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German Pages 250 [249] Year 2015
Irmela Schneider, Christina Bartz (Hg.) Formationen der Mediennutzung 1: Medienereignisse
Formationen der Mediennutzung Herausgegeben von Irmela Schneider I Band r
Irmela Schneider ist Professorin am Institut für Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft sowie stellvertretende Geschäftsführende Direktorin des SFB/FK >Medien und kulturelle Kommunikation Sondierungen der Me die nnutzung< . Christina Bartz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB/ FK >Medien und kulturelle KommunikationWeltbeben< zur >SpendenflutVisa-Affäre< als Medienereignis CORNELIA EPPING-JÄGER/LUDWIG JÄGER
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»Wo keine neuen Fakten sind, da steigert man die Adjektive.« Der Tod von Johannes Paulll. und die Medien lRMELA SCHNEIDER
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»Nochmal schaue ich mir so etwas nicht an, da gehe ich lieber eine Currywurst essen.« Das TV-Duell Merkei/Schröder als Medienereignis THOMAS NIEHR 183
ANALYSEN VON FALLGESCHICHTEN
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MEDIENEREIGNISSE ALS ERZÄHLUNGEN
Die Wahrheit über Jessica Lynch. Korrekturen eines Ereignisses im Irakkrieg 2003 ISABELL ÜTTO
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Der »Mike Mendez Killers-Coolness-Faktor«. Warum Robert Steinhäuser Amok läuft CHRISTINA BARTZ
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Autorinnen und Autoren 245
EINLEITUNG lRMELA SCHNEIDERICHRISTINA BARTZ
Massenmedien adressieren >alleVerfahren< Ungewissheit- in unserem Fall über Mediennutzung und den Mediennutzer - absorbieren, indem sie, wie es bei Niklas Luhmann heißt, »die unbestimmte Komplexität aller Möglichkeiten in eine bestimmbare, greifbare Problematik verwandeln.« (Niklas Luhmann: Legitimation durch Verfahren [1969], Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, S. 40). 8
EINLEITUNG
immer auch um Ereignisse geht, wenn die Ausgangsfrage lautet: Welchem Ereignis wird der Wert zugeschrieben, eine Nachricht zu werden? Einige der in Nachrichtentheorien offenen Fragen, was den Begriff des Ereignisses betrifft, verfolgt der zweite Beitrag, der sich mit der Rhetorizität von Ereignissen beschäftigt. In den beiden folgenden Beiträgen werden Ereignisse aus zwei weiteren, in diesem Zusammenhang wichtigen Perspektiven in den Blick genommen. Es geht zum einen um die Beobachtung von Ereignissen als publizistische Fallgeschichten, und zum anderen um einen wissenschaftlichen Ansatz, der das Ereignis als soziales Experiment begreift. Den Hauptteil des Bandes bilden Analysen ausgewählter Fallgeschichten. Unter >Ereignis< verstehen wir- dies sei als kurzer Hinweis und im Vorgriff auf die Beobachtungen des ersten, einleitenden Teils vorangestellt- eine zeitliche Folge aus einem Vorher und Nachher, die als Sinneinheit wahrgenommen wird. 3 Die Einheitsstiftung, die für eine solche Zeitfolge gebildet wird, manifestiert sich in der Praxis, die Ereignisse mit einer fixen Bezeichnung auszustatten: >Tsunami-KatastropheAmoklauf< oder >Papst-TodVisa-Affäre< die Karriere-Phasen eines Medienereignisses untersuchen. Das dritte Verfahren, das an zwei Beispielen untersucht wird, formt Medienereignisse als Erzählungen. Die beiden Beiträge untersuchen, wie sich Ereignisse im Rahmen der publizistischen Aufarbeitung als Erzählung zu einzelnen Personen - zu Jessica Lynch, der Soldatin der USArmy, (Isabell Otto) und zu Robert Steinhäuser, dem Erfurter Amokläufer, (Christina Bartz)- realisieren. Auch wenn man sich auf solche Medienereignisse begrenzt, bei denen eine Thematisierung der Mediennutzung erfolgt, bleibt die Anzahl der für solche Fragen relevanten Ereignisse unüberschaubar. Und auch die Entscheidung, nur Medienereignisse in Betracht zu ziehen, die aktuelleren Datums sind, entbindet nicht von der Schwierigkeit der Selektion aus einer Vielzahl. So könnte der noch nicht allzu weit zurückliegende >Karikaturenstreit< ebenso von Interesse sein wie der >Millenium-BugHochwasser-Katastrophe von New Orleans< oder das Medienereignis um Günter Grass' Autobiografie. V.a. aber bleibt eine Bearbeitung von >91 11 < aus, dessen Doppelstellung als prämediales und mediales Ereignis bereits vielfach kommentiert wurde. Das Fehlen dieser und weiterer Fälle ist vornehmlich der Textökonomie geschuldet.
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BEOBACHTUNGEN VON MEDIEN UND EREIGNISSEN. VIER PERSPEKTIVEN
NACHRICHTENFAKTOREN UND NACHRICHTENWERT lRMELA SCHNEIDER
Vorbemerkungen Die Fallstudien dieses Bandes zeigen, wie aus einer Nachricht in den Medien ein Medienereignis wird. Sie greifen eine seit Langem bekannte Debatte aufund lenken sie zugleich in eine grundlegend veränderte Richtung. Es geht nicht um die alte Frage, wann und wie aus einem Ereignis eine Nachricht wird, sondern gefragt wird nach den Verfahren, die dazu führen, dass eine Nachricht nicht nur eine Nachricht bleibt, sondern als Medienereignis ein spezifisches Gewicht und eine eigene Aura erhält. Die Ausgangsfrage lautet: Wann und wie wird aus einer Nachricht ein Medienereignis, eine mediale Fallgeschichte, ein Exemplum? In diese Ausgangsfrage schreibt sich das komplexe Problem ein, wie das Verhältnis von Nachricht und Ereignis bestimmt werden kann. Befragt man Nachrichtentheorien danach, wie sie das Verhältnis auffassen, so stellt man fest, dass diese Theorien davon ausgehen, dass beides sich problemlos und eindeutig voneinander unterscheiden lässt. Es gehört zu den Basisannahmen der Nachrichtentheorien, dass es zuerst das Ereignis und dann die Nachricht gibt. Die Frage nach dem Verhältnis von Ereignis und Nachricht interessiert nicht als ein Problem. Nachrichtentheorien konzentrieren sich auf die Frage, welche Ereignisse als Nachrichten ausgewählt werden, wie, unter welchen Bedingungen, wann also aus einem Ereignis eine Nachricht wird. Die Fragestellungen der in diesem Band zusammengestellten Fallstudien und die Fragestellung von Nachrichtentheorien berühren sich in einigen Punkten und unterscheiden sich doch zugleich grundlegend. Damit beides, die Schnittstellen und die Differenzen sichtbar werden, gibt der folgende Beitrag einen kurzen Einblick, wie in ausgewählten Nachrichtentheorien die Auswahl von Nachrichten verhandelt wird. Dass solche Nachrichtentheorien auch die alltägliche Praxis des Nachrichtenwesens bestimmen, zeigen Handbücher und Ratgeber für Jouma-
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listen, in denen andernorts theoretisch ausgerichtete Überlegungen m praktische Tipps und Regeln, in Rezepturen gefasst werden. 1 Nachrichtentheorien des 20. Jahrhunderts weisen, das zeigt ein Blick in die Frühgeschichte der Nachrichten, eine Genealogie auf, die mindestens so alt ist wie die frühe Presse. Insgesamt lenkt die Frage nach der Genealogie von Nachrichten den Blick zurück auf die Anfange der Historiografie. Die Zeitung wurde von ihrem Beginn an als »Medium der Historiographie« verhandelt. 2 Allerdings gehen Überlegungen zur Historiografie und solche zur Zeitung bzw. zur medialen Textform der Nachricht im Laufe ihrer jeweiligen Geschichte auch getrennte Wege. Für das 20. Jahrhundert zeigt sich das am Begriff des Ereignisses. Dieser wurde in den Geschichtswissenschaften breit verhandelt, immer wieder verworfen und reaktiviert. 3 Die Frage nach dem Ereignis gehört bis heute zu jenen Problemen, die Kontroversen auslösen. Darin liegt ein wichtiger Unterschied zu den Nachrichtentheorien des 20. Jahrhunderts. Erst in den 1980er und 1990er Jahren, nach Ansätzen zu einer >konstruktivistischen Wendefaktischen< Realität- mit dem, >was wirklich geschahFalsifikationsversucheZeitunger< eingegangen waren. Eine sachlich oder thematisch begründete Reihenfolge gab es noch nicht. Damit setzten die frühen Zeitungen eine Praxis fort, die in handschriftlichen Nachrichtenbriefen und in den ersten noch unregelmäßig gedruckten Zeitungen des 16. Jahrhunderts üblich war. 6 Dieses Prinzip der Anordnung brachte den Zeitungen bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts den sich hartnäckig haltenden Vorwurf ein, dass in ihnen Unordnung herrsche. Spuren dieser, je nach Sichtweise, produktiven oder unproduktiven Unordnung weist heute noch die Rubrik der »Vennischten Nachrichten« auf. Aber die heutige >Unordnung< des Vermischten hat andere Gründe als die Unordnung, die die Zeitungsleser in der Frühzeit der Presse kritisch vermerkten. Zu dem Eindruck von Unordnung fUgte sich schon bald ein doppelter Verdacht. Zum einen wurde geargwöhnt, dass eine Nachrichtfalsch sein könnte, zum anderen, dass die Nachrichten falsch ausgewählt worden seien. Beide Verdachtsmomente begleiten die Geschichte der Nachrichten bis in die heutige Zeit. Das Wort Falschmeldung (vulgo: die Ente) ist zum Tenninus technicus geworden, und die Frage der Nachrichtenauswahl fUhrt nicht nur ins Zentrum jeder Nachrichtentheorie, sondern be-
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Die Kategorien »Nachricht« und »Zeitung« hatten »ursprünglich« die gleiche Bedeutung - so der Eintrag zu »Nachricht«, in: Bemd-Peter Arnold/Klaus Klöckner/Michael Zeiß (Hg.), Medienlexikon. Kommunikation in Gesellschaft & Staat, Baden-Baden: Signal-Verlag 1979, S. 159. Vgl. Pompe: »Zeitung/Kommunikation« (wie Anm. 2), S. 163.
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schäftigt ebenso - häufig verbunden mit dem Schlagwort der Manipulation - Pädagogen und Politiker.
Zum Begriff des Nachrichtenwerts Wann wird etwas, was beobachtet wird, für wert befunden, eine Nachricht zu sein? Diese scheinbar einfache Frage führt in ein ganzes Bündel von komplexen Problemen. Studien, die diese komplexen Probleme verfolgen, können interessante und neue Einblicke in die Geschichte neuzeitlichen Denkens erbringen. 7 Seit Mitte des 20. Jahrhunderts spielt, wenn es um das Problemfeld der Nachrichtenauswahl geht, die sogenannte Nachrichtenwert-Theorie eine zentrale Rolle. 8 Ein kurzer Überblick über diese Theorie vennag auf Beziehungen und Differenzen, die zwischen Ereignis und Nachricht auf der einen und Nachricht und Medienereignis auf der anderen Seite bestehen, aufmerksam zu machen. Dabei zeichnet es auch diese Theorie aus, dass sie die komplexe Relation zwischen Ereignis und Nachricht nicht eigens verhandelt. Wie sich beide zueinander verhalten, lässt sich für Nachrichtentheoretiker entweder mit dem Verweis auf den gesunden Menschenverstand lösen, 9 oder sie entsorgen derartige Fragen in die Me-
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Vgl. Jürgen Wilke: Nachrichtenauswahl und Medienrealität in vier Jahrhunderten. Eine Modellstudie zur Verbindung von historischer und empirischer Publizistikwissenschaft, Berlin, New York: de Gruyter 1984. Der Verfasser verfolgt zwar nicht die Frage, welche Einblicke in die Geschichte des Denkens die Geschichte der Nachrichtenauswahl bietet, aber er liefert Material für solche Überlegungen. Zur Nachrichtenauswahl in der Frühzeit der Presse vgl. Paul Schröder: Die ersten Zeitungen. Textgestaltung und Nachrichtenauswahl, Tübingen: Narr, G. Verlag 1995, bes. S. 9lff.; zur Verbreitung von Nachrichten in der Zeit der Antike vgl. Wolfgang Riepl: Das Nachrichtenwesen des Altertums mit besonderer Rücksicht auf die Römer, Leipzig: Teubner 1913. Die Nachrichtenweft-Theorie ist selbstverständlich nicht so einheitlich, wie der Singular anzeigt. Auch für diese Theorie lassen sich, wenn man ins Detail geht, unterschiedliche Varianten ausmachen. Neben der Nachrichtenwert-Theorie lassen sich innerhalb von Nachrichtentheorien drei weitere Ansätze unterscheiden: die News-Bias-Forschung, das Framing-Konzept und der Gatekeeper-Ansatz. Vgl. Hans J. Kleinsteuber/Bernhard Pörksen/Siegfried Weisehenberg (Hg.): Handbuch Journalismus und Medien, Konstanz: uvk 2005, S. 317ff. So fundiert Staab zwar die erkenntnistheoretische Problematik des Ereignisbegriffes in der »philosophischen Aporie der Subjekt-Objekt-Relation«, aber wenn es um seine eigenen Analysen von Nachrichten geht, lautet das Fazit: »An die Stelle der transzendentalen Relationen [ ... ] ist in diesen Analysen der gesellschaftliche Common Sense getreten.« (Joachim Fried16
NACHRICHTENFAKTOREN UND NACHRICHTENWERT
taphysik. 10 Die Ausblendung der Ereignis-Problematik gehört zu den impliziten Voraussetzungen, auf deren Basis sich dann Nachrichtenfaktoren und der Nachrichtenwert bestimmen lassen. Den Begriff des Nachrichtenwerts hat - vor dem eigentlichen Ausbau der Nachrichtenwert-Theorie - Walter Lippmann in seiner Studie Public Opinion ( 1920) eingeflihrt. Lippmanns Ausgangsbeobachtung heißt: Der Mensch kann die Wirklichkeit in ihrer Komplexität nicht erfassen. Selektion ist notwendig, und diese beinhaltet, so Lippmann, immer einen interpretativen Impetus. Denn selbst der Augenzeuge bringe »kein unvoreingenommenes Bild vom Schauplatz des Vorganges mit. [ ... ]Die Erfahrung scheint zu zeigen, daß er bereits etwas zum Schauplatz mitnimmt, was er später wieder von dort zurückbringt. Was er für seinen Bericht von einem Ereignis hält, ist zumeist in Wirklichkeit dessen Umwandlung. Im Bewußtsein scheinen wenige Fakten bloß gegeben zu sein, die meisten scheinen teilweise konstruiert.« 11 Wenn Lippmann vom »Augenzeugen« spricht, spielt die Frage nach dem Nachrichtenwert keine Rolle. Erst wenn es um Fragen danach geht, wie ein Journalist eine Nachricht auswählt, verläuft die Wahrnehmung anders: dann gibt es einen Nachrichtenwert (»news value«). Darunter versteht Lippmann solche Merkmale von Ereignissen, die es wahrscheinlich machen, dass das Ereignis zur veröffentlichten Nachricht wird. 12 Merkmale wie Sensationalismus, Nähe, Relevanz, Eindeutigkeit und Faktizität haben, so Lippmanns Beobachtungen, einen Nachrichtenwert Lippmanns Selektoren werden in Nachrichtentheorien bis in die jüngste Zeit hinein aufgegriffen und fortgeschrieben. Die Überlegungen von Lippmann schreiben sich in spätere Nachrichtenwert-Theorien ein, allerdings mit signifikanten Verschiebungen, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann. Die basale Voraussetzung dieser theoretischen Ansätze folgt nicht Lippmanns Überlegungen zu alltäglichen Wahrnehmungen und ihren Stereotypen, sondern seinem flir den journalistischen Bericht ausgeflihrten Zweischritt Ein Ereignis weist bestimmte Merkmale auf. Daraus werden in der Nachrichrieb Staab: Nachrichtenwert-Theorie. Formale Struktur und empirischer Gehalt, Freiburg, München: Verlag Kar! Alber 1990, S. 101). 10 Winfried Schulz erklärt, dass es sich bei dem Verhältnis von Ereignis und Nachricht um »eine letztlich metaphysische Frage« handle, die nicht mit den Mitteln der Wissenschaft zu beantworten sei (Winfried Schulz: Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien (wie Anm. 4), S. 27). 11 Walter Lippmann: Die öffentliche Meinung, München: Rütten und Leoning 1964, S. 61. 12 Vgl. ebd., S. 237. 17
IRMELA SCHNEIDER
tentheorie die »Nachrichtenfaktoren«. Und diese Nachrichtenfaktoren entscheiden über den Nachrichtenwert Jetzt wird nicht mehr, wie bei Lippmanns Augenzeugen, davon ausgegangen, dass »er bereits etwas zum Schauplatz mitnimmt, was er später wieder von dort zurückbringt«. Die Faktoren- so die Ausgangsüberlegung bis in die 80er Jahre hineinlassen sich vielmehr an den Ereignissen ablesen, aus den Ereignissen ableiten. Zuerst gibt es Ereignisse; an zweiter Stelle kommen die aus ihnen extrapolierten Nachrichtenfaktoren, die sich in Listen erfassen lassen. Und über diese Liste lässt sich der Nachrichtenwert eines Ereignisses bestimmen. Wenn auf ein Ereignis mehrere Nachrichtenfaktoren zutreffen, dann steigt sein Nachrichtenwert Wenn es keinen Nachrichtenfaktor aufweisen kann, dann bleibt das Ereignis ohne Nachricht, dann kommt es in den Medien nicht vor, dann- so die weitergehende Schlussfolgerunggibt es dieses Ereignis öffentlich nicht. Und das, was keine Öffentlichkeit findet, findet in einer Mediengesellschaft nicht statt. Es existiert nicht.
Grundzüge der Nach richtenwert- Theorie Wichtige Impulse fur die europäische Nachrichtenwert-Theorie formuliert Einar Östgaard vom Osloer Friedensforschungsinstitut in seinem Artikel »Factors Influencing the Flow of News«, der 1965 im Journal of Peace Research erscheint. 13 Östgaard prägt hier nicht nur den Begriff des Faktors, der in der Bezeichnung als Nachrichtenfaktor in der Nachrichtenwert-Theorie eine zentrale Rolle spielt, sondern er verweist mit seiner Überschrift bereits auf die damals in Debatten um eine Weltinformationsordnung breit verhandelte Fonnel vomfree flow ofiriformation. 14
13 Einar Östgaard: »Factors oflnfluencing the Flow of News«, in: Joumal of Peace Research 2 (1965), S. 39-63. Auch in den USA wird die Nachrichtenwert-Theorie diskutiert und ausgebaut. Bereits in den 1950er Jahren wurde hier »ein relativ stabiler Katalog von sechs Faktoren entwickelt, die als Definitionskriterien ftir Nachrichten in Lehrbüchern ftir Journalisten aufscheinen, nämlich: Konflikt, Unmittelbarkeit, Nähe, Prominenz, Ungewöhnlichkeil und Bedeutung« (Heinz Pürer: Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Ein Handbuch, Konstanz: utb Verlag 2003, S. 129). 14 Die Diskussionen um das Prinzip des >free flow< sind nicht ablösbar von medientechnologischen Entwicklungen und ihren Globalisierungs-Effekten. Hier ist an erster Stelle die Satellitentechnik zu nennen. Ihr Ausbau führte dazu, dass der Ruf nach einer Weltinformationsordnung in jenen Jahren immer lauter wurde. Die Idee einer solchen Ordnung beschäftigte die UNESCO seit ihrer Gründung im Jahr 1946. Schritte zu einer solchen Ordnung formulierte schließlich der sogenannte MacBride-Bericht, der 1980 unter dem Titel »Many Voices, One World« von der UNESCO verabschiedet wurde. 18
NACHRICHTENFAKTOREN UND NACHRICHTENWERT
Die Faktoren, nach denen Nachrichten ausgewählt werden, bestimmen, so Östgaards Kernthese, den internationalen Nachrichtenfluss. Wie dieser Nachrichtenfluss beschaffen ist, zeigt sich, wenn man nach den Auswahlkriterien fragt. Diese Frage führt zu der Einsicht, dass nur das veröffentlicht wird, was »>newsworthyinterestingpalatable< to the public« ist. 15 Der Nachrichtenwert bemisst sich, so das Ergebnis einschlägiger Inhaltsanalysen und Journalistenbefragungen, v.a. nach drei Faktoren: Vereinfachung, Identifikation und Sensationalismus. Östgaard betont die Diskrepanz zwischen seiner Idee vom free jlow of information und der Praxis der Nachrichtenauswahl. 16 Bei der Nachrichtenauswahl wie auch ihrer Rezeption handelt es sich, so fährt Östgaard fort, um kognitive Verarbeitungsprozesse, die die Arbeit der Journalisten sowie die Art und Weise betreffen, wie Menschen ihre Umgebung wahrnehmen, bestimmen. Östgaard fundiert Nachrichtenfaktoren allerdings nicht nur kognitionspsychologisch, sondern in einer allgemeinen Anthropologie: Menschen - so seine Sichtweise - neigen dazu, Komplexes zu vereinfachen; sie schenken dem Aufmerksamkeit, was sie als sensationell einschätzen, und sie bevorzugen Nachrichten, mit deren Inhalt sie sich meinen identifizieren zu können. Diesen anthropologischen Grundannahmen, und nicht einem sozialutopischen Prinzip, folgt der »flow ofnews«. Auf den Studien von Östgaard bauen im selben Jahr Johan Galtung und Marie H. Ruge auf. Auch sie veröffentlichen ihre ersten Ergebnisse im Journal ofPeace Research, dem Organ des 1959 in Oslo gegründeten International Peace Research Institute (PRIO), dessen erster Direktor Galtung bis 1969 war. Basis ihrer Untersuchung sind eigene Inhaltsanalysen. Sie untersuchen, wie vier unterschiedliche norwegische Zeitungen über die Krisen im Kongo, in Kuba und in Zypern berichteten. 17 15 Östgaard: »Factors ofinfluencing the Flow ofNews« (wie Anm. 13), S. 45. 16 Die Semantik der Formel vomfreejlow ofinjormation ist von einer grundlegenden Spannung geprägt: Die Formel drückt auf der einen Seite ein sozialutopisches Potential aus - dieses utopische Potential bestimmt auch die Zielvorstellungen des Osloer Friedensforschungsinstituts - , auf der anderen Seite wird sie für informations- und damit machtpolitische Interessen in Anspruch genommen, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Debatten um eine Weltinformationsordnung beherrschen. 17 Johan Galtung/Marie Holmboe Ruge: »The Structure of Foreign Newspapers. The Presentation of the Congo, Cuba and Cybris Crises in Four Norwegian Newspapers«, in: Journal of Peace Research 2 ( 1965), S. 64-91. Jeder Überblick über die Nachrichtenwert-Theoriegeht aufGaltung!Ruge ein. Ich beziehe mich auf den Aufsatz von Galtung/Ruge sowie auf die Erläuterungen von Christiane Eilders: Nachrichtenfaktoren und Rezeption. Eine empirische Analyse zur Auswahl und Verarbeitung politischer Information, Opladen: VS Verlag fiir Sozialwissenschaften 1997. 19
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Galtung/Ruge entwickeln ein mehrstufiges Modell des Vermittlungsprozesses, in dem an erster Stelle die Weltereignisse (»world events«) stehen. Die Medienwahrnehmung (»media perception«) führt zu einem Medienimage (»media image«), in das sich, so die folgenreiche These, eine Verzetrung durch Auswahl (»selection distotiion«) einschreibt. Die Rezeption dieses Medienimages durch die Mediennutzer führt zu einem Nutzerbild (»personal image«), das ebenfalls durch eine verzerrende Auswahl geprägt ist. Unter Selektion verstehen Galtung!Ruge also nicht nur eine Auswahl, sondern sie bestimmen diese zugleich als Verzerrung. Diese Sichtweise prägt sowohl die Debatten um Manipulation als auch die Auseinandersetzungen um den free flow of information. Sie gehört schließlich - und das ist in unserem Zusammenhang besonders wichtig zu jenen Prämissen, die es erlauben, das Verhältnis von Nachricht und Ereignis einfach festzulegen, ohne es zu präzisieren. Vorausgesetzt wird die Möglichkeit einerunverzerrten Wahrnehmung von Ereignissen, die im Verfahren der Auswahl verzeni wird. Erst als sich die Einsicht durchzusetzen beginnt, dass Selektion ein konstitutiver Faktor für jeden Akt von Wahrnehmung darstellt, wird der Ereignis-Begriff, wenn auch nach wie vor eher am Rande, auch in Nachrichtentheorien eigens thematisiert. Das Modell von Galtung/Ruge bildet die voraussetzungsvolle Basis für weitere Studien zur Nachrichtenwert-Theorie. In der theoretischen Auseinandersetzung mit Nachrichten steht dieses Modell vorerst nicht zur Diskussion, sondern verhandelt werden insbesondere die zwölf»Nachrichtenfaktoren«, also Selektionsregeln, nach denen Nachrichten ausgewählt werden. Die ersten acht Nachrichtenfaktoren (»frequency, threshold, unambiguity, meaningfulness, consonance, unexpectedness, continuity, composition«) sind nach Galtung!Ruge universal gültig, bei den letzten vier (»elite nations, elite persons, reference to persons, reference to something negative«) handelt es sich um kulturabhängige Selektionskriterien. Über die Wirkung dieser Auswahlregeln stellen Galtung!Ruge fünf Hypothesen auf, 18 die sich wiederum mit Lippmanns Überlegungen in Verbindung setzen lassen. 18 Galtung/Ruge: >>The Structure of Foreign Newspapers« (wie Anm. 17), S. 66ff. Es handelt sich um: 1. die Selektivitätshypothese, die besagt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis als Nachricht registriert wird, steigt, je mehr es den aufgeführten Kriterien entspricht; 2. die Verzerrungshypothese (»distortion«), die meint, dass jene Merkmale, die den Nachrichtenwert eines Ereignisses bestimmen, hervorgehoben werden; 3. die Replikationshypothese, die davon ausgeht, dass Selektivität und Verzerrung sich im Nachrichtenfluss verstärken; 4. die Additivitätshypothese, die besagt, dass ein Ereignis umso wahrscheinlicher zur Nachricht wird, je mehr Nach-
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NACHRICHTENFAKTOREN UND NACHRICHTENWERT
Die Vorschläge von Galtung/Ruge sind vielfach aufgegriffen, konzeptionell weiterentwickelt, empirisch bestätigt und in ihren Prämissen auch kritisiert worden. Zwei der Kritikpunkte und eine Neuperspektivierung der Nachrichtenstudien seien hier erwähnt. Der erste Kritikpunkt betrifft die angenommene Universalität der ersten acht Nachrichtenfaktoren. Dieser Anspruch, so der Einwand, sei nicht gerechtfertigt, da die Untersuchungen sich bislang auf die westliche Berichterstattung konzentriert hätten. 19 Der zweite Kritikpunkt betrifft ganz grundlegend das mehrstufige Modell, an dessen Anfang das Ereignis und an dessen Ende ein Publikumsbild steht. Die Epistemologie, die dieses Modell leitet, ist in den letzten Jahrzehnten insbesondere aus konstruktivistischer Perspektive irrfrage gestellt worden. Das Verhältnis von Ereignis und Nachricht, von dem die Nachrichtenwert-Theorie ausgeht, wenn sie ein Ereignis als ein factum brutum an den Anfang stellt, das dann in eine Nachricht gefasst wird, widerspricht grundlegenden konstruktivistischen Einsichten. Das Verhältnis von Ereignis und Nachricht kann nicht in der von Galtung/Ruge angenommenen Linearität gefasst werden, sondern beide konstituieren eine komplexe und dynamische Wechselbeziehung. Allerdings entsteht auch jetzt keine breite Diskussion über das Verhältnis zwischen Ereignis und Nachricht, wie sie aus der Geschichtswissenschaft bekannt ist. Häufig wird die Wechselbeziehung zwischen Nachricht und Ereignis als neue Relation zwischenjact undjiction verhandelt, die sich in Wortschöpfungen wie infotainment oderfaction manifestiere. 20
richtenfaktoren auf es zutreffen; 5. die Komplementaritätshypothese, die davon ausgeht, dass dann, wenn ein Ereignis eines oder sogar mehrere der Kriterien nicht oder nur gering erfüllt, die anderen Faktoren umso stärker greifen müssen, damit das Ereignis zur Nachricht wird. Diese Hypothesen sind untereinander, wie häufig vermerkt worden ist, nicht ganz trennscharf. Vgl. z.B. Eilders: »Nachrichtenfaktoren und Rezeption« (wie Anm. 17), S. 35. 19 Vgl. z.B. Georg Ruhrmann: »Ereignis, Nachricht und Rezipient«, in: Klaus Merten/Siegfried J. Schmidt/Siegfried Weisehenberg (Hg.), Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen: VS Verlag für Sozialwissenschaften 1994, S. 237-256, hier S. 241. 20 V gl. Alexander Görke/Georg Ruhrmann: »Public Communication Between Facts and Fictions: On the Construction of Genetic Risks«, in: Public Understanding of Science 12 (2003), S. 229-241. Der Aufsatz setzt mit der Feststellung ein: »lt took communication scientists and other social decision-makers several years to leam that objectivity in the world of media and a computable measure for handling risks in public communication are out of reach. « Wenn man allerdings die Einsicht in die Unhaltbarkeit solcher Voraussetzungen so eng mit der Entwicklung zum Infotainment verbindet wie Görke und Ruhrmann dies tun, vereinfacht man erneut komplexe Sachverhalte.
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Ergänzt werden die inhaltsanalytisch ausgerichteten Untersuchungen und die Kommunikator-Studien in jüngerer Zeit durch empirische Untersuchungen, die die Wirkung von Nachrichten auf Rezipienten untersuchen wollen und dabei auf der Nachrichtenwert-Theorie aufbauen. Auf diesem Gebiet haben z.B. Georg Ruhrmann und Winfried Schulz gearbeitet; in diesen Kontext gehört auch die Studie von Christiane Eilders, die »anband des Materials aus dem DFG-Projekt >Realitätsvermittlung durch Fernsehen«< eine »empirische Überprüfung des Einflusses von Nachrichtenfaktoren auf die Vorstellungen des Publikums« durchgeführt hat.21 Zwei Aspekte, die in Diskussionen über die Nachrichtenwert-Theorie zwar E1wähnung finden, aber in ihren Implikationen eher randständig bleiben, seien zum Abschluss angeführt. Wenn man die Debatten um den Nachrichtenwert seit Lippmann verfolgt, dann fällt auf: Wenn es um diesen Wert geht, dann spielen Gesichtspunkte wie gesellschaftliche, soziale, politische oder kulturelle Relevanz keine maßgebliche Rolle. Das mag überraschend sein, wenn man sich den langen historischen Kampf um Meinungs- oder Pressefreiheit vor Augen führt. Es mag auch dann überraschen, wenn man die Debatten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfolgt, die sich um das sozialutopische Prinzip desfree flow ofinformation entzündet haben. Beide, der Kampf um die Meinungs- und Pressefreiheit und die Utopie einesfree flow ofinformation, verorten die Funktion von Nachrichten außerhalb der Nachrichten. Nachrichten, so das Konzept, sollen möglichst genau und umfassend, möglichst lokal und global Kenntnisse über das Weltgeschehen vermitteln. Die Ergebnisse der NachrichtenwertTheorie zeigen hingegen von Anfang an und immer wieder aufs Neue: Der Nachrichtenwert bemisst sich eben gerrau nicht nach einem Außerhalb der Nachricht, nicht an edukativen oder politischen Zielen. Der Nachrichtenwert bildet sich nicht auf der Basis dessen, was für und in den einzelnen Funktionssystemen der Gesellschaft, in der Politik oder Wirtschaft, in der Kunst oder Wissenschaft, für richtig, wichtig und wertvoll gehalten wird. Er orientiert sich nicht an einer Sozialutopie und hat ganz andere machtpolitische Implikationen als die im engeren Sinne politische Macht. Die Massenmedien bestimmen das, was den Wert einer Nachricht begründet, nach ihren eigenen Regeln, nach ihrem eigenen Code. Ihre Nachrichten beziehen sich zwar auf die gesellschaftlichen Funktionssysteme - auf Begebenheiten in der Politik und Wirtschaft, in der Wissensch aft oder der Kunst - , aber die Funktionsweise der Massenmedien zeigt trotz dieses engen und spezifischen Bezugs auf ihre »Umwelt«, sensu Luhmann, ganz eigene Gesetze. Und die den Massen21 Eilders: »Nachrichtenfaktoren und Rezeption« (wie Anm. 17), S. 16.
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NACHRICHTENFAKTOREN UND NACHRICHTENWERT
medien eigenen Gesetze produzieren jene Medienereignisse, die in den Fallstudien dieses Bandes vorgestellt werden. Fragt man nach den Regeln und Kriterien, mit denen etwas zur Nachricht wird, und geht von den ermittelten Nachrichtenfaktoren als Selektionsverfahren aus, dann fällt auf, dass diese Regeln ganz offensichtlich an dem Bild ausgerichtet sind, das die Kommunikatoren sich von ihren Rezipienten machen. Nicht wie Kommunikatoren, wie etwa ein Journalist, die Relevanz eines Ereignisses, eines Falls, eines Themas einschätzt, ist ausschlaggebend, wenn es um die Frage geht, ob etwas zur Nachricht wird, ob es öffentlich gemacht wird, ob es Verbreitung findet und damit - auf seine Weise- >in die Geschichte< eingeht. Ausschlaggebend sind offensichtlich ein imaginärer Mediennutzer und die Frage, ob eine Nachricht seine Aufmerksamkeit findet oder nicht. 22 Beantwortet wird diese Frage häufig mit Rückbezug auf kognitionspsychologische Einsichten, die nicht selten in allgemeine anthropologische Grundannahmen auslaufen. Der Mediennutzer wird dann zu einem Menschen, der, wie alle Menschen, dazu neigt zu vereinfachen, der neugierig auf Sensationen ist und der überrascht werden will. Die Frage nach der Aufmerksamkeit wird eingepasst in Universalien über >den Menschenmenschliche WesenAnthroposRhetorizität von Ereignissen< nennen könnte. Ohne dass damit ein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird, werden vor allem drei dieser Momente näher betrachtet: die Konstitution, Selektion und Kommunikation von >EreignissenEreignis< in einen Horizont rhetorischer Diskursivität eingestellt und - im Kontext jüngerer medientheoretischer Überlegungen - als Verfahrensbegriff entwickelt werden kann. Innerhalb einer solchen Konzeption bezieht sich der Begriff >Rhetorizität von Ereignissen< dann auf die rhetorische oder genauer: diskursiv-mediale Verfahrenslogik, durch die Ereignisse in der kulturellen Kommunikation prozessiert werden.
Wort- und begriffsgeschichtliche Notiz >Ereignis< spielt als >eventum< in der Rhetorik eine nur untergeordnete Rolle. Blickt man exemplarisch etwa in das von Heinrich Lausberg zusammengestellte Handbuch der literarischen Rhetorik, dann findet sich >eventum< in die >loci< eingegliedert, die - als »Suchfonneln« und »Gedankenreservoir, aus dem die passenden Gedanken ausgewählt werden können« - einen Teil der >argumenta< bilden, die ihrerseits wiederum Teil der >argnmentatio< sind. 1 Unter dem Lemma >Ereignis< verzeichnet auch das Grimmsehe Wörterbuch keine erhellende Bedeutungsbeschreibung. Zitiert werden hier ausschließlich literarische Textstellen - etwa aus Goethes Woldemar:
Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturw·issenschaft, 2 Bde., München: Hueber 2 1973, hier Bd. I, S. 201.
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»alles vergängliche ist nur ein gleichnis, das unzulängliche hier wird's ereignis«. 2 Aufschlussreicher sind die Einträge >ereigen< und >ereignenostendere, monstrareEreignis< gerät hier auf die Seite jener Fakten, die Erzählungen vorausgehen und über die nachträglich berichtet wird. Der im Wortfeld offenbar werdende Gegensatz von >Ereignis< und medialer Darstellung, von Faktum und Erdichtung, wird dann auch als begriffliche Grundfigur im Historischen Wörterbuch der Philosophie vorgeführt: »Ereignis (eventum) gehört zu (sich) ereignen. Dieses hat bis ins 18. Jahrhundert die neuhochdeutsche Bedeutung >eräugnen< und >ereignenEreugnißEräugnißvor Augen stellenstellensich zeigenerscheinenoffenbarensichtbar werdenEreignis< ist der Zusammenfall von >factum< und >eräugnenEreignis< und >Narration< in der Geschichtsschreibung eine analoge Struktur aufweist zu der von >Ereignis< und >Darstellung< in der medialen Kommunikation. Insofern hat die Ereignisdebatte der Geschichtswissenschaften heuristischen Aufschlusswert für unser medientheoretisches Problemfeld. Im Anschluss an Thomas Rathmann5 lässt sich dieses Feld in folgender Weise explizieren:
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 16 Bde. [in 32 Teilbänden], Leipzig: Verlag von S. Hirzel 1854-1 960, hier Bd. 3, Sp. 785-801. 3 Vgl. ebd., Sp. 783f. 4 Lemma »Ereignis«, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Darmstadt WBG 1972, Sp. 608-609. 5 Meine Überlegungen stützen sich auf die Ausführungen von Thomas Rathmann: »Ereignisse Konstrukte Geschichten«, in: ders. (Hg.), Ereignis. Kon-
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ZUR RHETORIZITÄT VON EREIGNISSEN
Für die Geschichtswissenschaften galt >Ereignis< während eines langen Zeitraums als gleichsam objektive Kategorie. Dass etwa >der Peloponnesische Krieg< oder >die Reformation< welthistorische Ereignisse darstellten, das wurde als selbstverständlich angesehen, und folglich verzichtete man auf eine explizite Erörterung des Ereignisstatus. »Erst um die Wende zum 20. Jahrhundert geriet das Ereignis in Verruf.« 6 Geschichte, so argumentierten nun die Begründer strukturgeschichtlicher Analysen, lasse sich nicht mehr als Abfolge einzigartiger und kurzfristiger >Ereignisse< erzählen. 7 Diese stellten nichts weiter vor als den »Schaum der Geschichte«, die »Überflächenbläschen«8 eines Prozesses, den es gelte, in seinen länger- und langfristigen Strukturen, Konjunkturen, Zyklen aufzudecken. In der Konsequenz einer solchen Perspektivenverschiebung galten >Ereignis< und >Struktur< von nun ab als Antithese. Allererst zu Beginn der 1970er Jahre kam es zu einer »Wiederkehr des Ereignisses«,9 in Deutschland prominent vertreten durch den Band Geschichte - Ereignis und Erzählung, der in der einflussreichen Reihe Poetik und Hermeneutik erschien, gleichwohl aber kein kohärentes Ereignis-Konzept präsentierte. 10 Unterschiedlich waren die disziplinären Zugriffe. Amo Borst polemisiert gegen den universalgeschichtlichen Ansatz: »Literarische Ereignisse gibt es, historische nicht!«, und verweist damit auf die grundsätzliche textuelle Verfasstheit historischer >EreignisseEreignis< und
zeptionen eines Begriffs in Geschichte, Kunst und Literatur, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2003, S. 1-20. 6 Vgl. ebd., S. 4. 7 »Wenn sich das Studium menschlichen Handelns«, so polemisiert FranStruktur< auseinander, bestimmt deren jeweils unterschiedlichen Bezug zur Temporalität als Differenzkriterium und konstatiert, dass Strukturen nur im Medium von Ereignissen greifbar wären. Hans Robert Jauß schließlich ist um eine Revitalisierung des >Ereignisses< bemüht, das er zu einer »objektiven, für das historische Geschehen selbst konstitutiven Kategorie« erklärt und in seine Rezeptionstheorie integriert. Mit Thomas Rathmann lässt sich davon sprechen, dass »das Ereignis als Objekt wissenschaftlicher Betrachtung« - trotz der zitierten Rettungsversuche - »hierzulande diskreditiert« wurde/ 1 dass es endgültig aber durch die Rezeption des französischen Poststrukturalismus im literarhistorischen und geschichtswissenschaftliehen Theoriediskurs keine Beachtung mehr fand. Stellvertretend formulierte diese Position Reiner Leschke 1992: »Das Ereignis mit jenen metaphysischen Restqualitäten von Sinn, Subjekt, Ursprung und radikaler Singularität scheint [ ... ] erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch nur wenig Sinn zu machen und bei der Suche nach einem der Geschichte adäquaten Diskurs eher kontraproduktiv zu sein. Zudem ist seine Existenz schlichter Effekt einer Setzung, die sich kaum mehr als den Sachzwängen hermeneutischer Theoriearchitektur verdankt. Sobald man bereit ist, auf das prekäre Sinn-Kapital solcher Geschichtskonstruktionen zu verzichten, kann man davon ablassen, Begebenheiten zum Ereignis aufzubauen, um sich an die Arbeit der Rekonstruktion zu machen.« 12 Auf den ersten Blick scheint von hier aus kein Weg mehr zurtick zum >Ereignis< zu führen, doch zeigt sich nicht nur, dass >Ereignisse< gegenwärtig wieder in den Fokus wissenschaftlicher Aufmerksamkeit rücken, 13 sondern auch, dass sie im Grunde, trotz ihrer wissenschaftlichen Totsagung, nie aufgehört haben fröhlich weiterzuleben, - etwa in der medienwissenschaftlich orientierten Kommunikations- und Publizistikwissen11 Rathmann: »Ereignisse Konstrukte Geschichten« (wie Anm. 5), S. 10. 12 Reiner Leschke: »Am Rande der Geschichte. Überlegungen zu ihrem hermeneutischen GebrauchEreignis< als ein vormediales Geschehen, das durch Massenmedien bloß selegiert, abgebildet und verbreitet werde. In diesem Sinne geht etwa die Nachrichtenforschung von einem >ereignishaften< Geschehen in einer vorgegebenen Wirklichkeit aus, das die Berichterstattung der Medien bloß widerspiegelt. Im Fokus dieser Forschungsrichtung stehen dann entsprechend Kriterien der Nachrichtenauswahl und Fragen nach dem Grad ihrer Exaktheit oder Verzerrung. Ein zweites Modell denkt >Ereignis< als zwar prinzipiell vormedial, konzediert jedoch zugleich auch sowohl »die Eigenlogik des Mediums als auch dessen Konstruktionsleistungen«. 16 In diesem Sinne formuliert etwa Mattbias Kepplinger, dass »die Medien« einerseits »keine vorgegebene Ereigniswelt« vorführten, da die von ihnen berichteten Ereignisse »selbst bereits eine Folge der vorangegangenen Berichterstattung« vorstellten, dass sie andererseits aber auch »keine einfachen Abbilder der Ereignisse darstellten, sondern auf komplexe Weise mit ihnen ver14 Vgl. John Fiske: Television Culture, London, New York: Routledge 1987; John Thornton Caldwell: Televisuality. Style, Crisis and Authority in American Television, New Brunswick, New Jersey: Rutgers University Press 1994; Stuart Hall: »Die strukturierte Vermittlung von Ereignissen«, in: ders., Ausgewählte Schriften, Hamburg, Berlin: Argument 1989, S. 126149; John Hartley: Tele-ology. Studies in Television, London, New York: Routledge 1994; Angela Kepp1er: Wirklicher als die Wirklichkeit? Das neue Realitätsprinzip der Fernsehunterhaltung, Frankfurt/Main: Fischer 1994; Georg Ruhrmann: »Ereignis, Nachricht und Rezipient«, in: Klaus Merten/S. J. Schmidt/Siegfried Weisehenberg (Hg.), Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einfiihrung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994; Lorenz Engell: »Das Amedium. Grundbegriffe des Fernsehens in Auflösung: Ereignis und Erwartung«, in: montage/av. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 5/1 (1996), S. 129-153; Götz Großklaus: »Welt-Bilder - Welt-Geschichten: Schrecken und Bannung in Nachrichtentexten des Fernsehens«, in: Julika Griem (Hg.), Bildschirmfiktionen. Interferenzen zwischen Literatur und neuen Medien, Tübingen: Gunter Narr Verlag 1998, S. 165-182; Knut Hickethier: »Narrative Navigationen durchs Weltgeschehen. Erzählstrukturen in Fernsehnachrichten«, in: Klaus Kamps/Miriam Meckel (Hg.), Fernsehnachrichten. Prozesse, Stmkturen, Funktionen, Opladen: Westdeutscher Verlag 1998, S. 185-202. 15 Vgl. Mattbias Thiele: »Ereignis und Normalität. Zur normalistischen Logik medialer und diskursiver Ereignisproduktion im Fernsehen«, in: Fahle/Engeil (Hg.), Philosophie des Fernsehens (wie Anm. 13), S. 121-135, hier S. 123. 16 Mattbias Kepplinger: »Der Ereignisbegriff in der Publizistikwissenschaft«, in: Publizistik 46/2 (2001), S. 117-139, hier S. 117.
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schränkt seien«. 17 Im Anschluss an diese Überlegungen aber schlägt Kepplinger eine Differenzierung in >>genuine, mediatisierte und inszenierte Ereignisse« vor, wobei »genuine Ereignisse« solche Geschehnisse meinen, »die unabhängig von der Berichterstattung geschehen, denen also ein votmedialer Status zukommt.« 18 Mediatisierte Ereignisse wiederum »wären zwar vennutlich auch ohne die zu erwartende Berichterstattung geschehen«, hätten »wegen ihr aber einen mediengerechten Zuschnitt erhalten. « Inszenierte Ereignisse schließlich, so Kepplinger, seien Geschehnisse, »die eigens zum Zweck der Berichterstattung herbeigeführt werden und folglich ohne die Erwartung der Berichterstattung nicht geschehen würden.« 19 Das dritte Modell »denkt das Ereignis nicht mehr als etwas Vormediales. Vielmehr seien den Ereignissen die Medien stets vorgängig.« 20 Medien, so formuliert etwa Jürgen Link, stellten eine unabdingbare Instanz zur Generierung von Ereignissen dar. »Erst die Mediatisierung, Diskursivierung und Visualisierung ermögliche es, Ereignisse als Ereignisse« wahrzunehmen. 21 Damit aber, so argumentiert Siegfried J. Schmidt, »wird der bis heute von vielen noch fast fanatisch beschworene (und wohlgemerkt ontologisch gedeutete) Dualismus von Lebenswirklichkeit und Medienwirklichkeit obsolet. Die Wirklichkeitskonstruktionen jedes Einzelnen als Funktion seiner Mediensozialisationen und Medienumwelten und orientiert durch die Sinngebungsprogramme der Medienkultur, sind längst Teil und nicht etwa das Andere der Medienwirklichkeiten.«22
Wie diese kurze Skizze geschichtstheoretischer und publizistischer Ereignisdebatten deutlich machen sollte, wird sie angetrieben von einem Gegensatz, der sich als problematisch erweisen könnte: die prekäre Alternative von vorgängigem Realgeschehen und nachträglicher historischer bzw. medialer Ereignisdarstellung, die problematische Alternative also von ontologischer Ereignisvorgängigkeit und nachträglicher Ereignisnarration. Die konstruktivistische Kritik des >Ereignisses< könnte hin-
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Ebd. Ebd., S. 126. Ebd. Thiele: »Ereignis und Normalität« (wie Anm. 15), S. 124. Jürgen Link: »Isotope, lsotopien: Versuch über die erste Hälfte von 1986«, in: kultuR-Revolution. zeitschrift ftir angewandte diskurstheorie 13 (Oktober 1986), S. 30-46, hier zusammenfassend zitiert von Thie1e: »Ereignis und Normalität« (wie Anm. 15), S. 125. 22 Siegfried J. Schmidt: »Aufinerksamkeit. Die Währung der Medien«, in: Al eida und Jan Assmann (Hg.), Aufmerksamkeiten. Archäologie der literarischen Kommunikation VII, München: Fink 2001, S. 182-196, hier S. 190. 30
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sichtlich ihrer Einrede gegen den ontologischen Status von >Ereignissen< recht behalten, zugleich aber unrecht haben, wenn sie damit auch das Moment der Unverfügbarkeit, der Widerständigkeit von >Ereignissen< im Verhältnis zu ihrer Erzählung mitverabschiedete. Dass >Ereignisse< keinen prämedialen Status haben, muss nicht heißen, dass sie nur im Raum ihrer medialen ex-post-Erzeugung existieren.
Selektion von Ereignissen In semem Akademievortrag »Die Realität der Massenmedien« äußert Niklas Luhmann einen inzwischen viel zitierten Satz: »Alles, was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt wissen, in der wir leben, wissen wir durch Massenmedien.« 23 Dieser Satz ist in zweierlei Hinsicht bedeutsam: Einmal insofern als er den Massenmedien eine realitätskonstituierende Rolle zuweist. Massenmedien bringen Realität hervor, »nämlich im Sinne dessen, was für sie oder durch sie für andere als Realität erscheint.«24 Zum Zweiten insofern als Massenmedien vor dem Hintergrund eines Überangebots an Information als »Selektionsmaschinen« funktionieren. 25 Hier wird im Übrigen der enge Zusammenhang zwischen Informationsselektion und Realitätskonstitution sichtbar. Massenmedien stellen gleichsam eine »Aufmerksamkeitstechnologie« zur Verfügung, »die dafür sorgt, dass in Gegenrichtung zum Infonnationsfluß Aufmerksamkeit >fließtKampf um Aufmerksamkeit< immer mehr in das Zentrum gesellschaftlicher Diskurse. Wenn »Aufmerksamkeit geradezu als Auswahlverfahren für das beschrieben werden [kann], was ins Bewusstsein gelangt und was nicht«, werden Instanzen immer zentraler, die über die Selektion von aufmerksamkeitsfähiger Information entscheiden. 27 >Aufmerksamkeit< scheint tatsächlich zur zentralen Wälmmg des Mediensys23 Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. Vorträge(= NordrheinWestfälische Akademie der Wissenschaften: Geisteswissenschaften 333), Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 9. 24 Ebd., S. 8. 25 Ludwig Jäger: »Sprache als Medium der politischen Kommunikation. Anmerkungen zur Transkriptivität kultureller und politischer Semantik«, in: Ute Frevert!Wolfgang Braungart (Hg.), Medien und Medialität des Politischen, Bielefeld: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, S. 332-355, hier S. 351 f. 26 Aleida Assmann: »Einleitung«, in: Aleida und Jan Assmann (Hg.), Aufmerksamkeiten (wie Anm. 22), S. 11-23, hier S. 12. Assmann referiert hier auf Frank Kermode: Forms of Attention, Chicago, London : University of Chicago Press 1985. 27 Schmidt: »Aufmerksamkeit« (wie Anm. 22), S. 187.
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tems geworden zu sein. 28 Es sind insbesondere die Massenmedien, die als Instanzen, als Auswahlverfahren von >Aufmerksamkeit< fungieren, wobei sie auf systemspezifische Darstellungs- und »Aufmerksamkeitsregeln«29 zurückgreifen. Für unseren Zusammenhang ist dabei insbesondere von Bedeutung, dass diese Regeln einen Prozess organisieren, in dem Ereignisse zentral ins Spiel kommen. Aufmerksamkeitsselektion in den Massenmedien besteht nämlich wesentlich darin, aus der Geschehensressource sozialer >Realität< >EreignisseRhetorizität von Ereignissen< scheint eben darin zu bestehen, dass sie sich medialen Prozessen verdanken, in denen sie dadurch konstituiert werden, dass sie selegiert werden. Erst Ereignishaftigkeit verleiht Sachverhalten Nachrichtenwert und damit das Eintrittsbillett in die realitätskonstitutive Symbolmaschine der Massenmedien.
Kommunikation von Ereignissen In der antiken Rhetorik und ihrer Tradition bis in die Frühe Neuzeit spielten >Ereignisse< ihre strategische Rolle im Rahmen einer argumentativen Welt, die den Erfolg ihrer Kommunikationen auf die glückliche Wahl exemplarischer >loci< aus einem »Reservoir passender Gedanken« stützen konnte. 31 >Ereignisse< waren also präkonstituierte Modelle gelungener Problemlösungen, die auf neue Fälle nur strategisch geschickt angewandt werden mussten. In Kontexten moderner Informations- und Mediengesellschaften haben sie diese Funktion weitgehend verloren. Mit 28 Vgl. auch Georg Franck: Ökonomie der Aufinerksamkeit, München: Carl Hanser Verlag 1998. 29 Zum Begriff der >Aufmerksamkeitsregel< vgl. Niklas Luhmann: »Öffentliche Meinung«, in: Politische Vierteljahresschrift 1111 (1970), S. 2-28. 30 Thomas Meyer: Mediokratie. Die Kolonisierung der Politik durch die Medien, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001 , S. 47. 31 Vgl. Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 202.
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dem Niedergang des Topos der >historia magistra vitae< 32 können >Ereignisse< ihren Status belehrender -und ihrer jeweiligen Erzählung vorausgehender - Geschichten nicht aufrechterhalten. Sie sind nicht mehr eingebunden in einen Konsensus, der festlegt, was >wirklich< ist; für sie gilt nicht mehr die aristotelische Maxime »wovon alle überzeugt sind, das nennen wir wirklich.« 33 Die medialen Systeme rezenter Informationsgesellschaften können nicht mehr, wie das System antiker Rhetorik, auf eine prämediale Ereigniswelt zurückgreifen. >Ereignisse< werden vielmehr in ihrer Realität in vielfältig konkulTierenden Formen der Welterzeugung und mit immer kürzeren Halbwertszeiten generiert, transfonniert, delegitimiert und aufs Neue konstituiert. Dabei kann das Darstellungssystem der Massenmedien auf keine prämediale Welt des Darzustellenden zurückgreifen, es trifft vielmehr immer schon auf einen Überfluss symbolisch konstituierter Ereignisfragmente, die der mediale Aufmerksamkeitsapparat kurzfristig an die Oberfläche der Sichtbarkeit befördert, von der sie wieder in das Archiv vergessener Gegenwarten absinken. >Ereignisse< sind >Ereignisse< nur insofern und so lange sie kommuniziert werden, nur insofern und so lange sie die Aufmerksamkeitsschwelle überspringen. Sie sind das Ergebnis einer aufmerksamkeitsinduzierten Selektion und in ihrer Fortdauer an die Zuwendung des Aufmerksamkeitsstrahls gebunden. Die Rede von der >Rhetorizität von Ereignissen< beleiht daher nicht mehr das klassische Modell der antiken Rhetorik, sie weist vielmehr darauf hin, dass >Ereignisse< eine neue Rolle im Prozess kultureller Kommunikation einnehmen. >Ereignisse< gehen diesem nicht voraus, sondern werden in ihm allererst erzeugt. D.h., sie werden durch Selektion konstituiert und als Konstituierte so lange kommuniziert, bis das >Regime der Aufmerksamkeit< sich von ihnen abwendet. Gleichwohl sind sie nicht nur abhängig von dem medialen System, das sie generiert. Sobald sie nämlich selegiert und konstituiert sind, entfalten sie ein Eigenleben, das es ihnen auch nach dem Verschwinden aus dem Fokus der Sichtbarkeit erlaubt, im Lichte konkurrierender Aufmerksamkeiten wieder aufzuleben. Die Massenmedien erzeugen, wie Luhmann feststellt, »zwar die Realität, aber nicht eine konsenspflichtige Realität«. 34
32 Vgl. Reinhart Koselleck: »Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte«, in: ders., Vergangene Zukunft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, S. 38-66. 33 Aristote1es, hier zitiert nach Hans Blumenberg: »Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik«, in: ders. (Hg.), Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt!Main: Suhrkamp 2001, S. 410. 34 Luhmann: Realität der Massenmedien (wie Anm. 23), S. 71.
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PUBLIZISTISCHE FALLGESCHICHTEN CHRISTINA BARTZ US-amerikanische Nachrichtenmagazine wie Newsweek, Time oder US News & World Report enthalten, laut einer Studie von 1999, in 93 Prozent aller Beiträge Fallbeispiele. Ähnlich verhält es sich in aktuellen deutschen Fernsehmagazinen - so eine Beobachtung von Gregor Daschmann, dessen Studie eine der wenigen ausführlichen Untersuchungen zum Thema der Verwendung und Wirkung von Fallbeispielen in der heutigen öffentlichen Berichterstattung bietet. 1 Fallbeispiele gehören demnach zu einem der zentralen Stilmittel journalistischen Schaffens und begegnen dem Rezipienten publizistischer Kommunikationsfonneu permanent. Als bloßer Befund ist dies jedoch wenig aussagekräftig; es bedarf einer klaren Konturierung des untersuchten Gegenstandes, da Fallbeispiele durch einen Beobachter konstruierte Entitäten darstellen. Die Beschreibung der häufigen Verwendung von Fallbeispielen in Nachrichten beruht auf deren Bestimmung als stilistisches und rhetorisches Mittel, das im Kontext einer einzelnen Nachricht im Sinne eines pars pro toto funktioniert. Die Darstellung des Einzelfalls, so Daschmann, erscheine nicht isoVgl. Gregor Daschmann: Der Einfluß von Fallbeispielen auf Leserurteile. Experimentelle Untersuchungen zur Medienwirkung, Konstanz: UVK 200 I, S. 63. Es gibt eine Reihe von Untersuchungen, die sich entweder mit dem wissenschaftlichen und literarischen Komplex des Falls bzw. der Fallgeschichte befassen oder das rhetorische Prinzip des Beispiels untersuchen. Dies geschieht häufig unter historischer Perspektive und fokussiert bezüglich der Fallgeschichte in der Regel das 18. Jahrhundert oder die Psychoanalyse. Geht es um die heutige Verwendung von Fallgeschichten, so wird zumeist ihre Funktion als praxisnahes Lehrmaterial im Unterricht betont. Für den publizistischen Bereich gibt es nur wenige Studien. Neben Daschmanns Untersuchung sind v.a. hervorzuheben: Dolf Zillmann/HansBemd Brosius: Exemplification in Communication. The lnfluence of Case Reports on the Perception of lssues, London: Erlbaum 2000; Hans-Bemd Brosius: Alltagsrationalität in der Nachrichtenrezeption: ein Modell zur Wahrnehmung und Verarbeitung von Nachrichteninhalten, Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 238-299. Sowohl Brosius als auch Daschmann verfolgen eine kognitions- bzw. sozialpsychologische Wirkungsfrage, die jedoch im weiteren Verlauf des vorliegenden Textes nicht interessieren wird. 35
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liert von einem Gesamtzusammenhang, auf den sie verweisen soll. Stattdessen veranschauliche sie diesen Einzelfall, indem er exemplarisch für eine Vielzahl ähnlicher Fälle stehe, die in ihrer Gesamtheit eine eigene generelle Überlegung ergäben. Gehe es also z.B. in der Berichterstattung um die steigende Anzahl computerspielsüchtiger Jugendlicher oder die Warnung vor den Sucht erzeugenden Effekten von Ego-Shootern, so werde dies an der Schilderung eines konkreten Krankheitsverlaufs und dessen Todesfolgen vor Augen geführt? Ein Beispiel, so Daschmann weiter, »beschreibt das Einzelfallphänomen und impliziert gleichzeitig, dass es auch weitere Fälle beschreibe. Es unterstellt, dass ein präsentierter Einzelfall nicht einzigartig, sondern typisch sei. Ein Beispiel ist somit eine über den Einzelfall hinausgehende Aussage.«3 Dem Fallbeispiel schreibt Daschmann also eine Stellvertreterfunktion für eine Reihe ähnlicher Geschehnisse zu. Diese Funktion sei dem Einzelfall aber keineswegs immanent. Es sei der Kommunikator, der den Fall entsprechend instrumentalisiere. Dieser weise ihn als gleichsam repräsentativ und illustrierend für die Gesamtnachricht aus. Daher unterscheidet Daschmann zwischen Einzelfall als singulärem Ereignisphänomen, dem kein »Erkenntniswert«4 zukomme, und dem Fallbeispiel als Instrument der Veranschaulichung eines generellen oder auch quantitativen Befundes. Das heißt, das Fallbeispiel verweist auf eine allgemeine Aussage. Dies unterscheidet es von Einzelfalldarstellungen, also beispielsweise der Berichterstattung über einen Computerspielsüchtigen oder jugendlichen Toten, der in seiner Singularität belassen wird und eben nicht die Anzahl der weiteren Suchtopfer nennt oder den grundsätzlichen Effekt von Ego-Shootern thematisiert. 5 Mit dieser Definition hebt Daschmann auf spezifische Funktionen des rhetorischen Mittels >Exemplum< ab. 6 Zugleich jedoch schließt erzum Zweck der Konturierung seines Forschungsgegenstandes - andere Funktionen aus. 7 So hat er kein Interesse an der Wissen generierenden Dieses Beispiel ist dem Artikel »Südkoreaner stirbt nach 50 Stunden Computerspiel«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom I0.5.2005 entnommen. 3 Daschmann: Der Einfluß von Fallbeispielen (wie Anm. I), S. 56. 4 Ebd., S. 48. 5 Vgl. ebd., S. 82. Daschmanns Definition wurde hier etwas verkürzt wiedergegeben. Vgl. zum Gesamtkomplex Fallbeispiel ebd., S. 47-87. Hier findet sich auch eine Auseinandersetzung mit dem Begriff des Fallbeispiels aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht und der Hinweis darauf, dass im Kontext der Kommunikationswissenschaft das Prinzip des Fallbeispiels, wie Daschmann es fasst, auch unter anderen Begriffen verhandelt wird. 6 Vgl. ebd., S. 56. 7 Vgl. z.B. allgemein Josef Klein: »Exemplum«, in: GertUeding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik 3, Darmstadt WBG 1996, Sp. 60-70. 2
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Leistung des Exemplarischen, die sich auch im Begriff des Falls bzw. casus andeutet, der den ersten Bestandteil des von Daschmann verwendeten Kompositums ausmacht und hier nun im Folgenden fokussiert wird. Das rhetorische Mittel des Exemplums und der Fall als Bestandteil eines wissenschaftlichen Verfahrens dienen nicht allein der Veranschaulichung und Konkretisierung einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit, sondern es können auch induktiv aus einem oder mehreren Einzelfallen allgemeine Aussagen abstrahiert werden, die dann deduktiv wieder aufweitere Fälle anzuwenden sind. 8 Beide - Exemplum und Fall - unterhalten also ein Verhältnis zur Regel, das sich in beide Richtungen herstellen kann. Im Besonderen der Fall, gerrauer die Fallgeschichte, dient in der Rechtsprechung und Medizin der Generierung von Wissen. 9 Der einzelne Fall wird generalisiert, und auf diesem Wege werden allgemeine Gesetzmäßigkeiteil formuliert. Dabei bleibt jedoch zu fragen, wie dann der Fall zum Fall wird. Wie wird er als beispielhaft ausgewiesen, w enn die Regel noch nicht gefunden ist? Seine Exemplarität - so die Antwort - erhält er dadurch, dass er das bestehende juristische bzw. medizinische Wissen herausfordert. Das bekannte Regelsystem ist nicht anwendbar und diese Irritation wird in Fonn der Schaffung neuer adäquater Regeln verarbeitet. 10 Die generelle Aussage ist dem Fall also nachgeordnet und stellt sich, wie Nicolas Pethes in seinen Ausführungen zur Fallgeschichte im 18. Jahrhundert herausarbeitet, erst im Verlauf der Schilderung her. Im Zuge der detailgenauen Darstellung der Umstände und des Hergangs der Geschehnisse entfalten sich Kausalitätsverhältnisse, die zur Generalisierung und Anwendung aufweitere Fälle freigegeben sind. 11 8
Vgl. ebd., Sp. 63; Johanna Bleker/R. Hauser/Fr. 0. Wolf: »Kasuistik«, in: Joachim Ritter/ Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie 4, Darmstadt WBG 1976, Sp. 703-707, hier Sp. 703 und 707. 9 Vgl. Stefan Willer: »Fallgeschichte«, in: Bettina von Jagow/Florian Steger (Hg.), Literatur und Medizin. Ein Lexikon, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, Sp. 231-235, hier Sp. 231; vgl. auch Joachim Linder/Jörg Schönert: »Literarische Verständigung über >Kriminalität< in der deutschen Literatur 1850-1880. Vermittelnde Medien, leitende Normen, exemplarische Fälle«, in: Jörg Schönert (Hg.), Literatur und Kriminalität: Die gesellschaftliche Erfahrung von Verbrechen und Strafverfolgung als Gegenstand des Erzählens. Deutschland, England und Frankreich 1850 - 1880. Interdisziplinäres Kolloquium der Forschergruppe Sozialgeschichte der Deutschen Literatur 1770-1900, München 15./16. Januar 1981 , Tübingen: Niemeyer 1993, S. 184-238, hier S. 194-199. 10 Vgl. Bleker!Hauser/Wolf: »Kasuistik« (wie Anm. 8), Sp. 705f. 11 Vgl. Nicolas Pethes: »Vom Einzelfall zur Menschheit. Die Fallgeschichte als Medium der Wissenspopularisierung zwischen Recht, Medizin und Literatur«, in: Gereon Blaseio/Hedwig Pompe/Jens Ruchatz (Hg.), Popularisierung und Popularität. Köln: DuMont 2005, S. 63-92, hier S. 75. 37
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Diese Fonn und Funktion kommt den Fallgeschichten nicht allein in den Wissenschaften zu. Seit Beginn der Ausdifferenzierung der Fachdisziplinen im 18. Jahrhundert unterhalten die Fallgeschichten eine enge Beziehung zur Publizistik, insofern sie bereits zu dieser Zeit als populäres und Wissen popularisierendes Genre eingesetzt werden. Fallgeschichten präsentieren spektakuläre Vorfälle, die sie mit einem Narrativ versehen, dessen Mittelpunkt ein Individuum und sein Lebenslauf bilden. Zu Beginn steht besagter Vorfall, eine Störung, wodurch eine Ursachensuche - die Beobachtung des Individuums, seiner Lebensumstände und seiner Vergangenheit- initiiert wird. Signifikante Lebensabschnitte werden so angeordnet, dass sie final auf den geschilderten Vorfall bzw. die anfangliehe Störung zulaufen. Durch dieses Verfahren sollen Kausalitäten offengelegt werden. Die Spektakularität der Schildenmg dient der Affizierung der Leser der Fallgeschichte, die sie zugleich als modellhaft erkennen sollen. 12 Der Fall ist demnach musterhaft fur eine Generalisierung, die allerdings allein durch ihn in Erscheinung tritt. Die »Fallgeschichte bildet also nicht bereits bestehendes Wissen ab, sondern stattet noch zu gewinnendes Wissen mit Anschauungsmaterial aus. Um dieses neue Wissen aber herausbilden zu können, ist es nötig, die Beobachtung am einzelnen Fall über dessen Grenzen anzuwenden und das heißt: sie zu generalisieren.« 13 Der Fokus auf diese Qualität des Falls bedeutet eine Problematisierung von Daschmanns Unterscheidung zwischen Einzelfall und FallbeispieL Diese Differenzierung stellt sich nicht eindeutig her, weil der Gesamtzusammenhang, auf den nach Daschmann das Beispiel verweist, nicht von vorneherein bekannt ist. Grundsätzlich kann so jeder publizistische Bericht über einen singulären Vorfall als Fallbeispiel erscheinen, indem nachträglich eine Generalisierung aus ihm abgeleitet wird. Man hat es dann in der Berichterstattung mit einer Vielzahl von singulären Nachrichten zu tun, von denen einige den Auftakt ftir die Formulienmg allgemeiner Aussagen bilden. Die publizistische Beobachtung des Todes eines Jugendlichen, der übermäßig viel Zeit an seinem Computer verbrachte, wird angereichert mit generellen Überlegungen zum kausalen Zusammenhang zwischen Ego-Sbootern und Suchtverhalten, sowie mit statistischem Material. So berichtet der Fernsehsender GIGA auf seiner Hornepage von zwei Suchtopfern des Spiels World of Warcraft, die infolge ihres unkoutrollierten Spieleus und einer damit einhergehenden Erschöpfung sterben. Diese Meldung enthält zwar keine statistischen Belege über den allgemeinen Zusammenhang von Computerspielen, Sucht-
12 Vgl. ebd., S. 69-72. 13 Ebd., S. 72.
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verhalten und Sterberaten, aber grundsätzlich werden Suchterscheinungen als mögliche Folge von World of Wareraft behauptet. 14 Dabei ist entscheidend, dass der Gesamtbefund - die quantitative oder generelle Aussage, die mit einem Fall verbunden wird - dem Fall nachträglich ist: Erst mit dem Bekanntwerden der Todesopfer werden die Kausalzusammenhänge formuliert und als generalisierbar ausgestellt. Es wird von einem Einzelfall berichtet, der in einer oder auch mehreren Generalisierungen münden kann, die dann zur Erläuterung weiterer Fälle dienen. Zwei Aspekte sind bei dieser Refonnulierung von Daschmanns Bestimmung des Fallbeispiels - genauer: bei der verstärkten Fokussierung auf den Aspekt des Falls und der Fallgeschichte - hervorzuheben. Zunächst einmal folgen die Nachrichten in Presse, Fernsehen etc. dem Gebot der Aktualität und orientieren sich daher an den Eigenschaften Überraschung und Neuheit, da sich diese durch den Aspekt der Information auszeichnen. Damit geht einher, dass die Berichterstattung anlassbezogen ist. 15 Daschmann wählt dabei Meldungen solcher Anlässe, die selbst schon generelle, abstrakte oder summarische Aussagen enthalten - also z.B. Wahlprognosen, Umfrageergebnisse oder bürokratische Innovationen - und die dem Rezipienten mit Fallbeispielen wie der Schilderung der Betroffenheit einzelner Personen nahe gebracht werden. Er schließt aus seiner Untersuchung damit solche Nachrichten aus, die die Fonn einer Fallgeschichte aufweisen. Personenzentrierte Geschehnisse wie das erwähnte Beispiel des Todes computerspielender Schüler, die auch eine Erläuterung der jeweiligen Lebensumstände beinhalten können, werden nicht berücksichtigt. Hier kommen aber die Erzählform der Fallgeschichte und ihr Potential zur Entfaltung eines induktiven Verfahrens zum Tragen. Es geht um die Darstellung eines Vorfalls und der damit zusammenhängenden, konkreten Lebensumstände eines Einzelnen, die aber auf 14 Vgl. World of Wareraft fordert Todesopfer - 2 Jugendliche gestorben, unter http://www .giga.de!index.php?storyid= 127586 vom 17.1.2006; Spielsucht und ihre Folgen - Interview mit einem Süchtigen, unter http://www.giga.de/index.php?storyid= 127515 vom 17 .1.2006. Zwei Wochen nach den Berichten über den Tod der Spieler publiziert eine Vielzahl deutscher Tageszeitungen die Ergebnisse einer Studie der Charite, die die Suchterzeugung von Spielen nachweist. Vgl. z.B. »Droge Computer«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.11.2005; Elke Brüser: »Aus Spaß wird Sucht«, in: Süddeutsche Zeitung vom 15.11.2005; Thorkit Treichel: »Computer sind wie Schnaps«, in: Berliner Zeitung vom 11 .11.2005, unter http://www.berlineronline.de vom 23.11.2005. 15 Vgl. Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 36-58 und 68; sowie Klaus Merten: Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Bd. 1. Grundlagen der Kommunikationswissenschaft, Münster, Hamburg, London: LIT 1999, S. 152. 39
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Verallgemeinerbarkeit hin angelegt sind und die das Aufrufen von sowie den Abgleich mit statistischen Werten provozieren. Zweitens wird die Fallgeschichte nicht zwingend im Rahmen einer Nachricht - also einem einzelnen publizistischen Bericht - entwickelt. Viel eher geschieht die nachträgliche Generalisierung im Zuge einer kontinuierlichen Berichterstattung, die Ursachen und Umstände des gemeldeten Ereignisses mit einbezieht. Nach und nach werden bis dato unbekannte Details des Geschehens erörtert und so die Schilderung in eine Fallgeschichte umgeformt, d.h. in eine Art von Protokoll mit narrativem Schema. Laut Pethes enthalten die fallgeschichtlichen Protokolle der Wissenschaft personenzentrierte Beschreibungen, die zumeist durch einen Störfall initiiert werden. Die Feststellung eines krankhaften Symptoms oder die Ausübung einer kriminellen Handlung bietet den Anlass für die Beobachtung, aus der sich die Fallgeschichte ergibt. Verhaltensweisen, Reaktionen und Gewohnheiten des Beobachteten werden dokumentiert und Geschehensabläufe rekonstruiert. Dabei wird eine finalisti sche Kausalitätskette aufgebaut, die zu dem bemerkenswerten Ereignis führt, das den Anlass für das Erzählen der Lebensgeschichte bildet. 16 Dieser Komplex stellt sich nun aber im publizistischen Bereich nicht unbedingt in einem einzelnen Text, sondern in der kontinuierlichen Berichterstattung her. Insofern handelt es sich bei solchen Fällen auch nicht um ein Instrument, das der Intention eines Kommunikators unterworfen ist, wie bei Daschmanns FallbeispieL Stattdessen vollzieht sich die Generalisierung aus dem Einzelfall als gesellschaftlicher Prozess des kommunikativen Aushandelns, der sich maßgeblich in der Berichterstattung vollzieht.17 Hier werden mögliche Ursachen für das Ereignis erörtert. Es werden solche lebensgeschichtlichen Abschnitte und charakterlichen Eigenschaften thematisiert, die das berichtete Geschehnis bewirkt haben können. Potentielle Kausalketten werden durchgespielt, was beinhaltet, dass sich auch widerstreitende Überlegungen finden. Die Fallgeschichte zeichnet sich, wie Gerd Rudolf für ihre wissenschaftliche Verwendung feststellt, gerade dadurch aus, dass sie kontroverse Interpretationen initiiert. 18
16 Vgl. Pethes: »Vom Einzelfall zur Menschheit« (wie Anm. 11 ), S. 77-86. 17 Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 1096-1109. 18 Vgl. Gerd Rudolf: »Aufbau und Funktion von Fallgeschichten im Wandel der Zeit«, in: Ulrich Stuhr/Friedrich-W. Deneke (Hg.), Die Fallgeschichte. Beiträge zu ihrer Bedeutung als Forschungsinstrument, Heidelberg: Asangen 1993, S. 17-42, hier S. 27. Vgl. zur kulturellen Leistung von Kausalität Nildas Luhmann: »Kausalität im Süden«, in: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie 1 (1995), S. 7-28.
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PUBLIZISTISCHE FALLGESCHICHTEN
Das beinhaltet zudem, dass es nicht nur zur Etablienmg neuer allgemeingültiger Aussagen kommt, sondern zugleich bereits bekannte Regeln angewandt werden - also Wissen, das sich bei anderen und ähnlichen Fällen als erklärungsrelevant erwiesen hat. Dessen ungeachtet handelt es sich bei der Meldung nicht um eine einfache Veranschaulichung und Konkretisierung einer generellen Überlegung, weil die öffentliche Berichterstattung eine Meldung u.a. als neu und das heißt als irrfonnativ ausweist. Definitorisches Merkmal jeder Nachricht ist ihre Information, und damit sind ihr Irritation und Überraschung wesentlich. 19 Entscheidend ist also, dass es im Zuge der Nachrichtenproduktion zu einem (personenzentrietten) Geschehnis zur Ableitung und Fonnulierung allgemeiner Regeln kommt, die als informativ beobachtet werden - gleichgültig, ob sie bereits bei anderen Fällen zur Anwendung gekommen sind. Mit anderen Worten: In der kontinuierlichen Berichterstattung zu einem Ereignis werden sowohl Fallgeschichten als auch daraus abgeleitete Generalisierungen vorgestellt. Diese Generalisierungen erscheinen als Erkenntnis, die anhand des Falls gewonnen werden. Andernfalls wären sie nicht informativ. Das so gewonnene Wissen steht damit für weitere Beobachtung frei. Es können weitere, ähnliche Fälle gefunden werden, auf die sich die Regel anwenden lässt. Dabei muss es sich nicht zwingend um zukünftige Ereignisse handeln, ebenso kann die gewonnene Regel als relevant für vergangene Vorkommnisse angesehen werden. Oder es werden Fälle gefunden, deren Ähnlichkeit mit dem >ersten< Fall zunächst nicht nachvollziehbar ist, wie Hans Mattbias Kepplinger und Uwe Hartung zeigen. Laut Kepplingers und Hartungs Studie Störfall-Pieher neigt die Berichterstattung zur Serienbildung, also der Reihung einer Vielzahl von mehr oder weniger ähnlichen Fällen anlässlich eines sogenannten Schlüsselereignisses. Zu Beginn einer Serie steht besagtes Schlüsselereignis, das »ein Geschehen in einem neuen Licht« zeigt. Solche Vorfälle, so die Autoren weiter, »strukturieren in zweifacher Weise die Wahmehmung und Interpretation des nachfolgenden Geschehens. Ähnliche Ereignisse werden erstens assimiliert sie erscheinen ähnlicher als sie eigentlich sind. Sie werden zweitens stärker beachtet als Vorfälle ohne vorangegangenes Schlüsselereignis. Schlüsselereignisse sind nicht der NormalfalL Sie stellen Sonderfalle dar. Unter dem Eindruck von Schlüsselereignissen gewinnen jedoch Normalfälle selbst den Charakter
19 Vgl. Luhmann: Die Realität der Massenmedien (wie Anm. 15), S. 58f. 41
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von Ausnahmefällen. Dies vermittelt den irreführenden Eindruck, daß sich die Ausnahmefälle häufen- ohne daß dies der Fall sein muß.«20
Das Schlüsselereignis und sein Verlaufbieten so nicht nur ein Muster für die Berichterstattung weiterer Fälle, sondern seine Exemplarität wird auf diese Weise erst unterstellt. Ein Aspekt, der für Kepplingers und Hartungs >Störfalle< weniger relevant ist, aber für Narrative, die ein einzelnes Individuum fokussieren, zentral wird, ist die Musterhaftigkeit der Darstellung in Bezug auf den Leser: Es geht nicht allein darum, dass durch eine Fallschilderung weitere Fälle als ähnlich erkannt werden. Maßgeblich ist auch, dass der Leser der Berichte sich selbst als Fall konzipieren kann. In Anwendung auf die Berichte über die Todesfolgen des Computerspielens heißt das: Inwiefern erkennt sich der Rezipient der Artikel selbst als computersüchtig oder zumindest als suchtgefährdet; inwiefern kann er sein eigenes Verhalten dazu in Relation setzten? Der Leser versteht den Artikel als Appell, denn er meint sich aufgefordert, sich und seinen Spielkonsum einer Beobachtung zu unterziehen, die Ähnlichkeiten und Differenzen zum geschilderten Fall kenntlich macht. Im Zuge dieser Selbstbeobachtung wird es dem Rezipienten möglich einzuschätzen, ob das spektakuläre Geschehnis, das den Auftakt der Berichterstattung bildete, auch ihn treffen kann, d.h. konkret, ob auch er dem Suchttod nahe ist. Denn angesprochen ist, wie Pethes in Bezug auf die Fallgeschichten des 18. Jahrhunderts formuliert, »ein Leser, der nicht länger auf der sicheren Seite des Beobachters ist, sondern vielmehr potentiell mit den beobachteten Fällen zusammenfallt.«21 Er ist gleichermaßen von der im Einzelfall repräsentierten Gefahr bedroht, wenn er sie nicht durch eine entsprechende Kontrolle seines Verhaltens von sich abwendet. Es liegt an ihm, für sich Ähnliches zu verhindern, indem er den Verlauf des Falls nicht imitiert- also weniger spielt, andere Spiele wählt etc. Eine solche Übertragung der fallgeschichtlichen Involvierung des Lesers des 18. Jahrhunderts auf die heutige Publizistik darf nicht die Unterschiede beider vergessen. Eine solche »emphatische Adressierung«, 22 wie Pethes sie für die früheren Fallgeschichten beschreibt, entspricht kaum der Praxis der Massenmedien unserer Zeit, die keinen erbaulichen 20 Hans Matthias Kepplinger/Uwe Hartung: Störfall-Fieber. Wie ein Unfall zum Schlüsselereignis einer Unfallserie wird, Freiburg (Br.), München: Alher 1995, S. 21f. Vgl. zu einem ähnlichen Befund Luhmann: Die Realität der Massenmedien (wie Anm. 15), S. 68; sowie Hans-Bernd Brosius/Carsten Breineker/ Frank Esser: »Der >lmmermehrismuserkenntnormalen Daddler< zu einem isolierten und verwahrlosten >WoW-Süchtigen< wird und >wie es dazu kommen konntetatsächliche< außerirdische Invasion gehalten.1 Drei Wochen später verschickt der Princetoner Psychologe Hadley Cantril einen Brief mit einem vierseitigen Anhangtext »Proposed Study of >Mass Hysteria«experimentelle Manipulation< nutzen, die er nicht als Versuchsleiter im Labor vornehmen muss, sondern die das Ereignis >Massenpanik< bietet, indem es erlaubt, das Medium Radio als kontrollierten Stimulus exemplarisch zu beobachten: »Such examples of >mass hysteria< are only infrequently available for scientific study.« 3 Der Radioforscher plant - einem experimentellen Setting entsprechend-, die Hörer in zwei Gruppen zu unterteilen: »(a) individuals who
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Vgl. etwa den viel zitierten Artikel: »Radio Listeners in Panic, Taking War Drama as Fact«, in: The New York Times vom 31.10.1938, abrufbar unter: http://www. war-of-the-worlds.org/Radio/N ewspapers/Oct31 /NYT. html vom 18.7.2006. Hadley Cantril an Robert T. Havighurst, am 21.11.1938, Folder 3723, box 361, series 918, General Education Board. RAC (= Rockefeiler Archive Center). Hadley Cantril: »Proposed Study of >Mass Hysteria«test groupcontrol< group who heard the broadcast under the same conditions«,4 ohne panisch reagiert zu haben. Mittels Interviews und anband von Fallbeispielen soll dann herausgefunden werden, auf welche Hörertypen das Hörspiel aufgrund welcher Begleitumstände solch eine außergewöhnliche Wirkung hatte. Das General Education Board sieht in dieser Untersuchung und ihren Ergebnissen eine Gelegenheit, in Erfahrung zu bringen, wie das Radiopublikum künftig zu angemesseneren Reaktionen erzogen werden kann, und beschließt eine Woche später, Cantril mit finanziellen Mitteln zu versorgen: »To make possible an objective inquiry into public reactions to the recent Orson Welles broadcast of the War of the Worlds so that this infonnation may be available to educators and social psychologists.«5 Trotz dieser relativ schnellen Entscheidung weist Cantril später in der publizierten Studie Invasion from Mars auf ein »regrettable delay« hin, das sich u.a. ergeben habe, weil die finanziellen Mittel nicht rechtzeitig zur Verfügung standen. 6 Offenbar befürchtet Cantril, die quasiexperimentelle Eigenschaft des flüchtigen Ereignisses nicht vollständig ausgeschöpft zu haben, »before the effects of the crises are over and memories are blurred.« 7 Nicht nur Cantril hat sich darum bemüht, Situationen für sozialwissenschaftliche Feldbeobachtungen nutzbar zu machen, »in which the event itself constitutes a quasi-experimental manipulation«. 8 Mitte der 1970er Jahre gibt ein Forscherteam, bestehend aus Sidney Kraus, Dennis Davis, Gladys Engel Lang und Kurt Lang, solchen Unternehmungen einen Namen: critical events analysis. In der Forschungsprogrammatik, die in dieser Namensgebung impliziert ist, hat das Zeitproblem, mit dem Cantril hadert, einen zentralen Stellenwert: Bisher durchgeführte Studien, so die Kritik der Ereignis-Analytiker, hätten ihre Daten erst nachträglich erhoben, wodurch sich zwei Zeitebenen ergäben: »when the event occurred and when the research response to the event began.«9 Im Idealfall hätte die Erhebung von öffentlichen Reaktionen aber »as close to the event in point of time as possible« einzusetzen. Die Forschung sollte auf das Er4 5 6 7 8
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Ebd., S. 2. Grant-in-aid »General Education«, Folder 3723, box 361 , series 918, General Education Board, S. 1. RAC. Hadley Cantril: Invasion from Mars [1940], Princeton, New Jersey: Princeton University Press 1982, S. xiv. Ebd., S. ix. Sideney Kraus u.a: »Critical Event Analysis«, in: Steven H. Chaffee (Hg.), Political Communication. Issues and Strategies for Research, Beverly Hills, London: Sage 1975, S. 195-216, hier S. 201. Ebd., S. 202.
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eignis - egal, ob es geplant oder überraschend auftritt - jederzeit vorbereitet sein: »Just as fire departments are not formed on the spot to deal with particular fires, research capacities can be developed well in advance of events, even totally unexpected events. Categories of variables can be selected, data collection procedures can be planned, and data analyses can be anticipated.«10 Solchen Ratschlägen liegt die Vorstellung zugrunde, das Ereignis könne jenseits seiner medialen Vennittlung beobachtet werden, es gäbe also so etwas wie das >Ereignis an siehe »In the center is the event itself.« 11 Kraus und seine Kollegen zielen letztlich auf eine verbesserte soziologische Analyse des Verhältnisses von Ereignis und gesellschaftlichem Wandel. Mit dem Attribut >critical< grenzen sie die vorgeschlagene Ereignisanalyse gegen Darstellung von Ereignissen in den Nachrichtenmedien ab, die sie überraschenderweise »Commonsense analysis of events« nennen, also auch als eine Form der Analyse bezeichnen. Im Selbstverständnis der Nachrichtenmedien, so Kraus und seine Co-Autoren, läge dieser journalistischen Beobachtung von Ereignissen ein >Überwachungsmodell< zugrunde. Nach diesem Modell sei es die Leistung von Medienberichten, insbesondere über politische Ereignisse, demokratische Grundrechte des informierten Bürgers sicherzustellen. Die kritischen Ereignis-Analytiker halten dies eher für eine Rechtfertigung der Medienindustrie: »To the extent that this model is tenable, these industries provide an important service for our society. But is the model valid?« 12 Das Forscherteam schlägt vor, die Ebene der medialen EreignisVennittlung - also die >Commonsense analysis of events< - in das Analysedesign mit einzubeziehen, um herauszufinden, welche gesellschaftliche Rolle ihr zukommt. Dabei erhofft man sich, als sozialwissenschaftlicher Beobachter zweiter Ordnung mehr zu sehen als die journalistischen Ereignisbeobachter: »[E]vent studies must consider how event reports are stmctured by media professionals to achieve certain desired effects.« 13 Das Bestreben, die Differenz zwischen den beiden Zeitebenen der Ereignisanalyse - Eintreten des Ereignisses und Beginn der Forschung so gering wie möglich zu halten, ist also von der Vorstellung geleitet, dass der Sozialwissenschaftler als erster >vor Ort< sein und unmittelbaren Zugriff auf das Ereignis bekommen muss. Die >critical event analysis< fügt dementsprechend neben den beiden zeitlichen eine räumliche Dimension ein- »the locale of an event«, an dem sich das Forschungsteam so schnell wie möglich versammeln soll: »In some cases, events are not 10 11 12 13
Dieses und das vorangegangene Zitat ebd., S. 211 und 206. Ebd., S. 210. Dieses und das vorangegangene Zitat ebd., S. 197 und 199. Ebd., S. 204.
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localized but our idea is to get as close to the actors as possible in order to obtain information«. 14 Das Forschungsdesign der event analysis sieht dann vier Schritte vor: Am Ort des Ereignisses - so die Hoffnung - kann in einem ersten Schritt genau eruiert werden, was passiert ist und welche Akteure beteiligt sind. Vor Ort können- etwa durch Interviews mit Journalisten- auch die medialen Operationen in den Blick genommen werden. In einem zweiten Schritt soll der kritische Ereignisforscher dann durch telefonische und persönliche Interviews herauszufinden versuchen, wie die Öffentlichkeit das Ereignis wahrgenommen hat, welche Infonnationsquellen dabei zugrunde gelegt wurden und ob das Ereignis Meinungs- oder Einstellungsänderungen verursacht hat. Der dritte Schritt besteht dann in der Sammlung und Auswertung von Ereignisberichten in einflussreichen Zeitungen - nicht nur mit dem Ziel, zu klären, mit welchen Informationen über das Ereignis die Öffentlichkeit versorgt wurde, sondern auch: »To compare >what happened< with media reports of what happened and to identify factual and interpretational discrepancies, including different media versions of the same event.« In einem letzten Schritt sollen dann allgemeinere Informationen zur öffentlichen Meinung gesammelt werden, um die Ereignisanalyse zu kontextualisieren. 15 Was aber, das ist die entscheidende Frage, hofft der EreignisAnalytiker am >vonnedialen< Ort des Ereignisses zu finden? Wie gelingt es ihm herauszufinden, was >wirklich< geschehen ist? Was ist das Ereignis unabhängig von seiner nachträglichen medialen Konstituienmg? Wenn - in der Perspektive des vorliegenden Bandes - davon ausgegangen wird, dass ein Ereignis sich erst in medialen Verfahren der Nachträglichkeif konstituiert, ihm seine Exzeptionalität also erst im Nachhinein zugeschrieben wird, wenn darüber hinaus anzunehmen ist, dass zeitliche Begrenztheit ein Ereignis kennzeichnet, dieses also mehr oder weniger ein »Element ohne Dauer« 16 ist, dann wird fraglich, ob der Ereignis-Analytiker, der >rechtzeitig vor Ort< ist, überhaupt etwas finden kann. Der Ort des Ereignisses, den die critical event analysis so stark macht, lässt sich als >Außerhalb< des medialen Ereignisdiskurses beschreiben - eine Analyse an diesem Ort muss das Ereignis, wie es in diesem Band verstanden wird, notwendigerweise verfehlen. Die Eile wie14 Ebd., S. 210. 15 Vgl. ebd., S. 210-213,Zitat: S. 212. 16 Elena Esposito: »Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden. Gesellschaftliche Voraussetzungen der Mode«, in: Thomas Rathmann (Hg.), Ereignis. Konzeptionen eines Begriffs in Geschichte, Kunst und Literatur, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2003, S. 137-149, hier S. 138. Esposito fügt hinzu: Ein Ereignis sei ein Element, »das im Zeitpunkt seiner Realisierung sofort verschwindet.«
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DAS EREIGNIS ALS SOZIALES EXPERIMENT
derum, mit der sich der Sozialforscher um eine möglichst geringe zeitliche Differenz zum Ereignis bemüht, ist angesichts eines dauerlosen Geschehens möglicherweise immer schon zu spät. Kraus und seine Co-Autoren referieren in ihrem Aufsatz zur critical events analysis neben lnvasionfrom Mars noch eine Reihe weiterer Ereignisstudien, die sich um einen möglichst unmittelbaren Zugriff auf Ereignisse bemühen, um sie als soziale Experimente zu nutzen. Einige dieser Studien seien kurz genannt: 1945 macht sich Bemard Berelson, ein Mitarbeiter des Bureau ofApplied Social Research an der Columbia University, einen Streik von Zeitungslieferanten in New York zunutze, aufgrund dessen die meisten N ew Y orker zwei Wochen lang auf ihre regelmäßige Zeitungslektüre verzichten müssen. Berelson hofft in dieser, von den »normal conditions« unterschiedenen »crisis period« der Mediennutzung mit Hilfe von Interviews psychologische Einsichten in die Frage, »what >missing the newspaper< really means«, zu gewinnen. 17 Zwanzig Jahre später widmet sich ein ganzer Band den öffentlichen Reaktionen auf die Ermordung John F. Kennedys. Nach dem ersten Schock des Ereignisses, so Wilbur Schramm in einem einleitenden Kapitel, hätten die Sozialwissenschaftler erkannt, »that this was a chapter in national history that should be studied, and they set plans in motion to collect information while it was still fresh.« 18 Noch in der Woche nach dem 22. November 1963 beginnen eine landesweite Erhebung und mindestens fünfzehn Studien >vor Ort< Daten zu sammeln. Der von Bradley S. Greenberg und Edwin B. Parker herausgegebene Band verhandelt neben der Medienberichterstattung u.a. die - wie Schramm es beschreibt zwanghafte und kathartische Weise der Fernsehrezeption des Ereignisses, in dem die amerikanische Öffentlichkeit eine »reassertion ofnational norms« 19 gewinnt. In einer Ausgabe von 1969 beschäftigt sich die Zeitschrift Public Opinion Quarterly in einer ganzen Sektion mit dem Thema »The Impact of Events«. H. Lever publiziert in diesem Rahmen eine Studie zu einem Sprengstoffattentat im Bahnhof von Jobarmesburg am 24. Juli 1964, das in der Presse als ein terroristischer Akt der schwarzen gegen die weiße Bevölkerung Südafrikas verhandelt wird. Das Attentat ereignet sich, während Lever gerade eine Befragung innerhalb der weißen Johannesbur17 Bemard Berelson: »What >Missing the Newspaper< Means«, in: Paul F. Lazarsfeld/Frank N. Stanton (Hg.), Communications Research 1948-1 949 [1 949], New York: Amo Press 1979, S. 111-129, hier S. 112f. und 11 6. 18 Wilbur Schramm: »Communication in Crisis«, in: Bradley S. Green-
berg/Edwin B. Parker (Hg.), The Kennedy Assassination and the American Public. Social Communication in Crisis, Stanford, California: Stanford University Press 1965, S. 1-25, hier S. 4. 19 Ebd., S. 24. 49
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ger Einwohnerschaft vornimmt, wodurch es ihm möglich wird, die Variable >Einstellung zu ethnischen Fragen< vor und nach dem Ereignis zu messen. Diesen Versuch, »to assess the effect of an unanticipated event by adjustments to available nonexperimental data«, nennt Lever »conversion experiment«.Z0 Unter den Publikationen, die zeitlich nach und im Sinne des programmatischen Texts zur critical event analysis verfasst worden sind, wäre Gladys Engel und Kurt Langs Buch The Battlefor Public Opinion zu nennen, das Anfang der 1980er Jahre auf das >Medienereignis< Watergate zurückblickt. Allerdings erwähnen die beiden Autoren das Forschungsprogramm der »>ctitical event< research« nur mit einem dankenden Verweis auf Sidney Kraus, während sie ihr eigenes Interesse auf »the effect of mass communication on public opinion« beziehen.Z 1 Auch wenn Denis McQuail noch in der dritten Auflage seines einschlägigen Lehrbuchs Mass Communication Theory den Ansatz der kritischen Ereignisanalyse nennt, 22 hat sich das Programm unter dem von Kraus und seinen Co-Autoren vorgeschlagenen Titel nicht durchgesetzt. 23 Jedoch ist das Forschungspostulat einer Beobachtung von Ereignissenjenseits der medialen Ereigniskonstitution, das Mitte der 70er Jahre entworfen wurde, keineswegs aus der Konununikationsforschung verschwunden. Wenn aktuelle Analysen der publizistischen Funktionsweise von Ereignissen konstatieren, dass die »Realität und ihre Darstellung« zunehmend »ein rückgekoppeltes System« bilden, dann ist die Voraussetzung hierfür die grundsätzliche Annahme einer getrennten Beobachtbarkeit von »der Ebene des Dargestellten und der Ebene der Darstellung.«24
20 H. Lever: »The Johannesburg Station Explosion and Ethnic Attitudes«, in: Public Opinion Quarterly 33 (Summer 1969), S. 180-189, hier S. 183. 21 Gladys Engel Lang/Kurt Lang: The Battle for Public Opinion. The President, the Press, and the Polis During Watergate, New York u.a.: Columbia University Press 1983, S. xivund xi. 22 Vgl. Denis McQuail: Mass Communication Theory, London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage Publications 3 1994, S. 371 f. 23 Anfang der 80er Jahre taucht in der quantitativen Soziologie eine Forschungsmethode auf, die unter ähnlichem Namen verhandelt wird, mit der aber ein ganz anderes Forschungsprogramm verbunden ist. Das zuerst im Bereich der Demographie und der medizinischen Forschung verwendete Verfahren ist unter der Bezeichnung historical event analysis, survival analysis bzw. Ereignisanalyse, Ereignisdatenanalyse oder Verlaufsdatenanalyse bekannt. Vgl. Per Kragh Andersen/Niels Keiding: »Event History Analysis: Applications«, in: Neil J. Smelser/Paul B. Baltes (Hg.), International Encyclopedia of the Social & Behavioral Seiences 7, Amsterdam u.a.: Elsevier 2001, S. 4941-4956. 24 Hans Mathias Kepplinger: »Der Ereignisbegriff in der Publizistikwissenschaft«, in: Publizistik 2/46 (2001), S. 117-139, hier S. 136 und 118. 50
DAS EREIGNIS ALS SOZIALES EXPERIMENT
Wie sich die unvenneidliche Verfehlung des >genuinen Ereignisses< 25 in den quasi-experimentellen Forschungspraktiken manifestiert, verdeutlicht ein erneuter Blick auf Cantrils Analyse der Massenpanik Wenn das Princetoner Forschungsteam im Dezember 1938 endlich mit der Studie beginnen kann, stellt sich die Frage: Wie lässt sich ennitteln, welche Hörer am 30. Oktober panisch reagiert haben, auf welche Weise also kann die >test group< zusammengestellt werden? Gezwungenermaßen greift das Forscherteam hier auf die journalistischen Ereignisberichte zurück. In der Korrespondenz zwischen Cantrils Assistentinnen Hazel Gaudet und Herta Herzog treten die Zeitungen allerdings als wenig verlässliche Infonnanten in Erscheinung: »The newspaper said that several people were treated for shock at St. Michaels Hospital in Newark. I think it might be a good idea to try to get a few names there if possible. I tried six NY hospitals at random and none of them had any record of any cases brought in specifically on account of the broadcast. Another newspaper said that the NY City Department of Health called up to see what they could do to clean up the dying bodies on the streets. Y ou might try to find out who made the call.«26 Diese Versuche, Interviewpartner über Zeitungsberichte ausfindig zu machen, sind erstaunlich, da Cantril selbst in Erwägung zieht, die Massenpanik könnte eine Erfindung von Orson Welles bzw. der Presse sein, um der Nachrichtenflaute am Montagmorgen zu begegnen. 27 Den Verdacht räumt dann die publizierte Studie Invasion jrom Mars wieder aus, indem sie auf eine landesweite Erhebung des American Institute of Public Opinion verweist, die sechs Wochen nach der Sendung durchgeführt wurde. Demnach hätten 12 Prozent der Befragten das Hörspiel gehört, wovon 28 Prozent es für eine Nachtichtensendung gehalten hätten. 70 Prozent der Hörer wiederum, die an einen tatsächlichen Marsangriff geglaubt hätten, seien verängstigt oder verwirrt gewesen. Ergebnis dieser Rechnung ist - folgt man 25 Vgl. ebd., S. 126. 26 Hazel Gaudet an Mrs. Lazarsfeld [= Herta Herzog]: »Ürson Welles study. Memorandum«, vom 15.12.1938, Mappe: Princeton. Invasion from Mars. Lazarsfeld Archiv Wien. Auch hier macht sich das Zeitproblem bemerkbar: »The Newark Ledger ran an essay contest for experiences attendant to hearing the broadcast and received 900 letters about it and threw them away just two weeks ago - ifwe had only started work sooner we could have had them!« Hazel Gaudet an Mrs Lazarsfeld [= Herta Herzog]: »Ürson We11es interviews. Memorandum«, vom 16.12.1938, Mappe: Princeton. Invasion from Mars. Lazarsfeld Archiv Wien. 27 Vgl. Cantril: Proposed Study of»Mass Hysteria« (wie Anm. 3), S. 2; »Üutline for We11es Study«, Mappe: Princeton. Invasion from Mars, S. 1-5, hier S. 2. Lazarsfeld-Archiv Wien.
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dem Postulat, die Befragung sei repräsentativ - eine nicht gerade erschreckend große Zahl von 2,35 Prozent der Bevölkerung, die Cantril sich, indem er behauptet, nicht alle hätten ihre Angst zugegeben, zu 5 Prozent >schönrechnetRealität< der >Massenhysterie< jenseits ihrer medialen Vennittlung als gesichert zu betrachten: »If something can excite 5 per cent ofthe population it is news [... ]. [T]here actually was something unusual and significant to report.«28 Es bleibt allerdings im Dunklen, wie die Interviews mit 135 verängstigten Hörern, die Cantrils Forschungsteam schließlich >vor Ort< in der Gegend von New Jersey durchfuhrt, zustande gekommen sind. Über die Zeitungen, so auch die publizietie Studie, seien nur wenige Namen zu ermitteln gewesen: »The names of the persons who were frightend were obtained almost entirely by the personal inquiry and initiative of the interviewers.«29 Wie die Interviewer zu den >tatsächlich< panischen Mediennutzem, also zur >Realität< des Ereignisses >MassenpanikI never hugged my radio so closely as I did last night. I held a crucifix in my hand and prayed while looking out of my open window for falling meteors. [ .. . ] When the monstet-s were wading across the Hudson River and coming into New York, I wanted to run up my roof to see what they looked like, but I could not leave my radio while it was telling me of their whereabouts.«Marienhof< ist seit 1. Oktober 1992 im Programm [ ... ]. 2637 Folgen sind inzwischen gesendet worden. [ ... ] Bis in die heutige Zeit hinein tauchen im >Marienhof< immer wieder Markennamen auf, die auffällig ins Bild gerückt werden.« 1 Diese Informationen zur ARD-Serie stammen aus einem umfangreichen Artikel, der in epd medien erschienen ist, einem Fachorgan, das eine breitere Öffentlichkeit naturgemäß selten zur Kenntnis nimmt. Ebenso bringt es wenig öffentliche Aufmerksamkeit oder erzeugt gar öffentliche Aufregung, wenn im Bild auffällig bestimmte Markennamen auftauchen. Der Zuschauer kennt und übersieht das seit Langem. Die Fachwelt weiß davon und nimmt die regelmäßigen Programmbeschwerden, die z.B. die Landesmedienanstalten an die Adresse der privaten Femsehanbieter richten, gelangweilt zur Kenntnis. Unerlaubte Werbepraktiken finden, wenn überhaupt, nur medienintern Aufmerksamkeit?
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Volker Lilienthal: »Die Bavaria Connection. Zehn Jahre Schleichwerbung im ARD->Marienhof< & Co.Leget die Lüge ab und redet die Wahrheit.< Der Vers aus dem Epheser-Briefist inzwischen verschwunden.« 5 Es folgen Informationen über die Bavaria, die Produktionsfirma, die die MarienhofSerie seit ihrem Beginn produziert, z.B. über das Produktionsvolumen, die geschäftlichen Erfolge und die Gesellschafter der Bavaria. Die zweite Spalte des Artikels setzt nun regelrecht biblisch ein: »Es begab sich vor einigen Jahren, irgendwo in Deutschland . ..«. Jetzt geht es 4 5
Vgl. Peter Fuchs: Der Eigen-Sinn des Bewusstseins. Die Person, die Psyche, die Signatur, Bielefeld: transcript 2003, S. 50f. Lilienthal: »Die Bavaria-Connection« (wie Anm. 1), S. 3. 57
IRMELA SCHNEIDER
um Aktivitäten der Münchner Firma H. +S. Unternehmensberatung, die maßgeblich an den Schleichwerbe-Praktikendes Marienhofs beteiligt ist. Abgesetzt als grauer Kasten erfährt der Leser, ebenfalls in dieser Spalte, dass Lilienthais Bericht von einer »Langzeitrecherche mit Hindernissen« handelt: »Seit Sommer 2002 geht epd-Redakteur Volker Lilienthai dem Verdacht nach, in der ARD-Serie >Marienhof< und anderen Bavaria-Produktionen könnte es über viele Jahre hinweg zu massiver Schleichwerbung gekommen sein. Die Recherche wurde im Mai 2003 abrupt gestoppt, nachdem eine involvierte Münchener Agentur für Product-Placement Wind bekommen hatte, eine einstweilige Verfügung erwirkte und später auch in der Hauptsache aufUnterlassen klagte. Seither konnte nur die Programmbeobachtung weiterlaufen - mit dem Ergebnis, dass für den vorliegenden Bericht über 500 >Marienhofjoumalist< kooperierte, wurde fortgesetzt, ihre Ergebnisse liegen nun vor.«6
Diese epd-Informationen aus dem grauen Kasten werden in den folgenden Wochen vielfach zitiert, variiert und ausgeschmückt. Sie bilden den Kern der nun initiierten Heldengeschichte. Eine nur randständige Rolle spielt jetzt, was epd zumindest erwähnt hat, dass nämlich Ulrike Kaiser, die Chefredakteurin des DJV-Organs Journalist, Lilienthai bei seinen Recherchen von Beginn an unterstützt hat. Das passt nicht in die Heldengeschichte, die mit dem grauen Kasten eine Basis erhält und die in den Folgewochen als konstitutives Moment dieses Medienereignisses ausgebaut wird. Es geht also von Beginn an nicht nur um Schleichwerbung, sondern immer auch um einen Helden. Der Redakteur Lilienthai wird zum Entdecker, sein Bericht zur Enthüllung. 7 Er rückt in die Nähe von James Bond, denn er hat wie dieser >>Undercover« recherchiert, wenn auch nicht für »Seine Majestät«. Und wie man von James Bond weiß, ist die Undercover-Recherche gefährlich. Der Held kann zum Opfer seines Einsatzes 6 7
Ebd. Lilienthai hatte zuvor schon mehrfach über ZDF-Verfehlungen in Sachen Werbung berichtet, bei deren Aufklärung es freilich nicht zur Ausbildung eines Helden gekommen ist.
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SERIELLE SCHLEICHWERBUNG UND SINGULÄRE HELDENGESCHICHTEN
werden; er lebt gefahrlieh und siegt nur durch Mut, Geschick und Tapferkeit. Lilienthai hat mit der ersten Geschichte seines Betichts, in der es um seine Recherchen geht, selbst Stoff geliefert, wenn er die vielen Mauem des Schweigens beschreibt, auf die er bei seiner Arbeit gestoßen ist. 8 Oder wenn er von Interviews berichtet, die zuerst gewährt und dann verweigert wurden, von Kontakten zu Unternehmen unterschiedlicher Art, die in einer ersten Reaktion bestimmte Infonnationen bestätigt und später bestritten haben. Mit seiner zweiten Geschichte präsentiert Lilienthal, wie angedeutet, eine Reihe von konkreten Schleichwerbe-Fällen, die er in ARD-Serien entdeckt hat. Neben der Marienhof-Serie geht es um Titel wie In aller Freundschaji oder Klinik unter Palmen und um Tatort-Produktionen. Eingefügt in diese Fallbeschreibungen sind Hinweise darauf, dass das illegale Geschäft der Schleichwerbung im Laufe der Zeit ausdifferenziert und professionalisiert worden ist. Auch dieser Aspekt wird in den Folgewochen aufgegriffen und ausgebaut. Eine zunehmende Professionalisierung zeigt sich z.B. daran, dass sich ein »ausgeklügeltes Arsenal verschiedener Fonneo von Placement« herausbildet. 9 Lilienthai berichtet von »drei Integrationsmodelle[n]«, die eine Agentur mit einem Produzenten abgesprochen hatte. Sie heißen »Ausstattungsplacement (A)«, »Product-Placement (PP)« und »Themenplacement (TP)«. 10 In einem Schweizer Bericht werden aus dem »ausgeklügelte[n] Arsenal verschiedener Formen von Placement« folgende Bezeichnungen zitiert: »On Set Placement«, »Creative Placement«, »Innovation Placement«, »Corporate Placement« und »Image Placement«. 11 Drei Fragen durchziehen seit Lilienthais Fallbeschreibungen nahezu alle Berichte über das Schleichwerbungs-Ereignis: Wer sind die Täter? Wer hat davon gewusst, gehört also in den Kreis der Mittäter? Wer hat
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Vgl. z.B. Lilienthal: »Die Bavaria-Connection« (wie Anm. 1), S. 6f.: »Stephan Bechtle, der Ende 2003 als >MarienhofChetproduzent< in Italien werden soll, hat ein 2003 geführtes Interview zum Thema nicht freigegeben, in einem nachgeschobenen Fax aber behauptet, er kenne weder H.+S. noch Ute Sandheck und es gebe keinerlei Zusammenarbeit. Das ist mittlerweile widerlegt und war schon damals unglaubwürdig[ ... ].« 9 Urs Meier: »Werbung auf Schleichwegen. Nach >Marienhof< in Deutschlandjetzt >Traumjob< in der Schweiz«, in: medienheftvom 25.7.2005, S. 25, hier S. 2. 10 Lilienthal: »Die Bavaria-Connection« (wie Anm. 1), S. 12. Vgl. auch Meier: »Werbung auf Schleichwegen« (wie Anm. 9). 11 Meier: »Werbung auf Schleichwegen« (wie Anm. 9), S. 2f. 59
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wie viel an wen gezahlt? 12 Die Suche nach Antworten auf diese Fragen liefert, wie sich zeigen wird, Stoff für viele Geschichten. Die entscheidende Adresse, an die alle drei Fragen gerichtet werden müssen, ist nach Lilienthai die Bavaria, auf die er sich am Ende seines epd-Artikels konzentriert. Lilienthai hatte mit Thilo Kleine, dem Geschäftsführer der Bavaria, im Zuge seiner Recherchen mehrfach Kontakt. Mitte Mai, so berichtet er, habe Kleine eingeräumt, »dass es die beschriebenen >Kooperationen mit Dritten< einschließlich der PharmaSchleichwerbung tatsächlich gegeben hat. Allerdings sei er persönlich über >Umfang< und >die einzelnen Vorgänge< vorher nicht infonniert gewesen.«13 Als Lilienthai ihn über seine weiteren »Enthüllungen« informierte, habe Kleine »beteuert«, jetzt werde »aufgeräumt«. 14 Mit diesem Versprechen Kleines- es bleibt freilich bei dem Versprechen- endet Lilienthals Bavaria-Bericht. Über die späteren >Aufräumarbeiten< in der Bavaria und ihre einzelnen Schritte werden die Zeitungen und Zeitschriften in den nächsten Wochen im Einzelnen berichten. Im Laufe dieser Zeit erfolgen mehrere fristlose Kündigungen von Mitarbeitern der Bavaria; am vorläufigen Ende steht die fristlose Entlassung des BavariaGeschäftsführers Thilo Kleine, die allerdings, wie andere Kündigungen auch, mittlerweile, quasi als Nachklang zu jenem Medienereignis, als Ergebnis gerichtlicher Auseinandersetzungen wieder zurückgezogen werden musste. Die zweite Adresse, an die die Fragen gerichtet werden müssen und an die Lilienthai sich bereits vor der Veröffentlichung seiner »Enthüllungen« gewandt hatte, ist Reinhard Grätz, der Aufsichtsrats-Vorsitzende der Bavaria. Grätz habe sich, so Lilienthal, »höchst alarmiert« gezeigt. 15 Mit diesem Alarmismus und mit der Forderung nach »sofortiger Sonderprüfung« gibt Grätz eine Reaktion vor, der sich in der Folgezeit die meisten Beteiligten, wenn sie sich in Interviews oder Stellungnahmen zu dem Ereignis äußern, anschließen. Für die Presse sind solche Alarmrufe und Vorsätze Anlass zu zahlreichen Kommentaren und auch zu spöttischen Bemerkungen. Die dritte Instanz, die Lilienthai vor der Veröffentlichung über seine Recherche-Ergebnisse informiert hat, ist die ARD. Ausgehend von der Frage, ob es in Bezug auf die ARD um »Geschäftsschädigung oder gar Betrug« geht, spekuliert Lilienthai abschließend über mögliche Folgen, die die Schleichwerhe-Praktiken für die ARD haben könnten. Auch Repräsentanten der ARD, wie der ARD-Programmdirektor Günter 12 Das Geld, das hier geflossen ist, ist, wie die Berichte immer wieder vermerken, im Vergleich zum Imageschaden, den ARD wie Bavaria genommen haben, eher gering. 13 Lilienthal: »Die Bavaria-Connection« (wie Anm. 1), S. 13. 14 Ebd., S. 14. 15 Ebd., S. 15.
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Struve, den Lilienthai zitiert, wollen von nichts gewusst haben. Dieses Nicht-Wissen wird, wie sich zeigen wird, als ein wichtiges Element dieses Medienereignisses geschildert.
Anschlussthemen So weit ein Überblick über den Bericht, der nachträglich den Beginn dieses Medienereignisses darstellt. Diese Position, als Beginn des Medienereignisses zu fungieren, erhält der Artikel erst, als unterschiedliche Tageszeitungen das Thema nicht nur alsbald aufgreifen, sondern sich mit ihren ersten Berichten auch alle auf eine Quelle, nämlich den epdArtikel, beziehen. Der Bericht in epd medien allein hätte kein Medienereignis generieren können. Er wird zum Start des Ereignisses, als die anderen Medien darauf referieren. Die entscheidende Bedingung dafür, dass dieses Ereignis eine größere Aufmerksamkeit findet, dass es >Wellen schlägtMarienhof< sollte das 175.000 Euro kosten«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.6.2005. 61
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Am selben Tag, als Hanfeids Bericht auf der Medienseite erscheint, widmet sich ein Kommentar auf der ersten Seite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung diesem Thema. Unter der Überschrift >>Gekaufte Sendungen« wird der medienpolitische Zeitrahmen kommentiert, auf den die Aufdeckung der Schleichwerhe-Praktiken trifft. Dieser Kommentar verfolgt mit seinem Duktus ein Verfahren, das zu den Konstituenten von Medienereignissen gehört: Der Verfasser nennt Themen, die nicht unmittelbar das Zentrum des Ereignisses- in diesem Fall die Schleichwerbungbetreffen, die sich aber dazu in Beziehung stellen lassen. Das Verfahren macht das Ereignis anschlussfähig an weitere Sachverhalte, offene Fragen oder Probleme, die ebenfalls öffentliches Interesse verdienen und finden. Dass solche anschlussfähigen Themen im selben Zeitraum kursieren, konstituiert den Kairos des Ereignisses. Darüber hinaus verleiht das Verfahren, Themen anzuschließen, dem Ereignis eine spezifische Aura: Es bleibt nicht allein ein aktuelles Ereignis, sondern verweist zugleich auf Prinzipielles und Grundlegendes. Der Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung führt in diesem Sinne zwei Anschlussthemen ein: zum einen das Thema, das sich um die Anfrage der EU-Kommission nach der Transparenz der Finanzen und nach den kommerziellen Nebentätigkeiten der öffentlich-rechtlichen Sender konstituiert. Mit dieser Anfrage müssen sich die Sender genau zu dem Zeitpunkt beschäftigen, als ihre Schleichwerhe-Praktiken bekannt werden. Das zweite Thema, das der Kommentar an das Schleichwerbungs-Ereignis anbindet, ist die Debatte um die Gebührenerhöhung. Umnittelbar bevor die Ennittlungen über Schleichwerbung öffentlich wurden, hatte die ARD gedroht, vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die beschlossene Gebührenerhöhung zu klagen. Beide Themen weisen also sowohl eine aktuelle Komponente als auch eine grundlegende Dimension auf. Der thematische Rahmen, den der Kommentar auf diese Weise herstellt, ist Anlass zu folgendem Urteil: »Nichts, aber auch gar nichts vermag sie [scil. die öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstalter] zu erschüttern [ ... ] Den Verfechtern dieses Rundfunkmodells fällt es immer schwerer, die Sender zu verteidigen.« 17 Die Schleichwerbung wird damit zu einem Ereignis, das das gesamte öffentlich-rechtliche Prinzip nicht nur betrifft, sondern grundlegend in Frage stellt. Wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung, so berichten auch andere wichtige überregionale und auch regionale Tageszeitungen - z.B. die Süddeutsche Zeitung, die Franlifurter Rundschau, taz - die tageszeitung und Die Welt-am 2. Juni 2005 über Lilienthais Recherche-Ergebnisse. 18 17 »Gekaufte Sendungen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.6.2005. 18 Vgl. Uschi Treffer/Franz Baden: »In aller Freundschaft. Schleichwerbung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen: Was lief, ganz vertraulich, zur besten
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Und auch am 3. Juni gibt es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen längeren Artikel über den »Marienhof-Skandal«, der, wie es nun heißt, als »Super-GAU« die ARD erschüttert. 19 Epd medien seinerseits bleibt auch mit seinen nächsten Nwnmern am Thema. In der Ausgabe vom 4. Juni 2005 erscheint ein »epd-Interview mit SWR Intendant Peter Voß über den Bavaria-Skandal«. Als Inlandsmeldung werden in dieser Ausgabe eine Stellungnahme des WDR-Intendanten Fritz Pleitgen sowie Kommentare von Vertretern politischer Parteien abgedruckt. 20 Tages- und Wochenzeitungen ebenso wie Magazine und Fachkorrespondenzen verschaffen den Schleichwerhe-Praktiken in der Folge eine ständige Medienpräsenz und machen sie zum Medienereignis. 21 Ausgangspunkt sind dabei häufig Lilienthais joumalistische Heldentat und die Elemente der Kriminalgeschichte, die den Rechercheprozess auszeichnen. Diese Praxis der Aufmerksamkeitslenkung zeigt: Schleichwerbung wird in dem Moment zu einem Medienereignis, als sich daraus eine Geschichte machen lässt, die personalisierbar und skandalisierbar ist. Erst unter der Voraussetzung, dass es einen Helden gibt, hat dieses flir Kenner steinalte Medienthema eine Chance, zur aktuellen und breit verhandelten Medienbeobachtung, zu einem Medienereignis zu werden. Der Gesetzesbruch der Medien allein ergibt keinen Skandal, der Aufmerksamkeit verdient und findet. Erst die Beobachtung, dass diese Praktiken häufig geschehen, vertuscht werden und dass die Person, die sie aufdeckt, bedroht wird, konstituieren das Ereignis, die unerhörte Begeben-
ARD-Sendezeit?«, in: Süddeutsche Zeitung vom 2.6.2005; 0. Gehrs: »>Richtig geile LuxusreisenMarienhof< wurde offenbar jahrelang gesetzeswidrig und trotz wamender Hinweise Schleichwerbung platziert«, in: Frankfurter Rundschau vom 2.6.2005; »Ltur bei Marienhof. Im ARD-Vorabendprogramm ist jahrelang Schleichwerbung platziert worden. Die PR-Botschaften wurden auch in Drehbuchdialoge eingebaut«, in: taz - die tageszeitung vom 2.6.2005; »Zehn Jahre Schleichwerbung im ARD->MarienhofMarienhofRede und Antwort< zu stehen. Die Interviews erhalten öffentliche Beachtung, da sie zum aktuellen Ereignis gehören, das die Medien betreiben. Die Interviewten nehmen sie zum Anlass, um ihre eigene Unschuld zu beteuern und zugleich, um ihre große Empörung über die Praktiken der Anderen und Unbekannten zum Ausdruck zu bringen. Moralische Empörung, eine rituelle Grundienmg für nahezu jedes Medienereignis, findet hier also - und auch dies gehört zum Ritual - auf mehreren Seiten statt: Vertreter der Televisions-Medien äußern ihre große Empörung über die Machenschaften der Produzenten, denen sie den Auftrag zur Produktion erteilt hätten. Hier steht die Produktionsgesellschaft Bavaria im Mittelpunkt, der man vertraut und die dieses Vertrauen missbraucht hat. Die Produzenten nun adressieren ihre Empörung an die Intendanten und Programmdirektoren, die sich, so der Vorwurf, von jeglicher Verantwortung freisprechen würden, obgleich sie letztlich für die Produktionen verantwortlich zeichnen. Konkret: Die Bavaria ist empört über die Empörung der ARD, und die ARD über die der Bavaria. Die Printmedien beobachten diese wechselseitige Empörung nicht nur, sondern sind selbst empört: »Man reibt sich die Augen. Man fasst es kaumdie Hybris, mit der die öffentlich-rechtlichen Hierarchen agieren; die Heuchelei, mit der nun schon seit Wochen versucht wird, die Verantwortlichen möglichst weit außerhalb der Anstalten zu suchen; und vor allem die gespielte Empörung um die >neuen< Schleichwerbefälle rund um die Vorabendserie >Marienhof>Es ist das System, das stinkt.«24 Ähnlich die Diagnose im Spiegel, weun es heißt, dass das System »außer Kontrolle« ist, da man die »kommerziellen Geister, die man über Jahre hinweg rief[ .. .] nicht mehr los [wird].«25 Die zahlreichen Interviews mit Vertretern der Medienbranche, die in jenen Wochen gedruckt werden, liefern ungewollt Belege für solche Befunde. Sie beliefern das Ereignis mit immer neuen Tätern und Opfern; sie setzen ständig neue Themen und
23 Rosenbach: »Zwischen Heuchelei und Hybris« (wie Anm. 21), S. 143. 24 Michael Hanfeld: »Lizenz zum Geldholen. Sat.l zieht Bilanz: Die Schleichwerbung soll aufhörenAmerican Idol< (Fox) 3500. Im vergangenen Jahr zahlten die Werbekunden 550 Millionen Dollar für Produktplacierungen. Für 2005 rechnet man mit einem Anstieg auf 800 Millionen Dollar oder gar mehr.« 40 Der Artikel von R. Stadler: »Chinesisches Mäuerchen«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 30.9.2005 zitiert mit dieser Bemerkung den kaufmännischen Direktor des ORF. 41 Meier: »Werbung auf Schleichwegen« (wie Anm. 9), S. 2. 42 Zu solchen medientechnologischen Innovationen gehören Geräte, die das gespeicherte Programm ohne die Werbeunterbrechungen aufzeichnen.
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sich von solchen allgemeinen Themen nicht aufsaugen oder verdrängen. Den Schlusspunkt, das letzte Wort, haben nach wie vor Praktiken der Personalisierung, Skandalisierung und Moralisierung. Diese rücken immer höchstens für Momente an den Rand. Das zeigt sich auch, wenn man die unterschiedlichen Berichte in ihrem gesamten >Tenor< betrachtet und ihre Bilanzierungen, die am Ende stehen, zusammennimmt. Es dominiert das publizistische Urteil, dass der von den Medien ausgemachte Skandal um die unerlaubte Schleichwerbung einen »großen Imageschaden« für die Medien bedeutet. Insbesondere nach der »ARD-Affäre« gilt Schleichwerbung »in der Medienbranche nicht mehr als Kavaliersdelikt« - so Klaus Ott anlässtich der Aufdeckung »fragwürdige[r]« und »dunkle[r] Geschäfte« bei Sat.l im Herbst 2005. 43 Ott erinnert mit diesem Hinweis zugleich daran, dass anlässlich der Enthüllungen von Schleichwerbung in ARD-Produktionen immer wieder als völlig unerwartet und überraschend bezeichnet worden ist, dass Derartiges in einem öffentlich-rechtlichen Programm geschieht, in Produktionen eines Senders, der durch Gebühren finanziert wird. Was kaum bemerkt wurde, als die Jenaer Universität die ZDF-Praktiken um Gottschalks Wetten, dass ... ? beschrieb,44 ist jetzt, im warmen Wind des sommerlichen Medienereignisses, Anlass zu großem Erstaunen und ebenso heftiger Empörung. Den privaten Femsehveranstaltem, die ihre Programme durch Werbeeinnahmen finanzieren, traut man solche häufig als »Grauzone« oder »Graubereich«45 bezeichneten Praktiken durchaus zu. Sie sind ja auch im Laufe der Zeit immer wieder dabei erwischt worden. Ihre Vergehen, so die einhellige Meinung, hätten einen solchen Skandal, der angesichts der ARD-Schleichwerbung ausgemacht wird, nicht produzieren können. Dass dies in der ARD geschehen konnte, verweist darauf, dass Prinzipien, die unbestritten gültig waren, mittlerweile zumindest porös, wenn nicht gar verschwunden sind. Dieser Beobachtungsmodus lenkt den Blick aber nicht nur ins Grundlegende, sondern generiert auch, wie sich im Herbst zeigt, ein Thema, mit dem die Medien längerfristig Aufmerksamkeit binden können - quasi nach dem Motto: einmal Skandal, immer Skandal. Nur vor dem Hintergrund des in der Medienberichterstattung ausgemachten Sommer-Skandals erklärt sich die vergleichsweise breite Berichterstattung, die im Herbst erfolgt, als auch bei den privaten Sendefamilien Pro43 Klaus Ott: »Die Spezialisten. Wie der frühere Sat.l-Manager Doetz und ein Münchner TV-Unternehmen Schleichwerbung organisierten«, in: Süddeutsche Zeitung vom 6.1 0.2005. 44 Vgl. Anm. 3. 45 Berndt/Uebelhart: »Neue Werbeformen müssen dem Zuschauer im digitalen Zeitalter auch neue Anreize und Möglichkeiten bieten« (wie Anm. 37).
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Sieben, Sat.l und RTL Fälle von Schleichwerbung aufgedeckt werden. 46 Im Herbst geht es, wenn überhaupt, nur am Rande um einen Helden, der die Sache entdeckt und recherchiert hat. Jetzt drehen sich die Berichte v.a. um die Medien-Helden, deren Karriere die Medien genüsslich darstellen, um sie dann abrupt zu beenden: Bei diesen medialen KarriereHelden handelt es sich, so zeigt die Geschichte, >in Wahrheit< um mediale Schurken. 47 Das Urteil bei privaten und öffentlich-rechtlichen Anbietern wird also aus einer unterschiedlichen Erwartungshaltung, vor einem differenten Hintergrund gefallt. Bei den öffentlich-rechtlichen Veranstaltern zeichnet sich eine alte Sichtweise ein. Sie waren vor einem halben Jahrhundert mit dem Pathos gestartet, eine moralische Instanz der Gesellschaft zu sein. Ihre moralische Fallhöhe ist von daher besonders hoch. Die Einsicht, dass die Praktiken mit Schleichwerbung keinen Unterschied zwischen den privaten und öffentlich-rechtlichen Veranstaltern ausmachen, ist dann wiederum Anlass zu moralischer Empörung. Das konkrete Medienereignis wird also zum Anlass fiir weitere, an seinen Rändern liegende und in grundlegendere Fragen führende Themen. Das Ereignis saugt sich mit solchen Themen voll. Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang: Das konkrete Medienereignis lässt sich von solchen allgemeinen Themen nicht aufsaugen oder verdrängen. Den Schlusspunkt, das letzte Wort haben immer Verfahren der Personalisierung, Skandalisierung und Moralisierung. Diese rücken immer höchstens fiir Momente an den Rand. Am Ende steht das Urteil: Schleichwerbung ist »sittenwidrig«. 48 46 Vgl. z.B. Ott: »Die Spezialisten« (wie Anm. 43); »20.000 Euro für einen Beitrag mit Experten-AuftrittBier ist gesund und macht nicht dick.«< Vgl. »Erst Bier, dann Pillen: Reklame in ARD-Serien«, in: Stuttgarter Zeitung vom 14.9.2005. 49 »Keine CDs von Popstars aus dem >MarienhofEine Atmosphäre des Laisser-faireRette sich, wer kann< geworden. [ ... ] Die Beteiligten bewerfen einander mit Dreck, um am Ende selbst als relative Saubermänner dazustehen -und die Öffentlichkeit erhält einen selten klaren Blick auf die Mentalität von Menschen, die in einem mächtigen Untemehmen arbeiten, das öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und dem Freistaat Bayern gehört.dumme Kindereien heimsuchenNormalität< der Folter in Abu Ghraib zeigen: Häftlinge, Gefangnispersonal, Emiedrigungsrituale. In die Sichtbarkeit hingegen treten Bilder, die darüber hinaus deutliche Anzeichen von Inszenierung, somit Schaustellung tragen: jenes Bild, das eine auf einem Eimer stehende, den Kopf mit einem Sack überstülpte, an Drähten angeschlossene männliche Figur zeigt. Dann die Fotografie, auf der eine weibliche Figur, Lynndie England, einen nackten irakischeu Gefangenen wie einen Hund an der Leine führt. Und schließlich jene Fotografie, auf der Charles A. Grauer und Lynndie England, beide grinsend und den Daumen hochgereckt, hinter aufgetürmten nackten irakischeu Gefangenen posieren. Diese drei Fotografien werden zu Referenz-Bildern, 12 zu
li Vgl. aktuell zum epistemischen und ästhetischen Stellenwert der Kategorie
Aufmerksamkeit: Bemd Kiefer: »Aufmerksamkeit und Zerstreuung der Wahrnehmung. Mit/nach Walter Benjamin«, in: Thomas B. Koebner/Thomas Meder (Hg.), Bildtheorie und Film, München: edition text + kritik 2006, S. 221-238. 12 Dies zudem in Verbindung mit dem Stichwort »Ikone«. So sprichtUte Frevert bezüglich dieser Bilder von »Ikonen amerikanischer Hybris« (Ute Frevert: »Momente der Macht. Die Bilder von Abu Ghraib: Opfer, Darsteller und ihre Betrachter«, in: Frankfurter Rundschau vom 22.5.2004). Desgleichen schlägt die Jury des Festivals Visa pour l'image (Perpignan) im Oktober 2004 eine Auszeichnung der Bilder vor mit dem Argument: »Diese Bilder sind schon heute globale Ikonen« (Barbara Basting: »Bilder eines hyperdokumentierten Krieges«, in: Tages-Anzeiger vom 12.10.2004).
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Bildern, denen ein hohes Adressierungspotenzial eigen ist, 13 das, wie verschiedentlich angemerkt wird, aus ihrer hohen kulturellen Konnektivität herrührt: »Die Bilder erschrecken ja nicht bloß durch krude Authentizität, sondern dadurch, dass sie mit kulturellen Mustern durchtränkt sind« 14 - mit Mustern, die, wie zu zeigen ist, auf ein in seiner Heterogenität signifikantes Ensemble kultureller Bilddiskurse verweisen und entsprechende Ikonografien belehnen: Kolonialismus, Christentum und Pornografie. Die Fotografie mit Charles S. Granerund Lyondie England performiert in der Anordnung von Amerikanern als Tätern und Irakern als Opfern in besonders expliziter Form ein spezifisches Muster jenes visuellen Diskurses des Kolonialismus, der den Fotos aus Abu Ghraib insgesamt eingeschrieben ist: 15 Jagd und die damit verbundenen Selbstporträts als eine zentrale Form des »colonial way of seeing« 16 und der ihn auszeichnenden Exklusionsstrategie: »for many hunters, soldiers and pioneers, >savage< people were understood as a form of wildlife to be conquered and controlled.« 17 Es ist ein visuelles Muster, das, historisch gesehen, eine frühe Ausformung jener Machtspirale von Größe und Geschichtsmächtigkeit einerseits und Ohnmacht, Anonymität, Entmenschlichung andererseits darstellt, die für Cornelia Brink die KZ-Fotografie kennzeichnet: »Die Mörder erscheinen um so mächtiger, je hilfloser ihre Opfer sind.« 18 Diesem Diskurs ist, wie sich in der posierenden Haltung der beiden amerikanischen Aktanten zeigt, ein spezifisches Blickregime ei-
13 So figuriert die Fotografie des >Kapuzenmannes< als Cover-Foto der Buchpublikation: Abu Ghraib. The Politics of Torture. With essays by M. Benvenisti, M. Danner, B. Ehrenreich et al., Berkeley: North Atlantic Books 2004. Bei Sebastian Moll: »Schock und Aufklärung«, in: taz - die tageszeitungvom 12.5.2004, heißt es: »Das Bild eines Gefangenen in einem Kapuzenumhang [ ... ] wird eines der bleibenden Bilder dieses Konflikts bleiben.« 14 »Folter im Bild. Die Fotos aus dem Irak sprechen von der Schuld des amerikanischen Präsidenten und ebenso von der des Betrachters. Ein Interview mit dem Medienwissenschaftler Joseph Yogi«, in: Die Zeit 21 (13.5.2004), S. 62.
15 Vgl. die generelle Feststellung von Sontag: Die Fotos »sind bezeichnend für gewisse Grundsätze dieser US-Administration und für die fundamentale Korruption kolonialer Herrschaft« (Sontag: »Endloser Krieg, endloser Strom von Fotos« [wie Anm. 2]). 16 James R. Ryan: Picturing Empire. Photography and the Visualization of the British Empire, London: Reaktion Books 1997, S. 138; vgl. auch die entsprechenden Fotos Nr. 46 und 47. 17 Ebd., S. 139. 18 Comelia Brink: Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin: Akademie 1998, S. 171.
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gen. Beide, der Mann und die Frau, posieren, exponieren sich damit. Die Pose ist eine Körperhaltung, die darauf verweist, dass es einen Betrachter gibt. So heißt es bei Barthes: In der Pose »verwandle ich mich bereits im Voraus zum Bild.« 19 Wir haben hier somit eine Fotografie, die gezielt unseren Blick adressiert, indem sie das, was sie zeigt, zu einem Bild macht. Die Fotografie mit dem »gefolterte[n] Kapuzenmann«, die die allen drei hier behandelten Bildern eigene >>Neigung zur Inszenierung auf die Spitze [treibt]«,20 evoziert in ihrer expliziten Ikonografie das kulturelle Muster des Corpus Christi, somit »das Körpennodell der christlichen Kultur [ ... ].«21 Wir befinden uns im »Zentrum der christlichen Sehkultur.«22 Corpus Christi ist der verletzte Körper schlechthin, ist jenes »Körpermodell«, das, indem es Faszination am Entsetzlichen über den Umweg der »compassio«23 lizenziert, das Entsetzliche, den leidenden Christus, uns in immer neuen Varianten sehen lässt. Es ist ein Bildmodell oder Modellbild, das, mediengeschichtlich gesehen, geleistet hat, was heute Funktion der Massenmedien ist: »Die Formatierung des Menschen durch ein superlativisches Bild.«24 In dieses »superlativische Bild« wird in der vorliegenden Fotografie nun ein muslimischer Körper eingespannt. Es ist eine Appropriation eines fremden Körpers durch das eigene Bildmodell. Die Bilder aus Abu Ghraib ähneln - worauf von Beginn an hingewiesen wird- pornografischen Bildern. 25 Besonderes Augenmerk erregt dabei »jenes Foto, auf dem diese junge Frau einen am Boden liegenden
19 Roland Barthes: Die helle Kammer: Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985, S. 19. 20 Sebastian Moll: »Schock und Aufklärung« (wie Anm. 13). 21 Hans Belting: Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen, München: Beck 2005, s. 86. 22 Vgl. Groebner: Ungestalten (wie Anm. 9), S. 97. 23 Die »compassio« mit dem leidenden Christus ist »Empfindungstraining des
Gläubigen auf dem Wege zu höherer Erkenntnis« (Belting: Das echte Bild (wie Anm. 21), S. 98). 24 Wolfgang Ullrich: Bilder auf Weltreise. Eine Globalisierungskritik, Berlin: Wagenbach 2006, S. 25. Zur historischen Vorstufe der hier sich zeigenden »visual violence« vgl. Caroline Walker Bynum: »Violent Tmagery in Late Medieval Piety«, in: GHI (German Historical Institute, Washington, D.C.) 30 (Spring 2002), S. 3-36, hier S. 3. 25 Vgl. auch Veronika Rall: »Kein Ende der Fotostrecken. Schreckensbilder aus Irak«, in: Frankfurter Rundschau vom 13.5.2004, die auf die Nähe dieser Bilder zur Kinderpomografie hinweist: »Hier wie dmi sind die Opfer ihren Tätem wehrlos ausgeliefert, sind die Aufnahmen für eine Art >internen Gebrauch< bestimmt, bevor sie eine Öffentlichkeit erreichen, bedienen sich die Bilder einer Schaulust am Grausamen«.
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Iraker, einem Hund gleich, an der Leine >herumzuführen< scheint.«26 Dieser Bilddiskurs des Pornografischen hat selbstverständlich seinen weiteren Kontext in dem Verschwimmen der Grenze zwischen pornografischer und kriegerischer Gewalt. Im engeren Kontext der Gewaltpraxis von Abu Ghraib nun wird v.a. die den pornografischen Diskurs auszeichnende Fusionierung von Körperpolitik und Schaulust relevant, eine Fusionierung, die sich insbesondere als »Berührung« manifestiert. »In der Pornographie wie in der Darstellung extremer Gewalt spielt die Berührung eine wichtige Rolle: die Berührung des Bildes, aber auch die Berührung des Objekts vor der Kamera, die das Bild anbietet und zugleich untersagt.«27 Diese Berührung materialisiert sich im vorliegenden Bild in einer Leine: jener Hundeleine, mit der Lynndie England den nackten irakiseben Gefangenen an sich bindet, und jenem unsichtbaren Band, das den Betrachter in das Bild einspannt. Die Bilder erwecken somit Aufinerksamkeit durch Konnektivität. Das »Problem des Sehens«, 28 vor das sie uns stellen, findet eine erste Lösung darin, dass wir mit verfügbaren Deutungsmustern operieren, »kulturelle Muster« einlösen, »traumwandlerisch sicher an die Inszenierungen faschistischer Gewalt- und Sexbilder an[knüpfen], die wiederum als Vorlage für die Popkultur [ ... ] dienen.«29 Die Bilder aus Abu Ghraib inszenieren- wie sich jetzt verdeutlichen lässt- repräsentative Positionen unserer visuellen populären Kultur. Sie besitzen eine Konnektivität, die Brücken legt zu dominanten Bilddiskursen und Blickregimen der westlichen Kultur, zu Kolonialismus, Christentum und Pornografie, und die auf diesem Wege diese Bilder selbst in das kollektive Bildgedächtnis implementiert.30 Diese Brücke von den jeweiligen Bildern hin zu kulturellen Bilddiskursen und Bildgedächtnissen ist jedoch keineswegs eine Einbahnstraße. Verbunden ist mit dieser Konnektivität zugleich auch eine 26 Wolfgang Lerch: »Doppelt zerstörerisch«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitnng vom 11.5.2004. 27 Holzer: »Der lange Schatten von Abu Ghraib« (wie Anm. 5), S. 14. 28 Peter Geimer: »Bilder, die man nicht zeigt. Über den schwierigen Umgang mit Schockfotos«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 14.7.2005. 29 Stefan Reinecke: »Abu Ghraib - das sind wir«, in: taz - die tageszeitung vom 15.5.2004. Vgl. auch: »die Bilder und Videos aus dem Abu Ghraib Gefängnis [ ... ]weisen eine verblüffende ästhetische Ähnlichkeit zur alternativen, subversiven europäischen oder amerikanischen (Film)Kunst der 60er und 70er Jahre auf.« Gemeinsam ist beiden »das Ziel, den nackten, verwundbaren Körper zu zeigen, der in den sozialen Konventionssystemen der Kultur gefangen ist.« (Boris Groys: »Das Schicksal der Kunst im Zeitalter des Terrors«, in: Schnitt/Das Filmmagazin 1 (2006), S. 30-34, hier S. 31 ). 30 Vgl. »Nicht tausend Schüsse, sondern Bilder, auf denen Gefangene an Hundeleinen gehalten werden, können noch in fünfzig Jahren das Bild der USA in der arabischen Welt bestimmen.« (Bredekamp: »Wir sind befreundete Komplizen« [wie Anm. 6]).
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rückläufige Bewegung, eine Brechung dessen, was so evoziert wird, durch das jeweilige konkrete Bild. Konnektivität erhöht- als Verfahrengleichermaßen auch die reflexive Potenz der Bilder: »Je mehr vertraute Elemente die >Unvorstellbar< schrecklichen Bilder des Leidens Anderer enthalten, desto wirksamer sind sie.«31 Und doch ist gleichzeitig zu fragen, ob diese hohe Konnektivität und die damit verbundene Frequenz kultureller Muster die Brisanz dieser Bilder adäquat erfassen kann. Ob nicht vielmehr ein Überschuss, ein Mehr an Nicht-Lesbarkeit bleibt, das weitere theoretische Schritte nach sich zieht. Eine spürbare Unzulänglichkeit des bisher verfolgten kulturwissenschaftlichen und ikonografischen Zugriffs sieht auch Peter Geimer. Er plädiert ftir eine Wahmehmung dieser »Schockfotos« mit Bezug auf das sie auszeichnende »Reale« und spricht sich vehement dagegen aus, diese Bilder »in die Welt der künstlichen Bilder [zurückzuholen], deren Formelhaftigkeit man bestens deuten kann«. 32 So zutreffend dieses klassische Argument im vorliegenden Fall aufgrund der faktischen Ereignisse ist, so sehr bedarf dieses Argument zugleich doch auch, wie mir scheint, einer komplementären Perspektive, die den besonderen Status dieser Folter-Ereignisse zu erfassen vermag. Sie soll hier - zumindest tentativ- über das Konzept der Perfonnativität angegangen werden. Die Bilder ähneln dem visuellen Phänomen, das in der Kommunikationswissenschaft unter dem Stichwort »Schlüsselbild« geführt wird. Gemeint ist damit die für Massenmedien kennzeichnende Modeliierung von Stereotypen, die aufgrund wiedererkennbarer Merkmale die Rezeption lenken, indem sie unsere Aufmerksamkeit steuern. Allerdings beziehen sich Theoretiker wie Peter Ludes hierbei allein auf die inhaltliche bzw. motivische Seite. Zu Recht weist Joachim Paech daher darauf hin, dass ein solches »Schlüsselbild« über seine thematische Linie hinaus immer auch in seiner medialen Dimension erfasst werden müsse. Zwischen das dargestellte Ereignis und seine Darstellung schreibe sich immer zugleich auch eine Differenz ein, finde immer auch eine »Distanzierung statt, die das medial dargestellte Ereignis vom Ereignis seiner medialen Darstellung unterscheide[t]«, somit eine »Distanzierung«, die das >»Bild< als eine identifizierbare Form wiedererkennbar« mache. 33 Diese Distanzierung verweist einerseits auf einen generellen Sachverhalt, den man als konstitutive Differenz von Ereignis und Bild bezeichnen könnte. Es ist eine Differenz, die, so meine These, zugleich jedoch auch >aufheb31 Groebner: Ungestalten (wie Anm. 9), S. 171. 32 Peter Geimer: »Bilder, die man nicht zeigt. Über den schwierigen Umgang mit Schockfotos«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 14.7.2005. 33 Joachim Paech: »Medienwissenschaft«, in: Klaus Sachs-Hornbach (Hg.), Bildwissenschaft Disziplinen, Themen, Methoden, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005, S. 79-96, hier S. 93.
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bar< ist. Nicht dergestalt, dass das Mediale seines von Paech zu Recht eingeforderten Stellenwerts wieder beraubt würde. Vielmehr darüber, dass es zu einer performativen Aufhebung dieser Distanz von Ereignis und Darstellung kommt, somit zu einer skandalösen Überschneidung von Ereignis und Medium. Der Bild-Akt, von dem Bredekamp spricht, deutet dies schon an. Liegt doch auch ihm eine paradoxe, genauer: eine pervertierte Kausalität zugrunde, die sich darin zeigt, dass hier ein nackter, verwundbarer Körper allein dazu gefoltert wird, um Bild zu werden. So haben wir in diesen Bildern eine auffällig zweigleisige Konnektivität. Es sind einerseits Bilder, die vertraute Bildmuster, Schreckensbilder, die wir schon kennen, evozieren. Bilder, die unerwartete, normverletzende Interferenzen zwischen Imaginärem und Realem, zwischen Kino und Terror generieren. 34 Das Un-Heimliche dieser Bilder wäre somit die Wiederkehr dessen, was wir schon kennen, was uns vertraut ist. Und doch ist dabei gleichzeitig zu bedenken, dass dieses Vertraute gerade nicht symbolisch eingebracht wird. Die Aktanten, die diese Bilder besetzen, zitieren nicht nur die Bildmuster der Gewalt, sondern performieren sie zugleich. Und so kommt es andererseits zu jener Gleichzeitigkeit von Zeigen und Handeln, von gezeigter Gewalt und realer Gewalt, zu jener Auflösung der Grenze zwischen Inszenierung und Realität, die das Perfonnative auszeichnet. Das Performative dieser Bilder, ihr ikonografisch oder semiotisch nicht einlösbarer Mehrwert, wären damit letztlich die Körper, die im vorliegenden Fall vertraute Muster von Bildern des Schreckens in Szene setzen. 35 Die Urheber dieser Bilder, die zutreffender, wie zu zeigen ist, als >Knipser< zu bezeichnen wären, bringen kulturelle Muster, die nicht nur ihnen, sondern auch dem Betrachter dieser Bilder vertraut sind, ausführend zur Aufführung. Darüber nun gewinnen die Bilder einen deutlichen Realitätsindex. Er verhindert, dass wir sie beruhigend ablegen in der Welt der lesbaren, symbolischen, Distanz setzenden Bilder. Und er ennöglicht dafür, dass diese Distanz bisweilen auf Null hin geführt wird: »Die auf ihnen dargestellte exzessive Gewalt sucht die Distanzierung von ihr so schwierig wie möglich zu machen. Darauf beruht ihre Wirkung auf Leser und Zuschauer[ ... ].«36
34 Zu dem strukturell vergleichbaren Sachverhalt >11. September 200 l < vgl. Albrecht Koschorke: »Staaten und ihre Feinde. Ein Versuch über das Imaginäre der Politik«, in: Jörg Huber (Hg.), Einbildungen, Wien, New York: Springer 2005, S. 93-115. 35 Zum Stellenwert des Begriffs >Aufftihrung< ftir das hier angespielte Konzept eines (möglichen) performativen Bildes vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004, S. 42ff. 36 Groebner: Ungestalten (wie Anm. 9), S. 169.
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WOLFGANG BEILENHOFF
Phobokratie Wurde in einem ersten Schritt die Frage nach der Generierung von Medienereignissen und der damit verbundenen Steuerung von Aufmerksamkeit unter dem Gesichtspunkt der Selektion bestimmter Bilder mit Bezug auf ihre hochgradige Konnektivität angegangen, so ist nun, komplementär dazu, die intensive Diskursivierung zu befragen, die unmittelbar im Anschluss an die Veröffentlichung der Fotografien durch CBS einsetzt. Dieser Diskurs entfaltet sich innerhalb eines kurzen Zeitraums, von Ende April 2004 bis Ende Mai 2004. Es ist, so die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 8. Juni 2004 in Anlehnung an die Chiffrierung des Irakkrieges als »Operation desert storm«, ein »erste[r] Deutungssturm.«37 Ein Diskurs, der in seiner Intensität die Normalität weit überschreitet, erscheinen doch keineswegs nur informierende Artikel, Pressenachrichten, sondern umfängliche Kommentare und Beiträge. Auch ist es ein Diskurs, der keineswegs allein von den professionellen, institutionalisierten Journalisten getragen wird. Vielmehr finden sich in Deutschland - und dies in allen übetTegionalen Zeitungen - Gastkommentare unterschiedlicher >ExpertenWirparitätischer< Barbaren reflektiert,42 gewinnt gleichzeitig ein Alterisierungsdiskurs die Oberhand, der eindeutige Positionierungen vornimmt. Sei es als Kolonisierung, indem die Gefangenen, so Zizek, über die Folter »initiiert [werden] in die amerikanische Kultur« und deren »obszöne Unterseite« zu spüren bekommen,43 oder, so Boris Groys, indem die eigene »subversive ästhetische Stilistik« zu einem Hebel wird, »um eine andere, fremde Kultur mit einem Gewaltakt zu unterminieren und ihre Bevölkerung zu demütigen (anstatt sich selbst zu demütigen, im Zuge der Infragestellung der eigenen Kultur).«44 Sei es als De-Personalisierung, als Entzug der Identität, indem einem Gefangenen ein Leinensack über den
38 Ebd. 39 Isolde Charim: »Interventionen im Imaginären«, in: taz - die tageszeitung vom 8.5.2004. 40 Bemd Pickert: »Bilder als Waffen«, in: taz- dietageszeitungvom 13.5.2004. 41 Joachim Zepelin/Christian Bauhg/Anton Notz: »Massenbelichtungswaffen>Das Amedium« (wie Anm. 2), S. 137f. Aus der Warte der Systemtheorie Niklas Luhmanns, auf die Engel! sich durchweg bezieht, wäre freilich anzumerken, dass in sozialen Systemen jede Operation - mithin jede einzelne Kommunikation, sei sie auch noch so belanglos- als Ereignis fungiert und dabei das jeweilige System reproduziert. Man müsste dann unterscheiden zwischen der Ebene der Operationen, auf der sich Ereignisse schlicht vollziehen (und als Selektion aus einem Strauß alternativer Optionen auch immer schon über Sinn verfügen), und der Ebene der Beobachtung, auf der bestimmte Ereignisse als informativ ausgewählt werden. Engen unterscheidet in diesem Sinn zwischen dem simplen Sich-Ereignen eines Vorkommnisses und dessen Kommunikation, in der durch semantische Sinnstiftung erst eigentlich das Ereignis hervorgebracht wird. 5 Als Quelle für die Motive der Fotos sowie die begleitenden Texte dienen die später noch eingehend diskutierten Urteile des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.
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DIE ÖFFENTLICHKEIT UND IHRE INTERESSEN
Iektor (oder, wenn man mag: >NachrichtenwertPrinzessin Carotine< kristallisiert, ist jede auch noch so unspektakuläre Nachricht bereits durch vorhergehende Nachrichten, an die angeschlossen werden kann, kontextualisiert und damit sinnhaft. 8 Auch wenn unehelichem Nachwuchs, Scheidungen oder Krankheitsfällen stets der höhere Nachrichtenwert zugewiesen wird, kann durch die etablierte Rahmung auch Beiläufiges- Reiten, Einkaufen, Sonnenbaden - Ereignis- bzw. Nachrichtenwert gewinnen, insofern es zum Persönlichkeitsbild beiträgt. So können sich die Leser und Leserinnen der YellowPress, ohne zu wissen, was im Einzelnen geschehen wird, darauf verlassen, dass die Kette der Ereignisse, die aus dem Leben von Prinzessin Carotine bekannt werden, nicht abreißt. 9 Wenn der vorliegende Band sich die Frage stellt, wie Konstrukte von Mediennutzung an konkreten Ereignissen gewonnen oder aktualisiert
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Vgl. als Gründungstext Walter Lippmann: Die öffentliche Meinung [1922], München: Rütten & Loening 1964, S. 235-241; sowie exemplarisch EngeII: »Das Amedium« (wie Anm. 2), S. 138; Georg Ruhrmann: »Ereignis, Nachricht, Rezipient«, in: Klaus Merten!Siegfried J. Schmidt/Siegfried Weisehenberg (Hg.), Die Wirklichkeit der Medien, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 237-256, hier S. 240. Vgl. Georg Franck: »Prominenz und Populismus. Zu Pierre Bourdieus Ökonomie des immateriellen Reichtums«, in: Kunsthalle Wien u.a. (Hg.), Superstars. Das Prinzip Prominenz. Von Warhol bis Madonna, OstfildemRuit: Hatje Cantz 2005, S. 26-39. Zu Rekursivität und Themenbildung in den Massenmedien vgl. Nildas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag 2 1996, S. 28-30 und S. 74-76. Zu einer dementsprechend nicht mehr an konkrete Ereignisse gebundenen, sondern diffus gerichteten und auf Dauer gestellten Erwartungshaltung vgl. Engell: »Das Amedium« (wie Anm. 2), S 149f. und S. 152, der diesen Erwartungsstil allerdings als fernsehspezifisch qualifiziert.
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werden, dann sei es erlaubt, die Vorbemerkungen so ausführlich zu halten. Dieser Text setzt also mit der Frage ein, was eigentlich als das Ereignis fungiert, das Mediennutzung auf Prinzessin Caroline bezieht. Der Mediennutzer, der hier zuallererst in den Fokus tritt, ist die Prinzessin selbst, die sich 1993 entscheidet, der skizzierten Fonn der Berichterstattung entgegenzutreten und durch alle Instanzen bis zum Bundesverfassungsgericht, schließlich sogar in Straßburg beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dagegen zu klagen, dass Fotos publiziert werden, die sie als Eingriff in ihre Privatsphäre wertet. Damit kommt eine weitere Ebene ins Spiel, nämlich die durch die Gerichtsverhandlungen motivierte Beobachtung der Regenbogenpresse durch die Gerichte, oder, abstrakter gesprochen: die Beobachtung der Massenmedien durch das Rechtssystem. Ich möchte im Folgenden also beobachten, wie die Gerichte beobachten, wie die Massenmedien Carolines Leben beobachten. Dabei werde ich mich auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1999 sowie den konträren Spruch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr 2004 konzentrieren. Abschließend möchte ich untersuchen, wie die Massenmedien ihrerseits die Beobachtungen des Rechtssystems beobachten und in ihre Selbstbeschreibung einbauen. Fremd- und Selbstbeobachtung der Massenmedien sind in diesem Fall aufintrikate Weise verwoben. Die Frage, was eigentlich das Ereignis sein könnte, bleibt freilich erhalten, denn die Urteile von 1999 und 2004 hängen zusammen und werden dementsprechend in der massenmedialen Beobachtung aufeinander bezogen. Obgleich diese beiden Sprüche im Zentrum der Mediendiskurse stehen, reicht die Berichterstattung über den von Caroline geführten Rechtsstreit bis zu den ersten Urteilen zurück - wenn nicht gar noch weiter in die juristische Vergangenheit zurückgegriffen wird, um anband älterer Debatten die in der aktuellen Debatte bemühten Grundsätze zu historisieren. Die Radikalität, in der im Rahmen der Caroline-Prozesse Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht in Konflikt geraten, ist freilich neu für die Geschichte des Presserechts.10 So hebt Joachim Jahn in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 2004 rückblickend hervor: »Das geltende Presserecht in Deutschland ist maßgeblich geformt worden von Rechtsstreitigkeiten, die Prinzessin Caroline von Monaco seit den neunziger Jahren vor allem gegen Boulevardmedien geführt hat.« 11 10 ln den bundesdeutschen Debatten um die Pressefreiheit ist das Persönlichkeitsrecht die längste Zeit ein Nebenschauplatz, der nur punktuell - und dann weniger des Schutzes des Privatlebens wegen - aufgesucht wird. Vgl. Jürgen Wilke: »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Pressefreiheit, Darmstadt Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1984, S. 1-56, hier S. 44. 11 Joachim Jahn: »Prominente sind schon jetzt nicht schutzlos«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1.9.2004. Auch ohne dass neue Gesetze erlas100
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Neben dem Griff in die Vergangenheit wird zunächst spekulativ, dann aber auch bei der fallweisen Beobachtung tatsächlicher Urteile in die Zukunft vorgegriffen, um einzuschätzen, welche Auswirkungen die Rechtsprechung insbesondere des Straßburger Gerichtshofs auf die deutsche Rechts- und Pressepraxis haben werde. Man darf hier also durchaus davon sprechen, dass die Massenmedien - älmlich wie in der Berichterstattung zu Caroline - eine Serie konstruieren, indem sie rekursiv thematische Bezüge zwischen einzelnen Ereignissen herstellen. Gerade in diesem Rahmen zeigt sich dann, dass das Urteil von 2004 heraussticht, insofernes-anders als das Verfassungsgerichts-Urteil von 1999 - als radikale Störung der Medienpraxis beobachtet und mit sehr heftigen und lang andauemden publizistischen Bearbeitungen bedacht wird. Weil die folgenden Analysen jedoch nicht in eine Diskursgeschichte des Mediemechts münden wollen, sondem es um die punktuell zugespitzte Konstrnktion von Mediennutzung geht, interessieren die erwähnten Urteile nur, insofern sie als Anlässe zur Konstruktion von Mediennutzung einladen. In diesem Fall wird v.a. von Presseseite das Konzept der Öffentlichkeit mobilisiert, um in der Abwägung der gegenläufigen Grundrechte den ausschlaggebenden Unterschied zu machen. 12 Als Korrelat der Pressefreiheit wird die >Öffentlichkeit< in diesem Rahmen nicht ausschließlich als Beobachtungs- und Kommunikationsraum, sondern auch als Adressat und Empfänger massenmedialer Kommunikation gefasst und dabei quasi als kollektives Nutzersubjekt charakterisiert.
Fremdbeobachtung: Die Urteile Systemtheoretisch gesprochen müsste man zunächst einmal fragen, wie das Rechtssystem, das operational geschlossen ist, also nur anband seiner Codierung rechtfunrecht operieren kann, überhaupt zur Beobachtung des Sozialsystems der Massenmedien gelangt. Niklas Luhmann differenziert hier zwei Sachverhalte: Zum einen sei das Rechtssystem normativ geschlossen, d.h. es beharre enttäuschungsfest auf den zugrunde gelegten Rechtsgrundsätzen, also gerade dann, wenn diese im jeweiligen Fall versen werden, wird spätere Rechtsprechung maßgeblich durch die Folge vorheriger Urteile zu ähnlichen Fällen mitbestimmt und den sich ändernden Rechtsproblemen angepasst. Vgl. Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S. 118, 308 und passim. 12 So der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm: »[E]s muß unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falles abgewogen werden, welches Grundrecht sich behauptet und welches zurückzustehen hat»Schutz auch außer HausUnrecht< markiert werden. Zum anderen ist es kognitiv offen und kann über jene Irrfonnationen verfügen, die erlauben, den anhängigen Einzelfall einer bestimmten Nonn zuzuordnen und entweder als normkonfonn oder normabweichend zu bewerten: »Das Rechtssystem kann, anders gesagt, keine Nonnen, wohl aber Wissen auf die Umwelt beziehen. Doch selbst ein solches Zitieren von Wissen aus der Umwelt ist eine rein interne Operation und kein Vorgang des >Transfers< von Infonnationen.« 13 Wenn das Bundesverfassungsgericht auf kommunikationswissenschaftliche Forschungen zurückgreift, um seine Entscheidung zu orientieren, so kann es dabei weder binnenwissenschaftlichen Methodenstreit noch die Unsicherheit auch wissenschaftlicher Erkenntnisse berücksichtigen, sondern muss sie als Fakten in seine Entscheidung einspeisen. 14 Daher bezieht man sich da, wo es erforderlich ist, auf lehrbuchartige Standardliteratur, 15 operiert jedoch vorzugsweise rekursiv und beruft sich auf frühere Verfassungsgerichts-Entscheidungen. 16 Die Abwägung, die das Gericht im Fall von Prinzessin Carotine zu treffen hat, betrifft zentral die Abgrenzung von Privatheit und Öffentlichkeit. Dieses Problem stellt sich überhaupt erst, weil Carotine in Presse und Rechtsprechung üblicherweise als >absolute Person der ZeitgeschichteNonnalbürger< über das uneingeschränkte Recht am eigenen Bild verfügt, d.h. Veröffentlichungen ihres Bildes auch ohne ihre explizite Einwilligung hinzunehmen hat. Zugleich kann sie, wie jeder, Anspruch auf den Schutz ihrer Privatsphäre 13 Luhmann: Das Recht der Gesellschaft (wie Anm. 11), S. 85. 14 Vgl. ebd., S. 86. 15 Das Urteil in unserem Fall greift zurück auf: Klaus Berg/Marie-Luise Kiefer (Hg.): Massenkommunikation V. Eine Langzeitstudie zur Mediennutzung und Medienbewertung 1964-1995, Baden-Baden: Nomos 1996; Heinz Pürer/Johannes Raabe: Medien in Deutschland, Bd. I, Konstanz: UVK 2 1996. Außerdem legt der Burda-Verlagein Gutachten von Wolfgang Langenbucher und Erich Geretschlaeger vor, das sich »aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht mit der gesellschaftlichen Notwendigkeit einer weitreichenden, die Unterhaltungsfunktion einschließenden Pressefreiheit« befasst. Vgl. BVerfG, l BvR 653/96, vom 15.12.1999, Abs. 98, 99 und 63 (siehe auch: http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungenlrs 19991215_ l bvr065396.html vom 28.8.2006). 16 Vgl. grundsätzlich Luhmann: Das Recht der Gesellschaft (wie Anm. 11), S. 97. 17 Bei der Begrifflichkeit der >Personen der Zeitgeschichterelative Personen der Zeitgeschichte< gelten solche, die nur vorübergehend durch ihren Bezug zu einem bedeutsamen Geschehen (sei es als Überlebender eines Flugzeugunglücks, als Lebensgefährtin eines Prominenten usw.) bekannt werden, wohingegen >absolute Personen der Zeitgeschichte< durch ihre Herkunft, Stellung oder Leistungen dauerhaft öffentliches Interesse binden. 102
DIE ÖFFENTLICHKEIT UND IHRE INTERESSEN
erheben, auf einen Rückzugsraum, in dem der einzelne »die Möglichkeit hat, frei von öffentlicher Beobachtung und damit der von ihr erzwungenen Selbstkontrolle zu sein«. 18 Und dieser Schutzbereich endet, wie das Bundesverfassungsgericht anerkennt, nicht an der Haustür, sondern erstreckt sich auch auf zurückgezogene Räume, die an sich öffentlich zugänglich sind. 19 Die Schwierigkeit besteht folglich darin, dass die Grenze des Privaten im öffentlichen Raum gezogen werden muss, die Unterscheidung privat/öffentlich also -im Sinne eines re-entry- in den öffentlichen Raum eingeführt werden muss. Carolines Anwalt Mattbias Prinz verfolgt die Strategie, die geschützte Privatsphäre Carolines so weit wie möglich auszudehnen. Dabei wird zunächst bezweifelt, dass das Konstrukt der >absoluten Person der Zeitgeschichte< überhaupt gültig, und wenn doch, so wenigstens nicht auf Caroline, die kein öffentliches Amt bekleide, anwendbar sei. Selbst dieser Status könne aber nicht begründen, dass bei solchen Personen »ein generelles öffentliches Interesse an allen Einzelheiten aus ihrem Leben bestehe«. 20 Es müsse vielmehr sichergestellt werden, »ob die Abbildung in einem Zusammenhang mit den Umständen stehe, die die zeitgeschichtliche Bedeutung ausmachten und das öffentliche Interesse an der abgebildeten Person rechtfertigten.« Schließlich wird den beanstandeten Fotografien aufgrund dessen, was auf ihnen zu sehen ist, eine Funktion für die Öffentlichkeit abgesprochen, wie sie für die Idee der Pressefreiheit grundlegend ist: »Die Funktion der Pressefreiheit ergebe sich aus ihrer Bedeutung für den permanenten Prozess der öffentlichen Meinungsbildung. Die streitgegenständlichen Abbildungen könnten nichts zur Meinungsbildung beitragen. Ein Schützenswertes Interesse der Allgemeinheit, im Bild zu sehen, wie die Beschwerdefiihrerin aussehe, wenn sie einkaufe, radele oder Kanu fahre, lasse sich sachlich nicht begründen. Dem Leser mangele es an anderweitigen Unterrichtungsformen über die Erscheinungsformen normalen Lebens nicht. Neugier, Voyeurismus und bloßes Unterhaltungsinteresse seien nicht als schützenswert anzuerkennen.«21
Der Burda-Verlag, in dem die den Stein des Anstoßes liefemde Bunte erscheint, betont hingegen nicht nur, dass das Recht der Pressefreiheit »für das Funktionieren eines demokratischen Staates und einer demokrati-
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BVerfG, 1 BvR 653/96 (wie Anm. 15), Abs. 76. V gl. ebd., Abs. 30-33, 48 und 110-112. Position der Beschwerdeführerin nach ebd., Abs. 48. Position der Beschwerdeführerirr nach ebd., Abs. 50.
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sehen Gesellschaft schlechterdings unverzichtbar« sei, sondern auch unteilbar: »Es schütze gleichermaßen die rein informatorische und die vorwiegend unterhaltende Berichterstattung[ ... ]. Zwischen Politik und Unterhaltung dürfe nicht gnmdsätzlich unterschieden werden. In einer großen Gesellschaft müsse die Presse - soziologisch betrachtet - die Aufgabe wahrnehmen, die in einer Dorfgemeinschaft einzelnen Bürgern zukomme. Ohne Medien könnte es einen Gemeinschaftsbezug nicht geben. Deshalb sei es unverzichtbar, dass die Presse wenigstens aus der Öffentlichkeitssphäre und der Soziasphäre berichten dürfe.«22 Das in der Dorfgemeinschaft- auch in Fonn von Klatsch- verbreitete Wissen über die führenden Personen wäre, so müsste man aus dieser Behauptung folgern, in Analogie auch fur die moderne Gesellschaft funktional - und würde dort von der Presse besorgt. In solch einer Gesellschaft zähle Prinzessin Caroline unstreitig zu den Personen, »die sich durch Geburt, Stellung oder Leistungen außergewöhnlich aus dem Kreis der Mitmenschen heraushöben«, also zu den >absoluten Personen der ZeitgeschichteFirst Lady< einer regierenden Erbmonarchie« komme ihr - qua Stellung- eine »Vorbildfunktion« zu, die ihren Ausdruck naturgemäß auch in den »Abbildungen zum vorbildlichen Lebensstil« findet. 23 Indem Prinz Pressefreiheit eng an eine wesentlich politische Funktion bindet, etabliert er eine qualitative Unterscheidung zwischen schützenswerten w1d nicht schützenswerten Interessen der Allgemeinheit. So stehen dem gemäßen Gebrauch von Medien zur »öffentlichen Meinungsbildung« Neugier, Voyeurismus und Unterhaltung gegenüber. Der Verlagsvertreter hingegen votiert, »daß die Allgemeinheit ein berechtigtes Interesse daran habe zu erfahren, wo [Prinzessin Caroline] sich aufhalte und wie sie sich in der Öffentlichkeit gebe.« Auch dies gehöre zu den Aufgaben der Presse und diene nicht nur der »Befriedigung eines untergeordneten, voyeuristischen U nterhaltungsinteresses«. 24 Die Karlsruher Richter stehen dieser zweiten Position näher, wenn sie betonen, dass die Pressefreiheit zur »freien individuellen und öffentlichen Meinungsbildung« nicht nur nötig, sondern auch »nicht auf den politischen Bereich beschränkt« sei. Vielmehr müsse die Presse autonom »nach publizistischen Kriterien entscheiden dürfen, was sie des öffentlichen Interesses für wert hält und was nicht«. 25 Die Publizistik fungiert
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Ebd., Abs. 54. Ebd., Abs. 56f. Ebd. Abs. 61 [Hervorhebung J.R.]. Ebd., Abs. 97. 104
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demnach als Sachwalter der öffentlichen Interessen und ist - wie Öffentlichkeit- mitnichten thematisch auf Politik limitiert. Was die Unterscheidung von Information und Unterhaltung betrifft, so beziehen sich die Richter auf kommunikationswissenschaftliche Fachliteratur, um die zunehmende Entdifferenzierung von Unterhaltung und Information zum Infotainment wie auch die meinungsbildende Funktion von Unterhaltung zu belegen. Dabei wenden sie sich insbesondere der Funktion von Personalisierung als publizistischer Strategie zu: »Sie weckt vielfach erst Interesse an Problemen und begründet den Wunsch nach Sachinformationen. [ ... ] Prominente Personen stehen überdies für bestimmte Welivorstellungen und Lebenshaltungen. Vielen bieten sie deshalb Orientierung bei eigenen Lebensentwürfen. Sie werden zu Kristallisationspunkten für Zustimmung und Ablehnung und erfüllen Leitbild- oder Kontrastfunktionen. Darin hat das öffentliche Interesse an den verschiedensten Lebensvollzügen solcher Personen seinen Grund.«26 Hier ist unverkennbar, wie stark die juristische Medienbeobachtung darauf abgestellt ist, eine Entscheidungshilfe zu konstruieren, indem sie den Öffentlichkeitscharakter unterhaltender Berichterstattung herausstellt. Zwar gilt die Pressefreiheit zunächst einmal, wie dargestellt, universell für alle Sparten der Publizistik. Wo aber Grundrechte gegeneinander abzuwägen seien, könne es darauf ankommen, »ob Fragen, die die Öffentlichkeit wesentlich angehen, ernsthaft und sachbezogen eröliert oder lediglich private Angelegenheiten, die nur die Neugier befriedigen, ausgebreitet werden«, wie das Verfassungsgericht unter Rekurs auf eine ältere Entscheidung ergänzt. 27 Im Abwägungsfall muss das Grundrecht der Pressefreiheit demzufolge gestützt werden, indem die Funktionalität für die demokratische Gesellschaft für den Fall konkretisiert wird. In diesem Punkt geht die Ulieilsbegründung sogar noch einen Schritt weiter, wenn sie das »öffentliche Interesse« an Prominenten nicht nur nicht abwertet, sondern gerade in seiner Ausdehnung auf die Privatperson jenseits »der Funktionsausübung im engeren Sinn« legitimiert. Das Infonnationsinteresse könne sich »wegen der herausgehobenen Funktion und der damit verbundenen Wirkung auch auf Informationen darüber erstrecken, wie sich diese Personen generell, also außerhalb ihrer jeweiligen Funktion, in der Öffentlichkeit bewegen. Diese
26 Ebd., Abs. I 00. 27 Ebd., Abs. 101. Zur Beschränkung der Fremdbeobachtung auf das juristisch Erforderliche vgl. grundsätzlich Luhmann: Das Recht der Gesellschaft (wie Anm. 11), S. 89-91 und S. 315f. 105
JENS RUCHATZ
hat ein berechtigtes Interesse daran zu erfahren, ob solche Personen, die oft als Idol oder Vorbild gelten, funktionales und persönliches Verhalten überzeugend in Übereinstimmung bringen.Wir gehen davon aus, dass wir mit den bislang eingegangenen Spenden unsere Arbeit in den Flutgebieten in Südasien finanzieren können«Aufklärung vs. Religion< auch ebd.: »Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass sich die gesellschaftliche Funktion der Medien in den letzten 50 Jahren stark verändert hat. War es früher ihre wesentliche Aufgabe, zu berichten und zu informieren, so füllen sowohl Print- als auch Bildmedien heute ftir immer mehr Menschen Bereiche aus, die früher z.B. von den Kirchen besetzt gewesen waren.« 60 Prominentes Beispiel ist der Song »Die perfekte Welle« von Juli, der aus sämtlichen Rundfunkprogrammen gestrichen wurde. 61 Zitiert nach http://www.popkultuljunkie.de/wp/?p=936 vom 5.1.2005. 134
VOM •WELTBEBEN< ZUR •SPENDENFLUT
Wir< adressiert wird, stehen solche Anrufungen der Wissenschaft allerdings nicht entgegen. Eine Formulierung wie »Apartheid der Hilfe«,65 die auf die Ungleichbehandlung der von der Katastrophe Betroffenen, auf die Bevorzugung der zu Schaden gekommenen Touristen zielt, ist zwar bereits ein Beispiel für den teilweise erstaunlich aggressiven Tonfall der Kommentare, lässt sich aber immerhin noch als sachlicher Einwand (gegen die Verteilung der Spenden) begreifen. Das Gros der Kommentare zur Spendenbereitschaft der Deutschen lässt jedoch jegliche Nüchternheit vermissen. Den Spendern wird meistjegliche Aufrichtigkeit und moralische Integrität grundsätzlich abgesprochen. So weiß z.B. die taz als Grund für das hohe Spendenaufkommen zu nennen: »Wenn das eigene Urlaubsressort unter Wasser steht, fallt die Solidarisierung nicht schwer. Es könnte sein, dass auch der Schrecken über die Leichenbilder nur deshalb so groß ist, weil viele ahnen: Man hätte selbst
62 Beck: »Nach dem Tsunami« (wie Anm. 18). Warum dieser >teilnehmenden Beobachtung< (z.B. durch Benutzen der Fernbedienung) nicht zu entkommen ist, bleibt aber rätselhaft. 63 »Schlaflos in der Bilderflut Nach dem Beben: Umfrage erforscht Folgen der TV-Berichte«, in: Süddeutsche Zeitung vom 21.1.2005. 64 Thomas Seythal: >»Die Berichterstattung muss erstmal abbildenbösen Bildern< wieder ihren Ort: »Die Bannherzigkeit unserer Spendenaktion wird mit einer Unbarmherzigkeit der Bilder erkauft. Doch wie bei jeder Katastrophe betrachten wir in der letzten Phase des schrecklichen, schönen Bilderrauschs ernüchtert, was nach der nihilistischen Natur die Bildennaschinen und ihre Vertreter angerichtet haben.«69
Formationen der Mediennutzung Im Zusammenhang des Themenkomplexes Katastrophe und Globalisierung spricht der Mediendiskurs über die Tsunami-Berichterstattung Mediennutzung nur implizit an. Massenmedien werden in diesem Kontext v.a. als gemeinschaftsbildend verstanden. Medien transportieren/produzieren Geflihle70 - und zwar weltweit. Wie mit solch medialen Emotionen umgegangen wird, bleibt weitgehend unreflektiert. Der Tenor lautet: Wer Medien nutzt, wird von ihnen beeindruckt und somit Teil einer glo66 »Die Flut und wir«, in: taz - die tageszeitung vom 6.1.2005. Deutlich moderater wird ein in der Tendenz ähnlicher Sachverhalt im Rückblick formuliert. Vgl. Joachim Worthmann: »Wo die Feme nahe liegt. Vom Umgang mit Katastrophen«, in: Stuttgarter Zeitung vom 28.10.2005 : »Es war insoweit unser Paradies, das da zerstört worden war - umso tiefer saß der Schock.« Statt dem deutschen Fernsehpublikum grundsätzlich das Recht auf Mitgefühl abzusprechen, verweist der Artikel auf die »Notwendigkeit, mit den eigenen Gefühlen, also auch mit dem Mitgefühl, hauszuhalten.« 67 »Die Flut und wir« (wie Anm. 66). 68 Stefan Komelius: »Spendenaktion: Wettlauf der Mitleidenden. Die Hilfe für die Flutopfer überschlägt sich. Dabei wirkt sie zunehmend eitel und selbstgefallig. Etwas mehr Zurückhaltung wäre wohltuend«, in: Süddeutsche Zeitung vom 7.1.2005 . 69 Seeßlen: »Vom Verschwinden des Unglücks in den Bildern« (wie Anm. 28). 70 In vielen Kommentaren wird dies durchaus als positiv empfunden. Als Gefahr für politische Entscheidungsprozesse, als »Emotokratie« dagegen empfindet die >globalen Gefühle< z.B. Virilio: »Die Natur wird an Waffen gemessen« (wie Anm. 31), S. 69.
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VOM •WELTBEBEN< ZUR •SPENDENFLUT
Globalität< der Medienwirkung. Die Globalität des Ereignisses beglaubigt sowohl die Globalität der Medien als auch des Publikums. Explizit reflektiert der Mediendiskurs über Mediennutzung sowohl im Zusammenhang mit der Thematisierung der Authentizität neuerer digitaler Medien als auch mit der Thematisierung der Spendenbereitschaft und seiner Darstellungsformen. Auffällig ist, dass im Kontext beider Themenkomplexe die Kommentare von deutlichem Pathos getragen sind. Die Erörterungen, die sich dabei auf den Themenkomplex Medien und Authentizität und den produktiven Umgang mit Medien beziehen, scheinen geradezu genauso übertrieben positiv-optimistisch zu sein, wie die Erörterungen, die sich auf die Rezeption (v.a. der Fernsehberichterstattung) beziehen, übertrieben negativ sind. Während der aktiven Nutzung digitaler Aufnahmeapparaturen und des Irrtemets zugetraut wird, sich dem Verbund traditioneller Massenmedien entgegenzusetzen und eine Authentisierung, eine Demokratisierung und sogar eine Art Relokalisierung der (globalen) Berichterstattung forcieren zu können, wird den passiven Nutzern (also den Zuschauern und Lesern) keinerlei kritisches Potential zugestanden. Die Rezeption von Medien wird beinahe ausschließlich als gedankenloser, voyeuristischer Konsum thematisiert. Unter dem Motto »Sie Spenden - wir senden« fingiert der Mediendiskurs einen Kurzschluss von Massenmedien und Publikum, der dem Rezipienten als einzige Reaktionsoption einen automatisierten Spenden-Zwang unterstellt (und man fragt sich, mit welchen >kritischen< Lesern Kommentare dieser Art dann noch rechnen können). Als hätte man es mit zwei vollkommen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen- den >Produzenten< und den >Rezipienten< - zu tun, die nie in einer Person zusammentreffen könnten, steht in den Kommentaren zur Tsunami-Berichterstattung dem hoffnungsfrohen Advent der aktiven Nutzung neuesterdigitaler Medien die Apokalypse der Rezeption traditioneller Massenmedien diametral und unvermittelt entgegen.
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»MEHR LICHT. FISCHER LIVE«. 1 DIE >VISA-AFFÄRE< ALS MEDIENEREIGNIS CORNELIA EPPTNG-JÄGER/LUDWIG JÄGER
Es ist bekannt, dass die Techniken der unmittelbaren Wiedergabe von Worten und Bildern im selben Maß, in dem sie sich entwickeln, zugleich auch interpretieren, selektieren, filtern und infolgedessen das Ereignis machen, anstatt es bloß abzubilden. Jacques Derrida2
Erei gn i s- Karriere Am 17. Dezember 2004 setzte der Deutsche Bundestag im nahen zeitlichen Vorfeld der im Jahre 2005 stattfindenden Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen auf Antrag der CDU/ CSU einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss ein, der die Missbrauchsfälle bei der Vergabe von Visa in verschiedenen deutschen Botschaften und Konsulaten untersuchen sollte. Der Visa-Missbrauch der u.a. durch ein Gerichtsverfahren/ aber auch in der öffentlichen politischen Auseinandersetzung, in einen Zusammenhang mit sogenannter »Schleuser-Kriminalität« gebracht worden war - wurde von den aus-
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Der Titel greift zurück auf Heribert Prantl: »Mehr Licht. Fischer live«, in: Süddeutsche Zeitung vom 1.4.2005. Diesem Beitrag liegt eine Recherche in der Datenbank LexisNexis und in den Online-Archiven von Die Zeit, Süddeutsche Zeitung und Kölnische Rundschau zugrunde. Jacques Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin: Merve 2003, S. 22. Am 11.2.2004 verurteilt das Landgericht Köln den Deutsch-Ukrainer Anatoli Barg wegen »Schleusertätigkeit« zu fünf Jahren Haft. Das Gericht begründete die relativ milde Strafe mit dem Umstand, dass auch dem Auswärtigen Amtaufgrund des sogenannten »Volmer-Erlasses«, der der bestehenden Rechtslage widerspreche, ein Fehlverhalten vorzuwerfen sei, das die Straftaten Sargs begünstigt habe. 139
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schuss-beantragenden Oppositions-Parteien auf die Neufassung der VisaVergabepraxis durch die aus SPD und Grünen gebildete Bundesregierung, insbesondere auf den im März 2000 in Kraft getretenen sogenannten »Volmer-Erlass«4 zurückgeführt, der die Versagung eines Visums nicht mehr bei jedem Zweifel an der Rücldin dubio pro libertate - im Zweifel ftir die ReisefreiheitVisa-Affare< folgt einer solchen Verlaufslogik:11 Das Problem der Visa-Vergabe war bereits seit Ende der 90er Jahre sowohl im politischen als auch im medialen System- wenn auch llllter anderen Vorzeichen - ein Erörterungsgegenstand. Im Vordergrund der politischen und medialen Wahrnehmung im Ereignisvorfeld stand hier jedoch eher der auch in konservativen Medien vertretene Wunsch nach einer Liberalisierung bei der Erteilung von Visa, der u.a. motiviert war durch den Versuch, nach der Öffnung der Grenzen der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten nach Westeuropa den neuen wirtschaftlichen und humanitären Belangen besser gerecht zu werden; zugleich sollte so aber auch der auf dem Gelände der Botschaften und Konsulate der Bundesrepublik aktiven sogenannten >Warteschlangen-Mafia< der Boden ihrer Aktivitäten entzogen werden. 12 Es war dieser weithin geteilte Liberalisierungswunsch, dem sich neben anderen Verfahrensänderungen 13 der im März 2000 ergangene sogenannte >Volmer-Erlass< verdankte, 14 der in der
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V gl. etwa Susanne Bräcklein: lnvestigativer Parlamentarismus. Parlamentarische Untersuchungen in der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten, Berlin: Duncker & Humblot 2005. Zum Ereignisbegriffvgl. den Abschnitt »Karriere-Bedingungen«. Vgl. zur Unterscheidung von »Vorkommnis« und »Ereignis« Lorenz Engell: »Das Amedium. Grundbegriffe des Fernsehens in Auflösung: Ereignis und Erwartung«, in: montage/av. Zeitschrift ftir Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 5/1 (1996), S. 129-153, hier S. 145. Zur Logik der Ereignisgenese vgl. Cornelia Epping-Jäger: »Zur Rhetorizität von Ereignissen« (in diesem Band). Nach Berichten von Antragstellern verkauften organisierte Banden Antragstellern günstigere Plätze in den Warteschlangen, die sich beim Ansturm auf die Visa-Vergabestellen bildeten. Bereits die Regierung Kohl hatte im Rahmen des europäischen Schengener Abkommens das sogenannte Reisebüroverfahren als Ausnahmeverfahren zugelassen. Ab Mai 2001 ließ das Auswärtige Amt Reiseschutzversicherungen der Antragsteller als Bonitätsnachweis zu. Der >Volmer-Erlass< konnte sich zunächst offenbar auf einen parteienübergreifenden Konsens stützen. 141
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Tat in einem parteipolitisch noch mehr oder minder konsensuellen Klima entstanden war. 15 Dass die fortdauernden problematischen Zustände bei der VisaVergabe schließlich in einen vollständig gewandelten themenkonstitutiven Wahrnehmungsfokus gerieten, scheint sich neben anderen16 v.a. zwei auslösenden Faktoren verdankt zu haben: einmal der spektakulären Begründung, die das Landgericht Köln Ende Februar 2004 für seine relativ milde Verurteilung des Deutsch-Ukrainers Anatoli Barg wegen »Schleusertätigkeit« geltend gemacht hatte. Dessen Straftaten - so das Gericht sei durch »schweres Fehlverhalten« des Auswärtigen Amtes Vorschub geleistet worden, und der Visa-Erlass stelle einen >kalten Putsch gegen die bestehende Gesetzeslage< dar, 17 eine Urteilsbegründung, die breite und kontroverse öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr. Zum Zweiten verdankte sich der veränderte Wahrnehmungsfokus den sich ankündigenden Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Für die Oppositionsparteien erschien es im Hinblick auf diese Wahlen offensichtlich aussichtsreich, die von der rot-grünen Regierung zu verantwortenden >Verfehlungen< bei der Visa-Vergabe zur Konstruktion von öffentlichkeitswirksamen Argumenten gegen Regierungspositionen auf den politischen Problemfeldern »Einwanderungspolitik«, »kulturelle Identität«, »Arbeitsmarkt« und »Reisefreiheit« etc. zu nutzen. 18 V.a. schien ein Angriff auf den verantwortlichen Minister, den in allen BeliebtheitsRankings führenden Außenminister Joschka Fischer, und damit eine me-
15 So können die Antragsteller der Großen Anfrage der CDU/CSU an die Bundesregierung in ihrer Vorbemerkung zur Antwort der Bundesregierung die Feststellung des Staatsministers Ludger Volmer, bei der Verabschiedung des Visa-Rundedasses sei »keinerlei Kritik geäußert wordenVisa-Affäre< scheint insofern in der Tat der paradigmatische Fall einer medialen Ereignis-Karriere zu sein, deren Konstitutionsbedingungen es verdienen, näher ins Auge gefasst zu werden. Die folgenden Überlegungen intendieren deshalb keine historisch-chronologische Rekonstruktion der ereignisbezogenen Vorkommnisse im politischen und öffentlichen Raum. Sie zielen vielmehr auf die Analyse des medialen Prozesses der Ereigniskonstitution aus dem Horizont ihrer Entstehungsbedingungen.
Karriere- Bedi ngu nge n Wenn hier von der Karriere eines »Ereignisses« die Rede ist, so wird »Ereignis« nicht als eine Entität verstanden, die medialen Operationen gleichsam als ontologische vorausliegt Das Darstellungssystem der Massenmedien kann nicht auf eine prämediale Welt des Darzustellenden zurückgreifen. Es findet nirgendwo eine - wie Luhmann formuliert »ontologische, vorhandene, objektiv zugängliche, konstruktionsfrei erkennbare Realität« im Sinne eines »Essenzkosmos« vor. 20 Das mediale 19 Dass diese Strategie erfolgreich war, lässt sich nachlesen: Frank Diering: »Jeder Dritte fordert Fischers Rücktritt. ARD-Deutschland Trend: Das Ansehen des AußenministersUnumgängliche Erfordernisse
21 Zum Begriff und zum theoretischen Konzept der >Transkription< vgl. Ludwig Jäger: »Transkriptive Verhältnisse. Zur Logik intra- und intermedialer Bezugnahmen in ästhetischen Diskursen«, in: G. Buschmeier/U. Konrad/A. Riethmüller (Hg.), Transkription und Fassung. Bericht des Kolloquiums Mainz 2006, Mainz: Akademie der Wissenschaften und der Literatur [im Druck]. 22 Siegfried J. Schmidt kann in der Kritik eines »ontologisch gedeutete[n] Dualismus von Lebenswirklichkeit und Medienwirklichkeit« zugestimmt werden: »Die Wirklichkeitskonstruktionen jedes Einzelnen als Funktion seiner Mediensozialisationen und Medienumwelten und orientiert durch die Sinngebungsprogramme der Medienkultur sind längst Teil und nicht etwa das Andere der Medienwirklichkeiten.« (Siegfried J. Schmidt: »Aufmerksamkeit. Die Währung der Medien«, in: Aleida und Jan Assmann (Hg.), Aufmerksamkeiten. Archäologie der literarischen Kommunikation VII, München: Fink 2001, S. 182-196, hier S. 190). 23 Luhmann: Die Realität der Massenmedien (wie Anm. 20), S. 8. Vgl. hierzu auch Ludwig Jäger: »Sprache als Medium politischer Kommunikation. Anmerkungen zur Transkriptivität kultureller und politischer Semantik«, in: Ute Frevert/Wolfgang Braungart (Hg.), Sprachen des Politischen. Medien und Medialität in der Geschichte, Bielefeld: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, S. 332-355. 24 Vgl. das »Postskriptum« zu diesem Beitrag.
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der Kommunikation«. 25 In diesem Sinne thematisch wurden die - bis 1994 im Ereignisvorfeld bereits in der einen oder anderen Form politisch und medial verhandelten- Probleme der Visa-Vergabe erst mit dem Urteil des Kölner Landgerichtes sowie der Großen Anfrage der CDU/CSU im Bundestag. Sie wurden nun - bei aller Divergenz in der politischen Einschätzung - weithin unter der zentralen, konsensuell genutzten Adresse »Visa-Affäre«26 verhandelt sowie nach der Einrichtung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses unter den Labels »VisaAusschuss« und» Visa-TV« gefühtt. 27 Die Setzung eines thematischen Fokus, unter dem sich eine Vielzahl zuvor heterogener politischer und medialer Vorkommnisse bündeln lässt, stellt in gewissem Sinne einen Magnetkern bereit, der bislang heterogene und inhaltlich durchaus divergierende mediale und politische Ereignisfragmente unter einer neuen thematischen Perspektive anzieht. Erst wenn Ereignisse so - unbeschadet semantisch und politisch kontroverser Deutungen - weithin konsensuell unter bestimmten thematischen Adressen für diskursive Bezugnahmen zur Verfügung stehen, können sie im Spiel medialer Ereigniskonkurrenz eine möglicherweise erfolgreiche Rolle spielen. Zugleich stellt die thematische Adresse den Bezugspunkt für eine Fülle von kommunikativen Anschlusshandlungen dar, die nun ihrerseits zu einer Stabilisierung und Konsolidierung des Themas beitragen. Löst sich der thematische Kern aus welchen Gründen auch immer auf, diffundieren die ihres Zentrums beraubten Ereignisfragmente in ein Ereignisnachfeld. Die Etablierung einer thematischen Adresse muss deshalb als ein wesentliches Moment der medialen Ereigniskonstitution angesehen werden.
25 Luhmann: Die Realität der Massenmedien (wie Anm. 20), S. 13. 26 So subsumiert etwa Wikipedia die politischen und medialen Vorkommnisse um das Problemfeld der Visa-Vergabe unter dem vergleichsweise neutralen Titel »Visa-Affäre« (vgl. www.wikipedia.org/wikiNisa-Affäre vom 27.8.2006). Natürlich stellen Prädikationen wie »Visa-Affäresachgemäße Aufnahme< ihrer Themen in den Massenmedien auf folgende Weise zu steuern: »Sprecher des auswärtigen Amtes begleiteten Agenturjournalisten und liefern live die richtige Lesart unbotmäßiger Fakten« (Guido Heinen: »Fischer-TV«, in: Die Welt vom 7.4.2005). Und: »Im Ausschuss selbst sorgte das Vorgehen der AA-Sprecherriege, die in laufender Sitzung auf der Pressetribüne parallel die amtsgenehme Interpretation der Geschehnisse in die Blöcke besonders junger Journalisten diktierten, für Aufsehen« (Ders.: >»Seriöse, sachliche AnhörungZoomKommission>Unter dem staatsmännischen Zweireiher den menschlichen Grobian sichtbar werden lassen«. In einem anschließenden Artikel »Fischers Erzählungendass die banden- und gewerbsmäßige Schleusung von Ausländern durch eine fehlende Einladerdatei [ ... ] begünstigt wurde«investigativer Parlamentarismusbasisdemokratischen< Hoffnung, dieser neue Typus der parlamentarischen Untersuchung erlaube dem demokratischen Souverän die »direkte Teilhabe [ ... ) an der Kontrolle der Exekutive«/7 er realisiere das »Primat der Öffentlichkeit«38 und verwirkliche das »Gebot der Informationsfreiheit«. 39
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sind gestattet, wenn zwei Drittel der Mitglieder sowie die zu vernehmenden Zeugen zustimmen.« (Sonstein u.a.: »Visa-TV« (wie Anm. 27), S. 109). Die Prädizierung der »Visa-Affare« als »Skandal« ist in den Printmedien weit verbreitet. Die Welt vom 6.4.2005 spricht von »Visa-Skandal«, Die Zeit von einem »öffentlichen Skandal«, zugleich aber auch distanziert von einer »skandalfixierten Medienlandschaft« (Martin Klingst: »Spot an für Fischer«, in: Die Zeit 17 (21.4.2005), S. 21), die Süddeutsche Zeitung, schreibt von einer »Skandalgeschichte«. Fischer seinerseits wehrt sich in der Befragung durch den Untersuchungsausschuss gegen die >>Unsägliche Skandalisierung« (vgl. Peter Blechschmidt: »Fischer gesteht >fatale Fehler< -und geift an«, in: Süddeutsche Zeitung vom 26.4.2005). Vgl. Andreas Dörner: Politainment. Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft, Frankfurt!Main: Suhrkamp 200 I, S. 31 ff. Matthias Rüb: »Freude am Grillen. Anhörungen im Fernsehen haben in Amerika Tradition«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.4.2005. Vgl. »Primat der Öffentlichkeit«, in: Süddeutsche Zeitung vom 17.2.2005. Vgl. Heribert Prantl: »Das Fischer-, Kohl- und Kinkel-Fernsehen«, in: Süddeutsche Zeitung vom 16./17.4.2005: »Es ist daher Zeit geworden für LiveÜbertragungen. Das hat nichts mit politischem Voyeurismus zu tun, das ist ein Gebot der Informationsfreiheit.« 148
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Pointiert bemerkt hierzu etwa der Spiegel in der Untertitelung seiner Artikelüberschrift »Visa-TV>Unterhaltender Politik und politischer Unterhaltung«44 und damit flir einen Politiktypus gelten, der den »Aufmerksamkeitsregeln«45 des Mediensystems in pointierter Form entspricht.
40 Bonstein u.a.: »Visa-TV« (wie Anm. 27), S. 108. 41 Dass diese Schwelle auch unter den skizzierten Bedingungen nicht unkri-
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tisch war, zeigt sich daran, dass sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen an der Übernahme der Live-Übertragung des Parlamentsfernsehens nicht beteiligte. Rüb: »Freude am Grillen« (wie Anm. 37). Andreas Dörner: »Politainment versus Mediokratie«, in: mediacultureonline, unter www.mediaculture-online.de vom 21.6.2002, S. 2. Ebd. Zum Begriff der »Aufmerksamkeitsregel« vgl. Niklas Luhmann: »Öffentliche Meinung«, in: Politische Vierteljahresschrift 11/1 (1970), S. 2-28. 149
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Unterhaltu ngsförmigkeit/Persona Iisieru ng Folgt man der Argumentation Dörners, so stellt »Politik im Unterhaltungsformat [... ] immer eine personalisierte und auf einfache Grundkonstellationen reduzierte Wirklichkeit dar.« Der »Nonnalmodus des Politischen« werde hier - so Dörner - durch Darstellungsformen gekennzeichnet, die zwar als »Verzerrungen und Verkürzungen« dessen angesehen werden müssten, »was politische Prozesse« kennzeichne; es sei aber gerade dieser »Modus unterhaltender Politikrepräsentation«, der die überkomplexen Sachverhalte der politischen Welt veranschauliche und verlebendige: »Es scheint so, als wenn Komplexitätsreduktion durch Personalisierung in einer unüberschaubar gewordenen politischen Welt geradezu zwingend geworden ist, um Politik für ein Laienpublikum wahrnehmbar zu gestalten.«46 Wie auch immer man zu den Einlassungen Dörners steht, so zeigen sich am Beispiel von »Visa-TV « doch ohne Zweifel exemplarisch die Chancen, die die Befragung von Zeugen zu aufklärungsbedürftigen Sachverhalten unter den Bedingungen der audiovisuellen OnlineÜbertragung für die Personalisierung politisch komplexer Sachverhalte bietet. In der Ereignisphase der »Visa-Affäre« werden nämlich die mit dem Problem der Visa-Vergabe aufgetretenen Probleme- wobei die anstehenden Landtagswahlkämpfe sicher eine nicht unbedeutende Rolle spielen - in spektakulärer Form mit der Person und Biografie des Außenministers Joschka Fischer verknüpft. Natürlich folgen Institutionen wie parlamentarische Untersuchungsausschüsse, die Sachverhaltsaufklärung über die Exponierung von Personen betreiben, wobei Befrager und Befragte vor live übertragenden Kameras agieren, in gewissem Sinne bereits auf der Seite des politischen Systems einer Personalisierungsstrategie, die umso mehr die Aufmerksamkeitszuwendung von Medien erwarten darf, als sie ein szenisches Fonnat bedient, das in höchstem Maße medienadäquat ist. 47 Die Unterhaltung.~formigkeit verdankt sich dabei insbesondere dem Umstand, dass prominente politische Akteure im Rahmen eines - längst als Fernsehunterhaltungsformat eingeführten - Gerichtsschemas investigativem
46 Dömer: »Politainment versus Mediokratie« (wie Anm. 43), S. 3. 47 Ob man die Feststellung des Ausschuss-Obmanns der CDUICSU, Eckart von Klaeden, »die Fragen an den Zeugen Fischer seien[ ... ] nicht am Femsehpublikum ausgerichtet« worden, ernst nehmen kann, steht noch dahin (vgl. »Millionen sahen Fischer-TV«, in: Spiegel Online vom 26.4.2005). Bereits am 15.4.2005 hatte von Klaeden betont, dass die Sitzung keine Show-Veranstaltung werden solle: »Wir werden alles tun, damit es nicht zu einem Spektakel kommt.Gerichtsbühne>Bildern von Politikern unter Stressbedingungen«, die die Wahlen entscheiden könnten (Sonstein u.a.: »Visa-TV« (wie Anm. 27), S. 109). Die Welt berichtet, Die Grünen hätten »besondere Sorge [ ... ] vor Kamerafahrten, die das Gesicht des Außenministers aus der Nähe zeigen könnten« (Guido Reinen: »Ringen um die Regie bei Fischers Aussage. Parteien uneins über Fernsehaufnahmen aus dem Visa-Untersuchungsausschuss«, in: Die Welt vom 20.4.2005). Entschieden wurde dann: »Es darf gezoomt werden, allerdings nur bis zur Brustbildgröße. Ob dabei etwaige Schweißperlen auf der Stirn des flunkernden Zeugen erkennbar sein werden, wird das Publikum spätestens am Donnerstagmittag wissen« (Peter Blechschmidt: »Zügel ftir den Zoom im Visa-Ausschuss«, in: Süddeutsche Zeitung vom 20.4.2005). 49 Rüb: »Freude am Grillen« (wie Anm. 37). 50 Die live übertragenden Privatsender N-TV und N24 führen für die Zuschauer eine Form des Online-Urteils über das persönliche Auftrittsverhalten Fischers ein (»Live-Voting«), bei dem die Antworten auf Fragen wie »Was glauben Sie, wird Joschka Fischer es packen? Hm?«, »Hat Joschka Fischer es drauf?«, »Ist Joschka Fischer ein cooler Typ?«, »Ist die Atmosphäre im Ausschuss zu kollegial?«, »Zieht Fischer eine Show ab?« etc. in einer jeweils stark schwankenden Balkendarstellung in die laufende Übertragung eingeblendet werden (vgl. »Ist Joschka Fischer cool?«, in: taz- die tageszeitungvom 27.4.2005). 51 Vgl. hierzu den folgenden Abschnitt. 151
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der Frage orientiert ist, ob es dem »Medienprofi Fischer« gelingen wird, seinen »Auftritt fiir einen großen Befreiungsschlag« zu nutzen. 52 Während Teile der Presse im Vorfeld der Ausschussbefragung der Hoffnung Ausdruck geben, dass die »Rollenspiele des Joschka Fischer [ ... ], auf welche Journalisten sonst so gerne hereinfallen, weil er sie ihretwegen inszeniert, um durch ihre Berichte zu Macht, Einfluss und Amt zu kommen« nunmehr unter den medialen Bedingungen des »Visa-TV« »im Säurebad genauer Beobachtung aufgelöst« würden, 53 erwarten andere aufgrund der medialen Professionalität Fischers keine >>dramatischen Enthüllungen«: »Mit einer Entzauberung54 des Vize-Kanzlers rechnet derzeit in der Hauptstadt niemand.«55 Natürlich steht diese Erwartung im Kontext der artistischen Fähigkeiten, der »großen Begabung zur Selbstinszenierung«56 bzw. der »Selbstdarstellungskunst«,57 die dem »politischen Großschauspieler«, 58 dem »Mimen Fischer«, 59 in den Massenmedien weithin zugeschrieben werden und die die Übertragung der Ausschusssitzung bereits im Vorfeld als eine in ihrem Verlauf leicht prognostizierbare »Joschka-Fischer-Show« 60 erscheinen lässt: »Natürlich werden Fragen offen bleiben, natürlich wird er an für ihn heiklen Punkten mauem, natürlich wird die Opposition ihm nachher vorhalten, der Außenminister habe nicht vorbehaltlos zur Aufklärung der Visa-Affäre beigetragen. Doch unterm Strich wird Fischer den Eindruck in deutsche Fernsehstuben
52 Vgl. Peter Blechschmidt: »Visa-Affäre: Probleme dauern länger als vom Minister zugegeben. Gezänk um >Fischer-TVIch Joschkal«journalistisch einordnenHalbsatz>öffentliches Sterben« wurde. 6 Der 3 4
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»Papst Pius X. t«, in: Rheinischer Merkur vom 20.8.1914. Zu den Ausnahmen von dieser Regel gehört, neben Johannes Paul II., auch Johannes XIII.; hier konzentriert sich die Berichterstattung stark auf das »Versöhnungswerk«, das Jobarmes XIII. auf den Weg gebracht habe. Der Recherche zur Berichterstattung um den Tod Johannes Pauls II. liegt eine Recherche in der Datenbank LexisNexis zugrunde, die den Zeitraum März bis 25. April 2005, also bis kurz nach der Wahl Benedikts XVI. als Nachfolger (19.4.2005), umfasst. Ergänzend wurden in jenem Zeitraum folgende Zeitschriften und Zeitungen gesichtet: Süddeutsche Zeitung, Frankfitrter Allgemeine Zeitung, Frankforter Allgemeine Sonntagszeitung, Welt am Sonntag, Frankfurter Rundschau, Kötner Stadt-Anzeiger, Der Spiegel und Focus. Vgl. Philippe Aries: Geschichte des Todes, München: dtv 102002, S. 19-23. Vgl. Thomas Fromm: »Meister der Momente«, in: Financial Times Deutschland vom 4.4.2005: »Das öffentliche Sterben von Papst Johannes Paul II. ist 160
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letzte öffentliche, vom Fernsehen ausgestrahlte Auftritt des bereits todkranken Papstes, sein »Üstersegen mrbi et orbigesendetheiliges Martyrium< entfalte 161
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rend des Ostersegens versagende Stimme wird zum »heilige[n] Röcheln«, mit dem er »alle Menschen« erreicht, da er die allen verständliche Sprache »des Leidens und der Liebe« spricht. 11 Das Sterben des Papstes, so die mediale Botschaft, inkludiert alle und erreicht damit, was die Massenmedien per definitionem anstreben.
Verschiedene Schauplätze Dieser letzte öffentliche Auftritt des Papstes am Ostersonntag 2005 erhält eine doppelte Funktion: Er beendet die erste Phase des Medienereignisses - das »öffentliche Sterben« - , und er markiert zugleich den Beginn der zweiten Phase, die Situation nach seinem Tod. Gerade die Bilderund Sprachlosigkeit - Johannes Paul li . hatte festgelegt, dass weder Fotoapparate noch Tonbänder in den letzten Stunden seines Lebens eingesetzt werden dürfen - produziert eine Suche nach Worten und Bildern, führt zu Imaginationen, die das für die Öffentlichkeit unsichtbar Gehaltene gleichwohl sichtbar werden lassen. Die Bilderlosigkeit des päpstlichen Sterbens wird für die Stuttgarter Zeitung zur »Sendenot«. Sie setzt in dem Moment ein, als die Vorhänge am Fenster der Papstwohnung, die sich kurz - »wie zu einer Theatervorstellung« - geöffnet hatten, sich »umso rascher wieder schlossen, als nach wenigen Sekunden die Kräfte des Todkranken schwanden«. Jetzt gibt es nichts mehr zu sehen und zu zeigen: »Gesendet wurde aber trotzdem, und das praktisch rund um die Uhr.« 12 Als »vielfach grotesk« bezeichnet der Bericht diese NotSendungen: »Die Menge der besorgt Betenden wnchs innerhalb weniger Stunden von tansenden zu vielen tausenden, zu abertausenden, dann zu zehn-, schließlich zu hunderttausenden, und dies eben nicht nur, weil irgendein Beobachter Zeit gehabt hätte, sie wirklich zu zählen oder zu schätzen, sondern allein schon wegen
sich da auf allen Kanälen, >für alle Laien zugänglich und nachvollziehbarich glaube, dass gerade diese Darstellung, die nicht aus Worten besteht, in unserer heutigen Zeit noch mehr Wirkung hat als die Worte selbst. Auf diese Weise spricht der Papst wirklich mit allen Menschen, weil er eine verständliche Sprache spricht, die des Leidens und der Liebe.>Nach Rom. Millionen Menschen wollen im Petersdom
noch einmal den Mann sehen, der ihnen Halt gab - Johannes Paul Il.«, in: Frankfurter Rundschau vom 7.4.2005. 16 Tobias Piller: »Keine Wege fuhren nach RomBeerdigungsKrieg< strategisch vorbereitet, werden Abwehrkräfte und Waffen in Stellung gebracht. 20 Insgesamt finden von den drei Schauplätzen- Rom und seine Pilger, die Welt und der Luftraum über Rom- Rom und hier v.a. seine >Pilger< die intensivste mediale Aufmerksamkeit. Nahezu jeder Bericht weiß, 18 Vgl. z.B. »Zum Ableben Leos XIII.«, in: Kölnische Zeitung vom 24.7.1903. 19 Marina Zapf: »Trauerfeier verwandelt Rom in eine Festung«, in: Financial Times Deutschland vom 6.4.2005. 20 Vgl. ebd. Vgl. auch Roman Arens: »Weltgipfel vor Millionen. Die Trauerfeier für Johannes Paul li. ist für Polizei und Behörden eine einzigartige Herausforderung«, in: Frankfurter Rundschau vom 8.4.2005: »Um Gefahren vom Himmel abzuwehren, haben Heer und Luftwaffe rund um die Stadt Raketensysteme in Stellung gebracht. Zur Luftabwehr dient auch die Bewaffnung des Zerstörers >Mimbelli< der italienischen Marine vor der nahen Küste. Vier Abfangjäger fliegen Patrouille, um einem Kamikaze-Flieger die Absicht zu vereiteln, und werden auch in der Luft aufgetankt. Um kleine Flugzeuge abzufangen, stehen Hubschrauber und vier weitere Flugzeuge zur Verfligung. Zur Radarkontrolle vom Boden aus kommt in der Luft auch das Nato Awacs-System.«
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dass die Menschen nach Rom gekommen sind, um den Papst, wie es heißt, »noch einmal zu sehen«. Damit wird, ohne dass dies erwähnt würde, der paradoxe Zustand einer >anwesenden Abwesenheit< angezeigt: Der Papst, der als Lebewesen für immer abwesend ist, bleibt als Leiche >anwesendvor Ortdraußen in der Welt< bleiben mussten. Aber es geht nicht nur um Tod und Trauer. In die Berichte schreibt sich auch die Sprache des Sports ein; das Szenario erhält Züge einer sportlichen Leistungsschau, in der die Schnellsten und die Stärksten den Sieg davontragen. Das Ziel dieses Wettkampfs ist der Petersdom und die dort aufgebahrte Leiche des Papstes. Tränen, der Wettlauf mit der Zeit, die Heerschar der »Pilger«, die jedes vorstellbare Maß übersteigt, und schließlich die paradoxe Imagination einer globalen Gemeinschaft werden ineinander gespiegelt. Diese Mischung wird noch angereichert mit - wie Sybille Simon-Zülsch polemisch vermerkt - »völlig überflüssigen und obendrein erschütternddilettantisch hingeschlampten Pilger-Impressionen«. Dazu rechnet sie Formulierungen wie: »Die Schlange ist kilometerlang, die Wartezeiten steigen«, oder Reporterfragen wie: »Wie war's denn, als Sie ihn gesehen haben?«, und die stereotype Replik: »Er lag so still und friedlich da.«22 Ein viertes Moment, dem sich nur wenige Berichte widmen, sei wenigstens kurz erwähnt: die rund 3500 in Rom akkreditierten Joumalisten,23 ihr Arbeitsplatz und ihr Equipment. Die Berichte beschreiben den enormen Aufwand und die technischen Schwierigkeiten, vor denen v.a. die Femsehberichterstattung, die Bilder braucht, steht. 24 Gerüchte über 21 Vgl. Thomas Macho: »Tod und Trauer im kulturwissenschaftlichen Vergleich«, in: Jan Assmann (Hg.), Der Tod als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Totenriten im Alten Ägypten, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000, S. 89-120. 22 Sybille Simon-Zülsch: »Im Reich der Toten«, in: Stuttgarter Zeitung vom 6.4.2005. Vgl. auch Hans Zipperts Glosse »Zippert zappt«, in: Die Welt vom 7.4.2005. 23 Vgl. Michael Hanfeld: »Zahlen müssen alle. Ein Platz auf der Terrasse: Was die Sender alles tun, um an Bilder aus dem Vatikan zu kommen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8.4.2005. Bereits 1903 wird in einem Kommentar der Frankfurter Zeitung vom 22.7. von einem ganzen »Heer von Reportern« berichtet, das sich anlässtich des Todes von Papst Leo XIII. in Rom aufhielt. Die Nervosität der Journalisten und ihr »blinder Eifer« werden daftir verantwortlich gemacht, dass die Falschmeldung über den Papst durch die Welt ging, kaum dass sie verkündet worden war. 24 Zur Angabe der Größenordnung vgl. Hanfeld: »Zahlen müssen alle« (wie Anm. 23). Als >>Unpassend martialisch« bezeichnet Hanfeld, dass der stellvertretende CNN-Chefredakteur Tony Maddox gesagt hat, dass »>das hungrige TierKrieg< aufgerüstet worden ist. 26 Diese Medien-Aufrüstung schuf die materielle Basis für jene Gigantomanie in der Zahl der Direktschaltungen, die den Kalauer provoziert: »Von heute an führen wieder alle Übertragungswege nach Rom.« 27 Gigantomanie spielt in solchen Medienzeiten in zweifacher Weise eine wichtige Rolle: Das Ereignis wird als gigantisch vor Augen gestellt, und die mediale Aufmerksamkeit, die das Ereignis findet, wird gleichermaßen als gigantisch bezeichnet. Die hohen Einschaltquoten, die nicht nur als Beleg für das große Zuschauerinteresse gelten, sondern auch als
>auf großer Jagd«< sei. Vgl. auch Tobias Piller: »Sie wollen weißen Rauch sehen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.4.2005; Roman Arens: »Nach Rom: Die Terrasse als Platz an der medialen Sonne. Die Fernsehsender zahlen Unsummen für die beste Perspektive auf die Trauerfeierlichkeiten flir den Papst im Vatikan«, in: Frankfurter Rundschau vom 7.4.2005. 25 Piller: »Sie wollen weißen Rauch sehen« (wie Anm. 24). 26 Eine zweite Episode erzählt davon, was die öffentlich-rechtlichen Fernsehund Hörfunkveranstalter gerettet habe: Die RAI hatte »am wenigsten von allen vorausgeplant«, und das steigerte enorm die Chancen der Regelung durch die European Broadcasting Union (EBU), da diese nun auch für das italienische Mitglied sprach, »das sich sonst gerne seiner besonderen (und besonders preisgünstigen) Beziehungen zum Vatikan bedient. [... ] Damit war dann offenbar recht schnell genehmigt, was sonst schwierig hätte werden können: Für dreißig europäische Sender und noch einmal an die dreißig aus anderen Kontinenten erhielt die EBU die Möglichkeit, gleich gegenüber dem Petersplatz ein Gerüst mit vierundzwanzig Übertragungsplätzen auf drei Stockwerken aufzubauen [... ].« Der technische Fortschritt lag in den Glasfaserkabeln, die »ausnahmsweise« rechtzeitig verlegt worden waren, so dass keine Übertragungswagen und auch keine Antennen notwendig waren. (Piller: »Sie wollen weißen Rauch sehen« [wie Anm. 24]). 27 Ebd.
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Indiz dafür genommen werden, dass in diesen Tagen Mediennutzer eine unsichtbare Gemeinschaft bilden, werden immer wieder erwähnt: »Wir sind die letzten, die bei der Quotenhuberei mitmachen, aber diese Einschaltzahl beeindruckt.«28 Das Medienereignis und die Mediennutzung werden in dieser Gigantomanie parallel geführt. Hier zeigt sich auf der einen Seite das wechselseitige Fundierungsverhältnis von Ereignis und Medienereignis: Ein Ereignis gewinnt erst als Medienereignis seine Relevanz, Größe und Bedeutung, aber diese Bedeutung und Größe ist zugleich die Legitimation der medial formierten Größe und Bedeutung. Die Größe, auf die sich die Medien beziehen, müssen sie erst einmal herstellen. Mit diesem Verfahren validieren die Medien sich selbst. Auf der anderen Seite wird in Medienbeobachtungen reflektiert, dass die Aufmerksamkeit, die das große Medienereignis findet, selbst eine enorme Größe aufweist. Und auch hier zeigt sich das Verhältnis wechselseitiger Bedingung, das zwischen medialer Zuschreibung von Größe und medialer Aufmerksamkeit besteht. Weil etwas als groß beschrieben wird, erhält es große Aufmerksamkeit; als groß wird es zugleich beschrieben, weil es so große Aufmerksamkeit findet. Paradox gesagt: Die Medien sind Ursache und Resultat des Medienereignisses.
Aus dem Genre der Medienkritik Bereits in die Erzählungen und Berichte über das Sterben und den Tod des Papstes, über die »Pilger«, die nach Rom ziehen und über die Vorbereitungen zum Begräbnis schreiben sich Bemerkungen ein, die sich nicht nur auf das römische Szenario beziehen, sondern auch auf die Medien und ihre Verfahrensweisen, dieses Medienereignis zu generieren. Neben solchen medienreflexiven Passagen innerhalb von Berichten gibt es einige Artikel, die sich ganz auf das Ereignis als Medienereignis konzenttieren, die die Berichterstattung über den Tod des Papstes zum Exempel
28 Kurzkommentar unter der Rubrik »In medias res«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.4.2005. Vgl. auch: »Parallelwelten im Fernsehen«, in: Süddeutsche Zeitung vom 5.4.2005: »Der ARD-Brennpunkt mit dem Titel >Trauer um den Papst< erreicht am Samstagabend die höchste Einschaltquote mit 7,3 Millionen Zuschauern (Marktanteil: 21,8 Prozent).« Es ist erstaunlich, mit welcher Einmütigkeit und Selbstverständlichkeit die Presse die Einschaltquote als Zuschauerinteresse an dem Ereignis bezeichnet. Wie hat sich diese Evidenz herausgebildet, wonach die Höhe der Einschaltquote das Zuschauerinteresse anzeigt? Welche semantischen Verschiebungen lassen sich an dem Wort >inter-esse< beobachten, wenn es um eine mediale Praxis wie Fernsehen geht?
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machen, um über die Rolle der Medien, über ihre sozialen und kulturellen Funktionen zu reflektieren, und auch, um die Medien zu kritisieren und zu parodieren. Unterscheiden lassen sich im Genre der Medienkritik erstens Texte, die diese Fotm von Kritik, die sich seit dem frühen 19. Jahrhundert ausgebildet hat, fortschreiben. Sprach- und Ideologiekritik sind hierfür kennzeichnend. Zweitens bilden sich Textformen, die, ausgehend von einem Medienereignis, die Rolle und Funktion der Medien für die Fonnation von Sozialität thematisieren. Als dritte Variante kommt es zu Mischfonnen, die durch beide Perspektiven gekennzeichnet sind. In der Medienkritik spielt seit dem 19. Jahrhundert, seit Arthur Schopenhauer, Sprachkritik eine zentrale Rolle. Es überrascht nicht, dass auch die Berichterstattung über den Papst-Tod Gelegenheit zu sprachkritischen Bemerkungen gibt. So moniert ein Beitrag den in »allen Sondersendungen« eingesetzten »unbedarfte[n] Glaubens-O-Ton«;29 ein anderer zitiert Sätze aus der Berichterstattung, die belegen sollen, »wie selbstverständlich die säkularen Zeitungen die religiöse Sprache des Vatikans« übernehmen? 0 Schlagzeilen wie »Er sieht schon den Herrn« oder »Er ist bereits im Himmel« werden mit dem Vermerk kommentiert: »Das sind Schlagwörter, die man aus der aufgeklärten und laizistischen Welt und zumal aus den Medien verbannt glaubte.« 31 In die gleiche Richtung weist eine Bemerkung des Satirikers Wiglaf Droste. In seinen Augen konnte man, wenn man die Zeitungen und Fernsehprogramme Anfang April verfolgt hat, »nur zu dem Schluss kommen«, man sei »in einem Gottesstaat gelandet.« 32 Willi Winkler unterscheidet in seiner Sprachsatire über einen Artikel von Norbert Körzdörfer, der in der Bild-Zeitung erschienen war, ganz
29 Joseph von Westfalen: »Ohne Worte. Medienhysterie und Papst: Harald Schmidt bleibt stumm«, in: Süddeutsche Zeitung vom 8.4.2005. 30 Michael Meir: »In der Trauer wird ein Heiliger geboren«, in: TagesAnzeiger vom 7.4.2005. 31 Ebd. Der Verfasser sieht darin eine Art »zweite[r] Naivität«, die »Sehnsucht nach dem verlorenen Kinderglauben.« Vgl. auch v. Westfalen: »Ohne Worte« (wie Anm. 29). 32 Wiglaf Droste: »Alles Papst oder was? Ein Ordnungsruf«, in: taz - die tageszeitung vom 5.4.2005. Vgl. auch Paul Mausshardt: »Und tschüss«, in: taz- die tageszeitung vom 8.4.2005, oder Clemens Niedenthal: »Eine kleine Erlebnisorientierungshilfe«, in: taz - die tageszeitung vom 8.4.2005. Die Zeitung erregt sich regelmäßig über die Berichterstattung über den PapstTod und ihren Umfang, zugleich hat sie selbst an diesem Umfang einen nicht geringen Anteil. Das, wovon sie kritisch berichtet, stellt sie in gleichem Maße her. Sie selbst berichtet über den Papst-Tod als einer »eigenartige[n] Mischung aus prämoderner Pilgerreise und spätmodernem Eventtourismus« (ebd.). 168
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allgemein drei Phasen »poetischer Glossolalie«. 33 Die zweite und die dritte Phase sind in unserem Zusammenhang von Interesse. Die zweite Phase, die »die Worte strömen lässt«, heißt »etwas unwissenschaftlich >LiebeMüll unter den FüßenKreuzwegEs ist, als trage man ein unsichtbares Kreuz.< Jesus damals hatte es vergleichsweise leicht.«34 Die dritte Phase tritt vorzugsweise »beim Anblick großer Toter« ein. In dieser Phase »poetischer Glossolalie« befindet sich der »Bild-Autor«, wenn er berichtet, dass er, »als der Papst starb, nicht bloß furchtbar weinen (>ich hab' geweintSchlange Gottes< einreihen [musste], um den Toten noch mal zu sehen.«35 Medienkritik, bezogen auf das Fernsehen, wird dann zur puren Medienschelte, wenn das Fernsehen zwn Sündenbock für die Fehler dieser Welt gemacht wird. So fragt Klaus Brill in seinem Artikel über die Begräbnisfeier von Johannes Paul II. zunächst: »Wen also sollten sich in Zeiten der politischen Personality-Shows die TV-Kameras heranzoomen, wenn nicht den Papst, zumal er auch optisch so reizvoll ist? Er brauchte keine Divisionen. Er hat die Sache übers Fernsehen erledigt.« Doch dann bricht es aus Brill heraus: »Doch wenn die Jupiterlampen ausgehen, wird zu fragen sein, ob dieses oberflächliche Medium als Gefaß für eine ernsthafte Botschaft taugt oder ob auch diese Beerdigung beim Publikum nur ankommt als aufreizende Sensation. Hol33 Willi Winkler: »Eine wahre Geschichte (135). >Bild< in der Schlange Gottes«, in: Süddeutsche Zeitung vom 11.4.2005. 34 Ebd. 35 Ebd. Eine Variante sprachkritischer Texte bietet ein Beitrag, der logische Ungenauigkeiten und orthographische Fehler aufzählt. Eine journalistische Scheu, »das Wort >tot< in den Mund zu nehmen, solange der Tod des Papstes noch nicht offiziell feststand«, führt in manchen Berichten zum Warten auf die »Verkündigung«, die »im theologischen Zusammenhang« nicht mit dem Tod verbunden wird, sondern eine feierliche Bekanntmachung darstellt - »wie zum Beispiel die Verkündigung der Auferstehung Christi.« Als der Tod des Papstes bekannt gegeben worden war, verflog die »Scheu vor dem t-Wort«, und der Papst wurde »sogar ftir jene Zeit zum Toten erklärt, in der er noch quicklebendig warK So wenn ein Bericht an die »vielen Länder, die der tote Papst bereist hat«, erinnert. (»Der Papst ist tod [sie], der Papst ist tod!«, in: Spiegel Online vom 6.4.2005). 169
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lywood und seine Imitanten hat er nicht besiegt, der Jahrhundertmensch. Die grausamen Triumphe der Banalität und Brutalität, die Beichtkultur der Afternoon-Shows, den Schrott der Telenovelas, die Verrohung und Gleichschaltung von hundert Millionen Menschen konnte er nicht bannen, das könnten auch kein Ghandi und kein Voltaire.«36
Hier wird das Fernsehen zum Totengräber des Abendlandes. Die einzig interessante Frage bleibt aber ausgespart, nämlich ob denn der Papst das Fernsehen überhaupt besiegen und nicht vielmehr nutzen wollte. Die zweite Form von Medienkritik, die das Medienereignis begleitet, knüpft an ideologiekritische Praktiken an, die, wie erwähnt, im frühen 19. Jahrhundert ausgebildet wurden und in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts eine gewisse Blütezeit hatten. Damals war die BildZeitung bevorzugter Gegenstand von Ideologiekritik, 37 und auch anlässlich dieses Medienereignisses gerät das Blatt ins Zentrum medienkritischer Texte, nicht nur bei Winkler, sondern auch in einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. 38 Der Artikel thematisiert die Informationspolitik der Bild-Zeitung und schließt auf diese Weise das Medienereignis an ein großes und - wie es einst hieß - gesellschaftlich relevantes Problem an: Es geht um die Macht der Presse als Faktor der Meinungsbildung. Der Artikel zitiert als Überschrift eine Formulierung von Kai Diekmann, dem Chefredakteur der Bild-Zeitung: »Ehrwürdige Institutionen müssen sich unterstützen«. Sie stammt aus einem schriftlichen Interview mit Diekmann,39 das im Anschluss an den Bericht abgedruckt ist. Die Bild-Zeitung, so eine Kernthese des Berichts, ist die »papsttreueste Zeitung der Welt«: »Sie [scil. die Bild-Zeitung] feiert Worte und Werke Johannes Pauls 11., sie hängt an seinen Lippen, sie berichtet in großer Detailtreue (wenn auch nicht immer zutreffend) über jede neue Wendung in seiner Krankengeschichte. Als andere davon ausgehen, dass der Papst vorübergehend nicht sprechen kann, be36 Klaus Brill: »Die Kraft des Wahrhaftigen«, in: Süddeutsche Zeitung vom 9.4.2005. 37 Von großer Wirkkraft für Texte über die Bild-Zeitung war Hans Magnus Enzensbergers Gedicht »Bildzeitung« von 1957. Das Gedicht - und das verweist auf seine >Kanonizität< - ist aufgenommen und abgedruckt in: Kar! Otto Conrady (Hg.): Das große deutsche Gedichtbuch, Königstein/Ts.: Athenäum Verlag I978, S. 1021. 38 »Ehrwürdige Institutionen müssen sich unterstützen«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 24.4.2005. Der ungezeichnete Bericht stammt vermutlich von Stefan Niggemeyer, der, wie vermerkt ist, die schriftlichen Fragen an Kai Diekmann formuliert hat. 39 Es wird eigens vermerkt, dass Diekmann nur bereit war, schriftlich formulierte Fragen schriftlich zu beantworten.
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fürchtet sie, er sei für immer stumm. Als er dann doch wieder ein paar Worte sagen kann, nennt sie es ein Wunder.« Die Beispiele, die die Papsttreue der Zeitung belegen, sind ein Vorspiel zu einer prinzipiellen Kritik. Diese richtet sich auf die politische Einseitigkeit und Parteilichkeit dieser Zeitung: »Wer die Politik des Vatikans kritisiert, zum Beispiel das strikte Verbot, im Kampf gegen Aids auch Kondome benutzen zu dürfen, wird von >Bild< als durchgeknallt dargestellt [... ]. Massiv kämpft >Bild< gegen den Beschluss der Berliner SPD, konfessionsungebundenen Werteunterricht an den Schulen einzufuhren, und veröffentlicht >Zehn Bild-Gebote für alle PolitikerDu sollst deinen Amtseid auf Gott schwören< und: >Du sollst das Gottvertrauen, das Kinder haben, nicht aus ihren Seelen vertreiben.Bild< [ ... ]. Gegner der >BildZeitung< werden weiter mit heiligem Zorn und nicht selten falschen Anschuldigungen verfolgt, Unschuldige zu Tätern gemacht und Schwache zu Witzfiguren, und weder die sexsüchtigen halbnackten Frauen von Seite eins noch die Prostituiertenanzeigen hinten im Blatt trafbisher ein BannstrahL« In dem Interview beantwortet Diekmann die Frage danach, warum die Bild-Zeitung in den vergangeneu Monaten besonders papsttreu gewesen sei, mit dem titelgebenden Satz: »Weil ehrwürdige Institutionen sich unterstützen müssen.« Von Interesse ist im Augenblick nicht, dass ein Chefredakteur sein Organ - sei es nun ernst oder vielleicht doch eher ironisch gemeint - als >)ehrwürdige Institution« qualifiziert. Das Interessante an dieser Formulierung liegt darin, dass Diekmann damit die Medien und den Papst auf eine Ebene stellt. Diese Kopplung verweist, vennutlich ungewollt, auf ein zentrales Thema medienreflexiver Überlegungen. Es geht dann um die Frage, inwieweit die Massenmedien im 20. Jahrhundert Aufgaben und Funktionen übernehmen, die einst die Religion ausgeübt hat. Das Medienereignis um den Papst-Tod lenkt den Blick auf dieses grundlegende Thema. 40 Auch dieses Thema verleiht, wie die Frage nach 40 Die Frage, inwieweit Medien Funktionen übernehmen, die einst die Religionen besetzt haben, wird seit geraumer Zeit auch immer wieder in medientheoretischen Debatten reflektiert. Vgl. z.B. Siegfried J. Schmidt: Kalte Faszination, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2000, S. 195-234. Etliche Zeitungsberichte, die sich damit beschäftigen, beziehen diese Relation von Religion und Medien v.a. auf das Fernsehen und die Bilder, die dieses Me171
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der Sicherheit der Gesellschaft, dem konkreten Ereignis eine spezifische Aura. Ein anderer Problemzusammenhang zeichnet solche Berichte aus, die die Welt aufteilen in eine Welt der Medien und in die >wirkliche< Welt. Eine aparte Pointe: Diese Aufteilung der Welt erfolgt ihrerseits in einem Medium. Anders als der oben zitierte Bericht, der vermerkt, dass die Zahl der Besucher nur deshalb ständig steigt, damit es etwas zu berichten gibt, setzen solche Berichte, die die Welt aufteilen, voraus, dass die Welt vor der Kamera, die Welt jenseits und unabhängig von Medien, trennscharf zu unterscheiden ist von jener Welt, die die Medien vor Augen stellen. Es ist in unserem Zusammenhang nicht weiter von Interesse, dass eine solche Aufteilung, wie wissenschaftliche Diskurse betonen, stark vereinfacht. Von Interesse ist dagegen, dass die publizistischen Artikel, die die Welt aufteilen, diese simplifizierende Argumentation nicht einfach fortschreiben, sondern auf signifikante Weise umschreiben. Die Berichterstatter unterscheiden zwar zwischen dem, was vor ihren Augen geschieht, und dem, was als Bericht zu sehen oder zu lesen ist. Sie gehen aber nicht davon aus, dass diese Unterscheidung für die Mediennutzer von Bedeutung ist. Die Mediennutzer sind auch aus dieser Perspektive dadurch definiert, dass sie ihr Wissen aus den Massenmedien beziehen. 41 Auf diesem Wege wird eine weitere Unterscheidung eingefiihrt, nämlich die Unterscheidung zwischen Mediennutzern- sie nehmen die Welt als Medienwelt wahr- und jenen, die das Privileg haben, >vor Ortvor Ort< bleibt nur dann ein besonderes Privileg, wenn die Einsicht ausgeblendet wird, dass auch die Beobachtung >vor Ort< eine mediengelenkte Beobachtung ist. Es wird, wie gerade auch die Berichte >vor Ort< zeigen, nicht zuerst beobachtet und dann berichtet, sondern es wird beobachtet, um zu berichten. Oder es wird beobachtet,
dium produziert. Der Ikonophilie der Bildmedien stehen dann häufig ikonoklastische Tendenzen in den Printmedien gegenüber. 41 Mit diesem Hinweis beginnt bekanntlich Nildas Luhmann seine Studie: Die Realität der Massenmedien. Opladen: Westdeutscher Verlag 2 1996. 42 Vgl. Birgit Schönau: »Die Heimsuchung der Ewigen Stadt. Plünderungen, Geschenke und milde Gaben: Rom und die Pilger- ein abendländisches Ritual«, in: Süddeutsche Zeitung vom 8.4.2005. Der Bericht endet mit dem Satz: »Und vier Millionen Pilger sind, wie eine Pilgersfrau aus Bayern fröhlich in die Fernsehkamera rief, >richtig live dabeiÜberlebenPapst der Linken< gewesen.«46 Johannes Paul II. erhält einen ganz anderen Namen. Er ist der »erste Medienpapst«,47 und als solcher bleibt er nicht mehr nur Papst, sondern wird zum »Medienstar«. 48 Damit ist deutlich: Dieser Papst ist nicht nur 43 Vgl. Arens: »Nach Rom« (wie Anm. 24): »Viele, die an dem aufgebahrten Leichnam Papa Wojtylas im Petersdom vorbeidefilieren, reißen plötzlich einen Ann hoch. Sie richten ihr Foto-Handy aus, drücken ab; schon ist der elektronische Beleg fertig: Ich war dabei.« 44 Zum Begriff der >Person< vgl. Niklas Luhmann: »Die Form >PersonBad in der Menge< liebt- in diesem Falle sogar aufgebahrt.
Ein »Todesspektakel« in fünf Akten Das Medienereignis, das sich um den Tod des Papstes bildet, wird mit einer Performance,5° mit einer » generalstabsmäßig aufgezogene[n] Werbekampagne« und zugleich mit einer »hochsentimentalen Seifenoper« verglichen. 5 1 Daneben taucht mehrfach der Vergleich mit einem Spektakel auf. Die Semantik der Bezeichnung variiert. Wenn der Focus das »Jahrhundert-Ereignis von Rom« in einer zwanzigseitigen Bildreportage präsentiert und verspricht, von diesem »Spektakel des Glaubens« die »eres riskiert, von Papst Leo XIII. als einem »Star« zu sprechen, und kommentiert dies eigens, um Missverständnisse zu vermeiden: »Seien wir einmal offenherzig und sprechen wir vom verstorbenen Papste, wie die Mitgliede einer Bühne von ihrem toten star [sie.] reden würden. In gewissem Sinne darf man ja den Vatikan wegen der großen Feste, die er zu geben pflegt und die manchen Theaterintendanten neidisch machen könnten, mit einem Theater vergleichen, ohne deshalb gleich eine Gotteslästerung zu begehen.« (»Der Tod des Papstes«, in: Frankfurter Zeitung vom 23.7.1903). 49 So heißt es z.B. am Rande in dem Bericht von Philipp Hiltebrandt: »Zum Tode Pius' XI. Persönliche Erinnerungen an >Papst Rattilohn Paul Superstar>seit dem Unfalltod von Lady Di, als London im Blumenmeer versank, zum festen Bestandteil von Todesfällen berühmter Leute« (Michael Meir: »In der Trauer wird ein Heiliger geboren« [wie Anm. 30]). Die drei eng beieinanderliegenden Todesfälle - außer Papst Johannes Paul II. starben in jener Zeit Harald Juhnke und Fürst Rainier - sind für Sybille Simon-Zülsch Anlass zu einer Glosse. Die vielen Sondersendungen zu diesen Todesfällen haben, so Simon-Zülsch, »visuelle Endlosschleifen von Lebensszenen der Verstorbenen« mit dem Effekt produziert, »dass sie einen bis in den Schlafhinein verfolgten und sich im Traum blasphemisch mischten.« (Sybille Simon-Zülsch: »Im Reich der Toten« [wie Anm. 22]). 53 Georg Seeßlen: »Das Todesspektakel«, in: Spiegel Online vom 12.4.2005. Seeßlen verweist gleich zu Beginn auf Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, Hamburg: Nautilus 1978. 54 Zum Begriff des Normalismus vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2 1998. Der Begriff des Spektakels grenzt sich damit als das ab, was nicht zum statistischen Dispositiv gehört; es bezeichnet eine Ausnahme und einen Bruch mit diesem Dispositiv. 175
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den bereitet und ihm Profil verleiht. Das >Nonnale< erhält seine Evidenz als Nonnalität allein im Spektakel, und die Vorstellung von Normalität wird als Normalität vor Augen gestellt durch das Spektakuläre. Wie sich zeigen wird, ordnen sich Medienereignisse wie die Berichterstattung über den Papst-Tod nicht einfach der Bewegungsrichtung zur Spektakularisierung zu, sondern im Verlauf dieser Ereignisse lässt sich auch die Pendelbewegung zwischen Normalität und Spektakel beobachten. Unter diesem Aspekt werden im Folgenden die fünf Akte, die Seeßlen beschreibt, vorgestellt. Der erste Akt, so Seeßlen, ist das »Ereignis selbst, das als Schock eine gewisse Leere, ein namen- und bildloses Entsetzen erzeugt.« Den Höhepunkt des ersten Aktes bildet jener oben bereits beschriebene Moment, als der Vorhang geschlossen wird. Das Schließen des Vorhangs unterbricht, setzt einen Moment der Leere. Es beendet das eine Spektakel, und lässt für Momente das Normale aufscheinen, um es alsbald wieder zum Verschwinden zu bringen, indem die Vorstellung fortgesetzt wird, auch wenn der Vorhang geschlossen bleibt. Die Fortsetzung der Vorstellung startet mit einer Leerstelle. Dieser Ablauf zeigt: Nicht das Ereignis des Todes, sondern die Fonn, die ihm gegeben wird, konstituiert den ersten Akt als »Schock«. Den zweiten Akt bestimmt nach Seeßlen eine »hektische Bilderproduktion«, deren Effekt darin besteht, dass die »Differenz zwischen dem Original und dem Abbild« zusammenbricht. »Das Ereignis ist schon ein symbolisches.« Der zweite Akt bildet somit jenes Verfahren aus, das das Ereignis anschlussfähig macht an Themen, die in anderen Zusammenhängen verhandelt werden, zu denen aber auch dieses konkrete Ereignis einen Beitrag zu leisten vermag. So ermöglicht die, wie Seeßlen sagt, >Symbolhaftigkeit< des Themas jene verbreitete Deutung, wonach der Tod des Papstes und die »Pilgerfahrten« nach Rom Ausdruck einer neuen Religiosität sind. Die These von der neuen sichtbaren Religiosität löst, wie das Thema der Sicherheit, das Medienereignis von seinem konkreten Anlass, lenkt den Blick auf grundlegende Wandlungen in der Gesellschaft. Jetzt wird die Zeit vor diesem Ereignis als »spirituelle[ ] Leerstelle« deutbar, »welche auch der funktionierende Kapitalismus nicht füllen kann.« 55 Aus dem Begräbnis 55 Dirk Schümer: »Grazie Papa, du bist ein Mythos, Rom ohne Papst - eine Woche der Wallfahrten, der Riten, der Wunder in der Ewigen Stadt«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.4.2005. Das Thema der Religiosität spielt eine zentrale Rolle, v.a. auch in Kommentaren und Essays zu diesem Ereignis. Hier wird das Ereignis zum Anlass, um die Mängel der Moderne aufzuzählen. Hier findet ein breites Spektrum von Thesen Raum. Es gibt das schlichte Gegenteil der Religiositäts-These: vgl. z.B. Jürgen Offenbach: »Der Jahrtausend-Papst - Szenen wider alles Gewohnte«, in: Stuttgarter Nachrichten vom 9.4.2005. Offenbach plädiert dafiir, die Ereignisse als
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des Papstes wird »die größte Massendemonstration der vatikanischen Geschichte« und ein »Happening des Glaubens«, in dem sich eine >>Unorthodoxe Frömmigkeit« Ausdruck verschafft. 56 Das Thema einer neuen Religiosität nimmt breiten Raum ein und veranlasst einige Zeitungen, Experten zu Wort kommen zu lassen, so z.B. den Philosophen und Medienwissenschaftler Norbert Bolz. Bolz geht es in seinem Beitrag um Gemeinsamkeiten zwischen Massenmedien und Katholizismus: »Wir alle konnten vor den Fernsehschinnen miterleben, wie gut die vom römischen Katholizismus immer wieder betonte Sichtbarkeit der Kirche mit den Erwartungen der Massenmedien harmoniert. Auf das ausgestellte Leiden des Papstes antwortete eine Globalisierung des Geftihls. [ ... ]Die weltweite Attraktivität des Medienkatholizismus besteht darin, Denken durch Fühlen zu ersetzen. Es geht nicht um den Einen Gott des Christentums, sondern einen Monotheismus des Gefühls: One World. Nach der Religion des Sozialen kommt die Religion des Globalgefiihls.«57
Medien und Kirche verbindet, so die in diesem Zusammenhang immer wieder fonnulierte These, dass sie Gemeinschaften stiften - urbi et orbi -, und zwar durch die Produktion der potenziell allen gemeinsamen Gefühle. Die Berichte über den Tod des Papstes stellen eine mediale >community< her. Der tote Papst wird mit diesen Berichten zum Einheitsstifter einer medialen Gemeinde, einer >medialen ecclesiaPerformanztreuer Diener< der Medien, denn gerrau dieser Tenor beherrscht die Berichterstattung um das Geschehen in Rom. Ich komme zurück zu Seeßlen und seinem fünfaktigen »Todesspektakel«. Den dritten Akt beschreibt er als eine »soziale Explosion, eine Art der Realisierung des katastrophalen Geschehens, ein gieriges (um nicht zu sagen geiles) Partizipieren«, das »die Menschen von den Fernsehern auf die Strasse« treibt; »aus Zuschauern werden Akteure und aus Akteuren neue Zuschauer.« Der dritte Akt kehrt die Ausgangssituation um: »So wie uns gerade das Spektakel ergriffen hat, ergreift nun das Publikum das Spektakel.« Die Akteure dieses dritten Akts sind die »Pilger« in Rom. 59 Wichtig an diesem dritten Akt ist der geschlossene Kreislauf: Aus Zuschauern werden Akteure, und aus Akteuren wieder Zuschauer, aus denen wieder Akteure werden, usw. An diesem Zyklus erweist sich erneut, dass die Initiative für ein Medienereignis bei den Medien liegt, dass bestimmte Ereignisse zwar ein Potenzial zum Medienereignis haben mögen, einen Attraktor darstellen, den allerdings die Medien nutzen und - z.B. durch Skandalisierung und Personalisierung, aber auch durch syn58 Thomas Hauschild: »Wandel durch Annäherung. Das Papsttum in Rom und seine Verächter unter den Gebildeten: Eine Kirche, die alle alten Formen aufgibt, verliert ihre Legitimation«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 10.4.2005. 59 Beim Tod der Prinzessin Diana war es die Menge der Blumen und der Passanten am Wegesrand, anlässlich der Tsunami-Katastrophe der Akt des Spendens. 178
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chrone Präsenz in allen Medien, zeitliche Dehnung oder thematische Auratisierung - zum Leben erwecken müssen, damit daraus ein Medienereignis wird. Der vierte Akt setzt den Kreislauf von Zuschauer/Akteur/Zuschauer fort und variiert ihn zugleich. Er zeigt »eine zweite Welle der Bilderproduktion, eine Auffacherung der großen Erhabenheit des Negativen und der Katastrophe zu kleinen menschlichen Geschichten.« Das vorläufige Ende heißt bei Seeßlen: »Behutsam wird die große Katastrophe ins Alltägliche versenkt.« Betont werden muss, dass dieses Ende vorläufig ist; es gibt keine Vorstellung, an deren Schluss der Vorhang fällt, sondern zum vorläufigen Ende, zur Versenkung in den Alltag, gehört zugleich eine Bewegung, die ein neues Spektakel hervorbringt. Der Zyklus von Spektakel und Normalität kennt - das definiert den massenmedialen Rhythmus - kein finales Finale. Er verläuft seriell. Das zeigt Seeßlens fünfter Akt. Mit dem vierten Akt ist zwar, so Seeßlen, »die Verwandlung eines Geschehens in ein Spektakel« abgeschlossen, aber es geht gleichwohl weiter. Den fünften Akt flillt »Katzenjammer, ein Schuldgeflihl der Bilderproduktion und dem eigenen Rausch gegenüber«. Er folgt einer Erkenntnis, die Stanislaw Lee so fonnuliert: »Wer eine Tragödie überlebt hat, ist nicht ihr Held gewesen.« 60 Der Katzenjammer ertönt dabei in aller Regel nicht >im eigenen Hausschlagentrübeneinc 63 Statt Schlager klassische Musik; statt Komödien eher Tragisches; statt Quiz eine Diskussion. Wie der Spiegel in einem Artikel mit der Überschrift »Sakrale Tage« berichtet, reagierten sowohl das Fernsehen wie der Hörfunk 1958 bereits auf die Meldungen über den schlechten Gesundheitszustand von Pius XII. mit Programmänderungen: »Rund zehn Stunden bevor das Oberhaupt der katholischen Christenheit, Papst Pius XII., am Donnerstag früh um 3.52 Uhr in Castel Gandolfo bei Rom verstarb, schalteten in Westdeutschland Rundfunk- und Fernseh-Stationen ihre Sendungen auf getragene Töne.«64 Während römische Geschäftsleute mit angelehnten Türen gegen die Trauerordnung verstoßen, protestieren Mediennutzer am Telefon. So berichtet der Spiegel in seinem Artikel über die >sakralen Tage< von »einer Flut protestierender Anrufe«, die »teils von konfessionell Indifferenten, teils von enragierten Protestanten kamen.« Für das gesamte Erscheinungsbild der Gesellschaft heißt der Befund in dieser Zeit: »öffentliche Bewusstseins-Spaltung«. Sie manifestiert sich, so der Spiegel, in dem Kontrast, der zwischen der »amtliche[n] Ergriffenheit der quasi offiziellen, von ihren Kunden ökonomisch unabhängigen Funkhäuser« des öffentlich-rechtlichen Hörfunks und Fernsehen, die sich »gleichsam im Trauergewand« präsentierten, und dem »Alltagsbetrieb der auf KundenGefühle angewiesenen privaten Unternehmen« bestehe. Programmänderungen, die es anlässtich des Todes von Johannes Paul II. auch gegeben hat, spielen in den medienreflexiven Berichten nur eine ganz geringe Rolle, ebenso wie Beschwerden und Proteste von Medien-
62 Vgl. »Zum Ableben Leos XIII.«, in: Kölnische Zeitung vom 22.7.1903. Insgesamt moniert die Zeitung in ihren Berichten die geringe Teilnahme der römischen Bevölkerung am Tod des Papstes. 63 Vgl. Manfred Linz: »Wenn das Programm trauert. Ist der Rundfunk ein Instrument der Totenklage?«, in: epd/Kirche und Rundfunk 28/29 (11.4.1979), S. lf. 64 »Sakrale Tage«, in: Der Spiegel12/42 (15.10.1958), S. 15-16, hier S. 15. 180
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nutzern, die sich in Telefonaten oder Leserbriefen äußern.65 Das Erscheinungsbild, das die Medien in diesem Jahr hervorbringen, zeigt: Alle trauern. Diese Einheitsstiftung durch Trauer macht den Grundtenor dieses Medienereignisses aus. Es geht immer wieder um die Beschwörung einer Gemeinschaft, die durch dieses Ereignis global gestiftet wird. Berichte, die diesen Duktus reflektieren, beziehen sich v.a. auf den unbedarften >Glaubens-0-Tonmediale ecclesiaEreignisses< könnte hinsichtlich ihrer Einrede gegen den ontologischen Status von >Ereignissen< recht behalten, zugleich aber unrecht haben, wenn sie damit auch das Moment der Unverfügbarkeit, der Widerständigkeit von >Ereignissen< im Verhältnis zu ihrer Erzählung mitverabschiedete. Dass >Ereignisse< keinen prämedialen Status haben, muss nicht heißen, dass sie nur im Raum ihrer medialen ex-post-Erzeugung existieren.«3
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Mit dieser Äußerung zitiert die Associated Press am 5.9.2005, dem Tag nach dem TV-Duell, Hans-Hermann Tiedje, den ehemaligen Chefredakteur der Bild-Zeitung. Vgl. dazu schon Roland Burkart: »Medienereignis >TV-Duelk Die Entlarvung eines Mythos«, in: Fritz Plasser/Peter A. Ulram/Manfried Welan (Hg.), Demokratierituale. Zur politischen Kultur der lnformationsgesellschaft, Wien u.a.: Böhlau 1985, S. 75-92. Er entlarvt die allgemeine Frage nach der politischen Werbewirkung des Fernsehens als falsch, weil sie in dieser Form wissenschaftlich nicht zu beantworten sei. Comelia Epping-Jäger: »Zur Rhetorizität von Ereignissen« (in diesem Band). Zum Problem der »Objektivität« von Nachrichten und der »Medien183
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Immerhin scheint in der medienwissenschaftlichen Forschung wie in der aufgeklärten Öffentlichkeit inzwischen doch unumstritten zu sein, dass die Medien nicht »die Realität« einfach abbilden. 4 Vielmehr selektieren und kombinieren sie Fragmente der außennedialen Realität und konstruieren oder rekonstruieren bzw. transformieren auf diese Weise außermediale Realität zu einer neuen medialen Realität. Dabei wird in der neueren Forschung nicht mehr von der allzu vereinfachenden Dichotomie zwischen >Abbilden der Realität< und >Manipulation< ausgegangen. Vielmehr müssen hier sehr viel differenziertere Abstufungen in den Blick genommen werden, weil es vielfältige Möglichkeiten der Behandlung außermedialer Realität in den Medien gibt. Die Palette reicht von beobachtender Berichterstattung bis hin zur Erzeugung außennedialer Realität zum Zwecke der Berichterstattung. Hier ist beispielsweise an das sogenannte Reality-TV zu denken: »Bei diesem Typ [... ] werden Gruppen von einfachen Leuten in eine ungewohnte Situation, meist eine räumlich beengte Lokalität (wie einen Container oder eine Insel), hineinversetzt, die für eine gewisse Zeit zu ihrem Alltag wird.«5 Dass die »einfachen Leute« auch publikumswirksam durch Prominente aus der zweiten oder dritten Reihe ersetzt werden können, zeigte noch im Jahre 2004 der Fernsehsender RTL mit seiner »Dschungelshow«, die unter dem Titel Ich bin ein Star - holt mich hier raus wochenlang für Gesprächsstoff und kontroverse Diskussionen in den einschlägig interessierten Kreisen sorgte. Eine weitere Möglichkeit, Realität zu schaffen, besteht darin, innermediale Realität herzustellen, indem mediale Ereignisse inszeniert werden: »Hierher gehören Talkshows, Diskussionssendungen, Unterhaltungssendungen usw. Natürlich hören die beteiligten Personen in der Sendung nicht auf, außermediale Wesen zu sein, aber in Bezug auf das Medienereignis sind sie zugleich Figuren einer anderen, eben der medialen Realität.«6
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realität« vgl. auch zusammenfassend Siegfried Weischenberg: Journalistik. Bd. 2: Medientechnik, Medienfunktionen, Medienakteure, Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 152ff. und 17lff. Vgl. zum Folgenden Harald Burger: Sprache der Massenmedien, Berlin, New York: de Gruyter 3 2005, S. 172ff.; Hans-Jürgen Bucher: »Die Medienrealität des Politischen. Zur Inszenierung der Politik im Fernsehen«, in: Ute Frevert!Wolfgang Braungart (Hg.), Sprachen des Politischen. Medien und Medialität in der Geschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, S. 268303, hier S. 28lf.; sowie Weischenberg: Journalistik (wie Anm. 3), S. 310ff. Letzterer gibt einen differenzierten Überblick über die Hauptthesen der Wirkungsforschung (Agenda-Setting bzw. uses and gratifications approach). Burger: Sprache der Massenmedien (wie Anm. 4), S. 199. Ebd.
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DAS TV-DUELL MERKEL/SCHRÖDER ALS MEDIENEREIGNIS
Bezogen auf einen konkreten Fall, das TV-Duell zwischen Angela Merkel und Gerhard Schröder, möchte ich der Frage nachgehen, durch welche diskursiven Verfahren die Medienrealität TV-Duell zu einem für die Rezipienten von Print- und Online-Medien interessanten Medienereignis gemacht worden ist: 7 »Nicht wie Kommunikatoren, wie etwa ein Journalist, die Relevanz eines Ereignisses, eines Falls, eines Themas einschätzt, ist ausschlaggebend, wenn es um die Frage geht, ob etwas zur Nachricht wird, ob es öffentlich gemacht wird, ob es Verbreitung findet und damit- auf seine Weise- >in die Geschichte< eingeht. Ausschlaggebend sind offensichtlich ein imaginärer Mediennutzer und die Frage, ob eine Nachricht seine Aufmerksamkeit findet oder nicht.« 8 Ich beziehe mich im Folgenden auf die Presse- und Online-Berichterstattung im Vorfeld des Duells sowie auf Medienberichte, die nach Ausstrahlung des TV-Duells in der überregionalen Presse sowie ihren Online-Ausgaben erschienen sind, und versuche darzustellen, welche sprachlichen Strategien in erster Linie zur Aufmerksamkeitsgewinnung für dieses Medienereignis eingesetzt worden sind. 9
Das TV-Duell als quasi-sportliches Event Am 3. September, also einen Tag vor dem Femsehduell, berichten die Stuttgarter Nachrichten: »Der Politikwissenschaftler Kari-Rudolf Korte rät den Kontrahenten, möglichst authentisch aufzutreten und persönliche Erfahrungen einzubringen. Der eigene Standpunkt sei klar, aber keinesfalls aggressiv darzulegen. Jede Diskreditierung des Gegenübers sei zu vermeiden. Auch Polarisierung schade. Als kapitale Fehler nennt Korte Übemervosität, Sprachlosigkeit und sichtbare Kommunikationsschwierigkeiten.« 10
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Vgl. dazu auch den historischen Überblick zu Theorien über Ereignisse und ihren Nachrichtenwert von lrmela Schneider: »Nachrichtenfaktoren und Nachrichtenwert« (in diesem Band). 8 Ebd. 9 Das Textkorpus besteht aus ca. 70 Artikeln, die in der Zeit vom 31.8. bis 18.9.2005 in der überregionalen bundesrepublikanischen Presse, ihren Online-Ausgaben sowie bei Nachrichtenagenturen erschienen sind. 10 Willi Reiners: »Auf den Auftritt kommt es an«, in: Stuttgarter Nachrichten vom 3.9.2005. 185
THOMAS NIEHR
Die Leserinnen mögen nach Lektüre dieser Zeilen ins Grübeln geraten, mit welcher Art von Information oder Nachricht sie es hier zu tun haben. Sie könnten sich beispielsweise fragen, ob die Ratschläge des Politikwissenschaftlers nicht eher in ein internes Strategie-Papier als in die Zeitung gehörten. Es könnte ihnen dann aber auffallen, dass sich Kortes Rat ja offensichtlich an beide Kontrahenten richtet, dass Korte also nicht einer jener häufig erwähnten »Medienberater« von Politikern zu sein scheint. Möglicherweise könnten die Leserinnen auch zu dem Schluss kommen, dass sich Kortes Ratschlag, über den sie hier ja aus zweiter Hand etwas erfahren, sich gar nicht an die Duellanten richtet, sondern ganz allgemein etwas über strategisch-politische Kommunikation in einer speziellen Situation aussagt. Man kennt diese Art der gut gemeinten Beratung übrigens aus der Sportberichterstattung: Mehr oder minder kompetente Journalisten zitieren sogenannte Experten oder räsonieren ausführlich über Mannschaftsaufstellungen, Stärken und Schwächen der einzelnen Mannschaften und geben Tipps zu den Erfolg versprechenden Taktiken: »>Der HSV ist in der Situation, dass er gewinnen muss. Wir haben mit vier Punkten Vorsprung ein schönes Polster, auch ein Unentschieden würde unsere Situation verbessern»Kein Spielfilm aufRTL, keine Pilcher-Romantik im ZDF, kein Tatort im Ersten, keine Show auf Satl - dafür staatstragend das televisionäre Deutschland-Duell: Jetzt red' I, und zwar zeitig vor der Wahl am 18. September.«< 15 »Am Sonntag um 20.30 Uhr werden die Kontrahenten in einem 620 Quadratmeter großen Studio in Berlin-Adlershof aufeinander treffen. Es wird das erste Duell der beiden vor einem Millionenpublikum im Fernsehen sein. Vier Moderatoren werden Kanzler und Kandidatin befragen, die an zwei silbernen Stehpulten entgegen ihrer politischen Ausrichtung Platz nehmen: Merke! links, Sehröder rechts. « 16
Die äußeren Umstände bzw. die Sportarena sind damit ausreichend beschrieben.17 Die Presse weiß jedoch auch von Querelen vor dem Zustandekommen der Partie zu berichten: 13 Barbara Dribbusch: »Der gespaltene Wähler«, in: taz - die tageszeitung vom 3.9.2005. 14 Peter Ehrlich/Birgit Jennen: »IV-Duell kann Rot-Grün nicht mehr retten«, in: Financial Times Deutschland vom 2.9.2005. 15 Hans-Jürgen Jakobs/Claudia Tieschky: »Hallo Deutschland!«, in: Sueddeutsche.de vom 3.8.2005. 16 Michael Fischer: »Ein Fernsehstudio als >Kolosseum«Unsinn»Herr Bundeskanzler, es geht von Ihrem Zeitkonto ab, wenn Sie ungefragt antworten.< Eine dialoganalytische Untersuchung der Fernsehduelle im Wahlkampf 2002«, in: Christina Holtz-Bacha (Hg.), Die Massenmedien im Wahlkampf. Die Bundestagswahl 2002, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003, S. 243-263, hier S. 261 ). 22 Fischer: »Ein Fernsehstudio als >Kolosseumder Spieler, der Lächler, der Flirter«