dem Bestreben, die Welt zu demaskieren, appliziert Vertov den Begriff auf sein Anliegen, die bürgerlichen Strukturen der Welt zu offenbaren. »In ähnlicher Weise setzt Sklovskij sein Konzept der ›Bloßlegung des Verfahrens‹ als Hebel an«, so Beilenhoff, »mit dem die Erstarrung oder Übersättigung der Form aufgedeckt werden kann, mit dem etablierte Normen und das heißt für ihn die Unfähigkeit zu sehen bzw. die Tendenz zu einem affirmativen Registrieren durchbrochen werden, die Konstruktivität der Kunst sichtbar und innovatorisches Potenzial gefunden wird.«101
Deutsche Erstausgabe der filmtheoretischen Texte der russischen Formalisten mit einem Nachwort und Anmerkungen. München. 98. Vgl. Beilenhoff, Wolfgang (Hg.) 1973: Dziga Vertov. Schriften zum Film. München. S. 148. 99. Vgl. Striedter, J. 1994: Russischer Formalismus, S. XXX. 100. Legt man den Einfluss der russischen Formalisten auf den Kameramann B. Kaufman zugrunde, so liegt hier möglicherweise ein Erklärungsansatz, warum Kaufman/Vigo satirische Strategien in A propos de Nice betonen, mit denen die Bourgeoisie auf inhaltlichem und formalem Weg entlarvt wird. Vgl. Striedter, J. 1994: Russischer Formalismus, S. XXXIX. 101. Beilenhoff, Wolfgang (Hg.) 1973: Dziga Vertov, S. 146. 85
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fasst werden. An die Stelle der Begriffe Form und Inhalt treten die Modifikationen Kunstgriff und Material. Das Material liefert den grundlegenden Rohstoff des Films, der erst durch filmspezifische Kunstmittel zur Geltung gelangt.103 Die Rohmaterialien werden weiter unterschieden als »Fakten«. Vertov betont, dass der Film nicht »nur die Summe der auf Film fixierten Fakten, […] sondern auch das Produkt, ›die höhere Mathematik‹ der Fakten«104 ist. Der Terminus »Fakten« (Sachverhalte) verweist auf einen naturwissenschaftlichen Ursprung, der für Vertov künstlerische Voraussetzungen legitimiert: Es sind die Künste, die sich der »Fakten« bedienen.105 Diese Auffassung von »Fakten«, die bei Vertov nicht zuletzt über den Rhythmus ein verbindendes strukturell-operatives Interesse für die Konstruktion seines Wirklichkeitskonzeptes erkennen lässt, bildet nicht nur eine bloße Sinnverkettung, aus der sich ein organisches Ganzes ergibt, sondern formuliert neue »EinSichten«, die dank einer nicht nur summierenden Kontextbildung entstehen.106 »Jeder ohne Inszenierung aufgenommene Lebensaugenblick, jede einzelne Einstellung, die im Leben aufgenommen ist, wie sie ist, mit versteckter Kamera, mit unverhoffter Aufnahme oder mit einem anderen analogen technischen Verfahren, ist ein auf Film fixiertes Faktum, ein Filmfaktum, wie wir es nennen.«107 Dieses Konzept einer »höheren Mathematik der Fakten« führt den Film aus der
Vertov steht in der Tradition der Formalisten, denen es nicht um Aufhebung von Bedeutung geht, sondern vielmehr um die Autonomie des Zeichens gegenüber dem Bezugsgegenstand. Nicht soziologische und ideologische Erklärungen sollen für ein Kunstwerk herangezogen, sondern das Kunstwerk soll »als ein mit gewissen Techniken und Kunstgriffen (prijom) ›gemachtes‹ Werk«102 aufge102. Ritter, Joachim (Hg.) 1972: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2: D-F. Basel. Stuttgart. S. 967-1030, hier S. 969. 103. Vgl. Ehrlich, Victor 1964: »Grundbegriffe.« In: ders., Russischer Formalismus. München. S. 189-211, hier S. 208. 104. Vertov, Dziga 1928: »Der Mann mit der Kamera.« In Beilenhoff, Wolfgang (Hg.) 1973: Dziga Vertov, S. 115-116, hier S. 116. 105. Vgl. Striedter, J. 1994: Russischer Formalismus, S. XIV. 106. Vgl. Stanislawski, Ryszard; Brockhaus, Christoph (Hg.) 1995: Europa, Europa. Das Jahrhundert der Avantgarde in Mittel- und Osteuropa. Bd. 2. Bonn: Kunstund Ausstellungshalle der BRD, S. 148-160, hier S. 149. 107. Vertov, Dziga 1926: »Verschiedenes über dasselbe.« In: Beilenhoff, Wolfgang (Hg.) 1973: Dziga Vertov, S. 30-31, hier S. 30. 86
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Vormundschaft des Theaters und der Literatur heraus und lässt eine »hundertprozentige Kinematographie« entstehen, die sich von einer Darstellung des alltäglichen Lebens lossagt, mit der Vertov eine Affirmation der mangelhaften menschlichen Wahrnehmung verbindet. Vor diesem Horizont kann Vertovs Filmarbeit nicht losgelöst von seiner Motivation, Alltagsleben und Organisation des Alltagslebens zu thematisieren, betrachtet werden. Es geht also darum, die Synthetik der Kunstkinematographie zu ignorieren, um die Kräfte der Kamera auf die Untersuchung und Prüfung der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu richten. Dennoch gibt es Ausnahmen von dem Postulat einer versteckten Kamera. So beispielsweise in einer Szene, in der eine ärmlich gekleidete Frau mit einem Lächeln auf die Kamera reagiert. In einer weiteren Szene, in der Flammen aus einem Hochofen den Kameramann zu erreichen drohen, macht ihn ein Arbeiter auf die Gefahr aufmerksam. Auch als eine Frau in Nahaufnahme beim Auftragen ihres Lippenstiftes gezeigt wird, muss ihr die Präsenz des Kameramanns bewusst gewesen sein. Szenen wie die in einem Scheidungsbüro, bei der eine Frau ihr Gesicht mit ihrer Handtasche verdeckt, während ihr Exmann über die Szene lacht, verdeutlichen, dass es Vertov auch um die unmittelbare Darstellung des Lebens geht. Dem allgemeinen Vorwurf, mit dem Aufzeigen des Einflusses der Kamera verletzten Vertov, Kaufman und Svilova ihre programmatischen Grundsätze, muss entgegengesetzt werden, dass die Kamera (bzw. der Kameramann) in den genannten Situationen als Zeitzeuge von Lebensfakten fungiert. Interessanterweise reagieren Stadtmenschen auf die Anwesenheit der Kamera offensichtlich nur dann, wenn die Kamera in ihre unmittelbare physische Umgebung eindringt, so dass der ambivalent selbstreflexive Prozess, von dem Petric für den Zuschauer spricht, erst dann in Gang gesetzt wird: »Consequently, the audience is made ›aware‹ of both the ›life-fact‹ as it occurs in reality and how such a ›fact‹ is modified when the ›subjects‹ become aware of the rolling camera.«108 Vertov hat zum einen in dem jungen Medium Film ein geeignetes Mittel gesehen, um mittels einer internationalen und für jedermann problemlos zugänglichen Filmsprache die Revolution voranzutreiben (während seine eigenen Filme wie Der Mann mit der Kamera vom einfachen Arbeiter kaum verstanden werden konnten), zum anderen ist seine Konzeption stark von den Absetzbewegungen
108. Petric, Vlada 1987: Constructivism In Film, S. 82. 87
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gegenüber den traditionellen Künsten geprägt gewesen. Diese Motive sind der wesentliche Hintergrund dafür, dass Vertov lange Einstellungen mit Schwenks abgelehnt hat. Eine Wahrnehmung, die die freie Wahl des Betrachters bezüglich Details wie bei der Mise en scène ermöglichen konnte und den Verdacht einer Theaterrezeption genährt hätte, wollte Vertov von vornherein ausschließen. Stattdessen favorisierte er ein Verfahren, das »mit einer gewaltsamen Verlagerung der Augen des Zuschauers auf jene Abfolge von Details, die man unbedingt sehen muß«, verbunden war.109 Vertov hat »die Unzulänglichkeit der traditionellen, langen Einstellungen nach der Devise des Sensationellen bzw. vermeintlich Panoramatischen einfach aneinanderreihenden Dokumentarfilmmontage«110, die er als Redakteur der Moskauer Wochenschau Kinodelja in seinen Anfangsjahren häufig zu Gesicht bekommen hat, als sehr kritisch erachtet. Die viel beschworene Kategorie der Bloßlegung wird mittels eines technischen Vorgangs bestimmt, nämlich der optimalen Anwendung des Kamera-Objektivs. »Vertov geht aus von der Gattung der Chronik, die als einzige zunächst jene von den Faktografen geforderte Faktendarbietung ermöglicht, und entwickelt durch seine Montagekonzeption eine Art rhythmisierten Dokumentarfilms (sic!). Die Kategorie des Fakts ist für die Faktografen die Nahtstelle, an der eine Politisierung der Literatur- und Filmproduktion anzusetzen hat. Als ein Moment des gesellschaftlichen Umformungsprozesses und nicht als ein objet trouvé ist das Fakt andererseits auch in seiner Materialität, in seiner Konkretheit zu erfassen; es gilt, sowohl das Fakt selbst wie auch seine Entdeckung, seine Analyse und Bearbeitung transparent zu halten.«111 Dies gilt in besonderem Maße auch für die Fotografie, wie sich paradigmatisch für formalistische Argumentationsweisen an Kazanskijs Aufsatz »Die Natur des Films« von 1927 belegen lässt. Kazanskij vertritt am plakativsten die formalistische These, wonach die Fotografie dazu verurteilt sei, die Wirklichkeit objektiv zu registrieren.112 Erst die technischen Möglichkei-
109. Vertov, Dziga 1923: »Kinoki – Umsturz.« In Beilenhoff, Wolfgang (Hg.) 1973: Dziga Vertov. Schriften zum Film. München. S. 11-24, hier S. 17.
110. Beilenhoff, Wolfgang (Hg.) 1973: Dziga Vertov, S. 155. 111. Vgl. ebd., S. 149-150. 112. Vgl. hierzu insbesondere Kazanskij, B. 1927: »Die Natur des Films.« In: Beilenhoff, Wolfgang (Hg.) 1974: Poetik des Films, S. 64-96, hier S. 74 f. 88
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ten der Filmkunst und die damit vorausgesetzte Initiative des Künstlers sublimieren die naturgemäße »Leidenschaftslosigkeit« der Fotografie in der Kunst. Kazanskij hebt den Einfluss des Aufnahmewinkels hervor, der das aus der Wirklichkeit entnommene Bild zu einem Faktum transformiert.113 Petric sieht in nach oben gerichteten, diagonal verlaufenden Schwenks »a kinesthetic metaphor for the kinoks’ cry against bourgeois photoplays, the main target of Vertov’s struggle against traditional staged cinema«.114 Die alltägliche Wahrnehmung des Raums, der Bewegung, des Gewichts, des Volumens und der Perspektive kann erst auf einer sekundären Ebene, auf der Ebene des Films, aufgehoben werden. Die Möglichkeiten der Komposition, die nach Ansicht Kazanskijs den höchsten Rang im Film einnehmen, können besonders im Kompilationsfilm Geltung erlangen. Erst durch die kategoriale Abgrenzung des Films vom naturalistischen Prinzip der Fotografie kann dessen Evolution als »autonomes Ausdruckssystem« konturiert werden.115 In diesem Zusammenhang stehen sowohl die selbstreflexive Untersuchung der spezifischen Ausdrucksmodi des Films als auch die Abgrenzung gegenüber den Gesetzmäßigkeiten der anderen Künste. Die jeweiligen Theorieansätze scheinen für Vertov Motivation zur Akzentuierung seines programmatischen Konzepts gewesen zu sein, betrachtet man die hohe Konvergenz mit den stilistischen Valeurs der Formalisten, insbesondere im Mann mit der Kamera. »In allem, in Raum, Bewegung, im Zusammenhang der Dinge wollte man nicht den alltäglichen, äußeren Zusammenhang als vielmehr die innere Einheit finden.«116 Prinzipiell wurden jedoch die psychologischen Merkmale des Autors wie z.B. Intuition, Einbildungskraft und Genius von den Formalisten ausgeklammert. Das Werk besitzt als »Ort der Literaturbzw. Filmhaftigkeit« einen autonomen Charakter gegenüber dem Autor.117 Im Vordergrund steht eine Anwendung von Techniken auf Materialien. Die Formalisten diskutieren ästhetische Normen, be-
113. Vgl. ebd., S. 71 f. 114. Petric, Vlada 1987: Constructivism In Film, S. 89. 115. Vgl. Beilenhoff, Wolfgang 1974: Filmtheorie und -praxis der russischen Formalisten. S. 141.
116. Vgl. ebd., S. 146. 117. Vgl. Ehrlich, Victor 1964: »Grundbegriffe.« In: ders., Russischer Formalismus. München. S. 189-211, hier S. 208. 89
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ziehen in ihren selbstreflexiven Ansatz aber nicht die soziale und psychische Verfassung des Autors mit ein, die den Schaffensprozess und die Gestalt des Kunstwerks stark beeinflussen könnten.118 Wie schon erwähnt, spart Vertov motivisch den Einfluss des Filmteams im filmischen Kontext nicht aus. Dies dokumentieren die zahlreichen optischen Selbstthematisierungen, die von der Darstellung der Cutterin und des Kameramanns bis hin zu Selbstspiegelungen reichen. So erscheint der Kameramann im Bild, als in einer extremen Nahaufnahme auf die Linse in der Spiegelung sein Körper und seine Hand zu erkennen sind. Diese Aufnahme ist selbstreflexiv, da sowohl der Zuschauer über die Art und Weise der Aufnahme unterrichtet als auch im gleichen Moment die technologische Bedingung des Kinos offenbar wird und schließlich das Objekt, das die Kameralinse »einfängt«, erkennbar ist. Vertovs Bruder und Kameramann Michail Kaufman positioniert sich nicht nur im Bild, sondern imaginär als Betrachter vor dem Bild. Selbstreflexive Analogien dieser Art lassen sich bereits in der Malerei des 17. Jahrhunderts erkennen, beispielsweise bei Pieter Claesz’ Werk »Vanité«.119 Auch Vertovs berühmte Szene, bei der das Filmobjektiv wie eine Pistole auf den Zuschauer gerichtet wird, verweist auf eine Bildtradition in der Malerei, die zum Ziel hat, die im Bild abgeschlossene Räumlichkeit zu überwinden und die Raumgrenze zwischen bildlicher Fiktion und Realität transparent zu halten.120 Dieses Bestreben, in den realen Zuschauerraum hineinzugreifen, drückt einerseits die Macht des Autors aus, der in seinem exzentrischen Drang alle umgebenden Dinge seinem artistisch geprägten Weltbild unterordnen will, andererseits ist die Kamera auch ein Symbol für die industrielle Produktion. Zwar bricht Vertov im Vorzeigen des künstlerischen Selbst als Schöpfer mit der Tradition der Formalisten, doch ist seine Herangehensweise nicht intendiert im Sinne eines Autoporträts à la »Vanité«, das den Künstler im Gewand eines metaphysischen Genies auftreten lässt. Vertov tritt als Mechaniker auf, dessen Aufgabe darin besteht, Gebrauchsgegenstände herzustellen. Unter diesem Aspekt rückt der Konstruktivismus als dritte Einflussgröße in den
118. Vgl. ebd., S. 211. 119. Vgl. Sykora, Katharina: »Paragone. Selbtsreflexivität im vorfilmischen Film.« In: Karpf, Ernst; Kiesel, Doron; Visarius, Karsten (Hg.) 1996: Im Spiegelkabinett der Illusionen: Filme über sich selbst. Arnoldshainer Filmgespräche; Bd. 13. Marburg. S. 31-56, hier S. 47 f. 120. Vgl. ebd., S. 51 f. 90
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Fokus der Betrachtung; hier wiederum werden wesentliche Elemente des Futurismus und Formalismus amalgamiert.
5.3.4 Der Einfluss des Konstruktivismus In allen drei genannten Strömungen artikuliert sich der gemeinsame Anspruch, Interpret des Fortschritts sein zu können. So kann der Der Mann mit der Kamera sowohl als Stadtfilm als auch als Ode an die industrielle Revolution angesehen werden. Als Kernthema des Films bezeichnet Petric die Thematisierung der täglichen Arbeitsroutine eines Kameramanns in einer städtischen Umgebung.121 Die funktionale Affinität des Arbeiters, der eine Brücke baut, zum Künstler, der sein Werk konstruiert, ist für die Konstruktivisten evident; ganz in dieser selbstreflexiven Tradition steht Vertovs Ablehnung der ästhetischen Kategorie der Komposition mit ihren Implikationen des Schöpferischen und des Kontemplativen. Der Fokus der Kunst richtet sich von nun an auf die Konstruktion »als technisch verfahrende und im Prinzip rationale Kontrolle der Materialbehandlung«.122 Erst auf dieser Basis ist jedwede gesellschaftliche Entwicklung für die Konstruktivisten denkbar. Einen konstruktivistischen Ansatz vermittelt auch Vertovs Vorstellung von der Anordnung und Beschaffenheit des Filmmaterials: »Ebenso wie gute Ziegel für ein Haus nötig sind, ist gutes Filmmaterial für die Organisation der Filmsache erforderlich.«123 Wie bereits erwähnt, überwiegt in Vertovs Filmkonzeption der Gedanke, dass die Kamera die zu filmenden Ereignisse nicht stören sollte. Dies impliziert auf der Montageebene jedoch nicht, dass Vertov eine der filmischen Aufnahme des Geschehens entsprechende Wiedergabe der Wirklichkeit anstrebt. Vielmehr ist er motiviert, den Inhalt strukturell zu verändern. »Kinoglaz bedient sich aller möglichen Montagemittel, indem es beliebige Punkte des Weltalls in beliebiger zeitlicher Ordnung nebeneinander stellt und miteinander verkettet, indem es im Bedarfsfalle alle Gesetze und Konstruktionsgewohnheiten von Filmsachen verletzt.«124 Auf dieser
121. Vgl. Petric, Vlada 1987: Constructivism In Film, S. 71. 122. Beilenhoff, Wolfgang (Hg.) 1973: Dziga Vertov, S. 139. 123. Vertov, Dziga 1924: »Über die Kinopravda.« In: Beilenhoff, Wolfgang (Hg.) 1973: Dziga Vertov, S. 97-102, hier S. 100.
124. Vertov, Dziga 1929: »Vom ›Kinoglaz‹ zum ›Radioglaz‹ (Aus den Anfangsgründen 91
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Grundlage diskutiert Der Mann mit der Kamera die abstrakten Muster des Produktionsprozesses: Gezeigt werden Einstellungen von stoppenden und startenden Maschinen, Kurbeln werden gezogen, Hebel fallen und Zigaretten werden eingepackt; thematisiert wird das Sujet einer mechanischen Ästhetik. Petric beschreibt Vertovs Arbeit als ein geometrisches Spiel zwischen verschiedenen Designformen, wie sie sich in Getrieben, Kolben und Stangen sowie in Rädern und ihren jeweiligen horizontalen und vertikalen Bewegungen im Film darstellen. Hinter Vertovs Absicht, die geometrische Gestalt der Bewegung durch den Austausch der Bilder zu erreichen, verbirgt sich eine konstruktivistische Herangehensweise, die die physiologischen Einwirkungen auf das Kinobild selbstreflexiv thematisiert. Schon die Futuristen entwickelten vor allem eine Vorliebe für geometrische Formen, aus der sich Vertovs Faszination angesichts der Schönheit der Maschine durchaus ableiten lässt. Das filmische Nebeneinanderstellen von Ereignissen an unterschiedlichen Orten evoziert nicht nur eine dynamische Struktur, es provoziert auch einen distanzierten Umgang mit dem eigenen und dem fremden Filmmaterial, solange es den inhaltlichen und formalen Prinzipien dienlich ist. In diesem Sinn plädiert Vertov dafür, gedrehtes Material, das nicht zu einer bestimmten Filmkonzeption passt, für ein anderes Filmprojekt zu verwenden. Die Forderung, dass die Montage nicht anonym sein sollte, sondern die Handschrift des Autors tragen muss, betont den selbstreflexiven Anspruch von Vertovs Konzeption.125 Die Anwendung dieses Verfahrens auf den Film trägt die Handschrift Alexsander Rodcenkos, der mittels Fotomontage seine oder fremde Alltagsschnappschüsse zu neuen fotografischen Strukturen zusammengefügt hat. Was für die Fotomontage als ausgewiesene Arbeitsmethode gilt, lässt sich auch auf den konstruktivistischen Umgang mit dem kompilierten Filmmaterial übertragen: »The constructivist photomontage is based upon the principle of selfreference, and it precedes the emergence of selfreferential cinema.«126 Rodcenko verfolgt die Absicht, über Dekontextualisierung des fotografischen Materials das Bewusstsein der
der Kinoki).« In: Beilenhoff, Wolfgang (Hg.) 1973: Dziga Vertov, S. 74-81, hier S. 77. 125. Vgl. Vertov, Dziga (ohne Jahr): »Über die Organisation eines schöpferischen Laboratoriums.« In: Beilenhoff, Wolfgang (Hg.) 1973: Dziga Vertov, S. 58-63, hier S. 62 f. 126. Petric, Vlada 1987: Constructivism In Film, S. 10. 92
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Rezipienten für das Potenzial des Mediums zu schärfen. In diesem Zusammenhang tritt die formalistische Methode der Bloßlegung in konstruktivistischen Kontexten auf. Während in vielen Einstellungen in Der Mann mit der Kamera zunächst oftmals der Eindruck einer naturalistischen Wiedergabe der Realität entsteht, wird dieser Eindruck im Weiteren insbesondere durch Überblendungen aufgehoben. Auf den ersten Blick ist dieses Montageverfahren nur schwer zu erkennen, da Vertov und Svilova die Nähte zwischen den Überblendungen unsichtbar lassen. Sobald allerdings der Zuschauer die Collagenstruktur vieler Einstellungen realisiert, fasst er diese nicht mehr als bloße Darstellung des Lebens auf, sondern seine Aufmerksamkeit wird auf den Aspekt der Collage gerichtet.127
5.3.5 Vertov und die konsequente Offenlegung der filmischen Möglichkeiten Vertov nimmt schon Ende der 20er Jahre ästhetische Prinzipien selbstreflexiver Filme vorweg: Dies zeigt sich nicht nur in der motivischen Darstellung der Alltagsroutine und Allgegenwart des Kameramanns, sondern auch in der subtilen Behandlung dem menschlichen Auge verborgen gebliebener filmischer Konstruktionsdetails, auf deren unsichtbare und unbewusste Aspekte Vertov und Svilova die Aufmerksamkeit lenken. Vertov ist daran interessiert, dem Zuschauer bewusst zu machen, dass das menschliche Auge – in Opposition zum mechanischen Auge – Bewegungen nicht anhalten kann. Vertov greift auf »eingefrorene Bilder« zurück, da sie eine Wahrnehmung von Bildinhalten erlauben, die bei konventioneller Aufnahme unsichtbar geblieben wären. Er greift auf die Technik der Zeitlupe zurück, um bei Sportveranstaltungen die Eleganz der Sportler hervorzuheben, während er bei Verkehrszenen Zeitraffer einsetzt, um die Hektik der Stadt darzustellen.128 Dieser Rückgriff auf filmische Tricks, deren Bandbreite Vertov ausschöpft, dient vor allem einer Kommentierung und Offenlegung seiner Beobachtungen: »slow, accelerated, and reverse motion, superimposition, pixillation, overlapping, jump cuts, leitmotivs, and various other montage techniques.«129 Gemäß Vertovs Aversion gegen traditionelle Erzählstrategien
127. Vgl. ebd., S. 133. 128. Vgl. ebd., S. 116. 129. Vgl. ebd., S. 84. 93
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werden in Der Mann mit der Kamera traditionelle Narrationspfade nicht beschritten. Selbst die einführende Darstellung eines Kameramanns, die beim Rezipienten die Erwartungshaltung aufkeimen lassen könnte, hierbei handele es sich um ein kontinuierliches Identifikationsangebot, wird durchkreuzt. Vielmehr wacht unvermittelt eine Frau auf, wäscht und kleidet sich, verlässt ihr Appartement. Vertov interessiert sich aber nicht für die Darstellung der Frau, sondern richtet die Aufmerksamkeit auf formale Korrelationen, auf Formbeziehungen, die im alltäglichen Leben unbemerkt bleiben. Gleichzeitig rücken damit die Möglichkeiten der Montage als wichtiges Charakteristikum des Films in den Mittelpunkt: »In general, the ›disruptive‹ shots – whose associative meanings depend upon the diegetic context of each separate sequence – contribute to the film’s rhythmic pulsation, stimulating the viewer to think about montage as the determination of thematic meaning.«130 Zum einen setzt Vertov Jump Cuts ein, um die Narration seines Werkes aufzubrechen. Zum anderen wird die Kontinuität von Raum und Zeit durch verschwommene Bilder sowie den stroboskopischen Flimmereffekt aufgelöst. Dieser Effekt wird durch den Zwischenschnitt eines Schwarzbildes in einer Einstellung (24 Bilder) erzielt. Vertov bedient sich dieser Mittel bewusst, um den normalen Fluss der Wahrnehmung zu stören und an die stroboskopische Natur der filmischen Projektion zu erinnern. Die Abkehr von etablierten Mustern setzt sich auch auf der Ebene der Erzählperspektive fort. Bereits in den ersten Einstellungen wird deutlich, dass der point of view nicht der Erzähllogik konventioneller Erzählstrategien folgt. Petric macht insgesamt sechs verschiedene Erzählperspektiven aus: Neben der Erzählung aus Sicht der dritten Person des Autors, des Kameramanns und der Kamera gehören dazu auch die Erzählung aus Sicht des Cutters, der dargestellten Charaktere und die Erzählung aus mehrdeutiger Sicht.131 Mit dem häufigen Wechsel der Erzählstandpunkte unterwandert Vertov permanent einen narrativen Erzählaufbau. Er akzentuiert an einigen Stellen die Sichtweise des Kameramanns, ohne sie beizubehalten. In einer Einstellung in Untersicht sind zunächst über die Kamera hinweglaufende Arbeiter zu sehen, die einen Karren vorbeiziehen. In der folgenden Einstellung offenbart Vertov, welche
130. Vgl. ebd., S. 107. 131. Vgl. ebd., S. 120. 94
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Position die Kamera bei der vorangegangenen Einstellung eingenommen hat, das heißt, die dritte Person wird von der Erzählposition des Kameramanns von Vertov und Svilova strikt getrennt. Petric zieht bei seinem Vergleich zwischen Anfang und Ende des Films folgendes Fazit: »The opening of the film is explanatory, as it provides the audience with basic information about cinema as a means of communication, while the end reaffirms cinema as a means of artistic expression, a unique medium capable of constructing its own time-space integrity.«132 Die aufgezeigten Aspekte legen die Vermutung nahe, dass Vertovs Konzeption einer streng selbstreferentiellen, also einer nicht selbstreflexiven Ausrichtung folgt, was Gegenstand der folgenden Untersuchung sein soll.
5.3.6 Vertovs Dokumentarfilmbegriff Die Frage ist, ob »Vertov weniger am Objekt des filmischen Vorgangs, als vielmehr an dessen Modus interessiert ist«,133 und es sich folglich bei Vertovs Werk um einen selbstreferentiellen Film handelt, »der keine Referenzbildung zu einem präfilmischen Außen mehr etabliert«.134 Das so lautende Fazit, dass unter diesem Horizont die »Dokumentaraufnahmen nichts weiter als beliebiges Rohmaterial«135 darstellen, darf nicht ohne die Voraussetzungen betrachtet werden, auf deren gesellschaftlicher und historischer Grundlage Vertov die Filmsprache zum Thema seines Filmes wählt. Selbst der künstlerische Akt, der durch Vertovs Aufzeigen des filmischen Arbeitsprozesses nach Kirchmann entwertet wird,136 muss unter Einbeziehung des gesellschaftlichen und historischen Kontextes anders bewertet werden. Beispielsweise unternimmt Vertov den Versuch, jeden genialistischen Zug seiner Arbeit durch seine konstruktivistische Herangehensweise als Handwerk wie jedes andere darzustellen, was ihm euphorische Kritiken und gewissermaßen kontrapro-
132. Vgl. ebd., S. 188. 133. Kirchmann, Kay 1996: »Als die Filmarbeiter die Fabrik der Fakten verließen, oder: Was sieht der Mann mit der Kamera? Zu Dziga Vertovs Der Mann mit der Kamera.« In: Karpf, Ernst; Kiesel, Doron; Visarius, Karsten (Hg.): Im Spiegelkabinett der Illusionen: Filme über sich selbst. Arnoldshainer Filmgespräche; Bd. 13. Marburg. S. 95-103, hier S. 100. 134. Vgl. ebd., S. 97. 135. Vgl. ebd., S. 100. 136. Vgl. ebd., S. 102. 95
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duktiv zu seiner Absicht die Nobilitierung zum Filmkünstler eingebracht hat. Schließlich muss auch die von einigen Autoren ins Feld geführte Polarisierung, derzufolge Vertov zwischen Fiktion und Faktizität, Illusion und Authentizität strikt trennt, relativiert werden.137 Zwar unterscheidet Vertov 1930 zwischen »Dokumentarfilme[n] (mit echten Gesprächen, Geräuschen usw.) und Spielfilme[n] (mit künstlichen, speziell für die Aufnahme präparierten Gesprächen, Geräuschen usw.)«, aber »ob Dokumentarfilme oder Spielfilme – eine obligatorische Kongruenz oder Inkongruenz des Sichtbaren und des Hörbaren gibt es in gar keiner Weise. Toneinstellungen […] können sich montagemäßig decken, können sich montagemäßig nicht decken und in verschiedenen geboten erscheinenden Verbindungen miteinander verflochten werden.«138 Deutlich wird, dass Vertov ein ausgeprägtes Bewusstsein bezüglich des inszenatorischen Gehaltes seiner Arbeitsweise besitzt, was im Hinblick auf die selbstreflexiven Elemente, die Vertov aus Futurismus, Formalismus und Konstruktivismus in seiner Konzeption verarbeitet hat, kaum verwundert. Dennoch wird Vertov in Verbindung mit einer Gattungsdiskussion gebracht, die ihren Ausgangspunkt in Definitionsversuchen des Dokumentarischen hat. Sie erscheint jedoch im Hinblick auf die Gefahren, denen sich Vertov bei seiner Filmarbeit ausgesetzt sah, plausibel. Hintergrund ist die »Politik der neuen Ökonomie« (NEP), die Lenin aufgrund der starken Unterversorgung der sowjetischen Bevölkerung 1921 erlässt und die nicht nur vorübergehend Formen von Privateigentum ermöglicht, sondern zudem erlaubt, dass zahlreiche amerikanische, deutsche, französische und italienische Filme in die Sowjetunion importiert werden können. Vertov macht keinen Hehl daraus, dass er den fiktionalen Film als Rauschmittel für das Volk betrachtet und allein in der Dokumentation des sozialistischen Realismus ein probates Gegenmittel sieht. Der Spielfilm, den Vertov auf eine Stufe mit dem »räudigen Substitut der Lebenswirklichkeit« des Theaters stellt, ist für ihn eine gefährliche Waffe in den Händen der Kapitalisten. Stattdessen fordert er die Filmemacher auf, die Lebenswirklichkeit darzustellen.139 Vor diesem Hintergrund tritt er
137. Vgl. ebd., S. 103. 138. Vertov, Dziga 1930: »Antworten auf Fragen.« In Beilenhoff, Wolfgang (Hg.) 1973: Dziga Vertov, S. 89-92, hier S. 92.
139. Vgl. Barnouw, Erik 1974: Documentary. A History Of The Non-Fiction Film. London. Oxford. New York. S. 54. 96
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in den Jahren 1920 bis 1922 zum ersten Mal als Filmtheoretiker in Erscheinung. Vertov, der durch den Import von Filmdramen seine Arbeitsgrundlage gefährdet sieht, fordert eine Neubewertung der »Balance«, die während der NEP-Phase verabschiedet wurde, um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Spielfilm, Wochenschau und Dokumentarfilm sicherzustellen. Es überrascht daher nicht, dass Vertov dafür eintritt, auch Eisensteins Filme als nicht dokumentarisch einzustufen, um bei der Bewertung der Balance seinem Ziel, höhere Anteile für dokumentarische Filme zu erzielen, näher zu kommen.140 Das Kernproblem, dem sich Vertov in diesem Zusammenhang auch theoretisch gegenübersieht, ist die Frage, inwieweit ein Ereignis, das im Film dargestellt wird, tatsächlich in der realen Welt stattgefunden hat. Historisch verweist das Bestreben, Nicht-Fiktion (Fakten) von den »Verunreinigungen« der Interpretation und der Phantasie zu trennen, auf das aus der formalistischen Theorie entwickelte Spezifikum der Faktographie; doch schon 1927 bewertet Piotrovskij, der Vertov und Eisenstein in der Entwicklung einer Filmkunst »gigantische Möglichkeiten« zuweist, es als unwesentlich, »ob in einen Film nur streng dokumentarisches Material aufgenommen wird oder auch inszenierte, gestellte Bilder«,141 da, wie der formalistische Theoretiker schon damals erkennt, Aufnahme und Montage einer subjektiven Interpretation unterliegen. Die reaktionären Kräfte, die Vertovs kreative Schaffenskraft schon Ende der zwanziger Jahre zunehmend lähmen, instrumentalisieren seine Definitionsversuche, mit denen dieser gegen die Aufführung »trivialer« Importe zu Felde zog, um seine Arbeit als »formalistisch« zu denunzieren. Dabei wird das Etikett Formalismus von marxistischen Kritikern in pejorativer Weise eingesetzt, um Vertovs Arbeit zu verunglimpfen. Und dies, obwohl Vertov die Verbindung zwischen Film und Gesellschaft keineswegs ausgeklammert hat,142 sondern immer wieder der Bourgeoisie die
140. Vgl. Petric, Vlada 1987: Constructivism In Film, S. 22. 141. Piotrovskij, A. 1927: »Zur Theorie der Filmgattungen.« In: Beilenhoff, Wolfgang (Hg.) 1974: Poetik des Films. S. 100-118, hier S. 117.
142. Vertovs Arbeit im Sinne des sozialistischen Realismus als formalistisch zu bezeichnen, wird seinem Werk nicht gerecht. Denn wenn Striedter davon spricht, dass sich der Formalismus a priori nicht aus Opposition gegen den Marxismus formiert hat, sondern jeder Tendenz entgegentritt, die bestrebt gewesen sei, die gesellschaftspolitische Bedingtheit der Literatur mit einzubeziehen, so gilt dies auch für Vertov. Vgl. Striedter, J. 1994: Russischer Formalismus, S. LXXVI. 97
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Arbeiterklasse gegenüberstellt.143 Noch in seinem 1930 erschienenen Artikel »Antworten auf Fragen« ist er von der Relevanz des Dokumentarfilms als »Hauptmethode einer proletarischen Kinematographie« fest überzeugt.144 Dass Vertov nie Interesse daran hatte, einen dogmatischen Dokumentarfilmbegriff festzulegen, zeigen seine tagebuchhaften Aufzeichnungen, in denen er 1944 auf die institutionell verankerte Definition des Dokumentarfilmbegriffs zurückblickt. Er empfindet es als großen Rückschritt, dass sich die sozialistischen Instanzen vehement – und natürlich aus gutem Grund – gegen eine Veränderung ihres Regelkorsetts bei der Interpretation der sozialistischen Realität wehren. »Ohne Verletzung der Regeln gibt es keine Entwicklung. Wenn wir das vergessen, geraten wir in eine Sackgasse.«145 Vertov symbolisiert einen der tragischen Fälle der Filmgeschichte, da er bis zu seinem Tod unter einer jahrzehntelangen Institutionalisierung des Films leidet, die sich unter dem Gesetz der Planerfüllung auf eine quantitative Erfüllung ihrer Ziele reduziert und Freidenkern wie ihm keine Chance einräumt. Vertov geht es nicht um die Herstellung einer objektiven Wirklichkeit, sondern um die Schaffung einer neuen Realität, einer Realität, die vollständig auf die proletarische Gesellschaft ausgerichtet ist und in diesem Sinn als Mittel zur Erziehung angesehen wird. Wie kann Kunst, in diesem Fall der Film, auf die Bedürfnisse der Arbeiterschaft ausgerichtet werden? In keinem Fall, indem die »alte Kinotradition« der bourgeoisen Gesellschaft, die ihre Wurzeln im verpönten Drama hat und die Potenziale des Mediums nutzt, um den bürgerlichen Machtanspruch zu untermauern, fortgesetzt wird, sondern allein in der Aufdeckung und Sichtbarmachung der konstitutiven Elemente des Filmes, in der Darstellung der puren Filmsprache, mit anderen Worten, in der Schaffung einer Filmsprache, die den gesellschaftlichen Umbruch von der bourgeoisen zur proletarischen Gesellschaft begleiten kann. Die Konzeption einer Bewusstmachung des konstruktiven Charakters des Films ist ohne den permanenten Selbstverweis auf das filmische Medium nicht umsetzbar. An die Stelle einer klassi-
143. Vgl. Petric, Vlada 1987: Constructivism In Film, S. 84 ff. 144. Vgl. Vertov, Dziga 1930: »Antworten auf Fragen.« In Beilenhoff, Wolfgang (Hg.) 1973: Dziga Vertov, S. 89-92, hier S. 90.
145. Vertov zitiert in Tode, Thomas; Gramatke, Alexandra (Hg.) 1999: Dziga Vertov. Tagebücher/Arbeitshefte. Konstanz. S. 141. 98
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schen Handlung mit Plot tritt die aus dem narrativen Zusammenhang herausgerissene Neukontextualisierung des Wochenschaumaterials. Durch das Aufbrechen der üblichen Syntax verbinden sich für den Rezipienten die Herausforderungen, die lineare Suche nach Sinngehalt zu überprüfen und seine Aufmerksamkeit auf die Montagetechnik zu richten. In dieser Hinsicht kennzeichnet ein Widerspruch Vertovs Absichten. Zum einen ist er der Überzeugung, dass Film die Massen erziehen sollte; zum anderen fordert er die Rezeptionsgewohnheiten der Massen mit seiner selbstreflexiven Konzeption in Der Mann mit der Kamera ohne Unterlass heraus. Wenn eine Frau durch die Nachahmung der Kurbelbewegung auf den Kameramann reagiert, soll eine kritische Distanz zur Handlung hergestellt werden. Gleichzeitig wird der Status der Kamera als Zeitzeuge von Lebensfakten untermauert. Gemäß seiner Theorie versucht Vertov, die unsichtbaren Aspekte der Realität zu offenbaren, die dem menschlichen Auge verschlossen bleiben. Die Großaufnahme der Augen von Kindern, die voller Bewunderung einen Magier beobachten, kann beispielhaft als kritischer Hinweis auf den Illusionscharakter des Mediums gelesen werden. Der technische Aspekt wird nicht zuletzt durch die Darstellung der Tätigkeit im Schneideraum als dritter filmischer Konstituente – neben der Aufnahme und der Montage – in den Vordergrund gestellt. Darüber hinaus wird ein weiter Erzählstandpunkt situiert, der neben die Erzählung aus Sicht der dritten Person des Autors, des Kameramanns, der dargestellten Personen und der Kamera tritt. Der Blick des Kameramanns und der Blick der Kamera fallen in einer Einstellung zusammen, in der die Hand des Kameramanns die Linse der Kamera rotiert, und in den folgenden Weitwinkelaufnahmen werden die Reaktionen einiger Vagabunden auf die Kamera sichtbar. Mit dem häufigen Wechsel der Erzählstandpunkte unterläuft Vertov ein weiteres Mal einen narrativen Erzählaufbau. Auch der Rückgriff auf die ganze Bandbreite filmischer Tricks (Zeitraffer, Zeitlupe, Überblendungen, Pixillierung des filmischen Materials, Jump Cuts), mit denen Vertov Szenen kommentiert und offen legt, dient dazu, selbstreflexiv die filmischen Gestaltungsmöglichkeiten im eigenen Werk darzustellen.
5.4 Satire als selbstreflexive Strategie in Jean Vigos »A propos de Nice« Während Parodien des Dokumentarischen im Film erst im späteren historischen Verlauf mit der Herauskristallisierung dokumentari99
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scher Konventionen auftreten, ist Jean Vigos Debütwerk A propos de Nice eines der ersten und wichtigsten Werke der Filmgeschichte, in dem satirische Elemente mit einer dokumentarischen Herangehensweise verknüpft sind146 und in dem auf ein Drehbuchkonzept verzichtet wurde: »Ils travaillent en fait sans scénario bien défini, à partir seulement de quelques idées-forces, et d’une intention satirique désormais explicite.«147 Die Untersuchung der satirischen Energie Vigos kann als ein Forschungsdesiderat angesehen werden; dennoch steht im Zentrum dieser Arbeit nicht eine erschöpfende Untersuchung satirischer Mittel in A propos de Nice, vielmehr gilt es, an diesem Filmbeispiel herauszuarbeiten, in welchem Modus Satire selbstreflexiv Konventionen des Dokumentarischen hinterfragt.
5.4.1 Der Einfluss von Dziga Vertov Dem Einfluss der russischen Avantgarde, vermittelt durch den zweiten Bruder Dziga Vertovs, Boris Kaufman, kommt dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle zu, auch wenn dies in der französischen Literatur – eine Ausnahme bildet Lherminier – übersehen wird. Kaufman zeichnet nicht nur für die Kameraarbeit in allen drei weiteren Werke Vigos verantwortlich; auf ausdrücklichen Wunsch Vigos, der im Gegensatz zu Kaufman noch auf keine praktische filmische Erfahrung zurückgreifen kann, leistet er auch konzeptionell einen essenziellen Beitrag zu A propos de Nice.148 Kaufmans Position lässt sich aus einer Plakatankündigung des Filmclubs »Amis Du Cinema« aus dem Jahr 1931 zu A propos de Nice ableiten, auf der das vertraglich gleichgestellte Arbeitsverhältnis zwischen Vigo und Kaufman schriftlich festgelegt ist.149 Die wichtige Rolle Kaufmans, die Gomes lediglich als »an instrument intimately involved in the creative process«150 ansieht, wird noch deutlicher, legt man zugrunde, dass Kaufmans Bildästhetik auf dem Einsatz einer mobilen
146. Vgl. Gili, Jean 1966: »Notes sur A Propos De Nice ou a la recherche d’un cinema
147. 148.
149. 150.
social.« In: Xésteve, Michel: Jean Vigo. Études cinématographiques numeres 51-52. Paris. S. 23-29, hier S. 24. Lherminier, Pierre 1984: Jean Vigo. Paris. S. 158. Vgl. Lherminier, Pierre 1985: Jean Vigo. Œuvre de Cinéma. Films Scénarios. Projets de films. Textes sur le cinéma. Préface de François Truffaut. Ouverture de Claude Aveline. Paris. S. 59. Vgl. ebd., S. 62. Gomes, P. E. Salles 1972: Jean Vigo. London. First published 1957. S. 226. 100
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Handkamera beruht, die er von seinem Bruder Vertov geschenkt bekommt und mit der Kaufman Menschen unbemerkt filmen kann. Zu erwähnen ist schließlich noch der theoretische Einfluss Vertovs auf seinen Bruder, da Boris Kaufman seinen Freunden Lods, Storck und Vigo die Manifeste Vertovs vorliest.151 Es überrascht nicht, dass Vigos Konzeption eine deutliche Affinität zu Vertovs Vorstellungen des Kino-Auges aufweist: »Anyone involved in making social documentaries must be thin enough to slip through the keyhole of a Roumanian lock and capable of catching Prince Carol jumping out of bed in his shirt tails: assuming, that is, one thinks such a spectacle worthy of interest. He must be small enough to fit under the chair of a croupier – that great god of the Monte Carlo casino – believe me, it isn’t easy.«152 Vertovs utopische Vorstellung, mit Hilfe des Kino-Auges die Wahrheit zu dekuvrieren und dabei Menschen ohne ihre Masken zu zeigen, erhält bei Vigo mittels seiner satirischen Vorgehensweise eine neue Qualität. Es bestehen offensichtlich »mehr Gemeinsamkeiten mit der ›Filmauge‹-Methode von Dziga Vertov […] als mit den impressionistischen oder surrealistischen Filmen der Pariser Avantgarde«.153 Dies trifft allerdings nur für A propos de Nice zu; dennoch ist der Zusammenhang zwischen der russischen Avantgarde und Jean Vigo bisher nicht ausreichend untersucht worden. Die kurze Darstellung der Koautorschaft zwischen Vigo und Boris Kaufman ist nicht nur hilfreich, um die ästhetische Konzeption in Vigos Erstlingswerk transparenter werden zu lassen, es muss auch herausgestellt werden, dass es sich bei beiden Herangehensweisen – trotz einiger Übereinstimmungen154 – um zwei unterschied-
151. Vgl. Tode, Thomas 1999: »Ein Russe auf dem Eiffelturm. Dziga Vertov in Paris«, S. 55.
152. Vigo zitiert in Gomes, P. E. Salles 1972: Jean Vigo. London. S. 72. 153. Tode, Thomas 1999: »Ein Russe auf dem Eiffelturm. Dziga Vertov in Paris«, S. 53.
154. Nicht allein aufgrund seiner sozialkritischen Haltung ist Vigos Film der sowjetischen Filmkunst verpflichtet; es findet sich auch im Prinzip der Entautomatisierung von Wahrnehmungsgewohnheiten der Einfluss der russischen Formalisten wieder, die schon in ihren theoretischen Aussagen Satire und auch Parodie als geeignete Mittel ansehen, um die Evolution der Gattungen voranzutreiben. So hebt Schwind hervor: »Die Verformung in der Satire mag durch die Betonung oder Erstellung eines Ungewohnten bisher Übersehenes, Verdrängtes oder Unterdrücktes in den Blick heben und das derart Neu-Gesehene zum Normbe101
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liche selbstreflexive Konzeptionen handelt. Bei Vertov nimmt die Selbstreflexivität als Reflexion des Ästhetischen einen hohen Stellenwert ein, woraus folgt, dass die Frage nach dem Absoluten, die unter dem Aspekt des »Cinema Pur« zum Ausdruck kommt, eine konstruktivistische Analyse und Demonstration der dem Medium eigenen Gestaltungsmittel in den Vordergrund rückt, während der Schwerpunkt bei Vigo auf satirischen Gestaltungsmitteln liegt, mit denen er indirekt die Konventionen des Dokumentarischen spürbar werden lässt und den Zuschauer für den subjektiven Standpunkt des Autors sensibilisiert. Zu fragen ist daher, welchen Standpunkt Vigo gegenüber der dargestellten Alltagswelt in Nizza einnimmt.
Exkurs: Definition des Begriffs »Satire« Der Rückgriff auf eine Fülle unterschiedlichster Einstellungen lässt den Eindruck entstehen, dass Signifikanz mit Chaos abwechselt, womit ein bedeutendes Merkmal für Satire eingelöst wird: »Füllsel, Gemengsel, buntes Allerlei beinhaltete die Bedeutung des Substantivs Satura, das in erster Linie für bestimmte Gerichte verwendet wird.«155 Ein lateinischer Terminus, der aus der Sprache eines Bauernvolkes stammt, wird zunächst häufig auf die Literatur angewendet: kräftiges Essen. Weinreich leitet ab, dass es sich bei der Satura um ein primär geistiges Mischgericht handelt,156 wobei inhaltliche und formale Qualitäten nicht ausreichend für eine Definition des Gattungsbegriffs »Satire« sind, da eine eigene Form nicht feststellbar ist. Im Rückgriff auf Sulzer stellt Wölfel fest, dass beliebige Gattungen und Formen zu Vehikeln satirischer Tendenzen funktio-
standteil gegen festgefahrene Wahrnehmungsschemata umwerten.« Über Satire können auch dokumentarische Konventionen sichtbar werden. Vgl. Schwind, Klaus 1988: Satire in funktionalen Kontexten. Theoretische Überlegungen zu einer semiotisch orientierten Textanalyse. Tübingen. S. 96. Ganz in diesem Sinne verlassen Vigo und Kaufman gängige Strukturen des Kinos, um zwei Ziele zu erreichen: Zum einen wollen sie den Zuschauer aufwecken, zum anderen stimulieren sie Prozesse, die den subjektiven Charakter ihrer Wirklichkeitskonstruktion ausweisen. 155. Weinreich, Otto: »Vorstufen – Wortbedeutung – Dramatische Satura.« In: Fabian, Bernhard 1975: Satura. Ein Kompendium moderner Studien zur Satire. Hildesheim. New York. S. 16-32, hier S. 20. 156. Vgl. ebd., S. 22. 102
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nalisiert werden können.157 Allgemein wird Satire als ironisch-witzige literarische oder künstlerische Darstellung menschlicher Schwächen und Laster definiert. Im Rahmen satirischer Strategien soll sich vor allem an der übertriebenen Darstellung habitualisierter Gebräuche Kritik entzünden. Das Spiel mit gesellschaftlichen Normen und Wahrheiten ist für die Satire unabdingbar: »Eine satirische Norm steht stets in Relation zu einem mit negativen Implikationen versehenen ›Normwidrigen‹, wie es im Angriffsobjekt repräsentiert ist.«158 Das »Normwidrige« äußert sich darin, dass die Grenzen zwischen Fiktionalität und Nicht-Fiktionalität, formalen Experimenten und politischer Suggestion verwischt werden. Der Aufbau eines Kontrasts zwischen der eigenen, überlegenen Norm des Satirikers und der allgemeingültigen, »falschen« Norm dient dazu, das Publikum von der Richtigkeit der Normen des Satirikers zu überzeugen. Um die grundsätzliche Überlegenheit ihres Standpunktes abzusichern, deklarieren die Autoren ihre satirische Strategie nicht als privat, sondern definieren sie von ihrem Anspruch her als »allgemein nützlich«, wobei die angesprochene Zielgruppe als die »Allgemeinheit« fungieren darf.159 Vigo bedient sich letztlich der Satire, um mit dieser Frontalstellung gegen das Bürgertum die Sympathie des Publikums auf seine Seite zu ziehen. Seine so geäußerte Angriffshaltung darf sich im Rahmen sozialer Ordnungsinteressen legitim entfalten. In dieser Hinsicht entspricht A propos de Nice den Merkmalen einer filmischen Satire. Wie sich auf satirischer Basis der Standpunkt der Autoren und damit selbstreflexive Verweise entfalten können, soll paradigmatisch an A propos de Nice untersucht werden.
5.4.2 Die politische Haltung Jean Vigos als Voraussetzung für Satire Folgt man den ersten Einstellungen in A propos de Nice, so kann Vigos immanente Argumentationsrhetorik den Eindruck entstehen lassen, dass es in diesem Film um die unkritische Darstellung des
157. Vgl. Wölfel, Kurt: »Epische Welt und satirische Welt. Zur Technik des satirischen Erzählens.« In: Fabian, Bernhard 1975: Satura. Ein Kompendium moderner Studien zur Satire. Hildesheim. New York. S. 294-307, hier S. 295. 158. Schwind, Klaus 1988: Satire in funktionalen Kontexten, S. 70. 159. Vgl. ebd., S. 71. 103
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Alltagslebens der Reichen und Privilegierten in Nizza geht. Im weiteren Verlauf von A propos de Nice lässt sich dieser Eindruck allerdings nicht aufrechterhalten. Legt man in diesem Zusammenhang die Literatur zugrunde, so stellt Gomes fest, dass Vigo Nizza als Treffpunkt der Reichen hasst und daraus seine Inspirationen schöpft.160 Diese antipodische Haltung Vigos gegenüber dem Bürgertum wird beeinflusst durch den frühen Tod von Vigos Vater, des Anarchisten Miguel Almereyda, der unter ungeklärten Umständen in Haft stirbt und an dessen Unschuld Vigo glaubt.161 Gomes widmet Almereyda ein ausführliches Kapitel, um den nachhaltigen Einfluss, den sein Vater auf Vigos politische Meinungsbildung ausgeübt hat, hervorzuheben. Erwähnenswert ist zudem, dass Almereyda schon 1913 die satirische Wochenzeitung »Le Bonnet Rouge« gründete,162 was den Schluss nahe legt, dass satirische Verfahren Vigo nicht unbekannt gewesen sein dürften. Unter diesen Umständen überrascht nicht, dass Vigo sich früh mit politischen Fragen seiner Zeit beschäftigte. Eine wichtige Voraussetzung für satirisches Arbeiten ist zweifellos die politische Haltung des Autors, denn »in konkreten historisch-sozialen Kontexten und unter den von diesen vorgegebenen Kommunikationsbedingungen produziert ein Autor, der sich selbst als Satiriker versteht oder als solcher verstanden wird, einen ästhetischen Text, mit dem er einer Angriffshaltung (intentional) manifest Ausdruck gibt«.163 Zweifellos handelt es sich auch bei Vigo um eine wertende Stellungnahme zu den ihn umgebenden gesellschaftlichen Umständen, zu denen er gestaltend Relationen herstellt. Eine distanzierte Haltung zur Wirklichkeit, die Vigos Konzeption prägt, gilt als Voraussetzung für die Satire. A propos de Nice ist Ausdruck einer ästhetisch sublimierten Frustration Vigos in seinem Verhältnis zur etablierten bürgerlichen »Wirklichkeit« und einer dadurch stimulierten persönlichen Indignation: »Le film tend à la généralisation de grossières réjouissances placées sous le signe du grotesque, de la chair et de la mort, et qui sont les derniers soubresauts d’une société qui s’oublie jusqu’à vous donner la nausée et vous faire le complice d’une solution révolutionnaire.«164
160. 161. 162. 163. 164.
Vgl. Gomes, P. E. Salles 1972: Jean Vigo, S. 53 und 55. Vgl. Lherminier, Pierre 1984: Jean Vigo, S. 12. Vgl. Gomes, P. E. Salles 1972: Jean Vigo, S. 17. Schwind, Klaus 1988: Satire in funktionalen Kontexten, S. 24. Vigo, Jean 1931: »Vers un cinéma social. Présentation de A propos de Nice.« 104
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Aus der Fülle psychischer Dispositionen ist Aggressivität ein wesentliches Element, das notwendig für eine satirische Strategie ist: »Aggressivität und Engagement müssen […] mit intellektueller Distanz und gestalterischen Fähigkeiten korrespondieren.«165 Die Fähigkeit zur gelungenen Satire, wie sie Vigo attestiert wird, verlangt sowohl die Einnahme eines extremen Standpunktes als auch die Erweiterung der unmittelbaren Beobachterperspektive mit Komponenten aus Humanismus, Geschichtsbewusstsein und Liberalität.166 Vigos satirische Neigungen und der Einfluss der sowjetischen Filmavantgarde um Dziga Vertov lassen es nahe liegend erscheinen, dass beide Konzeptionen in A propos de Nice eine wichtige Rolle spielen. Dies zeigt sich in der ästhetischen Vorgehensweise beider Autoren, die im Folgenden exemplarisch näher beleuchtet werden soll.
5.4.3 Ästhetische Konzeption in »A propos de Nice« A propos de Nice beginnt mit dem Motiv eines nächtlichen Feuerwerkes, das allerdings schon in der zweiten Einstellung keine weitere Fortsetzung erfährt, sondern durch eine Einstellung abgelöst wird, die den durch den Titel geweckten Erwartungen entspricht: Die Topographie Nizzas wird dem Zuschauer aus der Perspektive eines Flugzeuges präsentiert und in zwei weiteren Einstellungen, die durch Überblendungen das Sujet in Form und Inhalt beibehalten, fortgeführt. Die exponierte Ansicht aus der Vogelperspektive suggeriert sowohl einen dokumentarischen Gestus als auch eine satirische Haltung, die Tradition hat: Der Standort des Satirikers war schon im 18. Jahrhundert vornehmlich der Platz in der Ecke eines Kaffeehauses, ein Fensterplatz oder, besser noch, eine Anhöhe, ein Berg, ein Turm, ein Baum: Wer die Welt unter sich hat, der kann sein Auge überallhin schweifen lassen.167 Vigos und Kaufmans Vorgehenswei-
In: Lherminier, Pierre 1985: Jean Vigo. Œuvre de Cinéma. Films Scénarios. Projets de films. Textes sur le cinéma. Préface de François Truffaut. Ouverture de Claude Aveline. Paris. S. 67. 165. Schwind, Klaus 1988: Satire in funktionalen Kontexten, S. 65. 166. Vgl. Hodgart, Matthew 1969: Die Satire. München. S. 70. 167. Vgl. Wölfel, Kurt: »Epische Welt und satirische Welt. Zur Technik des satirischen Erzählens.« In: Fabian, Bernhard 1975: Satura. Ein Kompendium moderner Studien zur Satire. Hildesheim. New York. S. 294-307, hier S. 300. 105
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se korreliert auch mit Wölfels Vorstellung vom klassischen Standpunkt des Satirikers: »[…] der Beobachter aus der Vogelschau hat den größtmöglichen Schaukreis, eine Art Totalansicht der Welt; und er selber ist – conditio sine qua non der satirischen Entlarvung – ungesehen und von der Welt unvermutet.«168 Die dritte Überblendung der Anfangssequenz lenkt unvermittelt den Blick auf das Geschehen am Boden: Ein Spieltisch erscheint, und in der folgenden Animation wird die Ankunft eines Touristenpaares dargestellt, das die Größe von kleinen Spielzeugfiguren hat. Das Paar wird von einem Spielhaken umgerissen und in der letzten Einstellung dieser Sequenz über den Spieltisch gezogen. Es lässt sich erahnen, dass es den Autoren im Film nicht um die bloße Darstellung der Ankunft eines Touristenpaares geht, sondern dass die Dekadenz der Erholungsuchenden in Nizza im Mittelpunkt steht. Der abrupte Übergang von der Totalen Nizzas auf die Nahaufnahme des Spieltisches ist ungewöhnlich: Erst nähern sich die beiden Autoren aus großer Distanz der Stadt und verweisen mit der Vogelperspektive auf die Möglichkeit der Kamera, jeden Winkel der Stadt zu erfassen, dann beschreiben sie die Stadt aus unvermittelter Nähe, ohne einen touristischen Blick einzunehmen. Auf die Spielbons des Spieltisches folgt in der nächsten Szene eine Nahaufnahme vom Strand, dessen Kieselsteine von den Wellen des Meeres weggespült werden. Wie schon bei Vertov zu beobachten, zeigt sich hierin nicht nur die Hinwendung zu strukturellen Affinitäten,169 zudem richtet sich die Aufmerksamkeit auch auf den symbolischen Gehalt von Kaufmans Bildästhetik, denn Wellen lassen in diesem Kontext eine symbolische Interpretation zu: Sie repräsentieren nicht nur die reinigende und unbezwingbare Kraft der Natur, die ganz im Gegensatz zur Welt des Scheins des Spielsalons steht; darüber hinaus wird vielmehr durch die Wellen die physische »Wirklichkeit« der authentischen Welt konnotiert. In der nun folgenden Einstellung sind es wieder Wellen, die im Bild thematisiert werden, diesmal allerdings als Putzmittel, um touristische Gehwege zu säubern. Dieser Aspekt des (Heraus-)Putzens dominiert auch in den folgenden Einstellungen, bei denen expressionistische Karnevalspuppen, unter deren Masken sich später Menschen verbergen, für ihren Umzug hergerichtet werden.
168. Vgl. ebd., S. 301. 169. Siehe auch die assoziative Verknüpfung von Palmen aus der Froschperspektive mit ausgespreizten Sonnenschirmen. 106
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Der variantenreiche Einsatz der Kameraoperationen, wie er zu Beginn schon spürbar wird, konvergiert mit der »Artistik der perspektivischen Technik«, die in der literarischen Satire bereits ausgeprägt ist: »Die virtuose Handhabung perspektivischer Überraschungen: der schier unerschöpfliche Reichtum an immer neuen optischen Instrumenten und Maschinen, die Technik, durch vielfachen Wechsel der Standpunkte und Aspekte zu wirken, Proportionen zu vertauschen, Verhältnisse umzukehren, den gewöhnlichen Nexus der Dinge zu lösen – das bestimmt den Rang und den Vorzug satirischer Kunstwerke.«170 In diesem Kontext spielt das neue Sehen der russischen Avantgarde und mit ihm der Impetus der Selbstreflexivität eine übergeordnete Rolle: »Vertov hat recht. Das Kino und die Laufbildkamera sollten nicht das menschliche Auge imitieren, sondern das sehen und erfassen, was gewöhnlich vom menschlichen Auge ausgelassen wird. Das Kino und das Fotoobjektiv können uns Dinge aus einem anderen Blickwinkel, in einem ungewöhnlichen Rahmen zeigen, und diese Möglichkeit muß genutzt werden.«171 Vigos und Kaufmans Synthese zwischen Vertovs Kino-Auge und satirischen Intentionen soll dem Betrachter die Augen öffnen, ohne unmittelbar pädagogisch zu wirken. Und hierbei bietet sich die indirekte Form der Satire an: »Les images s’enchainent selon un rythme et un jeu de correspondances qui leur donnent leur force.«172
5.4.4 Konnotative Selbstreflexivität Die Darstellung der Menschen in der Stadt nimmt auf phänomenologischer Ebene eine Schlüsselstellung im Verständnis der satirischen Vorgehensweise der beiden Autoren ein. Noch auf den ersten
170. Wölfel, Kurt: »Epische Welt und satirische Welt. Zur Technik des satirischen Erzählens.« In: Fabian, Bernhard 1975: Satura. Ein Kompendium moderner Studien zur Satire. Hildesheim. New York. S. 294-307, hier S. 299-300. 171. Brik, Osip 1926: »Was das Auge nicht sieht.« In: Stanislawski, Ryszard; Brockhaus, Christoph (Hg.) 1995: Europa, Europa. Das Jahrhundert der Avantgarde in Mittel- und Osteuropa. Bd. 3. Bonn: Kunst- und Ausstellungshalle der BRD, S. 327. 172. Gili, Jean 1966: »Notes sur A Propos De Nice ou a la recherche d’un cinema social.« In: Xésteve, Michel: Jean Vigo. Études cinématographiques numeres 5152. Paris. S. 23-29, hier S. 27. 107
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Blick werden in Vigos Werk alle Klischees, für die Nizza bekannt ist, aufgegriffen: »Ciel bleu, maisons blanches, mer et soleil, c’est la cité des fleures et des fêtes, de l’allégresse, en un mot du Carnaval.«173 Diese touristische Wahrnehmung von Nizza und der damit verbundene dokumentarische Blick stellen die Oberfläche dar, hinter die Vigo und Kaufman vordringen wollen. Nicht umsonst thematisieren sie einen Teilaspekt aus dem Leben der Wohlhabenden, die sich erholen und amüsieren, obwohl oder gerade weil das Jahr 1929 von der Weltwirtschaftskrise gekennzeichnet ist. Die Bourgeoisie wird in ihrem Erholungsbedürfnis zu einem Zeitpunkt dargestellt, als Arbeiter noch keinen bezahlten Urlaub haben.174 Die Filmemacher stellen heraus, wie Urlauber sich im Nichtstun und Flanieren an der Strandpromenade üben, während ihnen in einer Kontrastmontage die unterprivilegierte Arbeiter- und Armenklasse gegenübergestellt wird, die in der engen und schmutzigen Altstadt haust. A propos de Nice – und die darin kritische Darstellung der Mächtigen und Wohlhabenden – muss vor dem historischen Hintergrund der Arbeitslosigkeit, der wirtschaftlichen Krise, des aufkeimenden Nationalismus und der Kriegsgefahr gesehen werden. Durch die extreme Perspektivierung und Betonung menschlicher Schwächen evozieren die Autoren ein Bild, das das Perfektionstreben der Bourgeoisie der Lächerlichkeit preisgeben soll, wobei eine Suspendierung der bürgerlichen Alltagswahrnehmung intendiert ist. Der selbstgefällige Blick der Urlauber in Nizza wird durch eine den touristischen Wahrnehmungsgewohnheiten zuwiderlaufende Bildästhetik aufgebrochen: »Their view of themselves is a public one: they see each other and think of themselves in terms of the inessential accretions of a highly-developed society. Vigo’s camera distances us from the superficial continuities of their conventional behaviour to direct our attention to them as people rather than as the affluent clothes-horses of their own perceptions.«175 Mit der Aufhebung der etablierten Perspektive auf Nizzas Stadtleben werden nicht nur unerwünschte Aspekte des bürgerlichen Daseins aufgedeckt, sondern mit der Differenz zu ihrem Ge-
173. Vgl. ebd., S. 25. 174. Vgl. Perrin, Claude 1966: »Jean Vigo ou la beauté de l’informe.« In: Xésteve, Michel: Jean Vigo. Études cinématographiques numeres 51-52. Paris. S. 5-22, hier S. 25. 175. Smith, John M. 1972: Jean Vigo. London. S. 28. 108
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genstand wird auch die Differenz zu den Konventionen des Genres ästhetisch vermittelt.176 Mit anderen Worten: Die aufkommenden Zweifel an der Authentizität der bourgeoisen Urlauber und deren zur Schau gestellte Künstlichkeit weisen auf den subjektiven und damit nach allgemeiner Lesart fiktionalen Charakter des Mediums hin. Interessant in diesem Zusammenhang ist insbesondere die unterschiedliche Darstellung der Architektur. Während Häuserfassaden der Bourgeoisie teilweise gekippt, aus extremer Unteransicht oder auch – um ihre ornamentale Manieriertheit hervorzuheben – in ihren bogenhaften Ausführungen mit der Handkamera nachgezeichnet werden, bestimmt in der Darstellung der Wohnviertel der ärmeren Einwohner eine harte Kontrastierung das Bild: Zwischen den sich vor dem Himmel abzeichnenden Gebäudesilhouetten und den dadurch spürbar werdenden engen Straßenverläufen entfaltet sich ein Reduktionismus, der symbolisch die Einfachheit der dargestellten Bewohner vorwegnimmt und den einführenden Teil der Authentizitäts- und Solidaritätsstrategie mit den Bewohnern darstellt. In der Art und Weise, wie das Bürgertum filmisch dargestellt ist, wird – ohne motivisch den Konstruktionscharakter des Mediums zu thematisieren177 – indirekt das mimetische Darstellungsprinzip des dokumentarischen Mediums unterlaufen, da die Differenz zwischen dem Gezeigten (den Urlaubern und den Symbolen der Macht) und der Wirklichkeit auseinander klafft. Wie in A propos de Nice exemplarisch deutlich wird, kann ein Film selbstreflexiv sein, ohne dies auch auf phänomenologischer Ebene in Anspruch zu nehmen. Die filmische Strategie verweist auf ihren interpretatorischen Charakter, obwohl kein einziger direkter, motivischer Bezug zum Filmischen im engeren Sinn erkennbar ist.178
176. Vgl. Bäumer, Rolf 1996: »Parodien dokumentarischer Authentizitätskonventionen.« In: Ertel, Dieter; Zimmermann, Peter 1996: Strategie der Blicke: Zur Modellierung von Wirklichkeit in Dokumentarfilm und Reportage. Konstanz. S. 83103, hier S. 90. 177. Sieht man von wenigen Ausnahmen einmal ab, in denen die Kamera respektive ihr Einfluss auf das Geschehen im Bild sichtbar wird, wie z.B. in einer Szene auf der Strandpromenade, in der Urlauber die Kamera wahrnehmen und ihr ausweichen, und in einer Tanzszene, in der ein Paar in die Kamera lächelt. 178. Dieser Zusammenhang wird auch im Rahmen parodistischer Dokumentarfilme zu untersuchen sein. 109
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5.4.5 Selbstreflexivität auf der Ebene der Montagestrukturen Selbstreflexivität entsteht auch auf struktureller Ebene. Insbesondere unter dem Blickwinkel einer dokumentarischen Strategie, die als konstitutives Moment jeden subjektiven Einfluss des Autors verbergen muss, ist eine satirische Herangehensweise eine Möglichkeit, um mit dem subjektiven Standpunkt des Autors auch die Konventionen des Dokumentarfilms hinsichtlich Objektivität, Authentizität und scheinbarer Wirklichkeitswiedergabe der physischen Realität zu problematisieren. Dabei ist es besonders unter satirischer Perspektive unzureichend, Selbstreflexivität allein auf phänomenologischer Ebene zu verankern. Es kann nicht darum gehen, dass »jedes isolierte narrative oder ikonographische Item selbstreflexiv genannt werden muß«,179 sondern eher darum, dass das Selbstreflexive gerade auch auf der Ebene der Montagestrukturen zum Ausdruck kommt. Durch die Anordnung divergierender Einstellungen, die ein kontinuierliches Erzählprinzip unterlaufen, thematisiert Vigo den Verlust an Authentizität und Menschlichkeit, welcher die Bourgeoisie kennzeichnet. Dabei treffen inkongruente Bestandteile zusammen, wie z.B. der Schnitt von einer Karnevalspuppe auf eine manieriert wirkende Frau, der in seiner überraschenden und zugleich komischen Wirkung das Aufbrechen des dokumentarischen Authentizitätsparadigmas evozieren kann, wie eine Szene, in der ein Mann bis zur Schwärze durch seine Sonnenanbetung verbrannt zu sein scheint. Ad absurdum geführt wird diese Einstellung mit der folgenden Szene eines sich sonnenden Krokodils. An dieser Stelle des Films wird ein weiteres Merkmal für Satire offenkundig, denn die Instrumentalisierung der Tierwelt hat in der Satire eine lange Tradition: Nicht zuletzt wird daran erinnert, dass der Homo sapiens trotz seiner geistigen Fähigkeiten ein (Säuge-)Tier ist. Schon der berühmte satirische Zeichner Grandville verwendete Mitte des 19. Jahrhunderts bei seiner Kritik an der Bourgeoisie Mensch-TierMetamorphosen.180 Allgemeiner Gegenstand der satirischen Attacke
179. Kirchmann, Kay: »Zwischen Selbstreflexivität und Selbstreferentialität. Überlegungen zur Ästhetik des Selbstbezüglichen als filmischer Modernität.« In: Amann, Frank; Kaltenecker, Siegfried; Keiper, Jürgen 1994: Film und Kritik. Selbstreflexivität im Film. Heft 2. Basel und Frankfurt. S. 23-37, hier S. 28. 180. Vgl. Diezmann, U. 1969: Bilder aus dem Staats- und Familienleben der Thiere 110
2005-08-05 08-41-57 --- Projekt: T359.kumedi.meyer.dokumentarfilm / Dokument: FAX ID 00c391224912908|(S. 100-202) T01_05 kapitel Teil 2.p 91224913564
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ist gewöhnlich ein vernünftiger Mensch, jemand, der sich seines Tuns bewusst ist. Die Illusion ist dabei die Annahme, dass die Urlauber in A propos de Nice mit gutem Gewissen handeln. Es überrascht nicht, dass besonders in Zeiten sozialer Desorganisation der Satiriker bemüht ist, neue Wertvorstellungen durchzusetzen. Vigo relativiert mehr oder minder offensiv die verfestigten Wert- und Wirklichkeitsvorstellungen durch die Strategie des Lächerlichmachens. Er verlässt den Rahmen etablierter Formen und verleiht A propos de Nice durch die sichtbare utopisch-anarchische Freiheit – bis zu einem gewissen Grad – den Eindruck einer fantasievollen Ungeordnetheit. Äußere Formlosigkeit der Satire kann als befreiende Außerkraftsetzung von begrenzenden Wahrnehmungsstrukturen und Systemzwängen beschrieben werden. Wie im Essayismus kann das In-Relation-Setzen heterogener Einheiten bewirken, dass unerwartete Perspektiven aufgeschlossen, Grenzen überschritten und Hierarchien aufgelöst werden. Auch bei Vigo wird eine bloß dialektische Normpräsentation produktiv vermieden, wenn im Rahmen einer Fragmentarisierung der Rezipient vor die Aufgabe gestellt wird, Bestandteile der Norm zu sammeln und zusammenzufügen. Das prinzipiell »bunte Allerlei«, das nicht beinhaltet, dass einer ersten, oberflächlich betrachteten äußeren »Formlosigkeit« ein Zusammenhang fehlt, lässt die Verknüpfungsstellen zwischen divergierenden Motiven häufig heraustreten und kann die Aufmerksamkeit auf den (selbstreflexiven) Konstruktionscharakter der Montage lenken.181
von Grandville. Deutsche Bearbeitung von 1846. (Original Paris 1842.) Hamburg. 181. Als aktuelleres Filmbeispiel sei an dieser Stelle Michael Moores Roger and Me angeführt. Wenn Moore sich sehr weit mit seiner dokumentarischen Methode vom Dokumentarfilmen mit sozialkritischem Anliegen distanziert, wie Bäumer feststellt, so gilt dies auch für A propos de Nice. Auch für Moore stehen Ironie und Satire im Mittelpunkt seiner Relativierungsstrategie. Zu den satirisch/ironisch kommentierenden Mittel zählt eine »Zitatcollage von Werbesendungen, historischen Dokumenten, alten Photographien, ›Home movies‹, Fernsehnachrichten oder auch parodistisch eingesetzten fiktionalen Formen […]«. Vgl. Bäumer, Rolf 1996: »Parodien dokumentarischer Authentizitätskonventionen.« In: Ertel, Dieter; Zimmermann Peter 1996: Strategie der Blicke: Zur Modellierung von Wirklichkeit in Dokumentarfilm und Reportage. Konstanz. S. 83-103, hier S. 97. Moores Argumentationsstrategie gründet sich auf den Rückgriff und 111
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Als bedeutungsvariierend wirkt sich dabei aus, dass in A propos de Nice eine Einstellung eine vorhergehende bzw. nachfolgende Szene relativiert, nuanciert oder neu perspektiviert. Es zeigt sich, wie mit der Kontrastmontage Satire im Film umgesetzt werden kann. Die Kunst der Implikation, Andeutung, Unterlassung und Umkehrung182 intendiert nicht eine für den Rezipienten uncodierbare Idiosynkrasie, sondern verbindet die pädagogische Entlarvungsund Aufklärungsabsicht der Autoren mit ihren ästhetischen Ansprüchen. Der indirekte183 satirische Modus kann beispielhaft in zwei miteinander verbundenen Szenen deutlich werden, bei denen Vigo die Einstellung von einer vor einer schmutzigen Rinne verharrenden und in die Kamera blickenden Katze mit einem gut situierten Tanzpaar, das lächelnd auf die Kamera reagiert, zusammenfügt, womit einmal mehr auch die Selbstvergessenheit des Bürgertums thematisiert wird. In weiteren Szenen werden der Starrheit, Trägheit und Faulheit des Bürgertums, das sich in selbstgenügsamer Isolation höchstens sportlichen Aktivitäten zuwendet, der Vitalität, Aktivität und nicht zuletzt der Solidarität der Wäscherinnen des Armenviertels gegenübergestellt. Auch der Bildinhalt in zwei unterschiedlichen Einstellungen betont diesen Kontrast. So kann ein Zeitungsverkäufer, der auf einem Fahrzeug die Phalanx der Urlauber durchquert, von einem kritischen Publikum als Eindringling aufgefasst werden. Einen weiteren Eindringling stellt ein Unrasierter, offensichtlich ein Arbeitsloser, dar, der zwischen den Spaziergängern zu erkennen ist. Auffällig sind vor allem Wiederholungen und Gegensätze der Motive dösender Urlauber und der betriebsamen Arbeiterinnen. Vigo reproduziert mit filmischen Mitteln die zwanghaften und unbewussten Gesten der Erholungsuchenden in einer Vorgehensweise, die mit dem Mittel der Massierung und Häufung auf eine typisch
die Zusammenführung divergierender medialer Formen, deren Medialität dadurch in das Bewusstsein rücken kann. Während es bei Moore um die Demontierung des amerikanischen Traums geht, steht in A propos de Nice die bürgerliche Klasse zur Disposition. 182. Vgl. Clark, Arthur Melville: »The Art of Satire and the Satiric Spectrum.« In: Fabian, Bernhard 1975: Satura. Ein Kompendium moderner Studien zur Satire. Hildesheim. New York. S. 123-141, hier S. 140. 183. Ein direkter Modus ist der Off-Kommentar, wie er in der britischen Dokumentarfilmschule um Grierson zum Einsatz kommt und bei dem die Bilder oftmals rein illustrierenden Charakter haben. 112
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satirische Strategie verweist, um den bürgerlichen Urlaubern ihre Privatheit zu nehmen: »Imitation ist insofern ein Eingriff in die private Sphäre, als sie eines jeden Menschen private Überzeugung von seiner Einmaligkeit und Unnachahmlichkeit zerstört.«184 Die Wiederholbarkeit der Gesten, die fokussierte Akkumulation des Lasterhaften entindividualisiert die Protagonisten in A propos de Nice.185 So auch in der bewusst voyeuristischen Ansicht auf die Unterröcke und Schenkel tanzender Frauen auf einem Karnevalswagen, die in mehreren Einstellungen bewusst lange dargestellt werden. Die Präsentation von Tabus lenkt den Blick auf die Thematisierung des »Normwidrigen« und der damit verbundenen selbstreflexiven Wirkung auf die dokumentarischen Konventionen.
5.4.6 Das »Normwidrige« als satirisches Mittel der dokumentarischen Selbstreflexion Um seinem Ekel vor der Gesellschaft Ausdruck zu verleihen, setzt Vigo auf die schockierende Wirkung von Fäkalien und die freizügige Schilderung sexueller Dinge, wie sie in A propos de Nice auftauchen. Gleichermaßen sind sie typische Elemente satirischer Herangehensweisen: »The vulgarity of this eroticism was an invitation to satire; and eroticism and satire were calls, beyond all theories on style and expression, to which Vigo was ready to respond.«186 Nach Gomes sind Satire und Erotik dazu angelegt, die dokumentarische Ausrichtung von A propos de Nice zu durchbrechen. Diese Bewertung von Gomes, der Satire und Erotik als fiktionale Mittel ansieht, kann Hinweise liefern auf die Satire- und Erotikfeindlichkeit im »klassischen« Dokumentarfilm, wie sie bis heute festzustellen ist. Blasphemie, Obszönität und ein vorübergehender Umsturz der Gesellschaftsordnung sind in Bezug auf Kirche und Staat Ausdrucksmerkmale für Satiren, so auch in A propos de Nice – betrachtet man beispielsweise die Darstellung des Generals, dessen Auftritt in der Karnevalsequenz eingefügt ist und der stolz seine Medaillen zur Schau trägt, während mit einem Zwischenschnitt auf Soldatengräber der Wert seiner Auszeichnungen in einem neuen Licht erscheint.
184. Hodgart, Matthew 1969: Die Satire, S. 128. 185. Vgl. Wölfel, Kurt: »Epische Welt und satirische Welt. Zur Technik des satirischen Erzählens.« In: Fabian, Bernhard 1975: Satura. Ein Kompendium moderner Studien zur Satire. Hildesheim. New York. S. 294-307, hier S. 303-304. 186. Gomes, P. E. Salles 1972: Jean Vigo, S. 62. 113
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Traditionsgemäß gilt Karneval allgemein als ein Instrument, um Autoritäten anzugreifen und anarchische Neigungen zum Ausdruck zu bringen: »Das Wesen des Karnevals und der Saturnalien ist die Verherrlichung der Verantwortungslosigkeit bis an die Grenzen der Anarchie.«187 Folglich kennzeichnet das Aufgreifen von Tabus die Saturnalien. Die Aufhebung hierarchischer und sexueller Tabus ist auch Ausdruck einer geschwächten Reglementierung durch die puritanische Gesellschaft. Bei Vigo hingegen wird dieser Funktionszusammenhang auf den Kopf gestellt und selbstreflexiv hinterfragt: Es geht nicht um die Ventilfunktion und Sichtbarmachung unterdrückter Realität mit Hilfe des Mediums Karneval, sondern um die Darstellung der Verantwortungslosigkeit des Bürgertums, das sich Scheinwelten hingibt, während der zunehmende Militarismus – siehe die Verknüpfung der ausgelassenen Tänzerinnen mit den offensichtlich vor Nizza lagernden Kriegsschiffen – wie ein Damoklesschwert die Existenz der Gesellschaft bedroht. Bei der Zeitlupeneinstellung mit extremer Unteransicht auf die Unterröcke tanzender Frauen handelt es sich um eine Ablehnung fleischlicher Sinnlichkeit, die – zieht man die Schlusssequenz zur Analyse heran – in ihrer Aussagekraft noch übertroffen wird. Mit der Zeitlupe wird ein weiteres Mal auf ein filmisches Mittel zurückgegriffen, das den traditionellen literarischen Rahmen satirischer Ausdrucksmöglichkeiten hinter sich lässt. Gegen Ende des Films wird die Großaufnahme des Gesichts einer bourgeoisen Frau mit extrem perspektivierten Schornsteinen parallelisiert, womit symbolisch der gierige und gefräßige Habitus der Bourgeoisie in den Blick rücken soll. Zudem erinnern die kontinuierlich größer werdenden Schornsteine, die gleichzeitig mit einer Steigerung des Kamerawinkels ihren gegenständlichen Charakter verlieren und schließlich wie Kanonenrohre wirken, an die Rohre in Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin. Der Eindruck einer mangelnden Individualität der Protagonisten der Karnevalsparade wird durch den Schnitt auf eine Militärparade deutlich, die aus einer Vogelperspektive aufgenommen wurde. Das Ende dieser Sequenz markiert eine Trauerprozession, womit der Untergang angedeutet wird, auf den sich das Bürgertum in seinem gedankenlosen Treiben – folgt man der filmischen Argumentation der Filmemacher – zubewegt. Wie auch in Zéro de Conduite,
187. Hodgart, Matthew 1969: Die Satire, S. 34. 114
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Vigos drittem Film, werden hier alle autoritären Instanzen wie Kirche und Staat sowie die Reichen und Mächtigen angegriffen. Die Pointierung bürgerlicher Schwächen ist Ausdruck einer Vereinfachungsstrategie, mit der Vigo die Handlungen und Gesten der Urlauber darstellt, um eine komische Wirkung zu erzielen. Der notwendige Hang zu Verallgemeinerungen schließt Ausnahmen nicht nur aus, die Berücksichtigung von Sonderfällen wird sogar als kontraproduktiv für das Gelingen einer Satire angesehen:188 Im Blickpunkt bleiben die gesellschaftlichen und filmästhetischen Konventionen. Die Entstehung einer Solidarität, wie sie zwischen Zuschauer und Darsteller durch lange Beobachtungen im Dokumentarfilm prinzipiell möglich ist, wird a priori außer Kraft gesetzt. Vigo gibt bei einer Präsentation von A propos de Nice Auskunft über seine Vorgehensweise: »Et le but sera atteint si l’on parvient à révéler la raison cachée d’un geste, à extraire d’une personne banale et de hasard sa beauté intérieure ou sa caricature.«189 Während der Essayist die Kompliziertheit des Lebens mit all seinen Irrwegen aufzeigen möchte, zielt der Satiriker auf Vereinfachung. Der Satiriker gibt »geradezu vor, die Schwierigkeiten, bei denen jener sich aufhält, überhaupt nicht zu bemerken; als terrible simplificateur reduziert er alle Erscheinungen auf eine hervorstechende Ansicht, selbst um den Preis willentlicher Fehldeutungen und Ungenauigkeiten«.190 Trotz der Vermischung unterschiedlicher Genres und Perspektiven, die Vigos satirische Konzeption in die Nähe eines essayistischen Verfahrens zu rücken scheint, läuft die bewusste Parteinahme dem essayistischen Prinzip der Polyvalenz zuwider, das einen Gegenstand aus unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet, um eine Erkenntnis zu gewinnen, die nicht beansprucht, eine einzige Wahrheit zu verbürgen. Im Essayismus wird a priori auf jeden ideologischen Duktus verzichtet, wie er bei der Satire zum Ausdruck kommt: »Verstehen ist der Tod der Satire, Psychologie ist ihr ebenso gefährlich wie Toleranz und ein herrschender Sinn für Relativitäten. Sie malt in Schwarzweiß, ist intolerant, hat kein Auge für Nuancen und gründet
188. Vgl. Hodgart, Matthew 1969: Die Satire, S. 166. 189. Vigo, Jean 1931: »Vers un cinéma social. Présentation de A propos de Nice.« In: Lherminier, Pierre 1985: Jean Vigo. Œuvre de Cinéma. Films Scénarios. Projets de films. Textes sur le cinéma. Préface de François Truffaut. Ouverture de Claude Aveline. Paris. S. 67. 190. Hodgart, Matthew 1969: Die Satire, S. 223. 115
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ihr Weltbild auf den Glauben an die vollkommene Sichtbarkeit und Erkennbarkeit der menschlichen Person.«191 Die einseitige Darstellung des Bürgertums muss kritisch betrachtet werden, wie auch die Stilisierung der Unterprivilegierten. Es lässt sich feststellen, dass auch satirische Dokumentarfilme gegen den »dokumentarischen Betroffenheitskult«, wie Zimmermann es nennt,192 keineswegs gefeit sind. Vielmehr beweist die Darstellung des urbanen Viertels in A propos de Nice, dass eine Solidarität der Filmautoren mit den Protagonisten durchaus in eine heroische Überzeichnung der Arbeiter umschlagen kann. Vigo knüpft dabei – wenn auch fragmentarisch – an Identifizierungsstrategien an, die an die Darstellung des Arbeiters bei Vertov oder auch des »edlen Wilden« in Flahertys Nanuk erinnern. Die Banalität der Gesten der Urlauber spielt dabei eine besondere Rolle, denn Banalität ist eine wichtige Voraussetzung für Komik. Ausdruck des Banalen sind tabuisierte Aspekte der Körperlichkeit des Menschen, die besonders durch die ausschnitthafte Kadrierung einzelner Körperteile hervorgehoben werden und einen komischen, mithin surrealen Eindruck erwecken.193 Mit den Möglichkeiten der filmischen Satire werden die so dargestellten Erholungsuchenden zu einem neuen Charakter modifiziert, der sie unnatürlich und unmenschlich wirken lässt. Die Erholungsuchenden wirken überzeichnet, d.h. drollig, grotesk und monströs. Vigo modelliert aus ihnen menschliche Artefakte. »A la limite, ce ne sont plus des corpes, des visages, qu’il nous montre mais des fragments d’attitudes ridicules, de positions laides, les plus laides.«194 Letztendlich handelt es sich, wie Perrin feststellt, um eine karikaturartige Vorgehensweise. Die Karikatur hat das Ziel, die offensichtliche Kluft, die
191. Wölfel, Kurt: »Epische Welt und satirische Welt. Zur Technik des satirischen Erzählens.« In: Fabian, Bernhard 1975: Satura. Ein Kompendium moderner Studien zur Satire. Hildesheim. New York. S. 294-307, hier S. 306. 192. Vgl. Zimmermann, Peter: »Spöttischer Blick contra Leidensmiene. Die Schwierigkeit des Dokumentarfilms mit Ironie und Satire.« In: Ertel, Dieter; Zimmermann, Peter 1996: Strategie der Blicke: Zur Modellierung von Wirklichkeit in Dokumentarfilm und Reportage. Konstanz. S. 51-63. 193. Vgl. Müller, Beate 1994: Komische Intertextualität: Die literarische Parodie. Trier. S. 260 ff. 194. Perrin, Claude: »Jean Vigo ou la beauté de l’informe.« In: Xésteve, Michel 1966: Jean Vigo. Études cinématographiques numeres 51-52. Paris. S. 5-22, hier S. 10. 116
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zwischen Ideal und Wirklichkeit besteht, zu thematisieren. Vigo intendiert mit den Szenen des unvorteilhaft aufgenommenen Bürgertums, dass der Rezipient von diesen äußeren, unter Mithilfe der versteckten Kamera aufgenommenen und scheinbar zufällig wirkenden Beobachtungen auf das Innere der Urlauber schließt. Grundsätzlich lässt sich die filmische Argumentation der Autoren zu einer resümierenden Gegenüberstellung zusammenfassen, die erst am Ende des Films offenbar wird: Die bürgerlichen Erholungsuchenden unterliegen durch ihren zwanghaften Mangel an Aktivität einer Entfremdung, während die betriebsamen Arbeiter und Menschen des Armenviertels Vitalität ausstrahlen, die Authentizität konnotiert. Die Inszenierung der Ehrlichkeit der Arbeiter wird gegen die Verlogenheit, gegen das künstliche Auftreten der Bourgeoisie kontrastiert. Die anfänglich thematisierte Heiterkeit des Lebens ist trügerisch, sie ist ein Traum, die äußere Welt ist ein Trugschluss: »C’est un reveur, un somnambule qui mène la danse dans cet ›état de distraction‹ qu’André Breton revendique comme un idéal du surréalisme.«195
5.4.7 Das Wunderbare im Alltäglichen: surrealistische Momente in »A propos de Nice« Im Vergleich zu Vertovs Überlegungen, bei denen die menschliche Psyche ein Hindernis auf dem Weg zum perfekt wahrnehmenden Menschen darstellt, findet bei Vigo eine Hinwendung zum inneren Gemütszustand des Subjektes prinzipiell statt: »L’oeil de l’homme, ›dans l’etat actuel de la science‹, n’est guère plus sensible que son coeur.«196 Nach Virmaux haben die Surrealisten A propos de Nice viel Beachtung geschenkt. Vigo hat zudem eine große Lobrede auf Buñuels Un Chien Andalou gehalten,197 und auch die Themen, mit denen sich Vigo in seinen anderen Filmen auseinander setzt, sind genuin surreal: die Revolution, die Träume, die Liebe.198 Offensicht-
195. Amengual, Barthélemy 1966: »Monde et Vision du Monde dans L’œuvre de Vigo.« In: Xésteve, Michel: Jean Vigo. Études cinématographiques numeres 51-52. Paris. S. 49-87, hier S. 52. 196. Vigo zitiert in Lherminier, Pierre 1984: Jean Vigo, S. 97. 197. Vgl. Virmaux, Alain: »L’atalante et l’univers surrealiste.« In: Xésteve, Michel 1966: Jean Vigo. Études cinématographiques numeres 51-52. Paris. S. 31-41, hier S. 32. 198. Nach Barthélemy Amengual ist die Verbindung aus Realismus, Kommunismus 117
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lich ist Vigos Konzeption beeinflusst von der surrealistischen Subjektphilosophie Bretons. Wie Breton entdeckt Vigo im Alltäglichen das Wunderbare, was an den häufigen Darstellungen mimischer und gestischer Banalitäten der Erholungsuchenden deutlich wird. Auch mit dem Übergang von der normalen filmischen Repräsentation zur Zeitlupe, wie am Beispiel der Unterröcke tanzender Frauen des Karnevalszuges offenbar wird, kann ein Übergang von der physischen Realität zur Imagination assoziiert werden. Vigo betont in seiner satirischen Vorgehensweise Offenheit und Anderssein gegenüber der begrenzten und begrenzenden Alltagsbeobachtung; das bedeutet, er fühlt sich nicht einer empiristischen Darstellung verpflichtet, die sich mit der »bloßen« Wiedergabe einer häufig als »naturalistisch« bezeichneten Realität begnügt. Die Gereiztheit und Erbitterung, mit der Vigo die bürgerliche Welt sieht, verwandelt sich in Wohlgefallen, je mehr es ihm gelingt, seine Abneigung ästhetisch in absurde Figuren zu überführen. Die daraus resultierende Abstraktion wird von Hodgart als entscheidendes Merkmal der »echten« Satire angesehen, genauso wie Phantasie, denn: »Der Satiriker zeichnet kein objektives Bild der Mißstände, die er beschreibt, denn bloßer Realismus wäre zu deprimierend. Stattdessen liefert er uns zumeist die Travestie einer Situation, wodurch unsere Aufmerksamkeit unmittelbar auf die Wirklichkeit gelenkt, uns aber zugleich die Chance gegeben wird, ihr zu entkommen.«199 Vigo entfernt sich nie vollständig von der sozialen Wirklichkeit in Nizza, und dennoch ist ein surrealistischer Einfluss spürbar,200 so dass A propos de Nice zwischen Wirklichkeit und Traum changiert. Nicht zuletzt werden allgemein gültige »vernünftige Regeln« aufgebrochen und durch Interpretationen respektive Phantasien der Autoren ersetzt, wodurch A propos de Nice den Anstrich einer künstlichen Welt erhält, welcher der Bourgeoisie anhaftet und auch Vigo fasziniert. Dieses Moment der Irrealität wird von Wölfel als Grundprinzip satirischer Weltauffassung gesehen.
und Surrealismus das Merkmal der zweiten Avantgarde, zu der er neben Vigo auch Ivens, Buñuel, Slatan Dudow, Lods, Lacombe, Kaufman und Storck zählt. Vgl. Amengual, Barthélemy: »Monde et Vision du Monde dans L’œuvre de Vigo.« In: Xésteve, Michel 1966: Jean Vigo. Études cinématographiques numeres 51-52. Paris. S. 49-87, hier S. 57. 199. Hodgart, Matthew 1969: Die Satire, S. 17. 200. Vgl. Bürger, Peter 1998: Das Verschwinden des Subjektes. Eine Geschichte der Subjektivität von Montaigne bis Barthes. Frankfurt am Main. S. 159. 118
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Vertovs Konzeption vom Kino-Auge, welche die praktische Notwendigkeit, das menschliche Dasein zu verbessern, vorsieht, wird bei Vigo abgeschwächt. Die Metamorphose des neuen Menschen, der durch die Revolution hervorgebracht wird, tritt auch hier als Ideal auf, das durch die Stilisierung der Arbeiter am Ende an Bedeutung gewinnt. Der aktuelle menschliche Zustand stellt sich als inhuman dar: »Cette condition charnelle-là est fille de cette société moribonde, perverse, corrompue et corruptrice.«201 Die gegenwärtige Wirklichkeit, die im Film als mangelhaft dargestellt ist, wird bei Vigo einem utopischen Ideal gegenübergestellt, das als perspektivische Möglichkeit empfunden wird, der unüberwindbaren Realität zu entfliehen, denn »weil Satire erkennbar macht, dass das noch nichts ist, was bloß ist, macht sie erahnbar, was sein könnte und damit erst wahre Wirklichkeit wäre als das konkrete Reale, als menschliche Geschichte«.202 Lukács geht in seinen Explikationen zur Satire sogar so weit, eine dekadent-bürgerliche Auffassung abzulehnen, die strikt Vernunft und Phantasie voneinander trennt, und setzt vielmehr eine sinnliche Erfindungsgabe für Satire voraus. Eine unmittelbare Evidenz, eine sofortige Suggestionskraft,203 die durch eine Stimulation, Intensivierung und Konkretisierung der politischen und ästhetischen Normen in A propos de Nice stattfindet, seien entscheidende Züge, die eine Satire tragen müsse.204 In einer gelungenen Satire gehen Form und Inhalt ineinander über, so dass A propos de Nice
201. Amengual, Barthélemy: »Monde et Vision du Monde dans L’œuvre de Vigo.« In: Xésteve, Michel 1966: Jean Vigo. Études cinématographiques numeres 51-52. Paris. S. 49-87, hier S. 59. 202. Arntzen, Helmut: »Nachricht von der Satire.« In: Fabian, Bernhard 1975: Satura. Ein Kompendium moderner Studien zur Satire. Hildesheim. New York. S. 178-193, hier S. 182. 203. Diese Suggestionskraft verkörpert nach Gili zwar einen subjektiven Standpunkt im Film, steht aber nach Meinung des Autors fernab jeglicher Ideologie. »Vigo canalise ses sentiments, parfois contradictoires, vers une idéologie révolutionnaire qu’il explicite clairement dans les diverses présentations de son œuvre.« Vgl. Gili, Jean: »Notes sur A Propos De Nice ou a la recherche d’un cinema social.« In: Xésteve, Michel 1966: Jean Vigo. Études cinématographiques numeres 51-52. Paris. S. 26. 204. Vgl. Lukács, Georg 1932: »Zur Frage der Satire.« In: Fabian, Bernhard 1975: Satura. Ein Kompendium moderner Studien zur Satire. Hildesheim. New York. S. 425-449, hier S. 439. 119
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nicht als ein »objektiver« Film, der den Stadtalltag in Nizza widerspiegelt, sondern vielmehr als ein sinnliches Artefakt gelten kann, das deutlich fiktionale Züge trägt und diese auch nicht verbirgt.
5.4.8 Vigos Dokumentarfilmbegriff Wie Vigo in seinen Schriften hervorhebt, steht für ihn an zentraler Stelle der Autor, der seine Position im Film deutlich macht: »Ce documentaire social se distingue du documentaire tout court et des actualités de la semaine par le point de vue qu’y défend nettement l’auteur. Ce documentaire exige que l’on prenne position, car il met les points sur les i.«205 Satire drückt, sofern die indirekten Botschaften eines oder mehrerer Verfasser von einem Publikum in gewünschter Weise decodiert werden können, letztendlich einen eindeutigen, einen subjektiven Standpunkt des Autors aus. Anders als bei essayistischen Verfahren ist die Satire daher wenig geeignet, die Vorstellung eines souveränen Autors bzw. Ichs in Frage zu stellen. Zudem impliziert der Begriff der »Entlarvung«, wie er auch von Vigo ins Feld geführt wird,206 einen konnotativen Anstrich von »Wahrheit« und »objektiver« Begründbarkeit; Prämissen, die im Rahmen essayistischer Verfahren spätestens mit Beginn der 80er Jahre auch im Dokumentarfilm obsolet geworden sind. In Vigos Schriften findet sich das Subjekt im Film wieder – was einer Subjektkonstitution etwa im Lacan’schen Sinn zuwiderläuft. Filmische Selbstreflexion wird bei Vigo als Wettstreit der Normen, nicht als immanente Widersprüchlichkeit der eigenen Konventionen und damit des eigenen Subjektbildes aufgefasst. Vigos Subjektbegriff ist von der Erkenntnisgewissheit des Selbst geprägt, Satire wird noch als geeignetes Instrument angesehen, um den Standpunkt des Filmemachers, um Subjektivität erfahrbar zu machen. Letztendlich stoßen satirische Verfahren daher an Grenzen des Selbstreflexiven, die beispielsweise mit parodistischen und essayistischen Verfahren überwunden werden können. Bei A propos de Nice handelt es sich um eine Facette von
205. Jean Vigo 1931 zitiert in Lherminier, Pierre 1984: Jean Vigo, S. 94. 206. »Ce documentaire social devra nous dessiller les yeux.« Vigo, Jean 1931: »Vers un cinéma social. Présentation de A propos de Nice.« In: Lherminier, Pierre 1985: Jean Vigo. Œuvre de Cinéma. Films Scénarios. Projets de films. Textes sur le cinéma. Préface de Francois Truffaut. Ouverture de Claude Aveline. Paris. S. 67. 120
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Selbstreflexivität, die eingebunden in eine satirische Herangehensweise ist. Dabei tritt Selbstreflexivität nicht motivisch, sondern indirekt über die Kontrastmontage, die Wahl der Kameraoperationen und die gehäufte Darstellung menschlicher Schwächen des Bürgertums auf. Die Autoren streben bewusst keine objektive Wirklichkeitswiedergabe an. Sie verlassen die allgemeinen Normen auf zwei Ebenen. Zum einen fokussieren sie inhaltlich Aspekte des Normwidrigen der bürgerlichen Gesellschaft; dies geschieht sowohl mit einer extremen Kadrierung als auch mit der Montage heterogener, oftmals überraschend zusammengefügter Bildmotive. Zum anderen wird über die inhaltliche Kritik eingeschliffener bürgerlicher Codes auch die Kritik an Authentizitätsstrategien deutlich, da eine ungetrübte Wirklichkeitswiedergabe auch im formalästhetischen Sinn nicht zugelassen wird und die subjektiv-bewertende Haltung der Filmemacher hervortritt. Hinter einem denotativen Sinn visueller Präsentationen, der in A propos de Nice das Leben der bürgerlichen Erholungsuchenden darstellt, verbirgt sich ein konnotativer Code, der eine kritische Haltung zum Präsentierten impliziert.
5.5 »Cinéma Vérité« und »Direct Cinema«: Dokumentarfilmkonzeptionen der frühen 60er Jahre Aufgrund neuer technischer Entwicklungen im Dokumentarfilmbereich kommt es zu Beginn der 60er Jahre zu einer breit angelegten Diskussion über den Authentizitätscharakter des dokumentarischen Films, insbesondere im Zuge der Ausdifferenzierung der Genres des »Cinéma Vérité« und des »Direct Cinema«. Bis heute werden beide Wirklichkeitskonzepte oftmals fälschlicherweise synonym verwendet, obwohl sie für Wirklichkeitskonstruktionen stehen, die sich konzeptuell stark voneinander unterscheiden. Das »Cinéma Vérité« Jean Rouchs207, das als Dokumentarfilmströmung bewusst den interpretativen und fiktionalen Charakter des Films offen legt, stellt einen Bruch zum vorherrschende Paradigma der objektiven Wieder-
207. Nach Ruby war Rouchs Einfluss in Frankreich groß, in den USA aber eher gering. »In the United States, however, his films are seldom seen, and his work is confused with that of such American direct-cinema people as Leacock, Pennebaker, and the Maysles brothers.« Vgl. Ruby, Jay: »The Image Mirrored: Reflexivity and the Documentary Film.« In: Rosenthal, Alan 1988: New Challenges For Documentary. Berkeley. Los Angeles. London. S. 64-77, hier S. 70. 121
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gabe einer ungestellten Realität im Dokumentarfilm dar. Es soll näher beleuchtet werden. Eine Abgrenzung des »Cinéma Vérité« zum sich parallel entfaltenden frühen »Direct Cinema« erscheint nicht nur aufgrund der genannten Begriffsvermischung erforderlich, sondern ermöglicht es auch, in der Gegenüberstellung zum »Direct Cinema« die selbstreflexive Konzeption des »Cinéma Vérité« deutlich herauszuarbeiten.
5.5.1 Zwei selbstreflexive Methoden der Wirklichkeitserfassung? Einen Beleg für die immer noch vorherrschende Konfusion bezüglich »Cinéma Vérité« und »Direct Cinema« liefert beispielsweise das von Mo Beyerle und Christine N. Brinckmann herausgegebene Standardwerk zum amerikanischen Dokumentarfilm der 60er Jahre,208 in dem Beyerle behauptet, dass »das Direct Cinema einen Großteil seiner Glaubwürdigkeit aus der Durchlässigkeit, Nachvollziehbarkeit der technischen Bedingungen am Drehort und der Entscheidungen hinter der Kamera und am Schneidetisch« bezieht. Im Widerspruch dazu erklärt Beyerle wenig später, dass es Drew Associates209 vor allem darum geht, »die Glaubwürdigkeit des Gezeigten nicht durch Lückenhaftigkeit zu gefährden«.210 Wie die Aussagen Beyerles verdeutlichen, ist zu klären, ob das »Direct Cinema« zu Beginn der 60er Jahre deutlich selbstreflexive Züge trägt oder aber – im Sinne einer an journalistische Maßstäbe gebundenen Filmproduktion und einer damit verbundenen innovativen Umsetzung neuester technischer Möglichkeiten – an ein neues Objektivitätspathos glaubt. Einiges spricht für Letzteres, denn mit der »Proklamation eines kommerziell verwertbaren Dokumentarfilms« befindet sich Leacock in Übereinstimmung mit der – und nicht, wie Barchet meint, im Widerspruch zur – normativen Tradition des britischen Dokumentarfilms, in der kommerzielle Einflüsse seitens staatlicher und privater
208. Beyerle, Mo; Brinckmann, Christine N. (Hg.) 1991: Der amerikanische Dokumentarfilm der 60er Jahre: Direct Cinema und Radical Cinema. Frankfurt. New York. 209. Die Entstehung des »Direct Cinema« zu Beginn der 60er Jahre ist synonym zu setzen mit der für das Fernsehen arbeitenden Filmproduktionsfirma Drew Associates, in der namhafte Vertreter des »Direct Cinema« wie Richard Leacock oder Don Alan Pennebaker von 1960 bis 1963 angestellt sind. 210. Beyerle, Mo; Brinckmann, Christine N. (Hg.) 1991: Der amerikanische Dokumentarfilm der 60er Jahre, S. 29 und 33. 122
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Organisationen eine große Rolle spielten.211 Dank der neuen technischen Errungenschaften glaubt man im »Direct Cinema«, auf einen Voice-Over-Kommentar und auf Nachinszenierungen von authentischen Szenen im Studio, wie sie noch bei Grierson vorhanden waren, verzichten zu können.212 Jeder Eindruck, bei der dokumentarischen Wirklichkeit handele es sich um eine interpretierte Darstellung der Wirklichkeit, sollte mit der von Leacock entwickelten tragbaren synchronen Ton- und Kameraausrüstung eliminiert werden. Der synchron zum Bild, mitten im Geschehen aufgenommene Ton »ermöglicht nicht nur einen konsequent empirischen Zugriff auf soziale Realität, sondern erlaubt auch die Gestaltung der Illusion unmittelbarer Realitätserfahrung als Seheindruck dokumentarischen Films«.213 Auch das Wiedergabepotenzial eines unmittelbaren Wirklichkeitseindrucks wird hervorgehoben, wie es in anderen Medien in dieser Form bis zu diesem Zeitpunkt kaum erreicht werden konnte. »Nirgends ist der Authentizitätseindruck von Film größer als in der quasi-ontologischen Ganzheit der Repräsentation eines sprechenden Subjektes.«214 Dieser Sachverhalt gilt zwar sowohl für das »Direct Cinema« als auch für das »Cinéma Vérité«, dennoch lassen sich ihre methodischen Implikationen deutlich voneinander abgrenzen. Ein Unterschied beider Konzeptionen liegt beispielsweise im Umgang mit der tragbaren Synchronton- und Kameratechnik. Anders als im »Cinéma Vérité« sieht Bringuier im frühen »Direct Cinema« einen Triumph der Techniker, die das Subjekt ausklammern wollen. »Leacock lui-même, opérateur qui fait des films et les réus-
211. Vgl. Barchet, Michael: »Das Dokument als Rätsel: Don Alan Pennebakers Film YOU’RE NOBODY TIL SOMEBODY LOVES YOU.« In: Beyerle, Mo; Brinckmann, Christine N. (Hg.) 1991: Der amerikanische Dokumentarfilm der 60er Jahre, S. 134-153, hier S. 137. Wie bereits dargestellt, ist Grierson stolz darauf, von der Industrie bzw. vom Staat unterstützt worden zu sein. 212. Auf einen Voice-Over-Kommentar konnte entgegen den theoretischen Beteuerungen in der Praxis kaum verzichtet werden, wie das Beispiel The Chair von 1963 zeigt. Ob es tatsächlich nie Nachinszenierungen vor der Kamera gab, wie Leacock behauptet, lässt sich angesichts des zeitlichen Produktionsdrucks, unter dem seine filmische Arbeit bei Drew Associates gestanden hat, bezweifeln. 213. Barchet, Michael: »Das Dokument als Rätsel.« In: Beyerle, Mo; Brinckmann, Christine N. (Hg.) 1991: Der amerikanische Dokumentarfilm der 60er Jahre, S. 134-153, hier S. 145. 214. Vgl. ebd., S. 145. 123
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sit, concrétise le malentendu.«215 Wie es weiter heißt, unterwirft sich Leacock, so der Vorwurf in den Cahiers du Cinéma, den Registriergeräten. »On agit. Tout s’absorbe dans l’action, et même la parole. C’est un univers gesticulatoire.«216 Bringuier bezeichnet das Kino Leacocks als »cinéma du comportement«. Hinter dieser Kurzformel verbirgt sich die grundlegende Abneigung mehrerer Cahiers-Autoren gegen ein amerikanisches Kino, das sich im Sinne Kracauers auf die Registrierung der äußeren Wirklichkeit konzentriert, ohne kritisch zu hinterfragen, auf welchen ökonomischen, sozialen und psychischen Bedingungen diese Wirklichkeit basiert. Rouch und der Soziologe Morin wollen in ihrer Alltags- und Bewusstseinsbeschreibung befreundeter und anonymer Pariser Einwohner gerade die letzten beiden Punkte nicht ausklammern. Ihr Filmwerk Chronique d’un été vermittelt ein atmosphärisches Bild Frankreichs um 1960 gegen Ende des Algerienkrieges, das durch ihre physische Präsenz den subjektiven Einfluss der Filmemacher auf das Geschehen deutlich werden lässt. Das »cinéma du comportement«, mit dem Bringuier die Frühphase des »Direct Cinema« um Drew Associates beschreibt, schließt jeden Einfluss des Kamerateams bzw. der Produktionsbedingungen auf das psychische Verhalten der Protagonisten vor der Kamera aus. Die Konzeption des frühen »Direct Cinema« kritisieren einige Cahiers-Autoren als utopischen Wunsch: »Un cinéma d’avant le cinéma, d’avant l’oeil. Un cinéma qui se méfie des mots, des opinions, des jugementes.«217 Darüber hinaus wird Leacock, der jeden Kontakt zu den Gefilmten vor der Kamera meidet, vorgeworfen, es sei ihm gleichgültig, was er mit seiner leichten, gelenkigen Kamera aufnehme, solange es dem Eindruck einer ungestellten Darstellung der Wirklichkeit entspreche. 218 Es stellt sich die Frage, ob im Rahmen des »Direct Cinema« tatsächlich von einer kontingenten Darstellung der Wirklichkeit, die herrschende Konventionen des Dokumentarischen relativiert, gesprochen werden kann.
215. Bringuier, Jean-Claude: »Libres Propos sur le Cinéma – Vérité.« In: Cahiers du Cinéma. Tome XXV. No. 145. Juillet 1963. S. 14-16, hier S. 16.
216. Vgl. ebd., S. 16. 217. Vgl. ebd., S. 15. 218. Vgl. ebd. 124
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5.5.2 Kohärenz statt Kontingenz: »Direct Cinema« Schließlich gehören Spontaneität und Offenheit für Überraschungen im Detail zur Authentizitätsstrategie vieler dokumentarischen Richtungen. Gefragt werden muss jedoch, auf welche Voraussetzungen hin sich Spontaneität und Offenheit im Film einstellen und in welchem Sinne sie erwünscht sind. Auch im Dokumentarfilm sind narrative Strukturen dominant, mit deren Hilfe die Kontingenz der Alltagswelt reduziert wird. Die während der Montage neu konstituierte Erzählstruktur eines Films existiert unabhängig von der Chronologie des Ereignisses bzw. des Aufnahmeprozesses. Die letztendlich fiktive Erzählung eines Ereignisses basiert in der Regel auf der subjektiven Wahrnehmung des Kameramanns, des Toningenieurs und des Cutters. Begriffe wie Spontaneität und Offenheit gegenüber dem filmischen Ereignis setzen im Dokumentarfilm ein hohes Improvisationsvermögen voraus, das mit dem Risiko behaftet ist, vormals getroffene Vorurteile und Konventionen auf den Prüfstand zu stellen, um der keineswegs vorhersagbaren Struktur des Ereignisses gerecht zu werden. Diese hohe Entschlossenheit zum Experiment ist nur mit dem kalkulierten Risiko einer weitgehend den formalen und inhaltlich gängigen Konventionen – mithin einer Erzählstruktur im herkömmlichen Sinn – zuwiderlaufenden Konzeption möglich. Die der filmischen Erzählung inhärente Krisenstruktur, die sich in der Figur eines Helden symbolisch wiederfindet, ist jedoch ein zentrales Element im frühen »Direct Cinema« unter Drew Associates: Nicht nur die Sujets, in denen ein Held sich gegenüber seinem Umfeld bewähren muss, sondern auch die Längen der Themen müssen vorab auf Fernsehtauglichkeit hin überprüft werden. Paradigmatisch für die anderen Filmemacher beschreibt Pennebaker die Suche nach geeigneten Themen: »We spent a lot of time in shifting through stories that would really hold out for the length.«219 Auf diese Rahmenbedingungen des frühen »Direct Cinema«, unter denen besonders auch Leacock arbeitet, weist Drew nicht hin,220 wenn er in den Cahiers du Cinéma von der Geschichte
219. Pennebaker zitiert in Barchet, Michael: »Interview mit Don Alan Pennebaker.« In: Beyerle, Mo; Brinckmann, Christine N. (Hg.) 1991: Der amerikanische Dokumentarfilm der 60er Jahre, S. 154-165, hier S. 155. 220. Drew selbst hebt noch 1963 die hohe konzeptuelle Konvergenz zwischen ihm und Leacock hervor, auf deren Vertrauensbasis, so Drew, eine Zensur für ihn nicht in Frage komme: »Je ne prends jamais l’ultime décision sans l’accord 125
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spricht, die er vorgibt, ohne das Zutun und die Planung eines Produzenten gefunden zu haben: »En réalité, l’histoire existait, indépendamment de ce que nous en pensions.«221 Leacock beteuert, dass Kennedy ihn während seiner Aufnahmen zum Wahlkampf um die Präsidentschaft in seinem Film Primary von 1960 völlig vergessen habe. »Je suis sûr qu’il avait complètement oublié notre présence«;222 doch dürfte der Politprofi Kennedy von einem wie auch immer zu konstatierenden »natürlichen Verhalten« trotz der sehr zurückhaltenden Kameraarbeit Leacocks weit entfernt gewesen sein. Kennedy verkörpert den Prototyp des heutigen Politikers als Mediendarsteller und tritt dem Medium für seine Zeit schon sehr selbstbewusst gegenüber, so dass Leacock und sein Filmteam den Zweifel nicht entkräften können, dass sie – teilweise – von der Authentizitätsstrategie des Politikers vereinnahmt wurden. Nicht nur, dass es schwierig ist, die rhetorischen Fähigkeiten professioneller »Halb-Komödianten« wie z.B. Kennedy vor der Kamera zu unterlaufen; hinter diesem Argument verbirgt sich auch ein weiterer zentraler Kritikpunkt der Cahiers-Redakteure. Marcorelles moniert den Sensationalismus des Leacock’schen Films. Die-
étroit de Leacock.« Drew zitiert in Labarthe, André S.; Marcorelles, Louis: »Entretien avec Robert Drew et Richard Leacock.« In: Chahiers du Cinéma. Tome XXIV. No. 140. Février 1963. S. 18-27, hier S. 19. »Finally it was Drew’s decision«, so lautet im Kontrast dazu das heutige Bekenntnis Leacocks rückblickend auf die Frage, wer in Wirklichkeit die ästhetischen Entscheidungen über das filmische Konzept getroffen hat. Zudem hebt Leacock hervor, dass es Drew um Vereinfachung komplexer Zusammenhänge gegangen sei, während Leacock eher die Kontingenz der Filmsituation im Film widerspiegeln wollte. Retrospektiv macht diese Aussage deutlich, wie sehr auch Leacock institutionellen Zwängen untergeordnet gewesen ist, aus denen er sich schließlich befreien will und noch 1963 seine eigene Produktionsfirma gründet. Leacock zitiert in Bernard, Karin; Schmidt, Tanja; Taraviras, Spiros: »Interview mit Richard Leacock.« In: Beyerle, Mo; Brinckmann, Christine N. (Hg.) 1991: Der amerikanische Dokumentarfilm der 60er Jahre, S. 124-133, hier S. 125. 221. Drew zitiert in Labarthe, André S.; Marcorelles, Louis: »Entretien avec Robert Drew et Richard Leacock.« In: Chahiers du Cinéma. Tome XXIV. No. 140. Février 1963. S. 18-27, hier S. 24. 222. Leacock zitiert in Labarthe, André S.; Marcorelles, Louis: »Entretien avec Robert Drew et Richard Leacock.« In: Chahiers du Cinéma. Tome XXIV. No. 140. Février 1963. S. 18-27, hier S. 21. 126
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ser Hang zum Sensationalismus zeigt sich für Marcorelles dadurch, dass Leacock nicht das Bewusstsein der Darsteller offen lege; vielmehr konzentriere er sich darauf, Handlungen darzustellen, die unter Druck entstehen.223 Leacocks Entdeckungen des Alltags implizieren einen dramatischen Gehalt, einen Plot, der unabdingbar aus einer kalkulierbaren Story mit einer Krisenstruktur resultiert. Die Story wird dabei von vornherein ausgewählt, die Offenlegung des dramatischen Gehaltes ist gewissermaßen ausreichend angelegt; daher kann Leacock auch auf jede Beigabe dramatischer Elemente verzichten, wie er beteuert:224 »Nous n’introduisons pas cet élément, nous le découvrons. La vie réelle est plus intéressante, plus dramatique, que celle que nous révèle le journalisme télévisé actuel. Nous voulons rendre sa force dramatique, sa charge d’émotion.«225
5.5.3 Das Geschehen vor der Kamera: »Cinéma Vérité« Während sich das frühe »Direct Cinema« auf den äußeren Plot konzentriert, dem es dank der Vorauswahl seiner Themen im Wesentlichen folgen kann, kann man bei Rouch von einem Plot sprechen, der sich bei den Selbstoffenbarungen der Protagonisten in Auseinandersetzung mit den objektiv gegebenen Strukturen ihrer Wirklichkeit einstellt. Eine solche objektive Struktur der Wirklichkeit im Film ist für Rouch schon durch den Einfluss der Kamera bzw. des
223. Vgl. Marcorelles, Louis 1963: »L’experience Leacock.« In: Cahiers du Cinéma. Tome XXIV. No. 140. Février 1963. S. 11-17, hier S. 13.
224. Wie schon bei der institutionell gesteuerten Auftragsarbeit, von der Grierson abhängig gewesen ist, zeigt sich bei Leacock die einengende Wirkung der Institution Fernsehen, von deren Aufträgen Drew Associates existiert und welche die ästhetischen und moralischen Maßstäbe festlegt. In einem Interview jüngeren Datums bekennt Leacock: »Drew was under huge pressure from the TV company. It was very difficult for us, because his reasoning made sense commercially. We had a choice, we could either work with Bob Drew or do nothing at all. We couldn’t do anything without him.« Leacock zitiert in Bernard, Karin; Schmidt, Tanja; Taraviras, Spiros: »Interview mit Richard Leacock.« In: Beyerle, Mo; Brinckmann, Christine N. (Hg.) 1991: Der amerikanische Dokumentarfilm der 60er Jahre, S. 124-133, hier S. 125. 225. Drew zitiert in Labarthe, André S.; Marcorelles, Louis: »Entretien avec Robert Drew et Richard Leacock.« In: Chahiers du Cinéma. Tome XXIV. No. 140. Février 1963. S. 18-27, hier S. 24. 127
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Kamerateams auf das Verhalten der Darsteller in ihrer Alltagswirklichkeit gegeben. Eine Kamera, die sich auf die Beobachtung eines Ereignisses der Außenwelt beschränkt, lehnt er ab. Dies lässt sich besonders anschaulich an dem Filmklassiker Chronique d’un été von 1960 verfolgen. Schon zu Beginn von Chronique d’un été verlassen Rouch und Morin die Außenwelt des Stadtlebens von Paris, um sich selbst und Marceline, die erste Protagonistin, die über ihr Leben befragt werden soll, in der intimen Atmosphäre eines Raumes zu präsentieren. Rouch gesteht im Gespräch mit Morin und Marceline ein, dass er unsicher sei, ob die Protagonisten authentisch vor der Kamera handeln werden. Er wendet sich an Marceline mit der Frage, ob sie ungezwungen vor der Kamera über ihr Leben reden werde. Sie gibt zu, von der Kamera eingeschüchtert zu werden. Der Einfluss der Kamera bzw. des Kamerateams als substanzielle Komponente für das Verhalten Marcelines wird dem Zuschauer in dieser Einstellung bewusst gemacht. Verstärkt wird dieser Eindruck durch Rouch, der Marceline darauf hinweist, dass er Szenen, die ihr nicht gefallen, aus seinem Film herausschneiden kann. Rouch versucht – nicht zuletzt für den anonymen Zuschauer – zu verdeutlichen, dass er eine Vertrautheit herstellen will, die es Marceline ermöglichen soll, möglichst »authentisch« vor der Kamera zu agieren. Die Autoren erklären in der folgenden Szene, dass sie den Zuschauer in ein filmisches Experiment mit einbeziehen wollen, dessen Ausgang sie selbst nicht kennen. Bevor Morin, dem die Aufgabe zufällt, die Fragen an Marceline zu stellen, beginnt, weist er darauf hin, wie wenig er selbst über den Ausgang dieses Filmes informiert ist. Ihm ist lediglich bekannt, dass Rouch einen Film über das Leben und den Alltag der beteiligten Personen drehen will, nicht aber, wie der fertige Film aussehen wird; denn keiner kann vorher sagen, wie die Beteiligten auf die Präsenz des Kamerateams reagieren werden. Deutlich wird, dass ihr Verhältnis zu und ihr Verhalten vor der Kamera eine zentrale Position für die Darstellung ihrer Intimsphäre im Film einnimmt. Es geht nicht darum, die Präsenz des Kamerateams und der Produzenten für den Zuschauer vergessen zu machen, sondern ihren Einfluss auf die Wirklichkeitskonstruktion selbstreflexiv zu offenbaren. Welchen Einfluss das Eindringen eines Kamerateams in den Lebensalltag einer dargestellten Person haben kann, verdeutlicht eine weitere Szene: Angelo, der als Fabrikarbeiter bei Renault beschäftigt ist, berichtet vor laufender Kamera in Anwesenheit von Rouch und Morin von seiner Kündigung, die er aufgrund der bei Renault gedrehten Innenaufnahmen, die er offenbar dem Filmteam 128
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Abbildung 1: Der Einfluss des Filmteams (Rouch, Morin) und der Kamera auf die Protagonistin (Marceline)
Quelle: Szenenbild aus Chronique d’un été (Chronik eines Sommers). Jean Rouch/ Edgar Morin. Frankreich 1961 ohne Absprache mit der Firmenleitung ermöglicht hat, hinnehmen muss.226 Auch mögliche Zuschauerreaktionen auf das Verhalten der Darsteller werden in Chronique d’un été vorweggenommen: Marie Lou, eine aus Italien stammende junge Frau, die nun in Paris lebt, ist den Tränen nahe, als sie in intimer Atmosphäre ihre menschlichen Beziehungen schildert und damit (nach einer Sichtung mit den anderen Beteiligten im Vorführraum) auf durchaus geteiltes Echo stößt. Zwar wird ihr nach der Sichtung von einem Studenten Authentizität zugestanden,227 doch im gleichen Moment kritisiert dieser, dass der Einblick in ihre psychische Verfassung, die erst der Film ermöglicht, für eine Öffentlichkeit exhibitionistischen Charakter haben muss. Auch von zwei Frauen, die Rouchs Aufforderung fol-
226. In den betreffenden Einstellungen werden Arbeiter im Fabriklärm der Maschinen an ihrem Arbeitsplatz beobachtet und offensichtlich ohne ihr Wissen gefilmt. 227. »Vor der Kamera hört Marie Lou auf zu spielen. Sie macht sich nichts vor. Im Gegenteil. Sie sucht sich selbst.« 129
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gen, das Verhalten vor der Kamera zu beurteilen, wird Marie Lou Schamlosigkeit vorgeworfen. Eine weitere authentische Selbstentblößung, die Tabugrenzen überschreitet, sieht der Student bei einem Selbstgeständnis Marcelines auf dem Place de la Concorde gegeben: »Sie spricht zu sich selbst und gerade das stört uns. Denn man meint, das geht nur sie etwas an. Doch gerade das packt uns vollkommen.« Anders als Leacock, der jeden fiktionalen Charakter seiner frühen »Direct Cinema«-Filme weit von sich weist, ohne dabei eine Affinität zum klassischen fiktionalen Kino hinsichtlich der Erzählstruktur seiner Filme leugnen zu können, bekennt sich Rouch offen zum Kino der improvisierten Fiktion.228 Eine besondere Stellung nimmt dabei die Kameraarbeit ein. Deutlich wird dies beispielsweise bei dem Marsch Marcelines über den Place de la Concorde, bei dem sie mit wenigen Metern Abstand gefilmt wird, während sie von ihren Empfindungen erzählt, die sie bei ihrer Deportation durch die Nazis und ihrem Wiedersehen mit ihrer Mutter im Konzentrationslager empfunden hat. Wie der Zuschauer retrospektiv durch ihre Erklärung nach der Sichtung im Vorführraum erfährt, wäre sie unter den intimen Bedingungen eines in privater Atmosphäre geführten Interviews nicht in der psychischen Lage gewesen, über ihre Vergangenheit zu sprechen. Die Inszenierung dieser Szene wird bei der abschließenden Diskussion im Vorführraum kontrovers diskutiert. Während einige Beteiligte des Films anzweifeln, dass die nachgestellte Szene Aufschluss über Marcelines Vergangenheit geben kann, sprechen die Filmemacher in ihrer Analyse von der echtesten Szene im Film. Durch diese Gegenüberstellung unterschiedlicher Auffassungen über den »Wahrheitswert« inszenierter Szenen wird der Zuschauer in die Lage versetzt, selbst über die dokumentarischen Möglichkeiten nachzudenken, Authentizität wiederzugeben.
228. Godard bekennt, dass er von Rouch beeinflusst worden ist: »Seit meinen Anfängen, als ich Kritiker war, hat mich jemand beeinflußt, oder ich habe ihn gemocht und mich bemüht, ihn in Kritiken zu verteidigen, ich meine den Filmer Jean Rouch, der von der Ethnologie herkommt. Ich habe auch ein bißchen, nicht sehr lange, Ethnologie studiert. Ich glaube, unbewusst hat mich das ein bißchen ausgerichtet. Ich habe mich immer bemüht, den sogenannten Dokumentarfilm und die sogenannte Fiktion als zwei Aspekte ein und derselben Bewegung zu behandeln. Aus ihrer Verbindung kommt die eigentliche Bewegung.« Vgl. Godard, Jean-Luc 1983: Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos. 2. Auflage. München. Wien. S. 265. 130
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Zudem konfrontieren Rouch und Morin die Selbstbekenntnisse der Betroffenen der damaligen Filmsituation mit ihrer Wahrnehmung von sich selbst während und nach der Vorführung des fertigen Films. Es entsteht eine angeregte Diskussion über das Missverhältnis zwischen der Realität der Person im Vorführraum und ihrer Inszenierung im Film. Die Authentizität der Beteiligten im Film gerät ins Wanken. Rouch und Morin proklamieren für sich, mit der arrangierten Situation an einem authentischen Schauplatz über ein geeignetes Mittel zu verfügen, um einen wesentlichen Teil der biografischen Wirklichkeit Marcelines zu zeigen, der sonst dem Zuschauer verborgen geblieben wäre. Zwar sieht Marcorelles in Rouchs Konzeption die Möglichkeit, die psychische Verfassung der Darsteller im Film sichtbar werden zu lassen: »Le Cinéma, l’art du mouvement; aura pour but premier de retrouver le mouvement intérieur à travers le mouvement extérieur, en respectant le naturel de la vie et des êtres […]«229 Doch indem Rouch die filmischen Möglichkeiten durch die Teilnehmer des Films selbstreflexiv thematisieren lässt, bleibt für den Zuschauer offen, ob tatsächlich ein authentischer Zugang zu den Darstellern gewonnen wurde. Auffällig dabei ist, dass die in Chronique d’un été dargestellten Charaktere in narrativen Segmenten von existenziellen Situationen berichten, in denen sie sich befinden oder befunden haben. Dabei werden die Grenzen des Dokumentarischen reflektiert und zur Diskussion gestellt. Was aus heutiger Sicht zum gewünschten Inventar dokumentarischer Reality-Shows gehört, wird bei Rouch als moralisches Darstellungsproblem artikuliert. Ein Dilemma, das ein Student in der abschließenden Beurteilung von Chronique d’un été entdeckt, lässt sich paradigmatisch bis heute auf die Rezeptionsästhetik des klassischen Dokumentarfilms beziehen: »Einerseits ist das Dargestellte langweilig, und was nicht langweilig ist, das geht auf Kosten einer sehr großen Schamlosigkeit.« Deutlich wird allein, wie wenig private Bekenntnisse vor der Kamera im dokumentarischen Film zur damaligen Zeit verbreitet gewesen sind.230 Die sehr emotionalen und intimen Szenen mit Marie Lou und Marceline, die aus diesem Grund als für die Beteiligten besonders authentisch wirkende Selbstdarstellungen angesehen werden, eignen
229. Marcorelles, Louis 1963: »L’experience Leacock.« In: Chahiers du Cinéma. Tome XXIV. No. 140. Février 1963. S. 11-17, hier S. 16.
230. Marie Lou meint, dass nur eine Krisensituation, in der man sich befindet und alleine ist, einen Zugang zur Wahrheit der Person ermöglichen kann. 131
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sich nicht nur zur kontroversen Diskussion; ihnen wird auch ein dramatischer Gehalt zugewiesen, der in heutigen dokumentarischen Formen dominiert und bewusst auf seine Publikumswirksamkeit hin genutzt wird. Rouch und Morin konzentrieren sich bei der Selbstdarstellung einer Person nicht auf eine auch nur ansatzweise erschöpfende biografische Darstellung, sondern verlassen oftmals abrupt die Interviewsituation, in der sie sich befinden, um sich neuen Protagonisten zuzuwenden. Die Möglichkeit zur Reflexion über das vorher Gesagte ermöglicht dabei die kurze und einführende Darstellung, in welcher ein Protagonist in einer alltäglichen Arbeitssituation gezeigt wird. Bevor mit Marie Lou gesprochen wird, sieht man sie während ihrer Arbeit, Gleiches gilt für die Darstellung des Alltags eines Studenten am Schreibtisch. Dieses Muster wird jedoch keineswegs stringent durchgehalten, sondern häufig umgedreht: Erst spricht Marceline von ihrer Arbeit, dann wird sie dabei beobachtet. Angelo erzählt von seinen tristen Arbeitsbedingungen, die später anhand von Aufnahmen einer Fabrik nachempfunden werden können. Die gewöhnliche Rezeptionserwartung einer narrativen Erzählung wird nicht zuletzt durch zahlreiche Dialogsequenzen mit Personen aufgebrochen, die im Vergleich zur Gesamtlänge des Filmes nur kurz in Erscheinung treten. Zum einen sieht man bisher unbekannte Protagonisten wie z.B. Maxie und ihren Ehemann, die über ihren neu gewonnenen Reichtum reflektieren, während der Ehemann zugibt, ein unerfülltes Leben zu führen. Zum anderen gibt es die bereits eingeführten Personen, wie z.B. Angelo, den Fabrikarbeiter, der mit Landry, einem Schwarzafrikaner, der nun in Paris lebt, diskutiert. Offensichtlich erst im Gespräch vor der Kamera wird beiden bewusst, dass sie Opfer desselben Systems sind: Der Arbeiter reflektiert seine Entfremdung, die er durch seine Fabrikarbeit erleidet, der Schwarzafrikaner berichtet über den Rassismus und die menschliche Kälte, die ihm in Frankreich entgegenschlagen. Rouch fordert nicht nur explizit, dass keine Filme von einer Stunde Länge mit der Konzentration auf einen Helden für das Fernsehen produziert werden sollten, er löst dies auch in seinen Filmen ein.231 Er konzentriert sich auf den Menschen, der in seiner sozialen Umgebung bei der
231. Vgl. Rouch in Rohmer, Eric; Marcorelles, Louis 1963: »Entretien avec Jean Rouch.« In: Cahiers du Cinéma. Juin 1963. Tome XXIV. No. 144, S. 1-22, hier S. 7. 132
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Bewältigung seiner Alltagsprobleme gezeigt wird. Zudem wird in den beiden kurzen Sequenzen, die durch Montage mit anderen alltäglichen Ereignissen unterschiedlichster Protagonisten wie zufällige Momente aus einem kontingenten Leben wirken, dem Zuschauer bewusst gemacht, dass die Erfüllung materieller Wünsche nichts über den psychischen Zustand bzw. die Zufriedenheit der Menschen mit ihrem Leben verrät. In diesem Zusammenhang wird deutlich, was Rouch darunter versteht, Elemente der Realität zu sammeln und noch während der Dreharbeiten eine Geschichte zu kreieren. Die Position des Kameramanns ist für Rouch entscheidend, da dieser die Möglichkeit besitzt, die Produktion des Films maßgeblich zu bestimmen.232 Rouchs Drehkonzeption nimmt weit mehr als Leacocks Orientierung am Muster der Krisensituation in Kauf, dass viel Zeit am Drehort für den »richtigen Zufall« investiert werden muss.233
5.5.4 Bilder stehlen oder Bilder finden? Ein anderes Dilemma, dessen Leacock sich bewusst zu sein scheint, ohne dabei die entsprechenden Konsequenzen für seine Filmarbeit zu ziehen, stellt das Spannungsverhältnis zwischen der verordneten öffentlichen Rolle und dem Recht auf Privatleben der Familie in Happy Mother’s Day dar. Leacock spricht vom »Bild als Diebesgut«234, wenn er selbstkritisch darauf hinweist, mit seiner Dokumentation in die Intimsphäre anderer einzudringen. Besonders mit der Entwicklung einer leichten, tragbaren und synchronen Kameratechnik, die es ermöglicht, Personen auch in ihrer Privatsphäre zu fil-
232. Vgl. ebd., S. 8 f. 233. Wenn Leacock hingegen vom Zufall spricht, so von einem Zufall, der sich einem funktional ausgerichteten »Sensationalismus« unterordnet, der ein Fernsehpublikum befriedigt. »Mais, du point de vue de la caméra, il n’y a pas que le hasard. Nous faisons un pari. Nous parions que quelque chose se produira. Et nous tournons.« Leacock zitiert in Labarthe, André S.; Marcorelles, Louis: »Entretien avec Robert Drew et Richard Leacock.« In: Chahiers du Cinéma. Tome XXIV. No. 140. Février 1963. S. 18-27, hier S. 27. 234. Vgl. Warth, Eva-Maria: »Richard Leacocks HAPPY MOTHER’S DAY und die Fernsehfassung THE FISCHER QUINTUPLETS.« In: Beyerle, Mo; Brinckmann, Christine N. (Hg.) 1991: Der amerikanische Dokumentarfilm der 60er Jahre. S. 110-123, hier S. 115. 133
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men, wurden Dokumentarfilmemacher mit den gleichen Problemen konfrontiert wie Ethnographen und Feldforscher.235 Beispielsweise konfrontiert Morin in häufig sehr intimen Situationen die Interviewten mit ihrer Vergangenheit, womit dem Zuschauer das vorhandene Vertrauensverhältnis als maßgeblicher Faktor für die Bekenntnisse der Beteiligten bewusst wird. Während jedoch Leacock seinen – teilweise mit versteckter Kamera – aufgenommenen Protagonisten eine Einspruchsmöglichkeit in seinen Filmen wie z.B. in einer Sichtung gar nicht erst ermöglichen will, nimmt Rouch zumindest in Kauf, dass die Protagonisten gegen ihre Darstellung im Film im Rahmen einer gemeinsamen Endsichtung Einspruch erheben könnten. In diesem Punkt wendet sich Rouch auch gegen Vertovs Konzept der versteckten Kamera, mit dem er in die Privatsphäre der Protagonisten eindringen will: »I’m completely against what Vertov – whom I admire very much otherwise – said about unexpected cinema. I think that to hide a camera is disgusting and dishonest. I increasingly use what I call a camera de contact: a close focal point and a wide-angle lens, to be close to people.«236 Die Kategorie des Diebes, der Bilder aus der Intimsphäre anderer Menschen stiehlt, lässt sich auf Rouch kaum anwenden, da er eine zu Leacocks Konzeption diametral entgegengesetzte Herangehensweise favorisiert. Seine Alltagsmenschen, die er präsentiert, spielen sich selbst. Die Möglichkeit der Selbstinszenierung wird nicht verdeckt, sondern dem Rezipienten bewusst gemacht. So erzählt Marceline nach der Aufführung von Chronique d’un été von der Wirkung, die von ihrem arrangierten Marsch über den Place de la Concorde ausgegangen ist: »Ich hatte sehr persönliche Erinnerungen, sehr gegenwärtige. Als ich diese Dinge erzählte, habe ich sie mir vergegenwärtigt. Aber ich war während der Aufnahmen nicht in sie verwickelt, wie ich es nach der Vorstellung von Marie Lou hätte sein müssen. Ich bin nicht ihrer Meinung, dass man sich in einer Krise befinden muss, um wahr zu sein.« Der daraus resultierende fiktive Eindruck des dokumentarischen Geschehens steht im Kontrast zu Leacocks Konzept, der jeden fiktiven Gehalt seiner Filme
235. Vgl. Ruby, Jay 1988: »The Image Mirrored: Reflexivity and the Documentary Film.« In Rosenthal, Alan: New Challenges For Documentary. Berkeley. Los Angeles. London. S. 64-77, hier S. 70 f. 236. Rouch zitiert in Yakir, Dan: »Ciné-transe: The Vision of Jean Rouch. An Interview.« In: Film Quarterly. Vol. XXXI, No. 3. Spring 1978. S. 2-11, hier S. 7. 134
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vermeiden will: »Nous nous efforcons d’aller au devant de l’événement, nous ne demandons pas aux gens d’agir, nous ne leur disons pas ce qu’ils doivent faire, nous ne leur posons pas de questions.«237 Durch die lange Vorselektion der Themen, die eine narrative Krisenstruktur mit einem Plot aufweisen müssen, und das öffentliche Interesse, das durch die Filme befriedigt werden muss, sowie das Primat der Wirtschaftlichkeit genügen die bei Drew Associates entstandenen Filme den journalistischen Ansprüchen des Fernsehens. Während Drew jedoch jeden fiktiven Gehalt seiner Filme weit von sich weist,238 bekennt sich Rouch bewusst zum unvermeidbaren subjektiven und fiktiven Gehalt seiner Filme, der auch in der Montage zum Ausdruck kommt: »C’est un travail de montage où, finalement, on fait un choix entre des éléments pour essayer d’exprimer quelque chose qui, à votre avis, qui, à mon avis, est l’expression de la réalité, mais qui es en fait extrêmement subjectif.«239 Dokumentarisches Arbeiten und fiktionale Inszenierung stehen sich nicht antagonistisch gegenüber, sie ergänzen sich: »For me, documentary and fiction are similar.«240 Besonders die Sichtbarmachung der Kontrolle über das filmische Ereignis, die Drew und Leacock kategorisch in ihren Filmen verbergen, spielt bei Rouch eine zentrale Rolle. »Pour Rouch le cinéma est un instrument de communication, communication entre le metteur en scène et ses interprètes, entre les protagonistes eux-mêmes, entre la salle et l’écran.«241 Die Ausrichtung des Kinos als Medium zur Kommunikation zwischen dem Filmemacher und den Protagonisten setzt den Willen zur Improvisation voraus. »Ça ne m’intéresse pas de faire des films avec
237. Leacock zitiert in Labarthe, André S.; Marcorelles, Louis: »Entretien avec Ro-
238.
239.
240. 241.
bert Drew et Richard Leacock.« In: Chahiers du Cinéma. Tome XXIV. No. 140. Février 1963. S. 18-27, hier S. 19. »Un film, c’est la vie.« Drew zitiert in Labarthe, André S.; Marcorelles, Louis: »Entretien avec Robert Drew et Richard Leacock.« In: Chahiers du Cinéma. Tome XXIV. No. 140. Février 1963. S. 18-27, hier S. 26. Rouch zitiert in Rohmer, Eric; Marcorelles, Louis 1963: »Entretien avec Jean Rouch.« In: Cahiers du Cinéma. Juin 1963. Tome XXIV. No. 144. S. 1-22, hier S. 7. Rouch zitiert in Yakir, Dan: »Ciné-transe: The Vision of Jean Rouch. An Interview.« In: Film Quarterly. Vol. XXXI, No. 3. Spring 1978. S. 2-11, hier S. 6 f. Marcorelles, Louis 1963: »L’experience Leacock.« In: Chahiers du Cinéma. Tome XXIV. No. 140. Février 1963. S. 11-17, hier S. 12. 135
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une histoire racontée, des rôles joués, une préparation sur le papier.«242 Rouch bricht aus dem üblichen Schema des angloamerikanischen »Direct Cinema« aus; mit der selbstreflexiven Sichtbarmachung der Konstruktionsprinzipien verunsichert er den Rezipienten, der sich an feste Konstanten und scharfe Grenzen des Dokumentarischen und des Fiktiven gewöhnt hat: »Sont-ils eux-mêmes, ou jouent-ils un autre personnage? Nous n’avons pas actuellement les bases suffisantes pour le savoir.«243 Abbildung 2: Die Verschmelzung von Tatsachen und Fiktion (Jean Rouch)
Quelle: Szenenbild aus Chronique d’un été (Chronik eines Sommers). Jean Rouch/ Edgar Morin. Frankreich 1961
242. Rouch zitiert in Rohmer, Eric; Marcorelles, Louis 1963: »Entretien avec Jean Rouch.« In: Cahiers du Cinéma. Juin 1963. Tome XXIV. No. 144. S. 1-22, hier S. 10. 243. Vgl. ebd., S. 4. Inwieweit die Darsteller ihren Alltag dokumentieren oder sich für den Film inszenieren, zeigt sich beispielsweise schon in dem 1957 gedrehten Moi, un noir. Rouch begleitet gewöhnliche Schwarzafrikaner, die sich aus bekannten amerikanischen Filmen Rollen verliehen haben, bei ihrem alltäglichen Leben. 136
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5.5.5 Anthropologische Filme und Filme über Anthropologie Rouchs filmische Konzeption ist sowohl Ausdruck der begrenzten Möglichkeiten des Filmemachers hinsichtlich der Wiedergabe einer »objektiven Wirklichkeit« als auch die Widerspiegelung einer – in den Wissenschaften – zunehmenden Skepsis gegenüber dem Wahrheitsstatus des Bildes: »Dans un monde où tout est mis à nu, où les mots, le langage ne travaillent plus qu’à faire basculer ce qu’on sait, ce qu’on croit, le réel visible et muet prend l’allure du dernier receleur de vérité.«244 Rouch befindet sich mit seiner bewusst subjektiven Konzeption auch im Widerspruch zur gängigen Wissenschaftspraxis der Anthropologie, zu deren absoluten Maximen Glaubwürdigkeit und Empirismus gehören. Ähnlich wie bei dem latenten Wahrnehmungsvertrag, der zwischen dem Zuschauer und der Gestalt des dokumentarischen Films auf der Basis eines Authentizitätsversprechens abgeschlossen wird, ist der Aspekt der Empirie für den im wissenschaftlichen Gewand auftretenden Sozialforscher unabdingbar für den Status seiner Arbeit. Eine selbstreflexive Hinterfragung der Ergebnisse, die den subjektiven Einfluss der Beobachtungen aufzeigt, steht im scharfen Kontrast zur Auffassung des Positivismus, der den »objektiven« Charakter der Ergebnisse zum zentralen Kriterium für wissenschaftliches Arbeiten macht.245 Der Positivismus, dessen Philosophie die Entwicklung der Sozialwissenschaften zu einem nicht unerheblichen Teil beeinflusst hat, fordert Neutralität und Unvoreingenommenheit gegenüber dem zu untersuchenden Objekt. Ökonomische, politische und moralische Einflüsse, die Rückschlüsse auf einen subjektiven Einfluss der Beobachtung zulassen, müssen im Rahmen anthropologischer Forschung ausgeklammert werden, um die Voraussetzung schaffen zu können, eine andere Kultur vorbehaltlos zu studieren.246 Rouch, der Anthropologie studiert hat, muss diese – zur damaligen Zeit üblichen – Anforderungen wissenschaftlichen Arbeitens zumindest gekannt haben. Ruby skizziert die optimalen Voraussetzungen empirischer/positivistischer Filmarbeit wie folgt: Auf-
244. Bringuier, Jean-Claude: »Libres Propos sur le Cinéma – Vérité«. In: Cahiers du Cinéma. Tome XXV. No. 145. Juillet 1963. S. 14-16, hier S. 15.
245. Unter Positivismus ist die wissenschaftliche Auffassung zu verstehen, allein durch empirische Methoden die Welt zu verstehen.
246. Vgl. Ruby, Jay: »Exposing yourself: Reflexivity, anthropology, and film.« In: Semiotica 3 [1/2] 1980. S. 153-179, hier S. 161. 137
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nahmen mit maximaler Länge bei möglichst geringen Kameraoperationen und eine Montage, die sich darauf beschränkt, aufgenommene Filmrollen in chronologischer Folge aneinander zu kleben.247 »Die Kunst des Nichtweglassens«,248 von der Warth im Zusammenhang mit einer langen Filmeinstellung in Leacocks Happy Mother’s Day spricht, ist vor diesem Hintergrund ambivalent. Zum einen können durch einen anhaltend beobachtenden Blick rhetorische Strategien aufgebrochen werden. Zum anderen können lange Einstellungen aber auch der Inszenierung bruchlos folgen. Häufig bewegt sich die kritische Rezeption auf dem schmalen Grat zwischen ironischer Kritik am institutionellen System und seinen Vertretern einerseits und dem Vorwurf einer filmischen Affirmation rhetorischer Strategien andererseits, wie viele Filmwerke von Frederick Wiseman immer wieder gezeigt haben. Der Anschein einer unvermittelten Registrierung der Wirklichkeit unterstützt den Evidenzcharakter der Kamera als objektives und adäquates wissenschaftliches Instrument. Vor dem Hintergrund einer bis weit über die 60er Jahre hinaus anhaltenden Dominanz positivistisch beeinflusster Sozialwissenschaften erscheint plausibel, warum die meisten Anthropologen sich selbst und ihre Arbeit als wissenschaftlich fundiert ansehen, ohne dabei die Methoden, die sie anwenden, oder den subjektiven Einfluss, den sie selbst auf die Ergebnisse ausüben, ausreichend darstellen zu wollen.249 Aus diesem Kontext heraus mag es wenig erstaunen, dass sich Leacock bis heute einer anthropologischen Herangehensweise verpflichtet fühlt: »An anthropologist goes in to find out how people tick: if they are gangsters, why they are gangsters. You don’t go in moralizing. I have the same feeling about film.«250 Was Leacock als »moralizing« bezeichnet, ist nichts anderes als die für den filmi-
247. Vgl. ebd., S. 171. 248. Warth, Eva-Maria: »Richard Leacocks HAPPY MOTHER’S DAY und die Fernsehfassung THE FISCHER QUINTUPLETS.« In: Beyerle, Mo; Brinckmann, Christine N. (Hg.) 1991: Der amerikanische Dokumentarfilm der 60er Jahre, S. 110-123, hier S. 113. 249. Vgl. Ruby, Jay: »Exposing yourself: Reflexivity, anthropology, and film«, S. 153-179, hier S. 158. 250. Leacock zitiert in Bernard, Karin; Schmidt, Tanja; Taraviras, Spiros: »Interview mit Richard Leacock.« In: Beyerle, Mo; Brinckmann, Christine N. (Hg.) 1991: Der amerikanische Dokumentarfilm der 60er Jahre: Direct Cinema und Radical Cinema. Frankfurt. New York. S. 124-133, hier S. 131. 138
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schen Aufnahmeprozess unabdingbare Sympathie, das Einverständnis und das Vertrauen zu den zu filmenden Protagonisten, mithin Kategorien, die aufgrund ihrer den Objektivitätsanspruch des »Direct Cinema« unterminierenden Wirkung bewusst verdeckt und – im Gegensatz dazu – im »Cinéma Vérité« selbstreflexiv zur Schau gestellt werden. Abbildung 3: 1960 eine ungewöhnliche Zeitdiagnose: Wie denken die Pariser über den Algerienkrieg? (Morin)
Quelle: Szenenbild aus Chronique d’un été (Chronik eines Sommers). Jean Rouch/ Edgar Morin. Frankreich 1961
Interessanterweise sind es vor allem amerikanische Anthropologen, die der Arbeit von Rouch misstrauen: Zum einen gilt unter Forschern die Thematik einer städtischen Anthropologie zum Entstehungszeitpunkt von Chronique d’un été als viel zu exotisch, denn schließlich handelt es sich nicht um die gewohnte Erforschung unbekleideter Einheimischer in Afrika.251 Zum anderen kritisieren sie
251. Nach Rouch geht Chronique d’un été auf eine Initiative von Edgar Morin zurück, der Rouch dazu aufgefordert hat, sich bei seiner filmischen Arbeit nicht allein auf Afrika zu konzentrieren, sondern auch sein Heimatland, das Rouch nach eigenem Bekenntnis kaum gekannt hat, zu filmen. Vgl. Yakir, Dan: »Ciné-transe: 139
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seine ostentative Abkehr von einer narrativen Struktur, die sowohl dokumentarische als auch anthropologische Konventionen unterläuft.252 Rouch konzentriert sich in Chronique d’un été auf Aspekte der anthropologischen Filmarbeit, die bis zu diesem Zeitpunkt bewusst ausgeblendet und verschwiegen werden. »While anthropologists seldom talk about it publicly, all field-workers know that in the field the researcher becomes trapped in the role of power broker, economic agent, status symbol, healer, voyeur, advocate of special interests, manipulator, critic, secret agent, friend or foe.«253 Partizipierender Beobachtung, wie sie schon damals Rouch betreibt, kommt ein hoher Stellenwert im Rahmen anthropologischer Verfahren zu. Zentral ist dabei, den Einheimischen durch die Augen des Anthropologen zu sehen.254 Rouchs anthropologische Bilder sind sowohl Bilder von einer Kultur als auch Bilder über eine Kultur. Sie sind Bilder vom kulturellen Kontext, dem Rouch entstammt, und sie beziehen sich auf den kulturellen Kontext des aufgenommenen Ereignisses. Bei Chronique d’un été handelt es sich um eine Studie der konstruktiven Einflüsse des Beobachters und des Beobachtungsprozesses. »The ›event-specific‹ factors include the observation process, the observer’s preliminary interpretation of the photographs, the participant’s response to the images, and the researcher’s analytical interpretation of the photographic record. This is the most problematic set of factors, since the most of these items are either implicit to photographic processes, are left unrecorded, or simply never occur.«255 In Chronique d’un été untersucht Rouch die epistemologischen Voraussetzungen der Filmbilder. Hierzu gehört die Sensibilisierung des
252. 253. 254. 255.
The Vision of Jean Rouch. An Interview.« In: Film Quarterly. Vol. XXXI, No. 3. Spring 1978. S. 2-11, hier S. 5. Vgl. Ruby, Jay: »Exposing yourself: Reflexivity, anthropology, and film«, S. 169. Vgl. ebd. S. 162. Vgl. ebd. Caldarola, Victor: »The Generation Of Primary Photographic Data In Ethnographic Fieldwork: Context And The Problem Of Objectivity.« In: Ruby, Jay; Turaeg, Martin (Hg.) 1987: Visual Explorations of the World. Selected Papers From the International Conference on Visual Communication Aachen. S. 217-228, hier S. 223. 140
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Zuschauers, dass anthropologische Filmbilder keine vorgefundenen und objektiven Abbildungen der Wirklichkeit darstellen, sondern ereignisspezifische Repräsentationen, deren Relevanz oder Bedeutung von dem Kontext abhängt, in dem das vom Film beobachtete Ereignis steht. Im Aufzeigen dieses Kontextes verfolgt Rouch eine durchweg selbstreflexive Strategie: »The photographic representation is the cumulative result of these diverse factors, and can be appropriately understood only in terms of the formative elements of its construction.«256 Rouch macht in seinem Film deutlich, dass das Filmereignis ein sozial interaktiver und kommunikativer Prozess ist, der wechselseitiges Verstehen und die Partizipation des Beobachters am Beobachteten einschließt. In Chronique d’un été stellt sich durch die Auseinandersetzung mit dem Eigenen und dem Fremden eine Selbstbeobachtung ein, die Voraussetzung jeder selbstreflexiven Konzeption ist, die den subjektiven Einfluss des Autors hinterfragt. »Ce qui m’avait frappé dans Chronique, c’était également ce qui se passait à de certains moments devant la caméra, où des gens qui ne se connaissaient pas, ou qui ne connaissaient pas certains aspects d’eux-mêmes, se découvraient tout à coup.«257 Ob allerdings beispielsweise Morin, der häufig als Fragesteller im Bild erkennbar ist, als Sozialwissenschaftler, als am Filmemachen Interessierter oder als ein anderer agiert, darüber verweigert der Film jede Aussage. Die Dokumentarfilmautoren wirken nicht wie Eindringlinge in eine Welt, in die sie nicht hineingehören, sondern wohnen dem aktuellen Geschehen als Protagonisten bei.
Exkurs: Robert Flahertys Film »Nanuk, der Eskimo« Mit dieser Konzeption setzt sich Rouch von Robert Flaherty, den er als eines seiner großen Vorbilder bezeichnet,258 konzeptionell deutlich ab. Anders als bei Chronique d’un été kann man in Flahertys Nanuk, der Eskimo sehr wenig über die Gesellschaft und Kultur erfahren, zu der Nanuk gehört, obwohl der Film in filmwissenschaftlichen Publikationen als prominenter anthropologischer bzw. ethnographischer Dokumentarfilm gehandelt wird. Antworten auf klassische
256. Vgl. ebd., S. 225. 257. Rouch in Rohmer, Eric; Marcorelles, Louis 1963: »Entretien avec Jean Rouch.« In: Cahiers du Cinéma. Juin 1963. Tome XXIV. No. 144. S. 1-22, hier S. 2.
258. Vgl. ebd., S. 15. 141
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anthropologische Fragestellungen bleibt Nanuk, der Eskimo schuldig. Weder wird im Film dargelegt, welcher Gruppe Nanuks Frau angehört, noch erfährt man, wer Nanuks Besitz im Falle seines Todes erben wird oder wer die Männer sind, die ihn beim Walrossfang unterstützen.259 Folgerichtig spricht Jarvie Flaherty einen anthropologischen Wert ab. Nicht nur, dass er darauf hinweist, dass Flaherty nicht die Absicht hatte, einen anthropologischen Film zu drehen; er betont auch, dass die Ziele des Filmemachers und die des Anthropologen weit auseinander liegen: »The anthropologist sees film as an aide, a supplement, an illustration, a partial or incomplete document; the filmmaker seeks to create a work that is self-explanatory, self-sufficient, complete.«260 Der Filmemacher ist danach in der Regel nicht bemüht, die illusionsstiftende Kraft des Mediums mit zu reflektieren. Aus diesem Grund wird Flaherty von Jarvie als Entdecker und nicht als anthropologischer Wissenschaftler angesehen.261 Mit Griersons und Leacocks Konzeptionen hat Flahertys filmische Herangehensweise gemeinsam, dass sie rhetorische Übergänge schafft, um vorhandene Lücken in ihrer Wirklichkeitskonstruktion zu verdecken. Ziel ist dabei, den Eindruck eines voraussetzungslosen »So ist es gewesen« zu vermitteln: »Sometimes the filmmaker doesn’t know the truth, sometimes he can’t get at it, sometimes he
259. Zu weiteren typisch anthropologischen Fragestellungen gehören u.a. folgende: Welche Sprache sprechen die Eskimos? In welche Gruppe werden Nanuks Kinder einheiraten? Wie wird der Walrossfang, der im Film zu sehen ist, aufgeteilt? Auf welcher sozialen Organisation basiert die Gruppe der Jäger? In welchen geographischen, ethnischen oder sozialen Grenzen lebt Nanuk und wie werden Konflikte unter den Eskimos gelöst? Vgl. Jarvie, Ian 1978: »Nanook of the North.« In: American Anthropologist vol 80 no. 1, March. Washington. S. 196197. 260. Vgl. ebd., S. 197. 261. Nach Jarvie war Flaherty ein Romancier und Täuscher: »His romanticism cashed out in his interest in the unspoiled savage, so that Nanook and later films he encouraged his cast.« Es sei daher noch nicht einmal möglich, einen flüchtigen Eindruck vom Lebensalltag von Nanuk zu gewinnen. Die Komposition sei zu glatt und verrate die Anweisungen, die Flaherty seinen Protagonisten gegeben habe. Dies leitet der Autor auch von den flüchtigen Blicken Nanuks zur Kamera ab. Bezeichnenderweise ist Nanuk, der Eskimo für Jarvie ein Filmklassiker, aber kein anthropologischer Klassiker. Vgl. Jarvie, Ian 1978: »Nanook of the North.« In: American Anthropologist vol 80 no. 1, March. Washington. S. 196-197. 142
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confuses his own propagandist purpose with the truth.«262 Filmemacher müssen sich daher, so die Forderung von Weiner, ihrer epistemologischen Grundlagen bewusst werden, auf denen ihr Wirklichkeitskonzept basiert. Eine Theorie des anthropologischen bzw. ethnographischen Films muss aus ihrer Perspektive die eigenen Konstruktionsmechanismen mit reflektieren.263 Ruby benutzt die Kategorie der Selbstreflexivität als Synonym für eine weitreichende Selbstkritik. Filmemacher sowie Anthropologen haben für ihn die ethische, politische, ästhetische und wissenschaftliche Verpflichtung, ihre Arbeit selbstreflexiv und selbstkritisch darzustellen.264 Selbstreflexivität, wie sie Rouch z.B. in Chronique d’un été betreibt, erfüllt die Kriterien der Wissenschaftlichkeit, obgleich bzw. gerade weil seine Vorgehensweise jeden Anschein von Objektivität aufhebt. »The more scientific anthropologists try to be by revealing their methods, the less scientific they appear to be.«265
5.5.6 »Cinéma Vérité«: die beginnende Krise des Dokumentarischen? In der abschließenden Betrachtung Rouchs und Morins während ihrer Diskussion im Musée de l’homme zeigt sich retrospektiv, dass sie mit filmischen Mitteln den inneren Zustand der Protagonisten, d.h. eine ihnen ansonsten verborgen gebliebene Wahrheit über die Personen, offenbaren zu können glauben. Rouch: »Als Marceline uns erzählt, dass sie uns auf dem Place de la Concorde etwas vorspielte, waren wir Zeugen, dass das die echteste Szene war.« Morin: »Das heißt, dass dieser Film im Gegensatz zum normalen Kino uns in das Leben zurückführt. Die Leute verhalten sich vor der Kamera wie in ihrem täglichen Leben.« Da der Effekt der Kamera auf das Verhalten der Protagonisten sichtbar hervortritt, muss die Möglichkeit, mit den Mitteln der
262. Vgl. ebd., S. 197. 263. Vgl. Weiner, Annette 1978: »Epistemology and Ethnographic Reality: A Trobriand Island Case Study.« In: American Anthropologist vol 80 no. 3, September. Washington. 264. Vgl. Ruby, Jay 1988: »The Image Mirrored: Reflexivity and the Documentary Film.« In: Rosenthal, Alan: New Challenges For Documentary. Berkeley. Los Angeles. London. S. 64-77, hier S. 64. 265. Ruby, Jay: »Exposing yourself: Reflexivity, anthropology, and film«, S. 162. 143
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Kamera die »Wahrheit« zu erschließen, kritisch betrachtet werden. Dennoch ist Chronique d’un été ein selbstreflexiver Film über die dokumentarischen Konventionen. Dies beginnt mit der Problematisierung des Einflusses der Kamera auf das unmittelbare Geschehen, das aufgenommen wird, und zeigt sich auch bei der Konstitution bzw. Montage des Films, die von der Zustimmung der Protagonisten abhängig ist. Die Reflexion über das eigene Verhalten und die authentische Wiedergabe anderer Personen wird im Vorführraum bewusst; schließlich reflektieren die Filmemacher über die Beurteilungen der Beteiligten und über ihre eigenen Beobachtungen, die sie während der Dreharbeiten gemacht haben, um in einem allerletzten Schritt auch diese Beobachtungen im Film für den Rezipienten sichtbar werden zu lassen. Es wird offensichtlich, dass die Zuschauer durch die Wirklichkeitskonstruktion der Filmemacher die Protagonisten völlig anders wahrnehmen als Rouch und Morin; Letzterer fühlt sich besonders in diesem Punkt missverstanden: »Je öfter ich den Film sah, desto weniger wurden meine Emotionen. Doch ich bin jetzt in einer anderen Weise betroffen. Am Anfang glaubte ich, jeder müsste von dem Film betroffen sein, und nun sehe ich, wie Leute wie Marie Lou und Marceline, die ich mag, umstritten sind. Das stört mich, das ärgert mich. Ich glaubte, der Zuschauer müsste dieselben Leute mögen wie ich.« In dieser Reflexion auf die Wirkungsmöglichkeit des eigenen Films klingt zum ersten Mal an, wie problematisch eine Auffassung ist, Dokumentarfilm als Mitteilungsmedium anzusehen. Weder Vertov und Vigo noch Leacock zweifeln diese Wirkung des Mediums an. In ihrer letzten Szene verabschieden sich Rouch und Morin auf der Straße. Während der Abspann läuft, taucht aus dem Off eine Frage auf, die schon zu Beginn des Films Einwohnern von Paris spontan auf der Straße gestellt wurde: »Sind sie glücklich?« Der unbestimmte Adressat, an den sich diese Frage richtet, thematisiert die Grenzen des Dokumentarfilmemachers: Ob er über sein Leben, den Film oder das Urteil der Filmemacher über den Film glücklich sein kann? Klar ist nur, dass der Zuschauer entscheidet.
5.6 Der Akt des Schreibens: Chris Markers »Sans Soleil« Chris Markers Film Sans Soleil von 1982 gilt gemeinhin als eines der prominentesten Werke des essayistischen Dokumentarfilms. So erklärt Alain Resnais, dass er Chris Marker als Erfinder des Film144
2005-08-05 08-41-59 --- Projekt: T359.kumedi.meyer.dokumentarfilm / Dokument: FAX ID 00c391224912908|(S. 100-202) T01_05 kapitel Teil 2.p 91224913564
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essays ansehe.266 Und Thomas Tode stellt fest: »Ab Mitte der fünfziger Jahre wird in Frankreich der Begriff ›essai cinémathographique‹ eine durchaus geläufige Bezeichnung, u.a. für die Filme Chris Markers, der sogleich als ›Montaigne im Leinwandformat‹ (Roud) apostrophiert wird.«267 Montaigne gilt, wie zuvor im Kapitel 2.2.1 dargestellt, als Mitbegründer der Konstruktion einer modernen Künstlerpersönlichkeit; zusammen mit Francis Bacon gehört er zu den Initiatoren der essayistischen Tradition des 16. Jahrhunderts. Bei Montaigne ist die Konstitution des literarischen Erscheinungsbildes an den Prozess des Schreibens gekoppelt, das Subjekt entsteht »durch den Akt des Schreibens selbst, und zwar als ein immer schon gespaltenes, in sich hin- und hergerissenes«.268 Die Problematisierung des Selbst ist dem französischen Essayismus als integraler Bestandteil seiner Erkenntnissuche eingeschrieben und wird in den 50er Jahren auf den Film übertragen: Alexander Astruc macht die Idee salonfähig, mit der Kamera schreiben zu können wie ein Literat mit seiner Feder. Die Problematisierung des Selbst wird auch im Film als notwendige Ausgangsbasis für den Essayismus erachtet: »Indem die Repräsentation des Sozialen durch Subjektivität vermittelt wird, gerät sie zu deren Ausdruck. Selbstreflexivität ist die Bedingung für die Erwägungen des Essayisten.«269
5.6.1 Das Bild vom Glück Chris Marker beginnt Sans Soleil in der Haltung eines Lesers, der ein ambitioniertes Buch aufschlägt, mit einem Aphorismus von T. S. Eliot: »Because I know that time is always time And place is always and only place.« Es folgt zunächst ein Schwarzbild, das von einer Frauenstimme aus dem Off begleitet wird: »Das erste Bild, von dem er mir erzählte, ist das von drei Kindern in Island 1965.«
266. Alain Resnais zitiert in: Kämper, Birgit; Tode, Thomas (Hg.) 1997: Chris Marker Filmessayist. München. S. 210.
267. Tode, Thomas: »Phantom Marker: Inventur vor dem Film.« In: Kämper, Birgit; Tode, Thomas (Hg.) 1997: Chris Marker Filmessayist. München. S. 31-52, hier S. 44. 268. Müller-Funk, Wolfgang 1995: Erfahrung und Experiment: Studien zur Theorie und Geschichte des Essayismus. Berlin. Klagenfurt. S. 71. 269. Blümlinger, Christa: »Zwischen den Bildern/Lesen.« In: Blümlinger, Christa; Wulff, Constantin (Hg.) 1992: Schreiben, Bilder, Sprechen. Texte zum essayistischen Film. Wien. S. 11-59, hier S. 17. 145
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Scheinbar wie durch einen asynchronen Ton-Bild-Fehler tauchen in der folgenden Einstellung drei spazierende und Händchen haltende Kinder auf, von denen die Sprecherin offenbar vorher gesprochen hat. Wieder Schwarzbild. Die Sprecherin berichtet: »Er sagte mir, es sei für ihn das Bild des Glücks, und auch, dass er mehrmals versucht habe, es mit anderen Bildern zu assoziieren.« Versuche, die den Zuschauer zum Nachdenken anregen können: Wie lassen sich Empfindungen und Gefühle bildhaft darstellen? Der Versuch, eine Entsprechung für das subjektive »Bild des Glücks« in anderen Bildern zu finden, scheitert. Der Filmemacher setzt der Evidenz der drei Kinder auf der Bildebene das Motiv einer modernen Militärmaschine entgegen, die auf einer Rampe im Boden verschwindet. Das folgende Schwarzbild kann nicht nur Imaginationen anregen, es ist auch ein genuin selbstreflexiver Akt, mit dem der Filmemacher den Zuschauer über die beabsichtigte Funktion der überraschenden Einstellungen zu Beginn seines Films in Kenntnis setzt: »Man muss es eines Tages ganz allein an den Anfang eines Filmes setzen und danach nur Schwarzfilm. Wenn man das Glück im Bild nicht gesehen hat, wird man wenigstens das Schwarzbild sehen.«270 Schon nach wenigen Einstellungen wird deutlich, dass Sans Soleil die Hör- und Sehgewohnheiten des Rezipienten herausfordert. Im ersten Moment ist man als Zuschauer geneigt, das Angebot des Filmemachers anzunehmen und das Motiv des Glücks der drei Kinder an die Stelle der eigenen Assoziationen zu setzen; schließlich entspricht es den Erwartungen, dass nicht der Zuschauer, sondern der Filmemacher die Bilder eines Filmes produziert und seine Autorität ihnen den dazugehörigen Sinn verleiht. Doch dieses traditionelle Verhältnis zwischen Konsument und Filmemacher versucht Chris Marker zu unterlaufen, denn die Suche nach einem äquivalenten Glücksmotiv bleibt mit der folgenden Einstellung einer Militärmaschine, des Symbols für Zerstörung, erfolglos. Das Motiv der drei Kinder, das der Unbeständigkeit des Glücks eine konsistente Form verliehen zu haben schien, hält nicht einmal einer kurzfristigen Bedeutungskonstitution stand. Die Vorstellung, mit Hilfe eines spe-
270. Jetzt erscheinen drei Schrifteinblendungen. Offenbar hat jemand den Titel des Films dem Autor vorgeschlagen, denn es heißt: »Anatole Dauman propose«, bevor der Zuschauer den Titel des Filmes erfährt, einmal auf Russisch und schließlich in Französisch: Sans Soleil. Zwei Merkmale kennzeichnen den Beginn des Films: Zum einen fehlt Originalton, zum zweiten bleibt der Einsatz des Schwarzbildes allein der Anfangssequenz vorbehalten. 146
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zifischen Bildes vergangene Empfindungen oder Emotionen an andere zu adressieren oder gar vergleichbare Motive zu finden, die in der Lage sind, die zurückliegende Qualität des Glücks in gleicher Weise wiederzugeben, stellt sich als Illusion heraus. Es ist die im Dokumentarfilm häufig vorhandene Illusion, die der Evidenz der Bilder das Potenzial zuweist, Gefühle und Erinnerungen nachempfindbar zu machen, und die vom Vertrauen gelenkt ist, das dem Medium eine grenzenlose Darstellungsmacht zuschreibt.
5.6.2 »Er schrieb mir«: die selbstreflexive Erzählinstanz Der subjektive Charakter dieser Erinnerungsbilder wird durch das leitmotivische »Er sagte« bzw. in der Folge »Er schrieb mir« unterstrichen. »Er« ist ein Erzähler, dessen Eindrücke zu seinen Bildern aus einer anderen Zeit und von anderen Orten stammen und von der Sprecherin im Akt des Vorlesens aktualisiert werden. Dabei steht ein selbstreflexiver Anspruch im Vordergrund, denn die Frauenstimme »verkörpert den Prozess der sprachlichen Reflexion des Filmemachers anhand der in den Reisebildern abgelagerten Erfahrung«.271 Mit anderen Worten: Der Filmemacher reflektiert über den Prozess des Filmemachens. An die Stelle der subjektiven Wahrnehmung des Erzählers von vergangenen Orten und Zeiten setzt sich der Bildspeicher der Kamera, der das von der Unvollkommenheit der menschlichen Wahrnehmung gereinigte historische Gedächtnis darstellt. Doch die Bilder widerstreben der dokumentarischen Annahme, sie seien historische Dokumente. Die Ansammlung völlig disparater Bilder vergangener Reisen ist ihrer Referenz auf reale Töne weitgehend entbunden. Ambient-Sounds mit verzerrten Ton-Fragmenten, die allenfalls partiell den Eindruck wiedergeben, sie seien mit den Bildern kompatibel, evozieren einen Bruch zu einer synchronen Bild-Ton-Konstellation, wie sie bis heute im Dokumentarfilm üblich ist. In Sans Soleil kristallisiert sich die Tonebene als autonome Mitteilungsebene heraus, die den Filmbildern einen emotionalen und zugleich assoziativen Aussagegehalt verleiht. An die Bruchstelle zwischen Bildern und entfremdeten Tönen heften sich die Eindrücke, Erinnerungen und Reflexionen, die sich in den Briefen des Erzählers wiederfinden. Ähnlich wie in einer kontemplativen Situation im Schneideraum reflektiert der Erzähler
271. Kämper, Birgit: »Sans Soleil [Ohne Sonne] 1982.« In: Kämper, Birgit; Tode, Thomas (Hg.) 1997: Chris Marker Filmessayist, S. 290-295, hier S. 292. 147
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über die zurückliegenden Aufnahmen seiner Bilder. Er konstituiert neben den Bildern und den bearbeiteten Tönen eine dritte, autonome Mitteilungsebene. Im Zuge der Sichtung verfremdet und modifiziert er ihren auditiven Gehalt, überlagert von seinen nun präsenten, aber schemenhaften Erinnerungen, wie sich in den ersten Einstellungen von Sans Soleil bereits ankündigt. Marker führt über die Sprecherin einen reflektierenden Monolog, der zunächst Resultat seiner niedergeschriebenen Eindrücke zu den von ihm gefilmten Bildern ist und schließlich im Akt des Vorlesens in der Präsenz der Jetztzeit vor einem Publikum einer weiteren Modifikation unterliegt. Die reflektierende Distanzierung zu dem aussagenden Ich konstituiert ein dialogisches Element, indem »das essayistische Subjekt mit sich selbst ins Gespräch [kommt], unterstützt durch ein Gesprächsbewußtsein, das gesellschaftliche Grundlagen hat«.272 Das rollenhafte Vertauschen der Aussage- und Erkenntnispositionen soll der Mehrdimensionalität und Komplexität von Erinnerungen Rechnung tragen.
5.6.3 Traum und dokumentarische Wirklichkeit: das Ephemere als Kategorie der Erinnerung Ob es sich um die Nahaufnahme eines Lautsprechers, der an einem fahrenden Schiff angebracht ist, oder die Aufnahme der Hand einer Reisenden handelt, die sich an der Reling festhält, um den Blick auf das stürmische Meer zu genießen: Gemeinsam ist beiden Einstellungen das Fehlen eines diegetischen Tons. Stattdessen dominiert ein Ambient-Sound, der die Entgrenzung der Situation, die Entgrenzung der Körper akzentuiert. Der Übergang von der sichtbaren Wirklichkeit zum Traum wird in den folgenden Einstellungen im Innenraum der Fähre verstärkt. Sie zeigen das surreale Bild einer ermüdenden Fahrt mit zusammengekauerten Körpern, die sich mehr oder weniger in einem Zustand zwischen Lesen, Träumen, Dösen und Schlafen befinden. Dazu die Off-Stimme: »Er schrieb mir: Ich komme gerade aus Hokkaido, der Insel im Norden. Die reichen eiligen Japaner nehmen das Flugzeug, die anderen die Fähre. Das Warten, die Untätigkeit, der unterbrochene Schlaf, dies alles versetzt mich in einen vergangenen oder zukünftigen Schlaf. Nachtzüge. Entwarnung. Atombunker. Kleine Bruchstücke des Krieges, von Alltagsleben eingefasst. Er liebte die Zerbrechlichkeit dieser
272. Haas, Gerhard 1969: Essay. Stuttgart. S. 50. 148
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flüchtigen Momente. Diese Erinnerungen, die zu nichts anderem gedient hatten, als eben Erinnerungen zu hinterlassen. Er schrieb: Nach einigen Reisen um die Welt interessiert mich nur noch das Banale. Ich habe es während dieser Reise mit der Ausdauer eines Kopfjägers verfolgt. Im Morgengrauen werden wir in Tokio sein.« Es zeigt sich: Sowohl beim Träumen als auch beim Erinnern werden die Grenzen des Abbildbaren und des Imaginären unscharf, jeder Anspruch auf Wiedergabe einer Wirklichkeit wird hinfällig, jede Kontinuität der Dinge wird annulliert, und damit werden auch die Konventionen des Dokumentarischen, Bilder als Aussagen über eine existierende Welt zu lesen, der Kritik ausgesetzt. Die Vielfalt der Welt bleibt nicht einem dokumentarischen System vorbehalten; Imagination, Phantasie und die Verbindung von Einzelheiten vollziehen sich angesichts eines großen Misstrauens gegenüber den Abbildmöglichkeiten komplexer Verflechtungen der Welt vielmehr zufällig. Der Satz »Er liebte die Zerbrechlichkeit dieser flüchtigen Momente« vermittelt die Grundeinsicht Markers, die Bilder so zu nehmen, wie sie im Moment ihres ephemeren, alltäglichen Erscheinens sind: als Bilder. Die Traumsequenz in der Fähre wird beendet mit dem Blick durch ein Hotelfenster auf die Dächer einer Stadt. Offenbar ist man in Tokio angekommen. Im Hintergrund ist ein einfahrender Zug zu erkennen, der durchaus auch als Fortsetzung des Traums interpretiert werden kann: Der Zuschauer sieht sich ankommen. Einen weiteren Bruch für eine konventionelle dokumentarische Lesart der Bilder stellt das folgende Motiv eines Vogels auf einer naturbelassenen Wasserfläche dar. Es ist das bekannte Symbol für Natur und Wildnis, wie es immer wieder in westlichen Natur- und Tierfilmen über Afrika zum Vorschein kommt. Sprunghaft versetzt es in diesem Fall den Zuschauer nicht nur an einen anderen Ort, sondern auch in eine andere Zeit. Wie schon bei dem Motiv des Glücks, dem die Assoziation des Unglücks folgt, ist es an dieser Stelle die hochtechnisierte Welt Japans, die in Kontrast zur Unberührtheit der Natur eines anderen Kontinents gesetzt wird; ein Merkmal, das als »Widerspiel von Aussage und bedingt gemachter Aussage«273 beschrieben werden kann. Dies ist ein essayistisches Mittel in Sans Soleil, um methodisch zementierte Positionen aus ihrer Verankerung zu reißen und sie in ihrer Substanz zu problematisieren. Das Ephemere ist dabei eine Kategorie der Selbstreflexivität, die sich nicht auf eine
273. Haas, Gerhard 1969: Essay. Stuttgart. S. 8. 149
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erreichte Erkenntnis, wie sie beispielsweise in den Konventionen des Dokumentarischen zum Ausdruck kommt, zurückzieht: »Der Essayist spricht über ein Bild oder ein Buch, verläßt es aber sogleich – warum? Ich glaube, weil die Idee dieses Bildes und dieses Buches übermächtig in ihm geworden ist […].«274 Eine Bedeutungskonstitution, die eine eindeutige historische Referenz auf Wahrheit und Wirklichkeit impliziert, wird in Sans Soleil permanent unterlaufen. Bilder und Töne konturieren Zeiträume, die in der Schwebe gehalten werden; sie bleiben sprunghaft wie die Erinnerung an sie: »Er schrieb mir aus Afrika. Er verglich die afrikanische Zeit mit der europäischen Zeit, aber auch mit der asiatischen. Er sagte, im 19. Jahrhundert habe die Menschheit ihre Rechnung mit dem Raum beglichen, und es gebe im 20. Jahrhundert nur das Zusammenleben der Zeiten.« Ein Emu erscheint in Nahaufnahme im Bild: »Übrigens: Wussten Sie, dass es Emus auf der Ile de France gibt?« Emus, die ihres ursprünglichen Lebensraumes beraubt sind, stehen an dieser Stelle als Ausdruck für die vertikale Verdichtung der Zeit, in der ein entwicklungsgeschichtlicher Horizont aufgegeben wird. Zeit wird in hohen Verdichtungsgraden, als Jetztzeit erfahren. Mit der Metapher des Emus verweist der Filmemacher zugleich selbstreflexiv auf den eigenen Arbeitsprozess, denn nicht nur die kulturell vorbestimmte Komprimierung von Zeit nimmt dem Ort die reale Referenz (wie man sieht: ein Prozess, von dem alle Lebewesen betroffen sind), es ist vor allem der Film, der mit dem Eintreten der Vergangenheitsbilder in die Gegenwart eine Erweiterung des Gegenwartsfeldes vornimmt. Aus diesem Grund spielt es in Sans Soleil keine Rolle, wenn gegen Ende des Films die gleiche Stimme fragt: »Habe ich Ihnen geschrieben, dass es Emus auf der Ile de France gibt?« Entscheidend ist, dass das vorangegangene Emu-Motiv in die Vergegenwärtigung einer neuen, ebenso ephemeren und kontextabhängigen Bedeutung überführt wird. Indem der Erzähler selbstreflexiv sein eigenes Gedächtnis befragt, tritt die Position der Zeit als Bedingungsfaktor für den Modus der Erinnerung deutlich hervor, denn die Frage richtet sich keineswegs nur an den Erzähler selbst. Mit der Anrede »Ihnen« richtet er seine Frage an den Zuschauer, der nun angeregt ist, sich über seine eigenen Erinnerungen des
274. Lukács, Georg: »Über Wesen und Form des Essays. Ein Brief an Leo Popper (1910).« In: Rohner, Ludwig (Hg.) 1972: Deutsche Essays. Prosa aus zwei Jahrhunderten in 6 Bänden. Band 1: Essays avant la lettre. München. S. 27-47, hier S. 44. 150
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Films zu versichern. Und wenn es weiter heißt: »Dieser Name der Insel Frankreichs klingt bizarr auf der Insel Sal«, zeigt sich die Position des Off-Kommentars, der in seiner Funktion als Verbindungselement sowohl unterschiedliche Zeitpunkte miteinander in Beziehung setzt als auch Orte in andere Orte transformiert. Orte und Zeiten gleiten in Sans Soleil immer wieder ineinander: »In meinem Gedächtnis überlagert sich das Bild zweier Türme, das des verfallenen Schlosses von M., das C. als Stützpunkt gedient hat, und das des Leuchtturms an der Südspitze von Sal, einer der letzten Leuchttürme, nehme ich an, auf dem noch Petroleum benutzt wird.« Die Auflösung fester Konturen ist ein Merkmal der menschlichen Erinnerungsfähigkeit, sie ist Ausdruck eines subjektiven Raum- und Zeitgefühls oder »eine Reise in das eigene Ich des Autors«.275
5.6.4 Die Poesie der Ungewissheit: losgelöste Bilderwelten Blick auf einen geschlossenen Lieferwagen, dessen Laderaum nach dem Öffnen den Blick auf rohes Schlachtfleisch freigibt. Ein Mann wirft sich ein halbes Schlachttier auf den Rücken und trägt es aus dem Bild, dazu der Off-Kommentar: »Am schwersten zu entziffern sind die Bilder Europas. Ich sehe das Bild eines Films, dessen Ton später nachgeliefert wird. Im Falle von Polen habe ich sechs Monate gewartet.« Es erscheint das stumme Bild von Lech Walesa mit japanischen Schrifteinblendungen; ein Zeichen dafür, dass dieses Bild aus Polen nach den ersten Streikwellen im Sommer 1980 auf der ganzen Welt verbreitet worden ist. Doch die Off-Stimme kehrt den Blick eines Europäers, der ein fremdes Land besucht, um. Das Motiv Lech Walesas, das als Ikone des regimekritischen Befreiungskampfes und der ersten unabhängigen Gewerkschaftsbewegung in einem kommunistischen Land zu dieser Zeit gilt, wird als »schwer entzifferbar« bezeichnet. Der Status dieses Bildsymbols, das für Befreiung und Unabhängigkeit eines Volkes steht, wird aus dem Stadium seines durch die Fernsehnachrichten determinierten Informationsgehaltes in den Zustand eines für die Off-Stimme aussagelosen Bildes zurückversetzt. Stattdessen favorisiert die Off-Stimme Bilder, die Ausdruck einer ephemeren Lebensweise sind: »Keinerlei Schwierigkeiten hingegen mit den lokalen Erdbeben.« Es taucht eine Land-
275. Kämper, Birgit: »Sans Soleil – ›ein Film erinnert sich selbst‹.« In: Blümlinger, Christa; Wulff, Constantin (Hg.) 1992: Schreiben, Bilder, Sprechen. Texte zum essayistischen Film. Wien. S. 33-59, hier S. 37. 151
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kartenanimation mit Symbolen auf, die offensichtlich einen Teil Japans wiedergibt. Danach wird eine Handkamera in geringer Distanz über einen grauen Boden geführt. Es folgt ein kurzer Schwenk über umherliegendes Geschirr und Bücher; schließlich zwei kurze Einstellungen mit unsystematisch angeordneten und für den Zuschauer kaum identifizierbaren Gegenständen. Die Off-Stimme fügt hinzu: »Die Poesie entsteht aus Ungewissheit.« Eine Ungewissheit, die der Filmemacher sowohl durch sein zur Schau gestelltes Unvermögen, Bilder ikonographisch zu dekodieren, als auch durch die viel zu kurzen Einstellungen, die die gezeigten Gegenstände für einen Rezipienten kaum wahrnehmbar erscheinen lassen, bewusst initiiert. Markers Präferenz für das Vorläufige und die damit verbundene Kritik richten sich gegen die Suggestion der (westeuropäischen) Fernsehnachrichten, die Komplexität der Welt lasse sich in wenigen, eindeutig bestimmbaren Bildern wiedergeben. Die Haltung vieler Japaner gegenüber dem Ephemeren wird von Marker als eine Reaktion auf die ständige Zerstörungsgefahr durch Erdbeben bewundert. Die Off-Stimme: »Da sie auf einem Teppich leben, den die launische Natur jederzeit wegziehen kann, haben sie sich angewöhnt zu wandeln.« Und dieser Hang zur ständigen Bewegung zeigt sich offenbar besonders in den Fernsehbildern. Es erscheint ein aus verschiedenen Politikerköpfen zusammenmontierter Collagenteppich, aus dem schließlich ein kurzes Potpourri aus Ausschnitten von Action-, Kultur- und Fernsehkatastrophenbildern herausgegriffen wird. Dazu die Off-Stimme: »In einer Welt von vergänglichen, flüchtigen, widerrufbaren Erscheinungen.« Es folgen drei Einstellungen, die die Trickanimation einer Eisenbahn darstellen, deren Gleise in der Leere des Weltalls enden. Die Off-Stimme: »Von Zügen, die von Planet zu Planet fliegen wie Samurais, die sich in einer unwandelbaren Vergangenheit schlagen. Das nennt man die Inpermanenz der Dinge.« Es erscheint ein längerer Ausschnitt eines Samuraifilms, der durch seinen rhythmisch fortlaufenden Balken im Bild als Zitat für Fernsehtechnik erkennbar ist. Aus der Bewunderung für die Offenheit der Bilder, die in ihrer Fragmentarität jederzeit anschlussfähig sind für neue, kurzfristige Bedeutungskonstitutionen und die Marker offenbar in der japanischen Fernsehkultur findet, entzündet sich eine Kritik am utilitaristischen Bildverständnis westlicher Kulturen. Besonders an dieser Stelle von Sans Soleil tritt dem Zuschauer eine Fülle an Bildern entgegen, die bei ihm kaum mehr als einen flüchtigen Eindruck hinterlassen können. Die Phänomene sind von ihrer ontologischen Verankerung getrennt, zurück bleibt allein die sinnliche Gewissheit, 152
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die nach Starobinski schon Montaigne in den Mittelpunkt gestellt hat: »Das Nichtswissen ist die einzige mögliche Wissenschaft.«276 Die Ebene der Bedeutungsleere der Bilder ermöglicht zugleich eine vorbehaltlose Gleichrangigkeit; Bilder lösen sich von ihrem kulturell oder ideologisch vorbestimmten Wert; es kommt zu einer Enthierarchisierung vorgefasster Bewertungsmaßstäbe: »Vergangenes und Zukünftiges haben ein gleiches Recht wie Wünsche, Hoffnungen, Sehnsüchte, Magie und Fernsehprogramm, Spielfilmerinnerung und Kolonialzeit, Sterberituale und Revolutionszeit.«277 Abbildung 4: Ephemere Blicke aus dem Fernseher
Quelle: Szenenbild aus Sans Soleil (Ohne Sonne). Chris Marker. Frankreich 1983
276. Starobinski, Jean 1993: Montaigne. Denken und Existenz, S. 133. 277. Ahlheim, Klaus; Wittenberg, David: »Die Dinge, die das Herz schneller schlagen lassen – Chris Marker: Sans Soleil (1982).« In: Möller, Karl-Dietmar; Wulff, Hans J. (Hg.) 1990: Film- und Fernsehwissenschaftliches Arbeiten. Münster. S. 9-21, hier S. 20. 153
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Ein Beispiel für die Gleichbehandlung von Vergangenem und Gegenwärtigem ist die Off-Stimme mit dem Kommentar über die »Zeremonie für die Ruhe der Seelen zerbrochener Puppen, die in einem geweihten Tempel zusammengetragen und öffentlich verbrannt« werden. Zu hören sind Trauergesänge, während ein Haufen Puppen von Flammen verzehrt wird. Es erscheint ein Mann in Großaufnahme, der zuvor betend gezeigt worden ist, dazu die OffStimme: »Ich habe die an der Zeremonie Beteiligten betrachtet.« Blick in das Feuer; Schwenk auf die Umherstehenden, dann zwei Großaufnahmen von Gesichtern. Die Off-Stimme: »Ich denke, dass diejenigen, die beim Abschied der Kamikaze dabei waren, keine anderen Gesichter hatten.« Eine Puppe schaut den Zuschauer an. Der westliche Zuschauer wird provoziert zu widersprechen. Historisch hält sich hartnäckig der Glaube, der Märtyrertod sei für jeden Kamikaze eine freiwillige Heldentat gewesen. Wenn es aber Angst, Resignation und Verzweiflung gab, wie kann der Ausdruck des Schmerzes, der nach westlichen Maßstäben im banalen Ritual der Puppenverbrennung in einem viel harmloseren Modus zum Vorschein kommt, mit der Trauer in Beziehung gesetzt werden, die sich beim Verlust eines Menschen einstellt? Indem Marker diesen Vergleich provoziert, unterzieht er die Bewusstseinsbilder, über die sich der Zuschauer in einem Zustand der sicheren Erkenntnis wiegt, einer Prüfung. Er ist aufgerufen, die Herkunft der Legendenbilder über die Kamikaze-Flieger, die nicht zuletzt propagandistischen Zwecken dienten und die bis heute bei vielen Geltung besitzen, zu hinterfragen.
5.6.5 Von der Bildkritik zur Kulturkritik: Auflösung der Wirklichkeits- und Wahrnehmungsebenen Die japanische Kultur ist durchdrungen von Symbolen der Vergangenheit, die in der Gegenwart ihre gesellschaftliche Funktion besitzen. Ein Beispiel ist das immer wieder in unterschiedlichsten Formen und Ausprägungen auftretende Symbol der Katze und des Hundes, die als domestizierte Lebewesen den Unterschied zwischen Natur und Kultur verwischen. Die Durchlässigkeit der Wirklichkeitsebenen zeigt sich zudem bei einem Beerdigungsritual für einen Pandabären, dem offenbar ein ähnlich hoher Stellenwert eingeräumt wird wie einem Menschen. In Sans Soleil tauchen keine dialektischen Gegensätze auf, die das Gegeneinander fester Entitäten kennzeichnen; vielmehr ist es ein Oszillieren zwischen verschiedenen Polen wie Leben und Tod, bei dem immer wieder neue Facetten 154
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und Perspektiven aufscheinen. Sie durchdringen – anders als im kulturellen Verständnis in Europa – den Alltag und nehmen damit dem Tod seine Fremdheit. Die Off-Stimme: »Ich habe folgenden Satz gehört: Die Wand, die das Leben vom Tode trennt, erscheint uns nicht so dick wie einem Menschen aus dem Abendland. Was ich am häufigsten in den Augen Sterbender gelesen habe, war die Überraschung.« Das Bild einer Giraffe: »Was ich jetzt lese, ist die Neugierde. Als versuchten sie, um den Tod eines Tieres zu begreifen, durch diese Wand hindurchzublicken.« Kinder legen Blumen nieder, die Szenerie wird von Film- und Fotokameras beobachtet. Dann: In einem offenbar aus einem modernen Actionfilm entnommenen Filmzitat wird ein Mann gezeigt, der einen Schuss aus seiner diagonal aus dem Bild gerichteten Waffe löst, als wolle er ein Objekt treffen, das sich hinter dem Zuschauer befindet. Schnitt. Getroffen wird die zuvor gezeigte Giraffe; ein zweiter Schuss trifft sie am Hals, aus dem deutlich sichtbar Blut hervorsprudelt, doch erst nach einem langen Todeskampf taumelt die Giraffe zu Boden, wo ihr von einem Jäger in den Kopf geschossen wird. Der zuvor in einem kurzen Zwischenschnitt zu sehende Geier, der schon am Himmel kreist, macht sich nun daran, das Auge des frisch verstorbenen Tieres auszupicken. Nach dem unvermittelten und schockierenden Tod der Giraffe ist man versucht, einen Sinn, eine Aussage für den Mord des Tieres zu finden, doch diese Suche bleibt erfolglos; es werden keinerlei Erklärungen angeboten. Auf diese Weise stellt sich ein Gefühl der Ohnmacht ein. Zunächst lenkt die Evidenz des Todeskampfes, die Dramaturgie der um ihre Existenz ringenden Giraffe, die volle Aufmerksamkeit des Rezipienten auf sich, der wie ein Voyeur aus sicherer Distanz ein Geschehen beobachtet, das ethische Regeln verletzt. Nun verlangt der Zuschauer nach einer Legitimation, die ihn zufrieden zurücklässt, einen Grund, der für ihn den Tod rechtfertigt bzw. begreifbar macht, den ihm der Autor allerdings verweigert. Marker überlässt es dem Zuschauer, wie er den Tod der Giraffe beurteilt; das Gefühl der Abscheu, das sich nach dem voyeuristischen Genuss des Todeskampfes einstellt, kann sich in diesem Moment gegen den Zuschauer selbst richten, da er sich seiner Gewohnheit, Bilder aus rein voyeuristischen Motiven zu konsumieren, an dieser Stelle bewusst werden kann. Hinter den Geiern, die instinktiv auf den Tod der Giraffe warten, um ihren Hunger zu stillen, kann der Zuschauer die Anziehungskraft der Bilder als Ausdruck seines eigenen Verlangens erkennen. Das Auge, Symbol für erkennendes und kontrollierendes Sehen, wird verzehrt. Marker kritisiert an dieser Stelle in metaphorischer Weise die Neigung der westeuropäischen 155
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Kultur, das Sehen durch das Nicht-Sehen zu favorisieren, ein Sehen, das einem oberflächlichen Betroffenheitsgestus gleicht. Abbildung 5: Was ich sehe, blickt mich an
Quelle: Szenenbild aus Sans Soleil (Ohne Sonne). Chris Marker. Frankreich 1983
Ob es die Puppe, die tote Giraffe, die überdimensionierten Comics an den Häuserwänden in den Straßen Tokios sind oder die zahlreichen Gesichter, die als Bildzitate aus dem Fernsehen zurückblicken – im Mittelpunkt steht der Anspruch, den Blick des Voyeurs wie ein Spiegel zurückzuwerfen, wodurch der Zuschauer seiner Illusion beraubt wird, das Geschehen in der Position des allwissenden Beobachters zu verfolgen, das Geschehen aus sicherer Distanz unbeobachtet zu kontrollieren. Vielmehr sieht er sich selbst den Blicken ausgesetzt. In der Rückprojektion seines eigenen Blicks durch fremde Instanzen verweigern sich die Bilder ihrer sonst üblichen Funktion, bloßes Anschauungsmaterial zu sein; sie übertragen ihre Eigenschaft auf den Zuschauer, der sich nun seinerseits als beobachtetes Objekt betrachten muss. Das Verhältnis Zuschauer/Objekt gerät ins Wanken und kann beim Zuschauer einen Selbstreflexionsprozess in Gang setzten: Er sieht sich als Teil eines Wahrneh156
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mungsprozesses, der von einem Künstler bewusst initiiert worden ist. Dies gilt auch für eine Sequenz, die mit der Großaufnahme einer jungen Frau beginnt, die mit ihren Blicken der Kamera ausweicht. Der Einfluss der Kamera auf das Verhalten von Protagonisten in ihrem Alltagsleben kristallisiert sich deutlich heraus, wie auch die Off-Stimme hervorhebt: »Auf den Märkten in Bissau und den Kapverdischen Inseln habe ich die Gleichgültigkeit des Blicks wiedergefunden und die Abfolge von Konstellationen, die einem Verführungsritual so ähnlich ist. Ich sehe sie, sie hat mich gesehen. Sie weiß, dass ich sie sehe. Sie bietet mir ihren Blick an, aber aus diesem Winkel, wo es gerade noch möglich ist so zu tun, als gelte er gar nicht mir. Und schließlich der wahre Blick ganz direkt, der eine vierundzwanzigstel Sekunde dauert, so kurz wie ein Bild.« Die Konstruktion des Films wird mit der Blickstrategie der Frau analogisiert. Die kontinuierliche Weigerung der Frau, in die Kamera zu blicken, wird in einem einzigen Augenblick durchbrochen; ein Bild, das die Illusion für den Zuschauer aufhebt, die Anwesenheit der Kamera sei der Protagonistin gleichgültig. Zugleich wird der Zuschauer darauf aufmerksam gemacht, dass ein Bild dieser Dauer die kleinste Einheit darstellt, die im Film möglich ist; selbst wenn es einen kürzeren Blick der Frau gegeben hätte, der Zuschauer hätte ihn aufgrund der Trägheit des Auges nicht wahrnehmen können. Entscheidend ist die kurze »Erwiderung« des Blicks der Frau zur Kamera: Sie macht nicht nur deutlich, dass das ausweichende Verhalten vor dem Kamerablick bewusst eine Inszenierung darstellt, darüber hinaus ist es eine Bestätigung für die entgegengebrachte Aufmerksamkeit. Die Reaktion der Frau auf die Kamera und der Stellenwert eines Filmbildes nicht nur für diese Situation (sondern auch für die Illusion eines kontinuierlichen Seheindrucks) weisen in dieser Sequenz auf den selbstreflexiven Charakter von Sans Soleil hin. Während das »Cinéma Vérité« Jean Rouchs durch die Sichtbarmachung der Intersubjektivität zwischen dem Interviewer Morin, der Protagonistin und dem Einfluss der Kamera auf die Protagonisten glaubt, näher an die verborgene Wahrheit der Individuen heranzukommen, stellt Sans Soleil den Wirklichkeitsanspruch des dokumentarischen Mediums in Frage und lässt offen, inwieweit das Kino ein Gedächtnis der Welt sein kann.
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5.6.6 Im dokumentarischen Tal der Tränen Es sind gerade die von Tränen begleiteten Bekenntnisse von Marie Lou, die in Chronique d’un été von Jean Rouch den authentischen Eindruck hinterlassen, Zeuge eines beklemmenden Einblicks in die Intimsphäre der Protagonistin geworden zu sein. In Sans Soleil vermutet man zunächst Ähnliches: Es erscheint ein Offizier, der ungerührt von der Präsenz eines Kamerateams seine Auszeichnungen entgegennimmt und daraufhin in Tränen ausbricht, während aus dem Off Marschmusik der ganzen Szenerie einen Ereigniswert von hohem offiziellen Charakter zuweist. Die Off-Stimme gibt den Bildern allerdings einen anderen Bedeutungsgehalt: »Man wird erfahren, dass hinter dieser Beförderungszeremonie, in der die Brüderlichkeit der Kampfzeit fortgesetzt zu werden schien, alle Bitternis der Zeit nach dem Sieg verborgen war. Dass Ninous Tränen nicht die Ergriffenheit des alten Kriegers waren, sondern der verletzte Stolz des Helden, der sich im Vergleich mit anderen nicht genug gewürdigt glaubt. Und hinter jedem dieser Gesichter ein Gedächtnis. Und da, wo man uns glauben machen möchte, es sei ein Kollektivgedächtnis entstanden, sind tausend Gedächtnisse von Menschen, die ihre persönliche Zerrissenheit in der großen Zerrissenheit der Geschichte mit sich tragen.« Ninou wird ein Jahr nach diesen Aufnahmen die Macht an sich reißen. Diese Szene ist eine der wenigen in Sans Soleil, die – wenn auch nur für wenige Momente – dem Zuschauer auf emotionale und unmittelbare Weise suggeriert, einem authentischen Geschehen beizuwohnen. Und an keiner anderen Stelle von Sans Soleil fühlt sich der Zuschauer so ertappt, auf die Evidenz der Bilder hereingefallen zu sein. Die Mischung aus überschießender Emotionalität, scheinbar aufrichtigem revolutionären Pathos und kalkuliertem Verhalten gegenüber der Kamera seitens des Offiziers entpuppt sich als Konstruktion. Die Inszenierung der Tränen des Offiziers bildet eine Kritik am dokumentarischen Verfahren, das die Utopie verfolgt, Bilder für sich selbst sprechen zu lassen. Im weiteren Verlauf erklärt die Off-Stimme die Szene als Trugbild einer transparenten, eindeutigen und einfachen dokumentarischen Wahrheit, die dazu einlädt, von Zeichen äußeren Verhaltens auf einen inneren Bewusstseinszustand zu schließen. Auch die Codes der Revolution, die häufig ein Kennzeichen des politisch ambitionierten Dokumentarfilms darstellen, unterzieht Marker einer eingehenden Untersuchung. Zu einer rot eingefärbten Szene, die durch die hektischen und unkoordinierten Bewegungen einer Handkamera den verzerrten Blick auf ein freies Feld zeigt, 158
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über das deckungssuchend vereinzelte Soldaten laufen, berichtet die Off-Stimme: »Ich habe Berichte ehemaliger Guerilleros gehört, die unter derart unmenschlichen Bedingungen gekämpft haben, dass sie die portugiesischen Soldaten bedauerten, die das Gleiche ertragen mussten. Das habe ich neben vielem anderen gehört, das einen beschämt, wenn man leichtfertig oder aus Unachtsamkeit und sei es auch nur ein einziges Mal das Wort Guerilla gebraucht hat, um damit eine bestimmte Art des Filmemachens zu bezeichnen.« Die rote Einfärbung und die Diffusität nehmen den Bildern den inhärenten dokumentarischen Gestus, ihre Referenz auf einen Guerillakampf, wie ihn sich einige linke Filmemacher auf die Fahnen geschrieben haben. Die Guerilla entzieht sich dem offiziellen Kampfplatz und situiert einen imaginären Raum, taucht auf und verschwindet wieder, ohne von festen Stützpunkten zu operieren. Nicht, dass die Bilder den austauschbaren Code des Guerillakampfes wiedergeben, ohne eine inhaltliche Aussage zu hinterlassen, ist von Bedeutung, sondern dass es gerade nichts zu sehen gibt, macht das Bild aussagekräftig. Bilder und Kommentar betonen, dass die Vorstellung vom Kampf der Guerilla nicht dazu taugt, um den Kampf gegen eine Diktatur zu glorifizieren. Der kodifizierte Status der medialen Vermittlung des Guerillakampfes drückt stattdessen eine Hoffnung aus, die längst zur Konvention erstarrt ist: das Konzept der Gegeninformation, das vorsieht, das starre Weltbild einer Diktatur zu zerbrechen.
5.6.7 Die Dekonstruktion der Trugbilder der Revolution Exhibitionismus gehört zu den Leitmotiven revolutionärer Akte. Die Off-Stimme: »In Portugal, das durch den aufrührerischen Teil Bissaus selbst in Aufregung versetzt war, schrieb Miguel Torga, der sein Leben lang gegen die Diktatur gekämpft hat: ›Jeder Statist, der darin verwickelt ist, vertritt nur sich selbst. Statt eine Veränderung des gesellschaftlichen Panoramas anzustreben, versucht er nur im revolutionären Akt, sein eigenes Bild zu sublimieren.‹« Verstärkt wird dieser Eindruck auch auf der Bildebene: Zunächst ist ein scheinbar individuell ausgerüsteter Polizist zu sehen, bevor die Erweiterung der Kadrierung ihn als Teil einer ganzen Kompanie ausweist; dann sieht man sich in die Arme fallende Menschen, die in Siegerpose in die Kamera jubeln. Schnitt. Schwarze Frauen durchqueren in militärischer Haltung das Bild von rechts nach links. Die Off-Stimme: »So fallen gewöhnlich die Hervorstrebenden auf eine so vorhersehbare Weise wieder zurück, dass man an eine Art Amnesie glauben muss, die die Geschichte aus Barmherzigkeit oder Berechnung für diejeni159
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gen bereit hat, die sie anheuert. […] So schreitet die Geschichte voran, indem sie ihr Gedächtnis verschließt, so wie man seine Ohren verschließt.« Marker geht es nicht nur um die Konstruktion von Geschichte im Subjekt, es geht ihm auch um die Stellung des Subjektes in der Geschichte. Jeder totalisierende Wahrheitsanspruch einer Ideologie ist den subjektiven Interessen ihrer Vertreter, die von ihr profitieren, unterworfen. Gefragt sind nicht die Besonderheiten des Individuums, sondern gefragt ist ein dynamischer, beinahe zu allem entschlossener Aktivismus, wie er in Militärparaden oder Demonstrationen zum Ausdruck kommt. Die Off-Stimme nimmt dazu Stellung: »Ich schreibe Ihnen dies alles aus einer anderen Welt, einer Welt des äußeren Scheins.« Großaufnahme einer jungen Frau, deren bewegtes Gesichtsporträt durch den Videosynthesizer verfremdet wurde und nur noch schemenhaft zu erkennen ist. Die Off-Stimme: »Die beiden Welten kommunizieren gewissermaßen miteinander. Gedächtnis ist für die eine, was Geschichte für die andere ist: eine Unmöglichkeit. Legenden entstehen aus dem Bedürfnis, das Unentzifferbare zu entziffern. Das Gedächtnis muss sich mit seinem Wahn, seinen Abweichungen begnügen.« Zwischenschnitt mit Großaufnahme des Gesichtes der Frau, diesmal in dokumentarischer Qualität. »Ein angehaltener Augenblick würde es verschmoren, wie das Bild eines im Projektor blockierten Filmes. Der Wahnsinn schützt wie das Fieber.« Sowohl das Serielle der Filmproduktion wird metaphorisch in neue Relationen überführt als auch die für die Konstitution des Filmbildes basale Verbindung von Materie und Licht (des Projektors). Das Zelluloid muss in der Zeit bewegt werden, soll die Illusion eines Bewegtbildes auf der Leinwand entstehen. Auch der Versuch, die Relativität des Gedächtnisses gegen die Evidenz der Geschichte einzutauschen, gleicht der Metapher des verschmorten Filmbildes: Der Dynamik und Flüchtigkeit des Filmbildes ein angehaltenes Standbild zu entreißen, bedeutet in der Vorführkonfiguration des Projektors dessen Verlust. Marker betont zugleich die Medialität von Film und Fotografie: Ein Film wie Sans Soleil kann analog zum Gedächtnis Prozessualität thematisieren, setzt Verbindungen und vermittelt eine ephemere, offene Form. Phantasien mit Montage auszudrücken, gelingt für ihn nur über Widersprüchlichkeit und Diskontinuität von Ereignissen. Die Befragung der eigenen Gefühle, Gedanken und Erfahrungen, die permanente Zeitversetzung ermöglichen einen Spielraum, um die eigenen medialen Voraussetzungen selbstreflexiv zu untersuchen. Die Evidenz der Bilder, besonders ihr fotografischer Cha160
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rakter, verhindert oftmals die Reflexion über ihre Herkunft und Konstruktion. Sie versuchen einen Augenblick zu bewahren, zu objektivieren, um in die Annalen der Geschichte einzugehen. Diesen Gebrauchswert dokumentarischer Fotos dekonstruiert Marker, indem er unerwartet den kontinuierlichen Bewegungsablauf vor der Kamera an wenigen Stellen seines Filmes für kurze Zeit arretiert, beispielsweise wenn er zwei Frauen auf dem Markt beobachtet oder einen Betrunkenen in einer Trinkhalle. In beiden Fällen hat es nicht den Anschein, als hätten die Protagonisten die Gelegenheit ergriffen, um sich vor der Kamera vorteilhaft – wie es sonst bei Fotografien häufig passiert – zu präsentieren, obgleich sie im Modus des Porträts aufgenommen wurden. Marker entreißt die Momentaufnahme für einen kurzen Augenblick dem filmischen Zeitfluss, womit sie tendenziell als Erinnerungsbild gelesen werden soll. Diese Eigenschaft der Bilder wird allerdings bewusst unterlaufen, da die Fotografierten weder im »günstigsten« Augenblick fixiert worden sind noch in irgendeiner Hinsicht als ikonographische Repräsentanten einer Epoche eine Funktion ausüben. Entscheidend ist für Marker die Gegenüberstellung von bewegtem und fotografisch stillgestelltem Bild, das heißt der eingeübten und differierenden Interpretationsleistungen, die jeweils von bewegten Filmbildern und Stoppbildfotos ausgelöst werden und die einen selbstreflexiven Einblick in die Kodierungsleistung des Dispositivs ermöglichen. Nicht zuletzt thematisiert Marker die fotografische Grundlage seiner Arbeit. Hinsichtlich der Abbildeigenschaften stehender und bewegter Bilder handelt es sich um letztlich divergierende Potenziale, doch vor dem Hintergrund sozialer Veränderungen, so macht Marker deutlich, unterliegen beide einer Welt des äußeren Scheins. Das Paradigma des Dokumentarfilms, das in seinem emphatischen Glauben an die Darstellungsmöglichkeiten des Mediums das Unmittelbarkeitspostulat auf eine kohärente historische Referenz bezieht, wird in Sans Soleil außer Kraft gesetzt und in spontane, das heißt in fragmentarische Unmittelbarkeit transformiert. Marker betreibt eine phänomenologische Betrachtungsweise; er nimmt die Erscheinungen in dem Bewusstsein war, dass sie sich unserem vollen Zugriff entziehen. Das wahre Sein bleibt hinter den Erscheinungen unerreichbar versteckt. Allein die referenzlosen Bilder, die Ergebnis einer Bildbearbeitung im Studio sind und deren Bedeutung offen für Interpretationen und Anschlüsse ist, entziehen sich dem Eindruck eines Trugbildes. Marker lenkt den Blick auf ein Videostudio, in dem die Bilder von vorangegangenen Einstellungen des Films modifiziert werden. Die Off-Stimme: »Ich beneide Hayao und seine Zone. 161
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Abbildung 6: Entsemantisierung mit dem Videosynthesizer: Bilder als bloße Bilder
Quelle: Szenenbild aus Sans Soleil (Ohne Sonne). Chris Marker. Frankreich 1983
Er spielt mit den Zeichen seines Gedächtnisses, er spießt sie mit Nadeln auf und dekoriert sie wie Insekten, die der Zeit entflogen sind und die er von einem Punkt außerhalb der Zeit, der einzigen Ewigkeit, die uns bleibt, betrachtet.« Langsamer Schwenk mit Nahaufnahme von rechts nach links über das Studiopult. Aus dem Off ertönt die melancholische Stimme der Frau, deren abstraktes Motiv zuvor in Großaufnahme auf einem Bildschirm zu sehen war. Die Off-Stimme: »Ich schaue mir seine Maschinen an. Ich denke an eine Welt, in der jedes Gedächtnis seine eigene Legende erfinden könnte.« Sans Soleil favorisiert eine Wirklichkeit, die unabhängig von der Vergangenheit und ohne Blick auf die Zukunft besteht und sich nur auf »eine Kunst der Bewegung« konzentriert, die sich in ihrer Spontaneität von der Sorge um den richtigen Ausdruck befreit, sich also letztendlich jeglichem einheitsstiftenden Vorwissen verweigert.278 Bei Marker steht »eine Reflexion über die Bilder an den Bildern
278. Diese idealisierte Spontaneität propagiert Montaigne für das Schreiben. Vgl. Starobinski, Jean 1993: Montaigne. Denken und Existenz, S. 437. 162
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selbst, deren radikalster Ausdruck ihre Modifizierung mit dem Videosynthesizer ist«,279 im Mittelpunkt. Schon zuvor betreibt Marker Kritik an historischen Bildern, und zwar nicht nur, indem er sie anklagt, er modifiziert sie auch formell nach seinen Wünschen. Die Off-Stimme: »Mein Freund Yamaneko hat eine Lösung gefunden: Wenn man die Bilder der Gegenwart nicht ändert, dann muss man die Bilder der Vergangenheit ändern.« Zu erkennen sind die historischen Aufzeichnungen einer Demonstration gegen den Bau eines Flughafens. Nach einem Schnitt erscheint ein blau eingefärbtes Motiv, das in seinem abstrakten Umriss kaum mehr als Aufnahme einer Demonstration erkennbar ist, wie es zuvor in dokumentarischer Qualität bereits zitierte wurde. Die Off-Stimme: »Er hat mir die Bilder von Schlägereien der 60er Jahre gezeigt, die er mit einem Synthesizer bearbeitet hat. ›Weniger verlogene Bilder‹, sagt er mit der Überzeugung des Fanatikers, ›als die, die du im Fernsehen siehst. Zumindest geben sie sich als das, was sie sind: Bilder. Und nicht die transportable und konkrete Form einer Wirklichkeit, die schon unerreichbar ist.‹« Bilder werden von Marker nicht nur zitiert und neu kontextualisiert, sie werden auch der Bildbearbeitung unterzogen, womit sie ihre referentielle Qualität als Raum-Zeichen der Wirklichkeit, die sie präsentieren, verlieren. Sie sind kein Gegenargument gegenüber dem ideologischen Impetus der Bilder, das seinerseits einer anderen Wahrheit als Zeichen Kontur verleihen würde. Die Ton- und Bildsprache Markers ist nicht appellativ; sie fordert keinen Glauben und will keine kontrapunktische Vorstellung von Wahrheit vermitteln; sie unterzieht die mimetische Identitätsbildung des Dokumentarischen einer skeptischen Prüfung, ohne den freigesetzten Leerraum neu zu besetzen, denn: »In der wirklich tiefen Kritik […] gibt es kein Leben der Dinge, keine Bilder, nur Transparenz, nur etwas, das kein Bild vollwertig auszudrücken fähig wäre«,280 und, so lässt sich für Marker in diesem Sinne hinzufügen, es gibt auch keinen Film. Die Off-Stimme: »Natürlich werde ich ihn niemals drehen, diesen Film. Aber ich sammle die
279. Kämper, Birgit: »Sans Soleil – ›ein Film erinnert sich selbst‹.« In: Blümlinger, Christa; Wulff, Constantin (Hg.) 1992: Schreiben, Bilder, Sprechen. Texte zum essayistischen Film. Wien. S. 33-59, hier S. 46. 280. Lukács, Georg: »Über Wesen und Form des Essays. Ein Brief an Leo Popper (1910).« In: Rohner, Ludwig (Hg.) 1972: Deutsche Essays. Prosa aus zwei Jahrhunderten in 6 Bänden. Band 1: Essays avant la lettre. München. S. 27-47, hier S. 32. 163
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Landschaften. Ich denke mir die Änderungen aus, ich setze meine Lieblingsgeschöpfe hinein und ich gebe ihm sogar einen Titel, den der Melodie Mussorgskijs: Ohne Sonne.«
5.7 Die Konstruktion von Geschichte: Harun Farockis »Bilder der Welt und Inschrift des Krieges« Bilder der Welt und Inschrift des Krieges: Der Titel dieses Filmes aus dem Jahre 1988 von Harun Farocki ist Programm. »Bilder der Welt«, das sind grafische, malerische und fotografische Motive aus Standbildern der Vergangenheit und Bilder der Gegenwart, aus Produktion, Forschung, Museum und Simulation, die der Autor neu kontextualisiert. Farocki will der Gefahr entgehen, in die möglicherweise ausgereizten Fußstapfen vorangegangener Film- und Fernsehmacher zu treten; er modifiziert daher bereits existierendes Bildmaterial hinsichtlich seines formalen und inhaltlichen Sinngehaltes. Die »Inschrift des Krieges« definiert den Angriffspunkt einer bereits vorhandenen, militärisch determinierten Formung. Farockis Aufmerksamkeit richtet sich nicht wie die Markers auf den Versuch, kognitive Aspekte wie Erinnerung oder Vergessen im Film darzustellen. Ihm geht es nicht um die Macht der Einbildungskraft und der Empfindungen, mit der die Konsistenz dokumentarischer Evidenz aufgelöst wird. Vielmehr bleibt er Zeuge einer äußeren Wirklichkeit, seine Interpretationen beziehen sich ausschließlich auf die äußeren Spuren, die sich in Bildern abgelagert haben; deren manipulative Qualität zu dekuvrieren, ist das zentrale Anliegen Farockis in Bilder der Welt und Inschrift des Krieges. Dabei bewegt sich der Filmemacher nicht mehr in der Manier eines neugierigen Entdeckers mit der Kamera auf Straßen und Plätzen (wie dies beispielsweise Vertov und Michail Kaufman auf der Suche nach den Zufällen des Alltagsleben getan haben), sondern Farockis Bildinhalte sind Ergebnis der Arbeit und Analysen am Schneidetisch. Für Farocki spielt sich das Leben nicht mehr in dem Maße sichtbar und erklärbar ab wie in früheren Phasen der Dokumentarfilmgeschichte. Die Wirklichkeitskonstruktion sozialer Systeme, die durch die Kontrollund Überwachungsmechanismen wirtschaftlicher, wissenschaftlicher, polizeilicher und militärischer Institutionen konstituiert wird, beeinflusst die Handlungsweisen von Individuen; zudem determiniert und instrumentalisiert sie auch Bildinhalte, die gleichermaßen den Gesetzmäßigkeiten institutioneller Macht ausgeliefert sind.
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Abbildung 7: Die Arbeit des Filmemachers an Bildern
Quelle: Szenenbild aus Bilder der Welt und Inschrift des Krieges. Harun Farocki. Deutschland 1988
5.7.1 Systemimmanente Konstruktion der Wirklichkeit versus Kontingenz der Bilder Diese institutionell produzierten und determinierten Bildinhalte bricht Farocki mit den Möglichkeiten des Films auf. Die Potenziale der Bilder werden mit Interpretation des Filmemachers an den Bildern (neu) aufgeschlossen, um so »Anregung zur Reflexion« zu liefern und ein kritisches Bewusstsein zu entfalten.281 »Dokumentarfilm […], der es sich zur Aufgabe macht, in den Diskurs über Vorgänge
281. In Farockis essayistischer Herangehensweise sehe ich – anders als Baumgärtel – durchaus die Möglichkeit, Stellung zum politischen System zu beziehen. Seiner Ansicht nach »beschränken sich die Essayfilme auf die Organisation von Komplexität«. Vgl. Baumgärtel, Tilman Martin Nikolaus 1997: Vom Guerillakino zum Essayfilm: Harun Farocki. Werkmonographie eines deutschen Autorenfilmers. Würzburg. S. 194. 165
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der gesellschaftlichen Realität einzugreifen, muß in sein Aufmerksamkeitsraster notwendig die Funktionsweisen von Medienapparaturen, Präsentationssystemen (Dispositiven) und Institutionen miteinbeziehen, anhand derer Wirklichkeit als gesellschaftliche Konstruktion im 20. Jahrhundert […] erzeugt wird.«282 Das Thema Aufklärung bietet sich – ähnlich wie das Thema Erinnerung in Markers Sans Soleil – für eine essayistische Methode in Bilder der Welt und Inschrift des Krieges an, da es kaum mit den Möglichkeiten des klassischen Dokumentarfilms darstellbar ist. Essayfilme sind eine subtile Möglichkeit, Kritik an komplexen Sachverhalten zu üben, ohne dabei auf einfache und plakative Formeln zurückzugreifen. Wie in Sans Soleil kommt dem gesprochenen Wort einer weiblichen Off-Stimme in Bilder der Welt und Inschrift des Krieges zentrale Bedeutung bei der Interpretation der Bildinhalte zu. Doch anders als bei Marker, bei dem ein Briefschreiber seine Gedanken mitteilt, die eine weibliche Off-Stimme vorliest und damit eine selbstreflexive Infragestellung der Erinnerungsbilder evoziert, konzentrieren und reiben sich die Aussagen der Off-Stimme in Bilder der Welt und Inschrift des Krieges besonders an den präsentierten Bildinhalten. Neben Bild-Bild-Korrelationen steht insbesondere dann das Verhältnis zwischen Off-Stimme und Bildinhalten im Vordergrund, wenn historisches Material aus dem Kontext der Aufklärungsarbeit über den Genozid an den Juden einer Neuinterpretation unterzogen wird und durch die Informationen der Off-Stimme überraschende Inhalte aufgedeckt werden: »Erst 1977 gingen zwei Angestellte des CIA daran, die Luftaufnahmen von Auschwitz im Archiv zu suchen und auszuwerten. Erst 33 Jahre später wurden die Worte eingeschrieben. Die Wörter: Wachturm und Haus des Kommandanten. Erfassungsstelle und Hauptquartier und Verwaltung und Zaun und Hinrichtungswand und Block 11 und wurde das Wort Gaskammer eingeschrieben.« Zu erkennen ist zunächst das bildfüllende Siegel des CIA, bevor die gerasterten Umrisse von Fotografien in Großaufnahme sichtbar werden, denen die erwähnten Begriffe jeweils eingeschrieben worden sind. Farocki lässt die Filmbilder grobkörnig erscheinen, was auf materielle Grundlagen des Films ver-
282. Wenzel, Eike: »Hinter der sichtbaren Oberfläche der Bilder. Harun Farockis dokumentarische Arbeit an gesellschaftlichen Umbruchsituationen. Zu ›Videogramm einer Revolution‹ und ›Die führende Rolle‹.« In: Aurich, Rolf; Kriest, Ulrich (Hg.) 1998: Der Ärger mit den Bildern: Die Filme von Harun Farocki. Konstanz. S. 269-286, hier S. 272-273. 166
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weist (Filmemulsion und Korn). Es folgt ein Filmausschnitt mit der Simulation einer Landschaft, die von einem Flugzeug überflogen wird, dann die Darstellung der Arbeit einer Kartographiemaschine, bis die Großaufnahme auf die Schwarz-Weiß-Fotografie mit der Bezeichnung »DR Kassel« die Fortsetzung der retrospektiven Untersuchungen der CIA-Agenten signalisiert. Die weibliche Off-Stimme: »Angeregt vom Erfolg der Fernsehserie Holocaust, die Leiden und Sterben anschaulich machen will und also verkitscht, gaben zwei Mitarbeiter des CIA die Koordinaten aller Ziele von strategischer Bedeutung, die in der Nähe von Konzentrationslagern gelegen waren – und also auch die IG-Farben-Werke Monowitz – in den Computer des Bildarchivs.« Parallel dazu erscheint zunächst das Fotomotiv eines Pärchens aus der Holocaust-Serie, das sich auf einem überfüllten Bahnhof vor dem Blick eines SS-Wachmanns ängstlich zusammenduckt; dann eine Karte, auf der strategische Punkte eingetragen sind, und ein Bild mit chemischen Formeln. Der Einsatz des diegetischen Tones einer hervorgezogenen Rollschublade, die den Blick auf Bildakten lenkt, suggeriert die Rückkehr in die Gegenwart. Dazu die Off-Stimme: »Es muss von allem Bilder geben. Sie werteten die nach 33 Jahren aufgefundenen Bilder außerhalb ihrer Dienstzeit aus.« An dieser Stelle wird eine Kritik an der institutionellen Bildproduktion laut, die auf bloße Erfassung oder Erfüllung eines Auftrages ausgerichtet ist, ohne sich dabei für das Schicksal von Menschen zu interessieren. Dies trifft auch für die zufällige Aufnahme eines Bomberpiloten der Alliierten von einem Konzentrationslager zu: zunächst ein Bild mit vier Männern, die mit einer Kameraausrüstung vor einer Militärmaschine posieren. Dazu die Off-Stimme: »Die Bomberpiloten hatten den ersten Arbeitsplatz, der mit der Kamera zur Kontrolle ausgerüstet wurde.« Es folgt ein harter Schnitt auf einen Roboter, der mit einer geräuschvollen Bewegung seines Greifarms die darauf befindliche Videokamera auf eine Autotür richtet. Der »subjektive« Blick durch die Kamera des Roboters offenbart den Mechanismus seines Überprüfungsprogramms: Einzelteile werden abgefilmt und in der Kamera daraufhin abgefragt, ob sie dem Muster einer vorher eingegebenen Vorlage entsprechen. Der binäre Code von »zerstört« und »nicht zerstört«, der die Handlungen der Bomberpiloten leitet, wird auf einen industriellen Produktionszusammenhang appliziert. Der Interpretationsspielraum der Bilder liegt jenseits individueller Gestaltungsmöglichkeiten; er ist allein einem institutionell vorgegebenen Verwendungszusammenhang unterworfen. Systematisch und selbstregulierend werden Oberflächen gesucht und durch die Kame167
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ra bestätigt. Eine selbstreferentielle Funktionalität, die Farocki auf die Militärmaschinerie transformiert. Ob Produktion oder Militär, automatische Fehlermeldungen steuern offenbar die Qualität der weiteren Interventionsprozesse. In beiden Fällen hebt Farocki die Handlungslogik hervor, die sich aus der Konsequenz der Mechanismen unausweichlich entfaltet. Selbstreferentielle Prozesse können nur über Individuen aufgehalten, geprüft und in ihren Auswirkungen bewertet werden. Es bedarf des Subjektes als Interventionsinstanz, um einen selbstreflexiven Prozess zu initiieren, auch in der Wirklichkeit eines automatisierten Industriebetriebes oder im Dokumentarfilm selbst. Indem Farocki antinomische Aussagen in Wort und Bild der einseitigen, subjektlosen und automatischen Bedeutungszuschreibung entgegensetzt, macht er den polyvalenten Gehalt ihrer Aussage für den Zuschauer sichtbar und fragt nach dem Stellenwert des Subjektes. Die Konzeption Farockis, mit Bildern an Bildern Kritik zu üben, zeigt sich auch im Übergang zur nächsten Sequenz, in welcher der Autor die automatisierte Arbeit des Roboters einem Kleinbetrieb gegenüberstellt und dessen Auflösung mit nostalgischen SchwarzWeiß-Fotos begleitet. Einsatz der Off-Stimme: »Die Werkbank eines Metalldrückers. Die Arbeitsmittel sind auf den Hof gestellt, zu denken, man will sie dem toten Handwerker in die Grabkammer geben, wie den Pharaonen ihr Gold. Nur das Silber zur Schwärze im Korn der Fotografie.« Farocki thematisiert die Dispositive der filmischen Darstellung, Fotografie und Film, auf deren Grundlage er arbeitet. Die Bilder sind Abdrücke tatsächlicher und gegenständlicher Objekte aus dem mechanischen Zeitalter, das im Begriff ist, der Automation und Simulation Platz zu machen. Eine Skizze, auf der das seitenverkehrte Reproduktionsbild einer Camera obscura abgebildet ist, gibt darüber Auskunft, wie die Off-Stimme betont: »Metalldrücken ist eine Technik der Reproduktion, erst etwa 180 Jahre alt. Kaum älter als die Fotografie. Druck- und Stanzautomaten werden jetzt den Metalldrücker ersetzen.« Mit der Analogisierung der handwerklichen Voraussetzung des Metalldrückens und der Fotografie kritisiert Farocki die Entfremdung des Menschen in einer abstrakter werdenden Gesellschaft, in der Bilder zunehmend für die Kontrolle und die Überwachung eingesetzt werden. Die offenbar eindeutig bestimmte Beziehung des Abgebildeten zur Abbildung unterläuft Farocki, indem er sich gegen den Schein und die verdeckten Konsequenzen richtet, die den Bildern anhaften.
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Abbildung 8: Mit Bildern an militärischen Simulationsbildern Kritik üben
Quelle: Szenenbild aus Bilder der Welt und Inschrift des Krieges. Harun Farocki. Deutschland 1988
Eine körnige Luftaufnahme, die über einem Konzentrationslager gemacht wurde, zeigt eine dunkle Linie, die mit einem Pfeil markiert ist. Dort ist zu lesen: »Prisoners for registration.« Dazu die OffStimme: »Die Luftbilder geben die Opfer aus einem Abstand von 7000 Metern wieder. Im fotografischen Korn finden sie Schutz der Persönlichkeit.« Selbst die Ausführungen von zwei Augenzeugen, denen die Flucht aus einem KZ bis nach England gelang, führten nach Farockis Ausführungen nicht dazu, dass die Zufahrtswege der KZ-Lager bombardiert wurden. Mit dieser Paradoxie zeigt Farocki Grenzen und Gefahren dokumentarischer Aufnahmen auf, deren Verweispotenzial auf eine Wirklichkeit a priori limitiert ist. Doch nicht die Bilder sind das Problem, »sondern die notwendige Armut ihrer Anwendung, der Verwendungs- und Verbreitungsformen von Bildern, im Kontext eines Anthropozentrismus, für den das menschliche Auge sowohl Ursprung als auch Fluchtpunkt der Wahrneh-
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mung ist«.283 Farockis Botschaft ist eindeutig: Je mehr versucht wird, die Wirklichkeit zu institutionalisieren, desto lebloser und inhumaner wird sie, desto weniger steht eine Reflexion über den Sinngehalt der Bilder und ihren Gebrauch zur Disposition, wie die Off-Stimme schon in der Vergangenheit beobachtet hat: »Die Nazis haben nicht gemerkt, dass man ihr Verbrechen fotografierte, und die Amerikaner haben nicht gemerkt, dass sie es fotografierten. Auch die Opfer merkten nichts. Aufzeichnung wie in ein Buch Gottes.« Selbstständiges Handlungsvermögen bleibt nicht nur bei den Nationalsozialisten, sondern auch bei den Amerikanern auf der Strecke. Erst »Verzweiflung und ein heldischer Mut« unter den KZ-Insassen führen zu einem Aufstand und zur Zerstörung einer Gaskammer, und nicht die »gigantische Kriegsmaschinerie der Alliierten«. In einer der letzten Einstellungen erscheint Farocki mit der Lupe gebeugt über historischem Fotomaterial. Die Art und Weise seiner Suche erinnert an Aufnahmen, die in Bilder der Welt und Inschrift des Krieges zuvor wiederholt aufgetaucht sind. Gemeint sind die zwei Aufklärungsspezialisten, die mit ihren Lupen Fotomaterial auf versteckte Objekte absuchen. Einer der beiden äußert sich in einer Einstellung enthusiastisch über die Möglichkeit, mit Infrarotbildern von parkenden Militärmaschinen Aussagen über die Dauer ihres Einsatzes zu treffen. Als in mehreren Aufklärungsbildern ein Panzer entdeckt wird, kommentiert einer der Spezialisten dies als »Erfüllung des Auftrages«. Die Amerikaner erfüllten ihren Auftrag jedoch nicht, als sie versehentlich Teile der Konzentrationslager fotografierten. Aus diesem Grund blieben die Lager »unentdeckt«. Mit der nun zur Schau gestellten Nachahmung der akribischen Suchmanier der Spezialisten greift Farocki die Funktion einer Bildinterpretation an, die monadisch darauf ausgerichtet ist, Erfüllungsgehilfe institutioneller Handlungen zu sein, und die zudem in ihrem Totalitätsanspruch glaubt, alles mit Bildern erfassen und erklären zu können. In den historischen Fotografien der Archive und Zeichnungen aus Büchern einerseits, den Realfilmeinstellungen und der Simulation andererseits treten historische Momente und aktuelle Augenblicke zusammen. Beispielhaft kann dies am Wellenkanal
283. Elsaesser, Thomas: »›Mit diesen Bildern hat es angefangen.‹ Anmerkungen zum politischen Film nach Brecht: Das Beispiel Harun Farocki.« In: Aurich, Rolf; Kriest, Ulrich (Hg.) 1998: Der Ärger mit den Bildern: Die Filme von Harun Farocki. Konstanz. S. 111-143, hier S. 129-143. 170
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gezeigt werden, der aus seinem isolierten wissenschaftlichen Verwendungszusammenhang herausgelöst und mit den Laboratorien der Nationalsozialisten analogisiert wird. Zu Beginn des Films stehen die Wellen des Wellenkanals als filmimmanente Metapher Farockis im Vordergrund, mit der er über die Off-Stimme auf sein eigenes, essayistisches Prinzip verweist: »Unregelmäßig, nicht regellos, so bindet diese Bewegung den Blick, ohne ihn zu fesseln, und setzt Gedanken frei.« In den letzten beiden Szenen rückt der wissenschaftliche Charakter des Wellenkanals als Kontrollinstrument in den Mittelpunkt. Zunächst erscheint er als mechanisches Gerät, das sich rhythmisch bewegt, um Wellen zu produzieren. Dann, zwischen Farockis Auftritt als Aufklärer und der Feststellung, dass Auschwitz von den Amerikanern fotografiert worden ist, noch einmal eine letzte Einstellung des Wellenkanals. Diesmal ist die Aufnahmeperspektive der Kamera so gewählt, dass der Zuschauer zentralperspektivisch in den wassergefüllten Kanal hineinschaut wie in einen Zugang zu einem großen Gebäude. Die Spiegelung, die von der Decke auf die Wasseroberfläche projiziert wird, hat eine große Ähnlichkeit mit einem Gleis und verstärkt die Assoziation, dass es sich um das Gleis der Zeichnung eines Konzentrationslagerhäftlings handelt, auf die zuvor Farocki in Druckbuchstaben die Forderung der Überlebenden geschrieben hat: »Den Zugang blockieren.« Die Forderung der Überlebenden gewinnt dadurch eine akute Qualität. Dazu die Off-Stimme: »1983, als die Zahl der Atomwaffen in der BRD wieder erhöht werden sollte, erinnerte Günter Anders an die Nichtbombardierung von Auschwitz und verlangte, die Wirklichkeit hat zu beginnen. Die Wirklichkeit hat zu beginnen, das bedeutet, die Blockierung der Zugänge zu den kontinuierlich bestehenden Mordinstallationen muss ebenfalls kontinuierlich sein. Zerstören wir die Möglichkeit, an diese Geräte heranzukommen – an die Atomraketen.« Die sich in Bewegung setzenden Wellen zerstören die Wasserspiegelung der Gleise und schlagen donnernd an den Strand. Farocki sprengt die kohärente Raum-Zeit-Beziehung permanent auf, um ein historisches Thema wie die Nichtbombardierung der Zugänge zu den Konzentrationslagern in die Gegenwart zu übertragen. Durch die Montage verliert der Wellenkanal, bekannt als wissenschaftliches Instrument, seinen objektiven Charakter. Der Wellenkanal und die Aufklärungsspezialisten sind sowohl zur gleichen Zeit als auch zu verschiedenen Zeiten in seinem Film präsent. Farocki nutzt auch die Montage, um Zusammenhänge nicht mehr einsehbarer Prozesse simultaner Vernetzung ästhetisch zu veranschaulichen. Er behandelt die Entwicklung, Spezialisierung und Interde171
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pendenz von Wissenschaft und Militär und die daraus resultierenden Konsequenzen medialer Aufklärung, die ihren Ausdruck in einer institutionalisierten Überwachung und Kontrolle findet. Motive einer scheinbar festgelegten Vergangenheit und Gegenwart, die in Bilder der Welt und Inschrift des Krieges in changierenden Kontexten und veränderter Form vorkommen, vermögen »in vollendeten, abgeschlossen erscheinenden Tatsachen deren vorangegangene Chance und Wahl aufscheinen zu lassen, sie auf neuen/ehemals aufgegebenen Sinn zu befragen«.284 Der Befragung und Thematisierung ihrer medialen Voraussetzungen kommt dabei eine zentrale Funktion zu, wie am Beispiel des Umgangs mit den Erinnerungsskizzen eines Augenzeugen exemplarisch aufgezeigt werden soll.
5.7.2 Die Validität der Bilder: dokumentarische Beobachtungen und Nachinszenierung im Dokudrama Die Sequenz beginnt mit vielen Zeichnungen. Zuerst einer Skizze mit schwarz ausgemalten Soldaten, die in der Nacht aussteigende Menschen auf einem Bahnhof bewachen. Die Off-Stimme fragt ironisch: »Warum die vielen Scheinwerfer, wird hier ein Film gedreht?« Es folgt ein zweites Bild mit schematisch angeordneten Lagergebäuden; am Horizont schwarze Rauchwolken, die über das Lager wehen. Ein drittes zeigt wieder bewachte Häftlinge, diesmal auf einem Waldweg. Doch Farocki lenkt sein besonderes Augenmerk auf eine weitere Skizze, die die angekommenen Gefangenen beim Aussteigen aus ihren Waggons zeigt: »Alfred Kantor, der drei Konzentrationslager, darunter Auschwitz, überlebte, machte gleich nach der Befreiung diese Zeichnungen. Einige nach Skizzen, die Mithäftlinge für ihn bewahrten. Die meisten nach seiner bildlichen Einprägung. Hier gibt er die Ankunft in Auschwitz wieder und beschriftet den Güterwaggon mit ›DR. Deutsche Reichsbahn Kassel‹. Der Ausstatter der Serie Holocaust ist dieser Schrift gefolgt.« Farocki konzentriert sich nun allein auf die von Kantor auf einem Waggon eingetragenen Initialen »DR«. Danach erscheint das dokumentarische Pendant als Standbildauszug aus der Serie sowie ein schon an anderer Stelle des Filmes dem Zuschauer vertraut gemachtes Motiv,
284. Becker, Jörg: »In Bildern denken. Lektüren des Sichtbaren. Überlegungen zum Essayistischen in Filmen Harun Farockis.« In: Aurich, Rolf; Kriest, Ulrich (Hg.) 1998: Der Ärger mit den Bildern: Die Filme von Harun Farocki. Konstanz. S. 7393, hier S. 92. 172
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das die Ankunft der Gefangenen auf einem Bahnhof zeigt. Farocki kehrt zur Skizze zurück, diesmal konzentriert er sich jedoch ausschließlich auf Gegenstände, die sich im unteren Drittel der Skizze des Augenzeugen befinden. Dazu die Off-Stimme: »Die Angekommenen müssen ihr Gepäck fallen lassen. Sonderkommandos werden es einsammeln.« Farocki entreißt dem Bilderstrom einer Fernsehserie eine Einstellung, die durch das Dispositiv des Films beschleunigt worden ist, und ermöglicht so eine detaillierte Gegenüberstellung des Bildes eines Überlebenden mit einem Auszug aus der Fernsehserie. Während das Bild aus der Fernsehserie die Aufmerksamkeit auf die Gesichter der Protagonisten lenkt und den Inhalt des Bildes auf den Aspekt der Emotionalisierung zwischen Opfer und Täter reduziert, um auf diesem Weg einem Massenpublikum eine problemlose und unmittelbare Bildverarbeitung anzubieten, vergrößert Farocki den Bildausschnitt auf der Skizze des Augenzeugen und macht dem Zuschauer bewusst, dass das Bild der Fernsehserie trotz seines Anspruches, die Wirklichkeit zu rekonstruieren, eine andere Wirklichkeit wiedergibt als die Skizze des Augenzeugen. Details, wie beispielsweise das heruntergefallene Gepäck, sind offenbar der filmischen Dramaturgie zum Opfer gefallen, obwohl sie für den Augenzeugen von hohem Stellenwert sind. Farocki macht Bilder über Bilder: Die Off-Stimme liest den Bildkommentar ab, der über einem Bild steht: »Zyklon-B-Transport in getarnten Lastwagen. Getarnt mit dem roten Kreuz.« Es erscheint ein Fahrzeug des Roten Kreuzes und eine Zeichnung eines Lagerinsassen, auf dem Betonpfähle des Konzentrationslagers zu erkennen sind, dann ein dokumentarisches Foto, das die Krümmung der Betonpfähle hervorhebt, und noch einmal die gleiche Zeichnung des Lagerinsassen. Am Ende dieser Sequenz ist eine Zeichnung von Gleisen zu sehen, die in das Konzentrationslager Birkenau führen. Dazu die Off-Stimme: »Alfred Kantors Zeichnungen sind auf Tatsächlichkeit aus. Tatsächlich hatten die Betonpfähle der Lagerumzäunung diese Krümmung. Und sie sollen Fotografien ersetzen, wie das Zeichnungen vor Gericht tun. Wo das Fotografieren nicht erlaubt ist. Einprägung von einem Ort, von dem es keine Überlieferung in Fotografien geben kann.« Farocki wiederholt Bilder in seinem Film nicht nur, er holt sie auch aus den Schubladen der Archive hervor und vergleicht sie miteinander. Die Neuordnung des Materials impliziert dabei auch die Sichtbarmachung dokumentarischer Konventionen. Fernsehserien wie Holocaust zielen bewusst auf das Bedürfnis des Publikums nach schneller Unterhaltung und vernach173
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lässigen dabei die genaue historische Rekonstruktion, wie die visuelle Beschleunigung und Kadrierung der Fernsehserie deutlich werden lassen.285
5.7.3 Farockis Dokumentarfilmbegriff Farocki wählt Ausschnitte und macht Hervorhebungen: Eine bedeutsame Komponente in der Definition des filmischen Raumes ist das Format und der Rahmen, die Kadrierung; sie normieren erheblich das Filmbild. Dem Rahmen der Bilder kann aber auch eine meta-phorische Funktion zugewiesen werden; je enger der Rahmen oder die Fokussierung, desto enger der Interpretationsspielraum für den Rezipienten. Häufig ist zu erkennen, wie die Hände des Autors Ausschnitte festlegen, Bilder beschriften und Bücher durchblättern. Mit dem Symbol der Hände weist Farocki auf den handwerklichen Charakter des Filmemachens hin, der seiner Arbeit – offenbar in einer Anspielung auf Vertov – den Gestus einer selbstreflexiven Nachvollziehbarkeit verleiht. Die körperlich inszenierte Präsenz des Autors macht für den Zuschauer kenntlich, dass es nur um individuelle, persönliche Deutungen und Interpretationen gehen kann, die an die Möglichkeiten und Grenzen der Subjektivität des Autors gebunden sind; Erfahrungen, die sich gewissermaßen »außerhalb« des Bildes abspielen und die Resultat der Recherchen des Autors sind. Die Differenz zwischen der subjektiven Wirklichkeit des Autors und der Repräsentanz der Bilder bleibt für den Zuschauer somit transparent.
285. In Holocaust dient die Vergangenheit im wahrsten Sinne des Wortes als Kulisse für Liebes- und Leidensgeschichten. Geschichte wird aus der Perspektive der Gegenwart als etwas Abgeschlossenes betrachtet. Während sich jedoch vorher alle Bemühungen um die Aufarbeitung des Faschismus auf eine gebildete Oberschicht reduziert haben, gibt es bis Holocaust, wie Kaes betont, im Fernsehen wie im Film und der Literatur nur unpolitische Unterhaltungsware. Der Autor weist darauf hin, dass Holocaust eine neue und breite Aufmerksamkeit an der deutschen Geschichte geweckt hat. Es entzündet sich aber nicht nur die Diskussion um die Darstellbarkeit von Geschichte an der Serie; zudem sind erzähltechnische und formalästhetische Innovationen dank des Erfolges von Holocaust in nachfolgende Sendungen aufgenommen worden. Der Begriff Holocaust wurde dank der Serie etabliert. Vgl. Kaes, Anton 1987: Deutschlandbilder: Die Wiederkehr der Geschichte als Film. München. S. 5-73, hier S. 42 ff. 174
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Abbildung 9: Die Festlegung des Bildausschnitts durch die Präsenz der Hände des Filmemachers
Quelle: Szenenbild aus Bilder der Welt und Inschrift des Krieges. Harun Farocki. Deutschland 1988 Das verloren gegangene Vertrauen in die suggestive Evidenz der Bilder ersetzt Farocki nicht durch eine neue, autoritativ abgesicherte Haltung, die nicht angreifbar wäre: Er tritt als Vermittler auf, der trotz oder gerade aufgrund der Vielzahl der verschiedenen Bilder und ihrer Diskurse nicht vorgibt, diese analytisch durchdrungen zu haben. Er isoliert Bilder aus ihrem ephemeren Funktionszusammenhang, um die vermeintlich monadische Aussage, die ihnen eingeschrieben ist, zu untersuchen. Dabei rücken die Voraussetzungen der Bildproduktion und -verwertung in den Mittelpunkt. Es werden überraschende Perspektiven der scheinbar eindeutig bestimmbaren Bildinhalte offen gelegt, die den Zusammenhang zwischen dem Verwendungszweck, der Gestalt und der Interpretation der Bilder zutage treten lassen. Farocki reißt Bilder aus ihrem institutionalisierten Funktionszusammenhang heraus und montiert sie neu, um auf den situationsabhängigen Bedeutungspotenzialen von Bildern zu insistieren. Zum Ausdruck kommen die ideologisch determinier175
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ten Konventionen des Dokumentarischen, die die Rationalität der Bildverwendung steuern.
5.8 Von Nebensachen und blinden Regisseuren: Alexander Kluges »Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit« »Wenn man denkt, wahrnimmt oder fühlt, macht man nicht mehr, sondern weniger Bilder.«286 Zu den divergierenden Konzepten von Farocki und Marker nimmt Alexander Kluge eine Zwischenstellung ein. Während Farocki den systematischen Monopolanspruch der Bildproduktion und -verwertung anhand ihrer Oberflächlichkeit hinterfragt, richtet Marker seine Aufmerksamkeit auf die Variabilität der Wirklichkeitsebenen im Subjekt und seinen Umgang mit Bildern: Erinnerung, Traum und Realität sind so ineinander verflochten, dass die Frage nach dem Dokumentarischen permanent in der Schwebe gehalten wird. Bei Kluge kommt beiden Aspekten eine große Relevanz zu. Einerseits setzt sich Kluge mit der selbstreferentiellen Oberflächlichkeit der Mediensysteme auseinander, andererseits geht es ihm darum, den Rezipienten zum Produzenten seiner eigenen Bilder zu machen. Sein Konzept der heterogenen Kombination inkommensurabler filmischer Elemente unterscheidet sich – trotz einiger Affinitäten – nachhaltig von Farockis und Markers Konzepten der Offenheit. Auch Kluge ließe sich problemlos als Filmautor von Essayfilmen einordnen, allerdings ohne dass damit eine Aussage über den spezifischen Charakter seines Konzeptes, ähnlich wie bei Chris Marker oder Harun Farocki, gewonnen wäre. Die selbstreflexive Arbeitsweise Kluges soll anhand einiger Passagen seines letzten langen Werkes, des 1985 fertiggestellten Films Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit, näher untersucht und herausgearbeitet werden. Dabei rückt besonders Kluges parodistischer und ironischer Blick auf die filmische Realität in den Vordergrund.
286. Alexander Kluge in einem Interview mit Rötzer, Florian: »Kino und Grabkammer. Gespräch mit Alexander Kluge.« In: Schulte, Christian (Hg.) 2000: Die Schrift an der Wand: Alexander Kluge: Rohstoffe und Materialien. Osnabrück. S. 31-43, hier S. 35. 176
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Exkurs: Die Parodie Kluges »Konzept der Nebensachen« konvergiert interessanterweise mit der Parodie. Im Allgemeinen wird das Wort »Parodie« etymologisch abgeleitet von den Begriffen »para«, was so viel wie »neben«, »gegen« oder »bei« bedeutet, und »odia«, was so viel wie »Gesang« bedeutet.287 Die Parodie, wie auch die mit ihr strukturell verwandte Ironie288, ist für Kluge eine Möglichkeit, um auf einer Metaebene seinen Protest gegenüber einer Realität zu äußern, die für ihn alles andere als realistisch, sondern vielmehr repressiv ist. Der Zuschauer soll »Eigenschaften von sich benutzen, die er sonst nicht gerne benutzt, die ihm eigentlich entwöhnt werden, durch Elternhaus, Schule, Massenmedien – die erziehen in einer bestimmten Richtung, nämlich zur Überproduktion von Werturteilen und zur Unterproduktion von unmittelbarer Wahrnehmung«.289 Mit anderen Worten: Kluges Konzept zielt auf den mündigen Rezipienten. Die Erfahrungen des Zuschauers einerseits und die Wirklichkeit der Medien andererseits bilden zwei hermetische Blöcke, die nicht miteinander korrespondieren. Sowohl im fiktionalen als auch im dokumentarischen Kontext kann der Zuschauer in die vorgestellte Wirklichkeit nicht mehr eingreifen, die er als abgeschlossen präsentiert bekommt. Kluge fasst Film als unkritisches Medium auf und glaubt, dass der Zuschauer der Suggestionskraft des Mediums erliegt, solange keine Präventivmaßnahmen ergriffen werden. In diesem Zusammenhang eignet sich die Parodie als methodisches Instrument, um beispielsweise die journalistischen Konventionen dokumentarischer Sendungen mittels einer Relativierungsstrategie zu imitieren und herabzusetzen. Bestimmte Standardtopoi wie z.B. die übertriebene Ernsthaftigkeit der Interviewsituation, die
287. Vgl. Müller, Beate 1994: Komische Intertextualität: Die literarische Parodie. Trier. S. 16 f.
288. »In a general sense parody is related to irony, in the terms of an older rhetoric, as the ›dissimulation‹ of an utterance. And both irony and parody confuse the normal processes of communication by offering more than one message to be decoded by the reader, which may also serve to conceal the author’s intended meaning from immediate interpretation.« Rose, Margaret A. 1979: Parody/Meta-Fiction. London. S. 51. 289. Alexander Kluge in einem Interview mit Ulrich Gregor 1976. In: Schulte, Christian (Hg.) 1999: Alexander Kluge. In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik. Berlin. S. 224-245, hier S. 242. 177
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Spielregeln eines fest gefügten Rede- und Antwortspiels vermeintlicher Experten290, das Aufgreifen von Pseudofakten und eine übertriebene Detailversessenheit, mit dem Ziel, die Glaubwürdigkeit zu erhöhen und Objektivität herzustellen, das alles lässt einen Grad an Stereotypisierung erkennen, der im permanenten Widerspruch zur Lückenhaftigkeit des menschlichen Erinnerungsvermögens und der realen Zusammenhanglosigkeit der Wirklichkeit steht. Die selbstreflexive Miteinbeziehung des Produktionskontextes bietet eine Möglichkeit, den üblichen narrativen Faden zu unterlaufen und darüber hinaus die Illusion von Objektivität zu suspendieren. Die daraus resultierende Irritation soll eine Offenheit in der Sinnproduktion des Zuschauers ermöglichen, die von Kluge bewusst geschaffen wird, um den Zuschauer aus seiner passiven Haltung zu befreien und ihn aufzufordern, seine eigenen Erfahrungen zu aktivieren. Dass dies die Untersuchung historischer Wirklichkeit mit einschließt, lässt sich an der im Kaptel 5.8.2 vorgestellten Interviewszene über ein polnisches Ehepaar im Jahre 1939 illustrieren. Die Art und Weise von Kluges Interviewführung muss in Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit auch vor dem Hintergrund seiner biografischen Entwicklung betrachtet werden: Nachdem Kluge 20 Jahre lang als Filmemacher und Literat den Fragen von Journalisten ausgesetzt gewesen ist, schlüpft er in den 80er Jahren selbst in die Rolle eines Journalisten. Zur Drehphase von Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit hat Kluge bereits Interviews für sein privates Fernsehprogramm geführt.291 Längere Interviewsequenzen, darunter eine, die ein Journalist mit einem Wissenschaftler namens Dr. von Gerlach in einem Studio führt, sollen an dieser Stelle exemplarisch für Kluges parodistischen Ansatz vorgestellt und diskutiert werden.
5.8.1 Authentizität? Das Interview der Nebensachen Kluges Film Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit beginnt mit dokumentarischen Außenaufnahmen von Hochhausfassaden, der Deutung eines animierten Sternbildes und der stilisierten Darstellung eines Saurier-Eis. Im Stil eines Voyeurs richtet Kluge die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf den Ausschnitt einer beleuch-
290. Zum Beispiel werden Lehrer, Wissenschaftler, Richter, Anwälte und Journalisten in vielen Filmen Kluges parodiert.
291. Vgl. Lutze, Peter C. 1998: Alexander Kluge: The Last Modernist. Detroit. S. 171. 178
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teten Zimmerzelle eines Hochhauses, in der ein Mensch arbeitet. Die Isolation des Menschen, die durch den eng begrenzten Raumausschnitt spürbar wird, erstreckt sich sowohl auf das von der Arbeitswelt physisch kontrollierte Individuum als auch auf seine damit verbundene geistige Reglementierung. Unter diesem Vorzeichen muss eine Großaufnahme von Dr. von Gerlach, die die folgende Interviewsequenz einleitet, den Zuschauer überraschen. Umso mehr, als die Präsentation von Dr. von Gerlach eine von der üblichen Fernsehberichterstattung völlig abweichende Inszenierung darstellt. Dr. von Gerlach spricht von rechts nach links vom Zuschauer abgewandt in Richtung des von unten in den Bildausschnitt hineinreichenden Mikrofons. Das übliche Schuss-Gegenschuss-Verfahren, in der Regel ein Mittel zur Identifikationsstiftung des Zuschauers mit den Schauspielern, wird nicht eingesetzt. Ein Journalist stellt zunächst aus dem Off Fragen: »Dr. von Gerlach, Sie brachten gestern in ihrer Talkshow diesen interessanten Vergleich? Welchen? Können Sie diesen Vergleich für unsere Zuhörer noch einmal wiederholen? Ich brachte mehrere Vergleiche. Und ich meine diesen einen. Sie wissen schon! Ich sage doch in einer Talkshow nicht nur einen Satz. Es war auch kein Satz, es war eine Zahlenangabe. Zahlenangabe? Es ist mir aufgefallen. Sie haben es sich aber nicht gemerkt! Sagen wir mal, ich kann es nicht wiederholen. Und wodurch haben Sie es sich gemerkt? Weil ich noch dachte, das wird die Zuhörer interessieren. Was es war, können Sie nicht mehr sagen? Nein, nur, dass es die Zuhörer interessiert. Bezogen sich diese Zahlenangaben auf Kilogramm, Grad Celsius, Produktionsziffern, auf Jahreszahlen? Das Letzte, es ging um das Jahrhundert. War es vielleicht der Satz, dass wir 16 Jahre von der studentischen Protestbewegung entfernt sind? Genau das! Dr. von Gerlach, wenn Sie bitte für unsere Zuhörer dieses Zahlenwerk nochmals wiederholen könnten. Es sind jetzt 16 Jahre ins Land gegangen seit dem Höhepunkt der studentischen Protestbewegung 1968. In weiteren 16 Jah179
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ren marschieren wir, wenn wir nichts dagegen tun, ins 21. Jahrhundert.« Mit einem Schwenk auf den Journalisten wird nun dessen Sitzhaltung für den Zuschauer zum ersten Mal sichtbar; interessanterweise entspricht die Position des Journalisten spiegelverkehrt der von Dr. von Gerlach. Diese Raumkomposition symbolisiert auf der Bildebene die bis zur Indifferenz verschobenen Rollen des Interviews: Es stellt sich dem Betrachter die Frage, wer Journalist und wer Interviewer ist. Kluge treibt die sich einstellende Distanzierung des Zuschauers zu dem inhaltlichen und formalen Modus diese Gespräches weiter auf die Spitze. Der Journalist erwidert auf die letzte Äußerung von Gerlachs: »Wenig vorbereitet. Wie es aussieht, wenig vorbereitet. Ja – und 16 Jahre davor? Wovor? Sie hatten gestern gesagt: 16 Jahre zuvor. Was ist das für ein Interview oder Ratespiel für ihre Zuhörer? Sie müssen wissen, was Sie fragen wollen! Ja, das weiß ich ja. Dann fragen Sie! Das tue ich ja! Sie hatten gesagt, äh, irgendetwas mit 16 Jahren zuvor? Vielleicht 16 Jahre vor 1968? Ja. Genau das. Da hatten wir 1952. Und weiter? Sie müssen sich das einen Moment vorstellen, was es ist, 1952. Es ist etwas anderes als 1968 oder 1936. Ja, genau so ging es weiter, 1936! Das ist aber keine Frage. Ohne Frage ging es weiter. Sie müssen aber jetzt etwas fragen für ihre Zuhörer! Ja. Meine Zuhörer und Zuhörerinnen, ich bin noch bei 1952, mir vorzustellen, was das für ein Jahr ist. Und dann 1936. Ende des ersten Vierjahresplanes und vier mal vier Jahrespläne wären 16 Jahre. Und diese 16 Jahre, sagt Dr. von Gerlach, regieren gewissermaßen … diese Zahl 16, meine ich, regiert gewissermaßen das Jahrhundert, so dass also mit dieser Zahl die Kontrapunkte 180
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des Jahrhunderts deutlich werden. Mit 15, 17, 12, 22, 18 oder 32 dagegen nicht. Sie haben 16 Jahre vor 1936 das Jahr 1920 und 16 Jahre vor 1920 das Jahr 1904! Mal 6 mal 16 ist 2000 bzw. 24 Vierjahrespläne? So dass man das Jahrhundert in handliche Vierjahrespläne zerlegen könnte. Ja. Sehen Sie, genau an dieser Stelle dachte ich, das könnte die Zuhörer interessieren.« Die mystische Theorie der temporalen Zyklen, die eine wissenschaftlich-historische Realität verbürgen soll, wird in ihrer Sinnlosigkeit immer deutlicher. Der dabei ausgeübte Sinnzwang von Dr. von Gerlach, der den Journalisten auffordert, Fragen zu stellen, verstärkt noch die distanzierte Haltung des Zuschauers zu dieser Kommunikationssituation. Denn es ist gleichgültig, welchen Gehalt oder Sinn die Fragen haben, entscheidend ist allein, dass das Ritual des FrageAntwort-Spiels beibehalten wird. Der übertriebene Faktenhunger entlarvt – zusammen mit der Armut des Sprachdialogs der Akteure – eine Disproportionalität, mit dem Ziel, die Lächerlichkeit der Definitions- und Eingrenzungsversuche von Geschichte darzustellen, die auch den letzten Abschnitt dieses Gesprächs prägt: »1904 und 1920 ist natürlich ein ziemlicher Unterschied. Ziemlich. Ja, ziemlich. Und 1936 auch. Das kann man wohl sagen. Aber 1984 und 2000 nicht! Was nicht? Kein Unterschied! Woher wollen sie das wissen? Hab’ ich im Urin. Na ja. Dr. von Gerlach, finden Sie nicht auch etwas viel Mystik in diesen Zahlen? Wieso? Ich dachte … Unser 20. Jahrhundert, ohne weiteres einteilbar in Arbeitsabschnitte von jeweils vier mal vier Jahren, hat doch nichts Praktisches gearbeitet. Hätte können! Ja.« 181
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Die Suggestion von Authentizität dieser nachinszenierten Kommunikationssituation parodiert sowohl den Datenfetischismus und die Diskurswucherungen der Wissenschaft292 als auch den Mangel an Hintergrundinformationen und Kontextanalysen in den Medien, deren Aussagen in einem selbstreferentiellen System nicht nur recycelt werden, sondern dabei ihre Bedeutung und ihren Zusammenhang verlieren. Die so generierte »postmoderne Unübersichtlichkeit«, ein Ergebnis der selbstreferentiellen Affirmation, die vom Mediensystem und seinen Protagonisten an dieser Stelle als Scheindialog initiiert wird, stellt Kluge als Obszönität einer Authentisierungsstrategie dar, die nichts zum Ziel hat, außer sich zu reproduzieren. Die restriktive Form, die der Mimesis dieses Interviews zugrunde liegt, verfestigt nicht seinen Status, sondern regt den Zuschauer zu seiner Überschreitung und Relativierung an. Jede formelle Trennung und Benennung von Geschichte offenbart in diesem Exempel den diskursiven Definitionszwang, der besonders in journalistischen Interviews häufig zutage tritt. Es sind die scheinbaren Auslassungen, Redundanzen und Fehler, die Kluge bewusst zur Darstellung bringt und die er als »Nebensachen« bezeichnet, um den fiktiven Charakter jeglicher Interviews hervorzuheben; Interviews, die gereinigt von ihren Voraussetzungen, Widersprüchen und Paradoxien dem Rezipienten in leicht konsumierbarer Form angeboten werden. »Hab’ ich im Urin« ist dahingehend ein Eingeständnis des Journalisten, das für Kluge eine elementare Funktion hinsichtlich seines Konzeptes der Nebensachen einnimmt. Es handelt sich um eine individuelle Regung des Journalisten, die nicht Opfer der Zensur respektive der Objektivitäts- und Rationalisierungsbestrebungen der etablierten Medienproduktion geworden ist. Es sind gerade deren Instanzen, die einen Realismus produzieren, der für Kluge alles andere als menschlich ist. Mit der trivial wirkenden Äußerung des Journalisten rekurriert der Filmemacher auf die Darstellung eines lebendigen Zusammenhanges, der in der offiziellen Sprache funktional ausgerichteter Interviews ausgespart bleibt. Der Filmemacher und Medienproduzent Kluge widersetzt sich den zu binären Frage-Antwort-Schemata verkommenen Kommunikationssituationen des Journalistenalltags.293 An der dialektischen Intensivierung
292. Vgl. Foucault, Michel 1976: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit. Bd. 1. Frankfurt a. M. S. 67 f.
293. »Man kann […] durch binäre Logiken etwas herstellen, was augenscheinlich funktioniert; aber es verändert radikal die authentischen Verhältnisse in der 182
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der Referentialität in der modernen Kultur, die dazu neigt, wie in der vorgestellten Interviewsituation auf sich selbst zurückzuverweisen und ihre eigene Produktion als ihren Inhalt zu bezeichnen, entzündet sich Kluges Kritik. Eine derartige Selbstbespiegelung findet sich sowohl in Interviews als auch in den Verglasungen der Hochhäuser, die zwar ihre Umwelt reflektieren, hinter deren Oberfläche aber die wahren Machtverhältnisse umso besser verborgen bleiben. Aus dieser Perspektive kann es auch keinen Code der Herrschenden mehr geben, der ein Angriffsziel wäre. Das Typische an einem Medienkonzern ist, dass er »unsichtbar« geworden ist. Auch die Parodie, die standardisierte Codes imitiert, um auf deren Basis Konventionen zu brechen, wäre obsolet. Nicht Darstellung von Konventionen, das heißt ihre Imitation zur kritischen Hinterfragung und Offenlegung, ist demnach gefragt, sondern ihre Wiederverwertung und Ausschlachtung im kommerziellen Mediensystem, die »historisch neuartige Konsumgier auf eine Welt, die aus nichts als Abbildern ihrer selbst besteht und versessen ist auf Pseudoereignisse und ›Spektakel‹ jeglicher Art (so etwa die ›Situationisten‹)«.294 Eine solche Haltung spiegelt sich nach Jameson im Begriff der Pastiche wieder, die von nun an die Parodie ersetzt: »Pastiche ist die neutrale Praxis dieser Mimikry ohne die an ein Original gebundenen tieferliegenden Beweggründe der Parodie, ohne satirischen Impuls, ohne Gelächter und ohne die Überzeugung, daß außerhalb der vorübergehend angenommenen mißgestalteten Rede noch so etwas wie eine gesunde linguistische Normalität existiert.«295 Vor diesem Hintergrund ist die Entität einer Mitteilung für Kluge nicht ausschlaggebend. Um ansatzweise das Wesen einer Mitteilung zu erkennen, dürfen die Grundlagen ihrer Entstehung, der Produktionszusammenhang und die Subjektivität ihrer Protagonisten nicht ausgeblendet werden. Die Voraussetzungen einer Mitteilung sind für Kluge von gleich hohem Stellenwert wie die Mitteilung selbst: »Das Unwichtige ist genauso wichtig wie das Wichtige. Anders gesagt: Etwas ist für das Resultat unwichtig geworden, im Re-
Wirklichkeit: Die Nebensachen sind weg.« Kluge, Alexander 1985: »Die Macht der Bewußtseinsindustrie und das Schicksal unserer Öffentlichkeit.« In: Schulte, Christian (Hg.) 1999: Alexander Kluge, S. 165-221, hier S. 183. 294. Jameson, Fredric: »Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus.« In: Huyssen, Andreas; Scherpe, Klaus R. (Hg.) 1997: Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. 5. Auflage. Reinbek. S. 45-102, hier S. 63. 295. Vgl. ebd., S. 62. 183
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sultat verschwunden. Aber den Prozess hätte es ohne dieses ›Unwichtige‹ nicht gegeben.«296 »Die Dinge zu fühlen«, funktioniert nach Kluge – mit den Möglichkeiten der Parodie, ganz in der Tradition formalistischer Überlegungen – nur über eine permanente Herausforderung der Wahrnehmungskonventionen, indem die »Nebensachen« die »Hauptsachen« lächerlich machen. Die vorherrschend selbstreferentielle Praxis des Mediensystems und seine Authentisierungsstrategien, wo Argumente zitiert und widergespiegelt werden, statt kritische Reflexionen zu ermöglichen, werden von Kluge parodiert.
5.8.2 Historisch ausgeblendete Nebensachen Nach der Fetischisierung historischer Daten, die andeutet, dass der Antagonismus zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufgehoben ist, gibt die unmittelbar folgende Sequenz direkten Einblick in Kluges Konzept historischer Wirklichkeit. Kluge setzt seine eigene Stimme ein, um aus dem Off die dargestellten Szenen zu kommentieren. Das Publikum distanziert sich dabei vom Geschehen, da es daran erinnert wird, dass die ästhetischen Darstellungen an ein künstlerisches Subjekt gebunden sind: »Sylvester 1939 in Warschau. Polen ist untergegangen. Die Filmstudios stehen leer. Das Hausmeisterehepaar Vronski bewacht die leeren Studios, die Filmnegative, die Restbestände, die Filmproduktion. Das Ehepaar hat eine Tochter.« Vater, Mutter und Tochter sitzen erwartungsvoll an einem Tisch, blicken Richtung Kamera und verharren zunächst in ihren Positionen, die den inszenierten Charakter der vermeintlich dokumentarischen Aufnahmen selbstreflexiv darstellen. Die Regieanweisung erfolgt und die Schauspieler heben ihre Gläser, um sich zuzuprosten.297 Auf weit verbreitetes kompiliertes Dokumentarfilmmaterial verzichtet Kluge. Zum einen ist es ohnehin nur geeignet, die
296. Kluge, Alexander 1983: »Thesen 1-4.« In: Schulte, Christian (Hg.) 1999: Alexander Kluge, S. 155-163, hier S. 156.
297. Einen nicht weniger hohen Inszenierungsgrad besitzen die Standardtopoi des gängigen Wochenschaumaterials, die den Kampfeswillen, moderne Technik und die Dynamik der Kriegsmaschinerie unter Beweis stellen sollen und jeden Eindruck einer Inszenierung verdecken wollen. Beispielhaft sei auf die beliebte Szene von Motorradfahrern verwiesen, die in Sichtweite des Feindes (wohl eher der Kamera) von ihrem Gefährt stürzen und in Deckung gehen, um ihre Kampfbereitschaft zu betonen. 184
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faschistischen Ausblendungen zu reproduzieren,298 zum anderen hat Kluge so die Möglichkeit, eine private Lebensgeschichte nachzuinszenieren, die von der überlieferten Propaganda systematisch ausgeklammert wurde. Eine weitere Abweichung von der üblichen Darstellung historischer Ereignisse im Fernsehen stellt die Erklärung Kluges aus dem Off dar, dass restriktive Maßnahmen der Besatzer umgangen wurden: »Trotz strengen Verbotes auch im Kriegswinter Sylvesterfeuerwerk.« Der diegetische Ton mehrerer nacheinander in der Nacht explodierender Feuerwerkskörper, die das Gitter eines Fensters kurz erleuchten, symbolisiert die Ambivalenz der Situation: Die Freude über das anbrechende Jahr wird vom Schrecken des Krieges überlagert. Der Lärm des Feuerwerks und die Bilder des hell erleuchteten Nachthimmels assoziieren gerade das, was nicht zu hören und zu sehen ist: Geschützfeuer. Die Gesichtszüge der Tochter, die mit weit geöffneten Augen Kekse kauend ihre Aufmerksamkeit auf das vermeintliche Feuerwerk richtet, verraten metaphorisch das Gegenteil: Es ist der Schrecken, der ihr im Gesicht geschrieben steht. Ebenso blickt ihr Vater auf, als ein Uniformierter die Szene betritt. Dazu der Off-Kommentar Kluges: »Ein Angehöriger des deutschen Heeres, Siegfried Welp, hat sich in die Tochter des Hauses heftig verliebt.« Ein Liebesleben, das aus Sicht der Eltern vor allem funktionalen Zwecken dient. Der Soldat legt neben seinem Helm zwei Dosen und eine Flasche Sekt auf den Tisch, begrüßt die Anwesenden und trinkt mit seiner Geliebten. Langsam schwenkt die Kamera dreimal zwischen den nachdenklichen Gesichtern hin und her, bevor ihr distanziertes Verhältnis sichtbar wird. Kluge aus dem Off: »Die Eltern versprechen sich von der Beziehung zu dem Feindsoldaten zusätzlichen Schutz für die von ihnen gehüteten Schätze der Filmgeschichte. Sie sind mit vielem einverstanden.« Was bleibt, ist ein kritischer Gesichtsausdruck der Mutter, die misstrauisch das
298. Vor diesem Hintergrund greift Kaes das Kompilieren alten Wochenschaumaterials im Fernsehen an: »Hier unterminiert das dokumentarische Verfahren, das sich damit brüstet, ausschließlich zeitgenössisches Material zu verwenden, alle kritischen Intentionen der Filmemacher. Da Verbrechen, Leiden und Widerstand nicht dokumentiert worden sind (zumindest aus Sicht der Opfer), können sie nach der Logik des Films auch nicht gezeigt werden: Was nicht gefilmt wurde, hat es nicht gegeben.« Kaes, Anton 1987: Deutschlandbilder: Die Wiederkehr der Geschichte als Film. München. S. 14-15. 185
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Liebespaar beäugt. Diese Liebesgeschichte, so wird deutlich, ist nicht subjektiv bestimmt, sie ist ein Nebenprodukt des Krieges. Das Aufblitzen von Feuerwerksraketen, die von außen ein zweites Mal das Gitter des Fensters erleuchten, macht symbolisch deutlich, wie sehr die Gefühle und Aktionen der Beteiligten den Erfordernisse der Geschichte untergeordnet sind. Für die zeitliche Zuordnung der Szene wirkt sich irritierend aus, dass nun bunte Farben des Feuerwerks im Bild zu erkennen sind. Der scharf abgegrenzte Dualismus zwischen Vergangenheit (schwarz-weiß) und Gegenwart (Farbe) wird aufgegeben: Rotes Feuerwerk erhellt fragmentarisch den Körper der Frau, den der Soldat in der Dunkelheit ertastet. Dabei löst sich auch die dokumentarische Verankerung der Ereignisse, die Kluge mit seiner einleitenden Datierung des Geschehens im Gestus eines berichtenden Erzählers angegeben hat, zunehmend auf. Bis zu den eindeutig schwarz-weiß gehaltenen Stellen verfügt der Zuschauer über die Orientierung, das Geschehen des Films anhand der eindeutig kodifizierten Bezugsgröße als Vergangenheit zu bestimmen und mit seinem historischen Wissen zu konfrontieren. Doch diese Pole bricht Kluge mit Hilfe seiner Farbkomposition auf. Die Genredichotomien, die Vergangenheit von Gegenwart, Dokument von Fiktion trennen, können nun nicht mehr voneinander unterschieden werden; die Vergangenheit wird von einer Gegenwart absorbiert, die sich auch auf andere Zeitspannen ausdehnt. Die teilweise Vermischung von Bildern, die sowohl der Gegenwart als auch der Vergangenheit zugeordnet werden können, legt den heterogenen Charakter historischer Wirklichkeit offen und verweist selbstreflexiv auf die Möglichkeit des Films, mit variablen Bildern historischen Sinn neu zu konstruieren. Eine solche Möglichkeit, die die Wandlungsfähigkeit historischer Wahrheit hervorhebt, artikuliert für Kluge den Protest gegenüber einer angeblich objektiven und determinierten Wirklichkeit, die als historische Wahrheit in Geschichtsbüchern und Fernsehdokumentationen kursiert.299 So ist die Frage der Darstellbarkeit von Geschichte300, alternativ zu den für den
299. Rainer Stollmann stellt dazu fest: »Wenn Realität, da unterdrückerisch und fiktional, gerade nicht realistisch ist, kann Realismus nur aus Protest entstehen.« Rainer Stollmann: »Alexander Kluge als Realist.« In: Böhm-Christel, Thomas (Hg.) 1983: Alexander Kluge. Frankfurt. S. 245-278, hier S. 255. 300. Eike Wenzel definiert im Rückgriff auf den Geschichtstheoretiker Hayden White einen Geschichtsbegriff, gegen den sich Kluge mit seiner Konzeption richtet. 186
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heutigen Fernsehzuschauer lediglich in narrativen und daher fiktionalen Zusammenhängen verfügbaren Formaten, für Kluge untrennbar verknüpft mit der Offenlegung der ausgegrenzten medialen Voraussetzungen: »Es muß möglich sein, die Realität als die geschichtliche Fiktion, die sie ist, auch darzustellen.«301 Eine radikal authentische Beobachtung besteht für Kluge in den Widersprüchen und den ausgeblendeten »Nebensachen«, die sich darin wiederfinden und die sich von dem dominanten und ideologisch eingefärbten Scheinrealismus der etablierten Medien absetzen.302 Kluges Konzept von Geschichte als »Arbeit an einem Wahrnehmungsverhältnis und ein[em] fortwährende[n] Infragestellen von Geschichtsbildern«303 setzt sich auch in den Stummfilmzitaten fort, die er in einer weiteren Filmsequenz einsetzt.
5.8.3 Das unperfekte Kino: Heterotropien und Schockapperzeption Von den fragmentarisierten Körperteilen und Handlungen des Liebespaares leitet Kluge auf Szenen über, die auf den ersten Blick den formalästhetischen Modus der erotischen Szene des Liebespaars fortführen, semantisch jedoch als Filmzitate erkennbar sind. Dem ausgestreckten Arm einer Dame, die hinter einer Tür steht, bindet ein nach vorne gebeugter Mann ein Armband um. Zum Abschluss küsst er ihr respektvoll die Hand. Die Stimme eines Kommentators im Stil des Kulturfilms setzt ein: »Das Kino ist geboren. Es wird nun leben, wachsen, sich technisch vervollkommnen, alle Arten von
Danach ist Geschichte eine »spezifische Form der Erzählung, deren strukturierende Eigenschaften vergangene Ereignisse zu sinnvollen Geschichten zusammenschließt«. Wenzel, Eike 1994: »Kon-Texte. Einige Beobachtungen zum Umgang mit Geschichte in Alexander Kluges Patriotin.« In: Augen-Blick. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft. Heft 17, April 1994. Marburg. S. 68-94, hier S. 68. 301. Kluge, Alexander 1975: »Die schärfste Ideologie: daß die Realität sich auf ihren realistischen Charakter beruft.« In: Schulte, Christian (Hg.) 1999: Alexander Kluge, S. 127-134, hier S. 127. 302. Vgl. Kluge, Alexander 1975: »Die realistische Methode und das sogenannte ›Filmische‹.« In: Schulte, Christian (Hg.) 1999: Alexander Kluge, S. 114-122, hier S. 121. 303. Wenzel, Eike Friedrich: »Baustelle Film. Kluges Realismuskonzept und seine Kurzfilme.« In: Schulte, Christian (Hg.) 2000: Die Schrift an der Wand: Alexander Kluge: Rohstoffe und Materialien. Osnabrück. S. 103-118. 187
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Tricks erfinden, den Ton und die Farbe. Aber der moderne Film, der heute 50 Jahre alt ist, vergisst nicht die Pioniere aller Länder, denen der Mensch die Verwirklichung seines uralten Traumes verdankt, das lebende Bild der Bewegung.« Das Bild wird geteilt. Während in der oberen Hälfte zunächst eine Parade vorüberzieht, dann die Einstellung eines Ziffernblattes und schließlich die Karten eines Kartenspieles folgen, kann währenddessen in der unteren Hälfte der Untergang eines Kriegsschiffes verfolgt werden, von dem die letzten Überlebenden über die Reling springen. Hier zitiert Kluge die Grundprinzipien des Films: Das Ziffernblatt symbolisiert die filmische Zeit und der Untergang des Schiffes den Aspekt der Bewegung im Raum; beide Komponenten konfrontiert Kluge allerdings mit der euphorischen Technikbegeisterung des Kommentators, so dass ein kritischer Beigeschmack in Bezug auf die Möglichkeiten und Entwicklungen des Kinos zurückbleibt. Der Blick zurück in die Filmgeschichte legt nahe, dass Kluge einen nostalgischen Einblick in das Archiv geben will, das das polnische Ehepaar bewacht; darüber hinaus ästhetisiert er mit den alten Ton- und Bildmaterialien die Angstzustände und Zerstörungsphantasien der Betroffenen. Zugleich folgt Kluge mit den historischen Filmzitaten seiner Philosophie des unperfekten Kinos, das anders als die technisch perfekten Bilder der Gegenwart – wie schon im Kapitel über Lumière dargestellt – dank seiner immanenten technischen Unvollkommenheit selbstreflexiv den inszenierten Modus seiner Bilder offen legen kann. Die irritierende Erzählsituation dieser Sequenz (zunächst dokumentarisch, dann fiktional und gegen Ende »imaginär«) setzt die üblichen Koordinaten von Raum und Zeit filmischer Erzählung außer Kraft; die fehlenden Orientierungsmerkmale für die Bestimmung von Geschichte lassen »Unorte« (Heterotropien) entstehen, die es im etablierten Geschichtsverständnis nicht geben kann und in denen potenziell alle filmischen Möglichkeiten zur Anwendung kommen können. Der Zuschauer soll dazu animiert werden, diese semantischen Leerstellen mit seinen eigenen Assoziationen und Erinnerungen zu füllen. Der Verzicht auf einen eindeutig modellierten Sinn ist Ausdruck einer Haltung, die bewusst macht, dass Geschichte prinzipiell fremd und diskursiv nicht völlig erklärbar ist. Dieser Haltung folgt auch die Montage, die dem Rezipienten ständig die Frage nach dem Zusammenhang vor Augen führt. Zu den Grundtechniken des filmischen Erzählens, die Kluge thematisiert, gehört auch die Montage. Kluge antwortet nicht allein reflexiv auf das Diskontinuierliche und Lückenhafte eines subjekti188
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ven Geschichtsbegriffes, indem er die Formseite hervorhebt, er integriert auch offen seine Vorstellungen, um den Inhalt seiner historischen Nachinszenierung mit Phantasien und Gefühlen anzureichern. Dabei lenkt der Filmemacher die Aufmerksamkeit auf die Formbrüche. Die üblicherweise durch die Montage ausgelöste Dramatik, die kraft ihrer Wirkungsmächtigkeit den Rezipienten fesselt, verhindert nach Kluge ein Nachdenken, das er mit Hilfe der Schockapperzeption im Kopf des Zuschauers herstellen will: »Durch die Montage der Bilder versuche ich, Zwischenräume zu schaffen, die nicht Bilder werden, sondern in denen ein drittes Bild entstehen kann, eine Epiphanie.«304 In Anlehnung an Eisensteins Kollisionsmontage entsteht aus dem Kontrast zweier Einstellung etwas Drittes. Während bei Eisenstein der Regisseur durch die Anordnung der Einstellungen einen vorherbestimmbaren Synergieeffekt beim Zuschauer erzeugen kann (beispielsweise bedeutet die Anordnung der Motive Wasser und Auge Weinen)305, setzt Kluge auf die unbestimmbare Eigenbewegung des Betrachters, die eine individuelle Assoziation generieren soll. Roberts beschreibt die von Kluge intendierte Gedankenproduktion des Zuschauers als etwas, »was zwischen den fabrikmäßigen Antworten liegt, und dieses Dazwischen ist der Schlüssel zu Kluges Montageprinzip. Es ist der Ort der wirklichen, zersprengten menschlichen Bewegungen, also alles, was der Formulierung und Fixierung widerstrebt.«306
5.8.4 Der blinde Regisseur: Bildzertrümmerung Kluges Filme gelten als Ausdruck seiner literarischen Theorie; ihr selbstreflexiver Gehalt ist – wie an dieser Stelle weiter dargestellt und untersucht werden soll – unabweisbar. Insbesondere auch mit den Schlusssequenzen von Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit lässt sich veranschaulichen, wie Kluge das Verhältnis von Me-
304. Kluge in einem Interview mit Rötzer, Florian: »Kino und Grabkammer. Gespräch mit Alexander Kluge.« In: Schulte, Christian (Hg.) 2000: Die Schrift an der Wand, S. 31-43, hier S. 35. 305. Vgl. Scherer, Christian: »Alexander Kluge und Jean-Luc Godard. Ein Vergleich anhand filmtheoretischer ›Grundannahmen‹.« In: Schulte, Christian (Hg.) 2000: Die Schrift an der Wand, S. 79-102, hier S. 91. 306. Roberts, David: »Alexander Kluge und die deutsche Zeitgeschichte: Der Luftangriff auf Halberstadt am 8.4.1945.« In: Böhm-Christel, Thomas (Hg.) 1983: Alexander Kluge. Frankfurt. S. 77-116, hier S. 105. 189
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dien und deren Konventionen zur Subjektivität des Autors auffasst. Zunächst treten in der Rolle des Stichwortgebers für Kluges Theorieansätze paradigmatisch ein Regisseur und sein Wirken in Erscheinung. Zu Beginn dieses letzten Abschnittes konzentriert sich Kluge vordergründig auf die Vorführmodalitäten des Filmes: Ein Regisseur blickt geradewegs in den flimmernden Strahl des Vorführprojektors (s)eines Films. Kluge kommentiert: »Wenn der Regisseur, was neuerdings häufig vorkommt, direkt in den Projektionsstrahl hineinsieht, sagen die Assistenten, er sieht ins Licht. Er nimmt seine tägliche Lichtdusche.« Analog dazu wird das Gesicht des Regisseurs von einem Lichtkegel hell erleuchtet. Die Szene präsentiert jedoch nicht nur eine skurrile Wahrnehmungssituation im Kino; vielmehr erinnert die Anordnung des Lichtstrahles, der durch eine kleine Öffnung in den verdunkelten Raum eintritt und auf die Gesichtsfläche des Regisseurs trifft, an die Lochkamera und die Projektionstheorie des erblindeten Johannes Kepler. Dieser hatte in Untersuchungen über deren bilderzeugende Wirkung entdeckt, dass Sinnestäuschungen nicht allein in der Konstruktion der Lochkamera zu suchen sind, sondern in der Funktion des Auges, auf dessen konkaver Netzhaut Bilder entstehen.307 In einem Interview lässt Kluge seine Bewunderung für Johannes Kepler durchblicken: »Trotz dieser Blindheit besaß Kepler Kenntnis der klassischen geometrischen Figuren und war so in der Lage festzustellen, dass die Planeten elliptisch um die Sonne kreisen.«308 Für Kluge bedeutet Blindheit nicht allein den Verlust von Sinneserfahrungen, sondern sie bietet die Chance, die von ihm konstatierte passive Haltung des Bildkonsums mit Hilfe rationaler Vorstellungskraft und geistiger Phantasie zu unterlaufen. Und dies zeigt sich im Weiteren an der expressiven Inszenierung des Regisseurs, der seinen Kopf, angestrahlt vom Lichtstrahl des Projektors, vom Zuschauer weg und hin zu der hinter ihm befindlichen Leinwand bewegt. Der Off-Kommentar: »Er sendet aber auch in derselben Sekunde 24 Mal Dunkelheit. Das ist das Geheimnis des Kinos.« Jedes Sehen konno-
307. Vgl. Alpers, Svetlana 1985: Kunst als Beschreibung: holländische Malerei d. 17. Jh. Köln. S. 92.
308. Alexander Kluge in Rötzer, Florian: »Kino und Grabkammer. Gespräch mit Alexander Kluge.« In: Schulte, Christian (Hg.) 2000: Die Schrift an der Wand, S. 31-43, hier S. 34. 190
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tiert Blindheit; jede Aussage muss den Zweifel und die Relativität ihrer selbst mit artikulieren, um authentisch zu sein. Abbildung 10: Der blinde Regisseur nimmt seine tägliche Lichtdusche
Quelle: Szenenbild aus Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit. Alexander Kluge. Deutschland 1985
Als ein Synonym für dieses dialektische Verhältnis von Erkenntnis und Zweifel steht das Zusammenwirken von Licht und Schatten: Es ist der Regisseur, dessen Gesicht von diesem Wechselspiel angestrahlt wird. »Er ist jetzt seit 38 Jahren Regisseur. Man könnte sagen, er frisst täglich kleine Stücke Dunkelheit.« Das Verhältnis zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem ist auch Thema der durch einen harten Schnitt in Szene gesetzten Arbeit des Regisseurs am Drehort. Der Kameramann, die Regieassistentin und ein Reporter verfolgen eine Szene, in der ein Mann mit einer Puppe tanzt. Als der Regisseur vergeblich versucht, sich eine Zigarette anzuzünden, und den kritischen Hinweis der Kamerassistentin rüde zurückweist, die Räume seien für eine geeignete Wiedergabe der Szene viel zu niedrig, hat der anwesende Reporter eine Vorahnung. In der folgenden
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Interviewsituation mit dem Regisseur konfrontiert er diesen mit den vermeintlichen Mängeln, die er mit dem sicheren Instinkt des investigativen Journalisten in der Story entdeckt zu haben glaubt. Als Einstieg präsentiert er – wie könnte es anders sein – sein Zahlenwissen im Telegrammstil:309 »32 Filme, 22 Spielfilme, 10 Dokumentarfilme. Eigentlich alles Filme, die sehr zeitbezogen waren, und nun ›Das Mädchen und der Mönch‹. Zeitgemäß?« Der Regisseur, sichtlich gezeichnet vom harten Arbeitstag, nuschelt lustlos in seine Faust vor dem eigenen Mund, mit der er seinen Kopf abstützt. Im Hintergrund sitzt in einer Ecke seine müde Assistentin. »Hmm, Thema über Liebe. Zeitgemäß. Ihre anderen Arbeiten waren viel aktueller, und jetzt gehen Sie zurück ins Mittelalter. Sehen Sie denn eine Brücke zu heute? Hmm, ’türlich, Thema Liebe braucht keine Brücke. Warum dann aber nicht die zeitgenössische Geschichte: Junge trifft Mädchen im 20. Jahrhundert. Warum diese Geschichte im Mittelalter? Zeitgenössische Geschichte mache ich als nächsten Film. Warum eine Geschichte, die so kompliziert gebaut ist? Warum keine einfache Geschichte? Warum ein totes Mädchen und ein Mönch mit seiner Lust? Hmm, eine ganz einfache Geschichte, keine komplizierte Geschichte! Eine Geschichte, die aber kompliziert zu werden scheint. Mir ist nicht klar geworden, was der Zigeunerbaron hier zu suchen hat?« Der Regisseur blickt regungslos vor das Mikrofon hin. »Die Soldaten?« Ein tiefes Knurren. »Diese niedrigen Räume?« Sichtlich genervt richtet sich der Regisseur auf seinem Stuhl kurz auf. »Wissen Sie, haben Sie nicht ein paar andere Fragen?« Anstatt der Bitte des Regisseurs entgegenzukommen, para-
309. Die ganze Szene ist in körnigem Schwarz-Weiß gehalten, um eine dokumentarische Lesart zu suggerieren. 192
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phrasiert der Reporter – paradoxerweise völlig plausibel – den Handlungsverlauf: »Darf ich die Geschichte noch einmal wiederholen? Da stirbt ein Mädchen aus gutem Hause in jungen Jahren, große Trauer in der Familie. Ein Mönch erklärt sich bereit, Nachtwache zu halten. Die Eltern können endlich mal wieder eine Nacht schlafen, und dann übermannt ihn die Lust an der Leiche, salopp gesagt. Das Mädchen wird vergewaltigt. Er denkt ja, sie sei tot. Aber am nächsten Morgen stellt sich heraus, sie war nur scheintot, und dann, 9 Monate später, ein Knäblein. Warum keine aktuellere Geschichte? Haben Sie den Film gesehen überhaupt?« Der Regisseur, der den Beziehungsreichtum seiner Geschichte gegenüber etablierten Erzählformen favorisiert, versucht sich den Vereinfachungen des Journalisten zu entziehen. Das etablierte Ordnungssystem der bürgerlichen Gesellschaft, das durch den Reporter verkörpert wird, spiegelt sich »strukturanalog in den Werthierarchien und Grenzziehungen im kulturellen Bereich wieder«310. Und dieser ist sich seiner Sache sicher: »Ich habe die Arbeit eben beobachtet, bis hin zu Szenen, die gar nicht mehr gedreht wurden. Ich habe das Gefühl, Sie wollen nur das Gespräch in Gang halten.« Kluge analogisiert die apparativ determinierte Perspektive der Kamera mit dem Blick des Reporters, der seine unmittelbaren Beobachtungen zum apodiktischen Maßstab für eine Beurteilung des Filmes erhebt, ohne das Endresultat, das künstlerische Produkt zu kennen. Die monolithische Sichtweise des Reporters verkörpert das dokumentarische Sehmodell einer »naturalistischen« Wiedergabe der Wirklichkeit, das vorgibt, Tatsachen abzubilden.311 Die für die
310. Bechthold, Gerhard 1983: »Die Sinne entspannen. Zur Multimedialität in Alexander Kluges Texten.« In: Böhm-Christel, Thomas (Hg.): Alexander Kluge. Frankfurt. S. 212-232, hier S. 213. 311. »Ein Dokumentarfilm wird mit drei ›Kameras‹ gefilmt: der Kamera im technischen Sinn (1), dem Kopf des Filmmachers (2), dem Gattungskopf des Dokumentarfilm-Genres, fundiert aus der Zuschauererwartung, die sich auf den Dokumentarfilm richtet (3).« Kluge, Alexander 1975: »Die realistische Methode 193
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Genrekonventionen des Reporters in jeder Hinsicht nicht nachvollziehbaren Aufnahmen des Regisseurs, die er als Augenzeuge dokumentiert hat, stellen sichtlich eine Bedrohung für sein Verständnis eines erfolgreichen Spielfilms dar. Es ist gerade die in den Schemata des Reporters zum Ausdruck gebrachte Rationalität, welche die Komplexität der Wirklichkeit im Spiel- und Dokumentarfilm mechanisch ausgrenzt und die für Kluge zur Entsinnlichung führt. Film, so Kluge, »als eine ›reiche Totalität‹ von vielen Bestimmungen und Beziehungen, entsteht nicht durch den Direkt-Zugriff, sondern durch die analytische Methode, die keine Sache des Kopfbewußtseins [im Sinne von Descartes], sondern die Grundform sinnlicher Erfahrung ist. Man lernt diese Methode aus dem Widerstand der Sinne. Radikale Fiktion und radikal authentische Beobachtung: das ist das Rohmaterial.«312 Nicht nur in der folgenden Aussage zeigt sich, wie sehr sich die kritische Absicht des Filmemachers und das Genre widersprechen: »Ich möchte gerne erfahren, welchen Film Sie machen. Ich habe Ihre 32 Filme gesehen, die Spielfilme zugegebenermaßen mit mehr Interesse als Ihre Dokumentarfilme. Hier soll ein neuer Spielfilm entstehen, der mich interessiert. Ich versuche nur, ihn zu begreifen. Das habe ich doch schon beantwortet. Was verbinden Sie persönlich mit dem Mittelalter? Das Mittelalter ist für mich die Zeit der Liebe, als die Menschen nicht fähig waren, wirklich zu lieben. Und das ist auch die Gegenwart. Das wäre also die Brücke; dass die Menschen heute nicht mehr fähig sind zu lieben, als sie damals im Mittelalter waren. Sind sie ein Bildzertrümmerer?« Zum ersten Mal regt sich der Regisseur und drängt den Reporter, ihm das Mikrofon zu überlassen, der ihm jedoch in einer paradoxen Gegenbewegung das Mikrofon entzieht: »Ich frage mich, was all diese fremden Figuren hier im Film machen. Welche Rolle soll Daaten spielen, welche Rolle ein Zigeunerbaron spielt, warum mit einer Puppe getanzt wird. All
und das sogenannte ›Filmische‹.« In: Schulte, Christian (Hg.) 1999: Alexander Kluge, Berlin. S. 114-122, hier S. 115. 312. Vgl. ebd., S. 120. 194
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dies kann ich in der eigentlichen Geschichte des Mönches und des Mädchens nicht erkennen. Ich habe die Vorlage gelesen.« Der Reporter bringt das zum Ausdruck, gegen das sich Kluge selbstreflexiv an dieser Stelle wendet: die Fetischisierung der »Vorlage«. Im Angesicht der Blindheit des Regisseurs wirkt das folgende Bekenntnis des Regisseurs irritierend und real zu gleich: »Bildzertrümmerer, ja. Ja, ich bin, ich bin ein Bildzertrümmerer, das ist richtig. Sind Sie es geworden in diesem Film? Nein, ich war es immer schon. Hatten Sie vielleicht … Ich hasse Bilder, ich hasse Bilder, ich hasse Bilder!« Abbildung 11: Der Bildzertrümmerer
Quelle: Szenenbild aus Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit. Alexander Kluge. Deutschland 1985 Kluges Regisseur, der für ihn selbstreflexiv an dieser Stelle seine Theorie vertritt, muss Bilder hassen, die darauf ausgerichtet sind,
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den Rezipienten zum Konsum von Eindeutigkeit anzuhalten. »Ein Film«, so Kluge, »der die Freiwilligkeit des Zuschauers vernichtet, zerstört sich selbst.«313 Denn Mündigkeit setzt die individuelle Eigenbewegung des Betrachters voraus, der in die Rolle eines Bildvernichters schlüpft. Kluges selbstreflexive Pointe liegt nun darin, dass der Regisseur im gleichen Moment, wo ihm die Funktion des Bildzertrümmerers zugesprochen wird, in Bewegung gerät: »Haben Sie alle Ihre Bilder in 32 Filmen zusammengestellt, um sie am Ende durch diesen einen Film zu zerstören? Hmm, vielleicht, vielleicht. Können Sie es ertragen, Bilder zu sehen, wenn Sie Bilder hassen? Ich hasse es, zu sehen. Ich hasse es, zu sehen. Haben Sie jemals einen ihrer Filme gesehen?« Kluge spielt sich offenbar als Regisseur selbst. Das filmische Vorbild des Bildzertrümmerers findet sich in seiner Vorstellung des »Artiste-Demolisseur« (Zerstörungskünstlers) wieder:314 Danach ist dem Künstler die schöpferische Aufgabe zugewiesen, herrschende Konventionen zu zertrümmern. Kluge grenzt bewusst die administrative Produktion von Zerstörung, seien es Häuser, die von Bürokraten niedergerissen werden, oder sei es die Produktion von Schrott, ab. In Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit stellt das Zerstörungsgeschäft in beiden Bereichen einen ebenso austauschbaren und lukrativen Vorgang für Unternehmer dar wie der Einstieg in die neuen Medien. Bevor in der nächsten längeren Interviewsequenz der Produzent des Films von dem gleichen Reporter über die Arbeit des Regisseurs befragt wird, setzt eine kurze Zwischenepisode ein, in der noch einmal die Arbeit des Regisseurs zur Disposition steht. Zunächst wird der tanzende Mann mit der Puppe, dann eine Aufnahmesituation dargestellt, die ganz in Kluges Konzept der Nebensachen passt: Der Regisseur fordert den Kameramann auf, die Kamera vier Meter weiter in Stellung zu bringen, obgleich die Lichtverhältnisse die Aufnahme weiterer Einstellungen sinnlos erscheinen las-
313. Kluge, Alexander 1983: »Authentizität.« In: Schulte, Christian (Hg.) 1999: Alexander Kluge, S. 143-148, hier S. 147.
314. Vgl. Kluge, Alexander 1983: »Die Utopie Film.« In: Schulte, Christian (Hg.) 1999: Alexander Kluge, S. 73-112, hier S. 85. 196
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sen. Kluges Kommentar aus dem Off formuliert vorausschauend, welchen Eindruck der Reporter aus seinen Beobachtungen gewonnen hat: »Der Reporter hatte einen Verdacht gefasst.« Nachdem der Reporter zu sehen ist, wie er sich die weiteren Hintergrundinformationen für seinen Verdacht offenbar aus einer Tageszeitung besorgt, erscheint die Schrifteinblendung »Der blinde Regisseur«. Die ganz in Schwarz-Weiß gehaltene Szenerie wird mit einem Bekenntnis des Produzenten eröffnet. Der Zuschauer kann beobachten, wie der Journalist versucht, mit allen Mitteln dem vor ihm sitzenden Produzenten einzureden, dass ein blinder Regisseur wohl kaum in der Lage sein könne, einen erfolgreichen Kassenschlager zu inszenieren: »Ich muss Ihnen sagen, dass der Film in jedem Fall weitergedreht werden muss. Das kann doch sehr teuer kommen. Können Sie sich das leisten? Äh, der Film ist in einem so fortgeschrittenen Stadium, dass wir ihn unbedingt zu Ende drehen müssen. Müssen Sie denn zu Ende drehen oder können Sie denn nicht vielleicht schon aus dem vorhandenen Material – vielleicht noch mit ein paar ergänzenden Aufnahmen – den Film fertig stellen? Das ist leider nicht möglich. […] Wollen Sie denn diesen Regisseur halten? Kann ja sehr teuer kommen, ich habe schon gesehen, dass er Material verbraucht hat, wo Finsternis herrscht. Vielleicht sollten Sie versuchen, das Ganze mit einem anderen Regisseur fertig zu stellen.« Trotz des Problems des Rollentausches, der Farbkomposition und der einer Öffentlichkeit auf Filmfestivals kaum zu vermittelnden Arbeit eines blinden Regisseurs, der seine eigenen Aufnahmen nicht gesehen hat, erklärt der Produzent, dass er mit der Arbeit des blinden Regisseurs zufrieden ist. Dessen ungeachtet insistiert der Reporter auf dem technischformalen Ablauf, den er als herrschende Norm internalisiert hat und den er in diesem Film gefährdet sieht: »Egal. Kommen wir zurück zum Faden. Es gibt ja den viel zitierten roten, aber ein blinder Filmregisseur wird den wohl kaum erblicken können? Tja, schwere Frage. Haben Sie einen roten Faden erkennen können? Ja, schon, aber es ist schwer zu erkennen, das gebe ich zu.« 197
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Der fehlende rote Faden, von dem der Produzent spricht, ist eine literarische Metapher, die selbstreflexiv auf die in Kluges Konzept verankerte Suche nach Sinn verweist. Die Emotionslosigkeit der Sprache, vor allem des Reporters, der in seiner logisch-rationalen, auf Effizienz und Erfolg bedachten sprachlichen Argumentationsweise immer mehr in den Vordergrund rückt, wird von einer Emotionslosigkeit der Gesichter komplettiert. Als der Reporter zynisch anmerkt, dass die Assistentin des Regisseurs Hilfestellung nicht nur bei seinen Drehversuchen, sondern auch bei seinen Gehversuchen auf Filmfestivals leisten müsse, damit seine Blindheit ein Geheimnis bleibe, lacht der Produzent für einen kurzen Moment. Im Gegensatz zu dem bürokratischen Auftreten des Journalisten verleiht es dem Produzenten für einen Moment den Hauch von Menschlichkeit; zugleich markiert es einen Befreiungsversuch aus der verbalen Umklammerung des Journalisten, der schon dabei ist, mit ernster Miene die Sachlage zu ordnen: »Ich finde Ihr Lachen zynisch an dieser Stelle, entschuldigen Sie. Sind Produzenten so kalt? Nein, das nicht. Sie sind auch nicht gefühllos. Vor allen Dingen haben Sie wohl das Gespür für den Kassenerfolg? Müssen Sie wohl haben als Produzent. […]« Kluge dekuvriert an dieser Stelle den Dialog als Scheindialog, der als strukturelle Gewalt auf den Produzenten einwirkt und immer wieder verlangt, dass der Produzent die Beurteilung des Regisseurs allein nach rationalen Gesichtspunkten vornimmt. Nun sieht man den Regisseur in seinem Privatraum. Er gleitet mit seinen Augen über die Zeilen einer aufgeschlagenen Buchseite, was wie ein ironischer Kommentar auf die positivistischen Beobachtungen des Journalisten wirkt, denn: Je näher man hinsieht, desto weniger sieht man.315 Da nützen auch zwei Brillen nichts, die sich der Regisseur aufsetzt, um in den Spiegel zu schauen.
5.8.5 Die Tonspur als Mittel der Polyvalenz In der nun folgenden, letzten längeren Sequenz des Filmes findet sich der Regisseur zusammen mit seiner Assistentin auf den Plätzen
315. In Kluges Film Die Patriotin erscheint gegen Ende des Films ein Zwischentitel von Karl Kraus: »Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.« 198
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eines verdunkelten Kinosaales wieder. Getrennt durch den Lichtkegel des Projektors blicken sie auf die Leinwand. Die Assistentin soll das Geschehen auf der Leinwand für den blinden Regisseur erläutern; wieder beginnt die Szene völlig unvermittelt: »Was für eine Erklärung? Ein Film der Liebe und der großen Sehnsüchte. Eine Beschreibung … Ich will keine Interpretation. Sagen Sie mir, was Sie sehen! Jetzt sehe ich zwei Männer, die … und eine Eisenbahn anscheinend … viele Menschen, ein Gewichtheber, Zauberkünstler, ein Affe. Jetzt sehe ich zwei Männer mit Zylinder und eine sehr schöne junge Frau in Schwarz-Weiß und ein … Wer ist schwarz, wer ist schwarz? Sie? Er? Nein, der Film ist schwarz-weiß, das Bild insgesamt. […]« Die Evidenz des Bildes, die – trotz des diffusen Codes des Bildes – die Potenzialität der Mitteilung einschränkt, stellt Kluge mit Hilfe des Tones wieder her. Wie Marker und Farocki wendet sich Kluge mit Hilfe des Tones respektive des Kommentars gegen das deduktive Verfahren des Films, der die Wirklichkeit der Bilder reduziert und eingrenzt. Während es eine literarische Beschreibung einer Person der Phantasie des Betrachters überlässt, sich diese bildhaft vorzustellen, kann ein Film nur eine konkrete Antwort liefern, wie diese Person aussieht. Auf dem Weg dieser Reduktion vereinnahmt die Person stellvertretend und allgemeinverbindlich alle Eigenschaften, es entsteht ein Klischee, ein Typ. Die gelieferten Beschreibungen der Assistentin, deren Objekt der Zuschauer nicht sehen kann, sollen ihn wie bei einer literarischen Vorlage aktivieren, die Beschreibungen mit seinen eigenen Vorstellungen zu verbinden. Dem Wunsch der Assistentin nach einem »Film der Liebe und der großen Sehnsüchte« widersetzen sich die disparaten Einstellungen, die sie in Worte zu fassen versucht, und machen sichtbar, wie arbiträr der interpretative Umwandlungsprozess von Bildern in Sprache ist. Die Mannigfaltigkeit der Realität wird durch den unmittelbaren und unperfekten Charakter der direkten sprachlichen Beschreibung hervorgehoben. In dieser Parallelführung zwischen Bild und Ton wird eine Eigenschaft des Filmes selbstreflexiv thematisiert, nämlich, dass sich das Wort im Film – nicht zuletzt durch die direkte Sprache – prinzipiell seinem syntaktischen oder grammatikalischen Verwendungszusammenhang entzieht. Kluge lenkt die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis von Fik199
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tion und Nicht-Fiktion und ihrer kognitiven, vor allem ihrer emotionalen Bearbeitung. Es sind die Erklärungen der Assistentin, die dem Regisseur und dem Zuschauer »Fakten« liefern und den Zuschauer zur aktiven Mitarbeit anregen soll, sich »Tatsachen« subjektiv vorzustellen: »In den Köpfen von Zuschauern, die auf ihre Weise immer sachlich sind, gibt es den Unterschied zwischen inszeniertem Film und Dokumentation nicht als gegensätzliches Bedürfnis, sondern als Einheit: Das Bedürfnis liegt darin, Tatsachen mit Vorstellungskraft zu verbinden, Wünsche und Rebellion gegen Tatsachen als öffentliche Realitäten, über die einer mit dem anderen reden kann, zu erfahren.«316 Sprache wird aber nicht nur aufgebrochen, sondern gezielt eingesetzt, um den Zuschauer auf Mechanismen hinzuweisen, die sich seiner üblichen Wahrnehmung entziehen. So benutzt die Assistentin das Wort »Bildwechsel«; im gleichen Moment erscheint der Regisseur in einer anderen Kameraperspektive. An dieser Stelle zeigt sich explizit Kluges Abneigung sowohl gegenüber dem unsichtbaren Schnitt317 als auch gegenüber Bestrebungen, den Regisseur als privilegierte Instanz für Wahrheit und Objektivität zu stilisieren. Einen Lichtpunkt, der durch eine Reflexion des Lichtstrahles des Vorführprojektors mit dem Objektiv der Kamera auf dem Bild entstanden ist und für den Zuschauer deutlich sichtbar die linke Gesichtshälfte des Regisseurs abdeckt, nimmt dieser aufgeregt zum Anlass, um über die Assistentin den Zuschauer auf den Bildfehler hinzuweisen. Der Filmemacher sensibilisiert nicht nur den Rezipienten unablässig für die Konstruktionsprinzipien seines Filmes, er versucht auch, in ein dialogisches Verhältnis mit ihm zu treten.
316. Kluge, Alexander 1983: »Der Dokumentarfilm als Gefangener der Auftragsproduktion.« In: Schulte, Christian (Hg.) 1999: Alexander Kluge, S. 66-69, hier S. 69. 317. »Die Theorien des unsichtbaren Schnitts indessen spiegeln ein Programm nur vor, stellen es vor die Wahrnehmung, so daß ein geschlossenes Gehäuse erzeugt wird, welches das Kino (kinein=bewegen, sich bewegen) behindert.« Alexander Kluge in einem Interview mit Rötzer, Florian: »Kino und Grabkammer. Gespräch mit Alexander Kluge.« In: Schulte, Christian (Hg.) 2000: Die Schrift an der Wand, S. 31-43, hier S. 35. 200
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5.8.6 Aufbruch der Wahrnehmungsgewohnheiten: Kopf-Kino »Früher gehörte er zu den Eiligen im Lande«, so lautet der OffKommentar Kluges, und erkennbar sind die Beine des Regisseurs, die sich tastend über einen Eisensteg zwischen zwei Türen fortbewegen. Dazu aus dem Off: »Es sind 23 Meter von der Vorführkabine zum Atelier.« Eine Lochblende konzentriert sich auf den unmittelbaren Ausschnitt seines Gesichtes und seine Finger, mit denen er sich die Augen reibt. Dazu die Off-Stimme Kluges: »Er wartete 2 Stunden, dass einer der Assistenten vorbeikäme. Er war innerlich voller Bilder.« Szenen aus Lochblenden, die aus der Stummfilm-Ära stammen, wirken wie ein Stück ungeschnittenen Films, das Einblick in die ungeformte Gedankenwelt des Regisseurs gibt und den Film abrupt (und daher offen und assoziativ) enden lassen.318 Dem ausgefeilten Kino der Neuzeit stellt Kluge das unperfekte Kino der Anfangszeit (Schrifttafeln, grobkörniges Schwarz-Weiß-Material, expressive Lichtführung im verdunkelten Vorführraum, lautes Geräusch des Projektors, unzureichendes Vorführlicht) entgegen. In der Parallelisierung der Phantasien, die Elemente aus dieser Epoche widerspiegelt, zeigt sich, dass die subjektive Gedankenwelt des Individuums für Kluge das elementare, menschliche und daher unvollkommene »Massenmedium« ist, das als autonomes Korrektiv jeder Realitätskonstruktion der technischen Medien fungieren kann.
5.8.7 Kluges Dokumentarfilmbegriff Zum einen setzt Kluge parodistische Mittel ein, um die Konventionen des Dokumentarischen sichtbar werden zu lassen und sie zu relativieren. Zum anderen beinhaltet sein Konzept der »Nebensachen«, die komplexen Voraussetzungen filmischer Arbeit, die im etablierten Medienbetrieb einer Authentizitätsstrategie und möglichst stimmigen Erzählung zum Opfer fallen, dem Rezipienten aufzuzeigen. Verdrängtes rückt in den Vordergrund: Vor allem sind es die ausgeblendeten Subjekte, die mit ihrer Unvollkommenheit die
318. In einem Interview erklärt Kluge, dass er sein Material als ungeschnittenes Muster darbieten würde, wenn die Zuschauer ihn verstehen würden. Begründung Kluges: »Die Realität, die uns im Alltag begegnet, ist ja auch nicht geformt. Hieraus resultiert eine authentische Wirkung.« Alexander Kluge in einem Interview mit Ulrich Gregor 1976. In: Schulte, Christian (Hg.) 1999: Alexander Kluge, S. 224-245, hier S. 226. 201
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Perfektion der Medienkonstruktion, das selbstreferentielle und affirmative Mediensystem und seine Konventionen ad absurdum führen. Dokumentarisches und fiktionales, zeitgenössisches und historisches Material, Phantasie und Wirklichkeit kollidieren permanent miteinander, so dass der Rezipient dazu angehalten ist, auf der Basis der Außerkraftsetzung der gültigen Konventionen Sinn neu zu schaffen. Zum integralen Bestandteil eines Filmes gehören auch die Positionen des Regisseurs, des Produzenten und des Filmteams. Von ihrer Zusammenarbeit hängt maßgeblich die Gestalt eines Filmes ab. Insbesondere das Vertrauen des Produzenten in die Kreativität des Regisseurs ist die Voraussetzung, um Werke zu produzieren, die vom klischeehaften Kanon abweichen. Indem Kluge einen blinden Regisseur spielt, insistiert er auf den Bildern im Kopf des Subjektes, die er mit dem Mittel der Entautomatisierung der Wahrnehmungskonventionen versucht, individuell in Gang zu setzen.
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6. Schlusswort: Selbstreflexivität, Essayismus und Postmoderne »Im Zeitalter des Flugverkehrs und der Telekommunikation wurde Heterogenes so abstandslos, daß es allenthalben aufeinander trifft und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zur neuen Natur wurde. Real ist eine Gesamtsituation der Simultaneität und Interpenetration differenter Konzepte und Ansprüche entstanden. Auf deren Grundforderungen und Probleme sucht der postmoderne Pluralismus zu antworten. Er erfindet diese Situation nicht, sondern reflektiert sie. Er schaut nicht weg, sondern sucht sich der Zeit und ihren Herausforderungen zu stellen.«1 Die Werke von Farocki, Kluge und Marker können als Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandlungsprozesses gesehen werden, als Werke, die postmoderne Züge tragen. Zu fragen ist allerdings in Anbetracht divergierender Vorstellungen über die Postmoderne nicht nur, mit welcher Postmoderne die Filmemacher konkordieren, auch der Zusammenhang zwischen einer selbstreflexiven Konzeption und einer postmodernen Vorgehensweise scheint augenfällig und soll abschließend skizziert werden. Die Ausgangslage ist klar: Die Entwicklung von der industriellen Produktion zur postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft, rasante Strukturveränderungen, konkurrierende Methoden und Paradigmen in den Wissenschaften – all das lässt sich unter dem Stichwort einer wachsenden Differenzierung auffassen. Diese ist zum Impuls einer gesellschaftlichen Pluralisierung geworden, die auch und gerade den Dokumentarfilm als Seismographen der Wirklichkeit mit einbezieht und darin zur Geltung kommt. Postmoderne – darunter versteht Welsch eher eine
1. Welsch, Wolfgang 1993: Unsere postmoderne Moderne. Vierte Auflage. Berlin. S. 4. 203
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Radikal-Moderne als eine Post-Moderne.2 Unabdingbare Voraussetzungen dieser Postmoderne sind die Wahrung von Pluralität, die Anerkennung von Differenzen, aber auch die Möglichkeit von Übergängen differierender Wissensformen.3 Und Lyotard nennt mit dem Kriterium der Offenheit ein weiteres wichtiges Bestimmungsmerkmal dieser Postmoderne, eine Offenheit, die impliziert, dass Konventionen, die Ausdruck einer Steuerung, Kontrolle und Beherrschbarkeit von Wirklichkeit sind, in Auflösung geraten: »Das Postmoderne wäre dasjenige, das im Modernen in der Darstellung selbst auf ein Nicht-Darstellbares anspielt; das sich dem Trost der guten Formen verweigert, dem Konsensus eines Geschmacks, der ermöglicht, die Sehnsucht nach dem Unmöglichen gemeinsam zu empfinden und zu teilen; das sich auf die Suche nach neuen Darstellungen begibt, jedoch nicht, um sich an deren Genuß zu verzehren, sondern um das Gefühl dafür zu schärfen, daß es ein Undarstellbares gibt.«4 Mit ihren selbstreflexiv-essayistischen Verfahren streben Farocki, Kluge und Marker eine Offenheit und Polyvalenz ihrer Aussagen an, die mit den Merkmalen der von Welsch konturierten Postmoderne übereinstimmen: Sie verabschieden jegliche Einheitsobsessionen einer dokumentarischen Wirklichkeit. Die Filmemacher treten nicht nur jeder eindeutigen Evidenz der Bilder entgegen; als Urheber dieser filmischen Wirklichkeit bleiben sie erkennbar und legen ein besonderes Augenmerk auf den Konstruktionscharakter ihrer filmischen Argumentationsstrategie, ohne dabei zu vergessen, die Grenzen ihrer Konzeption aufzuzeigen. Wenn Selbstreflexivität ein integrales Merkmal für den Modernisten darstellt,5 so darf sie
2. Vgl. ebd., S. 4 ff. 3. Postmoderne wird von Huyssen und Scherpe als Möglichkeit konturiert, »Zeichen eines produktiven Wandels auszumachen«. Die Herausgeber sehen ein enges Bezugsverhältnis zwischen Moderne und Postmoderne. Huyssen, Andreas; Scherpe, Klaus R. (Hg.) 1997: Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. 5. Auflage. Reinbek. S. 8. 4. Lyotard, Jean-Francois: »Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?« In: Engelmann, Peter (Hg.) 1990: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Stuttgart. S. 33-48, hier S. 47. 5. Die Selbstreflexivität eines Modernisten drückt sich für Lutze folgendermaßen aus: »self-consciousness, reflexivity, a concern with process and materials, a refusal to obscure the contractedness of the work, the use of montage and collage, an invention of personal styles and standards, the insistence on fragmentation 204
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6. SCHLUSSWORT: SELBSTREFLEXIVITÄT, ESSAYISMUS UND POSTMODERNE
im Zeichen der Postmoderne nicht als Ausdruck eines neuen Anspruches auf Wahrheit und Wirklichkeit im Sinne eines konstruktivistischen Röntgenbildes antreten, das vorgibt, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen. Dies geschieht beispielsweise auf der Ebene der diskontinuierlichen Montage, der radikalen Skepsis gegenüber dokumentarischen Bildern und mit der Sichtbarmachung der filmtechnischen Grundlagen. Ob es die Techniken des frühen Films, der Camera obscura oder der Fotografie sind, die in den Filmen zitiert werden, entscheidend ist, dass Elemente divergierender medialer Epochen und unterschiedlicher Herkunft nicht einfach mit zeitgenössischem Material zu einem differenzlosen Potpourri vermischt, sondern für die jeweils eigene Konzeption aufgenommen und verarbeitet werden. Einen Angriffspunkt bieten in dieser Hinsicht nicht allein aktuelle filmische Erzählungen; besonders auch der übliche Umgang mit Geschichte, ihre Präsentationsform und ihr Anspruch auf Objektivität in dokumentarischen Formaten werden zur Zielscheibe von Farocki, Kluge und Marker.
6.1 Selbstreflexivität im Dokumentarfilm: die Auflösung von Linearität Retrospektiv erscheint Geschichte als linear und abgeschlossen, in Wirklichkeit findet sie in diskontinuierlichen Brüchen und simultanen Verwerfungen statt. Farocki greift den institutionalisierten Monopolanspruch der Bildinterpretation an, indem er die Bilder und die Inschriften des Krieges wiederholt, neu liest und ihren funktionalen und eindimensionalen Verwendungszusammenhang aufhebt. Die Darstellung verschütteter Bezüge und Zufälle, aber auch die Neukontextualisierung mit aktuellen Ereignissen schaffen eine Polyvalenz der Bilder, bei der ihre Medialität und Kontingenz ans Tageslicht kommt. Auch Kluges Herangehensweise in Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit lehrt verstehen, dass letzte Einheit gar nicht anders als repressiv und totalitär erreicht werden kann. Aus diesem Grund sprengt Kluge die Rationalität der (Gattungs-)Konventionen mit seinem Anspruch an die Vielheit des Humanen auf.
over unity or coherence, a preference of abstraction over illusionism, and the maintenance of an ironic tone«. Lutze, Peter C. 1998: Alexander Kluge: The Last Modernist. Detroit. S. 23. 205
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Eine Wirklichkeit, die in ihrem Allgemeingültigkeitsanspruch ihre Voraussetzungen ausblendet oder – um mit Kluge zu sprechen – ihre Nebensachen unter den Tisch kehrt, muss in ihrem fingierten Zustand auch so dargestellt werden. Was bei Kluge die Ausgrenzung menschlicher Träume und Wünsche zum Ausdruck bringt, das zeigt sich bei Farocki in den Aussagen und Zeichnungen der Opfer der Vernichtungslager: In den allgemein verbindlichen Idiomen sind Gefühle und Erinnerungen nicht darstellbar. Zur Wirklichkeit gehört stets mehr als das positiv Beschreibbare. Der Respekt vor der Unfassbarkeit historischer Wirklichkeit ist beiden Werken anzumerken. Keiner weiß die Ebenen von Wirklichkeit, Imagination und Traum in dieser Hinsicht besser zu verschmelzen als Chris Marker. Geschichte ist bei ihm angekoppelt an den Prozess der Erinnerung. Gerade im Nachvollzug subjektiver Vergegenwärtigung des Historischen lösen sich klassische Gegensatzpaare wie Geschichte und Gegenwart, Dokument und Fiktion, Realität und Imagination, Phantasie und Reflexion, Abbilden und kalkuliertes Eingreifen ins Material in unerwarteten Beziehungen auf. Es findet eine Enthierarchisierung statt. Was sonst getrennten Welten zugeordnet wird, kann im Sicherinnern von Sans Soleil, hierin dem Potenzial eines Traumes ähnlich, aufeinander bezogen werden. Farocki erzeugt Komplexität aus der Immanenz des Bildgehaltes, er löst den in seiner Funktion festgelegten Bildinhalt auf, ohne dabei auf Sinnbezüge anderer Bilder zurückzugreifen, wie das Kluge und Marker tun. Sein Eintreten für die Polyvalenz der Bilder geschieht, indem er die vorgegebene Perspektive auf das Bildmaterial verändert und dessen Konstituenten wie unter einem Mikroskop befragt. Farocki untersucht die scheinbar monadische Struktur der Bilder. Kluge konfrontiert in seinem weitreichenden Repertoire verschiedene Elemente und Sinnbezüge filmischer Ausdrucksmöglichkeiten miteinander – kontrastiv und kommunikativ.6 Bei Marker sind die Wirklichkeitsebe-
6. Lutze hingegen bezeichnet Kluges Filmwerk als eklektizistisch. Vgl. Lutze, Peter C. 1998: Alexander Kluge: The Last Modernist. Detroit. Nach Lutze wendet sich Kluge in seiner Abneigung gegen eine Postmoderne, die ahistorisch und gleichsam positivistisch jeden subjektiven Einfluss ausklammert. Gegen einen solchen Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit richtet sich die von Welsch konturierte Postmoderne – sie verzichtet weder auf Regeln, noch will sie sich von der Moderne absetzen. Es überrascht nicht, dass sich Kluge von einer Postmoderne der Indifferenz und Oberfläche distanziert und sich vor diesem Hintergrund als Modernist bezeichnet. Dies ändert jedoch nichts daran, dass Kluge der von Welsch defi206
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6. SCHLUSSWORT: SELBSTREFLEXIVITÄT, ESSAYISMUS UND POSTMODERNE
nen vollends verschliffen und erscheinen in ihrer Multidimensionalität. Ansatzweise lassen sich die Zuweisungen monadisch (Farocki), vermittelnd (Kluge) und verschliffen (Marker) auch bei der Thematisierung der eigenen Subjektkonzeptionen im Film nachvollziehen.
6.2 Die Evidenz des Autors im Film Farocki tritt als Interpret seiner Bilder auf, seine Hände, sogar sein Körper werden im Bild sichtbar. Bei Kluge bleibt die Anwesenheit des Autors durch seinen Off-Kommentar spürbar: Das filmische Handwerk, die Aufgaben des Regisseurs und des Produzenten werden auch in Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit selbstreflexiv zur Darstellung gebracht. Beiden gemeinsam ist eine latente Anspielung auf Vertov, der in aufklärerischer Absicht die Konstruktionsmechanismen seiner Arbeit als Handwerk gegen jeden Geniekult verteidigt sehen wollte. Die Instanz des Autors ist bei Marker auf allen Mitteilungsebenen zwar spürbar, aber körperlos geworden. In Markers Sans Soleil werden das erzählerische Subjekt und mit ihm seine Erinnerungen an eine Wirklichkeit so in der Schwebe gehalten, dass eine Vielheit der Deutungsoptionen generiert wird, die jeden eindeutigen Sinngehalt immer wieder aufhebt. So stellt sich in Sans Soleil nicht nur rhetorisch die Frage, ob man als Zuschauer einen Film gesehen hat. Filmischer Essayismus und postmoderne Merkmale konkordieren in Markers Konzeption in einem wichtigen Punkt: im Auftreten der Polyvalenz von Subjektvorstellungen. Ein und dieselbe Subjektinstanz kann sich in einer anderen Sichtweise, in einem anderen historischen Kontext oder auch in einer anderen Zeit völlig anders darstellen, ohne dass dieser anderen Sichtweise weniger Stellenwert beigemessen wird als der ersteren – nur ein anderer. Der Effekt einer persönlichen Identität, die aus der gegenwärtig bestimmbaren zeitlichen Verkoppelung von Vergangenheit und Zukunft besteht, wird aufgehoben. Die üblicherweise zusammengeschlossene syntagmatische Signifikantenfolge bricht bei Marker auseinander – das
nierten Postmoderne zugerechnet werden kann. Autorschaft, die Wahrung von Pluralität und letztlich Demokratie gehören zu ihren Insignien. Vgl. Lutze, Peter C.: »Alexander Kluge und das Projekt der Moderne.« In: Schulte, Christian; Siebers, Winfried (Hg.) 2002: Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine. Frankfurt a. M. S. 11-38, hier S. 37. 207
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Subjekt muss in seiner Variabilität erschlossen werden. Was bei Farocki – wenn auch schon fragmentarisch – direkt, bei Kluge über seine Off-Stimme allenfalls vermittelt behandelt wird, das ist bei Marker vollends aufgegeben: das Subjekt als Souverän. Seit Vertov steht es nicht mehr in der Haltung als Herrscher und Meister, sondern als Konstrukteur und Handwerker. Vertovs filmisch weiterentwickelte Collagentechnik kann bei allen drei Filmemachern als wichtiger Einfluss identifiziert werden. Besonders Vertovs Der Mann mit der Kamera ist ein Paradebeispiel für die Selbstreflexion der ästhetischen Moderne. An ihm kann zugleich die Differenz zu postmodernen Konzeptionen jüngeren Datums aufgezeigt werden.
6.3 Technikverehrung, Rationalität und Überwindungsgestus: Merkmale der Moderne Zum einen propagiert Vertov den massiven Bruch mit den vergangenen Traditionen und artikuliert daraus einen grundsätzlichen Angriff auf alle alte Kunst und deren Institutionen, Theater und Museum. Dies überrascht nicht. Die theoretischen Positionen von Futurismus, Konstruktivismus und Formalismus, aus denen Vertov schöpft, sind sich vor allem in einem wesentlichen Punkt einig: der emphatischen Begeisterung für neue Technologien (z.B. des Films) bei unabdingbarer Überwindung der alten. Das Pathos von Ethik und Ästhetik zeigt sich ausgeprägt in der Utopie einer neuen Gesellschaft, eines neuen Menschen, der durch die Symbiose mit der Technik perfektioniert werden kann. Es ist gerade diese Technikverehrung, die zusammen mit einer sich immer weiter ausdehnenden Technokratie weite Teile der Gesellschaft erfasst und die in ihrem novistischen Anspruchsdenken in den Filmbeispielen aus den 80er Jahren der Kritik ausgesetzt wird. Technik wird hier – anders als bei Vertov – in Relation zu anderen Rationalitätsformen gesetzt und dort bekämpft, wo sie in ihrem Alleinvertretungsanspruch alle Lebensbereiche des Menschen zu dominieren beginnt. Im Abbruch jeglicher Tradition und in der Verweigerungshaltung, die Voraussetzungen der eigenen filmischen Vergangenheit nicht mit reflektieren zu wollen, läuft man sehr schnell Gefahr, absolut zu werden. Selbstreflexivität kann hier als Korrektiv wirken, das die Grenzen und Möglichkeiten der eigenen Wirklichkeitsinterpretation absteckt. Jeder Vereinheitlichung, die durch die neuen Kommunikationstechnologien angestrebt wird, tritt der auf Wahrung der Pluralität ausgerichtete Postmodernismus strikt entgegen. Ob Farockis Kritik an der 208
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Vermessung und Überwachung des Menschen, Kluges Angriff auf die technologisch begründete Rationalität und Entfremdung des Menschen oder Markers Bewunderung für die Alltagsmythen in der hoch technisierten Gesellschaft Japans – solange Technik eine Monopolstellung beansprucht, wird sie als Bedrohung für ein menschenwürdiges Leben empfunden. Sobald sie jedoch für demokratische Ziele umfunktionalisiert und im Sinne der Pluralität genutzt werden kann, wird sie begrüßt. Zur postmodernen Herangehensweise gehört, dass Perspektiven unterschiedlichster Provenienz – auch vom Standpunkt der Technik – nicht einfach verworfen oder in einem Überwindungsgestus völlig abgeschafft werden müssen; vielmehr können sie auf den Prüfstand gestellt, anerkannt und angeeignet werden, wenn es sinnvoll erscheint.
6.4 Selbstreflexivität als Sicherungsinstanz des Partikularen Pluralismus wird als Reflexionsgebot erfasst und praktiziert. Wenn es darum geht, die Grenzen der verschiedenen Filmströmungen bzw. Rationalitätsformen aufzuzeigen, ihre Identität zu sichern sowie Übergänge und Auseinandersetzungen zwischen ihnen zu ermöglichen, wie Welsch betont,7 dann birgt dies immer auch ein selbstreflexives Potenzial. So gilt es nicht, die Stummfilmära zu überwinden, sondern sie in das eigene Filmschaffen zu integrieren, um auf diesem Weg das dominante Perfektionsstreben der zeitgenössischen Filmproduktion zu kritisieren. Der moralische Anspruch einer derartigen Konzeption äußert sich in der Verurteilung von Ausschließlichkeitsansprüchen, die auf ein absolutes, homogenes Ganzes zielen. Die letzten Endes gedankenlose Affirmation eines Status quo (sei es der Wühltisch eines Kaufhauses, sei es die immer wieder strapazierte vorgefundene und objektive Wirklichkeit) wird abgelehnt. Ein Anspruch auf eine einzig gültige Wahrheit, Wirklichkeit und Objektivität muss unter diesem Horizont obsolet erscheinen. Wie die Filmschulen um Grierson und Drew Associates gezeigt haben, geht der Totalisierung des Partikularen ein eklatanter Ausschluss voraus, der von Selbstzensur oder von externen Kontrollinstanzen befördert wird. Derartige Selbstbeschränkungen und ein rigoroser Überwindungsgestus des Vergan-
7. Vgl. Welsch 1993: Unsere postmoderne Moderne, S. 7. 209
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genen, beides Merkmale der Moderne, werden in den drei Filmbeispielen aus den 80er Jahren umgangen. Der postmoderne Skeptizismus stellt nicht nur die Konventionen des Dokumentarfilms auf die Probe, er stellt die Idee des Dokumentarfilms an sich in Frage, denn die Postmoderne greift den Objektivitätsanspruch des Dokumentarfilms an. Modern ist der Anspruch, Filme als Repräsentanz der Wirklichkeit zu erachten, sich ihrer zu versichern und sie vor ihrem Verlust zu bewahren. Die dargestellten selbstreflexiven Dokumentarfilmkonzeptionen des postmodernen Zeitalters beinhalten sowohl die Auflösung dieser Ansprüche als auch die bewusste Grenzüberschreitung und Verschmelzung zwischen Dokument und Fiktion. Rouch bekennt sich als einer der ersten Dokumentarfilmer zur Fiktion, wenn auch in der Absicht, damit versteckt geglaubte Informationen – wie im Falle der Deportation von Marceline in ein Konzentrationslager – ans Tageslicht zu bringen. Sein Konzept von Selbstreflexivität versucht, über die Darstellung des subjektiven Einflusses des Filmemachers den Schlusspunkt unter eine Wirklichkeitsdarstellung zu setzen, die das größtmögliche Maß an Authentizität verbürgt. Der Einsatz und die Offenlegung fiktionaler Mittel sind Ausdruck einer Gestaltungspraxis, die schon mit Lumière um die Vermittlung von Authentizität bemüht ist, ohne dabei den fiktionalen Charakter ihrer Strategie bewusst offen zu legen. Fiktion als Voraussetzung für Objektivität – diesem Spannungsverhältnis wenden sich vor allem die selbstreflexiven Dokumentarfilme der 80er Jahre zu. Der Zuschauer soll über die Konfrontation mit der zur Schau gestellten konstruierten Wirklichkeit des Filmemachers zur eigenen Sinnstiftung angeregt werden. Mit anderen Worten: Die Wirklichkeit muss gebrochen, das heißt doppelkodiert zur Darstellung gebracht werden, um den Illusionseffekt der Vermittlung durch den Filmemacher zur Anschauung zu bringen.
6.5 Ironie, Parodie und Satire: selbstreflexive Distanzierungsstrategien der Postmoderne Eine Doppelkodierung ist satirischen, ironischen und parodistischen Konzeptionen immanent. Dass damit nicht automatisch eine Wirklichkeitskonzeption vorliegt, die dem hier angeführten Merkmal der Offenheit entspricht, zeigt sich beispielsweise in Vigos/Kaufmans wegweisendem satirischen Filmwerk A propos de Nice. Die Bour210
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geoisie wird von der Warte der Satiriker ins Groteske überzeichnet. Der archimedische Punkt ihrer Kritik wird deutlich: Herabgesetzt wird das Bürgertum, das in seinem Habitus der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Dass Ironie und Parodie geeignet sein können, die kritische Position des Autors sichtbar zu machen, ohne dabei das System im revolutionären Sinne abschaffen und durch ein anderes ersetzen zu wollen, zeigt das Beispiel von Alexander Kluge. Dieser versucht mit den Massenmedien ihre Demokratisierung zu betreiben, d.h. sich auch ihrer Formen (und ihrer Auslassungen) zu bedienen und sie über das Aufzeigen ihrer Konstruktionsmechanismen (d.h. der Einbeziehung ihrer »Nebensachen«) zu relativieren, wo immer das nötig erscheint.
6.6 Selbstreferentialität bis zur Ekstase? Wenn bei allen drei Filmkonzeptionen abschließend festgestellt werden kann, dass Wahrheit und Objektivität weder absolut noch universalistisch möglich sind, so stellt sich die Frage, ob es nur noch simulierte Dokumentarfilme in zufälligen, partikularen und zur Unübersichtlichkeit neigenden Formen geben kann. Gerade Baudrillard entdeckt hierin nicht eine Potenzierung der Möglichkeiten, sondern die Indifferenzbildung.8 Die Folge ist eine Selbstreferentialität bis zur Ekstase der Selbstbespiegelung.9 Nicht Widersprüche und Grenzen der eigenen Wirklichkeitskonstruktion gegenüber einer dokumentarischen Wahrheit und Wirklichkeit werden behandelt, aufgedeckt und ausgetragen, vielmehr wird das selbstreferentielle Mediale zum Fetisch, wo es nicht als ungeplanter technischer Nebeneffekt wie bei Lumière, sondern – wie häufig im Fernsehen – als kalkulierte Inszenierung auftritt. Es gäbe demnach nichts mehr zu hinterfragen: Alles ist schon da gewesen. Allerdings: Die Frage nach der Repräsentation des Dokumentarischen ist nicht nur in Debatten um den Stellenwert der Indifferenz in der Postmoderne falsch gestellt. Das Dokumentarische bleibt immer angebunden an eine gesellschaftlich beglaubigte Wirklichkeit, ob simuliert oder nicht. Das Ende des Dokumentarischen ist schon häufiger verkündet worden, und dennoch treten immer wie-
8. Vgl. Baudrillard, Jean: »Die Rituale der Durchsichtigkeit.« In: Konkret Sexualität 1985. S. 75-80, hier S. 78.
9. Vgl. Welsch 1993: Unsere postmoderne Moderne, S. 151. 211
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der dokumentarische Spielformen ins Rampenlicht. Dies setzt die Vermittlung von Normen voraus, die an einen latenten Wahrnehmungsvertrag zwischen Zuschauer, Filmemacher und Filmwerk gebunden sind. Vor diesem Hintergrund ist nicht die Frage nach Repräsentation entscheidend, sondern die offene Repräsentation des Dokumentarischen. Auch dokumentarische TV-Sendungen können, wie z.B. die Unterhaltungsindustrie immer wieder vormacht, scheinbar unvertraute und innovative Techniken einsetzen, ohne dabei ihren Illusionscharakter zu problematisieren oder gar soziale Verhältnisse in Frage zu stellen. Anti-repräsentative Techniken beinhalten noch lange nicht die selbstreflexive Versicherung künstlerischer Integrität oder gar einen politischen Effekt.
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2005-08-05 08-42-03 --- Projekt: T359.kumedi.meyer.dokumentarfilm / Dokument: FAX ID 00c391224912908|(S. 220
) vakat 220.p 91224913724
7. BIBLIOGRAFIE
8. Filmverzeichnis Arrivée d’un Train À La Ciotat. Louis Lumière. Frankreich 1895. The Battle Of The Somme. GB 1916. Bei unseren Helden an der Somme. Deutschland 1917. Nanook of the North (Nanuk, der Eskimo). Robert Flaherty. USA 1922. Moana (Moana, Sohn der Südsee). Robert Flaherty. USA 1923-1925. Panzerkreuzer Potemkin (Bronenosez Potjomkin). Sergei Michailowitsch Eisenstein. Russland 1925. Berlin. Die Sinfonie der Großstadt. Walter Ruttman. Deutschland 1927. Un Chien andalou (Ein andalusischer Hund). Luis Buñuel/Salvador Dalí. Frankreich 1928. Drifters. John Grierson. GB 1929. Celovek s kinoapparatom. Kinofel’eton (Der Mann mit der Kamera). Dziga Vertov. Ukraine und Russland 1929. A propos de Nice. Jean Vigo. Frankreich 1929. Zéro de Conduite. Jean Vigo. Frankreich 1933. Industrial Britain. Robert Flaherty/John Grierson. GB 1933. Song of Ceylon. Basil Wright/John Grierson. GB 1934. The Face of Britain. Paul Rotha. GB 1934-1935. Man of Aran. Robert Flaherty. GB 1934-1935. Workers and Jobs. Arthur Elton. GB 1935. Night Mail. Harry Watt/Basil Wright. GB 1936. Citizen Kane. Orson Welles. USA 1941. Moi, un noir. Jean Rouch. Frankreich 1957-1958. Primary. Richard Leacock/Don Alan Pennebaker. USA 1960. Chronique d’un été (Chronik eines Sommers). Jean Rouch/Edgar Morin. Frankreich 1961. The Chair. Richard Leacock. USA 1961-1962. Happy Mother’s Day. Richard Leacock. USA 1963. Emden geht nach USA. Klaus Wildenhahn. Deutschland 1975-1976. Die Patriotin. Alexander Kluge. Deutschland 1979. 221
2005-08-05 08-42-04 --- Projekt: T359.kumedi.meyer.dokumentarfilm / Dokument: FAX ID 00c391224912908|(S. 221-222) T01_08 filmverzeichnis.p 91224913764
FILME ÜBER SICH SELBST
Sans Soleil (Ohne Sonne). Chris Marker. Frankreich 1983. Yorkshire. Klaus Wildenhahn. Deutschland 1984-1985. Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit. Alexander Kluge. Deutschland 1985. Bilder der Welt und Inschrift des Krieges. Harun Farocki. Deutschland 1988. Roger and Me. Michael Moore. USA 1989.
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2005-08-05 08-42-04 --- Projekt: T359.kumedi.meyer.dokumentarfilm / Dokument: FAX ID 00c391224912908|(S. 221-222) T01_08 filmverzeichnis.p 91224913764
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