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German Pages 288 [289] Year 2015
Irmela Schneider, IsabellOtto (Hg.) Formationen der Mediennutzung II: Strategien der Verdatung
Formationen der Mediennutzung Herausgegeben von Irmela Schneider I Band 2
Irmela Schneider ist Professorin für Medienwissenschaft an der Universität zu Köln und stellvertretende geschäftsführende Direktorin des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs »Medien und kulturelle Kommunikation« (Köln). Isabell Otto (M.A.) ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg >>Medien und kulturelle Kommunikation« (Köln).
lRMELA SCHNEIDER, IS ABELL ÜTTO (HG.) Formationen der Mediennutzung II: Strategien der Verdatung
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2007
transcript Verlag, Bielefeld
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INHALT
Strategien der Verdatung. Einleitung 9
SONDIERUNGEN UND INSTITUIERUNGEN
Max Webers Soziologie des Zeitungswesens als Ursprungskonstruktion der Publizistikwissenschaft CHRISTINA BARTZ
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Radiophone Praktiken des (Selbst-) Regierens in der Weimarer Republik l RMELA S CHNEIDER
37
Kontaktaktion. Die frühe Wiener Ausdrucksforschung und die Entdeckung des Rundfunkpublikums CORNELTA EPPING -JÄGER
55 »Public Opinion and the Emergency«. Das Rockefeiler Communications Seminar ISABELL ÜTTO
73
Spuren einer Wissenschaft der Medien. Zur Gründungsgeschichte des Hans-Bredow-lnstituts lRMELA SCHNEIDER
93
PRAKTIKEN DES BEFRAGENS UND MESSENS
Rätsel, Briefe, Umfragen. Fragen an Rundfunknutzung in Programmzeitschriften A NNA BIENEFELD
115 Von der Hörerpost zur Publikumsstatistik DOMINIK S CHRAGE
133
Figuren des Publikums. Politischer und diagrammatischer Raum FELIX KELLER
153 Gegnerverdatungen. Von den Geheimdienstanalysen zur Survey-Forschung C ORNELIA EPPING-JÄGER
171
FORMIERUNG UND ADRESSIERUNG VON SUBJEKTEN
Die Disziplinierung des Lichtspiels. Zur Überblendung von Masse, Medium und belehrbarem Subjekt im frühen Kinodiskurs MARCUS KRAUSE
189
Konstruktionen eines Radiosubjekts. Educational Broadcasting und die Rockefeiler Foundation IRMELA S CHNEIDER
211 Blicklenkung im Wohnzimmer. Zuschauerformierung im Bureau of Applied Soda/ Research ISABELL ÜTTO
235
Mediale lnfografiken. Zur Popularisierung der Verdatung von Medien und ihrem Publikum MARKUS STAUFF/ MATTHIAS TRIELE
251
Kursverläufe. Die Börse im Diagramm CHRISTINA BARTZ
269
Autorinnen und Autoren 283
STRATEGIEN DER VERDATUNG. EINLEITUNG lRMELA SCHNETDER/lSABELL ÜTTO
In modernen Mediengesellschaften sind Fragen danach, wie Medien genutzt werden und welche Wirkung sie haben, überaus wichtig und gleichzeitig problematisch. Relevant sind diese Fragen, weil es Eltern und Lehrern keineswegs egal ist, ob Kinder beim Computerspielen strategische Kompetenzen oder aggressives Verhalten einüben, weil Politiker wissen möchten, inwiefern das jüngste TV-Duell die Wahlentscheidung der Zuschauer beeinflusst hat, und weil Firmen sichergehen möchten, dass ihrem Internetauftritt auch Aufmerksamkeit zuteil wird. Problematisch sind Fragen nach der Mediennutzung, weil sie letztlich nicht zu beantworten sind: Unter den Bedingungen der Massenkommunikation kann niemand sichergehen, ob und wie der einzelne Nutzer an mediale Kommunikation anschließt. 1 Um das Problem zu entschärfen, dass die Prozesse der Mediennutzung unsichtbar bleiben, werden unterschiedliche Verfahren eingesetzt, die das Medienpublikum zu einer sichtbaren Größe formieren und es auf diese Weise kommunikativ verfügbar machen. Diese Verfahren zu beleuchten, ist das zentrale Anliegen der Reihe Formationen der Mediennutzung. In den einzelnen Bänden steht jeweils ein Verfahren im Mittelpunkt: Der erste Band der Reihe hat Medienereignisse - wie die Debatte um die Bilder von Abu Ghraib, die Tsunami-Katastrophe oder den Tod von Papst Johannes Paul II. - daraufhin untersucht, wie diese Ausnahmen von üblicher Medienrezeption zum Anlass werden, generelles Wissen über Medien und ihre Nutzer hervorzubringen. 2 In diesem zweiten Band stehen Verfahren im Zentrum, die Vorstellungen von regulärer Mediennutzung nicht über ihre Ausnahmezustände beobachten, sondern die den >Normalbereich< der Mediennutzung direkt formieren und von diesem ausgehend seine Ränder und Grenzzoneneu bestimmen: Strategien der Verdatung. Der Begriff der Verdatung bezeichnet unterschiedliche Praktiken, das Publikum der Massenmedien mithilfe von Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie sichtbar zu machen. Solche
2
Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1999, S. 203. Vgl. Irmela Schneider/Christina Bartz (Hg.): Formationen der Mediennutzung, Bd. 1: Medienereignisse, Bielefeld: transcript 2007.
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IRMELA SCHNEIDER / ISABELL 0TTO
Praktiken werden seit Beginn des 20. Jahrhunderts erprobt. In Quoten, Korrelationen, Prozentwerten-so das Versprechen und die Hoffnunglässt sich die unverfugbare >tatsächliche< Mediennutzung erkennbar machen, ja in Kurven, Tortendiagrammen und Tabellen sogar in konkretem bildliehen Sinn darstellen. 3 Die Statistik, nach Jürgen Link das zentrale Dispositiv des Normalismus, liefert auch in Fragen der Mediennutzung Orientierungswissen: Sie gibt Eltern Auskunft über die Gefahrdung ihrer computerspielenden Kinder, sie informiert Politiker und Werbetreibende über ihre Erfolge oder Misserfolge und sie versorgt jeden einzelnen Mediennutzer mit einem >inneren Bildschirmalle anderen< auch oder ob er sein Verhalten neu justieren muss. Mit seinem Fokus auf Strategien der Verdatung richtet der vorliegende Band sein Interesse nicht ausschließlich auf die Leistungen des Verfahrens, sondern auch und gerade auf seine Problematik, auf die Kontroversen, die mit dieser Strategie einhergehen und auf Alternativen und Gegenprogramme, die ihr vorausgehen und sie begleiten. Wir gehen von einer diskursiven Formierung aus, von performativen Prozessen eines Verdatungs-Diskurses: Das Sprechen aber auch das Nicht-Sprechen über Verdatung, die Aushandlungsprozesse loten die Möglichkeiten und Verluste einer Strategie aus, bevor diese hegemonial wird. Verdatung findet im Zusammenspiel von unterschiedlichen Diskursfeldern statt: Staatspolitik, Ökonomie, Pädagogik. Sie ist nicht nur Angelegenheit von Forschungsinstituten in den Sendeanstalten oder universitärer Forschung, sondern hat ihre Orte auch in Publikumszeitschriften sowie in Diskussionen und Korrespondenzen, die einer institutionellen Sichtbarkeit der Verdatung vorausgehen.5 Die Debatten um die Verdatung des Medienpublikums sind besonders deutlich vor und in der Frühzeit ihrer Etablierung zu beobachten. Im Mittelpunkt stehen daher die Anfange der empirischen Medienforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Beiträge konzentrieren sich vornehmlich auf drei historisch-lokale Zentren des Sprechens bzw. Nicht-Sprechens über Verdatung: erstens auf die Frühphasen des Messens im deutschsprachigen Bereich vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre, zweitens auf die von philanthropisch-edukativen Projekten geprägten An3 Vgl. zur bildhaften Evidenz der Tabelle Rüdiger Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen: Wallstein 2003, S. 241. 4 Vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus, Opladen: Westdeutscher Verlag 2 1999, S. 25. 5 Zu dem diesen Überlegungen zugrunde liegenden Konzept einer diskursiven Formation vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens [1973], Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999. 10
STRATEGIEN DER VERDATUNG
fange der amerikanischen Kommunikationsforschung in den 1930er und 1940er Jahren sowie drittens auf die Etablierungsphase des kommunikationswissenschaftliehen Feldes nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland und in den USA. Die Zeit des Nationalsozialismus wird nicht eigens behandelt; sie ist jedoch virulent als eine Gefahr, die auf Seiten der Westalliierten Forschungsaktivitäten herausfordert und sie ist präsent in der Form von Kontinuitätslinien in der Bundesrepublik Deutschland. Der Band endet mit einem Ausblick auf gegenwärtige Verdatungs-Strategien. Zielrichtung dieser Vorgehensweise ist es nicht, eine Fortschrittserzählung der kontinuierlichen Verfeinerung empirischen Forschens nachzuzeichnen.6 Die Autoren der folgenden Beiträge richten vielmehr ihren Blick auf die Mühen der Instituierungsversuche, auf scheiternde Projekte und alternative Entwürfe, auf edukative und disziplinierende Aspekte, die in gegenwärtigen Verdatungsstrategien weniger sichtbar sind. Zwei zentrale Aspekte, die eng miteinander verflochten sind, ziehen sich quer durch die Beiträge des Bandes. Zum einen handelt es sich um die Beobachtung, dass die Rede von einem in Daten verfügbaren Medienpublikum häufig mit der Hoffnung auf Demokratisierung einhergeht. Die Daten stehen für einen Zugriff auf die >Faktizität< einer politischen Öffentlichkeit. Die Verdatung des Medienpublikums- so die Hoffnung- soll eine basisdemokratische Rücldmpplung ermöglichen, die in der unidirektionalen Kommunikation der Massenmedien verloren zu gehen droht, auch wenn diese in liberalistisch-demokratischen Grundrechten fundiert sind. Dass sich ein solches Postulat als >Fiktion einer wahrscheinlichen Realität< beschreiben lässt/ zeigen die Autoren des vorliegenden Bandes, indem sie die Unschuld einer demokratisierenden Verdatung irrfrage stellen und nach den Macht- und Regierungstechniken fragen, die dieses Verfahren weniger aufhebt, als in den Bereich der Latenz verschiebt. Die Geschichte der Sozialstatistik - das haben Michel Foucault in seinen Vorlesungen zur Gouvernementalität und im Anschluss hieran die Vertreter der Governmentality Studies gezeigt8 - ist eng mit Praktiken des Regierens 6
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Dies erfolgt häufig in Lehrbuchgeschichten der >MedienwirkungsforschungKommunikationswissenschaft< bzw. >Mass Communication TheoryMentalität des RegierensRegierung der anderen< und >Regierung des Selbst< hat Foucault nur unvollständig in seinen letzten Interviews ausgeführt. Es wurde ihm Rahmen der Governmentality Studies aufgegriffen und weitergedacht. 10 Für Strategien der Verdatung von Mediennutzern ist diese Regierungstechnik besonders relevant, weil die Formierung nur vollständig wird, wenn sie vom Mediennutzer in seinem privaten Umfeld umgesetzt wird. Als subtile, weiche Form des Regierens, die Disziplinierungsmaßnahmen immer mehr abzulegen versucht, ist die Verdatung auf Subjekte angewiesen, die diese Verfahren als Regulativ ihrer Mediennutzung ernst nehmen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes sind deshalb auch auf der Suche nach Subjektentwürfen, Formierungspraktiken und Adressierungsformen in den Debatten über Verdatung. Die erste Sektion Sondierungen und lnstituierungen widmet sich den Aushandlungen vor einem umfassenden Einsatz von Messverfahren sowie den komplizierten Prozessen ihrer Instituierung, den Entwürfen und Verwerfungen von Forschungsprogrammen. Den Auftakt bildet Max Webers Studie Soziologie des Zeitungswesens, die Christina Bartz in ihrer Analyse selbsthistoriografischer Texte als»Ursprungskonstruktion der Publizistikwissenschaft« liest. Bartz verdeutlicht, dass die viel zitierte >Zeitungsenquete< Webers weniger mit den Methoden der Verdatung beschäftigt ist, als nachträglich behauptet wird, um auf diese Weise forschungspolitisch den Anfang der empirischen Publikumsforschung in der deutschen Soziologie zu verankern. Dass die Verdatung noch lange nicht zu einem unumstrittenen Verfahren werden sollte und dass ihr Regierungsverfahren vorausgehen, die den Mediennutzer noch nicht mittels Zahlen formieren, zeigt Irmela Schneider in ihrem Beitrag »Radiophone Praktiken des (Selbst)Regierens in der Weimarer Republik«. Das Radio tritt selbst als Agentur der Erziehung in Erscheinung. Schneider zeigt, dass Aufforderungen an Subjekte 9
Vgl. Nikolas Rose: Powers of Freedom. Refraiming Political Thought, Cambridge: Cambridge University Press 1999, S. 215. 10 Vgl. Michel Foucault: »The Concem for Truth« [1984], in: ders., Politics, Philosophy, Culture. Interviews and Other Writings of Michel Foucault, hg. v. Lawrence D. Kritzman, New York, London: Routledge 1988, S. 255-267, sowie Alan Hunt: Governing Morals. A Social Histmy of Moral Regulation, Cambridge: Cambridge University Press 1999, S. 2. 12
STRATEGIEN DER VERDATUNG
sich normalistisch zu adjustieren und sich selbst zu regieren, nicht notwendigerweise an Statistik gekoppelt sind, sondern lassen sich ebenso in edukativen Radioprogrammen beobachten, die das Feld der Daten sondieren und es bis heute flankieren. Einen >Durchbruch< der Verdatung sehen viele historiografische Darstellungen in Paul Lazarsfelds empirischer Erforschung des Radiopublikums in Wien zu Beginn der 1930er Jahre. Diese Auffassung korrigiert Cornelia Epping-Jäger in ihrem Beitrag »Kontaktaktion«, indem sie eine Akzentuierung beleuchtet, die in der Geschichtsschreibung kaum berücksichtigt wurde: die entscheidenden Impulse, die von Karl Bühlers Ausdrucksforschung ausgehen und die die Medienforschung seines Schülers Lazarsfeld noch nach seiner Emigration in die USA prägen. Auf diese Weise vermittelt, lässt sich die Bühlersehe Kommunikationstheorie auch im Rockefeiler Communications Seminar wieder finden. Isabell Otto beobachtet dieses im Hinblick auf eine Umstellungsfigur, die für die Herausbildung der amerikanischen Communication Study in den 1940er Jahren entscheidend ist: Die Transformation von >Propaganda< zu >KommunikationDiskursereignisse< der frühen Publikumsforschung in den Blick, die sich in programmatischer Nähe zur Wiener Ausdrucksforschung befinden: Lazarsfelds RAVAG-Studie in Wien und den Program Analyzer, den Lazarsfeld gemeinsam mit Frank Stanton in den USA entwickelt. Während Lazarsfelds Auftragsforschungen fiir Radiosender und Unternehmen eng an ökonomische Belange einer Programmoptimierung gelmüpft sind, arbeitet George Gallup, der zeitgleich mit der Einflihrung wahrscheinlichkeitstheoretischer Berechnungen die Meinungsforschung revolutioniert, an der Verdatung eines politischen Publikums der Massenmedien. Felix Keller zeigt, wie der >diagrammatische Raum< als eine Strategie der Inklusion die politische Nation in ihrer Gesamtheit sichtbar machen soll. Mit ganz anderer Zielrichtung kommen die Methoden der Meinungsforschung dann zum Einsatz, wenn es noch während des Krieges gilt, Wissen über den Kriegsgegner Deutschland zu generieren. Coruelia Epping-Jäger beschreibt, wie sich die Praktiken der Westalliierten von »Geheimdienstanalysen zur Survey-Forschung« entwickeln. Die Befragungen dienen nicht der All-Inklusion einer politischen Öffentlichkeit, sondern dazu, die massenmedial induzierte Umerziehung und Demokratisierung der deutschen Bevölkerung empirisch abzusichern. Im Mittelpunkt der dritten Sektion Formierung und Adressierung von Subjekten steht die Frage, in welchem Verhältnis Verdatungsstrategien zu Strategien der gouvernementalen Führung von Mediennutzern stehen. Die Sektion verfolgt insgesamt, wie der Einsatz von Daten zunehmend Verfahren der Disziplinierung und Normierung ablöst und diese auf Formen der Selbstadjustierung von Verhaltensweisen umstellt. Markus Krause zeigt in seinem Beitrag »Die Disziplinierung des Lichtspiels«, dass die Verdatung im deutschsprachigen Kinodiskurs zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch kaum eine Rolle spielt. Es ist vielmehr die enge diskursive Verflechtung von >Masse< und >Mediumfaktischen< Zugriffs auf die >Realität< der Mediennutzung einnehmen, zeigt Isabell Otto in ihrer Beobachtung von Entwürfen des Fernsehzuschauers im Bureau ofApplied Social Research. In unpublizierten Korrespondenzen und Berichten des Bureau zeigt sich: Die Verdatung ist als Strategie der Regierung von Subjekten keineswegs unumstritten. Sie setzt sich jedoch als dasjenige Verfahren mehr und mehr durch, das in den neo-liberalen Strukturen moderner Mediengesellschaften weniger anfechtbar ist, weil es sich nicht so deutlich als gouvernementaler Zugriff auf den Mediennutzer zu erkennen gibt. Markus Stauffund Matthias Thiele greifen einen entscheidenden Aspekt auf, der Aufschluss darüber gibt, warum die Verdatung gegenwärtig selbst zu einem zentralen Verfahren der Subjektformierung geworden ist: Es ist ihr Potenzial, mittels massenmedialer Popularisierungsformen »Infografiken« hervorzubringen und zu verbreiten, die Mediennutzern Orientierungswissen zur Selbstverortung und ggf. -adjustierung bieten. Stauff und Thiele setzen ihre Beobachtungen in Visualisierungen von Statistik an, die sich in Zeitschriften und Jahrbüchern der Weimarer Republik finden, verfolgen diese aber bis zu gegenwärtigen infografischen Figurationen des Femsehpublikums. Diese Adressierungsformen von Subjekten verfolgt Christina Bartz für das ökonomische Diskursfeld weiter. Bartz führt zwei Modifikationen des aus der Normalismus-Forschung stammenden Konzepts der Infografik ein: Nicht immer müssen die Grafiken populär aufbereitet sein und sie bilden nicht ausschließlich Durchschnittswerte ab. Die diagrammatischen Darstellungen der »Kursverläufe« von Wertpapieren fordern ihre Leser gerade durch ihre Nacktheit zur interpretierenden Lektüre heraus. Am Ende des Bandes zeigt sich damit, dass die Verdatung der Mediennutzung nicht zuletzt deshalb einen hegemonialen Stellenwert in gegenwärtigen Debatten hat, weil sie sich beständig selbst stützt. Die Verdatung postuliert nicht nur, die Mediennutzung in ihren Erhebungs- und Visualisierungsverfahren verfügbar zu machen, sie setzt informierte Nutzer zur Entzifferung ihrer medialen Präsentationsformen voraus. Strategien der Verdatung erweisen sich daher als Regierungs- und Adressierungsformen, die Mediennutzer zu Subjekten ihrer Selbstformierung erklären.
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SONDIERUNGEN UND INSTITUIERUNGEN
MAX WEBERS SOZIOLOGIE DES ZEITUNGSWESENS ALS URSPRUNGSKONSTRUKTION DER PUBLIZISTIKWISSENSCHAFT CHRISTINA BARTZ »Die Entwicklungsgeschichte der empirischen Sozialforschungsmethoden in Deutschland ist nicht glücklich verlaufen. Sie hat tragische Züge - wenn man leidenschaftliche, mühevolle Arbeit großer Wissenschaftler, die vergeblich bleibt, als tragisch empfindet. Die in Deutschland weitverbreitete Vorstellung, Umfragen - eines der Instrumente empirischer Sozialforschung - seien eine amerikanische Erfindung, die nach dem zweiten Weltkrieg bei uns importiert wurde, ist ein Ausdruck dieser Tragik.« 1 Mit diesen Sätzen eröffnet Elisabeth Noelle-Neumann 1963 - also im Jahr der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Zeitungswissenschaft, die 1972 in Deutsche Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft umberrannt wird, 2 - einen Text in der Fachzeitschrift Publizistik. Ziel des Textes ist es u.a., die Aufmerksamkeit auf eine deutsche Tradition des empirischen Zugangs zur Publizistikwissenschaft zu lenken und auf diese Weise die These zu entkräften, die Empirie in diesem Fachbereich sei ein reiner Import aus den USA. Ein zentraler Name in ihrer Argumentation ist der von Max Weber, der einen Teil seiner »Lebensarbeit auf den Entwurfund die Verarbeitung von Umfragen und Analysen statistischer Daten verwendet« 3 habe und damit eben als Beleg für eine frühe Form der Empirie in der deutschen Zeitungswissenschaft dient. Noelle-Neumann nimmt dabei auf Webers Soziologie des Zeitungswesens Bezug, die er anlässlich der ersten Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) 1910 als zukünftiges Forschungsvorhaben der Vereinigung vorgestellt hat und die auch das Projekt einer Zeitungsenquete, also die Verwendung von Umfragemethoden, beinhaltet. In der
2 3
Elisabeth Noelle-Neumann: »Meinung und Meinungsführer. Über den Fortschritt der Publizistikwissenschaft durch Anwendung empirischer Forschungsmethoden«, in: Publizistik 8 (1963), S. 316-323, hier S. 316. Vgl. zur Gründung http://www.dgpuk.de/allgemein/gruendung.htm vom 22.7.2007. Noelle-Neumann: »Meinung und Meinungsführer« (wie Anm. 1), S. 316. 19
(HRISTINA BARTZ
gleichen Absicht wie Noelle-Neumann bezieht sich im selben Jahr Fritz Eberhard auf Weber: Auch er nutzt den Namen und das Projekt einer Zeitungsenquete, um der allgemein angenommenen US-amerikanischen Suprematie in der Theoretisierung der Empirie eine deutsche Geschichte der »Meinungsumfrage«4 gegenüberzustellen. Solche Äußerungen zielen jedoch in den 1960er Jahren nicht allein darauf, einen deutschen Namen gegen Vorbehalte gegenüber einer Kommunikationswissenschaft amerikanischer Prägung auszuspielen. Im gleichen Zuge geht es darum, ein spezifisches Paradigma - nämlich das der empirischen Forschung, das auf Datenerhebung sowie-auswertungberuht und das eben als rein amerikanische Forschungsstrategie angesehen wurde - zu stärken, indem es mit einem autoritativen Namen ausgestattet wird. Eberhard wie Noelle-Neumann wenden sich mit ihrem Verweis auf Webers Zeitungsprojekt gegen eine normative Publizistikwissenschaft, für die laut Lutz Hachmeister und Klaus Merten maßgeblich Emil Dovifat einsteht. Dieser reduziere »öffentliche Kommunikation auf bewußte Persuasion.« Von Reklame unterscheide die Publizistik jedoch, dass Letztere »der Gesamtöffentlichkeit dienstbar sei«, indem sie den Prozess einer freien Entscheidung befördere. 5 Gegen solche Überlegungen, die unter dem Begriff der >Gesinnungspublizistik< geführt werden, zitiert Eberhard folgende Äußerung Webers: »Wir fragen nun, wohl gemerkt, nicht, was soll publik gemacht werden.« 6 Mit solchen Zitaten wird für deskriptive Verfahren und gegen eine normative Wissenschaftsausrichtung geworben. Im Folgenden soll es um die Effekte gehen, die diese Inanspruchnahme von Webers Arbeit in den 60er Jahren auf die spätere Auseinandersetzung mit dessen Zeitungsprojekt hat. Die von Eberhard zitierte Äußerung Webers steht im Kontext des Werturteilsstreits, der neben der Formulierung zukünftiger Forschungs4
5
6
Fritz Eberhard: »Franz Adam Löffler und Max Weber. Zwei Pioniere der Publizistikwissenschaft«, in: Publizistik 8 ( 1963), S. 436-441, hier S. 438; vgl. auch ebd., S. 436, sowie einen zwei Jahre zuvor erschienenen Artikel, in dem er sich ebenfalls auf Weber bezieht: ders.: »Thesen zur Publizistikwissenschaft«, in: Publizistik 6 (1961), S. 259-266, hier S. 262. Vgl. zu Eberhard auch Heinz Pürer: Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Ein Handbuch, Konstanz: UVK 2003, S. 44f. Lutz Hachmeister: Theoretische Publizistik. Studien zur Geschichte der Kommunikationswissenschaft in Deutschland, Berlin: Spiess 1987, S. 109. Vgl. auch Klaus Merten: Einfiihrung in die Kommunikationswissenschaft, Bd. 1: Grundlagen der Kommunikationswissenschaft, Köln: LIT 1999, S. 443. Eberhard: »Franz Adam Löffler und Max Weber« (wie Anm. 4), S. 439. Siehe bei Max Weber: »Geschäftsbericht auf dem ersten Deutschen Soziologentage in Frankfurt 1910«, in: ders., Gesammelte Werke. Mit der Biographie >Max Weber. Ein Lebensbild< von Marianne Weber, Berlin: Mohr Siebeck 2004 (Digitale Bibliothek Bd. 58), S. 11688-11729, hier S. 11697.
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MAX WEBERS SOZIOLOGIE DES ZEITUNGSWESENS
fragen ebenfalls Gegenstand der Eröffnungstagung der DGS ist, die 1909 u.a. von Weber gegründet wurde. 7 In seinem Geschäfisbericht aufdem ersten deutschen Soziologentage in Franlifurt 1910 behandelt Weber zwei Themen: Zum einen geht es um die Satzung der Vereinigung, gerrauer um »die Verfassungsänderungen, welche im Laufe des verflossenen Jahres die Gesellschaft vorgenommen hat [ ... ].« 8 Eine der angesprochenen Änderungen bestimmt nun gerrau das Prinzip der Objektivität und Werturteilsfreiheit in der Forschung. Anstatt aufnormative und wertende Aussagen verpflichtet sich die Gesellschaft deskriptiven Verfahren. 9 Zum anderen stellt Weber die anvisierten Aufgaben der soziologischen Vereinigung vor: eine Soziologie des Vereinswesens und eine des Zeitungswesens. Für beide entwirft er ein ungeheures Spektrum an möglichen Fragestellungen, die er meist aus Beobachtungen - z.B. hinsichtlich lokaler Differenzen publizistischer Darstellungsweisen - ableitet, und geht im Zuge dessen teilweise auch auf die angemessene Methodik zur Bearbeitung der jeweiligen Forschungsfragen ein. So beendet er seine Darstellung zur Untersuchung des Zeitungswesens mit einer methodischen Anmerkung: »Sie werden nun fragen: Wo ist das Material für die Inangriffnahme solcher Arbeiten? Dies Material sind ja die Zeitungen selbst, und wir werden nun, deutlich gesprochen, ganz banausisch anzufangen haben damit, zu messen, mit der Schere und mit dem Zirkel[ ... ]. Und von diesen quantitativen Bestimmungen aus werden wir dann zu den qualitativen übergehen. Wir werden die Art der Stilisierung der Zeitung, die Art, wie die gleichen Probleme innerhalb und außerhalb der Zeitungen erörtert werden, die scheinbare Zmückdrängung des Emotionalen in der Zeitung, welches doch immer wieder die Grundlage ihrer eigenen Existenzfähigkeit bildet, und ähnliche Dinge zu verfolgen haben[ ... ].« 10 Diese hier beschriebene Herangehensweise - die Betrachtung der Zeitungen in Form der >Messung mit der Schere< - ist als eine Inhaltsanalyse zu verstehen, die nach quantitativen Werten hinsichtlich der Verteilung von
Vgl. zur Deutschen Gesellschaft für Soziologie Dirk Käsler: Die frühe deutsche Soziologie und ihre Entstehungs-Milieus. Eine wissenschaftssoziologische Untersuchung, Opladen: Westdeutscher Verlag 1984, S. 294f. u. S. 603-610. 8 Weber: »Geschäftsbericht« (wie Anm. 6), S. 11688. 9 Vgl. zur Wertfreiheit exemplarisch Wilhelm Hennis: »The Meaning of >WertfreiheitEnquete über das Zeitungswesen< [ ... ]. Auch wenn die >Enquete [ .. . ]< als >der bedeutendste Ansatz zur sozialwissenschaftliehen Erforschung von Zeitung und Journalismus< zu Beginn des 20. Jahrhunderts gilt[ ... ], mag die Aufnahme Webers in dieses Buch verwundern. «20
In dem Zitat stellen die Autoren nicht nur die Frage, ob Webers Soziologie des Zeitungswesens trotz ihrer Entwurfsform in einen Übersichtsband zur Kommunikationswissenschaft gehört, sondern geben auch schon die Antwort: Webers Arbeit hat bereits einen unangefochtenen Klassiker-Status. Eine gerraue Auseinandersetzung mit dem entsprechenden Text und mit der Frage, inwiefern er eine deutsche Traditionslinie der Kommunikationswissenschaft begründet, bleibt, abgesehen von solchen Ausnahmen, meist rudimentär bzw. es wird fast ausschließlich auf das Moment abgehoben, das auch schon für seine Inanspruchnahme in den 60er Jahren von Bedeutung war: die Umfragemethode. Das von Noelle-Neumann und Eberhard eingeführte Argument, Weber stehe für eine deutsche Tradition empirischer Publizistikwissenschaft, wird also gemeinhin wiederholt. Wiederholt wird auch die Feststellung des Scheiterns der Zeitungsenquete, die Noelle-Neumann in ihren Ausführungen zur >TragikMessen< sei zu >beschränktEnzyklopädisches Stichwort< führt den Leser in den Problemkreis ein, dem das behandelte Thema entstammt.« 23 Das entsprechende Schlagwort in NoelleNeumanns Band lautet >Umfrageforschung - DemoskopiePublizistik< erscheint. Die Ursache dafür ist nicht nur, dass diese Zeitungsenquete niemals über ihr Planungsstadium hinausgekommen ist, sondern es kommt hinzu, dass schon die Planung kaum dokumentiert ist. In ähnlicher Weise- wenn auch wesentlich ausführlicher- stellt Anthony Oberschall in seiner Studie zur Empirischen Sozialforschung in Deutschland Webers Wirken dar. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen zu Weber steht dessen Untersuchung zur Industriearbeiterschaft, denn von »allen empirischen Arbeiten der Vorkriegsperiode war diese Umfrage am sorgfaltigsten in ihren Einzelheiten durchdacht. Weber verbrachte einen ganzen Sommer [... ] mit Berechnungen zur Vorbereitung dieser Umfrage. Seine Absicht war festzustellen, wie weit die von der Psychologie entwickelten Konzepte und exakten Meßtechniken für eine großangelegte Massenstudie über die Industriearbeiterschaft in der natürlichen Umgebung einer Fabrik fruchtbar gemacht werden konnten. Es sollte die erste wirkliche analytisch erklärende Untersuchung werden (im Gegensatz zu den bisherigen Umfragen, die über die Feststellung und Beschreibung von Tatsachen zur materiellen und moralischen Lage der Arbeiterklasse nicht hinausgekommen waren), denn Weber wollte konkrete Hypothesen durch die gleichzeitige Analyse mehrerer Variablen testen. Zum ersten Mal in der Geschichte des Vereins wurden zur Beschaffung des Materials die Arbeiter persönlich befragt. Man wollte diese durch Fragebogen gewonnenen Angaben sowohl mit Infom1ationen aus den Akten der Unternehmen als auch mit direkten Beobachtungen der Arbeiter auf dem Fabrikgelände systematisch kombinieren. Das erwies sich jedoch angesichts der Techniken und Mittel, die zu Gebote standen, als ein viel zu anspruchsvolles Untemehmen.«26 Diese Untersuchung scheitert, insofern sie kaum Ergebnisse produziert, wie Oberschall weiter ausführt. Das Scheitern war nicht nur in der übermäßig großen Anzahl von Variablen begründet, sondern v.a. in der Weigerung der Arbeiter, die verteilten Fragebogen auszufüllen. 27 Dessen un25 Ebd., S. 315. 26 Überschall: Empirische Sozialforschung (wie Anm. 22), S. 30. Vgl. weiterhin ebd., S. 181-212. 27 Lediglich Webers Mitarbeiterin Marie Berneys war in der von ihr betreuten Fabrik erfolgreich und erhielt einen großen Teil der Fragebögen ausgefüllt zurück. Deren Auswertung führte zu einer Reihe von Ergebnissen, die jedoch bescheiden im Verhältnis zum ursprünglichen Erkenntnisziel ausfallen. Vgl. ebd., S. 204-208.
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(HRISTINA BARTZ
geachtet verdient diese Umfrage laut Oberschall eine erhöhte Aufmerksamkeit, weil sie in der Formulierung des methodischen Vorgehens besonders detailliert und innovativ sei. Die Geschichte dieses Projekts verdeutliche zudem die allgemein um die Jahrhundertwende herrschende Ablehnung des Umfrageverfahrens. 28 Es ist diese ausführliche Beschäftigung mit Methodenfragen, die die Arbeit zur Industriearbeiterschaft maßgeblich von Webers Zeitungsenquete, auf die Oberschall ebenfalls eingeht, unterscheidet. 29 Im Geschäjisbericht erfolgt keine methodisch genaue Beschreibung des V orgehens, sondern es handelt sich eher um einen Prospekt möglicher Fragestellungen und Herangehensweisen. Anstatt eine Methodik vorzugeben, regt Weber hier eher zu verfahrenstechnischen Überlegungen hinsichtlich des Gegenstands Presse an. Dies ist auch der Befund von ArnulfKutsch: Laut Kutsch scheitert die Enquete u.a., weil sie »nicht wesentlich über das Planungsstadium hinausgelangt ist und als Textdokument hauptsächlich ein umfangreicher Katalog von Fragen und Problemen, aber keine wissenschaftliche Abhandlung vorliegt.«30 Diese Aussage bezieht sich nicht nur auf den Geschäftsbericht, sondern auch auf den wahrscheinlich ebenfalls von Weber verfassten Vorbericht über eine vorgeschlagene Erhebung über die Soziologie des Zeitungswesens, in dem das Projekt der Zeitungsenquete Kutsch zufolge maßgeblich formuliert wird, und zwar systematischer und detaillierter als im Geschäjisbericht 3 1 Dieser Vorbericht wird mit fol28 29 30 31
Vgl.ebd.,S.51f. Vgl. ebd., S. 175-180. Kutsch: »Max Webers Anregungen« (wie Anm. 13), S. 9. Vgl. »Vorbericht über eine vorgeschlagene Erhebung über die Soziologie des Zeitungswesens« 7 81. als Manuskript gedruckt. Universitäts-Buchdruckerei J. Höming, Heidelberg o. J. Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek in Kiel: Nachlass Ferdinand Toennies, Cb 54.61: 1.2.08. Laut Kutsch entstand der Vorbericht vermutlich im Frühjahr 1910. Auch wenn er nicht namentlich gezeichnet ist, sieht Kutsch die Urheberschaft Webers als mnzweifelhaftbeachtlich< gewesen, konnte sich aber dessen ungeachtet nicht durchsetzen oder institutionalisieren. Die Ursachen dafür sind vielfaltig und betreffen auch die Zeitungsenquete, d.h. sie führen u.a. dazu, dass diese nie ausformuliert wird bzw. das Stadium einer Ideensammlung nicht verlässt. 35 Die Gründe für das mangelnde Fortschreiten der Enquete sind aber wohl nicht allein auf der Seite der Methodik und möglicher zeitgenössischer Vorbehalte gegen sie zu suchen, sondern auch der Gegenstandskomplex Presse und Zeitung konnte sich in der DGS nicht durchsetzen.
Das Scheitern am Untersuchungsgegenstand Der Geschäjisbericht gibt - wie bereits erwähnt - neben dem Vorschlag für eine Soziologie des Zeitungswesens auch einige Hinweise zur Organisation der DGS. Zu den organisatorischen Prinzipien gehört das Ausschusswesen der Gesellschaft: Anhand konkreter Arbeitsaufgaben werden Ausschüsse eingesetzt, die souverän agieren und mit Nicht-Mitgliedern kooperieren. 36 Entsprechend wird 1910 auch die Einrichtung einer solchen Gruppe für die Zeitungsenquete, d.h. für die Vorbereitung und Durchführung der Untersuchung, geplant, deren Bildung Arnulf Kutsch erörtert. Laut Kutsch wurde zu diesem Zweck eine Vorschlagsliste hinsichtlich möglicher Mitglieder erarbeitet, auf der sich auch namhafte Verleger fin35 Vgl. Überschall: Empirische Sozialforschung (wie Anm. 22), S. 217-228. 36 Vgl. zum Ausschusswesen Susanne Petra Schad: Empirical Social Research in Weimar, Germany, Paris: Mouton 1972, S. 87. 30
MAX WEBERS SOZIOLOGIE DES ZEITUNGSWESENS
den. Darüber hinaus erstellte Hermann Beck, der Sekretär der DGS und eines ihrer Gründungsmitglieder, eine Liste mit Forschern und Publizisten, die bereits zum Thema Presse Texte veröffentlicht hatten. 37 Beck förderte auch die Einrichtung eines Deutschen Zeitungs-Archivs, »das Zeitungsausschnitte und Artikel-Kurzfassungen als Materialgrundlage der Enquete sammeln sollte.«38 Das so zusammengetragene Material sollte die Basis für die geplante Inhaltsanalyse stellen. »Trotz dieser Vorbereitungen fand das Vorhaben ein Ende, noch ehe es richtig in Angriff genommen wurde.«39 Demgemäß kam es nie zu einer Umsetzung, insofern sich noch nicht einmal ein entsprechender Ausschuss bildete. Die Thematik der Presse wurde so in der DGS schnell als Gegenstand verworfen. Meyen und Löblich sind der Frage nach den Gründen für dieses vorzeitige Ende nachgegangen, indem sie einen umfangreichen Katalog der bisher geäußerten Antworten zusammengestellt haben. 40 Darunter finden sich sowohl die von Oberschall als auch die von Kutsch genannten Ursachen: Webers Soziologie des Zeitungswesens bilde eher eine Ideensammlung, als dass es sich um ein ausformuliertes Projekt handle. Und laut des Rechenschajisberichts während des zweiten Soziologentages 1912 habe Weber selbst als Grund für die Beendigung des Vorhabens seine Verstrickung in einen Gerichtsprozess angesehen. Aber - so führt Kutsch weiter aus- »weder er noch die DGS fanden sich nach dem Abschluss des Verfahrens bereit, den Enquete-Plan wieder aufzugreifen.«41 Zu fragen ist demnach nicht nur nach den Gründen des Scheiterns, sondern auch, warum Webers Plan kaum erneut auf die Agenda gesetzt wurde. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs spielt hier sicher eine Rol-
37 Kutsch: »Max Webers Anregungen« (wie Anm. 13), S. II. Das zeigt, dass man sich schon seit Längerem in diversen Kontexten mit dem Objekt Presse befasste. Hervorzuheben ist dabei die besonders frühe Schrift von Emil Löbl: Kultur und Presse, Leipzig: Duncker & Humblot 1903. 38 Vgl. Kutsch: »Max Webers Anregungen« (wie Anm. 13), S. II. Während Webers Zeitungsenquete gemeinhin als die Geschichte eines Scheiterns erzählt bzw., Kutsch zufolge, meist überhaupt nicht erörtert wird, weil die Historiografie der Sozialwissenschaften sich in der Regel nur Ergebnissen zuwendet (vgl. ebd., S. 5), wird das Deutsche Zeitungs-Archiv bei Anke te Heese zum Bestandteil einer Erfolgsgeschichte der Archivierung. Vgl. Anke te Heese: Der Zeitungsausschnitt. Ein Papierobjekt der Moderne, Frankfurt/ Main: Fischer 2006, S. 107-110. 39 Kutsch: »Max Webers Amegungen« (wie Anm. 13), S. 11. 40 Vgl. Meyen/ Löblich: Klassiker der Kommunikationswissenschaft (wie Anm. 20), S. 146f. u. S. 156-159. Meyen und Löblich nennen eine Vielzahl von möglichen Gründen, die hier nicht alle ausgeführt werden sollen. 41 Kutsch: »Max Webers Anregungen« (wie Anm. 13), S. II. Nicht nur in dieser Passage deutet sich bei Kutsch an, dass Weber selbst schnell das Interesse an seinem Projekt verlor.
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le. 42 V.a. herrschte in der Zeit aber innerhalb der Soziologie nicht nur ein allgemeines Desinteresse an Empirie, sondern auch am Gegenstand Zeitung.43 Schenk gibt implizit eine weitere Antwort, indem er auf die Entwicklung immer neuer Einzelmedien - allen voran des Hörfunks - aufmerksam macht. Dies macht neue Forschungsansätze notwendig, wie sie in den USA unter dem Begriff der Massenkommunikationsforschung verhandelt und mit der Entwicklung der Lasswell-Formel bearbeitet werden. Webers Enquete enthalte zwar viele Aspekte, die sich auch in der Lasswell-Formel (>Who Says What in Which Channel to Whom With What Effect?Gene48 Vgl. den Artikel »Öffentlichkeit«, in: Otto Brunner/Wemer Conze/Reinhart KoseHeck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart: Klett-Cotta 1978, S. 413-467, hier S. 465. Vgl. zu den politischen Funktionen Burkart: Konununikationswissenschaft (wie Anrn. 34), S. 391-395. 49 Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Weber in seinem Vortrag Politik als Ben!(, in dem er auf die Notwendigkeit eines verantwortungsvollen journalistischen Handeins aufmerksam macht, da der Beruf ein hohes »Maß von Einfluß und Wirkungsmöglichkeit« mit sich bringe (Max Weber: »Politik als Beruf« [1918119], in: ders., Gesammelte Werke (wie Anm. 6), S. 10689-10793, hier S. 10730). Zugleich muss aber einschränkend erwähnt werden, dass der Journalismus in dieser Zeit nur ein geringes gesellschaftliches Prestige und Ansehen genoss, und es zudem - wie Horst Pöttker hervorhebt - an Bewusstsein für die publizistischen Aufgaben mangelte. Vgl. Horst Pöttker: »Max Weber. Journalismus als politischer Beruf«, in: ders. (Hg.), Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag (wie Anrn. 31), S. 327328, hier S. 328. Vgl. in diesem Sinne bei Weber: »Politik als Beruf« (s.o.), S. I 0731 f. Pöttker veröffentlicht in dem Band auch den Auszug aus Politik als Beruf, der sich mit dem Journalismus befasst. Vgl. Max Weber: »Politik als Beruf«, in: Pöttker (Hg.), Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag (wie Anm. 31), S. 329-347. 50 Vgl. »Öffentlichkeit« (wie Anm. 48), S. 464. 34
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rals< entfalte eine in der Zeitung publizierte Meinung ihre Wirkung, wie Weber die allgemein geäußerten Annahmen zur (ausländischen) Presse einigermaßen ironisch referiert. Weber gibt sich in seinem Vortrag solchen Annahmen gegenüber indifferent. Im Vorbericht wird er dann deutlicher, insofern er von der Presse als >Suggestionsmittel< spricht. 51 Dementsprechend deutet er dann unter der Überschrift Zeitungsgesinnung auch die Frage nach einer Wirkung im Sinne einer »Förderung oder Hemmung der Erziehung der öffentlichen Meinung« 52 an und erörtert »postkommunikative [ ... ] Effekte« 53 des Journalismus. Von dieser Annahme ausgehend kommt Weher aber weniger zur Idee einer Messung der Wirkung z.B. in Form einer Leserbefragung, als zur Untersuchung der Zeitung selbst auf dem Wege der Inhaltsanalyse. Seine methodischen Ausführungen beziehen sich weitgehend auf eine Inhaltsanalyse, eine Befragung der Leser ist dagegen an keiner Stelle vorgesehen. 54 >Zeitungsgesinnung< meint dann auch im eigentlichen Sinne die Gesinnung, die die Zeitung äußert, und nicht ihre gesinnungs- und meinungsbildenden Effekte auf den Leser. Neben der Inhaltsanalyse entwickelt Weber aber noch eine zweite Perspektive auf die Untersuchung der Zeitungsgesinnung - nämlich die Frage, wodurch die Gesinnung einer Zeitung beeinflusst wird. Diese Frage zielt auf die Erörterung der Faktoren, die »bei der Schaffung des Zeitungsinhalts«55 mitwirken. Weher stellt eine umfangreiche Liste solcher Faktoren zusammen, wie z.B. die Bindung einer Zeitung an ihre eigene Tradition, das Verhältnis zu politischen Parteien und Interessengruppen oder die »Machtverteilung innerhalb der Presse[ . .. ].«56 Die Bearbeitung entsprechender Fragen könne, so Weber, unter Zuhilfenahme von Inter51 Vgl. »Vorbericht« (wie Anm. 31), S. 1. In Politik als Berufäußert Weber, dass Journalisten >Demagogen< seien, jedoch häufig solche mit Verantwortungsgefühl. Vgl. Weber: »Politik als Beruf« (wie Anm. 49), S. 10726f. Vgl. zur Einordnung der Zeitungsenquete in das Gesamtwerk Webers Stefan Egger: Herrschaft, Staat und Massendemokratie. Max Webers politische Moderne im Kontext des Werks, Konstanz: UVK 2006, S. 201-204. 52 »Vorbericht« (wie Anm. 31), S. 5. 53 Kutsch: »Max Webers Anregungen« (wie Anm. 13), S. 10. 54 Wie Oberschall hinsichtlich der Untersuchung zur Industriearbeiterschaft ausführt, galt Webers Methode, die Arbeiter selbst zu befragen, als äußerst innovativ und ungewöhnlich für die Zeit, in der bei Umfragen gemeinhin die Vorgesetzten oder auch die Geistlichen interviewt wurden (vgl. Oberschall: Empirische Sozialforschung (wie Anm. 22), S. 30). Daran anschließend kann davon ausgegangen werden, dass eine Befragung der Rezipienten kaum in Betracht kam. Diese Herangehensweise setzte sich in der USamerikanischen Kommunikationswissenschaft in den 40er Jahren durch und ist mit Namen wie Lazarsfeld, Hovland und Cantril verbunden. 55 »Vorbericht« (wie Anm. 31), S. 5. 56 Ebd. 35
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views und »Fragebogenerhebungen«57 mit Journalisten, Redakteuren und Verlegern geschehen. Die Inhaltsanalyse wird so durch eine (rudimentäre) Form der Kommunikatorforschung ergänzt. Neben der Untersuchung der Zeitungsgesinnung ist es das Ziel der Enquete, »das Zeitungsgeschäft in der Art seiner notwendigen Existenzbedingungen und in den Rückwirkungen dieser auf die Gestaltung« 58 zu beobachten. Grundüberlegung ist hierbei, dass die Zeitungsverlage privatwirtschaftlich organisiert sind und dies einen Einflussfaktor hinsichtlich ihrer Struktur und auch ihrer Inhalte darstellt. Mit diesen beiden Aspekten seiner Ausführungen - der Zeitungsgesinnung und dem Zeitungsgeschäft - entwirftWeber ein Konzept von Presse als ein Feld, in dem sich Markt und Macht treffen. Es lässt sich also resümieren, dass Weber innerhalb seiner Darstellung der Zeitungsenquete eine differenzierte Konzeption des Komplexes Presse vorlegt, welche diese in einem heterogenen Feld situiert. Innerhalb der Kommunikationswissenschaft wird diese Konzeption aber häufig zugunsten der Betonung seiner Methodik ausgeblendet. Es wird bei der Betrachtung des Geschäfts- und Vorberichts maßgeblich auf das messende Moment abgehoben. Die Ursache für die Dominanz dieser einseitigen Lesart liegt in seiner strategischen Inanspruchnahme in den 60er Jahren, in denen Eberhard und Noelle-Neumann den Namen Weber in die Diskussion brachten, um den empirischen Zugang zur Publizistik- und Kommunikationswissenschaft zu stärken. Sie konstruierten- aufbauend auf Oberschalls Arbeit zur Soziologie- mit Weber einen deutschen Ursprung der empirischen Kommunikationswissenschaft, den sie gegen eine normative Publizistik ausspielten. Effekt dieser Konstruktion ist zum einen die genannte Dominanz des methodischen Blicks auf Webers Arbeiten zur Presse. Zum anderen wird durch diese Betonung des Umfrageaspekts Webers Soziologie des Zeitungswesens verstärkt als gescheitertes Projekt aufgefasst. Damit soll nicht behauptet werden, dass Webers Geschäftsbericht sich nicht mit der Umfragemethode und mit Messverfahren befasst. Es geht vielmehr darum, alternative Perspektiven auf den Text aufzugreifen und zu eröffnen.
57 Ebd., S. 6. 58 Ebd., S. 1. 36
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Aushandlungen Die Aussicht, Musik und Wortbeiträge über einen Röhrensender zu übertragen, bezeichnet Hans Bredow im Jahre 1919 als die »Möglichkeit eines >Rundfunks an Allealle< adressiert werden, wird in der Phase der Ausund Verhandlungen um diese neue Medientechnologie ganz unterschiedlich gesehen. Militärische Ziele z.B. sind anders ausgerichtet als die Interessen der Geräteindustrie, die möglichst viele Geräte herstellen und verkaufen will. Amateurfunker verfechten das Prinzip des freien Funkverkehrs und protestieren gegen restriktive staatliche Verordnungen. 3 Initiativen, den Rundfunk als Saal- oder Gemeinderundfunk zu organisieren, die Empfänger also in einem Raum zu versammeln, stoßen auf den Widerstand der Radiobastler. 4 Was ein Rundfunk »an alle« meinen könnte, ist also am Anfang ungeklärt.
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Zit. nach E. Kurt Fischer: Dokumente zur Geschichte des deutschen Rundfunks, Göttingen: Musterschmidt-Verlag 1957, S. 10. Die Formulierung verwendet Bredow in einem Vortrag, den er in der Berliner Vrania vor Pressevertretern hält. Reinhart Koselleck: »Die Verzeithebung der Begriffe«, in : ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 77-85, hier S. 84. Vgl. Winfried B. Lerg: Rundfunkpolitik in der Weimarer Republik, Bd. I, München: dtv 1980, S. 98-106. Zum Saalrundfunk vgl. ebd., S. 171, und Wolfgang Hagen: Das Radio. Zur Geschichte und Theorie des Hörfunks - Deutschland/USA, München: Fink 2005, S. 78f.
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Die offizielle Einrichtung des Radios erfolgt in den 20er Jahren, als regionale Sendegesellschaften gegründet werden. In konzeptionellen Überlegungen zu möglichen Radioprogrammen stehen zwei Formeln im Zentrum: Das Radio wird als »Unterhaltungsrundfunk« und als edukative, als wie es heißt- »belehrende« Anstalt entworfen. 5 Wenn das Radio seine Nutzer belehren und erziehen will, dann wird das Medium- programmatisch und prägnanter, als die Formel vom Unterhaltungsrundfunk anzeigt - als eine Sozialtechnik diskursiviert, die die Nutzer - im Sinne Foucaults - »regiert«.6 In diesem Beitrag konzentriere ich mich auf edukative Programme, um an diesen Fallbeispielen die radiophone Regierungstechnik fur die Zeit der Weimarer Republik zu untersuchen. Eine Differenzierung ist angezeigt, was Foucaults Konzept des Regierens betrifft. Im Unterschied zu institutionalisierten Agenturen des Regierens - z.B. Familie, Bildungsinstitutionen oder karitative Einrichtungen - lässt sich Radionutzung als eine Praktik des >RegierensSelbstregierung< definieren. Denn der Hörer nimmt die Programme des Radios in der Regel im privaten Raum, auf eigenen Entschluss hin wahr. Mediennutzung macht also nicht nur, wie häufig beobachtet, die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit fließend, sondern ebenso die zwischen Regiertwerden und Selbstregierung. Dass das Radio mit einem pädagogischen Impetus startet, mag aus heutiger Sicht überraschen. Es überrascht nicht, wenn man den Blick in die Mediengeschichte richtet/ und es wird fur die Zeit der Weimarer Republik plausibel, wenn man die Epistemologie der Rundfunkgründung verfolgt. In diese Epistemologie schreibt sich die »pädagogische Frage« ein, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in unterschiedlichen Diskursfeldern einen hohen Rang behauptet. Denn die massive Krise im Bereich von Bildung und Erziehung, die mit Nietzsches Bildungskritik in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts einsetzt, führt am Beginn des 20. Jahrhun-
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Zum Begriff der Anstalt vgl. Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Hg. von Dieter Lenzen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 146. Der juristische Begriff der Anstalt hat, so Luhmann, »den Vorzug, dass er auch die Klienten einbezieht ohne Rücksicht darauf, dass sie an den Entscheidungen des Systems gar nicht beteiligt und insofern nicht Mitglieder der Organisation sind.« Um ein Missverständnis zu vermeiden: Beide, das edukative und unterhaltende Radio, bilden eine Sozialtechnik, die ihre Nutzer »regiert«, aber dies geschieht in den beiden Ausrichtungen aufunterschiedliche Weise. Vgl. als allgemeinen Hinweis Christopher A. Bayly: Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780-1914, Frankfurt/Main, New York: Campus 2006, S. 89: »Die >Druckkulturbilliges Massenvergnügen< diskursiviert. 10 Zugleich bändigt die Formel die damals weitverbreiteten Ängste vor der Masse und die damit einhergehende Sorge, dass aus den neuen Medien Massenmedien werden könnten, die nur unterhalten und zerstreuen. Die edukative Funktionsbestimmung des Radios, die mit dem BildungsBegriff vorgenommen wird, fügt, so die zentrale Hypothese, die dieser Beitrag verfolgt, den Rundfunk in die Agenturen des Regierens ein. 11 Folgt man dieser Spur, dann ist Mediennutzung eine Form des Regiert8
Eva Geulen: »Erziehungsakte«, in: Jürgen Fohtmann (Hg.), Rhetorik. Figuration und Performanz, Stuttgart, Weimar: Böhlau 2004, S. 629-652, hier S. 646. 9 Vgl. Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft (wie Anm. 5), S. 186 ff. 10 Vgl. Horst 0. Halefeldt: »Rundfunk als neues Medium«, in: Joachim-Felix Leonhard (Hg.), Programmgeschichte des Hörfunks in der Weimarer Republik, Bd. 1, München: dtv 1997, S. 17-22, hier S. 22; vgl. auch: Ludwig Stoffels: »Kulturfaktor und Unterhaltungsrundfunk«, in: Joachim-Felix Leonhard (Hg.), Progranungeschichte des Hörfunks in der Weimarer Republik, Bd. 2, München: dtv 1997, S. 623-634. II Vgl. zu Massenmedien als Agenturen des Regierens (im Sinne Foucaults) meine Überlegungen »Zur Archäologie der Mediennutzung. Zum Zusammenhang von Wissen, Macht und Medien«, in: Barbara Becker/Josef Wehner (Hg.), Kulturindustrie reviewed - Ansätze zur kritischen Reflexion der Mediengesellschaft, Bielefeld: transcript 2006, S. 83-100. 39
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werdens, die als radiophone Selbstregierung erfahrbar ist. Das Radio der Weimarer Republik und die »radiophone Konstellation« 12 werden dann beobachtbar als eine spezifische Sozialtechnik, die die Hörer-Subjekte michtdisziplinär< reguliert und steuert. Zugleich werden mögliche Irritationen über das Neue des neuen Mediums gemildert, wenn das Radio, wie Bredow als Repräsentant jener frühen Rundfunkjahre wiederholt betont, als »Kulturinstrument« definiert und auf diese Weise einem traditionellen, einem >hegenden< Kulturbegriff zugeordnet wird. 13 Eine weitere Strategie, das Radio in vertraute Denkmuster einzufügen, beschreibt das Medium als eine technische Einrichtung, die lediglich der Verbreitung von Kultur diene. Im Unterschied zu solchen Strategien verfolge ich die Hypothese, dass das Radio, sei es im Duktus von >Erbauung< oder von >BelehrungKultur< und das der >Bildung< waren von jeher Geschwister«. 14 Vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2 1999, S. 144. Normalistische Individualisierung, so erläutert Link, meint keine »>qualitative BesonderheitZweck< einer solchen Zentralisierung manifestiert sich im Konzept der Deutschen Welle. 1924 wird in einem Gesellschaftsvertrag der Aufgabenbereich als »Veranstaltung von Unterricht, Vorträgen und Darbietungen« definiert. 17 Das Vortrags- und Kursprogramm bzw. die in thematischen Reihen organisierten Vorträge der Deutschen Welle GmbH werden v.a. in der Vorbereitungsphasevon Karl Ludwig Voss betreut, der zu den Gri.indem der Deutschen Welle gehört. 18 Einen ersten Schwerpunkt bildet der sogenannte
ten- und Vortragsdienst der Sendegesellschaften zitiert wird: »Der Rundfunk dient keiner Partei. Sein gesamter Nachrichten- und Vortragsdienst ist daher streng überparteilich zu gestalten.« 16 Vgl. ebd., S. 303. 17 Ebd., S. 305. Zur Gründung der Deutschen Welle vgl. auch Horst 0. Halefeldt: »Sendegesellschaften und Rundfunkordnungen«, in: Leonhard (Hg.), Programmgeschichte des Hörfunks, Bd. 1 (wie Anm. 10), S. 23-352, hier S. 123f.; Gabriele Rolfes: Die Deutsche Welle- ein politisches Neutrum im Weimarer Staat?, Frankfurt/Main: Lang 1992. Das Programm der Deutschen Welle GmbH beginnt am 7.1.1926; sein Ende, so Rolfes (S. 17), besiegelt die Neuordnung des Rundfunks vom Juli 1932. Am 30.3.1933 wird die Deutsche Welle in die Deutschland5ender GmbH umgewandelt, die insgesamt nationalsozialistisch ausgerichtet ist. 18 Zu Voss, der nicht nur die Deutsche Welle GmbH gegründet hat, sondern davor bereits die Eildienst GmbH und die Deutsche Stunde, Gesellschaji jiir drahtlose Belehrung und Unterhaltung mbH, vgl. Lerg: Rundfunkpolitik in der Weimarer Republik (wie Anm. 3), S. 53ff., und Rolfes: Die Deutsche
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»pädagogische Rundfunk«, der in Kooperation mit dem Zentralinstitutjilr Erziehung und Unterricht organisiert wird. 19 Er wird ausgebaut um Vorträge zur beruflichen »Fortbildung und Belehrung« sowie um Beiträge, die »Fragen aus den verschiedensten Wissenschaftsgebieten der Geistesund Naturwissenschaften und auch der sogenannten schönen Wissenschaften« behandeln und die der »allgemeine[n] kulturelle[n] Förderung« dienen sollen?0 Diese Dreiteilung- pädagogischer Rundfunk, allgemeinbildende und berufsbildende Vorträge -ist an einer Segmentierung des potenziellen Publikums ausgerichtet. Sie verweist zugleich auf Unterrichtspraktiken, die ihre Adressaten in Gruppen einteilen. Die Programmatik einer solchen Einteilung betont die Deutsche Welle, wenn es heißt: »Es ist keineswegs richtig, jede Vortragsreihe für die Gesamtheit der Hörer verständlich zu gestalten. Das würde heißen, das Niveau unerträglich zu senken. Es muß an der Vorstellung festgehalten werden, daß jedes Thema seinen Hörerkreis vorschreibt. [ ... ] Der Rundfunkhörer muß sich zur Regel machen, nicht alles hören zu wollen«. Das Radio, so heißt es weiter, erfordert eine »Erziehung des Hörers«, deren Effekt in der »Selbstdisziplin« der Hörer besteht? 1 Der Pädagogische Rundfunk richtet sich v.a. an Lehrer und Erzieher. Er verfolgt eine »Lehrerausbildung mit einem sehr umfassenden erziehungswissenschaftliehen Anspruch, einschließlich der Unterrichtskunde«. 22 Außerdem werden in diesem Rahmen Kursprogramme in Englisch, Französisch, Spanisch und Esperanto, in Kurzschrift und Sprecherziehung gesendet. Allgemeinbildende Vorträge orientieren sich an einem Universalistischen Bildungs-Begriff. Hierzu gehören Vorträge zu allgemeinen kulturellen Themen. Einen zweiten Schwerpunkt bilden Vorträge, die Aspekte der Gouvemementalität verhandeln, z.B. Fragen der Völker- und Länder-
Welle (wie Anm. 17), S. 20ff. Voss schied bereits im Juli 1926 aus der
Deutschen Welle aus (vgl. dazu ebd., S. 34). 19 V gl. zur Bezeichnung als pädagogischer Rundfunk § 1 des Vertrags, den die Deutsche Welle mit dem Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht im Februar 1928 abschloss bzw. erneuerte, wo als pädagogischer Rundfunk »Rundfunkdarbietungen für Lehrer, Eltern und Erzieher« bezeichnet werden, die vom Zentralinstitut und der Deutschen Welle gemeinsam veranstaltet werden (zit. nach ebd., S. 46). 20 Die Deutsche Welle GmbH. Bredow-Funk-Archiv 257, S. 5, Deutsches Rundfunkarchiv (DRA). 21 Ebd., S. 7. Vgl. Deutsche Welle Funk, 2 (1927), H. 23, wo ein Berliner Studienrat Ratschläge formuliert, die er unter dem Titel »Wie höre ich nutzbringend Rundfunkvorträge« zusammengestellt hat (DRA). 22 Lerg: Rundfunkpolitik in der Weimarer Republik (wie Anm. 3), S. 306.
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kunde, der Staatsbürger-, Rechts- oder Wirtschaftskunde. 23 In solchen Vorträgen wird der Hörer häufig als ein Kollektiv von Opfern adressiert. Die Opferexistenz resultiert aus dem verlorenen Ersten Weltkrieg und der damit verbundenen »Verarmung des deutschen Volkes«; 24 sie zeigt sich an der »Entseelung der Arbeit« und der »nationalen und kulturellen Entformung«?5 Ein Vortrag zum Thema »Der Arbeiter und die neudeutsche Boden- und Siedlungspolitik«, um ein weiteres Beispiel zu geben, handelt von der » Raumnot unseres Volkes«, die »zur vielgestaltigen Lebensnot geworden ist«. 26 Bei den Programmen zur beruflichen Fortbildung wird u.a. unterschieden zwischen dem Landwirtschafts-, Volkswirtschafts-, Juristen- und Beamtenfi.mk, dem Technischen und dem Kaufmännischen Funk, dem Ärzte-, Zahn- und Tierärztefunk. Es gibt darüber hinaus eine »Arbeiterstunde« und eine »zweimal wöchentlich w iederkehrende >Stunde der Hausfrau und Mutter«Rundfunk und Schule«Erbauung< der Zuhörer mit Pathosformeln des Zusammengehörigkeitsgefühls und Volksbewusstseins verhallen im selben Raum. Die Deutsche Welle GmbH repräsentiert mit ihrem Vortragsprogramm eine Medien-Formation, die für das Radio der Weimarer Republik signifikant ist: Das Radio, so die Prämisse, kann die Effektivität edukativer Initiativen steigern, da die Programme als Fernkommunikation, also ohne die Überbrückung räumlicher Distanzen, mehr Empfänger finden als Bildungs-Institutionen, die durch interaktionelle Praktiken definiert sind. Bildungs-Emphase und das Interesse an einer möglichst großen Zahl von Hörern gehören in den Selbstbeschreibungen zusammen und stützen sich wechselseitig. In diesen Zusammenhang einer Verknüpfung von Pathos und Utilitarismus gehört auch, wenn Voss den »Gedanke[n] wirtschaftlicher Förderung« qua Radionutzung mit der Idee der »Gleichberechtigung aller vor der Kultur« verbindet. 41 Die Paradoxien, die in solchen Formulierungen enthalten sind, bleiben in den Selbstbeschreibungen unsichtbar. Der Aufbau des Programms der Deutschen Welle zeigt zwei gegenläufige Tendenzen: Auf der einen Seite spielt in Selbstbeschreibungen der Begriff der (Volks-)Bildung als einer inkludierenden Formel eine zentrale Rolle: Alle sollen mit dem Programm erreicht werden. Im konkreten Aufbau des Programms findet dann eine Segmentierung statt, die sich an Alters- und Berufsgruppen orientiert, die also an der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft ausgerichtet ist. Inklusion ist das Generalprinzip. Zugleich wird das Prinzip der Inklusion korrigiert durch Steu-
39 Zit. nach ebd. ; Lampe war zuvor Leiter der 1919 gegründeten Bildstelle des Zentralinstituts; vgl. Böhme: Das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht (wie Anm. 32), S. 42 u. S. 279. 40 Zit. nach: »Bericht über die Tagung >Rundfunk und Schule«< (wie Anm. 38), S. 370. 41 So Voss in einer Mitteilung an das Reichspostministerium, zit. nach Rolfes: Die Deutsche Welle (wie Anm. 17), S. 19f. Den Grundsatz der »Gleichberechtigung vor der KulturSystem-Stellungen< normalisiert: Die Ärzte werden als Ärzte adressiert, die Lehrer als Lehrer, die Landwirte als Landwirte und die Hausfrauen als Hausfrauen. Auf der anderen Seite und komplementär dazu gehören- adressiert an alle- gouvernementale Belange und biopolitische Themen zum radiophonen Erfahrungsraum, die sich an die Bevölkerung insgesamt richten. 43 Vorträge zur Bevölkerungsplanung und Hygiene, zur Gesundheitspolitik und Pädagogik, zur Psychophysiologie der Arbeit und zu Gewerbekrankheiten bilden, so die Vermutung, Verfahren der (Selbst-)Regulierung aus. Zu den genealogischen Spuren der Vortragsthemen gehören sozialhygienische Programme. 44 Anders als institutionalisierte und interaktioneil organisierte Erziehungsakte sind radiophone Praktiken für alle, die über ein Radio verfügen, zugänglich. Das Radio adressiert zwar den Nutzer als Mitglied z.B. einer spezifischen Berufsgruppe, aber es verfügt über keine disziplinären Mittel, einen Nutzer ein- oder auszuschließen. Es vertritt das massenmediale Prinzip der All-Inklusion und praktiziert zugleich einen Adressierungsmodus, der den Nutzer als Subjekt >ansprichtMarsch< belegen die OS-amerikanischen »CollegeStations«, die seit 1922 an einer Reihe US-amerikanischer Universitäten eingerichtet werden, um radiophone Vorlesungen, Vorträge und Diskussionen zu organisieren. 47 Dass auch deutsche Radioprogramme dem Gedanken verpflichtet sind, »den Rundfunk in den Dienst des Unterrichts zu stellen«, betont Hans Bodenstedt, der Intendant des Hamburger Rundfunksenders NORAG, in seinem Tagungsvortrag. Er stellt die Hans-Bredow-Schule für Volhwissenschaften in Harnburg vor und erläutert den organisatorischen und konzeptionellen Aufbau dieser Rundfunkschule. 48 Die Programme der HansBredow-Schule lassen sich in drei große Themenbereiche aufteilen: Es gibt Vorträge, die bestimmte Berufsgruppen adressieren; es werden Themen verhandelt, die gouvernementale und biopolitische Belange betreffen, und es gibt Vorträge, die sich mit Kunst und Kultur beschäftigen. Drei unterschiedliche Erwartungen an den Rundfunk werden also vorausgesetzt: erstens ein sogenanntes allgemeines kulturelles Interesse; zweitens die Erwartung, über Gesundheit und Erziehung, über Entwicklungen der Bevölkerung und des Landes informiert zu werden; drittens die Erwartung, sich durch Radiohören beruflich >fortbilden< zu können. Die radiophonen Praktiken, die die Hans-Bredow-Schule ebenso wie die Deutsche Welle mit ihren Vortrags- und Kursprogrammen initiiert, gehören, wenn man von Foucaults Geschichte der Gouvernementalität
45 Ab 1926 ist Bredow der erste »Reichs-Rundfunk-Kommissar« und zugleich Vorsitzender der RGG; am 15.2.1933 wird Bredow auf eigenen Antrag aus dieser Funktion abberufen; der Rundfunk wird nun vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda überwacht und gleichgeschaltet. 46 Hans Bredow: »Die allgemeine Bedeutung des Rundfunks. Ansprache des Staatssekretärs«, in: Zentralinstitut (Hg.), Rundfunk und Schule (wie Anm. 34), S. 3f., hier S. 4. 47 Vgl. Hagen: Das Radio (wie Anm. 4), S. 191; vgl. meinen Beitrag »Konstruktionen eines Radiosubjekts« in diesem Band; vgl. auch als zeitgenössischen Beleg ftir diese Initiativen die Übersetzung eines Beitrags, der über den »drahtlosen Unterricht« in den USA berichtet und im Februar 1924 in der ZeitschriftPopular Radio erschien (in: Funk 1 (1924), S. 243). 48 Die Hans-Bredow-Schule ist am 3.7.1 924 eröffnet worden.
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ausgeht, zur modernen Pastoralgouvernementalität. 49 Das zeigt sich deutlich, wenn die Erwartungen an das Radio, die den Hörern zugeschrieben werden, mit den Zielen in Beziehung gesetzt werden, die Foucault für die moderne Pastoralmacht herausgestellt hat. Ausgehend von den angenommenen Hörererwartungen und auch mit Blick auf die programmatischen Selbstbeschreibungen verfolgt das Radioprogramm der Weimarer Republik als ein Ziel, eine möglichst große Zahl von Hörern zu Subjekten einer normalistischen Individualität zu formieren. Auf diesem Wege, so die damit verbundene Annahme, werde der Alltag der Mediennutzer erleichtert und bereichert. Das Radio dient auf diese Weise dem Ziel, das Glück in dieser Welt zu finden. Es geht in der modernen Pastoralmacht, so Foucault, nicht mehr, wie in der christlichen Pastoralmacht, darum, die Menschen »zur Erlösung in der anderen Welt zu führen«, sondern das Ziel muss sein, ihnen »das Heil in dieser Welt zu sichern«. 5° Aus dem Glück im Jenseits wird, zugespitzt formuliert, das Benthamsche Prinzip des größten Glücks für die möglichst größte Zahl (»greatest happiness of the greatest number«). 51 Als ein zweites Ziel moderner Pastoralgouvernementalität führt Foucault an, »das Wissen über den Menschen« zu entwickeln, und zwar sowohl das globale und quantitative Wissen über die Bevölkerung als auch das analytische Wissen, das sich auf das Individuum bezieht. 52 Auch dieses Ziel bestimmt, darauf verweisen die Themen und Titel der Vorträge und Kurse, das Radioprogramm nicht nur der Hans-Bredow-Schule, sondern auch anderer Sendegesellschaften in der Weimarer Republik. 53 Der Erfolg der Hans-Bredow-Schule manifestiert sich nicht, wie in den Institutionen des Erziehungssystems, an ihren Absolventen und deren Prüfungsleistungen oder Zensuren, sondern er bemisst sich >an den vielen
49 Vgl. Michel Foucault: Geschichte der Gouvemementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004. 50 Michel Foucault: »Warum ich die Macht untersuche. Die Frage des Subjekts«, in: ders./Walter Seitter, Das Spektrum der Genealogie, Bodenheim: Philo, S. 14-28, hier S. 25; zu Foucaults Konzept der Pastoralmacht vgl. auch ders.: »Ümnes et singulatim. Zu einer Kritik der politischen Vernunft«, in: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, S. 65-93. 51 Foucault: »Warum ich die Macht untersuche« (wie Anm. 50), S. 25f. 52 Ebd. 53 Die Vorträge, die im Rahmen der Hans-Bredow-Schule organisiert werden, übernehmen im Laufe der Weimarer Zeit die Sendegesellschaften in Leipzig, Breslau, Frankfurt und Berlin. Vgl. Renate Schumacher: »Programmstruktur und Tagesablauf der Hörer«, in: Leonhard (Hg.), Programmgeschichte des Hörfunks, Bd. 1 (wie Anm. 10), S. 353-422, hier S. 388.
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tausend HörernMedienwirkungsforschung avant la lettreSichtbarmachung< eines bis dahin anonymen Rundfunkpublikums lässt sich v.a. an der von Herta Herzog vorgenommenen Auswertung des »Rundfunkexperiments«2 und den sich anschließenden Folgeexperimenten aufspüren, 3 da der Rundfunk und sein Massenpublikum hier in einer spezifischen Weise in das Methodendesign der Untersuchungen eingingen. Sicherlich betrachtete die Wiener Forschergruppe die Analyse der Wirkungen des Rundfunks nicht als ihren genuinen Gegenstand, gleichwohl aber entwickelte sie im Ensemble ihrer Studien ein methodisches Design, ohne das etwa die später in der Geschichtsschreibung der Massenkommunikationsforschung als >Beginn der Publikumsforschung< angesehene >RAVAG-Studie< 4 nicht denkbar gewesen wäre. Insofern stellen die
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Kar! Bühler: »Was erraten wir aus der menschlichen Stimme?«, in: Radio Wien (1931), H. 33, S. 11. Herta Herzog: »Stimme und Persönlichkeit (mit 10 Abbildungen im Text)«, in: Zeitschrift ftir Psychologie 130 (1933), S. 300-369, hier S. 301. Vgl. ebd., S. 304. Vgl. Desmond Mark: Paul Lazarsfelds Wien er RAVAG-Studie 1932. Der Beginn der modernen Rundfunkforschung, Wien, Mülheim a.d. Ruhr: Guthmann-Peterson 1996, S. 80. RAVAG lautet die Kurzform der offiziellen
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>Wiener Experimente< eine wichtige Vorstufe der Publikumsforschung dar. Sie entwickelten nicht nur erste Instrumente der sozial differenzierteren Erfassung eines Massenpublikums, sondern sie lassen auch den ausdrucks- und kommunikationstheoretischen Rahmen deutlich werden, der das Bühlersehe Forschungsprogramm thematisch bestimmte. Die statistisch und sozial differenzierte Erfassung dieses Publikums, die zu einem grundlegenden methodischen Baustein flir die entstehende Wirkungsforschung wurde, lässt sich so zugleich als Ergebnis theoretischer Modellbildung interpretieren. Das Massenmedium Rundfunk eröffnete zum ersten Mal die Möglichkeit, ausdruckstheoretische Fragestellungen in einen kommunikationstheoretischen Rahmen zu stellen. Es ermöglichte, das soll im Folgenden gezeigt werden, eine kommunikationstheoretische Reformulienmg des weithin anthropologisch bestimmten ausdruckstheoretischen Paradigmas.
Karl Bühler und die Revision der Ausdruckstheorie »Das Ohr allein vermittelt uns dann und wann einen bestimmten und zwingenden Eindruck der Persönlichkeit«5, formulierte Karl Bühler am 19. Mai 1931 in einem Vortrag, der von der RAVAG aus Anlass der Eröffnung des >Rundfunkexperiments< ausgestrahlt wurde. Auffällig, für die Exposition des Experiments aber gleichwohl symptomatisch, ist, dass Bühler hier in demselben Maße an das traditionelle Paradigma der anthropologischen Ausdrucksforschung anschließt, wie er mit der Wendung >dann und wann< zugleich dessen Aussagekraft relativiert. In der Tat nimmt der Aufbau der Untersuchung Kernannahmen der traditionellen physiognomischen Ausdruckstheorie auf, um sie einer experimentellen Prüfung zu unterziehen. Die Ausgangsfrage der Untersuchung, inwiefern »die Stimme eines Sprechers für den Hörer Ausdruck seiner Persönlichkeit«6 sei, schließt an die zentrale Annahme der klassischen Ausdruckstheorie an, wie sie etwa Regel in der >Anthropologie< resümierte: »Die menschliche Stimme[ ... ] ist die Hauptweise wie der Mensch sein Inneres kundtut; was er ist, das legt er in seine Stimme. In dem Wohlklange derselben glauben wir daher die Schönheit der Seele des Sprechenden, in der Rauhigkeit seiner Stimme ein rohes Gefühl mit Sicherheit zu erkennen. [ ... ] [B]esonders
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Bezeichnung des Österreichischen Rundfunks, Österreichische Radio-Verkehrs AG. Bühler: »Was erraten wir aus der menschlichen Stimme?« (wie Anm. 1), S. 11. Herzog: »Stimme und Persönlichkeit« (wie Anm. 2), S. 300. 56
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aufmerksam auf das Symbolische der menschlichen Stimme sind die Blinden. Es wird sogar versichert, daß dieselben die körperliche Schönheit des Menschen an dem Wohlklange seiner Stimme erkennen wollen- daß sie selbst die Pockennarbigkeil an einem leichten Sprechen durch die Nase zu hören vermeinen.« 7 Es war diese, seit der Antike konstante und besonders in der Tradition der Physiognomie immer wieder artikulierte Überzeugung,8 dass an Ausdrucksformen wie >der Stimme< und >dem Gesicht< mit Sicherheit innere Affekte, Gefühle und geistige Zustände zu erkennen seien, die die Bühlersehe Forschungsgruppe mithilfe des >Rundfunkexperiments< zu überprüfen beabsichtigte. Gerade der Einsatz des Massenmediums Rundfunk erlaubte eine Aufbebung der methodischen Beschränkungen des (individual-)psychologischen Labors, da sich hier die Möglichkeit bot, den Ausdruckswert von Stimmen experimentell durch ihre Wirkung auf ein Massenpublikum zu untersuchen. Die »technisch neuen Aufnahmeapparate«, lobt Bühler, hätten »die neue Ausdrucksforschtmg in Stand gesetzt, andere Versuchsbedingungen zu wählen und die Fesseln abzunehmen von den Versuchspersonen ohne Verzicht auf exakte Fixierung des Ausdrucksgeschehens.« 9 Die methodische Bedeutung dieser medialen Erweiterung der Experimentalsituation, die - denkt man etwa an den Rundfunk - der Forschung zu einem »quantitativ ungeheuren Material« 10 verhalf, formulierte Herta Herzog wie folgt: »Es müssen endlich viele Hörer sein: Nur die Verschiedenheit der Hörer nach Geschlecht, Alter, sozialer Stellung, Charakter[ ... )
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Georg W.F. Hege!: Werke in zwanzig Bänden. Die Philosophie des Geistes, Bd.lO, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1970, S. 108. 8 Vgl. zu diesem Zusammenhang etwa: Georg Christoph Lichtenberg: »Über Physiognomik; wider die Physiognomen. Zur Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis«, in: ders., Schriften und Briefe, Bd. 3: Aufsätze, Entwürfe, Gedichte, hg. v. Wolfgang Promies, München: Hanser 1972, S. 256-295; Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe [1775]. Eine Auswahl mit 101 Abbildungen, hg. v. Christoph Siegrist, Stuttgart: Reclam 1984; Ursula Geitner: »Klartext. Zur Physiognomie Johann Caspar Lavaters«, in: Rüdiger Campe/Manfred Schneider (Hg.), Geschichten der Physiognomik. Text, Bild, Wissen, Freiburg: Rombach 1996, S. 357-385; Sander L. Gilman: »Charles Darwin und die Wissenschaft von der Visualisierung der Geisteskranken«, in: Campe/Schneider (Hg.), Geschichten der Physiognomik, S. 453-471; Reinhart Meyer-Kalkus: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundeti, Berlin: Akademie Verlag 2001; Meike Adam: »Symbol oder Symptom? Lesbarmachung des Gesichts«, in: Petra Löffler/Leander Scholz (Hg.), Das Gesicht ist eine starke Organisation, Köln: DuMont 2004, S. 121-139. 9 Kar! Bühler: Ausdruckstheorie. Das System an der Geschichte aufgezeigt, Jena: Fischer Verlag 1933, S. I. 10 Ebd.
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berechtigt uns in ihrer Gesamtheit zu einigermaßen allgemeinen Aussagen darüber, wie weit die Ausdrucksfähigkeit der menschlichen Stimme reicht.« 11 Die medientechnisch möglich gewordene Einbeziehung einer großen Anzahl von Ausdruckrezipienten ermöglichte so nicht nur eine Erhöhung des Allgemeinheitsgrads empirischer Befunde, sie erfüllte auch eine wesentliche Bedingung, die sich aus Bühlers ausdrucks- und kommunikationstheoretischen Grundüberzeugungen ergab: Für ihn ließen sich Ausdrucksphänomene prinzipiell nicht im Horizont des sogenannten »psychophysischen Parallelaxioms« Wundtscher Provenienz, 12 sondern allein in einem Theorierahmen untersuchen, der das Moment der interaktiven Wirkung auf Rezipienten einbezieht. Dezidiert wies er die Ausdruckslehre Wundts mit dem Argument zurück, Ausdruck sei nicht »die >Spiegelung< oder Selbstdarstellung der Erlebnisse im (bewegten) Körper des Erlebenden«. 13 An Wundts Annahme, dass Ausdrucksbewegungen >Vorgänge des Bewusstseins nach außen kundgebenvom Standpunkt des einzelnen Organismus her< in den Blick nehmen lässt. »Ausdruckszeichen« erschließen sich hermeneutisch nicht in erster Linie durch die Parallelisierung mit zugrunde liegenden psychischen Ereignissen, durch die sie ausgelöst werden. Vielmehr müssen sie »in Relation zu oft verwickelten Situationsumständen gesehen und gedeutet werden«,21 in Relation also zu dem, was Mead das >reale Feld sozialer Interaktion< nennt. »Ausdruckserscheinungen« sind deshalb nicht primär Korrelate psychischer Zustände, sondern vielmehr - wie Bühler formuliert - »Handlungsinitien«, 22 d.h. Äußerungsformen, die ihren Sinn nur aus dem Horizont interaktiver Handlungen in situationalen Umgehungen beziehen. Der Begriff des Ausdrucks erfährt damit eine »Inhaltsverschiebung«, 23 die ihn aus dem Kontext des anthropologischen Paradigmas der Ausdruckstheorie und der Individualpsycho-
18 George Herbert Mead: »Kap. VI: Bewußtsein« [1934], in: ders., Sozialpsychologie, Darmstadt Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, S. 169-262, hier S. 251. 19 Bühler: Die Krise der Psychologie (wie Anm. 12), S. 42. 20 Bühler: Ausdmckstheorie (wie Anrn. 9), S. 198. 21 Ebd., S. 194. 22 Ebd., S. 196. 23 Ebd., S. 198. 59
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logie umsituiert in einen handlungs- und kommunikationstheoretischen Rahmen. Verantwortlich für diese Neubegründung der Ausdruckstheorie ist ohne Zweifel der Kontext der beinahe gleichzeitig entstehenden Bühlersehen Sprachtheorie/4 die in einem weiteren Sinne auch den Rahmen flir das theoretische und methodische Design der Stimmexperimente darstellt. 25 Die Konzeptualisierung des Ausdrucks als handlungsauslösendes Wirkungsphänomen (»Handlungsinitien«), also die Einbettung des Ausdruckszeichens in ein Feld »sozialer Wirksamkeit«,26 kann nun in der Terminologie der Sprachtheorie verstanden werden als die enge Bezogenheit der »Ausdrucksfunktion« auf die »Appellfunktion«: »Der Kontaktpartner B spricht an auf etwas, was im Partner A geschieht«. 27 Die bereits in der Ausdruckstheorie verwendeten Begriffe >Ausdruck< und >Appell< verweisen auf das von Bühler entwickelte »Ürganonmodell« der Sprache, das das stimmliche »konkrete Schallphänomen« an drei »variable Momente« bindet, die »berufen [sind], es dreimal verschieden zum Rang eines Zeichens zu erheben«: »Es ist Symbolkraft seiner Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten, Symptom (Anzeichen, indicium) kraft seiner Abhängigkeit vom Sender, dessen Innerlichkeit es ausdrückt, und Signal kraft seines Appells an den Hörer, dessen äußeres oder inneres Verhalten es steuert wie andere Verkehrszeichen. «28 Das Organonmodell differenziert also den Zeichenprozess in drei konstitutive Momente aus: Es weist dem Symbol die Darstellungsfunktion, dem Symptom die Ausdrucksfunktion und dem Signal die Appellfunktion zu und erlaubt so, das Ausdrucksmoment in einen größeren kommunikativen Rahmen einzubetten. Ausdruck kann nur insoweit Ausdruck von >Innerlichkeit< sein, als diese >Innerlichkeit< sich im Kontext sozialer Regulation, d.h. vor dem Hintergrund der »psychischen Resonanz auf den Ausdruck« 29 im sozialen Raum konstituiert. Der zentrale Begriff, auf den hin Bühler das Konzept des Ausdrucks neu entwirft, ist der Begriff der
24 Kar! Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache [ 1934], Frankfurt, Berlin, Wien: Ullstein 1978. 25 »Die ganzen Arbeiten stehen unter der Leitung von Herrn Professor Kar! Bühler und fügen sich in den Rahmen seiner Sprachtheorie.« (Herzog: »Stimme und Persönlichkeit« (wie Anm. 2), S. 301). 26 Bühler: Ausdruckstheorie (wie Anm. 9), S. 198. 27 Ebd. 28 Bühler: Sprachtheorie (wie Anm. 24), S. 28. 29 Kar! Bühler: »Der dritte Hauptsatz der Sprachtheorie. Anschauung und Begriff im Sprechverkehr«, in: Onzieme Congres International de Psychologie. Paris, 25.-31. Juillet 1937, hg. v. H. Pieron/J. Meyerson, Nendeln, Liechtenstein: Kraus Reprint 1974, S. 196-203, hier S. 203.
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»Steuerung«,30 der eng an den Terminus Signal geknüpft ist: »Ich spreche von Signalen[ . .. ] und erfasse ihre kommunikative Valenz am Verhalten derer, die sie aufnehmen und psychophysisch verarbeiten.«31 Oder, wie es an anderer Stelle heißt: »Im wirksamen Signal des tierischen und menschlichen Gemeinschaftslebens wird nach meiner Auffassung ein realer Steuerungsjaktor wissenschaftlich greifbar.« 32 Dass Bühl er also »Ausdruckszeichen« zugleich als »Handlungsinitien« versteht, oder - so die Sprachtheorie - die Ausdrucksfunktion des »Symptoms« eng an die Appellfunktion des »Signals« bindet, heißt, dass Ausdruck als »kontaktstrebige[r] Ausdruck«33 nicht sinnvoll unabhängig von den Prozessen der sprachlichen Steuerung gedacht werden kann. Auch die Ausdrucksvalenzen der Stimme können nur im Horizont des »sinnvollen Benehmen[s] der Gemeinschaftsglieder« verstanden werden; und dieses wird nur möglich dadurch, dass sich die sozialen Individuen aufgrund ihrer gemeinsamen »ideellen Bindung« an »Gemeinschaftsziele und -aufgaben« gegenseitig steuem. 34 »Wo immer ein echtes Gemeinschaftsleben besteht, muß es eine gegenseitige Steuenmg des sinnvollen Benehmens der Gemeinschaftsmitglieder geben. Wo die Richtpunkte der Steuerung nicht in der gemeinsamen Wahrnehmungssituation gegeben sind, müssen sie durch einen Kontakt höherer Ordnung, durch spezifisch semantische Einrichtungen vermittelt werden.«35
Das RAVAG-Experiment und die methodische Einbeziehung des Massenpublikums In der unter dem Titel »Stimme und Persönlichkeit« publizierten Auswertung der Rundfunkumfrage »Was erraten wir aus der menschlichen Stimme?« gab Herzog eine programmatische Erläuterung ihres eigenen Ansatzes, der in einem engen Konnex zur Bühlersehen Sprachtheorie stand. Die »Errungenschaften der Technik«, lautete Herzogs Begründung, hätten eine »künstliche Erweiterung des Kontaktbereiches hervorgebracht«.36 Waren in medial nicht zerdehnten face-to-face-Situationen »alle 30 Vgl. zum Begriff der Steuerung: Bühler: Die Krise der Psychologie (wie Anm. 12), S. 39ff. 31 Bühler: Sprachtheorie (wie Anm. 24), S. 31. 32 Ebd., S. 36. 33 Bühler: Die Krise der Psychologie (wie Anm. 12), S. 40. 34 Ebd., S. 39. 35 Ebd., S. 50. 36 Die folgenden Zitate beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf Herzog: »Stimme und Persönlichkeit« (wie Anm. 2), S. 300-302. 61
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Sinne damit beschäftigt, Kontaktfaktoren als Steuerungsprinzipien des gegenseitigen Verhaltens wahrzunehmen«, so ermöglichten gegenwärtig die neuen Medien neben der massenmedialen Ausweitung des Kommunikationsbereichs auch eine entweder akustische oder visuelle Isolierung der Wahrnehmungsdimensionen. Der Rezipient, formuliert Herzog, werde durch »Telephon, Radio und den stummen Film [ ... ] in die Lage eines Blinden oder eines Tauben« versetzt. Diese »technischen Fortschritte« wiederum hätten »das Problem des Ausdrucks« auch in disziplinärem Kontext »in den Vordergrund des Interesses gerückt«: Für die »Psychologie selbst wird das Ausdrucksproblem drängend«. Mit Blick auf die Persönlichkeitsforschung und den Behaviorismus konstatiert Herzog, der Letztere blende die psychische Seite aus, negiere »das Ausgedrückte teilweise« und ziehe »die Erlebnisse in Zweifel«, während die Persönlichkeitsforschung sich wiederum auf einen Personentypus fokussiere, der sowohl die »dauernden Merkmale des Individuums, wie z.B. im Körperbau« als auch die »flüchtigen Körperbewegungen, wie z.B. in der Schreibbewegung oder im Gang« als Ausdruck von festen Persönlichkeitstypen interpretiere. Vor dem Hintergrund dieses Szenarios bestimmt Herzog den eigenen Forschungsansatz: »Wenn wir im Folgenden den Ausdrucksgehalt der menschlichen Stimme untersuchen, so kommen wir von einer dritten, ganz anders gearteten Problemstellung, von der Sprachpsychologie Karl Bühlers und einem ihrer Fundamentalsätze: Eine Funktion der Sprache ist Ausdruck.« Der zentrale methodisch-theoretische Fortschritt gegenüber Behaviorismus und Persönlichkeitsforschung dürfte für Herzog dabei und hier wird das oben skizzierte ausdruckstheoretische Programm Bühlers überdeutlich sichtbar- v.a. in der Bindung des Ausdrucks an seine soziale Wirkung bestanden haben: »Ausdruck an sich ist sinnlos, er bekommt Bedeutung erst, wennjemand da ist, der etwas als Ausdruck erlebt.« Es ist anzunehmen, dass die hier vorgetragenen Überlegungen einen Gruppenkonsens repräsentierten, denn die um Bühler zentrierten Forscher nutzten die massenmedialen und isolierenden Eigenschaften des Rundfunks zunächst dazu, eine Umfrage zu konzipieren, die- da sie die Frage stellte: »Inwieweit ist die Stimme eines Sprechers für den Hörer Ausdruck seiner Persönlichkeit?« - »nicht beim Sprecher einsetz[t], sondern bei dem, den der Ausdruck, ob er nun aktiv oder passiv ist, in erster Linie angeht, dem Hörer«. Ausdruck als >Kundgabe< wurde also nun aus dem Kontext der Rezeptionssituation, d.h. aus der >KundnahmeStimmexperiment< genannt werden könnte, aus der von Herzog verfassten Auswertungsstudie zur
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Rundfunkumfrage und drei sich daran anschließenden »Zuordnungsexperimenten« zusammen. Diese von Karl Bühler und Paul Lazarsfeld supervidierten Arbeiten wurden durch weitere, von Charlotte Bühler betreute Studien flankiert. 37 Eröffnet wurde der erste Schritt des >Stimmexperimentstechnische< Seite des Versuchs, diktierte ihnen - die ja nicht alle Leser von Radio Wien waren - noch einmal die zu beantwortenden Fragen und forderte dazu auf, die ausgefullten Fragebögen an die RAVAG zu senden. Sollten, darauf legte Lazarsfeld besonderen Wert, die Hörer zu den Fragen allgemeine Bemerkungen machen wollen, dann wäre das Forschungsteam »dafür sehr dankbar« und bitte darum, »diese auf einem eigenen Blatt beizufugen«. Derart eingewiesen hörte das Rundfunkpublikum an den avisierten Abenden jeweils die Stimmen von drei Sprecherinnen und Sprechern. Die insgesamt neun Sprecher trugen einen identischen Text vor: »Die Ankündigung über den verlorenen Hund Lux«. Ausgewählt worden waren diese Sprecher, teilte Lazarsfeld in einer ersten Auswertungsübersicht mit, nach folgendem Prinzip: »Wir sind von Berufsgruppen ausgegangen und nahmen uns vor zu finden: den typischen Intellektuellen, den wahren Chauffeur, die fuhrend berufstätige Frau, den Geistlichen, den Kaufmann, die Angestellte, den Lehrer; und dazu einen Buben und ein Mädel.«38 »Nur die Verschiedenheit der Hörer nach Geschlecht, Alter, sozialer Stellung, Charakter« - so begründet Herzog 1933 diese Auswahl dagegen gegenüber einem Fach-
37 Diese Studien gehören, so schreibt Bühler in seiner Sprachtheorie, »in eine Reihe von Arbeiten über den Ausdruck der Sprechstimme«, die am Wiener Institut erstellt wurden (Bühler: Sprachtheorie (wie Anm. 24), S. 94). Wie weit der Forschungsrahmen hier gesteckt wurde, sieht man daran - darauf verweist der Hinweis Bühlers - , dass man im Zusammenhang der Prüfung des Ausdruckstheorems auch Untersuchungen zum >Lallen im Kindesalter< und zur >Auffassung von Lautsignalen durch dressierte Hunde< durchführte (vgl. ebd., S. 212 u. S. 285). 38 Paul Lazarsfeld: »Was erraten wir aus der menschlichen Stimme? Ein erster Bericht über die psychologische Versuchsreihe vom 19., 21. und 23. Mai«, in: Radio Wien, (1931), H. 36, S. 9-11. 63
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publikum - »berechtigt uns in ihrer Gesamtheit zu einigermaßen allgemeinen Aussagen darüber, wie weit die Ausdruckshaltigkeit der menschlichen Stimme reicht.« 39 Gefragt wurden die in verschiedenen Formen von »Kontaktaktionen«40 zwischen Sender und Publikum in den frühen 30er Jahren nicht ungeübten Hörer nun nach folgenden Angaben, die sich auf ihre Wahrnehmungsurteile über die Stimme der unsichtbaren Sprecher stützen sollten: »Geschlecht« und »Alter«, »Art des Berufes oder der Beschäftigung«, »Ist der Sprecher gewohnt, Befehle zu geben?«, »Wie sieht der Sprecher aus: Größe und Dicke«, und »Ist die Stimme angenehm?«. Kombinierte der Fragebogen bis hierher die Erhebung quantitativer und qualitativer Aussagen des Rundfunkpublikums zum Ausdruck der Sprecherstimmen, so fugte er im zweiten Teil ein methodisch äußerst weitreichendes Fragenensemble zur Sozialstruktur des Publikums ein. Gefragt wurde nämlich nicht nur nach »Art des Apparates: Detektor?, Kopfhörer?, Lampenapparat?, Lautsprecher?«, sondern auch nach »Beruf oder Beschäftigung des Hörers?, Alter?, Geschlecht?, Wohnort?«.41 Zum ersten Mal - und mit für die zukünftige Publikumsforschung weitreichenden Konsequenzen - befragte man damit bei einer Umfrage zum Rundfunk ein anonymes Publikum über jene Angaben hinaus, die zur statistischen Erfassung von Programmwünschen erforderlich waren; tmd dies mit einem Fragenensemble, das bereits Korrelationen von Wahrnehmungsurteilen und Sozialstatus der Befragten zuließ.42 Darüber hinaus aber lässt sich der gesamte methodische Aufbau des Rundfunkexperiments als ausgesprochen innovativ und für die Forschung folgenreich charakterisieren, denn Herzog arbeitete nicht - wie damals 39 Herzog: »Stimme und Persönlichkeit« (wie Anm. 2), S. 302. 40 Als »KontaktaktionenWunschkonzertes< ebenso gelten wie die diversen Preisausschreiben, bei denen Hörer u.a. zwischen Live- und Schallplattensendungen unterscheiden mussten oder bei denen sie, wie ebenfalls im Frühjahr 1931 geschehen, beim Hörspiel »Überfall« Detektiv spielten (vgl. Viktor Ergert: »Hörerwünsche«, in: ders., 50 Jahre Rundfunk in Österreich, Bd. I: 1924-1945, Wien: Residenz Verlag 1974, S. 123-125). 41 Der Fragebogen ist abgedruckt in Bühler: »Was erraten wir aus der menschlichen Stimme?« (wie Anm. 1), S. 11 . 42 Seit der Einrichtung des Österreichischen Rundfunks im Jahre 1924 hatte es einige Hörerumfragen gegeben. Abgefragt wurden dabei allerdings nur, wie etwa 1928 bei einer Umfrage der Radio-Woche, Sendungskategorien, die wieder in diverse Rubriken gegliedert waren (»Musik 18 Sparten«; »Vorträge 19 Sparten« etc.). Die Auswertung der Umfrage verzichtete sowohl auf die Nennung von Beteiligungszahlen als auch auf eine Spezifizierung des Publikums, das allein in dem Halbsatz >>Unter lebhafter Beteiligung unseres Leserkreises« Erwähnung fand (vgl. Radio-Woche (1928), H. 8, S. 12). 64
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allgemein üblich - mit nur einem einzigen methodischen Ansatz. Sie kombinierte vielmehr auch in der Auswertung der Umfrage quantitative und qualitativ-phänomenologische Verfahren miteinander; zudem überprüfte sie einige fiir die 30er Jahre einflussreiche Forschungsansätze auf ihre Produktivität fiir eine Ausdruckstheorie Bühlerscher Provenienz hin. 43 Vor dem Hintergrund dessen, dass die RAVAG zu diesem Zeitpunkt so gut wie keine Daten über ihr Publikum hatte, liefert das Rundfunkexperiment eine erstaunliche Anzahl an Informationen, die hier nur angedeutet werden kann: Es gingen 2800 Einsendungen ein, beide Geschlechter beteiligten sich in nahezu gleichem Prozentsatz; bei den männlichen Hörern dominierten die Akademiker und Beamten, bei den Hörerinnen die Hausfrauen, gefolgt von den Lehrerinnen und Beamtinnen. Positiv vermerkt wurde, dass »sich alle Altersstufen gleichmäßig beteiligten, mit einem Hervortreten der Jahrgänge um 50«; gerechnet hatte man dagegen mit einer hauptsächlichen Beteiligung von »Pensionisten«.44 Akademiker und Künstler standen der Umfrage skeptisch und kritisch gegenüber, Lehrer und Beamte würdigten den Versuch. »Je weniger intellektuell der Beruf wird, umso weniger Bedenken, umso positiver die Einstellung.«45 Die quantitative Auswertung der »physiologische[n] Bedingtheit« der Stimmen lieferte »die erstaunlichsten Resultate«: 46 >GeschlechtGröße< und >Dicke< der Personen wurden mit großer Richtigkeit erkannt. Die Altersschätzungen dagegen zeigten starke Abweichungen: »von einer Charakteristik der Stimme fur das Alter[ ... ] kann man nicht sprechen«. 47 Da Herzog meinte feststellen zu können, dass die Erkennungsquote für Personen, die »in einem besonderen Maße einen Typus darstellen«, besonders hoch sei, regte sie an, den Zusammenhang von Stimme und Körperbau aus der Perspektive der »Kretschmerschen Körperbautypen« in weiteren »Zuordnungsexperimenten« zu überprüfen. 48 Der von Kretschmer statu43 Dazu gehörten neben der Kretschmersehen Typenlehre etwa auch die Studie von T. H. Pear: Voice and Personality, London: Chapman and Hall 1931 , die mit vereinfachten Parametern gearbeitet hatte, und das von Ludwig Klages (»Persönlichkeit«, in: Hans Prinzhorn (Hg.), Das Weltbild, Bücher des lebendigen Wissens, Bd. II, Potsdam: Müller und Kiepenheuer 1927, S. 30ff.) entwickelte »Resonanzverfahren«, das von Herzog zu einem »Resonanz- und Indizienverfahren« erweitert wurde. 44 Lazarsfeld: »Was erraten wir aus der menschlichen Stimme? Neuer Bericht über das Experiment am Psychologischen Institut, Wien«, in: Radio Wien (1931), H. 45, S. 4f., hier S. 4. 45 Herzog: »Stimme und Persönlichkeit« (wie Anm. 2), S. 312. 46 Lazarsfeld: »Was erraten wir aus der menschlichen Stimme?« (wie Anm. 44), S. 5. 47 Ebd. 48 Vgl. zu den Kretschmersehen Körperbautypen Ernst Kretschmer: Körperbau und Charakter, Berlin: Springer 1922.
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ierte anthropologische Zusammenhang von >Körperbau und CharakterBeruf< der Sprecher einmal »rein behavioristisch betrachtet«, indem die Stimmen »von außen her auf ihre Deutbarkeit hin untersucht« wurden. Da die Berufsbestimmung für Herzog aber »nicht nur eine Milieubestimmung« bedeutete, versuchte man mit der Frage »Ist der Sprecher gewohnt, Befehle zu geben?« gezielt über Ja/Nein-Antworten hinausgehende ausführlichere Kommentare seitens der hörenden Versuchspersonen zu evozieren, die Auskunft darüber geben, aufgrund welcher Kriterien die Stimmen beurteilt wurden. »An den Antworten der RAVAG-Hörer«, so Herzog, »interessieren uns also die quantitativen Ergebnisse, aber mindestens ebenso stark ihre Formulierung. [... ] D.h. wir bekommen in den Zusätzen ein Vokabular der zur Beschreibung der Innerlichkeit« - damit sind Auskünfte über die »Persönlichkeit«, aber auch die »aktuellen Erlebnisse« gemeint - »geläufigen Termini.« 51 Für Herzog steht die »Unproduktivität einer quantitativen Untersuchung« fest, denn »für die Deutung wird die völlige Erfahrung der Wirklichkeit relevant, die Stimme wird nicht nur direkt, sondern auch indirekt, mit Hilfe von Indizien beurteilt«. »Wir brauchen«, so formulierte sie die Konsequenz ihrer Überlegungen, »zur Klärung eine phänomenologische Betrachtungsweise, die auf das Einzelindividuum zurückgeht und sich nicht um die Richtigkeit, sondern um das erlebnismäßige Zustandekommen der Deutung kümmert.« 52 Dementsprechend setzte sich die Auswertungsstudie in ihren abschließenden Kapiteln mit der »Struktur« und dem »Inhalt des Stimmerlebnisses« sowie mit den Strukturen »indirekter Deutungen« auseinander. 53 Als Kontrollinstrument der hier untersuchten und erschlossenen Aussagen zog die in dieser Technik 49 Vgl. etwa Giovanni Dalma: »Körperbau und Psychose, mit Berücksichtigung der konstitutionellen Bedeutung der Stimme«, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 4 (1925), S. 782-790. Zum Einsatz der Kretschmer-Typen in der Psychotechnik vgl. Bernhard Wilhelm Matz: Die Konstitutionstypologie von Ernst Kretschmer. Ein Beitrag zur Geschichte der Psychiatrie und Psychologie im 20. Jahrhundert, Dissertation Freie Universität Berlin, Fachbereich Humanmedizin 2000, elektronisch publiziert unter www.diss.fu-berlin.de/2002/205/index.html vom 25.7.2007, S. 131 ff. 50 Herzog: »Stimme und Persönlichkeit« (wie Anm. 2), S. 314-350. 51 Ebd., S. 336. 52 Ebd., S. 349ff. 53 Ebd., S. 350ff.
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geübte Herzog - und damit wurde ein weiteres methodisches Verfahren angewandt - Selbstbeobachtungsprotokolle heran, die sie anlässlich des Anhörens von 30 willkürlich ausgesuchten Rundfunkstimmen erstellt hatte.
Die Zuordnungsexperimente und die Rezeptivitätsthese des Ausdrucks An die Auswertung der Rundfunkumfrage schlossen unmittelbar drei >Zuordnungsexperimente< an, die verschiedene Facetten der Umfrageergebnisse aufnahmen und experimentell vertieften: Die Studie von Helmut Tursky setzte sich mit der »Phänomenologie des Zuordnungsaktes zwischen Stimme und Bild des Sprechers« auseinander. Wie bereits Herta Herzog setzte auch Tursky voraus, »daß ein Zeichengeben erst durch ein Zeichennehmen Sinn und Zweck erhält, und daß nur ein zweites psychophysisches System, nämlich das des Ausdruckverstehenden, die Ausdrucksfrage auf eine wirklich psychologische und biologisch wertvolle Basis stellt.«54 Es sei, fuhr Tursky fort, »das Verdienst der modernsten Zeit, die Frage >wie verstehe ich Ausdruck< neben die Frage >wie schaffe ich AusdruckKretschmerschen Körperbautypen< untersucht werden sollte- nach den Kriterien dieser Typologie ausgewählt wurden. Die Sprecher wurden fotografiert, von jeder Person gab es ein »Ausdrucks- und ein Totalbild«, anschließend nahm man die Stimmen auf Grammophonplatten auf. Da die affektive Beteiligung der Sprecher an ihren Texten gesichert sein sollte, entwarf Sr. Bonaventura zwei Szenarien: Die Arbeiter führten, um den Affektausdruck zu garantieren, mit einer eigens engagierten »Frau Chefin« einen Dialog um eine Gehaltserhöhung; die Akademiker lasen einen Text über einen Skiunfall ab - ihnen traute man eine durch das Lesen angeregte Affektproduktion zu. Im Gegensatz zu den »sprechenden Versuchspersonen« kamen die »zuordnenden Versuchspersonen« aus dem Personal des Psychologischen Instituts sowie aus einer Gruppe älterer Studenten. Insgesamt nahmen 44 Personen 528 Zuordnungen vor. Da die >Rezeptivitäts58 Maria Bonaventura: »Ausdruck der Persönlichkeit in der Sprechstimme und im Photogramm«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 94 (1935), S. 501-570, hier S. 504. 59 Ebd.
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these des Ausdrucks< überprüft werden sollte, verfertigten die zuordnenden Versuchspersonen Selbstbeobachtungsprotokolle. Das letzte Zuordnungsexperiment schließlich, »Wahrnehmung und Ausdruck«, sollte, so formulierte sein Autor Norbert Thumb, »rein statistisch mit Hilfe von Massenexperimenten eine Stützung der bisherigen Ergebnisse« liefern.60 Die im Vergleich zu Sr. Bonaventura stärkere Konzentration der Untersuchung auf die Kretschmersehe Typenlehre lässt vermuten, dass hier die von Herzog vorgeschlagene Überprüfung eines Zusammenhangs von Körperbau und Stimme im Vordergrund stand: Geprüft werden sollte die durch den Bühlersehen Forschungsrahmen problematisch gewordene Annahme einer Korrelation des Ausdrucks mit anthropologischen Körperbautypen. Thumbs Studie konzipierte drei Experimente, die hier nicht im Einzelnen dargestellt werden können. Alle drei arbeiten mit Sprechern, die nach seiner Ansicht der Kretschmersehen Typenvorgabe entsprachen: »Wir gingen auf das Arbeitsamt für Büroangestellte und suchten uns dort ausgesprochen asthenische und pyknische Herren aus«. Die Sprecher unterzog Thumb sodann, wie er ohne jeden Zweifel am Vermessungsphantasma seines methodischen Ansatzes formulierte, »den allereinfachsten anthropologischen Messungen«, die u.a. Daten zu Schädelumfang, Stirnhöhe, Kopfbreite erhoben und auch die Kategorie »Rasse« abfragten. 61 Die >zuordnenden VersuchspersonenKretschmer-Fragebogen< auszufüllen, in dem sie - orientiert an den Kretschmersehen Kriterien - über sich selbst Auskunft geben sollten; ein Ansinnen übrigens, das von den als Beurteilende agierenden Psychologen des Wiener Instituts mehrheitlich abgelehnt wurde. 62 An der Thumbschen Studie ist v .a. bemerkenswert, dass sie in zwei Teile zerfällt: Der erste Teil versucht eine Ausdifferenzierung der Kretschmersehen Bestimmungen für >Stimme und Körperbau< zu leisten, der zweite Teil konterkariert dieses Vorgehen gleichsam, indem er sich von der Vorstellung, Stimme und Körperbau seien nach anthropologischen Gesichtspunkten korrelierbar, distanziert: »Ist ein Messen der Stimme und des Körperbaus schlechthin denkbar?[ ... ] Die Stimme ist eben etwas viel zu komplexes und qualitativ vieldeutiges, als daß sie einer solchen einfa-
60 Norbert Thumb: Wahrnehmung und Ausdruck im Lichte des Zuordnungsexperimentes von Körperbau und Stimme (Dissertation), Wien 1934, S. 3. 61 Auch wenn, wie Matz (Die Konstitutionstypologie von Ernst Kretschmer (wie Anm. 49), S. 5ff. und S. 565ff.) deutlich macht, die Kretschmersehe Typenlehre zu Anfang der 30er Jahre noch nicht im rasse-ideologischen Kontext des Nationalsozialismus stand, kann diese Kategorienwahl 1934 nur schwer unabhängig von diesem Kontext gelesen werden. 62 Vgl. Thumb: Wahrnehmung und Ausdruck (wie Anm. 60), S. 20.
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chen Messung zugänglich wäre.«63 Aufgrund dieser skeptischen Einschätzung wandte sich Thumb von seiner Ausgangsfragestellung ab; im zweiten Teil seiner Studie entwirft er einen wahrnehmungstheoretischen Ansatz, in dessen Fokus die durch die Theorie Bühlers angeregte Frage steht, inwieweit sich »Eindrucksfeld und Wahrnehmungsmaterial gegenseitig steuern«. 64
Resümee Überblickt man das Experimentalfeld der Bühler-Gruppe einerseits hinsichtlich des Experimentalaufbaus und seiner theoretischen Motivierung, andererseits im Hinblick auf die Befunde der Untersuchungen, so lässt sich folgendes Resümee ziehen: Zunächst bewirkt die Orientierung an der Bühlersehen Ausdruchtheorie eine Verschiebung der Ausdrucksanalyse von der Produktions- auf die Rezeptionsseite. Hierin spiegelt sich die wenn auch kritische - Aufnahme des Behaviorismus insofern, als das Verhalten der Rezipienten in den Fokus rückt. Ausdruckskundgabe lässt sich nur über Ausdruckskundnahme angemessen untersuchen. Zugleich wird das behavioristische Paradigma seinerseits aber dadurch relativiert, dass die Dimension des Ausdruckserlebnisses auf der Seite des Rezipienten von zentralem Interesse bleibt und methodisch durch Erlebnisprotokolle analysiert wird. Neben dieser phänomenologischen Erfassung der rezipientenseitigen Verarbeitung von Ausdrucksphänomenen tritt als weiteres Moment ein völlig neues Verfahren der Verdatung der Rezeption auf, das insbesondere in der Kopfuntersuchung von Herzog realisiert wird. Über das Medium Rundfunk rückt zum ersten Mal ein Massenpublikum in Reichweite, dessen Zuordnungsurteile statistisch erfasst werden können. Die Ergebnisse, die in diesem methodischen Rahmen zustande kommen, erlauben es insgesamt, jede Form der Korrelation von Kretschmersehen Körperbautypen und stimmlichen Ausdrucksformen als nicht gegeben zu erweisen. Ermöglicht wird diese Zusammenführung eines heterogenen Methodeninventars aus verschiedenen Filiationen der Psychologie, die zudem in signifikanter Weise statistische Verfahren mit einbezieht, durch den Theorierahmen, den Bühlers ausdruckstheoretisches Programm bereitstellt. Zugleich soll zum ersten Mal nicht nur ein >anonymes Publikum< hinsichtlich der statistischen Verteilung seiner Urteile befragt werden, sondern auch eine soziale Differenzierung der Befragten und damit eine Korrelation der Wahrnehmungsurteile mit dem Sozialstatus verschiedener 63 Ebd., S. 42. 64 Ebd., S. 177ff.
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Subgruppen des Publikums ermöglicht werden. Dem neuen Wiener Forschungsstil geht es also um die - so lässt sich mit Dominik Schrage formulieren- »Entwicklung von Methoden zur objektiven Erschließung der sozialen Wirklichkeit, deren spezifische Qualität weder in bloßer statistischer Quantifizierung noch in bloßer phänomenologischer Beschreibung erschlossen werden« kann. 65 Bereits vor der RAVAG-Studie entwickelt sich im Rahmen des hier diskutierten RAVAG-Experiments das Interesse an der analytisch differenzierten Sichtbarmachung des Rundfunkpublikums. Die bislang noch nicht untersuchte, gleichwohl wesentliche Frage bestehe darin - so formuliert Lazarsfeld im Mai 1931 anlässlich der Kurzfassung der Runclfunkumfrage - »vor allem den Einfluss von Beruf und Alter des Hörers auf seine Schätzung« zu untersuchen. 66 Aus dem Horizont der empirischen Validierung der Bühlersehen Ausdrucks- und Kommunikationstheorie ergeben sich die >Strategien der Verdatung< zunächst also gleichsam indirekt: »Unser Ehrgeiz war es, komplexe Erlebnisweisen empirisch zu erfassen«,67 formuliert der vom Bühlersehen »Prinzip wechselseitiger Steuerung« noch immer sichtlich faszinierte Paul Lazarsfeld,68 denn »ich war Teil einer akademischen Institution, in der Zählen allein uninteressant gewesen wäre. Wir wurden trainiert, Zahlen als Ausgangspunkt für Verallgemeinerungen zu gebrauchen.« 69 Mit der in Wien erstmals erprobten Zusammenführung von statistischquantitativen und qualitativen Untersuchungsmethoden wird Lazarsfeld nach seiner Emigration in die USA methodisch maßgebend für die audience research.
65 Dominik Schrage: Psychotechnik und Radiophonie. Subjektkonstruktion in artifiziellen Wirklichkeiten 1918-1932, München: Fink 2001 , S. 304. 66 Lazarsfeld: »Was erraten wir aus der menschlichen Stimme?« (wie Anm. 44), S. 4.
67 Paul Lazarsfeld: »Vorspruch zur neuen Auflage« (1960), in: Marie Jahoda/ Paul Lazarsfeld/Hans Zeisel (Hg.), Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkung lang dauernder Arbeitslosigkeit (1933), Frankfurt/Main: Suhrkamp 1975, S. 11-23, hier S. 14. 68 Vgl. Paul Lazarsfeld: »Amerikanische Betrachtungen eines Bühler-Schülers«, in: Zeitschrift ftir experimentelle und augewandte Psychologie 6 (1959), S. 6976, hier S. 73. 69 Paul Lazarsfeld: »Zwei Wege der Kommunikationsforschung«, in: Oskar Schatz (Hg.), Die elektronische Revolution, Graz: Styria 1975, S. 197-222, hier S. 197f.
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DAS ROCKEFELLER COMMUNICA TIONS SEMINAR ISABELL ÜTTO
Als John Marshall im Sommer 1939 von seinem Büro im New Yorker RockefeUer Plaza Einladungsschreiben an renommierte Forscher unterschiedlichster Disziplinen verschickt, ist die Gefahr eines erneuten Krieges in Europa in der amerikanischen Öffentlichkeit bereits präsent. Marshall hat in den vorangegangenen sechs Jahren als leitender Angestellter der RockefeUer Foundation nicht nur- u.a. durch Reisen nach Europaein weitläufiges Netz wissenschaftlicher Kontakte gespmmen. Er hat gleichzeitig durch Förderung zahlreicher Forschungsprojekte versucht, die neuen Medien Radio und Film in die philanthropischen Programme der Stiftung einzubinden: Medien sollten in diesem Verständnis zur Erziehung der Bevölkerung beitragen. Um dies zu gewährleisten, forciert Marshall v.a. die empirische Erforschung von Medienwirkungen. 1 Dieses Unterfangen ist insbesondere deshalb von Bedeutung, weil in den amerikanischen Mediendebatten der 1930er Jahre ein gegenläufiges Konzept die Formierung dieser Medien vorantreibt: Seit den umstrittenen atrocity stories im Ersten Weltkrieg, seit dem ubiquitären Einsatz von Persuasionstechniken in Werbung und Public Relations und schließlich verschärft durch die Zunahme deutscher Kurzwellensendungen an ein amerikanisches Publikum droht das Schreckgespenst >Propaganda»America's Fact Finder< « 11 - , die eine umfassende, vereinigende soziale Faktizität herstellt. 12 Besondere Relevanz gewinnt die Sozialstatistik im unmittelbaren sozialpolitischen Umfeld des Communications Seminar, und zwar in der Politik des New Deal, die Franktin D. Roosevelt in den 1930er Jahren verfolgt, um den Auswirkungen der wirtschaftlichen Depression auf die Bevölkerung zu begegnen und eine Überwindung der wirtschaftlichen Krise zu erreichen. Die Roosevelt-Administration regt zur Verbesserung des statistischen Expertenwissens an, fuhrt neue Messverfahren ein und dehnt die Verdatung des Sozialen aus, um die Erfolge ihrer Reformen zu dokumentieren. Dieses Programm des »>accounting for governmentkeynesianischen< Politik des New Deal entsteht nach Foucault der amerikanische Neoliberalismus. 14 Der New Deal ist also keineswegs unumstritten. Was ihm seine Gegner vorwerfen, ist als jener dominierende staatliche Eingriff identifizierbar, den Rose mit der demokratischen Macht der Zahlen in den Hintergrund 11 U.S. Census Bureau: History, unter http://www.census.gov/acsd/www/history. html vom 19.7.2007. 12 Vgl. Rose: Powers ofFreedom (wie Anm. 6), S. 218. 13 Ebd., S. 229. 14 Vgl. Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004, S. I 03-107 u. S. 30 I.
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treten sieht. Der Verdatung scheint in der Politik des New Deal also die Funktion zuzukommen, staatliche Regierungstechniken als demokratisch erscheinen zu lassen. Die Quantifizierung der Bevölkerung kennzeichnet staatliche Intervention als demokratisch, um sie vom Verdacht, einen totalitären Zugriff auszuüben, zu befreien. Die Zahlen lassen sich von ihrer Doppelgesichtigkeit nicht befreien. Neben ihrer Verbindllllg zur Demokratie ist ihnen gleichzeitig jener von Hacking beschriebene Determinismus inhärent. Zeitgleich zu Roosevelts Politik der Sozialreformen- im selben politischen und intellektuellen Klima - wird über >Propaganda< als kontrollierende Interventionstechnik des politischen Kommunikators gestritten. Es ist kein Zufall, dass in diesen Kontroversen die Frage der Demokratie eine entscheidende Rolle spielt. Brett Gary beschreibt die amerikanischen Liberalen in Anbetracht des Dilemmas zwischen kollektiver Sicherheit und individueller Freiheit, das die Propaganda-Bedrohllllg mit und nach dem Ersten Weltkrieg aufwirft, als Nervaus Liberals: »In the aftermath of the Great War, >propaganda consciousness< contributed significantly to the chastened democratic faith of an entire generation of U.S. liberal intellectuals.« 15 Die zentralen Fragen, die mit einer Zuspitzung der politischen Situation in Europa und mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges immer brisanter werden, lauten: Muss eine Demokratie, die freie Meinungsäußerung in ihrer Verfassung festschreibt, feindliche Propaganda tolerieren? Welche Mittel darf eine Demokratie anwenden, um feindliche Propaganda zu bekämpfen?
Aporien der Propagandaforschung Die US-amerikanische Propagandadebatte in den 1930er Jahren lässt sich grob in zwei Lager unterteilen. Die Vertreter der einen Richtung bestimmen Propaganda als ebenso mächtiges wie unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft unvermeidbares Instrument, das positive wie negative Wirkungen haben kann. Feindliche Propaganda kann nach dieser Auffassung nur mit freundlicher Propaganda bekämpft werden. Die Gegenposition identifiziert Propaganda dagegen ausschließlich mit feindlichen Versuchen der Einflussnahme, kennzeichnet sie als Täuschung und stellt ihr Wahrheit und Faktizität gegenüber. Prominentester Vertreter der ersten Auffassung ist Harold D. Lassweil. Er gehört Ende der 30er Jahre zu den Mitgliedern des RockefeUer Communications Seminar. In seiner Studie aus dem Jahr 1927, Propa15 Brett Gary: The Nervaus Liberals. Propaganda Anxieties From World War I to the Cold War, New York: Columbia University Press 1999, S. 2.
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ganda Technique in the World War, in der er Propagandabotschaften der Krieg führenden Staaten im Ersten Weltkrieg auf ihre Effizienz hin analysiert, versteht LassweH Propaganda sogar noch als grundlegend positives Instrument, weil sie eine Transformation von physischer Regierungsgewalt in Formen der rhetorischen Beeinflussung leistet. Seine Ausführungen lassen jedoch keinen Zweifel daran, dass die propagandistischen Einflusstechniken im Grunde nur von einer anderen Form der Gewalt geprägt sind. Diese Techniken sollen den Adressaten einem Zwang zur erwünschten >Response< unterwerfen, der dem einer monarchischen Ständegesellschaft nicht unähnlich ist: »lf the mass will be free of chains of iron, it must accept its chains of silver. If it will not love, honour and obey, it must not expect to escape seduction.« 16 LassweHs Propaganda Technique ist demokratieskeptisch perspektiviert, sie vertraut nicht auf die richtige Einstellung freier Subjekte, sondern konstatiert die Notwendigkeit der Persuasion einer passiv gedachten Masse. Dies ändert sich, wenn LassweH im Verlauf der 1930er Jahre mehr und mehr eine wissenschaftliche Systematisierung und Objektivierung von Propaganda mit auf den Weg bringt - ein Unterfangen, dem er 1927 noch keine großen Chancen einräumt. 17 Ab 1931 nimmt LassweH an einem Beratungskomitee zu Pressure Groups and Propaganda - etabliert von der wissenschaftlichen Dachorganisation Social Science Research Council - teil. Aus diesem Kontext geht 1935 die kommentierte Bibliografie Propaganda and Promotional Activities hervor. Die Bibliografie fasst über 1500 Artikel, Pamphlete und Bücher zusammen und dokumentiert auf diese Weise die Angst und Faszination, die das umstrittene Konzept zwischen 1919 und 1934 ausgelöst hat. 18 In LassweHs Vorwort »The Study and Practice of Propaganda« plädiert er für einen wissenschaftlich-rationalen Blick auf >Propagandarepresentations< to influence collective re-
16 Harold D. Lasswell: Propaganda Technique in World War I [Orig. Propaganda Technique in the World War. London 1927], Cambridge, Mass., London: MIT Press 1971, S. 222. Aus diesem Grund lässt sich Lasswells Studie in eine Vorgeschichte der Mediengewaltforschung einordnen. Vgl. Isabell Otto: Aggressive Medien. Zur diskursiven Regulation von Mediengewalt. Unveröffentlichte Dissertation, Köln 2007, S. 68-79. 17 »The people who probe the mysteries of public opinion in politics must, for the present, at least, rely upon something other than exact measurement, to confrrm or discredit their speculations. Generalizations about public opinion stick because they areplausible and not because they are experimentally established.« (Lasswell: Propaganda Technique (wie Anm. 16), S. 50). 18 Vgl. Gary: Nervaus Liberals (wie Anm. 15), S. 2.
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sponses is a propagandist.« 19 LassweH benutzt, um seinen weiten und aus seiner Sicht >objektiven< Propagandabegriff zu schärfen, auch die Beschreibung symbol manipulation. Welche Rolle die medialen Träger und die Manipulation von Symbolen im Kalkül der Macht spielen, führt er 1936 in seinem Buch Politics: Who Gets What, When, How aus? 0 Lasswells Argumentation, Propaganda existiere auch in positiven Ausprägungen, und seine zunehmende Konturierung einer >demokratischen Propaganda< stoßen auf Kritik. Sein Versuch, Propaganda durch Forschung zu >objektivierender Wahrheit< kann Propaganda bekämpft werden. Ein zentraler Ort dieser Strategie ist das Institute for Propaganda Analysis- »A non-profit Corporation to Help the Intelligent Citizen Detect and Analyse Propaganda«. 22 Auch das General Education Board und die Humanities Division der RockejetZer Foundation ordnen sich mit ihrer edukativen Formierung der Massenmedien dieser Forschungspolitik zu. 23 Assistent director dieser beiden Stiftungen ist John Marshall, der Initiator des Communications Seminar. 19 Harold D. Lasswell: »The Study and Practice ofPropaganda«, in: ders./Ralph D. Casey/Bruce Lannes Smith (Hg.), Propaganda and Promotional Activities. An Annotated Bibliography, Chicago, London: University of Chicago Press 1935, S. 3-27, hier S. 3. 20 Vgl. Gary: Nervaus Liberals (wie Anm. 15), S. 71. 21 Vgl. ebd., S. 75f. 22 So die Selbstdefinition auf dem Brietkopf des Instituts. Vgl. Briefwechsel zwischen RockefeUer Foundation und Institute for Propaganda Analysis, Princeton Radio Research Project, Orson Welles Broadcast Study (Orson Welles Study), 1938-1944, Fdr 3723, Box 361, Srs 918, RG 1.2, General Education Board (GEB), RAC. Vgl. Cmiel: »Ün Cynicism« (wie Anm. 2), S. 90; Gary: Nervaus Liberals (wie Anm. 15), S. 78. 23 Vgl. hierzu den Beitrag von Irmela Schneider »Konstruktionen eines Radiosubjekts« in diesem Band.
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Gelingt das Unterfangen? Kann die amerikanische Bevölkerung tatsächlich zur Erkenntnis von Propaganda erzogen werden? Im Herbst 1938 droht den liberal-edukativen Propaganda-Bekämpfern ein Rückschlag in Form einer Massenpanik, die Orson Welles' Hörspiel War ofthe Worlds ausgelöst haben soll. Ein großer Teil der Hörer sei davon ausgegangen, die Sendung berichte über eine tatsächliche Invasion aus dem All. In der Rockefeiler Foundation diskutiert man besorgt, wie die Journalistirr Dorothy Thompson diese Panik kommentiert: »[Ü]ur popular and universal education is failing to train reason and logic, even in the educated. [ ... ] [T]he popularization of science has led to gullibility and new superstitions, rather than to scepticism and the really scientific attitude ofmind.«24 Thompsons Beschreibung entspricht der vorherrschenden Propagandakonzeption in der amerikanischen Öffentlichkeit ab Ende der 1930er und zunehmend in den 40er Jahren: Nicht nur die Propaganda auch die Propagandaforschung ist in Misskredit geraten. Beide, so die Kritiker, hätten Zynismus und Skepsis in der Bevölkerung gesät, was Thompson mit ihrem Verweis auf> Leichtsinn< noch überboten sieht. 25 Das Institute for Propaganda Analysis und das General Education Board bemühen sich, die Forschung von dieser Einschätzung zu befreien und das Ereignis der Massenpanik positiv zu wenden: Mit seiner Hilfe wollen sie ein lehrreiches Exempel statuieren. Hadley Cantril - Psychologe der Princeton University, der auch am Communications Seminar teilnehmen wird, - erhält für seine Studie Invasion ß"om Mars finanzielle Unterstützung. Während Cantril sich erhofft, durch die günstige Gelegenheit des >natürlichen Experiments< die Sozialforschung voranzubringen, 26 haben die Finanziers ein sehr viel pragmatischeres Ziel: Die Studie soll in Schulen als Erziehungsmaterial einsetzbar sein. 27 >Erziehung< ist damit im Rahmen der Rockefeiler Foundation als ein zentrales Instrument konturiert, das die Aporien einer demokratischen Propaganda überwinden soll. Ein weiteres lautet: >KommunikationPropaganda< zu gewährleisten. Wie die Kontroversen im Rockefeiler Communications Seminar zeigen, ist diese Unterscheidung im neuen Feld der communications researchalles andere als stabil. 24 Orson Welles Study, 1938-1944, Dorothy Thompson, zit. in: Warren Weaver an Watson Davis, 21.11.1938, Fdr 3723, Box 361, Srs 918, RG 1.2, General Education Board, RAC. 25 Vgl. Cmiel: »Ün Cynicism« (wie Anrn. 2). 26 Vgl. Isabell Otto: »Das Ereignis als soziales Experiment«, in: Irrnela Schneider/Christina Bartz (Hg.), Formationen der Mediennutzung 1: Medienereignisse, Bielefeld: transcript 2007, S. 45-52. 27 Vgl. Orson Welles Study, 1938-1944, Grant-in-Aid »General Education«, 22.11.1938, Fdr 3723, Box 361, Srs 918, RG 1.2, GEB, RAC. 81
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Philanthropische Empirie Parallel zu ihrem Communications Seminar fördert die Rockefeiler Foundation das Princeton Listening Center, das Kurzwellensendungen aus Europa aufninunt und in Schriftfonn dokumentiert. Marshall ist auch in diesem Fall der verantwortliche Vertreter der Foundation. Die Initiative geht jedoch nicht von ihm, sondern von John B. Whitton aus: Mitte Oktober 1939 reicht dieser brieflich den Vorschlag zu einem »Project for a Listening Center at Princeton University for the purpose of studying war propaganda by radio«28 ein. Marshall zeigt sich in der Korrespondenz dem Unternehmen gegenüber skeptisch. Er verweist auf die Kritik der New York Times, die bereits seit einiger Zeit einen listening service eingerichtet hat und der Princetoner Abhöraktion nun schlechtere, sogar irrefuhrende Berichterstattung vorwirft. 29 Nach einer ersten Versuchsphase des Listening Centers beklagt Marshall im Namen der Foundation: »[W]e Iack sufficient evidence on the success of the Center's work during the first period to justify us in recommending further support of our trustees.«30 Erst als die Berichte des Listening Centers auf internationales Interesse stoßen und insbesondere ein reger Austausch von Berichten mit dem monitaring service der BBC einsetzt, zeigt sich die Rockefeiler Foundation zufriedener. 31 Auch innerhalb der amerikanischen Regierung findet das Center zunehmend Beachtung, die schließlich so weit geht, dass es 1941 von der Federal Communications Commission übernommen und nach Washington überfuhrt wird. 32 Marshalls anfängliche Skepsis gegenüber den Praktiken des Listening Centers mag daher rühren, dass dieses sich nicht konform zum Programm der Stiftung positioniert. Auffällig ist, dass in der Korrespondenz Whittons oder in den Publikationen des Centers der Propagandabegriff prominent eingesetzt wird. 33 In den Förderungsdokumenten der RockefeUer 28 Princeton University Shortwave Radio Study, 1939, John B. Whitton an John Marshall, 16.10.1939, Fdr 3248, Box 273, Srs 200R, RG l.l, RF, RAC. 29 Vgl. Princeton University Shortwave Radio Study (Shortwave Study), January 1940, Fdr 3249, Box 273, Srs 200R, RG 1.1, RF, RAC. 30 Shortwave Study, January 1940, John Marshall an John B. Whitton, 18.1.1940, Fdr 3249, Box 273, Srs 200R, RG 1.1 , RF, RAC. 31 Vgl. Shortwave Study, February-April 1940, Fdr 3250, Box 273, Srs 200R, RG 1.1, RF, RAC. 32 Vgl. Shortwave Study, 1941, Fdr 3253, Box 273, Srs 200R, RG l.l, RF, RAC. 33 Vgl. den Abschlussbericht Harwood Lawrence Childs/John B. Whitton (Hg.): Propaganda by Short Wave Including Charles A. Rigby's The War on the Short Waves [Princeton 1942], New York: Princeton University Press 1972.
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Foundation taucht er jedoch nicht auf, stattdessen ist von »various types of anti-democratic arguments and psychological appeals« 34 die Rede. Auch wenn die Propagandaforscher um Whitton das Konzept der Semantik entsprechend gebrauchen, die in den USA mit Kriegsbeginn mehr und mehr dominiert, also >Propaganda< nur die Machenschaften des Feindes nennen, scheint dies nicht der Politik der Foundation zu entsprechen. Diese sieht vielmehr vor, den Propagandabegrijf vollständig zu vermeiden. Die geförderte Forschung soll keine Propagandaforschung sein - egal, welches Verständnis von Propaganda zugrunde gelegt wird. Frappant ist dabei, dass die Foundation in dieser Politik- obwohl sie mit ihren Erziehungskonzepten dem dominanten Lager der Propagandadebatte sehr viel näher steht - an die andere Seite der Debatte anschließt. Im Rahmen des Communications Seminar gewinnt wiederum das Konzept einer >demokratischen Propaganda< neuen Aufwind - allerdings unter einem anderen Namen: »two-way communication«. 35 Den Korrespondenzen, Arbeitspapieren und Berichten, die aus dem Communications Seminar hervorgehen, lässt sich entnehmen, wie das Kommunikationskonzept zunächst - veranlasst durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs seine Nähe zu >Propaganda< geHihrlieh offenlegt, um im Verlauf des Jahres 1940 - reagierend auf Anfechtungen innerhalb der Gruppe und der Stiftung- diese Bezüge zunehmend unsichtbar werden zu lassen. Die zwölf regelmäßigen Teilnehmer des Communications Seminar bringen ganz unterschiedliche Forschungsfelder in die Diskussion ein: Neben den bereits erwähnten Mitgliedern Marshall, Richards, Lassweil und Cantril folgen Lyman L. Bryson vom Teachers College und der Soziologe Robert S. Lynd von der Columbia University sowie Douglas Waples von der Graduate Library School der Chicagoer Universität Marshalls Einladung. Durch seine Europareisen konnte Marshall auch Kontakte zu dem britischen Anthropologen Geoffrey Gorer und dem Radioexperten der BCC, Charles A. Siepmann, herstellen und beide für die Gruppe gewinnen. Zwei weitere Forscher, die bereits eng mit der Faundaäon verbunden sind, nehmen an dem Seminar teil: Paul Lazarsfeld, Direktor des Radio Research Projects - seit seiner Emigration aus Wien gewissermaßen der >Hauswissenschaftler< der Stiftung -, und Donald Schlesinger, Leiter des American Film Centers. Als Sekretär der Stiftung fungiert Lloyd Free, der gleichzeitig als Herausgeber die Zeitschrift Public Opinion Quarterly betreut. 36 34 Shortwave Study, 1939, Grant-in-Aid, 18.12.1940, Fdr 3248, Box 273, Srs 200R, RG 1.1, RF, RAC, S. 3. 35 CR, Report 1939 (Section 1), Lyman Bryson u.a.: »Needed Research in Communication«, 10.10.1940, Fdr 2677, Box 224, Srs 200R, RG 1.1, RF, RAC, S. 3. 36 Vgl. Rogers: A History ofCommunication Study (wie Anm. 4), S. 220. 83
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Die ersten Treffen der Gruppe am 20. und 23. September 1939 sind überschattet vom Beginn des Zweiten Weltkriegs. Marshalls Vorhaben einer theoretischen Diskussion der Massenkommunikation wird zurückgestellt. Stattdessen wird verhandelt, wie die entstehende Kommunikationsforschung in Anbetracht des Ernstfalls sofort von praktischem Nutzen sein kann- »what research studies might be undertaken at once, in view of the war situation, - studies that would be of immediate significance and would fumish immediate retums through current reporting of results.«37 Das Protokoll der ersten beiden Treffen dokumentiert, wie uneinig sich die Gruppe darin ist, was mit Nützlichkeit der Forschung gemeint sein könnte und welche Rolle dem kommunikationswissenschaftliehen Experten zukommen soll. Man stimmt darin überein, dass die Regierung in der Notfall-Situation die mediale Kommunikation schärfer kontrollieren muss und dass dies zulasten von freiheitlichen Grundrechten geht: »There will be an increasing degree of control, particularly, perhaps, in regard to all phases of communication, such as in the schools, the radio, the films, the press, and even eventually in all public discussion.«38 Die Kommunikationsforscher sehen ihre eigene Aufgabe darin, zwischen Regierung und Bevölkerung zu vermitteln. Dissens besteht jedoch bezüglich der Frage, auf welche Weise der Bevölkerung die Notwendigkeit einer >rigideren Gouvemementalität< nahezubringen ist und ob der Experte sich eher in den Dienst der Regierung stellen oder als Advokat einer kritischen Öffentlichkeit fungieren soll. Während des ersten Treffens nehmen Lynd und Schlesinger jeweils eine dieser beiden konträren Positionen ein. Lynd geht davon aus, dass der Bevölkerung keine Kompetenz zuzutrauen sei, Regierungsentscheidungen zu durchschauen und angemessen zu beurteilen. Die Experten müssten sie deshalb - als Helfer der Regierungsmacht - von der richtigen Ansicht überzeugen. Eine Forschung, die sich nur darauf beschränkt, Entwicklungen zu beschreiben, lehnt Lynd ab und plädiert für ein modifiziertes Verständnis von Demokratie: »Mr. Lynd feels we need a restructuring of democratic action in terms ofthe capacity of different groups of the population and an abandonment of the American idea of the responsibility and capacity ofthe man on the street.«39 Schlesinger wehrt sich gegen Lynds Vorschlag und bringt ihn mit dem Begriff der Propaganda in Verbindung. Er entwirft das Gegenkonzept eines demokratischen Bürgers: »He pointed out that the result ofmost
37 CR, Report 1939 (Section 2), Lloyd A. Free: »Summary of Discussions of Communications Seminar. Seminar Memorandum, No. 1«, 20./23.9.1939, Fdr 2678, Box 224, Srs 200R, RG 1.1, RF, RAC, S. I. 38 Free: »Summary ofDiscussions« (wie Anm. 37), S. 2. 39 Ebd., S. 5.
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propaganda is to turn people into automatons, reacting blindly and incapable of thought. He would like to see studies made with the goal of changing people through communications into more democratic and intelligent citizens in the face ofwidespread propaganda.«40 Die unterschiedlichen Parteien des Communications Seminar spiegeln nach Gary die Spannungen innerhalb der amerikanischen Liberalen, die auch die Propaganda-Debatte kennzeichnen. Er unterteilt die Mitglieder des Seminars in Vertreter einer >objektivistischen< Position, die- wie Lazarsfeld- an methodischen Fragen und der Entwicklung einer >objektiven< empirischen Kommunikationsforschung interessiert sind, und Vertreter einer >zweckorientierten< Position, die - wie Lynd und Richards Strategien der Datenerhebung kritisieren und statt reinen Quantifizierens eine konkrete Veränderung des Status quo anstreben. 41 Schlesingers Verweis auf Propaganda markiert ein weiteres Spannungsfeld der Gruppe: Wenn neben Lynd auch LassweH fordert, der Kornmunikationsexperte müsse sich in Anbetracht eines drohenden Krieges in den Dienst der Regierung stellen, sieht er sich mit dem Vorwurf konfrontiert, selbst Propagandist zu sein. Insbesondere Bryson kritisiert autoritäre und faschistoide Tendenzen innerhalb der Gruppe und weist auf die Gefahr hin, sich mit dem eigenen Programm in zu große Nähe zur NS-Propaganda zu begeben. Die Schwierigkeiten der Liberalen mit dem Propagandakonzept - wie kann in einer Demokratie feindlicher Propaganda begegnet werden?- ist also weiterhin akut. 42 Buxton und Gary beschreiben einleuchtend, wie das Communications Seminar durch die- zwischen den Gruppenmitgliedern einerseits und zwischen Gruppe und Foundation andererseits- vermittelnde Funktion Marshalls mehr und mehr das Programm einer philanthropischen Empirie umsetzt, also >objektive< empirische Forschung, der soziale Veränderung und Nützlichkeit in politischen Prozessen zugetraut wird, zum Ideal erklärt.43 Aus dem Blick rückt dabei jedoch, dass und inwiefern die Herstellung von Faktizität und Demokratie qua empirischer Forschung eine Strategie bildet, die Aporien einer demokratischen Propaganda unsichtbar zu halten. Ein Blick auf die Arbeitspapiere, die aus dem Communications Seminar hervorgegangen sind, soll dies beleuchten.
40 Ebd. 41 Vgl. Brett Gary: »Communication Research, the Rockefeiler Foundation, and Mobi1ization for the War on Words, 1938-1944«, in: John Durharn Peters (Hg.), Tangled Legacies. Symposium: Communication in the 1940s. Journal ofCommunication 46 (1996), H. 3, S. 124-147, hier S. 129 u. S. 137. 42 Vgl. ebd., S. 135 u. S. 140. 43 Vgl. Buxton: »Radio Research« (wie Anm. 1); Gary: »Communication Research« (wie Anm. 41 ); Gary: Nervaus Liberals (wie Anm. 15).
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Die Botschaft dialogischer Kommunikation Das erste Arbeitspapier, das innerhalb der Gruppe zirkuliert, hat den Titel »Job to Be Dorre Now«. Marshall verfasst und verschickt das vierseitige Skript nach einem Treffen der Gruppe im Oktober 1939. Das Konzept der Propaganda nimmt in diesen frühen Formulierungen noch einen großen Stellenwert ein, allerdings verdeutlicht Marshall bereits die programmatische Linie, mehr oder anderes als Propagandaforschung zu fokussieren. Dieses >andere< deutet sich hier zunächst unter dem Begriff public opinion an: »Essentially the job is in as brief a time as possible to create an awareness that analysis of and skepticism toward overt propaganda is only one factor in the formation of public opinion. Positively stated, the job is to create a most comprehensive picture of how public opinion is being formed.« 44 Das zweite Memorandum vom 1. Dezember 1939 führt das richtungweisende Konzept der öffentlichen Meinung zwar deutlicher aus - es werden aktuelle Methoden der Meinungsforschung, wie die von George Gallup, diskutiert - , jedoch geht die Gruppe zu diesem Zeitpunkt noch nicht so weit, die Verdatung zur Konstitution einer demokratischen Öffentlichkeit einzusetzen. Das Wissen über die öffentliche Meinung soll zum Einsatz kommen, um die wählende Bevölkerung in die richtige Richtung zu lenken: »[l]n time of emergency it becomes necessary to persuade him [the voter] that his and his country's interest lies in one direction, rather than in another. When one direction has been decided on by those in control, they achieve this persuasion largely by diffusing through the media of mass communications symbols which spread more widely the beliefs and expectations that support courses of action in that direction.«45 In dieser Passage deutet sich - spätestens mit dem Verweis auf>symbols< - an, dass Lassweil den Duktus des Papiers entscheidend bestimmt hat. Weiter unten wird noch deutlicher, dass sein weites Propagandakonzept im Hintergrund der Ausführungen steht: »General knowledge of the formation of public opinion indicates that symbol manipulation in the United States has its sources chiefly in three localities: in Washington, as the focal center of government, in New York, as the focal cen44 CR, 1939, John Marshall: »Job tobe Dorre Now«, Fdr 2672, Box 223, Srs 200R, RG 1.1 , RF, RAC, S. I. 45 CR, Report 1939 (Section 1), »Public Opinion and the Emergency«, Fdr 2677, Box 224, Srs 200R, RG 1.1 , RF, RAC, S. 14f. 86
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ter of economic and of social interest, and of broadcasting; and in Hollywood, as the focal center of film production.«46 Es leuchtet ein, dass diese Formulierung, die >Manipulation< nicht für faschistische Formen der Meinungslenkung, sondern für die amerikanische Regierung geltend macht - also im Grunde auch der eigenen Regierung, ohne dies explizit so zu nennen, propagandistische Aktivitäten zuschreibt -,nicht im Sinne der RockefeUer Foundation sein kann. Die Zahlen der Meinungsforschung, die zur Verdatung von medialer Kommunikation eingesetzt werden sollen, haben hier noch nicht ihr Potenzial zur Demokratisierung entfaltet und verhalten sich deshalb nicht konform zum Programm einer philanthropischen Empirie. Jedoch das Seminar bleibt bei diesem Stand der Diskussion nicht stehen: Die beiden Abschlussberichte »Research in Mass Communication« und »Needed Research in Communication«, 47 die im Juli und Dezember 1940 verfasst werden, sind in einem ganz anderen Duktus formuliert. Die Kontroverse innerhalb des Seminars ist eindeutig zugunsten einer empirischen Forschung ausgegangen, die sich mehr und mehr von dem Verdacht befreien will, manipulativ zu sein. Drei Begriffe nehmen in diesen Berichten einen prominenten Platz ein: >democracyfreedom< und - >communicationfehlgeleiteten Massenkommunikationc Durch unbedachte Aussagen in einer Radiosendung sei es zu fremdenfeindlichen Aktionen gekommen. Die Forschung könne hier als Heilmittel fungieren, indem sie die sozialpsychologischen Dispositionen des Publikums, die kommunizierten Inhalte und deren Effekte gerrau analysiert. Das Papier bringt diese fiktive Beschreibung mit einer tatsächlichen Studie in Verbindung, und zwar mit Cantrils lnvasionjrom Mars. In diesem Zusammenhang fällt die formelartige Verknüpfung der unterschiedlichen Forschungsfelder, die später als >Lassweil-Formel< bekannt wird. (Vgl. CR, Report 1939 (Section I), Lyman Bryson u.a.: »Research in Mass Communication«, Juli 1940, Fdr 2677, Box 224, Srs 200R, RG 1.1 , RAC) »Needed Research in Communication« verhandelt exemplarisch, wie die US-amerikanische Regierung die Bevölkerung durch gezielte Kommunikation davon überzeugen kann, dass es sinnvoll ist, landwirtschaftliche Produkte aus Südamerika zu kaufen, um so die Südamerikanische Wirtschaft vor deutscher Kontrolle zu bewahren. (Vgl. Bryson u.a.: »Needed Research« (wie Anm. 35)). 87
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datung zu beobachten: Der erste Bericht gesteht der Forschung noch zwei Möglichkeiten zu. Sie kann sowohl freie als auch kontrollierte Massenkommunikation ermöglichen: »The measure of freedom we can hope to preserve in this crisis will be the readiness of those responsible for mass communication to secure among the public an intensified concem with relevant issues ofpublic policy. In such times, govemment must either obtain cooperation from private enterprises in the field of communication or impose its own controls in order to secure the ends of government. With this aspect of public policy we have no concem other than as it may affect the background ofbelief outlined above. But whether communication remains free or becomes subject to increasing Supervision and restrictions, the principle holds good that knowledge derived from research will be necessary as never before to implement decision and to discover ways of securing consent for public policy. ln either case, researchwill prove of paramount importance in measuring what effects mass communications have, or can have.answering stream< der Bevölkerung sichtbar machen und der Entzweiung von Regierung und Bevölkerung kompensierend entgegentreten: »The gap between the govemment and the people is widening. Indicative ofthat gap is the growth of interest, both among the people and in the govemment, in the national polls of public opinion. For the polls, whatever else they do, enable the people to make 48 Bryson u.a.: »Research in Mass Communication« (wie Anm. 47), S. 3f. 49 Bryson u.a.: »Needed Research« (wie Anm. 35), S. 3. 88
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lmown their answers to such questions as are put to them.« 50 Damit erklärt sich die neue Disziplin der empirischen Kommunikationsforschung zu einem unersetzbaren Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft, denn sie allein ist Garant der >two-way communicationc 51 »Research [ ... ] can give the people a more effective way of communicating with their government than now exists. Research, then, will be doubly essential to two-way communication, first, to supply facts needed to make explanation both prompt and adequate; and, second, to bring back from the people an equally prompt and adequate response. With such research, the present gap between the govemment and the people can be closed. The govemment can then exercise its wider responsibility without risking loss of confidence and impaired morale.«52 Damit wird ganz deutlich, welches Ziel die Umstellung von Propaganda auf Kommunikation und die Forcierung dieser Umstellung durch das Konzept der >two-way communication< haben: Es geht darum, eine andere Regierungstechnik zu implementieren, die auf subtilere Weise ihre medialkommunikative und damit in der alten Bedeutung des Wortes propagandistische Kontrolle der Bevölkerung - von Popularitätsverlust ungetrübt - weiterhin ausüben kann. Zentral in dieser Regierungstechnik, die empirische Kommunikationsforschung gewährleisten soll, ist die Konzeption eines Bürgers, der überhaupt nicht merkt, dass er regiert wird: »The widerring gap between the govemment and the people will close only when that flow [of communication] removes the feeling of being govemed by remote control, and Substitutes a feeling ofbelonging to something that is worth belanging to. [ ... ] What research can do to ensure the flow of communication that is vital to the democratic process gives research an urgency which seems to justify any risk ofpossible misuse.«53 Das Papier lässt keinen Zweifel aufkommen, dass die Forschung nur helfen soll, ein >Jeeling of being governed< zu vermeiden, und nicht etwa anstrebt, die Praktiken des Regierens selbst zu modifizieren. Die Verdatung soll Machtprozesse zu demokratischen Prozessen erklären, oder präziser: Sie soll latent halten, dass Demokratie eine gouvernementale Praxis 50 Ebd., S. 3f. 51 Es ist plausibel anzunehmen, dass Lazarsfeld diesen Kommunikationsbegriff in das Seminar eingebracht und damit ein zentrales Konzept seines Lehrers Karl Bühler in der Positionsbestimmung der neuen Disziplin fruchtbar gemacht hat. Vgl. den Beitrag »Kontaktaktion« von Cornelia EppingJäger in diesem Band. 52 Bryson u.a.: »Needed Research« (wie Anm. 35), S. 5. 53 Ebd.,S.l5. 89
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ist. Jedoch auch dieser unsichtbaren Regierung mithilfe der Massenmedien geht es um nichts anderes, als um Kontrolle erwünschter Wirkungen, also nicht um partizipatorische Rückkopplung einer basisdemokratisch organisierten Bevölkerung, wie die Formel >two-way communication< verstanden werden kann: »Research[ ... ] can quickly supply one set offacts which those responsible for further explanation will have need of, to direct it to those sections of the population which the proposal will affect, and to assure its dealing with effects which they expect.«54 In der Rockefeiler Foundation beobachtet man äußerst misstrauisch, wie das Seminar die empirische Kommunikationsforschung in ihrem letzten Arbeitspapier zu einem unverzichtbaren Element demokratischen Regierens erklärt. Kurz nach der Zirkulation von »Needed Research in Communications« unter den Seminarmitgliedern und in der Stiftung taucht ein anonymes Memorandum auf, das Marshall über einen anderen Rockejidler-ojficer zu Gesicht bekommt. Was der Verfasser, der unbekannt bleiben will, dem Communications Seminar u.a. vorwirft, ist Kompetenzüberschreitung: Die Erforschung von Regierungshandlungen hinsichtlich ihrer Effektivität sei nicht dasselbe wie Kommunikationsforschung. 55 Marshall beschwichtigt daraufhin und schränkt den Anspruch der neuen Disziplin ein: »In fact, doesn't such research call for special methods which are presumably best known to students of communication. Of course, we should quite agree that help from other social scientists is both needed and desirable, and further that there can be no clear dividing line between this field of research and other fields.«56 Als der Abschlussbericht auch an Regierungsvertreter geschickt werden soll, um die Diskussionsergebnisse über den grünen Tisch hinaus zur praktischen Anwendung zu bringen, bekundet Marshall in einem Brief an seine Kollegen der Foundation Unsicherheit über die Rolle, die er in diesem Unternehmen nun spielen soll:
»> now leam that some members of the group intend to send the report to some really intluential people in the govemment. That makes me wish you could shortly find time to Iook it over and advise me on one question that now arises. Is it proper for me to sign it with the others, or should I merely include my name among the participants along with RJH [Robert J. Havighurst], SM [Stacy
54 Ebd., S. I 0. 55 CR, August-December 1940, Anonymes Memorandum, 16.11.1940, Fdr 2674, Box 224, Srs 200R, RG 1.1, RAC, S. I. 56 CR, August-December 1940, John Marshall an JHW, 26.11.1940, Fdr 2674, Box 224, Srs: 200R, RG 1.1, RAC, S. I.
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May], and DHS [David H. Steven = ojjicer der Rockefeiler Foundation] or should all Board and Foundation names be eliminated?«57
Die Historiografie der empirischen Massenkommunikationsforschung beantwortet diese Frage: Der Initiator eines Seminars, das zum zentralen Ort einer Transformation von Propaganda in Kommunikation wird, muss in diesem Prozess ebenso unsichtbar bleiben, wie die philanthropische Empirie als politischer Akteur.
57 CR, Report 1939 (Section 1), John Marshall an officers der Rockefeller Foundation, 24.9.1940, Fdr 2677, Box 224, Srs 200R, RG 1.1, RF, RAC.
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SPUREN EINER WISSENSCHAFT DER MEDIEN. ZUR GRÜNDUNGSGESCHICHTE DES
HANS-ßREDOW-INSTITUTS lRMELA S CHNEIDER
Rahmenbedingungen Der Neu-Gründung von Rundfunkanstalten nach dem Ende des Nationalsozialismus schließt sich in der Nachkriegszeit die Frage nach dem (Wieder-)Aufbau einer Medien- bzw. »Rundfunkwissenschaft« an. Am Beispiel des Hans-Bredow-lnstituts (HBI), das als erstes rundfunkwissenschaftliches Institut bald nach Kriegsende geplant und nach mühevollen Verhandlungen Anfang der 50er Jahre mit Unterstützung des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR) gegründet wird, verfolgt dieser Beitrag einige genealogische Spuren einer Wissenschaft der Medien. Aus heutiger Sicht könnte man erwarten, dass Gründungskonzepte für ein Medienforschungs-Institut sich nach 1945 an US-amerikanischen Vorbildern der Medienforschung orientiert hätten. Doch die Gründungsgeschichte des HBI verläuft anders. Als Vorbild erachten maßgebliche Gründungs-Initiatoren das Institut für Rundfunkkunde und Fernsehrundfimk, das 1941 an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin eingerichtet wurde. Auch die Erwartung, dass in der Gründungsphase eine wissenschaftlich geleitete Diskussion darüber stattfindet, wie der Rundfunk als >Gegenstand< der Wissenschaft zu bestimmen sei, welche Ziele eine solche Wissenschaft verfolgen und in welchem Verhältnis sie zu anderen Disziplinen stehen könnte oder sollte, wird enttäuscht. Solche Fragen spielen, wenn überhaupt, nur am Rande eine Rolle. Die Gründungsgeschichte um das HBI konzentriert sich ganz entscheidend auf die Frage, wer kompetent sei, ein solches Institut zu gründen. Die Zuschreibung von Kompetenz schließt natürlich eine Entscheidung darüber ein, wie das »Experimentalsystem« angelegt wird, mit dem Wissen über das »epistemische Ding« Rundfunk gewonnen werden soll. 1 Zum Begriff des Experimentalsystems und des epistemischen Dings vgl. Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine 93
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So wird der Prozess, wissenschaftliches Wissen über den Rundfunk zu generieren, in bestimmte Bahnen gelenkt, wenn der Publizistikwissenschaftler Emil Dovifat2 und der Rundfunkpublizist Kurt Wagenführ, 3 die sich als Initiatoren des HBI beschreiben, von Beginn an das Berliner Institut aus den 40er Jahren als >Vorgänger< für das neu zu gründende Institut definieren. Diese Vorbildfunktion soll festgeschrieben werden, wenn Wagenführ in einem Brief an Dovifat die von Beginn an bestehenden Konflikte um das HBI damit vergleicht, wie es »beim ersten Male« war, in den Jahren 1940 und 1941 , als unter Dovifats Leitung der Plan verfolgt wurde, ein Institut für Rundfunkkunde zu gründen. »Der Ansatz war doch hier vollkorneo [sie!] richtig der Gleiche: es kam ein Lehrauftrag, es wurde eine Rundfunkarbeitsgemeinschaft gegründet, die man auch ruhig eine Arbeitsstelle nennen konnte. Aus dieser sollte sich das Institut
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Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen: Wallstein 2001, S. 24. Experimentalsysteme geben »noch unbekannte Antworten auf Fragen [. .. ],die der Experimentator ebenfalls noch gar nicht zu stellen in der Lage ist. [... ] Experimentalsysteme sind nicht Anordnungen zur Überprüfung und bestenfalls zur Erteilung von Antworten, sondern insbesondere zur Materialisierung von Fragen.« (Ebd., S. 22). Dovifat wird, nach etlichen >Zwischenschritten< und Versuchen, an anderen Universitäten eine Anstellung zu finden, im November 1948 an die kurz zuvor gegründete Freie Universität Berlin berufen. Er leitet dort bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1959 das Institut .fiir Publizistik. Er wird 1948 stellvertretender Vorsitzender und 1950 Vorsitzender des NWDR-Verwaltungsrats. Zu Dovifats Bemühungen um seine Universitätslaufbahn nach 1945 vgl. Andreas Kübler: »Emil Dovifat und das Institut für Publizistik«, in: Bemd Soesemann (Hg.), Emil Dovifat. Studien und Dokumente zu Leben und Werk, Berlin, New York: de Gruyter 1998, S. 325-403, bes. S. 326-347. Dovifat gehört nicht, wie er selbst behauptete und was »auch allgemeine Verbreitung in der Publizistik bis heute« (S. 334) findet, zu den Mitbegründern der Freien Universität. Zu Dovifats Tätigkeiten als NWDRVerwaltungsratsvorsitzender vgl. Peter von Rüden: »In deutscher Verantwortung. Konflikte, Kämpfe, Kontroversen: Der NWDR unter deutscher Verantwortung«, in: ders./Hans-Uirich Wagner (Hg.), Die Geschichte des Nordwestdeutschen Rundfunks, Hamburg: Hoffmann und Campe 2005, S. 87203, bes. S. 114-118. Wagenführ war seit den 30er Jahren als Rundfunkpublizist tätig und hat in den 30er und 40er Jahren an unterschiedlichen Universitäten Lehrveranstaltungen über den Rundfunk und das in Planung befindliche Femsehen durchgeftihrt. Wagenführ wurde im Frühjahr 1946 vorübergehend Pressesprecher in der neu eingerichteten Pressestelle von Radio Hamburg, dem späteren NWDR. Mitte 1947 entlässt der britische Controller ihn aus dieser Funktion. Bereits von 1930-1933 war Wagenführ Leiter der Pressestelle der Deutschen Welle und von 1962-1968 Leiter der Pressestelle des Deutschlandjimks, Köln.
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entwickeln. Soweit ich mich erinnere, haben Sie damals einfach der Fakultät erklärt: wir möchten die Arbeitsstelle in ein Institut umwandeln und es klappte. Wir hatten jahrelang weder ein Kuratorium sonst [sie! Es muss heißen: noch] eine Aufsichtsinstanz, und ich glaube, es ging alles ganz gut. Die Gelder liefen von verschiedenen Stellen ein, die einzelnen Stellen erhielten Jahresabrechnungen und es erfolgte niemals eine Beanstandung.«4 Wagenfuhr lobt die Zeiten, als noch das Machtwort eines Mächtigen galt. Für ihn ist unbezweifelbar, dass Dov ifat und er als dessen »Adlatus« als einzige den »ganzen Fragenkomplex«, der eine Rundfunkwissenschaft betrifft, »von A-Z« beherrschen. Wagenfuhr verfolgt in der zweiten Hälfte der 40er Jahre das Z iel, das Werk Dovifats (und damit auch sein eigenes) fortzusetzen - >mnter günstigeren Bedingungen als in den Jahren 1933-1945«. 5 Wenn am Rande doch einmal formuliert wird, welche Aufgaben eine Rundfunkwissenschaft erfüllen, welche Probleme die von einer solchen Wissenschaft entworfenen Theorien lösen, welche Kompetenzen diejenigen, die eine solche Wissenschaft aufbauen, aufweisen sollen oder welches Wissen eine nmdfunkwissenschaftliche Lehre vermitteln soll, dann zeigt sich auch aufkonzeptioneller Ebene Kontinuität. Die einzige, allerdings auch entscheidende Veränderung gegenüber der Rundfunkwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus liegt darin, dass der Rundfunk jetzt wieder, ähnlich wie in der Weimarer Republik, als Kulturfaktor beschrieben und nicht mehr, wie in der Zeit des Nationalsozialismus, als >Fühnmgsmittel< gepriesen wird. Angesichts der Kontinuität, die vom Beginn der Gründungsphase bis zur Eröffnung des HBI zum Berliner Institut der frühen 40er Jahre hergestellt wird, ist eine kurze Skizze dieser >Vorgeschichte< fi angezeigt.
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Brief von Wagenführ an Dovifat vom 25.3.1949, Nachlass Wagenführ (NWgf). Der bislang nicht archivarisch sottierte Nachlass von Wagenruhr enthält Materialien aus der Zeit nach 1945. Er befindet sich im Bundesarchiv Kob1enz. Für Unterstützung bei der Sichtung des Nachlasses danke ich Manuela Vack. Brief von Wagenführ an Dovifat vom 25.3.1949. Wagenftihrs Einschätzung über Dovifats und seine eigene Position innerhalb der Rundfunkwissenschaft setzt ungebrochen fort, was beide bereits in der Zeit des Nationalsozialismus ausgezeichnet hat. Vgl. Arnulf Kutsch: Rundfunkwissenschaft im Dritten Reich, München u.a.: Saur 1985, S. 269: »In einer gewissen hybriden Auffassung verstanden diese [Dovifat und Wagenftihr) sich[ ... ] als die [im Original: Sperrdruck] Vertreter der Rundfunkwissenschaft in Deutschland.korrigiert< den Titel von Gerhard Maletzkes Beitrag zum 50-jährigen Bestehen des Hans-Bredow-Instituts: »Aufbau eines neuen Instituts ohne Vorbilder: Die 50er Jahre«, in: Hans-Bredow-Institut ftir Me95
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Einige Hinweise zum BerUner Institut für Rundfunkkunde und Fernsehrundfunk Auf Initiative von Dovifat und geleitet von Kurt Wagenführ wurde im Juni 1941 an der Friedrich-Wilhelm-Universität zuerst eine »Arbeitsstelle« und dann das Institut fiir Rundfunkkunde undFernsehrund/unk eingerichtet. Unterstützt wurde das Berliner Institut vom Reichsministerium fiir Volksaufklärung und Propaganda, vom Auswärtigen Amt, von der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft und der Deutschen Rundfunk-Arbeitsgemeinschaft. 7 Als »Rundfunkwissenschaftliche Aufgaben der deutschen Universität« bestimmt Dovifat in einem Beitrag aus dem Jahre 1940: »Alle Kräfte, Mittel und Leistungen sind zu erforschen, die die Führungsaufgabe des Rundfunks bewirken und steigern. Die Ergebnisse dieser Forschung sind lehrend der Rundfunkpraxis für ihre Tagesarbeit und der Volksgesamtheit zu übermitteln, dass sich das Band zwischen Volk und Rundfunk ständig festige.« 8 Als Forschungsbereiche einer Rundfunkwissenschaft definiert Dovifat erstens die »Erforschung der Form und Art, Zeit und Gelegenheit des Hörensund der Aufnahmefahigkeit und Bereitschaft des Hörers«. 9 An zweiter Stelle nennt er Forschungen zum »Rundfunkmann«, die das Ziel verfolgen, die »Geschichte einer Berufsarbeit« zu schreiben, da diese »ihrem gegenwärtigen Träger die Leistungssicherheit
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dienforschung an der Universität Harnburg (Hg.), 50 Jahre Hans-BredowInstitut, Hamburg: Verlag Hans Bredow-Institut 2000, o.S. Vgl. den Bericht über Wagenführs Antrittsvorlesung am Institut für Rundfunkkundeund Fernsehrundfunk in: Rundfunkarchiv 3 (1940), S. 306f. Emil Dovifat: »Rundfunkwissenschaftliche Aufgaben der deutschen Universitäten«, in: Rundfunkarchiv 3 (1940), S. 41-44, hier S. 42. Nach Dovifat ist der Rundfunk »seiner technischen Natur nach« ein »Führungsmittel«. Daraus zieht er den Schluss: »So tritt der Rundfunk auch in die akademischen Hallen als ein Schützling des Staates, als ein Freund des ganzen Volkes.« (S. 42) Vgl. auch Emil Dovifat: »Aufuahme des Rundfunks in die akademische Lehre und Forschung. Januar 1940. Dokument 22«, in: Soesemann (Hg.), Emil Dovifat (wie Anm. 2), S. 558-560. ln zehn Punkten skizziert Dovifat hier den »Aufgabenbereich der Rundfunkkunde«. Diese Zusammenstellung erinnert an Konzeptpapiere für das HBI, die in der zweiten Hälfte der 40er Jahre von Wagenführ verfasst wurden. Dovifat: »Rundfunkwissenschaftliche Aufgaben« (wie Anm. 8), S. 42. Hörerforschung fand in jenen Jahren allerdings weniger am Berliner Institut statt als an dem rundfunkwissenschaftlichen Institut, das 1938 an der Freiburger Universität eingerichtet worden war. Zum Freiburger Institut vgl. Kutsch: Rundfunkwissenschaft im Dritten Reich (wie Anm. 5). Die Studie untersucht detailliert dieses Institut und geht nur ganz am Rande auf das Berliner Institut ein.
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[gibt] und [ ... ] ihm die Mühe des Alltags [erleichtert].« 10 Als drittes soll der » Weltrundfunk« beobachtet werden." In diesen Zusammenhang gehört die Initiative, ein »Zentralarchiv« zu errichten. Zu diesem Zweck fand am 10. Juli 1942 im Propagandaministerium eine Besprechung statt, an der neben den beiden Referenten des Reichsministeriums jiir Volk~ aujklärung und Propaganda, Wilfried Schreiber und August Goldschmidt, der Geschäftsführer der Deutschen Rundfunk-Arbeitsgemeinscha:fi (DRAG), Heinz-Gert Pridat-Guzatis, sowie Kurt Wagenführ in seiner Funktion als Leiter des Instituts jiir Rundfunkkunde und Fernsehrundfunk teilnahmen. »Einziger Tagesordnungspunkt die Einrichtung eines >Archivs über das Rundfunkwesen des AuslandesAllgemeinen Publizistik«dienenHans-Bredow-Institut für Rundfunk und Fernsehen»Es war ein faszinierendes Experiment.< Hilde Stallmach-Schwarzkopf über Kohlenklau und die Schwierigkeit, als Frau im Hörfunk aufzusteigen, im Gespräch mit Peter von Rüden«, in: Vom NWDR zum WDR. Gespräche zur Programmgeschichte, in: Nordwestdeutsche Hefte zur Rundfunkgeschichte, H. 3 (2005), S. 56-68, hier S. 59. Über die Rundfunkschule insgesamt und deren Leiter im Besonderen äußert sich Wagenführ in seinen Briefen, wenn überhaupt, eher abfällig. Vgl. z.B. Briefvon WagenfUhr an Dovifat vom 4.4.1950 (NWgf). Vgl. die Liste der »Spezialkurse«, »Sprecherkurse« und »Kurse für Mitarbeiter des NWDR« in den Jahren 1948-1950, in: Nordwestdeutscher Rundfunk (Hg.), Jahrbuch 1949-1950, Hamburg, Köln, S. 69; vgl. auch HSA 621-11144, NDR, 434 über den Spezialkursus der Rundfunkschule für Vertreter der Presse am 3.12.1948. Nordwestdeutscher Rundfunk (Hg.): Jahrbuch 1949-1950, Hamburg, Köln, S. 68; vgl. auch die »Stichworte zur Rundfunkschu1e« des Kuratoriums der Rtmdfunkschule vom 19.5.1950: Drei Aufgaben werden angefülut, von denen die »Kurse für Männer und Frauen des öffentlichen Lebens« als Schwerpunkt angegeben werden (HSA 621-1 /144, NDR, 1258). Wie Schwarzkopf: »Ausbildung und Vertrauensbildung« (wie Anm. 26), S. 24, vermerkt, hat Dovifat »Maaß wiederholt aufgefordert, Dr. Kurt Wagenführ und Dr. Gerhard Eckert als Referenten bei den >Spielkursen< der Rundfunkschule hinzuzuziehen.« 102
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des Rundfunks in der Gesellschaft auch unter politischen und philosophischen Aspekten« diskutiert werden sollte, wie Adolf Grimme, der Generaldirektor des NWDR, immer wieder betont. 35 Als dritten Aufgabenbereich der Rundfunkschule schlägt die NWDR-Abteilung »Erforschung der Hörermeinung« vor, Hörerbefragungen durchzuführen, die »mit der Erziehung zu sinnvollem und ökonomischem Hören« verbunden werden sollen. 36 Auch dieser Vorschlag passt nicht in Wagenfuhrs Pläne, denn Hörerforschung ist nicht sein Gebiet. Wenlee hat in seinen Hamburger Jahren, also insbesondere 1947/48, in Kooperation mit der NWDR-Rundfunkschule Konzeptions-Papiere und Organisationspläne fur das HBI verfasst. Ihm geht es weder um eine Neuorientierung noch um eine unmittelbare Fortsetzung institutioneller Gegebenheiten aus der Zeit des Nationalsozialismus. Er greift vielmehr nahezu alle Aspekte auf, die bislang als Rundfunkwissenschaft und Publizistik definiert worden sind, und versucht auf diese Weise, das Institut als interdisziplinäre Forschungsstätte zu begründen. Als »konkrete Beispiele« für Forschungsfelder werden in einem Memorandum angeführt: »I. Die Behandlung juristischer Probleme unter dem Gesichtspunkt des Rundfunks auf dem Gebiet des Urheberrechts, des Handels- und Wirtschaftsrechts, des Zivil- und Strafrechtes, des Staats- und Verwaltungsrechtes. 2. Die Erforschung der elektrophysikalischen und akustischen Probleme, die den Fortschritt des Rundfunkwesens bedingen. Das eben neu aufgenommene Fernsehen wird einen weiten Raum neuer Forschungen eröffnen. 3. Die experimentelle Erforschung der Probleme der Rundfunktechnik, soweit sie nicht in der Praxis des Rundfunks möglich und durchfUhrbar ist. 4. Die publizistischen und psychologischen Probleme des Rundfunks. Hierher gehören alle Fragen, die die Wirkung des Rundfunks auf den Hörer und seine Stellung im öffentlichen Leben betreffen: Hörer-Erforschung; Bildung und Beeinflussung der öffentlichen Meinung; der Rundfunk als politisches Instrument; die Entwicklung des Rundfunks im In- und Ausland. 5. Der Rundfunk als Träger und Übermittler kulturellen Lebens. Hier greifen die vom Rundfunk aufgeworfenen Fragen in fast alle Geisteswissenschaften ein. Im Vordergrund stehen: Literatur- und Kunstwissenschaft, Musikwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Soziologie, Wirtschaftswissenschaft, Erziehungswissenschaft, Philologie, Auslandskunde.« 37
35 Vgl. ebd., S. 27. 36 Vgl. Mitteilung von Peter Funk, einem Mitarbeiter der Abteilung »Erforschung der Hörermeinung>Umfassendes und übersichtliches Archiv« zu treffen. Neben der rundfunkgeschichtlichen Arbeit will er Kontakte zu internationalen Medieneinrichtungen aufbauen. Hier zeigt sich wieder die Kontinuität zum Berliner Institut. Ab August 1949 erhält Wagenführ finanzielle Mittel für die »Weiterverwaltung der Vorarbeitungen« zur Gründung des Instituts. 46 Im September und Oktober 1949 werden weitere Zahlungen an das noch nicht gegründete HBJ, zu Händen von Wagenführ, angewiesen.47 In der Zwischenzeit bereitet Wagenführ nicht nur die Gründung des Instituts vor, sondern verfolgt auch das Proj ekt der Zeitschrift Runqfimk und Fern.~e hen weiter, die von der Arbeitsgemeinschaft und dann vom HBI herausgegeben werden soll. Er führt zu diesem Zweck Verhandlungen mit dem Vowinckel Verlag, wo, so sein Plan, die Zeitschrift erscheinen soll. 48 44 Zechlin vor dem Senat (wie Anm. 41 ), S. 3. 45 Mitteilung Wagenführsan Raskop vom 12.6.1949 (NWgt). Bei den Mitarbeiterinnen handelt es sich um Elisa Lüder, die, wie es in der Mitteilung heißt, »Assistentin am Institut für Rundfunkkunde und Fernsehrundfunk an der Universität BerlinMitläufer< ein« (ebd., S. 18). Seine Beziehungen zu WagenfUhr erwähnt er nur kurz am Ende (vgl. ebd., S. 24). Ganz ausgeblendet bleibt, dass Wagenführ mit seiner Tochter verheiratet ist. 49 Zwar berufen sich Vowinckel und WagenfUhr auf einen Vertrag, derbesagt, dass Vowinckel die Zeitschrift Rundfunk und Fernsehen vom Gildenverlag übernimmt, der sie verlegen sollte, solange der Vowinckel Verlag keine Lizenz hatte, und dass damit klar sei, dass die von Wagenführ angewiesenen DM 5000 der Finanzierung der Zeitschrift dienen sollten. Allerdings gibt das Gericht der Klage des Hans-Bredow-Instituts gegen dieses Vorgehen statt, weil ein Verlagsvertrag nicht zustande gekommen ist. Es gibt lediglich einen Entwurf des Verlagsvertrags, den WagenfUhr und Vowinckel formuliert haben, der jedoch nie unterzeichnet wurde. Vgl. auch den Bericht der Zentralrevision über die Prüfung der Abrechnung der Zuschüsse des NWDR an das Hans-Bredow-Jnstitut für das Rechnungsjahr 1952, S. 6, wo als »Äußerung des Bredow-lnstituts« notiert ist: »Die Abrechnung über den Zuschuß von 1949 [... ] kann noch nicht vorgelegt werden, weil noch Regressansprüche an Dr. Wagenführ erhoben werden. Es kann jedoch mitgeteilt werden, dass laut Urteil des Hamburger Landgerichtes VowinckelWagenführ bereits zur Rückzahlung eines Betrages von DM 5.000.- verpflichtet worden sind.« (HSA, 621-1 /144, NDR, 1319). 107
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30. Juni 1952 scheidet Wagenführ gemäß Beschluss des Kuratoriums aus dem HBI aus. 5° Diesem Ende gehen permanente Unstimmigkeiten zwischen Zechlin und Wagenführ voraus. Sie beziehen sich v.a. auf Fragen nach Zuständigkeiten und Kompetenzen in der Gründungsphase und in dem zu gründenden Institut. Dovifat setzt sich in dieser Phase für Wagenführ ein, geht dabei aber von Zechlin als dem künftigen Direktor aus. Seine Vorschläge zum Aufbau des Instituts, die er, adressiert an Zechlin, mit einem Empfehlungsschreiben für Wagenführ verbindet, stellen weiterhin die Kontinuität zum Berliner Institut heraus, wenn er als Aufgabenbereiche anführt: 1. »Die systematische Zusammenfassung des gesamten Weltrundfunkinformationsmaterials«; 2. die »laufende Bearbeitung des Hörerforschungsproblems und aller damit zusammenhängenden statistischen und psychologischen Probleme«; 3. die »fortlaufende Untersuchung der Rundfunkprogramme mindestens aller deutschen und einer Reihe grosser ausländischer Sender«; 4 . die Beschäftigung mit »Ürganisationsfragen der Rundfunkgesellschaften«; 5. die »systematische Inangriffnahme der Rundfunkgeschichte aller massgebender Länder«. Diese Aufgaben definiert er als »die publicistische Conception des Faches«, und ihr »soll die Stiftung dienen«. Dovifat verwirft Wenkes Vorschläge, Fachabteilungen-etwaRundfunk und Psychologie, Rundfunk und Musik, Rundfunk und Geografie »u.s.w. u.s.w.«- zu bilden, da dies »zu einem Auseinanderfliessen aller Probleme« führe. 51 Gegen eine solche Kontinuität hat Zechlin keine Einwände. Sein Ziel richtet sich darauf, als Direktor autonom agieren und dabei, soweit möglich, auch noch eigene Fachinteressen als Historiker einbringen zu können. Die Prämisse, dass man mit diesem Institut an die rundfunkwissenschaftlichen Initiativen aus der Zeit des Nationalsozialismus anlmüpfen kann und auch soll, ist das Einzige, worin sich die an der Gründung Beteiligten einig sind.
50 Es schließen sich lange, über Anwälte ausgetragene Kontroversen über Zahlungen an, die Wagenführ ohne Berechtigung an Vowinckel und andere angewiesen hat. 51 BriefDovifats an Zechlin vom 31.3.1950 (NWgt). Nicht öffentlich, sondern in einem handschriftlichen Brief vom 6.4.1959 macht Dovifat Wagenfuhr selbst für seine Situation verantwortlich, da dieser sich nicht an der Universität Harnburg habilitiett und damit als Direktor qualifiziert habe: »Damit wäre alles vielleichter gewesen u. wir hätten keinen akademischen Protektor gebraucht.« Als eine »glänzende Lösung« bezeichnet er es, wenn Wagenführ »in einigen Monaten das beste Buch über den Rundfunk u. Fernsehrundfunk vorlegen würde, an dem niemand in Deutschland vorübergehen kann. Die Hamburger Habilitation säße u. in kurzer Zeit wären wir alle Protektoren los -!« (NWgt). 108
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Wie nachhaltig sich dieses Kontinuitäts-Bestreben in den Gründungsakt des HBI einschreibt, zeigt schließlich das Einladungsschreiben, das Zechlin im April 1950 an die Intendanten der Rundfunkanstalten adressiert und in dem es, wenn auch etwas vage, aber für Kenner deutlich genug, heißt, dass das Institut »mit Dr. Kurt Wagenführ und der von ihm geleiteten Zeitschrift >Rundfunk und Fernsehen< eine Tradition übernimmt«.52
Das Ende der Gründungsphase und der Beginn des Hans-Bredow-lnstituts Die Differenzen zwischen Zechlin und Wagenführ kennzeichnen das Ende der Gründungsphase und den Beginn des HBI. Sie entzünden sich jetzt in erster Linie an der Frage, wer, wenn es um die Zeitschrift Rundfunk und Fernsehen geht, welche Kompetenzen hat. Einig ist man sich über das Erscheinen einer Zeitschrift. Konzeptionelle Fragen spielen keine Rolle; strittig ist, wem die Verantwortung für die Zeitschrift zukommt. Seit Wagenführ 1947 den Aufbau einer Zeitschrift in Angriff genommen hat, schreibt er sich die Position des Chefredakteurs zu, der die alleinige Verantwortung zu tragen habe. Er selbst sieht sich durch seine rundfunkpublizistischen Aktivitäten qualifiziert und versteht die Zeitschrift als eine Art von Fortführung des Welt-Rundfunks, einer Zeitschrift, die er ja ebenfalls bis 1945 als Chefredakteur verantwortet hatte. Ein zweiter, in vielen Briefen entfalteter Streitpunkt ist die Frage des Verlages, in dem die Zeitschrift erscheinen soll. W agenftihr vertritt von Beginn an die Ansicht, dass der Vowinckel Verlag die Zeitschrift verlegen müsse. Der Verlag habe einen Anspruch wegen der früheren Zusammenarbeit bei der Zeitschrift Welt-Rundfunk. Als Vowinckel Ende 1949 eine Arbeitslizenz erhält und Wagenführ die Zeitschrift mit ihm plant, schreibt Vowinckel an Wagenführ: »Ich freue mich herzlich, daß am Anfang meinerneuen Verlagstätigkeit nun wieder die Weiterführung unseres alten Unternehmens, des >Weltrundfunks< stehen wird, - auch wenn das Kind jetzt einen etwas anderen Namen und eine erweiterte Zielsetzung hat.«53
52 Das Zitat stammt aus Zechlins Einladungsschreiben, das er am 21.4.1950 an den Intendanten des Hessischen Rundfunks, Eberhard Beckrnann, adressiert (NWgt). 53 Briefvon Vowinckel an Wagenführ vom 30.12.1949 (NWgt).
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Am 1. April 1950 übernimmt Zechlin den Direktorposten54 und Wagenführ wird Referent im HBI. Am 30. Mai 1950 genehmigt der Senat der Stadt Harnburg die Gründung der Hans-Bredow-Stißung als einer rechtsfähigen Stiftung des bürgerlichen Rechts, mit den Organen Kuratorium und Direktor. Auch diese formale Konsolidierung beendet nicht die Konflikte zwischen Zechlin und Wagenführ um die Frage des Chefredakteurs; diese bleiben virulent bis zum unfreiwilligen Ausscheiden von Wagenführ. Eine Konsolidierungsphase, verbunden mit einer zunehmenden Verlagerung des Forschungsschwerpunkts, setzt ein, als Gerhard Maletzke 1952 wissenschaftlicher Referent des HBI wird. 55 Der Unterschied zwischen Wagenführ und Maletzke zeigt sich in den grundlegend differenten Forschungsinteressen. Wagenführ vertritt, im Anschluss an Dovifat, einen historisch-normativen Ansatz und setzt den Schwerpunkt seiner Aktivitäten innerhalb der Rundfunkpublizistik. 56 Ganz anders beschreibt Maletzke in seinem Rückblick auf die ersten 50 Jahre des Instituts seine Forschungsbereiche. Als Beispiel, das mittlerweile weithin bekannt ist, führt er »ein empirisches Forschungsprojekt mit Intensivinterviews zum Thema >fernsehen im Leben der JugendParadigmenwechsel< ausschlaggebend gewesen ist. Vielmehr handelt es sich um das Zusammenspiel von einem Bündel ganz unterschiedlicher Faktoren, deren Verflechtungen im Einzelnen nur >Von innen< zu erschließen sind. Die empirische Medienforschung, die in hohem Maße Auftragsforschung ist, definiert fortan die Massenmedien innerhalb des statistischen Dispositivs. Sie integriert die Medien damit in ein dominantes Ordnungsmuster, das gestattet, »die Masseneffekte individuellen Verhaltens quantitativ zu messen« 61 Die normativ ausgerichtete Steuerung des Rundfunks und seiner Nutzer, die Dovifat und Wagenfuhr mit der Publizistikwissenschaft als normsetzender Disziplin weiterfuhren wollten, wird im Laufe der weiteren Geschichte des HBI abgelöst durch eine statistische Verdatung der Mediennutzer, die Normalität produziert. 59 Hans-Jörg Rheinberger/Wolfgang Hagner: »Experimentalsysteme«, in: dies. (Hg.), Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950, Berlin: Akademie Verlag 1993, S. 8-27, hier S. 9. 60 Eine ähnliche Umorientierung erfolgt am Berliner Institutfor Publizistik ca. zehn Jahre später, auch hier verbunden mit einem personellen Wechsel. Nach der Emeritierung Dovifats übernimmt 1961 -gegen den heftigen Widerstand Dovifats- Fritz Eberhard die Leitung des Instituts. Vgl. Kübler: »Emil Dovifat und das Institut für Publizistik« (wie Anm. 2), S. 347. Kühlers Behauptung, dass Eberhard »[e]rs tmals in Deutschland [... ] die Rezeption amerikanischer Massenkommunikationsforschung [förderte]«, muss allerdings angesichts der Aktivitäten Maletzkes korrigiert werden. 61 Michel Foucault: »Die analytische Philosophie der Politik«, in: ders., Schriften in vier Bänden. Bd. III (1976-1979), Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003, S. 675-695, hier S. 694. 111
PRAKTIKEN DES BEFRAGENS UND MESSENS
RÄTSEL, BRIEFE, UMFRAGEN. fRAGEN AN RUNDFUNKNUTZUNG IN PROGRAMMZEITSCHRIFTEN ANNA BIENEFELD
In seiner Geschichte der Hörer- und Zuschauerforschung in Deutschland schreibt Hansjörg Bessler: »Neben den Funkvereinen und dem Programm selbst spielten die Funk- und Programmzeitschriften die wichtigste Rolle bei der Aktivierung von Hörerresonanz.« 1 Die folgende Analyse von Programmzeitschriften der Weimarer Republik und der Nachkriegszeit bis Anfang der 1960er Jahre2 untersucht, welche Informationen über das Runclfunkpublikum mithilfe von Hörerrätseln und -Zuschriften gesammelt und wie sie ausgewertet werden. Außerdem soll gezeigt werden, inwieweit Methoden und Ergebnisse der Hörer- und Zuschauerforschung in diesen Organen publiziert und damit für eben jenes Publikum aufbereitet werden, das mit ihrer Hilfe erfasst wird. Dabei stehen die Fragen im Mittelpunkt, welche Rolle die Verdatung der Rundfunknutzer in den Programmzeitschriften spielt und inwieweit man das Publikum durch solche Veröffentlichungen in seinem Medienverhalten beeinflussen will. Aus den 1920er und frühen 1930er Jahren wurden die jeweils verfügbaren Jahrgänge verschiedener Programmzeitschriften ausgewertet. 3 Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg konzentriert sich die Analyse auf die HÖR ZU!, die größte deutsche Programmzeitschrift dieser Zeit. 4
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Hansjörg Bessler: Hörer- und Zuschauerforschung, München: dtv 1980, S. 18-20. Die Zeit des Nationalsozialismus klammere ich aus meiner Untersuchung weitgehend aus, da die sicherheitsdienstliche Erkundung der Hörermeinung durch die Nationalsozialisten nicht mit der empirischen Hörerforschung der Weimarer Republik und der Nachkriegszeit vergleichbar ist. Vgl. hierzu Bessler: Hörer- und Zuschauerforschung (wie Anm. 1), S. 34-45. Im Einzelnen wurden folgende Zeitschriften ausgewertet: Die Funkstunde. Zeitschrift der Berliner Rundfunk-Sendestelle (1924-1925), Dortmunder Radio-Rundschau ( 1925-1926), Funk. Die Wochenschrift des Funkwesens (1931 ). Vgl. zur Bedeutung von HÖR ZU! Lu Seegers: »Die Erfolgsgeschichte von HÖR ZU/ (1946-1965)«, in: dies., HÖR ZU! Eduard Rhein und die Programmzeitschriften (1931-1965), Potsdam: Verlag fiir Berlin-Erandenburg 2001, S. 151-232.
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Wer ist's? HörerrätseI in Programmzeitschriften Ratespiele und Preisausschreiben fordern, gleichgültig über welches Medium sie verbreitet werden, den Mediennutzer zur aktiven Teilnahme auf, sie ermöglichen einen gegenseitigen Austausch und bieten den publizistischen Medien so Gelegenheit, die Einseitigkeit der medialen Kommunikation zu durchbrechen. Da die Teilnahme an solchen Gewinnspielen freiwillig ist, gibt es natürlich keinerlei Gewähr dafür, dass durch das Zählen der einlaufenden Antworten das Gesamtpublikum oder ein - in welcher Weise auch immer - repräsentativer Teil davon erfasst würde. Dennoch ist es vorstellbar, dass gerade in Zeiten, in denen sich die repräsentative Publikumsbefragung noch in den Anfängen befindet, Preisrätsel dazu genutzt werden, Daten über das Medienpublikum zu sammeln. Im Folgenden soll untersucht werden, ob sich in den Programmzeitschriften der Weimarer Republik und der frühen Nachkriegszeit Hinweise auf eine solche Praxis der Datenerhebung finden und inwieweit mittels Hörerrätsel vielleicht auch Einfluss auf das Hörverhalten des Rundfunkpublikums genommen werden soll. 5 Aus den Zeiten der Weimarer Republik liegen mir lediglich aus der Dortmunder Radio-Rundschau Hinweise auf Hörerrätsel vor. Da aufgmnd der schwierigen Materiallage keine der frühen Programmzeitschriften systematisch von ihrem ersten Erscheinen bis zum Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft ausgewertet werden konnte, bedeutet dies nicht, dass die anderen Zeitschriften solche Rätsel nicht ausgeschrieben haben. Die werbewirksame Ankündigung der Hörerrätsel in der Dortmunder Radio-Rundschau, die mitunter das gesamte Titelblatt einnimmt, 6 und der wiederholte Hinweis auf die rege Teilnahme des Publikums 7 sprechen im Gegenteil dafür, dass Preisausschreiben dieser Art auch in anderen Zeitschriften verbreitet wurden. In der Dortmunder Radio-Rundschau finden sich 1926 zwei verschiedene Arten von Hörerrätseln: Die Preisfrage »Wer siegt im Dortmurrder Sechs-Tagerennen?« bezieht sich in Form einer Sportwette auf die Rundfunkübertragungen eines Ereignisses, die unabhängig von dieser Ausschrei5
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Ich beschränke mich bei meiner Untersuchung auf solche Preisrätse1, die in Zusammenarbeit mit den Rundfunksendem veranstaltet werden und sich somit an das Hörerpublikum richten. Kreuzworträtsel und andere Preisausschreiben, mit denen die Zeitschriften ihre Leser ansprechen, finden hier keine Beachtung. Vgl. etwa Dortmurrder Radio-Rundschau 2 (1926), H. 21 und 25. Vgl. beispielsweise >»Wer ist's?< Erläuterungen zum Preishören am Sonnabend, den 26. Juni«, in: Dortmurrder Radio-Rundschau 2 (1926), S. 396-397, hier S. 396.
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bung gesendet werden. 8 Die folgenden Gewinnspiele, genannt »Preishören«, kündigen spezielle Rätselsendungen an, an denen jedoch nur die Leser der Radio-Rundschau teilnehmen können, da den zu erratenden Liedtiteln oder Sängern Bilder zuzuordnen sind. 9 Bei all diesen Preisausschreiben sollen die Teilnehmer neben der Lösung und ihrer Anschrift auch ihren Beruf angeben. Zunächst werden die Berufsbezeichnungen bei der Bekanntgabe der Preisträger veröffentlicht, bei den späteren Rätselauflösungen entfällt diese Angabe. Welchem Zweck das Erfragen des Berufs dient, ob etwa die Einsendungen von der Zeitschriftenredaktion oder der Sendeleitung nach Berufsgruppen sortiert ausgezählt und so Anhaltspunkte für die Zusammensetzung des Rundfunkpublikums gesucht werden, lässt sich aus der Dortmunder Radio-Rund~chau nicht ersehen. Aufschlussreich sind die Aussagen zum Zweck der Hörerrätsel, die in den Ausschreibungen gemacht werden. Die Preisfrage zum Sechs-TageRennen wird eingeleitet mit den Worten: »Um das Interesse an den Übertragungen aus der Westfalenhalle: >Das Dortmurrder Sechs-Tage-Rennen im Rundfunk< noch zu steigern, hat sich die >Radio-Rundschau< entschlossen, folgende Preisfrage zu stellen«. 10 Es geht hier also ganz ausdrücklich darum, die Hörer- bzw. die Leser der Radio-Rundschau- auf eine bestimmte Sendung aufmerksam zu machen und deren Attraktivität durch die Preisfrage zu steigern. Für die Preisausschreiben, zu denen spezielle Rätselsendungen konzipiert werden, wird eine andere Intention genannt: »Zweck des Preishörens ist wieder, die Hörer zu aufmerksamstem Zuhören, feinstem Unterscheidungsvermögen und bestmöglichster [sie] Feineinstellung ihrer Apparate zu erziehen.« 11 Wieder ist eine Beeinflussung des Hörverhaltens der Rundfunkhörer ausdrücklich beabsichtigt, diesmal jedoch nicht im Hinblick darauf, was gehört wird, sondern wie gehört wird. Die aus den 1920er Jahren vorliegenden Hörerrätsel-Aktionen in der Dortmunder Radio-Rundschau dienen also augenscheinlich dem Zweck, die Rundfunkhörer in ihrem Medienverhalten zu lenken und zur Aufmerksamkeit zu >erziehenWer ist's?«< (wie Anm. 7), S. 396. 117
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Auch HÖR ZU! schreibt zusammen mit dem NWDR Hörerrätsel aus, allerdings nur in den Jahren 1947 und 1948. Später veranstaltete Preisrätsel sind vom Rundfunk unabhängig. Die in der Nachkriegszeit in HÖR ZU! veröffentlichten Preisausschreiben unterscheiden sichjedoch sowohl in ihrer Form als auch in der Intention deutlich von den zuvor erläuterten Rätseln der Dortmunder Radio-Rundschau. Wieder lassen sich zwei verschiedene Arten von Preisfragen unterscheiden: In den Jahren 1947 und 1948 lässt der NWDR durch HÖR ZU! mehrfach Preise fur Hörspiel- oder Sendemanuskripte ausschreiben. 12 Die Hörer sollen also weder ein akustisches Rätsel lösen noch einen WettTipp abgeben, sondern sie werden aufgefordert, als Autoren für den Rundfunk tätig zu werden. Mithilfe solcher Preisausschreiben »will der NWDR erfahrene Autoren und junge Talente, die Mut zum Schreiben haben, mobilisieren«, 13 will also Stoff fur seine Sendungen und idealerweise neue Schreibtalente finden. Eine Verdatung der Teilnehmer ist hier offensichtlich nicht beabsichtigt, da keinerlei persönliche Angaben gefordert werden. Es wird zwar verschiedentlich über besonders hohe Zahlen von Einsendungen berichtet, 14 weitere >Daten< werdenjedoch nicht veröffentlicht. Auch eine Beeinflussung des Hörverhaltens ist hier nicht intendiert. Der im Aufbau befindliche NWDR interessiert sich offenkundig ausschließlich für die inhaltlichen Ergebnisse dieser Art von Preisfragen. Als eine zweite Art von Hörerrätseln kommt 1948 die regelmäßig veranstaltete »Funklotterie« hinzu, bei der zusammen mit einem Geldeinsatz Lösungskarten fiir akustische Rätsel eingesandt werden sollen. Die Höhe der Gewinne berechnet sich anteilig nach der Höhe der Gesamteinnahmen, »der Reingewinn [... ] wird von der Deutschen Hilfsgemeinschaft nach einem Schlüssel an die Länder der britischen Zone verteilt«. 15 Dieser »Reingewinn« steht im Mittelpunkt des Interesses, mit ihm scheint sich die >Auswertung< der eingehenden Lösungen zu erschöpfen. Hinweise auf eine Verdatung der teilnehmenden Hörerschaft finden sich auch hier nicht, ebenso wenig werden erzieherische Absichten im Hinblick auf das Hörverhalten des Rundfunkpublikums geäußert. In einem 12 Vgl. etwa »Das große Preisausschreiben des NWDR. Was erleben Sie am Mittwoch, dem 29. Januar?«, in: HÖR ZU! 2 (1947), H. 3, S. 12; »Wer schreibt das packende Kurz-Hörspiel?«, in: HÖR ZU / 2 (1947), H. 29, S. 6; »Zwei Preisausschreiben des NWDR Köln. Wer schreibt die beste Kurzgeschichte? ... und wer Manuskripte flir die 3 lustigen Sprecher?«, in: HÖR ZU! 3 (1948), H. 13, S. 12. 13 »Wer schreibt das packende Kurz-Hörspiel?« (wie Anm. 12), S. 6. 14 Vgl. beispielsweise dt: »35 000 Zeitdokumente. Zum NWDR-Preisausschreiben«, in: HÖR ZU/ 2 (1947), H. 7, S. 16; oder Ludwig Cremer: »Den 7 Besten. Das Preisausschreiben für Kurzhörspiele«, in: HÖR ZU/ 3 (1948), H. 8, S. 12. 15 »Am Sonntag zum erstenmal: Funk-Lotterie. Gemeinschafts-Veranstaltung der Deutschen Hilfsgemeinschaft und des NWDR«, in: HÖR ZU/ 3 (1948), H. 34, S. 12. 118
RÄTSEL, BRIEFE, UMFRAGEN
Erfolgsbericht über die erste Funklotterie wird zwar eine geschätzte Anzahl der eingesandten Lösungen veröffentlicht, auf die bei der Teilnahme anzugebenden Berufe wird dabei aber nicht eingegangen. 16 In der Fachzeitschrift Rufer und Hörer wird Anfang der 1950er Jahre gleich von zwei Autoren die Möglichkeit der Ermittlung der Hörermeinungen mittels Preisausschreiben erörtert. Kurt Beynicke schlägt vor, die Hörer zu animieren, kurze begründete Beurteilungen zu einzelnen Sendungen zu schreiben, und die besten Einsendungen mit Buchpreisen zu belohnen. 17 Peer Frank Günther fordert die Sender dazu auf, »allmonatlich einen Preis für den gescheitesten, sachlichsten, anregendsten und aufmerksamsten Hörerbrief« auszusetzen. 18 Beide Autoren erhoffen sich von diesen Maßnahmen neben Aufschlüssen über die Meinung besonders urteilsfähiger Hörer auch eine »erzieherische Wirkung«, 19 eine Hinführung des Rundfunkpublikums zu besonders aufmerksamem, >denkendem< Hören. Damit greifen sie wieder auf, was die Dortmunder Radio-Rund~chau bereits 1926 praktisch erprobt hat, was in den Preisausschreiben der HÖR ZU! in der Nachkriegszeit jedoch keine Rolle mehr spielt: die Beeinflussung des Hörverhaltens durch HörerrätseL Ein Unterschied zur Praxis der 1920er Jahre besteht darin, dass sowohl Beynicke als auch Günther Hörerzuschriften prämiert wissen möchten, beide also weniger ein Hörerrätsel im engeren Sinne als ein gezieltes Einfordern und Honorieren von Hörerbriefen im Sinn haben. Wie bereits erwähnt finden sich in HÖR ZU! in den 1950er Jahren keinerlei Hinweise auf Hörerrätsel, auch nicht in der Form, wie Beynicke und Günther sie vorschlagen. Inwieweit jedoch die Auswertung von Hörerbriefen in den Programmzeitschriften eine Rolle spielt und welche Strategien der Nutzbarmachung solcher Zuschriften für die Hörerforschung entwickelt werden, soll im nächsten Abschnitt untersucht werden.
16 Vgl. Walter Hilpe1t: »Rieseneifolg der Funklotterie«, in: HÖR ZU/ 3 (1948), H.
37, S. 3. 17 Vgl. Kurt Heynicke: »Von der Meinung zur Mitarbeit«, in: Rufer und Hörer 6 (1951152), S. 724f. 18 Peer Frank Günther: »Das müde Echo«, in: Rufer und Hörer 7 (1952/53), S. 289-292, hier S. 292. 19 Heynicke: »Von der Meinung zur Mitarbeit« (wie Anm. 17), S. 725.
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Briefe, die uns erreichten ... »Am Anfang der Hörerforschung stand die Analyse der Hörerbriefe«, schreibt Bessler in seiner Geschichte der Hörer- und Zuschauerforschung20 und schildert, dass die in den Redaktionen einlaufenden Hörerzuschriften bereits 1924 dazu genutzt werden, einen Eindruck von >der Hörem1einung< zu gewinnen. Dass die Frage, ob Hörerbriefe überhaupt ein realistisches und für die Programmgestaltung verwertbares Bild der Meinungen und Wünsche des Rundfunkpublikums vermitteln können, und die Methoden, mit denen diese Briefe ausgewertet werden, keineswegs unumstritten sind, zeigt bereits ein Blick in die Fachzeitschrift Rufer und Hörer, in der diese Probleme nicht nur in den frühen 1930er Jahren, sondern auch in der Nachkriegszeit verhandelt werden. Neben Funkschaffenden, die Hörerzuschriften kritiklos zum Maßstab für die Meinung ihres Publikums machen,21 melden sich bald auch Skeptiker zu Wort, die die Aussagekraft der Hörerbriefe im Hinblick auf die Meinung der Gesamthörerschaft bezweifeln. Häufig vorgebracht werden die Einwände, die Verfasser von Hörerbriefen bildeten eine »recht eigenartige« Minderheit innerhalb der Gesamthörerschaft22 und eine ablehnende bzw. aufgebrachte Haltung dem Programm gegenüber motiviere eher zum Schreiben von Hörerbriefen als Zustimmung. 23 Obwohl Letzteres bereits in den frühen 1930er Jahren von Kurt Wagenführ widerlegt wird, der bei einer exemplarischen Auswertung von 1.000 Hörerzuschriften feststellt, dass nur etwa 1 Prozent der Briefe ablehnende Wertungen zum Programm enthält, 24 bleiben diese Vorbehalte hinsichtlich der Repräsentativität von Hörerbriefen auch nach dem Zweiten Weltkrieg bestehen. Dementsprechend werden auch bestehende Ansätze zu einer statistischen Auswertung von Hörerzuschriften eher kritisch betrachtet. 25 Durch eine »Analyse des schreibenden Teils der Hörerschaft«, über die Ludwig Merkle berichtet,26 erbringt der Bayerische Rundfunk 1950 dann den statistischen Beweis, dass Hörer20 Bessler: Hörer- und Zuschauerforschung (wie Anm. 1), S. 17. 21 So z.B. Werner Suhr in seinem Aufsatz über »Rundfunk und weibliche Jugend«, in: Rufer und Hörer 2 (1932133), S. 502-506. 22 Ludwig Merkle: »Der Hörer schreibt«, in: Rufer und Hörer 7 (1952/53), S. 17-22, hier S. 18. 23 Solche und ähnliche zur Vorsicht mahnende Urteile werden beispielsweise geäußert von Kurt Wagenflihr: »Hörerbriefe«, in: Rufer und Hörer 1 (1931/32), S. 423f.; Ludwig Kapeller: »Aktivierung des Hörers«, in: Rufer und Hörer 6 (1951152), S. 453-458; Heynicke: »Von der Meinung zur Mitarbeit« (wie Anm. 17). 24 Vgl. Kurt Wagenführ: »Der Hörer schreibt«, in: Rufer und Hörer 2 (1932/33), S. 287-288. 25 Vgl. etwa Wagenführ: »Hörerbriefe« (wie Anm. 23). 26 Merk1e: »Der Hörer schreibt« (wie Anm. 22), ZitatS. 17.
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briefeschreiher eine nicht repräsentative Minderheit innerhalb der Gesamthörerschaft bilden. Doch auch die Möglichkeiten und Vorteile der Analyse der Hörerpost in Ergänzung und Abgrenzung zur demoskopischen Hörerforschung werden weiterhin diskutiert. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern Hörerbriefe und ihre Verwendung zu Zwecken der Hörerforschung Eingang in die Publikumszeitschriften der Weimarer Republik und der Nachkriegszeit finden. In allen hier untersuchten Programmzeitschriften- ob sie in der Weimarer Republik oder nach 1945 erscheinen - ist die Veröffentlichung von Hörerbriefen fester Bestandteil des redaktionellen Teils und erfolgt meist unter einer regelmäßigen Rubrik. Dabei fällt zunächst einmal auf, dass es sich bei den ganz oder auszugsweise veröffentlichten Zuschriften tatsächlich um Hörer- und nicht um Leserbriefe handelt. 27 Diese an die Zeitschriftenredaktion gerichteten Briefe befassen sich neben technischen Problemen mehrheitlich mit Fragen der Programmgestaltung, enthalten also Wünsche, Kritik, Fragen und Anregungen zu einzelnen Sendungen oder auch zum Gesamtaufbau des Rundfunkprogramms und adressieren somit eher die Rundfunksender als die Programmzeitschriften. 28 27 Bei der Adressierung ihres Publikums unterscheiden die Programmzeitschriften nicht immer trennscharf zwischen >Hörern< und >LesernHörer< und >Leser< in den Programmzeitschriften in den meisten Fällen synonym verwendet werden, dass also nicht zwischen dem Rundfunkpublikum und den Lesern der Zeitschriften unterschieden wird. Lediglich zu Werbezwecken wird gelegentlich der Leser einer bestimmten Programmzeitschrift sozusagen als privilegierter und besonders gut informierter >Leser< vom >herkömmlichen< Rundfunkhörer abgegrenzt (vgl. beispielsweise »An unsere Leser!«, in: HÖR ZU/ 16 (1961), H. I, S. 2). 28 Eine Erklärung dafür, dass die Hörer sich mit ihren Zuschriften (auch) an die Programmzeitschriften und nicht (nur) an die Rundfunksender wenden, lässt sich darin finden, dass die frühen Rundfunkzeitschriften sehr eng mit einem bestimmten Sender verbunden sind. So ist Die Funkstunde die Zeitschrift der Berliner Rundfunk-Sendestelle (Untertitel der Zeitschrift), und auf dem Titelblatt der Dortmunder Radio-Rundschau, die 1925 zum ersten Mal erscheint, findet sich der Zusatz »Offizielles Organ der Westdeutschen Funkstunde A.-G.«. In der Wahrnehmung der Hörer bzw. Leser bleibt diese institutionelle Verflechtung von Sendem und Programmzeitschriften offenbar auch dann bestehen, wenn eine Programmzeitschrift in eigener Verantwortung eines unabhängigen Verlegers erscheint, sie unterscheiden im Hinblick auf ihre Zuschriften nicht zwischen rundfunkeigenen und unabhängigen Organen. Der nur sporadischen Unterscheidung zwischen >Hörern< und >Lesern< in den Programmzeitschriften entspricht also eine sehr unscharfe Trennung der Zuständigkeitsbereiche von Sendestellen und Zeitschriftenredaktionen in der Wahrnehmung des Publikums. 121
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Manche der Zuschriften werden von der Redaktion der jeweiligen Programmzeitschrift kommentiert, indem beispielsweise Fragen beantwortet oder Probleme im Programmaufbau und -ablauf erläutert werden, andere bleiben unbeantwortet. Warum, mit welcher Intention, werden nun aber in Programmzeitschriften Hörerbriefe veröffentlicht, die sich doch in erster Linie an die Rundfunkschaffenden richten, nicht an ein Hörer- oder Leserpublikum? In den Zeitschriften selbst werden unterschiedliche Gründe angegeben. Die Funkstunde bittet in ihrem ersten Heft vom November 1924 ihre Leser um Zuschriften, um in ihrer regelmäßigen Rubrik »die Funkteilnehmer zu Worte kommen« lassen zu können. 29 In diesem zunächst sehr einfachen Vorsatz, den Hörern ein öffentliches Forum zur Meinungsäußerung zu geben, deutet sich bereits eine Möglichkeit zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung an: Indem die Redaktion verschweigt, dass sie durch ihre Auswahl der abgedruckten Zuschriften das öffentliche Bild von >der Hörermeinung< entscheidend prägt, und vorgibt, unmittelbares Sprachrohr der Rundfunkteilnehmer zu sein, eröffnet sie sich selbst die Möglichkeit, ein gezielt formiertes Bild des Mediennutzers zu vermitteln, ohne dass ihren Lesern der Prozess dieser Formierung bewusst wird.30 HÖR ZU/ nennt ein anderes Motiv für die Veröffentlichung von Hörerzuschriften, das sich allerdings eher zwischen den Zeilen findet und in ihrem Selbstverständnis als Vermittler zwischen Rundfunk und Hörerschaft begründet liegt. 31 Im Kommentar der Redaktion zu einer 1948 veröffentlichten Hörerzuschrift zu einer speziellen Sendung heißt es: »Wir teilen Ihre Ansicht hierdurch dem NWDR mit.«32 HÖR ZU! behauptet also, die Hörerbriefe durch ihre Veröffentlichung den Funkschaffenden zur Kenntnis zu bringen. Implizit wird dabei zweierlei vorausgesetzt: Erstens werden die Programmverantwortlichen ebenso wie die Rundfunkhörer zum Kreis der HÖR ZU!-Leser gezählt, zweitens wird davon ausgegangen, dass sie den in HÖR ZU! veröffentlichten Hörerzuschriften besonderes Gewicht beimessen. Da auch die Sendestellen zahlreiche Hörerbriefe erhalten, lesen und auswerten, erscheint zumindest die zweite An-
29 »Briefe, die uns erreichten ... der Hörer< in der Kurve lediglich der externe Zurechnungsfaktor eines jeglicher Tendenz und Wertung enthobenen und im Modus der Probabilität erhobenen Kommunikationsgeschehens, er ist nichts als ein Datum, das das wahrscheinliche Fließen eines Reizstroms von der Sendeanstalt in einen menschlichen Wahrnehmungsapparat bezeichnet. Die Daten handeln von derzeitlichen Streuung schierer Hörvorgänge, deren Referenzgröße nicht die individuelle Psyche ist, sondern die Population der Hörer. Die Aktivitäten des undurchschaubaren >Anonymus Publikum< changieren damit nicht mehr zwischen bedrohlicher Nivellierung durch Wünsche nach Bunten Abenden einerseits und einem angenommenen Bedürfnis nach radiophoner Sinnstiftung andererseits. Vielmehr wird mit dem Basistatbestand der Einschaltzahlen überhaupt erst sichtbar, worum es sich beim Publikum faktisch handelt - wenn auch extrem reduziert auf die Wahrscheinlichkeit von Hörvorgängen. Diese Erhebungsmethodik enthüllt also nicht die Wünsche von »Herrn oder Frau Jedermann«, sondern kartiert Rezeptionsaktivitäten im Milieu des Publikums. 13 Die statistische Publikumsforschung umgeht vielmehr in programmatischer Weise jede sich der Introspektion oder Hermeneutik bedienende Frage nach dem Wunsch und dem Erleben der Hörer - und gerade deshalb ist sie in der Lage, die von der Medientechnologie des Radios etablierten Kommunikationsprobleme auf eine adäquate, nämlich genuin technologische Weise anzugehen. An dem für sich genommen simplen Sachverhalt, den die Tageshörkurve abbildet und zugleich erzeugt, an der Loslösung der Rezeptionsak13 Von Wiese: »Die Auswirkung des Rundfunks« (wie Anm. 1), S. 98-111.
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tivitäten vom Psychischen und ihrer Situierung im Milieu des Publikums, wird die Verdatungsstrategie der statistischen Hörerforschung in einem basalen Sinne deutlich: Es geht ihr um die Konstruktion einer Wirklichkeit des Radio-Kontakts, die weder Empfangern noch Sendem zugänglich ist, als Wirklichkeit jedoch vorausgesetzt werden muss, wenn über das Verhältnis von Sendern und empfangendem Publikum gesprochen wird. Alle über die schieren Kontaktdaten der Tageshörkurve hinausgehenden Fragen müssen aus Sicht der statistischen Hörerforschung den mit ihr eingeschlagenen Weg der Entsubstanzialisierung und Dezentrierung nehmen.
Lazarsfelds RAVAG-Studie In der Hörerumfrage der Wiener Rundfunkgesellschaft RAVAG, die Paul Felix Lazarsfeld 1931-32 durchführte, wird die in den frühen »Abstimmungen« der Rundfunkgesellschaften gestellte Frage nach den Wünschen der Hörer erneut aufgegriffen. Diese werden aber wohl zum ersten Mal auf ihre Korrelation mit schiebt-, geschlechts- und wohnortspezifischen Faktoren hin untersucht - also nicht als zu kanalisierende Willensäußerung aufgefasst, sondern als Merkmale des Publikums, die mit anderen Merkmalen korrelieren. Dadurch ergeben sich Profile von Vorlieben oder Abneigungen, die auf die objektive soziale Stellung der Befragten zurückzuführen sind, ohne dass Begründungen oder die psychische Verfasstheit der Personen bekannt sein müssen. Die abstrakteste Bestimmung dieser Strategie statistischer Messung gibt Lazarsfeld in einem Beitrag zur Normalverteilung: Es geht darum, »die Elemente eines auf Grund eines konstituierenden Merkmals zusammengesetzten Kollektivs nach einem variablen Merkmal zu ordnen.« 14 Mit der RAVAG-Studie nahm, wie Paul Neurath meint, die »moderne Hörerforschung ihren Anfang«. 15 Als US-amerikanischer Re-Import setzte sich diese empirische Medienforschung lazarsfeldscher Prägung in Österreich und Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch; dass die grundlegenden Weichenstellungen dieser neuartigen Forschungsweise bereits in der RAVAG-Studie von 1932 erkennbar sind und nach der erzwungenen Emigration Lazarsfelds in dem in den USA angesiedel-
14 Paul [F.] Lazarsfeld: »Die Bedeutung der normalen Verteilungskurve für die Leistungsmessung«, in: Psychotechnische Zeitschrift 4 (1929), H. 4, S. 105-107, hier S. I06. 15 Paul Neurath: »Die methodische Bedeutung der RAVAG-Studie von Paul Lazarsfe1d«, in: Desmond Mark (Hg.), Pau1 Lazarsfe1ds Wien er RAVAGStudie 1932. Der Beginn der modernen Rundfunkforschung, Wien: Guthmann und Peterson 1996, S. 11-26, hier S. 12. 141
DOMINIK SCHRAGE
ten Radio Research Project weitergeführt wurden, ist lange Zeit wenig bekannt gewesen. 16 Die RAV AG-Studie ist eines der frühen Beispiele eines soziologischen Forschungsstils, der mit dem Namen Lazarsfeld verbunden ist, aber auch als >Wiener Schule< bezeichnet wurde, und aus der Arbeit einer Forschungsgruppe um Marie Jahoda, Hans Zeisel und Lazarsfeld heraus entstand. 17 Weitaus bekannter ist die sozialpsychologische Studie Die Arbeitslosen von Marienthal, die Jahoda, Zeisel und Lazarsfeld 1933 veröffentlichten. Lazarsfeld selbst bringt das im Hintergrund dieser Studie stehende Erkenntnisinteresse im Rückblick auf den Punkt, wenn er schreibt: »Unser Ehrgeiz war es, komplexe Erlebnisweisen empirisch zu erfassen«. 18 Es ist durchaus bezeichnend, dass dieser avancierte Versuch, >>naturwissenschaftliche Wissenstechniken auf soziale Phänomene anzuwenden«/ 9 sich aus der praktischen Arbeit des Mathematikers Lazarsfeld am Wiener Psychologischen Institut heraus entwickelt, denn »hier wurden statistische Methoden aufkomplexe psychologische Tatbestände angewandt«.20 Tatsächlich ist das Meinungsbild des >Anonymus Publikum< mehr und etwas anderes als die Summe der Programmvorstellungen der einzelnen Hörer, wie dies noch die frühen »Abstinnnungen« konzipierten. Die Erforschung der Publikumsmeinung muss, so die Überlegung Lazarsfelds, die Einzelmeinungen zunächst in quantifizierbare Elemente zergliedern, die weitaus reduzierter sind als allgemeine Vorlieben für be16 Die nicht publizierte Studie ist erst 1988 in Lazarsfelds Büro gefunden und 1996 veröffentlicht worden (vgl. Paul F. Lazarsfeld: »Hörerbefragung der RAVAG« [1932], in: Mark (Hg.), Paul Lazarsfelds Wiener RAVAG-Studie 1932 (wie Anm. 15), S. 27-66, hier zitiert in der Originalpaginierung S. 140). Die Studie selbst ist von 1930 bis 1931 durchgeführt worden.- Lazarsfeld selbst war in einem Vortrag 1974 auf diese Studie eingegangen (vgl. Neurath: »Die methodische Bedeutung der RAVAG-Studie« (wie Anm. 15), S. 24-26, und Paul F. Lazarsfeld: »Zwei Wege der Kommunikationsforschung«, in: Oskar Schatz (Hg.), Die elektronische Revolution, Graz: Styria 1975, S. 197-222). 17 Vgl. dazu den autobiografischen Text von Paul F. Lazarsfeld: »Eine Episode in der Geschichte der empirischen Sozialforschung: Erinnerungen«, in: Talcott ParsensiEdward Shils/Paul F. Lazarsfeld (Hg.), Soziologie - autobiographisch. Drei kritische Berichte zur Geschichte einer Wissenschaft, Stuttgart: Enke 1975, S. 147-225. 18 So im Rückblick Paul F. Lazarsfeld: »Vorspruch zur neuen Auflage« [1960], in: Marie Jahoda/Paul F. Lazarsfeld/Hans Zeisel: Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkung langandauernder Arbeitslosigkeit [ 1930], Frankfurt/Main: Suhrkamp 1975, S. 14. 19 Michael Makropoulos: »Wirklichkeiten zwischen Literatur, Malerei und Sozialforschung«, in: Gerhard von Graevenitz (Hg.), Konzepte der Moderne, Stuttgart: Metzler 1999, S. 69-81, hier S. 78. 20 Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel: Die Arbeitslosen von Marienthal (wie Anm. 18), S. 138.
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stimmte Sendeformen. Entscheidend für die Programmplanung ist vielmehr, dass die Vorlieben in Relation zum existierenden Programmangebot erfragt werden. Dies geschieht in der RAVAG-Studie in etwa 80 Einzelfragen zu verschiedenen Genres und Sendeformen. Ein wichtiger Aspekt ist dabei, dass der Rundfunkabonnent und sein Haushalt (bis zu fünf Personen) ihre Wünsche bereits in operationalisierbarer Form angeben sollen: »Jeder schreibt zu jedem Programmpunkt, ob er mehr (+), weniger(-) oder gleichviel(=) wie bisher davon hören wil/.«2 1 Diese Angaben werden dann zur Auswertung in Tabellen eingetragen (»gestrichelt«), die das Ausgangsmaterial für die statistische Bearbeitung darstellen, deren Ergebnis die »Meinung des Publikums« ist: »[C]a. 6.000 Rechnungen muss der Statistiker durchfuhren, bis die Zahlen so zusammengefasst sind, dass er selbst überhaupt weiss, was die Hörerschaft will. Und dann muss er erst den anderen erklären können, was in seinen Zahlen vorkommt.« 22 Auf die Zergliederung in quantifizierbare Elemente folgt die Suche nach Korrelationen, die sich statistisch aufdecken lassen, aber dem Alttagsverstand von Hörern und Programmverantwortlichen verborgen bleiben. Die statistischen Berechnungen gruppieren das Datenmaterial in einer Weise, die die Gewichtung der Meinungen zu den befragten Sendeformen zulässt: Sie konstruieren die Meinung des >Anonymus Publikum< als Synthese des Datenmaterials und unter Absehung von allen subjektiven Universalwünschen. Dabei geht es bei der statistischen Synthese Lazarsfelds um die gleichsam technische Erschließung einer wirkungsmächtigen Größe, die nicht auf allgemeine Wunschvorstellungen empirischer Personen zurückführbar ist, sondern die sich aus der Zusammenschau der in Datenform vorliegenden Reaktionen auf das bestehende Programmangebot zusammensetzt. Für die Programmplanung verwendbare Meinungsäußerungen müssen im Forschungsdesign der RAVAG-Studie also als Reaktionen auf das existierende Programm verstanden werden. Damit aus dem Datenmaterial eine Planungsgrundlage für die Rundfunkverantwortlichen wird, muss der Statistiker die Zahlen und das Verfahren, dessen er sich bedient, erklären können. Lazarsfeld wählt dazu am Beginn seiner Studie ein Beispiel, das sicherlich nicht zufallig nicht den verbreiteten Weg der Visualisierung geht, sondern das Problem des Publikums und die Vorgehensweise seiner Studie medienspezifisch aufbereitet: Was wäre, wenn die RAVAG alle Hörer einmal hören könnte?
21 Fragebogen der RAVAG »Was wollen Sie hören?Horcher< haben, um aus dem kakofonischen Klatschen und Zischen heraushören zu können, was überwiegt. Die Statistik dagegen kann dieses »Bild[ ... ] sehr leicht durch einige Zahlen ausdrücken« und überschaubar machen. Aus den tabellarischen Gegenüberstellungen der Hörerstudie lässt sich dann auf einen Blick entnehmen, ob Zustimmung oder Ablehnung überwiegt: »Wir nehmen die Prozentzahl der Klatschenden (der + Einheiten) und subtrahieren von ihr die Prozentzahl der Zischenden (derEinsender).« 24 Im Gegensatz zur kakofonischen Überlagerung von Klatschen und Zischen der fikti v versammelten Hörer heben sich Zustimmung und Ablehnung im statistischen Medium auf: Die Zahl der Klatschenden wird um die - in diesem Beispiel geringere - Zahl der Zischenden vermindert; übrig bleibt die Summe der Klatscher, die diejenige der Zischer übertrifft. Die Schweigenden - die »>NeutralenUnnatürlichen< Bedingungen des Laboratoriums« herausgeführt und auf Gesellschaft als Ganzes bezogen werden, denn das »Radio hat mm die ganze Nation in eine Experimentalsituation verwandelt.« Mit dem Versuchsaufbau des Program Analyzers sei jetzt die Möglichkeit gegeben, »nicht nur zu wissen, welche Effekte bestimmte Sendungen haben«, sondern auch, »warum sie sie haben, bezogen auf Eigenschaften des Programms.« 30 Der Program Analyzer dient also nicht- wie die RAV AG-Studie - der Erforschung der Publikumsstruktur, sondern testet Programme auf ihre Beliebtheit beim Publikum und soll ihre Verbesserung auf der Grundlage quantitativer Ergebnisse ermöglichen: Er stellt, wie Tore Hollonquist und Edward A. Suchman in einem späteren Aufsatz prägnant formulieren, eine »Program Clinic« dar. 3 1 »Mag der Hörer einer Unterhaltungssendung die >gagsnormal< ist. Das ursprüngliche Hörerlebnis [listening experience] ist unterbrochen.«32 Dies ist das Ausgangsproblem. Der Program Analyzer löst es, indem er die Lust- und Unlust-Reaktionen der Versuchshörer aufzeichnet, ohne den Rezeptionsvorgang zu unterbrechen: Eine Papierrolle dreht sich gleichmäßig und wird von elf Stiftpaaren kontinuierlich beschrieben. Jeder der Stifte wird durch einen Magneten abgelenkt, wenn ein Knopf gedrückt wird, sodass sich ein Ausschlag auf der Papierrolle ergibt. Bei jedem der elf Stiftpaare markiert jeweils ein Stift eine rote, der andere eine schwarze Linie auf der Papierrolle, wobei der rote Stift mit einem roten,
30 Paul F. Lazarsfeld: »lntroduction by the Guest Editor«, in: The Journal of Applied Psychology 24 ( 1940), S. 661-664, hier S. 661 u. S. 662. 31 Tore Hollonquist/Edward A. Suchman: »Listening to the Listener. Experiences with the Lazarsfeld-Stanton Program Analyzer«, in: Paul F. Lazarsfeld/Frank N. Stanton (Hg.), Radio Research 1942-43, Nachdruck, New York: Arno Press 1979, S. 265-334, hier S. 274 (Überschrift). 32 Jack N. Peterman: »The >Program AnalyzerProgram AnalyzerProgram Clinic< chirurgisch optimiert werden. Die Programmwirkung wird nun nicht mehr auf die Figur des unsichtbaren >Hörers< bezogen, in dessen Psyche sich die »Genies der Kontaktschöpfung« einzufühlen haben, sondern findet sich auf ein statistisches Feld bezogen. Die RAVAG-Studie führt die Hörerwünsche auf die objektive soziale Struktur der Hörer zurück und versucht so, diese Wünsche weitgehend von nicht quantifizierbaren, >subjektiven< Anteilen zu reinigen. Der Program Analyzer dagegen stellt gerade die Quantifiziernng der situativen, flüchtigen Hörwirkungen ins Zentrum. Lazarsfelds Strategie impliziert dabei einen konstruktivistischen Zugriff auf Subjektivität; allerdings ist hier weder eine kausale, letztlich determinierende Wirkung der Hörerlebnisse auf ein überwältigtes Hörer-Subjekt impliziert noch ein verbreiteter Drang nach leichter Unterhaltung. Lazarsfelds >Subjektivität< ist vielmehr eine je schon konstruierte Angelegenheit: Sie ist - aus der Perspektive der RAVAG-Studie - Korrelat der sozialen Lage der Individuen, oder aus der Perspektive des Progarn Analyzer- die Umwelt, an die das Radioprogramm angepasst werden muss. Erst in ihrer statistischen Betrachtungsweise kann - aus der Lazarsfeld-Perspektive - Subjektivität als konstituierender Bestandteil moderner Sozialität gerade dadurch operational angegangen werden, dass sie im Forschungsdesign umgangen wird: dass nicht >ErlebenGründe< im Interview erfragt werden können. Die Artifizialität dieses Zugangs zu Subjektivität verbietet zugleich aber den starken Begriff von Kausalität, denn die Statistiken verzeichnen Korrelationen von Publikumsaktivitäten und Programmmerkmalen, die mit einer größeren Zahl von Daten zwar wahrscheinlicher werden, aber keinen aktuellen Zustand von Bewusstseinen beschreiben. Der Erlebnisgehalt - wenn man davon überhaupt in einem strengen Sinne sprechen kann - wird beim Program Analyzer als Merkmal der untersuchten Sendung zugereclmet; sein Bewertungskriterium ist die datenmäßig erfasste Akzeptanz des Publikums.
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DOMINIK SCHRAGE
Ausblick Der Erfolg der empirischen Publikumsforschung verdankt sich dem neuartigen Modus des sozialen Kontakts, der mit den Echtzeit-Massenmedien entsteht: Viele Hörer rezipieren ein Programm, das sie mittels Funkwellen im selben Moment empfangen. Da dies ohne persönliche Begegnung und materielle Trägermedien geschieht, fehlt jede Möglichkeit, Programmwirkung und -akzeptanz zu kontrollieren; aber diese Erfolgskontrolle ist sowohl für staatliche als auch öffentlich-rechtliche und kommerzielle Rundfunkinstitutionen unverzichtbar. Die Publikumsstatistik kann, so die Überlegung dieses Beitrags, als ein Komplement zur Technologie der Programmübermittlung angesehen werden: So wie diese das im Studio erzeugte Programm einer Vielzahl von Hörern übermittelt, so hat die Hörerforschung das Ziel, Akzeptanz und Rezeptionsverhalten dieser Vielzahl von Hörern an die Sendeanstalt zurück zu übermitteln. Die bereits in den frühen Radiodiskursen konstatierte Trennung von Sendern und Empfängern wird dabei aber nicht durch einen Kommunikationskanal überbrückt, der nach dem Modell personaler Interaktion funktioniert und die Intentionen von Sendern und Empfängern auf mysteriöse Weise harmonisiert. Vielmehr abstrahiert die Hörerstatistik von den Intentionen der Hörer, indem sie den Rezeptionsvorgang als gestreute psychische Reaktionen auf Sendungen auffasst, die in formalisierter Weise erhoben und statistisch als Merkmale des Kollektivs Publikum ausgewertet werden. Dies wurde exemplarisch an Lazarsfelds RAVAG-Studie dargestellt. Die empirische Hörerforschung abstrahiert aber genauso von den Intentionen der Programmmacher, wenn sie, wie am Program Analyzer deutlich wird, die einzelne Sendung unabhängig von ihrem Inhalt auf ihre Publikumsakzeptanz testet und sie dabei in diskrete, jeweils optimierbare Abschnitte aufteilt. Das einzige Kriterium, welches diese Verdatungsstrategie zulässt, ist die Summe, die aber nicht einzelne Menschen oder Gruppen misst, sondern die Häufung diskreter Missfallens- oder Zustimmungsakte. Seit ihrer Entstehungszeit in den 1930er und 1940er Jahren ist die Hörerforschung Lazarsfeldschen Typs zu einem integralen Bestandteil der modernen Massenmedien geworden. Lazarsfeld selbst hat die von ihm betriebene Forschung in einer bemerkenswerten, weil gänzlich unpolemischen Stellungnahme wegen ihres anwendungsorientierten Profils als »administrative Kommunikationsforschung« bezeichnet und von der »kritischen Kommunikationsforschung« unterschieden. Sein ein wenig paternalistischer Aufruf von 1941, »der Kritik mehr Gastrecht einzuräumen und Formen zu finden, die es gestatten, Geduld zu üben und zu warten und am Ende zu sehen, was konstruktiv ist und was nicht«, ist in der Geschichte der Medienforschung beider Spielarten allerdings nicht mehr
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als die Meinungsäußerung eines vielseitig interessierten Empirikers geblieben.34 Lazarsfelds Betonung des Zeitfaktors macht deutlich, weshalb sein Vorschlag, mit der »kritischen Kommunikationsforschung« zu kooperieren, für die »administrative« Forschungsrichtung wenig Plausibilität haben musste: Zeit ist für die Auftragsforschung eine extrem knappe Ressource. Aus der Sicht der kritischen Medientheorie hingegen war es die Eingebundenheit der empirischen Zuschauerforschung in das als solches kritikwürdige System der Massenmedien, die eine derartige Kooperation wenig attraktiv erscheinen ließ. Inzwischen ist die lange Zeit politisierte Frontstellung zweier Paradigmen der Medienforschung einem Nebeneinander unterschiedlicher Forschungsprogramme gewichen - nicht zuletzt deshalb, weil sich als Gegenpol zum sozialwissenschaftlich-empirischen Paradigma eine kulturwissenschaftliche Medienforschung etabliert hat: Sowohl das kulturkritische als auch das gesellschaftskritische Unbehagen gegenüber den Medien ist der Einsicht gewichen, dass Medialität einen Basistatbestand der Modeme darstellt- wobei bislang v.a. die Technologie der Medien im Vordergrund steht. Dabei sollten, so das Plädoyer dieses Beitrags, auch die Verfahren der administrativen Medienforschung als ein prägendes Moment der Medienkultur des 20. Jahrhunderts berücksichtigt werden, deren anonyme Geschichte parallel zu derjenigen der Technologien verläuft. Zentral für eine solche anonyme Geschichte der Publikumsstatistik ist die Einsicht, dass ihre Effekte auf rezipierende Subjekte sich nicht einfach als solche der disziplinierenden Normierung beschreiben lassen, dem1 dem Verfahren selbst sind präskriptive, normative Vorgaben fremd. Es zielt vielmehr auf die optimale Adjustierung des Programms nach Maßgabe der Reaktionen des Publikums, das zwar einerseits als statistisch erzeugtes Konstrukt nicht mit >den Hörern< verwechselt werden darf, aber ihre Beteiligung doch auch voraussetzt - zumindest in einer ausreichend validen Zahl. So wenig >die Technik< eine heute noch überzeugen könnende Instanz ist, mit der man Überwältigungserfahrungen theoretische Überzeugungskraft verleihen kann, so wenig ist die statistische Verdatung als solche dazu geeignet. Sie ist- wie die Geschichte der Publikumsstatistik zeigt - seit ihrer Integration in das System der Massenmedien, also lange schon, aus dem Schatten der staatlichen Verwaltung herausgetreten, um das Licht unserer Öffentlichkeit zu erzeugen.
34 Paul F. Lazarsfeld: »Bemerkungen über administrative und kritische Kommunikationsforschung«, in: Dieter Prokap (Hg.), Kritische Kommunikationsforschung. Aufsätze aus der Zeitschrift fiir Sozialforschung, München: Hauser 1973, S. 7-27, hier S. 22. 151
FIGUREN DES PUBLIKUMS. POLITISCHER UND DIAGRAMMATISCHER RAUM FELIX KELLER Die Idee des politischen Publikums, so zentral sie für politische Kommunikation und Herrschaft auch sein mag, geht einher mit eine Paradoxie: Die prinzipielle Offenheit des Zugangs zu politischen Aushandlungsprozessen, Rechtfertigung aller demokratischen Regimes, lässt sich aktuell nur über die faktische Einschränkung des Zugangs zu ihnen verwirklichen. 1 Die gleichzeitige Partizipation Aller bei identischen Rechten und Zugangsmöglichkeiten führte auf jeden Fall unweigerlich zum Zusammenbruch bestehender politischer Institutionen. Diese Paradoxie mündet in viel diskutierte Mechanismen politischer Inklusion und Exklusion,2 doch sie verweist auch auf wissens- und medientechnische Voraussetzungen politischer Demokratien, denen sich dieser Beitrag widmet. Im Spannungsfeld der Idee der Demokratie und der Möglichkeit ihrer Verwirklichung, so das Argument, entsteht eine Dynamik der Repräsentation des >politischen PublikumsVerbildlichung< einer Vorstellung des Souveräns bezeichnet werden, die mit einer ganz spezifischen >ÄsthetikÄsthetik der Demokratien< einhergeht. Erst mit einer Plausibilisierung über dieses Bild der Demokratien vermochte die Meinungsforschung sich in der Öffentlichkeit als ein sinnvolles mathematisches Darstellungsverfahren darzustellen, das die Probleme der politischen Inklusion in großen Gesellschaften zu lösen vermag. Diese Ästhetik der Demokratien gründet im Bild einer politischen Ordnung, die getragen wird und erzeugt wird von Subjekten, die zwar in sich selbst eigenartig sind, doch in einem klar identifizierbaren Bezug zueinander stehen, in einem Bezugssystem von Positionen und Argumenten, in einem System von >Angesicht zu Angesicht Imaginationsortes demokratischer Ordnung< zeigen lässt: der griechischen Polis, die als physischer Ort stattfindender Politik auch die Züge des Bildhaften trägt. Das Modell der Polis-Öffentlichkeit »strahlt« in seiner normativen Kraft bis in die Gegenwart,10 wobei damit 9 Vgl. zu diesem für die örtliche Kommunikation essenziellen Konstrukt, das im Phänomen der totalen Sichtbarkeit ausgeblendet wird: Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Selbstdarstellung im Alltag [1959], München, Zürich: Piper 1996, S. I04. 10 Als Beispiele seien nur zu nennen: James Bryce: Moderne Demokratien, Bd. 1, München: Drei Masken 1923; Hannah Arendt: Vita Activa oder vom täti157
FELIX KELLER
weniger die gesellschaftliche Ordnung gemeint ist als das, was Habermas als »ideologisches Muster« bezeichnet: 11 Das Augenmerk richtet sich auf diese normative Kraft und weniger auf die Konstitutionsbedingungen der Norm selbst. Doch die Artikulation der Norm kommt nicht gänzlich ohne die Imagination ihrer Realisierung aus: Die historischen Ausführungen zur griechischen Polis nehmen damit in der politischen Theorie die Qualität und Funktion an, welche das Gemälde Hayters in visueller Hinsicht hatte. Die Erzählungen der politischen Theorie zeigen den historischen Ort der Politik in einem geschlossenen Raum der perfekten Sichtbarkeit. Explizit kommt dieses Element der Sichtbarkeit als Voraussetzung für stattfindende Politik bei Harrnah Arendt zum Zuge: Der öffentliche Raum als Ort der Politik bedeutet für Arendt primär, »daß alles, was vor der Allgemeinheit erscheint, für jedermann sichtbar und hörbar ist, wodurch ihm die höchstmögliche Öffentlichkeit zukommt«. 12 Die Polis ist rückschauend aber nicht nur für Arendt, sondern auch für die historisch operierende Soziologie konstituiert als umfassende, wenn nicht totale Sichtbarkeit.13 Wird man sich indes der Tatsache der >Örtlichkeit< des Geschehens bewusst, der Konstitution aus Fleisch und Stein, um mit Richard Sennett zu sprechen, 14 so zeigt sich, dass die Konkurrenz und Inszenierung der Besten gegenüber den anderen Gleichen, die Arendt so begeisterte, auf Konstitutionsbedingungen angewiesen sind, die selbst in dieser Norm nicht enthalten sind: ein System der Präsenz, Adressierbarkeit und der Sichtbarkeit der Anderen, ohne das die Konkurrenz und Profilierung der Besten so nicht funktionierte. Wenn das konstituierende Element der Sichtbarkeit dieser republikanischen Ordnung nicht selbst enthalten ist, so kann entsprechend die weitere Geschichte politischer Gesellschaften nur als eine Zerfallsgeschichte dargestellt werden, die bei Arendt in eine Geringschätzung der Massengesellschaft mündet. Mit anderen Worten: Die Kritik des Bestehenden verhilft aus der Paradoxie der Inklusion Aller.
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gen Leben, München: Pieper 1981; Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit (wie Anm. 1); Richard Sennett Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997; Cornelius Castoriadis: »La polis grecque et Ia democratie«, in: ders., Domaines de l'homme. Les carrefours du Iabyrinthe II, Paris: Seuil 1986, S. 261-306. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit (wie Anm. I), S. 57f. Arendt: Vita Activa (wie Anm. 10), S. 43. Vgl. Sennett Fleisch und Stein (wie Anm. 10), S. xi. Vgl. auch das Kapitel »Die Polis als Raum der Sichtbarkeit«, in: Jakob Stefan Seitz, Hannah Arendts Kritik der politisch-philosophischen Tradition: unter Einbeziehung der französischen Literatur zu Hannah Arendt, München: Utz 2002, S. 138ff. Vgl. Sennett Fleisch und Stein (wie Anm. 10).
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Der geometrisierte Souverän Gerade gegenteilig existieren vice versa auch Versuche, angesichts veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse die konstitutiven Bedingungen dieses sichtbaren Raums über teclmologische Mittel schlicht nachzubauen, in der Hoffnung, das Phänomen des durch Sprache und Argumentation gefüllten politischen Raums stelle sich ein, wenn sich das Publikum nunmehr über die verschiedenen Techniken der Wissensschaffung erneut selbst zu schaffen weiß. Als ein wirkungsmächtiges Instrument zur Beruhigung der Paradoxie erweist sich dabei der Versuch - er kommt auch bei Hayters Gemälde zum Ausdruck -, die politische Ordnung zu mathematisieren bzw. über statistische Verhältnisse zur Wirklichkeit zu erheben. Der Widerstand, der diesem Lösungsversuch seitens der an der Polis gewonnenen Idee entgegenschlägt, zeigt gerade, inwiefern er eine Alternative zur Artikulation des normativen Horizonts darstellt. Dieser Widerstand lässt sich wiederum exemplarisch an Arendts Werk nachzeichnen. Das Phänomen des technischen Raums ist für Arendt untrennbar mit dem Auftauchen von Gesellschaft verbunden, die wiederum in der »schieren Addierung vieler Familien« gründet, 15 die im Konstrukt der Gesellschaft absorbiert werden wie später andere Formationen, etwa Klassen und Gruppierungen. Gesellschaft findet ihre geklärte Form in der »Massengesellschaft«, als »Sieg der Gesellschaft überhaupt.« Vor der Gesellschaft sind alle gleich, im Sinne einer Egalität des Ausgesetztseins gegenüber sozialen Tatsachen. Diese Egalität ist eine andere als die Gleichheit als Voraussetzung der Profilierung der Überdurchschnittlichen in der griechischen Polis, oder, anders gesagt: etwas anderes als die Subjektivität der Individuen. Die Wissenschaft, die dem »Entstehen der Gesellschaft auf dem Fuße folgt«, ist für Arendt die Statistik. 16 Mit anderen Worten gesagt: Die Statistik ist jene symbolische Form, in der sich die Gesellschaft als Tatsache selbst äußert. Statistik hat es zwar schon länger gegeben, aber die Wissenschaftlichkeit dieser Techniken ergibt sich erst, indem Gesellschaft selbst schon Formen aufweist, die sich einheitlich systematisieren lassen. Die Statistik, die großen Zahlen als symbolische Formen der Gesellschaft, sind als solche der Form der Gesellschaft für Arendt durchaus adäquat. Das Problem liegt für Arendt darin, dass bei der Behandlung dieser Zahlen als gesellschaftliche Realität in Vergessenheit gerät, was ihre Bedeutung, ihre Geltung überhaupt erst geschaffen hat: nämlich der Raum des Politischen und die Ordnung, die als Singularität eben gerade nicht ein Ereignis in einer Serie der großen Zahl waren, sondern für Arendt Ergebnis der Tätigkeit von Subjekten. Freilich ist es ge15 Arendt: VitaActiva (wie Anm. 10), S. 40ff. 16 Ebd., S. 42.
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rade die große Zahl selbst, das Anwachsen der Bevölkerung, das daflir sorgt, dass der Raum der großen Zahl, die Massengesellschaft, zur allein bestimmenden Größe wird und nicht mehr das politische Handeln der Subjekte: »Aus der unbestreitbaren Gültigkeit statistischer Gesetze im Bereich großer Zahlen folgt leider für die Welt, in der wir leben, nur, daß jede Zunahme der Bevölkerung diesen Gesetzen eine erhöhte Geltung verleiht, der gegenüber die >AbweichungenleiderStimmen< (im mehrfachen Sinne) ist. Ungeachtet der für demokratische Ordnung unhinterfragbaren Bedeutung der Meinungsfreiheit und ihrer medialen Vermittlung ist die Ordnung der lebenden Körper, des Scheidens jener, die dazugehören, von jenen, die nicht dazugehören, entscheidend: Sie ist gleichsam die Verankerung der Republik und ihrer demokratischen Ordnung in der Körperlichkeit der Staatsmitglieder, die selbst nie über Delegationsverhältnisse aufgehoben werden kann. 20 Doch einer technischen Lösung der Verwirklichung der demokratischen Idee ist damit keineswegs der Weg gewiesen. Das Ringen um die Paradoxien des Ausschlusses und der Integration wird bereits in der amerikanischen Verfassung deutlich, der Versuch, den Souverän über seine Grenzen zu definieren, mit teils merkwürdig anmutenden Wendungen - »nicht besteuerte Indianer«, Berücksichtigung der »Personen im befristeten Dienstverhältnis« usf. In einem revolutionären Akt des Bildens eines Souveräns wird dieser nun in einer mathematischen Form gleichzeitig stillgelegt.
19 Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, 17.9.1 787. Eine deutsche Fassung findet sich auf der Webseite der ametikanischen Botschaft in Deutschland unter http://usa.usembassy.de/etexts/gov/gov-constitutiond.pdf vom 16.7.2007. Die verschiedenen Revisionen zeigen, inwiefern die Zulassungskriterien die eigentlich umkämpften Grenzen darstellen. 20 Vgl. hierzu Horst Bredekamp: Thomas Hobbes. Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder, 1651-2001 , Berlin: Akadamie Verlag 2003. 161
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Das politische Publikum und der Raum der Sichtbarkeit Die Paradoxie zwischen Subjektivierung und Integration der Vielen kann über die Schaffung eines technisch-statistischen Raumes ebenso wenig gelöst werden21 wie über die Artikulation eines idealen Horizonts der Politik, der das Bestehende als das Falsche brandmarkt. Immerhin lassen sich aufgrund eines Nachzeichnens der Neuerschaffung von Figuren des politischen Publikums die Strategien erkennen, die die eingangs erwähnte Unruhe und Paradoxie demokratischer Aushandlungsprozesse - zumindest temporär - stillzulegen vermögen. Dieser Prozess der Geometrisierung, der Schaffung eines neuen Raumes über neue Bestimmungsmöglichkeiten, ist soziologisch durchaus nachvollziehbar: nämlich als ein Lösungsversuch der Inklusionsproblematik der Demokratie, als ein umfassender Prozess der Transformation gesellschaftlicher Wahrnehmung und gesellschaftlichen Wissens, der die Entstehung moderner Gesellschaften begleitet und mit dem zusammenhängt, was gemeinhin unter >Abspaltung des Raumes vom Ort< verstanden wird. Prägnant hat diesen Transformationsprozess Anthony Giddens beschrieben. 22 Unter >Ort< versteht Giddens die Vorstellung eines lokalen Schauplatzes; damit gemeint ist das Einhergehen physischer Umgebungsbedingungen mit gesellschaftlichen Tätigkeiten. In vormodernen Zeiten, so Giddens, fallen Raum und Ort weitgehend zusammen über die Bedingungen von Anwesenheit (der Personen). Die »räumlichen Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens realisieren sich in einem Schauplatz.« 23 Das heißt nun wiederum nicht, dass Schauplätze der Gesellschaft in der Moderne verschwinden würden, sie werden nur noch nicht durch Anwesenheit konstituiert, sondern durch abstrakte Momente jenseits der unmittelbar physischen Sichtbarkeit. Entscheidend für die Loslösung des Raums vom Ort ist die Kreation symbolischer Medien, welche die Kommunikation zwischen abstrakten Instanzen (beispielsweise Geldwert) und Schauplätzen des Geschehens (konkrete Märkte) übernehmen. Die Standardisierung von abstrakten Dimensionen wie Raum und 21 Diese wissenstheoretische Spannung, die selbst unauflösbar erscheint, zeigt sich notabene auch in den Sozialwissenschaften, die in der Kluft zwischen subjektivierenden und objektivierenden Verfahren keinen stabilen Ort finden. Vgl. dazu Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt/Main: Athenäum 1987. 22 Vgl. Anthony Giddens: Konsequenzen der Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 29ff. Giddens meint mit >Abspaltung des Raumes vom OrtWenn< nicht mehr notwendigerweise mit einem >Wo< gekoppelt ist. Die zeitübergreifende Koordinierung entleert den Raum. 23 Ebd., S. 30ff.
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Zeit sowie symbolischer Medien, die innerhalb dieser Dimensionen fluktuieren, bedeutet, dass ein neues System wirkungsmächtiger Bezüge über die Spezifizität eines Ortes hinaus geschaffen wird, - was Giddens eben als Dislozierung und Schaffung von >Raum< versteht. Während sich diese Bewegung beispielsweise hinsichtlich der Märkte vom konkreten StadtOrt hin zu abstrakten ökonomischen Räumen (Märkten) über das abstrakte Medium Geld relativ gut nachzeichnen lässt, stellt sich die Frage, auf welche Weise der Raum des Politischen, der den Souverän konstituiert, diesen Prozess der Dislozierung verarbeitet. Giddens nennt als Abstraktionsform diesbezüglich schlicht »Medien der politischen Legitimität«. 24 Doch ist hinsichtlich der Erzeugung eines Raums stattfindender Souveränität jenseits der Orte des Politischen auch die Bedeutung der Statistik zu nennen, welche zunächst, ganz im Sinne der Episteme der Klassik, wie sie Foucault identifiziert hat,25 die Teile des Souveräns (seine Taxonomia) jenseits des reellen Ortes zu einem klassischen Tableau zusammenfügt, das ihn auf einer anderen logischen Ebene wieder konstituiert, im Wortsinn, den Foucault gebraucht: klassifikatorische Entität und Bild zugleicb. 26 Dieamerikanische Verfassung, als Paradigma eines modernen Staates, bildet gleichsam den konstitutiven Rahmen, damit eine statistische Ordnung sich über die unübersichtliche Vielheit der Dinge legen kann. Für Alain Desrasiere entwickelt sich in seiner Untersuchung zur Politik der großen Zahlen hingegen ein inhärenter Zusammenhang zwischen dem >öffentlichen Raum< und statistischen Evidenzen, in dem die Daten einer Gesellschaft debattiert werden. Der >öffentliche Raum< ist so mitnichten bloß Metapher im analytischen Diskurs, sondern ein historisch und technisch strukturierter und >eingegrenzter RaumAbstraktionsweise< der statistischen Formen gleichsam als System von Relationen, von Distanzen und Äquivalenzen Wirklichkeit gewinnt. Dieser Zusam24 Ebd., S. 34. 25 Vgl. Foucault: Die Ordnung der Dinge (wie Anm. 8). 26 Evidenterweise müssten hier auch die Medien genannt werden, v.a. die Bedeutung der Zeitung hinsichtlich der Formierung einer bürgerlichen Öffentlichkeit (vgl. den Artikel »Öffentlichkeit«, in: Otto Brunner/Werner Conze/ Reinhart Kaselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe: historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart: Schwabe 1978, S. 413-467) und sozialer Bewegungen mit ihren Aktionsformen (Friedhelm Neidhardt: »Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegung«, in: ders. (Hg.), Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegung. Sonderheft 34 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 7-41). Doch hier geht es zunächst um die basale Frage, aufwelche Weise überhaupt die Grenzen des Raums konstituiert werden, innerhalb dessen kommuniziert wird bzw. Kommunikationen zu Herrschaft transformiert werden.
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menhang, obwohl Desrasiere seinen Raumbegriff nicht expliziert, lässt sich ganz entlang Giddens' Modell der Trennung von Raum und Ort begreifen, die durch die Arbeit der Statistik an der Wirklichkeit noch in Verbindung stehen. Kann sich aber dieser mathematisch-diagrammatische Raum von der gleichsam körperlichen Subjektivität (und damit von örtlicher Präsenz) als eigenständiger Raum de facto lösen? Anhand der Entwicklung der Meimmgsforschung, die im gewissen Sinne das Quasi-Monopol der >öffentlichen Meinung< übernimmt27 und damit nichts anderes als die Fortsetzung der Logik der Statistik auf das Sprechen des Souveräns selbst darstellt (und nicht mehr nur auf die Existenz der Körper selbst), lässt sich dieses Spannungsfeld von verschiedenen Räumen, im Hinblick auf wissenstechnische Realitäten, genauer betrachten.
Die Verdatung der öffentlichen Meinung Hinsichtlich der Geschichte sozialwissenschaftliehen Wissens lässt sich die Einführung der Meinungsforschung unschwer als ein Projekt der Sozialforschung begreifen, eine >Geometrie des Heterogenen< zu etablieren, in der die >Unübersichtlichkeitöffentlichen MeinungPublikumsFigur des Publikums< erhält nun einen eminent diagrammatischen Charakter. Eine Grafik berichtet in gewohnter Weise über einen »Trend of Opinion«: Untereinander aufgeführt sind drei verschiedene Balkendiagramme, welche die Einstellungen zur Sozialfürsorge erfassen. Unten findet sich eine Karte der USA, in der Werte zu denselben Fragen eingetragen sind. Das untere Diagramm folgt damit noch der Logik der Geometrisierung des Souveräns, wie sie die amerikanische Verfassung vorschrieb: ein klassisches Tableau des Wissens im Sinne Foucaults, gebildet aus Mathesis und Taxonomia. 3 1 In besonderer Weise stellt aber das obere Diagramm ein spezifisches Merkmal des Wissens der Meinungsforschung dar: die zeitliche Abstufung der Bewegung einer vermessenen Einstellung. Damit wirdjenseits des institutionellen Rhythmus' der Wahlen der politische Raum konstituiert. Die >Vermessung< der >öffentlichen Meinung< ist zu einem beliebigen Zeitpunkt möglich. Damit wird die Zeit fließend, aber diagrammatisch in einem neuartigen symbolischen Zeit-Raum aufgehoben. Die geometrischen Räume reihen sich in diachroner Reihe aneinander, ergeben aber als Ganzes eine synchrone Entität, welche die zeitlichen Begrenzungen der Zustände des politischen Raumes aufhebt. Hierin finden sich aber gerade wiederum die Mechanismen der Loslösung eines abstrakten Raumes vom Ort über das Prinzip der Verzeitlichung, das ein neues symbolisches Medium ermöglicht: Ernest Renans plebiscite de tous !es Jours wird in einem virtuellen, mathematischen Raum möglich. Mehr noch, mit den flexiblen Techniken, die versprechen, sämtliche Orte des Politischen zu erreichen, sofern notwendig, wird dem Versprechen nach die Paradoxie der Inklusion des Publikums im politischen Raum gelöst. Wo immer politisches Sprechen ist, lässt es sich prinzipiell erfassen und im Raum des Politischen als Singular darstellen: Der Souverän spricht im Medium der Diagramme der Meinungsforschung. Alle Unzulänglichkeiten, die etwa bei einem direkten Vergleich mit Wahlen zum Vorschein treten, sind dabei bis heute nur Ausdruck behebbarer methodisch-technischer Mängel. 32 Doch sind damit die
31 Vgl. Keller: Archäologie der Meinungsforschung (wie Anm. 4), Kap. 7. 32 Die Argumente, die gegen eine Quantifizierung des Konstrukts >Meinung< eingewandt wurden, sind in Keller: Archäologie der Meinungsforschung (wie Anm. 4) aufgeführt. Zu einer konzisen Darlegung vgl. auch Pierre Bourdieus Aufsatz »Die öffentliche Meinung gibt es nicht«, in: ders., Soziologische Fragen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S. 212-223. 166
FIGUREN DES PUBLIKUMS
Abb. 1: Die Präsentation der ersten Meinungsforschungsergebnisse in der Öffentlichkeit (Washington Post vom 20. Oktober 1935)
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Quelle: Normand Bradburn/Seymour Sudman: Polis and Surveys. Understanding What They Tell Us, San Francisco, London: Bass 1988, S. 20-21.
Aporien der Inklusion in den politischen Raum wirklich aufgehoben oder bloß auf eine andere Ebene verschoben? Das Problem der Meinungsforschung siedelt sich exakt in der Aporie an, vor der Hayter stand, nur natürlich auf einer ganz anderen Ebene. Auf welche Weise können die politischen Subjekte, welche das Publikum, den Souverän formieren, in einen mathematisch-proportionalen Raum überführt werden, der qua seiner geometrischen Ordnung gerade nicht dem Singulären der politischen Rede folgt? Auf welche Weise lassen sich die Individuen als sprechende Subjekte mit eigenen Interpretationshorizonten porträtieren in einem höchst standardisierten Verfahren? Gallup war sich der Problematik- vielleicht mehr noch als heutige Apologeten des Verfahrens - durchaus bewusst. Gerade die Medialität der Vermittlung von
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Bevölkerung und politischen Institutionen ist für ihn Signum der Moderne.33 Seine Strategie, seine Utopie war, den diagrammatischen Raum, den er sich eröffnete, wieder auf einen ursprünglichen Schauplatz der Politik zurückzuführen, ein fugenloses Übergehen von den Orten des Sprechens zum politischen Raum, und nicht ein qualitativ Anderes seiner Techniken zu postulieren. Gallup argumentiert sehr ausgeprägt mit den Realitäten großer technischer Gesellschaften, die er zur Imagination eines ursprünglich lokalen Ortes des Politischen setzt und hierzu die politische Theorie von James Bryce zur Begründung heranzieht. 34 Diesen Ort ursprünglichen Politisierens verkörpert für Gallup das New England Town Meeting, Bürgerversammlungen lokaler Towns - ähnlich der Gemeindeversammlung in der Schweiz - zwecks Beratung von Verwaltungs- und Regierungsgeschäften. Diese Orte sind für ihn Modell der demokratischen Politik, die es aber an die Realitäten der grossen Gesellschaften anzupassen gilt, die sich durch Zahl der Bevölkerung ebenso wie durch neue Kommunikationstechnologien auszeichnet. Die Versöhnung von politischem Raum und Schauplatz des Politischen, respektive der Versuch der Wiedererschaffung des Ortes über den diagrammatischen Raum, wird in folgendem Zitat einer Rede, die Gallup vor der Baker-Foundation hielt, deutlich. Die Verbindung zwischen neuen Technologien, traditionellen Medien und Meinungsforschung bedeute, »[ ... ] that the nation is literally in one great room. The newspaper and the radio conduct the debate on national issues, presenting both information and argument on both sides, just as the townsfolk did in person in the old form meeting. And finally, through the process ofthe sampling referendum, the people, having heard the debate on both sides of every issue, can express their will. After one hundred and fifty years we retum to the town meeting. This time the whole nation is within the door.«35
33 »The enormous expansion of social and political life broke down the old face to face relationships of the small goveming class [ .. . ]. The impetus of growing industrialism, the revolutions of transport and communication, the emergence of factories, towns, and great cities destroyed for all times the rural localism of early America.« (George Gallup/Saul Forbes Rae: The Pulse ofDemocracy. The Public-Opinion Poil and How It Works, New York: Sirnon und Schuster 1940, S. 13f.). 34 Vgl. James B1yce: The American Commonwealth, New York: MacMillan 1919; ders.: Modem Democracies, London: MacMillan 1921. 35 George Gallup: Public Opinion in a Democracy, Princeton: Baker Poundation 1939, S. 15. 168
FIGUREN DES PUBLIKUMS
Der eine grosse Raum der Nation, der Konstitutionsort des Souveräns, wird durch die Technologie der Meinungsforschung neu errichtet, mit dem Versprechen der umfassenden Inklusion (» This time the whole nation is within the door.«). Dass dieser Raum mit Sinn erfüllt wird, dafür leistet der Rückbezug auf den Ort unmittelbarer politischer Rede Gewähr. Es ist der Interviewer, der als intermediäre Instanz zwischen Ort und Raum fungiert. Als Wissensvermittler bleibt er aber als Person gleichsam körperlich im Ort verhaftet, was Gallup beinahe dramatisch zum Ausdruck bringt, wie folgende Stelle aus seinem Werk mit dem Namen The Pulse ofDemocracy exemplarisch zeigt: »These interviewers [des American Institute ofPublic Opinion] know what it is to drive trough a Maine snowstorm to make a farm interview; to trudge across Kansas wheat fields on a blistering day to interview a tresher on the job; to travel trough the red-clay mud ofGeorgia in a drenching rainstorm«.36 Doch nicht nur die Natur macht dem Interviewer zu schaffen, sondern auch die verruchten Gegenden der New Yorker East Side, die ebenso unentwegt erforscht werden wie die von Schneestürmen überzogenen Landschaften. Inwiefern zeigen sich die angesprochenen Paradoxien der umfassenden Integration des Publikums auch in der Meinungsforschung? Hayter ist daran gescheitert, die Mitglieder des Parlaments in ihrer Subjektivität zu porträtieren und gleichzeitig die große Menge der Parlamentarier in dem Bild unterzubringen. In älmlicher Weise stellt sich das Problem der Meinungsforschung, aber nicht über das Medium des Bildes, sondern über dasjenige der Sprache als Medium der politischen Subjektivität. Aufwelche Weise lassen sich die Wörter- in standardisierten Befragungen sogar vorgegebene Wörter wie >Ja< und >Nein< - als Ausdruck einer subjektiven Position deuten? Dieses Problem, das notabene in diagrammatischen Darstellungen gar nicht erscheinen kann, so tiefgründig die methodischen Reflexionen bei der Erzeugung solcher Ergebnisse auch sein mögen, hat unversehens Kritik hervorgerufen; eine Kritik, die bis heute an den Ergebnissen der Meinungsforschung geäußert wird. 37 Lindsay Rogers hatte ihr bereits 1949 den Weg gewiesen. 38 Die Aufsummierung von yeses und noes habe nichts 36 Gallup/Rae: The Pulse ofDemocracy (wie Anm. 33), S. 4. 37 Vgl. in konziser Weise: Pierre Bourdieu: »Meinungsforschung- Eine >Wissenschaft< ohne Wissenschaftler«, in: ders. (Hg.), Rede und Antwort, Frankfurt!Main: Suhrkamp 1992, S. 208-216; ausführlich: Aaron V. Cicourel: Methode und Messung in der Soziologie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974. 38 Vgl. Lindsay Rogers: The Pollsters. Public Opinion, Politics, and Democratic Leadership, New York: Knopf 1949. 169
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mit einer politischen Debatte zu tun, die letztendlich immer einen Prozess darstelle, der aber im Zustand des Erstarrtseins in Zahlen nicht zum Ausdruck komme. Rogers kappt damit explizit die versuchte Verbindung des diagrammatischen Raumes. Das bloße Zählen von Stinunen habe bereits in Disputen politischer Versammlungen keinen Sinn ergeben: »[N]aked numerical decision is meaningless«/ 9 da das Ziel eines beratenden politischen Publikums letztlich sei, wenn möglich Einigung zu erreichen oder zumindest Kompromisse zu finden und nicht numerisch Mehrheiten zu erzielen: »in the New England town meetings, that Dr. Gallup views with nostalgia, there could be argument for and against a proposition at the same time in the presence of all who were to vote, and the proposition under debate could be rerramed to meet objections that the discussion had brought out. It was rare that in the town meeting a small majority lorded it over a substantial minority. Usually objections could be met, and the decisions could have a wide basis of assent. Only extremists were left in opposition.«40
Wiederum äußert sich in dieser Kritik dasselbe Spannungsfeld von Raum und Prozess: Die Fixierung des Politischen in einem geometrischen Raum scheitert an der Zeitlichkeit des politischen Diskurses und der nicht reduzierbaren Subjektivität der am Diskurs Beteiligten selbst. Wie bei Arendt, so zeigt Rogers Kritik die de facto vollzogene Trennung von Ort und Raum im Bereich der Demokratien, die scheinbar unabänderliche Eigenlogik des symbolisch-mathematischen Raumes der Erzeugung von Bildern des Souveräns. Bislang ist keine Technik bekannt, die in diesem Ausmaß so umfassende Repräsentationen des politischen Publikums zu produzieren vermöchte. 41 Ein grundsätzliches Scheitern, wie es in Hayters Bild offenbar wird, scheint kaum mehr möglich, eine Politik ohne Meinungsforschung liegt im Bereich des Unvorstellbaren. 42 Angesichts der schieren Menge von erzeugten diagrammatischen Repräsentationen des Souveräns über die alltäglich präsentierten Meinungsforschungsergebnisse treten solche Paradoxien fast vollständig in den Hintergrund.
39 Ebd., S. 72. 40 Ebd., S. 71. 41 Vgl. Patrick Champagne: Faire l'opinion. Le nouveau jeu politique, Paris: Minuit 1990; Blondiaux: La fabrique de I' opinion (wie Anm. 27). 42 Vgl. Neidhardt: »Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegung« (wie Anm. 26).
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GEGNERVERDATUNGEN. VON DEN GEHEIMDIENSTANALYSEN ZUR SURVEY-FORSCHUNG CORNELIA EPPING-JÄGER
Die folgenden Überlegungen geben einen allenfalls skizzenhaften Abriss der Verdatungsstrategien, mit denen die Westalliierten - insbesondere die Amerikaner - bereits vor Kriegsende strategisches Wissen über den Kriegsgegner Deutschland zu erzeugen versuchten. Dieses Wissen hatte zum einen die Funktion, über die Analyse der Gegnermentalität das Kriegsende möglichst schnell herbeizuflihren, zum anderen diente es nach der Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschland dazu, die Voraussetzungen flir ein Programm der Demokratisierung und >ReEducation< zu schaffen. Der Funktionswandel, den die Datenerhebung dabei durchläuft, lässt sich als der Übergang von der ursprünglichen >Feindanalyse< zu frühen Formen des >Politbarometers< beschreiben. An dem Prozess der Verdatung waren verschiedene Institutionen mit verschiedener strategischer Ausrichtung beteiligt, deren Aktivitäten allererst nach der Beendigung des Krieges in ein integriertes Programm zusammenfließen konnten. Obwohl man in den USA bereits seit dem Machtantritt der Nationalsozialisten die Auswirkungen der Zerstörung der Demokratie in Deutschland intensiv erörterte, gewannen diese Diskussionen mit der deutschen Besetzung Frankreichs, mit dem Eintritt der USA in den Krieg, insbesondere aber nach dem Ende des Krieges eine erhöhte Brisanz. Deutschland war als Feindesland weitgehend eine terra incognita, die v.a. in einer zweifachen Hinsicht transparent gemacht werden musste: zum einen mit Blick auf die von Roosevelt nur zögernd entschiedene Frage, wie sich die Amerikaner nach dem vorausgesetzten Sieg verhalten sollten, unter welchen Bedingungen also und mit welchem Auftrag die Militärregierung in Deutschland zu operieren haben würde; zum anderen hinsichtlich der Frage, ob eine (Re-)Demokratisierung der deutschen Bevölkerung herbeigeführt werden könne und wie sich ein Umbau der politischen und sozialen Institutionen bewerkstelligen lasse. Verhandelt wurden solche Fragestellungen seit den 1940er Jahren in diversen sowohl regierungsamtlichen als auch privaten Planungsstäben 171
CORNELIA EPPING-JÄGER
und Forschungsinstitutionen. 1 Ab 1943 dann konzentrierte sich die Diskussion auf das unter dem Begriff der >Re-Education< gefasste Konzept einer zukünftigen >Demokratisierung Deutschlands durch KulturtransferFeindwissens< in eigens hierfür eingerichteten Ausbildungsstätten trainiert. Das Military Intelligence Center Camp Ritchie in Maryland etwa stellte eine solche Stätte dar, in der v.a. junge deutschsprachige, meist jüdische, Emigranten als kommunikative Sonden im Feindesland, als interrogators ofwar ausgebildet und ab 1944 auch eingesetzt wurden. 4 Da sich das Re-Education-Programm also auf Wissen stützte, wie es in den theoriegeleiteten, distanten Formen sozialwissenschaftlicher Ana-
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Bis 1943 standen v.a. drei Themenkomplexe im Vordergrund der Debatten: 1. >Demokratie als informationeHe Selbstverantwortung der BürgerMoralecivilian moraleDer amerikanische Lebensstil als demokratische KulturConference of Science, Philosophy and Religion in Their Relationship to the Democratic Way of Life< diskutiert wurde. Dass aber gerade kategorienübergreifende Diskurse ein spannendes kommunikationspolitisches Potenzial entfalteten, darauf verweist der Beitrag »Das Rockefeiler Communications Seminar« von Isabell Otto in diesem Band. Vgl. Uta Gerhardt: Soziologie der Stunde Null. Zur Gesellschaftskonzeption des amerikanischen Besatz ungsregimes in Deutschland 1944-1945/1 946, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005, S. 41. Uta Gerhardt: Denken der Demokratie. Die Soziologie im atlantischen Transfer des Besatzungsregimes. Vier Abhandlungen, Stuttgart: Steiner 2007, S. 26. Vgl. Christian Bauer/Rebekka Göpfert: Die Ritchie Boys. Deutsche Emigranten beim OS-Geheimdienst, Hamburg: Hoffmann und Campe 2005.
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GEGNERVERDATUNGEN
lyse angewendet wurde, darüber hinaus aber auch auf empirisch vor Ort, mit den Techniken des Interviews, erhobenes Wissen angewiesen war, sollen beide Formen genauer betrachtet werden.
Distante Forschung Bereits in den frühen 1940er Jahren war deutlich geworden, dass die Idee einer bloßen Wiederherstellung des Staus quo ante keine Garantie für die Vernichtung des Nationalsozialismus bereitstellte. Mit dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg stellte sich die Frage dringlich, welche Form ein Germany a:fier the War annehmen solle. Die Bandbreite der Vorschläge ist bekannt, sie reichte vom Pastoralstaat Morgenthauscher Provenienz bis zur Vorstellung eines durch eine politische Revolution geläuterten, entkartellisierten, demokratischen und europäischen Staatswesens. Die Diskussionen kreisten dabei um die Themen >NationalcharakterDemokratie< und >PropagandaPatienten< eines Therapieprozesses, dessen Ziel ein Radiosubjekt ist, das radiophonen Steuerungsprozessen folgt.
76 Ebd., S. 12. Vgl. auch Uol, 1948-1956, »Report«, Fdr 25, Box 4, Srs 216R, RG 1.2, RAC, S. 7f.: »A non-commercial station, of course, should know at least as much about its audience as does a commercial station. But it should also know more than any station knows today about the psychological and sociological effect of broadcasting on its listeners. [ ... ] They have the opportunity to carry out long-term experiments, experiments in depth, and experiments which will attract audience cooperation more readily because they are sponsored by educational institutions for educational purposes. They also have the tradition that research should be made available to all persons who can profit by them. Thus they have it in their power to make a distinctive and important contribution to the advancement of knowledge in the field of communications.« 233
BLICKLENKUNG IM WOHNZIMMER. ZUSCHAUERFORMIERUNG IM BUREAU OF APPLIED SOCIAL RESEARCH ISABELL ÜTTO Die Geschichtsschreibung der US-amerikanischen Communication Study setzt bereits in der Etablierungsphase der Disziplin ein. Sie erzählt vielfach von den Leistungen einzelner herausragender Persönlichkeiten und schildert, wie diese der gegenwärtigen Forschung den Weg bereitet haben. Indem Verwandtschaftsbeziehungen und Erbschaften skizziert werden, erhält die eigene Disziplin die gewünschte Kontur. Historiografie ist immer auch Forschungspolitik Wilbur Schramm erklärt schon 1963 - neben Carl Hovland, Kurt Lewin und Harold Lasswell- Paul Lazarsfeld zu einem Gründungsvater der Disziplin. Schramm sieht Lazarsfelds Beitrag darin, aus seinen Studien in Wien ein soziologisches Interesse für die empirische Untersuchung der Massenmedien in das amerikanische Forschungsfeld eingebracht zu haben. Außerdem hält er es für eine wichtige Leistung Lazarsfelds, das Bureau of Applied Social Research (Bureau) an der Columbia University in New Y ork gegründet zu haben. Schramm bezeichnet es als eines der einflussreichsten Forschungszentren in den Vereinigten Staaten. 1 Eine Möglichkeit, dieses Modell der Gründungsväter infrage zu stellen, das sich- in Form von Memoiren oder bio-historiografischen Ansätzenfortschreibt, 2 besteht darin, die Rolle weniger beachteter Forschungsbeiträge hervorzuheben oder auf Ansätze zu verweisen, die sich unter dem dominanten Paradigma der quantifizierenden Kommunikationsforschung nicht
Vgl. Wilbur Schramm: »Communication Research in the United States«, in: ders. (Hg.), The Science of Human Communication. New Directions and New Findings in Communication Research, New York, London: Basic Books 1963, S. 1-16. 2 Vgl. Wilbur Schramm: The Beginnings of Communication Study in America. A Personal Memoir, Thousand Oaks, London, New Delhi: Sage Publications 1997; Everett M. Rogers: A History of Communication Study. A Biographical Approach, New York: Free Press 1994.
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durchsetzen konnten. 3 Eine andere Möglichkeit besteht darin, zwar in der Logik des Modells zu bleiben, es jedoch gewissermaßen von innen heraus zu bezweifeln. Dies kann geschehen, indem ein Blick auf die Wege eines >Gründers< geworfen wird, die sich nicht als Zielgeraden zu einer universitären Disziplin, sondern möglicherweise als Sackgassen erweisen und aus der Perspektive einer Fortschrittsgeschichte als >Abwege< identifiziert würden. Eine Entzifferung dieser Wege, die auf schlecht lesbaren Mikrofiches oder unvollständigen Archivmappen beruht, 4 erhebt nicht den Anspruch, eine Wahrheit zu enthüllen, die das bestehende historiografische Bild korrigiert. Sie versucht nicht, die Geschichte besser zu erzählen, sondern darauf zu verweisen, dass sie auch anders erzählt werden kann. Lazarsfeld hat in dem Moment, in dem Schramm ihn zum Gründer erklärt, kaum noch Interesse an Forschungsfragen der Massenkomrnunikation. Seine Forschungen haben ihn zu der Untersuchung persönlicher Einflüsse im Kommunikationsprozess und damit von direkten Medienwirkungen weggefiihrt- das ist in der Geschichte des Fachs eine gängige Auffassung.5 Unberücksichtigt ist dabei die Frage geblieben, inwiefern sein vergeblicher Versuch, eine Verbesserung des kommerziellen amerikanischen Fernsehens bzw. die Erziehung der Nutzer zu besseren Fernsehzuschauern anzuregen, mit diesem versiegenden Interesse zusammenhängen könnte. Diese überraschend medienkritischen Ansätze, die quer zu einer >administrativ< verdatenden Forschung stehen, als deren Gewährsmann Lazarsfeld gilt, finden in historischen Darstellungen höchstens ganz am Rande Erwähnung.6
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Vgl. exemplarisch Jefferson Pooley: »Fifteen Pages that Shook the Field: Personal Injluence, Edward Shils, and the Remernbered History of Mass Communication Research«, in: The ANNALS of the American Political and Social Science 117 (2006), S. 130-156, sowie die Ausführungen zu Hannah Arendt und Emmanuel Levinas in: Kenneth Cmiel: »Ün Cynicism, Evil, and the Discovery of Communication in the 1940s«, in: John Durharn Peters (Hg.), Tangled Legacies. Symposium: Communication in the 1940s. Journal of Communication 46 (1996), H. 3, S. 88-107. Es wäre heute sehr viel mehr über das Bureau bekannt, so Rogers, wenn nicht ein Wasserschaden in der Columbia University einen Großteil der Dokumente aus den Jahren 1940-1960 zerstört hätte. Vgl. Rogers: A History of Communication Study (wie Anm. 2), S. 290. Meinen Ausführungen liegen die Mikrofiche-Erfassungen der unveröffentlichten Bureau-Berichte zugrunde sowie eine Recherche im Lazarsfeld-Archiv, Wien. Ich danke Barbara Reiterer für die Unterstützung meiner Recherchearbeit dort. Vgl. ebd., S. 302. V gl. etwa Allen Barton: »Paul Lazarsfeld and the Invention of the University Institute for Applied Social Research«, in: Burkart Holzner/Jiri Nahnevajsa (Hg.), Organizing for Social Research, Cambridge, Mass.: Schenkman 1982, S. 17-83. 236
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Es wird im Folgenden insbesondere um eine Strategie der Subjektformierung gehen, die Lazarsfeld in den 1950er Jahren in Bezug auf den Fernsehzuschauer verfolgt: die Formierung eines idealen Nutzers. Dieses Projekt gerät in Konflikt mit dem Programm, das er selbst auf den Weg gebracht hat und das in der Hoffnung besteht, durch die Kombination von Quantifizierung und qualitativer phänomenologischer Beschreibung von individuellen Verhaltensweisen auf die >tatsächlichen< Prozesse der Mediennutzung zugreifen zu können. 7
•Tatsächliche< und ideale Mediennutzer Im gleichen Jahr, in dem Schramm sein Modell der Gründungsväter entwirft, veröffentlicht das Bureau eine Untersuchung des US-amerikanischen Fernsehpublikums, die diesem Programm der Kopplung von quantifizierenden und qualifizierenden Verfahren voll entspricht: The People Look at Television. Der Umschlagtext wirbt mit der Überzeugungskraft des Faktischen: »The first comprehensive study - often surprising - of how the American viewer actually feels about the medium and the uses he makes of it«. 8 Gary Steiner- Psychologe der Graduate School of Business an der University of Chicago - dokumentiert in dieser Studie eine nationale Erhebung der Femsehnutzung, die diese nicht nur quantifizierend verdatet, sondern den einzelnen Zuschauer auch in qualitativen Befragungen zu Wort kommen lässt. Insgesamt geht es der Studie darum herauszufinden, wie sich das Medium Fernsehen in den Augen seiner Zuschauer darstellt. Bernard Berelson, zu dieser Zeit Direktor des Bureau, schreibt der Studie in seinem Vorwort die Fähigkeit zu, indem sie auf die »facts of the matter« zugreife, eine jahrelange Kontroverse um das Fernsehen klären zu können: »For about fifteen years now, television has been at, or close to, the center of attention in America. The people have been watehing television, and the critics, commentators, and educators have been watehing the people watehing television. On the whole, the one has liked what it saw; the other, not.« Steiner sei es durch avancierte empirische Messverfahren gelungen, »the distinctive contributions the professional psychologist can bring to a field usually investigated from the standpoint of public
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V gl. zu den Schwierigkeiten, die sich aus dem Anspruch ergeben, beide Verfahren gleichzeitig zu verwirklichen, Isabell Otto: »Massenmedien wirken. Zur Aporie einer Evidenzlist«, in: Michael Cuntz u.a. (Hg.), Die Listen der Evidenz, Köln: DuMont 2006, S. 22 1-238. Gary A. Steiner: The People Look at Television. A Study of Audience Attitudes, New York: Knopf 1963, Cover.
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opinion« vor Augen zu führen. 9 Steinerweist darauf hin, dass die Studie auf Initiative und durch finanzielle Unterstützung des Columbia Braodcasting System (CBS) zustande gekommen sei. 10 Eine Auftragsarbeit der Fernsehindustrie, die gegen jede kulturkritischen Vorbehalte verdeutlichen soll, wie das Fernsehen in der Perspektive seiner Nutzer >wirklich< ist, - der Zusammenhang scheint klar und das Ergebnis der Studie, anders als im Werbetext versprochen, wenig verwunderlich: Der >durchschnittliche< amerikanische Fernsehzuschauer nutzt das Medium zur Entspannung und zum Zeitvertreib. Auch wenn er Nachteile sieht- dass es zuviel Gewalt oder Werbung zeige oder generell Zeit verschwende - , haben die positiven Aspekte ein größeres Gewicht. Der Durchschnittsamerikaner wünscht sich kein anderes Programm, er ist im Großen und Ganzen mit dem zufrieden, was er sieht. Lediglich höher gebildete Fernsehzuschauer vermissen lehrreiche und informative Sendungen. Dabei haben sie jedoch womöglich weniger, wie sich Steiner beeilt zu betonen, sich selbst im Sinn, denn sie sehen kaum fern, sondern ein gesellschaftliches AllgemeinwohL 11 Steiners Publikation seines CES TV Survey, 12 gelesen als Antwort auf eine implizit gestellte Frage - braucht Amerika ein besseres Fernsehen?-, verneint dies mit der Evidenz verdateter Publikumseinstellungen unmissverständlich. Eine Irritation in dieser Argumentationsführung bildet jedoch das Nachwort »Some Reflections on Past and Future Research on Broadcasting« - verfasst von Paul Lazarsfeld. Dieses will nicht recht in die Kohärenz des Unternehmens passen. Vielmehr scheint es sich auf der Seite der Fernsehkritiker zu positionieren, deren Argumentation Berelson durch den CES TV Survey so eindeutig übertrumpft sieht. Steiners Studie, so Lazarsfeld, sei zwar ein wichtiger Forschungsbeitrag, jedoch gäbe es andere wichtige Ansätze, die nicht in Vergessenheit geraten dürften. Lazarsfeld entwirft ein etwas anderes Bild der Tradition, in der Steiners Survey steht, wenn er die Herkunft des Bureau aus den Förderprogrammen der philanthropischen RockefeUer Foundation skizziert. Er plädiert vor diesem Hintergrund für eine Forschung, die nicht einfach den Status quo der Mediennutzung erhebt, sondern deren Verbesserung ermöglicht, indem sie dem Zuschauer hilft, einen verfeinerten Geschmack zu entwickeln:
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Benlal·d Berelson: »Foreword«, in: Steiner: The People Look at Television (wie Anrn. 8), S. vii-x, hier S. viii, S. vii u. S. ixf. 10 Vgl. Steiner: The People Look at Television (wie Anm. 8), S. xi. 11 Vgl. ebd., S. 226-249. 12 So der Kurztitel von Steiners Projektsam Bureau, das 1959 startet. Vgl. Judith S. Barton: Guide to the Bureau of Applied Social Research, N ew Y ork, Toronto: Clearwater Publishing 1984, S. 172. 238
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»In several cities, an effort could be made to use social research and the public for developing new ideas for television. Panels of viewers from the population at !arge along with persans of special talents and competence would be brought tagether for a series of weekly meetings. In the course of such a meeting they would Iisten to talks by, or arguments among, television experts designed to stimulate their imagination about what television could do«. 13 Lazarsfeld sieht eine weitere Aufgabe der Forschung darin, die Fernsehindustrie gerrau unter die Lupe zu nehmen. Aus Konkurrenzgründen bemühe sich diese, ihre ökonomischen Organisationsstrukturen unsichtbar zu halten. Kommen diese doch ans Licht, offenbarten sich der Öffentlichkeit »a series ofhorror stories«. 14 Von der Untersuchung, wie sich Entscheidungsprozesse innerhalb der Fernsehanstalten vollziehen, erhofft sich Lazarsfeld herauszufinden, »how the whole organization might be made more flexible, and how some good programs, now systematically excluded, might in the future be introduced.« 15 Warum nimmt der Gründer und ehemalige Direktor des Bureau 16 eine solch kritische Perspektive ein, weshalb reicht es ihm nicht - analog zu seiner Verdatung der Radiohörer in den l930er und 40er Jahren 17 - das Publikum so sichtbar zu machen, >wie es wirklich istobjektiven< zu einem >normativen< Ansatz lässt sich schwerlich damit erklären, dass Lazarsfelds sich gegen die enge Verknüpfung von Forschung und Industrie wendet, auf die der CBS TV Survey so deutlich hinweist. 13 Paul F. Lazarsfeld: »Afterword. Some Reflections on Past and Future Research on Broadcasting«, in: Steiner: The People Look at Television (wie Anm. 8), S. 409-422, hier S. 418. 14 Ebd., S. 420. 15 Ebd., S. 421. 16 Lazarsfeld war seit 1937 Co-Direktor des von der Rockefeiler Foundation geförderten Office o.f Radio Research an der Princeton University. 1939 wurde er an die Columbia University berufen und nahm das Forschungsbüro nach New York mit. Aufgrund einer Ausweitung der Forschungsgebiete benannte Lazarsfeld das Institut 1944 in Bureau of Applied Social Research um. 1950 trat er vom Posten des Direktors zurück, um sich auf die universitäre Arbeit zu konzentrieren. Seine Nachfolger waren nacheinander: Kingsley Davis, Charles Y. Glock, Bemard Berelson, David Sills und Allen H. Barton. Vgl. Batton: »Paul Lazarsfeld« (wie Anm. 6); Rogers: A Histmy of Communication Study (wie Anm. 2), S. 244-315. 17 Lazarsfeld selbst verweist auf zwei Radiostudien, die er gemeinsam mit Harry Field bzw. Patricia Kendall in den 40er Jahren publiziert hat und die Steiner mit seinem Titel in Erinnerung ruft: The People Look at Radio (1946) und Radio Listening in America: The People Look at Radio - Again (1948). Vgl. Lazarsfeld: »Afterword«(wieAnm. 13), S. 409.
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Verfolgt man die Geschichte des Bureau entlang der Forschungsarbeiten Lazarsfelds bis zurück zur Wirt.schafispsychologischen Forschungsstelle in Wien/ 8 so wird deutlich, dass die Verflochtenheit von sozialpsychologischen Forschungsfragen und ökonomischen Interessen ihrer Finanziers schon in der Frühzeit Teil des Programms gewesen ist. Das Bureau finanziert seine Forschungen von Anfang an über Auftraggeber aus Wirtschaft und Politik. Auch erfolgt der TV Survey nicht einfach im Auftrag von CBS, wie sowohl Berelson und Steiner als auch Lazarsfeld betonen, sondern auf Initiative des Präsidenten Frank Stanton. Dieser hat in den 30er Jahren gemeinsam mit Lazarsfeld den >Program-Analyzer< zur Messung von Publikumsvorlieben entwickelt und Lazarsfelds Radiostudien in Princeton als associate director begleitet. 19 Die Gegenüberstellung von Fernsehindustrie und sozialkritischer Forschung stellt sich also nicht so einfach dar, wie sie in Lazarsfelds Nachwort erscheinen mag. Seine Kritik steht in einem anderen Kontext. Das »Afterword« verweist an einigen Stellen- in einer Weise, die wenig erhellend ist - auf die Vorgeschichte der Publikation The People Look at Televsion. Es ist von »roads not taken« die Rede und es wird nahe gelegt, dass dies möglicherweise die besseren Wege gewesen wären: »Something inherent in the structure of any research organization Ieads its members to examine certain problems and not others of equal or greater intellectual merit. Availability of funds, access to people and documents to study, the >practicality< of certain research techniques, the desire to do studies that can be finished in a reasonable time, fear of entering a blind alley, the fact that an organization becomes known for certain kinds of studies and is asked to do more - all these affect the history of a field of research at least as much as does rational planning.«20 Diese Vorgeschichte des CBS TV Surveys, die sich hier andeutet, erweist sich, wie im Folgenden zu sehen sein wird, als aufschlussreich für Lazarsfelds Perspektivierung des Fernsehzuschauers.
18 Präsident dieser Forschungsstelle war Kar! Bühler. In der Forschungsstelle wurden zahlreiche Auftragsarbeiten für die Industrie durchgefiilut. Vgl. Paul F. Lazarsfeld: »An Episode in the History of Social Research. A Memoir«, in: Donald Fleming/Bemhard Bailyn (Hg.), The Intellectual Migration: Europe and America. 1930-1960, Cambridge: Harvard University Press 1969, S. 270-337, hier S. 274. 19 Vgl. Rogers: A History ofCommunication Study (wie Anm. 2), S. 271-277. 20 Lazarsfeld: »Afterword« (wie Anm. !3), S. 410f. 240
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Sozialforschung eines besseren Fernsehens Im Winter 1951/52 entsteht in der Ford Foundation (FF)21 die Ansicht, das neue Medium Fernsehen stelle ein Gebiet dar, um das eine philanthropische Stiftung sich kümmern muss. Nach ersten Besprechungen und Konsultationen, aus denen hervorgeht, dass die anvisierte Beschäftigung mit dem Fernsehen sowohl innerhalb der Fernsehindustrie, als auch bei Erziehern und Gruppierungen des öffentlichen Interesses auf Anerkennung stoßen müsse, entscheidet man sich, Lazarsfeld - als Experten auf dem Gebiet der Massenkommunikation - die weiteren Planungen anzuvertrauen. Lazarsfeld bringt daraufhin interessierte Personen zusammen, die er die Citizens' Group an the Study ofTelevision nennt. 22 Ein erstes Treffen findet am 21. und 22. August 1952 in New York statt. Die gerraue Vorgeheusweise der Citizens' Group ist zu diesem Zeitpunkt noch unklar. 23
21 Die FF ist im Vergleich zur Stiftung der RockefeUer-Familie einjunges Unternehmen. 1936 gegriindet, wechselte die Stiftung ihren Sitz 1953 von Michigan nach New York. Vgl. Ford Foundation: History, unter http://www. fordfound.org/about/history.cfm vom 9.8.2007. Das Projekt steht in Zusammenhang mit Versuchen, dem kommerziellen Rundfunksystem in den USA ein edukatives Korrektiv entgegenzustellen. Neben der Ford und der Rockefeiler Foundation spielte die Carnegie Foundation- insbesondere bei der Etablierung eines staatlich geförderten Public Broadcasting ab 1967 - eine große Rolle (vgl. Current.org: History of Public Broadcasting, unter http:// www.current.org/history/timeline vom 7 .8.2007). 22 Ein unmittelbarer Vorläufer der Citizens' Group ist ve1mutlich in der temporären Fernseh-Kommission zu sehen, die der Staat New York einrichtete, nachdem die Federal Communications Commission im Friihjahr 1952 beschloss, 242 Fernsehkanäle für edukative Programme zu reservieren. Lazarsfeld war Mitglied dieser Kommission (vgl. Harvey J. Levin: »New York State Television: A Case Study of the Use of Research by a Public Commission«, in: Bureau of Applied Social Research, Reports, Microfiche B0483-7, New York: Clearwater 1981). 23 Aus Lazarsfelds Abschlussbericht, dem dieser Ablauf zu entnehmen ist, geht nicht hervor, wie gerrau die Initiative erfolgt: »During the winter of 1951/52, it was suggested to the Ford Foundation that the roJe of television on the American scene, broadly conceived, should comprise an important area for its concern.