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German Pages 428 Year 2015
Vanda Vitti (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989
Ethnografische Perspektiven auf das östliche Europa
Band 1
Editorial Die tiefgreifenden Transformationsprozesse, die die Gesellschaften des östlichen Europas seit den letzten Jahrzehnten prägen, werden mit Begriffen wie Postsozialismus, Globalisierung und EU-Integration nur oberflächlich beschrieben. Ethnografische Ansätze vermögen es, die damit einhergehenden Veränderungen der Alltage, Biografien und Identitäten multiperspektivisch und subjektorientiert zu beleuchten. Die Reihe Ethnografische Perspektiven auf das östliche Europa gibt vertiefte Einblicke in die Verflechtungen von makrostrukturellen Politiken und ihren medialen Repräsentationen mit den Praktiken der Akteurinnen und Akteure in urbanen wie ländlichen Lebenswelten. Themenfelder sind beispielsweise identitätspolitische Inszenierungen, Prozesse des Nation Building, privates und öffentliches Erinnern, neue soziale Bewegungen und transnationale Mobilitäten in einer sich umgestaltenden Bürgerkultur. Die Reihe wird herausgegeben von Prof. Dr. Irene Götz, Professorin für Europäische Ethnologie an der LMU München.
Vanda Vitti (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie der LMU München. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Minderheiten im östlichen Europa, Postsozialismus, Migration, Erinnerungskulturen und kulturelles Erbe.
Vanda Vitti
(Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 Eine Ethnografie in zwei slowakischen Städten
Diese Arbeit wurde 2014 als Dissertation im Fach Volkskunde/Europäische Ethnologie an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen und mit einem Promotionspreis der Münchner Universitätsgesellschaft sowie einem Förderpreis der Fritz und Helga Exner-Stiftung ausgezeichnet. Die Drucklegung erfolgte mit freundlicher Unterstützung durch den Schroubek Fonds Östliches Europa, die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und durch das Mentoringprogramm der Exzellenzinitative der LMU München für hochbegabte Nachwuchswissenschaftlerinnen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt Danksagung | 11 1 E inleitung, Feldzugang, Vorgehen und Forschungsstand | 13 »Weißt du, ich sehe das alles nicht so religiös.« 1.1 Einleitende Gedanken | 13 1.2 »Wenn du in 20 Jahren zum Forschen herkommst, findest du hier niemanden mehr.« Annäherungen an jüdisches Leben in zwei slowakischen Städten – Feldeingrenzung, Vorgehen und Fragestellung | 19 1.3 »Und warum haben Sie gerade dieses Thema gewählt? Sie sind doch keine Jüdin?« – »What am I doing here?« | 27 1.4 Forschungsstand: Jüdische Lebenswelten in zwei slowakischen Städten zwischen Postsozialismus‑ und Erinnerungskulturforschung | 34 2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3
3
Zentrale Begriffe und theoretische Zugänge | 41
»Erinnerung« in der Theorie | 41 Formen des Gedächtnisses | 41 Vergessen | 44 Verdrängen und/oder Erinnerung und Trauma | 45 Erinnerungskultur(en) und kulturelles Erbe | 49 (Urbane) Erinnerungsräume – verräumlichte Erinnerungen | 50 Identität(en) | 53 Identität – kulturell, personal, individuell und kollektiv? | 53 Identitätspatchwork – Patchworkidentitäten | 55 Jüdische Identitäten? | 58
Methoden, Quellen und Emotionen | 63 3.1 Facetten und Quellen einer multimethodischen Forschung | 63 3.2 Interviews | 72 3.2.1 Emma und die Ängste der Beforschten im Feld | 73 3.2.2 Interviews – Oral Emotional History | 75 3.3 Reflexion über Emotionen, Konflikte beim Forschen und Schreiben | 80
3.3.1 »Du schreibst das doch für die Deutschen, oder?« – Gratwanderungen zwischen Nähe und Distanz im emotionalen Minenfeld | 80 3.3.2 Weniger ist mehr – Nähe und das Dilemma der Verschriftlichung | 84
4 Geschichte und Gegenwart des jüdischen Lebens in Košice und Lučenec | 87
Historisches | 87 4.1 4.1.1 Von den Anfängen und der Blütezeit bis zum Holocaust | 87 4.1.2 Der Holocaust in der Slowakei und in Ungarn | 101 4.1.3 Jüdisches Leben im Sozialismus: »Wir haben uns während des Krieges versteckt, aber als der Kommunismus kam, haben wir uns weiter versteckt« | 110 4.1.4 Postsozialismus: Zwischen Wiederbelebung jüdischer Gemeinden, Nationalismus und der Suche nach Gedächtnis und Erinnerung | 123 Jüdisches Gemeindeleben in Košice ab 1989 | 139 4.2 »Wenn sich diese Gemeinde von 12.000 auf 400 verkleinert, 4.2.1 von welcher Kultur können wir dann hier sprechen?« | 140 4.2.2 Die jüdischen Vereine in Košice – zwischen Vorträgen, Feiern und Konflikten | 143 4.2.3 Religiöses Leben (in) der jüdischen Gemeinde: »Wie ein Tropfen im Meer« | 155 4.2.4 Zwischen Erinnerung und Aufarbeitung: jüdisches Kulturerbe und vielschichtige Erinnerungen an den Holocaust | 165
5 Zwischen Erinnern und Vergessen: Jüdisches Kulturerbe in Košice und Lučenec | 175
Städtische Gedächtnislandschaften | 175 5.1 5.1.1 Cassovia – Kaschau – Kassa – Košice: Streifzüge durch eine angehende Kulturhauptstadt | 177 5.1.2 »Die Tragödie der Košicer Juden« – Die jüdische Gemeinde und ihr Kulturerbe an der Schnittstelle vom kommunikativen und kulturellen Gedächtnis der Stadt | 187 5.1.3 Zwischen Restitution, Restaurierung und Verkauf – das materielle jüdische Kulturerbe in Košice | 193 5.2 Lučenec: Kulturelles Erbe im Konkurs | 209 5.2.1 Ein Gebäude zwischen Widerspenstigkeit und Verfall | 209 5.2.2 Die Synagoge in Lučenec – ein Denkmal mit multiplen Erinnerungs- und Spekulationswerten | 213 5.2.3 Die »Lesbarkeit« vielschichtiger Erinnerungsspuren: jüdisches Kulturerbe in Lučenec | 224 5.3 Konfligierende Palimpseste | 238
6 » New Jewish Identities«? Perspektiven auf individuelle Lebens- und Erfahrungswelten | 243
6.1 Die Generation der Ältesten | 245 6.1.1 Henry | 247 6.1.1.1 »Ich bin ein seltsamer Typ, nicht wahr?« | 247 6.1.1.2 Holocaust: »Ich kann selbst nicht glauben, was ich überlebt habe … weil ich normal gelebt habe … wie ein Arier« | 247 6.1.1.3 Weiterleben im Sozialismus: »Die Juden hat man nirgendwo gemocht. Das ist die Wahrheit« | 252 6.1.1.4 Küsschen und Kuchen | 254 6.1.2 Magdalena | 256 6.1.2.1 »Ist das Ding schon an?« | 256 6.1.2.2 Leben nach dem Holocaust: »Ich habe mich nicht gefürchtet. Ich habe immer gesagt ich bin eine bewusste Jüdin. Also habe ich mich nicht versteckt« | 257 6.1.2.3 Leben zwischen »guten Kommunisten«, Skype und den »Survivors« | 261 6.1.2.4 Kontinuitäten | 265 6.1.3 Anna | 266 6.1.3.1 Die schwierige Genese eines Interviews | 266 6.1.3.2 »Also ich bin als Einzige am Leben geblieben … Was willst du noch wissen?« | 267 6.1.3.3 »Ich habe viel erlebt, ich lasse nichts auf meinen Glauben kommen« | 269 6.1.3.4 Ein einsames Familiengedächtnis: »Klar wissen die Kinder, was sie sind« | 271 6.1.4 Karl | 273 6.1.4.1 Objektivationen einer jüdischen Erfahrungswelt | 273 6.1.4.2 Gelbe Sterne und eine Reiseuhr – Erinnerungen an den Holocaust | 274 6.1.4.3 Sozialismus: Antisemitismus und »Schnecken ohne Häuser« | 280 6.1.4.4 »Es ist schwer zu sagen, dass ich Jude bin« | 283 6.1.4.5 Vom Suchen und Finden | 287 6.1.5 Zusammenfassung: Wunder(n) zwischen Erinnern und Vergessen | 288 6.2 Die Nachkriegsgeneration | 291 6.2.1 Lena | 293 6.2.1.1 Zwischen den Stühlen | 293 6.2.1.2 Holocaust: »Wenn die Leute darüber reden, ist es immer sehr seltsam. Weil sie sagen, dass sie von diesem Auschwitz schockiert sind und nichts begreifen« | 294 6.2.1.3 Sozialismus: »Ich kann mich an nichts Jüdisches in meiner Kindheit erinnern. Meiner Meinung nach müssen die Leute das ignoriert haben« | 300
6.2.1.4 »Open« – aber: »Ich will nicht so total involved sein.« Zwischen Söhnen, Religionen, Freunden und Konflikten | 303 6.2.1.5 »Mit dem Herzen fühlen« | 305 6.2.2 Annamaria | 307 6.2.2.1 Verabredung zum »Kaffeekränzchen« | 307 6.2.2.2 K indheitserinnerungen: »Das waren solche Wunden, da hat man lieber nicht dran gekratzt und lieber nicht darüber gesprochen« | 308 6.2.2.3 Sozialismus: »Weil die 40 Jahre in uns arbeiten. Dieses: Halt den Mund und funktioniere. Also lieber ruhig sein« | 314 6.2.2.4 »Ich bin Ungarin, aber ich schreie das hier nicht laut heraus« | 317 6.2.2.5 »Wurzeln sind Wurzeln« | 320 6.2.3 Ruth | 322 6.2.3.1 »Also bei uns war das nie ein Geheimnis, aber wir haben uns damit auch nicht wirklich beschäftigt« | 322 6.2.3.2 Kindheit und Jugend: »Ich denke, wir waren eher weltlicher« | 323 6.2.3.3 (Jüdisches) Leben zwischen »Schizophrenie« und »Schweigen« | 328 6.2.3.4 Von der großen »Euphorie« zum »Nullpunkt«: Erfahrungen mit dem jüdischen Leben nach 1989 | 334 6.2.3.5 A ls Touristin im jüdischen Leben: »Also in Israel ist mir klar geworden, dass ich mehr Slowakin als Jüdin bin« | 337 6.2.4 Zusammenfassung: Eine Generation zwischen Holocaust, Sozialismus und »Conspiracies of Silence« | 376 6.3 Die »Jungen« – an der Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft | 342 6.3.1 Leon | 344 6.3.1.1 Eine andere Form von »Burgfrieden« | 344 6.3.1.2 Eine »behütete Kindheit« mit drei Religionen, einer atheistischen Erziehung und Schweigen | 345 6.3.1.3 Eine neue Identität als Gewinn und Herausforderung: »Das ist wiederum schwer, weil wir nicht damit aufgewachsen sind« | 349 6.3.1.4 Alles koscher?! | 352 6.3.2 Ella | 354 6.3.2.1 Tiefe Einblicke | 354 6.3.2.2 Kindheit in den 1990er Jahren: »Also bei uns war das so normal« | 355 6.3.2.3 Familiengedächtnis: Traumata und Traditionen | 358 6.3.2.4 »Die Leute schämen sich nicht dafür, aber sie geben damit auch nicht an« | 365 6.3.3 Dominic | 367 6.3.3.1 Jugenderinnerungen im Biergarten | 367 6.3.3.2 Familiengeheimnisse: »Vater, sind wir Juden?« | 367 6.3.3.3 »Zigeuner«, Skinhead, Jude? Zuschreibungen und Verortungen | 369 6.3.3.4 Jüdisch-Sein als Sinnstiftung und Zukunftsperspektive: »Aber wer will, findet was« | 374
6.3.4 Zusammenfassung: Die Generation im Schatten des Holocaust und Sozialismus | 338 »New Jewish Identities?« – »New Possibilities and Strategies 6.4 for Jewish Identities!« | 378
7 Schlussgedanken: Jüdische Lebenswelten voller Licht und Schatten | 381 8 Glossar | 387 9 9.1 9.2 9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.2.4
Literatur und Quellen | 393 Sekundärliteratur | 393 Primärquellen | 416 Printmedien | 416 Onlinequellen | 418 Andere Quellen | 425 Abbildungsverzeichnis | 426
Danksagung Ein Promotionsprojekt durchzuführen, bedarf viel eigener Motivation, Neugier, Durchhaltevermögen und großer Leidenschaft für die (Kultur-)Wissenschaft. Es tat‑ sächlich zu Ende zu bringen und irgendwann ein fertiges Buch als Ergebnis jahrelan‑ ger Arbeit in den Händen zu halten, gelingt aber vor allem durch die Unterstützung vieler Personen und auch Institutionen, denen ich hier danken möchte. An erster Stelle gilt mein Dank den Menschen in meinem Forschungsfeld, die durch ihre Bereitschaft, mein Projekt durch ihre Lebensgeschichten, ihre Erfahrun‑ gen und ihr Wissen zu bereichern, überhaupt erst möglich gemacht haben. Ich danke Allen für Ihre Offenheit und das Vertrauen, mit dem sie mir begegnet sind. Ohne die Initiative und Motivation von Prof. Dr. Irene Götz (Ludwig-Maximili‑ ans-Universität München), die mich bereits während des Studiums betreute, wäre die‑ ses Projekt gar nicht erst zustande gekommen. Ihr als meiner Mentorin und Prof. Dr. Jacques Picard (Universität Basel) danke ich für die oft weit über die wissenschaftli‑ che Betreuung hinaus gehende, stets geduldige, verständnissvolle und motivierende Unterstützung als fürsorgliche »Doktoreltern«. Es freut mich sehr, dass Irene Götz mich eingeladen hat, mit meiner Dissertation als Startband eine neue Buchreihe zu »Ethnografischen Perspektiven auf das östliche Europa« zu eröffnen. Dr. Peter Salner (Slovenská Akadémia Vied Bratislava), Prof. Dr. Mirjam Zadoff (Indiana University Bloomington) und Prof. Dr. Michael Brenner (Ludwig-Maximi‑ lians-Universität München) danke ich besonders für ihr Interesse an meinem Projekt und ihre bereichernde Beratung. Dem Kuratorium des Schroubek Fonds Östliches Europa, das mich durch ein dreijähriges Promotionsstipendium förderte und zuletzt auch durch einen Druck‑ kostenzuschuss die Drucklegung der Dissertation ermöglichte, danke ich für die großzügige Unterstützung. Darüberhinaus danke ich Prof. Dr. Dr. h. c. Klaus Roth insbesondere für die ideelle Unterstützung im Rahmen der Kolloquien des Schroubek Fonds Östliches Europa und für die vielen persönlichen Beratungsgespräche. Dem Mentoringprogramm der Exzellenzinitative der Ludwig-Maximilians-Uni‑ versität München für hochbegabte Nachwuchswissenschaftlerinnen gilt mein Dank für die Möglichkeit, mich im Rahmen des Programms weiterzubilden, mit anderen Wissenschaftlerinnen auszutauschen und darüber hinaus auch für die finanzielle Un‑ terstützung durch die Übernahme von Reise- und Druckkosten.
12 | (Trans‑)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989
Dass diese Studie einen Promotionspreis der Münchner Universitätsgesellschaft und einen Förderpreis der Fritz und Helga Exner-Stiftung erhielt und überdies noch von der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften ge‑ fördert wurde, erlaubte nicht nur die komfortable und zügige Drucklegung, sondern erfüllt mich mit großem Dank für so viel Anerkennung meiner langjährigen Arbeit. Im Rahmen einer Promotion bekommt man nicht nur »Doktoreltern«, man wächst in eine ganze Wissenschaftsfamilie hinein. In meinem Fall waren das unter anderem die KollegInnen des Instituts für Volkskunde/Europäische Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und andere Promovierende, die mir stets mit kollegialem und freundschaftlichem Rat zur Seite standen. Das internationale Promotionsprogramm des Instituts für Volkskunde/Europäi‑ sche Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München bot mir die Mög‑ lichkeit, meine Arbeit regelmäßig vorzustellen und mich mit Promovierenden ande‑ rer Institute im europäischen Raum auszutauschen. Darüberhinaus danke ich auch allen, die mir in wissenschaftlichen Kolloquien und Fachtagungen durch ihre Kritik wertvolle und weiterführende Ratschläge für meine Dissertation gaben. Auch wenn hier lange nicht alle Personen namentlich erwähnt werden können, denen an dieser Stelle mein Dank gebührt, so möchte ich trotzdem für ihre großartige Unterstützung insbesondere Petra Steiger, Sarah Braun, Clarissa Herdeis, Marketa Spiritova, Daniel Habit, Simone Egger, Susanne Schönwälder, Rainer Beck, Claudia Ziehm und Natalie Barz danken. Miriam Gutekunst und Tomislav Helebrant danke ich für das professionelle Lek‑ torat beziehungsweise das Layout dieser Arbeit. Zuletzt gilt mein besonderer Dank meinem Ehemann Cristofolo und meiner Fa‑ milie, die mich stets geduldig unterstützt und motiviert haben. Ich danke Euch von Herzen für Euren unerschütterlichen Glauben an mich und mein Promotionsprojekt. Im Dezember 1990 hat mich meine Großmutter Eva auf eine Reise in die Slowakei mitgenommen und mir dadurch den Weg zurück in meine Heimat gezeigt. Ihr widme ich dieses Buch. Starká, ďakujem Ti, že si mi svojho času ukazovala cestu domov.
München, im Oktober 2015
1 E inleitung, Feldzugang, Vorgehen und Forschungsstand
1.1 »Weisst du, ich sehe das alles nicht so religiös .« E inleitende G edanken Lena 1 sitzt mir gegenüber und erklärt mir ihre Auffassung vom jüdischen Leben. Sie ist zum Zeitpunkt unseres Interviews 63 Jahre alt und lebt seit ihrer Studienzeit in Košice2 . Wie bereits vor 19383 besteht dort heute die zweitgrößte jüdische Gemeinde der Slowakei, mit offiziell 280 Mitgliedern. 1930 lebten ungefähr 12.0004 Menschen
1 | Die im Folgenden zitierten InterviewpartnerInnen sowie die im Interview erwähnten Angehörigen wurden bis auf die ohnehin identifizierbaren Mitglieder von öffentlichen Einrichtungen und der jüdischen Gemeinde beziehungsweise Kommune anonymisiert. Zum Teil wurden die Namen auch selbst von den Ak‑ teurInnen ausgesucht. In bisher publizierten Vorstudien wurden teilweise andere Namen an die Personen vergeben (vgl. Vitti 2011, 2015). Alle Übersetzungen aus dem Slowakischen stammen von der Autorin. Dort, wo es grammatikalisch beziehungsweise stilistisch möglich ist, wurde in dieser Arbeit die gender‑ sensible Schreibweise durch das Binnen-I umgesetzt. An allen anderen Stellen und in Zitaten wurden die Bezeichnungen jeweils in der Ursprungsform belassen. 2 | Alle Orts- und Straßennamen werden in ihrer gegenwärtigen offiziellen Bezeichung auf Slowakisch aufgeführt. Ansonsten werden sie der Literatur entsprechend zitiert. 3 | Košice gehörte bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zum ungarischen Teil der Habsburger Monarchie, hinterher zur Tschechoslowakei und wie das gesamte Gebiet der heutigen Südslowakei nach dem Wiener Schiedsspruch vom 2. 11. 1938 zu Ungarn. Nach 1945 wurde es wieder der Tschechoslowakei zugeteilt. Insgesamt lebten in den 1930er Jahren auf dem Gebiet der damaligen Slowakei ungefähr 140.000 Juden, davon 45.000 in der Südslowakei (vgl. Lipták 2000: 257 f.; Büchler/Fatranová 2009: 9, 199 ff.; Bumová 2010: 16). Es gilt zu bedenken, dass sich aufgrund von Assimilationsbestrebungen viele Juden bei Volks‑ zählungen nicht als solche auswiesen und die Zahlen daher nicht genau sind. 4 | Im Jahre 1930 bekannten sich bei der Volkszählung 8,2 Prozent der BewohnerInnen von Košice zur jüdischen Nationalität. 11.195 Menschen bekannten sich zum jüdischen Glauben, neben 5.660 Evangelen und 44.021 KatholikInnen bildeten sie somit die zweitgrößte Konfession in der Stadt und der Region. Im Jahre 1938 waren es 11.420 Juden, die 20 Prozent der Gesamteinwohnerzahl ausmachten (vgl. SNM 2009:
14 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989
mit jüdischen Wurzeln5 in der Stadt. Im Sommer 1944, während des Holocaust6 in dem damals zu Ungarn gehörenden Gebiet, wurden über 15.700 Juden aus Košice und den umliegenden Gemeinden in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Von den wenigen Überlebenden7, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Košice zu‑ rückkehrten oder aus anderen Städten zuzogen, emigrierten viele nach der Mach‑ tübernahme der kommunistischen Partei in der Tschechoslowakei 1948 sowie bei der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings 1968. Eingebettet zwischen drei Landesgrenzen (der polnischen, ukrainischen und un‑ garischen) und den im 20. Jahrhundert mehrfach wechselnden Staatszugehörigkeiten und -formen, die die Stadt und ihre BewohnerInnen erlebt und geprägt haben, ist Košice sowohl aufgrund seiner jüdischen Geschichte als auch aufgrund der soziokul‑ turellen Entwicklung als multikulturelle und multireligiöse8 Stadt in der Ostslowakei ein interessantes Feld. Ausgehend von meiner Magisterarbeit9, für die ich über jüdi‑ sche Erfahrungswelten in meiner Heimatstadt Lučenec geforscht hatte, erweiterte ich für diese Arbeit mein Feld auf Košice, um den Entwicklungen jüdischen Lebens in einer größeren slowakischen Stadt nachzugehen. Die Kleinstadt Lučenec10 hat eine 200 f.). SNM wird im Folgenden als Abkürzung für Slovenské Národné Múzeum [Slowakisches National‑ museum] verwendet. 5 | Der naturmetaphorische Terminus »jüdische Wurzeln« wurde häufig von meinen InterviewpartnerIn‑ nen selbst verwendet. 6 | Die kontrovers diskutierten Begriffe Holocaust und Shoah werden hier den Aussagen der Interview partnerInnen und der Literatur entsprechend verwendet, an allen anderen Stellen ist vom Holocaust die Rede. 7 | Die Ethnologin Silvia Singerová schreibt von 400 bis 600 Juden, die aus der Vorkriegsgemeinde nach Košice zurückgekehrt sind. Dass im Jahre 1948 3.578 Juden in Košice verzeichnet wurden, spricht für einen Zuzug von Kriegsflüchtlingen in die Stadt. Insgesamt ist die Rede von 30.000 Überlebenden auf dem Ge‑ biet der Slowakei. Allerdings beziehen sich die Angaben nur auf diejenigen, die sich damals noch offiziell als jüdisch bezeichneten. Bis 1949 sind ungefähr 11.000 Juden nach Israel und einige tausend weitere in andere Länder emigriert (vgl. Singerová 2006a: 55; Büchler/Fatranová 2009: 10, 199; Salner 1999: 128; Bumová 2010: 34 f.; Heitlinger 2006). 8 | In Košice leben offiziell neun nationale Minderheiten, die sich im Club der nationalen Minderheiten zusammenschließen (vgl. Club der nationalen Minderheiten). Von über 15 verschiedenen religiösen Grup‑ pierungen sind die zehn größten im ökumenischen Kirchenkreis vertreten (vgl. Stadt Košice und Ekumena Košice). 9 | Diese Dissertation erweitert die nicht publizierte Magisterarbeit und schöpft aus unterschiedlichen Quellen. Ergebnisse aus Vorstudien wurden in zwei Aufsätzen veröffentlicht (vgl. Vitti 2011, 2015). 10 | Lučenec wurde erstmals im Jahre 1128 erwähnt. Es liegt 40 km von der heutigen ungarischen Gren‑ ze entfernt in der Region Novohrad (Ungarisch: Nógrad, Deutsch: Neograd oder Neuburg), die ab dem 11. Jahrhundert bis 1918 zum Königreich Österreich-Ungarn, in der Zeit zwischen den Weltkriegen zur Tschechoslowakei und von 1938 bis 1945 wieder zu Ungarn gehörte. Nach 1945 war die Stadt Teil der Tschechoslowakei (vgl. hierzu auch Kapitel 4.1). Heute leben circa 28.475 Menschen in der Stadt, davon stellen laut der letzten Volkszählung 2011 neben circa 9 Prozent UngarInnen mit circa 1 Prozent die Roma
Einleitung, Feldzugang, Vorgehen und Forschungsstand | 15
ebenso wechselvolle Geschichte wie Košice, sie liegt nahe der ungarischen Grenze in der Mittelslowakei und gehörte während des Zweiten Weltkriegs ebenfalls zu Ungarn. Lena ist in Lučenec geboren. Seit ihrer frühen Kindheit hat sie von ihren jüdi‑ schen Wurzeln gewusst, sich aber nie deren Bedeutung bewusst gemacht, wie sie mir erklärte. Sie hat wie viele andere während des Sozialismus11 eine atheistische Erzie‑ hung genossen, ist aber wie ihre Mutter12 auch, kalvinistisch-reformatorisch getauft worden. Lena ist immer klar gewesen, dass ihr Vater Jude war. Seine kleine Toch‑ ter aus zweiter Ehe ist mit ihrer Mutter in Auschwitz ermordet worden. Die damals 16‑jährige Halbschwester aus der ersten Ehe des Vaters, die Auschwitz überlebt hatte, war logischerweise auch Jüdin. Aber Lena hatte immer gedacht, dass sie »das« nicht betrifft. Obwohl ihr mit der Zeit klar geworden ist, dass sie in einem durch und durch jüdischen Umfeld aufgewachsen ist – denn alle Freunde und Bekannte der Familie waren jüdischer Abstammung –, hat es nichts »typisch Jüdisches« in ihrer Kindheit und Jugend gegeben: »Ich kann mich nicht erinnern, dass an Pessach13 oder an einem Freitag jemals irgendwo eine Kerze gebrannt hat.« Auch wurde in der Familie oder im Bekannten- und Verwandtenkreis kaum über die Vergangenheit gesprochen und die jüdischen Traditionen wurden »sowieso nicht praktiziert«. Laut Lena versuchte ihre eigene Mutter »nie aufzufallen«. Sie hat beispielsweise sofort nach der politischen Zäsur 1989 ihre beiden Enkel, Lenas Söhne, kalvinis‑ tisch-reformatorisch taufen lassen, denn sie habe sich das ganze Leben lang davor gefürchtet, »dass so etwas [wie der Holocaust] wiederkommen könnte«14. Diesen hatte sie selbst nur mit sehr viel Glück überlebt, um hinterher, während des Sozialismus in der Tschechoslowakei, mitzuerleben, wie ihr Ehemann (Lenas Vater) aufgrund seiner jüdischen und ungarischen Abstammung unterdrückt, bedroht und schließlich un‑ schuldig eingesperrt wurde. Diese Erfahrungen und die Traumata aus dem Holocaust haben Lenas Mutter dazu veranlasst, sich nie eindeutig zu einer bestimmten Gruppe die größte Minderheit dar, wobei circa 19 Prozent bei der Zählung nicht erfasst wurden. Zur jüdischen Nationalität bekannten sich zwei Personen, zum jüdischen Glauben 18. In Košice wurden bei 240.433 Ein‑ wohnerInnen in der Stadt 2011 circa 74 Prozent SlowakInnen, circa 3 Prozent UngarInnen und 2 Prozent Roma gezählt. Zur jüdischen Nationalität bekannten sich 60 Personen, enthalten haben sich bei dieser Er‑ hebung 45.922 Menschen. Insgesamt wurden bei der Erfassung der Religionszugehörigkeit 267 Mitglieder der jüdischen Gemeinde gezählt. Es enthielten sich bei dieser Zählung insgesamt 57.127 Menschen (vgl. Statistisches Amt der slowakischen Republik). 11 | Die Begriffe Sozialismus und Kommunismus werden entsprechend der Literatur und den Aussagen meiner InterviewpartnerInnen nach verwendet. An allen anderen Stellen steht Sozialismus (vgl. hierzu Meyer 2008: 11; Lipták 2000: 293). 12 | Lenas Großmutter mütterlicherseits war Jüdin, die Familie ihres Großvaters gehörte der kalvinis‑ tisch-reformatorischen Kirche an. 13 | Die Erläuterungen der hebräischen Begriffe und jüdischen religiösen Traditionen sind im Glossar (Ka‑ pitel 8) zu finden. 14 | Bei wörtlich übernommenen Zitaten werden Auslassungen mit […], Sprechpausen mit …, paraver‑ bale und nonverbale Äußerungen sowie Anmerkungen meinerseits mit ( ) markiert.
16 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989
zugehörig zu fühlen, »weder ganz slowakisch noch ganz ungarisch noch jüdisch zu sein und es schon gar nicht offen auszuleben«. Lena hat diese skeptische Haltung, wie sie selbst sagt, von ihrer Mutter übernommen und hat bis heute Hemmungen, sich durch eine Mitgliedschaft in der jüdischen Gemeinde offiziell zu ihren jüdischen Wurzeln zu bekennen. Ihre Schwierigkeit, sich für dieses Bekenntnis zu entscheiden, begründet sie auch mit Konflikten innerhalb der jüdischen Gemeinde15, die sie verun‑ sichern. Seit einigen Jahren aber nimmt sie an den kulturellen Veranstaltungen teil, die von den verschiedenen jüdischen Vereinen in Košice organisiert werden, und geht ab und zu an Feiertagen in die Synagoge. Anders ist das bei ihren Söhnen, deren früh verstorbener Vater katholisch war. Der Ältere gehört seit Jahren einer evangelischen Glaubensgemeinschaft an. Der Jün‑ gere, Leon, ist Mitglied der jüdischen Gemeinde in Košice, lebt und arbeitet aber in Bratislava 16 und nimmt auch dort am Gemeindeleben teil. Für Lena, die sich nicht eindeutig für eine Religion entscheiden kann, »ist es schwierig, zwischen den Stühlen zu stehen«. Denn sie begleitet auch ihren älteren Sohn zu Gottesdiensten in seiner evangelischen Gemeinde. Als sie aber einmal an Ostern die Wohnung mit Ostereiern schmücken wollte, soll Leon zu ihr gesagt haben: »Mama, was machst du denn? Wir haben doch Pessach!« Dieses Beispiel von Lenas Familie17 steht exemplarisch für die wechselvolle Geschich‑ te der jüdischen Minderheit in der heutigen Slowakei. Die von Lena umrissenen Sta‑ tionen der Familienbiografie verweisen auf transgenerational tradierte Traumata aus dem Holocaust und dem darauffolgenden sozialistischen Regime in der Tschechoslo‑ wakei. Sie deuten auf die Ängste vieler Menschen hin, die nicht nur aufgrund ihrer jüdischen Abstammung, sondern in der ehemaligen Tschechoslowakei auch als Un‑ garInnen marginalisiert und verfolgt wurden. Diese Ängste sind heute, über 20 Jahre nach dem Zerfall der sozialistischen Regime, in vielen Ostblockstaaten wieder aktu‑ ell, wo Rechtspopulismus und radikale Ausschreitungen – wie beispielsweise gegen die Roma und UngarInnen in der Slowakei18 – nahezu alltäglich geworden sind. So spielen die geopolitischen und soziokulturellen Faktoren eine entscheidende Rolle für die Identifikationsstrategien der AkteurInnen in beiden von mir beforschten Städten. Dies führte mich unter anderem zu der Frage, unter welchen weiteren Bedingungen sich (aktives) jüdisches Leben dort heute überhaupt gestaltet? Lenas Leben hat sich hinsichtlich ihrer jüdischen Abstammung seit dem Zusam‑ menbruch des Sozialismus verändert, sich transformiert. Dies zeigt sich unter ande‑ rem in ihrer Teilnahme an jüdischen kulturellen Veranstaltungen und daran, dass sie 15 | Auf die jüdische Gemeinde gehe ich ab Kapitel 4.1.4 ein. 16 | In Bratislava besteht die größte jüdische Gemeinde der Slowakei mit offiziell 600 bis 800 Mitglie‑ dern, wie mir der Vorsitzende der Gemeinde, Peter Salner verriet (vgl. auch Salner 2013: 7). 17 | In Kapitel 6.2.1 wird Lenas Fallporträt fortgesetzt. 18 | Darauf gehe ich in Kapitel 4.1.4 näher ein (vgl. u. a. Cibulka 1999; Kneuer 2005; Thieme 2007; Milo 2005).
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die Synagoge zumindest an großen Feiertagen besucht. Auch die mehrdimensional und durch viele Lebensbereiche verlaufenden Transformationen in der postsozialis‑ tischen Slowakei ermöglichen ihr und anderen Menschen mit jüdischen Wurzeln, einen anderen Zugang zu, und für manche überhaupt erstmals Umgang mit ihnen zu bekommen. Damit ist der für meine Arbeit zentrale Begriff angesprochen: (Trans-)Formationen. Die von mir gewählte Schreibart impliziert seine Vielschichtigkeit und die multiplen (Be)-Deutungsmöglichkeiten. Transformation(en) – Formation(en). Mit ebendieser Vielschichtigkeit der Lesart und des Verstehens dieses auch metaphorisch verwendeten Begriffskonstruktes ist der nötige Spiel- und Erkenntnisraum gegeben, der meiner Arbeit und ihren Ergebnissen nicht von vorneherein ein bestimmtes be‑ griffliches Spektrum auferlegt und einschränkend wirkt. Die begriffsimmanente Pro‑ zesshaftigkeit liegt auch meinem Verständnis von Feld und Kultur zugrunde, die ich beide als nicht durch feste Grenzen abgeschlossene Phänomene und als von perma‑ nenter, aber nicht zwingend allumfassender Veränderung gekennzeichnet betrachte, denn »[v]erstehen wir Kultur als einen Begriff, mit dem wir zu erklären versuchen, erstens wie Menschen Be‑ deutungen schaffen und ihrerseits wieder von diesen Bedeutungen beeinflusst werden und zweitens wie sie diese Bedeutungen in ihrem täglichen Lebensvollzug – also in der Praxis – bestätigen oder transfor‑ mieren, dann wird deutlich, dass es sich um ein Orientierungs- und Handlungssystem handelt, das nicht in Modi von Einheit und Abgeschlossenheit gedacht werden kann.« (Moser 2008: 232)
Vor allem gilt es in meiner Arbeit zu berücksichtigen, »[w]ie Menschen soziale Ver‑ änderungen kulturell bewältigen, wie sie den Verlust an Kontinuität und Tradition kompensieren, indem sie sich neue Traditionen aufbauen, wie sie gewohnte Formen beibehalten, um ihnen andere Bedeutungen zu geben […]«. Für diese Leitfragen plä‑ diert Wolfgang Kaschuba, indem er seinen Blick »immer stärker auf kulturelle Trans‑ formationsprozesse« wirft, »in denen komplexe Funktions- und Formenveränderun‑ gen gesellschaftlicher Praxis stattfinden« (Kaschuba 2006: 182). Die Kulturanthropologin Asta Vonderau beschreibt die Problematik der Begriffe »Übergang/Transition« und »Transformation«, die sie in der und für die Postsozialis‑ musforschung darstellen. Der missverständliche und zu kurz greifende Gebrauch von »Transition/Übergang« als tatsächlicher Übergang »[…] von einem klar abgegrenzten sozialen und politischen System in ein anderes […]« widerspricht auch dem dieser Arbeit zugrunde gelegten Verständnis von Transformation, denn »Ansätze, die auf dem Konzept der Transition aufbauen, setzen also einen radikalen Bruch zwischen Ver‑ gangenheit und Gegenwart voraus; sie unterstellen zwei essentiell unterschiedliche, hierarchisch gestell‑ te Gesellschaftssysteme. Aus diesem Blickwinkel ist der postsozialistische Wandel ein völliger Neuanfang in allen Bereichen des sozialen Lebens. Gesellschaftliche Kontinuitäten – die in vielen Fällen das eigent‑ liche Fundament der Veränderungen ausmachen – werden vernachlässigt oder als unerwünschte und zu beseitigende Überbleibsel des rückständigen sozialistischen Systems dargestellt.« (Vonderau 2010: 20)
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(Trans-)Formationen verstehe ich, übertragen auf mein Forschungsfeld, als dynami‑ sche Prozesse, die keinen Bruch mit Vergangenem für einen Neuanfang vorrausset‑ zen. Gerade die Überlappungen und durch sie entstehenden Reibungsflächen zwi‑ schen »Alt« und »Neu«, die (neuen) Möglichkeiten, Chancen und auch Risiken nach der Zäsur 1989, das Erinnern und Vergessen in den Aushandlungsprozessen des Jü‑ dischen im Leben meiner AkteurInnen und die Alltagspraktiken im Umgang damit sind es, die mein Erkenntnisinteresse herausfordern. Mich interessiert hier auch das »Wie« der (Trans-)Formationen, die die Menschen mit ihren und durch ihre jüdi‑ schen Wurzeln erleben und praktizieren. Die von Michał Buchowski aufgeworfene Frage: »[…] what kind of transition and from what to what, from where to where?” (Buchowski 2001: 9) wird mit Blick auf die Verortungspraktiken und Bedeutungen der (Trans-)Formationen im Leben meiner AkteurInnen und deren Umgebung daher stets mitgedacht und rückt – situativ – auch in den Vordergrund. Dieser Arbeit liegt also ein offener und flexibler (Trans-)Formationsbegriff zu‑ grunde, der sich aus der Akteursperspektive und meinem Feld heraus entwickeln kann und die hermeneutisch-induktive Interpretation meines empirischen Materials stützt. Mit dieser Offenheit und Flexibilität nehme ich daher nicht nur das Transformierte, Ge- und Verwandelte in den jüdischen Lebenswelten in den Blick, sondern berücksichtige auch Kontinuitäten, die sich nicht verändert haben. Denn »Wandel und Kontinuität, die grundlegenden Kategorien jeder ethnologischen Forschung, erweisen sich bei der Untersuchung postsozialistischer Kontexte mithin als besonders problematisch. Diese Problema‑ tik zeigt sich nicht nur im Blick auf das Untersuchungsfeld, sondern auch an der Wahl der Beobachterpers‑ pektive. Während es der soziale Wandel solcher Kontexte nahelegt, von Brüchen auszugehen, besteht die Gefahr, Kontinuitäten des gesellschaftlichen Lebens außer Acht zu lassen und Akteure zu exotisieren und auszugrenzen.« (Verdery 2002: 32 zit. n. Vonderau 2010: 24)
Mit dem mehrschichtigen Begriff der (Trans-)Formationen wird also zum einen auf die Fragen des Wandels und der innerfamiliären, biografischen Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte angespielt, zum anderen aber auch auf die verschiedenen sich überlagernden Schichten und Konglomerate von Erinnerungen der verschiedenen Generationen, Familien und jüdischen Gemeinden, wie sie durch die Forschung he‑ rausgearbeitet und rekonstruiert werden können. Ich untersuche, ob und wie per‑ sönliche und familiäre Schicksale nach Holocaust und Staatssozialismus in die Ge‑ genwart »transformiert« und »lebbar« gemacht werden. Zum anderen sollen auch die öffentlichen Ausdrucksformen jüdischen Lebens in den Städten untersucht werden. Sowohl in den individuellen Lebenswelten der AkteurInnen als auch in den jüdischen Gemeinden und dem urbanen Kontext, in den sie eingebettet sind, finden sich die unterschiedlichsten Formationen jüdischen Lebens, die sich implizit und explizit überlagern, kreuzen oder gar nicht erst berühren. Wie diese Formationen im Detail aussehen, wie und ob sie sich im Laufe der letzten Jahre generiert und verändert ha‑ ben, möchte ich in dieser Arbeit anhand von ethnografischen Mikrostudien in den Städten Košice und Lučenec zeigen.
Einleitung, Feldzugang, Vorgehen und Forschungsstand | 19
Unter Bezugnahme auf das Konzept des Soziologen Alfred Schütz und seines Schülers Thomas Luckmann verstehe ich »Lebenswelt« als intersubjektive Konstruk‑ tion, die sich den AkteurInnen in ihrem Alltag als »subjektiver Sinnzusammenhang« darstellt (vgl. Schütz/Luckmann 2003: 44 f.). Ferner ist Lebenswelt »[…] der Inbegriff einer Wirklichkeit, die erlebt, erfahren und erlitten wird. Sie ist aber auch eine Wirk‑ lichkeit, die im Tun bewältigt wird, und die Wirklichkeit, in welcher – und an welcher – unser Tun schei‑ tert. Vor allem für die Lebenswelt des Alltags gilt, daß wir in sie handelnd eingreifen und sie durch unser Tun verändern. Der Alltag ist jener Bereich der Wirklichkeit, in dem uns natürliche und gesellschaftliche Gegebenheiten als die Bedingung unseres Lebens unmittelbar begegnen, als Vorgegebenheiten, mit de‑ nen wir zu werden versuchen müssen. Wir müssen in der Lebenswelt des Alltags handeln, wenn wir uns am Leben erhalten wollen. Wir erfahren den Alltag wesensmäßig als den Bereich menschlicher Praxis.« (Ebd.: 447)
Eine der Ausgangsfragen meiner Forschung ist also, wie sich jüdische Kultur und jüdische Lebenswelten in diesen geopolitisch, ökonomisch und soziokulturell wech‑ selvollen urbanen Umgebungen über 20 Jahre nach dem Fall des eisernen Vorhangs gestalten und welche Einflüsse diese Kontexte auf die identitären Verortungen der AkteurInnen haben. Im Folgenden werden diese Fragen unter Berücksichtigung meines Feldzugangs und Vorgehens geschärft.
1.2 »Wenn du in 20 J ahren zum F orschen herkommst, findest du hier niemanden mehr .« A nnäherungen an jüdisches L eben in zwei slowakischen Städten – F eldeingrenzung , V orgehen und Fragestellung »Volkskundler – wir wissen es – gelten als Todansager. Sie treten überall dort auf den Plan, wo etwas zu verschwinden droht, ein Brauch, ein Jahrhundert, eine Grenze, eine Kultur. Aber eben dadurch lebt das Totgesagte – die Grenze, der Brauch, die Kultur und auch das Jahrhundert – verändert, mit neuer Valenz wieder auf.« (Köstlin 1999: 14)
Die im Titel dieses Kapitels zitierte Einschätzung über die Perspektiven des jüdischen Lebens in Košice stammt von einer Interviewpartnerin aus der Generation der Ältes‑ ten19. Sie war eine der Ersten in der Stadt, die ich dort 2010 interviewt habe. Unwei‑ 19 | Im Folgenden nehme ich die Unterteilung meiner InterviewpartnerInnen nach Generationen vor: die Generation der Ältesten (alle Holocaust-Überlebenden), die Nachkriegsgeneration und deren Kinder, die Jungen. Innerhalb der jüdischen Gemeinde in Košice gibt es jedoch einen altersspezifischen Unter‑ schied innerhalb der Gruppe der Holocaust-Überlebenden, der auch durch die Vereinsstrukturen zweier Opferverbände bedingt ist. Es gibt den Verein der »Survivors«, das sind die Gemeindeältesten, die den Holocaust als Jugendliche und junge Erwachsene überlebt haben und vor 1928 geboren sind. »The Hidden
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gerlich drängten sich mir schon zu Beginn der Forschung folgende Fragen auf: Droht jüdisches Leben in Košice tatsächlich mit den Mitgliedern der jüdischen Gemeinde »auszusterben«? Wie ist es um seine Zukunft und das jüdische materielle und imma‑ terielle Kulturerbe in der Stadt bestellt? Und welche Rolle spielt dabei angesichts der oben zitierten These zur Rolle des Volkskundlers bei einer »Reliktforschung« mein Projekt? Mit Blick auf die obige Aussage fühlte ich mich sogleich an den ersten For‑ schungsaufenthalt in meiner Heimatstadt Lučenec erinnert. Alle Bekannten und Ver‑ wandten, die ich im Sommer 2008 auf mein Thema ansprach, um Zugang zu meinem Feld zu bekommen, überlegten zunächst, ob es überhaupt eine jüdische Gemeinde beziehungsweise noch Juden in der Stadt gebe. Trotz der anfänglichen Verunsiche‑ rung kontaktierte ich die Vorsitzende der jüdischen Kommune20 in Lučenec, die sich zunächst sehr verschlossen gab. Nach mehreren Anläufen vermittelte sie mir Kon‑ takte zu weiteren InterviewpartnerInnen. So stieg ich in eine fruchtbare Forschung ein, die mir Einblicke in jüdische Lebens- und Erfahrungswelten und die sie um‑ gebenden und ihnen inhärenten Formen und Praktiken des Erinnerns, Vergessens und in Aushandlungsprozesse der individuellen Identitätskonstruktionen gewährte. Dass es kaum mehr ein aktives jüdisches Leben in der Stadt gibt, erklärt auch die Ratlosigkeit, mit der mir bei diesem ersten Forschungsaufenthalt begegnet wurde und verweist zugleich auch auf die geringe öffentliche Präsenz der jüdischen Kommune in der städtischen Öffentlichkeit. Bei der Frage, welche jüdische Gemeinde ich für die Promotion beforschen sollte, wurde schnell klar, dass die Auswahl in der Slo‑ wakei tatsächlich schwindend gering ist. Es gibt offiziellen Angaben zufolge21 heute zwischen 2000 und 3000 Menschen mit jüdischen Wurzeln in der Slowakei, die in dreizehn aktiven religiösen Gemeinden und zwei Kommunen verzeichnet sind, wie man auf der Internetseite des Zentralverbands der jüdischen religiösen Gemeinden der Slowakei sehen kann (vgl. UZŽNO). Bei einem Blick auf die Landkarte fällt auch auf, dass die meisten der verbliebenen Gemeinden vor allem im Westen der Slowakei angesiedelt sind. Von den aktiven religiösen jüdischen Gemeinden im Land liegen sechs in der Südslowakei. Neben der größten jüdischen Gemeinde in der Hauptstadt Child Košice« hat wiederum Mitglieder, die zwischen 1928 und 1945 geboren sind und den Holocaust – meist versteckt – als Kinder überlebt haben. In Lučenec gibt es keine Vereine innerhalb der kleinen jüdi‑ schen Kommune. 20 | Der Zentralverband der jüdischen religiösen Gemeinden in der Slowakei [Ústredný sväz židovských náboženských obcí v Slovenskej republike, UZŽNO] unterscheidet zwischen »jüdischen Kommunen« und »jüdischen religiösen Gemeinden«, in denen die Juden in der Slowakei verzeichnet sind. Im Unterschied zu einer religiösen jüdischen Gemeinde werden in einer Kommune keine religiösen Rituale und Bräuche mehr gepflegt, da es nicht mehr genug Mitglieder gibt (vgl. UZŽNO; Büchler/Fatranová 2009: 11). 21 | Im Jahre 1996 waren es in allen jüdischen Gemeinden zusammen 1300 Mitglieder, 3000 insgesamt im Land (vgl. Horel 2007: 395; Salner 1999: 136; Büchler/Fatranová 2009: 11). Peter Salner zufolge haben sich bei der letzten Volkszählung in der Slowakei 2380 Menschen zum jüdischen Glauben bekannt (vgl. ebd. 2013: 7).
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gibt es noch vier aktive jüdische Gemeinden in Kleinstädten im Westen. Košice ist mit der zweitgrößten jüdischen Gemeinde des Landes die einzige Großstadt im Osten der Slowakei, die während des Zweiten Weltkriegs auch zum ungarischen Gebiet gehörte (vgl. ebd.). Die größte jüdische Gemeinde in Bratislava zu beforschen, kam für mich nicht in Frage, da hier im Gegensatz zum Rest der Slowakei, dank der Studien des Ethnologen Peter Salner22, kein derartiges Forschungsdesiderat besteht. Zudem bietet Bratislava geopolitisch und historisch eine andere Ausgangssituation, denn es gehörte während des Zweiten Weltkriegs nicht wie Košice und Lučenec zu Ungarn, sondern war die Hauptstadt des damaligen Slowakischen Staates. »Nach der Volkszählung von 1930 bekannten sich zum jüdischen Glauben 137.767 Personen, die in 2262 von insgesamt 3589 Gemeinden lebten.«23 Ein großer Teil der jüdischen Gemeinden war in ländlicher Umgebung, insbesondere der Ostslowakei, angesiedelt und hielt stark am orthodoxen Glauben fest, so Salner. Bedeutend waren auch die Unterschiede zwischen dem traditionellen, ländlichen Judentum und dem moderneren städtischen, die sich insbesondere vor dem Holocaust stark abzeichne‑ ten.24 Salner zitiert aus einem Oral History-Projekt einen im Jahre 1919 geborenen Zeitzeugen: »Ich weiß nicht, wie das in der Ostslowakei ging. Dort gab es wesentlich mehr Juden und sie waren auffäl‑ liger. Sie gingen in Kaftanen gekleidet und trugen auch das Haar so, daß man den Juden erkennen konnte, ohne daß er einen Judenstern trug. Aber in der Westslowakei war das anders. Hier im Westen waren die Leute bestrebt, sich zu assimilieren. Das Bestreben der Juden im Osten war, sich nicht zu assimilieren. Sie wollten Juden bleiben, wissen Sie.« 25
Die jüdische Gemeinde in Košice wurde mir von ExpertInnen als sehr aktiv und als religiös-orthodox geprägt beschrieben. Auch aufgrund der historisch und regional unterschiedlichen Entwicklung des Judentums fiel meine Wahl auf die »Metropole« der Ostslowakei.26 Košice liegt in einer Region, die stark von Roma besiedelt ist. Die 22 | Peter Salner ist seit mittlerweile fast 20 Jahren der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Bratislava und forscht seit vielen Jahren als Kulturwissenschaftler über das jüdische Leben in der Slowakei, insbe‑ sondere jedoch in seiner eigenen Gemeinde. 23 | Salner (1999: 125). Hiervon abweichend wird in der Enzyklopädie der jüdischen religiösen Gemein‑ den geschrieben, dass in den 1930er Jahren in der Slowakei ungefähr 140.000 Juden in 2337 Gemeinden gelebt hätten (vgl. Büchler/Fatranová 2009: 9). 24 | Vgl. Salner (1999: 125). Vgl. hierzu auch Kapitel 4.1.1 und Borský (2007: 26). 25 | Salner (1999: 125 f.). Hier handelt es sich um das Projekt »Oral history: Schicksale jener, die den Holocaust überlebten« (vgl. Salner 1997). 26 | Košice wurde mir gegenüber sowohl in Bratislava als auch vor Ort häufig als die »eigentliche Haupt‑ stadt der Slowakei« und als »Metropole der Ostslowakei« bezeichnet, wie sie auch auf der Website für TouristInnen beworben wird (vgl. Visit Košice). Entsprechend wird sie auch in populärwissenschaftlichen und journalistischen Publikationen genannt (vgl. Franke 2013; Dunisch 2012). Brigitta Schmidt-Lau‑ ber zufolge variiert die statistische Festlegung von Stadttypen von Land zu Land (Ayala 2007 zit. n.
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Stadt war und ist auch aufgrund der Plattenbausiedlung »Luník IX« in den Medien bekannt, die als beispielhaft für die »Ghettoisierung der Roma in Ostmitteleuropa«27 beschrieben wird. Luník IX gehört laut Konrad Gündisch und Tobias Weger »zu den unerfreulichen Nebeneffekten der sozialistischen Baumaßnahmen«, denn die Roma seien damals aus dem Innenstadtbereich verbannt und dorthin umgesiedelt worden. »Als Ersatzwohngegend wurde in den Jahren 1981–1989 die Plattenbausiedlung Luník IX angelegt, die von den sonstigen Siedlungen getrennt liegt. Aufgrund der schlechten Wohnbedingungen wanderten wohlhabende Roma rasch wieder von dort ab. Zurück blieb ein sozialistisches Armutsghetto, dessen Fol‑ gen bis in die Gegenwart bestehen […].« (Gündisch/Weger 2013: 161)
Auch gegen die ungarische Minderheit, die heute zum Großteil in der slowakisch-un‑ garischen Grenzregion lebt, gab und gibt es immer wieder rechtspopulistisch moti‑ vierte Hetzen und auch gewalttätige Auseinandersetzungen (vgl. Puskás 2009; Auer 2004: 131 ff.). Wie ist gegenwärtig die Atmosphäre in einer multiethnisch besiedelten Stadt wie Košice, die sich mit diesem Label bewirbt? (vgl. Stadt Košice) Wie gehen die jüdische Gemeinde und ihre Mitglieder mit ihrer jüdischen Abstammung beziehungsweise Identität in der Stadt und im öffentlichen Leben um? Auch mit diesen Fragen im Ge‑ päck zog es mich in mir noch unbekanntes Gebiet meiner Heimat, in eine sowohl architektonisch seit dem Mittelalter als auch durch zahlreiche Glaubensrichtungen geprägte Stadt, die bereits während meiner Forschung begann, sich für ihr Erschei‑ nen als europäische Kulturhauptstadt 2013 zu inszenieren: »Austrian-Hungarian his‑ tory and post-socialist reality, original multi-cultural identity and a position as the second largest Slovak city, the metropolis of the Carpathian region and, at the same time, a city on the Schengen border« (Košice 2013). Laut Daniel Habit steht neben Schmidt-Lauber 2010: 18), doch erscheint es ihr zufolge angemessen, den Stadttyp Mittelstadt bei einer Bewohnerzahl von »50.000 bis 250.000« zu beziffern (vgl. Adam 2005 zit. n. Schmidt-Lauber 2010: 18; Lindner 2010: 37). Demnach ist Košice eine Mittelstadt, doch ist zu bedenken, dass es in der Slowakei kei‑ ne Millionenstadt gibt und Bratislava weniger als doppelt so viele EinwohnerInnen hat. So beantworten laut Brigitta Schmidt-Lauber »Zahlen allein […] die Frage nach den Erfahrungsgehalten und dominanten Alltagswelten nicht« (ebd. 2010: 19). 27 | Das Zitat stammt aus einem Wikipedia-Artikel über Luník IX (vgl. Anonymus/Wikipedia/Luník IX 2013). In diversen Artikeln der slowakischen (SME) und ausländischen Medien wie der taz und der Wie‑ ner Zeitung wurde kritisch über die Segregation der Roma in Košice, durch die im Juli 2013 errichtete Mauer zum Schutz angrenzender Stadtteile vor den Bewohnern von Luník IX, berichtet (vgl. Anonymus/ Košický Korzár/Luník IX 2013; Mostyn 2013; Lechner 2013). Die slowakische Politik wird in den Medien beziehungsweise von Amnesty International immer wieder als »untätig« kritisiert, so zum Beispiel was die Trennung der Roma von anderen SchülerInnen in gesonderten Klassen und auch Schulen betrifft (vgl. Anonymus/derStandard 2013). Berichte über Aufmärsche rechtspopulistischer Parteien und ihrer Anhän‑ gerInnen sowie über rassistische Äußerungen ihrer Anführer, wie etwa Márian Kotleba, häuften sich in den letzten Jahren (vgl. Kahlweit 2012; Kapitel 4.1.4).
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»strukturpolitischen Ansätzen, die zunehmend auf Städte mittlerer Reichweite abzie‑ len, […] das Konzept der Kulturhauptstadt Europas als kulturpolitisches Instrument mit identitätsstiftendem Charakter«. Es ist, so Habit weiterhin, »eine eher symboli‑ sche Maßnahme, die den ausrichtenden Städten durch das Prädikat Kulturhauptstadt für ein Jahr ein Alleinstellungsmerkmal im angedeuteten Städtewettbewerb verleiht«. (ebd. 2010: 142 f.). Inwiefern Košice die jüdische Vergangenheit und Gegenwart in das Konzept der europäischen Kulturhauptstadt 2013 miteinbezieht, wird hier ebenfalls verfolgt. In einem soziokulturell und historisch so heterogen entwickelten (Um-)Feld über das jüdische Leben zu forschen, erschien mir von Anfang an umso interessanter und bereichernder. Dabei sollen zwar auch die beiden Städte selbst als urbane Lebens‑ räume der jüdischen Gemeinde und Kommune jeweils unter stadtanthropologisch relevanten Gesichtspunkten untersucht werden, der Fokus der Studie liegt allerdings auf den Lebenswelten, Biografien und Identitäten der AkteurInnen mit jüdischer Ab‑ stammung und der Gemeinde beziehungsweise Kommune. Die sichtbaren Spuren jüdischen Lebens in Košice deuten ebenso wie in Lučenec auf eine einst zahlenmäßig starke, in ihrem urbanen Umfeld und im alltäglichen städ‑ tischen Leben verankerte, prosperierende und heterogene jüdische Gemeinde mit bis zu vier verschiedenen Glaubensrichtungen.28 Diese Spuren lassen sich bei einem Spa‑ ziergang durch das Stadtzentrum von Košice29, wo heute unter anderem noch vier von ehemals fünf Synagogen und die Gemeindeanlage mit Ritualbad und koscherer Kü‑ che stehen, ausmachen. Auch auf dem jüdischen Friedhof in Košice sieht man Gräber unterschiedlichster Provenienz, die unter anderem auf den Reichtum und die Glau‑ bensrichtung der Verstorbenen schließen lassen. Auf der Rückseite der Grabsteine im neuesten Teil des Friedhofs befinden sich Inschriften zum Gedenken an die während des Holocaust umgekommenen Familienmitglieder. Im Gegensatz zum jüdischen Friedhof in Lučenec, der stark vernachlässigt und kaum besucht einen trostlosen An‑ blick bietet, ist der große jüdische Friedhof in Košice gepflegt und wird, den Kerzen
28 | Die Geschichte der jüdischen Gemeinden wird in Kapitel 4.1 nachgezeichnet. In Lučenec – wie auch im restlichen Ungarn zur damaligen Zeit – spaltete sich im Budapester Kongress 1868/1869 die jüdische Gemeinde in einen neologischen und einen orthodoxen Teil sowie die Gruppe Status Quo Ante. In Košice gab es zudem noch eine chassidische Gemeinde (vgl. Büchler/Fatranová 2009: 8; SNM 2009: 202; SNM 2010: 33). 29 | In Košice gab es den ersten jüdischen Friedhof zwischen den Jahren 1842 und 1844, der bis zum Ende des 19. Jahrhunderts genutzt wurde und heute fast zur Unkenntlichkeit eingewachsen in einer Platten‑ bausiedlung liegt. Der seit 1888 bis heute genutzte, große Friedhof außerhalb des Stadtzentrums hat einen orthodoxen und einen neologischen Teil sowie einige Mausoleen. In Lučenec gibt es ebenfalls einen älteren Friedhof der 1823 angelegt und nach der Einweihung des neueren jüdischen Friedhofs 1871 nicht mehr genutzt wurde (vgl. SNM 2009: 201 f.; SNM 2010: 32 f.).
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und frischen Blumen auf einzelnen Gräbern30 nach zu urteilen, auch häufiger besucht. Ein weiterer signifikanter Unterschied zwischen diesen beiden Friedhöfen ist deren Präsenz im öffentlichen Raum und ihre Zugänglichkeit. Beide Friedhöfe schließen direkt an die städtischen Zentralfriedhöfe an. In Lučenec kann man den mit hohen Bäumen eingewachsenen jüdischen Friedhof hinter einer mannshohen, mit Stachel‑ draht versehenen Backsteinmauer am südöstlichen Ende des öffentlichen Friedhofs aber nur erahnen. Man gelangt über einen ungefähr einen Kilometer weiten Umweg entlang der Hauptstraße dorthin, wobei man auch an der seit Jahrzehnten verfallen‑ den neologischen Synagoge vorbeikommt. In Košice gibt es keine Mauer, nur einen niedrigen Zaun, der den jüdischen vom Zentralfriedhof trennt. Diesen Eisenzaun zieren in regelmäßigen Abständen Davids‑ terne.31 Lassen der Zustand, die Zugänglichkeit und die öffentliche Präsenz der jü‑ dischen Räume und Gebäude in beiden Städten auf die gegenwärtige Situation der jüdischen Gemeinden in Košice und Lučenec schließen? Könnte also der desolate Zustand der neologischen Synagoge in Lučenec metaphorisch für den der jüdischen Kommune stehen? In Košice und Lučenec lässt – auf den ersten Blick – lediglich die Geschichte ihrer jüdischen Gemeinden einige Vergleiche zu, ansonsten herrschen aber gänzlich ver‑ schiedene Dimensionierungen, wie etwa in der Größe der Städte und der jüdischen Gemeinden, vor. So soll hier keine komparative Arbeit entstehen, vielmehr sollen die Ergebnisse der Mikrostudien in beiden Städten jeweils für sich sprechen. Obwohl im Gegensatz zur überschaubaren Kleinstadt Lučenec in Košice auch die jüdischen Gebäude und Räume auf den ersten Blick zahlreicher, größer, gepfleg‑ ter und belebter sind und es dort offiziell eine aktive jüdische Gemeinde – sogar mit eigenem Internetauftritt 32 – gibt, erschienen bei genauerem Hinsehen Unstimmig‑ keiten in dem Bild, die meine Neugier weckten. Denn die wechselvolle Geschichte dieser ungarisch-slowakischen Grenzregion und vor allem die repressiven Regime des 20. Jahrhunderts haben hier ihre Spuren hinterlassen, die nach 20 Jahren in der Demokratie im sonst annähernd sanierten Stadtkern deutlich hervortreten. So kämpft die jüdische Gemeinde seit 1994 in einem Rechtsstreit um die Resti‑ tution einer jüdischen Schule und der neologischen Synagoge, denn diese wurden in den 1950er Jahren wie nahezu alle anderen Gebäude unter dem Druck der kom‑ munistischen Regierung der Tschechoslowakei enteignet. Die neologische Synagoge ist seitdem in städtischer Hand und nach Umbauten, im Zuge derer alle Anzeichen einer Synagoge unkenntlich gemacht wurden, seit 1964 das Haus der Kunst und Sitz der staatlichen Philharmonie. Die jüdische Schule ist in ein Lager umfunktioniert 30 | Es ist Tradition bei dem Besuch eines jüdischen Grabes Steine zu hinterlassen. Doch sieht man immer häufiger auf jüdischen Friedhöfen auch Blumen und Kerzen, die von nicht-jüdischen BesucherInnen aber auch von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde mitgebracht werden. 31 | Einträge aus den Feldtagebüchern vom 9. 7. 2008 (Lučenec) und 21. 2. 2010 (Košice). 32 | Ende des Jahres 2013 wurde ein neuer Internetauftritt der jüdischen Gemeinde Košice umgesetzt und eine modernere Website installiert (vgl. Kehila Košice).
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worden, wie mir von der jüdischen Gemeinde mitgeteilt wurde. Dieses Schicksal teilt auch die ältere orthodoxe Synagoge in Košice. Sie wurde zwar in den 1990er Jahren wieder an die jüdische Gemeinde zurückgegeben, doch stellt ihr desolater Zustand die jüdische Gemeinde seitdem vor einen schwierigen Restaurierungsprozess (vgl. Kapitel 5.1.3). Im Umgang mit dem jüdischen Kulturerbe in Vergangenheit und Gegenwart eröffnen sich weitere Spannungsfelder zwischen der jüdischen Gemeinde Košice be‑ ziehungsweise der Kommune in Lučenec und den Stadtverwaltungen sowie den mit den Restaurierungen betrauten Ämtern für Denkmalschutz. Sie erstrecken sich wei‑ terhin auf die nationale und transnationale Ebene und werfen auch Fragen nach der Restitution enteigneten Eigentums und den damit einhergehenden erinnerungskul‑ turellen Praktiken auf. (Wie) wird die Situation der jüdischen Gemeinden und ihres kulturellen Erbes in der Öffentlichkeit reflektiert? Welchen Raum nimmt die jüdi‑ sche Gemeinde beziehungsweise Kommune in den Städten und ihren Gedächtnissen ein? Welche Bedeutung haben beziehungsweise erlangen die Erinnerungsobjekte und -räume wie die jüdischen Friedhöfe und die Synagogen an den Schnittstellen mit den individuellen Erinnerungs- und Erfahrungswelten der AkteurInnen? Um Zugang zu meinem Feld und zur jüdischen Gemeinde in Košice sowie Ant‑ worten auf die ersten Fragen zu erhalten, begann ich meine Forschung in der slowa‑ kischen Hauptstadt Bratislava, wo ich mich an das Institut für Ethnologie der slowa‑ kischen Akademie der Wissenschaften wandte. Dort sprach ich zunächst mit Peter Salner. Über ihn und den Zentralverband der jüdischen Gemeinden der Slowakei erhielt ich erste Kontakte zur jüdischen Gemeinde in Košice, wo ich wiederum über die einzelnen InterviewpartnerInnen weitere AkteurInnen kennenlernte. So verfuhr ich nach dem Schneeballprinzip und hatte am Ende meiner empirischen Erhebun‑ gen33, die sich über insgesamt sechs Aufenthalte von einem Tag bis sechs Wochen in Bratislava, Košice und Lučenec erstreckten, über 70 Interviews geführt, davon über die Hälfte mit Menschen mit jüdischen Wurzeln, von denen die meisten Mitglieder der jüdischen Gemeinde beziehungsweise Kommune sind. Darüber hinaus führte ich ExpertInneninterviews in verschiedenenen Institutionen, die mit der jüdischen Ge‑ meinde und Kommune in Kontakt stehen und wichtige Knotenpunkte im Umgang mit der jüdischen Kultur und dem Kulturerbe in Vergangenheit und Gegenwart bil‑ den, unter anderem auch in Bratislava, Budapest und Tel Aviv. Meine Forschung war als multiperspektivischer Methodenmix angelegt, der ne‑ ben den geführten Interviews auch informelle Gespräche mit BewohnerInnen der Städte, teilnehmende Beobachtung, Archivforschung, Medien-, Objekt-, und Ar‑ chitekturanalysen beinhaltete. So erschloss sich mir nach und nach ein dichtes Bild des jüdischen Lebens und des Umgangs mit jüdischem Kulturerbe in Košice in Ver‑ gangenheit und Gegenwart. In Lučenec konnte ich auf den bereits für meine Magis‑ terarbeit erhobenen Daten aufbauen und sie mit Hilfe der in Košice neu gewonnen Erkenntnisse kritisch beleuchten, mit weiteren theoretischen Konzepten verdichten 33 | Inklusive der Forschung für meine Magisterarbeit im Juli 2008.
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und bei gezielten Nacherhebungen vor Ort weitere Fragen klären. Die zeitlichen Ab‑ stände zwischen den Feldaufenthalten, die von der Forschung für die Magisterarbeit im Sommer 2008 bis zum Abschluss der Forschung für die vorliegende Dissertation im Herbst 2012 reichten, ermöglichten es mir, Veränderungsprozesse insbesondere in den Diskursen um die neologische Synagoge in meiner Heimatstadt Lučenec zu ver‑ folgen und diese mittels weiterer Erhebungen zu untersuchen. In Košice forschte ich intensiv in mehrwöchigen Aufenthalten im Frühjahr und Herbst 2010, wobei ich die im Frühjahr erhobenen Daten im Herbst durch weitere Interviews – unter anderem auch mit den gleichen Personen – und teilnehmende Beobachtungen ergänzte. Der Aufenthalt im Herbst 2010 stand vor allem unter dem Zeichen der wichtigsten jüdi‑ schen Feiertage, Rosch Haschana und Jom Kippur, die ich sowohl in einer jüdischen Familie als auch in der Gemeinde, bei Besuchen der Feierlichkeiten in der Synagoge, miterlebte. Im Zuge der ersten Auseinandersetzungen mit meinem Feld in Košice ergaben sich schnell konkretere Fragen: Einerseits ist es mir wichtig zu erfahren, wie die jüdische Gemeinde in der Stadt lebt, welche Räume ihr sowohl im Gedächtnis der Stadt als auch in Form tatsächli‑ cher physischer Räume zugedacht werden und welche Diskurse sich um die Erinne‑ rungsorte und -objekte der jüdischen Gemeinde entfalten, die nach der Enteignung im Sozialismus in einem sehr schlechten Zustand oder noch gar nicht an die jüdische Gemeinde beziehungsweise Kommune zurückgegeben wurden, wie es in Košice und Lučenec der Fall ist. Andererseits geht es mir – unter Berücksichtigung einer breiteren historischen Folie – darum, zu erfahren, wie sich die jüdische Gemeinde seit 1989 entwickelt hat, wie, ob und von wem die jüdische Religion und Kultur gelebt wird. Wie sehen die Be‑ dingungen für das Rekonstruieren der jüdischen Kultur in einer postsozialistischen Transformationsgesellschaft aus? Wie gehen die Mitglieder der jüdischen Gemeinde mit Traditionsbrüchen um? Im Zentrum meines Fragens stehen jedoch vor allem die Bedeutungen der jüdi‑ schen Wurzeln für die jeweiligen AkteurInnen, der Umgang mit ihnen innerhalb der Familien, wie und ob er sich im Laufe der Zeit verändert hat. Inwiefern ist ihnen bei‑ spielsweise die Mitgliedschaft oder Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinde wichtig? (Wie) wurden die jüdischen Traditionen innerhalb der Familie weitergegeben? Was wird gegenwärtig dafür getan? Woran machen die AkteurInnen die jüdische Kultur beziehungsweise das Jüdisch-Sein für sich fest? In welchen Netzwerken und Kontex‑ ten erlangt Jüdisch-Sein (eine besondere) Bedeutung? Wird es nur situativ aktiviert? (Wie) wird das Jüdisch-Sein, wenn es bedeutungsstiftend ist, mit anderen nationalen, ethnischen und religiösen Momenten der eigenen Identität verwoben? Ich möchte in dieser Arbeit jüdischen Erfahrungs- und Lebenswelten nachspü‑ ren, die sich in einem Spannungsfeld aus individuellen und kollektiven Erinnerungs‑ praktiken, divergierenden Identitätsentwürfen und Zugehörigkeitsmustern in der sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Alltagsrealität slowakischer Städte wie Košice und Lučenec generieren. Der Fokus richtet sich hier auch auf die
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Bedeutung der jüdischen Religion und Kultur für die identitäre Verortung und Grup‑ penbildung in historischer und gegenwärtiger Perspektive unter dem Einfluss identi‑ tätspolitischer, ökonomischer und lebensweltlicher Rahmenbedingungen, wobei vor allem die wechselseitige Durchdringung religiöser und nationaler/ethnischer Zuge‑ hörigkeiten, Selbst- und Fremdbilder relevant ist. Antworten auf meine Fragen bekam ich über eine methodisch variable, flexible Vorgehensweise (vgl. Schmidt-Lauber 2007: 219 ff.). Sie bot mir die Chance, mich mei‑ nem Feld aus verschiedenen Perspektiven zu nähern, es mir in einer »hohen Tiefen‑ schärfe« (vgl. Kaschuba 2006: 214) zu erschließen und die eingefangene Polyphonie im Sinne einer »dialogischen Anthropologie« auch aus dem Text sprechen zu lassen (vgl. Geertz 1987 zit. n. Kaschuba 2006: 252). Dass ich so auch sehr nah an einige der AkteurInnen und ihren Alltag herangekommen bin, verlangt umso mehr, meine Vorgehensweise sowie die Arbeitsschritte und insbesondere meine Position im Feld fortlaufend kritisch zu überdenken. Da in diesem Feld Holocaust und Sozialismus auf unterschiedliche Weise in die Biografien der Menschen eingeschrieben sind und mir somit in jedem Interview und darüber hinaus begegneten, ist auch ein erhöhtes Maß an Sensibilität gefordert. Eini‑ ge Gedanken hierzu leite ich im folgenden reflexiven Exkurs ein.
1.3 » U nd warum haben S ie gerade dieses Thema gewählt? S ie sind doch keine J üdin?« – »What am I doing here?« 34 Die ersten beiden Fragen bekam ich nicht nur von Magdalena 35, einer meiner ältesten Interviewpartnerinnen in Košice, zu hören. Die andere Frage stellte ich mir selbst, in Anlehnung an Joachim Schlörs Aufsatz, über meine Positionierung als Forscherin in einem jüdischen Feld. Der Kulturwissenschaftler und Experte für jüdische Studien setzt sich damit auseinander, welchen Beitrag die Disziplin Volkskunde zu dem in der Wissenschaftslandschaft immer populäreren Themengebiet leisten kann. Denn es ist laut Schlör mehr als »reine« Wissenschaft, die in Bezug auf jüdische Studien betrieben wird: »Wir bewegen uns im politischen Bereich, auf verschiedenen Ebenen der kul‑ turellen Aktivität, wir sind öffentlich präsent über Ereignisse unserer Forschungen hinaus.«36 Damit spricht er eine besondere Verantwortung seitens der Wissenschaft in diesem Feld an, die ich, übertragen auf meine Forschung und deren Eigenheiten, hier skizzieren möchte.
34 | Schlör (2001). 35 | Magdalenas Porträt ist in Kapitel 6.1.2 zu lesen. 36 | Schlör (2001: 93). Joachim Schlör hinterfragt die Wege und Ziele der Forschung innerhalb des jüdi‑ schen Raumes in der Wissenschaft, der durch sie immer weiter anwächst. Er stellt fest, dass die Forschung dabei mittlerweile einer Maschinerie gleicht, deren Künstlichkeit ihm Sorge bereitet. Er fordert, dass »das Feld in Abstimmung mit den jüdischen Gemeinden neu ausgemessen wird« (ebd.: 108).
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Bereits im Jahre 2008 musste ich in Lučenec allen InterviewpartnerInnen meine Motivation, als Nicht-Jüdin über jüdisches Leben in der Slowakei zu forschen, erklä‑ ren. So erläuterte ich mein während des Studiums stetig gewachsenes Interesse an Erinnerungskulturen, an Minderheiten und an postsozialistischen Transformations‑ prozessen, die ich insbesondere bei den regelmäßigen Besuchen in meiner sich vor allem äußerlich wandelnden Heimatstadt beobachten konnte. Was sich am Stadtbild allerdings nicht wandelte, war die neologische Synagoge, die direkt an der Hauptstra‑ ße gelegen, Jahr für Jahr Mensch und Natur und somit ihrem sicheren Verfall preis‑ gegeben war.37 Sie war der Auslöser für mein Fragen nach der jüdischen Geschichte und Gegenwart in der Stadt. Ein Pluspunkt bei der Kontaktaufnahme zu meinen InterviewpartnerInnen in Lučenec war auch, dass dort ein Großteil meiner Familie lebt und meine Tante jüdi‑ sche Wurzeln hat. So geriet meine Identität als nicht-jüdische Forscherin in meiner Heimatstadt schnell in den Hintergrund. Doch bereits hier wurde mir angesichts der vielen emotionalen Gespräche und der anfänglichen Zugangsschwierigkeiten zum Feld schnell bewusst, dass die Forschung mich von Beginn an auf vielen Ebenen he‑ rausfordern würde. Dies ist unter anderem auch der besonderen Situation der »Anthropology at home«38 geschuldet, da ich im damals noch sozialistischen Lučenec geboren wurde, aber den Großteil meines Lebens in München verbracht habe und somit auch wis‑ senschaftlich-westlich sozialisiert wurde. Diese Zeit des Heranwachsens und meine wissenschaftliche Ausbildung sind ausschlaggebend für die Perspektive auf mei‑ ne Heimat. Zahlreiche, regelmäßige Besuche dort und die im Verlauf des Studiums zunehmende Lektüre wissenschaftlicher Literatur über das östliche Europa schärf‑ ten meinen Blick für die Phänomene, die ich nun untersuchte. Doch war und ist die Gefahr einer einseitigen oder unzureichenden Perspektivierung meines Feldes nie vollständig gebannt, so dass mir beispielsweise die Diskussion diverser Fragen und Ergebnisse meiner Forschung auch mit slowakischen WissenschaftlerInnen und Ex‑ pertInnen, wie beispielsweise Peter Salner, geholfen haben, die richtige »Sehschärfe« 37 | Die ausführliche Beschreibung folgt in Kapitel 5.2. 38 | Der Begriff »Anthropology at Home« rekurriert auf den gleichnamigen Band von Anthony Jackson (1987). In diesem beschreibt Stella Mascarenhas-Keyes die Forschung in ihrer Heimat Goa folgenderma‑ ßen: »Unlike the Outsider, who becomes a marginal native in order to gain access to natives, I have shown that for me it was necessary to become a multiple native in order to transcend the limitations of an a priori ascribed position and to deal with the cultural complexities of the field situation. Furthermore, since the native anthropologist, unlike the Outsider, is an intrinsic and permanent part of a complex web of kinship and associational relationships, I have indicated the strategies used to legitimize research, and provide assurance that information collected during fieldwork is for professional and not personal interests. I have shown that fieldwork exposed me to a considerable degree of stress, and argued that anxiety can be turned to method. By using Self as Informant the culturally induced sources of stress can be subjected to systematic analysis and used as a methodological tool in fieldwork« (Mascarenhas-Keyes 1987: 191 f.; vgl. hierzu auch Hann 1987: 143).
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für mein Feld zu finden. Ihm zufolge ist es gerade meine Position von »außen« im doppelten Sinne, als Nicht-Jüdin und aus Deutschland kommende Forscherin, die in diesem Feld viele Chancen birgt. Laut Asta Vonderau gehört zu Studien, die in postsozialistischen gesellschaftli‑ chen Kontexten angesiedelt sind, vor allem ein kritischer Blick auf »historisch ge‑ wachsene Bilder Osteuropas als eine rückständige Region, das Bewusstsein der Dominanz westlicher Forschungsansätze« (ebd. 2010: 31). Sie fordert in einem »post‑ sozialistischen« Feld zudem auch »die Distanzierung von der eigenen Perspektive, die im Bereich der Postsozialismusforschung besonders wichtig ist«, denn diese »führt einen historischen Blick nicht nur auf das zu Erforschende, sondern auch auf die For‑ scherin selbst mit sich« (ebd.: 25). Umso mehr erscheint es mir im Hinblick auf mein »jüdisches Feld« als wichtig, ihm in Lučenec und Košice kein »postsozialistisches Alleinstellungsmerkmal« zu dia‑ gnostizieren, sondern die Ergebnisse vor der Folie anderer osteuropäischer, aber auch westeuropäischer Gemeinden zu reflektieren. Für das auf Košice erweiterte Feld war es jedoch mehr als einmal nötig, die »wis‑ senschaftliche Brille« zu wechseln, sie sogar für eine gewisse Zeit komplett abzule‑ gen. Motiviert durch die positiv verlaufenen Kontakte und Erfahrungen in Lučenec, betrat ich im Februar 2010 in Košice ein mir gänzlich unbekanntes Terrain. Zwar fühlte ich mich in der Stadt schnell wohl, doch begegnete ich dort bereits bei den ersten Kontakten innerhalb der jüdischen Gemeinde Zuschreibungen, die vor allem mit meiner Herkunft aus Deutschland zu tun hatten. Schnell wurde mir klar, dass ich hier mit anderen Emotionen konfrontiert werden würde, als ich es als »Einheimische« von der Forschung in Lučenec gewohnt war. Wie in den Aussagen der Überschrift dieses Kapitels deutlich wurde, reagierten einige meiner InterviewpartnerInnen sehr überrascht darauf, dass ich keine jüdischen Vorfahren habe – die Meisten gingen automatisch davon aus, dass ich Jüdin sein müsse, wenn ich über ein solches Thema forschte. Einmal führte dies auch zu einem Missverständnis, als mich Ella, meine jüngste Interviewpartnerin aus Košice, zu einer Purimfeier der israelischen Studen‑ tInnen39 mitnahm und mich dort dem Rabbiner Zev Stiefel40 vorstellte. Dieser fragte mich im Verlauf des Abends, ob ich Jüdin sei. Ich verneinte. Er fragte mich weiter, ob meine Mutter, mein Vater, meine Großeltern Juden seien. Ich musste alles verneinen. Der Rabbiner wusste zwar, dass ich zu Forschungszwecken da war, zeigte sich aber sichtlich überrascht. Meine Zweifel darüber, ob ich als einzige Nicht-Jüdin auf der
39 | In Košice studierten 2010 circa 100 israelische StudentInnen, die dort ihre Ausbildung als Veterinärund HumanmedizinerInnen absolvierten. Die Wenigsten von ihnen leben religiös, die Meisten nehmen daher auch nicht regelmäßig an den Gottesdiensten und Gebetsstunden in der jüdischen Gemeinde be‑ ziehungsweise in der Synagoge teil. 40 | Rabbiner Stiefel stammt aus den USA und lebt mit seiner Familie im westslowakischen Pieštany. Von dort aus organisiert er für die israelischen StudentInnen in Košice diverse Treffen und Feiern. Zu religiösen Anlässen gibt es immer auch entsprechende traditionelle Elemente.
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Purim-Feier fehl am Platz sein könnte, hielten nicht lange an, denn schon bald bra‑ chen wir zur Purim-Erasmus-Party41 in eine der größten Diskotheken der Stadt auf. Ein Eintrag aus meinem Feldtagebuch vom Herbst 2010 illustriert eine andere Si‑ tuation: Ich betrat an einem der jüdischen Feiertage alleine die Synagoge. Eine Frau mittleren Alters, die mir vorher noch nicht begegnet war, kam lächelnd auf mich zu. Ich freute mich, als sie mir die Hand entge‑ genstreckte, grüßte sie und nannte ihr meinen Namen. Meine Hand schüttelnd fragte sie mich, woher ich denn komme. Ich antwortete, ich sei eine Doktorandin aus München und forsche über die Entwicklungen des jüdischen Lebens in Košice. Viel weiter kam ich nicht, denn augenblicklich entzog sie mir ihre Hand, starrte mich dabei fassungslos an, drehte sich um und ging. Während des gesamten Gottesdienstes saß ich in einer der Bänke, die in der Synagoge für die Frauen vorgesehen waren und somit in ihrer Nähe. Ab und zu sah sie mich an, mit versteinertem Gesicht.
Dies war nicht das einzige Mal, dass ich eine solche Reaktion bei den Menschen her‑ vorrief. Bei einem Treffen des Opferverbands The Hidden Child im Frühjahr verhielt es sich ähnlich.42 Ich stellte mich dort vor und hoffte darauf, InterviewpartnerInnen zu gewinnen. Doch nur drei von insgesamt über 20 Personen meldeten sich. Der Rest schwieg und reagierte nicht auf mich und meine Bitte. Über die drei Interviewpart‑ nerInnen freute ich mich, und ich begründete die Reaktion der Anderen für mich mit mangelndem Interesse und möglicherweise auch emotionalen Vorbehalten. Al‑ lerdings kamen im Anschluss an das Treffen ein paar der Holocaustüberlebenden, die sich nicht gemeldet hatten, auf mich zu und sprachen mich auf Deutsch an. Es waren ein paar Floskeln und unzusammenhängende Satzfetzen. Ich stammelte unsi‑ cher Antworten, die aber nicht abgewartet wurden. Die Leute machten auf dem Ab‑ satz kehrt und ließen mich stehen. In diesem Moment und auch längere Zeit danach fragte ich mich, was der Grund dafür gewesen sein könnte, dass sie mir ihre Deutsch‑ kenntnisse demonstrieren wollten. Vielleicht, dass sie sie während des Zweiten Welt‑ kriegs gelernt hatten? Oder weil ich gesagt hatte, ich käme aus München? Sowohl die Situation in der Synagoge am höchsten jüdischen Feiertag, an dem auch der Opfer 41 | Für die israelischen StudentInnen in Košice organisierte Rabbiner Zev Stiefel den religiösen Teil des Purimfestes in einem Restaurant, das von dem einzigen Israeli, der nach seinem Studium der Liebe wegen in Košice geblieben ist, betrieben wird. Er las das Buch Esther vor, um dann zum informellen Teil des Abends zu kommen – einer ausgelassenen Feier als Einstimmung auf die Purim-Erasmus-Party in der städtischen Diskothek. Der Betreiber des Restaurants versorgte die Feiernden mit traditionellen Speisen, alle bekamen eine hebräisch-englische Version des Buches Esther und eine Tüte mit israelischen Süßig‑ keiten geschenkt. Die anschließende öffentliche Erasmus-Faschings- beziehungsweise Purim-Party 2010 wurde von einem der israelischen Studenten in Košice organisiert und im Ambiente einer beliebten Dis‑ kothek ausgerichtet. Einer der Höhepunkte des Abends war eine Preisverleihung für die besten Kostüme. 42 | Die Mitglieder von The Hidden Child Košice treffen sich regelmäßig ein- bis zweimal im Monat, unter anderem in den Räumlichkeiten der jüdischen Gemeinde. Nach Absprache mit der Vorsitzenden des Opfer‑ verbands durfte ich bei einem der Treffen dabei sein (vgl. hierzu auch Kapitel 4.2.2).
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des Holocaust gedacht wurde, als auch das Erlebnis ein halbes Jahr zuvor bei dem Treffen des Opferverbandes ließen mich mit gemischten Gefühlen und vielen Fragen zurück. Allmählich und insbesondere bei der Rekapitulation der Begegnungen mit dem damaligen Rabbiner43 in Košice, kristallisierten sich mögliche Antworten auf meine Fragen heraus. Denn er wurde deutlicher als alle anderen, als er mich gleich bei unserem ersten Zusammentreffen in die orthodoxe Synagoge an der Puškinová [Puschkin-Straße] mitnahm, mir dort die einzelnen architektonischen Elemente er‑ klärte und mich mit dem Hinweis »Das wird Ihnen jetzt nicht gefallen, weil Sie sind ja Deutsche!« zu den Bänken an der Wand neben dem Thoraschrein führte. Dort be‑ decken über zwei Meter hohe Holzwände als Rückenlehnen die Wand. In diese Rü‑ ckenlehnen sind auf Augenhöhe kleine Holzfenster eingelassen, die sich zum Gebet öffnen und als Ablage nutzen lassen. Ich sollte durch eines dieser Fenster einen Blick auf die Wand dahinter werfen. Dort steht mit Bleistift auf Ungarisch geschrieben: »Ich weiß nicht, wohin sie mich bringen. 21. 04. 1944« sowie die Unterschrift einer Frau. Daneben hatte ihr kleiner Sohn das Gleiche geschrieben.44 Beide sind in Ausch witz umgekommen, so der Rabbiner. Die Inschriften an den Wänden hatten noch einen Kontext, den der Rabbiner mir nicht vorenthalten wollte. Er erklärte mir, wie die deutschen Soldaten mehrere tausend Juden vor ihrer Deportation nach Auschwitz in der Synagoge festgehalten und mit ihren Gewehren bedroht hätten, wiederholte deren Worte und kommentierte sie auf Deutsch mit: »Kurz und scharf.« Ich riss mich zusammen und begann erst zu weinen, als ich wieder auf der Straße und alleine war. Darüber, was in der Synagoge geschehen war, über die Unterschrift des kleinen Jun‑ gen an der Wand, über den Kommentar des Rabbiners, der mich – insbesondere in diesem Zusammenhang – offenbar als Deutsche sah. Tags darauf ging es allerdings weiter, denn er erklärte mir bei unserem nächsten Termin in seinem Büro, warum mir das, was er mir nun erzählen wolle, nicht gefallen werde: »Weil Sie kommen ja aus Deutschland.« Meine Herkunft spielte für ihn also definitiv eine Rolle. Dieses Mal antwortete ich ihm aber, dass er doch eigentlich wisse, dass ich in der Slowakei geboren sei und meine Familie der ungarischen Minderheit angehöre. Er sah mich an und überlegte. Dann gab er mir Recht. Und er halte es bei den Deutschen und ihren Nachkommen für gut, dass sie sich entschuldigt hätten für das, was geschehen sei und nun Aufklärungsarbeit leisten würden, damit das nicht mehr passiere. Die Ungarn und die Slowaken allerdings hätten sich bis heute nicht entschuldigt, im Gegenteil, so
43 | Hier ist die Rede von Rabbiner Jossi Steiner, der als Kind den Holocaust mit seiner Familie in der Slowakei überlebt hat, nach dem Zweiten Weltkrieg nach Israel auswanderte und von 2001 bis Ende 2011 Rabbiner in Košice war. 44 | Wie mir im Amt für Denkmalschutz in Košice erklärt wurde, sind die Inschriften bei den Renovie‑ rungsarbeiten während der Jahre 2004–2009 an der Wand der Synagoge entdeckt worden. Sie wurden mit Bleistift verfasst und nach dem Zweiten Weltkrieg übermalt. Regenwasser, das durch das undicht gewordene Dach der Synagoge gelangt war, hat die Nachrichten wieder sichtbar gemacht. Sie wurden mit einem speziellen Verfahren konserviert. Siehe hierzu auch Borský (2007: 45).
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Rabbiner Steiner. Und es sei damals auch nur ein einziger Deutscher hier gewesen, der den Slowaken gezeigt habe, was sie mit den Juden machen sollten.45 Bisher hatte ich Schuldgefühle, weil ich glaubte, bei meinen InterviewpartnerIn‑ nen Wunden aufzureißen und sie nach Abschluss unserer Gespräche mit ihren Ge‑ fühlen alleine zu lassen. Doch nun sah ich mich mit einer anderen Dimension von Schuld konfrontiert. Nicht genug, dass mir Stimmen aus meinem Feld zuschrieben, Deutsche zu sein und das (immer) in Verbindung mit dem Holocaust, meine slowaki‑ sche und ungarische Herkunft waren gerade hier noch schlimmer. Lange Zeit wusste ich mit diesen sich bei nahezu allen Feldaufenthalten wiederholenden Zuschreibun‑ gen und den daraus resultierenden Emotionen nicht umzugehen. Der Religionswissenschaftler Björn Krondorfer46 schreibt in seiner Studie über Erinnerung und Versöhnung in den Begegnungen von jungen Juden und Deut‑ schen: »To write as a German about reconciliation between Jews and Germans after Auschwitz is asking for trouble« (ebd. 1995: 10). Auch er durchlebte in seinem Feld und darüber hinaus Unsicherheit, Schuldgefühle und (Selbst-)Zweifel: »Once I revealed my national identity, what turn would our conversation take? At first, it almost did not matter what Jews said to me: regardless of whether they were friendly, indifferent, or resentful, I always felt somewhat intimidated. Sometimes I was angry without knowing why; sometimes I felt doubly guilty because I was angry; sometimes I vented my anger at inappropriate moments or disguised my feelings of guilt behind intellectual talk and submissive gestures. It took many years to comprehend the numerous tricks my emotions played on me. It was not easy to become aware of the cultural premises on which my American Jewish peers and I had been raised and to distinguish between appropriate self-assertion and destructive feelings of guilt – in short, to be both true to myself and sensitive to Jewish perspectives.« (Krondorfer 1995: 5)
Mich sowohl im Feld als auch in der Verschriftlichung der Ergebnisse selbstbewusst behaupten zu können, war ein Balanceakt zwischen den hier beschriebenen Emotio‑ nen. Eine intensive Supervision und die Tatsache, dass sich die Menschen in meinem Feld gleichzeitig sehr um mich bemühten, halfen mir über viele schwierigen Situa‑ tionen hinweg. So auch Rabbiner Steiner, zu dem ich trotz der beschriebenen Mo‑ mente eine positive Beziehung hatte. Er kümmerte sich beispielsweise fürsorglich um mein leibliches Wohl, als er mir gleich bei unserer ersten Begegnung ein (koscheres) Mittagessen zubereitete, mich kurz darauf zu einem seiner Vorträge als Zeitzeuge in einer Schule mitnahm, mir Material für meine Arbeit zur Verfügung stellte, Blumen schenkte und sich schließlich im Sommer 2012 für ein abschließendes Interview mit 45 | Zum slowakischen und ungarischen Holocaust siehe Kapitel 4.1.2. Rabbiner Steiner meinte hier Dieter Wisliceny, einen Mitarbeiter Adolf Eichmanns, der Berater für Judenfragen in der Slowakei, in Ungarn und Griechenland war und den deutschen Botschafter Hans E. Ludin, der in Bratislava stationiert war und das Deportationsgesetz der slowakischen Juden mit der damaligen slowakischen Regierung verhandelte (vgl. Hoensch 2000: 227 f., 243, 273; Tönsmeyer 2003; Büchler/Fatranová 2009: 9; Kamenec 2002: 114 ff.). 46 | Für diesen Hinweis danke ich Moritz Ege.
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mir in Tel Aviv traf, wozu er einen längeren Weg auf sich nehmen musste. Dennoch kam ich nicht umhin, mich nach dem Hintergrund seiner Äußerungen und Zuschrei‑ bungen mir gegenüber zu fragen. Es bedurfte einiger Zeit und Distanz zu meinem Feld, bis ich begriff, dass ich in den oben beschriebenen Momenten möglicherweise als Prisma oder auch Kristallisationspunkt47 für die nicht-aufgearbeiteten Traumata und Emotionen der AkteurInnen in meinem Feld fungierte. Um diese Rollenkonflik‑ te und -übertragungen letztlich auch produktiv für meine Arbeit nutzen zu können, halfen mir die ethnopsychoanalytischen Ansätze aus den Studien von Florence Weiss, die in ihrem Feld die Übertragungsmechanismen und jeweiligen Beziehungskonstel‑ lationen analysiert hat: »Halten wir unsere eigenen Reaktionen und Empfindungen fest, geht es darum, Störungen in unseren Arbeitsbeziehungen besser zu verstehen und aktiv damit umgehen zu können« (ebd. 1994: 26). Laut der Ethnologin gibt die Art und Weise, wie sich ihre GesprächspartnerInnen ihr gegenüber verhalten haben, Einblicke in deren Kultur. Mit der Aufmerksamkeit für die Beziehung richtet sich die Aufmerksamkeit auch auf die beteiligte Person und auf sich selbst als Forschende. »Ich achte darauf, wie ich eine Person, eine Situation wahrnehme und wie ich auf Inhalte emotionell reagiere« (ebd.). Ute Bechdolf hielt dazu passend fest »Voraussetzung für ein solch komplexes Forschungsdesign, das sich auf verstehend-deutende Ansät‑ ze stützt, ist eine hohe Reflexionsleistung der Forschenden, die sich selbst zum Forschungsinstrument machen und somit Irritationen und Kränkungen im Forschungsprozess als erkenntnisfördernde Gefühle betrachten können.« (Ebd. 2007: 270)
Mit Hilfe dieser Überlegungen und im Zuge der induktiv-hermeneutischen Analyse meines Materials wurde mir unter anderem klar, dass diese Reaktionen des Rabbiners und anderer Personen auf mich und meine Herkunft nicht nur die individuelle Verar‑ beitung ihrer eigenen Erfahrungen, sondern auch eines der zentralen Probleme und Desiderate der Erinnerungspolitik in diesem slowakisch-ungarischen Grenzraum48 angedeutet haben. Grundsätzlich gilt daher auch immer zu beachten, dass »[…] Feldforschung tatsächlich ein Stück interaktiver und interkultureller Forschung [meint]; die prakti‑ sche Erfahrung nämlich, daß wir ein Bestandteil des Feldes sind und daß wir in diesem Feld etwas bewe‑ gen und verändern. Denn sobald wir ›da sind‹, ist nichts mehr ganz so, wie es vorher war – auch wenn wir es gern ›authentisch‹ sehen möchten. Dennoch können wir in dieser durch uns veränderten Situation – in‑ dem wir sie methodologisch mitbedenken – wichtige Erkenntnisse über die anderen und uns gewinnen.« (Kaschuba 2006: 200)
Asta Vonderau schlägt diesbezüglich vor, das Forschungsfeld als sozialen Raum zu begreifen, »dann macht die Reflexion über Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwi‑ schen dem eigenen sozialen Umfeld der Forscherin und den von ihr erforschten so‑ 47 | Für diesen Hinweis danke ich Irene Götz. 48 | Auf die Aufarbeitung des Holocaust gehe ich ab Kapitel 4.1.4 ein.
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zialen Räumen genau jene Erfahrungen des Fremd- und Eigenseins aus, die zu jeder ethnologischen Forschung gehören« (Vonderau 2010: 44). Sie möchte »[…] das Augenmerk auf die eigentliche Herausforderung richten, die darin besteht, die situativen und relativen Erfahrungen des Eigen- oder Fremdseins auf produktive und reflexive Weise zu verbinden. In einem Feld, das als Raum sozialer Beziehungen gefasst ist, treten diese Erfahrungen gleichzeitig auf, weil sie sich auf verschiedene Zugehörigkeiten der Forscherin (und der Erforschten) als Privatperson, Frau, Wissenschaftlerin und Expertin beziehen.« 49
Forschen über jüdische Gemeinden im postsozialistischen Ostmitteleuropa bringt also eine Fülle an methodologischen Herausforderungen mit sich – ebenso aber auch eine Fülle an Literatur. Schlagworte wie Erinnerungskultur, Holocaust, Sozialismus, Postsozialismus, Antisemitismus und Nationalismus, die bereits in der Einführung in mein Feld anklangen, verzeichnen – bezogen auf den europäischen Osten – insbeson‑ dere seit der Zäsur 1989 interdisziplinär eine besondere Popularität. Bevor ich auf die für diese Arbeit zentralen theoretischen Konzepte eingehe, wer‑ den nachfolgend aus der Fülle an wissenschaftlichem Material die wichtigsten Werke und Zugänge skizziert.
1.4 F orschungsstand: J üdische L ebenswelten in zwei slowakischen Städten zwischen P ostsozialismus ‑ und E rinnerungskulturforschung Die Schnittmenge der wissenschaftlichen Literatur, die mein Thema mehr oder min‑ der stark berührt, reicht weit über die historische und gegenwärtige Aufarbeitung jüdischen Lebens und kulturellen Erbes in der Slowakei beziehungsweise in Ungarn sowie der Erinnerungskultur- und Postsozialismusforschung hinaus. Um die komplexen Hintergründe der gegenwärtigen Situation der jüdischen Kommune in Lučenec und der jüdischen Gemeinde in Košice verstehen zu können, gilt es – neben theoretischen und methodischen Grundlagen (vgl. Kapitel 2 und 3) – zunächst, die Geschichte der Juden in den beiden Städten mit wechselnden nationa‑ len Zugehörigkeiten nachzuvollziehen. Umfangreiche, bis in die Gegenwart reichen‑ de Studien dazu gibt es jedoch kaum und die vorhandenen schließen nur zu einem kleinen Teil Lučenec ein. Košice und seine jüdische Gemeinde hingegen werden in besagter Literatur aufgrund ihrer Größe und unter anderem auch ihres politischen und ökonomischen Einflusses meist berücksichtigt. Im Jahre 1968 erschien angeregt von der »Society for the History of Czechoslovak Jews« in New York der erste von drei Bänden der Abhandlung »The Jews of Czechoslovakia«, deren Einzelbände neben 49 | Vonderau (2010: 47). Welche Strategien ich mir erarbeitet habe, um schwierige Felderfahrungen auch in meinen anderen »Rollen« positiv und produktiv für meine Arbeit nutzen zu können, beschreibe ich weiterhin in Kapitel 3.3.
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historischen Daten und Fakten auch ein Bild vom kulturellen und wirtschaftlichen Leben der tschechoslowakischen Juden vom 19. Jahrhundert bis kurz nach dem Ho‑ locaust vermitteln (vgl. u. a. Rothkirchen 1968a, 1968b). Von einem der Autoren, dem aus Košice stammenden Eugen Barkaný, wurde 1960 die erste, knappe Zusammen‑ schau der jüdischen Geschichte in der Slowakei verfasst, die aber erst 1991 posthum publiziert wurde (vgl. Bárkány/Dojč 1991). Dass vor 1989 kaum etwas oder gar nichts über das jüdische Leben veröffentlicht wurde, lässt bereits die Situation der jüdischen Gemeinden in der damaligen sozialis‑ tischen Tschechoslowakei erahnen. Der Großteil der Publikationen verrät, dass man sich mit der Geschichte der Juden in der Slowakei beziehungsweise dem ehemaligen Ungarn bislang nur von ihrer ersten Erwähnung in den Ländern bis hin zum Ho‑ locaust beschäftigt hat. So auch die jüngst erschienene mehrbändige Enzyklopädie der jüdischen Gemeinden in der Slowakei und die geografische Enzyklopädie über den Holocaust in Ungarn.50 Dies unterstreicht auch die Aussage »Perhaps no other event in world history has been as thoroughly documented as the Holocaust” (Bra‑ ham 2004: 1). Dass sie von einem in Rumänien geborenen, aber in den USA lebenden Historiker stammt, verweist auf die spezifische Genese vieler anderer entsprechender Arbeiten. »The Jews of Czechoslovakia« war also nur eine von vielen nachfolgenden Publikationen aus der US-amerikanischen Forschungslandschaft, die beispielsweise auch in Israel, England und später in Deutschland im Rahmen der »Holocaust Stu‑ dies« seit dem Zweiten Weltkrieg herausgegeben wurden. Nach 1989 öffneten sich schließlich auch die Grenzen für Oral-History-Projekte mit Holocaust-ZeitzeugIn‑ nen im östlichen Europa (vgl. beispielsweise die USC-Shoah Foundation). Auch in der Slowakei wurde ab 1993 das erste Oral-History-Projekt durchgeführt (vgl. Vrzgulová 2005: 7). Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus gab es zunehmend auch historische Forschungen über jüdisches Leben in der Slowakei, die aber meist mit dem Zweiten Weltkrieg endeten. Angesichts dessen ließe sich fragen, ob das jüdische Leben dort tatsächlich nach dem Holocaust ganz vorbei war? Die amerikanische Journalistin Ruth Ellen Gruber kann dies zum Teil mit ihrer Studie über das »virtuell Jüdische« und die »Neuerfindung des Jüdischen in Europa« seit den 1980er Jahren beantworten (vgl. ebd. 2002). Ein weiteres breit angelegtes Projekt ist von der aus Tschechien stam‑ menden kanadischen Soziologin Alena Heitlinger realisiert worden, die sich mit dem jüdischen Leben in Tschechien und der Slowakei nach 1945 und den Identitätskon‑ struktionen der Nachkriegsgeneration befasste. Ihre Hauptquelle sind neben fokus‑ sierten Gruppendiskussionen, Archivmaterial und Interviews mit AkteurInnen aus der Nachkriegsgeneration, über 195 halb-strukturierte autobiografisch beantwortete Fragebögen. Diese Studie gewährt einen sehr guten Überblick über die Situation des jüdischen Lebens während des Sozialismus bis in die 1990er Jahre und illustriert so‑ 50 | Vgl. SNM (2009, 2010); Braham (2013a, 2013b). Der Genauigkeit halber muss hier hinzugefügt wer‑ den, dass diese beiden umfassenden Werke die jüdische Geschichte bis in den Sozialismus hinein darstel‑ len, auf die Jahre nach 1945 wird jedoch nur in geringem Umfang eingegangen (vgl. ebd.).
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wohl die Generation der Holocaustüberlebenden als auch die deren Kinder und bietet damit gute Anknüpfungspunkte für mein Projekt (vgl. Heitlinger 2006). Auch inter‑ disziplinäre und internationale Kongresse beschäftigten sich nach 1989 zunehmend mit dem gegenwärtigen jüdischen Leben im postsozialistischen östlichen Europa. Die daraus entstandenen Tagungsbände versammeln beispielsweise Beiträge zu jüdischen Identitäten im neuen Europa (vgl. Gitelman et al. 2003; Webber 1994a-c) oder gehen dazu Fragen nach religiösen und ethnischen Aspekten nach (vgl. Gitelmann 2009a, 2009b). Ab den 1990er Jahren entstanden seitens der slowakischen Wissenschaftsland‑ schaft vermehrt auch kulturwissenschaftliche Arbeiten zum jüdischen Leben, ins‑ besondere von Peter Salner, der seine eigene Gemeinde in Bratislava beforscht (vgl. ebd. 1999, 2000, 2013). In seinen Sammelbänden sind kleinere Projekte von slowa‑ kischen EthnologInnen und HistorikerInnen versammelt, beispielsweise auch zu jü‑ dischen Identitäten in Košice (vgl. Singerová 2006a) und über jüdisches Leben in der Tschechoslowakei in der Nachkriegszeit und während des Sozialismus von Ivica Bu‑ mová (vgl. Bumová 2010, 2011). Auch vereinzelte studentische Abschlussarbeiten be‑ schäftigen sich mit jüdischen Identitäten, wie beispielsweise die soziologische Bache‑ lorarbeit von Tina Gyárfášová/Gažovičová 51. Sie untersucht – vornehmlich in ihrer Heimatgemeinde Bratislava – »die Faktoren der intergenerationalen Übertragung der jüdischen Identität in der Slowakei« (Gyárfášová 2008; Gažovičová 2011). Vom jüdi‑ schen Museum in Bratislava werden seit 1993 jährlich die »Acta Judaica Slovaca« he‑ rausgegeben, die unter anderem wissenschaftliche Konferenzbeiträge versammeln.52 Über das jüdische Leben in Košice ist im Gegensatz zu Lučenec bereits geforscht und zum großen Teil populärwissenschaftlich publiziert worden (vgl. Okroy 2005), doch fehlen auch hier umfassende kulturwissenschaftliche Analysen aus der Perspek‑ tive der Gegenwart. In den letzten Jahren ist allerdings ein Trend in der slowakischen Wissenschafts‑ landschaft zu verzeichnen, der auf eine vermehrte kulturwissenschaftliche Ausein‑ andersetzung nicht nur mit historischen, sondern auch mit gegenwärtigen jüdischen Lebenswelten verweist. Inwiefern das auch mit den Entwicklungen des jüdischen Le‑ bens in Zusammenhang steht, wird im Folgenden zu zeigen sein. Dem Literaturwissenschaftler Peter Zajac zufolge gibt es eine vereinzelte literari‑ sche, künstlerische und mittlerweile auch wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust in der Slowakei, doch fehle es an einer »gründlichen, nachhaltigen und kontinuierlichen Forschung« darüber. Dies sei der mangelnden und politisch manipulierten Auseinandersetzung mit dem Thema auch während des kommunisti‑ schen Regimes geschuldet, das ebenfalls einer Aufarbeitung bedürfe (vgl. Zajac 2010: 98 f., 104 ff.). Auch die Beschäftigung mit der Geschichte des Landes brachte in den letzten Jahren einige Publikationen slowakischer WissenschaftlerInnen hervor, so 51 | Nach ihrer Heirat publizierte Tina Gyárfášová unter ihrem neuen Familiennamen Gažovičová. 52 | Behandelt wird beispielsweise die Aufarbeitung des Holocaust und seine Thematisierung im slowaki‑ schen Schulunterricht (vgl. u. a. Mesťan: 2006, 2009).
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dass jüngst der Sammelband von Elena Mannová (vgl. ebd. 2000) beispielsweise von Mikuláš Teich (ebd. et al. 2011) sowie von Valerian Bystrický (ebd. et al. 2012) ergänzt wurden. Dazu gehört unter anderem auch die Auseinandersetzung mit identitären Transformationsprozessen der SlowakInnen und der in der Slowakei lebenden Min‑ derheiten (vgl. Kiliánová et al. 2009). Das Jahr 1989 brachte neben dem Fall des kommunistischen Regimes in den mit‑ tel- und osteuropäischen Ländern auch in den Wissenschaften neue Forschungsfelder mit sich: »Erinnerungskulturen spiegeln in spezifischer Weise verarbeitete Erfahrun‑ gen der Vergangenheit. Durch das Erinnern werden sie in die Gegenwart hineinge‑ holt. Erinnerungskulturen entfalten sich in der Spannung von Vergangenheit und Gegenwart.« So schreibt Bernd Faulenbach in der Einleitung des Konferenzbands, der sich mit »Transformationen« der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989 auseinandersetzt (ebd. 2006: 11). Hier wird beleuchtet, inwiefern die Umbrüche in den 1990er Jahren die Erinnerungskulturen und deren Rahmenbedingungen in ver‑ schiedenen ost- und mitteleuropäischen Ländern verändert haben. Fragen nach der Aufarbeitung des Holocaust, des Sozialismus und der Situation der inter-, trans- und nationalen Erinnerungskulturen sind in der vorliegenden Arbeit zentral, da sie auf unterschiedliche Weise in verschiedene Bereiche des jüdischen Lebens in Košice und Lučenec wirken. Der Titel des 2010 herausgegebenen Bandes von Micha Brumlik und Karol Sauerland weist auf das Spannungsfeld hin, in dem sich die späte Aufarbeitung des Holocaust im östlichen Europa bewegt: »Umdeuten, verschweigen, erinnern.« Die hier versammelten Beiträge beziehen sich größtenteils auf die Situation in Polen. Die Slowakei, Ungarn und Tschechien sind nicht vertreten, doch gibt es Ähnlichkeiten zu deren Erinnerungsdiskursen (vgl. Brumlik/Sauerland 2010). »Die zum Teil eruptive Wiederkehr der verdrängten bzw. zu Zeiten des Realsozialismus politisch instru‑ mentalisierten und tabuisierten Vergangenheit in öffentlichen Debatten wird aber nicht nur durch die demokratischen Transformationsprozesse katalysiert, sondern auch von den Erfordernissen einer sich seit den 1990er Jahren formierenden gesamteuropäischen Gedächtniskultur überlagert.« (Marszałek 2010: 10 f.; Abk. i. O.)
Diese Gedächtnisse und die sich transformierenden Alltagskulturen beleuchtet bei‑ spielsweise auch der Band von Heidemarie Uhl, Heinz Fassmann und Wolfgang Mül‑ ler-Funk über »Kulturen der Differenz – Transformationsprozesse in Zentraleuropa nach 1989« (vgl. hier u. a. Kovács 2009). Erwähnenswert erscheint mir hier auch der Band »Altering States. Ethnographies of Transition in Eastern Europe and the For‑ mer Soviet Union”, in dem sich ForscherInnen aus ethnografischer Perspektive unter anderem mit Themen wie Raum, Zeit, Symbolik, Sexualität, Umwelt und Religion in den osteuropäischen Transformationsstaaten und der ehemaligen Sowjetunion be‑ schäftigen (vgl. Berdahl 2000). Einer der Beiträge befasst sich mit der Restaurierung von Synagogen im östlichen Europa (vgl. Bohlmann 2000). Daniel Levy und Natan Sznaider wiederum beschäftigen sich mit der Erinnerung in Zeiten der Globalisierung und des Kosmopolitismus. Ihre Studie handelt unter an‑
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derem von den Spannungen zwischen nationalen Erinnerungen und der Entstehung kosmopolitischer Gedächtniskulturen. Sie fragen danach, wie sich die politischen und kulturellen Formen kollektiver Erinnerung im Zeitalter der Globalisierung ver‑ ändern und fokussieren dabei insbesondere die westliche Welt (vgl. Levy/ Sznaider 2007). Neben der in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmenden Erforschung von Erin‑ nerungskulturen im östlichen Europa, die sich insbesondere mit den Folgen der re‑ pressiven Regime des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt, wurden auch Erinnerungs‑ orte wie jüdische Friedhöfe und Synagogen Bestandteil großangelegter Studien. So beispielsweise in der Dissertation des Judaisten und Kunsthistorikers Maroš Borský über Synagogen-Architektur in der Slowakei. Mit seiner Studie verhilft er zu einem detaillierten Überblick über die noch existierenden Synagogen und Friedhöfe in der Slowakei sowie über deren Zustand, den er aufwendig fotografisch dokumentiert hat. In einer von drei Fallstudien beschäftigt er sich dezidiert mit dem materiellen Kultu‑ rerbe der jüdischen Gemeinde in Košice (vgl. Borský 2007). Zuvor gab es wenige ein‑ zelne Publikationen, die sich in geringem Umfang mit der Architektur slowakischer Synagogen befassten (vgl. Mešťan et al. 2002; Halásová/Schmiedlová 2002). Neben Ruth Ellen Gruber, die sich schon zu Beginn der 1990er Jahre auf ihren Reisen mit dem jüdischen kulturellen Erbe im östlichen Europa beschäftigte, hat es sich auch das Ehepaar Dorfman in seinem – ebenfalls populärwissenschaftlichen – Band zum Ziel gemacht, ausgewählte Synagogen in ganz Europa zu dokumentieren. Die Synagoge und die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Lučenec werden in beiden Bänden behandelt (vgl. Gruber 1994; Dorfman B./R. 2000). Neben der Erforschung jüdischen materiellen und immateriellen Kulturerbes und der (jüdischen) Erinnerungskulturen sind in meinem Feld weitere Bereiche der inter‑ disziplinär immer populärer werdenden Postsozialismus- und Transformations-For‑ schung wichtig. Nach dem politischen Umbruch 1989 veränderten sich nicht nur die Gedächtnislandschaften und Lebenswelten im östlichen Europa, sie taten es, während sich die politische Landschaft neu formierte. Insbesondere in den osteuropäischen Transformationsländern manifestierten sich populistische Strömungen, deren Aus‑ wirkungen vor allem die Minderheiten in den Ländern betreffen. In dem Band »Po‑ pulisten an der Macht. Populistische Regierungsparteien in West- und Osteuropa« von Susanne Frölich-Steffen und Lars Rensmann wird die politische Situation einiger Transformationsstaaten nach 1989 beleuchtet (vgl. daraus Kneuer 2005). Auch die Dissertation des Politologen Tom Thieme »Hammer, Sichel, Hakenkreuz. Parteipoli‑ tischer Extremismus in Osteuropa: Entstehungsbedingungen und Erscheinungsfor‑ men« setzt sich mit dem Phänomen der extremistischen Politik nach der Wende im östlichen Europa auseinander (vgl. ebd. 2007). Bereits 1972 prägte der ungarische Holocaustüberlebende Paul Lendvai den Be‑ griff »Antisemitismus ohne Juden«, ein Phänomen, das er zu dieser Zeit insbesondere im östlichen Europa beobachtete (vgl. Lendvai 1972). Auch die slowakische Wissenschaftslandschaft reagierte seit den 1990er Jahren zunehmend auf den politischen Rechtspopulismus, der sich in rassistischen und
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antisemitischen Ausschreitungen gegen die Minderheiten äußerte (vgl. hierzu Ka‑ pitel 4.1.4). Pavol Mešťan beispielsweise publizierte zum Thema Antisemitismus in einer eigens gegründeten Reihe (vgl. Mešťan 2004, 2007). Und auch die Situation eth‑ nischer Minderheiten wie der UngarInnen und Roma in der Slowakei wird zuneh‑ mend wissenschaftlich erarbeitet.53 So habe ich zwar Literatur über die Vergangenheit der Juden in der Slowakei und Ungarn – insbesondere bis zum Holocaust, vereinzelt auch Fallstudien zu Košice und Lučenec – gefunden, ebenso über die politischen, sozio- und erinnerungskulturellen Entwicklungen der Nachwendejahre in Ostmitteleuropa. Doch fehlen kulturwissen‑ schaftliche Mikrostudien zur aktuellen Situation jüdischen Lebens in der Slowakei, das es – wenn auch in geringem Maß – noch gibt. Umso wichtiger erscheint es mir daher, mit dieser Arbeit über gegenwärtiges jü‑ disches Leben in Košice und Lučenec etwas Farbe in noch weitgehend weiße Flecken der Forschungslandschaft zu bringen. Theoretisch orientiert sich die vorliegende Arbeit an Konzepten zu Gedächtnis, Erinnerung und Identität. Nachfolgend werden zentrale Begriffe zu diesen Bereichen skizziert.
53 | Auf der Website des Instituts für Ethnologie der slowakischen Akademie der Wissenschaften lassen sich dazu verschiedene aktuelle und abgeschlossene Projekte finden (vgl. Ústav Etnológie SAV).
2 Zentrale Begriffe und theoretische Zugänge 2.1 »E rinnerung « in der Theorie Der 1945 im Konzentrationslager Buchenwald ermordete Sozialpsychologe Maurice Halbwachs, der den Begriff des kollektiven Gedächtnisses geprägt hat (vgl. Assmann 2007: 34 f.; Kaschuba 2005: 183), sah Erinnerung immer in einen sozialen Kontext eingebettet und durch denselben bedingt: »Aber unsere Erinnerungen bleiben kollektiv und werden uns von anderen Menschen ins Gedächtnis zu‑ rückgerufen – selbst dann, wenn es sich um Ereignisse handelt, die allein wir durchlebt und um Gegen‑ stände, die allein wir gesehen haben. Das bedeutet, dass wir in Wirklichkeit niemals allein sind. Es ist nicht notwendig, dass andere Menschen anwesend sind, die sich materiell von uns unterscheiden: denn wir tragen stets eine Anzahl unverwechselbarer Personen mit uns und in uns.« (Halbwachs 1967: 2)
Der Ägyptologe Jan Assmann versteht die Gruppe oder das Kollektiv im Halb‑ wachs’schen Sinne als Rahmen. So kann die Theorie von Maurice Halbwachs auch als »Rahmenanalyse« des Erinnerns verstanden werden, die auch das Vergessen konzep‑ tuell einschließt. Denn wenn ein Individuum, dessen Gedächtnis von der Kommuni‑ kation mit und innerhalb von sozialen Gruppen lebt, diese Kommunikation abbricht, tritt das Vergessen in Kraft (vgl. Halbwachs 1985 zit. n. Assmann 2007: 36 f.). Zahlreiche ErinnerungsforscherInnen beziehen sich auf die von Maurice Halb‑ wachs entwickelten Theoreme, die von ihnen weiter ausdifferenziert wurden. Im Fol‑ genden stütze ich mich unter anderem auf die Konzepte der Kulturwissenschaftler Jan und Aleida Assmann sowie des Sozialpsychologen Harald Welzer.
2.1.1 Formen des Gedächtnisses »Erinnerung, so legen es der gängige Sprachgebrauch und die psychologischen Standarddefinitionen nahe, ist die absichtsvoll und zweckhaft wachgerufene Vergangenheit, ist die absichtsvoll produzierte Gedächtnisrekonstruktion. Erinnerung ist eine besondere Art psychischer Arbeit; sie macht historische Eindrücke bewusst, indem sie auf gespeichert vorhandene Zeichen vergangener Fakten zurückgreift – im Vergleich zum Gedächtnis, welches gemeinhin als Fähigkeit, sich zu erinnern, gilt.« (Korff 1991: 164)
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So beschreibt Gottfried Korff den Unterschied zwischen Gedächtnis und Erinnerung, indem er auf die Konstruiertheit letzterer verweist.1 Aleida Assmann differenziert weiterhin grundlegend zwischen drei Dimensionen des Gedächtnisses, der neuronalen, sozialen und kulturellen. Damit der Mensch oder das Individuum überhaupt ein Gedächtnis formen und sich erinnern kann, braucht er dazu die biologische Grundlage, die neuronale Basis. Um dieses Gedächtnis zu näh‑ ren, zu entwickeln und zu festigen, braucht es sowohl »[…] soziale Interaktion und Kommunikation« als auch »kulturelle Interaktion mithilfe von Zeichen und Medien« (ebd. 2006a: 32). Das »individuelle Gedächtnis«, wie es Aleida Assmann beschreibt, »ist das dyna‑ mische Medium subjektiver Erfahrungsverarbeitung« (ebd.: 25). Die Erinnerungsfä‑ higkeit ist es, »die Menschen erst zu Menschen macht« und unsere Identitätsbildung nachhaltig beeinflusst (ebd.: 24). Sie schreibt dem individuellen Gedächtnis vier Ei‑ genschaften zu: Es ist perspektivisch und daher nicht austauschbar. Durch die jeweils subjektive Perzeption sind die eigenen von den Erinnerungen Anderer zu differen‑ zieren, wobei sie immer auch mit diesen verbunden sind. Dies festigt, bestätigt und ergänzt sie wechselseitig in ihrer Struktur und Bedeutung. Nicht zuletzt wirken Er‑ innerungen dadurch stärkend auf die Gruppengemeinschaft. Sie sind zudem bruch‑ stückhaft, erst durch die Einbettung in eine Erzählung erhalten sie eine Rahmung, die sie erweitert und ihnen Stabilität verleiht (vgl. ebd.: 24 f.). »Die in Erzählungen gebun‑ denen und oft wiederholten Erinnerungen sind am besten konserviert«, enden jedoch mit dem Tod des Erinnernden. In Abhängigkeit der Bedeutungen, die Erinnernde ihnen je nach Veränderungen ihrer selbst und ihrer Lebensumstände zuschreiben, sind Erinnerungen auch »flüchtig und labil« (vgl. ebd.: 25). Aufgrund der Vagheit des Begriffs »kollektives Gedächtnis« schlägt Aleida Ass‑ mann vor, ihn je nach Kontext durch das soziale, politische und nationale Gedächt‑ nis auszutauschen (vgl. ebd.: 60). Der Übergang vom individuellen zum sozialen Ge‑ dächtnis zeichnet sich ihr zufolge durch einen »Zugewinn durch die Anreicherung der eigenen Erfahrungen über die Erfahrungen anderer sowie die Bestätigung der eigenen Erinnerungen und ihre Perspektivierung im Lichte der Erinnerungen ande‑ rer« aus (ebd.: 34). Sie erkennt wie Maurice Halbwachs im sozialen Gedächtnis eine Konstruktionsleistung durch die »Form der informellen wechselseitigen Kommuni‑ kation«, innerhalb derer Vergangenheit im Gespräch erinnert werde (vgl. ebd.: 28). Jan Assmann beschreibt das kommunikative Gedächtnis als eines, das Gruppen als »Generationen-Gedächtnis« historisch zuwächst (vgl. ebd. 2007: 50). Bei diesem Gedächtnis handelt es sich – so Aleida Assmann – meist um drei bis vier Generati‑ onen, die den spezifischen Zeithorizont persönlicher Erinnerungen markieren, die innerhalb einer Erzählgemeinschaft wie etwa der Familie ausgetauscht werden (vgl. 1 | Vgl. hierzu auch Ulrike Jureit: »Gedächtnis ist eine neurophysiologische Funktion, die – so könnte vereinfacht formuliert werden – unter Ausschaltung des Bewußtseins funktioniert, hingegen ist Erinne‑ rung eine kognitive Konstruktion, die zum Bewußtsein drängt. Erinnern ist damit nicht der unmittelbare Zugriff auf Gedächtnisinhalte, sondern ein konstruktiver Prozess« (ebd. 1999: 44).
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ebd. 2006a: 25 f.). Sobald die lebendige Kommunikation der Erinnerungsträger endet, schwindet auch die gemeinsame Erinnerung (vgl. ebd.: 28). Daher wird das kommu‑ nikative Gedächtnis auch das »Kurzzeitgedächtnis einer Gesellschaft« genannt, das somit im Unterschied zum kulturellen und kollektiven Gedächtnis zeitlich begrenzt ist (vgl. ebd.: 34). Aleida Assmann bindet dieses Kurzzeitgedächtnis in einen spezifi‑ schen gesellschaftlichen Rahmen ein, den für sie das soziale Gedächtnis darstellt. Das Gedächtnis einer Generation hängt ihr zufolge mit den geschichtlichen, soziokultu‑ rellen und politischen Prozessen in den Erfahrungswelten der AkteurInnen zusam‑ men und konstituiert so deren Erinnerungen. Die Horizonte und der Umgang mit der Erinnerung einer Gesellschaft – dies wird für meine empirische Analyse besonders bedeutsam sein – verschieben sich also auch mit jedem Generationswechsel. Die Kul‑ turwissenschaftlerin sieht diese Verschiebung in der Erinnerungsrezeption beispiels‑ weise im Umgang mit dem Holocaust. So wurde das Beschweigen der historischen Schuld in Westdeutschland erst von der jüngeren 1968er-Generation gebrochen, was sich unter anderem in der allmählichen Errichtung von Mahnmalen, Denkmälern und Museen geäußert hat (vgl. ebd.: 26 f.). Auch der Sozialpsychologe Harald Welzer betont den aktiven Konstruktionspro‑ zess des Gedächtnisses. Es »besteht […] immer in Formen der Verlebendigung von Vergangenem, das in diesem Prozeß nie bleibt, was es war« (ebd. 2008: 235). Dem sozi‑ alen Gedächtnis – dessen Textur durch einen flüchtigen und schwer erfassbaren Cha‑ rakter gekennzeichnet sei – schreibt er, Aleida Assmann ergänzend, zu, dass es alles beinhalte, »was absichtslos, nicht-intentional Vergangenheit und Vergangenheitsdeu‑ tungen transportiert und vermittelt«, wie etwa auch transgenerationale Tradierungen oder Geräusche und Gerüche (vgl. ebd. 2001a: 10 ff.; Assmann 2006a: 28 f.). Harald Welzer macht vier Medien des sozialen Gedächtnisses aus, »die im Unterschied zu ihrem Auftreten im kulturellen und kommunikativen Gedächtnis nicht zu Zwecken der Traditionsbildung verfertigt wurden, gleichwohl aber Geschichte transportieren und im sozialen Gebrauch Vergangenheit bilden« (ebd. 2001a: 16; Herv. i. O.). Interak‑ tionen, Aufzeichnungen wie etwa Romane und Briefe, Bilder und Architektur trans‑ portieren ebenfalls nebenbei Geschichte (vgl. ebd.: 16 f.) Daraus sei ersichtlich, dass »die Praktiken des kommunikativen Gedächtnisses nur einen, vielleicht sogar den geringeren Teil der Praktiken des sozialen Gedächtnisses« ausmachen (ebd.: 18). Al‑ lerdings sei auch die Trennung von sozialem und kommunikativem Gedächtnis eine analytische, da es in der Praxis des Erinnerns zu vielfältigen Überlagerungen beider Formen käme (vgl. ebd.). Das soziale und kollektive Gedächtnis unterscheiden sich darin voneinander, dass sich Ersteres aus der Lebendigkeit seiner Träger und deren Interaktion generiert, das kollektive und auch das kulturelle Gedächtnis hingegen beruhen »auf einem Fundus von Erfahrung und Wissen […], der von seinen lebendigen Trägern abgelöst und auf materielle Datenträger übergegangen ist« (Assmann 2006a: 34). Folglich hat »das, was als soziales Gedächtnis rekonstruiert wird, keine feste und stabile Form […], sondern [entfaltet] sich in der Zeit als ein dynamisches Aushandlungsgeschehen […]« (ebd.: 32). Das kollektive Gedächtnis ist weiterhin vom Familien- und Generationenge‑
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dächtnis durch seine auf die Zukunft angelegte Verfestigung der Erinnerungen durch symbolische Stützen zu differenzieren, da diese »spätere Generationen auf eine ge‑ meinsame Erinnerung verpflichten« (Assmann 2006a: 35). Auch beim kulturellen Gedächtnis »dehnen sich der Trägerkreis des Gedächtnis‑ ses sowie sein Zeitradius und seine Dauerhaftigkeit […] aus«, denn wie bereits ange‑ deutet, ruht es »auf transferierbaren und tradierbaren kulturellen Objektivationen wie Symbolen, Artefakten, Medien und Praktiken sowie deren Institutionen […]« (ebd.: 33 f.). Harald Welzer bezeichnet das kulturelle Gedächtnis daher als alltagsfern und schreibt hingegen dem kommunikativen Gedächtnis Alltagsnähe zu (vgl. Ass‑ mann 1988: 12 zit. n. Welzer 2008: 14). Beide Gedächtnisformen seien ihm zufolge nur analytisch zu trennen, denn »in der Erinnerungspraxis der Individuen und sozialen Gruppen hängen ihre Formen und Praktiken mit‑ einander zusammen, weshalb sich die Gestalt des ›kulturellen Gedächtnisses‹ auch – zumindest über längere Zeitabschnitte hinweg – wandelt, indem bestimmte Aspekte ab- und andere aufgewertet und wieder andere neu hinzugefügt werden.« (Welzer 2008: 15)
2.1.2 Vergessen »Eines müssen wir uns zuerst einmal klar machen: Nicht das Erinnern, sondern das Vergessen ist der Nor‑ malfall in Kultur und Gesellschaft. Erinnern ist die Negation des Vergessens und bedeutet in aller Regel eine Anstrengung, eine Auflehnung, ein Veto gegen die Zeit und den Lauf der Dinge.« (Assmann 2012b: 23)
Zum Erinnern gehört, wie bereits einleitend mit Maurice Halbwachs erwähnt, auch das Vergessen. Harald Welzer erklärt: »Zunächst einmal ist ganz generell davon auszugehen, daß Erinnerungen mit der Zeit verblassen oder ganz verschwinden, insbesondere dann, wenn sie selten oder nie abgerufen werden, weil die neuronalen Verbindungen, die die Erinnerungen im Gehirn repräsentieren, im Fall ihrer Nichtinanspruchnahme offen‑ bar schwächer werden und sich schließlich auflösen. Dies ist übrigens nicht zuletzt ein Grund dafür, daß sich Erinnern nicht getrennt von Vergessen diskutieren läßt.« (ebd. 2008: 21)
Aleida Assmann sieht Vergessen nicht nur als eine normale Begleiterscheinung des Lebens an, sondern auch als »gezielte kulturelle Strategie«, denn »[w]ie im Kopf des Einzelnen muss auch in der Gesellschaft ständig vergessen werden, um sich von schmerzhaften Erfahrungen zu lösen, um Konflikte zu überwinden, um Neuem Platz zu machen und sich den Aufgaben der Gegenwart stellen zu können« (ebd. 2006a: 51 f.). Die Dynamik von »Erinnern und Vergessen« ist dem kulturellen Gedächtnis in‑ härent. Indem wir einen kulturellen Bestand durch Überlieferung oder als kulturelles Erbe sichern, schließen wir gleichzeitig auch immer etwas davon aus, das wir verges‑ sen (vgl. ebd.: 52 f.). Aleida Assmann macht im kulturellen Gedächtnis einer Gesell‑ schaft somit die Dynamiken des Speicher- und Funktionsgedächtnisses aus. »Diese Unterscheidung bildet die komplementäre Struktur von Gedächtnis ab, in dem Erin‑
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nern und Vergessen nahe beieinander liegen und ineinander greifen« (ebd.: 55). Wenn man etwas vergessen hat, so ist es nicht zwingend aus dem Gedächtnis verschwun‑ den, sondern nur in den Hintergrund gerückt und kann – meist unerwartet – aus der Latenz wieder hervorgeholt werden (vgl. ebd.). So ist »[d]as Speichergedächtnis einer Gesellschaft als ihr kulturelles Archiv zu betrachten, in dem ein gewisser An‑ teil der materiellen Überreste vergangener Epochen aufbewahrt wird, nachdem diese ihre lebendigen Bezüge und Kontexte verloren haben« (ebd.: 57). Diese können zu einem späteren Zeitpunkt wieder hervorgeholt und neu gedeutet werden. Das Funk‑ tionsgedächtnis umfasst im Gegensatz dazu einen viel engeren Rahmen, der aber be‑ ständiger ist. Hier werden ausgewählte Artefakte besonders gegen den Prozess des Vergessens und Fremdwerdens geschützt, wie beispielsweise die Werke im Kanon der Weltliteratur (vgl. ebd.: 56 ff.). Im Prozess des Vergessens spielen zwei Komponenten zusammen: »die materielle Entsorgung biographischer Rückstände, Möbel und Haushaltsgeräte und das soziale Vergessen im Biorhythmus der Generationen, in dem die Erfahrungen der älteren Generation regelmäßig entwertet und durch neue ersetzt werden. Jede Generation ist bestrebt, sich mit ihren eigenen Erinnerun‑ gen, ihrer Agenda, ihren Projekten von der vorangehenden Generation ab- und gegen sie durchzusetzen.« (Assmann 2012b: 25; Herv. i. O.)
Somit kann sich das Gedächtnis als »dynamisches Organ der Anpassung an eine sich wandelnde Gegenwart […] immer auf Neues einstellen« (ebd. 2006a: 104). Auch Astrid Erll versteht soziales Vergessen als Voraussetzung für kulturelle Erinnerung. »Denn […] die lückenlose Erinnerung an jedes einzelne Ereignis der Vergangenheit, käme für das Individuum ebenso wie für die Gruppe oder die Ge‑ sellschaft dem totalen Vergessen gleich« (Erll 2005: 7). Sie beschreibt Erinnerungen metaphorisch als »kleine Inseln in einem Meer von Vergessenem«. Denn »[b]ei der Verarbeitung von Wirklichkeitserfahrung ist Vergessen die Regel, Erinnern die Aus‑ nahme« (ebd.: 8).
2.1.3 Verdrängen und/oder Erinnerung und Trauma »Wo das Gedächtnis ein Trauma bewahrt, kann dieses zwar zuweilen verdeckt oder versiegelt werden, es bleibt aber – wann immer es erinnert wird – so konkret und einzigartig und bedeutungsvoll, wie es wahrgenommen wurde.« (Niethammer 1995: 43)
Dieses von Lutz Niethammer angesprochene »Verdeckte und Versiegelte« kann mit dem Ethnologen und Psychoanalytiker Mario Erdheim auch als »Verdrängtes« be‑ schrieben werden: »Von ›verdrängen‹ kann man dann sprechen, wenn es um Erfah‑ rungsinhalte eines Individuums geht, die zwar wesentlich für sein Selbstverhältnis wären, aber seinem Bewusstsein nicht mehr zugänglich sind« (ebd. 2004: 103). Der Großteil unserer Erinnerungen wird laut Aleida Assmann bei bestimmten Gelegenheiten aktiviert und hervorgeholt, ansonsten bleibt er im »Vorbewussten«
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verborgen. Die »unbewussten« Erinnerungen sind meist die, die stark negativ behaf‑ tet sind, verdrängt werden und Traumata beherbergen. »Diese Erinnerungen sind oft zu schmerzhaft oder zu beschämend, um ohne äußere Hilfe – durch Therapie oder Druck – an die Oberfläche des Bewusstseins zurückgeholt zu werden« (Assmann 2006a: 24). Erinnern vollzieht sich also nicht immer freiwillig, es gibt Gedanken, die verdrängt und gar nicht erst ins Bewusstsein zurückgelassen werden. Häufig gehen diese Gedanken aus einem Trauma 2 hervor. In der medizinischen Fachterminologie wird das griechische Wort »Trauma« als Verletzung oder Wunde übersetzt. Unter‑ schieden wird dabei das körperliche von einem psychischen Trauma, das »bei erheb‑ licher seelischer Belastung u./od. unzureichender Bewältigungsmöglichkeit« auftritt.3 Aleida Assmann spricht hier von »Erfahrungen von extremer Gewalt […]«, die die Seele so tief verwunden, dass sie »aufgrund ihrer fremdartigen und identitätsbedro‑ henden Qualität psychisch nicht verarbeitet werden können« (ebd. 2006a: 93). Diese würden dann vom Bewusstsein abgespalten und in einen Zustand der Latenz ver‑ setzt, bis sie durch bestimmte Symptomatiken wieder hervortreten.4 Es ist jedoch auch zu bedenken, dass jeder Mensch individuell auf traumatische Ereignisse reagiert und auch ein potenzieller Verarbeitungsprozess sowie pathologische Symptomati‑ ken sehr heterogen verlaufen und auftreten. Mario Erdheim schreibt beispielsweise über die Schwierigkeiten von traumatisierten Holocaustüberlebenden, »die eigene Geschichte zurückzugewinnen«. »Opfer müssen immer wieder die traumatische Si‑ tuation reproduzieren und das Denken quälend um ihre Niederlage kreisen lassen«, so Erdheim (vgl. ebd. 2004: 101). Das häufig mit einer Form der »tiefen Überlebens‑ schuld« (Niederland 1980: 32 zit. n. Erdheim 2004: 101) einhergehende Leiden wür‑ de zudem von der Tatsache verstärkt, »dass traumatische Erinnerungen in der Regel nicht vergesellschaftet werden können« (Erdheim 2004: 101). So verhindern »Gefühle 2 | Der Begriff ist erst seit 1980 eine offizielle medizinische Diagnose, wurde aber seit Ende des 19. Jahr‑ hunderts auch in psychiatrischen Kreisen genutzt (vgl. Leys 2000 zit. n. Assmann 2006a: 94). 3 | Vgl. Pschyrembel et al. (2004: 1839, Abk. i. O.). Trauma ist – so die klinische Psychologie und Psych‑ iatrie – die umgangssprachliche Bezeichnung für eine »[…] seelische Erschütterung […]« und »für ein äußerst belastendes Ereignis, das durch Konfrontation mit drohendem od. tatsächlichem Tod, ernsthafter Verletzung od. Gefährdung der körperl. Unversehrtheit der eigenen Person od. anderer Personen und i. d. R. intensive Furcht (s. Angst), Hilflosigkeit od. Entsetzen gekennzeichnet ist.« Die Einteilung von Trau‑ mata erfolgt in Typ I und II, entsprechend der Ursache und der Dauer der Traumatisierung (vgl. Margraf/ Müller-Spahn 2009: 845 f., Abk. i. O.). 4 | Vgl. Assmann (2006a: 93 f.). Hier spricht man in der Fachterminologie auch von »Dissoziationen«: »Ins‑ besondere bei traumatischen Erlebnissen kann es zum Phänomen der Ab- oder Aufspaltung kommen. Psychoanalytisch gesehen bedeutet dies, Ereignisse mit traumatischen Inhalten werden abgespalten, um eine Kontinuität und Integrität des Selbst erhalten zu können. Dieser Vorgang bewirkt zwar in der Regel keine bewußte Erinnerung an das Geschehen, bedeutet aber keineswegs ein vollständiges Vergessen des Inhalts, vielmehr wirkt die Erinnerung unbewußt weiter und kann verhaltensbestimmend bleiben, bei‑ spielsweise als Zwangshandlung, als Phobie oder in anderen Symptomen« (Granzow 1994: 128–155 zit. n. Jureit 1999: 48).
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der Scham […], dass ein traumatisches Erlebnis anderen mitgeteilt werden kann und somit Eingang ins ›kommunikative Gedächtnis‹ findet […]« (Assmann 2000: 13 zit. n. ebd.). Dies sei tatsächlich meist der Fall, so Erdheim, »[d]enn die Traumatisierten können das Erlittene, das ihre psychische Kapazität massiv überforderte, oft nicht einmal in ihre persönlichen Erinnerungen integrieren« (Erdheim 2004: 101). Die Erfahrungen meiner InterviewpartnerInnen mit dem Holocaust spielen eine wichtige Rolle für deren identitäre Aushandlungsprozesse, unabhängig davon, ob sie direkt oder indirekt, in Form der transgenerationalen Tradierung, erlebt wur‑ den. Mario Erdheim stellt weiterhin fest, dass die mit dem Schweigen über die Ho‑ locaust-Erfahrungen verbundene »Störung des kommunikativen Gedächtnisses in‑ nerhalb der Familie« auch die ethnische Identität 5 kontaminiere. So würde, »indem ein entscheidendes Kapitel gar nicht zur Sprache kommen kann, […] die Plausibilität der Wertestruktur der Gemeinschaft ausgehölt« (ebd.: 104). Von vielen der Befragten, insbesondere der Generationen, die nach dem Krieg geboren wurden, hörte ich zu Beginn der Interviews: »Ich weiß nichts über den Ho‑ locaust, bei uns wurde nicht darüber gesprochen.« Doch gab es im Verlauf unserer Gespräche Anzeichen dafür, dass auch in ihrem Gedächtnis etwas von der trauma‑ tischen Last ihrer Eltern und Großeltern, die den Zweiten Weltkrieg überlebt haben, verhaftet ist. Manchmal wurde dies im Interview direkt angesprochen, manchmal aber gab es nur stille Gesten. Gerade das latent und nonverbal Kommunizierte ist, wenn es um Tabu-Themen und Traumata geht, für mein Verständnis des Materials wichtig. Deshalb sind auch in meinem Feld psychoanalytische Ansätze wesentlich, zumal sie helfen, die auf Traumata zurückzuführenden Äußerungen oder auch das Schweigen verstehbar zu machen (vgl. hierzu auch Jureit 1999: 58). 1967 widmeten sich PsychoanalytikerInnen erstmals in einem internationalen Rahmen den psychischen Folgen des Holocaust bei Überlebenden und deren Fami‑ lien.6 In breit angelegten Studien wurden seitdem sowohl die Überlebenden als auch deren Kinder und Enkelkinder therapiebegleitend beobachtet. Martin Bergmann und Milton Jucovy haben Kinder von Opfern und Tätern komparativ untersucht und stel‑ len in ihrem gleichnamigen Band einleitend fest, dass »weder das Schweigen über den Holocaust noch seine vorbehaltlose Schilderung uneingeschränkt zu befürworten ist« (ebd. 1995: 44). Auch die Soziologin Gabriele Rosenthal hat in einer vergleichenden Studie Fa‑ miliendynamiken innerhalb von drei Generationen in Familien untersucht, deren Angehörige Täter oder Opfer während des Holocaust waren: »In Familien von Ho‑ locaust-Überlebenden, in denen wesentliche Informationen und Erfahrungen nicht 5 | Von dem Begriff »ethnische Identität« möchte ich mich im Hinblick auf seine Eindimensionalität, die meinem Feld nicht gerecht wird, sowie aufgrund der Homogenisierungsgefahr distanzieren. 6 | Gemeint ist der Internationale Psychoanalytische Kongress in Kopenhagen 1967 (vgl. Bergmann/Ju‑ covy 1995: 30 f.). Zum früheren Umgang mit dem Holocaust in der Psychiatrie (1945–1950) siehe bei‑ spielsweise Shephard (2011). Zum Überlebenden-Syndrom beziehungsweise Concentration Camp Survivor Syndrome/CCSS siehe auch Zajde (2011).
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weitervermittelt wurden, herrscht in der Regel eine Aura von Geheimnissen und Scham« (Rosenthal 1997a: 23). Offene, unausgesprochene und vor allem unbeantwor‑ tete Fragen würden von Kindern und Enkeln mit ihren eigenen Phantasien ausgefüllt (vgl. Davidson 1980: 19, zit. n. Rosenthal 1997a: 23). Dagegen gibt es aber auch das Muster des Ausweichens vor der »geahnten Vergangenheit«: »Die Nachgeborenen füllen entweder die nicht-erzählten Geschichten mit Phantasien, oder sie versuchen mit viel Energie, der geahnten Vergangenheit auszuweichen. Ebenso wie die nicht-erzählten Bestandteile der Familiengeschichte wirken sich die abgewehrten Anteile auf die eigene Lebensgeschichte aus, ohne von den Biographen als solche erkannt zu werden.« (Rosenthal 1997b: 49)
Sowohl das den Kindern und Kindeskindern der Holocaust-Opfer bewusste Leid ih‑ rer Eltern als auch dessen Negierung kann bei denselben Spuren hinterlassen. Laut Mario Erdheim ist »[d]as Eigentümliche und Schwierige am Trauma […], dass es die Grenzen zwischen Phantasie und Rea‑ lität sowie zwischen Vergangenheit und Gegenwart durchlöchert und zuweilen auch aufhebt. Die Erinne‑ rung, in der sich Phantasie und Realität durchmischen, wird immer wieder zum Ereignis, die Vergangen‑ heit Gegenwart. Dabei verliert auch die Dimension der Zukunft ihre Bedeutung. Ohne Erinnerung auch keine Zukunft. Der Denkprozess, durch den die Ereignisse in Erinnerungen verwandelt werden, ist am sozialen Ort der Beherrschten, Verfolgten und von Vernichtung Bedrohten ein beängstigender Prozess.« (ebd. 2004: 103)
Es ist nicht bestätigt, dass bei jedem, dessen Eltern oder Großeltern den Holocaust überlebt haben, psychische Probleme auftreten.7 Judith Kestenberg forderte ihre Kol‑ legInnen unter anderem daher auf, in ihrer »[…] klinischen Arbeit mit PatientIn nen, deren Familien Opfer des Holocaust wurden, nicht nur die Schwächen und Verwundbarkeiten wahrzunehmen, sondern auch ihre starken Seiten anzuerkennen« (Bergmann/Jucovy 1995: 45; vgl. Kestenberg 1995: 103). Die interdisziplinäre Trau‑ maforschung hat sich, so der ungarische Psychologe Ferenc Erős, in ihren theoreti‑ schen und therapeutischen Ansätzen hinsichtlich der »allmächtigen Metapher« des Holocaust-Traumas gewandelt, so dass der Blick auf die psychischen Langzeitfolgen mittlerweile differenzierter ist und auch die krankheitsauslösenden Funktionen in Frage gestellt werden (vgl. Erős 2005: 129). Im Falle meiner InterviewpartnerInnen möchte ich davon Abstand nehmen, Diagnosen zu stellen, denn das könnte ohnehin nur ein Psychologe oder Psychiater leisten, auch ist dies nicht Thema der Arbeit. Mit Hilfe der vorliegenden psychoanaly‑ tischen Studien können allerdings gewisse, für die Identitätskonstruktionen relevante Zusammenhänge zwischen Erinnern, Vergessen und Verdrängen sowie eventuell zu‑ grunde liegenden Traumata besser gedeutet werden.
7 | Siehe zur Konzeptualisierung der Trauma-Transmission auch Kellermann (2011).
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2.1.4 Erinnerungskultur(en) und kulturelles Erbe »Kulturerbe ist nicht, es wird.« (Bendix 2007: 340)
In meinem Feld gab und gibt es, bedingt durch politische und soziokulturelle Fakto‑ ren, vielfache Brüche im Verständnis dessen, was kulturelles Erbe war, ist und werden kann: »In (Ost-)Mitteleuropa, wo nationale Antagonismen im 20. Jahrhundert zu her‑ ben Verlusten der historischen Bausubstanz geführt haben, hat die politische Wende von 1989 ein neues Denken und Handeln möglich gemacht« (Störtkuhl 2006: 45 ff.). Im Jahre 2001 wurde die Dokumentation des jüdischen materiellen Kulturerbes in der Slowakei unter der Schirmherrschaft des Projekts »Synagoga Slovaca« von Maroš Borský ins Leben gerufen. Als Ergebnis des Projekts wurden einige der Objekte auf der Liste der Route des jüdischen Kulturerbes in der Slowakei [Slovac Jewish Heritage Route] und mittlerweile sechs davon auf der Liste des jüdischen Kulturerbes in Eu‑ ropa [The European Jewish Heritage Routes] aufgenommen (vgl. Synagoga Slovaca und AEPJ). Doch die für die jeweiligen Erinnerungskulturen relevanten sozialen, nationalen und kulturellen Gedächtnisse, die Wissen um Werte vermitteln und eine zentrale Bedingung kulturellen Erbes sind, sind nach wie vor fragmentarisch und bedürfen in vielerlei Hinsicht, wie nachfolgend aufgezeigt wird, erst der Aufarbeitung der Ver‑ gangenheit. Denn »Kulturerbe ist nicht – es wird gemacht«. Dies stellen die HerausgeberIn‑ nen des Bandes »Prädikat ›HERITAGE‹» mit Blick auf die »Praktiken des kulturellen Erbes sowie seiner Prädikatisierung« (vgl. Bendix et al. 2007: 8 f.) fest. Regina Bendix erläutert weiterhin: »Aus den habituellen Praxen alltagskulturellen Handelns und Erfahrens und den daraus erwachsenden wandelbaren, sinnstiftenden Aktions- und Bedeutungsgeweben, die im kulturanthropologischen Sinn als Kultur bezeichnet werden, lösen Akteure unterschiedlichster Motivation ›priviligierte Ausschnitte‹ heraus und versehen sie mit Status und Wert.« (Ebd. 2007: 340)
Kulturelles Erbe – insbesondere immaterielles – ist an die Leistungen des individu‑ ellen und sozialen Gedächtnisses geknüpft und nicht zuletzt durch das Erinnern an kulturelle Praktiken und Traditionen bedingt. Im Falle meiner Forschung sind die Emotionen zentral, mit denen sich Erinnerungsorte und kulturelle Praktiken verbin‑ den, denn »[n]eben symbolischer und ökonomischer Dimension zeigt sich kulturel‑ les Erbe als Begriff und kulturelle Praxis vor allem als Erfahrung, die sinnlich und emotional von Akteuren erfasst und rezipiert wird« (Bendix et al. 2007: 10). Aleida Assmann erklärt: »In mündlich verfassten wie in schriftverwendenden Kulturen sind symbolische Medien der Speicherung und Tradierung für jenes Wissen erfunden worden, das die jeweiligen Gesellschaften für die Ausprägung und den Fortbestand ihrer kulturellen Identität für unersetzlich hielten. Begriffe wie ›Tradition‹, ›Überlie‑
50 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 ferung‹ oder ›kulturelles Erbe‹ […] betonen diesen Willen zur ›Verewigung‹ und Tradierung als zentrales kulturelles Projekt.« (Ebd. 2006a: 52)
Im Zusammentreffen von individuellen und kollektiven Erfahrungen einzelner Ak‑ teurInnen und Gruppen wie der jüdischen Gemeinde in Košice, der Kommune in Lučenec, Institutionen wie der Stadtverwaltung und dem Amt für Denkmalschutz, werden ökonomische, habituelle, emotionale und – im Hinblick auf Ereignisse wie die Ernennung Košices zur Kulturhauptstadt 2013 – auch vielschichtige erinnerungs‑ politische Diskurse ausgehandelt, wenn es um das kulturelle Erbe in Form einer zu restituierenden Synagoge oder um Gelder für ihren Erhalt geht. Dies ist auch auf der Ebene der religiösen rituellen Praktiken als Bestandteile des immateriellen Kultu‑ rerbes, die individuell oder gemeinsam von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde vollzogen werden, beobachtbar. Diese Aushandlungsprozesse beziehen sich oftmals auch darauf, welcher Bestand des kulturellen Gedächtnisses aus dem Speicher- in das Funktionsgedächtnis geholt und so vergegenwärtigt werden kann. Denn »[d]ie Struktur des kulturellen Gedächtnisses besteht in diesem Spannungsverhältnis von Funktions- und Speichergedächtnis, von Erinnertem und Vergessenem, Manifestem und Latentem«, so Assmann (2006a: 57). Dabei entscheidend ist, dass »[d]er Überlieferungsbestand des kulturellen Gedächtnisses, der neben Bibliotheken und Sammlungen, Skulpturen und Architektur auch zeitliche Ordnungen wie Feste, Brauchtum und Rituale umfasst, […] im historischen Wandel einer beständigen Deutung, Diskussion und Erneuerung [bedarf], da er von den nachwachsenden Generationen angeeignet und dabei immer wieder neu mit den aktuellen Bedürfnissen und Ansprüchen der jeweiligen Gegenwart vermittelt werden muss.« (Ebd.)
Laut Bernhard Tschofen soll Kulturerbe als Beziehung begriffen werden und der Auf‑ trag der Kulturwissenschaften sei, sich »verstärkt um Zugänge und Instrumente zu bemühen, mit denen sich Kulturerbe als ein System von Interaktionen beschreiben und analysieren lässt« (ebd. 2007: 25 f.). Ihm und dem Gedanken der sozialen Kon‑ struiertheit kulturellen Erbes (vgl. auch Bodner/Sohm 2005: 10) folgend werde ich mich insbesondere in Kapitel 4.2 und 5 mit dem jüdischen Kulturerbe in Košice und Lučenec auseinandersetzen. Da materielles kulturelles Erbe und Erinnerungen auch an Räume beziehungswei‑ se Orte gebunden sind, widmet sich das nächste Kapitel diesen im urbanen Umfeld.
2.1.5 (Urbane) Erinnerungsräume – verräumlichte Erinnerungen »Orte erzählen eine Geschichte. Manchmal erzählen sie ihre Geschichte nur wenigen Menschen, manch‑ mal einer ganzen Stadt und in seltenen Fällen einer ganzen Nation, ja der Welt. Orte sind immer selbst identifizierbar und ziehen das Bedürfnis der Menschen nach Identität auf sich. Vor berühmten Orten lässt man sich fotografieren, um ein Stück der Bedeutung des Ortes auf sich selbst zu übertragen. Andere Orte wiederum sind eng mit dem Alltag verbunden, hier spielt man oder verträumt den Tag oder man verweilt
Zentrale Begriffe und theoretische Zugänge | 51 nur für einen Augenblick, um sich auszuruhen. Oder man meidet bestimmte Orte. Manche Orte machen Angst und alles Fremde scheint sich mit ihnen zu verbinden.« (Ipsen 2002: 234 f.)
All diese von Detlef Ipsen beschriebenen Orte lassen sich auch in Košice und Lučenec finden. Wie Dieteke van der Ree feststellt, wird »[n]eben einer Haut, einem Herzen, Venen und Arterien, Lungen und Gedärmen, […] der Stadt heute auch ein Gedächtnis zugeschrieben«.8 Da in meinem Feld auch Erinnerungsorte beziehungsweise -räume in verschiedenen Formen und urbanen Verflechtungen eine wichtige Rolle für das jüdische Leben spielen, werden hierzu einige grundlegende Gedanken zusammen‑ gefasst. Zunächst verstehe ich die Stadt nach Rolf Lindner als einen »[…] von Geschichte durchtränkte[n], kulturell kodierte[n] Raum, der bereits mit Bedeutungen angefüllt ist« (ebd. 2008a: 140, 2008b: 86). Somit sind die von mir beforschten »Städte […] kei‑ ne unbeschriebenen Blätter, sondern ›narrative Räume‹ […], in die bestimmte Ge‑ schichten […], Mythen […] und Parabeln […] eingeschrieben sind« (ebd. 2008a: 145; 2008b: 86). Beate Binder beschreibt den städtischen Raum als einen sozial konstruierten, in dem die Menschen und Gebäude reziprok aufeinander einwirken: »Zwischen Raum und sozialem Leben besteht eine Wechselwirkung. In der Stadtlandschaft bringen sich Strukturen und Vorstellungen zum Ausdruck, zugleich strukturiert die Materia‑ lität des gebauten Raums soziales Handeln« (ebd. 2009: 15). So entscheiden Menschen auch, wo im Stadtraum an bestimmte Begebenheiten erinnert wird, welche Objekte und Räume Erinnerungsträger sind und so Bestand‑ teil des kulturellen Gedächtnisses innerhalb der (städtischen) Gedächtnislandschaft werden.9 »Doch Vergangenes ist nicht nur in materiellen Relikten präsent, Ereignisse werden im Stadtraum auch bewusst und gewollt markiert, um sie für die Gegenwart präsent zu halten« (Binder 2009: 15). Gedächtnis- oder Erinnerungsorte holen eine bestimmte Vergangenheit in die Gegenwart hinein und bilden Schnittstellen von kollektivem und individuellem Ge‑ dächtnis (vgl. Assmann 2006a: 217). Zugleich können sie – beispielsweise als Gedenk‑ stätten – auch Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses sein, das, wenn es in Orten ruht, nicht mobil ist. Aleida Assmann spricht hier von einer »Kontaktzone der Ver‑ gangenheit mit der Gegenwart« (vgl. ebd.: 217 f.). Dabei unterscheidet sie einen Raum von einem Ort als »[…] disponibel; aus ihm gilt es etwas zu machen, er wird gestaltet und umgestaltet«. Konkrete Orte hingegen, »an denen bereits gehandelt wurde und die durch Namen und Geschichten individualisiert sind«, bilden dazu den Gegensatz. »Der Begriff des Raumes enthält ein Planungspotenzial, das in die Zukunft weist; der 8 | Ebd. (2000: 167). »Zum einen ist die Gedächtnismetapher eine Fortsetzung der ihr vorangegangenen organischen Metaphern. Andererseits unterscheiden sich beide grundsätzlich: In der Gedächtnismeta‑ pher wird nicht nur das städtische Leben der Stadt an sich, sondern auch das der Städter beschrieben« (ebd.: 168). 9 | Siehe auch Kapitel 2.1.4 und vgl. Assmann (2006a: 52 f.).
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Begriff des Ortes dagegen hält ein Wissen fest, das auf die Vergangenheit bezogen ist« (Assmann 2006a: 218). Dabei erfolgt auch eine Distinktion zwischen traumatischen Gedenkorten und auf neutralem Boden errichteten Denkmälern. Traumatischen Or‑ ten wie beispielsweise Konzentrationslagern, die unter dem Signum der Erinnerung an den Holocaust zu Gedenkstätten umfunktioniert wurden, haften Vielschichtig‑ keit, Uneindeutigkeit sowie vielfältige Erinnerungen und ebenso viele Deutungen an (vgl. ebd.: 221). Der Kulturwissenschaftler Jörg Skriebeleit erklärt, dass es ein »Gedächtnis der Orte« als immanenten materiellen Speicher, der in den Objekten verhaftet ist, nicht gebe. »Das ›Gedächtnis der Orte‹ ist eher ein Gedächtnis an Ereignisse, die sich mit gewissen Orten verbinden« (ebd. 2005: 219). Und es sei in starkem Maße abhängig von denen, die sie erinnern. Somit sind es die »Vergangenheitstouristen«, wie sie Al‑ eida Assmann nennt, für die an bestimmten Orten »die Qualität des Gedächtnisses« erfahrbar wird (vgl. ebd. 2006a: 217). Konrad Köstlin erkennt Erinnerungs- und Gedenkorte als Zeichen, die wiederum selbst Zeichen als Bedeutungsträger in sich beherbergen.10 »Das kulturelle Gedächtnis, das sich in und an Zeichen sichtbar macht, lässt sich sozial kontrollieren. Es schließt eine Art Vertrag über den künftigen Umgang mit Zeichen ein. In diesen Vertrag sollen – und das ist die Intention – auch die Nachgeborenen mit hineingezogen werden. Gedenken lässt sich so konstitu‑ ieren und kontrollieren.« (Köstlin 2006: 26)
Von den jeweiligen aktuellen Aushandlungsprozessen und dem Verständnis des Gedenkens und der Wertigkeit der »Zeichen« also hängt es ab, welche Orte als be‑ deutend markiert und als solche in die Zukunft hineintransportiert werden. Somit schließt Beate Binders Verständnis vom sozial konstruierten städtischen Raum an Köstlins Gedanken an. Weiterhin stellt Konrad Köstlin fest, dass es heute »ohne Gedenken keine Vergangenheit und keine Zukunft, und, wie wir behaupten, auch keine Gegenwart [gibt]. Durch unseren Umgang mit den Zeichen, durch die Handlungen, die wir mit ihnen ausführen, wird Kontinuität in einem Meer des Wandels als Besonderes akzentuiert. Zeichen produzieren einen Zusam‑ menhang, eine Kontinuität als Rechtfertigung der Anwesenheit.« (ebd. 2006: 27)
Auf dieser Grundlage wird im Folgenden nicht nur nach der »kulturellen Textur« und dem Gedächtnis von Košice und Lučenec zu fragen sein, sondern auch, von wem und
10 | Hier verweist Köstlin auf Krysztof Pomyans »Semiophoren« (vgl. Pomyan 1988 zit. n. Köstlin 2006: 26). »All diese Zeichen haben mit der Zeit zu tun, die sie organisieren und auch manipulieren. […] Wie alle Objeke haben sie wandelbare Biographien im Verlauf ihrer irdischen Existenz. Die durablen Zeichen nun sollen der Veränderung Widerstand entgegensezen, sich den erneuernden Wirklichkeiten verwei‑ gern. […] Sie zeigen aber auch ein Misstrauen gegenüber den Nachgeborenen, denen in einer sich spür‑ bar beschleunigenden Welt die Erhaltung der Werte nicht mehr zugetraut wird« (ebd.).
Zentrale Begriffe und theoretische Zugänge | 53
auf welche Weise »Zeichen« in den beiden Städten als (Gedenk‑)Orte und -räume der jüdischen Gemeinde markiert werden (vgl. Kapitel 5). Bis zu diesem Punkt lässt sich festhalten, dass Erinnerungen – ob sie in das Ge‑ dächtnis Einzelner oder von Gruppen, oder in bestimmte Orte, Räume oder in imma‑ terielle Überlieferungen des (jüdischen) kulturellen Erbes eingeschrieben sind – auch identitätsstiftende Elemente bergen: »Erinnerungen […] sind stets gegenwartsbezoge‑ ne, aktuelle Konstruktionen mit hoher Bedeutung für den kontinuierlichen Prozess der Identitätsbildung und -bestätigung« (Zierold 2006: 51). Daher gilt es, im letzten Teil dieses Kapitels Identitätskonzepte vorzustellen.
2.2 I dentität (en) 2.2.1 Identität – kulturell, personal, individuell und kollektiv? »Von Identität ist deshalb so viel die Rede, weil Identität zum Problem geworden ist«, so begann Hermann Bausinger seine Auseinandersetzung mit dem Thema vor fast 40 Jahren (ebd. 1977: 210). Bausinger versteht Identität als »ein analytisches Konst‑ rukt«, das »gleichwohl direkt erfahrbar« ist, »als Gefühl der Übereinstimmung des Individuums mit sich selbst und seiner Umgebung« sowie in der »negativen Form: im Bewusstsein oder Gefühl mangelnder Übereinstimmung« (ebd.). So bezeichne »Identität die Fähigkeit des einzelnen, sich über alle Wechselfälle und auch Brüche hinweg der Kontinuität seines Lebens bewußt zu bleiben« (ebd.). Identität, so Bau‑ singer weiterhin, entstehe in Interaktion, hat also auch eine soziale Dimension. Ein Mensch müsse, um »sich identisch zu erfahren und zu behaupten, verschiedenartigen gesellschaftlichen Ansprüchen genügen, ohne sich aufzugeben« (ebd.: 211). Identität sei weiterhin eine Kompositionsleistung, die auch mittels unbewusster Orientierung an Normen und Werten oder auch Objektivationen wie Kleidung, Nahrung, Sprache erfolge und sich in diesen zeige (vgl. ebd.: 211 f.). Die »kulturale Dimension von Iden‑ tität ist in jeder sozialen Interaktion enthalten« und basiere auf einer »responsiven Umwelt« (vgl. ebd.: 212). Fast ein Jahrzehnt später beschreibt er – im Kontext einer Studie über Migration – die »kulturelle Identität als Ausdruck eines kollektiven Gebildes« und somit auch als »Identität der Kultur« in einer reziproken Beziehung zwischen Individuum und Kol‑ lektiv: »[I]ndem der Einzelne sich seiner kulturellen Grundlagen versichert, festigt er die Kultur, der er sich zugehörig fühlt, und indem die Kultur stabilisiert wird, gibt sie dem Einzelnen eine feste Stütze« (Bausinger 1986: 143). Dabei sei es auch vorstellbar, dass diese Wechselseitigkeit nicht funktioniere (vgl. ebd.). Es muss aber auch der ethnozentrische, homogenisierende und ausgrenzende Charakter des Begriffs »kulturelle Identität« berücksichtigt werden, wie Bausinger anmerkt (vgl. ebd.: 144 ff.; 155 f.). Hier sei ausschlaggebend, wer diesen Begriff defi‑ niere (vgl. ebd.: 144 f.). Denn in diesem steckt »nicht nur die Möglichkeit einer ausge‑
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prägten Toleranz, eines volleren Einverständnisses, sondern auch die Möglichkeit der Ausgrenzung« (Bausinger 1986: 146). Bausinger spricht angesichts der identitären Verortungsprobleme der Menschen mit Migrationshintergrund von möglichen »Bewältigungs- und Koordinationsstrate‑ gien«. Beispielsweise von »Rollensegmenten«11 und »verschiedenen Sphären der Zu‑ gehörigkeit«, in die das Leben ein- und der Tag aufgeteilt sei (vgl. ebd.: 153 f.) sowie von einem »aktiven Verständnis von Identität« und dem Konstruktionscharakter der‑ selben, »[…] die Erfahrung, daß Identität selbst mit geschaffen und definiert werden muß« (ebd.: 154). Insgesamt erscheinen diese Gedanken zur kulturellen Identität im Hinblick auf die jüdischen Identitäten der AkteurInnen in meinem Feld schlüssig. Wolfgang Kaschuba fasst die Bedeutung der kulturellen Dimension bei der Iden‑ tifikation von Individuen und Gruppen folgendermaßen zusammen: »Zugleich meint Identität immer sowohl eine Ich- als auch eine Wir-Identität, zwei sich ineinander ver‑ schränkende Bedeutungsdimensionen von Selbstsein und Dazugehören. Individuelle und kollektive Iden‑ titätsvorstellungen sind zwar nicht ›identisch‹, aber sie gehen immer wieder Hand in Hand. Sie beschrei‑ ben unterschiedliche Wege der Suche nach Übereinstimmungen wie Grenzziehungen und spielen sich damit wesentlich auch in einer kulturellen Dimension der Symbole und Gesten ab, die als Kodeformeln sozialer Wechselbeziehungen und Verständigungsprozesse fungieren […].« (Kaschuba 2006: 134)
Von »kollektiven Identitäten« zu sprechen, erweist sich – ähnlich wie bei der kulturel‑ len Identität – allerdings als problematisches Unterfangen. Denn laut Jürgen Straub ist »im Falle der persönlichen Identität aufgrund der Leiblichkeit personalen Seins klar […], um wen es sich […] handelt […]«. Bei der Frage nach der Identität eines Kollektivs müsse »der Kreis der betroffenen Personen zunächst einmal festgelegt wer‑ den« (Straub 1998: 98). Von einer »kollektiven Identität« zu sprechen, berge immer die Gefahr, Zuschreibungen zu treffen und zu vereinheitlichen, daher sei laut Straub »jede Rede über konkrete ›kollektive Identitäten‹ zunächst einmal unter ›Ideologie‑ verdacht‹ zu stellen« (ebd. 1998: 99). Dies beachtend, werde ich in meiner Arbeit stets die Heterogenität der jüdischen Identitäten innerhalb der jüdischen Gemeinde und Kommune reflektieren, wenn ich von ihr als »Kollektiv« schreibe. Um jedoch Konzepte der individuellen, personalen und kollektiven Identität für meine Arbeit greifbar machen zu können, ziehe ich Jan Assmann heran, der sie fol‑ gendermaßen unterscheidet: »Individuelle Identität ist das im Bewußtsein des Einzelnen aufgebaute und durchgehaltene Bild der ihn von allen (›signifikaten‹) Anderen unterscheidenden Einzelzüge, das am Leitfaden des Leibes entwickelte Bewußtsein seines irreduziblen Eigenseins, seiner Unverwechselbarkeit und Unersetzbarkeit.« Unter diesem Begriff bündeln sich laut Jan Assmann die körperliche Existenz und die »Leibhaftigkeit des Daseins und seiner Grundbedürfnisse«. Demgegenüber sei »[p]ersonale Identität […] 11 | Die Bedeutung der »Rollensegmente« bei der Identitätsarbeit wird im nachfolgenden Kapitel weiter vertieft, wenn es um »Patchworkidentitäten« geht.
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der Inbegriff aller dem Einzelnen durch Eingliederung in spezifische Konstellationen des Sozialgefüges zukommenden Rollen, Eigenschaften und Kompetenzen«. Diese Dimension der Identität eines Einzelnen beziehe sich auf seine »soziale Anerkennung und Zurechnungsfähigkeit«. Darüber hinaus seien beide Dimensionen der Ich-Identi‑ tät nach Assmann »soziogen«, kulturell determiniert und beide verliefen als Prozesse »in kulturell vorgezeichneten Bahnen« (ebd. 2007: 131 f., Herv. i. O.). Im Folgenden werde ich beide Dimensionen – die ohnehin nicht trennbar sind – unter dem Begriff »individuelle Identität« stets zusammendenken und nennen. Der kollektiven oder Wir-Identität liegt laut Jan Assmann ein Bild zugrunde, »das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren«. So sei »[k]ollektive Identität […] eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Indi‑ viduen« und hänge von derselben und dem Maß ab, in dem sich selbige zu ihr beken‑ nen. »Sie ist so stark oder so schwach, wie sie im Bewußtsein der Gruppenmitglieder lebendig ist und deren Denken und Handeln zu motivieren vermag« (ebd.: 132, Herv. i. O.). Gesellschaft und Kultur, so Jan Assmann, sind Identität vermittelnde Grundbe‑ dingungen menschlichen Daseins, auf deren Grundlage »immer personale, aber nicht unbedingt kollektive Identität« geschaffen wird (ebd.: 133 f.). Daraus ergibt sich, dass sich nicht immer eine »Wir-Identität« ausprägen muss, denn »[e]ine kollektive Identi‑ tät ist nach unserem Verständnis reflexiv gewordene gesellschaftliche Zugehörigkeit« (ebd.: 134). In meinem Feld sind, wie sich zeigen wird, gerade diese unterschiedlichen Aus‑ handlungen der Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinde und Kommune wichtig für individuelle Verortungsstrategien. Hermann Bausinger schlussfolgert in seinem Aufsatz von 1977, dass die Volks‑ kunde die Aufgabe habe, sich auch den Bildungsprozessen »gefährdete[r] und zer‑ brechliche[r] Identitäten« zu widmen (vgl. ebd. 1977: 215). Er war es auch, der die oben genannten »Rollensegmente« identitärer Kompositionsprozesse (vgl. ebd. 1987: 153) angesprochen hat. Wie sich diese Identitäten und ihr Konstruktionscharakter für mein Feld nutzbar machen lassen, soll mit Hilfe der Konzepte von Heiner Keupp im Folgenden geklärt werden.
2.2.2 Identitätspatchwork – Patchworkidentitäten Der Sozialpsychologe Heiner Keupp will mit seiner Studie über »Identitätskonstruk‑ tionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne«12 auch der oben beschrie‑ benen Forderung Hermann Bausingers nachkommen. Denn, so beschreibt Keupp: »Architekt und Baumeister des eigenen Lebensgehäuses zu werden, ist allerdings für uns nicht nur Kür, sondern zunehmend Pflicht in einer grundlegend veränderten Gesellschaft. Es hat sich ein tiefgreifender 12 | Die Münchner Forschergruppe um Heiner Keupp arbeitete gemeinsam mit Leipziger Wissenschaft‑ lerInnen über die Identitätsbildungsprozesse von 152 jungen Erwachsenen in Ost- und Westdeutschland nach 1990 (vgl. Keupp et al. 2002: 10 f.).
56 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 Wandel von geschlossenen und verbindlichen zu offenen und zu gestaltenden sozialen Systemen vollzo‑ gen. […] Die Möglichkeitsräume haben sich in einer pluralistischen Gesellschaft explosiv erweitert. In diesem Prozeß stecken enorme Chancen und Freiheiten, aber auch zunehmende Gefühle des Kontrollver‑ lusts und wachsende Risiken des Mißlingens.« (Keupp et al. 2002: 55 f.)
Er und seine KollegInnen finden also Antworten darauf, »wie es Subjekten in einer fragmentierten und widersprüchlichen Welt gelingt, für sich eine stimmige Passung herzustellen« (ebd.: 7). Denn in dem subjektiven Konstruktionsprozess der Identität versuchen Menschen ebendies, indem sie die innere und äußere Welt für sich verein‑ bar machen (vgl. ebd.). »Identität ist nichts, was eine Person ein für alle mal besitzt, gar von Geburt an mit sich bringt. Dieser theoretische Begriff bezeichnet gewisse Merkmale des personalen Selbstverhältnisses, die niemand einfach hat, sondern für die jede und jeder sorgen muss«, stellt auch Jürgen Straub fest, indem er von der »Identitätsarbeit« spricht (ebd. 1998: 87). Somit ist der permanente Arbeitscharakter von Identität, der oben mit Her‑ mann Bausinger bereits angedeutet wurde, wieder aufgegriffen, denn »sie lebt von einem Subjekt, das sich aktiv um sein Selbst- und Weltverhältnis zu kümmern hat« (Keupp et al. 2002: 27). Keupp und seine KollegInnen verstehen Identitätsarbeit als »individuelle Ver‑ knüpfungsarbeit« und gehen dabei von einer – begrifflich metaphorisch verwende‑ ten – »Patchworkidentität« aus, die die Individuen unter Erbringung einer »hohen Eigenleistung bei diesem Prozeß der konstruktiven Selbstverortung« kreieren, um »sich im Strom der eigenen Erfahrungen selbst zu begreifen« (vgl. ebd.: 9 f., 190). So ist auch laut Jürgen Straub »Identität […] ein immer nur vorläufiges Resultat kreativer, konstruktiver Akte, man könnte fast sagen: sie ist geschaffen für den Augenblick« (ebd. 1998: 93). Diese kreative Konstruktion der Patchworkidentität folgt laut Keupp et al. »einer nachvollziehbaren inneren Logik […] und braucht psychische, soziale und materielle Ressourcen« (ebd. 2002: 7). Identität, so Keupp et al., ist zu verstehen als »individuel‑ les Rahmenkonzept einer Person, innerhalb dessen sie ihre Erfahrungen interpretiert und das ihr als Basis für alltägliche Identitätsarbeit dient«. Im Zuge dieser versuche das Subjekt, »situativ stimmige Passungen zwischen inneren und äußeren Erfahrun‑ gen zu schaffen und unterschiedliche Teilidentitäten zu verknüpfen« (ebd.: 60). Da‑ bei komme sozialen Netzwerken eine besondere Bedeutung zu, denn mit ihnen seien Identitätsprojekte stets verknüpft: »Einerseits entstehen sie in solchen Netzwerken, andererseits verändern sie diese.« Zudem sind sie »der wesentliche Ort für den Aus‑ tausch von Ressourcen« (ebd.: 186). Denn im Zuge seiner identitären Selbstverortung »bedarf [der Mensch] der Zustimmung der anderen zu seinen Entwürfen und Kon‑ struktionen« (ebd.: 27). Es werden insgesamt vier zentrale, prozessuale Koordinationsleistungen, auf denen Identitätsarbeit basiert, herausgearbeitet: »relationale Verknüpfungsarbeit, Konfliktaushandlung, Ressourcen- und Narrationsarbeit«. Letztere sei ein wichtiger Aspekt der subjektiven Konstruktionsarbeit, zumal sie die permanente Weiterent‑
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wicklung im »Akt der Selbstreflexion« hervorbringe. So konstruiere man sich »in und mit seiner Selbsterzählung ständig neu […]« (ebd.: 189). Dieser stark narrativ und kulturell geprägte Reflexionsprozess – und somit auch die Identitätsarbeit – formt den Erzählrahmen mit. So werden »[d]ie unter bestimmten, zumeist kulturspezi‑ fisch geprägten Identitätsperspektiven gebündelten Erfahrungen […] in aller Regel retrospektiv (narrativ) weiter verdichtet zu verschiedenen Identitätskonstruktionen, lebensbereichs- bzw. lebensphasisch spezifischen Teilidentitäten oder zu übergrei‑ fenden Konstrukten, den biografischen Kernnarrationen oder/und dem Identitäts‑ gefühl« (ebd.: 193). Denn laut Keupp et al. ist »[d]as zentrale Medium der Identitätsarbeit […] die Selbsterzählung«. Diese Erzählungen des Selbst »sind nicht einfach Ergebnisse kom‑ munikativer Akte, sondern werden durch erzählerische Muster, medial verstärkte Metaerzählungen und von Machtfragen geprägte Darstellungsmechanismen mit be‑ einflußt« (Keupp et al. 2002: 216). Eine zentrale Rolle spielt dabei folglich auch das Gedächtnis: Bei der alltäglichen Identitätsarbeit, die geleistet wird, sind laut Keupp et al. »retrospektiver und prospektiver Prozess immer miteinander verbunden, es gibt keine Erinnerung, die nicht auch in die Zukunft gerichtet wäre, und keinen Entwurf, der nicht vergangene Erfahrungen beinhalten würde« (ebd.: 195). So lässt sich Identitätsarbeit zusammenfassen »als ein […] Passungsprozeß, bei dem vergangene, gegenwärtige und zukunftsbezogene Selbsterfahrungen unter ver‑ schiedenen Identitätsperspektiven reflektiert und zu Teilidentitäten zusammenge‑ fasst werden.« Dazu gehört auch die identitätsbezogene Verarbeitung von diversen Ressourcen sowie die Ambivalenzen, Spannungen und Widersprüche, die laut Keupp et al. zum Identitätsprozess dazugehören, »[…] in ein […] lebbares Beziehungsver‑ hältnis zu bringen« (ebd.: 207). Im evaluativen Prozess der Identitätsarbeit integriert, interpretiert und bewertet eine Person ihre Erfahrungen. »Über die Reflexion situationaler Selbsterfahrungen und deren Integration entstehen Teilidentitäten. Über die Verdichtung biographischer Erfahrungen und Bewertungen der eigenen Person auf der Folie zunehmender Generalisierung der Selbstthematisierung und der Teilidentitäten entsteht das Identitätsgefühl einer Person« (ebd.: 217; Herv. i. O.).
Die biografische Kernnarration entstehe aus dem Teil des Identitätsgefühls, der dem Individuum bewusst sei. Aus diesen drei Komponenten ergebe sich die Handlungs‑ fähigkeit, die auf der »Funktionalität der Identitätsarbeit für das Handeln eines Sub‑ jekts« stehe (vgl. ebd.). Die Konstruktionsprozesse sind permanentem Wandel unterworfen, ebenso kön‑ nen sich auch die Teilidentitäten wieder verändern, sich auflösen und auch neue da‑ zukommen (vgl. ebd.: 217 ff.).
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2.2.3 Jüdische Identitäten? Von konkreten jüdischen Identitäten zu sprechen oder nach ihnen zu suchen, erweist sich schon alleine vor dem hier erarbeiteten theoretischen Hintergrund als schwierig. Zwar fragte eine Vielzahl von AutorInnen nach jüdischen Identitäten, ab 1989 zunehmend auch nach deren Genese im östlichen Europa. So auch der Sozialanthro‑ pologe und Judaist Jonathan Webber: »Core Jewry is easy to define: those Jews who define themselves as such, are recognized as Jews by their Jewish environment, and conform in a relatively broad sense with traditionally accepted criteria of Jewishness. The difficulties start with the enlarged category: non-Jews living in Jewish households and participating in Jewish patterns of life: Jews who do not consider themselves Jewish; Jews (and also non-Jews) who participate in Jewish and non-Jewish religious activities (like attending both church and synagogue): and non-Jews of Jewish ancestry seeking a way back to Judaism.« (Webber 1994a: ix)
Mit den hier angesprochenen »Erweiterungen« wird die Vielschichtigkeit der Defi‑ nition des Jüdisch-Seins deutlich. So fragt auch Zvi Gitelman: »Is ›Jewish‹ an ethnic or a religious adjective? Can one be Jewish without practicing the religion known as Judaism?« (Gitelman 2009a: 1) Laut Peter Salner baut die traditionelle Definition von jüdischer Identität auf dem Glauben an einen allmächtigen Gott auf, der sich wiederum in konkreten kulturellen Formen und Lebensweisen ausdrückt. Die Grundlage dafür sei die Thora, aus der sich auch der Talmud und die Halacha sowie die 613 Mizwot ableiten, die jeder gläubige Jude täglich einzuhalten habe (Salner 2009: 163). Die Trennung von Religion und Ethnizität sei während der Emanzipation der Ju‑ den im westlichen Europa des 18. Jahrhunderts erfolgt (vgl. ebd.; Kapitel 4.1.1). Das moderne Judentum, so Micha Brumlik, habe sich auf dem Boden einer mittelalter‑ lichen, traditionellen Gesellschaft entfaltet, »die noch keine Trennung von Religion und Volkszugehörigkeit kannte und die Religion auch noch nicht als Privatangele‑ genheit verstand« (Brumlik 2007: 11). An der Wende zum 20. Jahrhundert habe es, so Zvi Gitelman, schließlich diverse Vorstellungen über jüdische Identitäten gegeben: »These were the traditional ethno-religious fusion; Reform Judaism’s restriction of Jewishness to religion and denial of Jewish nationhood; Zionism’s claim that Jews are a modern as well as ancient nation and hence deserve a state; a secular Diaspora nationalism that justified the existence of a people but saw no need for a state; and assimilationism, the idea that whatever Jews might have been in the past, their future was to merge into the peoples among whom they lived. The oldest conception is that Judaism is a tribal religion. Whoever adheres to Judaism is considered a member of the tribe or people, unlike the ›universal‹ religions, Christianity and Islam, whose adherents are of different peoples or nationalities.« (Gitelman 2009b: 303)
Der Holocaust und die nachfolgenden kommunistischen Regime im östlichen Europa hatten und haben nach wie vor einen wesentlichen Einfluss darauf, wie die Menschen
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jüdischer Abstammung ihre Identitäten aushandeln (vgl. u. a. Webber 1994c; Heitlin‑ ger 2006: 4). Einige WissenschaftlerInnen unterscheiden daher auch zwischen einer »dichten« und »dünnen« gelebten jüdischen Kultur: »The near disappearance of militant secularism in America, Western Europe, and the post-Communist states […] and the indifference of secularism-by-default means that for most Jews on this end of the religiosity spectrum there is no longer a thick Jewish culture, one with strong, tangible, visible manifesta‑ tions such as distinctive language, customs, foods, clothing, areas of residence, and occupations. Yiddish, Jewish neighborhoods, Jewish foods, and types of clothing, and the concentration of Jews in the needle trades are subjects of nostalgia and memory rather than components of contemporary Jewishness.« (Gi‑ telman 2009b: 316)
So würden ausschließlich orthodoxe und insbesondere ultra-orthodoxe Juden die dichte Variante jüdischer Kultur leben (vgl. Gitelman 2009b: ebd). Doch diese Zwei‑ teilung würde nicht weiterführen, so schlägt Alena Heitlinger vor: »Thus it is more useful to consider Czech/Slovak Jewish identities on a continuum from a thick to a thin Jewish culture rather than trying to fit them into two rigidly defined polar oppo‑ site ideal types« (Heitlinger 2006: 2). Dabei ist auch zu bedenken: »Jewish identities in general are largely to be understood as constructs in response to the circumstances « (Webber 1994c: 82). In Anlehnung an diesen Konstruktionsgedanken erklärt Web‑ ber: »What all this amounts to in effect is that identities do not have an existence independently of the people who embrace them. […] Identities are threatened by people as if they really existed; but in practice identities are constructs that are shaped and fashioned by the people who rely on them, and they may be full of internal contradictions of all kinds.« (ebd. 1994b: 4)
Die Soziologin Tina Gážovičová teilt die jüdische Identität in positiv und negativ empfundene und wahrgenommene Elemente. Als positive jüdische Identität werde die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinde, die sozialen Kontakte, die Traditionen, Kultur und Religion empfunden. Negativ sei hingegen die Ausgrenzungserfahrung beispielsweise durch die Mehrheitsgesellschaft, die mit Erfahrungen von Stigmati‑ sierung, Antisemitismus und des kollektiven Traumas durch den Holocaust einher‑ gehe. Bei ihren Forschungen stellte sie fest, dass es Mischformen und auch neutrales Empfinden der jüdischen Abstammung gegenüber gebe (vgl. Gážovičová 2011; vgl. auch Heitlinger 196 ff.). Diese Kategorien erachte ich zwar als wichtig, jedoch auch als einschränkend, sofern sie nicht Platz lassen für etwas »dazwischen« und für weitere Emotionen, die nur von den AkteurInnen selbst benannt werden können. Mit dem Wissen um die Voraussetzungen der Identitätsbildungsprozesse, kann es nicht »die jüdische Identität« geben, sondern viele verschiedene Identitätskonstruk‑ tionen meiner AkteurInnen, die sich prozesshaft und situativ entwickeln, stets im Wandel begriffen und immer abhängig von vergangenen und gegenwärtigen Erfah‑ rungswelten sowie diversen sie beeinflussenden Faktoren sind. In dieser Arbeit geht
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es mir vor allem darum, aus den lebensgeschichtlichen Erzählungen der AkteurInnen in meinem Feld herauszuhören, welcher (Teil-)Identitäten sie sich bewusst sind und wie sie das Jüdische für sich und in ihrer Biografie markieren und deuten. Denn wie auch die Psychologin Sandra Konrad in ihrer Studie über »[d]ie Auswirkungen des Holocaust auf jüdische Frauen dreier Generationen« festgestellt hat, gibt es keine all‑ gemein gültige Definition von jüdischer Identität, sondern »eine Vielfalt von Ausle‑ gungsmöglichkeiten und individueller Lebbarkeit« (Konrad 2007: 423 f.). »Identität bezieht sich also immer auch auf den Vorgang eines konkreten Aushandelns in konkreten Si‑ tuationen, in denen jeweils andere Zuordnungen und Bezüge gegeben sind: Jeder soziale Ort weist seine eigene Struktur von festliegenden Verhaltensregeln wie offenen Verhaltensspielräumen auf, die respek‑ tiert und gestaltet werden müssen. So kann Identität nur als soziale Praxis verstanden werden: als ein Umsetzen allgemeiner Regeln und Vorstellungen des eigenen So-Seins in konkretes kommunikatives und interaktives Verhalten, das sich mit jeder Veränderung der Situation wiederum selbst verändert.« (Ka‑ schuba 2006: 135)
Irene Götz hat Identität für ihre Studie über »Deutsche Identitäten. Die Wiederent‑ deckung des Nationalen nach 1989« als »durch die Außenperspektive der Ethnografin als kulturelle Praxis […]« erfahrbar beschrieben. »Identität ist demnach keine stati‑ sche Größe, sondern immer nur situativ im Sinne eines ›doing identity‹ erfassbar. Sie muss indirekt durch das zu beobachtende Handeln (in Gruppen und Kontexten) er‑ schlossen werden.«13 In diesem Sinne sind auch einige weitere der von Irene Götz erarbeiteten »Prä‑ missen« in ihrem Identitäts-Ansatz auf mein Feld übertragbar, so beispielsweise der »methodische Zugriff auf das Thema über Mikroanalysen« und »die Vorstellung von der Konstruiertheit, Pluralität und Kontextspezifik der Identitäten« (vgl. Götz 2011: 75; Herv. i. O.). Um vor diesem Hintergrund die Keupp’sche Metapher der »Patchworkidentitä‑ ten« wieder aufzugreifen, assoziiere ich dabei jedoch nicht das Bild einer klassischen Patchworkdecke, deren einzelne Bestandteile jeweils die gleichen Maße und die glei‑ che Form haben und sich lediglich in ihren Mustern, Stoffen, Motiven und der farb‑ lichen Gestaltung unterscheiden. Zudem ist eine solche Decke irgendwann einmal »fertig« durch ihre Umsäumung eingegrenzt, lässt also meist nicht zu, dass weitere Elemente angefügt werden. Und eine Decke »verdeckt« im wörtlichen Sinne auch.14 Auch Heiner Keupp und seine KollegInnen schreiben von »patchworkartige[n] Gebil‑ de[n]«, die Menschen formen würden (vgl. ebd. 2002: 294). Identitätspatchwork ergibt für mich daher vielmehr die Metapher eines Kunst‑ werks, das jeder Mensch in seinem Leben – im Sinne des oben genannten »doing identity« – kreiert. In diesem artifiziellen Objekt erhalten verschiedene Elemente der 13 | Götz (2011: 70, Herv. i. O.). Hier bezieht sich Irene Götz unter anderem auf Bourdieu (1979); Ortner (1984), Sahlins (1981) und Welz (1996: 86). 14 | Für diesen Hinweis danke ich Klaus Roth.
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Identität einer Person situativ unterschiedlich viel Raum, andere bleiben – auch für lange Zeit – im Verborgenen, werden von anderen überlagert. Einige wiederum brö‑ ckeln nach und nach ab, wenn andere sie verdrängen und der Kleber, der sie festhalten soll, seine Kraft verloren hat – wie beispielsweise das verlorene Interesse an einem einst mit Begeisterung ausgeübten Hobby. Was den »Identitätskleber« besonders haltbar macht, sind die Erinnerungen, die an den einzelnen Bausteinen im Identi‑ tätspatchwork haften. Diese Bausteine können jedoch in ihrer Struktur und äuße‑ ren Form derart eckig und kantig sein, dass sie zu keinen anderen passen wollen. In diesem Sinne können einzelne Identitätselemente, Traumata etwa, scharf und verlet‑ zend wie Glassplitter wirken, andere fühlen sich für meine AkteurInnen hingegen angenehm weich wie Watte oder Knetgummi an und können einfach »verarbeitet« werden. Es kommen ständig neue Elemente hinzu, die in das Kunstwerk ihrer Identi‑ tät(en) passend eingearbeitet – dazu konstruiert – werden. Diese Identitätskunstwer‑ ke werden unter diversen äußeren und inneren Bedingungen und Einflüssen geschaf‑ fen und gegen Widrigkeiten und Zerstörung – unter Zuhilfenahme verschiedener Mittel – stabilisiert und geschützt. So ergeben sich in dieser Arbeit ganz unterschiedliche, kreative Identitätskon‑ struktionen, Kunstwerke aus dem Leben meiner AkteurInnen, deren Abbildungen ich in Kapitel 6 nachzeichne.
3 Methoden, Quellen und Emotionen 3.1 Facetten und Q uellen einer multimethodischen F orschung »Wir sollten auf der Hut vor einfachen Erklärungen sein, denn die kulturellen Prozesse sind vielschichtig – es handelt sich nicht um einen kulturellen Fluss, der eine klare Linie verfolgt, sondern es gibt diverse Strudel und Turbulenzen, Seitenarme, Staustellen, Stromschnellen und manchmal versickert der Fluss gar.« (Moser 2008: 233 f.)
Übertragen auf mein Vorgehen bedeutet das, dass ich im Sinne »[…] einer offenen ethnografischen Forschung […] den Wegweisungen des Feldes selbst, den Bezie‑ hungsnetzen, alltäglichen Lebensvollzügen und den Erinnerungen, in denen sich die Erfahrung der Forschungssubjekte manifestiert«, gefolgt bin (Eisch/Hamm 2001: 16). Der multimethodische und -perspektivische Zugang half mir dabei, das jüdische Leben in Lučenec und Košice in seinen relevanten Beziehungs- und Handlungsge‑ flechten trotz einiger zum Teil bereits in Kapitel 1.3 beschriebener »Turbulenzen« zu entschlüsseln und zu verstehen. Nach Rolf Lindner verweist alles und jedes »auf ein Anderes, aus dem es sich speist und auf das es zurückweist« (Lindner 2003: 179). »Das heißt«, so Lindner weiterhin, »dass die Kulturanalyse ein Denken in Relationen erfor‑ dert; sie geht von der Grundannahme aus, dass der Sinngehalt kulturaler Phänome‑ ne erst durch die Untersuchung des Beziehungsgeflechts entschlüsselt wird, dem sie ihre spezifische Gestalt verdanken« (ebd.). In Anlehnung an Clifford Geertz’ Konzept eines »semiotischen Kulturbegriffs« suchte ich in Košice und Lučenec nach den »Be‑ deutungsgeweben«, die dort rund um das jüdische Leben »gesponnen werden«. Wie Geertz geht es auch mir »um Erläuterungen, um das Deuten gesellschaftlicher Aus‑ drucksformen, die zunächst rätselhaft scheinen« (ebd. 1983: 9).
Lučenec In meiner Heimatstadt erhielt ich 2008 Kontakt zu Frau Vajová, der Vorsitzenden der jüdischen Kommune, über meine Tante1, die hier als »Türöffner« fungierte, da ihre 1 | Von den jüdischen Wurzeln meiner (angeheirateten) Tante erfuhr ich erst, als ich in Lučenec zu for‑ schen begann. Ihre Großmutter ist die älteste noch lebende Jüdin in der Stadt. Deren Porträt ist in Kapi‑ tel 6.1.3 nachzulesen.
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Familie jüdisch ist. In Lučenec waren die ersten Schritte der Forschung die schwie‑ rigsten, denn zunächst ließ mir Frau Vajová nur eine schriftliche Zusammenfassung über die Geschichte der Juden in der Stadt auf einem Blatt Papier zukommen. Nach mehreren Versuchen gelang es mir schließlich, direkt Kontakt zu ihr aufzunehmen und von ihr Telefonnummern von Menschen mit jüdischer Abstammung in Lučenec zu bekommen. Bereits vor dem ersten Feldaufenthalt knüpfte ich Kontakt zu Josef Hi‑ dasi, der sich als Holocaustüberlebender und Architekt für die Restaurierung und den dauerhaften Erhalt der Synagoge in Lučenec einsetzte.2 Wir kommunizierten haupt‑ sächlich über E‑Mails, darüber hinaus führte ich auch Interviews per Telefon mit ihm. Um ein möglichst genaues Bild über die Situation des jüdischen Lebens und Kulturer‑ bes in Vergangenheit und Gegenwart in Lučenec zu erhalten, nutzte ich neben Medi‑ en- und Archivrecherchen auch ExpertInneninterviews und informelle Gespräche in verschiedenen städtischen Einrichtungen. Diese ExpertInneninterviews zeichneten sich dadurch aus, dass die Interviewten zu einem bestimmten Bereich oder Thema befragt wurden: »Der Experte klärt auf über ›objektive‹ Tatbestände, erläutert seine Sicht der Dinge zu einem bestimmten Themenausschnitt usw. Der Experte wird hier also in erster Linie als ›Ratgeber‹ gesehen, als jemand, der über ein bestimmtes, dem Forscher nicht zugängliches Fachwissen verfügt« (Bogner/Menz 2005: 37, Herv. i. O.). Bei der Analyse war es wichtig zu beachten, in welcher Beziehung diese Personen zum besagten Thema stehen (vgl. ebd.). Informelle Gespräche entstanden hingegen spon‑ tan und wurden nicht aufgezeichnet (vgl. Schmidt-Lauber 2001: 168). Im Neuburger Museum [Novohradské Muzeum] und im städtischen Archiv in Lučenec versprach ich mir Hinweise zur Vergangenheit der jüdischen Kommune zu finden. Doch wurde ich im einzigen Museum der Stadt lediglich auf eine Fotoausstel‑ lung aus dem Jahre 1993 über jüdische Grabsteine aufmerksam gemacht, die von der Archivleiterin initiiert worden war. In spontan zustande gekommenen Gesprächen mit ihr und ihren Mitarbeiterinnen verschaffte ich mir einen Überblick über das vor‑ handene Material zu meinem Thema. Im Archiv selbst waren nur sehr wenige Akten hinterlegt, die eindeutig im Zusammenhang mit dem jüdischen Leben und Kulturer‑ be in Lučenec stehen. Über die Berichterstattung, die Reklame und Inserate in der Zeitung Národný Týždenník 3 [Nationale Wochenzeitung] aus der Zwischenkriegs‑ zeit versuchte ich eine Vorstellung davon zu erhalten, inwiefern die damals große jü‑
2 | Dr. Hidasi ist 1929 geboren. Seine Familie besaß ein über mehrere Generationen hinweg geführtes Unternehmen für Bauholzhandel in Lučenec. Er überlebte als einziger aus seiner Familie den Holocaust und wanderte nach seinem Architekturstudium in Budapest in die Schweiz aus, bevor er sich in Freiburg niederließ. In Lučenec engagierte er sich unter anderem in seiner Funktion als Architekt für die Restauri‑ erung der Synagoge (vgl. Anonymus/Hagalil). Seine Kindheit in Lučenec und sein Überleben während des Zweiten Weltkriegs hat er in einer Biografie festgehalten (vgl. Hidasi 2009). 3 | Diese »unabhängige politische und soziale Wochenzeitung« wurde laut The European Library und dem Verzeichnis der slowakischen Nationalbibliothek von 1929 bis 1938 in Lučenec publiziert (vgl. The Europe‑ an Library; SNK Slovenská Národna Knižnica [Slowakische Nationalbibliothek]).
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dische Gemeinde4 in den städtischen Alltag integriert war. Einen Eindruck von der Präsenz der jüdischen Gemeinde und ihrer Belange in den aktuellen Medien gewann ich im Archiv der wöchentlich erscheinenden Regionalzeitung Novohradské Noviny/ My [Neuburger Zeitung/Wir]; diesen konnte ich in einem Expertinneninterview mit der Chefredakteurin vervollständigen. Als eine ergiebige Quelle erwies sich darüber hinaus auch das Online-Archiv der national meistrezipierten Tageszeitung SME [Wir sind] zum Thema.5 Ein Teil meiner Quellen – auch aus Košice – stammt somit aus dem Bereich der »popularen Medientexte« (vgl. Köck 2001: 304). Gleich ob es sich um einen Zeitungs‑ artikel, eine Reportage im Fernsehen, ein Plakat oder einen Bildband handelte, galt es immer, nach der Botschaft des dort Beschriebenen zu fragen. Ziel war es, anhand dieser Quellen einen Eindruck vom öffentlichen Umgang mit der jüdischen Kultur zu bekommen. Zu diesem Zweck wurde das Material im Sinne einer qualitativen In‑ haltsanalyse sowohl nach den »offensichtlichen« als auch nach den »verdeckten« In‑ halten befragt (vgl. ebd.: 312). Christoph Köck schlägt vor, unter anderem danach zu unterscheiden, wer mit welchen Interessen an der Vermittlung der Medientexte betei‑ ligt war, wann und in welchen Zeiträumen sie produziert und veröffentlicht wurden und welche die »Bühnen« der Produktion und Vermittlung solcher Texte sind (vgl. ebd.: 313). Für mich waren die Perspektive, aus der die Reportagen, Artikel und Bilder veranlasst, erstellt und publiziert wurden, und deren Aussagen besonders wichtig.6 Weiteres Material entstammt dem städtischen Informationszentrum [M.I.C. Mestské Informačné Centrum] in Lučenec, wo man neben dem Erwerb von Post‑ karten und Informationsbroschüren, Informationen über alle Attraktionen der Stadt und ihrer Umgebung erhalten kann.7 Hier war es interessant zu erfahren, wie sich die Stadt mit ihrer und durch ihre Geschichte und historischen Bauwerke inszeniert und vermarktet, denn daraus ergeben sich auch Anhaltspunkte für den Umgang mit der Synagoge und dem jüdischen Kulturerbe. 4 | Im Jahr 1930 machte die jüdische Gemeinde in Lučenec mit 2278 Mitgliedern bei insgesamt 15.459 Be‑ wohnern 14,7 Prozent der Stadtbevölkerung aus (vgl. SNM 2010: 32). 5 | Die SME [Wir sind] ist eine slowakische, politisch kritische Tageszeitung, die 1993 gegründet wurde und von der Petit Press herausgegeben wird. Diese publiziert auch die regionale Tageszeitung Novohrad‑ ské Noviny/My [Neuburger Zeitung/Wir] (vgl. Anonymus/Wikipedia/SME). 6 | »Eine volkskundliche Medientextanalyse berücksichtigt neben den konkreten Botschaften und In‑ formationen besonders die mit den Texten verknüpften sozialen Situationen (Kontexte). Das spezifische volkskundliche Interesse liegt letztlich in der Erschließung der kulturellen Bedeutung der popularen Bot‑ schaften für all jene, die – in unterschiedlichster Weise – mit ihnen umgehen bzw. umzugehen haben« (Köck 2001: 309). 7 | Das Angebot des städtischen Informationszentrums zielt vor allem auf TouristInnen ab, so kann man dort neben dem Buchen von Übernachtungsmöglichkeiten sowie Freizeitaktivitäten und dem Vorverkauf von Karten für Veranstaltungen auch Dolmetscherdienste in Anspruch nehmen, Souvenirs und Post‑ karten erwerben. Darüber hinaus findet man dort auch Literatur zur Stadt, ihrer Umgebung und deren Kulturgeschichte.
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Im Amt für Denkmalschutz führte ich Expertinneninterviews mit den Mitarbei‑ terinnen, die sich explizit mit der Synagoge befassten; eine von ihnen hat selbst ein Projekt zur Erhaltung der Synagoge in der Stadt mitinitiiert. Das Verhältnis zu den Mitarbeiterinnen war von Anfang an gut, sie sprachen sehr offen über die Situation der historischen Gebäude und Denkmäler in der Stadt und vermittelten mir Kontakte zu an der jüdischen Kommune und am jüdischen Kulturerbe interessierten Stadtbe‑ wohnerInnen. Bei meinen Nacherhebungen 2011 konnte ich weitere Informationen über den Zustand der Synagoge, die inzwischen mehrfach den Besitzer gewechselt hatte, einholen und mit dem damaligen Eigentümer ein Interview im Amt für Denk‑ malschutz führen. Des Weiteren informierte ich mich auch über das Interesse der Stadtverwaltung den Erhalt der Synagoge betreffend und sprach dort nach meinem ersten Interview 2008 mit der Leiterin der Abteilung für regionale Entwicklung und unternehmerische Tätigkeiten, 2011 mit der Leiterin der Abteilung für Sport und Kultur.8 Interviews mit für das jüdische Kulturerbe engagierten StadtbewohnerInnen und einer Lehrerin, die sich auch beruflich mit der Aufklärung über den Holocaust in Lučenec beschäftigt, rundeten neben einem erneuten Interview mit einem Mitglied der jüdischen Kommune9 sowie einem weiteren jungen Mann mit jüdischen Wurzeln meine Forschung in der Stadt ab.
Košice Da mir Košice im Gegensatz zu meiner Heimatstadt Lučenec gänzlich unbekannt war, musste ich mich dort zunächst orientieren und stand vor der Herausforderung, sowohl das städtische als auch das jüdische Leben dort ganz neu kennenzulernen. Laut der Kulturwissenschaftlerin Simone Egger bedeutet es »[s]ich einer Stadt innerhalb einer bestimmten Situation zu nähern, […] aus einer kulturwissenschaftli‑ chen Perspektive nicht nur ausdrucksvolle Sequenzen der städtischen Biographie zu rekonstruieren, son‑ dern im Zuge des Vorgehens vor allem auch ein grundlegendes Verständnis für die Konstellationen der Zeit, ihrer Themen und Topoi zu entwickeln« (ebd. 2013: 20).
Das von Rolf Lindner vielfach postulierte »[…] nosing around, getting the feel of the city, tramping the streets«10 ließ sich für mich in Košice gut umsetzen. Ihm zufolge muss man, um die »Biografie einer Stadt, also das Werden dessen, was sie zu einem bestimmten Zeitpunkt auch ökonomisch ist, verstehen zu können, […] die kumula‑ tive Textur der lokalen Kultur« berücksichtigen, »wie sie in Bildern, Typifizierungen und kollektiven Repräsentationen materieller wie immaterieller Art, von Wahrzei‑ 8 | Ein Interview mit der amtierenden Bürgermeisterin kam nicht zustande, auf meine schriftlichen An‑ fragen erhielt ich keine Antwort. 9 | Mit Annamaria hatte ich bereits 2008 ein Interview geführt, 2012 befragte ich sie noch einmal. 10 | So beschreibt Rolf Lindner in Anlehnung an Robert Ezra Park die Bandbreite an Methoden der stadt‑ anthropologischen Forschung, hier in sogenannten »Mittelstädten« (ebd. 2010: 40 f.); er bezieht sich auch auf die Studie »Middletown« von Robert und Helen Merell Lynd (1956).
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chen, Denkmälern und Straßenschildern bis zu Anekdoten, Liedern und Citylore zum Ausdruck kommt« (ebd. 2008b: 84 f.; Herv. i. O.). Dazu hielt ich mich täglich in der Altstadt11 auf, in der sich bis auf die Friedhöfe alle Einrichtungen und Gebäude der jüdischen Gemeinde befinden. Da ich bei meinen mehrwöchigen Aufenthalten in einem Schülerinnenwohnheim am Rande der Innenstadt wohnte, lernte ich mit der Zeit auch deren Peripherie kennen. Mir war es wichtig, das kulturelle Leben und den städtischen Alltag möglichst umfassend zu erleben, um mir das weitere urbane Umfeld, in das die jüdische Gemeinde eingebettet ist, erschließen zu können. So be‑ suchte ich Veranstaltungen beispielsweise im Roma-Theater »Romathan«12, Museen, Galerien, Konzerte und das Kino, beobachtete aber auch beim abendlichen Ausgehen sowie beim Einkaufen den städtischen Alltag. Nach kurzer Zeit fühlte ich mich in Košice sehr wohl und nutzte so auch jede Gelegenheit, die sich mir bot, um mit Be‑ wohnerInnen verschiedenster Altersgruppen in der Stadt informell über mein Thema zu sprechen. Einerseits, um ihr Wissen über das jüdische Kulturerbe in Vergangen‑ heit und Gegenwart herauszuhören, andererseits, um mir ein Bild vom Interesse an diesem Thema und von seiner Aktualität zu verschaffen. So nahm ich beispielsweise auch an Stadtführungen zum Thema »jüdisches Košice«13 teil, die regelmäßig organi‑ siert werden. Bei dem Interview mit einem der Stadtführer konnte ich Vieles über die Hintergründe der Führungen und deren Beliebtheit beim Publikum erfahren. Den Zugang zur jüdischen Gemeinde bekam ich über ExpertInnen in Bratisla‑ va 14, die mir im Februar 2010 zunächst Kontakte zu den Vorsitzenden der jüdischen Vereine ESTER und The Hidden Child vermittelten. Durch sie bekam ich sowohl die Verbindung zum Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde und zum Rabbiner als auch zu Mitgliedern der Vereine. Von einigen meiner »Schneeball-Kontakte« erhielt ich 11 | Die Altstadt [Staré Mesto] ist das Zentrum von Košice, in dem sich neben zahlreichen Geschäften, Cafés, Bars, Restaurants, Museen und Galerien auch Archive und Bibliotheken befinden. 12 | Über eine Einladung der Projektleiterin für das Kulturhauptstadtprogramm »Košice 2013« gelangte ich zu einer feierlichen Veranstaltung des einzigen Roma-Theaters in der Slowakei. Das Romathan wur‑ de 1992 gegründet und ist somit das älteste und einzige professionelle Roma-Theater des Landes (vgl. Romathan). 13 | Unter dem Namen Potulka [Stadtführung] haben sich zwei Stadtführer und eine Stadtführerin zu‑ sammengeschlossen, die regelmäßige Führungen durch Košices Altstadt sowie auch zu speziellen Themen wie etwa »Könige und Košice«, »Sozialistisches Košice«, »Persönlichkeiten aus Košice«, »Katastrophen in Košice«, »Unterirdisches Košice« und vielem mehr, anbieten. Die Veranstalter arbeiten mit dem städti‑ schen Informationszentrum M.I.C., dem Projekt »Kulturhaupstadt Košice 2013« sowie mit verschiedenen städtischen Institutionen zusammen (vgl. Potulky Košice). 14 | Dazu gehören neben Pavel Frankl, dem Vorsitzenden des Zentralverbands der jüdischen religiösen Gemeinden in der Slowakei [UZŽNO], auch Maroš Borský (vgl. Kapitel 2.1.4), der stellvertretender Vorsit‑ zender der jüdischen Gemeinde in Bratislava ist. Außerdem führte ich Interviews mit MitarbeiterInnen des jüdischen Museums in Bratislava sowie mit dessen Leiter, Pavol Mešťan. Zu den WissenschaftlerInnen, die ich interviewte, gehörte neben Peter Salner auch Ivica Bumová, die sich mit dem jüdischen Leben in den Nachkriegsjahren und dem Sozialismus beschäftigt (vgl. Kapitel 4.1.3 und 4.1.4).
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weitere, manchmal aber war es auch der pure Zufall, der mir InterviewpartnerInnen einbrachte.15 Nach Brigitta Schmidt-Lauber tritt bei solchen Samples ein »spezifisches Netzwerk zutage, das der Reflexion und Interpretation bedarf« (ebd. 2001: 172). In meinem Feld kennt beinahe jeder jeden, was einerseits Gefahren durch die erschwer‑ te Anonymisierung der AkteurInnen barg, andererseits auch förderlich für die Ge‑ winnung neuer InterviewpartnerInnen war. In einer der NGOs in Bratislava habe ich beispielsweise eine junge Mitarbeiterin getroffen, die mir wiederum den Kontakt zur »Generation der Jungen« in Košice, zu meiner Interviewpartnerin Ella und ihrer Freundin Lisa vermittelte. Beide konnte ich schließlich auch gemeinsam mit ihren Müttern interviewen. Wichtig waren aber nicht nur die Interviews, sondern auch die teilnehmenden Beobachtungen sowohl im privaten Bereich als auch innerhalb der jü‑ dischen Gemeinde. Mit Ella und ihrer Mutter Laura hatte ich schnell ein fast freund‑ schaftliches Verhältnis aufgebaut, so dass ich bei ihnen häufig übernachtete und auch die Feiertage Purim, Rosch Haschana und Jom Kippur bei ihnen verbrachte. Da ich sowohl einzeln mit Ella als auch gemeinsam mit ihrer Mutter viel unternahm, erhielt ich vertiefte Einblicke in ihr Leben, ihre Erfahrungswelten und ihren Umgang mit den jüdischen Traditionen. Laut Brigitta Schmidt-Lauber setzt »Feldforschung […] ein anderes und höheres Maß an teilnehmender Beobachtung als die pure Anwe‑ senheit am Gesprächstisch und mehr als das reflexive Gewahrsein unterschiedlicher Rollen im Interview voraus. Zeitlich, physisch und mental intensives Einlassen auf alltägliche Lebenswelten, auf Menschen, Situationen, Kontexte und Prozesse sind nach meinem Begriffs- und Methodenverständnis konstitutive Kennzeichen und besondere Chance des Feldforschungszugangs.« (ebd. 2009: 251 f.).
Diesen Prämissen bin ich in meiner Forschung gefolgt, indem ich allen Hinweisen, Kontakten und Informationsangeboten meines Feldes nachgegangen sowie flexibel und spontan auf diverse Forderungen meines Feldes eingegangen bin. So beispiels‑ weise auch, als mich einer meiner Interviewpartner mehrmals – ohne vorherige Ver‑ einbarung – in der Bibliothek und in meiner Unterkunft aufsuchte, weil er mir Mate‑ rial bringen wollte, das ich seiner Meinung nach unbedingt brauchte. Kennengelernt hatte ich ihn über eine Mitarbeiterin des Schülerinnenwohnheims, die mich zu dem Treffen einer religiösen Vereinigung mitnahm, der er angehört.16 In der Hoffnung 15 | Es war mir wichtig, nicht nur Mitglieder der jüdischen Gemeinde zu befragen, sondern auch diejeni‑ gen, die keine Mitglieder sind. Dies gelang mir zwar, doch zu denjenigen, die überhaupt keinen Kontakt zur jüdischen Gemeinde haben und ihre jüdische Abstammung verschweigen, war eine Kontaktaufnahme unmöglich. Dies liegt auch an der spezifischen Situation des Schweigens in meinem Feld, auf die ab Ka‑ pitel 4.1.3 und vor allem in Kapitel 6 ausführlicher eingegangen wird. Es gibt viele Menschen, die immer noch nichts von ihren jüdischen Wurzeln wissen, wie mir häufig gesagt wurde. Durch Zufall stellte sich beispielsweise bei einem Interview mit einem Experten heraus, dass er jüdische Wurzeln hat, sich damit aber kaum befasst. 16 | Dieser Interviewpartner hat jüdische Wurzeln, glaubt aber an Jesus und ist Mitglied einer christlich ausgerichteten Gruppierung.
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auf ein Interview mit ihm habe ich dort zwei Stunden lang dem für mich befremd‑ lich anmutenden Treiben beigewohnt.17 Dies und die geduldige Beantwortung seiner Fragen schien er von mir zu erwarten, bevor er sich zu einem längeren Gespräch mit mir bereit erklärte. Das jüdische Gemeindeleben und die Aktivitäten der Vereine selbst konnte ich beispielsweise bei einem Treffen des Opferverbands The Hidden Child erleben (vgl. Kapitel 1.3 und 4.2). Da ich einige der Interviews in den Räumlichkeiten der Gemein‑ de führte, bekam ich dabei etwas von den alltäglichen Abläufen dort mit. An den großen Feiertagen im Herbst besuchte ich die Synagoge anlässlich eines Konzerts und zu den Gottesdiensten an Rosch Haschana und Jom Kippur, sowohl alleine als auch gemeinsam mit Ella und Laura. Ich hatte jedoch nicht nur Gelegenheit, innerhalb von Košice an Veranstaltungen die jüdische Kultur und das jüdische Kulturerbe be‑ treffend teilzunehmen. Wie bereits erwähnt, durfte ich den Rabbiner Jossi Steiner zu einem Vortrag begleiten, den er als Zeitzeuge vor den neunten Klassen in einer Schule im ländlichen Umfeld von Košice hielt.18 Zudem lud mich auch der stellvertretende Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Bratislavas, Maroš Borský, ein, bei einem Sym‑ posium anlässlich der feierlichen Ernennung des jüdischen Suburbiums in Bardejov19 auf der Route des jüdischen Kulturerbes20 dabei zu sein. Unter anderem dadurch konnte ich mir einen Eindruck von der Konzeption dieser Veranstaltungen und über die Rezeption solcher Themen innerhalb eines bestimmten Kreises der Öffentlichkeit verschaffen. Neben den ExpertInnen, die mit dem jüdischen Leben und Kulturerbe in Košice in Verbindung stehen, verschaffte ich mir in Interviews beispielsweise auch mit Ivica Bumová vom Institut für Judaistik in Bratislava einen Überblick über die wissenschaftliche Bearbeitung meines Themas. In einem Gespräch mit Tamás Pasz‑ ternak, dem stellvertretenden Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Komarno, der dort eine jüdische Zeitung herausgibt 21, erhielt ich einen Eindruck vom jüdischen Le‑ 17 | Bei diesem Treffen wurde nicht nur gebetet, sondern die Gläubigen sollten ihren Wünschen und Sorgen auch durch Bewegungen und selbst erfundene Sprachen sowie Gesänge und Schreien Ausdruck verleihen, »um von Gott gehört zu werden«. 18 | Diese Vorträge hält er einmal im Jahr, um Kinder und Jugendliche über den Holocaust aufzuklären. 19 | Bardejov liegt circa 80 Kilometer nördlich von Košice nahe der polnischen Grenze. 20 | Das von Maroš Borský initiierte Projekt »Synagoga Slovaca« beruht auf dem Forschungsprojekt über die Synagogen-Architektur in der Slowakei, das von 2001 bis 2006 durchgeführt wurde und in seiner Dissertation verschriftlicht ist (vgl. Borský 2007). Auf der Website sind Informationen zu Synagogen, Ge‑ betshäusern und anderen jüdischen Gebäuden in der Slowakei in den verschiedenen Regionen sowie die jüdische Geschichte einsehbar (vgl. Synagoga Slovaca). Zusätzlich gibt es die Route des jüdischen Kultu‑ rerbes in der Slowakei, die man im Rahmen einer organisierten Tour besuchen kann (vgl. Enjoy Slovakia). Ziel des Projekts ist die Dokumentation und der dauerhafte Erhalt dieser Monumente. Insgesamt sechs Orte, unter anderem die jüdische Gemeindeanlage in Košice, wurden auf der Route des jüdischen Kultu‑ rerbes in Europa aufgenommen (vgl. AEPJ). 21 | Komárno beziehungsweise Komárom liegt genau an der Grenze zwischen Ungarn und der Slowakei und wird durch die Donau auf die beiden Länder »aufgeteilt«. Die jüdische Gemeinde dort ist aktiv, ob‑
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ben dort und in Budapest, wo er in der jüdischen Gemeinde arbeitet. Im Holocaust Memorial Center [Holokauszt Emlékközpont] in Budapest konnte ich mit Pavol Sa‑ lamon sprechen, der dort seit vielen Jahren tätig ist, selbst aber aus Košice stammt. Durch ihn und die Leiterin des Holocaust-Dokumentations-Zentrums in Bratislava [DSH – Dokumentačné Stredisko Holokaustu], die Ethnologin Monika Vrzgulová und die Historikerin Jana Hradská von der Milan-Šimečka-Stiftung [Nadácia Mi‑ lana Šimečku] konnte ich wichtige Stimmen im Diskurs um die Aufarbeitung des Holocaust in Ungarn, der Slowakei und im Grenzraum der beiden Länder einfan‑ gen. Im jüdischen Museum in Bratislava hatte ich Gelegenheit, Interviews mit dem Museumsleiter Pavol Mešťan, der Kuratorin und der Lektorin des Museums unter anderem über deren Arbeit und die Perspektiven der jüdischen Erinnerungskultur in der Slowakei zu führen. So verschaffte ich mir vertiefte Kenntnisse über die Kon‑ stitution der Erinnerungslandschaft in der Slowakei und in Ungarn, den Stand der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Holocaust und des jüdischen Lebens sowie über das öffentliche Interesse an diesem Thema. Neben den narrativ-biografischen Interviews, auf die ich in Kapitel 3.2 näher ein‑ gehe, verfolgte ich so wie in Lučenec auch in Košice alle Spuren jüdischen Lebens, die ich finden konnte. Versuche, Informationen über die jüdische Gemeinde im städti‑ schen Archiv und im Staatsarchiv zu finden, scheiterten zum einen daran, dass ich in Ersterem abgewiesen wurde, und zum anderen an der Tatsache, dass die im Staats‑ archiv vorhandenen Akten nicht relevant für meine Arbeit sind.22 So suchte ich im Archiv der staatlichen Wissenschaftsbibliothek nach relevantem Material aus dem 20. Jahrhundert, insbesondere jedoch nach Medienberichten über die jüdische Ge‑ meinde seit 1989 bis in die Gegenwart.23 Hierbei untersuchte ich insbesondere die Lo‑ kal- und Regionalzeitungen Košický Korzár [Kaschauer Korsar] und Večer [Abend], aber auch andere Formate wie die beiden bereits erwähnten meistrezipierten slowaki‑ schen Tageszeitungen SME [Wir sind] und Pravda [Wahrheit].24 Da die Entstehungshintergründe und -bedingungen der Medieninhalte über Themen die jüdische Gemeinde betreffend wichtig sind (vgl. Köck 2001: 309 ff.), in‑ terviewte ich in Košice den Journalisten, der dort und in der gesamten Region der wohl sie offiziell nur um die 50 Mitglieder hat. Die Zeitschrift »Spravodajca/Hitközségi Híradó« [Der Re‑ porter] berichtet zweisprachig einmal im Monat über alle lokalen und nationalen Ereignisse das jüdische Leben betreffend (vgl. Menház). 22 | Laut der leitenden Archivarin sind im Staatsarchiv vor allem Inventare, Firmenverzeichnisse, Polizei‑ akten, Geburten- und Sterbestatistiken aus der Zeit von 1600 bis 1922 und von 1938 bis 1945 (als Košice zu Ungarn gehörte) hinterlegt. Alle Akten seien älter als 90 Jahre und es gebe überhaupt wenige Unterlagen zu Košice und der jüdischen Gemeinde. 23 | Dabei half mir eine ausführliche Bibliografie der Zeitungsberichte zu entsprechenden Themen, die von der wissenschaftlichen Bibliothek erstellt wurde. 24 | Der »Korzár« ist eine regionale Tageszeitung, die von der Petit Press herausgegeben wird und in diversen Städten und Regionen der Ostslowakei erscheint. Dazu gehört auch die Beilage Večer [Abend], die ab 1968 täglich erschien, seit 2004 jedoch nur noch freitags (vgl. Korzár/Petit Press).
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Ostslowakei hauptsächlich darüber berichtet. Mit ihm konnte ich meine aus der Me‑ dienberichterstattung gewonnen Eindrücke diskutieren und auch über die öffentliche Rezeption der Themen rund um das jüdische Leben in Košice sprechen. Die jüdische Gemeinde ist regelmäßig auch in der Fernsehsendung »Magazin der Nationalen Min‑ derheiten«25 vertreten. Mit der leitenden Redakteurin Ľuba Koľová, die die Sendung konzipiert hat und seit ihrer ersten Ausstrahlung in diesem Format im Jahre 1998 betreut, führte ich ebenfalls ein Interview. Wie in Lučenec auch, suchte ich im Archiv des Amtes für Denkmalschutz in Košice nach Informationen zu den Synagogen und anderen Gebäuden der jüdischen Gemeinde. Zusammen mit den dort geführten ExpertInneninterviews mit den Mit‑ arbeiterInnen, die jeweils verschiedene Gebäude der Gemeinde über Jahre hinweg und während ihrer Restaurierung betreuten, konnte ich die Geschichte der architek‑ tonischen Objekte seit ihrer Erbauung bis zu den gegenwärtigen Diskursen um die zum Teil noch nicht restituierten Gebäude rekonstruieren. In Interviews mit dem gegenwärtigen und dem ehemaligen Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde fing ich deren Positionen unter anderem auch zu dieser Problematik ein. Hierzu und zu der Präsenz des jüdischen materiellen und immateriellen Kulturerbes in Gegenwart und Vergangenheit befragte ich auch den ehemaligen und den amtierenden Bürgermeister per E‑Mail.26 Des Weiteren führte ich auch Interviews mit einer Mitarbeiterin des Kulturreferats, dem gegenwärtigen und dem ehemaligen Vorstand der Kirchenkom‑ mission, dem ehemaligen Vorsitzenden des ökumenischen Kirchenkreises sowie den Vertretern der jüdischen Gemeinde im Club der Nationalen Minderheiten. Neben den Archivrecherchen suchte ich auch im Internet nach der Repräsentation der jüdi‑ schen Gemeinde. Neben der Website der jüdischen Gemeinde, die es zum Teil auch in einer englischen Version gibt, untersuchte ich auch diverse städtische Internetseiten daraufhin, was und zu welcher Gelegenheit sie über die jüdische Geschichte und Kul‑ tur berichten. Im virtuellen Raum des Internets informierte ich mich auch über die 25 | Das Magazin der nationalen Minderheiten [Národnostný magazín] wird vom Sender STV2 (Zweites Slowakisches Fernsehen) des RTVS (Rozhlas a televízia Slovenska [Slowakischer Rundfunk und Fernse‑ hen]) immer montags und dienstags, ein- bis viermal monatlich ausgestrahlt. Die einzelnen Sendungen beschäftigen sich – stets in der jeweiligen Landessprache – jeweils mit einer der in der Slowakei leben‑ den Minderheiten und sie betreffenden aktuellen Themen und Ereignissen oder es wird ein sogenannter »Mix« gesendet. Die Häufigkeit, in der die jeweiligen Minderheiten mit einer der 26-minütigen Sendun‑ gen bedacht werden, entspricht auch ihrer zahlenmäßigen Größe in der Slowakei. Neben dem »Magazin« werden seit 2009 auch einmal wöchentlich Kurznachrichten über die Ereignisse der Woche die Minder‑ heiten betreffend, gesendet. Die fremdsprachigen Sendungen werden stets mit slowakischem Untertitel versehen, so die Redakteurin im Interview (vgl. Minderheitenmagazin). 26 | Aufgrund der Schwierigkeit, einen verfügbaren Termin zu finden, nahm ich das Angebot an, meine Fragen an die Bürgermeister František Knapík (2006–2010) und Richard Raši (seit Ende 2010) per E‑Mail zu stellen und auch beantworten zu lassen. Mir ist bewusst, dass bei dieser Form der Kommunikation die Antworten länger überdacht und möglicherweise auch nicht direkt von der gewünschten Person formu‑ liert werden können.
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in Interviews angesprochenen nationalen und transnationalen Netzwerke von Stif‑ tungen, die mit der jüdischen Gemeinde beziehungsweise den Vereinen in Košice in Verbindung stehen. Dazu gehören beispielsweise die Ronald S. Lauder Foundation, das American Jewish Joint Distribution Committee [Joint] und Edah.27 So habe ich mir nicht nur das jüdische Leben vor Ort erschlossen, sondern darü‑ ber hinaus auch durch Stimmen von ExpertInnen aus Wissenschaft und kulturellen Einrichtungen meine Kenntnisse ergänzt. Nach den mehrwöchigen Forschungsaufenthalten hatte ich eine nicht unerheb‑ liche Fülle an Material, die es zu bewältigen galt. Trotzdem war es für mich nicht einfach, mit der Forschung aufzuhören, schon alleine deswegen, weil ich auch nach meinem letzten Feldaufenthalt noch Kontakt zu einzelnen InterviewpartnerInnen hatte und weiterhin Informationen von ihnen erhielt. Doch laut Clifford Geertz ist »[d]ie Untersuchung von Kultur […] ihrem Wesen nach unvollständig. Und mehr noch, je tiefer sie geht, desto unvollständiger wird sie« (ebd. 1983: 41). Diesen Worten folgend erachte ich mein Material als gesättigt, denn es reicht aus, um die an mein Feld gestellten Fragen zu beantworten.
3.2 I nterviews »Warum gibt es Gespräche, die so langweilig sind, daß man noch in Erinnerung daran gähnen könnte, oder andere, wo man noch einmal hinmöchte und dem Partner als Endergebnis eine herunterhauen, oder wieder andere, wo man am liebsten sitzen bleiben würde und sich wünscht, daß ein Gegenüber alles, was es weiß, erzählt, weil man spürt, daß es von der Weisheit schon Zipfel ergriffen hat, die man selber erst vom Hörensagen kennt?« (Jeggle 1982: 187)
Die narrativ-biografischen Interviews mit Menschen jüdischer Abstammung bilden das Kernstück meines empirischen Materials. Daher leite ich hier mit einem Einblick in eine besondere Interviewsituation meine Erfahrungen mit dieser für meine Arbeit zentralen Erhebungsmethode ein.
27 | Die Ronald S. Lauder Foundation ist eine NGO, die sich seit 1989 für den Wiederaufbau, den Erhalt und die Stärkung der jüdischen Identität und jüdischer Gemeinden in 13 postsozialistischen Ländern durch die Förderung in eigenen Bildungseinrichtungen, Sommercamps und Kindergärten einsetzt (vgl. Ronald S. Lauder Foundation). Das American Jewish Joint Distribution Committee [Joint] macht sich seit 1914 als humanitäre Organisation zur Aufgabe, weltweit bedürftigen Juden und jüdischen Gemeinden zu helfen (vgl. Joint). EDAH ist eine in Zusammenarbeit mit dem jüdischen Museum Bratislava entstandene slowa‑ kische Bürgerinitiative, die sich der Forschung und Aufklärung über den Holocaust – insbesondere auch durch verfilmte Zeitzeugengespräche – widmet (vgl. Edah).
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3.2.1 Emma und die Ängste der Beforschten im Feld Emma lernte ich bei einem Konzert in der Synagoge kennen. Eine andere Interview‑ partnerin hatte sie mir als »Expertin für jüdische Kultur« vorgestellt. Sie schrieb mir gleich ihre Telefonnummer auf und bat mich, sie am nächsten Tag anzurufen, um einen Interviewtermin mit ihr zu vereinbaren. Als ich mich bei Emma meldete und ihr mein Forschungsvorhaben genauer schilderte, meinte sie, sie könne mir dabei nicht helfen. Ich war überrascht, doch ahnte ich gleich, dass sie dem Interview gegen‑ über doch nicht so offen war wie es zunächst in der Synagoge geklungen hatte. Ihr ge‑ naues Alter kannte ich nicht, doch wusste ich, dass sie der Generation der Älteren an‑ gehörte. Daraus folgerte ich, dass sie möglicherweise auch traumatische Erfahrungen während des Holocaust gemacht haben könnte. Ich beschloss, so sensibel wie möglich zu sein und keinesfalls ein Interview zu erzwingen. Nach einem längeren Telefonat, in dem Emma mit mir über alles Mögliche, allen voran aber über den laut ihr in der Slo‑ wakei omnipräsenten Rassismus gegenüber den Roma sprach, den sie als sehr negativ wahrnehme, stimmte sie einem Treffen doch zu. Wir verabredeten uns am nächsten Tag in der jüdischen Gemeinde. Meine Vorahnung, dass dieses Gespräch schwieriger als die bisher geführten Interviews werden könnte, verdrängte ich mit der Freude darüber, nun eine weitere Interviewpartnerin gewonnen zu haben. Am nächsten Tag saßen Emma und ich uns in einem der Büros der jüdischen Gemeinde gegenüber. Emma war sichtlich angespannt, ihr Gesichtsausdruck sorgen‑ voll und ihre Augen verrieten, dass sie nervös war. Sie musterte mich eindringlich, als ich ihr noch einmal vorsichtig erklärte, dass mich vor allem das gegenwärtige jü‑ dische Leben in Košice interessiere. Sie unterbrach mich und sagte, sie könne mir dazu nichts sagen. Ich war irritiert, schließlich saßen wir doch in einem der Büros der jüdischen Gemeinde, in der sie offensichtlich ein und aus ging. Darauf sprach ich sie an, um einen Einstieg in das Gespräch und Zugang zu ihr zu bekommen. Sie bejahte, dass sie Mitglied der jüdischen Gemeinde sei. Doch gebe es ihrer Meinung nach kein jüdisches Leben mehr in Košice. Aus dieser Antwort glaubte ich ihre Bereitschaft für den Gesprächsbeginn herauszuhören und frage sie, ob ich das Interview mit meinem Diktiergerät aufnehmen dürfe. Emma reagierte entsetzt: Nein, das dürfe ich nicht! Sie erklärte mir sichtlich aufgebracht, dass sie bisher ein einziges Mal interviewt worden sei und das Gespräch damals mitgeschnitten wurde. »Das war grauenvoll«, sagte sie mit Tränen in den Augen. Seitdem könne sie nicht mehr sprechen, wenn ein Aufnah‑ megerät im Raum ist. Wie sich herausstellte, evozieren Kameras und Aufnahmegeräte bei ihr ähnliche Gefühle wie bei dem Interview, in dem sie auch über ihre Erlebnisse während des Holocaust gesprochen hatte. Diese traumatischen Erinnerungen hatten sich in ihrem Gedächtnis mit der als negativ empfundenen Interviewsituation und den Aufnahmegeräten verbunden. Auch als ich ihr anbot, sich einen Namen auszu‑ suchen, den ich ihr in meiner Arbeit geben könnte, um sie zu anonymisieren, sagte sie zuerst, ich solle nur schreiben »eine Frau, die in dem und dem Jahr geboren ist«,
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dann aber nur noch »eine Frau«.28 Ich dürfe überhaupt nichts Persönliches in meiner Arbeit schreiben, nichts, wodurch sie identifiziert werden könnte. Wieder sprach die Angst aus ihr. Als Emma mir schließlich auch untersagte, während des Interviews in meinem Forschungstagebuch Stichpunkte mitzuschreiben, gab ich die Hoffnung auf ein »klassisches« Interview auf. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon einige Interviewerfahrungen in diesem schwierigen und emotionalen Feld gesammelt, er‑ giebige und weniger ergiebige Interviews geführt und die »Angst der Forscherin vor dem Feld« (vgl. Lindner 1981) selbst deutlich zu spüren bekommen. Doch noch nie ist mir die Angst einer Beforschten vor mir, meinem Aufnahmegerät und meinen Fragen so extrem wie in diesem Moment offenbart worden. So verstummte ich für die nächs‑ ten anderthalb Stunden und hörte einfach nur zu, versuchte mir so viel wie möglich einzuprägen und Emma gleichzeitig meine Aufmerksamkeit zu signalisieren. Emma schlug mir im Gegenzug vor, dass ich mir alles nach unserem Interview zusammen‑ schreiben solle und bei einem zweiten Gespräch mit ihr alle offenen Fragen klären könne. Hier zeigte sich, dass sie, obwohl sie diesem Interview zunächst nur sehr zag‑ haft und widerwillig zugestimmt hatte, nun von sich aus Interesse an einem weiteren Termin und auch an ihrem Beitrag zu meinem Projekt hatte. Nach der Klärung dieser ersten »Formalia« sprach Emma ohne Unterlass und erläuterte mir, wie sie sagte, »ihre Sicht der Dinge und ihre Meinung«. Es bedurfte keinerlei erzählgenerierender Impulse meinerseits, ich kam ohnehin nicht zu Wort. Dass ihre anfängliche Anspannung allmählich abfiel und sie auch mir gegenüber offener wurde, zeigte sich unter anderem darin, dass sie mich im Laufe des Gesprächs zu duzen begann, zunehmend meine Reaktionen auf das von ihr Gesagte abwartete und als wir uns verabschiedeten, mir Küsschen rechts und links gab. Das ist zwar unter Verwandten und Freunden in der Slowakei so üblich, aber nicht unter Frem‑ den bei ihrer ersten Begegnung. Also hatten Emma und ich die anfängliche Distanz zwischen uns überwunden, ohne dass ich viel sagen musste. Das gab mir auch das Gefühl, dass ihr das Gespräch nicht geschadet, sondern ihr vielleicht auch eine Art von Erleichterung verschafft hatte, weil sie sich in diesem Moment etwas von der Seele reden konnte. Während unseres darauffolgenden Treffens sagte sie mir auch, dass ich die erste Fremde gewesen sei, mit der sie so offen über diese Dinge gesprochen habe. Laut der Kulturwissenschaftlerin Jutta Dornheim ist »[…] zu beachten, daß Interviews, auch wenn sie per se keine therapeutischen Situationen sind, doch eine therapeutische Funktion gewinnen können. […] Insoweit aber jedes Interview, das biographische Ereignisse berührt, stets auch ein Stück Selbstkonfrontation und -verständigung darstellt, ist bei diesem Befragungstypus im Prinzip immer mit der genannten Funktion zu rechnen.« (ebd. 1984: 151)
Einerseits fühlte ich mich über alle Maßen geehrt, andererseits spürte ich eine beson‑ ders große Verantwortung, die mir hier als Forscherin und »Verwalterin« der anver‑ 28 | Den Namen Emma habe ich schließlich doch für sie ausgesucht, aber alle Aussagen in dieser Arbeit, die sie näher identifizieren könnten, weggelassen.
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trauten Informationen auferlegt wurde. Wie ich mit der Verantwortung und weiteren Hürden und Irritationen in diesem emotionalen Feld umgehen und sie verstehen so‑ wie produktiv für meine Arbeit nutzen konnte, soll in den nachfolgenden Punkten beschrieben werden. »Zusammenfassend läßt sich sagen: Offene Interviews, und vor allem solche über besonders heikle Pro‑ bleme, erfordern von den Interviewenden ein ausbalancierendes Eingehen auf die Bedürfnisse und Mög‑ lichkeiten der Befragten, der eigenen Person und auf die Erfordernisse des Forschungsziels. Die Fähigkeit, allen drei Potentialen gerecht zu werden, kann nur das Ergebnis langer Erfahrung und der Bereitschaft sein, sich auch auf die Besonderheiten und Grenzen der eigenen Person einzulassen – aber auch dann ist die Gewähr des Glückens im einzelnen Fall nicht zwangsläufig gegeben.« (Dornheim 1984: 151 f.)
3.2.2 Interviews – Oral Emotional History Die Situation mit Emma war nicht die einzige schwierige, die ich im Zuge meiner For‑ schung bewältigen musste, und sie war auch nicht die erste. Bereits bei meiner ersten Felderfahrung in Lučenec wurde ich auf vielfältige Weise mit den Emotionen meiner jüdischen InterviewpartnerInnen konfrontiert und musste mit ihnen umgehen. So hatte ich zunächst das Gefühl, meine InterviewpartnerInnen von mir überzeugen zu müssen, um ihr Vertrauen für ein Interview zu gewinnen. Dies gelang mir unter an‑ derem durch meine familiären Verbindungen in Lučenec, denn die meisten meiner GesprächspartnerInnen kannten zumindest einen Teil meiner Verwandtschaft. Den Kontakt zu Annamaria bekam ich beispielsweise durch die Mutter meiner Freundin Alex in Lučenec. Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte, war, dass Annamaria darauf bestand, dass mich meine Freundin und ihre Mutter zum Interview beglei‑ ten sollten. Die beiden Frauen kannten sich schon seit ihrer Jugend, doch wusste ich nicht, inwiefern Annamarias jüdische Abstammung bereits Gesprächsthema zwi‑ schen ihnen gewesen war und ob es nicht schwierig für sie werden würde, sich in ihrer Gegenwart dazu zu äußern. Das Gegenteil war der Fall. Das Interview mutete zwar wie ein Kaffeekränzchen an, doch gerade die Anwesenheit meiner Freundin und ihrer Mutter stellten die Gesprächsatmosphäre her, die Annamaria brauchte, um sich mir und meinen Fragen gegenüber zu öffnen. Es ergaben sich sogar einige lebendige Diskussionen zwischen uns allen, die ich produktiv verwerten konnte. Daher ist es für die Analyse umso wichtiger, den Kontext der Erhebungssituation einzubeziehen und auch vermeintlichen Irritationen und Störfaktoren gegenüber offen zu begegnen (vgl. Schmidt-Lauber 2007: 233). Mit den in Lučenec meist positiv verlaufenen Felderfahrungen fühlte ich mich auch für Košice gut gewappnet. Lediglich meine Sorge, durch die Interviews bei den Menschen negative Emotionen durch schmerzhafte Erinnerungen wachzurufen, begleitete mich weiterhin. In Košice stellte ich allerdings schnell signifikante Unter‑ schiede zu den Gesprächen fest, die ich in meiner Heimatstadt geführt hatte. Die Vorsitzenden der einzelnen jüdischen Vereine in Košice beispielsweise spra‑ chen vor allem aus ihrer Funktion heraus mit mir. So oszillierte der Charakter einiger
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der Interviews permanent zwischen dem eines narrativ-biografischen und dem eines ExpertInneninterviews (vgl. u. a. Spuhler 2010: 17). Nach und nach wurde deutlich, dass einige der AkteurInnen in Košice bereits In‑ terviewerfahrungen gesammelt hatten. Dies lässt sich zum einen auf ihre Positionen innerhalb der jüdischen Gemeinde zurückführen, in denen sie bereits als Vorsitzende von Vereinen befragt wurden. Zum anderen spielt auch ihre individuelle Biografie eine Rolle, da sie den Holocaust überlebt hatten und als ZeitzeugInnen für Oral-His‑ tory-Projekte interviewt wurden. Besonders deutlich wurde dies in der Art und Wei‑ se, wie sie mir von ihren Vereinen, deren Aufgaben und Statuten erzählten. Erst als es um ihre persönliche Biografie ging, kam es manchmal zu emotionaleren Aussagen. Dennoch zeigte sich in der Weise, wie sie ihr Leben und einzelne Ereignisse daraus zusammenfassten, dass sie es bereits häufiger formuliert hatten. Ulrike Jureit stellte ebenfalls fest, dass man bei Zeitzeugengesprächen »nicht dem ersten Entwurf einer erzählten Lebensgeschichte« begegne. »Die aktuelle Version im Interview stützt sich also immer auf zeitlich zurückliegende Vorformen, orientiert sich daher auch an be‑ reits erfahrenen Reaktionen auf die Art der Darbietung bestimmter Episoden« (ebd. 1999: 88). Die Art der »Interviewerprobten«, von der Zeit der Verfolgung, ihren Er‑ fahrungen im Konzentrationslager oder den Verlusten in ihren Familien zu sprechen, unterschied sich stark von den emotionaleren Ausführungen derjenigen, die bislang nur wenige oder gar keine Interviews gegeben hatten, wie das Beispiel von Emma oder die meisten meiner Interviews in Lučenec zeigen. »Im biografischen Interview stehen die erzählende Person, ihr Leben und ihre Erfahrungen im Zentrum. Dieses Interview ist ein autobiografischer Bericht, in dem die Zeitzeugin oder der Zeitzeuge ihr bzw. sein Leben erzählt und damit in gewisser Weise Rechenschaft oder Zeugnis ablegt« (Spuhler 2010: 16, Abk. i. O.). Beim biografischen Interview, so Spuhler wei‑ terhin, gelte das Erkenntnisinteresse weniger den historischen Fakten als vielmehr erfahrungsgeschichtlichen und sozialpsychologischen Fragen: »Untersucht werden kann hier, wie ein Mensch sein Leben gemeistert hat in einer stetigen Konfrontation zwischen objektiven und ihn prägenden historischen Tatsachen und den Handlungsspielräumen und Deu‑ tungsmöglichkeiten, die dem Individuum aus sich selbst und als Teil eines gesellschaftlichen Kollektivs zukommen. Zur Diskussion steht die Sinn- und Identitätskonstruktion, also die Verknüpfung einzelner Episoden zu einer Lebensgeschichte.« (Ebd.)
Der Historiker Heiko Haumann beschreibt vertiefend dazu folgende wichtige Ele‑ mente des biografischen Interviews sehr treffend: »Die Wechselbeziehungen zwischen der persönlichen Erfahrungswelt und den gesellschaftlichen Be‑ dingungen werden sichtbar. Gerade an den Wende- und Schlüsselpunkten der Lebensgeschichte lohnt es sich, sehr detailliert zu analysieren, um die verschiedenen Schichten der Erinnerung freizulegen, die Kommunikationsvorgänge zu erhellen, die Formen kollektiver Erinnerung nachzuzeichnen und in einen Dialog mit dem Akteur zu treten. Ähnlich wichtige Ansatzpunkte für diesen Dialog sind ›Fenster zur Erin‑ nerung‹, die in den Selbstzeugnissen deutlich werden, Widersprüche und ›Stolpersteine‹ in der Erzählung,
Methoden, Quellen und Emotionen | 77 Nicht-Erzähltes, Tabus, Abwehr von Einsichten, besondere Ereignisse, die aus dem Gewohnten herausfal‑ len.« (ebd. 2012: 90)
Ich ließ meinen InterviewpartnerInnen für eine gute Gesprächsbasis bewusst Zeit, sich auf mich einzustellen, und war auch bereit, ihnen viel von mir zu erzählen, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Manchmal lag ein stärkeres Gewicht auf meiner wissen‑ schaftlichen Arbeit, manchmal auf meinem Privatleben. Um mit dieser oft von mir geforderten Offenheit umgehen zu können, übte ich mich im Feld in einer situativ flexiblen Mischung aus Nähe und Distanz. Diese war auch aufgrund der im Gespräch aufkommenden Emotionen nötig. Der Kulturwissenschaftler Wolfgang Alber spricht im Zusammenhang mit Interviewphasen von einem »seelischen Kulissenwechsel« (vgl. ebd. 1984: 121). Er schreibt über seine Forschungserfahrungen mit Onkologie-Pa‑ tientInnen, dass er die Verhaltensanforderungen seiner GesprächspartnerInnen an ihn als befreiend empfand und damit zufrieden war, »in einer Situation situativ zu reagieren, nachzufragen, wo es eine wissenschaftliche Gesprächsführung eigentlich verbot, Suggestivfragen zu stellen oder auch einmal falsch zu agieren« (ebd.: 120). So musste ich situativ flexibel auf mein Gegenüber reagieren und beschloss, möglichst ehrlich zu antworten und auch Gefühle meinerseits zuzulassen. Das Prinzip der Of‑ fenheit gegenüber direkten Fragen erleichterte mir viele schwierige Situationen im Feld, denn »[d]ie Gesprächspartner merken nicht nur mehr, als man denkt und vielleicht möchte, ihre Aussagen wer‑ den auch von diesen Erwartungen beeinflußt. Das beeinträchtigt Forschungsergebnisse nur dann, wenn man naiv glaubt, sie würden durch gegenseitige Emotionen nicht beeinflußt. […] Wenn das Wissen um die Übertragung von Gefühlen einschätzbar ist, dann sind diese Vorgänge keine Störfaktoren mehr, son‑ dern wichtige Mittel für den Prozeß des Erkennens.« (Jeggle 1984: 101)
Mir war es wichtig zu erfahren, wie die AkteurInnen ihre Biografie im Hinblick auf ihre jüdischen Wurzeln rekonstruieren, welche Ereignisse sie dabei als wichtig oder identitätsstiftend markieren. Heiko Haumann empfiehlt bei der Analyse solcher In‑ terviews, »die Gesprächseinheiten zu thematischen Blöcken zusammenzufassen« (ebd. 2012: 102). Des Weiteren ist »[i]nnerhalb der Gesprächseinheiten oder dieser Blöcke […] dann danach zu fragen, ob etwas Erlebtes geschildert wird, ob die damaligen Vorgänge derart beschrieben werden, dass spätere Einflüsse spür‑ bar sind, oder ob argumentiert wird, um irgendetwas zu begründen, dem Geschehen also einen Sinn zu geben. Festzuhalten sind dabei weiterhin emotionale Erschütterungen und Einschnitte, die als Wen‑ depunkte zu verstehen sind. Insgesamt sollte darauf geachtet werden, welche Bedeutung die jeweilige Gesprächseinheit für den Lebenslauf oder für die Selbstdarstellung hat. Im Einzelfall sind diese Ebenen oft schwer zu trennen. Vielfach hilft ein Rückbezug, auf die gegenwärtige Situation der interviewten Person, um sich ihre Perspektive bewusst zu machen.« (ebd.: 102 f.)
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Für mein Projekt war es wichtig, den Kontext der Interviews und somit die Quellen‑ generierung, deren fester Bestandteil ich war, festzuhalten, denn »[d]er Interviewer produziert den Text gemeinsam mit den Interviewten; ihm muß mindestens die Pro‑ blematik und partielle Lösungsbedürftigkeit aufgewühlter und aufwühlender Inhalte bewußt sein« (Alber 1984: 124 f.). Die Gefühle, die die Erzählungen begleiteten, zeigten sich nicht nur im Gesagten, sondern auch in para- und nonverbalen Artikulationen, Mimik, Gestik, durch Trä‑ nen und in der Stimme29 meiner InterviewpartnerInnen, die manchmal auch ganz versagte. Bei der Analyse der geführten Interviews stehen einerseits auch Fragen nach der Offenheit und der Situation, andererseits nach der Lautstärke sowie der Klangfar‑ be der Stimme und auch nach den nonverbalen Äußerungen im Vordergrund. Denn oftmals waren es gerade die Momente des Schweigens, die mehr aussagten als das Gesprochene. »Zuweilen ist gerade das Ungesagte aufschlussreich. Schließlich bieten Interviews im Vergleich zu ande‑ ren Selbstzeugnissen den Vorteil, metasprachliche Äußerungen wie Mimik, Gestik und Intonation in die Interpretation der Texte mit einzubeziehen. Sie verweisen auf Gefühle, die mit Erinnerungen verbunden sind, die wiederum für die ›Frische‹ einer Erzählung oder deren Abgeschliffenheit sprechen.« (Obertreis/ Stephan 2009: 33)
Letztlich sind hier auch die Grenzen des narrativen Interviews als Methode, wie sie Brigitta Schmidt-Lauber sieht, zu beachten, »[d]enn offensichtlich formen sich nicht alle Erfahrungsdimensionen in Geschichten und werden in diesen erkennbar. Das Augenmerk innerhalb dialogischer Verfahren allein auf Erzählungen zu richten und nur solche Forschungsgespräche als ›gelungene Interviews‹ anzuerkennen, die Erzählungen zum Vorschein bringen, wie dies beim narrativen Interview als nach wie vor favorisiertem Zugang zu subjektiven Er‑ fahrungswelten und Deutungshorizonten der Fall ist, bedeutet also eine erhebliche Verkürzung.« (Ebd. 2005: 154)
Für die Interpretation meines Materials gilt es auch zu bedenken, dass die Inhalte der Interviews immer situative Reaktionen der Sprechenden sind, in denen sie ihr Leben und die jeweiligen Ereignisse sinnvoll für sich rekonstruieren (vgl. Kaschuba 2006: 210). Albrecht Lehmann betont hier die Bedeutung des Erinnerns und Vergessens:
29 | Regina Bendix zufolge kommt der Stimme eine Schlüsselposition in der Erzählforschung zu: »Der vielfältige Umgang mit dem physiologischen Apparat von Stimmbändern, Kehlkopf und Mundhöhle spielt zweifelsohne eine erhebliche Rolle sowohl in der Performanz wie auch in der Rezeption von Erzähltem: Inhalt und Stimme fusionieren in der Performanz zu einem Ganzen. Wir wissen, dass ein Inhalt je nach Erzählstimme anders aufgenommen und erinnert werden kann, aber thematisiert worden ist die Stimme in der Erzählforschung kaum« (ebd. 2005: 73).
Methoden, Quellen und Emotionen | 79 »Neben der Kulturbedeutung des Gedächtnisses müssen die subjektiven Voraussetzungen des Erinne‑ rungsvorgangs und die Zuverlässigkeit des Gedächtnisses für die Narratologie erörtert werden. Zur Dy‑ namik des Erzählens in konkreten Situationen und zur Fixierung einer Geschichte in der Erinnerung ge‑ hört – wie die heutige Erzählforschung gelegentlich festhält – stets ein individueller Selektionsprozess. Dieser beginnt mit der Wahrnehmung und verschafft sich später in Erinnerung und Erzählung Gehör. Jede Erzählung basiert auf den Leistungen eines Gedächtnisses. Alles was wir erzählen, unterbricht den endlosen Prozess des Vergessens.« (Ebd. 2007: 51)
Zu bedenken sind nicht nur die Dynamiken des Gedächtnisses der Erzählenden, denn so unterschiedlich meine InterviewpartnerInnen und ihre Erfahrungswelten sind, so verschieden waren auch die Gesprächssituationen mit ihnen, die auch ein situativ ent‑ sprechendes Agieren meinerseits erforderten. Denn Emma war eine Ausnahme, was die von mir geforderte Zurückhaltung bei den Interviews betrifft. »Die im narrativen Interview angelegte weitgehende Zurückhaltung der Interviewenden erweist sich als ungeeignet; gefordert sind vielmehr ein Methodenplural und für die Interviewfüh‑ rung eine stärkere Lenkung sowie das wiederholte Einflechten von Erzählimpulsen« (Schmidt-Lauber 2005: 154). Nicht selten ergaben sich angeregte Dialoge, vom Thema weit abschweifende Exkurse, lange Pausen, in denen beispielsweise gemeinsam ge‑ gessen wurde und vielerlei Ablenkungen. Um aus dem vielschichtigen Material die für meine Arbeit zentralen Aussagen herauszufiltern, hat auch die aufwendige Tran‑ skription 30 in Kombination mit meinen Feldnotizen und -tagebucheinträgen sowie das mehrmalige Anhören bestimmter Interviewpassagen geholfen. Dabei verstand ich jedes Anhören und Transkribieren ebenfalls als Interpretationsschritte meines Materials, wie auch das selektive und ebenso einem interpretativen Filter unterlie‑ gende Festhalten von Notizen in mein Feldtagebuch während der Forschung (vgl. Schmidt-Lauber 2005: 156). Daher gehört zur Analyse der geführten Interviews immer auch eine Quellen‑ kritik auf mehreren Ebenen, die nicht nur den Kontext der Gesprächssituation und ihrer Entstehungsbedingungen, sondern auch die Aussagen der InterviewpartnerIn‑ nen vor einer gesamtgesellschaftlichen und historischen Folie beleuchtet. Dorothee Wierling beschreibt für die Methode der Oral History, was auch für meine Interviews zutrifft, dass nämlich »Oral History um so fruchtbarer zu sein verspricht, je privater und persönlicher die Sphäre ist, die his‑ torisch erforscht werden soll. Das heißt aber auch, daß Oral History zu solchen Bereichen den vielver‑ sprechendsten Zugang verschafft, wo die geringsten Möglichkeiten der Kontrolle durch andere Quellen bestehen und wo die Erzählung am stärksten die Intimsphäre der Menschen betrifft: Folglich gibt es hier am meisten zu verbergen, zu rechtfertigen, zu beschönigen.« (Ebd. 2003: 106, Herv. i. O.).
30 | Gregor Spuhlers Empfehlung, bei Interesse für biografische Sinnkonstruktionen möglichst genau und vollständig zu transkribieren, bin ich bei meinen Interviews gefolgt (vgl. ebd. 2010: 24).
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Es geht jedoch nicht darum, den Wahrheitsgehalt und die Richtigkeit des Gesagten herauszustellen, sondern im Falle von Ungenauigkeiten deren Bedeutungen für die »AutorInnen« der jeweiligen Lebensgeschichten festzustellen. So folge ich dabei Gre‑ gor Spuhler: »Ob die mündlichen Berichte auf ihren historischen Wahrheitsgehalt überprüft werden müssen, hängt weitgehend von der Fragestellung ab. Deutungen und Meinungen des Interviewten können ohnehin nicht überprüft werden und sind insofern immer wahr« (ebd. 2010: 20). Während der Feldforschungsphase und darüber hinaus ergaben sich für mich und meine InterviewpartnerInnen zum Teil besonders emotionale Situationen. Dies geschah nicht nur während der Interviews, die ich sowohl in öffentlichen Räumen wie belebten Cafés als auch in der jüdischen Gemeinde, aber auch im privaten Umfeld der InterviewpartnerInnen geführt habe. In Punkt 1.3 wurden einige dieser Momente be‑ reits geschildert. Da die Emotionen sowohl aus den zum Teil traumatischen Themen und den Schicksalen meiner InterviewpartnerInnen, als auch aus der Nähe zu ihnen entstanden sind, zeige ich nachfolgend deren Konsequenzen für meinen Arbeitspro‑ zess auf.
3.3 R eflexion über E motionen , K onflikte beim F orschen und S chreiben 3.3.1 » Du schreibst das doch für die Deutschen, oder?« – Gratwanderungen zwischen Nähe und Distanz im emotionalen Minenfeld »Die Geschichte zerreißt einen Vorhang, das Geschehen enthüllt ein Grauen, das einen als Zuhörer gleich‑ falls erstarren läßt. Die Geschichte ist so geformt, daß sie dieses Moment der Versteinerung in sich trägt, in einer geheimen Schrift, die jeder, der vergleichbare Gefühle hat, zu verstehen imstande ist.« (Jeggle 2008: 180)
Als die damals 23‑jährige Ella, zu der ich seit Beginn meiner Forschung in Košice eine enge Beziehung aufgebaut hatte, abends bei einem Bier fragend feststellte, dass ich meine Dissertation »für die Deutschen« schreiben würde, erstarrte ich tatsächlich. So war es mir zuvor bereits häufiger ergangen, denn meine Forschung über jüdisches Leben brachte es mit sich, dass Holocaust und Sozialismus mir auf Schritt und Tritt durch das Feld folgten und sich auch zu Hause nicht so leicht abschütteln ließen. Hin‑ ter Ellas Frage steckte weit mehr, als ich es im ersten Moment erahnen konnte. Dabei lässt sich das, was Claude Lévi-Strauss über die psychischen Folgen der Feldforschung schreibt, nahezu gänzlich auf meinen Gemütszustand während und auch einige Zeit nach meiner Forschung in diesem traumatisierten und traumati‑ schen Feld übertragen: »Die extreme Situation für sich völlig allein unter anderen zu sein, hat für viele sensible Ethnologen zu‑ nächst schwerwiegende Folgen gehabt, tiefe Depressionen, unkontrollierte Gefräßigkeit, den unbarm‑
Methoden, Quellen und Emotionen | 81 herzigen Wunsch seine Ruhe zu haben – aber diese Stadien emotionaler Orientierungslosigkeit bedeuten Umorientierung, mit dem Verlust der mitgebrachten Identität geht die Gewinnung einer neuen einher.« (Lévi-Strauss 1979: 48 zit. n. Jeggle 1984: 111)
Bei der Forschung in Lučenec im Jahr 2008 hatte ich bereits schwierige Momente erlebt, die mit der hohen Emotionalität meines Themas verbunden waren. Dort ge‑ hörten fast alle meine InterviewpartnerInnen der Nachkriegsgeneration an, nur die Großmutter meiner Tante hatte als Jugendliche den Holocaust versteckt miterlebt. Ein Interviewpartner, dem die Mutter im Kindesalter detailliert von ihren Erfahrun‑ gen in Auschwitz erzählt hatte, berichtete mir unter Tränen davon: »Es ist so, sie haben meine ganze Familie ermordet. Meine Mutter war in Auschwitz, im Konzentrationsla‑ ger, dort, ja? Und bestimmt … vielleicht kennen Sie den Namen Dr. Mengele, ja? Das war ein berühmter, sagen wir ein Mörder, ein Arzt. Das war ein sehr guter Arzt. Und die haben tatsächlich an Juden das er‑ forscht, was sie jetzt zwanzig Jahre forschen, also er hat einen gepackt, ihm eine Spritze Benzin ins Herz gegeben, zum Beispiel. Und so hat er gemordet. Und das hat mir meine Mutter erzählt, wie sie in diesem Auschwitz waren, in dem Transport und wie durch Zufall … das war eine wunderschöne junge Frau, ja? Und sie fiel Mengele auf und er kam, hat sie aus der Reihe rausgenommen, sie an der Hand gepackt und sie aus der Reihe rausgezogen. Und ihr wirklich das Leben gerettet. Weil die anderen Leute dann ins Gas gegangen sind. Diese Leute hat sie dann nicht mehr gesehen.«
Die Vorstellung darüber, was die Mutter meines Interviewpartners in Auschwitz durchgemacht haben musste, war auch für mich schwer auszuhalten. Noch schwerer war es, das damit verbundene Leid meines Gegenübers zu erfahren. In solchen Mo‑ menten verbanden sich Emotionen auf vielen Ebenen, denn nicht nur die Grauen des Holocaust, sondern auch die Art und Weise, wie meine InterviewpartnerInnen dar‑ über sprachen und selbst ihre Emotionen zeigten, hinterließen Spuren bei mir. Auch die Tatsache, dass sie sich überhaupt mir gegenüber öffneten, zumal ich keine der Per‑ sonen vorher gekannt hatte, war für diese Momente und auch hinterher sehr prägend. Es stellte sich als einfacher für mich heraus, wenn die Menschen offen ihre Emo‑ tionen zeigten und entweder über schreckliche Erfahrungen sprachen oder mir ge‑ genüber abweisend waren, als wenn sie schwiegen und keinerlei Gefühlsregungen zeigten. Dann konnte ich nur erahnen, was in ihnen vorging, und wusste nicht genau, wie ich auf gewisse Äußerungen reagieren sollte. Darüber hinaus brachte es mein Thema mit sich, dass ich mich über die Inter‑ views hinaus mit dem Holocaust beschäftigte. Die zahlreichen Filme, Dokumenta‑ tionen, ZeitzeugInnenberichte, Autobiografien und wissenschaftlichen Dokumente, die ich mir ansah und las, hinterließen ebenfalls ihre Spuren bei mir. Monika Vrzgu‑ lová reflektierte über das Oral-History-Projekt »We saw the Holocaust«: »We realised that we were working on a project and simultaneously that the project was ›work‑ ing on us‹« (ebd. 2005: 8). Auch ich bemerkte, dass mein Projekt »an mir arbeitete«. Nicht nur durch die Emotionen, die aufgrund der direkten und der tradierten Ho‑ locaust-Erfahrungen der AkteurInnen implizit und explizit an mich weitergegeben
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wurden, auch die Beschäftigung mit anderen Quellen über den und aus dem Zweiten Weltkrieg gaben mir, mit Monika Vrzgulová gesprochen, zuweilen das Gefühl, sehr nahe am Geschehen dran zu sein, ohne jedoch wirklich erahnen zu können, was das Erleben des Holocaust tatsächlich bedeutet.31 Mit diesen Empfindungen und Gedan‑ ken zurechtzukommen, dauerte weit über die Feldforschung hinaus und gelang vor allem, indem ich über Supervision32 und Auszeiten von meinem Projekt Distanz zu meinem Feld aufbaute. Doch belasteten mich nicht nur die traumatischen Ereignisse der Vergangenheit, die, wie die Überschrift zeigt, bis in die Gegenwart wirken. Durch Ellas Frage geriet wieder meine Rolle und die Bedeutung der Forschung für mein Feld in den Vorder‑ grund. Es war offensichtlich, dass Ella sich durch meine Forschung bedroht fühlte. Sie äußerte, dass ich in meiner Arbeit Informationen über die jüdische Gemeinde in Košice preisgeben würde. Ihre Sorge ging dahin, ob diese Informationen nicht Anlass genug wären, dass jemand wie zur Zeit des Holocaust unter den Juden in der Stadt »seine Ziele« finden könnte. Wieder waren es die Zeit und intensive Reflexion, die mir die nötige Distanz zu dieser Situation verschafften, um sie auf persönlicher Ebene verarbeiten und auf wis‑ senschaftlicher analysieren zu können. Ellas Aussage wird nur durch den weiteren Kontext ihrer Lebens- und Erfahrungswelt verstehbar. Einerseits implizierte sie Ellas einseitiges Verständnis von meinem Projekt, dass ich als aus Deutschland kommende Forscherin etwas »für die Deutschen« schreiben würde. Auf der anderen Seite klang hier schon die Erklärung der Bedrohung an, die sie dadurch für die jüdische Gemein‑ de in Košice sah. Diese begründete sie mit dem materiellen Kulturerbe der jüdischen Gemeinde, von dem sie wusste, dass es ein wichtiger Punkt meiner Arbeit sein würde. Eine Säule des Antisemitismus und der Verfolgung der Juden aus der Zeit des Natio‑ nalsozialismus war deren wirtschaftlicher Erfolg (vgl. Kapitel 4.1.1). Dass sich Ella, die mir gegenüber immer sehr offen über ihr Verhältnis zum Jüdischen sprach, plötzlich so ängstlich äußerte, hat aber nicht nur mit ihrem Wissen über die Verfolgung und Ermordung der Juden während des Holocaust zu tun. Es hat auch und vor allem etwas mit den Traumata zu tun, die sich von ihrer Großmutter auf sie übertragen haben. Die Großmutter hatte bis zu ihrem Tod noch in direkter Nähe zu Ella und ihrer Mutter Laura gelebt und war für beide Frauen sehr wichtig. Ella und Laura sprachen häufig und sehr liebevoll von ihr. Sie hat als Einzige aus ihrer Familie den Holocaust über‑ 31 | »While already carrying out the project we decided that we would write about our feelings and expe‑ riences during the project. For the whole period of recording, we were confronted with information and facts, about which we only knew partially up until that pint, mainly from the literature. Direct contact with survivors and their recollections of their own life stories were very deep experiences for us. For a few moments we had an immediate, authentic feeling that we had been ‘there’« (Vrzgulová 2005: 8). 32 | Neben intensiven Beratungsgesprächen mit meinen BetreuerInnen, dem Austausch mit KollegInnen und FreundInnen sowie bei diversen wissenschaftlichen Kolloquien, nutzte ich die Möglichkeit, während und nach meiner Forschung und im Schreibprozess regelmäßig mit einer Psychologin über meine Arbeit zu sprechen.
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lebt, unter anderem in Auschwitz, jedoch nie mit Ella und Laura über ihre Erfahrun‑ gen gesprochen (vgl. Kapitel 6.3.3). Die Sozialpsychologin Gabriele Rosenthal stellte bei ihren mehrgenerationalen Fallanalysen in Familien von Holocaust-Opfern und Tätern fest, dass sich die mit dem Schweigen verbundenen Familiengeheimnisse und -mythen nachhaltig auf die Kinder und Enkel auswirken.33 In diesem Zusammenhang wird auch der Stellenwert der Psychoanalyse für die Interpretation meiner Daten deutlich. Ulrike Jureit hat in ihrer Studie »[z]ur Me‑ thodik lebensgeschichtlicher Interviews mit Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager« die für die Analyse biografischer Daten wichtige Dimension der Psychoanalyse herausgearbeitet: »Szenisches Verstehen ist sowohl für die Situationsanalyse des Interviews als auch für die Textinterpre‑ tation weiterführend. Gerade an diesem Punkt zeigt sich eine weitere Gemeinsamkeit von Psychoanalyse und Interviewauswertung. Beiden liegen hermeneutische Verfahren zugrunde. Dabei repräsentiert sich soziale Wirklichkeit in den subjektiven Erinnerungen nicht ungebrochen, sondern innerhalb der indivi‑ duellen Wahrnehmungsstrukturen. Ihre Deutung stellt an den Interpretierenden hohe Anforderungen. Je größer seine Wahrnehmungs- und Reflexionsfähigkeit ist, desto tiefer wird er sich auf die unbewußte Dimension eines Textes oder einer Szene einlassen können.« (Ebd. 1999: 58 f.).
Letztlich half mir bei der von meinen Daten und meinem Feld geforderten Reflexi‑ onsleistung auch der ethnopsychoanalytische Ansatz, um das komplexe Geflecht aus impliziten und expliziten emotionalen semantischen Strängen, die an die Situationen im Feld gebunden waren, zu verstehen. Nach Florence Weiss resultiert die Gewin‑ nung der Daten aus wechselseitiger Einflussnahme im Feld: »Dabei hat sich gezeigt, dass die Reflexion der eigenen Position zentral ist. Beziehen wir unsere Ge‑ schichte, unseren kulturellen Hintergrund und unsere Gefühle mit ein, können wir uns dem anderen, dem Fremden offener und unbefangener zuwenden. Die neu gewonnenen Freiheiten im Umgang mit unseren GesprächspartnerInnen wirken sich auf die Qualität der Daten aus.« (Ebd. 1994: 42)
Daran anknüpfend soll nachfolgend auch ein Blick auf die Beziehungen im Feld ge‑ worfen werden. Denn nicht nur der Umgang mit den Emotionen stellte hohe Anfor‑ derungen an mich. Gerade in den Momenten, in denen sich die InterviewpartnerIn‑ nen vertrauensvoll öffneten und ich viele aussagekräftige, wichtige Befunde erheben konnte, ergaben sich erneut Probleme. Denn es galt auch zu beachten, dass mir »mit den Interviewtexten […] Einsichten in die befragten Personen möglich sind, mit de‑ nen so vorsichtig und so verantwortlich wie möglich umgegangen werden muß. Zu‑ nächst macht die Oral History nicht die Erzähler, sondern die Zuhörer und Interpre‑ ten mächtiger« (Wierling 2003: 90).
33 | Vgl. Rosenthal (1997a: 21). Hier bezieht sich Gabriele Rosenthal auf die Studie von Dan Bar-On (1995): »Fear and Hope. Three Generations of the Holocaust«.
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Nachfolgend soll es unter anderem darum gehen, wie ich mit dieser vermeintli‑ chen »Macht«, die mir im Feld zuteil wurde, sowohl während der Forschung als auch im Schreibprozess umgehen lernte.
3.3.2 Weniger ist mehr – Nähe und das Dilemma der Verschriftlichung »Also das müssen Sie nicht unbedingt in Ihrer Arbeit erwähnen«, oder »ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das, was ich Ihnen jetzt sage, nicht zitieren«, waren häu‑ fige Aussagen meiner InterviewpartnerInnen. Doch gerade die angesprochenen, oft heiklen Themen schienen in diesen Momenten umso wichtiger für meine Arbeit zu sein. Hier handelte es sich meist um Kritik an anderen Personen. So gab eine Inter‑ viewpartnerin zu verstehen, dass sie von den »Zigeunern, die dreckig sind und wie die Mülltonnen stinken, in denen sie wühlen«, nichts halte und auch andere machten ihre Standpunkte den Roma gegenüber entsprechend deutlich. Abgrenzungs- und Distinktionsmechanismen trafen aber nicht nur andere Minderheiten, sondern auch die eigene, indem ich beispielsweise gefragt wurde: »Was willst du denn mit denen, das sind doch gar keine Juden?« Die Tatsache alleine, dass Äußerungen dieser Art in meinem Feld laut wurden, ist bedenkenswert, zeigen sie doch eine bestimmte Haltung dazu, wer für die jeweilige Person als »wirklich jüdisch« gilt und wer nicht. Darüber hinaus erwähnten viele auch Konflikte, die es innerhalb der jüdischen Gemeinde in Košice gibt. Dass dies ausgerechnet mir gegenüber geäußert wurde, wirft weitere Fra‑ gen auf. Welche Rolle kam mir in diesen Momenten zu? In der jeweiligen Situation war ich zwar um Gefasstheit bemüht, versuchte mich aber – sofern es möglich war – neutral oder gar nicht zu äußern. Später jedoch wurde mir klar, dass ich einen Weg finden musste, auch dies zu verarbeiten. Es ist schwierig, in einem Feld zu forschen, in dem jeder jeden kennt. Hier stellt sich wieder die Frage nach den Netzwerken in meinem Feld (vgl. Schmidt-Lauber 2001: 172). Einerseits kam ich so fast automatisch zu weiteren InterviewpartnerInnen, doch verfolgte mich zum Teil auch die Neugier einiger Personen über den Fortschritt meiner Forschung sowie die Frage, ob ich denn nicht allmählich genug geforscht hät‑ te?! Einige der AkteurInnen versuchten sehr aufmerksam mitzuverfolgen, mit wem ich gesprochen hatte, und waren darauf erpicht, Details aus den Gesprächen zu er‑ fahren. Diese Situationen waren für mich doppelt unangenehm, denn ich musste auf der einen Seite InterviewpartnerInnen, die mir ihr Vertrauen im Gespräch geschenkt hatten, vor der Neugier anderer schützen, wiederum andere aber enttäuschen, weil ich nichts preisgeben wollte (vgl. hierzu Weiss 1994: 40). Auch die Nähe, die ich zu einigen Personen in meinem Feld aufgebaut hatte, er‑ wies sich schnell als ambivalent. Einerseits ermöglichte sie mir vertiefte Einblicke in die Lebenswelten meiner AkteurInnen, andererseits barg sie auch Gefahren. Die Be‑ ziehungen, die über einzelne Interviewtermine in meinem Feld hinausgingen, zeich‑ neten sich vor allem durch ein hohes Maß an mir entgegengebrachtem Vertrauen aus. Im Gegenzug wurden aber Erwartungen an mich gestellt, die die Grenzen meiner
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Rolle als Forscherin weit überschritten. So gelang es mir nicht immer, eine regelrechte »Arbeitsbeziehung« in meinem Feld aufrechtzuerhalten. Bis auf einige schwierige Si‑ tuationen, in denen beispielsweise vermehrte Kontaktbereitschaft meinerseits einge‑ fordert wurde, konnte ich jedoch die Balance zwischen meinen verschiedenen Rollen aufrechterhalten. Die im ersten Kapitel geschilderten Schwierigkeiten aufgrund der Zuschreibun‑ gen meiner InterviewpartnerInnen mir gegenüber als »Deutscher« ergeben also nur eine Dimension (vgl. Kapitel 1.3). Auch die weiteren hier beschriebenen Rollen gilt es nach den Prinzipien von Übertragungen und Gegenübertragungen in den jeweiligen Beziehungskonstellationen zu hinterfragen. »Indem die Beziehung in unsere Überlegungen einbezogen wird, geht es nicht mehr nur um die Interpre‑ tation gewonnener Daten, sondern um die Frage, wie wir überhaupt die Daten gewinnen, aufgrund derer wir unsere Interpretationen vornehmen. Wir tragen der Tatsache Rechnung, dass zwischen mir als For‑ scherin und meinen PartnerInnen als Forschungsobjekten eine Interaktion, ein Prozess in Gang kommt, in dem wechselseitige Beeinflussungen stattfinden. Mein Verhalten hat einen Einfluss z.B. auf das, was mir mein Gegenüber mitteilt und umgekehrt.« (Weiss 1994: 24, Abk. i. O.)
Als ich mich mit räumlicher Distanz zu meinem Feld an die Bearbeitung des erhobe‑ nen Materials setzte, offenbarte sich mir ein weitaus größeres Problem: Wie konnte ich das, was mir im Feld an emotionalen Abgründen, Kritik und politisch unkorrek‑ ten Äußerungen offenbart wurde, in eine wissenschaftliche Form bringen und dann auch noch veröffentlichen? Eine der obersten Prämissen meiner Arbeit war es von Anfang an, mein Feld zu schützen, denn »[g]rundsätzlich gilt die Maxime, nichts zu unternehmen, was den InformantInnen schadet. Hierbei hilft das für die Europäische Ethnologie übliche und sinnvolle Verfahren der Anonymisierung der Informanten« (Schmidt-Lauber 2007: 237). Doch mit Anonymisierung alleine ist es im Falle mei‑ nes empirischen Materials nicht getan. Denn trotz größtmöglicher Verfremdung und anderer Namensgebung bleiben da immer noch die Konflikte und schwierigen Aus‑ sagen. Hinzu kommt, dass sich die meisten meiner InterviewpartnerInnen in Košice gegen eine Anonymisierung in meiner Arbeit aussprachen, da sie zu all dem, was sie gesagt hatten, stehen würden, wie sie mir immer wieder versicherten. Ein Grund dafür mag auch sein, dass sie schon Interviewerfahrung gesammelt hatten und sich zum Teil regelmäßig in der Öffentlichkeit präsentieren.34 Nun stellte ich mir die von Brigitta Schmidt-Lauber aufgeworfene Frage nach dem Forschungsethos und was ich aus meinem Feld überhaupt preisgeben konnte? »Schließlich ist auch zu beachten, daß die ethnografischen Beschreibungen ins Feld zurückfließen und ihrerseits Auswir‑ kungen auf den kulturellen Alltag haben können« (ebd. 2007: 237). Der Schlüssel für mein Dilemma verbarg sich – wie so oft – in der Distanz. Erst der Abstand zu Feld und Material ermöglichte es, meine Betroffenheit abzubauen. Ein‑ zelne Aussagen konnte ich so in einen breiteren Kontext einbinden und ihren Gehalt 34 | Ich anonymisiere trotzdem alle, soweit es ihre öffentliche Position zulässt.
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kritisch auf seine Relevanz für meine Arbeit prüfen. »Ethnografien sind in jedem Fall von einer besonderen Nähe zum Alltag und zur (kulturellen) Erfahrung geprägt […]« (Schmidt-Lauber 2007: 237). Diese Nähe galt es zu überwinden, um aus dem »konflik‑ treichen Material« das Wichtigste für meine Arbeit herauspräparieren zu können. So stellte sich schnell heraus, dass »weniger mehr ist« – diese Devise erleichterte es mir ungemein, mein Material zu verschriftlichen. Denn nicht jeder Konflikt und jedes Detail sind wichtig, um die Ergebnisse meiner Forschung nachvollziehbar darlegen zu können. »Das Unaussprechliche als Herausforderung zu erkennen, muss aber nicht immer bedeuten, es mit Be‑ schreibungen zu beseitigen; es kann unausgesprochen bleiben. Aber gerade dies verlangt natürlich, die Grenzen des Gesagten in der Sprache zu modellieren, z. B. mit Ellipsen und Andeutungen, in denen etwa Leidenserfahrungen nicht (im Sinne des ›Reality-TV‹) sprachlich ausgebreitet, sondern nur auf den Leser transferiert (›übertragen‹) werden, indem Auslassungen Räume für seine Imagination eröffnen.« (Hischauer 2001: 439, Herv. i. O.)
Der Empfehlung des Soziologen Stefan Hirschauer komme ich in meiner Arbeit nach und lasse aus, was für das Verständnis meiner Darstellungen nicht nötig ist.
4 G eschichte und Gegenwart des jüdischen Lebens in Košice und Lučenec In den nächsten Kapiteln werden die wichtigsten Ereignisse in der Geschichte des wechselvollen jüdischen Lebens in beiden von mir beforschten Städten unter Be‑ rücksichtigung der politischen und soziokulturellen Einflüsse skizziert. Auf dieser Grundlage lassen sich gegenwärtige Entwicklungen, die ab Kapitel 4.2 beschrieben werden, besser verstehen. In Kapitel 4.1.1 werden Košice und Lučenec gesondert von‑ einander behandelt, was aber nicht auf den Effekt eines Vergleichs abzielt. Da nicht auf alle wichtig erscheinenden Hintergründe detailliert eingegangen werden kann, ist die in den jeweiligen Abschnitten aufgeführte Literatur als weiter‑ führend und vertiefend zu erachten. Dabei ist auch zu bedenken, dass die Diskurse beispielsweise um Nationalität, die in jeder Epoche eine wesentliche Rolle spielen, auch durch die jeweilige Geschichtsschreibung – also durch hier verwendete AutorIn nen – beeinflusst werden.
4.1 H istorisches 4.1.1 Von den Anfängen und der Blütezeit bis zum Holocaust Košice Sandor Márai, der 1900 in Košice – dem damaligen ungarischen Kassa – geboren wurde und dort seine Kindheit verbrachte, schrieb in seinen Kindheitserinnerungen:1 1 | Als »international bekanntester Bürger der Stadt« wurde Sandor Márai als Schwerpunktthema mit diversen Lesungen, Theater-, Tanz- sowie anderen künstlerischen Darbietungen in das Kulturhaupt‑ stadt-Projekt aufgenommen. Aus dieser Programmankündigung ist auch der Widerspruch herauszule‑ sen, dass er gerade in der Slowakei nicht bekannt ist: »Sándor Márai is definitely the most well known Košice-born person in the world. Despite that, in the cultural area of the city and Slovakia he is still fairly unknown and a little cited persona. The works of Sándor Márai carry strong biographical features. The city of his childhood – Košice – plays such an important role in his works and is illustrated with such mastery that during his visit to Košice, Otto von Habsburg said that he knows the city perfectly thanks to Sándor Márai’s books« (Košice 2013 – Sandor Márai). Im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres wurde auch ein
88 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 »In unserem Haus wohnten zwei jüdische Familien: eine ›neologische‹, ›fortschrittliche‹, weltmännische und verbürgerlichte, reiche jüdische Familie, die die gesamte Straßenfront des zweiten Stocks gemie‑ tet hatte, sie lebten recht verschlossen und hochmütig, suchten nicht die Bekanntschaft mit anderen im Haus; und unten im Erdgeschoß, hinten im Hof, eine andere ›orthodoxe‹, sehr zahlreiche jüdische Familie, die arm war und auf eine ganz ungewöhnliche Weise fruchtbar, unablässig trafen neue Verwandte ein und kamen Kinder zur Welt, und sie alle lebten zusammen hinten im Hof in drei dunklen Stuben, wo es zuwei‑ len, an Feiertagen, von lärmenden und geschäftigen Besuchern und Familienmitgliedern so wimmelte, als bereiteten sich die Teilnehmer einer Versammlung auf einen entscheidenden Beschluss vor. Diese ›ar‑ men Juden‹ trugen großenteils galizische Tracht und hielten die religiösen Gebräuche streng ein – ich weiß allerdings nicht, ob sie wirklich arm waren; den christlichen Hausbewohnern jedenfalls waren sie lieber als die verschlossenen, reichen ›Neologen‹. Es kam vor, dass sich manche aus der ›armen‹ jüdischen Familie im Erdgeschoss ihre merkwürdige Frisur stutzen ließen, daß sie gewissermaßen in Zivilkleidung schlüpften, den Kaftan wegwarfen, sich die Haare schneiden ließen, sich rasierten, sich modisch kleide‑ ten, der Zeit gemäß – bei den meisten kam es ziemlich schnell zu dieser großen Veränderung. Die Kinder gingen nun in Bürgerschulen, manche besuchten sogar das Gymnasium. Zehn bis fünfzehn Jahre später gab es im Haus keine Juden mehr, die den Kaftan trugen, und auch in der Stadt nur noch wenige. Es gab da so viele Kinder, daß ich mich an die einzelnen gar nicht mehr erinnere. Diese Familie lebte samt und son‑ ders in einem vertrauteren und freundlicheren Verhältnis zu den christlichen Bewohnern des Hauses als die andere, vornehme, ›neologische‹. Im Haus sprach man gönnerhaft von ihnen, fast zärtlich: Sie waren ›unsere Jüdele‹ und ›sehr tüchtige, anständige Menschen‹, und beinahe stolz verkündeten wir, daß in un‑ serem großen, modernen Mietshaus Juden wohnten, echte Juden, wie es sich gehörte. Den jüdischen Mie‑ tern aus dem zweiten Stock begegneten wir kaum. Sie führten ein wahrhaft weltmännisches Leben, ihre Kinder wurden in katholischen Mittelschulen erzogen, ihre Mutter – eine magere, traurige, herzkranke Frau – spielte sehr schön Klavier und ließ sich ihre Kleider in der Hauptstadt nähen. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Frauen im Haus beneideten sie natürlich. Die Kleider der wohlhabenden Dame stachen ihnen ins Auge und schufen böses Blut; auch ich empfand es als ungerecht und ungehörig, daß die oberen Nachbarn, ›immerhin doch Juden‹, wohlhabender und vornehmer lebten als zum Beispiel wir und daß sich die reiche Dame eleganter kleidete, daß sie mehr Klavier spielte und mehr spazierenfuhr als meine Mutter. Alles hat seine Grenzen, dachte ich. Mit der orthodoxen Familie, auch mit den Kindern, verstanden wir uns besser. Mit dem schlichten Eingeständnis ihres Jüdischseins und wie sie daran festhielten, mit ihren Speisen, ihren Kleidertrachten, ihren besonderen Festtagsbräuchen, ihrem fremden und verworrenen Di‑ alekt, wie sie geheimnisvoll die deutschen, jiddischen und ungarischen Wörter miteinander vermischten, und mit ihrer freiwilligen, betonten Fremdartigkeit kamen sie uns am ehesten wie ein exotischer Stamm vor, der sich zwar nicht erniedrigt, den man aber ein wenig bedauern kann – für jeden barmherzigen Christenmenschen gehörte es sich, solch unbeholfene Fremdlinge zu beschützen. Mutter ließ manchmal Eingewecktes zu der alten Frau unten bringen, und zu Ostern revanchierte sich die jüdische Familie, in dem sie uns in einem schönen weißen Tuch Matzen zukommen ließ, für die wir uns höflich bedankten und die wir interessiert in Augenschein nahmen, aber ich glaube, niemand rührte sie an, auch nicht die Dienstboten. Wir bedauerten diese Familie und akzeptierten sie, aber irgendwie so wie gebändigte Ne‑ transnationales Projekt zwischen Budapest und Košice initialisiert, über das der Kulturtourismus in die beiden »Lieblingsstädte« des Autors, Budapest und Košice, angeregt werden sollte (vgl. Projekt Sandor Márai).
Geschichte und Gegenwart des jüdischen Lebens | 89 ger. […] Ich glaube nicht, daß Mutter die arme Jüdin den ›gesellschaftlichen Unterschied‹ spüren lassen wollte; das war nicht nötig. Die Familie kannte diesen Unterschied, und denen im Erdgeschoß fiel es nicht ein, sich anzubiedern; ich bemerkte erst viel später, daß diese Familie mindestens so sorgsam auf ihre Abkapselung bedacht war wie die christlichen Familien, ja, vielleicht noch eifersüchtiger.« (Márai 2009: 14; vgl. auch Okroy 2005: 21 ff.)
Über diese Zeilen gewährt uns Sandor Márai einen Einblick in die Lebenswelten der Juden im damaligen Košice zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie sie im Mikrokosmos eines Mietshauses inmitten der Altstadt für ihn als Kind beobachtbar und erfahrbar waren.2 Sie zeigen Unterschiede zwischen den orthodoxen und den neologen, an die Mehrheitsgesellschaft angepassten Juden und deren Wahrnehmung sowie Akzeptanz seitens der nicht-jüdischen, christlichen Bevölkerung auf. Die Aussage, dass es »im‑ merhin noch Juden« seien, die offensichtlich einen gutbürgerlichen Lebensstil pfleg‑ ten und somit nicht gut angesehen waren, und der Fakt, dass die ärmeren »Jüdele« besser in der Hausgemeinschaft angenommen wurden, gibt Aufschluss über die da‑ malige Stimmung gegenüber den assimilierten, wirtschaftlich erfolgreichen Juden. Bemerkenswert erscheint an den Aussagen Márais auch, dass die Lebensweise der praktizierenden religiösen Juden auf die christlichen HausbewohnerInnen durch ihre Fremdheit zugleich interessant und geradezu exotisch wirkte, sie stolz machte, mit ihnen unter einem Dach zu leben, andererseits aber den zentralen und auch wichti‑ gen Distinktionsfaktor darstellte. Dabei sorgte für einen Sympathiepunkt auch die Armut der orthodoxen Juden, die sie von den Neologen unterschied. Diese von Márai beschriebenen Motive des Umgangs mit und der Emotionen gegenüber den jeweiligen jüdischen HausbewohnerInnen deuten auch gesamtgesellschaftliche Stimmungen während der von dem Historiker Randolph Braham als »Golden Era« beschriebenen Epoche jüdischen Lebens in Ungarn an (vgl. ebd. 2013a: XV f.), die einige Zeit später in die Extreme des Holocaust umschlagen. Von 1492 rührt die erste überlieferte Nennung eines Juden in Košice.3 Die Stadt selbst wurde 1230 erstmals erwähnt, und da sie auf einer der zentralen Handelsrouten 2 | Das besagte Haus befindet sich in der Mäsiarska 35, einer Parallelstraße zur Hauptstraße der Altstadt. In ihm ist das »Erinnerungszimmer Sándor Márais« [Pamätná izba Sándora Máraia] mit einer Daueraus‑ stellung eingerichtet. Dort trifft sich auch der Club der nationalen Minderheiten Košices (vgl. Erinne‑ rungszimmer Sándor Márais; Club der nationalen Minderheiten Košice). 3 | Vgl. SNM (2010: 199 f.). Auf dem Gebiet der heutigen Slowakei gab es archäologischen Funden zu‑ folge im 2. Jahrhundert n. Chr. die ersten Spuren von Juden, die Römer als Sklaven begleiteten. Ab dem 11. Jahrhundert, als das damals zu Großmähren gehörige Gebiet an Ungarn angeschlossen wurde, gibt es zahlreiche Quellen, die die jüdische Besiedelung belegen. Bereits im Mittelalter gab es die ersten jüdi‑ schen Gemeinden, die älteste in der westslowakischen Stadt Nitra um 1111. Diese Gemeinden zerfielen und verschwanden bis zum Ende des 16. Jahrhunderts unter dem Einfluss antisemitischer Gesetzgebun‑ gen, durch diverse Pogrome und Verfolgung wieder, bis sich durch die Immigration von Juden im 17. und 18. Jahrhundert wieder neue Gemeinden konstituierten. Die Progrome im 15. und 16. Jahrhundert waren auch durch den damals entstehenden religiösen Extremismus motiviert (vgl. Büchler/Fatranová 2009: 6).
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lag, entwickelte sie sich schnell zu einer der wichtigsten Städte im damaligen ungari‑ schen Königreich (vgl. SNM 2010: 199; Borský 2007: 81). Im 17. Jahrhundert begann die erneute Siedelung der zuvor fast gänzlich ver‑ triebenen Juden auf dem Gebiet der heutigen Slowakei.4 Bis zur Verabschiedung des Toleranzediktes 1782 war es Juden verboten, sich innerhalb der Stadtmauern nieder‑ zulassen.5 Dieses Edikt, das die Juden in die habsburgische Mehrheitsgesellschaft in‑ tegrieren sollte, wurde von Kaiser Joseph II. im Zuge seiner Reformen und der damit einhergehenden Modernisierungsbestrebungen erlassen und bezog sich vor allem auf ein uneingeschränktes Wohn-, Erwerbs- und Bildungsrecht.6 Zuvor waren zahlreiche europäische Städte von sie umgebenden jüdischen Siedlungen geprägt, denn Haup‑ teinkommensquelle war für Juden stets der Handel gewesen (vgl. Borský 2007: 27 f.). Ein bereits in Kapitel 1.2 angesprochener weiterer wichtiger Faktor für die Ent‑ wicklung des jüdischen Lebens auf dem Gebiet der Slowakei war dessen Heteroge‑ nität, die insbesondere mit den divergierenden Migrationsströmen und den geophy‑ sischen Grenzen innerhalb des Landes einherging. Maroš Borský zufolge waren die Juden in West- und Ostslowakei beziehungsweise im damaligen Oberungarn durch das Tatra-Gebirge voneinander getrennt, was sich auch in ihrer unterschiedlichen religiösen Ausrichtung niederschlug. Darüberhinaus gab es lange Zeit das bereits erwähnte Gesetz, dass es den Juden verbot, sich in Bergbaustädten niederzulassen. Somit erfolgte bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum eine Besiedelung der damaligen Mittel- und Nordslowakei durch Juden. Laut Borský gab es im Wes‑ ten der Slowakei mehr jüdische Einwanderer aus Böhmen, Mähren und Deutschland, somit seien die religiösen und kulturellen Einflüsse hauptsächlich westlich-orthodox geprägt gewesen. Den östlichen Teil des Landes beeinflusste die massenhafte Migra‑ tion aus Galizien und östlicheren Gebieten durch chassidische Juden. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verschmolzen diese zwei kulturellen und religiösen Ströme zuneh‑ mend (vgl. ebd.: 26; Büchler/Fatranová 2009: 7).
4 | Juden lebten auch ab dem Spätmittelalter unter diversen Restriktionen und marginalisierenden Ge‑ setzen auf dem Gebiet der heutigen Slowakei. Insbesondere unter der Herrschaft von Maria Theresia (1740–1780) verschlechterten sich ihre Lebensbedingungen, ihnen drohte die Verbannung aus der Mo‑ narchie. Das ab 1782 erweiterte Wohnrecht erstreckte sich nach wie vor nicht auf die Bergbaustädte, förderte allerdings die weitere Verbreitung und Neugründung jüdischer Gemeinden auf dem heutigen slowakischen Gebiet (vgl. Büchler/Fatranová 2009: 6 f.) Das Verbot für Juden, in Bergbaustädten zu sie‑ deln, wurde erst 1861 aufgehoben (vgl. Borský 2007: 24). 5 | Allerdings belegen Quellen aus den Jahren 1524 und dem Ende des 17. Jahrhunderts, dass sich kurzwei‑ lig Juden in der Stadt aufhielten (vgl. SNM 2010: 200 f.). Damals siedelten einige jüdische Händler in der Umgebung von Košice und trieben auf den städtischen Märkten Handel. 6 | Vgl. Kohn (1968: 14 f.). Dieses uneingeschränkte Wohnrecht für Juden wurde allerdings von der Stadt‑ verwaltung Košices mit dem Argument, es sei aufgrund der Nähe zu zwei Bergbaustädten ebenfalls eine Bergbaustadt, angefochten. Diese Versuche, den Juden das Wohnrecht streitig zu machen, wurden ge‑ richtlich niedergeschlagen (vgl. Borský 2007: 80).
Geschichte und Gegenwart des jüdischen Lebens | 91 »The prohibition of settlement in central Slovakia ruled out the creation of a compact geographic unit of Jewish emigration. The two waves were different in social and cultural background, and in everyday life as well. In the western part of Slovakia a typical Jew of the Ashkenazy type was formed, and tended to be more educated in secular subjects and more involved with his surroundings. The Hasidic type prevailed in the east. Their lifestyle was different from the Jewish lifestyle in the west. Their language, Yiddish, their appearance, and their way of life were similar to those of Jews in Poland and Halicz.« (Buechler 2002: 14 f.)
Zur Annäherung der beiden prominenten Ausrichtungen des damaligen Judentums trug die zunehmende gesetzliche Gleichstellung der Minderheit und ihre Integration in die Mehrheitsgesellschaft bei. Dies begann bereits während der Josephinischen Re‑ formen, die auch die Germanisierung der Minderheiten nach sich zogen.7 Ende des 18. Jahrhunderts ließen sich einige jüdische Familien dauerhaft im heutigen Košicer Vorort Rozhanovce nieder. 1842 wurde den Juden in Košice ein Grundstück für einen Friedhof zugeteilt und fast gleichzeitig mit der der jüdischen Gemeinde (1843) wurde 1844 auch die Beerdigungsgemeinschaft Chewra Kadischa gegründet. Mit dem ersten Rabbiner Martin Mordechaj Kohn kamen aus Rozhanovce weitere jüdische Familien in die Stadt.8 Neben einem Gebetsraum in einem Mietshaus und einer Schule wurde auch ein Schuppen auf dem Gelände der heutigen Gemein‑ deanlage zur Synagoge umfunktioniert. 1845 erhielten einige Juden die Erlaubnis, in‑ mitten der Stadt Geschäfte zu eröffnen. Die erfolgreichen ökonomischen Aktivitäten der Juden riefen negative Reaktionen anderer Händler hervor, die ein Gewerbeverbot für Juden in der Stadtmitte erwirken wollten. Trotz der antijüdisch gestimmten Um‑ welt und der Ausschreitungen gegen die Juden in den Revolutionsjahren 1848/1849 vergrößerte sich die Gemeinde bis 1848 auf fast 600 Personen und wuchs auch danach kontinuierlich an.9 Dazu trug insbesondere auch die Industrialisierung bei, denn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Košice zu einem wichtigen Knotenpunkt des Eisenbahnnetzes und erblühte wieder zu einem wichtigen Handels‑ 7 | Vgl. Kohn (1968: 15). Die Aufklärung und somit auch die zunehmende Assimilation der jüdischen Be‑ völkerung formierte sich unter der »Haskalah«, die vom Berliner Philosophen Moses Mendelssohn aus‑ ging. Ihr berühmter Gegner war der Oberrabbiner Chatam Sofer (beziehungsweise Mosche Schreiber) in Bratislava (vgl. Borský 2007: 28; Büchler/Fatranová 2009: 8; siehe hierzu auch Salner 2012). 8 | Aus dem Jahre 1805 ist überliefert, dass zwei jüdische Familien zeitweise in Košice leben durften, 1814 wurde an die Familie der Witwe Roth aus Rozhanovce ein Haus in der Stadt vermietet. Sie betrieb in der Glöcknergasse [Zvonarská] ein koscheres Lokal für Juden, die anlässlich der Märkte in die Stadt kamen. In dieser Straße befindet sich auch heute die jüdische Gemeindeanlage und die älteste Synagoge der Stadt. Obwohl einzig die Familie Roth eine Aufenthaltserlaubnis hatte, lebten laut einer Statistik 1833 24 Juden in der Stadt (vgl. Borský 2007: 80; SNM 2010: 201). 9 | In Košice wurden am 21. März 1848 nahezu 200 jüdische Wohnungen, Geschäfte und religiöse Objekte wie die Gebetshalle geplündert, zerstört beziehungsweise stark beschädigt, mit der Forderung, alle Ju‑ den sollen der Stadt verwiesen werden. Dies gründete sich auf der Solidarität der Juden mit den ungari‑ schen Revolutionären, mit denen sie gegen die kaiserlichen Truppen gekämpft und verloren hatten. Die Juden wurden schließlich mit einer sehr hohen Geldstrafe belangt (vgl. SNM 2009: 201; Braham 2013a: 9).
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zentrum und zur Hauptstadt des Komitats Abaúj-Torna [Abaujwar-Tornau].10 Dies war nicht zuletzt auch der zunehmenden Assimilation der jüdischen Bevölkerung geschuldet, die einen erheblichen Beitrag zur Industrialisierung und zum städtischen Wohlstand beitrug: »Košice, along with Miskolc and Prešov, had become one of the economic centers of the region benefiting from significant Jewish involvement in its development. The Košice Jewish community was a newly es‑ tablished, rapidly growing urban community, in which modernization and upward mobility were met by a weakening of Jewish tradition.« (Borský 2007: 81)
1867 erfolgte mit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich die Emanzipation der Juden im Ungarischen Königreich (vgl. SNM 2009: 201). Die Historikerin Elena Man‑ nová beschreibt die Situation, die durch die Gleichstellung der Juden erfolgte, als pa‑ radox. Denn im Unterschied zu den zahlreichen anderen Minderheiten wurden sie als religiöse Minderheit angesehen, deren Nationaliät ungarisch war. »While the basic rights of the non-Magyar ethnic groups were supressed, the Jewish community could develop a comprehensive political, economic and cultural life, since it did not struggle to assert a national identity, but was satisfied with religious identity.«11 Dies schürte, so Mannová, die negative Stimmung der slowakischen Bevölkerung gegenüber den sich assimilierenden ungarischen Juden. In den folgenden Jahren wurde diese »Mag‑ yarisierungspolitik« weiterhin durchgesetzt und die slowakische Nationalbewegung unterdrückt.12 »While to Jews it meant merely substituting Magyar for their German Umgangssprache, the nationally conscious Slovaks resented this new language policy. Many years later this policy would provide the basis for accusations of ›Magyarizing‹ voiced by Slovak nationalist circles against the Jews. In reality, how‑ ever, anti-Jewish sentiments stemmed from religious prejudices and social differences.« (Rothkirchen 1996: 159)
10 | Vgl. SNM (2009: 200 f.); Roth (2013: 5). Das Königreich Ungarn war in insgesamt 63 Verwaltungsein‑ heiten (Komitate) eingeteilt. 11 | Mannová (2000: 233); vgl. auch Borský (2007: 40 f.). »As a consequence of the Hungarian policy of tolerance, many of the Jews of Hungary considered themselves an integral part of the Hungarian nation. They eagerly embraced the process of magyarization, opting not only to change their names but also to serve as economic modernizers and cultural magyarizers in the areas of the polyglot Hungarian Kingdom inhabited by other nationalities. Hungarian Jews had no territorial ambitions and naturally supported the group that offered them the greatest protection. This occasioned Jews soon being looked upon as agents for the preservation of the status quo, resulting in some suspicion and even enmity by some members of nationalities clamoring for self-determination and independence« (Büchler 2013a: XV). 12 | Vgl. zur slowakischen Nationalbewegung Daniel/Mrva (2000: 143 ff.); Kowalská (2011); Hoensch (2000: 1 ff., 27 ff.).
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Die zunehmende Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung seit Erlass der Toleran‑ zedikte Kaiser Josephs II. zeichnete sich auch in der Abkehr vieler assimilierter Fa‑ milien vom traditionellen Judentum und in der Herausbildung einer reformierten Strömung innerhalb der Gemeinden ab. Dies äußerte sich sowohl in zunehmenden Disputen mit den am traditionellen Judentum festhaltenden Gemeindemitgliedern als auch an der modernen Bauweise von Synagogen. Damit einher gingen auch die inhaltlichen Reformierung der dort abgehaltenen Gottesdienste und die sich verän‑ dernden Rollen der Rabbiner innerhalb der Gemeinden (vgl. Büchler/Fatranová 2009: 7 f.; Borský 2007: 81). 1866 wurde auf dem Gelände, auf dem heute das Haus der Kunst beziehungs‑ weise die ehemalige neologische Synagoge in Košice steht, eine Synagoge im moder‑ nen Rundbogenstil mit zwei Türmchen erbaut, da der ehemalige Schuppen auf der Gemeindeanlage dem Bedarf der stetig wachsenden Gemeinde nicht mehr gerecht wurde. Diese Synagoge entfachte laut Maroš Borský einige Konflikte innerhalb der jüdischen Gemeinde, denn sie entsprach in ihrer Architektur und Ausstattung nicht den traditionellen Richtlinien (vgl. ebd. 2007: 81). »In the first phase, disagreements arose after the reform circles tried to bring new features into divine service and into the synagogues. This was typical mainly of new communities which were formed after the middle of the nineteenth century. Less rooted in the old traditions, and enjoying better economic and social conditions, such new communities were more likely to change the way they lived. These ten‑ dencies emerged on a large scale when new synagogues were being built. The issue became a frequent source of disputes and disagreements. New and well-situated communities were no longer satisfied with an old traditional synagogue, and their ideal was an impressive edifice along the lines of the Budapest synagogue. Synagogues of this type were different not only in their exterior style and appearance, but also in their furnishings and in the services held there, which diverged from the old ways. The synagogue was the center of every Jewish community and had an important religious and social function.« (Buechler 2002: 19)
So verrät die Architektur der Synagogen auch wichtige historische Entwicklungen – unter anderem indizierte sie auch den Schritt der endgültigen Teilung der religiösen Strömungen innerhalb der jüdischen Gemeinden. Nach dem Budapester Kongress 1868–1869 spalteten sich die jüdischen Gemeinden im Königreich Ungarn offiziell untereinander (vgl. Rothkirchen 1968b: 159; Borský 2007: 82). Von der jüdischen Ge‑ meinde in Košice, die fortan die neologische Gruppe vertrat, trennten sich zwei or‑ thodoxe Gruppen. Eine davon wurde zur Status-Quo-Gemeinde.13
13 | Vgl. SNM (2009: 202 f.). »The way of life of the Jews in Slovakia and their feelings were basically religious and orthodox. […] The majority, about two-thirds of all the religious communities and 75 % of all the Jewish inhabitants, supported the orthodox trend. One-third of the communities split into con‑ gress-reform communities and the communities called status quo because they supported the original state of affairs. These communities did not join any organizational structure« (Buechler 2002: 21). Laut
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Nachdem den Neologen die 1866 erbaute Synagoge zugesprochen wurde14, erbaute die Status-Quo-Gemeinde direkt daneben ihre Gebetshalle. In den darauffolgenden Jahren ging den AutorInnen des SNM zufolge ein Großteil der Institutionen der Ur‑ sprungsgemeinde in die Verwaltung der neologischen Gemeinde über. Dazu wurden der Verein jüdischer Frauen, der laut dem SNM als der aktivste galt, eine sogenannte »Volksküche«, ein Waisenhaus und weitere karitative Einrichtungen gegründet. Der neue jüdische Friedhof wurde 1888 eröffnet und zwischen den Neologen und den Or‑ thodoxen aufgeteilt. 1910 wurde die neologische Synagoge erweitert und umgebaut (vgl. SNM 2009: 202). Die orthodoxe Gemeinde wurde 1871 »von streng religiösen Familien« gegrün‑ det und wuchs durch ZuwandererInnen schnell, so die AutorInnen des SNM. Man gründete eine Mikwe, einen Unterrichtsraum, ein Schlachthaus, im Jahre 1872 eine Talmud-Thora-Schule und einige religiöse Lehrgruppen für Erwachsene sowie eini‑ ge karitative Vereine. 1882 wurde eine neue orthodoxe Synagoge auf dem Gemein‑ de-Grundstück errichtet, die mehrfach umgebaut und 1899 durch eine andere er‑ setzt wurde. Diese steht als älteste orthodoxe Synagoge heute noch in der Zvonarská [Glöcknergasse] auf der jüdischen Gemeindeanlage. Durch den ersten eigenen Rab‑ biner der orthodoxen Gemeinde wurde 1875 auch die erste von zwei Jeschiwot ein‑ gerichtet.15 Vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs flo‑ rierte das jüdische Leben in Košice, was sich nicht nur an Gebäuden wie dem jüdi‑ schen Kasino16, sondern auch an den zahlreichen sozialen, politischen, religiösen und kulturellen Vereinen sowie ihren Aktivitäten und am intensiven gesellschaftlichen Leben der Gemeinde zeigte. Dazu gehörten beispielsweise auch die Publikation jü‑ discher Zeitungen und die Einrichtung weiterer jüdischer Schulen in der Stadt (vgl. Borský 2007: 81 f.; Braham 2013a: 11; SNM 2009: 202 f.). 1896 wurde die jüdische Religion durch das Gesetz XVII mit der christlichen gleichgesetzt (vgl. Rothkirchen 1968a: 77). Dies schürte den bereits vorhandenen An‑
Livia Rothkirchen nahm die »Status-Quo-Ante«-Gruppierung eine neutrale Position in diesem Streit ein und veränderte ihre religiösen Ansichten und Regeln nicht (vgl. ebd. 1968a: 74 f.). 14 | Borský zufolge gab es nach der Trennung der jüdischen Gemeinde erbitterten Streit um die neu er‑ baute Synagoge, der unter Einschreiten des Bildungs- und Religionsministers und mit Hilfe eines ortho‑ doxen Rabbiners aus Budapest, beigelegt wurde (vgl. ebd. 2007: 82). 15 | Vgl. SNM (2009: 202 f.); Borský (2007: 82). Der angesehenen Jeschiwa in Košice sei in den Zwischen‑ kriegsjahren vom tschechoslowakischen Bildungsministerium der Status einer Hochschuleinrichtung an‑ erkannt worden (vgl. SNM 2009: 206). 16 | 1910 wurde das jüdische »Kasino« in der Nähe zur Hauptstraße [Hlavná] und zur jüdischen Gemein‑ deanlage gebaut. Es war kein Kasino im eigentlichen Sinne, sondern diente gesellschaftlichen Anlässen wie Feiern, Bällen und anderen Veranstaltungen der jüdischen Gemeinde (vgl. Borský 2007: 83; SNM 2009: 204; Kapitel 5.1.3).
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tisemitismus der seitens christlicher Parteien unterstützt wurde.17 Zugleich wuchsen unter der fortwährenden Magyarisierungspolitk und der Unterdrückung der natio‑ nalen Minderheiten die Bestrebungen der SlowakInnen nach einer eigenen Nation immer mehr.18 1884 wurde die antisemitische Partei gegründet, 1896 vom katholi‑ schen Priester Andrej Hlinka die klerikale Volkspartei (vgl. Rothkirchen 1968a: 77 f.; ebd. 1996: 160). Während und nach dem Ersten Weltkrieg entstand durch Kriegsflüchtlinge aus Russland auch eine chassidische Gemeinde in Košice, die 1918 gegründet wurde und 1920 ihre eigene Synagoge unweit der orthodoxen Gemeindeanlage erbaute (vgl. Borský 2007: 83). Zudem führte der Erste Weltkrieg auch die jüdische Gemeinde in eine Krise, nicht zuletzt, da sie die zahlreichen Flüchtlinge unterstützen musste. Zu dieser Zeit wurden eine Dependance des American Jewish Joint Distribution Com‑ mittee (JOINT) sowie ein jüdisches Waisenhaus und andere karitative Einrichtungen in der Stadt gegründet.19 Die Zwischenkriegsjahre prägten das jüdische Leben in der Stadt nachhaltig. »World War I and the subsequent change of regime created a new situation in the life of Kassa’s Jews. Kassa’s role as a commercial center grew considerably between the wars. As the transport hub for Eastern 17 | Nachdem der »Kulturkampf« mit der Gleichstellung der jüdischen Religion und unter anderem auch der Festlegung neuer Gesetze zur bürgerlichen Ehe oder zur der Religion von Kindern endete, fühlte sich laut Elena Mannová und Roman Holec die katholische Kirche ihrer Privilegien beraubt: »The Catholic Church felt itself to be pushed onto the defensive and robbed of age-old privileges. It blamed the liberal state, behind which stood the ‘Jews and Protestants’ or ‘Free Masons’. During the cultural struggle, a new, more modern identity of the Church was formed, expressed in entry into political and social engagement. Under the influence of the Papal encyclical Rerum novarum a Christian social movement developed, with an anti-socialist, anti-capitalist, but above all anti-Semitic orientation« (ebd. 2000: 219). 18 | Vgl. Holec/Mannová (2000: 231 f.). Laut Jörg K. Hoensch begann sich »[…] auch unter den Minder‑ heitengruppen […] ein nationales Selbstbewußtsein zu entwickeln. Der romantische Volkstumsgedanke hatte ihre bescheidenen Eliten erfaßt und die Bewußtheit der eigenen Nationalität als einer persönlichen und gemeinschaftlichen Eigenschaft geweckt« (ebd. 2000: 32). Die Bestrebungen der SlowakInnen – wie auch anderer Minderheiten im »Vielvölkerreich« – zumindest nach einer eigenen Kulturnation wurden während der Aufklärung durch die Magyarisierungspolitik abgewehrt und nach der Revolution und dem gescheiterten ungarischen Freiheitskampf 1848/1849 weiterhin verstärkt unterdrückt (vgl. ebd.: 33 f.). »Die antimagyarische, sprachlich-volkliche, kulturelle und politische Agitation der Nationalitätenführer von 1848/49 wurde aber bis zum Umsturz von 1918 der vorherrschende Nährboden für den entfesselten Volks- und Staatsnationalismus derjenigen kleinen Nationen, die sich sowohl kulturell-geistig, sozioöko‑ nomisch und poltisch durch die magyarische Hegemonie überschichtet und in ihrem Bestand bedroht fühlten« (ebd.: 35). 19 | Vgl. Braham (2013a: 11); SNM (2009: 205). Einen schönen Einblick in das jüdische Leben gibt auch der Artikel des damaligen Rabbiners Dr. Emanuel Enten in der »Zeitschrift für die Geschichte der Juden in der Tschechoslowakei« von 1932. Dr. Enten war von 1917 bis 1944 der Rabbiner der neologischen Gemeinde in Košice (vgl. Enten 1932; SNM 2009: 205, 211).
96 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 Slovakia and the primary junction for the main east-west railroad, it linked Carpatho-Ruthenia, the Slo‑ vak, and the Czech regions, and this stimulated the economy.« (Braham 2013a: 9).
Sowohl die vielen Flüchtlinge als auch der Wechsel des politischen Systems und die Zugehörigkeit zur Tschechoslowakei bewirkten wesentliche Veränderungen respek‑ tive weitere Spaltungen innerhalb der jüdischen Minderheit. So schrieb die neue Re‑ gierung, um den Anteil an UngarInnen im Land zu reduzieren, den Juden eine eigene (jüdische) Nationalität zu. Bis dahin waren sie gezwungen, sich der Mehrheitsgesell‑ schaft anzupassen.20 Im Zuge dieser neuen Wahlmöglichkeiten der ethnischen Iden‑ tität, wählten entsprechend weniger (religiöse) Juden die damals aktiven jüdischen Parteien (vgl. Braham 2013a: 10). Einige Juden bekleideten damals hohe Positionen und hatten wichtige Ämter sowohl auf lokaler, als auch auf nationaler Ebene inne, was für ihre Integration in die Mehrheitsgesellschaft sprach. Laut den AutorInnen des SNM fühlte sich ein Großteil der Juden, insbesondere der AkademikerInnen, der ungarischen Minderheit zugehörig, sprach Ungarisch und unterstützte sie politisch. Die Jüngeren hingegen hätten sich den SlowakInnen beziehungsweise der tschecho‑ slowakischen Politik angeschlossen (vgl. ebd. 2009: 208). Ende des 19. Jahrhunderts erreichten zionistische Strömungen auch die Slowa‑ kei. In der Zwischenkriegszeit seien diese insbesondere unter der damals jüngeren Generation beliebt gewesen, so dass ihre Anzahl gewachsen sei. Einige der Anhänger dieser zionistischen Vereinigungen seien vor dem Zweiten Weltkrieg nach Palästina emigriert.21 Randolph Braham sieht diese Gesamtentwicklungen auch als Grund für den damals weiter anwachsenden Antisemitismus: »All in all, the growing sense of Jewish national identity in the younger generations of Kassa’s Jews and the newly arrived settlers in the two decades following World War I served, from the end of the 1930s, as an excellent argument for the antisemitic camp, which pointed the finger at the ›betrayal of Hungarian‑ ness‹.« (Ebd. 2013a: 10)
Košice hatte entsprechend dem Zuzug und der Landflucht als zweitgrößte Stadt auf dem damaligen slowakischen Gebiet den zweithöchsten Anteil der jüdischen Bevöl‑ kerung nach Bratislava. Dies schlug sich auch im Bau der neologischen Synagoge und einer zugehörigen Schule in den Jahren 1926/1927 nieder (vgl. SNM 2009: 205; Borský 2007: 83 f.). In demselben Jahr baute die ebenfalls stetig wachsende orthodoxe Ge‑ meinde eine größere Synagoge im maurischen Stil mit angegliederter Talmud-Tho‑ 20 | Vgl. Braham (2013a: 10): »For example, in 1921, approximately 60 percent (5275) of Kassa’s Jewish population declared itself ethnically Jewish, a category for which there was no linguistic requirement. At that time 20,4 percent (1798) declared themselves Slovak, and 14,7 percent (1290) Hungarian. This, of course was motivated not by actual identity but rather by the greater opportunity for social or economic advancement«. (Diese Zahlen weichen leicht von denen des SNM ab.) 21 | Vgl. Rothkirchen (1968a: 78 f.); Braham (2013a: 11); SNM (2009: 204, 207 f.). Zu den zionistischen Organisationen sowie der Emigration nach Palästina siehe Nir (2002).
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ra-Schule an der Puškinová. Die alte neologische Synagoge wurde nach ihrem Umbau von der Status-Quo-Ante-Gemeinde genutzt (vgl. SNM; Borský ebd.). Die über 11.000 Juden, die 1930 in Košice lebten und in der Volkszählung erfasst wurden, bildeten sowohl auf wirtschaftlicher und politischer als auch auf kultureller Ebene einen in‑ tegralen und wesentlichen Bestandteil der städtischen Kultur, die sie entsprechend prägten (vgl. SNM 2009: 205 f., 209).
Lučenec Die Geschichte der Juden in der Kleinstadt Lučenec verlief zwar in überschaubarerem Rahmen, aber von der Tendenz her ähnlich, zumal sie wie Košice einen zentralen Handelsknotenpunkt darstellte und die Hauptstadt des Komitats Nógrád [Novohrad, Neuburg] war (vgl. Drenko 1997: 103). Die jüdische Besiedelung von Lučenec wurde 1814 von dem ortsansässigen Ade‑ ligen Jozsef Szilassy initiiert, der jüdische Familien einlud, sich auf seinem Land nie‑ derzulassen. Davon versprach er sich, wie viele andere Adelige im damaligen Ungarn auch, einen blühenden Handel und die Anregung der städtischen Ökonomie (vgl. SNM 2010: 32; Braham 2013b: 689). »This time, it took place at the initiative of the Hungarian nobility, which sought a Jewish presence on its estates in order to revi‑ talize these properties through Jewish economic activities and tax money« (Borský 2007: 22). Durch die Begünstigungen der Szilassy-Familie ließen sich im Laufe der Jahre immer mehr jüdische Familien in Lučenec und Umgebung nieder. Die jüdische Gemeinde wurde 1814 in der Stadt gegründet, als bereits 30 Familien dort lebten. Zen‑ trale Einrichtungen wie ein Friedhof22, ein traditionelles Beerdigungsunternehmen, die Chewra Kadischa, ein jüdisches Gebetshaus, eine Mikwe und eine religiöse Schule (Cheder) wurden gegründet sowie ein Schächter und ein Religionslehrer eingestellt. Durch Zuzug und Landflucht wuchs auch die jüdische Gemeinde in Lučenec an und daraufhin wurde 1863 die erste Synagoge der Stadt im maurisch-reformierten Stil er‑ baut (SNM 2010: 33). Wie in anderen ungarischen jüdischen Gemeinden zu der Zeit, ergab sich nicht zuletzt aus der Architektur der Synagoge ein Zerwürfnis zwischen dem konservativen und dem liberalen Lager der Gemeinde, wie die AutorInnen des SNM berichten. Nach dem Budapester Kongress von 1868/1869 spaltete sich die Ge‑ meinde in Lučenec in die neologische, die orthodoxe und die Status-Quo-Ante-Grup‑ pe auf.23 Im Zuge der Industrialisierung wurde Lučenec durch seine geografisch günstige Lage und die Eisenbahnverbindung sowie wegen der vielsprachigen BewohnerInnen
22 | Hier ist der alte, orthodoxe jüdische Friedhof gemeint, der 1923 in der heutigen Mocsáry Straße ein‑ gerichtet wurde. 23 | Den AutorInnen des SNM zufolge erklärte sich die Gemeinde im Budapester Kongress zu einer Sta‑ tus-Quo-Ante-Gemeinde, gab dann dem Druck der liberalen Strömung nach und zählte sich ab 1870 zu den Neologen dazu (vgl. SNM 2010: 33).
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im Norden Ungarns zu einem wichtigen Handelsknotenpunkt.24 Randolph Braham betont die Rolle der Juden für die ökonomische Entwicklung der Region: »As throughout Nógrád County generally, in Losonc [Lučenec] the Jews assumed a leading role in the civic development of their home town. At the turn of the century, 80 percent of the commerce and trade was administered by Jews. They also constituted the largest group paying taxes in the city.« (Ebd. 2013b: 690)
Neben ihren wirtschaftlichen Erfolgen integrierten sich die Juden – insbesondere aus der neologischen Gemeinde – in Lučenec auch in das kulturelle und politische städ‑ tische Leben (vgl. SNM 2010: 34). Sie gründeten in Lučenec neben eigenen Schulen und zahlreichen anderen Institutionen auch einen Frauenverein, einen israelischen Mädchenverein und ein jüdisches Waisenhaus. Ein neuer Friedhof wurde 1871 von der neologischen Gemeinde eingeweiht, der alte wurde weiterhin von den ortho‑ doxen Juden in der Stadt genutzt (vgl. ebd.: 33). Gerade die Gräber aus dem ausge‑ henden 19. Jahrhundert und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf dem neologischen Friedhof in Lučenec geben Einblicke in das Leben und Auskunft über den Wohlstand der damals dort lebenden Juden. Aus eben dieser Zeit stammen die opulentesten, über zwei Meter hohen, massiven Grabsteine aus dunklem Marmor, auf denen sich über die gesamte Fläche in goldenen Buchstaben Erinnerungen an die Verstorbenen erstrecken. Die deutschen, ungarischen und hebräischen Inschriften verweisen auf die Sprachdominanz zur damaligen Zeit. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Mo‑ narchie wurde am 30. Oktober 1918 mit Unterstützung der Alliierten die Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik mit der Hauptstadt Prag vollzogen. Wie Elena Mannová und Roman Holec schreiben, gab es in der Nachkriegsgesellschaft antisemitische Übergriffe: »The end of the war found Slovak society in a state of com‑ plete moral disintegration. The collapse of the old administration and the absence of organs of the new state led to mass social eruptions, looting and anti-Jewish distur‑ bances« (Mannová/Holec 2000: 239). Auch in Lučenec gab es Überfälle auf jüdische Geschäfte und Wohnungen (vgl. SNM 2010: 34). Mit dem Zerfall der Habsburger Monarchie und der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik wurden Košice und Lučenec tschechoslowakisch.25 Die vorherige monarchische Staatsform erschwerte es Ľubomír Lipták zufolge der slowakischen Minderheit, sich den Entwicklungen in Wirtschaft, Urbanisierung und Mobilität zeitgemäß anzupassen (vgl. ebd. 2000: 244). »There were a range of serious difficulties, not least with the provision of ordinary everyday needs, steady inflation and growing unemployment, all of which caused growing social tension«, so die Historikerin Natália Krajčovičová (ebd. 2011: 148). Die entscheidende Hilfe für 24 | Vgl. Dorfman B./R. (2000: 243). Zur Industrialisierung siehe auch Holec/Mannová (2000: 202 ff.). 25 | »The frontier with Hungary to the south was confirmed only after prolonged negotiations at the Paris Peace Conference, by the Treaty of Trianon, signed on 4 th June 1920. The frontier was determined with the use of ethnic, economic and military-strategic elements« (Lipták 2000: 240 ff.).
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den Wiederaufbau der slowakischen Wirtschaft, der Industrie, des Militärs sowie des Bildungs- und Verkehrssystems kam aus der Tschechei (vgl. ebd.: 151 f.). Daher habe die Tschechei mit der Hauptstadt Prag nahezu alle Lebensbereiche dominiert und nach außen hin eine homogene tschechoslowakische Ethnie widerspiegeln wollen, in der ungeachtet der Minderheiten auch die »tschechoslowakische Sprache«26 ideali‑ siert worden sei. Die SlowakInnen aber waren daran interessiert, ihren eigenen, un‑ abhängigen Staat zu bekommen (vgl. Lipták 2000: 246). Für dieses Interesse stand vor allem die 1918 gegründete slowakische Volkspartei des katholischen Priesters Andrej Hlinka, HSĽS [Hlinková slovenská ľudová strana], ein (vgl. ebd. 247; Krajčovičová 2011: 144). Ihre Anhänger nannten sich selbst »Ľudáken« [Ľudáci]27. Die politischen Parteien machten sich die wirtschaftlich schwierige Situation und die wachsenden Spannungen zwischen den TschechInnen und den SlowakInnen während der Weltwirtschaftskrise zu eigen (vgl. Krajčovičová 2011: 149). Während der 1930er Jahre führte diese zur Stärkung der HSLS, die sich mit der Slowakischen Nationalpartei SNS [Slovenská Národná Strana] zusammengeschlossen hatte. Die in der Slowakei lebenden Juden genossen zwar Gleichberechtigung unter der demokratischen tschechoslowakischen Staatsform, doch hatten die meisten von ih‑ nen bei der Staatsgründung noch die ungarische Nationalität (vgl. Braham 2013a: XVI f.). Die VerfechterInnen der slowakischen Autonomie strebten an, dass sich die Minderheiten der slowakischen Nationalität verschrieben, insbesondere die Ungar‑ Innen, die immer noch als Bedrohung für das slowakische Territorium angesehen wurden. So waren in den nationalen Wochenzeitungen in Lučenec aus den 1930er Jahren häufig Aufrufe an die jüdische Minderheit zu lesen, von ihrer ungarischen Na‑ tionalität zur slowakischen zu wechseln: »Die Juden konnten sich in Ungarn schnell den Ungarn anpassen, heute passen sie sich unserem Staat nicht an. Das ist der Makel an den Juden« (Anonymus/Národný týždenník 1930/Nr. 41: 1). Weiterhin heißt es da: »Die Juden kapieren bis heute nicht, was das ist, eine Nationalität, daher halten sie sich nicht an ihre jüdische Nationalität, sondern an die fremde, ungarische. Damit stärken sie zwar die Ungarn in der Slowa‑ kei, aber sie machen sich selbst klein und geben Anlass zur allgemeinen Unterdrückung des Judentums.« (Ebd.: 2)
Bei der nahenden Volkszählung würde man sehen, ob den Juden die slowakische Na‑ tionalität etwas wert sei und inwiefern sie sich dem neuen Staat und der Nationalität anpassen würden. Dementsprechend könne man sich dann eine Meinung bilden und 26 | Laut Ľubomír Lipták wurde die Sprache in zwei Varianten, der slowakischen und der tschechischen, gesprochen. »In Slovakia, where the development and preservation of the Slovak language had played a great role, not only in the national revival, but also in the following struggles up to the First World War, this was a very sensitive issue and an instrument of political mobilization« (ebd. 2000: 246). 27 | Das slowakische »ľud« bedeutet Volk, Nation. »Ľudia« bedeutet Menschen. In Anlehnung an die Slowakische Volkspartei Hlinka’s HSĽS [Hlinková slovenská ľudová strana], nannten sich deren Anhänger »Ľudáci«, also Volksparteiler.
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sich auch den Juden gegenüber entsprechend verhalten (Anonymus/Národný týž‑ denník 1930/Nr. 41: 2). Hier ist deutlich herauszulesen, wie die Juden in der dama‑ ligen (Tschecho)Slowakei für politische Zwecke instrumentalisiert und unter Druck gesetzt wurden. Ebenso deutlich wird die feindliche Haltung der slowakischen Mehr‑ heit gegenüber der ungarischen Minderheit.28 Während dieser Zeit wuchs die Anzahl der Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Lučenec, so dass der Platz in der Synagoge nicht mehr ausreichte. 1926 wurde die 1100 Menschen fassende neologische Synagoge, eine der größten in der damaligen Slowakei, erbaut (vgl. SNM 2010: 35). Die orthodoxe jüdische Gemeinde, die 1919 den Status einer eigenständigen rechtskräftigen Institution erlangte, erbaute noch im Jahre 1930 ihre eigene Synagoge in Lučenec (vgl. ebd.: 35 f.). In beiden Gemeinden wurden von ihren Mitgliedern – wie in Košice auch – verschiedene karitative, kultu‑ relle, religiöse, politische und Sport-Vereine betrieben, wie beispielsweise eine Zweig‑ stelle der zionistischen Jugend, Haschomer Hacair (vgl. ebd.: 34). Auch aus Lučenec wurde die Emigration nach Palästina organisiert, so dass einige Gemeindemitglieder die Stadt in den Zwischenkriegsjahren verließen (vgl. ebd.: 36). Robert Büchler be‑ tont die Rolle der slowakischen Juden während der Zwischenkriegszeit nicht nur im wirtschaftlichen Bereich (vgl. Buechler 2002: 34), denn: »From the socio-economic point of view, Slovak Jewry played a ›bridge‹ status between West European and East European Jewry in the period between the two wars« (ebd.: 33). Im Verlauf der 1930er Jahre verschärften sich die nationalen Konflikte innerhalb der Tschechoslowakei. »The sharpening of the situation in the German areas of the Czech Lands was of key and fateful importance for the state. The former system of political parties completely collapsed there« (Lipták 2000: 255). Eine wesentliche Rolle spielte dabei seiner Darstellung zufolge die »Sudetendeutsche Heimatfront« als Machtinstrument Adolf Hitlers. Dessen Machtergreifung und die wachsende au‑ ßenpolitische Bedrohung der tschechoslowakischen Regierung durch die Annexion Österreichs, die Positionierung der deutsch-österreichischen Truppen und die Unter‑ stützung durch die deutsche Minderheit im Land verhalfen schließlich der slowaki‑ schen Regierung unter der neuen Führung von Jozef Tiso, ihre Autonomie gegenüber der Tschechei durchzusetzen (vgl. ebd.: 256 ff.). Am 29. September 1938 wurde das Münchner Abkommen unterzeichnet, in dem die neuen Grenzen der Tschechoslowakei festgelegt waren. Lipták beschreibt die Si‑ tuation so: »Britain and France did not want to risk war for the sake of a small Central European country. A bad assessment of the real aims of Hitler’s aggression led them to sign the Munich Agreement […]. Germa‑ 28 | Von den insgesamt 356.830 Juden die bei der zweiten tschechoslowakischen Volkszählung 1930 auf‑ genommen wurden, erklärten sich über 72.644 zur jüdischen Nationalität, 44.009 zur tschechischen oder slowakischen, 9728 zur ungarischen, der Rest zur deutschen und ruthenischen Nationalität. Im Gegensatz dazu hatten sich bei der Volkszählung 1921 noch 21.744 Juden zur ungarischen Nationalität gezählt (vgl. u. a. Ujvári 1929: 85; Rouček 1940: 171–192 zit. n. Rothkirchen 1968b: 92, 102).
Geschichte und Gegenwart des jüdischen Lebens | 101 ny, Italy, Great Britain and France, without the participation of Czechoslovak representatives, dictated Czechoslovakia’s new frontiers with Germany, which made the state defenceless against Hitler. […] The Munich dictate was an important step towards the outbreak of the Second World War, and in circumstanc‑ es favourable to the aggressor. Its acceptance by the Czechoslovak government and by President Beneš politically and morally marked Czech and Slovak society for decades.« (Ebd. 2000: 257)
Am 22. November 1938 wurde über die Autonomie des Slowakischen Staates unter dem neuen Präsidenten Jozef Tiso abgestimmt. Darüber hinaus wurde den Revisi‑ onsforderungen von Polen und Ungarn nachgegeben, so dass im Wiener Schieds‑ spruch vom 2. November 1938 die neuen Grenzen der Slowakei festgelegt wurden. So wurde die gesamte Südslowakei mit Košice und Lučenec wieder ungarisch, was auch ökonomische Verluste für die Slowakei bedeutete: »This dramatic forfeit of ter‑ ritory seriously disrupted the state’s railway and communications network and the wider economy; important centres such as Košice, Nové Zámky, Levice and Lučenec were lost« (Bystrický 2011: 166). Ungefähr 60.000 UngarInnen blieben in der Slowa‑ kei, in der es aufgrund der nationalistischen Regierung zu Konfrontationen mit den Minderheiten kam. Unter Präsident Jozef Tiso wurde der slowakische Satellitenstaat Hitler-Deutschlands durch eine Militärdiktatur regiert (vgl. Lipták 2000: 263, 259). Laut Valerián Bystrický ergriff die HSĽS bereits während der Phase ihrer Machtüber‑ nahme anti-jüdische Maßnahmen im Land: »During the process of taking over and consolidating its power, the Hlinka’s Slovak People’s Party had already endeavoured to limit the economic role and overall social influence of the Jewish and Czech inhab‑ itants of Slovakia« (ebd. 2011: 163). Diese und weitere Maßnahmen gipfelten schließ‑ lich im Holocaust: »The dictatorship and aggressive atmosphere, created by Nazi Ger‑ many through the war, supported the change of the traditional Ľudák anti-Semitism into a brutal, systematic and state directed form, which finally led to the killing of the majority of Slovak citizens of the Jewish religion« (Lipták 2000: 263). Aufgrund der damaligen geopolitischen Bedingungen ist die Geschichte des Zweiten Weltkriegs in Ungarn und der Slowakei unterschiedlich verlaufen, was unter anderem sowohl für die Opfer als auch auf verschiedenen Ebenen der Erinnerungspo‑ lik immer noch eine Rolle spielt (vgl. Kapitel 4.2.3). Daher wird nachfolgend zunächst der slowakische und dann der ungarische Holocaust beschrieben.
4.1.2 Der Holocaust in der Slowakei und in Ungarn Slowakei Die Ressentiments gegen die jüdische Bevölkerung im Slowakischen Staat gingen wei‑ ter und kulminierten in der »Endlösung der Judenfrage«, die bereits im Herbst 1938 beziehungsweise im Frühling 1939 gestellt wurde. Man wollte alle Juden »loswerden«, nur wie, habe man nicht gewusst (Kamenec 2002: 112 f.). Dabei spielte die Funktion, die der Satellitenstaat in der nationalsozialistischen Politik Deutschlands hatte, eine wesentliche Rolle, so Lipták:
102 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 »In the years of the war, the Slovak Republic had the function of a sort of show case in Nazi policy. It was intended to demonstrate, especially to the nations of south-east Europe, that Hitler not only occupied countries, but also ›liberated‹ nations. Slovakia was also an area for experiments, for example in building the position of the German minorities in south-east Europe, or the so-called solution of the Jewish ques‑ tion.« (Lipták 2000: 260).
Zwischen 1938 und 1940 verließen lediglich 3000 Juden die Slowakei. 7500 Juden wurden nach dem ersten Wiener Schiedsspruch vom 4. bis 5. November 1938 in das mittlerweile wieder zu Ungarn gehörende Gebiet der Südslowakei deportiert (vgl. Nižňanský 2010: 45). Ivan Kamenec beschreibt die Haltung und Situation der slowa‑ kischen Juden so: »Voluntary emigration was not simple because it required large financial expenditures and also it seems that many local Jews in 1938–1940 underestimated the increasing danger of the anti-Semitic policy of the government and did not intend to emigrate. They thought it was a transitional period and considered Slovakia their own homeland. They were not able to realize that the regime which, in its constitution, proclamations of its highest representatives and its propaganda, professed Christian ideology, could fail outrageously.« (Kamenec 2002: 113)
Im September 1940 kam der Deutsche Dieter Wisliceny, der für Adolf Eichmann ar‑ beitete, in die Slowakei, um die Regierung in der »Lösung der Judenfrage« zu »be‑ raten«. Durch Enteignung der Juden habe man deren Deportation begründen und innerhalb eines Jahres umsetzen wollen (vgl. Kamenec 2002: 114 f.; Büchler/Fatra‑ nová 2009: 9). Der sogenannte »Judenkodex« vom 9. September 1941, der sich am »rassischen Prinzip« der Nürnberger Gesetze orientierte, beinhaltete 270 Gesetze, die zum Ziel hatten, die jüdische Bevölkerung ihres Besitzes zu enteignen und sie zu de‑ portieren.29 In diesem Jahr wurde auch der Zentralverband der Juden als einzige noch erlaubte jüdische Organisation im Land gegründet. Alle anderen Verbände und Institutionen wurden verboten. Der »Judenkodex« war der letzte Akt in der Vorbereitung der »End‑ phase«, den Deportationen der slowakischen Juden in Vernichtungslager (vgl. Büch‑ ler/Fatranová 2009: 9). Ab Ende Oktober 1941 wurde die Frage der Deportation der slowakischen Juden in einem kleinen Kreis von Politikern diskutiert. Dabei verhan‑ delte Vojtech Tuka, Premier- und Außenminister mit den deutschen Repräsentanten, unter anderem auch dem deutschen Botschafter Hans Ludin. Dabei erörterten sie laut Ivan Kamenec auch den »Preis« für die Deportationen: »On the same occasion V. 29 | Vgl. Kamenec (2002: 115); Büchler/Fatranová (2009: 9). »The Jews had to wear a five pointed yellow star, their letters had to be marked with it, their right to travel was limited, they could not own means of transport, radios or cameras, they had limited access to parks, cinemas, swimming pools, cafes and restaurants. They had limited hours for shopping and free movement in towns. They had to leave their homes in some streets, they were exposed to systematic hate propaganda and physical attacs from the Hlinka Guard and Freiwillige Schutzstaffel« (Lipták 2000: 264).
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Tuka enclosed the treaty concerned with the so-called colonization fee. According to this the Slovak government was obliged to pay to Germany 500 Reich marks for each deported Jewisch person […] to found ›settlement costs‹« (ebd. 2002: 116). Die Rolle des Präsidenten Jozef Tiso, der nicht auf die Bitten des Dachverbands der slowakischen Juden reagiert habe, sei hinsichtlich der Deportationen und der »Lösung der Judenfrage« passiv gewesen, schreibt Kamenec. Als Priester und Vertre‑ ter der katholischen Kirche30 habe er in einem Dilemma gesteckt, »to advance prag‑ matically as a representative of the satellite state and its totalitarian regime or to fol‑ low the principles of the Christian religion in whose service he was directly engaged. He tried to find a compromise but the objective results of his actions prove that he chose the first road« (ebd.: 118). Die slowakischen Juden waren unter den ersten Deportierten, so Büchler und Fa‑ tranová (vgl. ebd. 2009: 10). In der Nacht vom 25. auf den 26. März 1942 wurden ihrem Bericht zufolge 1000 Mädchen und Frauen aus Poprad und der Region nach Auschwitz deportiert.31 Ausgeführt wurden die Deportationen von der sogenannten »Hlinka-Garde« und der »Freiwilligen Schutzstaffel«, einer freiwilligen, paramilitäri‑ schen Organisation von Deutschen (vgl. Rothkirchen 1996: 169). Bis zum 20. Oktober 1942 wurden 58.000 Juden in 57 Transporten aus der Slowakei nach Lublin (Konzen‑ trationslager Majdanek) und Auschwitz deportiert. 20.000 blieben als »wirtschaftlich wichtige Juden« im Land, 3500 wurden in Arbeitslagern in Novaky, Vyhne und Se‑ red 32 interniert. In dieser Zeit formierte sich um Michael Dov Weissmandel und Gisi Fleischmann eine »Arbeitsgruppe«, der es gelang, die Deportationen aus der Slowakei für zwei Jahre zu stoppen.33 Dabei habe wiederum auch die katholische Kirche eine Rolle gespielt, so Yeshayahu Jelinek: »Tiso and the Slovak Government policy left an unfavorable impression on many of the Vatican’s diplo‑ mats and church dignitaries from various places. The insistence of Jewish people and Jewish organiza‑ tions in Slovakia, in the neutral countries of the West, yes, even in Germany and in the countries of the 30 | Zu Jozef Tiso vgl. Ward (2013). Zur Rolle der katholischen Kirche während des Holocaust vgl. Jelinek (2002) und Rothkirchen (1967). 31 | Vgl. Kamenec (2002: 123); Strzelecka (2002: 186). Strzelecka schreibt hier von 999, Kamenec von 1000 jüdischen Frauen, die deportiert worden seien. Peter Salner erklärte mir dazu, dass eine der Frauen auf dem Weg verstorben ist, so dass nur 999 ankamen. Zum Konzentrationslager Auschwitz vgl. die mehrbän‑ dige Studie von Wacław Długoborski und Franciszek Piper (1999). 32 | Zu den slowakischen Arbeitslagern vgl. Šivos (2011) und Pavúk (2012). 33 | Vgl. Büchler/Fatranová (2009: 19). »In the summer of 1942, when the mass deportation were at their peak, the group initiated a rescue scheme: they bribed the SS chiefs to save the remaining Jews through a ‘work stratagem’ (erection of labor camps in Slovakia) and the so-called Europa Plan, an attempt to save the remnant of European Jewry by paying ransom. Members of the Working Group were the first to unmask the systematic mass murder of European Jewry and to transmit to Jewish organizations abroad detailed accounts written by escapees who in the late summer of 1942 had, miraculously, already made their way back to Slovakia« (Rothkirchen 1996: 170).
104 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 ›New Europe‹, had without doubt had an accumulative effect. This effect was not strong enough in 1942 to prevent the deportations, maybe also because of the political and military situation, but it became strong enough in 1943–1944 (until the Slovak National Uprising).« (Jelinek 2002: 173)
Der Widerstand formierte sich auch in Form des Slowakischen Nationalaufstands [Slovenské Národné Povstanie] mit dem Zentrum Bánska Bystrica in der Mittelslo‑ wakei, der am 29. August 1944 ausbrach und das Regime stürzen wollte. Unterstüt‑ zung bekam die Bewegung, die von der slowakischen Armee sowie den Alliierten ausging, sowohl seitens einiger Häftlinge des Lagers Nováky als auch von zahlreichen jüdischen Flüchtlingen, die sich vor der Bedrohung durch die einmarschierenden deutschen Truppen schützen wollten. Aus dem damaligen Palästina wurden Fall‑ schirmjäger zur Unterstützung geschickt. Der Aufstand wurde binnen zwei Monaten niedergeschlagen, doch die insgesamt 1600 Juden in der Armee der Aufständischen kämpften bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs.34 Nach Einmarsch der deutschen Truppen wurden vom 30. September 1944 bis 31. März 1945 weitere 12.000 bis 13.500 Juden, ungeachtet ihres Status, deportiert (vgl. Kamenec 2002: 119, 136; Büch‑ ler/Fatranová 2009: 10). Die deutsche SS wurde bei den Deportationen – wieder – von der Hlinka-Garde unterstützt (vgl. Kamenec 2002: 117; Rothkirchen 1996: 171). Von den 136.737 slowakischen Juden aus der Vorkriegszeit überlebten laut Livia Rothkir‑ chen nur 25.000.35
Ungarn 10.000 slowakische Juden flohen vor den Deportationen nach Ungarn (vgl. Büchler/ Fatranová 2009: 10). Dort waren die Entwicklungen für die jüdische Bevölkerung je‑ doch ähnlich. In der Volkszählung von 1941 erklärten sich 725.007 der über 14 Mil‑ lionen UngarInnen als Juden. Von ihnen lebten 324.026 in den Gebieten, die Ungarn zwischen 1939 und 1941 zugesprochen worden waren (Braham 2013a: xix). »Following the absorption of historic Hungary’s major national minorities into successor states through the transfer of territories, the Jews clearly became the coun‑ try’s most vulnerable minority group« (ebd.: xvii). Nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie und der beabsichtigten Transformation in einen homogenen Staat, verlo‑ ren die Juden ihre wichtige Rolle für das »Magyarentum«. »In the new truncated state they came to be exploited for another purpose: as in Nazi Germany a little later, they
34 | Vgl. Büchler/Fatranová (2009: 10). Der Slowakische Nationalaufstand war nach Vilém Prečan auch ausschlaggebend dafür, welcher Status der slowakischen Bevölkerung und dem Land im Nachkriegseu‑ ropa zugesprochen wurde (vgl. ebd. 2011: 207 ff.). Zum Slowakischen Nationalaufstand und Widerstand während des Zweiten Weltkriegs vgl. auch Hoensch (2000: 245); Rychlík (2011); Spitzer (2002); Kulka (2002); Tóth (2008). 35 | Vgl. ebd. (1996: 171). Robert Büchler und Gila Fatranová schreiben, dass wahrscheinlich 100.000 der slowakischen Juden, also 73 Prozent von denjenigen, die auf dem Gebiet der Slowakei von 1938 lebten, umgekommen seien (vgl. ebd. 2009: 10).
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were conveniently used as scapegoats for most of the country’s misfortunes, including its socioeconomic dislocations« (ebd. xvii). In Ungarn setzte man nach dem Ersten Weltkrieg und der Niederschlagung der Räterepublik auf die monarchistische Wiederauferstehung und Admiral Miklós Horthy wurde als Regierungsoberhaupt beziehungsweise »Reichsverweser« einge‑ setzt.36 Die Historiker Christian Gerlach und Götz Aly betonen, dass Ungarn »aus mehreren Gründen […] eigentlich kein natürlicher Verbündeter des Nationalsozialis‑ mus [habe sein können]« (ebd. 2002: 19). Die Regierungsform unter Horthy sei auto‑ ritär-integrativ, jedoch nicht faschistisch gewesen (vgl. ebd.: 19 f.). Großgrundbesitz dominierte nach der Agrarreform das Land, woraus sich aufgrund der krisenhaften wirtschaftlichen Entwicklungen wie auch im übrigen Europa schnell ein sozialer Konfliktherd entwickelte. Die vorkapitalistischen Verhältnisse und die sozial rück‑ ständige Struktur, die zur Massenverelendung des Volkes führte, wurde von einigen ungarischen Parteien angeprangert. Einige von ihnen orientierten sich in ihrer Aus‑ richtung am »Dritten Reich« und am faschistischen Italien, so auch die »Pfeilkreuz‑ ler«. Deren Vorsitzender Ferenc Szálasi habe seine Interessen gegen die Verfassung und insbesondere gegen das von ihm als »feudalkapitalistisch und sozialdemokra‑ tisch-kommunistisch« bezeichnete Judentum gerichtet, so Gerlach und Aly. Szálasi und seine Anhänger traten für einen nationalsozialistischen Arbeitsstaat ein, für den sie sich dem »Dritten Reich« außen- und handelspolitisch angenähert hätten (vgl. Szöllösi-Janze 1989: 114 f. zit. n. Gerlach/Aly 2002: 22 f). Für die jüdische Bevölkerung im Land bedeutete das eine wachsende Bedrohung: »In this climate it was no surprise that, in the wake of the White Terror, Hungary – the country in which the Jews had enjoyed a ›Golden Era‹ just a few years earlier – emerged as the first country in post-World War I Europe to adopt anti-Jewish legisla‑ tion« (Braham 2013a: xvii). Bereits 1920 wurde an ungarischen Hochschulen ein Numerus Clausus einge‑ führt, der gegen jüdische StudienanwärterInnen gerichtet war und die Zahl der ein‑ geschriebenen Juden auf sechs Prozent der gesamten Eingeschriebenen beschränkte (vgl. ebd.; Gerlach/Aly 2002: 38). Die Juden sahen dies als temporäre Entwicklun‑ gen und verzichteten sogar auf Hilfe von außen (vgl. Braham 2013a: xvii). Die an‑ ti-jüdische Propaganda wurde durch die Machtergreifung der Nazionalsozialisten in Deutschland und die Ernennung des neuen Ministerpräsidenten Gyula Gömbös, eines überzeugten Antisemiten (vgl. Gerlach/Aly 2002: 39), verschärft, so dass »[t]he Jewish issue soon became a national obsession that frequently rivaled revisionism in intensity. […] The propaganda campaign soon was coupled with demands for a definitive solution of the Jewish question« (Braham 2013a: xvii). Gömbös sei es gewe‑ sen, der maßgeblich das Schicksal der ungarischen Juden vorbereitet habe, indem er 36 | Nach dem Ersten Weltkrieg bestand in Ungarn die Staatsform der Monarchie, Reichsverweser Admiral Horthy fungierte als Stellvertreter des Königs. Dabei gab es in Ungarn ein breites Parteienspektrum von den Nationalsozialisten über die Sozialdemokraten bis hin zu den Liberaldemokraten (vgl. Gerlach/Aly 2002: 19 ff.; vgl. dazu auch Hauszmann 2004: 214 ff.).
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Ungarns Schicksal als das eines Verbündeten nahezu unwiderruflich an das von Na‑ zi-Deutschland gebunden habe, so Braham (vgl. Braham: xviii). Ungarn unterhielt in seiner schlechten Wirtschaftslage Handelsbeziehungen zu Deutschland, das die Ab‑ hängigkeit des rückständigen Landes ausnutzte (vgl. Gerlach/Aly 2002: 30 ff.). Über das Versprechen Hitlers, den Ungarn bei der Revision der Trianon-Grenzen zu helfen, näherten sich die beiden Länder an, was von deutscher Seite einen Schritt in Richtung Unterwerfung des schwächeren Ungarns bedeutete.37 Im Mai 1938 wurde das sogenannte »Erste Judengesetz« in Ungarn verabschie‑ det, das den Anteil der Juden in diversen Berufszweigen und Betrieben auf 20 Pro‑ zent beschränkte (vgl. Braham 2013a: xviii; Hauszmann 2004: 239). Darauf folgte ein Jahr später das »Zweite Judengesetz«, das den Anteil an erwerbstätigen Juden in diesen Sektoren auf höchstens sechs Prozent senkte und eine detaillierte Definition darüber enthielt, wer ein Jude sei (vgl. Braham 2013a: xviii). Das »Dritte Judengesetz« war nach Braham »by far the most brazenly racist piece of legislation ever adopted in Hungary […] The law, which emulated Nazi Germany’s Nuremberg Law of 1935, went into effect on August 2, 1941. Among other things, it prohibited marriage and sexual relations between Jews and non-Jews« (ebd.: xviii f.). Auch in Košice und Lučenec kam es ab 1938 und nach der Verabschiedung der Judengesetze verstärkt zu antisemiti‑ schen Übergriffen, Enteignungen und Umsiedlungen der jüdischen Bevölkerung (vgl. hierzu Salamon 2002). 300 jüdische Familien aus Košice ohne ungarische Staatsange‑ hörigkeit wurden 1941 in die Ukraine deportiert und dort ermordet. Zahlreiche jüdi‑ sche Flüchtlinge aus Polen und der Slowakei fanden in Košice Zuflucht und finanzielle Unterstützung (vgl. SNM 2009: 209 f.; ebd. 2010: 38; Braham 2013a: 12 f.). Ab 1941 wurden verstärkt jüdische Männer in den Arbeitsdienst der Armee ein‑ berufen (vgl. Gerlach/Aly 2002: 55, 77 f.; Rothkirchen 1996: 172). Laut Randolph Bra‑ ham wogen sich die Juden selbst angesichts der Judengesetze noch in Sicherheit und empfanden diese als »›the best guarantee against antisemitism and intolerance.‹ In consequence, they were convinced that the safety and well-being of the Jews were firmly linked to the preservation of the basically reactionary conservative-aristocratic regime« (ebd. 2013a: xix). Die Haltung der ungarischen Juden vor und während des Holocaust lasse sich auf die »Goldene Ära« zurückführen, so Braham: »Die Leitungs‑ ebene der überregionalen Organisationen war davon überzeugt, dass die engen Bin‑ dungen, die sie mit der herrschenden konservativ-aristokratischen Führung Ungarns geknüpft hatte, die Juden vor der Verfolgung schützen könnten« (ebd. 2005: 17 f.). So hätten die nationalen jüdischen Repräsentanten trotz der zwischen 1941 und 1944 ermordeten 60.000 Juden im Land weiterhin geglaubt, »dass das, was sich in Polen
37 | Mit dem Zweiten Wiener Schiedsspruch vom 30. August 1940 wurden die Grenzen Ungarns um nahezu das Doppelte erweitert, damit wurden allerdings auch die Forderungen Deutschlands an ein deutsch-un‑ garisches Landwirtschaftsabkommen beschlossen und der in Ungarn lebenden deutschen Minderheit die Umsiedlung ins nationalsozialistische Deutschland gewährt (vgl. Szöllösi-Janze 1989: 255; Schieder 1995: 75E zit. n. Gerlach/Aly 2002: 32).
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und anderswo im nationalsozialistisch dominierten Europa ereignete, in Ungarn un‑ möglich geschehen konnte«.38 Die Informationen über die Massenmorde an Juden in Deutschland und die von UngarInnen an Juden begangenen Verbrechen wurden in der Presse kaum erwähnt, dennoch wusste man den HistorikerInnen zufolge um die Geschehnisse in den Nach‑ barländern. Zudem war eine massenhafte Auswanderung auch aufgrund der restrik‑ tiven Einwanderungspolitik möglicher Aufnahmeländer wie etwa Großbritannien oder Palästina, nicht möglich (vgl. Gerlach/Aly 2002: 55). Die Juden hätten sich in Ungarn »in jeder Beziehung sicher« gefühlt, so Braham. Denn: »Die Regierung von Miklós Kállay (9. März 1942 bis 19. März 1944) wies konsequent die beharrlichen Auf‑ forderungen der Deutschen zurück, die ›Endlösung der Judenfrage‹ zu übernehmen und durchzuführen« (ebd. 2005: 18). Zudem sei der Optimismus in der jüdischen Bevölkerung dadurch verstärkt worden, dass die ungarischen und deutschen Arme‑ en in ihren Kämpfen an der Ostfront gescheitert seien und Italien kapituliert habe (vgl. Braham 2005: 18). »Die örtlichen und zionistischen Führungsgremien waren so überzeugt von der Chance des Überlebens der Juden, dass sie sich offenbar entschlos‑ sen, der jüdischen Bevölkerung ihre Kenntnisse über Auschwitz und die ›Endlösung‹ vorzuenthalten« (ebd.). Laut dem Historiker Kristián Ungváry war die ungarische Regierung »trotz der Bereitschaft der politischen Elite und weiter Teile der Bevölkerung bis 1944 nicht bereit, radikale soziale Umverteilungen auf Kosten der Juden einzuleiten. Ethische Traditionen und konservative Politik machten Horthy und seine Vertrauensmänner misstrauisch gegenüber einer ›totalen Lösung‹« (ebd. 2005: 50). Im Verlauf des Kriegsgeschehens wurde Ungarn im deutschen Bündnis – auch in Bezug auf die »Endlösung der Judenfrage« – immer weiter unter Druck gesetzt und sah sich angesichts der vorrückenden sowjetischen Truppen und der erfolgrei‑ chen Kämpfe der Alliierten zusehends geschwächt. So versuchte der damals amtie‑ rende Ministerpräsident Kállay – so wie Horthy die Jahre zuvor – die Bindungen an Deutschland zu lockern und gleichzeitig geheime Verhandlungen mit den Westmäch‑ ten aufzunehmen.39 Wie es Hauszmann beschreibt, »[nahm] das historische Gesche‑ hen […] bekanntlich einen völlig anderen Verlauf: Denn Hitler hatte genug von der ›Schaukelpolitik‹ Kállays und vereitelte sämtliche Absprungpläne der Ungarn, indem er am 19. März 1944 deutsche Truppen in Ungarn einmarschieren ließ« (ebd. 2004: 251). Nachdem die »Operation Margarethe I«, wie die Besetzung von Ungarn genannt 38 | Braham (2005: 18). Im August 1941 wurden circa 18.000 Juden aus der Karpato-Ukraine nach Galizien verschleppt und dort von der SS erschossen. Im von Ungarn annektierten Batschka wurden von ungari‑ schen Soldaten in verschiedenen Dörfern Razzien durchgeführt, bei denen über 3300 Menschen getötet wurden (vgl. Gerlach/Aly 2002: 55, 74 ff.; Braham 2013a: xix). 39 | Horthy versuchte sich bereits vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gegen den »Rechtsruck« durch die faschistische Pfeilkreuzlerpartei einzusetzen (vgl. Hauszmann 2004: 228 ff., 234 ff., 239). Kállay beschloss am 3. September 1943 ein geheimes Vorabkommen mit dem britischen Geheimdienst (vgl. ebd.: 251; Braham 2013a: xl).
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wurde, von Hitler abgesegnet worden war, besprach er die Situation Ungarns mit Miklós Horthy. Die ungarische Regierung unternahm nichts gegen die Besatzung (vgl. Hauszmann 2004: 251; Braham 2013: xl f.). Unter dem Sonderkommando von Adolf Eichmann und der Mithilfe der ungarischen Pfeilkreuzler sowie der Polizei40 wurden aus dem damaligen Ungarn 440.000 Juden zwischen dem 15. Mai und 8. Juli 1944 nach Auschwitz deportiert. »Members of the Sondereinsatzkommando led by Adolf Eichmann were, in fact, amazed at the enthusiasm with which their Hungarian counterparts were ready to ›solve‹ the Jewish question« (Braham 2004: 4, Herv. i. O.). Braham berichtet weiterhin: »With Horthy still at the helm and providing the symbol of national sovereignity, the Hungarian police, gendarmerie, and civil service collaborated with the SS in the anti-Jewish drive with a routine and ef‑ ficiency that impressed even the Germans. Within less than two months (i. e. from late March to midMay, 1944), the Hungarian authorities acted in conjunction with their Nazi ›advisors‹ to complete the first phase of the anti-Jewish drive. The Jews were isolated, marked, robbed of their possessions, and placed into ghettos. During the next two months, they were subjected to the most barbaric and speedy deportation and extermination program of the war. It was so massive and so swift that the crematoria in Auschwitz-Birkenau, updated as they were, could not cope.« (Ebd.: 4)
Insgesamt kamen während der deutschen Besatzung laut Randolph Braham 501.507 Juden, die sich auf ungarischem Territorium befanden, um. Bis 19. März 1944 waren es bereits 63.000. Die Gesamtzahl der ermordeten Juden aus Ungarn ohne die‑ jenigen, die geflohen sind, beläuft sich auf 564.507 (vgl. ebd. 2013a: xciv). Bereits am 19. März 1944 erreichten eine Militäreinheit, die Sicherheitspolizei sowie weitere Diensteinheiten Košice, dies geschah laut Braham aufgrund der stra‑ tegisch wichtigen Position der Stadt (vgl. ebd. 2013a: 13). In der ersten Aprilhälfte wurden ungefähr 4000 Juden aus umliegenden Gemeinden und der Region in die Stadt gebracht. Zu dieser Zeit begann die Ghettoisierung der Juden in den Straßen um die jüdische Gemeinde herum und etwas später wurde ein weiteres Ghetto für »pri‑ vilegiertere« Juden in der Nähe der orthodoxen Synagoge errichtet (vgl. ebd.; SNM 2010: 210). Ab dem 25. April wurden Juden in den Gebäuden und Synagogen der jüdi‑ schen Gemeinde untergebracht. Von dort aus wurden sie in die Ziegelfabrik am Stadt‑ rand gebracht. Dort waren insgesamt 11.838 Personen, in der Stadt blieben ungefähr 300 »privilegierte« Juden. In der Ziegelei herrschten unmenschliche Bedingungen, eine Flucht war laut Braham und den AutorInnen des SNM nahezu unmöglich. Die Polizeieinheiten, unter denen sich auch der 2012 in Ungarn verhaftete Lászlo Csatáry befand, hätten das Ghetto unter Einsatz großer Brutalität beaufsichtigt. Widerstands‑ bewegungen und Rettungsaktionen seien aufgrund der strengen Bewachung begrenzt gewesen. Der Bischof Jozef Čársky habe mit einigen katholischen Geistlichen vor der Ziegelei gegen die Deportationen – vergeblich – demonstriert (vgl. ebd.: 14 f; SNM 40 | Zur Rolle der ungarischen Polizei und der Gendarmerie, die die SS unterstützte, sowie die genaue Durchführung und Planung der Deportationen siehe Braham (2013a: xlvi ff.).
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2010: 210 f.). Die Deportationen der mittlerweile 15.707 Juden aus Košice nach Ausch‑ witz dauerten 18 Tage und begannen mit zwei Transporten am 15. Mai 1944, weitere drei folgten am 19. und 25. Mai sowie am 3. Juni 1944. Wie die AutorInnen des SNM schreiben, spielte die Stadt eine wichtige Rolle bei den Deportationen der ungarischen Juden, denn 137 Transporte gingen durch Košice. Nach den Deportationen, die von der Mehrheit der Bevölkerung gebilligt und zum Teil auch unterstützt worden sei‑ en, seien die 6000 jüdischen Wohnungen vom Staat übernommen und der jüdische Besitz gestohlen oder versteigert worden. Es hätten sich ungefähr 100 Košicer Juden mit Hilfe der StadtbewohnerInnen in Verstecken vor den Deportationen gerettet (vgl. SNM 2009: 211). Lučenec wurde ebenfalls im März 1944 von deutschen Truppen besetzt. Über 2000 Juden, davon 1809 aus Lučenec und 224 aus der Region, wurden am 5. Mai 1944 in ein Ghetto, welches das Gebiet um die neologische Synagoge einschloss, die als Sammellager diente, umgesiedelt.41 Wenigen gelang die Flucht aus dem Ghetto. Im Mai wurden ungefähr 80 junge Männer aus dem Ghetto in Einheiten der ungarischen Armee zur Zwangsarbeit verschleppt. Anfang Juni wurden die Juden aus Lučenec in die städtische Ziegelei und von dort über einen Sammelpunkt nahe der Stadt Balas‑ sagyarmat am 12. und 14. Juni 1944 nach Auschwitz deportiert. Wie in Košice auch, wurde der jüdische Besitz verpfändet oder gestohlen (vgl. SNM 2010: 38). Erst Anfang Juli 1944 ging Reichsverweser Horthy gegen die Deportationen vor: »It was only early in July that Horthy finally decided to take action. The relentless do‑ mestic and foreign pressures were reinforced by the spectacular victories of the Allies, the bombings of Budapest […]« (vgl. Braham 2013a: lxxxi). Doch zu diesem Zeitpunkt seien bereits über 434.351 Juden aus Ungarn deportiert worden. Mit Ausnahme der Budapester Juden und derjenigen, die in Arbeitslagern und an der Front gewesen sei‑ en, sei Ungarn innerhalb von vier Monaten »judenrein« gewesen, so Braham.42 Während dessen bereitete sich die Pfeilkreuzler-Partei auf einen Staatsstreich vor (vgl. Hauszmann 2004: 253; Braham 2013a: lxxxi). Die Deutschen seien über alle Schritte der ungarischen Regierung informiert gewesen und hätten insbesondere die Spitze der Pfeilkreuzler-Partei schützen wollen. Diese hatte Horthy, der einen Rückzug der Ungarn aus dem Kriegsgeschehen plante, im September einsperren lassen. Nach seinem Rücktritt am 15. Oktober 1944 gelangten die Pfeilkreuzler mit Unterstützung der Deutschen an die Macht. Damit gingen die Deportationen der 150.000 Juden, die in Arbeitslagern waren und der 150.000–160.000 Juden in Budapest weiter. Die Pfeil‑ kreuzler-Armee sei sowohl für die Erschießungen von tausenden Juden an der Donau 41 | Wie mir im städtischen Archiv und im Amt für Denkmalschutz berichtet wurde, mussten Juden mit anderen StadtbewohnerInnen die Wohnungen »tauschen«. Die AutorInnen des SNM schreiben von der »Mühlen-Kolonie« [Mlynská kolónia], die aus zwei Gassen mit ungefähr 20 Häusern und weiteren 19 Stra‑ ßen bestanden habe (vgl. ebd. 2010: 38). Randolph Braham schreibt, dass bis zum 27. Mai 1944 2034 Juden im Ghetto zusammengepfercht worden seien, was ungefähr sechs Menschen in einem Raum bedeutet habe. Diese hätten vorher in 348 Wohnungen in 52 Straßen der Stadt gelebt (vgl. ebd. 2013b: 690 f.). 42 | Vgl. ebd. (2013a: lxxiv). Zu dem Schicksal der Juden in Budapest siehe ebd.
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in Budapest als auch für Todesmärsche und weitere Deportationen ungarischer Juden verantwortlich gewesen, so Braham (vgl. ebd. 2013a: lxxv ff.). Auch in Košice mordeten die Pfeilkreuzler nach ihrer Machübernahme. Im No‑ vember 1944 leiteten sie in Güterwagons am Bahnhof, in denen sich Juden aus Miskolc befunden haben, Gas ein. Dabei kamen 220 Menschen um. Im Januar 1945 führten sie weitere Hinrichtungen durch, unter deren Opfern auch Juden aus Arbeitskom‑ mandos der ungarischen Armee waren (vgl. SNM 2009: 211). Insgesamt überlebten laut den AutorInnen des SNM ungefähr 800 Juden aus Košice den Holocaust (vgl. ebd.). Randolph Braham zufolge waren es 3000, darunter diejenigen, die sich in den Untergrund geflüchtet hatten, oder Männer aus Arbeitslagern und der tschechoslo‑ wakischen Armee. Es bleibt unklar, ob Braham die zahlreichen jüdischen Überleben‑ den, die nach Kriegsende nach Košice kamen, aber ursprünglich aus anderen Städten stammten, dazuzählt (vgl. ebd. 2013a: 16). Laut Braham kehrten von den über 2000, die aus Lučenec deportiert worden wa‑ ren, ungefähr 294 Juden zurück. Es seien 1053 Namen von Holocaustopfern aus der Stadt und 50 von weiteren, die bereits 1942 von slowakischen Behörden deportiert worden seien, bekannt.43
4.1.3 J üdisches Leben im Sozialismus: »Wir haben uns während des Krieges versteckt, aber als der Kommunismus kam, haben wir uns weiter versteckt« Dieses Zitat einer Interviewpartnerin, die kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs ge‑ boren wurde, verweist darauf, wie sie das Leben während des kommunistischen Re‑ gimes in der Tschechoslowakei wahrnahm. So äußerten sich auch viele andere mei‑ ner InterviewpartnerInnen, die vor, während und kurz nach dem Holocaust geboren wurden. Eine unkritische Übernahme dieser Aussagen ist jedoch alleine aufgrund der Verschiedenheit der beiden hier angesprochenen Regime und ihrer Auswirkun‑ gen nicht möglich. Ohne etwas verharmlosen zu wollen, kann hier von einer Linea‑ rität der Verfolgung der jüdischen Minderheit während Holocaust und Sozialismus keinesfalls die Rede sein. Daher ist mir auch wichtig, diese über vier Jahrzehnte an‑ dauernde Epoche des Sozialismus nicht zu homogenisieren, sondern auch die unter‑ schiedlichen Phasen und Entwicklungen der Politik zu berücksichtigen, die sich in ihrer Intensität auch maßgeblich auf den Alltag der Menschen auswirkten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde auf Betreiben der Alliierten und der Sowjetmächte die Tschechoslowakische Republik restituiert und im »Kaschau‑ er Programm« am 5. April 1945 im damals kurzfristig zur Hauptstadt gewordenen Košice folgendes festgelegt: »The government of the National Front would hold pow‑ er, and on the lower level national committees. In foreign policy, co-operation with the Soviet Union was emphasized« (Lipták 2000: 274). Weitere Punkte des Kaschauer 43 | Vgl. ebd. (2013b: 691). Bei diesen 50 Personen ist davon auszugehen, dass sie sich zu diesem Zeit‑ punkt auf dem Gebiet der damaligen Slowakei befunden haben.
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Programms waren die Beschlagnahme des Besitzes der Deutschen, der UngarInnen sowie der KollaborateurInnen, eine Landreform, die Kontrolle der Schlüsselindustri‑ en, Banken und natürlichen Ressourcen durch den Staat (vgl. ebd.; Šutaj 2011: 274). Die slowakischen Regierungsvertreter verlangten damals nach einer föderationsähn‑ lichen Organisation. Lipták schreibt: »The internal political struggle in Slovakia, as well as the unwillingness of the Czech side contributed to the failure to implement the uprising ideas of the consistent federalization of the state in the post-war years. The core of the struggle was the fateful question whether the state would develop as a democracy or head towards a dictatorship of the Soviet type.«44 Das politische System, das in der Tschechoslowakei unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte, war weder eine parlamentarische Demokratie, noch ein totalitäres Regime.45 Die vor dem Krieg an Ungarn abgetretenen Gebiete der Ersten Tschechoslowaki‑ schen Republik wurden dem von Deutschland befreiten Land wieder zugesprochen, Lučenec und Košice wurden somit wieder tschechoslowakisch. Dem Wunsch der neuen Regierung, eine ethnisch homogene Republik zu schaffen, kam man durch die Vertreibung der ungarischen und deutschen Minderheit sowie durch Austausch der slowakischen mit der ungarischen Minderheit in das jeweilige »Heimatland«, nach.46 Diejenigen, die in der Slowakei blieben und UngarInnen waren, konnten – in man‑ chen Fällen erneut – zwischen der Slowakisierung oder der Vertreibung wählen. »In the strained atmosphere of revenge, and entirely against the sense of the long struggle of Slovaks for recognition of their national identity, 236,697 Hungarians were ›re-Slovakized‹. In exchange for declar‑ ing themselves to be Slovaks, they received civil rights and the possibility of employment. After 1948, when rights of citizenship, schools in their own language, a press and cultural societies were returned to the Hungarians, the majority of the ›re-Slovakized‹ people returned to their real nationality.« (Lipták 2000: 276)
Diese Maßnahmen hatten insbesondere in der Südslowakei weitreichende Auswir‑ kungen: »In southern Slovakia measures directed against the Magyar minority grad‑ ually began to affect not only the economic but also the social sphere. This region
44 | Barnovský (2011: 274 f.). Zum Verhältnis der Slowakei zur Tschechei und zum »Tschechoslowakismus« vgl. unter anderem Bakke (2011). 45 | Vgl. Barnovský (2011: 229). »Edvard Beneš, President of the Czechoslovak Republic, spoke of a social‑ ising democracy. Other adjectives or descriptions were also used. Today, the majority of Slovak and Czech historians describe the people’s democratic regime of this period as a limited and regulated democracy with closed plurality.« 46 | Ende Oktober 1946 wurden 32.450 Deutsche aus der Tschechoslowakei vertrieben, nach einer Verein‑ barung mit der ungarischen Regierung wurden im selben Jahr 74.000 UngarInnen aus der Tschechoslowa‑ kei im Austausch für 73.000 TschechoslowakInnen aus Ungarn in ihre Heimat umgesiedelt. 44.000 Unga‑ rInnen wurden an die tschechische Grenze zwangsumgesiedelt, um die Deutschen dort zu ersetzen (vgl. Lipták: 2000: 276).
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suffered from limited investment, stagnation of rebuilding activities and limitations placed upon culture and education« (Šutaj 2011: 275). Die Minderheitenpolitik, insbesondere die Beneš-Dekrete, betraf auch die Ju‑ den, von denen vor allem in der Südslowakei die meisten die ungarische Nationalität hatten. »Präsident Beneš setzte nach der Befreiung seine Vision der Gründung der tschechoslowakischen Republik ohne nationale Minderheiten durch. Seine Haltung bezog sich auch auf die Juden, von denen er eine Assimilation in die Majoritätsge‑ sellschaft verlangte« (Bumová 2010: 17; vgl. 28). In Košice war es zu dieser Zeit bei‑ spielsweise verboten, in der Öffentlichkeit ungarisch und deutsch zu sprechen (vgl. Singerová 2006a: 62). Die Überlebenden, die zurückgekehrt waren,47 sahen sich neben der prekären Rechtslage zudem auch in existenzieller Not, denn sie fanden nichts mehr von dem vor, was sie einst besaßen. »Die Beschlagnahme fand kurz vor Beginn und während des Zweiten Weltkrieges statt, wurde aber nach dem Krieg von den Kommunisten fortgesetzt. Daraus resultiert eine Besonderheit der Frage des jüdischen Eigentums in den genannten Staaten: jene Juden, welche der Vernichtung entgangen waren, fanden sich kurz danach als ›Kapitalisten‹ und ›Klassenfeinde‹ angegriffen und erhielten ihr Vermögen, das umge‑ hend von den Nachkriegsregierungen beschlagnahmt wurde, nicht zurück. Sie waren somit zweimal Op‑ fer.« (Horel 2007: 394)
Viele jüdische Wohnungen wurden während des Krieges nicht nur von den Besat‑ zern, sondern auch von nicht-jüdischen Einheimischen geplündert und bezogen, die sie nach Kriegsende nicht an ihre ursprünglichen BesitzerInnen zurückgeben wollten. »Jüdisches Eigentum wurde während des Zweiten Weltkrieges von den Slowaken ›arisiert‹, häufig von den nächsten Nachbarn. Die unterkühlte Begrüßung der Heimkehrenden in den Dörfern und Städten, wo diese vorher gelebt hatten, rief bei slowakischen Juden den Schock einer neuen Exklusion hervor. Anstelle von Schuldbekenntnissen und Mitgefühl erfuhren nach dem Ende des Krieges zurückkehrende Juden vielfach eine abweisende Haltung.« (Zajac 2010: 102)
Josef Hidasi, der aus Lučenec stammte und den Holocaust als Jugendlicher überlebt hatte, erwähnte in einem unserer Gespräche, dass es nicht selten vorgekommen sei, dass man bei jemandem zu Hause einen Gegenstand entdeckt habe, der vor dem
47 | Laut Robert Büchler und Gila Fatranová waren es ungefähr 140.000 Juden, die in den 1930er Jahren auf dem Gebiet der Slowakei lebten. Von ihnen seien ungefähr 100.000 umgekommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten ungefähr 30.000 Juden in der Slowakei gelebt (vgl. Büchler/Fatranová 2009: 10 f.). Die Historikerin Ivica Bumová schreibt, dass die Statistiken der Überlebenden-Zahlen nicht genau seien und gibt an, dass die Zahl der Überlebenden zwischen 25.000 und 30.000 gelegen haben müsse (Nižňanský 2005: 84; Kamenec 1991: 271 zit. n. Bumová 2010). Livia Rothkirchen schreibt: »Of the prewar Slovak Jewish population of 136.737 only 25.000 survived« (Rothkirchen 1996: 171).
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Krieg einer jüdischen Familie gehört habe. Aber danach zu fragen sei ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, so Herr Hidasi (vgl. u. a. Wehle 1984: 520 f.; Jelinek 1984). Die insgesamt feindliche Stimmung gegen die Juden aufgrund der Restitutions‑ forderungen wurde auch durch die Prozesse gegen die KriegsverbrecherInnen ver‑ stärkt (vgl. Rothkirchen 1996: 174). In der vormals »unabhängigen« Slowakei schür‑ ten diese Prozesse Besorgnis in der Bevölkerung, anders als in der Tschechei, wo dem Vorgehen gegen die deutschen Besatzer und deren tschechische KollaborateurInnen zugestimmt worden sei. »The Catholic, nationalist-minded majority (constituting 74 percent of Slovakia’s total population) looked most favorably upon its wartime leadership and priest-president Dr. Tiso.«48 In diversen slowakischen Dörfern und Kleinstädten gab es Ende des Jahres 1945 Ausschreitungen und Pogrome, bei denen beispielsweise in Snina, Unina, Kolbasov und Topoľčany Juden verletzt und getötet wurden (vgl. Kamenec 1999 zit. n. Bumová 2010: 29). In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in der Tschechei neun von 153 und in der Slowakei insgesamt 43 jüdische Gemeinden wieder eingerichtet. Eine wesentliche Rolle spielten dabei auch zahlreiche Flüchtlinge, die aus den umliegenden Ländern in die Städte kamen (vgl. Wehle 1984: 505 f. zit. n. Heitlinger 2006: 19). Zwar wären einige der Gemeinden groß genug gewesen, um ein »normales« religiöses jü‑ disches Leben zu führen, doch laut Alena Heitlinger war dies eigentlich nie möglich: »A completely normal religious life was impossible to achieve in communist Czechoslovakia, where reli‑ gion was officially tolerated but disapproved of. The ideology and school curriculum promoted atheism, and until the early 1980s the work and school week included Saturday mornings, making the observation of the Sabbath impossible. Moreover, any public display of religiosity could be detrimental to one’s career and that of one’s children.« (Ebd.: 41, Anm. 5)
Dies ist auch einer der Gründe dafür, weshalb es nur sehr wenige Menschen gab, die tatsächlich religiös lebten.49 »Religious observance among members of the second generation was even lower than the already low religiosity among members of the first parental generation. […] While contributing to a strong sense of otherness, religious observance also meant something very special, almost magical, during the commu‑ nist era« (ebd.: 102). Silvia Singerová stellt fest, dass das einst in seinen religiösen Aus‑ richtungen vielfältige jüdische Leben in Košice unter den Folgen des Holocaust und dem Druck der kommunistischen Staatsgewalt vereinheitlicht worden sei, daher habe 48 | Rothkirchen (1967: 27–53 zit. n. ebd. 1996: 173 f.). Die positive Haltung gegenüber dem ehemaligen Präsidenten lag aber nicht nur darin begründet, dass er ein katholischer Priester war. Während seiner Amtszeit im Slowakischen Staat habe es durch die Kriegsindustrie wirtschaftlichen Aufschwung gegeben, der die Massenarbeitslosigkeit Im Land um ein vielfaches reduzierte, so der Historiker Ivan Kamenec. Es gab ihm zufolge auch finanzielle Zuwendungen – nach italienischem und deutschen Vorbild – für Famili‑ en und die Armen und Alten in der Bevölkerung (vgl. ebd. 2012: 221 f.). 49 | Laut Alena Heitlinger gaben lediglich vier Prozent der von ihr (acht von über 200) Befragten an, immer religiös gewesen zu sein (vgl. ebd. 2006: 3 f., 102).
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es nur noch orthodoxe jüdische Gemeinden gegeben (vgl. Singerová 2006a: 54). Die AutorInnen des SNM schreiben von ungefähr 800 Košicer Juden, die den Holocaust überlebt hätten und in die Stadt zurückgekehrt seien. 1948 seien es mit den Zuge‑ zogenen 3578 registrierte Gemeindemitglieder gewesen (vgl. ebd. 2009: 211 f.). Die jüdische Gemeinde in Lučenec habe 1948 299 Mitglieder gehabt (vgl. ebd. 2010: 38). Bei diesen Zahlenangaben muss stets bedacht werden, dass sich nicht alle Menschen mit jüdischer Abstammung registrieren lassen wollten. In beiden Städten richteten die Überlebenden mit Hilfe des amerikanischen Joint Distribution Committee (Joint) ihre religiösen und einige kulturelle Institutionen wieder ein, daneben auch zionisti‑ sche Vereine. In Košice wurde auch eine von drei Jeschiwot in der Slowakei eröffnet (vgl. Joint; SNM 2009: 211 f.; ebd. 2010: 38). Nachdem die Kommunistische Partei in der Tschechoslowakei zunehmend an Einfluss gewonnen hatte, befand sich das Land ab dem 28. Februar 1948 unter kom‑ munistischer Führung (vgl. Lipták, 2000: 278 ff.; Pešek 2011: 284 f.). Die tschechoslo‑ wakische Regierung habe sich der jüdischen Minderheit im Land gegenüber zunächst tolerant gezeigt. Am 1. November 1949 sei ein neues Gesetz die religiösen Gemeinden betreffend verabschiedet worden (vgl. Heitlinger 2006: 20 f.). »This legislation radically changed the administrative and financial structures of all religious commu‑ nities and their institutions, and transformed their paid functionaries to state employees. Mindful of constitutional guarantees of religious freedom, the authorities for the most part interfered neither with religious services nor with the communal celebrations of major religious holidays.« (Heitlinger 2006: 20)
In den größeren Gemeinden wie beispielsweise in Prag, Bratislava und Košice, seien die hohen Feiertage gefeiert worden, aber es habe auch kulturelle und soziale Aktivi‑ täten gegeben, wie die Soziologin berichtet.50 Allerdings gab es folgende Einschrän‑ kungen von staatlicher Seite: »However, attendance at these communal activities, was closely monitored by the state authorities, and for members of the Communist party participation could lead to career difficulties« (ebd.: 20). Nach Kriegsende 1945 wurden laut Ivica Bumová neben dem Zentralverband der jüdischen religiösen Gemeinden (ÚZŽNO) [Ústredný zväz židovských náboženských obci] auch der zionistische Zentralverband (ÚSC) [Ústredný zväz sionistický] und der Verein der vom faschistischen Regime Verfolgten (SRP) [Združenie fašistickým režimom rasovo prenasledovaných] gegründet. Alle drei wurden überwiegend von 50 | Die Gelder, mit denen sich die jüdischen Gemeinden finanzierten, stammten Heitlinger zufolge aus der Staatskasse. Ein Teil sei mit Genehmigung der kommunistischen Partei auch von der Claims Confe‑ rence und dem American Distribution Committee (Joint) beigesteuert worden. »All personnel decisions, travel of officials to international conferences, formal visits from abroad, or any special projects had to be approved by religious secretariats of municipal, district, or central levels of government. The social control exercised by the community party-state bureaucracy was extensive and intrusive, making the institutional powerlessness of the official Czech and Slovak Jewish representative organizations quite visible« (Heitlinger 2006: 20).
Geschichte und Gegenwart des jüdischen Lebens | 115
Zionisten geleitet, die schon vor dem Krieg in der Gemeinde gewesen waren. In dieser Zeit nahm auch das Palästina-Amt (Palúrad) als Institution der Jewish Agency for Palestine (Sochnut), seine Tätigkeit auf (vgl. Bumová 2008: 45–47; Salner 2000 zit. n. Bumová 2010: 18). Das Palästina-Amt und der zionistische Zentralverband plan‑ ten laut Bumová maßgeblich die Emigration der tschechoslowakischen Juden.51 Auch die wiedergegründeten zionistischen Vereine wie Haschomer Hacair, die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg bestanden, bereiteten die Generation der damals Jungen, etwa durch Sprachkurse in Ivrit, auf das Leben in Israel vor. Die prekären Lebensumstände der Nachkriegszeit, die schwierige Situation um ihre nationale Zugehörigkeit sowie der mangelnde Schutz vor antisemitischen Übergriffen veranlassten nach der Grün‑ dung des Staates Israel 1948 über die Hälfte aller tschechoslowakischen Holocaust überlebenden dazu, auszuwandern.52 Den EmigrantInnen wurde die Ausreise auf verschiedenen Wegen erschwert. Zum einen war die Zeit, in der die Ausreise seitens der Regierung erlaubt gewesen sei, auf wenige Monate begrenzt. »1948 konnten die Bürger der Tschechoslowakei nicht mehr frei emigrieren. Die einzige Ausnahme hat‑ ten Juden, die war aber zeitlich begrenzt und bot keine Möglichkeiten, die Zeitspanne zu manipulieren« (Bumová 2010: 31). Zudem befand sich die slowakische Wirtschaft im Wiederaufbau und wollte junge, arbeitsfähige BürgerInnen nicht unbegrenzt aus‑ reisen lassen. Israel wiederum setzte fest, dass Alte und Kranke nur dann einreisen konnten, wenn sie eine Familie hatten, die bestätigte, dass sie sich um sie kümmern werde. Nachdem sich einige zum Schutz vor dem Holocaust hatten christlich taufen lassen, war ihre jüdische Identität nicht mehr belegbar und musste ebenfalls mit den Behörden ausgehandelt werden (vgl. Bumová 2010: 30 ff.). Wie Bumová weiterhin be‑ schreibt, war »im Prozess der Alija gerade die Frage der Ausfuhr des eigenen Besitzes mit seinen Eigentümern nach Israel eine der deprimierendsten und erniedrigendsten persönlichen Erfahrungen der Emigranten nach Ende des Holocaust« (ebd.: 33). Mit der Emigration einer Vielzahl ihrer Mitglieder lösten sich auch die verschiedenen zionistischen Organisationen in der Tschechoslowakei auf. Dazu trug laut Bumová auch die kommunistische Regierung bei (ebd.: 34). 1948 und 1949 emigrierte über die Hälfte der Juden aus Košice und Lučenec (vgl. ebd.: 38; SNM 2009: 212). »The Jews, who stayed in Slovakia, opted for a voluntary assimilation. A number of them joined the communist party: Some, due to their ambitions or opportunism, 51 | Ursprung der Emigrationsbestrebungen war auch die Situation der vielen chassidischen, zum Groß‑ teil nicht »assimilationswilligen« Juden, die aus der Karpatho-Ukraine in die Tschechoslowakei geflohen waren. Ihnen drohten unter stalinistischer Herrschaft offener Antisemitismus und Pogrome (vgl. Bumová 2010: 19 f.). 52 | Vgl. Bumová 2010: 25 ff. Alena Heitlinger erwähnt ungefähr 22.000 bis 24.000 Juden, die zwischen 1945 und 1950 nach Israel und weitere 3000 bis 5000, die in andere Länder ausgewandert seien. Dabei seien, so auch Ivica Bumová, genaue Zahlenangaben bei den legalen und illegalen und oft unabhängig von den Institutionen getätigten individuellen Emigrationen nicht möglich. Es seien jedoch 17.312 slowa‑ kische Juden legal nach Israel emigriert (vgl. u. a. Wehle 1984 zit. n. Heitlinger 2006: 19; Jablonková 1998: 166 zit. n. Bumová 2010: 35).
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others, out of their fear of the new totalitarian regime« (Salner 2013: 29). Silvia Singe‑ rová schließt in ihrer Analyse der jüdischen Identitäten nach dem Zweiten Weltkrieg in Košice, dass die unmittelbare Nachkriegszeit entscheidend für die Entwicklung des slowakischen Judentums gewesen sei. Dies bezieht sich ihr zufolge nicht nur auf die Generation der Überlebenden, sondern auch auf die Nachfolgenden (vgl. ebd. 2006a: 53). 1949 änderte sich die Stimmung der Kommunistischen Partei gegenüber der jü‑ dischen Minderheit im Land: »In line with the evolving Soviet policy towards Israel, the ›previous‹ friendship was transformed into an open enmity and condemnation of Zionism as ›bourgeois‹ nationalism« (vgl. u. a. Avriel 1984; Rucker 2001; Brod 1980 zit. n. Heitlinger 2006: 41). Die anti-zionistische Kampagne sei zu Beginn der 1950er Jahre in den sogenannten »Slánský-Prozessen« kulminiert, so Heitlinger weiterhin (vgl. ebd.). »Antisemitismus und Antizionismus verschmolzen zwischen 1949 und 1953, und es kam zu einer spektakulären Säuberung der kommunistischen Parteifüh‑ rungen Osteuropas. Etliche prominente Juden fielen diesen Aktionen zum Opfer.«53 Die Slánský-Prozesse lösten große Angst unter der jüdischen Bevölkerung aus, wie mir meine InterviewpartnerInnen sagten. Diese Zeit wurde mir häufig als »der dunk‑ le Stalinismus« beschrieben. »For most of their rule, Czechoslovak communist party-state officials used their monopoly of power and doctrine either to present Jews in an unfavorable light, or to erase them out of history. When mentioned in official texts, Jews were typically presented as members of a suspect, stigmatized group, assumed a priori to possess the ›wrong‹ bourgeois class origin, a pro-Western (and as such antisocialist) ›cosmopoli‑ tan‹ orientation, and pro-Zionist and pro-Israeli sympathies.« (Heitlinger 2006: 22)
Die Propaganda der Kommunistischen Partei gegen die jüdische Minderheit im Land wirkte sich auch darauf aus, wie der Zweite Weltkrieg und seine Opfer im kollektiven und nationalen Gedächtnis Eingang fanden: »In den Jahren 1948 bis 1989 wurde die Geschichte aus Sicht der führenden kommunistischen Partei der Tschechoslowakei interpretiert und diente der Propaganda des Regimes. In dieser Interpretation bestand eine Hierarchie der vom Nationalsozialismus Verfolgten, an deren erster Stelle die kommunistischen Wi‑ derstandskämpfer und Partisanen standen; ihre Erinnerungen des Kampfes gegen den deutschen Natio‑ nalsozialismus galten als die wichtigen und ›richtigen‹ Erinnerungen. Die Erinnerungen der Opfer anderer 53 | Vgl. Wasserstein (1999: 79). »In der Tschechoslowakei leitete Rudolf Slánský, ein Jude und General‑ sekretär der Kommunistischen Partei, die Jagd auf einen ›einheimischen Rajk‹. Nachdem man mehrere Gruppen von Sozialisten und Katholiken verhaftet hatte, griff die Säuberung auf die Kommunistische Partei über. Mitte 1951 geriet Slánský selbst unter Verdacht. […] Zusammen mit 13 anderen stellte man ihn wegen Hochverrats, Spionage und Sabotage vor Gericht. 11 der 14 Angeklagten waren Juden. Wie bei Schauprozessen üblich, stand das Drehbuch bereits vor Beginn des Verfahrens fest – wie der Staatsanwalt viele Jahre später einräumte« (ebd. 1999: 80). Nach einem Hinweis von Peter Salner seien 10 und nicht 11 der 14 Angeklagten Juden gewesen.
Geschichte und Gegenwart des jüdischen Lebens | 117 Verfolgtengruppen, darunter vor allem Juden und Roma, wurden dagegen bewusst außer Acht gelassen.« (Jakschová 2008: 63).
Unter meinen Interviewpartnerinnen mit jüdischer Abstammung waren einige Leh‑ rerinnen. Eine von ihnen, die selbst den Holocaust überlebt hatte, erzählte mir, wie die kommunistische Geschichtsschreibung dazu in Schulbüchern aussah: »Während des Kommunismus wurde überhaupt nicht darüber gesprochen. Da hätte man ein Problem be‑ kommen können. Die jüdische Problematik, das ging überhaupt nicht. Wenn die Kinder damals aus den Lehrbüchern gelernt haben, da hatten sie während des Kommunismus solche Bücher, dass sie gedacht haben, in den Konzentrationslagern waren nur antifaschistische und sowjetische Gefangene. Einmal hat ein Schüler bei mir einen Aufsatz über Theresienstadt geschrieben. Er hat beschrieben, wie Theresien‑ stadt ausgesehen hat, wie das Regime dort war. Er hatte dazu Literatur, die gab es. Aber in der gesamten Arbeit kam nicht einmal das Wort ›Jude‹ vor. So war die Literatur. Dass es politische Gefangene waren, ja, verfolgte Kommunisten, antifaschistische, sowjetische Soldaten die dort eingesperrt waren.«
Lena, eine meiner Interviewpartnerinnen aus der Nachkriegsgeneration (vgl. Kapi‑ tel 1.1 und 6.2.1), erzählte mir, dass sie als Schülerin in Auschwitz gewesen sei und dass es einige organisierte Ausflüge dorthin gegeben habe: »Man ist auch während des Sozialismus dahin gefahren, unter dem Motto ›die Schrecken des Krieges‹, so wie man auch zu irgendwelchen anderen Gedenkstätten gefahren ist.« Dabei sei es jedoch weniger um die Opfer gegangen, sondern um die Verbrechen des Faschismus. »As in the rest of East Central Europe, Jews were accorded special rights of commemoration only as general victims of fascism or as generic active anti-fascists« (Heitlinger 2006: 49, vgl. auch ebd.: 47 ff.). Laut Alena Heitlinger versuchten die jüdischen Gemeinden in der Tschechoslowakei trotz der seitens des kommunistischen Regimes auferlegten Deutungspraktiken und Erinnerungsmuster an den Holocaust, die jüdischen Opfer in das soziale und kulturelle Gedächtnis zu integrieren: »Persistent attempts by representatives of official Jewish organizations to honor the Jewish victims of the Nazi genocide in an appropriate manner, and to claim local Jewish history as an integral part of both Czech/Slovak national and worldwide Jewish history, also made an important contribution to the con‑ struction of an alternative vision of the past« (ebd. 2006: 50).
Es habe regelmäßige Gedenkveranstaltungen für die Opfer innerhalb der Gemeinden gegeben (vgl. Heitlinger 2006: 61). Doch offizielle Gedenkstätten, wie beispielswei‑ se die Pinkas-Synagoge, an deren Wand die Namen der 77.297 Opfer des Holocaust aus Böhmen und Mähren standen, seien während des Sozialismus von den Behörden geschlossen worden.54 Peter Niedermüller zufolge wurden durch den sozialistischen Staat 54 | Die Pinkas Synagoge in Prag, 1959 eröffnet, wurde 1968 von den Behörden wieder geschlossen. Alle an den Wänden befindlichen Namen wurden entfernt, die Synagoge beziehungsweise das in ihr befind‑
118 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 »eigentlich nur Normalbiographien und die dazugehörenden Identitätsmodelle akzeptiert bzw. aner‑ kannt. Alle anderen Biographien wurden mehr oder weniger marginalisiert, stigmatisiert bzw. kriminali‑ siert. Diese Tatsache stellte ein wesentliches Merkmal des sozialistischen Staates dar und bedeutete eine grundsätzliche Erfahrung für viele Menschen.« (Niedermüller 2004a: 29, Abk. i. O.)
Die Ethnologin Magdaléna Paríková beschreibt die ersten fünf Jahre als »[d]ie drama‑ tischste Periode des ein halbes Jahrhundert dauernden sozialistischen Regimes […]. Nach sowjetischem Vorbild wurde eine neue sozialistische Gesellschaft errichtet und ein erbitterter Kampf gegen all jene geführt, die sich nicht in die neue Gesellschafts‑ ordnung fügten« (ebd. 2004: 49). Für die Umsetzung der sozialistischen Ziele sei dem kommunistischen Regime vor allem eine neue Wirtschaftsordnung und -politik und dazu die Ausschaltung des intellektuellen Bürgertums wichtig gewesen (vgl. ebd.; Spiritova 2010). Fortan wurde Ľubomír Lipták zufolge alles von staatlicher Aufsicht unterwan‑ dert, Betriebe und Kleinunternehmen wurden an Kooperativen angehängt, Privat‑ besitz enteignet und alle Formen von Selbstständigkeit unterdrückt sowie jeglicher Kontakt in die westliche Welt verboten. Diejenigen, die sich dem Regime gegenüber loyal zeigten – und auch deren Familien, hatten Chancen auf eine bessere Ausbildung sowie höhere Positionen im Beruf (vgl. Lipták 2000: 282 ff.; Pešek 2011: 284 f.). Die kommunistische Führung setzte ihre Ziele mit Gewalt durch, so beispiels‑ weise auch bei der Enteignung aller religiösen und aller staats-unabhängigen Ein‑ richtungen. Zu Beginn der 1950er Jahre wurden hunderte Bischöfe, Priester, Mönche und Nonnen verschiedener Kirchen inhaftiert (vgl. ebd.: 283 f.; ebd.: 296). 1954 sollte auf Bestreben der Stadtverwaltung auch die älteste orthodoxe Synagoge in Košice ab‑ gerissen werden, da sie nicht mehr ihrem ursprünglichen Zweck diene und die Äs‑ thetik der Stadt störe. Die jüdische Gemeinde wusste sich dagegen zu wehren, doch ab den 1960er Jahren trug das Gebäude schwere Schäden durch seine neue Nutzung davon (vgl. Singerová 2006b: 107 zit. n. Heitlinger 2006: 24; Kapitel 5.1.3). Gegen die Enteignung der beiden größten Synagogen, der orthodoxen an der Puškinová und der neologischen, konnte sich die Gemeinde nur im Falle der orthodoxen Synagoge wehren. Die neologische jedoch wurde in den 1950er Jahren zum Haus der Kunst »umgebaut«. Die chassidische Synagoge wurde ebenfalls in den 1950er Jahren zu einem technischen Versuchslabor umfunktioniert, das bis heute dort angesiedelt ist (vgl. Borský 2007: 123; Kapitel 5.1.3). Trotz der bereits genannten Politisierungen der Erinnerungskultur wurde am 6. September 1950 an der Seitenwand der orthodoxen Synagoge in der Zvonarská eine Gedenktafel für die »12000 unschuldigen Opfer – die jüdischen Bürger von Košice, die von deutschen Nazionalsozialisten in den Jahren
liche jüdische Museum wurde erst wieder nach dem Ende des kommunistischen Regimes wiedereröffnet (vgl. u. a. Volavková 1966 zit. n. Heitlinger 2006: 51 ff.). Zur Geschichte der Gedenkstätte Theresienstadt während des Sozialismus vgl. ebd. (53 ff.).
Geschichte und Gegenwart des jüdischen Lebens | 119
1941–1945 in Konzentrationslagern ermordet und verbrannt wurden«55, angebracht. Der kupferne Davidstern, der die Kuppel der neologischen Synagoge geziert hatte, wurde 1947 abmontiert und auf dem Holocaust-Mahnmahl auf dem jüdischen Fried‑ hof in Košice angebracht (vgl. Borský 2007: 123; Kapitel 5.1.3). Die jüdische Gemeinde in Lučenec konnte sich gegen die Enteignung ihrer neo‑ logischen Synagoge nicht wehren, sie verkaufte sie unter dem Druck der kommunis‑ tischen Partei. Die orthodoxe Synagoge blieb unter Gemeindeverwaltung, allerdings wurde sie 1969 »im Rahmen sozialistischer Umbauarbeiten und Normalisierung« abgerissen (vgl. Drenko 1993: 56; Kapitel 5.2). Insgesamt wurden 85 Synagogen wäh‑ rend des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei abgerissen (vgl. Gruber 2002: 78 zit. n. Heitlinger 2006: 48). Eines der größten Probleme der slowakischen und tschechischen Gemeinden war laut Heitlinger, mit dem plötzlichen Verbot der rituellen koscheren Schlachtung ab 1. Juli 1954 umzugehen. Dagegen konnte sich die jüdische Gemeinde in Prag wehren. In Košice kam es 1959 ebenfalls zu Engpässen in der Versorgung mit koscherem Fleisch, so dass die jüdische Gemeinde bei Vertre‑ tern der kommunistischen Partei Einspruch einlegen musste (vgl. Heitlinger 2006: 26). Während dieser Zeit wählten viele der Holocaust-Überlebenden angesichts der Verfolgungserfahrungen während des Zweiten Weltkriegs und der Gefahren und Re‑ pressionen des kommunistischen Regimes, insbesondere während der Zeit der »Sta‑ linisierung«, den Weg der Assimilation und des Schweigens, was sich auch in ihren und den identitären Aushandlungsprozessen des Jüdischen der nächsten Generati‑ onen niederschlug.56 Zoya, die mit ihrer Mutter den Holocaust versteckt überlebte, übernahm nach eigenen Aussagen deren Lebensphilosophie der »Assimilation« in den Jahren des Sozialismus: »Sie hat mir das immer gesagt, weil sie davon überzeugt war, dass die Assimilation der richtige Weg ist. Und bis heute denkt meine Mutter, dass dieser Antisemitismus keine vergessene und tote Sache ist und … damit sie uns, ihre Kinder, retten kann, ist das der richtige Weg gewesen.« Dazu habe auch gehört, dass Zoya als Kind katholisch getauft worden sei. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr habe sie nichts von ihren jüdischen Wurzeln gewusst:
55 | Über die Denkmäler und Gedenktafeln hat Elena Kolivošková ein Buch publiziert, dessen Inhalt auch auf einer Internetseite verfügbar gemacht wurde (vgl. Kolivošková). 56 | Vgl. Salner (2013: 32 f.). »Sowohl in Ungarn als auch in anderen kommunistischen Ländern bestand das Hauptziel der offiziellen ›Identitätspolitik‹ der Nachkriegsära darin, Menschen ihrer vielfältigen in‑ dividuellen Identität zu berauben und ihnen ein einheitliches Identitätsmuster aufzuzwingen«, so der Psychologe Ferenc Erős über die vergleichbare Situation der Juden in Ungarn (Erős 2005: 133). Ihm zufolge wurden durch die Assimilation und das Schweigen die Holocaust-Erfahrungen im Gedächtnis nur aufge‑ schoben, so dass sich die negativen Gefühlszustände der Eltern auf die nächste Generation übertrugen. "Kinder aus solchen Familien wuchsen in einer Umgebung auf und wurden darin sozialisiert, in der Tradi‑ tion mehr oder weniger ausgelöscht und die familiengeschichtliche Generationskontinuität unterbrochen waren« (ebd.: 134).
120 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 »Ich bin dann auch in den katholischen Religionsunterricht gegangen. Aber bei all dem, als es mir meine Mutter dann gesagt hat, hat sie mir auch gesagt, dass wir Juden sind und eine jüdische Abstammung haben. Und … und … also das hat mich sehr beeinflusst, das war ein sehr starker Faktor. Aber da hier der Kommunismus war, wurde jede, wirklich jede Religion verfolgt.«
Die kommunistischen Reformen der 1960er Jahre entspannten die Situation für die jüdischen Gemeinden in der Tschechoslowakei, so Heitlinger: »The process of de-Sta‑ linization, which included the opening of the Cold War borders for travel, allowed the local Jewish religious communities to expand significantly the scope of their activities beyond the religious sphere, and initiate several educational, social and commemora‑ tive projects« (ebd. 2006: 27). Die gelockerte Atmosphäre in den 1960er Jahren hatte insbesondere auch auf die Nachkriegsgeneration, die zu dieser Zeit gerade erwach‑ sen wurde, Einfluss. In Košice hatten Heitlinger zufolge in der orthodoxen Gemeinde 90 Prozent der Jungen eine Bar Mitzwa gehabt, es gab in den größeren Gemeinden Purim- und Chanukka-Feiern (vgl. ebd.: 103). So habe es unter anderem auch Grup‑ pen für die Jugendlichen gegeben, die vor allem ihrer Zusammenkunft und dem sozi‑ alen Austausch gedient hätten. »Attending Jewish communal events, such as youth celebration of Chanukah or Purim, and taking part in other activities associated with Jewish youth groups, carried relatively few risks during the de-Staliniza‑ tion period of 1962–68. […] The sense of belonging to such a mildly conspirational and subversive group had the potential of infusing the official categories of Jewishness with alternative meaning, and thus provide the young generation with an important source of empowerment and a sense of pride in their Jewish identity.« (Heitlinger 2006: 106)
In Košice gab es beispielsweise ein Pendant zur »Kuchyňa« [Küche] in Bratislava, die Jugendlichen trafen sich zwischen 1967 und 1969 regelmäßig im Speisesaal der Gemeinde (vgl. ebd.: 108). Laut Alena Heitlinger hatte die Mitgliedschaft in solchen Gruppen nicht nur Auswirkungen auf die Identitäten der Teilnehmenden, sondern »Membership in the youth groups turned out to be a genuinely formative experience, and led to numerous marriages, life-long friendships and supportive transnational networks lasting to this day« (ebd.: 106). In Lučenec wurde die jüdische Gemeinde nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut, doch auch hier gab es unter den wenigen Überlebenden viele, die bis zu den 1950er Jahren emigierten. Ab 1965 wurde Pavol Jonáš der Vorsitzende der Gemeinde in Lučenec. Diese Funktion hatte er bis zu seinem Tod im Jahre 1991 inne (vgl. Dren‑ ko 1993: 55 f.). Nach dem Zweiten Weltkrieg habe es der gegenwärtigen Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde zufolge keinen Rabbiner mehr in Lučenec gegeben. Diese Zeit, in der die Aktivitäten der jüdischen Gemeinden in der Tschechoslowa‑ kei aufblühten, ging einher mit den Demokratisierungsbestrebungen der Regierung. Grund für die Reformen war auch die schwache Wirtschaft, die aufgrund rückstän‑ diger Technologien und mangelnder Ressourcen – ebenso wie der Konsum – zum Erliegen gekommen war. »The ›socialist‹ constitution from 1960 and the rhetoric of
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representatives of the regime about an early transition from socialism to communism were in sharp conflict with the reality of everyday life in Czechoslovakia and beyond the western frontier of the state« (Lipták 2000: 287; vgl. auch Londák/Londáková 2011: 334; Sikora 2011: 307). 1963 wurde Alexander Dubček der neue Parteichef der kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Er sei zwar nicht der Initiator der Reformen für einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« gewesen, doch ihre Umsetzung sei durch ihn ermöglicht worden, so Lipták. Während der Zeit des so‑ genannten »Prager Frühlings« wurde unter anderem die wirtschaftliche Situation verbessert sowie die Unterdrückung der Kirchen, beziehungsweise der Religionen, gelockert. »After twenty years it was possible to travel to the West, an opportunity used by hundreds of thousands of people, especially students. […] Rehabilitations of unjustly convicted and punished people were widened to groups for which the regime had obstinately refused this« (Lipták 2000: 288; vgl. auch Sikora 2011). Für die Parteispitze in Moskau und die kommunistischen Regierungen in den übrigen Ländern des östlichen Europa stellten diese Reformbewegungen eine Bedro‑ hung dar, so dass am 21. August 1968 Truppen des Warschauer Pakts die gesamte Tschechoslowakei besetzten: »While these reforms did not move beyond Soviet-type socialism, the turbulent democratisation of all sections of society in the Czechoslovak Socialist Republic drew a very negative response from the other states in the Soviet bloc, with the exception of Romania« (Lipták 2000: 288 f.; vgl. Sikora 2011: 313). Die Bevölkerung protestierte öffentlich gegen die Besatzung durch das sow‑ jetische Regime, das auch als »Neo-stalinistisch« und sein Vorgehen als »Re-Stali‑ nisierung« bezeichnet wurde (vgl. Štefanský 2011: 361). Es habe zwar nicht mit der gleichen Härte wie in den 1950er Jahren durchgegriffen, so Lipták, doch in der Zeit der »Normalisierung« seien neben der Entlassung von Reformkommunisten aus der politischen Führung57 unter anderem die Zensur der Medien sowie weitere Restrikti‑ onen im Alltag wieder eingeführt worden, Reisen ins westliche Ausland seien eben‑ falls eingeschränkt worden (vgl. Lipták 2000: 291 f.). Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings in der Zeit zwischen 1968 und 1969 emigrierten viele Juden aus der Tschechoslowakei, darunter vor allem die Nachkriegsgeneration, so dass die jüdi‑ schen Gemeinden weiterhin schrumpften (vgl. Heitlinger 2006: 20, 125). Laut einigen meiner InterviewpartnerInnen, die den Holocaust als Kinder über‑ lebt hatten oder kurz nach Kriegsende geboren wurden, gab es in Košice auch wäh‑ rend des Sozialismus eine jüdische Gemeinde, die allerdings vor allem aus der Gene‑ ration der Ältesten, also ihren Eltern und wenigen Großeltern bestand: »Es gab auch vorher [vor 1989] ein jüdisches Leben. Es gab eine koschere Küche, einen Schächter, das war der, der koscheres Fleisch geschlachtet hat. Es gab einen Kantor, aber wir hatten keinen Rabbiner, wir hatten jahrelang keinen Rabbiner. Und diese Gemeinde bestand damals hauptsächlich aus der Generation meiner Eltern.« 57 | Insgesamt 273.607 Mitglieder der kommunistischen Partei in der Tschechei und 53.206 Mitglieder in der Slowakei wurden entlassen (vgl. Štefanský 2011: 354).
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Informationen meiner InterviewpartnerInnen zufolge habe es ab der Mitte der 1960er Jahre keinen Rabbiner mehr in Košice gegeben. Während der Gottesdienste sei die Gemeinde von religiösen Mitgliedern angeleitet worden. In Lučenec, wo es nach 1944 keinen Rabbiner mehr gegeben hatte, verhielt es sich mit den Gottesdiensten ähnlich. Meine Interviewpartnerin Kristina, die selbst kei‑ ne jüdische Abstammung hat, ist Ende der 1960er Jahre nach Lučenec gezogen. Sie erinnerte sich daran, dass sie während dieser Zeit kein öffentliches jüdisches Leben in der Stadt wahrgenommen hat: »Im Alltag war das so in der Stadt nicht zu spüren. Während des Sozialismus war alles irgendwie so nivelliert, so grau, niemand hatte das Recht, zu träumen. Ja, so war das.« Diese Aussage lässt sich auf das Leben aller Menschen übertragen und trifft nicht nur auf die jüdische Minderheit zu. In Kristinas Nachbarschaft hatte eine Jüdin aus der Generation gelebt, die einige Zeit vor dem Holocaust geboren sei. »Ja, also die Nachbarschaft, die war hier so … da muss ich heute noch drüber lachen. Weil sich hier ältere Damen getroffen haben. Und meine Nachbarin könnte so eine zentrale Figur in ihrem Kreis gewesen sein. Sobald man im Sommer draussen im Garten sitzen konnte, trafen sie sich in der Gartenlaube. Und saßen dort und haben ziemlich laut geredet. Irgendwelche Gerüchte, wer mit wem, wo, was und wie … Auch wenn ich das nicht wollte, ich habe es gehört.«
Lachend erzählte mir Kristina von den Treffen der Frauen und von den guten nach‑ barschaftlichen Beziehungen zu der Gastgeberin. Das jüdische Leben spielte sich Kristina zufolge während des Sozialismus lediglich im Privaten ab. Sie selbst habe stets viele jüdische Freunde und Bekannte gehabt und vor ihrem Zuzug nach Lučenec in größeren slowakischen Städten gelebt, so dass sie eine gewisse Sensibilität für und einen spezifischen Blick auf das öffentliche Leben in diesen Städten und die Repräsen‑ tation des jüdischen Lebens darin hatte. Die Kommunistische Partei erfuhr erneute Krisen, unter anderem auch, weil die wirtschaftlichen, politischen, und auch kulturellen Eliten von Anhängern der Par‑ tei gebildet worden seien und weniger von dafür qualifizierten Personen, so Lipták (vgl. ebd. 2000: 292). 1969 kam man den Reformbestrebungen der Slowaken und dem Wunsch nach Föderalisierung nach. Die föderative, sozialistische Tschechoslowakei hatte fortan einen gemeinsamen Präsidenten, aber für jeden Landesteil jeweils einen eigenen Nationalrat und eine eigene Regierung (vgl. ebd.: 290). Zudem wurde der Wunsch nach einer kommunistischen Gesellschaft aufgegeben: »After 1968, com‑ munism was no longer considered, written or spoken of. The programme documents of Communist Party congresses spoke only of ›building a socialist society‹, a ›devel‑ oped socialist society‹ or ›real socialism‹«. Das Regime habe das Konzept von Refor‑ men abgelehnt und lediglich »weitere Perfektion des mehr oder weniger perfekten Staates« erlaubt. »This suppressed any substantial movement, or the solution of old problems and the new ones brought by the rapidly changing economic and interna‑ tional situation of the seventies and eighties« (Lipták 2000: 293). In der Bevölkerung kam es Michal Štefanský zufolge vor allem in den 1980er Jahren zu verbreiteter Un‑
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zufriedenheit mit der unbefriedigenden wirtschaftlichen Situation und den niedrigen Löhnen (vgl. ebd. 2011: 363). Im Untergrund formierten sich zunehmend Proteste gegen das Regime, die durch Netzwerke aus DissidentInnen, der Kirche, der Intellektuellen und anderer Aktivis‑ tInnen anwuchsen und für mehr Bürger- und Menschenrechte kämpften (ebd.: 361). Die Bewegung wuchs in den 1980er Jahren zur Opposition gegen die Kommunisti‑ schen Partei an, so dass diese zunehmend an Unterstützung verlor (vgl. ebd.: 363). Die zunächst vom Kommunistischen Regime ignorierten Oppositionsbewegungen erstarkten 1988, als es große Demonstrationen gab, an denen vor allem junge Men‑ schen teilnahmen, die den stalinistischen Terror der 1950er Jahre nicht miterlebt und demzufolge weniger Ängste hatten. Parallel dazu begannen ab 1986 die von Michail Gorbatschow initiierten Demokratisierungs- und Modernisierungsprozesse in der Sowjetunion, »Perestroika« und »Glasnost«, die neben dem Ende der kommunisti‑ schen Diktaturen in Ungarn und Polen den Prozess der »Samtenen Revolution« in der Tschechoslowakei antrieben. Durch Massendemonstrationen und Generalstreiks wurde vermehrt Druck ausgeübt, so dass die kommunistische Regierung im De‑ zember 1989 ihre Position aufgab. Ende Dezember 1989 wurde Alexander Dubček zum Vorsitzenden des föderalen Parlaments und Václav Havel zum Präsidenten der Tschechoslowakei gewählt (Štefanský 2011: 363 f.; Lipták 2000: 293 ff.).
4.1.4 P ostsozialismus: Zwischen Wiederbelebung jüdischer Gemeinden, Nationalismus und der Suche nach Gedächtnis und Erinnerung Nach 1989 hatte es für die (tschecho)slowakische Gesellschaft drei zentrale Probleme zu klären gegeben, die darin bestanden, anstelle der kommunistischen Diktatur ein plurales, demokratisches System sowie eine Marktwirtschaft zu schaffen und die Po‑ sition der Slowakei innerhalb der tschechoslowakischen Republik und ihren Platz in Europa zu klären. Lipták erklärt weiterhin: »Since the first post-revolutionary days, various views, conceptions and interests have been applied to the method and speed of solving these problems. In the conditions of emerging democracy, they already received institutionalized form, becoming the basis for new political parties. After decades of political immobility, the confrontation of views became part of everyday life.« (Lipták 2000: 296)
Eine große Herausforderung habe die wirtschaftliche Situation dargestellt, denn wie viele andere postkommunistischen Länder habe auch die Slowakei zu Beginn der 1990er Jahre eine enorme Krise durchlaufen. »Rapid inflation devalued savings, changes in the structure of prices to the disadvantage of basic foods had an especially bad effect on pensioners, families with children and socially weak groups« (ebd.: 297). Dem Politologen Tom Thieme zufolge hinterließ »[d]er nach 40 Jahren zusammengebrochene Realsozialismus […] nicht nur eine gescheiterte politische Ordnung und ein marodes Wirtschaftssystem, sondern auch kulturelle und sozial-strukturelle Eigenhei‑
124 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 ten, die nicht reibungslos mit den neuen Idealen von Freiheit und Demokratie vereinbar waren. Mehrere Jahrzehnte Staatssozialismus beeinflussten über Generationen hinweg die Bevölkerung mit ihren ideolo‑ gischen Zielvorstellungen und idealistischen Utopien« (Thieme 2007: 65).
Hinzu sei auch Massenarbeitslosigkeit gekommen, die sich im Verlauf der Jahre zu‑ nehmend erhöht habe (vgl. ebd.). Diese habe unter anderem dazu geführt, dass viele SlowakInnen bei den Parlamentswahlen 1992 die HZDS (Hnutie za demokratické Slo‑ vensko) [Bewegung für eine demokratische Slowakei] gewählt haben (vgl. Štefanský 2011: 366, 368; Lipták 2000: 300). Die von dem damaligen slowakischen Ministerpräsidenten Vladimír Mečiar ge‑ gründete populistische HZDS und die extremistische Slowakische Nationalpartei SNS [Slovenská národná strana]58 strebten eine unabhängige Slowakische Republik an.59 Nach Verhandlungen der beiden Landesregierungen wurde die Teilung der Tschechoslowakei am 31. Dezember 1992 friedlich vollzogen.60 In der Bevölkerung sorgte sie unter anderem aufgrund der ökonomischen Situation für Unruhen (vgl. Štefanský 2011: 369). »The old mechanisms of direction and support of a centralized economy no longer functioned, and the new mechanisms appropriate to a market economy were only beginning to form. Mass unemployment and the liquidation of enterprises, which could not adapt to the changed conditions, supported uncer‑ tainty in political thinking and culture. The search for a strong personality, simple solutions, alternative answers to problems in the form of nationalism and invented internal or external enemies, marked public thinking much more strongly than immediately after the defeat of the communist dictatorship.« (Lipták 2000: 303)
Alena Heitlinger berichtet, dass auch die Menschen mit jüdischer Abstammung die Teilung der Tschechoslowakei und den aufkommenden Nationalismus mit Besorgnis
58 | Von 1994 bis 1998 waren SNS und HZDS in einer Koalition die führenden Regierungsparteien. Die HZDS war zwischen 1992 und 1998 die führende Regierungspartei (vgl. Kneuer 2005: 149, 159; Thieme 2007: 146). 59 | In keinem anderen osteuropäischen Transformationsland gab es nach 1989 eine populistische Partei, die auch nur annähernd so viel Erfolg hatte wie die HZDS (vgl. Kneuer 2005: 149). »With the creation of an independent Slovak republic in January 1993, the unflattering attention directed from abroad upon the rising peril of the nationalistic right activity was motivated by a rather broad and varied spectrum of national behaviour. Three sources of political controversy provided its function: the partial embracing of the legacy of the World War II fascist Slovak state, the treatment of national minorities (especially of the gipsies and Hungarians), and the highly nationalist and harsh nature of Prime Minister Mečiar’s populist regime« (Cibulka 1999: 115). 60 | Zu den weiteren komplexen Hintergründen der Teilung wie etwa der Rolle der Tschechei, siehe u. a. Štefanský (2011: 368); Lipták (2000: 299 ff.); Auer (2004: 156 ff.).
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beobachtet hätten, wobei auch Ängste vor Antisemitismus eine Rolle gespielt hätten.61 Die beiden größten Minderheiten in der Slowakei, die Roma und die UngarInnen, sahen sich in den Jahren nach der Teilung mit Diskriminierungen und gewalttäti‑ gen Übergriffen konfrontiert.62 Hinzu kam, dass die negative Stimmung gegen die ungarische Minderheit im Land – insbesondere in der Südslowakei – seit der »Samte‑ nen Revolution« immer stärker auch auf der politischen Ebene vertreten wurde. Die Spannungen spitzten sich in den 1990er Jahren mit neu verabschiedeten Gesetzen zu, denn diese beinhalteten die Anweisung, zweisprachige Ortstafeln in vorwiegend von UngarInnen besiedelten Gebieten abschaffen zu lassen, sowie die Bestimmung, dass ungarische Vornamen nur noch in slowakisierter Form ins Geburtenregister eingetragen werden durften. Hinzu kamen Eingriffe in das ungarische Schulsystem in der Slowakei, das slowakisiert werden sollte. Auch wurde ab 1. Januar 1996 ein Gesetz über die Staatssprache verabschiedet, das den verpflichtenden Gebrauch von Slowakisch in allen Behörden und im offiziellen Schriftverkehr vorsah.63 Tom Thieme zufolge waren weder in Russland noch in den ostmitteleuropäischen EU-Staaten alle gesellschaftlichen Gruppen für die Ideen von Demokratie zu erwärmen. »Vor allem Verlierer des Systemwechsels suchen in ihrer materiellen und geistigen Unzufriedenheit nach Alternativen, die ideologisch an die vordemokratischen Epochen anknüpfen. Das Auftreten von Extremis‑ mus steht also in engem Zusammenhang mit dem Ende der kommunistischen Herrschaft und den Folgen des Transformationsprozesses.« (von Beyme 1994: 124 f. zit. n. Thieme 2007: 48)
Infolge des gewaltigen Umfangs und des enormen Tempos der Transformationen entstanden zahlreiche Konfliktfelder, »die eben nicht den erhofften Wohlstand für alle, sondern gravierende Unterschiede von Transformationsgewinnern und -verlie‑ rern als Ergebnis der marktwirtschaftlichen Demokratisierung brachten« (Thieme 2007: 49). Unter anderem dies habe günstige Bedingungen für die Etablierung des Nationalismus in der Slowakei und auch anderen osteuropäischen Ländern nach 1989 61 | Vgl. ebd. (2006: 144). Zum Antisemitismus siehe auch die umfassenden Studien von Pavol Mešťan (2004; 2007). 62 | Der Politologe Frank Cibulka beschreibt diverse Übergriffe von slowakischen Polizisten und Skin‑ heads auf die Roma in der Slowakei, die teilweise tödlich endeten (vgl. ebd. 1999: 113, 125 f.). Zur Si‑ tuation der ungarischen Minderheit schreibt er: »Slovakias historical burden of one thousand years of Magyar rule came once again into sharper focus after the break-up of the Czechoslovak state. The central power in Prague had provided a double guarantee in Slovakia: it guaranteed the national rights of the Hungarian minority against the majority Slovaks and, at the same time, it provided a territorial security for the Slovak nation against their intimidating Hungarian neighbour. With the Czechs removed from the geopolitical scene, it was almost inevitable that the relations between the Slovaks and the Hungarian minority would deteriorate« (ebd.: 127). 63 | Vgl. Schönfeld (2000: 236 ff.). Die Abhandlung von Roman Schönfeld zur slowakischen Geschichte ist eher als populärwissenschaftlich einzuschätzen. Vgl. daher zur ungarischen Minderheit in der Slowakei auch Cibulka (1999: 127 f.); Šutaj (2011); Podoba (2009).
126 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989
geboten.64 Tom Thieme zufolge nutzten »populistische und extremistische Akteure die günstigen Gelegenheitsstrukturen mentaler, wirtschaftlicher und sozialer Un‑ sicherheit, um sich ideologisch gegenüber einer Verwestlichung von Staat und Ge‑ sellschaft zu positionieren« (ebd.: 66). Es sei fast im gesamten östlichen Europa nach Ende des Sozialismus zum Erstarken nationalistisch geprägter, rechtsextremer Bewe‑ gungen gekommen. Dabei habe »[d]ie Wiederanknüpfung an den Nationalismus der Zwischen- und Vorkriegszeit […] eine, die Rückbesinnung auf den Sozialismus vor 1989 […] eine zweite und die gleichzeitige pragmatische Instrumentalisierung ver‑ schiedener links- und rechtsextremer Positionen die dritte Alternative für Extremis‑ men gegenüber einer marktliberalen Demokratie« dargestellt (ebd.). Auch die Politologin Marianne Kneuer stellt fest, dass sich durch die Regierung Mečiar ein klarer Rückschritt in Bezug auf die demokratische Entwicklung, die Ausgestaltung der wirtschaftlichen Reformpolitik und der außenpolitischen Orien‑ tierung in der Slowakei vollzogen habe. Mečiar habe liberal-demokratische Regeln gebrochen, mit dem Muster der wirtschaftlichen Transformation und durch sei‑ ne Außenpolitik auch mit dem eingeschlagenen Weg nach Europa. Laut Marianne Kneuer gibt es einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen schwierigen oder defizitären Transformationsverläufen und einer Begünstigung populistischer Führer und Bewegungen. Sie spricht hier auch von einem »Transformationspopulismus« (vgl. ebd. 2005: 153, 168). »Gilt die Änderung von sozialistisch geprägten Mentalitäten hin zur Entwicklung einer Zivilgesellschaft als vorrangige Transformationsaufgabe, bietet gerade das Fehlen von demokratischem Verständnis eine Chance zur extremistischen Etablierung. Erbringt der politische Output der Transformation nicht die er‑ hofften Leistungen, stärkt dies extremistische Protestler mit ihren vermeintlich populistischen Alterna‑ tiven zu politischen Institutionen und marktwirtschaftlichen Bedingungen. Sollen die sozialen Nachteile des Wandels zum Gelingen der Transformationen durch solidarischen Ausgleich und Verteilungsgerech‑ tigkeit korrigiert werden, schaffen gerade diese Spannungen Angriffsflächen für Extremisten.« (Thieme 2007: 49)
64 | »Der Ursprung des Nationalismus in Ostmitteleuropa ist eng verbunden mit dem Prozess der histori‑ schen Staatenbildung in diesem Raum seit 1918. […] Auch wenn es sich in Ostmitteleuropa, mit Ausnah‑ me der Tschechoslowakei, um weitgehend ethnisch homogene Staaten handelte, entstanden Konflikte um Minderheiten und territoriale Protektionsansprüche. Antisemitismus in allen Ländern, Phobien der Polen gegenüber den mächtigen Nachbarn in Ost und West, Sudeten und deutsche Protektion in Tsche‑ chien, Ungarn in der Slowakei sowie umgekehrt ungarische Minderheiten als Opfer nationalistischer Anfeindungen in Rumänien und der Slowakei und damit wiederum verbundene Schutzansprüche sowie Fremdenfeindlichkeit in Ungarn beeinflussten so individuell die jeweils nationale Identität. Damit waren in allen Ländern Angriffsflächen für aggressive Nationalisten geschaffen« (Thieme 2007: 51). Vgl. zur weiteren Genese des Nationalismus während der Zwischenkriegszeit sowie des Zweiten Weltkriegs und des Sozialismus Thieme (ebd.: 51 ff.) und auch Götz (2011: 111 ff.).
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Nach dem Regierungswechsel 1998 wurden die Gesetze zur Slowakisierung wieder aufgehoben, um unter anderem den aufgrund des Regierungskurses unter Mečiar bis‑ lang verweigerten EU- und NATO‑Beitritt der Slowakei zu sichern.65 Seit 2004 ist die Slowakei EU- und NATO‑Mitgliedsstaat. In der Zeit zwischen 1998 und 2006 habe es unter Ministerpräsident Mikuláš Dzurinda einen vermeintlich demokratischen Re‑ gierungskurs gegeben, 2006 hätten sich die zuvor gespaltenen rechtsextremen Lager jedoch wieder angenähert, so Thieme (vgl. ebd. 144, 146 ff.). Der 2006 gewählte Ministerpräsident Robert Fico bildete mit seiner konfronta‑ tiv-linkspopulistischen Partei SMER 66 [Richtung], der HZDS und der nationalisti‑ schen SNS eine Koalitionsregierung. Tom Thieme spricht hier vom »Worst Case«, der laut den Aussagen von Nachbarstaaten und Politologen habe eintreten können (vgl. ebd. 2007: 144). Die SNS habe in der neuen slowakischen Regierung seit 2006 neben dem Ministerium für Umwelt und Regionalentwicklung auch das Bildungsministe‑ rium geleitet und in dieser Funktion unter anderem zweisprachige Schulzeugnisse für ungarische SchülerInnen verboten (vgl. Gehrold 2006: 5 zit. n. Thieme 2007: 147). Dies sei unter anderem auf Geheiß von Ján Slota, dem Vorsitzenden der Nationalpar‑ tei SNS, geschehen.67 Von verschiedenen InterviewpartnerInnen wurde insbesondere Ján Slota in Ver‑ bindung mit antisemitischen und anti-ungarischen Ressentiments genannt, die bei den betreffenden Minderheiten Angst ausgelöst haben.68 Dabei spielt auch die positive Besetzung des Slowakischen Staates unter Jozef Tiso eine wesentliche Rolle.69 Daniel Milo erklärt: »The SNS is clearly an extremist nationalist party. It has been, and still is, behind the continuing campaign to rehabilitate Jozef Tiso, head of the wartime fascist regime, as well as other wartime Slovak state officials and prominents« (ebd. 2005: 213). Nach der Unabhängigkeit der Slowakei 1993 ist das Hauptanliegen der SNS nach einem eigenen slowakischen Staat hinfällig geworden, so hat sich die Partei anderen Schwerpunkten gewidmet:
65 | Der EU- und NATO-Beitritt wurde der Slowakei aufgrund von Mečiars Regierungskurs zunächst ver‑ wehrt. Erst nach dem Regierungswechsel 1998 begannen unter dem neuen Ministerpräsidenten Mikuláš Dzurinda die Beitrittsverhandlungen, als Anzeichen für die Demokratisierung der Slowakei sichtbar waren (vgl. Kneuer 2005: 163 f.). 66 | So beschreibt sie Marianne Kneuer (vgl. ebd. 2005: 166). 67 | Ján Slota ist für seinen anti-westlichen und anti-demokratischen Kurs bekannt (vgl. Cibulka 1999: 119). Slotas Partei wird als rechtsextreme, nationalistische Partei beschrieben, »die sich von Anfang an für die Auflösung der Tschechoslowakei eingesetzt hatte, die konsequent gegen den EU- und NATO-Beitritt ist und eine konfrontative Politik gegenüber der ungarischen Minderheit verfolgt« (Kneuer 2005: 159). Laut Tom Thieme hatte die Partei nach eigenen Angaben im Jahr 2006 über 1100 Mitglieder (vgl. ebd. 2007: 148). 68 | Tom Thieme fasst einige öffentliche anti-ungarische, antisemitische sowie Äußerungen gegen die Roma von Ján Slota zusammen (vgl. ebd. 2007: 151 ff.). 69 | Vgl. Thieme (2007: 150). Zum Selbstverständnis der SNS und deren Ideologien vgl. ebd. (148 ff.).
128 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 »The party’s major concern after independence has been the alleged danger of ›irredentism‹. Any moves and changes toward broader rights for the national minorities living in Slovakia, especially the sizeable Hungarian minority living in southern Slovakia, was seen as a step toward territorial autonomy.« (Milo 2005: 213f.)
Meine Interviewpartnerin Julia, die nach dem Zweiten Welkrieg geboren wurde und in Lučenec lebt, erzählte mir im Jahr 2008 von ihren Erfahrungen mit Antisemitis‑ mus: »Manchmal fürchtet man sich auch zu sagen, dass … [man jüdische Wurzeln hat]. Mir haben sie das Kreuz [Hakenkreuz] auf das Tor gemalt. Und den Davidstern. Ich wollte stolz auf den jüdischen Glauben sein, aber mein Vater hat auch immer ge‑ sagt, ich soll darüber schweigen.« Julia hat während ihrer Arbeit mit Kindern häu‑ fig Konflikte und Prügeleien zwischen ihnen miterlebt, wenn es um anti-ungarische Aussagen ging, die mit aus den Medien übernommenen Parolen wie »Ungarn hinter die Donau!« [Maďari za Dunaj] einhergingen. Annamaria, die ebenfalls in der Nach‑ kriegszeit geboren wurde, hat in Lučenec bereits einige Erfahrungen mit anti-unga‑ rischen Äußerungen gemacht (vgl. Kapitel 6.2.3). Damit sind die Juden, die auch zur ungarischen Minderheit gehören, in doppelter Hinsicht Anfeindungen ausgesetzt. Diese konzentrieren sich vor allem in der slowakisch-ungarischen Grenzregion, wo heute der Großteil der ungarischen Minderheit lebt.70 Die Historikerin Elena Mannová schreibt in diesem Zusammenhang über das Ge‑ biet der Südslowakei Folgendes: »In the Slovak nationalist ideology Southern Slovakia appears as the dwelling place of ›national enemies‹. Some Magyar/Hungarian nationalists dream nostalgically about this region as part of the erstwhile Great Hungary. Southern Slovakia as a fictional world – the Neverland – lives in the minds of nationalists on both sides of the border.« (Mannová 2009: 201)
In Košice wurde mir davon berichtet, dass es im April 2002 einen schweren Fall von Vandalismus auf dem jüdischen Friedhof gegeben habe, bei dem 135 Grabsteine zer‑ stört worden seien. Die Täter seien Jugendliche im Alter von 11 bis 14 Jahren gewesen. Die Tatsache, dass sich dies um den 20. April zutrug, veranlasste die Medien dazu, auf Zusammenhänge mit Adolf Hitlers Geburtstag zu schließen. Zudem sei Zeitungsbe‑ richten zufolge einige Zeit zuvor auch an das Haus, in dem sich die Anwaltskanzlei des Vorsitzenden der Gemeinde befindet, die Parole: »Juden raus« gesprüht worden (vgl. Sambor 2002: 1 f.; Ičo 2002: 2). Bei meinem Spaziergang über den jüdischen Friedhof in Košice fiel mir sofort das große Mahnmal auf, das dort nahe dem Eingang anlässlich dieses Ereignisses aufgestellt worden ist. Um Ján Slota sei es inzwischen ruhiger geworden, so auch meine Interviewpart‑ nerInnen in den Jahren 2010 bis 2012. Er trat, nachdem seine Partei bei den Parla‑ mentswahlen 2012 an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert war, als Vorsitzender zu‑ 70 | Zur Situation der ungarischen Minderheit in der Slowakei in den Jahren 1989 bis 2004 siehe auch Fazekas/Hunčík (2008).
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rück und wurde 2013 aufgrund von »Unregelmäßigkeiten bei der Bewirtschaftung des Parteivermögens« aus der SNS ausgeschlossen (vgl. Anonymus/Wikipedia/Slota 2013). Während meiner Forschung in den Jahren 2010 bis 2012 war es jedoch Márian Kotleba, der mit seiner Partei Ľudová strana Naše Slovensko (ĽSNS) [Volkspartei Un‑ sere Slowakei] und deren Aufmärschen beispielsweise bei meiner Interviewpartnerin Ella Angst schürte.71 Anlässlich der Regionalwahlen am 23. November 2013, bei denen Márian Kotleba in das höchste Amt der Mittelslowakei – zu der auch die Region um Lučenec gehört – gelangte, schrieb ein Autor der Süddeutschen Zeitung Folgendes: »Bei den Regionalwahlen in der mittelslowakischen Region Banská Bystrica erhielt Kotleba am Wochen‑ ende 55,5 Prozent der Stimmen. Damit ist er künftig der Präsident dieser Region, ein Amt, das vergleichbar ist mit dem eines deutschen Ministerpräsidenten, allerdings mit wesentlich weniger Kompetenzen. […] Im Wahlkampf sprach Kotleba von ›Zigeunerparasiten‹ und ›Roma-Kriminalität‹, er hetzt aber auch gegen Linke, Homosexuelle und Israel. Kotleba stand schon mehrfach wegen seiner Äußerungen vor Gericht, es kam jedoch nie zu einer Verurteilung.« (Anonymus/SZ/Kotleba 2013)
Der Politologe Stefan Auer schreibt dazu: »Apart from their historical bias against the Hungarians, many Slovaks have traditionally been preju‑ diced against Romanies and Jews. Although the extent of hostility and the pervasiveness of anti-Roma sentiments within Slovak society were no different to what they were in the Czech Republic, the Slovak political elites (particularly from within the HZDS and the SNS) were more outspoken in voicing racial prejudice.« (ebd. 2004: 165)
Das jüdische Leben erfuhr während dieser Zeit der vielschichtigen gesamtgesell‑ schaftlichen Transformationen auf nahezu allen Ebenen ebenfalls einen Wandel. Dieser drückte sich in Košice unter anderem darin aus, dass die jüdische Gemeinde wieder auflebte und ihre Aktivitäten zunehmend institutionalisiert wurden. »In the late 1980s and early 1990s, as Communist systems collapsed in Eastern Eu‑ rope and the former Soviet Union, it became possible for peoples and states to redefine themselves and their relationships to others«, so die Autoren des Bandes »New Jewish Identities« (Gitelman et al. 2003: 1). Unter verschiedenen, auch neu geschaffenen Be‑ dingungen seien neue Formen der Aushandlung von Identitäten möglich geworden: »As others re-evaluated their ethnic and religious commitments, Jews were compelled to do the same. An upsurge of nationalism, attempts by various religious groups to claim public roles, and a redrawing not only of state borders but of social and ethnic boundaries compelled Jews to rethink who and what they are. They have been deciding whether and how to redefine their national identities, what their 71 | Vgl. Kapitel 6.3.2. Márian Kotleba ist in wissenschaftlichen Studien noch nicht vertreten, allerdings wird er in dem Band zweier Osteuropakorrespondenten über »[d]ie Rechte Gefahr aus Osteuropa« behan‑ delt (vgl. Mayer/Odehnal 2010). Zum Antisemitismus in der Slowakei und anderen europäischen Ländern vgl. u. a. die Beiträge in Mudde (2005) sowie in Rensmann/Schoeps (2011).
130 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 relationship to the post-socialist states and to world Jewry should be, whether and how to reconstruct public Jewish life, and whether to stay or emigrate. For all peoples, the re-evaluation became a much more public affair than it could have been under the restrictions characteristic of Communist regimes« (Gitelman et al. 2003: 1).
Da einige der jüdischen Gemeinden aktiver wurden und um die Restitution ihres Besitzes sowie um dessen Renovierung und Erhalt kämpften, wandelte sich auch ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Dem Dachverband der jüdischen religiösen Gemeinden in der Slowakei obliegt zusätzlich zur Verwaltung von elf (von insge‑ samt 104) Synagogen und 720 jüdischen Friedhöfen auch die Mittlerfunktion zwi‑ schen der Regierung und den Gemeinden. Der Vorsitzende Pavol Frankl erklärte mir im Interview: »Wir sind so etwas wie eine Schutzorganisation für die Gemeinden«, der Dachverband vertrete diese und setze sich für ihre Interessen ein. Durch die Öff‑ nung der Grenzen wurden nach 1989 die Kommunikation und die Netzwerkarbeit zwischen dem Zentralverband, nationalen und internationalen Organisationen, den Gemeinden, aber auch zwischen Individuen, möglich. Auf lokaler Ebene wandelte sich der städtische Rahmen, von dem das jüdische Leben umgeben war. 1991 wurde die Kirchenkommission gegründet, die unter anderem die Interessen aller Kirchen in der Stadtpolitik vertritt, wie mir der Leiter der Kommission, Bernard Berberich, sag‑ te. Die jüdische Gemeinde wurde auch als Mitglied des Ökumenischen Kirchenkrei‑ ses und im Club der nationalen Minderheiten in Košice aufgenommen. Gemeinsam werden religiöse und interkulturelle Veranstaltungen in der Stadt realisiert.72 1993 wurden die ersten Oral-History-Projekte in der Slowakei durchgeführt, die Stimmen der Opfer gelangten in die Öffentlichkeit und bereicherten den nationa‑ len, transnationalen und internationalen Diskurs um Erinnerung und Anerkennung (vgl. Vrzgulová 2005: 7). Laut Aleida Assmann spielt da, »[w]o es um den Holocaust geht, […] Gedächtnis auf ganz verschiedenen Ebenen eine Rolle, als Erfahrungs‑ gedächtnis der Überlebenden und als Erinnerungsgebot für die Menschheit« (ebd. 2006a: 48). Mit der zunehmenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Ho‑ locaust und dem jüdischen Leben in der Slowakei wurden auch diverse Institute und Nichtregierungsorganisationen gegründet, wie etwa das Holocaust-Dokumen‑ tationszentrum (im Folgenden DSH) [Dokumentáčné stredisko holocaustu], die Milan-Šimečka-Stiftung [Nadácia Milana Šimečku] und auch das Institut für die
72 | Der ökumenische Kirchenkreis besteht seit 1994 in Košice. Die jüdische Gemeinde hat, da sie die ein‑ zige nicht-christliche Religion unter neun Kirchen vertritt, dort eine Art Aufsichtsfunktion (vgl. Ekumena Košice). Der Club der nationalen Minderheiten ist ungefähr 1998 gegründet worden und dient der Zusam‑ menarbeit von neun Minderheiten, die in der Stadt leben. Vertreten wird die jüdische Gemeinde dort und im ökumenischen Kirchenkreis von Dr. Kolín, dem ehemaligen Vorsitzenden der Gemeinde (vgl. Club der nationalen Minderheiten Košice).
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Erinnerung der Nation (UPN) [Ústav pamäti národa].73 Mit dem UPN unternahm die Slowakei laut Viola Jakschová einen ersten wichtigen Schritt zu neuen Geschicht‑ sinterpretationen. Allerdings seien dabei auch die Entstehungszusammenhänge der jeweiligen Geschichtsschreibung zu differenzieren und kritisch zu beleuchten: »Da in den Interpretationen neben der Zeit des nationalsozialistischen Unrechts auch die Zeit der kommunistischen Regime in der Slowakei eine große Rolle spielt und dabei verschiedene heutige Parteien dominant sind, kann und wird es zu einer Vereinnah‑ mung der Geschichte durch die Politik kommen.«74 Bei der Aufarbeitung der Geschichte hatten nicht nur NGOs, sondern auch neu gegründete Opferverbände, wie beispielsweise The Hidden Child (vgl. Kapitel 4.2), eine wesentliche Rolle inne. Laut dem Historiker Martin Schulze-Wessel fand seit 1989 in Ostmitteleuropa eine rasche Pluralisierung und Ausdifferenzierung von Er‑ innerungsdiskursen statt (vgl. ebd. 2012: 3). »Eine Dynamisierung dieser transnationalen Opferdiskurse setzte allerdings nach 1989 ein, als im Os‑ ten Europas die staatlich festgeschriebenen Geschichtsdeutungen an Geltung zu verlieren begannen und Opferverbände unabhängig vom Staat ihre Diskurse formulierten. Ein qualitativer Sprung lag vor allem darin, dass die von ihnen vorgebrachten Ansprüche unter den neuen politischen Konditionen eine neue Brisanz erlangten. Verändert haben sich dabei nicht allein die Diskurse, sondern auch die Akteure und ihre Arenen, in denen diese geführt wurden: Das Spektrum reicht hier von privatrechtlichen Forderungen, wie sie als Sammelklagen vorbereitet werden, über das Verlangen von Opferverbänden nach Wiedergutma‑ 73 | Das DSH und die Milan-Šimečka-Stiftung in Bratislava führten gemeinsam mit HistorikerInnen und EthnologInnen die ersten Oral-History-Projekte mit Holocaust-ZeitzeugInnen verschiedener Opfergrup‑ pen durch. Eine der Hauptaufgaben des DSH ist, LehrerInnen für den Umgang mit dem Holocaust im Schul‑ unterricht und zugleich zu MediatorInnen auszubilden. Das DSH gehört zum Zentralverband der jüdischen religiösen Gemeinden in der Slowakei (UZŽNO). Die Milan-Šimečka-Stiftung wurde 1991 als eine der ers‑ ten NGOs im Land gegründet. Sie versteht sich als Organisation, die sich im Rahmen verschiedener Aktivi‑ täten gegen Rassismus, Antisemitismus und für eine tolerantere Gesellschaft einsetzt. Dazu gehört auch die Aufarbeitung des Holocaust der Juden und des Porajmos der Roma in der Slowakei und verschiedene Projekte zum gegenwärtigen Leben der Roma. Die Ausbildung von LehrerInnen und MultiplikatorInnen, die das Wissen an SchülerInnen weitergeben, sind ein weiterer Punkt ihrer Agenda. Das Institut für die Erinnerung der Nation wurde 2002 eingerichtet. Der Website ist zu entnehmen: »The Nation’s Memory Institute (Ústav pamäti národa) is a public-law institution founded by the Act of the National Council of the Slovak Republic No. 553/2002 Coll. on Disclosure of Documents Regarding the Activity of State Security Authorities from 1939 to 1989 and on founding the Nation’s Memory Institute and on Amending Certain Acts« (vgl. DSH; Milan-Šimečka-Stiftung; Institut für die Erinnerung der Nation). Siehe dazu unter anderem auch den Beitrag von Monika Vrzgulová im Sammelband, der sich mit den Entwicklungen in der Slowakei nach 20 Jahren der Unabhängigkeit auseinandersetzt (vgl. Vrzgulová 2013). 74 | Jakschová (2008: 64). Unter anderem mit Fragen der Aufarbeitung der nationalen Geschichte be‑ schäftigt sich auch die gegenwärtig am Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Ludwig-Ma‑ ximilians-Universität München entstehende Dissertation von Petra Steiger mit dem Arbeitstitel: »The Slovak Metaphor: a Nation without History«.
132 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 chungen materieller, politischer oder auch moralisch-symbolischer Art bis hin zu Aushandlungsprozessen auf zwischen- und supranationaler Ebene, bei denen auch bestimmt wurde, ob Ansprüchen von Opfer‑ gruppen Relevanz zugestanden werden sollte […].« (Schulze-Wessel 2012: 3)
1990 und 1991 wurden die ersten Restitutionsgesetze in der damaligen Tschechoslo‑ wakei beschlossen, die das gesamte vom kommunistischen Regime beschlagnahmte Eigentum betrafen. In der Slowakei wurde 1993 ein weiteres Gesetz verabschiedet, das die Restitution des Eigentums religiöser Gemeinden betraf (Horel 2007: 397). »The so-called Wiedergutmachung, the financial compensation the West German government paid dur‑ ing the Cold War to Israel and to individual Holocaust victims, was generally not extended to residents in the communist countries. The only exception was compensation payments to victims of medical ex‑ perimentation by Dr. Mengele in Auschwitz. After 1989 the extension of compensation to all Holocaust victims was complicated by the insistence of Sudeten Germans who were expelled from Czechoslovakia after World War II that they too receive financial compensation. A complex, and much appreciated agree‑ ment on this issue was reached in 1998 which, unfortunately, was far too late for many Czech and Slovak Holocaust victims.« (Heitlinger 2006: 158, Anm. 1)
Die Holocaust-Opfer in postkommunistischen Ländern konnten Entschädigungs‑ zahlungen für die an ihnen und ihren Familien begangenen Verbrechen erst nach 1989 beantragen. Dafür konnten sie sich an die Claims Conference (Conference on Jewish Material Claims Against Germany)75 wenden, die als zentrales Organ nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) seit 1951 hauptsächlich für die Entschädi‑ gung der jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, für die Aufklärung des und Erinnerung an den Holocaust und diverse damit einhergehende Projekte zuständig ist.76 In einem Gespräch erklärte mir die Anwältin Barbara Hlavatá, die im »Rat zur Entschädigung der Opfer des Holocaust« tätig ist, dass diese Institution eingerichtet worden sei, nachdem die slowakische Regierung 2002 einen Betrag von ungefähr 30 Millionen Euro (850 Millionen slowakische Kronen) für die Entschä‑ digung der Opfer des Holocaust bereitgestellt habe. Aus diesen Geldern sollen nach Information von Frau Hlavatá einerseits die Menschen und das enteignete Eigentum 75 | Zur Geschichte der Claims Conference vgl. Henry (2007). 76 | »Am 10. September 1952, nach sechs Verhandlungsmonaten, unterzeichneten die Vertreter der Claims Conference und der Bundesregierung ein Abkommen, das aus zwei Protokollen bestand. Proto‑ koll Nr. 1 verpflichtete die Bundesrepublik, eine gesetzliche Regelung für die direkte Rückerstattung von Vermögenswerten und für die individuelle Entschädigung der NS‑Opfer zu treffen. In Protokoll Nr. 2 verpflichtete sich die deutsche Regierung, der Claims Conference 450 Millionen DM zur Verfügung zu stellen für die Unterstützung, Rehabilitierung und Wiederansiedlung jüdischer NS‑Opfer, und zwar ent‑ sprechend der Dringlichkeit ihrer Bedürfnisse, welche von der Conference zu bemessen waren. Darüber hinaus schloss Deutschland ein Abkommen mit dem Staat Israel« (Claims Conference). Zur Geschichte der Entschädigungszahlungen siehe unter anderem Diner/Wunberg (2007); Brodesser et al. (2000); Barwig et al. (1998).
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entschädigt werden.77 Andererseits sollen zwei Drittel dieser Summe verschiedenen Projekten zukommen, die in irgendeiner Weise mit dem Holocaust, dem Judentum oder Aktivitäten jüdischer Gemeinden zu tun haben. »Das war ein Schritt der Ausein‑ andersetzung mit der Vergangenheit und dem Zweiten Weltkrieg, als der slowakische Staat die antijüdischen Gesetze verabschiedet hat und die Deportationen in Konzen‑ trationslager durchgeführt wurden.« Das Geld sei zumindest ein symbolischer Ver‑ such der slowakischen Regierung, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Es sei auch eher eine moralische Verpflichtung. Dieser Wille, das Geld zur Verfügung zu stellen, sei auch mit dem Regierungswechsel 1998 einhergegangen, denn während des »Mečiarismus« wäre das nicht gegangen, so die Anwältin.78 Tatsächlich hätten sich viele Menschen beim »Rat« gemeldet, »und sie haben sich dafür bedankt, dass es überhaupt so etwas gibt. Und das Geld war für sie überhaupt nicht entscheidend, weil die Summe symbolisch war. Aber für sie hatte das hauptsächlich eine moralische Bedeutung, weil die slowakische Regierung anerkannt hat, dass hier solche Dinge passiert sind und dass es zwingend ist, diese Menschen auf irgendeine Weise dafür zu entschädigen.«
In Košice gab es nach der Zäsur 1989 ebenfalls Restitutionsforderungen, die nach und nach auch erfüllt worden seien. So erhielt die jüdische Gemeinde unter ande‑ rem die orthodoxe Synagoge an der Zvonarská, das jüdische Kasino und die Schule neben der orthodoxen Synagoge an der Puškinová zurück, wie mir der ehemalige und der gegenwärtige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Ivan Kolín und Pavol Sitár, erklärten. Allerdings seien die Gebäude, für deren Erhalt die jüdische Gemeinde fortan verantwortlich war, alle in einem desolaten Zustand zurückgegeben worden. Darüberhinaus führe die jüdische Gemeinde seit 1994 einen Rechtsstreit mit der Stadt Košice um eine jüdische Schule und die neologische Synagoge, die in den 1950er Jah‑ ren zum Haus der Kunst [Dom umenia] umgebaut wurde (vgl. dazu Kapitel 5.1.3). In Lučenec gab es nach der Wende 1989 ebenfalls Bestrebungen, die neologische Synagoge zu restaurieren und zu erhalten. Nachdem sie aus städtischem Besitz in das Eigentum eines Geschäftsmannes übergegangen war, wechselte in den letzten Jah‑ ren mehrfach der Eigentümer des Gebäudes. Der Diskurs um das kulturelle Erbe der jüdischen Gemeinde in der Kleinstadt ist ebenfalls in Kapitel 5 nachzulesen. Alena Heitlinger schreibt:
77 | Die Nachricht über die Entschädigungszahlungen sei national und international in jüdischen Zeit‑ schriften und über die jüdischen Gemeinden publiziert worden. Holocaust-Opfer aus der Slowakei hätten sich bis Ende 2003 melden und einen Antrag auf Entschädigungszahlung stellen müssen. Bei allen, die sich später gemeldet hätten, sei individuell über die Annahme des Antrags entschieden worden. Es hätten sich Frau Hlavatá zufolge insgesamt etwa 1200 Menschen gemeldet, davon ungefähr die Hälfte aus der Slowakei. 78 | 1998 bis 2006 war Mikulás Dzurinda Ministerpräsident der Slowakei. Er schlug insgesamt einen de‑ mokratischeren Kurs ein als zuvor Vladimir Mečiar (s. o.).
134 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 »As the new democratic freedoms broke the official communist taboo on Jewish topics, various Jewish issues could be placed on the public agenda, including the return of confiscated communal and individual property, financial compensation and social welfare programs for aging Holocaust victims, and the recon‑ struction of Jewish collective memory. The transition to democracy has enabled Czech and Slovak Jews to interact with each other, Jews from abroad, and their gentile surroundings more openly, and with more self-confidence than in the past. Their efforts to rethink and publicly acknowledge their Jewish identities have been manifested in such things as: the establishment of new Jewish associations, institutions and publications, both secular and religious.« (Heitlinger 2006: 143)
So generierten sich allmählich verschiedene Erinnerungsgemeinschaften und -for‑ men um den Holocaust, die aus diversen Quellen gespeist wurden, wie etwa dem familiäre Gedächtnis, wo zuvor oft Schweigen geherrscht hatte, und innerhalb der jüdischen Gemeinde auch heterogene Formen des sozialen Gedächtnisses (vgl. Ass‑ mann 2006a: 206 ff.). Diese wirkten, je nachdem in welchen Rahmen sie ausgehandelt wurden, auch in städtische, nationale, trans- und internationale Gedächtnisse hinein. Daraus wiederum generierten sich neue Rahmen, innerhalb derer die AkteurInnen ihre Identitäten aushandeln konnten. »Among other things, the collapse of Czechoslovak communism ended the long-standing official hostility to Israel (with official anti-Zionism often masking anti-Semitism), the close state monitoring of the only two officially permitted Czech and Slovak representative Jewish religious organizations, and the calculat‑ ed attempts to obliterate Jewish memory. Postcommunist democratic developments have enabled Czech and Slovak Jews of all three generations to abandon strategies of concealment of their Jewish identity, meet openly, and publicly acknowledge their Jewish identity without official hostility and fear of police informers.« (Heitlinger 2006: 143)
Wie oben beschrieben, bezogen sich im Zuge der postsozialistischen Transformati‑ onsprozesse und der Staatenbildung allerdings einige AkteurInnen auf historischen Nationalismus, der unter anderem auch in der Slowakei in Kontroversen über den Holocaust und die Rolle der Katholischen Kirche mündeten. »With the end of the Cold War and the overthrow of Soviet communism, the trend toward Holocaust denial has steadily grown in Russia and Eastern Europe. The revolutions of 1989 restored free speech and thereby provided new openings for political antisemitism and for popular prewar conspiracy theories [like the Protocols of the Elders of Zion] to be revived. Moreover, some post-Communist countries, like Croatia and Slovakia initially looked to wartime models on which to build their newly found statehood. During World War II, as satellites of Nazi Germany, they had briefly enjoyed the illusion of national independence, carrying out genocidal policies against Jews, as well as Serbs and Gipsies. The nationalist efforts at reha‑ bilitating Father Jozef Tiso in Slovakia or Ante Pavelić in Croatia inevitably involved excusing, denying, or even justifying their genocidal actions.« (Wistrich 2012: 16, Herv. i. O.)
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Mit der allmählichen Etablierung von Erinnerungskulturen an den Holocaust ging eine ambivalente Haltung der überwiegend katholischen Bevölkerung in der Slowa‑ kei einher: »In Slovakia, despite recent efforts to commemorate the murdered Jews and publicize the real story of the Holocaust, there are still many Slovaks who regard their wartime leader, Monsignor Tiso, as a national hero and martyr. To bolster this belief, they falsely claim that the Slovak rulers were forced by the Nazis to deport Jews, and were unaware of the true nature of the crimes being committed in the East.« (Wistrich 2012: 16)
Ähnliches ist auch in Ungarn beobachtbar gewesen, denn dort wollte man Miklós Horthy von seinen Kriegsverbrechen freisprechen. Zwar hat sich die ungarische Re‑ gierung offiziell am 5. Oktober 1994 für die Rolle des Landes während des Holocaust entschuldigt, doch der Antisemitismus ist stark gewachsen, auch in Verbindung mit der Holocaustleugnung (vgl. ebd.: 17). Eva Kovács schreibt, dass die Aufarbeitung der repressiven Regime des 20. Jahrhunderts auch in Ungarn wenn überhaupt, dann nur mit halbherzigen Versuchen vollzogen wurden. Sie spricht vom »historischen Fieber«, das Ungarn seit dem Systemwechsel befallen habe, von dem aber auch andere Länder des osteuropäische Länder infiziert worden seien (vgl. ebd. 2009: 20). Unter anderem lässt sich hier mit Magdalena Marszałek konstatieren: »Die memoriale Kultur in Ostmitteleuropa, die aus der jahrzehntelangen manipulativen Gedächtnispoli‑ tik, ihrer zum Teil dramatischen Revisionen nach der politischen Wende und den transnationalen erinne‑ rungskulturellen Entwicklungen resultiert, weist heute – am historischen Schauplatz des Genozids – be‑ sondere Ungleichzeitigkeiten des Holocaust-Gedächtnisses auf.« (Marszałek 2010: 11)
Der Philosoph und Historiker Tibor Pichler beschreibt einen »doppelten« Verlust der Erinnerung in der Slowakei: »We found that the loss or deformation of memory was initiated by nationalization and from the outside by the forcible introduction of a socialist form of society. The double loss of memory occurred as a result, both of the Slovaks’ own, so to speak, national will, and of political dictat. In the Slovak case, both forms of loss formally concerned the same social entity – the people.« (ebd. 1999: 59)
Da Erinnerung aber selten ganz verloren gehen könne, sei es missverständlich, von einer verlorenen Erinnerung zu sprechen: »Memory is rarely lost completely – it may become silent, but it survives, lives anonymously in customs and forms of behaviour. Places of memory remain as remnants of the past, but not vanished. They can be addressed and recalled, if there is a will to allow them to be addressed. […] Various strategies for remembering exist. […] Remembering pursues certain aims. A policy of remembering also means a policy of forgetting the inappropriate. […] ›Lost memories‹ are the result of certain policies of remembering.« (Pichler 1999: 60).
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Daher ist es wichtig, im Folgenden auch danach zu fragen, von wem welche Erin‑ nerungen aktiviert und vom Speichergedächtnis ins Funktionsgedächtnis geholt werden konnten (vgl. Assmann 2006a: 55). Dabei bleibt auch zu bedenken, dass das Bewusstsein für den Holocaust und der Umgang mit ihm nicht selbstverständlich sofort nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstanden, sondern dass es sich hier auch um einen Prozess handelt, bei dem individuelle, soziale, nationale und politische Gedächtnisse und ihre Dynamiken und Interferenzen eine wesentliche Rolle spielen. Denn auch »[i]m westlichen Nachkriegsdeutschland dauerte es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zwanzig Jah‑ re, bis der Holocaust allmählich (wieder) zum Vorschein kam, weitere zwanzig Jahre, bis diesem Mensch‑ heitsverbrechen im Weltbewusstsein ein Platz zugewiesen wurde, und dann nochmal zwanzig Jahre, bis dieses Ereignis in die Form einer transnationalen Kommemoration überführt wurde.« (ebd. 2012a: 29 f.)
Eine wesentliche Rolle spielt angesichts dieser auch länderspezifischen »Gedächtnis‑ zeiten« nicht nur die genaue Aufarbeitung des Holocaust und des Sozialismus in der Tschechoslowakei sowie in anderen postsozialistischen Staaten, sondern auch ein ge‑ nerationsspezifisches Bewusstsein für die Vergangenheit und Sensibilität im Umgang mit ihr. Bei einem Interview mit Monika Vrzgulová vom DSH und Jana Hradská von der Milan-Šimečka-Stiftung sprachen wir über die Wahrnehmung des Holocaust in der Bevölkerung: »Aber hier gibt es nicht überall einen öffentlichen Diskurs und Reflexion über die Geschichte des eigenen Landes, und das ist immer noch problematisch. Es ist sehr … das Thema ist immer noch sehr sensibel. Sehr. Weil – ohne es vereinfacht darstellen zu wollen – immer noch ein Teil der Menschen kein Interesse an der Geschichte hat. Andere wiederum betrachten diese Zeit als die des ersten Slowakischen Staates und geben diesem Priorität und betonen diesen ersten Staat. Das ist wichtig für sie. Und einige von ihnen mögen es nicht, wenn man sie daran erinnert: Ok, gut, aber der Staat hatte ein Regime und das Regime hat etwas gemacht. Und damit kann ich mich nicht identifizieren. Also muss ich diesem Staat gegenüber kritisch sein. Und diese Leute wollen das nicht.«
Aus ihren Erfahrungen hat Frau Vrzgulová die Erkenntnis gewonnen, dass es in der Slowakei zwei Arten der Reflexion über den Holocaust gibt, die sowohl von der Wis‑ senschaft, als auch von den Laien ausgehen. Zum einen gibt es kritische Menschen, die aus dem, was geschehen ist, lernen beziehungsweise darüber Bescheid wissen wollen. »Da gibt es Leute, die sich bemühen, auch Wissenschaftler, Historiker, kirchliche Autoritäten, wissen Sie. Aber da ist auch ein Teil von Politikern und der Öffentlichkeit, die mit dem Slowakischen Staat und des‑ sen Repräsentanten sympathisieren. Jozef Tiso wird als wunderbarer Mensch dargestellt. Das ist sehr kompliziert.«
Frau Vrzgulová hat die Erfahrung sowohl mit PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen, StudentInnen an Hochschulen als auch mit BürgerInnen aller Bildungs- und sozialen
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Schichten gemacht, dass es vor allem am genauen und kritisch vermittelten Wissen um die Geschichte des Landes, insbesondere des Holocaust, mangelt. Daher ist eine ihrer wichtigsten Aufgaben die Ausbildung der LehrerInnen für den Umgang mit dem Thema im Schulunterricht. Denn die Lehrbücher »haben ihre Einschränkun‑ gen« (vgl. auch Vrzgulová 2013). Wie Frau Vrzgulová erklärten mir auch einige ande‑ re InterviewpartnerInnen, dass sie weder während ihrer Schulzeit noch im Studium etwas über den Holocaust gelernt hätten. Auch in der Generation der »Jungen«, die nach 1989 noch die Schule besuchten, wurde die Ausbildung zum Thema Holocaust als defizitär wahrgenommen. »Die Rezeptionsgeschichte des Holocaust in den ehemaligen sozialistischen Ländern will erst geschrieben werden – im Grunde genommen ist es sogar verfrüht, von einer solchen zu sprechen, denn eine wirklich offene Auseinandersetzung darüber, wie die jeweilige ortsansässige Bevölkerung und die Staatsführung mit der ›Endlösung‹ umgegangen sind, hat erst in den letzten Jahren eingesetzt.« (Brumlik/Sauerland 2010: 17)
Eine Geschichtslehrerin aus Lučenec, die seit 1998 die Angebote des DSH wahr‑ nimmt, erklärte mir, dass es sehr stark von der individuellen Einstellung der Lehre‑ rInnen abhängt, wie und ob sie den Kindern etwas über die Vergangenheit beibrin‑ gen. So vermitteln »ältere« Lehrer beispielsweise die Zeit des Sozialismus »anders«. Zumal nach wie vor auch Geschichtsbücher und Lehrmaterialien fehlen, ist es den Pädagogen freigestellt, wie sie den Unterricht gestalten. Einige Schulen unterstützen die Weiterbildungsmaßnahmen des DSH nicht, so dass man diese auf eigene Kosten und nur während eines Urlaubs wahrnehmen kann. Den Bedarf an solchen Semina‑ ren im slowakischen Bildungssystem schätzte die junge Lehrerin als sehr hoch ein. In Lučenec sei sie die einzige, die an den Seminaren des DSH teilnehme. Monika Vrzgulová bestätigte mir diese Eindrücke in unserem Interview. Das DSH hat – in Zusammenarbeit und mit Unterstützung des Kultusministeriums der Slowakei – spe‑ zielle Programme für die Ausbildung der Lehrer erarbeitet, doch es funktioniert nicht immer so, wie sie sich das vorgestellt hat. Einerseits gibt es sehr engagierte Lehrer, die mit den Kindern tolle Projekte machen und sie genauso auf das Thema Holocaust vorbereiten und unterrichten, wie es sein soll. Doch oft säßen an den Stellen, wo die‑ ses Wissen verbreitet werden solle, Lehrer, denen das Thema vergleichsweise egal sei, so Frau Vrzgulová. Ein weiteres Problem ist die knappe Zeit im Lehrplan, so dass der Holocaust innerhalb von zwei Schulstunden im Kontext europäischer und nationaler Geschichte durchgenommen wird. »Das heißt, wenn ein Lehrer es ernst meint, muss er es den Kindern in Zusatzstunden oder über Aktivitäten jenseits der Schule beibrin‑ gen. Das muss jemand sein, der dann unbezahlt arbeitet, der Überstunden macht.« Das DSH hat 2006 unter anderem die Mitgliedschaft der Slowakei in der »Inter‑ national Holocaust Remembrance Alliance«79 initiiert, wobei es durch die Regierung 79 | Die IHRA wurde 1998 vom norwegischen Premierminister gegründet: »The International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) is an intergovernmental body whose purpose is to place political and social
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unterstützt wurde. Auch hier zeigt sich die Bedeutung der internationalen Netzwerke in Bezug auf den Umgang mit der Geschichte. Doch hängt der Erfolg solcher Orga‑ nisationen und ihrer Arbeit immer auch von Einzelpersonen ab, wie sich am Beispiel der LehrerInnen zeigte. Unter diesen sehr vielschichtigen Rahmenbedingungen der Transformation ge‑ nerierten sich jüdische Identitäten, manche der AkteurInnen entdeckten ihre jüdi‑ schen Wurzeln erst nach dem Systemwechsel, einige wissen, wie mir gegenüber von anderen angedeutet wurde, bis heute nichts darüber. Es habe auch dramatische Fälle von Selbstmord gegeben, als beispielsweise Personen, die nichts von ihrer jüdischen Abstammung ahnten und bis zu diesem Zeitpunkt antisemitische Einstellungen ver‑ traten, erfahren hätten, dass sie Juden seien. Bei anderen wiederum habe es einen Wandel hin zum Jüdischen gegeben, der beinahe schon extrem gewesen sei, wie mei‑ ne InterviewpartnerInnen beschrieben. So seien beispielsweise Personen, die wäh‑ rend des Sozialismus in der Tschechoslowakei Mitglieder der Kommunistischen Par‑ tei waren, nach dem Systemwechsel »plötzlich« Juden geworden, wobei sie dies vorher verschwiegen hätten. Die Entwicklung des jüdischen Gemeindelebens wurde auch durch die Zahl der aktiven Mitglieder beeinflusst. In Lučenec nahm diese laut meinen Interviewpartne‑ rInnen stetig ab. Gegenwärtig besteht das jüdische Leben nurmehr aus vereinzelten, informellen Treffen der wenigen Mitglieder und einer offiziellen Holocaust-Gedenk‑ veranstaltung im Juni. Das religiöse jüdische Leben in der Stadt endete mit Wegzug, Tod und dem mangelnden Bezug der Menschen zu ihren jüdischen Wurzeln. Dabei ist auch zu beachten, dass es einige Menschen gibt, die nach wie vor auch in Lučenec nicht von ihrer jüdischen Abstammung wissen. Jozef Drenko schrieb 1993 in seiner Chronik noch von 50 Mitgliedern der jüdischen Gemeinde, deren Räumlichkeiten sich in der Moyzsesová in Lučenec befanden (Drenko 1993: 56). Bei einem Telefonat erklärte mir Frau Vajová, dass seit 2005 offiziell nurmehr eine jüdische Kommune und keine religiöse Gemeinde mehr bestanden habe. Ende des Jahres 2007, nach dem Tod von Gertrud Sternlicht, die seit 1991 der kleinen Gemeinde und später der Kom‑ mune vorsaß, habe Frau Vajová den Vorsitz der jüdischen Kommune in der Stadt übernommen. Doch wie mir einige StadtbewohnerInnen berichten, ist das gegenwär‑ tige jüdische Leben dort kaum oder gar nicht wahrnehmbar. Auch die Mitglieder der jüdischen Kommune erklärten, dass es bis auf die informellen und in der Zwischen‑ zeit auch eher unregelmäßigen Treffen keinerlei Aktivitäten gebe. 2011 wurde zum Trauergottesdienst anlässlich des Holocaust-Gedenktags Rabbiner Steiner aus Košice eingeladen, damals seien mehr als die üblichen 20 Personen anwesend gewesen, wie mir berichtet wurde.
leaders’ support behind the need for Holocaust education, remembrance and research both nationally and internationally« (IHRA).
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Mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime im östlichen Europa ist jedoch in einigen anderen slowakischen Städten das jüdische Leben zu neuer Blüte erwacht.80 Der Journalist Jindrich Lion schreibt im Jahr 2000 dazu: »Man kann ohne Zweifel von einer Wiedergeburt jüdischen Lebens in beiden Teilen der ehemaligen ČSSR sprechen. Wie schon so oft in der Geschichte entsteht wieder ein neues, intensives Gemeindeleben, al‑ lerdings in geringeren Ausmaßen als früher. Aber die reiche Tradition und die ruhmreiche Vergangenheit der beiden Länder sind Garanten dafür, daß es mit der Zeit gelingen wird, wieder ein jüdisches Leben aufzubauen.« (ebd.: 154)
Wie sich dieser Aufbau gestaltete und bis in die Gegenwart entwickelte, wird, nach‑ dem bisher die politischen und gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen aufge‑ zeigt wurden, im Folgenden beleuchtet.
4.2 J üdisches G emeindeleben in K ošice ab 1989 Bei einigen der Interviews, die ich in den Räumlichkeiten der jüdischen Gemeinde in Košice führte, wurde das Gespräch nicht nur durch das Klingeln des Telefons, son‑ dern auch durch an der offenen Tür vorbeilaufende Personen unterbrochen. Ein paar Mal kam auch jemand in das Büro und fragte die Person, die ich gerade interviewte, etwas. So auch bei meinem zweiten Interview mit Emma (vgl. Kapitel 3.2.1), als eine ältere Dame mit einem Stapel Akten zu uns hereinkam und uns neugierig ansah. Emma stellte sie mir als die Verwalterin der jüdischen Gemeinde vor, die sich um alle Belange innerhalb der Anlage, aber auch um die der Mitglieder kümmert. Ihr Ehemann sei Jude gewesen, sie selbst ist es nicht. Die Dame begrüßte mich und fragte, ob ich etwas über die Gemeinde wissen wolle. Ich bejahte. Sie deutete auf den Stapel mit Papieren, den sie hereingebracht und auf dem Tisch abgelegt hatte: »Das sind unsere Toten!« Ich zuckte zusammen. Sie öffnete den Schrank, der im Zimmer stand, und nahm das oberste der vielen weißen und ordentlich gefalteten Bekleidungsstücke heraus. Es war ein Totenhemd. Emma erklärte, dass diese Frau die gute Seele der Gemeinde sei und sich auch um die Beerdigungen kümmere. Diese Hemden werden den Toten angezogen, bevor man sie beerdigt. Die »gute Seele der Gemeinde« erklärte
80 | Die Studie über »Kirchlichkeit und Religiosität in Ostmittel- und Osteuropa« von Olaf Müller be‑ schreibt die Situation anderer Religionen nach 1989: »Insgesamt scheinen auch in den postkommunisti‑ schen Gesellschaften Formen des Glaubens an eine unpersönliche überirdische Instanz an Überzeugungs‑ kraft zu gewinnen. In vielen Fällen entbehrt das Bekenntnis zu den eigenen konfessionellen Wurzeln weitgehend einer substanziellen theologischen Grundlage; oftmals bleiben die Glaubenssysteme diffus und inkonsistent. Auch wenn es zutrifft, dass die Religion in vielen Ländern wieder verstärkt ins Licht der Öffentlichkeit getreten ist, spiegelt sich das nur zum Teil in den individuellen Glaubensvorstellungen und noch weniger in der Dimension der kirchlich-religiösen Praxis wider« (ebd. 2013: 252).
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bevor sie den Raum wieder verließ, auf das Verzeichnis der Toten deutend: »Bald wird nur noch das hier von uns übrig sein!« Wieder einmal war ich irritiert, denn diese Unterbrechung sollte mir auf ein‑ drückliche Weise vermitteln, dass die jüdische Gemeinde in Košice nicht mehr lange bestehen würde. Dies war nicht das erste Mal, dass mir Gemeindemitglieder diese Ansicht mit‑ teilten. Beinahe jeden Tag, beziehungsweise bei jedem Interview mit Personen, die Einblick in die Entwicklung und das Leben der Gemeinde hatten, hörte ich Sätze wie: »In ein paar Jahren wird hier nichts mehr sein.« Oder: »Die Einzigen, die in dieser Gemeinde noch aktiv sind, sind die Ältesten.« Die jüdische Gemeinde in Košice ist die zweitgrößte im Land und wurde mir vor Beginn meiner Forschung als aktiv und die jüdische Kultur in der Stadt als sehr lebendig beschrieben. Diese negativen Prophe‑ zeiungen vor Ort verwunderten mich. Wie gestaltet sich die Situation der jüdischen Gemeinde und ihrer Vereine also gegenwärtig? Würde das jüdische Leben in Košice bald ein ähnliches Bild wie das in Lučenec abgeben, wo sich fünf bis zehn Mitglieder der Kommune einmal im Monat informell zum Kaffeetrinken treffen?
4.2.1 » Wenn sich diese Gemeinde von 12.000 auf 400 verkleinert, von welcher Kultur können wir dann hier sprechen?« 81 Und die meisten der Gemeindemitglieder sind schon um die 80 Jahre alt, fügte Pavol Sitár hinzu. »Wie können wir dann von Zukunft sprechen? Die Zukunft sieht so aus, dass wir jeden Tag weniger und weniger werden. Und am Ende wird hier niemand mehr sein.« Diese Vision einer »aussterbenden Gemeinde« teilten also nicht nur mei‑ ne anderen InterviewpartnerInnen, sondern auch der Vorsitzende der jüdischen Ge‑ meinde selbst. Eine Interviewpartnerin bezog sich in ihrer Begründung für diese Situation auf den Holocaust, dem über 90 Prozent der damaligen jüdischen Gemeinde aus Košice zum Opfer gefallen sind: »Man sagt, dass Hitler den Krieg nicht gewonnen hat. Aber er hat ihn gewonnen. Weil er die Gemeinde zerstört hat, weil wir hier keine jungen Leute mehr haben. Niemanden. Wir haben hier niemanden und können an nichts anknüpfen. Wenn alle Frauen und Mädchen, die in den Konzentrationslagern geblieben sind, hier wären und Kinder bekommen hätten, dann hätten wir hier eine wunderschöne Gemeinde, die wächst.«
Anfang der 1990er Jahre ist die Situation allerdings anders gewesen. Für nahezu alle Altersgruppen wurden in der Gemeinde nach und nach Vereine gegründet, so hat es einen jüdischen Kindergarten gegeben, den beispielsweise meine jüngste Inter‑ 81 | Der Vorsitzende der Gemeinde sprach von den etwa 12.000 Mitgliedern der jüdischen Gemeinde im Jahr 1944. Heute leben um die 400 bis 600 Menschen mit jüdischen Wurzeln in Košice, von denen aber nur etwa 300 offiziell eingetragene Mitglieder der Gemeinde sind.
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viewpartnerin Ella besuchte. Die Tageszeitung SV – Slovenský Východ [slowakischer Osten] schrieb am 11. Februar 1993 vom »bisher ersten jüdischen Kindergarten in der Slowakei, der bei der jüdischen religiösen Gemeinde in Košice eingerichtet wur‑ de«. Es sei das Ergebnis der zielbewussten Bemühungen des neuen Rabbiners Lazar Kleinman um die Erneuerung des geistigen und kulturellen jüdischen Lebens dieser Gemeinde und die Festigung des jüdischen Glaubens gewesen (vgl. Anonymus/SV/ Kindergarten 1993: 2). Es gab zusätzlich zum Programm des Kindergartens sonntags immer Treffen, bei denen die Jüngsten spielerisch an die jüdischen Traditionen herangeführt worden sei‑ en, wie mir Ellas Mutter Laura erzählte. Bei dieser Gelegenheit trafen sich auch die Eltern, die ihre Kinder zu den jeweiligen Treffen gebracht haben. Auch für die Jugendlichen hat es einen Club gegeben, der in den 1990er Jahren aktiv gewesen ist. Ella erinnerte sich bei einem unserer Gespräche daran, dass sie, als sie älter wurde, ihren Bruder zu diesen Treffen der Jugendlichen begleiten durfte. Zwischenzeitlich ist auch Unterstützung aus Budapest und Israel nach Košice gekom‑ men, beispielsweise PsychologInnen, die Holocaustüberlebende bei der Aufarbeitung ihrer Erlebnisse unterstützten. Für das religiöse Leben der jüdischen Gemeinde war ab 1992 Rabbiner Lazar Kleinman, der aus Finnland nach Košice kam, zuständig. 1993 bekam die jüdische Gemeinde in Bratislava mit Baruch Myers auch einen Rabbiner, der dort bis heute tätig ist. Medienberichten zufolge gab es mit Rabbiner Kleinman bereits nach zwei Jah‑ ren seiner Amtszeit Unstimmigkeiten, die zu seiner Entlassung führten. Von 1994 bis 1996 gab es einen Gerichtsprozess zwischen ihm und der jüdischen Gemeinde in Košice, sein Nachfolger war ab 1996 Dov Goldstein.82 Aus gesundheitlichen Gründen wurde er ab August 2001 durch Jossi Steiner ersetzt. Dessen Amtszeit ging Ende des Jahres 2011 zu Ende. Seitdem gibt es in Košice keinen permanent anwesenden Rab‑ biner mehr. Die jüdische Gemeinde als Institution kümmert sich um administrative Belan‑ ge wie die Verwaltung und Instandhaltung ihrer Gebäude, der Synagogen und der Gemeindeanlage. Zudem kümmert man sich um Beerdigungen von Gemeindemit‑ gliedern, somit auch um den (neueren) jüdischen Friedhof. Für die Gemeindeältes‑ ten gibt es eine Krankenschwester sowie das Angebot von Massagen und Pediküre. Das Essen der Gemeindeküche wird für die Ältesten oder Kranken auch ausgeliefert. Allerdings schmunzelten einige meiner InterviewpartnerInnen, als sie mir von der »koscheren« Gemeindeküche erzählten: »Wir haben hier eine koschere Kantine, die 82 | Vgl. Anonymus/Sme/Kleinman (1996); Anonymus/Večer/Kleinman (1995: 1 f.). Ruth Ellen Gruber be‑ schreibt ein Treffen mit Lazar Kleinman im Jahr 1992, als es bereits nach zwei Monaten seiner Amtszeit in Košice Spannungen in der Gemeinde, insbesondere mit den älteren Mitgliedern, gegeben hatte: »I spoke to Kleinman in his office […] and he was candid about having already alienated many of the older mem‑ bers of the congregation by essentially cutting them out of his plans to revitalize the community« (ebd. 1994: 127).
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für uns koscher ist, aber wenn jemand kommt, der es sehr koscher braucht, dann ist es für ihn nicht so.« Die Speisen würden von zwei Köchinnen zubereitet, die keine Jüdinnen seien, doch der Rabbiner habe alles kontrolliert. Wenn er nicht da war, habe ihn jemand aus der Gemeinde vertreten. Es sei sehr schwierig, sich koscher zu ernähren, wie mir ein Interviewpartner aus der Nachkriegsgeneration erklärte: »Ja, das ist kompliziert. Man kann hier nichts kaufen und was man kaufen kann, ist sehr teuer. Es ist sehr kompliziert. Als meine Eltern noch lebten, haben sie sich bemüht, wenigstens koscheres Fleisch und alles, was sonst möglich war, zu besorgen. Es ginge theoretisch auch jetzt, weil geschächtet wird. Aber … das ist gegenwärtig sehr kompliziert. Früher haben sich die alten Leute sehr daran gehalten. Das war damals so, ja. Heute sind die Leute schon moderner, wissen Sie. Sie handhaben das ein wenig anders. Und es reicht nicht, nur kein Schweinefleisch zu essen. Außer dem Rabbiner würde ich sagen, ernährt sich hier niemand koscher.«
Die Gemeindeältesten erhalten auch einen Rabatt auf das Mittagessen. Die besondere Zuwendung für sie wird unter anderem durch Spenden und die Unterstützung von Joint und anderen, meist in den USA angesiedelten jüdischen karitativen Organisa‑ tionen finanziert. Einer meiner Interviewpartner aus der Generation der Holocaust‑ überlebenden erklärte mir: »Ja, sie ist wichtig, natürlich ist die jüdische Gemeinde hier wichtig. Weil sie uns zu einem gewissen Maß das jüdische Leben ermöglicht, dass wir die Feiertage begehen, dass wir den Speisesaal und die Synagoge haben. Wir haben die Möglichkeit, uns etwas zu Pessach zu kaufen, koschere Sachen aus Israel oder aus Wien und wir können Chanukka, Purim und Neujahr feiern. Sicher hat das einen Sinn. Hier ist auch ein Friedhof. Aber es gibt hier auch einen Haufen Probleme.«
Es wurden tatsächlich bei nahezu jedem Interview Probleme und auch Konflikte the‑ matisiert. Alena Heitlinger schreibt über die Situation der jüdischen Gemeinden nach 1989 in der Tschechoslowakei: »However, the ›external‹ conflicts with the party-state administration that characterized the communist era were soon replaced by ›internal‹ ones within the organized Jewish community over religion, social welfare programs, and control and management of newly restituted property. Also at issue have been in‑ stitutional processes involved in communal decision-making, the influence of foreign rabbis and interna‑ tional Jewish organizations, and the overall direction of the two national communities« (ebd. 2006: 161).
Wie sich angesichts dieser Befunde das jüdischen Leben in Košice entwickelt hat, wird nachfolgend im Zusammenhang mit den verschiedenen Vereinen und deren Aktivi‑ täten dargestellt.
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4.2.2 D ie jüdischen Vereine in Košice – zwischen Vorträgen, Feiern und Konflikten Der »Holocaust-Club« Für die älteren Mitglieder der Gemeinde in Košice wurde 1996 der »Holocaust-Club« gegründet. Dort sollten die Holocaustüberlebenden in einer bestimmten Form der Gruppentherapie ihre Erfahrungen verarbeiten. Laut den Schweizer Psychologinnen Revital Ludewig-Kedmi, Miriam Victory Spiegel und Silvie Tyrangiel entstanden erst ab Mitte der 1980er Jahre in Israel und Westeuropa nach und nach Beratungs- und Therapiezentren für Holocaustüberlebende (vgl. Ludewig-Kedmi et al. 2002: 12 f.). Zunächst kam aus Budapest regelmäßig eine Psychologin, die die Gruppe in Košice leitete und mein Interviewpartner Herr Kamenský, ebenfalls ausgebildeter Psychologe, arbeitete dort als Therapeut mit. Ab Oktober 1997 übernahm er nach einer speziellen Zusatzausbildung für die Arbeit mit Holocaustüberlebenden für sie‑ ben Jahre die Leitung der Gruppe. »Es hatte sicherlich die ersten drei, vier Jahre den Charakter einer psychotherapeutischen Gruppentherapie, weil es gab solche Situa‑ tionen, in denen die Menschen das erste Mal öffentlich darüber gesprochen haben«, berichtete er. In dieser Zeit war es laut Herr Kamenský daher bei den Treffen immer sehr emotional und intensiv: »Es wurde dort häufig geweint, geschwiegen. Und es gab großen Hass. Das gab es alles und es kam an die Oberfläche, Aggressivität, ja. Die letzten Jahre war es eher so eine Diskussionsrunde, das war keine Psychotherapie mehr, sondern so eine interessante Gruppe, in der die Menschen erzählt haben, was sie wo gelesen haben, was sie über Antisemitismus gehört haben. Doch dann gab es keine neuen Mitglieder mehr.«
Nach und nach sind die Mitglieder, die bei der Gründung des »Holocaust-Clubs« etwa zwischen 70 und 95 Jahren alt gewesen sind, gestorben, so dass er Ende des Jahres 2004 eingestellt wurde.
Der »Survivors’ Club« Die Gemeindeältesten treffen sich heute informell im »Survivors’ Club«. Sie sind ei‑ nige Jahre älter als die »Hidden Children«. Die »Survivors« kommen nach dem ge‑ meinsamen Mittagessen zum Kaffee im Gemeindewohnzimmer zusammen, um sich zu unterhalten. Das Zustandekommen dieser Treffen hängt davon ab, wie viele von ihnen am Mittagessen teilnehmen, wie mir eine meiner ältesten InterviewpartnerIn‑ nen, Magdalena, verriet (vgl. auch Kapitel 6.1.1).
»The Hidden Child Košice« 1993 wurde The Hidden Child Košice als eine Dependance der weltweiten Organi‑ sation für die Menschen, die als Kinder den Holocaust (versteckt) überlebt haben, gegründet (vgl. WFJCSHD). Es gibt auch eine entsprechende Gruppe in Bratislava,
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mit der sie in regem Kontakt steht, aber vor Ort arbeiten sie jeweils unabhängig von‑ einander. Die Statuten des Vereins sehen es vor, dass die Mitglieder zwischen 1928 und 1945 geboren sein müssen, wie mir die Vorsitzende Frau Gálová sagte. Im Februar 2010 sprach Frau Gálová von ungefähr 34 registrierten Mitgliedern, von denen 25 aktiv sind. Man treffe sich regelmäßig einmal im Monat, um Organisatorisches zu bespre‑ chen. Dann gebe es monatlich noch ein informelles Treffen, bei dem man ungezwun‑ gen zusammensitze und sich unterhalte. Zu diesem Treffen würden allerdings weni‑ ger Mitglieder kommen. Insgesamt hat The Hidden Child drei Hauptaufgaben beziehungsweise -ziele: die Retter der damals versteckten Kinder und ihrer Familien zu finden, der Toten zu ge‑ denken und Zeugen sein. Die ehemalige Vorsitzende von The Hidden Child, Frau Bäckerová, erklärte mir dazu: »Die Dokumentation unserer Schicksale, das ist eine der wichtigen Aufgaben. Zweitens, wenn ein Kind dank einer Person überlebt hat, die es versteckt hat, dann suchen wir diesen Retter und wir treffen ihn. Nicht nur unsere Retter, sondern überhaupt. Wir hier in Košice haben uns bemüht, die Retter derjenigen zu finden, die über die ganze Welt verteilt leben.«
Frau Gálová sagte, dass leider nur noch wenige ihrer Retter leben, da die meisten von ihnen während des Holocaust bereits erwachsen waren. Außer zwei Rettern seien alle tot, aber sie würden sich auch mit deren Nachkommen treffen. Rabbiner Steiner, der auch Mitglied des Opferverbands ist, zeigte mir beispielsweise eine große, gerahmte Fotografie von dem Grab des Mannes, dem er sein Leben zu verdanken hatte. Es war ein armer Bauer, der neun Menschen aus der Familie des Rabbiners versteckt hat. Rabbiner Steiner sei es persönlich sehr wichtig, ihn und das, was er für seine Familie getan hatte, zu würdigen, denn er habe sich dabei selbst großen Gefahren ausgesetzt. Frau Gálová erklärte: »In dieser Zeit Juden zu verstecken, bedeutete, sein Leben zu riskieren. Weil das … das war verboten. Juden musste man ins Konzentrationslager schicken.« Außer den drei Hauptaufgaben, die sich The Hidden Child zum Ziel setzt, sei auch die Rückkehr zum Judaismus wichtig, allerdings wurde mir dazu gesagt: »Wir sind schon eine Generation, die im Kommunismus aufgewachsen ist und wir sind eher Atheisten als Nicht-Atheisten. Also ist das da schon etwas schwierig. Zwar nehmen wir an gewissen religiösen Aktivitäten teil, aber wir machen in diesem Zusammen‑ hang nicht viel.« Diese Aussage deutet an, dass auch in dieser Generation der »Älte‑ ren« wenige Menschen religiös sind. Neben den Aufgaben, die vor allem mit Erinnerungsarbeit und Aufklärung über den Holocaust verbunden sind, gehen die Mitglieder ab und zu auch gemeinsam ins Theater, auf Konzerte oder unternehmen Ausflüge in die Natur. Finanzielle Unterstüt‑ zung erhält der Verein unter anderem durch die Claims Conference und den Rat zur Entschädigung der Opfer des Holocaust (vgl. Claims Conference und Kapitel 4.1.4).
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Zusätzlich zu den anderen Vereinsaktivitäten gibt es einen »Zyklus« mit Vor‑ trägen, der den Namen »Wir sind stolz auf das, was wir sind« [»Sme hrdí na to čo sme«] trägt. Im Rahmen des Zyklus bereiten die Mitglieder abwechselnd Vorträge zu verschiedenen Themen vor, mit dem Gedanken dahinter, dass sie aktiv bleiben. Zu diesen Vorträgen, die beispielsweise über »jüdische Identität in der Vergangenheit und Gegenwart«, »die Emigration der Juden von Europa nach Palästina« oder »das Warschauer Ghetto« gehalten werden, werden Mitglieder aus der jüdischen Gemein‑ de eingeladen, aber auch die Öffentlichkeit. Die Einladungen werden auf der Website der Gemeinde publiziert (vgl. Kehila Košice – The Hidden Child). Alle Mitglieder von The Hidden Child, mit denen ich sprach, erwähnten sehr stolz die Feierlichkeiten in der damals frisch restaurierten orthodoxen Synagoge an der Puškinová am 10. September 2009. Einen Tag nach dem nationalen Gedenktag an die Opfer des Holocaust und rassistischer Gewalt (9. September83) gestaltete The Hidden Child zu diesem Anlass ein Programm, mit hebräischen Melodien, einem Vortrag zum Thema »Ereignisse im Zusammenhang mit dem Jüdischen Kodex im Jahr 1941« des Historikers Ján Hlavinka sowie einem Gebet von Rabbiner Steiner (vgl. Einladung zur Gedenkveranstaltung 10. 9. 2009). An diesem Tag luden die jüdische Gemeinde und The Hidden Child vor allem Persönlichkeiten aus dem öffentlichen städtischen Leben wie den Bürgermeister, Schul-, Universitäts- und MuseumsdirektorInnen sowie den israelischen und den ungarischen Konsul ein. Bei dieser Veranstaltung waren also nur ausgewählte Gäste geladen und auch ein Sicherheitsdienst wurde meinen InterviewpartnerInnen zufolge engagiert, der jede Einladung kontrollierte. »So konnte da nicht jeder hinkommen. Weil wir haben keine Garantie, dass da nicht jemand mit schlechten Absichten hin‑ kommt«, so die Vorsitzende. Sie erklärte, dass nicht nur sie ein besseres Gefühl hätte, wenn bei solchen Veranstaltungen ein Sicherheitsdienst anwesend sei. Bei kleineren Veranstaltungen, wie den Vorträgen oder Lesungen, dürfe jeder kommen. Wie sich herausstellte, kamen jedoch meist die gleiche Gruppe von Interessierten, die Mitglie‑ der der Vereine selbst, deren Familien und Freunde, zu den Veranstaltungen. Ein Mitglied von The Hidden Child sagte mir, dass sie sich in der Gruppe schon si‑ cherer fühle, doch sei das zu Beginn ihrer Mitgliedschaft dort noch nicht so gewesen: »Ich erinnere mich auch daran, dass es nicht so einfach war, als ich in die Gemeinschaft zu The Hidden Child kam und damit öffentlich aufgetreten bin. Einige Zeit lang habe ich auch … ich hatte das Gefühl, dass es wohl gefährlich sein könnte, weil meine Mutter immer sagt, dass es [der Holocaust] zurückkehren könnte, es kann wieder irgend so eine Welle kommen. Und … das habe ich irgendwie gefühlt.«
Doch mittlerweile überwiege bei ihr das positive Gefühl, zu The Hidden Child da‑ zuzugehören, denn »ich habe mich gut gefühlt bei the Hidden Child, also war das stärker. Und jetzt habe ich nicht mehr solche Angst, auch wenn das absolut theore‑ 83 | Dieser Tag wurde gewählt, weil der »jüdische Kodex« am 9. September 1941 in Kraft trat (vgl. Kapitel 4.1.2).
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tisch ist. Ich denke mir natürlich, dass man nie wissen kann, ob es nicht noch einmal zu so etwas kommen wird [wie dem Holocaust].« Die Ängste und Sorgen vor anti‑ semitischen Übergriffen speisen sich aus den Erfahrungen der Generation, die den Holocaust überlebt hat, und aus den tradierten Ängsten ihrer Eltern und Verwand‑ ten. Opferverbände, in denen die Menschen nach dem Ende des Sozialismus häufig erstmals öffentlich über ihre Erfahrungen sprechen konnten, halfen ihnen auch, mit diesen Ängsten umzugehen. Ein anderes Mitglied von The Hidden Child erklärte mir, dass sie selbst das Gefühl gehabt habe, aus einer »Illegalität herauszukommen«, als sie Anfang der 1990er Jahre der Gruppe beigetreten ist. Nach dem Holocaust habe sie, wie viele andere auch, versucht, ihre Erlebnisse zu vergessen und darüber geschwie‑ gen. Bei The Hidden Child habe sie sich endlich aussprechen können. Eine andere Interviewpartnerin aus der Generation der Holocaustüberlebenden bestätigte dies: »Meine Generation, wir haben damals zwar nicht inkognito gelebt, aber wir haben darüber auch nicht gesprochen. Wir wollten darüber nicht sprechen. Wir wollten nicht darüber sprechen, was wir erlebt ha‑ ben, wie wir davongerannt sind, was weiß ich, durch Wälder … wir wollten einfach nicht. Und nicht nur mit Menschen, die nicht jüdisch waren, sondern auch untereinander nicht. Das war kein Thema. Vor allem von [19]48 bis [19]89 haben wir auch versucht, das in unserem Inneren zu unterdrücken. Nicht darüber zu sprechen. Und [19]90 haben wir dann begonnen zu sprechen. Und das hat uns auch bei Hidden Child verbunden, das hält uns zusammen.«
Obwohl viele der Holocaustüberlebenden im Rahmen von The Hidden Child genug Sicherheit und Schutz empfinden, um sich zu öffnen, steht dies bei manchen von ih‑ nen im Gegensatz zu dem Leben, das sie außerhalb der jüdischen Vereine und der Gemeinde führen: »Wir haben solche Mitglieder, die jeden Monat zu den Treffen kommen. Aber wenn sie außerhalb dessen jemandem sagen sollten, dass sie Juden sind, dann würden sie es um nichts in der Welt zugeben. Das ist wohl irgendein psychisches Trauma, oder eine Sorge oder so etwas. Sie fürchten sich immer noch. Aber sie kommen zu den Treffen, weil sie sich dort gut fühlen und nicht fürchten müssen.«
Diese Aussage lässt den Zusammenhang zwischen den Aushandlungsprozessen der (jüdischen) Identitäten, der Aufarbeitung der Erinnerungen und Traumata sowie dem jeweiligen Umfeld beziehungsweise der Lebenswelt der AkteurInnen erahnen. Jacques Picard zufolge gehe es bei der Schaffung von Räumen für die Stimmen der Überlebenden »ganz allgemein darum, dass Gefühle gehört und verborgene Bilder mitgeteilt werden können, und dass dies in einem Schutzraum und unter Bedingun‑ gen geschieht, die eine Lebenspraxis der Anerkennung ermöglichen« (Picard 2002: 7 f.). Diesen Schutzraum gewährten manchen die Opferverbände. Für andere blieben ihre Geschichten nicht erzählbar und sie schweigen weiterhin.
Geschichte und Gegenwart des jüdischen Lebens | 147 »Ohne Wissen um den historischen Kontext ist eine integrative Unterstützung der Holocaust-Überleben‑ den und ihrer Angehörigen weder in der Schweiz noch an anderen Orten denkbar. Gerade in der Aner‑ kennung und dem Wissen um die Verwobenheit von kollektiver und persönlicher Geschichte entsteht ein spezieller therapeutischer Schutzraum«,
so die Schweizer Psychologinnen (Ludewig-Kedmi et al. 2002: 13). Die Diskurse zwi‑ schen Erinnerungsarbeit, Anerkennung, individuellem, kollektivem beziehungsweise sozialem und nationalem Gedächtnis werden in Kapitel 4.2.4 vertieft. Hier soll jedoch festgehalten werden, dass innerhalb und durch die diversen Programme auch außer‑ halb des Opferverbands verschiedene Gedächtnisse aktiviert und Erinnerungen in die Gegenwart hineingeholt werden. »An den Narrativen der Opfer, an der passiven Wende im historischen Diskurs, haben die Repräsentan‑ ten von Opfergruppen Anteil. Insofern geht es bei den Opferdiskursen ganz prononciert um Diskurse der Opfer. Bei der politischen Selbstermächtigung von Opfergruppen geht es um die Fähigkeit, über die Geschichte der eigenen Gruppe selbst zu reden, das Leid und Unrecht selbst zu formulieren und an der Kanonisierung von Geschichte mitzuwirken. Darüber hinaus wird das Streben um öffentliche Anerken‑ nung oft mit dem Verlangen nach symbolischer oder auch materieller Wiedergutmachung verbunden. Die sogenannte ›passive Wende‹ im öffentlichen Diskurs bedeutet eine aktive Wende für die Betroffenen: Opfer werden Akteure.« (Schulze-Wessel 2012: 2, Herv. i. O.)
Frau Gálová erlaubte mir, bei einem Treffen von The Hidden Child dabei zu sein (vgl. auch Kapitel 1.3). Es fand im Gemeindewohnzimmer, einem Raum mit sehr hohen Decken und mehreren Tischen statt. Diese waren alle mit einer bunten Serviette in der Mitte gedeckt, auf der ein Teller mit Keksen und Getränke standen. Als das insge‑ samt anderthalb Stunden dauernde Treffen begann, waren ungefähr 20 Personen im Raum, ich saß an einem der Tische mit einem Mann und seiner Frau, die ihn immer zu diesen Treffen begleitete, wie sie mir erzählten. Später kam noch Zoya, eine meiner InterviewpartnerInnen, die ich dort gewinnen konnte, dazu. Frau Gálová ging nach‑ einander vor allem organisatorische Punkte durch, wie etwa die Themen der nächs‑ ten Vorträge und es wurden auch Ausflugsziele besprochen. Dann wurde zweien der Mitglieder zum Geburtstag gratuliert. Insgesamt wirkte die Gruppe auf mich sehr intakt und aufeinander eingestimmt. Dies war auch an der Herzlichkeit erkennbar, mit der sich die Mitglieder grüßten und voneinander verabschiedeten und an den vielen Scherzen, die sie machten. Einige der Interviewpartnerinnen, die bei The Hidden Child aktiv sind, sind auch Mitglieder im jüdischen Frauenverband, um den es nun gehen soll.
Der Verein jüdischer Frauen in der Slowakei »ESTER« Wie mir Frau Györiová, die Vorsitzende, erzählte, wurde der Verein jüdischer Frauen zwar erst 2000 offiziell gegründet, doch die Organisation besteht bereits seit 1996. Es ist einer von 48 jüdischen Frauenvereinen weltweit (vgl. ICJW). Vor dem Ersten Weltkrieg war der Verein der jüdischen Frauen in Košice den AutorInnen des SNM
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zufolge der aktivste (vgl. SNM 2009: 204). ESTER funktioniere wie eine NGO und sei unabhängig von der Gemeinde. Dennoch würde diese stets mit einbezogen und alle ihre Mitglieder zu Veranstaltungen eingeladen, so Frau Györiová. Finanzielle Unterstützung erhält der Verein sowohl vom Ministerium für Kultur, der Stadt Košice und verschiedenen nationalen und internationalen Organisationen, wie beispielsweise die Stiftung für jüdisches kulturelles und religiöses Leben EZRA (vgl. EZRA). Hauptaufgabe des Frauenvereins ist, die Traditionen und das Wissen um die jüdische Kultur zu verbreiten und aufrecht zu erhalten. Wie mir die Vorsit‑ zende des Vereins sagte, sind »Wissen und Bildung sehr wichtig, um Intoleranz zu bekämpfen«. Sie arbeitet also mit Schulen zusammen und organisiert dort verschie‑ dene Projekte, in denen die Kinder an die jüdische Kultur und Geschichte herange‑ führt werden. Bei einem der Projekte mit einer Schule in der Gemeinde Giraltovce, wo vor dem Holocaust viele Juden gelebt hatten, haben die Kinder beispielsweise den jüdischen Friedhof gereinigt um darüber eine Verbindung zur Vergangenheit zu be‑ kommen. Zusätzlich veranstaltet ESTER verschiedene öffentliche Lesungen, Vorträge und auch Konzerte, wie auch das erste Klezmer-Konzert in Košice im Jahr 1995. Diese Veranstaltungen sind für die Öffentlichkeit bestimmt. ESTER ist auch für die Organi‑ sation des Europäischen Tags der jüdischen Kultur und den Tag der jüdischen Kultur verantwortlich.84 Dazu arbeitet Frau Györiová sowohl mit Einrichtungen der Stadt‑ verwaltung als auch mit dem Club der nationalen Minderheiten und dem Ökumeni‑ schen Kirchenkreis zusammen (vgl. Kehila Košice - ESTER). ESTER ist als jüdischer Frauenverein der Slowakei für das gesamte Land zuständig und hatte einst 70 aktive Mitglieder, wie mir Frau Györiová sagte. Mittlerweile seien es noch 28. »Ja, die Frauen aus der Slowakei … wir treffen uns nicht mehr so häufig. Aber hier in Košice, hier haben wir alles.« Im Januar 2010 hatten sie ihr zehnjähriges Bestehen gefeiert. Frau Györiová vermittelte mir, dass ESTER aktiv sei, alleine schon, weil es die Vereinssta‑ tuten so vorschrieben. Doch einige Mitglieder von ESTER ordneten die Aktivitäten kritischer ein: »Ja, Frau Györiova leitet den Verein ESTER. Ich denke, sie bemüht sich noch, aber ich denke, dass das … also sie bemüht sich, aber mir gefällt nicht alles, was sie macht. Aber das ist eher subjektiv. Man sollte es anerkennen, dass sie sich bemüht. Aber das ist eher auf einer schwachen Ebene.« Eine andere Interviewpartnerin sagte mir, dass sie das Gefühl habe, dass nicht mehr viel in dem Verein passiere und auch die Treffen unregelmäßiger werden. Andere, auch außenstehende Personen sprachen sich wiederum bewundernd für die »großartigen Projekte von Frau Györiová« aus und erklärten, dass es gut wäre, wenn es mehr Leute wie sie gäbe. Kritisch äußerten sich einige InterviewpartnerInnen auch gegenüber dem »Elite‑ verein« B’nei B’rith.
84 | Der Tag der jüdischen Kultur und der Europäische Tag der jüdischen Kultur werden an bestimmten Terminen in diversen Städten der Slowakei im Rahmen eines kulturellen Programms mit Musik, Tanz und anderen künstlerischen Darbietungen, begangen (vgl. u. a. Kehila Košice – ESTER).
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Die » B’nei B’rith Concordia Lodge Košice« Der Vorsitzende der B’nei B’rith Concordia Lodge Košice, Herr Tesser, erzählte mir bei unserem Interview, dass der erste dieser Vereine 1843 in den USA gegründet wur‑ de und der älteste karitative Verein der Welt ist. Zunächst ist es ein Verein nur für jüdische Männer gewesen, später wurden auch Schwesternlogen für Frauen gegrün‑ det. B’nei B’rith Košice gehört zu B’nei B’rith Europa, er hat bereits vor dem Zweiten Weltkrieg in der Stadt bestanden und ist 1993 wieder gegründet worden (vgl. Kehila Košice – B’nei B’rith; B’nei B’rith Europe – Slovakia). In Bratislava gibt es ebenfalls eine Dependance, die B’nei B’rith Tolerancia Lodge. Zwar hat der Verein Mitglieder im Alter von 35 bis 95 Jahren, doch steht er nicht allen Menschen offen. Von anderen InterviewpartnerInnen wurde mir beispielsweise gesagt, der Verein »existiert so für sich« und »die machen ihr eigenes Ding«. Dieser Eindruck bestätigte sich, als mir Herr Tesser von den Aufnahmeregeln erzählte. Diese sind tatsächlich streng, aller‑ dings weit weniger als in anderen Logen, wie er versicherte. Bis vor fünf Jahren hätten sie beispielsweise darauf geachtet, dass das neue Mitglied nach halachischem Gesetz jüdisch85 ist, damit »die Loge rein gehalten wird«. Diese strengen Reglementierungen wurden aufgeweicht, da man gemerkt hat, dass es kaum mehr eine Auswahl an neuen Mitgliedern gibt: »Es gibt wenige Leute und wenige Junge, an denen wir Interesse haben, und meine Generation ist auch schon um die 60 Jahre alt.« Also muss das neue Mitglied entweder mütter- oder väterlicherseits eine jüdische Abstammung nachwei‑ sen können. Zudem muss es auch von zwei Mitgliedern, die seit mindestens fünf Jah‑ ren dabei sind, vorgeschlagen werden. Dies geschieht schriftlich, und die Mitglieder müssten für ihren Vorschlag bürgen. Herr Tesser als Vorsitzender unterbreitet dem Vereinsvorstand den Vorschlag. Sollte es Stimmen gegen das neue Mitglied geben, klärt er dies und wägt dessen Aufnahme ab. Bei der endgültigen Abstimmung müs‑ sen mindestens fünf von sechs Anwesenden für den oder die Neue stimmen, sonst wird die Aufnahme abgelehnt. In der Schweiz müssen beispielsweise alle von über 100 Mitgliedern zustimmen. Auf meine Frage, was den Verein für Mitglieder und diejenigen, die es werden wollen, so attraktiv mache, antwortete mir Herr Tesser: »Es ist eine Ehre, weil das ist eine Elite-Organisation im Judentum. Weil wir viel bewirken. Wir organisieren viele Dinge, die andere hier nicht machen.« Hier benannte er den Verein als »Eliteverein«, erklärte aber auf der anderen Sei‑ te, dass die Probleme, die B’nei B’rith vor einiger Zeit mit anderen Mitgliedern der jüdischen Gemeinde gehabt habe, hauptsächlich darauf beruhen würden, dass man sie »als elitär betrachtet. Als ob … als wären wir besser als sie. Dass wir uns hervor‑ heben, als wären wir … ja.« Herr Tesser erklärte, dass der Verein vermögender als die Gemeinde sei und viele Bälle und Feste organisiere, zu denen jeder seine Familie und Freunde mitbringen könne. Damit meinte er die Vereinsmitglieder. Aber man organisiere auch Veranstaltungen für die gesamte jüdische Gemeinde. Der Purimball 85 | Rabbiner Steiner erklärte, dass nach halachischem Gesetz jüdisch ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde.
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sei beispielsweise offen für alle. Doch wie mir einige meiner InterviewpartnerInnen, die keine Mitglieder von B’nei B’rith sind, sagten, könnten sie sich Eintrittsgelder wie 25 Euro für den Purimball nicht leisten. Herr Tesser erzählte auch von einer Chanuk‑ ka-Feier, zu der sie alle anderen Mitglieder der Gemeinde eingeladen haben: »Wir haben das auch der Gemeinde angeboten. Nur war das Abendessen dort so teuer, dass da keiner aus der Gemeinde hinkommen wollte. Das haben wir in einem Restaurant gemacht. Und da haben wir uns Essen bestellt, das für jeden 20 Euro gekostet hat. Und wir haben der Gemeinde gesagt, kommt dahin, wenn ihr möchtet, aber so viel muss man bezahlen. Wir haben das bezahlt, das war kein Problem. Also ist da niemand hingekommen, außer den Mitgliedern von B’nei B’rith.«
Andere InterviewpartnerInnen erwähnten mir gegenüber, sie seien zu Veranstaltun‑ gen von B’nei B’rith gar nicht erst eingeladen worden, was sie verärgert habe. Eine Interviewpartnerin, die die Veranstaltungen von B’nei B’rith besucht hat, erzählte, es seien stets »große Veranstaltungen wie etwa der Purim- oder der Chanukka-Ball. Einige Zeit war es immer an Purim, dann haben sie es auf Chanukka geändert, jetzt ist es wieder Purim. Aber das hat nicht mehr direkt etwas mit dem Judentum zu tun. Die Loge B’nei B’rith organisiert das. Und eigentlich ist das ein Ball, bei dem der Kern jüdisch ist, aber da werden auch viele Nicht-Juden eingeladen, die mit den Juden dort befreundet sind. Es ist eigentlich eine angenehme Veranstaltung, da ist auch mehr oder weniger eine geschlossene Gesellschaft. Und es gibt dort auch immer angenehme Musik. Wer will, tanzt und wir treffen uns dort nach langer Zeit wieder und reden miteinander. Das ist gut, aber dass es irgendeine besondere kulturelle, jüdische Sache wäre … einmal gab’s dort Klezmer-Musik, eigentlich totaler Standard. Also sind es nicht die jüdischen Themen, die dort Anklang finden.«
Es geht also weniger um Traditionen als um das Vergnügen und Beisammensein. Laut dem Vereinsvorsitzenden liegt dem Verein sehr viel daran, dass der Kontakt zwischen den Mitgliedern gut und intensiv ist und nicht abreißt. Daher treffen sie sich regel‑ mäßig und gehen beispielsweise auch gemeinsam essen, veranstalten ein Grillfest im Sommer, feiern die jüdischen Feiertage gemeinsam. Und alle Mitglieder dürfen ihre Familien mitbringen. »Und wir fühlen uns gut. Weil das so eine Gemeinschaft ist, die ausgesucht ist. Und jeder kommt mit jedem aus. Da gibt es keine Grüppchenbildung. Das gibt es nicht. Es ist alles gemeinschaftlich«, so Tesser. Er erklärte weiterhin: »Die Mitglieder sind solvent. Sie haben Geld. Jemand, der beitritt, muss sich dessen bewusst sein, dass wenn wir sagen, wir spenden für die Kinder auf Haiti 200 Euro, dann steuert jeder 200 Euro bei.« Ich warf ein, dass diese Summe besonders für slowakische Verhältnisse wohl relativ hoch sei, er beteuerte, das sei richtig, aber in ihrer Organisation normal. Neben der Unterstützung des Staates Israel durch Vorträge und Spenden sei die karitative Arbeit die wichtigste für den Verein. Dafür arbeiten sie auch international mit anderen Organisationen und Dependancen von B’nei B’rith zusammen. Sie un‑ terstützen beispielsweise arme Juden in der Ukraine oder jüdische Waisenkinder, in‑
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dem sie für ihren Unterhalt und ihre Ausbildung sorgen. Auch die Unterstützung und Hilfe für ältere Mitglieder ist eine ihrer Aufgaben. Es werden jedoch auch Vorträge zu diversen Themen, die das Judentum oder Israel betreffen, veranstaltet, wozu stets interessante Gäste aus Wissenschaft und Politik eingeladen werden. Die Vorgaben für seine Projekte bekommt B’nei B’rith Košice von der europäischen Zentrale in Brüssel, so Herr Tesser (vgl. B’nei B’rith Europe – Slovakia). Von den in den 1990er Jahren gegründeten Vereinen bestehen gegenwärtig noch vier: The Hidden Child, ESTER, B’nei B’rith und der Survivors-Club. Einen Verein für Kinder oder Jugendliche gibt es nicht mehr. Eine Interviewpartnerin aus der Nach‑ kriegsgeneration beschrieb mir, wie sie das jüdische Leben seit 1989 in Košice wahr‑ genommen hat: »Mir kommt es so vor, als wäre das jüdische Thema nach 1989 modern geworden. Es ist sprichwörtlich zur Mode geworden. Und unter den Jungen waren einige, die damals Studenten waren und auch aus solchen Familien kamen, bei denen sagen wir mal, ein Elternteil jüdisch war. Und auf einmal haben sie begonnen, sich dazu zu bekennen und zum Jüdischen zu gehen. Dann sind einige weggegangen, andere nicht. Als wäre es interessant, wenn man aus der Reihe tanzt und irgendwie besonders ist. Und das Jüdische bedeu‑ tet, irgendwie ›speziell‹ zu sein. Und mir kommt es so vor, als hätten sich deshalb viele [bei der Gemeinde] gemeldet.«
Zu dieser Zeit, in der Mitte der 1990er Jahre, gab es noch ein breiteres Angebot für alle Generationen in Košice. Als jedoch viele junge Erwachsene wegen ihrer Ausbildung und des Studiums in andere tschechoslowakische Städte und auch in westeuropäische Länder zogen, wurden die Aktivitäten der Clubs für ihre Altersgruppe eingestellt. Aufgrund des Arbeitsplatzmangels und schlechter Verdienstmöglichkeiten in Košice seien die Meisten im Ausland geblieben. Daher gibt es heute auch keine junge, an den religiösen Traditionen interessierte Generation mehr in Košice. Mit ihren Kindern fehlt auch die nächste Generation in Košice. Dies bestätigten mir auch meine jüngsten Interviewpartnerinnen Lisa und Ella,86 die ich gemeinsam interviewte: »Ich glaube, es [das jüdische Leben] war irgendwann einmal ziemlich lebendig, kurz nach der Revo‑ lution war es ziemlich lebendig. Da haben sich Familien mit kleinen Kindern getrof‑ fen, damals waren wir klein. Aber dann hat es irgendwie aufgehört.« Selbst wenn es jetzt Angebote der Gemeinde für die jüngere Generation gäbe, sei hier niemand, der sie nutzen würde, so Ella. Ihr fielen kaum junge Leute ein, die noch in Košice leben und Interesse an den Aktivitäten der Gemeinde haben. Auch für die Nachkriegsgeneration gibt es wenige Angebote, wie mir der ehe‑ malige Gemeindevorsitzende, Herr Kolín, erzählte. Frau Györiová habe einige Zeit lang regelmäßige Schabbat-Abendessen in der Gemeindeküche veranstaltet, was gut funktioniert habe. Da seien unter anderem Barches und Scholet sowie andere Speisen 86 | Den Kontakt zu Lisa erhielt ich von einer ihrer Freundinnen, die ich in einer NGO in Bratislava kennen‑ lernte. Lisa brachte zum Interview Ella mit. Die jungen Frauen waren zum Zeitpunkt unseres Interviews zwischen 23 und 24 Jahre alt.
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zubereitet worden und man habe sich dort treffen und unterhalten können. Irgend‑ wann habe es Schwierigkeiten mit den Räumlichkeiten und dem Kochen gegeben, so dass diese gemeinsamen Essen eingestellt worden seien. Einige InterviewpartnerInnen beklagten auch, dass sie nicht immer Einladungen erhielten, wenn es eine Veranstaltung gebe: »Sie laden uns nicht einmal ein … und wir wissen nicht, wann etwas stattfindet … nein.« Informationen über Veranstaltungen und Treffen erhalte man telefonisch oder über das Internet. Doch nicht alle Mitglieder der jüdischen Gemeinde haben Internet und nutzen die Möglichkeit von E‑Mails. Die Veranstaltungen der Vereine, die für alle Mitglieder konzipiert sind, werden meist nur auf der Website der Gemeinde veröffentlicht. Wie ich bei der regelmäßigen Be‑ trachtung der Webseiten feststellen konnte, werden, wenn es sich um größere Veran‑ staltungen wie etwa Konzerte, Ausstellungen oder Lesungen handelt, die in Koope‑ ration mit städtischen Einrichtungen organisiert sind, diese auch auf der städtischen Website und der des städtischen Informationszentrums unter der Rubrik »kulturelle Veranstaltungen« publiziert (vgl. Stadt Košice; MiC Košice; Kehila Košice). Außer im privaten Rahmen treffen sich die Gemeindemitglieder außerhalb der Vereine also nicht regelmäßig. Es mangele auch am Interesse, denn »wenn die Leute nicht kommen, wozu soll man dann etwas machen?«, so eine Interviewpartnerin aus der Nachkriegsgeneration. In den 1990er Jahren sei es noch anders gewesen, fuhr sie fort: »Ja, sie sind gekommen, aber es sind immer die Gleichen gewesen. Es ist immer jemand gekommen und dann hat wieder ein Neuer davon erfahren und ist auch ge‑ kommen. Ja, es war etwas regelmäßiger. Aber jetzt machen wir nichts mehr.« Eine andere Interviewpartnerin aus der Nachkriegsgeneration bestätigte: »Wir haben uns getroffen, als es diese Euphorie gab und die Kinder kleiner waren, 1989 war so eine Eupho‑ rie … Und anfangs sind wir ziemlich regelmäßig dahin [zur Gemeinde] gegangen, ja. Aber dann haben wir festgestellt … dass nur noch die übrig waren, die sich ohnehin auch so getroffen haben. Also ist es völlig sinnlos sich dort zu treffen, wenn wir das auch zuhause tun können. Wir brauchen nicht an irgendeinen Ort zu gehen, um uns dort zu treffen. Also ich hatte das Gefühl, dass es keinen Sinn hat, sich so zu treffen.«
Der aktivste der Vereine, dessen Mitglieder sich regelmäßig treffen und die meisten Veranstaltungen organisieren, sei gegenwärtig The Hidden Child – die Generation, die zu den Ältesten in der jüdischen Gemeinde gehört. Eine jüngere Interviewpartne‑ rin sagte mir zu ihrer Wahrnehmung des jüdischen Lebens in Košice: »Ich habe das Gefühl, dass es sich hier nur noch um die Ältesten dreht.« Es scheint paradox, doch gerade die Generation, die, wie sie auch selbst sagte, »nicht mehr lange da sein wird«, ist am aktivsten. Dieser Befund erklärt aber auch die eingangs beschriebene Perspek‑ tive, dass diese Gemeinde »aussterben« könnte. Neben dem häufig geäußerten Bedauern darüber, dass es an Angeboten für alle Generationen mangele, wurde mir, wie oben bereits angedeutet, von nahezu allen In‑ terviewpartnerInnen Kritik an der Gemeinde oder an einzelnen Vereinen zugetragen. Beispielsweise empfinden es einige meiner InterviewpartnerInnen so, als gehe es den Menschen gegenwärtig vor allem um irgendeinen Nutzen, den sie aus der Mit‑
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gliedschaft bei der jüdischen Gemeinde, beziehungsweise als Mitglieder der Vereine ziehen können. »Wenn sie irgendeinen Profit daraus ziehen, dann ist es gut, und wenn nicht, dann pfeifen sie drauf.« Wie mir auch andere InterviewpartnerInnen erklärten, gehe es vor allem um die Teilnahme bei verschiedenen Aktionen, bei denen sie etwas erleben könnten. Zum anderen handelte es sich um implizite und explizite Distinktions- und Aus‑ grenzungsmechanismen, die an allen Vereinen kritisiert wurden. So begrüßte mich einer meiner Interviewpartner mit den Worten: »Ich bin ein Antisemit. Also ich mag die Juden nicht.« Ich blickte ihn ungläubig an und glaubte, mich verhört zu haben. »Ich mag die Juden nicht. Ja, was soll ich denn machen.« Verwirrt hörte ich ihm zu, als er mir den Grund für seinen Ärger erklärte. Bei dem Treffen eines Vereins sei er gebeten worden zu gehen. »Sie haben mich hinausgeworfen. Sie wollten mich nicht.« Grund dafür sei gewesen, dass er bestimmte Vorgaben des Vereins nicht erfülle. Da‑ her könne er kein Mitglied werden. Dieses Ereignis habe ihn so sehr verletzt, dass er seitdem nichts mehr mit der jüdischen Gemeinde zu tun haben wollte. Dies war zwar der extremste, jedoch nicht der einzige Konflikt, der mir gegen‑ über als Vorbehalt gegenüber einem der Vereine oder der jüdischen Gemeinde selbst geäußert wurde. Daher können sich auch nicht alle Menschen mit jüdischen Wurzeln in Košice da‑ für entscheiden, der Gemeinde offiziell beizutreten. Wie zwei Interviewpartnerinnen begründeten es auch andere mit diversen Konflikten, die innerhalb der Gemeinde bestehen würden: »Sie haben auch versucht, mich zur Mitgliedschaft zu überreden. Aber es gibt auch in dieser Gemeinde Sachen, die mir nicht gefallen. Und ich habe gesagt, dass ich nicht beitrete, weil ich nicht das Bedürfnis dazu spüre«, so eine Inter‑ viewpartnerin aus der Nachkriegsgeneration. Eine andere wurde deutlicher, indem sie Konflikte zwischen den Vereinen skizzierte: »Du hast doch gesehen wie verstreut die Juden in Košice sind. Also das ärgert mich am meisten an ihnen. Ich will mich da [in der jüdischen Gemeinde] irgendwie nicht so arg in der ganzen Sache engagieren. Weil mich beispielsweise das so wahnsinnig ärgert, dass hier nur so wenige von ihnen sind, da sollten sie doch zusammenhalten. Und ich weiß wiederum, wie zerschlagen sie sind. Das bedeutet, dass sie nicht zusammenhalten. Dass die einen die mögen und die anderen mögen wieder andere und die wiederum mögen aber wieder andere. Ich weiß nicht, ob man dir das schon erzählt hat, aber ich habe schon solche Sachen erlebt, dass einer eine Veranstaltung organisiert hat und andere deshalb nicht hingegangen sind, weil genau dieser eine sie organisiert hat. Weißt du, das ist nicht meine Angelegenheit, weil ich da nicht [Mitglied] bin. Aber das regt mich so dermaßen auf.«
Auch diese Spannungen und Abgrenzungsmechanismen innerhalb der Gemeinde tragen neben individuellen Strategien, mit den jüdischen Wurzeln umzugehen, dazu bei, wie und ob sich die AkteurInnen für eine Mitgliedschaft entscheiden. Dabei wirft alleine schon die Frage, wer als Mitglied der jüdischen Gemeinde anerkannt wird und wer nicht, vor allem unter den Mitgliedern Kontroversen auf. Die Gemeinde selbst ist in dieser Hinsicht liberal, denn Herr Sitár, der Vorsitzende der Gemeinde,
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erklärte mir, dass die Regelung, wer Mitglied der jüdischen Gemeinde werden könne, eigentlich von den Statuten des Zentralverbands der religiösen jüdischen Gemeinden, UZŽNO, festgelegt würde: »Und die besagen, dass nur ein halachischer Jude Mitglied werden kann. Weil in der Slowakei nur ortho‑ doxe Gemeinden existieren. Aber in der Praxis sieht das anders aus. […] Mitglied kann derjenige werden, den die Gemeinde als Mitglied akzeptiert. Die Gemeinde ist autonom … und es kann vorkommen, dass irgendeine Gemeinde die Statuten verletzt.«
Die jüdische Gemeinde in Košice hat demzufolge auch Mitglieder, die keine halachi‑ schen Juden sind. Häufig vernahm ich allerdings Stimmen, die bezweifelten, ob der eine oder die andere »richtige« Juden seien. Dies wiederum ist bezeichnend für die Selbst- und Fremdbilder der Betreffenden, beziehungsweise für soziale Anpassungsund Abgrenzungssysteme. Diese fungieren Klaus Roth zufolge »als ein sozialer Selbstschutz. Innerhalb von Gruppen wirken sie als Systeme der Anpassung, die durch die Aufstellung klarer Wertattributionen der Verminderung von Spannungen und Konflikten und der Er‑ höhung der Gruppenkohäsion dienen. Indem sie die Grenze zwischen ingroup und outgroup markieren, erleichtern sie dem Einzelnen das Leben in der Gruppe, verstärken aber damit zugleich auch die Ab- oder Ausgrenzung der anderen, der outgroup.« (vgl. Roth 1998: 34, Herv. i. O.)
Der Befund, dass es innerhalb der jüdischen Gemeinde in Košice zahlreiche Konflikte und Spannungen gibt, ist kein besonderes Alleinstellungsmerkmal für diese jüdische Gemeinde. Das zeigt sich alleine schon daran, dass Alena Heitlinger den Konflikten der Prager jüdischen Gemeinde während ihrer Neukonstitution nach 1989 beinahe ein ganzes Kapitel ihrer Arbeit widmete, wobei dort auch Konflikte anderer ost- und westeuropäischer Gemeinden erwähnt werden (vgl. ebd. 2006: 161 ff.). In deutschen Medien lässt sich ebenfalls nachlesen, dass es beispielsweise nach Streitereien in der Berliner Gemeinde zu einer Schlägerei gekommen ist (vgl. Keller 2013). Spannungen und Abgrenzungsmechanismen innerhalb der jüdischen Gemeinden lassen sich auch dem Artikel über den größten Umbruch der Nachkriegsgeschichte im jüdischen Le‑ ben in Deutschland entnehmen (vgl. Lau 2008: 8 f.). Trotzdem nehmen in Košice viele an den öffentlichen Zeremonien und Veran‑ staltungen der jüdischen Gemeinde und ihrer Vereine teil. Denn auch bei solchen Gelegenheiten handeln die AkteurInnen ihre jüdischen Teilidentitäten im Netzwerk der Gemeinde aus. Denn laut Heiner Keupp und KollegInnen braucht »[…] Identi‑ tätsarbeit soziale Netzwerke, da diese materielle, emotionale und soziale Ressourcen zur Verfügung stellen […]« (ebd. 2002: 169). Im sozialen und kulturellen Leben der jüdischen Gemeinde hat es Brüche gege‑ ben, die einerseits mit dem Holocaust zu tun haben, dem der Großteil der jüdischen Gemeinde zum Opfer gefallen ist. Unter den Überlebenden, die während des Sozialis‑ mus und nach der »Samtenen Revolution« nicht emigriert sind, haben nicht alle einen Bezug zu ihrer jüdischen Abstammung. Einerseits, weil sie sich aufgrund der Trau‑
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mata aus dem Holocaust kein jüdisches Leben mehr vorstellen konnten, andererseits wurde es durch die Repressionen während des Sozialismus, bis auf wenige Phasen der Lockerung, fast immer verhindert (vgl. Kapitel 4.1.3). Diejenigen, die nach dem Zwei‑ ten Weltkrieg geboren wurden, erfuhren demnach kein intensives jüdisches Leben, wie es vor dem Holocaust noch möglich war. Ihre und die nachfolgenden Generatio‑ nen generierten ihr Bewusstsein für das Jüdische aus dem familiären Gedächtnis und dem darüber tradierten Umgang damit. Nicht zu vergessen sind dabei auch immer das soziale Umfeld und die diversen kollektiven, sozialen und politischen Gedächt‑ nisse, in die die individuellen Gedächtnisse der AkteurInnen eingebettet waren und sind. Denn laut Aleida Assmann umfasst »[u]nser individuelles Gedächtnis […] weit mehr als den Erfahrungsschatz, den wir durch eigenes Erleben erworben haben. Das menschliche Gehirn und Gedächtnis ist auf diese Erweiterung ausgerichtet, die zum einen durch Interaktion mit anderen Menschen und zum anderen durch Interaktion mit materiellen Zei‑ chen möglich wird. Unser Weltbezug ist immer schon ein vermittelter.« (Ebd. 2006a: 209)
Dass gegenwärtig vor allem die Generation der »Hidden Children«, also der fast Äl‑ testen der Gemeinde, am aktivsten ist, hat auch mit diesen veränderten und teilweise verlorenen Kontinuitäten im jüdischen Leben zu tun. Einen weiteren wichtigen Punkt stellen diesbezüglich auch die jüdische Religion beziehungsweise die religiösen Traditionen dar. Auch hier gibt es einige Kontrover‑ sen, denn wie bisher gezeigt wurde, gibt es zumindest bei den Aktivitäten der einzel‑ nen Vereine nur wenige, die mit der jüdischen Religion zu tun haben.
4.2.3 Religiöses Leben (in) der jüdischen Gemeinde: »Wie ein Tropfen im Meer« »Eine Linie des jüdischen Lebens macht die Religion aus. Und das sollte das Wichtigste sein, denke ich. Aber bei den Juden ist es so, dass sich in der Synagoge nicht nur die Gläubigen, sondern auch die Nicht-Gläubigen treffen. Weil das ist der einzige Ort, wo sich Juden treffen, oder es ist der dafür be‑ stimmte Ort, an dem sie sich treffen. Wenn ein Jude einen anderen Juden treffen will, dann geht er in die Synagoge. Also treffen sich in der Synagoge auch diejenigen, die nicht so gläubig sind oder überhaupt nicht. Also das ist das religiöse Leben«,
erzählte mir Zoya lachend. Sie selbst ist nicht religiös, nimmt aber gerne an den Ver‑ anstaltungen der verschiedenen Vereine der jüdischen Gemeinde teil und geht an den hohen Feiertagen Rosch Haschana und Jom Kippur auch in die Synagoge. Religiöse Juden beten dreimal täglich die Hauptgebete: morgens (Schacharit), spätnachmittags (Minchá) und abends (Ma’ariv), daneben gibt es noch eine Reihe weiterer, unter ande‑ rem auch feiertagsspezifischer Gebete (vgl. Ydit 1984: 39 f.). In Košice hat sich das religiöse jüdische Leben transformiert, worauf alleine schon die Aussage von Zoya schließen lässt. Im Folgenden soll es daher um die Religiosität der jüdischen Gemeinde in Košice gehen, über die ich mir nicht nur in den Interviews,
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sondern auch während der teilnehmenden Beobachtung an den hohen Feiertagen im Herbst 2010 ein Bild gemacht habe. Es ist Rosch Haschana, ich besuche den Gottesdienst in der Synagoge an der Puškinová am Freitagabend. Obwohl ich die Synagoge von Besichtigungen schon kenne, bin ich etwas aufgeregt und zugleich sehr gespannt, denn einem jüdischen Gottesdienst habe ich noch nie zuvor beigewohnt. Einige der Plätze in der Mitte, um die Bimah herum, wurden bereits von in Tallit gehüllten Männern eingenommen. Sie alle tragen zum Teil sehr schön bestickte Kippot und warten auf den Einsatz des Ra‑ bbiners. Dieser sieht mich zwischen den hereinströmenden Menschen und weist mir einen Platz in den Bänken an der Wand zu. Wenn auch nicht mehr die Galerie mit Sichtschutz im ersten Stock der Synagoge dafür genutzt wird und die Frauen auf der gleichen Ebene wie die Männer sitzen, so sollen sie zumindest durch die Sitzord‑ nung voneinander getrennt den Gottesdienst verfolgen. Von meinem Platz aus beobachte ich das Geschehen um mich herum. Ella und ihre Mutter Laura, mit denen ich mich in der Synagoge verabredet hatte, nehmen neben mir Platz. Es kommen immer mehr Menschen, vor allem ältere, in die Synagoge. Einige kommen alleine, manche pärchenweise. Ich erkenne, dass vor allem die Generation der Holocaustüberlebenden und die Nachkriegsgeneration da sind. Außer Ella und einigen wenigen religiösen Studenten und Studentinnen aus Israel ist kaum jemand aus der Ge‑ neration der Jungen da. Plötzlich höre ich durch das Stimmengewirr den Rabbiner, der gestikulierend vor einem Paar mitt‑ leren Alters steht, das zusammen in der ersten Reihe sitzt. Mit lauter werdender Stimme erklärt er, die Frau solle sich in die Bänke für die Frauen begeben, der Mann könne dort sitzen bleiben. Denn: »Ordnung muss sein!« Offenbar bin ich hier nicht die Einzige, der die Regeln nicht geläufig sind, denke ich. Ella und ihre Mutter unterhalten sich neben mir. Als die Gebete beginnen, stecken sie die Köpfe zusammen und flüstern. Es kommen immer noch Leute in die Synagoge. Einige bleiben hinten an der Eingangstüre stehen und begrüßen sich in normaler Lautstärke, so dass ich ihrer Konversation entnehmen kann, dass sie sich schon länger nicht gesehen haben. Nach einiger Zeit wird es jedoch so laut, dass der Rabbiner sein Gebet unterbricht und auf die Gruppe der Personen zugeht, die sich weiter unterhalten. Er bittet sie um Ruhe und erklärt, dass auch wenn hier nur wenige verstehen, um was es geht, wenn er vorbetet, er sich doch den Respekt von ihnen erhofft, der diesem Anlass gebühre. Daraufhin nehmen alle Platz und es kehrt wieder Ruhe ein. Ich versuche, dem Gottesdienst zu folgen, obwohl ich von den Gebeten und Gesängen nichts verstehe. Während der eigens aus Israel eingefloge‑ ne Kantor mit beeindruckend schöner Stimme singt, ruft der Rabbiner nach und nach Männer auf, die zum heiligen Schrein hinaufschreiten, in dem die Tora aufbewahrt wird. Sie berühren nacheinander den schweren, dunkelroten und golden bestickten Samtvorhang, hinter dem sich die heilige Schrift befindet, beten und nehmen wieder ihre Plätze in den Reihen vor der Bimah ein. Während ich fasziniert zusehe, höre ich neben mir ein stetiges Murmeln. Viele der Frauen um mich herum unterhalten sich weiterhin angeregt. Nach ungefähr einer Stunde ist der Gottesdienst vorbei und alle begeben sich in den hinteren Raum der Synagoge. Dort befinden sich die Waschbecken, da sich die Synagogenbesucher einst vor dem Betreten der Synagoge Hände und Füße gewaschen haben, wie mir der Rabbiner bei einer Führung erklärt hatte. Heute werden hier in Honig getauchte Äpfel verteilt und man wünscht sich gegenseitig ein »süßes neues Jahr« und »schana tova« (ein gutes neues Jahr). Viele der Gemeindemitglieder unterhalten sich
Geschichte und Gegenwart des jüdischen Lebens | 157 miteinander, denn wie sich herausstellt, sehen sie sich meist nur bei solchen Anlässen. Die Gespräche ziehen sich noch bis auf die Parkplätze vor der Synagoge, die sich nach und nach leeren. Ella, Laura, eine ihrer Freundinnen und ich gehen zu Fuß, denn eigentlich dürfe man an einem Schabbat oder einem so hohen Feiertag nicht mit dem Auto oder dem Fahrrad fahren, wie sie mir erklärten. Am Tag darauf, dem Samstag, beginnt der Gottesdienst bereits in aller Frühe. Als ich um 10 Uhr in die Synagoge komme, ist sie deutlich leerer als am Vorabend. (Eintrag aus dem Feldtagebuch vom 8. und 9. September 2010)
Als ich die fast leere Synagoge sah, erinnerte ich mich an eine der Aussagen, die Rab‑ biner Steiner mir gegenüber getroffen hatte: »Sie kommen, sie kommen nicht.« Diese bezog sich vor allem auf den Schabbat-Gottesdienst am Freitagabend und Samstag‑ morgen im Gebetsraum der Gemeinde.87 Vor dem Freitagsgebet wird wöchentlich vom Rabbiner auch Religionsunterricht abgehalten. Die Themen wurden, wie ich ver‑ folgen konnte, regelmäßig auf der Website der Gemeinde unter der Rubrik »Religiöses Leben« [Náboženský život] aktualisiert. Ebenso befindet sich dort ein Kalender, in dem alle Feiertage Hebräisch und Slowakisch mit Datum aufgelistet sind.88 Wie mir ein Interviewpartner aus der Nachkriegsgeneration erklärte, bestehe jedoch kaum Interesse am klassischen Judaismus, den Rabbiner Steiner praktiziere und unterrich‑ te. »Wenn fünf oder sechs Leute zum Religionsunterricht kommen, ist es schon viel. Manchmal sind es nur drei oder vier.« Und es seien – außer wenigen israelischen Studenten – keine jungen Leute dort. Eine Holocaustüberlebende erzählte mir, dass ihre Tochter zwar wisse, dass sie Jüdin sei, aber sie habe keinerlei Bezug dazu. »Da ist nichts. Also es ist sehr schwierig, ich weiß, dass es sehr schwierig ist. Weil … 2000 Jahre lang waren Juden deshalb Juden, weil sie die jüdische Religion hatten. Aber im 20. Jahrhundert hat sich das alles etwas geändert. Da gab es schon sehr viele säkulare Juden. Aber dann haben die Ereignisse und der Holocaust gezeigt, dass es ihnen nichts gebracht hat und dass sie sowohl diejenigen mitgenommen haben, die religiös waren, als auch die nicht-religiösen. Und alle sind den Kamin hochgestiegen.«
Jude zu sein, bedeutete ab der Haskalah, der Aufklärung im 19. Jahrhundert, nicht mehr, dass man auch automatisch religiös sein musste. Viele Juden wandten sich re‑ formierten und liberaleren Strömungen der Religion zu und von der Orthodoxie ab. Gerade die Assimilationsbestrebungen unter dem Druck der Magyarisierung und 87 | Für das Zustandekommen eines Gottesdienstes müssen zehn jüdische Männer zum Minian zusammenkommen. 88 | Vgl. Kehila Košice. Es gibt auf der neuen, überarbeiteten Website der Gemeinde auch eine Rubrik für das religiöse Leben, doch seit Entlassung von Rabbiner Steiner Ende des Jahres 2011 wurde dort auch auf der alten Website nichts mehr eingetragen. Es sei ab 2012 wöchentlich von Donnerstag bis Sonntag ein Rabbiner aus Budapest gekommen, um die Schabbatgottesdienste in Košice abzuhalten. Dieser wurde Aussagen meiner InterviewpartnerInnen zufolge durch einen der religiösen Studenten aus Israel und ein religiöses Mitglied der jüdischen Gemeinde ersetzt.
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Tschechoslowakisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. Kapitel 4.1.1) führten bei vielen dazu, dass sie ein säkulares Leben ohne Religion wählten. Nachdem wäh‑ rend des Holocaust über 90 Prozent der Juden aus Košice ermordet wurden, emigrier‑ ten viele der Überlebenden, als sie die Möglichkeit dazu bekamen (vgl. SNM 2009: 211; Kapitel 4.1.3). Das Verheimlichen und Beschweigen der jüdischen Abstammung und des Holocaust führten neben der Emigration und der Repressionen während des Sozialismus dazu, dass religiöse Traditionen innerhalb der Familien und in den nachfolgenden Generationen weder weitergegeben noch erhalten wurden (vgl. Salner 2013: 11). Simon, ein Interviewpartner aus der Nachkriegsgeneration, der aus einer religiösen Familie stammt, erinnerte sich an die 1970er Jahre in Košice: »Ich bin in die Synagoge gegangen, selbstverständlich gab es hier [Gottesdienste] morgens und abends, das hat in Košice immer funktioniert. Ja, und hier ist eigentlich die ältere Generation, die Leute sind regel‑ mäßig in die Kirche [Gebetsraum/Synagoge] gegangen. Das war für sie eine normale Lebensweise, ja. Also am Morgen waren es täglich 15, 20 Leute, jeden Abend waren es 15, 20 Leute in der Synagoge. Also war es kein Problem, dass zehn Männer zusammenkamen. Das Problem gab es hier damals noch nicht. Hier war noch die Generation derer, die um 1900 geboren wurden, 1910, 1915, die überlebt haben.«
Simon sei, sofern es ihm neben seiner Berufstätigkeit möglich war, zum Gebet ge‑ gangen. Bei anderen sei es davon abhängig gewesen, welchen Beruf sie ausübten und welche Position sie inne hatten, denn »natürlich war das Regime so, wie es war. Aber die Leute, die höhere Positionen hatten, die sind weni‑ ger [zum Gebet] gegangen. Manche mehr, manche weniger, manche überhaupt nicht. Das hing von ihrer Arbeitsstelle ab. Lehrer durften nicht. Sie durften keine Religion ausüben, nicht nur das Judentum, auch keine andere. Das war ziemlich problematisch. Aber so war die Ideologie.«
Nach der politischen Zäsur 1989 sei es auch immer noch möglich gewesen, den tägli‑ chen Morgen- und Abendgottesdienst auszuüben. Doch ab Mitte der 1990er Jahre sei die Generation, die noch regelmäßig zum Beten gekommen sei, gestorben: »Und die nächste Generation sollte sie ersetzen. Die Kinder, die nicht mehr wegen der Arbeit aufpassen mussten. Das war kein ideologisches Problem mehr, dass sie in die Kirche gehen. Aber es gab ein anderes Problem: Diese Leute haben das Wissen nicht, sie sind nicht in die Kirche oder Synagoge gegangen, die meisten können nicht beten.«
Simon meinte, es liege an der atheistischen Erziehung. Also hätten die regelmäßigen Gebete mit dem Sterben der aktiven religiösen Generation abgenommen. »Zuerst war es so, dass nur am Abend gebetet wurde, morgens nicht mehr, dann wieder morgens und dann nur noch abends. Dann nur noch Montag und Mittwoch, dann wurde es nur noch Freitagabend und Samstagmorgen, und jetzt ist es noch so.« Doch während die Generation der Ältesten noch beten ging, gab es parallel weiterhin Brüche in der kontinuierlichen Weitergabe der Traditionen und des Bewusstseins für das Jüdische.
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Ein Mann, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, fasste seine Erfah‑ rungen so zusammen: »40 Jahre lang wusste ich nicht, was das … nicht, dass ich es nicht gewusst habe, ich wusste es, weil mich meine Eltern so erzogen haben. Man konnte damit nicht an die Öffentlichkeit, man konnte das nicht präsentieren. Hier gab es keine jüdischen Gemeinden. Das ging alles nur heimlich. Ich bin als Student noch in die Synagoge gegangen. Aber sie haben uns verfolgt. Wer in die Synagoge geht, wer nicht geht. Ja, und solche Probleme gab es. Beispielsweise meine Frau, die war Lehrerin. Sie ist Lehrerin. Sie durfte nicht in die Synagoge gehen, sonst hätten sie sie aus der Schule geworfen. Das war die Ideologie, die kommunistische Ideologie. Also sind wir nicht so aufgewachsen wie die Kinder im Westen, die wussten, dass das die Bar Mitzwah oder Bat Mitzwah oder was weiß ich was ist. Das ist die eine Sache. Dass wir nicht damit aufgewachsen sind. Nur nach der Revolution haben wir dann begonnen, das ein wenig zu erneuern. Aber da waren wir bereits 50 Jahre alt. Schon 45 bis 50. Das geht nicht mehr. Aus uns werden keine Chassidim mehr. Ja. Aber wir wissen, wohin wir gehören. Wir haben Gefühl für unsere Abstammung. Wohin wir gehören. Das ist die eine Sache. Und die andere ist die, dass sehr viele Menschen von hier weg‑ gegangen sind nach dem Krieg, sehr viele sind 1968 von hier weggegangen, als die Russen hierher kamen. Und die Gemeinde ist klein geblieben. Hier hat es einst 12.000 Juden gegeben. Heute sind hier 300, 400, vielleicht 500. Und da sind auch solche Leute, die einfach nicht in die Gemeinde kommen. Sie wissen, dass sie Juden sind, aber wollen nichts mit uns zu tun haben. Sie kommen nicht. Weil sie glauben, dass sie dann verfolgt werden. Sie fürchten sich immer. Falls sich das Regime ändert oder etwas passiert, dass man über sie Bescheid weiß. Aber es weiß sowieso jeder, dass sie Juden sind. Die Angst ist immer noch in ihnen. Manche der Kinder sind da schon anders, die kommen, auch aus Mischehen. Da, wo nur einer Jude ist, kommen sie unter die Jungen. Und dann gehen sie nach Israel.«
Auch der Aussage einer anderen Interviewpartnerin lässt sich entnehmen, dass so‑ wohl Holocaust als auch Sozialismus – in unterschiedlichem Maße – auf mehrere Generationen und ihre jüdischen Identitäten Einfluss hatten: »Die Leute hätten die Möglichkeit. Wenn man möchte, kann man heute beten gehen, man kann auch 100 Mal in den Gebetsraum gehen von früh bis spät. Da sagt niemand etwas. Aber daran hat niemand Interesse. Aber die Leute wurden auch nicht dazu erzogen, wissen Sie. Das ist es eben. Die Kinder sind nicht so erzogen worden. Weil das ist genau diese Generation, die aus Auschwitz zurückgekommen ist, die traumatisiert waren. Sie hatten Traumata und wollten nichts vom Judentum wissen. Manche Enkel erfahren doch erst jetzt von ihren jüdischen Wurzeln. Und warum wurde das verheimlicht? Wegen der Angst und dem Ganzen. Und es gab die Erziehung nicht.«
Es gab also diejenigen, die die religiösen Traditionen gekannt haben, sie aber aus Furcht nicht weitergeben wollten. Andererseits haben einige aus der Generation der Ältesten das religiöse Leben der Gemeinde nach dem Holocaust weitergeführt. Auch Peter Salner zufolge haben damals nicht alle religiösen Juden ihren Glauben verloren: »The Holocaust has irrevocably affected the survivor’s attitudes to Judaism and through them it has not only shaped the views of several generations of Jews, but also subsequently the current state of the whole
160 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 community. However, faith, observation of the commands and prohibitions of the Torah continued to be a priority for many Jews. They did not lose their trust in God even in the worst moments of their lives. They did not lose their faith in God and his help. Even in the inhuman conditions of concentration camps they tried to keep the laws of the Kashrut or Shabbat.« (Salner 2013: 22)
Heute leben nur noch sehr wenige von denjenigen, die Peter Salner hier beschreibt. Die zuletzt genannte Interviewpartnerin ersann folglich für das jüdische Leben in Košice eine Zukunft, die dem der Kommune in Lučenec sehr ähnlich werden könnte: »Hier kann man nichts machen. Es gibt keine Leute. Wir haben keine jungen Leute hier. Die Alten ster‑ ben … und es gibt keine Gemeinde. Es gibt keine jüdische Gemeinde. Hier wird es nur noch eine kulturelle Gemeinschaft geben … so dass man sich einmal daran erinnert, dass jetzt Chanukka ist und man die Ker‑ zen anzündet … aber die Segnung der Kerzen … oder das Beten, das ist überhaupt nicht mehr wichtig. Die religiösen Aspekte nicht. Es geht auch ohne Religion, aber das ist nicht das Wahre.«
Nahezu alle InterviewpartnerInnen mussten überlegen, wenn ich sie fragte, wer außer dem Rabbiner tatsächlich religiös sei. Möglicherweise seien es drei oder vier Menschen, die wenigen religiösen israelischen StudentInnen nicht eingerechnet. Die Beziehung zu den jüdischen Wurzeln falle schließlich nicht vom Himmel, erklärte mir eine Frau, die selbst in einer religiösen orthodoxen Familie aufgewachsen ist. Dort seien die religiösen Vorschriften und Regeln stets eingehalten worden. Sie unterschied daher zwischen dem »kulturellen« und »religiösen« Jüdischsein: »Mein Vater hat hier fast jeden Tag gebetet, er ist immer dorthin [zum Gebet] gelaufen, damit es zehn Männer sind, auch am Abend. Und jetzt gibt es niemanden, der dorthin gehen könnte. Die Alten, die da sind, schaffen es nicht mehr. Und meine Generation, die arbeitet noch und wurde nicht so erzogen. Sie haben keinen Bezug zur Religion. Das sind alles die Leute, die eher kulturelle Juden sind.«
Es bestehe ein gravierender Unterschied zwischen den kulturellen und religiösen Ju‑ den. Denn als religiöser Jude halte man die Feiertage ein, gehe in die Synagoge und den Gebetsraum und bete. An Pessach esse man acht Tage lang kein Brot und zünde jeden Freitag die Kerzen an. Als »kultureller Jude« besuche man beispielsweise Kon‑ zerte mit jüdischen Liedern oder sehe sich eine Ausstellung an, so meine Interview‑ partnerin. »Aber jeder ist stolz darauf, Jude zu sein, man ist darauf stolz. Vielleicht gibt es manche, die es nicht sind. Aber die Religion ist nicht immer wichtig.« Für sie gibt es in Košice also ausschließlich »kulturelle Juden«. Peter Salner stellte bei seinen Forschungen Ähnliches fest: »Einige von ihnen sind säkular (auch aufgrund des Schocks aus dem Holocaust und der Erfahrungen aus der kommunistischen Gesellschaft) und so nehmen sie auch ihr Jüdischsein wahr. Im Gegensatz zur Ver‑ gangenheit handeln sie in der Gemeinde keine religiösen Bedürfnisse aus, sondern suchen soziale und geistige Bereicherung: vielleicht kann man daher von kulturellem Judaismus reden.« (Salner 2009: 174)
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Demnach sind die meisten meiner InterviewpartnerInnen, bis auf die oben genannte und der Rabbiner, eher säkular und »kulturelle« Juden, wie sie sich auch oft selbst bezeichneten. Dazu befand Rabbiner Steiner: »Ich glaube, dass die Gemeinde 40 Jahre von den Traditionen ferngehalten wurde.« Auch Peter Salner folgerte: »Der Holocaust be‑ wirkte die physische und moralische Dezimierung der jüdischen Kommunität in der Slowakei, und diesen Prozeß vollendeten die Jahrzehnte des Kommunismus« (ebd. 1999: 129). Die Traditionen bestehen für eine meiner Interviewpartnerinnen darin, »dass ich weiß, dass meine Eltern Juden waren, dass meine Großeltern Juden waren, dass mein Vater ein gläubiger Jude war, mein Großvater war es nicht, aber er ist in die Kirche [Synagoge] gegangen … das … also für mich bedeutet das wahnsinnig viel, dass Juden schon 3500 Jahre hier existieren, dass es die erste monotheistische Religion ist, das ist sehr wichtig. Und dass sie gerade aufgrund der Traditionen geschafft haben, es zu erhalten. Dank der religiösen Vorschriften, an die sie sich gehalten haben.«
Die Erinnerungen an die Familie, die Vorfahren und die Verbindung zum jüdischen Volk als eine Art symbolische Gemeinschaft erscheinen hier als besonders wichtig. Dabei definieren die AkteurInnen selbst, welche der religiösen Traditionen sie auf‑ recht erhalten und auch, in welchem Maße sie ihnen in ihrem Alltag Platz einräu‑ men. Laut Peter Salner sind es gegenwärtig vier Komponenten, die in der Slowakei die jüdische Identität ausmachen beziehungsweise auf sie einwirken: das Judentum, der Holocaust, der Staat Israel und das jeweilige Umfeld der Menschen, in dem sie ihr Jüdischsein mehr oder weniger aus- und beleben können (vgl. Salner 2013: 79). Auch Alena Heitlinger stellt fest, dass die Religiosität kein dominierender Bestandteil der jüdischen Identität in der tschechischen und slowakischen Nachkriegsgeneration sei: »A Jewish identity based solely on religion is clearly uncommon for Czech and Slovak Jews of the postwar generation, but this lack of religiosity has precluded neither an intellectual interest in Judaism, nor an observation of certain Jewish holidays for secular reasons. For those who have incorporated Judaism into their Jewish consciousness, the mix has involved either a religious understanding of Jewishness, or a secular and intellectual one.« (ebd. 2006: 194)
Ein Mann, der der Nachkriegsgeneration angehört und regelmäßig jeden Freitag‑ abend und manchmal auch am Samstagmorgen zum Schabbatgebet in den Gebets‑ raum der Gemeinde in Košice geht, erklärte mir, dass wenn kein Minian zustande komme, jeder so für sich bete. »Das ist ziemlich traurig, ja. Weil wenn es keine Leute gäbe, dann … aber es gibt sie. Es gibt sie noch. Die Alten zähle ich nicht dazu, weil sie krank sind und was sie alles erlebt haben, den Krieg, die Konzent‑ rationslager, die sind genug [zum Gottesdienst] gegangen. Aber die zweite Generation, die könnte noch gehen, wenn sie Interesse hätte. Aber sie wurden nicht so erzogen, sie kommen zu bestimmten Veranstal‑ tungen dahin, wenn Purim ist, irgendeine Feier, dann kommen sie.«
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Doch auch wenn zehn Männer zum Gebet kommen und einer von ihnen nicht nach halachischem Gesetz jüdisch ist, wird er vom Rabbiner nicht dazugezählt. Denn für ihn gilt nach eigener Aussage das Gesetz der Halacha: »Für mich ist derjenige ein Jude, dessen Mutter Jüdin war oder der konvertiert ist. Das ist alles. Und wenn einer einen jüdischen Vater hat und keine jüdische Mutter, dann ist es für mich kein Jude.« Es gebe Leute in der Gemeinde, deren Mütter keine Jüdinnen waren, und die seien Mitglieder, so der Rabbiner. »Ich habe damit kein Problem. Ich verhalte mich ihnen gegenüber wie einem Menschen, einem Mitglied der jüdischen Gemeinde, der kein Jude ist. Natürlich respektiere ich jeden Menschen, ob er Jude ist oder nicht.« Was die Ausübung der Religion betrifft, hat er allerdings andere Ansichten: »Aber als Jude kann ich nicht jemanden im Minian zu den zehn dazuzählen, der nicht Jude ist. Und ich praktiziere das so. Wir haben einen Mann, der Christ ist, er kommt zu uns zum Beten. Wir kommen sehr gut miteinander aus. Jeden Freitag. Er kommt zu uns, ist kein Jude, kommt und betet. Und er weiß, dass ich ihn nicht dazuzähle.«
Wie sich zeigte, gilt diese Regel trotz des permanenten Risikos, dass kein Minian zustande kommt, auch für diejenigen, die sich zwar selbst als jüdisch fühlen, aber tatsächlich nur väterlicherseits eine jüdische Abstammung nachweisen können. Karl, einer meiner Interviewpartner aus der Generation der Holocaustüberlebenden, emp‑ findet sich als »Halbjude«, oder wie er selbst sagt, »Mischling«, durch diese Distinkti‑ onsmechanismen des Rabbiners ausgeschlossen (vgl. Kapitel 6.1.4). Diese innergemeindlichen Konflikte nach 1989 beschreibt Alena Heitlinger unter anderem auch am Beispiel der jüdischen Gemeinde in Prag. Sie hätten unter ande‑ rem zu grundsätzlichen Debatten über die Definition des »Jüdisch-Seins« geführt: »[…] internal tensions have been greatly exacerbated by competing discourses (and practices) on what it means to be Jewish and who is a Jew« (ebd. 2006: 161). Dass diese Konflikte auf mehreren Ebenen in der Gemeinde in Košice ablaufen, zeigen auch weitere Irritationen, die an mich herangetragen wurden. Diese beziehen sich nicht nur darauf, wer als vollwertiges Mitglied im Minian gezählt wird, sondern auch auf die Gottesdienste selbst. Eine Interviewpartnerin erzählte mir beispielsweise aufgebracht, dass zwei Männer freitags zum Gebet gegangen seien und während des gesamten Gottesdienstes in der letzten Reihe gesessen, sich unterhalten und Zeitung gelesen hätten. Sie seien nur hingegangen, damit der Minian zustande kommt. Hier sei zu bedenken, dass der Gebetsraum deutlich kleiner als die Synagoge und wie be‑ reits geschildert, selten voll ist, so dass entsprechende Formen der »Teilnahme« auf‑ fallen dürften, wie meine Interviewpartnerin hinzufügte. Ein Interviewpartner, der regelmäßig den Gottesdienst besucht, erzählte mir, dass es sein könne, dass sie zwar zu zehnt seien, aber nur vier tatsächlich beten. »Weil sie es nicht können, weil sie es nicht gelernt haben, niemand hat es ihnen beigebracht. Es gibt verschiedene Gründe, ja, aber sie können es nicht. Und das ist das Problem.« Zwar würden sich einige bemü‑ hen, die dorthin kämen, um die Traditionen zu erhalten, doch wenn die wenigen re‑ ligiösen israelischen Studenten nicht da seien, würde kaum jemand mitbeten können.
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Abbildung 1: Tafel im Gebetsraum der jüdischen Gemeinde Košice, fotografiert am 5. September 2010
Es seien zuweilen sogar über 300 israelische StudentInnen in Košice gewesen, doch sei nur einer von ihnen zum Gebet gekommen. Bei einem Interview mit einem der religiösen Studenten aus Israel sagte mir dieser: »Das hier ist keine religiöse Gemein‑ de, hier ist kein richtiges jüdisches Leben möglich.« Er selbst schaffe es jedoch, seine Religiosität auch in Košice aufrechtzuerhalten, indem er zumindest für sich alleine nach den Regeln und Geboten lebe. Bei dem Interview, das ich in seiner Wohnung mit ihm führte, zeigte er mir, wie er es schafft, sich – trotz widriger Umstände – sein Essen koscher zuzubereiten.89 Es gelingt ihm mit Improvisation und Lebensmitteln, die er sich aus Israel schicken lässt oder über die Gemeinde in Košice bezieht. 89 | In einer koscheren Küche gibt es zwei streng voneinander getrennte Bereiche für Fleisch- und Milch‑ speisen. Somit ist dort meist alles doppelt vorhanden: Zwei Kühl- und Gefrierschränke, zwei Waschbecken und auch für die Zubereitung der Speisen gibt es gesondertes Geschirr, Besteck sowie Aufbewahrungsu‑ tensilien. Wenn man etwas aus den beiden Bereichen vermische, müsse die komplette Küche in einem
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Als ich einmal während einer Führung die Gelegenheit hatte, den Gebetsraum der jüdischen Gemeinde anzusehen und zu fotografieren, fielen mir dort die Gebetsan‑ weisungen und so etwas wie »Spickzettel« auf, die auf den Plätzen lagen. Kaum jemand kann Hebräisch, doch mit Hilfe dieser Tafel (Abbildung 1), auf der die jeweilige Reihenfolge des Gebets steht, können es die Anwesenden mitverfolgen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass auch das religiöse jüdische Leben durch den Holocaust einen Bruch erfahren hat und durch die wenigen Überlebenden, die vorher religiös waren, nicht aufrecht erhalten werden konnte. Diese gehören heute zu den Gemeindeältesten und können alters- und krankheitsbedingt nicht mehr re‑ gelmäßig am Gottesdienst teilnehmen. Einige der Überlebenden haben sich aufgrund des Holocaust auch vom Glauben abgekehrt: »Although there were contrary views sometimes, most survivors commented shoah as the reason for loss of their faith« (Salner 2010: 124). Die Unterdrückung der (religiösen) Kulturen und der anhalten‑ de »Antisemitismus ohne Juden« (vgl. Lendvai 1972) in der Tschechoslowakei und anderen kommunistisch regierten Ländern erschwerten die innerfamiliäre Weiter‑ gabe der religiösen Traditionen. Durch die Emigration vieler Gemeindemitglieder in den Jahren 1948/49, 1968 und 1989 fehlten nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Nachkommen in der immer kleiner werdenden Gemeinde. Trotz der kontinuierli‑ chen Anwesenheit von Rabbinern in den Jahren 1992 bis 2011 konnte die Religiösität der weitgehend säkularen jüdischen Gemeinde in Košice nicht wieder hergestellt oder zumindest intensiviert werden. Die Lücken in der Kontinuität und Tradierung sowie in der Generationenfolge sind meinen InterviewpartnerInnen zufolge zu groß. Dem‑ gegenüber stehen die Bestrebungen der Rabbiner: »In the emerging postcommunist climate of political pluralism, the dominant broad cultural/intellectual definitions of Jewishness have coexisted rather uneasily with the narrower religious perspectives and practices promoted by rabbis keen on turning secularized Jews towards some form of religious tradition‑ alism.« (Heitlinger 2006: 161)
Laut Ella und ihrer Mutter, mit denen ich die jüdischen Feiertage Purim, Jom Kip‑ pur und Rosch Haschana verbracht habe, sei es vor allem der Respekt gegenüber der verstorbenen Großmutter und das Andenken an sie, was sie dazu bewege, das Fasten an Jom Kippur oder die Zubereitung bestimmter Speisen an Feiertagen sowie andere Rituale einzuhalten und zweimal im Jahr die Synagoge zu besuchen – auch wenn sie den Gebeten des Rabbiners dort nicht folgen können (vgl. Kapitel 6.3.2). Auch andere InterviewpartnerInnen bestätigten mir, dass sie in die Synagoge gingen, um verstor‑ bener Familienmitglieder zu gedenken, Familientraditionen wiederzubeleben oder um zu dieser Gelegenheit ihre Bekannten dort zu treffen.
aufwendigen Verfahren und mit Hilfe eines Rabbiners gereinigt werden, um wieder koscher zu sein, so eine meiner InterviewpartnerInnen. Die Studentenwohnung meines Interviewpartners aus Israel war nur mit dem Nötigsten und ohne doppelte Ausführung ausgestattet (vgl. auch Ydit 1984: 98 ff.).
Geschichte und Gegenwart des jüdischen Lebens | 165 »In response to the Holocaust trauma, the Jewish community members lost (young ones could not de‑ velop any) interest in Judaism as religious system. However, they did not get rid of all their spiritual and emotional links with their past. They have perceived their Judaism in a secular way, but it still exists« (Salner 2010: 132 f.).
Rabbiner Steiner erklärte mir: »Mein Versuch, die Menschen hier zur Religion zu füh‑ ren ist wie ein einzelner Tropfen im Meer.« Bei unserem letzten Interview in Tel Aviv war er bereits seit einem halben Jahr nicht mehr bei der Gemeinde in Košice beschäf‑ tigt und sagte rückblickend, dass es »möglicherweise auch zwei Tropfen« gewesen seien. Aber das Meer sei groß.
4.2.4 Z wischen Erinnerung und Aufarbeitung: jüdisches Kulturerbe und vielschichtige Erinnerungen an den Holocaust Indem die jüdische Gemeinde nach 1989 aktiver wurde und während der 1990er Jah‑ re »aufblühte«, gewann sie auch innerhalb ihres urbanen Umfelds neue Aufmerksam‑ keit. Košice selbst transformierte sich auch, unter anderem in dem Bewusstsein für sein multireligiöses und multikulturelles Potenzial (vgl. auch Kapitel 5.1). Der Club der nationalen Minderheiten, der ökumenische Kirchenkreis sowie die Kirchenkom‑ mission wurden eingerichtet und die jüdische Gemeinde wurde dort aufgenommen. Der Club der nationalen Minderheiten werde in städtische kulturelle Veranstaltun‑ gen eingebunden, bei denen jede Minderheit etwas beitrage, so beispielsweise beim »kulturellen Abend der nationalen Minderheiten«, der seit 1998 in der Stadt veran‑ staltet wird.90 Die Treffen des Clubs fänden allerdings nicht mehr so häufig statt wie einst, sagte mir Herr Kolín, der die jüdische Gemeinde dort vertritt. Man bespreche sich hauptsächlich vor gemeinsamen Veranstaltungen, wenn es etwas zu organisieren gebe. Mit diesen kulturellen, religiösen und weiteren städtischen Einrichtungen, wie dem Kulturreferat der Stadt [Magistrát kultúry], den Veranstaltern der Stadtführun‑ gen (vgl. Potulky Košice), arbeiten sowohl die einzelnen aktiven Vereine als auch die jüdische Gemeinde selbst anlässlich verschiedener Veranstaltungen und Projekte zu‑ sammen. Beispielsweise nannte mir eine Referentin des städtischen Kulturreferats im Interview das Festival der sakralen Kunst, zu dem jährlich auch die jüdische Gemein‑ de eingeladen wird beizutragen: »Wir bemühen uns jedes Jahr, die jüdische Gemeinde dort einzubeziehen, weil das Highlight des Festivals ist das ökumenische Konzert und da ist auch immer die jüdische Gemeinde eingeladen.« Im Programm des Festivals
90 | Diese Veranstaltung wird anlässlich des internationalen Tages der Menschenrechte und der Freiheit mit finanzieller Unterstützung der slowakischen Regierung und der Stadt Košice unter der Schirmherr‑ schaft des Bürgermeisters organisiert und unter anderem auf der städtischen Website beworben (vgl. Kottlerová 2013).
166 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989
sind insbesondere die christlichen Kirchen vertreten, zum ökumenischen Konzert trägt jedoch immer auch die jüdische Gemeinde bei.91 Wie bereits erwähnt, sind einige der Veranstaltungen wie beispielsweise Vorträge oder Konzerte der Vereine The Hidden Child, B’nei B’rith und ESTER öffentlich. Die jährliche Gedenkveranstaltung »Askara«, die im Mai oder Juni auf dem jüdischen Friedhof in Košice anlässlich der Jahrestage der fünf Transporte der Juden nach Aus‑ chwitz (vgl. Kapitel 4.1.2) ausgetragen wird, wird auch vom Bürgermeister und Reprä‑ sentantInnen der Stadtverwaltung sowie BürgerInnen besucht, wie mir verschiedene Mitglieder der jüdischen Gemeinde sagten. Ebenso hätten sie den Eindruck, dass so‑ wohl der Bürgermeister František Knapík als auch sein Nachfolger Richard Raši, die jüdische Gemeinde und ihre Interessen unterstützen würden, was sich alleine schon durch ihre Anwesenheit bei den Gedenkveranstaltungen zeige.92 Der ehemalige Vorsitzende des ökumenischen Kirchenkreises und Dekan der theologischen Fakultät in Košice, Herr Konečný, betonte im Interview die gute Bezie‑ hung zwischen ihm, dem Rabbiner sowie der christlichen Kirchen und der jüdischen Gemeinde. Er hob auch den interreligiösen Dialog hervor, der in Košice sehr lebendig sei. Sie hätten einige Reisen zu den Zentralen europäischer Kirchen gemeinsam un‑ ternommen, mit einer Gesandschaft Israel besucht und eine Audienz beim Papst in Rom gehabt. Davon erzählte mir auch Rabbiner Steiner. Neben den Reisen, die für ein besseres gegenseitiges Verständnis gesorgt hätten, seien sie »eine Gemeinschaft, die einen großen praktischen und realen lebendigen Zusammenhalt und Stärke besitzt«. Sie seien nicht nur durch die Ökumene verbunden, sondern auch freundschaftlich. Neben der Annäherung an Gott durch gemeinsame Gebete und Gottesdienste wür‑ den sich die Mitglieder der Ökumene auch gegenseitig besuchen, wissenschaftliche Veranstaltungen organisieren und für karitative Projekte zusammenarbeiten. Die Beziehung zwischen Katholiken und Juden sei insbesondere hinsichtlich der Aufar‑ beitung des Holocaust sehr wichtig. Denn gerade im Hinblick auf den katholischen Präsidenten des ersten Slowakischen Staates, Jozef Tiso, und seine Rolle im slowa‑ kischen Holocaust werde auch eine ambivalente Haltung in einem Teil der katho‑ lischen Bevölkerung festgestellt (vgl. Kapitel 4.1.4). Pavol Mešťan schreibt in seinen Forschungen über den Antisemitismus in der Slowakei: »In 2003 right-wing extremism had its de rigueur circle of themes, among them anti-Semitism, racism, neo-fascism, the ›Jewish question‹, and the popularising of President Jozef Tiso and the Slovak state, including attempts to bolster the influence and power of the Catholic church, which seeks to be a joint ruler, a partner in the running of the state. A discussion on the danger of the clericalisation of Slovakia 91 | Seit 1990 wird – meist im November – für mehrere Tage das Festival der sakralen Kunst in Košice veranstaltet. Es ist das einzige dieser Art in der Slowakei und zielt auf »die Verbreitung von Verständnis, Toleranz und religiöser Akzeptanz im Rahmen von Musik, Gesang, bildender Kunst und Worten« ab und betont so auch die Multireligiösität der Stadt (vgl. Festival der sakralen Kunst Košice). 92 | František Knapík war von 2003 bis 2006 stellvertretender und 2006 bis 2010 Bürgermeister von Košice, daraufhin begann die Amtszeit von Richard Raši.
Geschichte und Gegenwart des jüdischen Lebens | 167 took place in connection with the interstate treaty with the Vatican on religious education in schools.« (Ebd. 2007: 11).
Eine jüdische Interviewpartnerin, die Geschichtslehrerin war, sagte mir dazu: »Es ist so, dass es hier in den katholischen Kreisen sehr viele Unterschiede gibt. Und da der Präsident Pfarrer war, ist es eine Sünde, etwas gegen ihn zu sagen. Und die Kinder werden so erzogen, dass Tiso [nach dem Zweiten Weltkrieg] Unrecht zugefügt worden ist und dass es den Slowaken während des ersten Slowakischen Staates an der Seite von Hitler-Deutschland gut gegangen ist.«
Gerade deshalb wird im Rahmen einiger Projekte insbesondere die Generation der Kinder und Jugendlichen von The Hidden Child und ESTER in die Erinnerungsarbeit und Aufarbeitung des Holocaust eingebunden. Damit und mit den Beiträgen einzel‑ ner AkteurInnen zu Oral-History- und wissenschaftlichen Projekten wird seitens der Mitglieder der jüdischen Gemeinde ein Beitrag zum sozialen, kommunikativen und zum Teil auch zum kulturellen Gedächtnis geleistet. Am Beispiel von The Hidden Child Košice sollen hier Fragen an die Genese und Verfasstheit verschiedener Ge‑ dächtnisformen im Spannungsfeld der Erinnerungen erarbeitet werden. Dabei ist es wichtig, die Entwicklung dieser unterschiedlichen Gedächtnisformen in ihrer Verwobenheit zu betrachten. So ist es laut Martin Schulze-Wessel von vielen Faktoren abhängig, in welchem Maße es Repräsentanten von Opfergruppen gelingt, ihre Geschichte öffentlich zu machen und daraus Ansprüche an die Mehrheitsgesell‑ schaft zu formulieren: »von der organisatorischen Verfasstheit der Opfergruppe, ihrem Zugang zu Medien und von der Akzeptanz des Paradigmas des passiven Opfers in der Mehrheitsgesellschaft. Fraglos erlittenes Leid verbürgt keine öffentliche Anerkennung, selbst wenn die Opfergruppe über einen Verband verfügt und Medienzugang hat. Die massenmediale Kommunikation verlangt von den Öffentlichkeitsakteuren der Opfergruppen bestimmte Darstellungsformen. Wichtiger als hohe Opferzahlen sind die exemplarische Erzählung und Visualisierbarkeit des Geschehens. Vor allem verlangt die Öffentlichkeit nach einer unzweideutigen Ver‑ teilung von Tätern und Opfern. Die Viktimisierung der Geschichte ist, zumindest in ihrer massenmedialen Verbreitung, mit einem Zwang zur Eindeutigkeit verbunden. Viel hängt also davon ab, ob die Gruppe, die Leid erfahren hat, als ›würdiges Opfer‹ gilt, das die Aufmerksamkeit und das Mitgefühl der Gesellschaft verdient. Als ›würdig‹ gelten Opfer, wenn sie im umfassenden Sinn unschuldig sind.« (Schulze-Wessel 2012: 3 f.)
Aleida Assmann schreibt von den »Ambivalenzen des Opferbegriffs«, die passive und wehrlose Objekte von Gewalt von aktiven und heroischen unterscheiden (vgl. ebd. 2006a: 72 ff.). Daher differenziert sie auch zwischen dem »traumatischen« und dem »heroischen« Opfergedächtnis. Wie bereits in 2.1.3 dargestellt, finden »[t]raumatische Erfahrungen von Leid und Scham […] nur schwer Einlass ins Gedächtnis, weil diese nicht in ein positives individuelles oder kollektives Selbstbild integriert werden kön‑ nen« (ebd.: 75). Daher könne es laut Aleida Assmann geschehen, »dass traumatische
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Erfahrung erst nachträglich, oft Jahrzehnte, ja Jahrhunderte nach dem historischen Ereignis, zu gesellschaftlicher Anerkennung und symbolischer Artikulation findet. Erst dann kann sie Teil eines kollektiven oder kulturellen Gedächtnisses werden« (ebd.). The Hidden Child ist ein Opferverband, in dessen Statuten es insbesondere um die Aufarbeitung des und die Erinnerung an den Holocaust und um die Zeugenschaft der einzelnen Mitglieder geht, über die sie sowohl im Rahmen von Vorträgen, Interviews, Oral-History-Projekten als auch in Schulen vor Kindern und Jugendlichen sprechen. Rabbiner Steiner nahm mich im Frühjahr 2010 zu einem seiner Vorträge vor zwei neunten Klassen einer Mittelschule in einem Dorf unweit von Košice mit. Er mache das einmal im Jahr, um den Kindern zu ermöglichen, dass sie die Geschichte eines Zeitzeugen direkt von ihm selbst hören. Während er von den neun Monaten während des Holocaust erzählte, in denen der er mit acht Familienmitgliedern in einem winzigen Raum von einem armen Bauern versteckt wurde, saß ich ganz hinten im Klassenzimmer und beobachtete die Kin‑ der. Alle hörten ihm sehr aufmerksam zu. Rabbiner Steiner hatte seine Erlebnisse während des Holocaust bereits mehrfach erzählt und arbeitete auch an einem Film93, der diese Zeit in seinem Leben behandelt. Dass die Kinder interessiert waren, merkte man auch an den Fragen, die sie dem Rabbiner im Anschluss an seine Ausführungen stellten. Ein anderes Mitglied von The Hidden Child, das als Kind den Holocaust sowohl versteckt als auch im Konzentrationslager überlebt hatte, erzählte mir von seinen Er‑ fahrungen mit den Schulklassen: »Wissen Sie, wenn ich in einer Klasse bin, spüre ich, dass die Kinder mir zuhören. In dem Moment bin ich keine Lehrkraft. Aber wenn ich zwei Stunden erzähle, hören sie mir zwei Stunden zu und rühren sich nicht. Es ist mir nämlich schon passiert, dass ich zwei Schulstunden lang Zeit hatte und dann hat es zur Pause ge‑ läutet. Ich habe gesagt: Geht euch ausruhen. Und sie haben gesagt: Nein, nein, machen wir weiter. Solche [Kinder] gab es auch. Ob die Jugend interessiert ist, liegt auch am Lehrer. Die Frage ist auch, ob der Leher einen Bezug dazu hat und die Kinder vorbereitet und hinterher weitermachen wird. Mir ist es auch schon passiert, dass ich in eine Schule gekommen bin, wo sie das nur gemacht haben, damit sie das von ihrer Liste streichen konnten. Die Kinder hatten keine Ahnung davon, was ich da machen werde, sie waren nur froh, dass sie keinen Unterricht hatten. Aber am Ende sind sie mit offenen Mündern dagesessen, weil das,
93 | Der Dokumentarfilm, der unter anderem in Zusammenarbeit mit dem slowakischen Fernsehen ent‑ stand, trägt den Titel: »Celý svet je úsky most« [Die ganze Welt ist eine schmale Brücke]. Rabbiner Steiner gab mir den Trailer zu diesem Film und bat mich um meine Meinung. Er wollte auch, dass ich ihn in Deutschland möglichst vielen Leuten zeige, denn er wollte ihre Meinung dazu wissen. Im Film, bezie‑ hungsweise im Trailer, werden die Originalschauplätze aus der Zeit des Holocaust besucht, die Geschwis‑ ter und Cousins von Herr Steiner, die mit ihm und den Eltern gemeinsam in dem Versteck überlebt haben, erzählen abwechselnd davon, wie sie die Zeit erinnern. Herr Steiner sah sich den Trailer mit mir gemein‑ sam an, bevor er ihn mir gab. Mittlerweile ist der Film online (auf Youtube) verfügbar (vgl. Steiner 2010).
Geschichte und Gegenwart des jüdischen Lebens | 169 was sie von mir gehört haben, haben sie nirgendwo sonst gehört. Wenn von 30 Kindern drei interessiert sind, dann weiß ich, dass es ein Erfolg ist.«
Doch berühren diese individuellen Erinnerungen und gemeinsamen Projekte der Opfergruppe weit mehr Erinnerungsebenen und Gedächtnisse als die der Schulklas‑ sen und der Zuhörer bei diversen Vorträgen. »Ob die Opfererfahrung einer Gruppe die Form eines kollektiven und kulturellen Gedächtnisses annimmt oder nicht, hängt auch davon ab, ob es der geschädigten Gruppe gelingt, sich als ein Kollektiv oder als Solidargemeinschaft zu organisieren und generationenübergreifende Formen der Kommemoration zu entwickeln«, so Aleida Assmann (ebd. 2006a: 75). Wie auch in den anderen Vereinen, bilden sich auch bei The Hidden Child be‑ stimmte Erzählgemeinschaften der Mitglieder heraus, die ebenfalls dem Wandel un‑ terliegen. Denn »[i]ndem Erfahrungen (sich und anderen) erzählt werden, werden sie nicht nur zusammengefaßt, sondern auch sortiert, angeordnet und oftmals (entspre‑ chend sozialer Vereinbarungen) umgeschrieben« (Keupp et al. 2002: 193). Hier geht es neben den individuellen und kollektiven Gedächtnissen sowie dem städtischen Gedächtnis auch um politische, nationale und transnationale Gedächt‑ nisse und, folgt man Daniel Levy und Natan Sznaider, um »kosmopolitische«, mit denen die Geschichte der Einzelnen verwoben ist.94 Denn laut den beiden Soziolo‑ gen kann »[i]m Zeitalter der Globalisierung […] kollektive Erinnerung nicht mehr auf einen territorial oder national fixierten Ansatz reduziert werden« (ebd.: 9). Doch scheint gerade im Hinblick auf die Erinnerung an und die Aufarbeitung des Ho‑ locaust die Grenze zwischen der Slowakei und Ungarn in vielfacher Hinsicht nur schwer überwindbar zu sein. Dem Grenzraum der beiden Länder im Süden der Slo‑ wakei kommt dabei eine besondere Rolle zu. Dies lässt sich anhand eines der Projekte von The Hidden Child illustrieren. Es heißt »Každý človek má svoje meno« [Jeder Mensch hat seinen Namen]. Mit diesem Projekt versucht der Verein im Rahmen einer internationalen Suche seit dem Jahr 2000, die Namen aller im Holocaust ermordeten Juden aus Košice herauszufinden. Die Vorsitzende von The Hidden Child erläuterte dieses schwierige Unterfangen folgendermaßen: »So, und jetzt erkläre ich Ihnen den Unterschied zwischen den slowakischen Transporten und den un‑ garischen. Die slowakischen haben 1942 begonnen, aber sie haben da nicht nur begonnen, sondern der slowakische Staat hat für jeden deportierten Juden 500 Reichsmark gezahlt. 500 Reichsmark! Wussten Sie das? […] Das bedeutet, dass das Deutsche Reich die Slowakei von Juden befreit hat. Aber ich sage das des‑ halb, weil es aufgrund dessen eine sehr genaue Registrierung dieser Transporte gab. Man wusste genau, wo der Zug jetzt durchfährt, und bis zur Grenze sind die slowakischen Soldaten mitgefahren und nach der [polnischen] Grenze hat die SS übernommen. Also haben die slowakischen Soldaten unterschreiben 94 | Vgl. Levy/Sznaider (2007: 9 f.). »Der Begriff der kosmopolitischen Erinnerung faßt das Wechselver‑ hältnis von globalen und lokalen Erinnerungen, die Spannungen zwischen nationalen Erinnerungen und jenen Erinnerungsformen, die sich aus dem Globalen speisen und somit den nationalen Rahmen unter‑ wandern, ohne ihn aufzulösen« (ebd.: 155).
170 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 lassen, dass die SS so und so viele Juden und so und so viel Geld bekommen hat. Und die Namen standen auch dort. Dieses Register im slowakischen Nationalarchiv ist also vergleichsweise sehr genau. Aber das ungarische, 1944 war es schon, es war schon … das Kriegsende hat sich genähert. Und sie wollten sie noch schnell … und sie wollten sie noch in Auschwitz verbrennen, bevor … sie wussten, dass Auschwitz liquidiert wird, und dann wollten sie noch schnell diese 400.000 ungarischen Juden … Also darüber haben wir sehr schwer die Namen gefunden. Es war sehr schwer, die Namen zu finden. Weil die Dokumen‑ tation dort schon … nicht mehr funktioniert hat. Sie hat einfach nicht mehr so funktioniert. Und die Züge gingen fast alle durch Košice.«
An der Wortwahl (»sie wollten sie noch in Auschwitz verbrennen«), der fragmentier‑ ten Syntax und den sich mehrenden Pausen kann man erkennen, wie schwer es der Zeitzeugin gefallen ist, über das Schicksal der Juden und Jüdinnen in der Slowakei und in Ungarn während des Holocaust zu sprechen. Hier eröffnet sich ein weitrei‑ chendes, auch geopolitisch bedingtes Spannungsfeld, das zwischen individuellen, traumatischen Erinnerungen der AkteurInnen, der kollektiven Erinnerung der jü‑ dischen Gemeinde, der Stadt Košice, dem schwierigen nationalen, transnationalen und auch internationalen Aufarbeitungsprozess und dem vielschichtigen Kampf um Anerkennung oszilliert. Peter Salner bezeichnet die Situation der Aufarbeitung und Erinnerung an den Holocaust im ungarisch-slowakischen Grenzraum als »Vergesse‑ nen Holocaust«, denn »[d]as Schicksal der Juden aus der Slowakei, die in Ungarn lebten, stand bis vor kurzem am Rande des In‑ teresses sowohl der fachkundigen als auch der fachfremden Öffentlichkeit in beiden Ländern. Der Begriff ›Vergessener Holocaust‹ wurde nicht zufällig für diese Tatsache eingeführt. Der erwähnte Begriff ist nicht nur Zierde, sondern entspricht der Realität.« (Salner 1997: 118)
Die Leiterin des Holocaust-Dokumentationszentrums (DSH) in Bratislava, Moni‑ ka Vrzgulová, bestätigte mir im Interview, dass die Thematik in dieser Grenzregion bis auf wenige, nur zum Teil wissenschaftliche Einzelstudien nicht bearbeitet sei. In einem zu diesem Thema erschienen Artikel in der slowakischen Tageszeitung SME [Wir sind] erklärt sie, »[e]s ist ein weißer Fleck, ein verfluchtes Gebiet« (Jesenský 2013). Die Ursache dafür liegt auch an den im 20. Jahrhundert häufig wechselnden nationalen Zugehörigkeiten der Region, mit denen die gegenwärtige Frage nach der Zuständigkeit für die Aufarbeitung einhergeht. Dies gab auch ein Experte aus dem Holocaust Memorial Center in Budapest bei unserem Interview zu bedenken (vgl. HMC Budapest). Ihm zufolge forschen die slowakischen HistorikerInnen nur inner‑ halb der Grenzen des einstigen Slowakischen Staates über den Holocaust, die Un‑ garInnen hingegen würden ihren Forschungsradius auf die gegenwärtigen Landes‑ grenzen beschränken. Damit greift hier wieder die von Elena Mannová formulierte Metapher des offenbar auch wissenschaftlichen »Niemandslands«, die auch eine der wenigen Publikationen zum jüdischen Leben im slowakisch-ungarischen Grenzraum überschreibt: »Senkiföldjén« [ungarisch: Niemandsland] (vgl. Mannová 2009: 201; Szederjesi/Tyekvicska 2006). Aleida Assmann stellt dazu fest: »Es herrscht offensicht‑
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lich Platzmangel im nationalen Gedächtnis: Das eigene Leid beansprucht sehr viel mehr Platz, als das Leid, das man anderen zugefügt hat. Auf diese Weise verfestigten sich deutliche Asymmetrien innerhalb der europäischen Erinnerungsgemeinschaf‑ ten« (ebd. 2012a: 53). Neben der schwierigen Aktenlage über die Deportationen aus Ungarn erschwert auch die Sprachbarriere die Forschung, denn nicht alle WissenschaftlerInnen sind bilingual. Eine transnationale Zusammenarbeit der Institutionen wird laut Monika Vrzgulová daher bereits angestrebt. Aleida Assmann schlägt, auch im Hinblick auf die national ausgerichteten Vergangenheitsnarrative, »dialogisches Erinnern« vor, um die Asymmetrien und Grenzen innerhalb der europäischen Gedächtnisse zu überwinden: »Es geht dabei um die traumatische Beziehungsgeschichte zwischen zwei oder mehreren Staaten, die nachträglich von beiden beziehungsweise von allen Seiten in einen gemeinsamen Erinnerungsrahmen aufgenommen wird. Der Begriff ›dialogisches Erinnern‹ steht allgemein für die wechselseitige Verknüp‑ fung und Aufrasterung allzu einheitlicher und kompakter Gedächtniskonstruktionen entlang nationaler Grenzen« (Assmann 2006c zit. n. ebd. 2012a: 54).
Im postsozialistischen östlichen Europa wirken die beiden repressiven Regime des 20. Jahrhunderts nach wie vor und in unterschiedlicher Weise auf die Aufarbeitungs‑ prozesse und die lokalen wie (trans-)nationalen Erinnerungskulturen ein.95 Die Kul‑ turanthropologin Eva Kovács schreibt, dass »das kommunikative Gedächtnis des Sozialismus einen geschützten, eingegrenzten Diskurs dar[stellt], da die Narrative an das eigene Erleben gebunden sind. Da jedoch das soziale Gedächtnis andererseits noch nicht kulturell festgeschrieben ist – kraft gesellschaftlicher Institutionen, eines geschichtswissenschaft‑ lich verbürgten Narrativs etc. –, bleibt das kommunikative Gedächtnis der Willkür der Geschichtspolitik ungeschützt ausgeliefert.« (Ebd. 2009: 220, Abk. i. O.)
Zudem stehe »[e]in verbindliches historisches Narrativ über den Sozialismus […] bis heute allerdings aus. Diesen leeren Raum besetzen die Identitätspolitiken der unterschiedlichen Akteure. Diese machen sich zu Ge‑ schichtsschreibern und versuchen, die kommunikative Erinnerung zu instrumentalisieren und dem jewei‑ ligen politischen Nutzen zu unterwerfen.« (Ebd.)
Umgekehrt sei es schwierig, »allgemeingültige Kriterien für die Authentizität der kommunikativen Erinnerung zu finden, solange es kein mehrheitlich akzeptiertes kulturelles Gedächtnis gibt« (Kovács 2009: 220). Für die Slowakei befindet der Literaturwissenschaftler Peter Zajac: »Die verzöger‑ te und kontroverse Auseinandersetzung mit der Problematik des Holocaust sowie mit 95 | Vgl. beispielsweise Marszałek (2010); Brumlik/Sauerland (2010); Faulenbach (2006); Kapitel 4.1.4.
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dem ›Holocaust nach dem Holocaust‹ hängt damit zusammen, dass die slowakische Kultur immer noch einer gründlichen Betrachtung der eigenen Vergangenheit aus‑ weicht« (Zajac 2010: 102). Dabei gilt es zu bedenken, dass inzwischen nicht nur der Holocaust, sondern auch die kommunistischen Regime und ihre Verbrechen einer Aufarbeitung bedürfen. Zajac konstatiert weiterhin: »Das Thema Holocaust ist allerdings nicht der einzige neuralgische Punkt der slowakischen Erinnerungs‑ kultur. Dies gilt für alle Bereiche, in denen die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit schmerzhaft ist und betrifft neben dem Holocaust besonders die Beziehung zu den Ungarn nach dem Zweiten Weltkrieg, die Verbrechen des kommunistischen Regimes und die Frage nach der Funktion der Kommunistischen Partei der Slowakei sowie der geheimen Staatssicherheit vor 1989. Bei all dem lässt sich sagen, dass die Herausbildung des kulturellen Gedächtnisses in der Slowakei entweder den deklarativen Charakter eines Pseudopatriotismus, gar eines nationalistischen Revivals, aufweist, oder aber oberflächlich geschieht (was möglicherweise die wenigsten Konflikte auslöst), bei der Auseinandersetzung mit neuralgischen Punkten der eigenen Vergangenheit jedoch meist sowohl zu plattem Aktivismus einerseits wie auch zu wohlweislichem oder gleichgültigem Schweigen andererseits führt.« (Ebd.: 105 f.)
Aleida Assmann beschreibt eine weitere Asymmetrie, die über den stalinistischen Terror und den Holocaust im europäischen Gedächtnis besteht: »Über die leidige Frage, ob man die beiden gewaltigen Menschheitsverbrechen nun vergleichen dürfe oder nicht, geriet gänzlich aus den Augen, dass natürlich diese beiden Erfahrungen ins europäische Gedächtnis aufzunehmen sind. Das ist bisher aber noch nicht gesche‑ hen« (ebd. 2012a: 45). Bei diesen Befunden über die Erinnerungskulturen im östlichen Europa ist je‑ doch stets zu bedenken, dass es auch in westeuropäischen Ländern mehrere Jahr‑ zehnte gedauert habe, bis die Aufarbeitung des Holocaust beginnen und im Bewusst‑ sein der Gesellschaft ankommen konnte, so Aleida Assmann (vgl. ebd. 2012a: 29 f.). Das »paradoxe Crescendo«, das sie hierbei wahrnimmt, ist auch im Falle der Slowakei zu erkennen: »Je größer der zeitliche Abstand, desto stärker wurde diese Erinnerung. Sie ist in dem Maße zurückgekehrt, wie die Stimmen der Opfer hörbar wurden« (ebd.: 30). Slowakische Oral-History-Projekte und internationale ZeitzeugInnenprogramme bildeten den Anfang, um das Schweigen zu brechen und den Opfern des Holocaust eine Stimme zu verleihen. Die trans- und internationale Vernetzung und Zusam‑ menarbeit von Opferverbänden, jüdischen und nicht-jüdischen NGOs und Initiati‑ ven, Einrichtungen wie Gedenkstätten und Museen trug seit Beginn der 1990er Jahre zunehmend dazu bei, dass Schicksale der Opfer gehört und durch Aufzeichnungen in verschiedenen medialen Formen wie Büchern, Fotostrecken, Videos, Filmen und mehr, für die breite Öffentlichkeit zugänglich gemacht und für die Zukunft konser‑ viert wurden. Es galt auch, vermittelnde Instanzen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart zu schaffen, was sowohl über die genannten Medien als auch über MediatorInnen wie LehrerInnen oder die ZeitzeugInnen selbst geschah.
Geschichte und Gegenwart des jüdischen Lebens | 173 »Die andauernde Welle von Zeugnisliteratur sowie die zunehmenden autobiografischen und fiktionalen, filmischen und literarischen Auseinandersetzungen mit dem Holocaust und seinen Nachwirkungen lassen nicht nur die verdrängte Vergangenheit wieder ins Bewusstsein treten und neue Erinnerungsnarrative entstehen, sondern eröffnen auch einen diskursiven Raum für die jüdische Perspektive: Gerade dieser ›Tabubruch‹ gehört zu jenen unübersehbaren Besonderheiten des Gedächtnisses in Ostmitteleuropa, denn Artikulationen einer jüdischen Identität und das Sprechen aus einer jüdischen Position waren im diskursiven Spektrum des Realsozialismus bis in die späten 1980er Jahre entweder gar nicht oder nur in verklausulierter Sprache möglich. Nicht zuletzt äußert sich das Ungleichzeitige der heutigen Erinnerung darin, dass die ›verspäteten‹ Regungen des Gedächtnisses, die vielerorts nur zögerlich Veränderungen der institutionalisierten Gedächtnispolitik mit sich bringen, zunehmend von literarischen und künstlerischen Arbeiten begleitet werden, die weniger die Geschichte selbst als das heutige Gedächtnis – seine Lücken, Obsessionen und Aberrationen – mit einer postmemorialen, kritischen Radikalität befragen und kom‑ mentieren.« (Marszałek 2010: 11)
Dabei muss nach Wolfgang Kaschuba »eine gesellschaftliche Übereinkunft darüber immer wieder neu ausgehandelt werden, dass und wie wir uns mit der Vergangenheit beschäftigen, dass dies als eine entscheidende Vorbedingung für die Gestal‑ tung von Gegenwart zu betrachten ist und dass nur diese gemeinsame Verantwortung für Geschichte auch die Verantwortung der Zukunft legitimiert. Vor allem aber bedarf es dazu einer bewussten ›Politik des Erinnerns‹, einer öffentlich praktizierten Geschichtskultur, in der symbolische und rituelle Formen des Gedenkens jenes ›kollektive Gedächtnis‹ zu organisieren und aktualisieren helfen. Nur dann kann Ge‑ schichtsbewusstsein als ein öffentlicher Diskurs wirksam werden, der unser Verhältnis zur Vergangenheit zu einem zentralen Bestandteil kollektiver Identität macht, zu einer festen Ortsbestimmung im Raum eigener und fremder Geschichte.« (Kaschuba 2005: 184)
Diese Formen der Übereinkunft werden in Košice beispielsweise im Rahmen der Ge‑ denktage und -feiern, die von der jüdischen Gemeinde und ihren Vereinen organisiert werden, ausgehandelt. Am nationalen Gedenktag des Holocaust und rassistischer Ge‑ walt am 9. September oder auch bei den Trauerfeiern, die anlässlich der Jahrestage der Deportationen aus Košice im Mai oder Juni abgehalten werden, werden stets einige hundert Namen der Opfer, die The Hidden Child im Rahmen des Projekts »Každý človek má svoje meno« [Jeder Mensch hat seinen Namen] gesammelt hat, sowohl von Mitgliedern des Opferverbands, als auch von RepräsentantInnen der Stadtverwal‑ tung und BürgerInnen, vorgelesen. Mit diesem kommemorativen Akt wird nicht nur der Opfer gedacht, denn Aleida Assmann zufolge kann »[d]ie Erinnerung an das viktimologische Opfer […] nicht innerhalb der Gruppe der Betroffenen bleiben, sondern verlangt nach Ausweitung ihrer Träger in Form von öffentlicher Anerkennung und Resonanz. Das Zeugnis des vom Trauma gezeichneten Opfers ist angewiesen auf dieses Echo der Resonanz und Rück‑ versicherung in einer ethischen, d. h. Gruppeninteressen übersteigenden Erinnerung.« (Ebd. 2006a: 77)
174 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989
Für eine gewisse Zeit wird bei diesen pietätvollen Veranstaltungen auch das kommu‑ nikative und soziale Gedächtnis der teilnehmenden Menschen aktiviert und darüber hinaus werden auch Teile der Geschichte aus dem kulturellen Gedächtnisspeicher der Stadt hervorgeholt (vgl. Assmann 2006a: 54 ff.). So arbeitet die jüdische Gemeinde, beziehungsweise die in diesen Projekten und der Organisation dieser Veranstaltun‑ gen involvierten Menschen, an der Erinnerung und berührt damit verschiedene Ge‑ dächtnisse. Anlässlich einer Gedenkveranstaltung am 29. Mai 2011 in der Synagoge an der Puškinová, die von The Hidden Child und ESTER gemeinsam organisiert wur‑ de und auf der Website der jüdischen Gemeinde dokumentiert ist, kann man nach‑ lesen: »Bisher wurden ungefähr 3000 Namen vorgelesen. Nicht einer der Namen, die bekannt sind, sollte nicht laut genannt und somit vergessen werden. Das wird jedoch die Aufgabe der nächsten Generationen sein.«96 Hier weiten sich einerseits sowohl die individuellen Gedächtnisse der anwesenden ZeitzeugInnen auf die der nächsten Ge‑ nerationen, gleichzeitig die der Mitglieder der jüdischen Gemeinde auf die der Gäste und verschiedener Generationen der Anwesenden, aus (vgl. Assmann 2006a: 75). Das alles geschieht in einer der Synagogen in Košice, einem Ort, der ebenfalls vielschichti‑ ge Erinnerungen hervorruft. Daher wird im Folgenden nach den weiteren städtischen Gedächtnisorten und -momenten in Košice und Lučenec in Bezug auf die Vergangen‑ heit und Gegenwart der jüdischen Gemeinde und Kommune zu fragen sein. Dazu ge‑ hören in spezifischer Weise auch die Gebäude und Räume der jüdischen Gemeinden.
96 | (Kehila Kosice – The Hidden Child). Sowohl auf der alten, als auch auf der neuen Website der jüdi‑ schen Gemeinde haben die verschiedenen Vereine eine eigene Rubrik, unter der die meisten Veranstal‑ tungen der letzten Jahre zusammengefasst sind und neue angekündigt werden (vgl. ebd.).
5 Z wischen Erinnern und Vergessen: Jüdisches Kulturerbe in Košice und Lučenec
5.1 Städtische G edächtnislandschaften »Die Gedächtnisorte entspringen und leben aus dem Gefühl, daß es kein spontanes Gedächtnis gibt, daß man Archive schaffen, an den Jahrestagen festhalten, Feiern organisieren, Nachrufe halten, Verträge beim Notar beglaubigen lassen muß, weil diese Operationen keine natürlichen sind. Deshalb läßt die Verteidigung eines Gedächtnisses, das sich in privilegierte und eifersüchtig bewachte Heimstätten ge‑ flüchtet hat, durch Minderheiten nur die Wahrheit aller Gedächtnisorte zum Vorschein kommen. Ohne die Wacht des Eingedenkens fegte die Geschichte sie bald hinweg. Wäre aber das, was sie verteidigen, nicht bedroht, so brauchte man sie nicht zu konstruieren. Lebte man die in ihnen eingeschlossenen Erinnerun‑ gen wirklich, so wären sie unnütz. Und bemächtigte nicht umgekehrt die Geschichte sich ihrer, um sie zu verformen, zu verwandeln, sie zu kneten und erstarren zu lassen, so würden sie nicht zu Orten für das Gedächtnis. Es ist dieses Hin und Her, das sie konstituiert, Augenblicke der Geschichte, die der Bewegung der Geschichte entrissen wurden, aber ihr zurückgegeben werden.« (Nora 1990: 17)
Mit diesen Worten verweist der französische Historiker Pierre Nora auf die Konst‑ ruiertheit, aber auch auf den Wandel von Erinnerungen in ihren subjektivierten und objektivierten Formen, die auch beim Blick auf städtische Gedächtnislandschaften eine Rolle spielen. Vor dem Hintergrund ihrer Geschichte und der gegenwärtigen Situation der jü‑ dischen Gemeinde und Kommune soll es hier um den Umgang mit materiellem und immateriellem kulturellem Erbe und dessen Wahrnehmung im jeweiligen urbanen Umfeld gehen. Dass es sich hierbei um ein Erbe handelt, dem aus allen Jahren seines Bestehens – also auch aus dem Holocaust und dem Sozialismus – Spuren anhaften, ist bereits in 4.1.4 erwähnt worden. Doch gerade jetzt scheint es in beiden Städten eine große Rolle zu spielen, was beispielsweise mit den Gebäuden, die ursprünglich der jüdischen Gemeinde gehörten, aber während des Sozialismus enteignet wurden und fortan dem Verfall ausgesetzt waren, geschehen soll. So stellte auch der Musikethno‑ loge Philip Bohlmann bei seinen Forschungen im östlichen Europa fest:
176 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 »Synagogues confront the policy-making bodies of the new Eastern Europe with a far more complex prob‑ lem than do cemeteries: Something must be done with the synagogues. […] ›Doing something,‹ however, creates an even greater dilemma, especially in the post-1989 era when the disjuncture wrought by the Holocaust is exposed again and in new ways.« (Bohlmann 2000: 45)
Wie sind demnach die jüdische Vergangenheit und Gegenwart in die städtische Gedächtnislandschaft von Lučenec und Košice eingeschrieben? Welche Diskurse ergeben sich aus der oft schwierigen Mischung aus Restitutionsforderungen, Sanie‑ rungsprojekten und emotionalen Herausforderungen, die die Gebäude der jüdischen Gemeinde und Kommune betreffen? Dabei stehen im Folgenden neben der neologischen Synagoge in Lučenec und der orthodoxen Synagoge an der Puškinstraße in Košice auch andere Gebäude als vielschichtige Aushandlungsräume von Erinnerungen, Identitäten, spezifischer städ‑ tischer und nationaler Geschichte im Vordergrund. Gefragt wird unter anderem da‑ nach, welche Narrative unterschiedlicher Provenienz in sie eingeschrieben sind und welche der Erinnerungen, die mit den Gebäuden an sich und einzelnen Elementen in ihnen verbunden sind, bei den Menschen geweckt werden, die ihnen in unterschied‑ lichen Situationen, innen und außen »begegnen«. Welche Bedeutungen haben diese Gebäude und wie wirken sie auf die individuellen und kollektiven Identitätsaushand‑ lungen der AkteurInnen? Darüber hinaus sind diese Räume auch mit dem öffentlichen, städtischen Ge‑ dächtnis verknüpft – vor allem, indem über sie und ihr Schicksal in Medien berichtet wird. Über die Zeitungen erfährt ein breites Publikum in beiden Städten vom lokalen jüdischen Leben, das in Košice auch einen bereits erwähnten öffentlichen Anteil hat (vgl. Kapitel 4.2.1 u. 4.2.3). Wie gestaltet sich die Wahrnehmung des jüdischen Lebens in der Öffentlichkeit und was wird seitens der Gemeinde, Kommune und der jeweili‑ gen Stadt getan, um darauf aufmerksam zu machen? Wie sind die ehemaligen und gegenwärtigen jüdischen Gebäude und Räume in die kulturellen Texturen ihres urbanen Umfelds eingeschrieben und (wie) verbinden sie sich mit dem städtischen Habitus? Was trägt das jüdische Leben dazu bei? Dabei legt »[d]ie Bezeichnung ›städtischer Habitus‹ […] einen wechselseitigen Zusammenhang zwischen über‑ greifenden städtischen Strukturen und hierauf bezogenen Praktiken städtischer Akteure nahe. Ähnlich wie einzelne Städte in je spezifischer Weise das Handeln der dort Zusammentreffenden beeinflussen, unterliegen auch die strukturierenden städtischen Bedingungen habituell vermittelten Veränderungen. Dieses Verständnis einer wechselseitigen Abhängigkeit der sozialen Anordnungen – wie etwa der ma‑ teriellen, institutionellen und symbolischen Ressourcen einer Stadt – sowie der sozialen Praktiken und Aneignungsformen wird deutlich, wenn man die in den Dingen objektivierte Geschichte als Habitat und die in den Akteuren verkörperte Geschichte als Habitus begreift.« (Bockrath 2008: 62)
Beate Binder zufolge ist »Stadt […] gelebte Praxis«, denn die Menschen
Zwischen Erinnern und Vergessen: Jüdisches Kulturerbe | 177 »[…] deuten die Stadt, auch deren Geschichte, stellen Verbindungen zu biografischen Stationen her, schreiben ihre Lebensgeschichte in den Stadtraum ein. Zugleich werden Stadtbewohner/innen und -be‑ nutzer/innen mit Deutungsangeboten anderer konfrontiert, die Bewegungen im Stadtraum begrenzen, Verhaltensweisen nahe legen, Routinen und Praxen kanalisieren.« (Ebd. 2009: 16)
In diesem – praxeologischen – Sinne werden auch die hier untersuchten Städte ver‑ standen. Košice bereitete sich, während ich dort im Jahr 2010 forschte, auf die Zeit als Euro‑ päische Kulturhauptstadt 2013 vor. »Neben zahlreichen Events, die im Kulturhaupt‑ stadtjahr stattfinden, erscheint aus volkskundlich-kulturwissenschaftlicher Sicht vor allem der Umgang mit dem kulturellen Erbe der Stadt untersuchenswert, zeigen sich hierin doch die Selbstverortung und das Selbstverständnis der Stadt« (Habit 2010: 146). Diesem Hinweis des Kulturwissenschaftlers Daniel Habit folgend wird hier da‑ nach gefragt, wie sich Košice – aber auch die Kleinstadt Lučenec – mit ihrem jüdi‑ schen Kulturerbe vermarkten. Denn, so Habit weiterhin: »Gerade Mittelstädte müssen sich in der globalen Städterivalität gegenüber großen Städten durchsetzen, voneinander abheben und sich gegenüber aufstrebenden Kleinstädten behaupten. Im Wettbewerb um Touristen, Investoren und mediale Aufmerksamkeit sowohl auf regionaler, nationaler wie internationaler Ebene müssen sich auch die Kulturhauptstädte nach innen wie nach außen inszenieren.« (Habit 2010: 145)
Ohne vertiefend auf das Programm der Kulturhauptstadt Košice 2013 einzugehen, wird hier auf die grundlegenden und relevanten Inszenierungspraktiken geachtet und insbesondere der Umgang mit dem jüdischen Kulturerbe im Hinblick auf seine Präsenz und Wahrnehmung im öffentlichen Raum untersucht.
5.1.1 C assovia – Kaschau – Kassa – Košice: Streifzüge durch eine angehende Kulturhauptstadt Eine Stadt – viele Namen. Košice inszeniert sich unter anderem mit seiner bis in die Zeit der Römer zurückreichenden Geschichte (vgl. u. a. Weger/Gündisch 2013: 9). So lässt sich auch in einem City Guide, der in Vorbereitung auf das Kulturhauptstadtjahr herausgegeben worden ist, nachlesen: »Every step you take in Košice is a step in a city abundant in history. Looking at the buildings in the city centre, you will be taken back to a time cloaked in the cobwebs of the past. […] On the tour [through the city] you will visit places showing traces left by Roman emperors, kings, presidents, the Pope, artists and writers.« (Slovak Tourist Board Bratislava/Košice Tourism 2011: 7)
Košice ist die Stadt, die als erste in Europa mit einem eigenen Wappen ausgezeichnet wurde. Es ist auch die Stadt, die den größten Dom (der heiligen Elisabeth) in der
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Slowakei und gleichzeitig eine hohe Kirchendichte hat.1 In der überschaubaren Innen‑ stadt befinden sich neben vier Synagogen und dem Dom noch neun Kirchen. Religion hat seit langem eine Rolle in Košice gespielt, zumal die Stadt 1804 zum katholischen Bistumssitz und 1995 zum Erzbistum ernannt wurde (vgl. Roth 2013: 8). Košice ist durch seine Lage an einer Kreuzung von Fernverkehrswegen insbesondere durch den Handel »zu einer der größten und reichsten Städte des mittelalterlichen Ungarn« und eines der »Zentren Oberungarns« geworden (vgl. ebd.). Während des Sozialismus wurde Košice mit seinen Eisenwerken zur Industriestadt und durch Zuzug vervier‑ fachte sich die Einwohnerzahl.2 Diese Jahre prägten die Stadt und ihr Äußeres nicht nur durch die Errichtung einiger Plattenbausiedlungen am Rande der Altstadt und in der städtischen Peripherie (vgl. ebd.). Die Innenstadt ist seit 1983 die größte denkmalgeschützte Zone der Slowakei (vgl. Duchoň 2003: 13). In den Jahren 1994 bis 1998 wurde das Stadtzentrum saniert (vgl. Jiroušek 2003: 141; Mokriš et al. 2005: 120). Der Historiker Josef Duchoň schreibt in dem Bildband über »Košice zu Beginn des dritten Jahrtausends«, dass die Tatsache, dass der historische Stadtkern seit 1983 unter Denkmalschutz steht, »gewissermaßen die Satisfaktion für die reiche und komplizierte Geschichte der Stadt [ist], die erneut Gewicht erhält und in der die heutigen Košicer die historische Kontinuität und die kulturellen Bindungen über Generationen von Vorfahren an (sic) ganz Europa finden. Die jungen Bürger von Košice, deren Eltern meist nicht hier geboren wurden, finden so zu einem neuen Lokalpatriotismus, der der Stadt ganze Jahr‑ zehnte nach 1945 fehlte.« (Ebd. 2003: 140)
Es scheint so, als würden die AutorInnen der Bildbände und kunstgeschichtlichen Führer über die »Metropole der Ostslowakei« insbesondere an die vielfältige Ge‑ schichte der Stadt anknüpfen und vor allem den Wert des historischen Stadtkerns um die Hauptstraße betonen. An die ungefähr einen Kilometer lange Fußgängerzone, die sich durch das Zentrum der Altstadt zieht, reihen sich Bauten, an denen sich noch steinerne Relikte aus dem Mittelalter finden lassen. Die aus dem 17., 18. und 19. Jahr‑ hundert stammenden, oft bunten Fassaden der überwiegend restaurierten Gebäude umgeben in einem außergewöhnlichen kunsthistorischen Mosaik die Fußgängerzo‑ ne, in deren Mitte sich Brunnen und kleine Grünflächen mit Bänken befinden. Die‑ se schließen jeweils an das oppulente Staatstheater und den Elisabeth-Dom an (vgl. Franke 2013; Jiroušek 2003). In seinem »Reise- und Lesebuch zur jüdischen Kultur und Geschichte in Košice und Prešov« schreibt der Literaturwissenschaftler Michael Okroy: 1 | Der Elisabeth-Dom wurde in mehreren Etappen von 1380 bis 1508 erbaut, ist jedoch nach wie vor nicht abgeschlossen. Auch während meiner Feldaufenthalte wurden Teile des Doms restauriert (vgl. Jiroušek 2003: 20 ff.). 2 | Nach der letzten Volkszählung 2011 leben 240.688 Menschen in Košice (vgl. Roth 2013: 8; Duchoň 2003: 140).
Zwischen Erinnern und Vergessen: Jüdisches Kulturerbe | 179 »Die reiche Geschichte Košices war und ist immer auch eine ihrer Minderheiten, denn es gibt nur wenige vergleichbare Regionen in Europa, in denen so viele Völker unterschiedlicher Religion, Kultur und Sprache über viele Jahrhunderte hinweg weitgehend friedlich miteinander gelebt haben wie im Osten der Slowa‑ kei.« (ebd. 2005: 13)
Unmittelbar im denkmalgeschützten Zentrum von Košice sind drei Synagogen und die jüdische Gemeindeanlage zu finden, die ehemalige neologische Synagoge steht am Rande der Altstadt. Daneben befinden sich auch noch andere Gebäude und jüdische Schulen sowie Jeschiwot im Zentrum. Der alte jüdische Friedhof liegt am Rande der Innenstadt, der neuere, der seit 1888 genutzt wird, liegt außerhalb direkt neben dem Zentralfriedhof (vgl. Kapitel 1.2). Dem Kunsthistoriker Maroš Borský zufolge ist dies eine Besonderheit: »Never‑ theless, it was only here in Košice that in a regional urban center of this size, four different congregations representing the whole religious spectrum of Judaism were formed« (Borský 2004: 125). Wie ist angesichts dieses Befundes das jüdische Kulturerbe in die städtische Ge‑ dächtnislandschaft eingeschrieben? Michael Okroy antwortet folgendermaßen: »Košice – das ist heute nicht nur eine wieder aufblühende Metropole im Osten der Slowakei, sondern auch ein Ort, an dem man der wechselhaften Geschichte Mitteleuropas auf Schritt und Tritt begegnet: den multiethnischen und bürgerlich-kosmopolitischen Traditionen, kulturellen Blütezeiten, aber auch menschlichen Katastrophen. Die Geschichte der dortigen Juden […] muß allerdings erst noch entdeckt, erforscht und als wichtiges kulturelles Erbe angenommen werden. Die in der kommunistischen Ära ein‑ setzende und jahrzehntelange Tabuisierung sowohl der jüdischen Geschichte als auch der Juden als die Hauptleidtragenden des Holocaust haben in vielen Ländern Mittel- und Osteuropas zur Marginalisierung alles Jüdischen geführt. Verstärkt wurde dies durch einen stets latent existierenden Antisemitismus und die Verweigerung einer kritischen Aufarbeitung der eigenen Geschichte während des Nationalsozialis‑ mus. Auch in den gängigen Publikationen zur Geschichte der Stadt Košice war über viele Jahrzehnte nichts und nach 1989 allenfalls am Rande etwas über Juden zu erfahren, weder über ihren großen Anteil am ökonomischen und kulturellen Aufstieg der Stadt, noch über ihre Deportation und Ermordung im Jahr 1944.« (Okroy 2005: 17)
Während meiner Forschungsaufenthalte 2010 und 2011 erkannte ich, dass mehr als nur ein Blick nötig ist, um das Spannungsfeld aus städtischen Inszenierungspraktiken und den Formen des kulturellen Gedächtnis verstehen zu können. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch das lokale Kulturprogramm, auf das kurz eingegangen werden soll. In Košice wird den BewohnerInnen und BesucherInnen der Stadt ein abwechs‑ lungsreiches und vielseitiges kulturelles Programm angeboten. In Vorbereitung auf das Kulturhauptstadtjahr waren beispielsweise 2010 jeden Monat eine bis fünf Veran‑ staltungen angesetzt, wie etwa Ausstellungen zeitgenössischer Malerei oder das »Use the city festival« im Mai, das Street Art, Sport und urbane Kultur verknüpfen sollte oder das Festival »Sommer im Park«, bei dem für alle Generationen und Interessen Kinovorführungen, Konzerte, Kinderprogramme, künstlerische und multimedia‑
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le Darbietungen geboten waren (vgl. Košice EHMK 2013/2010). Im City Guide von 2011 steht, es sei »eine Stadt für alle Jahreszeiten« und die wichtigsten Events seien beispielsweise die »Tage der französischen Kultur« im März, »die Feier des Tages der Stadt«, das Stadtgründungsfest am 7. Mai, das »Weinfest« im September sowie das »internationale Festival der Gegenwartsmusik« im Dezember (vgl. Slovak Tourist Board Bratislava/Košice Tourism 2011: 33 ff.). In diesem Programm wird sowohl auf lokale als auch regionale und internatio‑ nale Kulturarbeit gesetzt. Entsprechend vernetzt ist die Koordination der einzelnen Veranstaltungen und Projekte. Die PlanerInnen des Kulturhauptstadtjahres machten sich Folgendes zum Ziel: »Košice is on the threshold of fundamental change related to its growing importance on the map of Europe and the need to reconcile its own past with the natural developments and challenges of the 21st century« (vgl. Slovak Tourist Board Bratislava/Košice Tourism 2011: 6). Bei einem Interview mit einer der Projektkoordinatorinnen im Jahr 2010 erklärte sie mir, dass eines der Hauptziele des Kulturhauptstadtjahres und darüber hinaus sei, »das Denken der Menschen zu än‑ dern und ein Bewusstsein und Interesse für Kultur als Wert in unserem Leben zu wecken«. Allerdings bedürfe es dafür jahrelanger Arbeit, denn ein Titel wie der der Kulturhauptstadt 2013 alleine reiche nicht. »Also wir arbeiten daran, die Einstellung der Menschen zu ändern.« Die Projekte seien daher auch langfristig angelegt, so die Koordinatorin Miroslava Grajciarová. Jegliche Form von Kunst ist ihrer Meinung nach ein geeigneter Weg, die Menschen zu erreichen. In den Projekten, die ihr Team gemeinsam mit der Stadt Košice entwickelt, würden auch verschiedene Religionen und die Minderheiten in der Stadt einbezogen. Daniel Habit stellte bei seinen For‑ schungen in den Kulturhauptstädten Sibiu, Patras und Luxemburg fest: »Anhand des sehr unterschiedlichen Umgangs mit dem kulturellen Erbe und seiner Prädikatisierung und Inszenierung im Kulturhauptstadtjahr in Form von Erlebnisräumen lässt sich in diesem Sinne die Selbst‑ verortung und -wahrnehmung der jeweiligen Stadt ablesen, die aus den lokalen Wissensformaten heraus neue Qualitäten und Akzentuierungen im städtischen Gefüge schafft und sich aus ihrem biografischen Selbstverständnis für Besucher präsentiert.« (Ebd. 2011: 277)
Obwohl meine Forschungen kurz vor dem eigentlichen Jahr, in dem Košice Kultur‑ hauptstadt war, stattfanden, sich die Stadt aber schon intensiv darauf vorbereitete, lese ich aus meinen Quellen und Felderfahrungen eben diese Formen der Selbstver‑ ortung und des biografischen Selbstverständnisses von Košice, die Daniel Habit hier anspricht. In das Programm für die Kulturhauptstadt Košice 2013 werden auch seit länge‑ rem bestehende und bewährte Veranstaltungen aus dem städtischen Kulturangebot eingebunden, wie beipielsweise die Stadtführungen. Diese werden seit 2004 von drei HistorikerInnen auf Slowakisch, Ungarisch, Russisch, Englisch, Französisch und auch Spanisch durchgeführt und erfreuen sich großer Beliebtheit. Bei Themen wie »Könige und Košice«, »Cafés und Restaurants«, »antikes Košice«, »gruseliges Košice«, »sozialistisches Košice« und vielen mehr, werden den BesucherInnen diverse Facet‑
Zwischen Erinnern und Vergessen: Jüdisches Kulturerbe | 181
ten der Stadt nahegebracht, die sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart und das städtische soziale, politische, wirtschaftliche, religiöse und kulturelle Leben beleuchten. Bei meinem ersten Feldaufenthalt im Frühjahr 2010 ging ich bei einer Stadtführung durch das »farbige Košice« mit. Dabei erzählte mir der Stadtführer Mi‑ lan Kolcun, dass die beliebtesten Führungen die durch das »jüdische Košice« seien. Ein halbes Jahr später hatte ich die Gelegenheit, daran teilzunehmen (vgl. Potulky Košice).
Das »jüdische Košice« – Protokoll einer Stadtführung Mit ungefähr 50 Personen, von denen die meisten KošicerInnen und zwischen 40 und 60 Jahre alt sind, stehe ich am 5. September 2010 im strahlenden Sonnenschein vor der Wissenschaftsbibliothek auf der Hauptstraße, dem üblichen Ausgangspunkt der beliebten Stadtführungen. Heute führt uns Milan Kolcun, ein studierter Romanist und Autor, auf Slowakisch durch das »jüdische Košice«. Wie ich bei meiner ersten Führung durch die Stadt im Frühjahr erfahren habe, ist er der beliebteste aller Stadt‑ führer, unter anderem auch aufgrund seiner humorvollen und unterhaltenden Art. Die Tour heute beginnt er allerdings mit einem schockierenden Bild: »Stellen Sie sich eine volle Steel Aréna 3 vor, da passen 12.000 Menschen hinein. Genauso viele Juden gab es in Košice. Die waren innerhalb von drei Wochen weg.« Wie in Kapitel 4.1.2 ausgeführt, wurden innerhalb von wenigen Wochen im Som‑ mer 1944 die 12.000 Juden aus Košice und weitere 3000 aus umliegenden Gemeinden nach Auschwitz deportiert. Herr Kolcun fügt hinzu, dass neben den fünf Transporten der hiesigen Gemeinde insgesamt 137 Transporte ungarischer Juden durch Košice gingen, in einem davon sei auch der berühmte Autor Elie Wiesel gewesen. Nach dieser dramatischen Einführung, die in der Gruppe betroffenes Schweigen auslöst und unserem Tourguide auch ungeteilte Aufmerksamkeit sichert, führt Herr Kolcun uns auf verschiedenen Stationen durch die Geschichte der Juden in der Stadt, zeigt uns die typischen Häuserkomplexe mit großen Innenhöfen, in denen berühmte Persönlichkeiten gewohnt haben. Er weist uns auf – für das ungeschulte und vor allem unwissende Auge unsichtbare – Zeichen des jüdischen Lebens hin, die über Jahrzehn‑ te in den Stadthäusern an der Hauptstraße erhalten geblieben sind. Bald kommen wir zur jüdischen Gemeindeanlage, wo er die Wohnung des Rabbiners, die Räumlichkei‑ ten der Gemeinde, das koschere Restaurant, die alte und die neue Mikwe,4 das Ge‑ betshaus und die noch nicht renovierte Rückseite der ältesten orthodoxen Synagoge 3 | Die Steel Aréna wurde 2006 fertiggestellt und dient als Mehrzweckhalle für Eishockeyspiele, Konzerte sowie diverse andere kulturelle Veranstaltungen mit 8347 Plätzen (vgl. Anonymus/Wikipedia/Steel Aré‑ na; Steel Aréna). 4 | Die alte Mikwe der Stadt ist gleichzeitig eine der ältesten und wenigen noch erhaltenen in der Slowa‑ kei. Sie wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (unterirdisch) auf der Gemeindeanlage errichtet und verfügte über ein spezielles Bewässerungs- und Heizsystem, das für die damalige Zeit einzigartig ge‑ wesen ist. Die Mikwe ist stark verfallen. 1993 soll es Pläne gegeben haben, an ihrer Stelle einen jüdischen Kindergarten zu bauen. Diese sind nicht umgesetzt worden und das gesamte Gebäude an der Krmanová 6
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Abbildung 2: Die orthodoxe Synagoge an der Zvonarská, Fassade zur Straßenseite. Fotografiert am 5. September 2010
von außen zeigt und kurz etwas dazu berichtet. Zwischendurch werden von einigen Interessierten Fragen gestellt. Eine ältere Frau beginnt vor dem Gebetshaus eine Art Koreferat über die Ungerechtigkeiten, die ihrer Familie während des Zweiten Welt‑ kriegs widerfahren seien und lässt verlauten, dass es damals auch der nicht-jüdischen Bevölkerung schlecht ergangen sei. Offenbar dient diese informative Veranstaltung, die für die meisten der Anwesenden die erste bewusste Wahrnehmung jüdischen Kulturerbes in der Stadt ist, manchen als Anreiz zur Selbstprofilierung. Herr Kolcun ist, wie einige andere in der Gruppe auch, sichtlich irritiert und fährt nach einer zu‑ rechtweisenden, aber immer noch freundlichen Bemerkung in Richtung der Dame schnell mit seiner Führung fort. Mir fällt auf, dass niemand Fragen zum Zustand der orthodoxen Synagoge stellt, deren Fassade zur Straßenseite der Zvonarská bereits in einem sanften Cremeweiß saniert erscheint. Der Rest des Gebäudes, der nur vom Innenhof der jüdischen Gemeinde aus gut sichtbar ist, bietet mit seiner grauen, von Rissen und bröckelnden Löchern durchzogenen Fassade allerdings einen stark deso‑
ist 1998 zum nationalen Kulturdenkmal ernannt worden. Die Gemeinde ließ eine neue Mikwe neben der alten errichten (vgl. Hrabinská 2007; Halasová/Schmiedlová 2002: 25 f.).
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Abbildung 3: Die orthodoxe Synagoge an der Zvonarská, Fassade von der Hofseite der jüdischen Gemeindeanlage aus. Fotografiert am 5. September 2010
laten Eindruck. Die Synagoge wurde 1899 erbaut und ist damit die älteste Synagoge in der Stadt.5 Herr Kolcun erklärt, diese Synagoge sei nach ihrer Enteignung während des So‑ zialismus als Lager der Wissenschaftsbibliothek genutzt und im Laufe der Jahre stark beschädigt worden. Einigen aus der Gruppe gelingt es, durch den mit schweren Ketten verschlossenen Seiteneingang einen Blick in das Innere des Gebäudes zu erhaschen, denn die großen Holztüren sind einen Spalt breit offen. Das wenige Licht, das durch die nur noch zum Teil intakten Fenster des Gebäudes fällt, zeigt große Schutthaufen auf dem Boden, großflächig zerstörte Wandmalereien, aufgeschlagenes, blankes Zie‑ gelwerk, wo einst Farben die Wände zierten. Die Galerie, auf der sich die Frauen wäh‑ rend der Gottesdienste aufhielten, ist aus Holz gefertigt. Hier und da erkennt man, dass der Boden dieser Galerie Lücken aufweist und durchbrochen ist (Abbildung 4). Die Gruppe geht weiter zur chassidischen Synagoge, die von außen als solche nicht erkennbar ist, da sie zum einen wie ein einfaches Haus aussieht und zum ande‑
5 | 1883 wurde auf dem Grundstück der jüdischen Gemeinde bereits eine Synagoge gebaut, die 1899 durch eine neue ersetzt wurde (vgl. Borský 2007: 82).
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Abbildung 4: Das Innere der orthodoxen Synagoge an der Zvonarská. Fotografiert am 5. September 2010
ren eine Mauer und ein hohes Holztor weitgehend die Sicht versperren. Ein Schild aus Metall verrät, dass sich hier ein technisches Versuchslabor befindet (Abbildung 5).6 Die nächste Station ist die orthodoxe Synagoge an der Puškinová (Abbildung 6). Hier übergibt Herr Kolcun die Gruppe an Rabbiner Steiner, der noch von einigen BesucherInnen der vorherigen Gruppe ausgefragt wird. Es vergehen einige Minuten, bis sich Rabbiner Steiner den neuen BesucherInnen widmen kann. Er wird an diesem Tag ungefähr zehn große Gruppen durch die Syn‑ agoge führen und ihnen die wichtigsten Elemente und Besonderheiten des Gebäudes erklären. Seine Ausführungen enden dort, wo Herr Kolcun die Führung begonnen hat – beim Holocaust, der auch ein Teil der Geschichte dieses Gebäudes ist. So wie mir bei seiner privaten Führung durch das Gebäude im Frühjahr, erzählt er mit denselben Worten, wie deutsche Soldaten die Juden hier im Frühsommer 1944 eingepfercht und mit ihren Gewehren bedroht hätten: »Kurz und scharf« hätten sie 6 | Die chassidische Synagoge ist 1920 unweit der jüdischen Gemeindeanlage erbaut worden. Die Gruppe der Chassidim lebte zurückgezogen und widmete sich dem Studium der Thora, was sich auch in der Archi‑ tektur des einfachen Gebäudes ausdrückt. Nach der Enteignung durch das kommunistische Regime wurde in den Jahren 1957 bis 1959 dort ein Labor für Metaltests eingerichtet (vgl. Borský 2007: 123).
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Abbildung 5: Die chassidische Synagoge in Košice. Fotografiert am 5. September 2010
gesagt, dass sie jeden erschießen, der sich ihren Anweisungen widersetzen würde. Als er sich der Wand mit den Nachrichten, die in der Synagoge festgehaltene Juden vor ihrer Deportation nach Auschwitz dort hinterlassen haben, nähert, bleibe ich im Hin‑ tergrund. Die von Mutter und Sohn verfassten Zeilen hatte mir der Rabbiner bereits im Februar gezeigt (vgl. Kapitel 1.3 und 5.1.3). Ich beobachte die vielen neugierigen Gesichter der BesucherInnen, die wie es scheint, betroffen den Erklärungen des Rabbiners lauschen. Es wird viel fotografiert, und auch als die nächste Gruppe von Herr Kolcun hereingeführt wird, bleiben einige von denen, die mit mir gekommen sind, weiterhin in der Synagoge, als könnten sie sich nicht von dem Ort lösen. Die Synagoge wird hier zum Ort einer Begegnung mit dem Fremden im Eigenen, in der die BesucherInnen der Geschichte und Kultur ih‑ rer jüdischen MitbürgerInnen begegnen und ihr ein beinahe exotisierendes Interesse entgegenbringen. Diese aus meinen Feldnotizen zusammengefassten Begebenheiten spielen sich oft ähnlich ab, denn wie Herr Kolcun mir bereits bei unserem ersten Treffen im Frühjahr versichert hatte, kommen jedes Mal mehr Menschen, um das »jüdischen Košice« zu besichtigen. Die TeilnehmerInnenzahlen hätten an zwei Tagen hintereinander einmal sogar insgesamt 1000 überschritten, so Kolcun. Die Termine der Stadtführungen zum »jüdischen Kosice« wurden bislang beispielsweise auf Ende Januar, in zeitliche Nähe
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Abbildung 6: Die orthodoxe Synagoge in der Puškinová, Ansicht von der Straßenseite. Fotografiert am 8. März 2010
zum europäischen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar und in den September, vor oder nach dem Gedenktag für die Opfer des Holocaust und rassistischer Gewalt in der Slowakei (9. September) gelegt. Bei dem Interview, das ich mit Herrn Kolcun im Juli 2011 führte, erklärte er, dass er über Jahre hinweg als Stadtführer den Eindruck gewonnen habe, das Interesse an der jüdischen Kultur nehme in Košice nicht ab, son‑ dern eher zu. Eine Interviewpartnerin mit jüdischer Abstammung aus der Nachkriegsgenera‑ tion sagte mir, dass es ihr so vorkomme, als seien jüdische Themen in der nicht-jü‑ dischen Bevölkerung insbesondere in den letzten Jahren auf einmal beliebt und »in«. Unabhängig davon bestätigten das auch andere in den Gesprächen, die ich geführt habe: »Ich weiß nicht, in den letzten paar Jahren ist es so, wenn die Juden eine Veranstaltung machen, dann sind da Millionen Leute, die nicht jüdisch sind. Aber es interessiert sie und letztendlich hört man ja auch überall jüdische Musik, ›Fiddler on the Roof‹ beispielsweise. Und diese Sachen sind absolut beliebt. Ich selbst habe einige Bekannte, die sich sehr intensiv damit beschäftigen und dabei wissen sie, dass sie nie‑ manden in der Familie haben, der jüdisch ist. Vielleicht haben sie es doch, irgendwelche Großeltern, aber davon wissen sie selbst nichts. Aber sie beschäftigen sich damit. Es ist wahrhaftig so beliebt, die jüdische Kultur beeinflusst die Menschen in ihrem Umfeld, denke ich. Und das war vorher [während des Sozialis‑
Zwischen Erinnern und Vergessen: Jüdisches Kulturerbe | 187 mus] nicht so. Früher wollten sie nicht einmal etwas darüber hören. Und jetzt hast du ja selbst gesehen, wie viele bei den Stadtführungen sind. Jeder will das wissen. Und es gehört sich auch, darüber etwas zu wissen und in die Synagoge zu gehen und sie sich anzusehen. Das ist sehr interessant.«
Diese subjektive Wahrnehmung meiner Interviewpartnerin über die Beliebtheit der jüdischen Kultur kann jedoch nicht für alle BewohnerInnen der Stadt und auch nicht für alle Veranstaltungen gelten, denn in anderen Interviews und Gesprächen, sowohl mit Menschen jüdischer Abstammung als auch der nicht-jüdischen Bevölkerung, wurde mir auch der Eindruck vermittelt, dass das jüdische Leben in der Öffentlich‑ keit kaum von Belang sei. Wie gestaltet sich also das Interesse der BewohnerInnen von Košice am jüdischen Kulturerbe außerhalb dieser Stadtführungen? Und wie beeinflussen die Medien und der eigene öffentliche Auftritt der jüdischen Gemeinde deren Wahrnehmung in ih‑ rem urbanen Umfeld? Nachfolgend soll es also zunächst darum gehen, wie sich die städtische Gedächt‑ nislandschaft hinsichtlich des jüdischen Kulturerbes in Vergangenheit und Gegen‑ wart konstituiert. Dazu werden nicht nur Eindrücke und Stimmen aus dem urbanen Alltag eingefangen, sondern auch Repräsentationsformen der jüdischen Gemeinde und ihres Kulturerbes in verschiedenen Medien wie Zeitungen und dem Internet. Im letzten Schritt kehre ich wieder zu den Synagogen zurück und widme mich Diskur‑ sen um das materielle jüdische Kulturerbe in Košice. Auch sie können als »Medien« des städtischen Gedächtnisses und mit Astrid Erll »als Vermittlungsinstanzen und Transformatoren zwischen individueller und kollektiver Dimension des Erinnerns gedacht werden« (ebd. 2005: 123).
5.1.2 » Die Tragödie der Košicer Juden« – Die jüdische Gemeinde und ihr Kulturerbe an der Schnittstelle vom kommunikativen und kulturellen Gedächtnis der Stadt Mit der Schlagzeile »Die Tragödie der Košicer Juden« vom 21. April 1998 ist eine gan‑ ze Seite der regionalen Tageszeitung Košický Korzár überschrieben. Darin geht es um das Schicksal der Juden in der Stadt während des Holocaust (vgl. Grossinger 1998: 10). Auf derselben Seite ist ein weiterer Artikel den Gebäuden der jüdischen Gemeinde gewidmet, hier geht es um die Synagoge an der Puškinová, die »vielleicht besseren Zeiten« entgegensieht, so der Titel (vgl. Hajduová 1998: 10). Sowohl über den Holocaust als auch über das materielle und immaterielle Kultu‑ rerbe der jüdischen Gemeinde wird seit dem politischen Umbruch 1989 regelmäßig in den lokalen und regionalen, aber auch nationalen Medien berichtet. Dabei werden der Holocaust und das Schicksal der zweitgrößten jüdischen Gemeinde in der Slowakei insbesondere dann von den JournalistInnen aufgegriffen, wenn im Mai die Trauerfei‑ ern und Gedenkgottesdienste zu den sich jährenden Deportationen abgehalten wer‑ den. So titelte beispielsweise die Wochenzeitung SV Slovenský Východ [Slowakischer Osten] am 20. Mai 1994: »Über die Ereignisse des Holocaust im Osten der Slowakei.
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Košice und die Deportationen der Juden« (Anonymus/SV/Deportationen 1994: 1 f.). Am selben Tag widmete auch die Wochenzeitung Košicický Večer [Košicer Abend] der jüdischen Gemeinde eine ganze Seite: »Die Geschichte des Judentums in Košice reicht bis ins 15. Jahrhundert« (Duchoň 1994: 8). Dabei wird nicht nur die Geschichte der Juden seit dem Mittelalter umrissen, sondern auch deren heutige Situation und der schlechte Zustand ihres materiellen Kulturerbes (vgl. ebd.). Manche der Artikel verknüpfen individuelle Schicksale mit den historischen Fakten und der Lokalge‑ schichte: »Eine Mutter, die in der Ziegelei ihr Kind geboren hat, ist mit dem Baby als erste ins Gas gegangen: Obwohl die Košicerin Eva schon 80 Jahre alt ist, vergisst sie die Qualen, die sie in den Konzentrationslagern erlebt hat, nie« (Božinovská 2007: 5). Verfolgt man die lokale und regionale Berichterstattung ab der politischen Zäsur 1989 bis in die Gegenwart, kann man die Entwicklung des jüdischen Lebens in Košice auch medial nachvollziehen. Neben den Artikeln über den Holocaust und die jährli‑ chen Gedenktage wurde auch über wichtige Ereignisse für die jüdische Gemeinde be‑ richtet, wie den Wechsel der drei Rabbiner, die seit 1992 in der Gemeinde tätig waren (vgl. Kapitel 4.2; Špira 1996: 1; Ičo 2001: 2). Besonders viele Artikel über das jüdische kulturelle Leben waren um die Jahr‑ tausendwende zu verzeichnen. Dort wurde auf Konzerte hingewiesen wie etwa »Kle‑ zmer – Musik für alle«, auf Ausstellungen beispielsweise zum »Geist des Judentums auf Fotografien«, ebenso auf Vorträge und Diskussionsrunden: »Sie haben über die jüdischen Friedhöfe in Košice debattiert« (Petruška 2000: 6; Anonymus/Večer/Aus‑ stellung 2000: 6; Anonymus/Večer/Friedhöfe 2001: 6). Kurze Beiträge in den Lokalzeitungen wie »Chanukka – Feiertag der Lichter« oder »Für die Juden hat das neue Jahr begonnen: Nach Tagen der Erkennnis der Tag der Versöhnung« und »Pessach« sowie »Die Juden feiern den fröhlichsten Feiertag des Jahres – Purim« zeigen religiöse Aspekte des jüdischen Lebens in der Stadt auf (An‑ onymus/Večer/Chanukka 1998: 2; Anonymus/Večer/Neujahr 1997: 2; Anonymus/ Večer/Pessach 1998: 2; Anonymus/Korzár/Purim 2005: 5). Der Redakteur Mikuláš Jesenský, der seit vielen Jahren für eine der größten nati‑ onalen Tageszeitungen Sme [Wir sind] und deren Regionalausgaben über den Osten der Slowakei schreibt, erklärte mir im Interview, dass der jüdischen Gemeinde in den regionalen Medien ebenso viel Aufmerksamkeit zuteil werde, wie anderen Minder‑ heiten. Meinen während der Recherchen im Zeitungsarchiv gewonnenen Eindruck, dass die Berichterstattung über jüdische Themen erst nach 1989 begann, bestätigte er. Denn während des Sozialismus habe es zwar auch Gedenkveranstaltungen der jüdischen Gemeinde gegeben, doch »das wurde, wenn überhaupt irgendwie nur so am Rande erwähnt«, und »der Holocaust ist in den Medien wie ein Faktum behandelt worden. Es ist auch wahr, dass die Menschen, die den Holocaust überlebt haben, sich nicht dazu äußern wollten«, wie mir Herr Jesenský sagte. Die Berichterstattung über die jüdische Gemeinde und ihr Leben in der Stadt sei zeitgleich mit ihrem öffentlichen Auftreten angewachsen. Denn
Zwischen Erinnern und Vergessen: Jüdisches Kulturerbe | 189 »die jüdische Gemeinde hat einfach begonnen, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, mehr als zu Zeiten des Kommunismus. Und auf einmal haben sich dort auch Leute angemeldet, die sich vorher nicht dazu bekannt haben. Also hat die Demokratie tatsächlich Freiheit in dem Sinne gebracht, dass sich viele Juden zu ihrem Glauben bekannt haben oder ihrer Kultur oder ihrer Nationalität oder wie auch immer. Und das zeigte sich dann auch in den Medien.«
Der Journalist erinnerte sich daran, wie er zwei Jahre nach der Wende an seiner ersten großen Reportage über jüdische Schicksale während des Holocaust gearbeitet hatte: »Es hat mich viel Kraft gekostet, die Leute dazu zu überreden, dass man darüber sprechen muss. Ich habe sie ja verstanden, dass wenn man sich in diese Erinnerungen an diese schrecklichen Jahre begibt, dass das sehr schmerzhaft sein muss, aber man muss darüber sprechen. Weil die Menschen sonst nicht wahrhaben, was der Holocaust war.«
Zwar habe sich der Kreis seiner ZeitzeugInnen nach und nach vergrößert, doch wür‑ den sie allmählich alle sterben. »Und ich wollte nicht zulassen, dass die Menschen, die das überlebt haben, es mit ins Grab nehmen. Weil das eine Botschaft für die ganze Menschheit ist. Weil das nicht nur eine Botschaft für die Nachbarn oder die Menschen in unserer Straße oder in Košice oder in der Slowakei ist, sondern für die gesamte Mensch‑ heit. Und ich bin sehr froh, dass ich es geschafft habe, ein paar von den Leuten zu überreden, darüber zu sprechen. Obwohl es sehr schmerzhaft für sie ist, sich zu öffnen. Das ist es, was ich mache.«
Zudem ist die jüdische Gemeinde in Košice seit dem 17. Juli 2001 auch regelmäßig im nationalen Magazin [Národnostný Magazin], einer Sendung des slowakischen Fernsehens (RTVS), vertreten. Die Redaktion der Sendung über nationale und andere Minderheiten befindet sich in Košice. Die leitende Redakteurin Ľuba Kolova erklär‑ te mir beim Interview, dass sowohl über die jüdische Gemeinde in Košice als auch über die in anderen slowakischen Städten berichtet werde. Die Reportagen erfolgen beispielsweise anlässlich jüdischer Feiertage und kultureller Veranstaltungen sowie Gedenkfeiern. Es gibt aber auch Sendungen, die Einzelschicksale porträtieren. Insge‑ samt werden neben Kurzbeiträgen ungefähr zwei bis drei Sendungen jährlich über die jüdische Minderheit im Land ausgestrahlt (vgl. Minderheitenmagazin). Nach Astrid Erll sind »Medien […] nicht nur für die individuelle und die sozi‑ okulturelle Dimension des kollektiven Gedächtnisses gleichermaßen relevant. Sie stellen auch die Schaltstelle zwischen beiden Bereichen dar« (Erll 2005: 123). Die jü‑ dische Gemeinde in Košice scheint zumindest in den Printmedien und im Fernse‑ hen regelmäßig vertreten zu sein, so dass interessierte BürgerInnen etwas über ihre Vergangenheit und Gegenwart erfahren. Zudem gibt es Veranstaltungen, die von den Vereinen der jüdischen Gemeinde auch für die Öffentlichkeit organisiert werden. Am 5.9.2010 wurde beispielsweise ein Konzert über »Das Herz im jüdischen Lied« in der Synagoge an der Puškinová veranstaltet, das für alle Interessierten offen war. Im Pu‑ blikum sah ich allerdings vor allem Menschen, die ich bereits interviewt hatte, also
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Mitglieder aus der jüdischen Gemeinde und ihre Familien. Da ich nicht alle Besuche‑ rInnen kannte, wäre es spekulativ zu sagen, wie viele Nicht-Juden dabei waren, doch weit über die Hälfte der Anwesenden waren aus der Gemeinde. Bei den Interviews mit Vorsitzenden der jüdischen Vereine, die für die Veranstal‑ tungen verantwortlich sind, wurde mir gesagt, es seien mehr oder weniger immer die gleichen Leute, die zu den Konzerten oder Vorträgen kämen, viele Bekannte, Freun‑ de, Verwandte sowie eine bestimmte Gruppe an Interessierten. Eine Interviewpartnerin, die in der Nachkriegszeit geboren wurde, bestätigte dies, indem sie mir begeistert von einem feierlichen Programm in der Synagoge an der Puškinová erzählte, das anlässlich des Gedenkens an die Transporte aus Košice im Mai 2010 abgehalten wurde. Dort sei auch eine Gruppe von SängerInnen aus dem städtischen Roma-Theater Romathan aufgetreten: »Und das war so interessant, das Konzert. Da sind auch Roma aufgetreten und auch ein anderer, nicht-jü‑ discher Sänger. Und dann – das hat mir sehr gefallen – dann haben sie noch ein Catering draußen im Hof der Synagoge gemacht. Und es sind sehr viele Leute da geblieben, die nicht jüdisch waren, es war so gut gemischt. Es wurden viele Freunde und Bekannte eingeladen, die nicht-jüdisch sind, daher sind auch bei vielen Veranstaltungen, die jüdisch sind, auch andere Leute. Viele Freunde von Juden gehen da hin. Wenn Purim ist, dann ist dort die Hälfte der Leute nicht jüdisch. Das sind nur Freunde von Juden.«
FreundInnen und Bekannte der Mitglieder der jüdischen Gemeinde erhalten die Ein‑ ladungen zu solchen Veranstaltungen meist automatisch. Wie werden darüber hinaus die öffentlichen Veranstaltungen der jüdischen Gemeinde in der Stadt beworben? Bei größeren Veranstaltungen wie dem oben genannten Konzert gibt es Poster, die beispielsweise im städtischen Informationszentrum MiC (Mestské informačné Centrum) in der Innenstadt aufgehängt werden. Das MiC ist in einem Kaufhaus an‑ gesiedelt, hat aber auch eine eigene Website. Es bietet neben den Informationen über alle Arten von Veranstaltungen wie Konzerten, Führungen, Ausstellungen auch den Verkauf von Fahrkarten, Konzertkarten in Košice und anderen Städten wie Bratislava und Prag sowie die Suche nach einer Unterkunft an. Dort kann man neben Postkar‑ ten und Souvenirs auch Bildbände über die Stadt und die Region erwerben. Daneben gibt es auch Informationsmaterial wie Stadtführer, Straßenkarten und Veranstal‑ tungsplaner einzelner Museen, Galerien oder des Staatstheaters (vgl. MiC Košice). Seitens der Stadt selbst werden nahezu alle kulturellen Veranstaltungen unter der entsprechenden Rubrik auf der Website in einem Monatsplan beworben und als »Be‑ sucherIn« wird man auf die Website von Visit Košice geleitet (vgl. Stadt Košice – kul‑ turelle Veranstaltungen; Visit Košice). Größere Veranstaltungen, wie etwa der Tag der jüdischen Kultur in Košice, bei dem es mehrere verschiedene Programmpunkte wie Konzerte, Vorträge und Ausstellungen gibt, werden auch auf der städtischen Website angekündigt, wie mir die Vorsitzende des jüdischen Frauenvereins ESTER sagte, die die Veranstaltung organisiert. Doch wurden in meinem Feld auch einige Stimmen laut, die den Eindruck ver‑ mittelten, die jüdische Gemeinde verschließe sich eher gegenüber der Stadtöffentlich‑
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keit und gebe Informationen über Veranstaltungen auch nur sehr reserviert weiter. In Kapitel 4.2 wurde bereits dargestellt, dass der aktivste jüdische Verein in Košice gegenwärtig The Hidden Child ist, dessen Mitglieder zu den Gemeindeältesten gehö‑ ren, sich aber regelmäßig treffen. Die Aktivitäten des jüdischen Frauenvereins ESTER wurden hingegen von den meisten ExpertInnen aus den Medien und der Stadtöffent‑ lichkeit hervorgehoben. Die Vorsitzende Frau Györiová organisiere sehr viele inter‑ essante Veranstaltungen und halte auch den Kontakt zur Presse und verschiedenen städtischen Einrichtungen aufrecht, so die ExpertInnen. Innerhalb der jüdischen Gemeinde allerdings wurde das anders wahrgenommen, da es wiederum selten Mit‑ gliedstreffen oder Veranstaltungen auf Vereinsebene gebe (vgl. Kapitel 4.2.1). Einige ExpertInnen, die aus unterschiedlichen städtischen Institutionen heraus mit der jüdischen Gemeinde in Košice zusammenarbeiten, vermittelten mir den Eindruck, dass das jüdische kulturelle Leben seit seinem kurzen Höhepunkt in den 1990er Jahren und um die Jahrtausendwende herum wieder stagniere. Dies liegt zum einen an der fehlenden Generation der jungen Juden in der Gemeinde, die um der Ar‑ beitsplätze und ihrer Ausbildung willen ins westliche Ausland migrieren. Daher sind seit 1989 in Košice auch nur zwei jüdische Hochzeiten gefeiert worden, wie mir der ehemalige Vorsitzende der Gemeinde, Herr Kolín, erzählte. Eine der Hochzeiten war die seiner Tochter, die andere feierte die Tochter einer anderen Interviewpartnerin aus der Nachkriegsgeneration. Diese wurde in der Lokalzeitung mit einem kurzen Bericht erwähnt. Es sei »die erste öffentliche jüdische Hochzeit« seit 60 Jahren, die in der Stadt gefeiert worden ist (vgl. Anonymus/Večer/Hochzeit 2001: 1). Die Aussagen der ExpertInnen über die stetig geringer werdenden Aktivitäten der jüdischen Ge‑ meinde decken sich mit denen ihrer Mitglieder (vgl. Kapitel 4.2.1). Dem städtischen Kulturreferat und den schriftlichen Antworten des Bürger‑ meisters František Knapík und seines Nachfolgers Richard Raši zufolge, ist die jü‑ dische Gemeinde ein fester Bestandteil der städtischen Geschichte und Gegenwart, man arbeite vor allem auf der kulturellen Ebene zusammen. Hier werden von beiden Bürgermeistern zum einen die bereits in Kapitel 4.2 genannten Aktivitäten der jüdi‑ schen Gemeinde in Zusammenarbeit mit dem ökumenischen Kirchenkreis und ihre Beiträge beim jährlichen Festival der sakralen Kunst, der Tag der jüdischen Kultur in Zusammenarbeit mit ESTER und die Holocaust-Gedenkveranstaltung, hervorge‑ hoben (vgl. 4.2). Auf der Internetseite der Stadt selbst findet sich kein Verweis auf die jüdische Ge‑ meinde, auch nicht unter der Rubrik »Geschichte« (vgl. Stadt Košice). Allerdings gibt es auf der bereits genannten Website für TouristInnen, Visit Košice, eine Rubrik zu »Stadtführungen« bei der auch »das jüdische Košice« vorgeschlagen wird. Die Einlei‑ tung für die auf anderthalb Stunden angesetzte Tour lautet: »Vor dem Holocaust war Košice der Ort mit einer der prominentesten jüdischen Gemeinschaften auf dem Gebiet der heutigen Slowakei. Im Jahre 1930 lebten hier mehr als 11500 Juden, die 16,4 % der Košicer Bevölkerung bildeten, wobei sie sich erst ab dem Jahr 1840 in der Stadt niederlassen konnten. Es dauerte jedoch im Jahre 1944 nur einen Monat, die Gemeinschaft durch den Abtransport nach Auschwitz, aus‑
192 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 zulöschen. Sie haben uns aber Sehenswürdigkeiten hinterlassen, die die Stadt geformt haben und ihre traurigen Geschichten erzählen. Mit ihrer Schönheit, Atmosphäre und Originalität kreieren die jüdischen Sehenswürdigkeiten bei dieser Führung ein einzigartiges Erlebnis.« (Visit Košice/Stadtführung/jüdisches Košice)
Die Geschichte der Juden in der Stadt wird zudem ausführlich auf der Website der jüdischen Gemeinde selbst sowie auf einer weiteren Website, der Online-Tageszei‑ tung Cassovia.sk, knapp dargestellt (vgl. ebd.; Kehila Košice – Geschichte; Cassovia/ Geschichte). Insgesamt lässt sich festhalten, dass die jüdische Gemeinde vor allem durch die regelmäßige Berichterstattung in Lokalzeitungen und die Einbindung in das städti‑ sche Kulturprogramm im urbanen Alltag vertreten und den BürgerInnen zugänglich ist. Ihr immaterielles Kulturerbe, das durch Konzerte, Lesungen, Vorträge und ande‑ re Veranstaltungen auch für die Öffentlichkeit erlebbar ist, ist ein fester Bestandteil im städtischen Kulturprogramm, an dem jedoch meist nur eine bestimmte Gruppe nicht-jüdischer Interessierter teilnimmt und das auch nicht immer und überall er‑ sichtlich beworben wird. So weist die städtische kommunikative und soziale Gedächt‑ nislandschaft Lücken auf, wenn es um das immaterielle Kulturerbe der jüdischen Gemeinde geht. Entsprechend selten wird diesbezüglich der kulturelle Gedächtnis‑ speicher der Stadt aktiviert (vgl. Assmann 2006a: 54 f.). Ausschlaggebend ist hier, dass »[d]er Kommunikationskreis des sozialen Gedächtnisses […] zeitlich beschränkt [ist]; der Kommunika‑ tionskreis des kulturellen Gedächtnisses ist zeitlich potentiell unbeschränkt, sofern die Speichertechni‑ ken standhalten und die Institutionen zuverlässig sind. Doch die Stabilität der Datenträger macht noch kein kulturelles Gedächtnis: es muss fortwährend in Kommunikation und Erfahrung übersetzt werden.« (Ebd.: 60)
Neben den Veranstaltungen, die Vereine der jüdischen Gemeinde gemeinsam mit städtischen Institutionen wie etwa der öffentlichen Jan Bocatius-Bibliothek oder dem Club der nationalen Minderheiten organisieren, wurde im Sommer 2012 zum ers‑ ten Mal das jüdische Kulturfestival Mazal Tov! veranstaltet. In der Ankündigung des Festivals von 2012 steht: »Although the Jewish minority has had a significant impact on Košice’s life and atmosphere, a majority of the city’s inhabitants remain largely unaware of the presence of the Jewish religion and culture. Jewish customs and traditions seem to be veiled by a mystery whose unravelling is still a taboo matter. The MAZAL TOV! festival, whose name can be translated as ›Good luck!‹, is the first festival of Jewish culture in Slovakia, bringing forward the flavours of the rich Jewish cultural heritage to the wide public. The programme of the festival includes guided walks, concerts, exhibitions, workshops, literary and film eve‑ nings, and lectures.« (Mazal Tov! 2012)
2013, im Kulturhauptstadtjahr, fand das Festival ebenfalls statt und es ist auch für 2014 geplant. Bis auf die Tatsache, dass Herr Kolcun im Rahmen des Programms
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Führungen durch das »jüdische Košice« veranstaltete und B’nei B’rith im Jahr 2013 unter den Sponsoren war, ist jedoch keine weitere Beteiligung der lokalen jüdischen Gemeinde ersichtlich (vgl. Mazal Tov! 2012; ebd. 2013). Dem materiellen jüdischen Kulturerbe kommt also eine besondere Rolle zu, denn die Synagogen sind im städtischen Alltag permanent präsent und ziehen auch durch ihre besondere Architektur die Aufmerksamkeit auf sich. Als ich mich bei meinen Streifzügen durch die Stadt in informellen Gesprächen mit ihren BewohnerInnen nach deren Wissen um die jüdische Vergangenheit und Gegenwart erkundigte, be‑ kam ich allerdings auch zu hören: »Wie, hier waren Juden? Und wo sollen hier Syn‑ agogen sein?«, während wir in Sichtweite zur Kuppel der ehemaligen neologischen Synagoge (dem heutigen Haus der Kunst) standen. Andere Personen wussten zwar, dass es eine jüdische Gemeinde in der Stadt gegeben hatte, aber nicht, dass es bis heute eine gibt. Dies verstärkt den auch im obigen Zitat angesprochenen Eindruck, dass vielen Menschen das gegenwärtige jüdische Leben in der Stadt nicht bewusst zu sein scheint. Trotz seiner architektonischen Präsenz scheint es auch das materielle jüdische Kulturerbe nicht zu schaffen, Eingang in das kommunikative und soziale Gedächtnis breiterer Bevölkerungsschichten zu bekommen. Das liegt unter anderem daran, dass »[s]owohl kulturelles Erbe als auch kulturelles Eigentum […] in verschie‑ denen Öffentlichkeiten durch Wissenstransfer aus unterschiedlichen Wissensgebie‑ ten diskursiv erzeugt [wurden und werden]« (Bendix et al. 2007: 15). Das jüdische materielle Kulturerbe in der Innenstadt, Bestandteil der größten denkmalgeschützten Zone der Slowakei, spielt jedoch eine wesentliche Rolle bei der Inszenierung Košices auf dem Weg zur Europäischen Kulturhauptstadt. So wird in dem bereits genannten City Guide von 2011 unter der Rubrik »Atmosphere, Architec‑ ture and hidden Treasures« beschrieben: »Košice is more than a main street full of fantastic monuments and attractions, which include the most eastern gothic cathedral in Europe and the largest in Slovakia […]. The special atmosphere is enhanced by the little streets, alleyways and courtyards of the historical buildings in the centre, which conceal many exciting treasures. The many amazing buildings include those of the Jewish congregation – what is now called the House of Art or the synagoge on Puškinova street with its walls bearing the words of the large Jewish congregation that used to be here.« (Slovak Tourist Board Bratislava/Košice Tourism 2011: 7)
Nachfolgend werden einige Gebäude der jüdischen Gemeinde daraufhin untersucht, welche »verborgenen« und offensichtlichen Zeichen in sie eingeschrieben sind. Auf‑ grund der vielen Beispiele, aus denen eine Auswahl getroffen werden muss, werden hier unter anderem die jüdischen Friedhöfe in Košice ausgespart (vgl. Kapitel 1.2).
5.1.3 Z wischen Restitution, Restaurierung und Verkauf – das materielle jüdische Kulturerbe in Košice Wie bereits in Kapitel 5.1.1 beschrieben, gibt es in Košice einige Synagogen und an‑ dere Gebäude der jüdischen Gemeinde, die sich im Stadtzentrum befinden. Sie alle
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erzählen dem aufmerksamen Zuhörer und Beobachter sowohl Geschichten über ihre Entstehung – meist während der Blütezeit der jüdischen Gemeinde in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts – als auch über die Heterogenität in den Glaubensausrichtungen der damals anwachsenden orthodoxen, neologischen, chassidischen und der Status-Quo Gemeinde. Die Spuren an einigen der Gebäude verraten jedoch auch, was sich in Košice ab April 1944, während des Holocaust, zu‑ getragen hat. Von der ursprünglichen Gemeinde, die vor dem Holocaust ungefähr 12.000 Mitglieder zählte, kehrten nur wenige Hundert nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zurück (vgl. Kapitel 4.1.2). Während des Sozialismus wurden zahlreiche Gebäude der durch Emigration schrumpfenden Gemeinde vom kommunistischen Regime enteignet. Wie die Soziologin Alena Heitlinger herausfand, wehrte sich die jüdische Gemeinde in Košice gegen den geplanten Abriss ihrer ältesten Synagoge an der Zvonarská erfolgreich: »An archival document from Košice, dated September 1954, describes a campaign waged by the leaders of the local Jewish community against the demolition of one of its synagogues. The correspondence in‑ cludes the comments of municipal officials that the synagogue ›doesn’t serve its original purpose and that it disturbs the aesthetic beauty of the town‹. It called for the community to donate the synagogue to the city. In response, the Jewish leaders complained about anti-Semitic allusions expressed by the city authorities during their meeting: ›It was said that, if we don’t donate the building for free, another way will be found to get it. Regrettably we have to state that after our disagreement comrade Jacková used demeaning and invective statements against the Jewish community. Only in this way can we understand the city demand, which is unprece‑ dented in the history of Košice … We want to stress that by our ritual orders it is forbidden to pull down a temple if we don’t build a new one in its place.‹ In the end, this oldest synagogue in town was not destroyed, although it was damaged later in the 1960s.« 7
In der 1899 erbauten Synagoge an der Zvonarská, die sich direkt auf der Gemeindean‑ lage befindet, ist in den 1960er Jahren ein Lager für die Wissenschaftsbibliothek ein‑ gerichtet worden. In dieser Zeit sind dem Bericht des Amtes für Denkmalschutz nach »das Mobiliar aus dem Objekt entfernt, der Fußboden sowie auch in großem Umfang die Fenster und Malereien im Interieur zerstört worden« (Hrabinská 2006: 2). Frau Hrabinská, die im Amt für Denkmalschutz für diese Synagoge zuständig ist, erklärte mir im Interview, dass es zu Beschädigungen des Daches gekommen sei und dies der Auslöser für die meisten Schäden am Gebäude war:
7 | Singerová (2006b: 107 f. zit. n. Heitlinger 2006: 24). Hier zitiert Alena Heitlinger aus einem Archiv-Do‑ kument, das bei Singerová angeführt wird: Odvolanie proti výmeru MsNV odboru výstavby v Košiciach [Appeal Against the Ruling of the Construction Department of Municipal National Committee in Košice], in Mestský oblastný archív Košice – fond KNV [Košice Municipal Regional Archive – Regional National Committee Collection], 48–2/1954, 9. 9. 1954.
Zwischen Erinnern und Vergessen: Jüdisches Kulturerbe | 195 »Die Regenrinnen waren schadhaft, die Wände sind feucht geworden. Dann kam der Schimmel und mit ihm chemische Reaktionen, so dass das Mauerwerk begonnen hat, zu bröckeln. Im Winter war dann alles feucht und das Mauerwerk hat großen Schaden genommen, es hat gebröckelt und wurde immer instabi‑ ler. Auch das tragende Mauerwerk.«
Man habe sich lange nicht um das Gebäude gekümmert, allerdings habe man auch im Amt nicht alles über die Synagoge und die jeweiligen Zuständigkeiten herausfinden können. Herr Kolín, der von 1995 bis 2002 Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Košice war, erinnerte sich, dass sie 1990 nur »vier Wände, leer« zurückbekommen hätten. Er fügte hinzu, die jüdische Gemeinde habe eine »lächerliche Miete« von der Wis‑ senschaftsbibliothek für die Nutzung der alten orthodoxen Synagoge erhalten, es sei eben nur »eine symbolische Summe« gewesen. Damals sei das Dach ausgebessert worden. Doch es fehlt sehr viel Geld für die weitere Sanierung. Wie mir im Amt für Denkmalschutz gesagt wurde, sei es während der Reparaturarbeiten an der Synagoge dazu gekommen, dass einige Gegenstände wie beispielsweise eiserne Tore »verloren« gegangen seien. Der Fall sei an die Polizei übergeben worden und wahrscheinlich nie zur Gänze aufzuklären. Bei der Trockenlegung der Wände habe es Probleme gegeben, denn Teile des Putzes seien abgefallen, und es sei auch Wasser ins Dach eingedrun‑ gen, so dass zwar das Dach nach der Reparatur in Ordnung war, aber immer noch einige Teile der Dachkonstruktion darunter beschädigt sind. »Das sollte mit Priorität behandelt werden, aber … die Kommunikation mit dem Eigentümer ist nicht ideal. Es hat keinen Sinn, mit der Restaurierung zu beginnen, wenn man das [Dach] befesti‑ gen muss … weil diese Teile nass geworden sind. Und das ist ein Problem.« Während meiner Forschung fiel mir auf, dass zuerst die Fassade zur Straßenseite hin saniert worden ist und nach und nach die Seitenwände. Das Amt für Denkmalschutz hatte der jüdischen Gemeinde jedoch etwas anderes empfohlen: »Der Eigentümer hat be‑ schlossen, so vorzugehen. Wir haben es anders vorgeschlagen, aber befehlen können wirs ihm nicht. Sie hätten im Interieur beginnen sollen und bei der Fassade enden.« Für das Gebäude wäre das der bessere Weg gewesen, so schien die Synagoge nach außen hin ihren tatsächlichen Zustand zumindest auf den ersten Blick zu verbergen.8 Dass die Situation rund um die Restaurierung der Gebäude schwierig war, be‑ stätigte mir auch der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Herr Sitár. Nachdem sie einige ihrer enteigneten Objekte nach der Zäsur 1989 zurückerhalten hatten, standen sie vor der Herausforderung, diese wieder nutzbar zu machen, so wie auch das Kasino. Es wurde 1910 im Jugendstil erbaut und diente als kulturelles und gesellschaftliches Zentrum für die Gemeinde, aber nicht als Kasino im wörtlichen Sinne, wie mir Frau Labudová vom Amt für Denkmalschutz erklärte (vgl. Borský 2007: 83). Dort waren neben einem Restaurant Räumlichkeiten für verschiedene kulturelle Veranstaltun‑ 8 | Ob diese baulichen Entscheidungen etwas mit dem näher rückenden Kulturhauptstadtjahr zu tun hat‑ ten, ist nicht geklärt. Ein ähnliches Vorgehen lässt sich jedoch auch bei Habit (vgl. 2011: 129 ff., 228 ff.) für die Kulturhauptstadt Sibiu (2007) nachlesen.
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gen. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand es zunächst leer und wurde ab 1962 von der Stadt als Puppentheater genutzt. Nachdem das Gebäude wieder an die jüdische Gemeinde zurückgegeben worden war, habe sie damit nichts anzufangen gewusst, so Frau Labudová: »Und diese 20 Jahre, während derer das Gebäude nicht genutzt worden ist, sind letztendlich entscheidend für sein Schicksal. Weil sich der Zustand immer nur verschlechtert.« Zwar habe die jüdische Gemeinde die nötigsten Repara‑ turen ausführen lassen, doch sei auch hier das Dach undicht geworden, was zu großen Schäden geführt hätte. Letztendlich wurden das zusehends verfallene Gebäude und die Schule9 neben der orthodoxen Synagoge an der Puškinová verkauft, um aus dem Erlös die Sanierungs- und Restaurierungsarbeiten an beiden orthodoxen Synagogen zu finanzieren, wie mir auch seitens der jüdischen Gemeinde erklärt wurde. Während meiner Forschung war das Kasino, das sich unmittelbar neben einer der besten Ad‑ ressen der Stadt, dem Hilton Hotel, befindet, immer noch in einem sehr schlechten Zustand. Mittlerweile hat der neue Eigentümer die Fassade jedoch sanieren lassen und es werden auch Pläne für das Interieur ausgearbeitet, wie mir vom Amt für Denk‑ malschutz gesagt wurde. Nach der Restitution der – oft stark beschädigten – Gebäude sind ihre Eigentü‑ merInnen kraft Gesetzes dafür verantwortlich, sie zu erhalten und nach den Vor‑ gaben des Amtes für Denkmalschutz originalgetreu zu restaurieren.10 Das Amt für Denkmalschutz habe, wie mir eine der Mitarbeiterinnen sagte, in gewissem Maße mehr Entscheidungsgewalt, wenn es um die Art der Restaurierung gehe. Die Eigentü‑ merInnen können für die Restaurierung und Sanierung ihres Gebäudes Gelder vom Staat beantragen. Allerdings gibt es nur einen Fonds des slowakischen Ministeriums für Kultur »Renovieren wir unser Haus«11, aus dem der Erhalt von nationalem Kultu‑ rerbe unterstützt wird. Es sei also für die EigentümerInnen eine sehr große finanzielle Belastung, da nicht alle Projekte gefördert werden können, so Frau Hrabinská. Eine andere Mitarbeiterin im Amt für Denkmalschutz erklärte, dass vielen EigentümerIn‑ nen nicht klar sei, dass sie selbst für den Erhalt ihrer denkmalgeschützten Häuser verantwortlich sind. »Es scheint fast so, als hätte der Sozialismus auch das Gefühl für Eigentum zerstört. Man kann nicht einfach nur besitzen, sondern muss sich auch darum kümmern.« Hier kollidieren also sowohl eine schwierige Gesetzeslage, der oft desolate Zustand der Gebäude und die finanzielle Situation sowie die persönliche 9 | Hier handelt es sich um die orthodoxe Schule, die ebenfalls Ende der 1920er Jahre direkt neben der Synagoge an der Puškinová erbaut wurde. Dort sei eine Talmud-Thora-Schule mit mehreren Klassen un‑ tergebracht gewesen und eine moderne Matzen-Bäckerei (vgl. Borský 2007: 85; SNM 2009: 206). 10 | Alle Gesetze und Regelungen zum Denkmalschutz können auf der Website des Denkmalschutzamtes der Slowakischen Republik eingesehen werden (vgl. Denkmalschutzamt SR – Gesetze). 11 | Der Fonds »obnovme si svoj dom« des Ministeriums für Kultur der Slowakei bietet zur Bewahrung des nationalen Kulturerbes jährlich Gelder aus dem Fonds zur Sanierung, Renovierung und Restaurierung materiellen Kulturerbes in der Slowakei an. Dafür müssen umfangreiche Projektanträge gestellt werden, die unter anderem auch archäologischer und architektonischer ExpertInnen-Untersuchungen bedürfen und ebenfalls kostenintensiv sind (vgl. Obnovme si svoj dom).
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Einstellung der EigentümerInnen mit dem Auftrag der DenkmalschützerInnen. Über den Denkmalschutz (in Deutschland) schreibt Aleida Assmann: »In den heute alltäglich gewordenen Kämpfen um das Gesicht unserer Städte wird die Perspektive des Raums durch den homo oeconomicus bzw. homo investor in Gestalt von Firmen und Gemeinderäten ver‑ treten, die Perspektive des Ortes dagegen durch den homo conservator in Gestalt von Denkmalschützern und Bürgerbewegungen. Im Raum der Stadt müssen beide Gruppen beständig pragmatische Kompromis‑ se eingehen.« (Ebd. 2009: 22 f., Abk. i. O.)
Diese Kompromisse haben auch – in Košice – etwas damit zu tun, welche Erinne‑ rungen den betreffenden Orten und Räumen anhaften und jeweils für die Zukunft konserviert werden sollen. Aleida Assmann unterscheidet Raum als »etwas, das es zu konstruieren, gestalten, nutzen, besetzen gilt. Raum ist vorwiegend ein Gegenstand des Machens und Planens, eine Dispositionsmasse für intentionale Akteure, ob es sich dabei um Eroberer, Architekten, Stadtplaner oder Politiker handelt« (Assmann 2009: 16). Demgegenüber sind Orte »dadurch bestimmt, dass an ihnen bereits gehandelt, bzw. etwas erlebt und erlitten wurde. Hier hat Ge‑ schichte immer schon stattgefunden und ihre Zeichen in Form von Spuren, Relikten, Resten, Kerben, Nar‑ ben, Wunden zurückgelassen. Orte haben Namen und Geschichte bzw. Geschichten, sie bergen Vergan‑ genheit; Räume dagegen öffnen Dimensionen des Planens und weisen in die Zukunft.« (Ebd., Abk. i. O.)
Unter diesen Gesichtspunkten sind aus der ehemaligen orthodoxen jüdischen Schule und dem Kasino in Košice, die einst konkrete Orte der jüdischen Gemeinde waren, wieder Räume geworden, deren Inneres die neuen Besitzer zumindest neu verplanen können. Das Äußere der denkmalgeschützten Gebäude muss gemäß den Vorgaben des Amtes für Denkmalschutz dem Original entsprechend bewahrt werden. Für die kleine jüdische Gemeinde in Košice gestaltet es sich insgesamt als sehr schwierig, ihre Gebäude zu erhalten, wie mir Herr Sitár am Beispiel eines Objekts erklärte, das an die Universität vermietet wird: »Schauen Sie sich mal das Gebäude nebenan an. Wir haben das Gebäude zurückerhalten, sie [die Univer‑ sität] bezahlt dafür Miete. Solange es dem Staat gehörte, hat er keinen Cent in das Gebäude investiert. Wir haben es vor zwei Jahren zurückerhalten. Wir haben schon das ganze Dach ausgetauscht, alle Fenster und jetzt wird die Fassade gemacht. Die Miete, die wir dafür bekommen, fließt komplett in das Gebäude. Verstehen Sie, wir kümmern uns um unseren Besitz.«
Wütend und um Worte ringend sprach er weiter über den Zustand, in dem die jüdi‑ sche Gemeinde das Gebäude zurückerhalten hat: »Die … das war … das war … die haben das … wenn Sie gesehen hätten, in welchem Zustand die Fenster waren. Verstehen Sie, das ist beinahe … beinahe … als sie sie abmontiert haben, sind sie fast auseinandergebrochen. Sie haben es einfach so [kaputtgehen] lassen. Sie haben es einfach alles dort so
198 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 gelassen. Wir haben es so übernommen und das Gebäude, ja, jetzt wird die Fassade gemacht und es wurde noch einiges gefunden.«
Herrn Sitár zufolge hat weder die Stadt noch der Staat etwas zur Restaurierung der Synagogen beigetragen. Über das vom Ministerium für Kultur initiierte Programm »Renovieren wir unser Haus« habe die Gemeinde zwar einen Zuschuss erhalten, doch es sei eine sehr geringe Summe gewesen. Nicht nur mit den Gebäuden, die sie zurü‑ ckerhalten hat und für deren Erhalt sie nun sorgen muss, sondern auch mit den Res‑ titutionen selbst gab es nach 1989 Schwierigkeiten. Manche Gebäude waren bereits verloren, doch dann schaffte es die Gemeinde, sie wieder zurückzuerhalten. Seit 1993 kämpft sie allerdings in einem Gerichtsprozess um die ehemalige neologische Syna‑ goge und eine jüdische Schule in der Nähe der Gemeindeanlage. Herr Sitár vertritt als Anwalt die jüdische Gemeinde vor Gericht. Die neologische Synagoge sei in den 1950er Jahren unter Zwang verkauft worden, so Herr Kolín, der Vorsitzender der Gemeinde war, als der Gerichtsprozess um die neologische Synagoge gegen die Stadt begonnen hatte: »Der Prozess war schon fast gewonnen, Herr Sitár hat ihn für die Gemeinde schon fast gewonnen. Aber dann hat die Stadt nicht zugestimmt und sie sind in die höchste gerichtliche Instanz nach Bra‑ tislava gegangen. Und bislang ist da nichts herausgekommen.« Das Problem sei, dass es ein sogenannter »erzwungener« Verkauf gewesen ist, bei dem die kommunistische Regierung gegen eine bestimmte, meist relativ niedrige, beziehungsweise wie Herr Kolín sagte, »eine lächerliche« Summe, den Eigentümer zum Verkauf des Objekts ge‑ zwungen habe. Damit fällt dieses Gebäude nicht unter das Restitutionsgesetz. Nun muss Herr Sitár beweisen, dass es ein erzwungener Verkauf gewesen ist. Die neologische Synagoge, die 1927 an der Moyzesová [Mosesstraße] (damals Rákóczy Straße), neben der ersten Synagoge12 der Stadt für 1100 Personen erbaut wor‑ den war, wurde nach ihrer Enteignung nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst als Ge‑ treidelager genutzt. Eine Interviewpartnerin, die zu dieser Zeit in die ehemals neolo‑ gische Schule direkt neben der Synagoge gegangen war – diese wurde nach dem Krieg als ungarische Volksschule eingerichtet – erzählte, dass es dort unheimlich gestunken habe: »Und nebenan in der Synagoge, da war ein Lager. So etwas Schreckliches. Ich glaube, da wurden Sonnenblumenkerne oder die Schalen oder Samen gelagert. Aber das hat gestunken. Da, wo die Philharmonie jetzt ist. Das hat so gestunken, es war grauenvoll.« 12 | Bereits 1867 wurde auf diesem Gelände eine Status Quo-Synagoge – die ursprünglich älteste der Stadt – erbaut. Nachdem das moderne Gebäude Kontroversen mit den orthodoxen Juden ausgelöst hatte, wurde es der neologischen Gemeinde zugesprochen. Daneben wurde 1884 eine orthodoxe Gebetshalle er‑ baut. 1927 wurde bei dem Bau der großen neologischen Synagoge eine neologische jüdische Volksschule für zehn Jahrgangsstufen mit direkter Verbindung zur Synagoge erbaut. Sie galt zur damaligen Zeit als die modernste jüdische Schule in der Slowakei. Nachdem die orthodoxe Gebetshalle für den Bau der großen neologischen Synagoge abgerissen worden war, wurde die älteste Synagoge nach orthodoxen Vorgaben umgebaut (vgl. Borský 2007: 82 ff., 136; SNM 2009: 205).
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Abbildung 7: Das Haus der Kunst/ehemalige neologische Synagoge in Košice, Rückseite. Fotografiert im März 2010
Ab 1958 bis in die 1960er Jahre wurde die neologische Synagoge zum Haus der Kunst umgebaut, ab 1964 war sie der Sitz der Philharmonie. Im Rahmen dieser Ar‑ beiten wurde auch die älteste Synagoge aus dem Jahr 1866, die sich auf dem Gelän‑ de direkt vor der neologischen befand, abgerissen (vgl. Hrabinská/Labudová 2007: 95 ff.). Alle Spuren des Jüdischen wurden entfernt, angefangen vom großen kupfernen Davidstern, der sich auf der Kuppel der Synagoge befand, bis hin zur mit Ornamen‑ ten verzierten Decke, die durch eine tiefer hängende, die neu eingesetzt und an der ursprünglichen befestigt wurde, ersetzt wurde. Der Davidstern wurde auf dem Ho‑ locaust-Mahnmal auf dem neueren jüdischen Friedhof angebracht, auf der Kuppel der ehemaligen Synagoge ist seitdem eine Laute. Der ursprüngliche Eingangsbereich der Synagoge wurde abgerissen und durch einen größeren Anbau ersetzt. Die Mitarbeiterin des Amtes für Denkmalschutz in Košice, die unter anderem für die neologische Synagoge beziehungsweise das Haus der Kunst zuständig ist, er‑ klärte: »Sie wollten den jüdischen Ursprung des Gebäudes zerstören, verdecken. Das Verdecken war wörtlich und auch physisch gemeint. Sie haben das Jüdische versteckt und durch eine niedrigere Decke ersetzt, aber das haben sie auch aus akustischen Gründen in diesem Konzertsaal gemacht.« Die Kuppel der neologischen Synagoge wurde durch die Befestigungen der neu eingezogenen Decke stark beschädigt, wie mir Frau Labudová sagte.
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Abbildung 8: Fotografie aus dem Archiv des Amtes für Denkmalschutz Košice: die Originalkuppel der neologischen Synagoge nach dem Umbau zum Haus der Kunst
Obwohl alle Spuren des Jüdischen in dem Gebäude entfernt wurden, lasse sich am Umgang mit dieser Synagoge noch so etwas wie »Sensibilität erkennen, insbesondere während der rauen 1950er Jahre, als alles zerstört worden ist. Als sei jede Vergangenheit außer der sozialistischen nichts wert gewesen. Also war es im Rahmen dessen noch einigermaßen sensibel, dass sie die Synagoge erhalten haben. Weil sie sie auch hätten zerstören können. Das hätte für niemanden Konsequenzen gehabt.«
Gegen diese Enteignung habe sich die Gemeinde damals nicht wehren können. »Na‑ türlich hatten sie während des Sozialismus keine Chance, weil das einfach Eigentum von allen oder niemandem war. Also konnten die Juden deswegen nicht vor Gericht gehen.« Das Gebäude biete in Košice die größten Räumlichkeiten für gesellschaftliche Veranstaltungen wie Bälle oder Konzerte. Dafür sei es seit seinem Umbau auch im‑ mer genutzt worden, so Frau Labudová. Wenn das Gebäude wieder der jüdischen Gemeinde zugesprochen werde, sei zu überlegen, inwiefern es überhaupt zu anderen Zwecken genutzt werden könne und sollte. Rabbiner Steiner erklärte mir bei unserem letzten Interview im Juli 2012, dass die Synagoge bereits seit über 50 Jahren vermietet sei und es auch seit langem keine neologische Gemeinde mehr in Košice gebe. Es ist generell fraglich, ob überhaupt noch Mitglieder in der jüdischen Gemeinde sind, die sich an die Zeit erinnern, als die
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neologische Synagoge noch von der Gemeinde genutzt wurde. Hier spielt auch eine Rolle, dass nach dem Zweiten Weltkrieg sehr viele Menschen nach Košice zugezo‑ gen sind und die jüdische Gemeinde durch sie einige neue Mitglieder bekam. Häufig wurde mir gegenüber erwähnt, dass in der Stadt kaum noch Menschen leben wür‑ den, die das (religiöse) jüdische Leben vor dem Holocaust gekannt hätten. Tatsächlich stammen bis auf zwei alle meine InterviewpartnerInnen aus anderen Städten. Zudem besteht die zahlenmäßig stärkste Generation der jüdischen Gemeinde aus denjenigen, die nach 1945 geboren wurden. So verbinden die meisten Menschen mit jüdischer Abstammung in Košice die ehemalige neologische Synagoge mit den jeweiligen Er‑ fahrungen, die sie mit und in dem Gebäude gemacht haben – meist als Konzertbe‑ sucherInnen. Für sie ist es das Haus der Kunst, so nannten es auch die meisten von ihnen. Über solche und ähnliche Erinnerungsorte schreibt Beate Binder: »Identitätsentwürfe, die mittels Geschichte und Tradition an Stadträume gebunden werden, versuchen soziale Positionen in Begriffen von Kontinuität und Dauer darzustellen. Damit sind aber zugleich auch die Grenzen dieser Entwürfe beschrieben. Denn wer mit diesem Ort keine Geschichte verbindet oder sich durch die historischen Erzählungen, die in der politischen Debatte virulent sind, nicht angesprochen fühlt, hat in diesem Diskurs keine Stimme. Zu dem symbolischen Raum, der in den Debatten jenseits städtischer Alltagspragmatik und städtischem Alltagshandeln hergestellt wird, haben diejenigen keinen Zutritt, deren Erzählungen sich hier nicht lokalisieren lassen.« (Binder 2003: 266)
Die ehemalige neologische Synagoge wurde mir von keiner/m meiner Interviewpart‑ nerInnen mit jüdischen Wurzeln als für ihre Identitätsaushandlungen relevanter Ort genannt. Rabbiner Steiner erwähnte auch, dass man sich Gedanken um Kompromisse gemacht habe, sollte das Haus der Kunst wieder der jüdischen Gemeinde zugespro‑ chen werden. Diese würden beinhalten, dass die Philharmonie als Mieter dort bliebe, allerdings wäre beispielsweise eine Tafel am Gebäude anzubringen, die darauf verwei‑ sen würde, dass es einst eine neologische Synagoge war, die zudem am höchsten jü‑ dischen Feiertag, Jom Kippur, geschlossen bleiben müsste. Außerdem dürfte dort nie etwas von Richard Wagner gespielt werden. Der Ausgang des mittlerweile seit über 20 Jahren andauernden Gerichtsprozesses um das Gebäude bleibt Medienberichten zufolge immer noch abzuwarten (vgl. Sambor 2013; Jesenský 2014). Dem Musiketh‑ nologen Philip Bohlman zufolge ist der Umgang mit Synagogen in der Slowakei eine Fortsetzung dessen, was mit ihnen vor 1989 geschah: »Even in the new Eastern Europe, Slovakia stands out as a nation where the systematic misuse and abuse of synagogues during the Holocaust and Cold War has given way to an equally systematic neglect of syn‑ agogues today. There are some small Jewish Communities, tenaciously asserting their identities in Brati‑ slava and Košice, but Jewish identity today is not unlike that of Slovak Roma and Hungarians, a historical fact to be eliminated through laws. Successive waves of legislation, intended to bring about a new order in Slovakia, have not been kind to synagogues. Their congregations eliminated or depleted, synagogues contained spaces that were forced to yield to more pressing state needs.« (Ebd. 2000: 56)
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Trotz des langjährigen Kampfes um die Restitution der neologischen Synagoge sowie einer jüdischen Schule und trotz des schlechten Zustands der bereits zurückerstatte‑ ten Gebäude sei die Beziehung der jüdischen Gemeinde zur Stadtverwaltung dadurch nicht getrübt, so der Vorsitzende Herr Sitár. Denn »dieses Volk wurde schwer geprüft … es wurde schwer geprüft. Trotz allem sind wir und wir sind noch da. Und wir sind deshalb noch da, weil wir unseren Glauben und die Fähigkeit haben, uns anzupassen. Und wir bemühen uns, einen Ausweg zu finden. Und nur weil wir mit der Stadt einen Gerichtsprozess haben, werden wir sie jetzt nicht als unseren Feind betrachten.«
Im Haus der Kunst werden neben den Konzerten der Philharmonie auch gemeinsame Veranstaltungen der Stadtverwaltung und der jüdischen Gemeinde abgehalten. Im City Guide von 2011 sowie auf der städtischen Website für TouristInnen, Visit Košice, wird neben der Synagoge an der Zvonarská unter anderem auch das Haus der Kunst als architektonische Besonderheit angepriesen: »[…] in den Jahren 1926 bis 1927 [entstand] die imposante neologische Synagoge für 1100 Menschen mit einer riesigen ellipsenförmigen Kuppel mit einem Durchmesser von 21 und 24 Metern, die an das römische Pantheon erinnert, die bis heute unverändert erhalten blieb. Seit dem Umbau ist sie Sitz der Staatlichen Philharmonie Košice. Interessant ist, dass sich oben in (sic) der Kuppel ehemals der sechs‑ zackige Davidstern befand, der nun am Holocaustdenkmal beim Jüdischen Friedhof angebracht ist. Der Stern wurde durch eine Laute ersetzt.« (Visit Košice/Stadtführung/jüdisches Košice; vgl. Slovak Tourist Board Bratislava/Košice Tourism 2011: 17)
Bei keinem der hier abgebildeten Gebäude steht etwas über dessen »Nutzung« wäh‑ rend des Sozialismus und den gegenwärtigen Zustand des Gebäudes. Die Synagoge an der Zvonarská ist für den City Guide beispielsweise von ihrer sanierten Frontseite aus fotografiert worden. Die oben zitierte Information über die neologische Synagoge, die »unverändert erhalten blieb«, entspricht nicht der Wahrheit, genaugenommen wurde nur die Außenseite der Kuppel erhalten (vgl. Hrabinská/Labudová 2007: 106). Hier scheint es so, als wolle die Stadt das jüdische Kulturerbe ohne Makel präsentieren, ob‑ wohl den BesucherInnen spätestens dann, wenn sie vor oder in den Synagogen stehen, auffallen müsste, dass die Gebäude auch etwas anderes zu erzählen haben, als es die Verfasser des City Guides glauben machen wollen: »By their beauty, atmosphere and uniqueness, the Jewish monuments make this tour a truly unique experience« (vgl. Slovak Tourist Board Bratislava/Košice Tourism 2011: 17). Die Synagoge an der Zvon‑ arská sollte bis 2013 fertiggestellt werden und in ihr ein Museum für jüdische Kultur der Ostslowakei entstehen. An den Wänden sollten die Namen der während des Ho‑ locaust ermordeten Juden aus Košice verewigt werden, so der Vorsitzende der Ge‑ meinde. Meinen Informationen nach sind bislang die Reparaturarbeiten an der Fassa‑ de und dem Dach vorangeschritten, doch ein Museum ist dort noch nicht eingerichtet worden. Trotzdem wurde die Synagoge, wie mir InterviewpartnerInnen erzählten und Presseberichten zufolge, bereits 2011 und auch während des Kulturhauptstadt‑
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jahres 2013 für Ausstellungen genutzt (vgl. Anonymus/Košický Korzár/Ausstellung 2011; František 2013). In dem City Guide wird im Rahmen der vorgeschlagenen Tour durch das »jüdische Košice« als Höhepunkt die große orthodoxe Synagoge an der Puškinová erwähnt (vgl. Slovak Tourist Board Bratislava/Košice Tourism 2011: 16). Die 1927 zeitgleich mit der neologischen Synagoge erbaute große orthodoxe Syna‑ goge war neben ihrer Gemeindeanlage eines von wenigen Gebäuden, das die jüdische Gemeinde in Košice während des Sozialismus behalten und weiterhin zu religiösen Zwecken nutzen durfte. Der Kunsthistoriker Maroš Borský beschreibt die Architek‑ tur der Synagoge und ihre Besonderheiten so: »[This] synagogue is a fine example of the provincial architectural treatment of a historicist scheme, represented by an eastern Slovak Renaissance attic and neo-Classical monumental elements with an ap‑ plication of Jewish iconography« (ebd. 2007: 85). Die jüdische Gemeinde habe sich nach der Enteignung aller anderen Synagogen dagegen gewehrt, auch diese zu verlieren. Herr Sitár erklärte mir dazu Folgendes: »Die Zeit, in der sie den Kirchen ihren Besitz genommen haben, das war in den [19]50er und [19]60er Jahren. Bitte machen Sie sich bewusst, dass trotz des Holocaust, nach dem Krieg, im Jahr [19]45, in Košice über 1000 Juden gelebt haben. Und diese Juden haben eine Synagoge gebraucht. Genauso wie auch die Katholiken und Protestanten, denen haben sie auch nicht alle Kirchen weggenommen. Also etwas haben sie ihnen gelassen. Und den Juden haben sie auch etwas gelassen, den [Gemeinde]Komplex hier und die Synagoge an der Puškinová, weil das der einzige Ort war, wo man Gottesdienste abhalten konnte. Die Synagoge wurde vorher noch täglich genutzt. Weil als hier noch genug Leute [in der Gemeinde] waren, was weiß ich, so 200, 300 religiöse Juden, da mussten sie noch morgens und abends zum Beten gehen. Zum Morgen- und Abendgebet. Also war die Synagoge in Betrieb. Und dann wurden die Leute weniger … also gab es die Gebete nur noch hier [im Gebetsraum auf der Gemeindeanlage]. Und dann kam das Jahr 1968 und da gab es eine riesige Emigration.«
In diesem Jahr seien sehr viele Juden aus Košice fortgegangen (vgl. Kapitel 4.1.3). Auch wenn die kommunistische Regierung es versucht hätte, sie habe keiner der religiösen Gemeinschaften alles nehmen können, so Herr Sitár. »Das Regime war schrecklich, ja, aber die Kommunisten haben es sich nicht erlaubt, alles zu liquidieren, also alles wegzunehmen. Nein. Das haben sie nicht gemacht.« Zwar sei die große orthodoxe Synagoge an der Puškinová stets im Besitz der jüdischen Gemeinde geblieben, doch habe sie im Laufe der Jahre erhebliche Schäden davongetragen. »Die Synagoge wurde immer genutzt, es wurden dort stets Gottesdienste abgehalten. Aber dann kam es so, dass diese Synagoge total heruntergekommen ist, weil … weil … sie nicht mehr so erhalten wurde. Man hat sich nicht mehr um das Gebäude gekümmert, wie man es hätte machen sollen. Das Dach ist undicht geworden, die Fenster waren zerschlagen, und am Ende hat die Synagoge noch … die Heizung funktionierte nicht, man konnte dort nicht heizen. Die Synagoge ist in einen solchen Zustand geraten, dass … dass dort keine Gottesdienste mehr abgehalten wurden.«
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Die defekte Heizung, die mir der Rabbiner bei meiner ersten Führung durch die Syn‑ agoge noch stolz als moderne Errungenschaft der Architektur in der Zwischenkriegs‑ zeit gezeigt hatte, sei einer der Gründe gewesen, weshalb man das Gebäude anlässlich der Feiertage im Herbst nicht mehr habe nutzen können – es sei zu kalt gewesen.13 Herr Sitár erläuterte zum Zustand dieser Synagoge vor ihrer Sanierung: »Also die Heizung war in einem absolut katastrophalen Zustand. Es hat hineingeregnet, der Putz ist abgefallen, weil alles nass war. Die Fenster waren zerschlagen. Das Gebäude war in einem absolut desolaten Zustand, absolut. Weil sich niemand darum geküm‑ mert hat.« Dies bestätigte mir auch die zuständige Mitarbeiterin im Amt für Denk‑ malschutz. Aus dem Bericht des Amtes geht hervor, dass im Jahr 1992 unter anderem auch die Fassade des Gebäudes hätte erneuert werden sollen. Die umfangreichen Re‑ staurierungsarbeiten wurden jedoch erst in den Jahren 2004 bis 2009 ausgeführt (vgl. Hrabinská 2006: 2). Die Synagoge an der Puškinová sei mittlerweile wieder »absolut in Ordnung«, wie mir Herr Sitár versicherte. Während meiner Besuche habe ich dort allerdings mehr als eine frisch renovierte Synagoge wahrgenommen, wie der folgende Auszug aus meinem Feldtagebuch zeigt: Eine der Gelegenheiten, zu denen ich in der Synagoge gewesen bin, war Jom Kippur. Anlässlich des höchs‑ ten jüdischen Feiertags war die Synagoge gut besucht. Obwohl ich schon mehrere Male dort war, staunte ich jedes Mal ob der Pracht, die mich beim Betreten des Gebäudes umfing. In der Mitte erhebt sich die Bimah aus braunrotem Marmor, über ihr schwebt ein Leuchter mit elektrischen Glühbirnen in Form eines Davidsterns. Vor und hinter der in der Mitte gelegenen Bimah stehen Bankrei‑ hen aus dunklem Holz mit Pulten für die Gebetsbücher. Einige der Bänke stammen noch aus der alten orthodoxen Synagoge an der Zvonarská, andere standen bereits vor dem Holocaust in dieser Synagoge, wie mir die Mitarbeiterin aus dem Amt für Denkmalschutz verriet. Als ich das dunkle Holz der Bank vor mir näher betrachtete, erkannte ich, dass dort an einigen Stellen etwas eingeritzt worden ist. »1931« steht dort. Möglicherweise waren das Kinder, die sich während der Gottesdienste damit die Zeit vertrieben. Alle Bänke sind zur Ostseite hin ausgerichtet, wo sich an der Wand der Thoraschrein – Aaron Ha-Kode‑ sch – befindet. Dieser besteht ebenfalls aus braunrotem Marmor und ist mit einem schweren, dunkelro‑ ten Samtvorhang verdeckt, der golden bestickt und bunt eingefasst ist. Die Wand dahinter erscheint in strahlendem Blau. Über dem Schrein leuchten goldene Sonnenstrahlen in alle Richtungen. Rechts und links davon stehen ebenfalls Holzbänke mit hohen Rückenlehnen, in die jeweils in einem geschnitzten Davidstern kleine Türchen eingelassen sind. Oben ist die Galerie, die einst für die weiblichen Gemeindemitglieder vorgesehen war. Ein Sichtschutz aus sehr dünnen, weißlackierten Stäben sollte dafür sorgen, dass die Frauen die Männer nicht vom Gebet ablenkten, wie mir der Rabbiner bei meiner ersten Führung durch die Synagoge erklärte. 13 | Die mit einem Deckel aus Kupferornamenten verschlossenen Heizungs-Ausgänge sind in regelmäßi‑ gen Abständen in den Boden der Synagoge eingelassen. Das Heizungssystem habe so funktioniert, dass die warme Luft durch diese Ausgänge sofort nach oben gestiegen sei, und das sei wichtig gewesen, denn oben in der Galerie hätten die Damen gesessen, die immer gefroren hätten, wie mir der Rabbiner schmun‑ zelnd erklärte. In dem Bericht des Amtes für Denkmalschutz steht, dass dieses Heizungssystem einzigar‑ tig und von hohem Wert für das Gebäude gewesen sei (vgl. Hrabinská 2006: 26).
Zwischen Erinnern und Vergessen: Jüdisches Kulturerbe | 205 Seit geraumer Zeit sitzen die Frauen unten, getrennt von den Männern, rechts und links in den Bankreihen an den Wänden der Synagoge. Den Männern sind die Plätze in der Mitte um die Bimah herum vorbehalten. Das gesamte Interieur ist bis auf die in Blau und Gold gehaltene Ostseite mit dem Thoraschrein und der ebenfalls blau gestrichenen Kuppel über der Bimah in cremefarbenem Weiß gestrichen. Auf den bunten Glasfenstern im unteren Bereich sind Bilder und Symbole aus der heiligen Schrift festgehalten. Zu jeder Stunde fällt auch Licht durch eines der 12 runden Fenster in der Kuppel, die blau gestrichen und mit goldenen Strahlen verziert ist. Das sei eine der vielen Besonderheiten in dieser Synagoge, wie mir der Rabbiner erklärte. Das Gebäude umfängt einen mit seiner Opulenz und klaren Strukturen, einer stimmigen Farbgebung, weichem Licht, das durch die vielen Fenster fällt sowie der gelungenen Kombination aus Holz, Metall, Stoff und Stein. Sieht man aber näher hin, entdeckt man allerdings auch Elemente an dem frisch renovierten Gemäuer, die nicht ganz dorthin zu passen scheinen. Rechts und links in den Ecken neben dem Thoraschrein zogen sich große Flecken über die helle Wand, als wäre dort Wasser ausgetreten. Tatsächlich befinden sich dort hinter den Wänden Abwasserrohre, die laut der Mitarbeiterin vom Amt für Denkmalschutz bereits hätten inspiziert und aller Voraussicht nach ausgewechselt werden müssen. Möglicherweise rosten sie, so tritt Wasser aus und verursacht Feuchtigkeit in den Wänden. Im Winter, wenn es friert, können so wieder größere Schäden im Mauerwerk entstehen. An eben dieser Wand, verborgen hinter den hohen Rückenlehnen der Holzbänke, befinden sich auch Spu‑ ren aus der Zeit des Holocaust. Dort stehen vier mit Bleistift verfasste Nachrichten von Juden, die in dieser Synagoge vor ihrer Deportation im April 1944 festgehalten wurden. Zwei dieser auf Ungarisch verfassten Nachrichten sind identisch: »Ich bin hier, ich weiß nicht, wohin sie mich bringen. 21. IV. 1944. Lily.« Die andere ist von ihrem kleinen Sohn unterschrieben. Mutter und Sohn sind in Auschwitz gestorben. Dem älteren Sohn, der überlebt hatte, sind diese Nachrichten als einzige Erinnerung an seine Familie geblie‑ ben, so der Rabbiner. Diese Relikte aus der Zeit der Deportationen wurden wie durch ein Wunder auf der einst maroden Wand der Synagoge erhalten. Als die Farbe durch die Feuchtigkeit allmählich zu schwinden begann, fand man diese Nachrichten bei den Restaurationsarbeiten. Sie wurden in einem speziellen Ver‑ fahren versiegelt und geschützt, sind allerdings nur dann zu sehen, wenn man die kleinen Türchen der Holzbänke, die sie komplett verdecken, öffnet. (Eintrag aus dem Feldtagebuch vom 17. September 2010)
Als ich an Jom Kippur neben meiner damals 23‑jährigen Interviewpartnerin Ella und ihrer Mutter Laura in den Bänken der Synagoge saß, erzählte mir Laura in Richtung der Galerie deutend: »Dort oben, da saß meine Mutter immer.« Ein anderer Inter‑ viewpartner zeigte mir in den Reihen vor der Bimah den Platz, der seinem Vater ge‑ hört hatte. Die Synagoge fungiert hier als Erinnerungsort mit spezifischen Zeichen, die zum Teil nur individuell erkennbar und bedeutsam sind. Aleida Assmann zufolge sind »Orte und Gegenstände […] mächtige ›Trigger‹« des »somatischen Gedächtnis‑ ses«, das nicht bewusst abgerufen werden kann, sondern den Menschen zufällig be‑ gegnet, wie hier in der Synagoge.14 14 | Assmann (2006b: 98). Hier unterscheidet Assmann zwischen dem »vorbewußten Mich-Gedächtnis« und dem »bewußten Ich-Gedächtnis«: »Die Erinnerungen schlummern im Mich-Gedächtnis in der Form
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Abbildung 9: Fotografie aus dem Archiv des Amtes für Denkmalschutz Košice: die orthodoxe Synagoge an der Puškinová nach ihrer Restaurierung 2009, mit Blick auf die Bimah und den Thoraschrein
Laura legte zu Beginn des Gottesdienstes ein Spitzentuch auf ihren Kopf, so wie es bereits einige der anwesenden Frauen getan hatten. Sie sagte, das gehöre sich so für eine verheiratete Frau. Lachend fügte sie hinzu: »Stell dir vor, einmal bin ich aus der Synagoge hinausgelaufen und habe erst an der nächsten Straßenecke gemerkt, dass ich das Tuch noch auf dem Kopf hatte!« Obwohl sie nicht religiös leben, kein Hebräisch verstehen und somit auch den Gottesdiensten nicht folgen können, gehen Ella und Laura an den hohen Feiertagen stets in die Synagoge, um den Traditionen zu genügen und die Erinnerung an die verstorbene Großmutter zu bewahren, die re‑ ligiös gelebt hatte. In der Synagoge verbinden sich individuelle und kollektive Erfah‑ rungen und wirken so identitätsstiftend auf die AkteurInnen. Auch das Erleben der ritualisierten Gottesdienste stärkt ihr Zugehörigkeitsgefühl zur jüdischen Gemeinde und hat, wie mir auch andere InterviewpartnerInnen erzählten, vor allem eine soziale Funktion. Denn anlässlich der Feiertage würde man in der Synagoge auch immer impliziter und versteckter Dispositionen; sie bilden ein diffuses und latentes Bereitschaftssystem, das un‑ erwartet auf bestimmte äußere Reize antwortet. Wo Reiz auf Disposition trifft, werden die somatischen Erinnerungen aktiviert und können aus dem vorbewußten Mich-Gedächtnis ins bewußte Ich-Gedächtnis übersetzt werden« (ebd.).
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seine Bekannten und FreundInnen treffen (vgl. auch Kapitel 4.2.3). Philip Bohlmann schreibt dazu: »The synagogue is an ethnographic site, not just a place to experience community but a liminal border space where one crosses into the sacred spaces of the past. The Synagogue is also a narrative space, where the texts that narrate ritual and ritualize history concentrate time and the experiences of being Jewish.« (Ebd. 2000: 46)
Durch den Holocaust, der sich auch in dieser Synagoge abspielte, ist sie nach Aleida Assmann auch ein traumatischer Ort und damit »[…] vielschichtig, uneindeutig, von unterschiedlichen Erinnerungen und Deutungen besetzt« (ebd. 2006a: 221). Wenn der Rabbiner im Zuge der Stadtführungen zum Thema »jüdisches Košice« den ständig anwachsenden BesucherInnengruppen die Inneneinrichtung der Synagoge und deren religiösen Zweck erklärte, zeigte er auch die vier Nachrichten an der Wand. Spätestens dann sprach er auch über den Holocaust und die Synagoge als Ort des Verbrechens. Laut Wolfgang Benz kristallisiert sich »nirgendwo […] Erinnerung […] beklemmen‑ der und eindrucksvoller als am historischen Ort, als an den Plätzen, an denen sich das abspielte, was die Erinnerung prägt und das Gedenken bestimmt« (ebd. 2005: 197). Im Assmann’schen Sinne ist die Synagoge auch ein Palimpsest und birgt gleich‑ zeitig Palimpseste in sich. Denn »obwohl eine bestimmte Geschichte hier kulminierte und zu einem katastrophischen Abschluss kam, ist auch hier die Geschichte weiter‑ gegangen und stellt sich als eine räumlich ›geschichtete‹ dar« (Assmann 2006a: 225). Dass die Zeit hier nicht stehengeblieben ist, zeigen alleine schon die jüngst ausge‑ führten Reparaturarbeiten. Traumatische, kollektive und individuelle Erinnerungen wurden an diesem Ort durch Erzählungen im kommunikativen Gedächtnis bewahrt und tradiert, neue Zeichen wurden durch Verfall und die nicht in allen Punkten op‑ timal ausgeführte Restaurierung gesetzt. Aus dem Bericht des Amtes für Denkmal‑ schutz geht hervor, dass beispielsweise für die Arbeiten auf dem Dach der Synagoge ungeeignetes Material verwendet worden und die Qualität der Arbeit »sehr niedrig« gewesen sei (vgl. Hrabinská 2006: 3). Während der Reparaturarbeiten an dieser Syna‑ goge seien wie bei der Synagoge an der Zvonarská, originale Details »verschwunden«. So hätten plötzlich die geschnitzten Holzvertäfelungen aus den Türen der Synagoge sowie auch einige der kupfernen Türklinken gefehlt. Die Gegenstände seien »verloren gegangen«, mehr wollte man mir dazu im Amt für Denkmalschutz jedoch nicht sa‑ gen. Die Polizei kümmere sich um diese Angelegenheit, die »verlorenen« Gegenstän‑ de seien durch originalgetreue Repliken ersetzt worden. Die Synagoge als sakrales, denkmalgeschütztes Monument birgt als Erinne‑ rungsort vielerlei Narrative, die zum Teil auch das kulturelle Gedächtnis der Stadt berühren. Eine im Jahr 1992 angebrachte und von einem Künstler gefertigte Tafel an der Straßenseite der Synagoge erinnert an die Opfer des Holocaust (vgl. Hrabinská 2006: 2). Sie ist – neben dem Holocaustmahnmal auf dem großen jüdischen Fried‑ hof – das einzige gut sichtbare Objekt, das im öffentlichen Raum der Stadt daran
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erinnert.15 Andere, individuelle Erinnerungen wiederum sind nur für bestimmte Per‑ sonen in Verbindung mit dem Gebäude erfahrbar. Darüber hinaus ist diese Synagoge (neben dem Gebetsraum auf der Gemeindeanlage) der einzige Ort, den die Gemein‑ de – wenn auch nur zwei Mal im Jahr zu den höchsten Feiertagen – zur Ausübung ihrer Religion nutzt. Als solcher ist sie auch in ihren urbanen Kontext eingeschrieben. Für die nicht-jüdische Bevölkerung ist sie im Rahmen der in Kapitel 5.1.1 beschrie‑ benen Stadtführungen oder auch bei öffentlichen Veranstaltungen der Gemeinde zu‑ gänglich. Begibt man sich in Košice auf die Spuren des jüdischen Kulturerbes, so erfährt man allein von den Gebäuden und den Friedhöfen, von denen sich der ältere zuse‑ hends verwahrlost inmitten einer Plattenbausiedlung befindet, viel über die Ge‑ schichte der Gemeinde. In die Gebäude und Räume sind vielerlei Spuren aus der wechselvollen Geschichte der Stadt und ihrer jüdischen Gemeinde eingeschrieben. Und auch die Gegenwart spricht aus diesen Gebäuden, wobei sie stets auch die Situati‑ on der jüdischen Gemeinde reflektiert. Dabei werden auch Formen des Erinnerns und Bewahrens der jüdischen Gemeinde und die Art und Weise, wie ihr kulturelles Erbe in die städtische Gedächtnislandschaft eingeschrieben ist, offenbar. »It follows that synagogues represent another powerful trope of Jewish modernism, namely, memory. Indeed, memory is monumentalized through the very physical presence of the synagogue. And yet, de‑ pending on the ways in which the synagogue is restored, it represents the relation between memory and monument in strikingly contradictory ways that in turn signal a crossing of the historical threshold into postmodernism.« (Bohlmann 2000: 46)
Wie hier gezeigt werden konnte, befindet sich das materielle Erbe der jüdischen Ge‑ meinde in einem Spannungsfeld aus langjährigen Restitutionsforderungen, konflik‑ treichen Restaurierungsprozessen und dem schwierigen Umgang mit dem Erbe der Vergangenheit, an dem sich auch die Fragen nach Anerkennung und Aufarbeitung der beiden repressiven Regime und der Rolle der Stadt dabei spiegeln. Im folgenden Kapitel wird es um das kulturelle Erbe der kleinen jüdischen Kom‑ mune in Lučenec gehen, wo insbesondere die neologische Synagoge Ausgangspunkt der Diskurse um Erinnern und Vergessen ist.
15 | An der Synagoge an der Zvonarská befindet sich ebenfalls eine Gedenktafel für die Opfer des Ho‑ locaust, die bereits 1950 dort angebracht wurde (vgl. Kolivošková). Alle Tafeln und das Holocaustmahn‑ mal wurden von der Gemeinde selbst angebracht und aufgestellt, wie mir Herr Sitár sagte. Seit einigen Jahren bemüht sich allerdings eine Bürgerinitiative in Košice darum, Gelder für ein Holocaustmahnmal zu sammeln, das an einem bislang nicht festgelegten Ort in der Stadt aufgestellt werden soll, wie mir der Vorsitzende der Initiative sagte.
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5.2 L učenec : K ulturelles E rbe im K onkurs 5.2.1 Ein Gebäude zwischen Widerspenstigkeit und Verfall »Es gibt Gebäude, die sind anders als andere. Die Zeit hat sie in Zeiten versetzt, in die sie nicht zu passen scheinen. Sie wurden ihren ursprünglichen Kontexten enthoben und begegnen uns in einer Perspekti‑ ve, aus der heraus sich keine Nutzung aufdrängt. Sie bieten Orientierung im öffentlichen Raum, bleiben Symbole von Vergangenem, und sind manchmal zu Metaphern fehlgeleiteter Stadt(teil)planung gewor‑ den. Einige dieser besonderen Ruinen der Gegenwart lassen sich nicht einfach umnutzen, umbauen oder abreissen – sie sind widerspenstig. Abgesehen davon, dass sie Geschichte im ›Kleinen‹ widerspiegeln, sind sie eine Herausforderung für die EigentümerInnen, BewohnerInnen, ArchitektInnen und Anwohne‑ rInnen.« (Rees 2011: 93)
Was Anke Rees einleitend in ihrem Artikel über die »widerspenstige« Schiller-Oper in Hamburg bestimmten Gebäuden zuschreibt, trifft ziemlich genau auch auf die neo‑ logische Synagoge in Lučenec zu: »Eine Synagoge im Verfall. Ein einzigartiges Gottes‑ haus in Lučenec bezahlt dafür, dass sein Eigentümer die Stadt ist«, so lautete der Titel einer fünfseitigen Reportage der Plus 7 Dni16 aus dem Jahre 2002. Ferner heißt es dort: »Auf der ganzen Welt gibt es nur vier Synagogen der gleichen Größenordnung, die vom Architekten Lipot Baumhorn entworfen wurden. In Lučenec, Amsterdam, Brüssel und direkt in Tel Aviv. Im Gegensatz zu den anderen Synagogen ist das Gebäude in Lučenec in einem katastrophalen Zustand. Ein nationales kul‑ turelles Denkmal, das lange Jahrzehnte auch als Lager für künstliche Düngemittel gedient hatte, zerfällt direkt vor unseren Augen.« 17
In der Reportage wird die Situation der verfallenden Synagoge in Lučenec beschrie‑ ben, für deren Rekonstruktion die Stadt keine Gelder aufbringen kann. Seitdem sind nun zwölf Jahre vergangen und der Zustand des binnen 16 Monaten (vom 31. März 1923 bis zum 8. September 1925) erbauten Gebäudes hat sich erheblich verschlechtert. Als die Synagoge 1925 fertig gestellt wurde, stand sie mit ihrer Größe und Op‑ pulenz sowie ihrer hochwertigen Ausstattung für die Prosperität, den Wohlstand 16 | Marenčáková (2002: 79). Die Plus 7 Dni ist eine in der Slowakei erscheinende Wochen- und Fernseh‑ zeitung, die über Politik, Kultur, Boulevard und Regionales berichtet. 17 | Marenčáková (2002: 79). Lipót (Leopold) Baumhorn (18. 12. 1860 – 8. 7. 1932) war ein jüdischer Ar‑ chitekt, der sich auf den Bau von Synagogen spezialisiert hatte, die orientalische und Stilelemente der Renaissance trugen (vgl. Dorfman B./R. 2000: 243; Šoltésová 2004: 217). In keiner der über Lipót Baum‑ horn erschienenen (wissenschaftlichen und weniger wissenschaftlichen) Publikationen ist die Rede von Synagogen, die nach seinen Entwürfen außerhalb des Habsburger Reichs gebaut worden sind, sondern immer nur von 24 oder 25, die er in diversen Ländern, die der »K&K-Monarchie« unterstanden, entworfen hatte. Eine seiner berühmtesten und größten Synagogen steht in Szeged (vgl. Paučová/Puntigán 2004: 43; Gruber 1994: 181 ff.). Daher wird diese Aussage aus der Plus 7 Dni nur der Vollständigkeit halber, aber unter Vorbehalt gegenüber der Richtigkeit ihres Inhalts, übernommen.
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und die Integrität der damaligen jüdischen Gemeinde in Lučenec. Die neologische Gemeinde ließ die für ungefähr 1100 Personen ausgerichtete Synagoge an Stelle der alten, zu klein gewordenen bauen. Ihre Ausstattung und Konstruktion reflektierte sowohl die sich transformierenden sozialen Positionen der jüdischen Gemeinde in‑ nerhalb der Mehrheitsgesellschaft als auch die Reformbestrebungen innerhalb der Religion selbst: »The changes of social position of Jewish communities and reforming trends inside them influenced archi‑ tecture of Jewish synagogues. In spite of attempts to assimilate with majority, forms and non-traditional decoration of many buildings manifested unique self-expression of Jewish community and represented its newly acquired self-confidence. The style was dominated by historicising eclectic elements creatively mixed with Oriental or Moorish style inspired by architecture from the areas of Near East and Moorish Spain which were close to Jewish culture.« (Šoltésová 2004: 217, 224 f.)
Bei meinem ersten Forschungsaufenthalt 2008 rankte sich der Efeu über die Ostseite des Objekts und verdeckte darunterliegende Schäden. Da er aber nicht das gesam‑ te Gebäude einkleidete, war dessen Zustand für die Betrachter von allen anderen Seiten gut sichtbar. Auf dem Dach wuchsen ihrer Größe nach zu urteilen, bereits seit mehreren Jahren Bäume und vielerlei Gestrüpp welches Tauben Nistplätze bot. Diese wiederum gelangten über die zerschlagenen Fenster und Krater von Granate‑ neinschlägen und Einschusslöchern – Relikte der Befreiung durch die Rote Armee von 1945 – in den Außenmauern, leicht in das Innere des Gebäudes, wo sie immer noch ihre Spuren hinterlassen. Die einst zahlreichen Ornamente und der Stuck, die an der Außenfassade angebracht gewesen waren, sind nach und nach herabgefal‑ len. Umgeben von einem völlig verrosteten Zaun, der mehrere Löcher aufwies und eine meterhoch von Gestrüpp überwucherte Müllhalde rings um die Synagoge ein‑ schloss, war es fast unmöglich, einen Blick in das Innere des Gebäudes zu werfen. Vor einigen Jahren sei eine Delegation von Jugendlichen aus Israel gekommen, die es sich zur Aufgabe gemacht habe, die Synagoge innen zu reinigen und alle Fenster und Türen zuzumauern, so der Artikel aus der Plus 7 Dni. Die Jugendlichen hätten so das Gebäude vor Obdachlosen schützen wollen, die dort Schutz suchten und während‑ dessen schon häufig Brände entfacht hatten sowie auch vor ortsansässigen Roma, die mit Scheren das von der Stadt in den 1980er Jahren angebrachte Kupferblech von der Kuppel schnitten und verkauften, so die Reportage aus dem Jahr 2002 (vgl. Marenčáková 2002: 81). Doch viel haben diese Bemühungen nicht genutzt. Gelingt einem dennoch ein Blick in das Innere des Gebäudes, findet man Unrat, Spuren der Verwüstung und von Bränden in der Synagoge, die vor dem Zweiten Weltkrieg zu den größten und schöns‑ ten im ehemaligen Habsburger Reich gehört hatte (vgl. Dorfman B./R. 2000: 243 f.). »Built in a restrained Romantic style, the Lučenec synagogue faithfully represented Baumhorn’s mature achievement and incorporated those characteristics of this style that generate elation. From the soaring arch of the proscenium, the feeling of uplift runs past the rounded ceiling vaults along the broad and
Zwischen Erinnern und Vergessen: Jüdisches Kulturerbe | 211 spacious galleries to what was a grand hall below. Cusped arches and neo-Moresque dentilation through‑ out the building in Lučenec – as in Baumhorn’s synagogues in Szeged and Nový Sad – serve as unifying elements of harmonious connection and aesthetic balance. The two story headings of the portal blocks on north, west, and south facades set the dominant tone, repeated inside on the high Ark structure.« (Ebd.: 244; vgl. auch Borský 2007: 120 f.)
Kurz vor meinem Forschungsaufenthalt in Lučenec im Jahr 2011 hatte es wieder in der Synagoge gebrannt. Zwei Personen seien in das Gebäude eingebrochen und hätten das Feuer gelegt, da sie dachten, so einen Einsturz eines der Türme hervorrufen zu können und darüber an das Kupferblech auf der Kuppel zu gelangen, so die Theorie einer der Mitarbeiterinnen des Amtes für Denkmalschutz. Dies konnte durch die her‑ beigerufene Feuerwehr verhindert werden. Im Amt selbst führte mich Frau Pavlová, die seit vielen Jahren mit dem Fall der Synagoge betraut ist, bei meinem letzten For‑ schungsaufenthalt 2012 in einen Raum, auf dessen Boden zwei zerbrochene, steiner‑ ne Tafeln mit den Zehn Geboten lagen.18 Ich erinnerte mich, sie bei meinem letzten Besuch noch über dem Haupteingang der Synagoge gesehen zu haben. Frau Pavlová erklärte, dass die Tafel irgendwann herabgestürzt sei und man sie durch Zufall im meterhohen Gras gefunden habe. Wendet man den Blick auf die Umgebung der Synagoge, drängt sich der Eindruck auf, dass dieses Gebäude nicht in sein Umfeld passt: Die Synagoge liegt an einer der beiden Hauptstraßen von Lučenec, in der Nähe der evangelischen Kirche, des Fried‑ hofs, der Markthalle und unweit des Zentrums auf einem brachliegenden, mit Gras bewachsenen Grundstück. Sozialistische Plattenbauten reihen sich blöckeweise an der gegenüberliegende Seite der Hauptstraße. Neben der Synagoge findet sich ein grellblau gestrichenes Hotel, ebenfalls ein Relikt aus der Sowjet-Zeit, dem mit Far‑ be das Überleben im neuen Jahrtausend gesichert werden sollte. Dort, wo sich zur Linken der Synagoge von 5. Mai bis Anfang Juni 1944 vor den Deportationen das jüdische Ghetto befand (vgl. Kapitel 4.1.2; SNM 2010: 38), erstreckt sich ein in den 1990er Jahren erbautes Wohngebiet, dessen Architektur neben den Relikten der Plat‑ tenbauten in einem Bildband der Stadt als modern ausgewiesen wird (vgl. Drenko et al. 2007: 90). Abgerundet wird das Panorama durch einen gegenüberliegenden Super‑ markt mit angrenzendem Lokal und durch eine Bar aus Wellblech, die sich direkt am Fuße der Synagoge befindet. Doch obwohl sie aufgrund ihrer Architektur und ihres desolaten Zustands auf‑ fallend aus ihrem Umfeld heraussticht, ist sie in jeder informativen Broschüre über die Stadt und auf zahlreichen Postkarten zu sehen, die es im städtischen Informati‑ onszentrum (MiC Lučenec) zu erwerben gibt. Die Broschüre über »architektonische Denkmäler« in Lučenec wird beispielsweise so eingeleitet:
18 | Diese Tafeln sind schätzungsweise einen Meter breit und anderthalb Meter hoch. Sie sind an allen vier Seiten der Synagoge angebracht.
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Abbildung 10: Die Synagoge von der West-Seite mit Haupteingang, fotografiert im Juli 2011. Im Hintergrund links befindet sich das Hotel Pelikán, daneben die beiden »Wolkenkratzer« des Kongresszentrums. Rechts stehen die sozialistischen Plattenbauten.
»Wenn sie einen Lučenecer fragen, ob er irgendwelche Sehenswürdigkeiten von Lučenec nennen könnte, wird er vermutlich an Titelseiten aus Geschichtsbüchern denken. Die Synagoge, die kalvinistische Kirche und die Reduta 19 gehören zu den Dominanten des historischen Zentrums von Lučenec, die gleichzeitig das Stadtpanorama prägen.« (Damjanová et al. 2006: 2; vgl. Kapitel 5.2.3)
Die Synagoge scheint also für die Stadt – zumindest zu solch repräsentativen Zwe‑ cken – bedeutend zu sein. Wie gestaltet sich also der Umgang mit ihr und wie ist sie in die städtische Gedächtnislandschaft eingeschrieben? Vom einst reichen jüdischen Kulturerbe, das es in der Stadt gegeben hat, sind die Synagoge und die beiden jüdi‑ 19 | Die Reduta war das gesellschaftliche und kulturelle Zentrum der Stadt und wurde erstmals 1848 bis 1849 in einer kleineren Version erbaut, bevor sie 1894 umgebaut wurde. Es gab dort eine Bühne, zwei Säle, ein Restaurant, Büroräume, eine Galerie, ein Café, ab 1909 ein Kino und weitere Einrichtungen. Die Reduta war der Austragungsort von Konzerten, Theaterstücken, Bällen und anderen gesellschaftlichen und kulturellen Veranstaltungen. Nach der politischen Zäsur wurde der Komplex nach und nach umge‑ baut, renoviert und 1999 mit einem Hotelanbau an das Kongresszentrum der Stadt angegliedert (vgl. Drenko et al. 2007).
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schen Friedhöfe das einzige, was übrig geblieben ist. Ihr sich seit Jahren verschlech‑ ternder Zustand lässt allerdings keine zuversichtlichen Schlüsse darüber zu, wie es mit ihr weitergehen könnte. Wie der gegenwärtige Leiter des jüdischen Museums in Bratislava, Pavol Mešťan in der eingangs genannten Reportage von 2002 sagte, kann eine Synagoge in der Slowakei nicht mehr nur zu religiösen Zwecken restauriert wer‑ den (vgl. Marenčáková 2002: 81). In anderen Städten, so der Artikel, werden Syna‑ gogen durchaus wieder begehbar gemacht oder sogar restauriert, um dann als Dis‑ kothek, Eisenwarenlager, Möbel- und Supermarkt oder als evangelische Kirche zu dienen.20 Dies bestätigte mir der Kunsthistoriker Maroš Borský, der alle Synagogen in der Slowakei dokumentiert hat. Bei der feierlichen Aufnahme des jüdischen Suburbi‑ ums im ostslowakischen Bardejov in die Route des jüdischen Kulturerbes in der Slo‑ wakei, das ich mit Herr Borský besuchte, musste man, um zur unterirdisch gelegenen Synagoge zu gelangen, erst einmal durch ein Metallwarengeschäft samt zugehörigem Lager hindurchgehen.21 Welchem Schicksal sieht die Synagoge in Lučenec entgegen?
5.2.2 D ie Synagoge in Lučenec – ein Denkmal mit multiplen Erinnerungs- und Spekulationswerten »Time and fate have been cruel to the large Neolog synagogue, and it has deteriorated into a gutted hulk.« (Dorfman B./R. 2000: 246)
Die im September 1925 fertiggestellte neologische Synagoge hat äußerlich den Zwei‑ ten Weltkrieg und 40 Jahre Sozialismus überstanden. Doch scheint sich gerade die Zeit ab der politischen Zäsur 1989 schicksalhaft darauf ausgewirkt zu haben, dass 20 | Vgl. ebd. (2002: 80 ff.); vgl. auch Borský (2007: 92 ff.; 110 ff.). Maroš Borský hat einen Katalog aller Synagogen und Gebetshäuser in der Slowakei zusammengestellt, sowohl der zerstörten als auch der mitt‑ lerweile »anders« genutzten (vgl. ebd.). 21 | Im Rahmen des bereits genannten Projekts »Synagoga Slovaca« wurde auch die »Route des jüdi‑ schen Kulturerbes in der Slowakei« initiiert und ausgewählte Orte – unter anderem auch die jüdische Gemeindeanlage in Košice – mit einer entsprechenden Plakette versehen. Der Bau des Suburbiums in Bardejov wurde 1836 begonnen und bestand aus einer Synagoge, einer Lehrstube und einer Mikwe, die sich unterhalb der Erde in einer großen Hausanlage befinden. Die Anlage gehört dem Zentralverband der jüdischen Gemeinden in der Slowakei (UZŽNO), der sich um ihren Wiederaufbau bemüht. Auf der Website wird man über den Zustand und die Nutzung der Anlage informiert, in der man Kompromisse eingehen muss: »The Union adopted a double-track redevelopment plan for the site. Under this plan, considered to be the most effective strategy given the limited available funding, the depressed local economic situation and the small support from public resources, the compound was split into two. The Old Synagogue, long used as a warehouse for plumbing supplies, is currently under restoration and will eventually be used for cultural purposes. Most of the funding for this comes from the Central Union’s own means, plus grants from foreign sources. The beit midrash and mikvah, meanwhile, are under long-term use agreement to be restored for commercial purposes as a metalware shop. The tenant is covering the entire cost of restora‑ tion from his own budget” (Synagoga Slovaca – Bardejov Old Synagogue Compound).
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ihre Grundmauern heute nicht mehr auf festem Boden stehen. Das Gebäude ist aus einem Eisen-Beton-Skelett gebaut worden, das mit Ziegeln angefüllt wurde und da‑ her relativ stabil ist (vgl. u. a. Paučová/Puntigán 2004: 44). Der Direktor des Amtes für Denkmalschutz in Banska Bystrica 22, der den Zustand des Objektes geprüft hatte, äußerte bereits 2008 in einer Fernsehreportage seine Bedenken: »Das Gebäude ist in einem sehr fragwürdigen Zustand. Wenn nicht umgehend Maßnahmen zur Sanie‑ rung eingeleitet werden, drohen dem Gebäude weitere irreparable Schäden.«23 Dies bestätigten mir auch die Mitarbeiterinnen im Amt für Denkmalschutz in Lučenec. Zu lange sei nichts für den Erhalt des Gebäudes unternommen worden, genaugenommen seit 1944, abgesehen von notdürftigen kleineren Reparaturen. Wie die meisten Besitztümer der jüdischen Gemeinde sei nach den Deportationen der Juden aus Lučenec 1944 auch die Synagoge geplündert worden, so der Zeitzeuge Jozef Hidasi in einem unserer Telefonate.24 Maroš Borský schreibt: »The colossal building of the former Neolog synagogue is a grand memorial to Lučenec Jewry: the com‑ munity disappeared during the Holocaust, and afterwards, the formerly Jewish residences were demol‑ ished. Only the decaying synagogue remained, surrounded by a typical Communist-style housing estate. In course of time, the locals looted the building of everything valuable, so that today, interior capitals can be found in the city’s private gardens.« (Ebd. 2007: 119)
Nach dem Zweiten Weltkrieg sah sich die kleine jüdische Gemeinde in Lučenec zunächst in der schwierigen Situation, ihr durch die Arisierung enteignetes Eigen‑ tum zurückzuerhalten (vgl. Kapitel 4.1.3). 1948 war sie im Zuge der Enteignungen des kommunistischen Regimes wiederum gezwungen, die neologische Synagoge der Stadt zu überlassen. Die finanziellen Mittel der jüdischen Gemeinde hätten nicht ausgereicht, um die nötigen Reparaturarbeiten an der sowohl außen als auch innen beschädigten Synagoge vornehmen zu lassen, wie mir im Amt für Denkmalschutz gesagt wurde. Dies ist auch als einer der Verkaufsgründe in dem Kaufvertrag vom 29. Dezember 1948 festgehalten: »Letztendlich verkauft der Verkäufer [die jüdische Gemeinde] die Synagoge deshalb, weil in Folge der Rassenpersekution die Anzahl der Mitglieder auf ein Zehntel gesunken ist und dieser Zahl genügt auch die kleinere Synagoge in der Stadt. Wenn es um die Synagoge geht, ist die Bedingung des Verkaufs, dass es in dem Gebäude der Synagoge, das für religiöse Zwecke geheiligt wurde und zu religiösen Zeremonien gedient hat, niemals in der Zukunft irgendwelche Tanzveranstaltungen sowie den Verzehr oder den Aus‑ schank von alkoholischen Getränken geben wird, sondern dass dieses Gebäude immer zur Ausübung von kulturellen und humanitären Zwecken dient.« (Kaufvertrag Synagoge 1948). 22 | Banská Bystrica ist die Kreishauptstadt, das dortige Amt für Denkmalschutz steht dem in Lučenec vor. 23 | Vgl. Kubániová, Martina: Synagóga v konkurze. [Eine Synagoge im Konkurs]. Die Fernsehreportage des Senders TA3 vom 8. 4. 2008 ist nicht mehr online verfügbar. 24 | Die Bimah (Kanzel) der Synagoge war beispielsweise aus massivem Marmor, von dem nach dem Krieg nichts mehr da war (vgl. Dorfman B./R. 2000: 244).
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Die Stadt Lučenec hat der jüdischen Gemeinde damals über 2,3 Millionen tschechos‑ lowakische Kronen für die Synagoge gezahlt, die notdürftig repariert und zum La‑ gerraum für Düngemittel umfunktioniert worden ist (vgl. Paučová/Puntigán 2004: 44 f.). Die chemischen Substanzen haben ihr Inneres im Laufe der Jahre so sehr beschädigt, dass heute von den einstigen Wandmalereien nichts mehr zu sehen ist. Die erst im Jahre 1930 erbaute kleinere orthodoxe Synagoge ist nach dem Zweiten Weltkrieg wieder von der jüdischen Gemeinde nutzbar gemacht worden, doch 1969 wurde sie von der kommunistischen Partei abgerissen, um Platz für Wohnraum zu schaffen.25 Die kleine jüdische Gemeinde hat fortan ein Privathaus mit Gebetsraum in der Moyzesová, einer Parallelstraße der Hauptstraße in Lučenec, genutzt (vgl. Dren‑ ko 1993: 56). Seit 1980 steht die neologische Synagoge leer und war ohne die nötigen Reparaturarbeiten an Dach und Außenmauern jahrzehntelang der Witterung sowie mutwilliger Zerstörung durch Vandalen und Räuber ausgesetzt, die dort, wie oben beschrieben, erhebliche Spuren hinterließen (vgl. Paučová/Puntigán 2004: 45). 1982 wurde bei Lučenec die Weltmeisterschaft im Fallschirmspringen ausgetragen. Die Sy‑ nagoge sollte damals »aufgrund der Schande« um ihr Äußeres, wie mir im Amt für Denkmalschutz erzählt wurde, abgerissen werden. Die jüdische Gemeinde schaffte es jedoch, sich dagegen zu wehren. 1985 wurde die Synagoge auf Bestreben des Amtes für Denkmalschutz in der Kreishauptstadt Banská Bystrica auf die Liste der nationa‑ len Kulturdenkmäler aufgenommen (vgl. ebd.: 45). Ruth Ellen Gruber, die seit 1989 auf den Spuren des jüdischen Kulturerbes im östlichen Europa reist, beschreibt ihre Eindrücke von der Synagoge in Lučenec Anfang der 1990er Jahre sehr drastisch: »The sight of the ruined building was shocking; I felt real pain as I strained my eyes to take in every corner. I pushed my way through a broken, rusty fence and scrubby weeds to enter what had been the sanctuary. Here I found total, overwhelming devastation. The vast size accentuated everything – the gutted fixtures; sagging, broken planks; crumbling walls. I was scarcely able to make out the inner curve of the dome in the gloom. ›It’s like postnuclear Hiroshima,‹ I scrawled in my notebook. ›It could be the scene of some nightmare or some horror movie … […] Here is the death of a magnificent community – and wealthy: Who else would erect this type of synagogue?‹« (Gruber 1994: 160 f.)
1993 habe die Stadt 93.000 slowakische Kronen 26 für die Sanierung einer Kuppel aufgewendet. Das Kupferblech sei allerdings, wie auch einleitend im Artikel in der Plus 7 Dni erwähnt, mit Scheren von der Kuppel geschnitten und an Eisenwarenhändler verkauft worden, so die Mitarbeiterin vom Amt für Denkmalschutz (vgl. Marenčáková 2002: 82). Eine Gruppe von Engagierten, darunter auch eine weitere Mitarbeiterin 25 | Vgl. Dorfman B./R. (2000: 246); Borský (2007: 134); Paučová/Puntigán (2004: 45). Dieses Schicksal ereilte in kommunistisch regierten Ländern viele Synagogen, aber auch andere historische Bauten. Cathe‑ rine Horel zufolge »war die Herrschaft des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei brutaler und ordnete bis in die achtziger Jahre unter dem Vorwand von Sanierung (asanace) die Zerstörung von zahlreichen Synagogen an« (Horel 2007: 406, Herv. i. O.). 26 | Das entspräche heute ungefähr 3000 Euro (vgl. Währungsrechner alt).
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des Amtes für Denkmalschutz, Frau Paučová und Herr Ernst 27, rief im Jahr 2001 ein Projekt zur Erhaltung der Synagoge ins Leben, »Náš domov« [Unser Zuhause]. Über das Projekt versuchten Herr Ernst und Frau Paučová, Gelder aus dem Ausland zu akquirieren. Zu diesem Zweck wurden im internationalen Rahmen diverse jüdische Gemeinden und Stiftungen angeschrieben. Das Projekt, so Frau Paučová, sei unter anderem daran gescheitert, dass die meisten der potenziellen InvestorInnen kein Geld in ein Gebäude hätten stecken wollten, das nicht nur religiösen Zwecken dienen würde (vgl. Marenčáková 2002: 81). Inzwischen sei die jüdische Gemeinde allerdings zahlenmäßig so geschrumpft, dass sie es nicht mehr nur dafür hätte nutzen können. Die jüdische religiöse Gemeinde von Lučenec habe 2005 den Status einer jüdischen Kommune erhalten, wie mir die Vorsitzende Frau Vajová erklärt hatte. Daher ist da‑ von auszugehen, dass schon einige Zeit zuvor kein religiöses jüdisches Leben mehr in der Stadt möglich war. Am 20. November 2002 wurde die Synagoge für einen symbolischen Wert von 100.000 Slowakischen Kronen, umgerechnet ungefähr 3000 Euro, an einen Geschäfts‑ mann in Lučenec verkauft. Initiator dieses Verkaufs war die Stadt Lučenec unter dem damaligen Bürgermeister Jozef Murgáš. Im Interview mit der Plus 7 Dni schilderte er die Situation vor dem Verkauf der Synagoge folgendermaßen: Es habe Investoren gegeben, »doch als es soweit war, das Brot zu brechen, sind alle abgesprungen, weil die Summe für die Restaurierung übermäßig hoch ist« (Marenčáková 2002: 80). Der neue Eigentümer der Synagoge hatte die Auflage, sie binnen drei Jahren, das heißt bis Ende des Jahres 2006, zu restaurieren und, wie es im Vertrag heißt: »im Objekt der Synagoge ein Bildungszentrum zu realisieren, das an das städtische Kongresszentrum Reduta angeschlossen ist […]« (Kaufvertrag Synagoge 2002: 2). Herr Hidasi arbeitete in seiner Funktion als Architekt in den folgenden Jahren Pläne zur Sanierung und Re‑ staurierung der Synagoge aus. Es hätte dort seiner Meinung nach ein Kulturzentrum entstehen sollen, in dem sowohl Raum für religiöse als auch für andere Zwecke, wie beispielsweise Konzerte oder Lesungen und Feiern, in Anbindung an das Kongress‑ zentrum, gewesen wäre. Auch eine Bibliothek und ein Museum für jüdische Kultur sollten in der ehemaligen Synagoge Platz finden. Das renovierte Gebäude sollte seinen Vorstellungen nach zudem von einem Park, der zur Erholung dienen sollte, umgeben sein. Die von ihm ausgearbeiteten Pläne seien zwar angenommen worden, doch zu deren Realisierung kam es nicht. Der Geschäftsmann meldete mit seiner Firma Avant Konkurs an. Eine neu gegründete Firma, NEO A.V.T., habe sich fortan für die Synago‑ ge verantwortlich erklärt. Aus einer Stellungnahme von NEO A.V.T. nach Ablauf der vertraglich zugesicherten Frist zur Restaurierung der Synagoge geht hervor, dass es aufgrund bürokratischer Schritte nicht möglich gewesen sei, die im Vertrag angege‑ bene Frist der Sanierung einzuhalten, und man versuchen werde, die nötigen Schritte 27 | Die Kunsthistorikerin Andrea Paučová hat unter anderem einige Aufsätze zur neologischen Synagoge in Lučenec veröffentlicht (vgl. Paučová/Puntigán 2004). Den Kontakt zu Herr Ernst bekam ich über die Vorsitzende der jüdischen Kommune, Frau Vajová. Herr Ernst sei aus mehreren Beweggründen am Erhalt der Synagoge interessiert, insbesondere aber, weil er den kulturellen Wert des Objektes schätze.
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für die Inangriffnahme des Projekts um die Synagoge im Zeitraum 2007 bis 2013 in die Wege zu leiten.28 Dass man gegen die Nicht-Einhaltung der gestellten Bedingungen im Kaufvertrag von 2002 nicht habe vorgehen können, habe daran gelegen, dass dort keine entspre‑ chende Klausel festgehalten worden sei, so eine Mitarbeiterin vom Amt für Denk‑ malschutz. In der Reportage »Eine Synagoge im Konkurs« des slowakischen Fernseh‑ senders TA3 vom 8. April 2008 wurde über die Situation der Synagoge berichtet. Die Reporterin besuchte auch die angegebene Adresse der neuen Firma, die offiziell als Eigentümer der Synagoge galt. Sie fand sich vor einer Mietswohnung in einer Platten‑ bausiedlung wieder, wo niemand mit besagter Firma etwas zu tun haben wollte. Die Firma NEO A.V.T. war inzwischen ebenfalls bankrott und somit auch die »Synagoge im Konkurs«, wie der Titel der Reportage besagte (vgl. Kubániová 2008). In den fol‑ genden Jahren geschah dem Amt für Denkmalschutz zufolge nichts, was den Zustand des Gebäudes verbessert hätte. Die Synagoge wurde schließlich nach einem Gerichts‑ prozess aus der Konkursmasse heraus an eine Privatperson versteigert. Es scheint fast so, als hätte sich die Nicht-Einhaltung der Vertragsklauseln nach 60 Jahren wiederholt – wieder zum Schaden der Synagoge. Dies sollte natürlich auch unter Berücksichtigung der unterschiedlichen politischen und soziokulturellen Rah‑ menbedingungen, in denen die Kaufverträge geschlossen wurden, beurteilt werden. Im damaligen Sozialismus war es nicht möglich, sich gegen die vom Staat oder der Stadt Lučenec beschlossene Nutzung der Synagoge aufzulehnen, obwohl im Vertrag etwas anderes festgehalten war. Heute – so möchte man meinen, sollte es einfacher sein, einen solchen Kaufvertrag anzufechten. Alleine die Tatsache, dass die Stadt Lučenec einen Vertrag geschlossen hat, in dem keinerlei Absicherung im Falle seiner Nicht-Einhaltung enthalten gewesen ist, sei grob fahrlässig gewesen, so die Reporte‑ rin von TA3. Die Stadt habe dem Geschäftsmann blind vertraut, ohne sich abzusi‑ chern (vgl. Kubániová: 2008). Dem Amt für Denkmalschutz, das in Lučenec eigenständig und unabhängig von der Stadtverwaltung als einer der Sitze des slowakischen Ministeriums für Kulturund Denkmalschutz arbeitet, seien im Falle der Synagoge die Hände gebunden. Bei allen Objekten, die nicht dem Amt für Denkmalschutz selbst gehören – wie beispiels‑ weise auch die Synagoge und die beiden jüdischen Friedhöfe in Lučenec – habe man erst bei mutwilliger Beschädigung und kurz vor dem Einsturz des Objekts das Recht, einzugreifen, so Frau Pavlová. Das Amt für Denkmalschutz könne erst dann aktiv werden, wenn es von der Stadt oder dem jeweiligen Besitzer dazu beauftragt werde, beispielsweise auch, um den Wert eines Objekts und die Kosten für dessen Restauri‑ erung zu schätzen. Das sei, neben der Aufarbeitung der Geschichte und der Beurtei‑ lung des Zustands der Objekte und Projektanträge für deren Erhaltung, die Aufgabe des Amtes.
28 | Vgl. Schriftliche Stellungnahme der Firma NEO-A.V.T. an die Stadt Lučenec vom 20. Februar 2006 aus dem Archiv des Amtes für Denkmalschutz. Betreff: Das Gebäude der Synagoge.
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Während Mitarbeiterinnen bei meinen Forschungsaufenthalten in den Jahren 2008, 2011 und 2012 sämtliche dort hinterlegten Dokumente und Aktualisierungen im Fall der Synagoge mit mir durchgingen, erklärten sie mir ihre Einschätzungen zur Zukunft des Gebäudes. Dabei wurde schnell klar, dass sie den Schritt, dass die Synagoge 2002 von der Stadt an eine Privatperson verkauft worden war, als äußerst bedenklich ansahen, da sie ihn als das »Ende des Gebäudes« einstuften. Zwar steht das Gebäude noch stabil und kann nicht »einfach so« einstürzen, doch das undich‑ te Dach und die Witterung stellen durch gefrierende Feuchtigkeit insbesondere im Winter eine große Gefahr für den Bestand der Mauern dar. Aufgrund ihrer bereits gesammelten Erfahrungen rund um den Fall prophezeiten mir die Expertinnen vom Amt für Denkmalschutz auch im Jahr 2008, was ich in der Stadtverwaltung zu hören bekommen werde, wenn ich mich dort nach dem weiteren Vorgehen um die Synagoge erkundige. Vor dem Gebäude der Stadtverwaltung fiel mir zuallererst ein Fahrradständer auf, der gut sichtbar ein Abbild der Synagoge trägt. Die mittlerweile verblasste Aufschrift auf dem Metallschild lautet übersetzt: »Synagoge Lučenec« (Abbildung 11). Es gibt dazu sogar einen Artikel, der besagt, dass dieses Schild unmissverständ‑ lich jeden Touristen, der sich im Stadtzentrum befinde, auf den schrecklichen Zu‑ stand der Synagoge aufmerksam mache (vgl. Váskyová 2006). Nach dieser Entde‑ ckung war ich noch gespannter auf das folgende Interview. In der Stadtverwaltung hatte ich Gelegenheit, mit der Leiterin der Abteilung für regionale Entwicklung und unternehmerische Tätigkeiten zu sprechen. Diese erklärte mir, dass die Stadt alles für den Erhalt der Synagoge tun werde, sobald sich das Objekt wieder in ihrem Besitz be‑ finde. Dort sollten dann, ähnlich den Plänen von Herrn Hidasi, ein öffentlicher Kul‑ turraum mit Angeboten für Jugendliche und ein Gedenkpark entstehen. Dass damals der Kaufvertrag zustande gekommen ist, sei ihrer Meinung nach ein unüberlegter Schritt gewesen, allerdings sei das ja unter einem anderen Bürgermeister geschehen als dem derzeit amtierenden.29 Mehr wollte mir die städtische Mitarbeiterin damals nicht verraten. Als ich im Sommer 2011 für Nacherhebungen nach Lučenec kam, hatte ich auch Gelegenheit, mich über die neuesten Entwicklungen im Falle der Synagoge zu in‑ formieren. Sie hatte, wie mir im Amt für Denkmalschutz mitgeteilt wurde, in der Zwischenzeit wieder den Besitzer gewechselt. Mit dem Käufer, Herr Jalovecký, einem jungen Geschäftsmann aus Lučenec, konnte ich im Amt für Denkmalschutz auch ein Interview führen. Frau Pavlová hatte ihn zu einem Termin gebeten, um diverse Fra‑ gen rund um das Gebäude zu klären. Herr Jalovecký erklärte, er habe die Synagoge im Jahr 2009 nach einer Zwangsversteigerung erworben. Er hatte sie schon lange kaufen wollen, und als sie zum ersten Mal versteigert wurde, hatte er es nicht geschafft, doch bei einer zweiten Versteigerung hat ein Freund sie erhalten und ihm anschließend verkauft. Sein Ziel ist es nun, Gelder aus diversen Fonds für die Sanierung und Rekon‑ struktion der Synagoge einzuwerben. 29 | Von 2003 bis 2010 war Milan Marko Bürgermeister von Lučenec.
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Abbildung 11: Fahradständer vor dem Rathaus, fotografiert im Juli 2011
»Damit das einfach erneuert wird, damit es schön wird und so weiter. Und je mehr ich mich darum bemüht habe, diese Fonds zu bekommen, umso höhere Schäden hatte ich. Also wenn ein Mensch, ein Laie, keine Ahnung davon hat, dann denkt er, das ist kein Problem. Und je mehr man sich mit der Problematik ausein‑ andersetzt, sieht man, dass es schwieriger und schwieriger wird. Für jemand anderen wäre es vielleicht leichter – aber für mich als einfache Person ist dieser Weg verbaut.«
Herr Jalovecký hatte versucht, InvestorInnen für die Sanierung der Synagoge anzu‑ werben, doch alle sind abgesprungen. Er beantragte mit Hilfe des Amtes für Denk‑ malschutz den einmaligen Beitrag aus dem Förderprogramm des slowakischen Ministeriums für Kultur »Renovieren wir unser Haus« (vgl. Obnovme si svoj dom, Kapitel 5.1.3). Aus diesem Fonds, so Frau Pavlová, werde bis 2014 die Sanierung und Restaurierung von 200 Objekten priorisiert unterstützt. Es ist der einzige Fonds, mit dem die Regierung solche Projekte unterstützt. Es habe eine Zeit gegeben, als es hieß, dass die Sanierung der Synagoge in Lučenec nie vom Ministerium bezuschusst wer‑ den könne, da sie insgesamt zu kostenintensiv sei. Dabei sind jedoch Anträge, die beispielsweise von Interessentengruppen oder Städten gestellt werden, erfolgreicher
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als diejenigen, die von Einzelpersonen eingereicht werden. Auch Herr Jalovecký war der Meinung, dass es für die Synagoge besser wäre, wenn die Stadt ihr Eigentümer wäre. Daher habe er sich bereits um Gespräche mit der Bürgermeisterin bemüht. Die Stadt habe auch bei Anträgen von EU-Fonds bessere Chancen, so seine Einschätzung. Es sei jedoch so, dass »Kultur nie für sich und an sich selbst verdient«, wie Frau Pavlová am Beispiel der Synagoge erklärte. Denn man könnte die stetig steigenden Kosten für die Sanierung und den Umbau der Synagoge kaum wieder einwerben, selbst wenn sie einmal zu kommerziellen Zwecken genutzt wird. Das Gelände um die Synagoge herum, auf dem einst das Haus des Rabbiners stand, fällt nicht unter Denkmalschutz. Herr Jalovecký hat einen Teil davon verkauft. Wie Frau Pavlová in unserem Gespräch mit ihm bemerkte, hätten die neuen Besitzer vor, darauf eine Autowerkstatt zu errichten. Darauf reagierte Herr Jalovecký ungehal‑ ten und unterstützte die Entscheidung des Amtes für Denkmalschutz, diesen Plänen Einhalt zu gebieten. Er erzählte aber, dass ein Freund ihm geraten habe, die Synagoge abzureißen: »Also er wollte, dass ich das Gebäude abreiße und daraus Grundstücke mache. Ja, also ich habe es bereits damit gerettet, dass es nicht abgerissen wurde, be‑ ziehungsweise dass dort nicht Schritte eingeleitet wurden, die dazu geführt haben.« Das Grundstück, auf dem die Synagoge steht, ist ein sehr lukrativer Baugrund, der stetig an Wert gewinnt. Auf meinen Einwand, dass die Synagoge nicht abgerissen werden dürfe, da sie zum nationalen Kulturerbe und den denkmalgeschützten Objek‑ ten in der Stadt gehöre, sagte er: »Also man darf alles, nur sind einfach mehrere Schritte dazu nötig, um es umzusetzen. Ich wollte das [die Synagoge] ja auch erhalten. Ich bin genauso ein Lučenecer, also hat mir dieses Gebäude auch von Anfang an, von meiner Geburt an, gefallen und so weiter. Ich habe mir nur gedacht, dass es einfacher wäre, die Mittel für die Sanierung zu bekommen, ob jetzt von der Regierung oder irgendwelchen Ministerien oder der EU.«
Die Synagoge sei ein Hobby für ihn, allerdings könne er sich derzeit nicht so intensiv damit befassen. Er zahlt jährlich 600 Euro Steuern für das Gebäude an die Stadt und hat den Rasen um das Gebäude herum mähen und Sperrholz sowie die Bäume vom Dach entfernen lassen, doch mehr könne er nicht investieren. Alleine für den Erhalt der Synagoge aufzukommen, sieht er nicht als seine Lebensaufgabe. Er hatte sie mit dem Ziel gekauft, dass von Dritten in sie investiert wird. Daher würde er auch nahezu allem zustimmen, was potenzielle InvestorInnen in dem Gebäude machen wollten: »Das hängt davon ab, woher die Gelder für die Renovierung der Synagoge kommen. Wenn beispielsweise die jüdische Gemeinde, die kein Geld hat und auch gesagt hat, sie würde nichts investieren, es wollen würde, könnte trotzdem ein Teil des Gebäudes für die jüdische Kultur bestimmt sein. Beispielsweise wäre da eventuell ein Museum für jüdische Kultur möglich, eine Dauerausstellung jüdischer Kunst, ein Denkmal für die Erinnerung an die Juden, die in Lučenec gelebt haben. Ein anderer Teil wäre dann beispielsweise für Konzerte, weil das Gebäude dafür eine schöne Architektur hat. Das wären die priorisierten Ideen.«
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Die Vorsitzende der jüdischen Kommune wollte sich nicht mit mir über die Synagoge unterhalten, als ich sie darauf ansprach. Meines Wissens nach lebt in der Stadt nie‑ mand mehr, der die Synagoge aus der Zeit vor 1944 gekannt und genutzt hatte. Die Mitglieder der jüdischen Kommune, mit denen ich sprach, bedauerten zwar alle den Zustand der Synagoge, können aber nach eigenem Bekunden nichts dagegen ausrich‑ ten. Einzig Annamaria (vgl. Kapitel 6.2.2) erzählte mir, sie und ihre Tochter hätten sich engagieren wollen, aber ihre Pläne nicht umsetzen können, als die Synagoge noch im Besitz des ersten Käufers war. Herr Jalovecký fuhr fort zu erläutern, dass es für einen privaten Investor auch möglich sei, die Synagoge zu kommerziellen Zwecken zu nutzen, »beispielsweise für Geschäfte oder so. Und oben, wenn das ginge – aber das hängt davon ab, wieviel Geld investiert werden würde. Dann könnte man ein zweistöckiges Objekt daraus machen, oben für die gemeinschaftlichen Veranstaltungen, unten dann für kommerzielle Zwecke, ein Restaurant oder so. Aber es soll schön sein, mit einer Terasse und Grün. Es geht in erster Linie darum, wer Geld investiert, um den potenziellen Investor, dass es dann einfach nach seinen Visionen umgesetzt wird.«
Zwar kritisierte der junge Geschäftsmann die Idee, auf dem Gelände der Synagoge, das er selbst verkauft hatte, eine Autowerkstatt zu eröffnen, doch lässt es die Situation scheinbar nicht zu, Ideen möglicher Investoren für die Synagoge auszuschlagen: »Wenn jemand kommt und sagt, da soll eine Diskothek rein, dann denke ich, es kann von mir aus sonst et‑ was da rein. Also es geht darum: Wenn das dazu beiträgt, dass das Gebäude länger bestehen bleibt, damit es nicht einstürzt, ist alles besser als nichts. Wenn man sich das ansieht … stimmen Sie mir nicht zu?!«
Nach diesem Gespräch im Amt für Denkmalschutz hatte Herr Jalovecký einen Ter‑ min mit der Bürgermeisterin, unter anderem, um über die Synagoge zu sprechen. Bei meinem Gespräch im Sommer 2011 mit der Referentin für Kultur und Sport in der Stadtverwaltung konnte diese mir zwar zu diversen Veranstaltungen und dem städ‑ tischen kulturellen Leben etwas sagen, jedoch nichts zur Synagoge, da sie in privater Hand ist. Als ich ein Jahr später wieder im Amt für Denkmalschutz war, informierte mich Frau Pavlová darüber, dass Herr Jalovecký die Synagoge an die Firma Kobra verkauft hat, die ihren Sitz in Lučenec hat. Dass sich etwas verändert hatte, stellte ich auch fest, als ich mir die Synagoge ansah. Das Gebäude selbst ebenso wie das Grundstück rundherum war von Büschen, Bäumen und Müll befreit. Der derzeitige Besitzer hatte auch eine Security-Firma engagiert, um weitere Schäden durch Vandalismus zu ver‑ meiden, berichtete Frau Pavlová. Und am Zaun hing eine große Plastikplane mit der Aufschrift: »Zu verkaufen, zu vermieten« (Abbildung 12). Durch meine Kontakte in der Stadt wurde ich fortlaufend über die Synagoge und deren Zustand informiert. So erfuhr ich unter anderem auch, dass sie im Januar 2013 für die symbolische Summe von einem Euro von der Firma Kobra an die Stadt ver‑ kauft wurde, mit der Auflage, bis Ende des Jahres 2013 die nötigen Gelder für den
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Abbildung 12: Die Synagoge in Lučenec, fotografiert im Juli 2012
Beginn der Sanierungsarbeiten zu bekommen. Als Firma hatte es auch Kobra nicht geschafft, InvestorInnen zu akquirieren. Daher setzte man nun auf die Stadt als Ei‑ gentümerin. Die Pressesprecherin der Stadtverwaltung äußerte sich in einem Artikel der Regionalausgabe der Tageszeitung Sme vom 26. September 2012 so: »Die Stadt Lučenec hat höhere Chancen, die nötigen finanziellen Mittel für dieses Ziel zu erhal‑ ten« (Anonymus/NN/Synagoge Lučenec 2012b). In diesem Artikel ist auch die Rede davon, dass man mehrere finanzielle Quellen braucht, »um die Synagoge nach den derzeitigen Plänen zu einem multifunktionalen kulturellen und sozialen Zentrum zu gestalten« (ebd.). Ein Jahr später titelte die Regionalzeitung: »Die Synagoge verfällt immer noch, die Stadt hofft auf Euro-Fonds« (Suráková 2013). Weiter heißt es dort, die Stadt habe nur noch bis zum 31. Dezember 2013 Zeit, Gelder zu beschaffen. Falls ihr das gelingt, werde die private Gesellschaft Kobra sich mit fünf Prozent an den Re‑ staurierungs- und Sanierungskosten beteiligen. Die Gesamtsumme dafür wird mitt‑ lerweile auf über fünf Millionen Euro geschätzt. Wenn die Synagoge fertig saniert und umgebaut ist, sieht es der Vertrag zwischen der Stadt und Kobra vor, dass die Firma das Gebäude für einen Euro zurückerhält und die Stadt im Gegenzug 30 Ver‑ anstaltungen pro Jahr in der Synagoge abhalten darf. Ein Grund, weshalb Kobra die Synagoge an die Stadt überschrieben hat, sei gewesen, dass die Firma sich mit insge‑ samt 30 Prozent an den Sanierungskosten hätte beteiligen müssen, wenn sie selbst als Eigentümerin Gelder aus bestimmten Fonds bekommen hätte. Mit der Stadt als
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Eigentümerin müsste sie nur die oben genannten fünf Prozent zahlen (vgl. Suráko‑ vá 2013). Der im Vertrag gesetzte Termin hatte sich auch dieses Mal nicht einhalten lassen, er ist aber um ein weiteres Jahr verlängert worden, wie einem Artikel vom 25. Januar 2014 zu entnehmen ist. Die Stadt Lučenec bemühe sich weiterhin, Gelder einzuwerben (vgl. ebd. 2014). Vor kurzem erschien eine mehrseitige Reportage in der Sme mit der Überschrift: »Wie macht man aus einem Juwel eine Ruine? Das bringt man Ihnen in Lučenec bei.« Ferner heißt es dort: »Für die verfallende jüdischen Synagoge in Lučenec weiß keiner Rat. Die Juden haben sich für sie ver‑ schuldet, die Kommunisten haben ein Lager aus ihr gemacht, die Stadt hat sich ihrer dann entledigt, die privaten Eigentümer haben versagt. Heute ist sie wieder in den Händen der Stadt. Geschieht ein Wunder?« (Sudor 2014)
Dieses Wunder ist nötig, denn wie sich die Bürgermeisterin in dem Artikel äußerte, sei dies womöglich die letzte Chance, die Synagoge zu retten, bevor sie tatsächlich zu einer Ruine wird (vgl. ebd.). Aus einer Projektskizze für die Vorbereitung der Restaurierungs- und Umbauar‑ beiten vom Juli 2012, die von der Firma Kobra in Auftrag gegeben wurde und neben den historischen und architektonischen Daten über die Synagoge auch Informationen über den aktuellen Zustand des Gebäudes enthält, geht hervor: »Das Mauerwerk ist gegenwärtig beschädigt, vor allem in den oberen Bereichen und von der Außenseite. Die tragenden Balken der Balkone und Empore sind in den aufliegenden Teilen verfault. Die aufgehängten Deckengewölbe sind schwer beschädigt, respektive herabgefallen. Die hölzernen Elemente des Dachge‑ bälks faulen und reißen, wodurch es zur Zerstörung der Decke kommt. Neben den reparierten Teilen der Dachkonstruktion (die Hauptkuppel und eine kleine Kuppel), ist der Rest des Daches in einem katastro‑ phalen Zustand. Die Konstruktion des Bodens im Hauptsaal besteht aus Betontafeln ohne Isolierung. Der Beton ist gesprungen, an einigen Stellen eingerissen.« (Tichá/Papp 2012)
Je mehr Zeit vergeht, in der keine der dringenden Reparaturen am Dach durchgeführt werden, desto höher wird der Schaden und umso teurer und schwieriger gestalte sich schließlich die Sanierung des Gebäudes, so die Expertin aus dem Amt für Denkmal‑ schutz. Falls die Gelder für die Sanierung und den Umbau der Synagoge eingeworben werden können, soll dort ein multikulturelles Zentrum mit polyfunktionalen Räum‑ lichkeiten entstehen, so dass man den großen Saal für Tanzveranstaltungen, Theater, Lesungen und vieles mehr, nutzen kann. Dabei ist geplant, wie aus der Projektskizze für die Synagoge von 2012 hervorgeht, in jedem Fall die Außenfassade originalgetreu zu rekonstruieren und beizubehalten sowie dass »alle bestehenden Elemente bewahrt, renoviert und ihrem Ursprung entsprechend rekonstruiert werden, wo noch Frag‑ mente erhalten sind und es möglich und gegeben ist, sie zu erneuern« (Tichá/Papp 2012). Dieses Projekt wird, sollte es realisiert werden können, noch etliche Zeit in Anspruch nehmen.
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Letztendlich hat die Synagoge binnen zehn Jahren vier Mal den Besitzer gewech‑ selt, um schließlich wieder der Stadt zu gehören. In letztgenanntem Zeitungsartikel erklärt die Bürgermeisterin, dass die Synagoge eine der Dominanten der Stadt sei, die es zu erhalten gelte (vgl. Sudor 2014). Die Synagoge ist nicht nur architektonisch und aufgrund ihres Zustandes ein besonderer Ort in der Stadt. In und an ihr verbindet sich mehr als die Spuren des Verfalls und mutwilliger Zerstörung, denn sie ist neben den beiden jüdischen Friedhöfen, die eher verborgen liegen, der einzige Ort, der an die einst große jüdische Gemeinde und ihre Geschichte in der Stadt erinnert. Enst‑ prechend ist in einigen Zeitungsartikeln über die Synagoge zu lesen, dass sie »das letze Memento des Holocaust« in der Stadt und das letzte Überbleibsel des jüdischen Ghettos sei (Paučová/Puntigán 2004: 45). Wie der Kulturwissenschaftler Jörg Skrie‑ beleit feststellt, dienen »Orte […] als Medium für die Konstruktion kultureller Erinnerungsräume, die sich mit unterschiedlichen Bedeutungen und Aufladungen verbinden können. Diese Deutungen der Orte als Erinnerungsmedien oder Symbole sind wiederum abhängig von den sie umgebenden kulturellen Rahmen und gesellschaftlichen Diskursen, also von den subjektiven Erfahrungen und Haltungen der jeweiligen Gruppen von Betroffenen, Interessenten, Nutzern und Diskursbeteiligten.« (Ebd. 2005: 219)
Dieser Befund wirft in Bezug auf die Synagoge in Lučenec die Frage auf, ob und in‑ wiefern sie tatsächlich einen Erinnerungsraum in der Stadt darstellt, und wenn ja, für wen? Wie gestaltet sich also das städtische Gedächtnis in Lučenec außerhalb der Dis‑ kurse über Besitz, Finanzen, Grundstückswerte und den Bestand der Synagoge, wenn es um das jüdische Kulturerbe in Vergangenheit und Gegenwart geht?
5.2.3 D ie »Lesbarkeit« vielschichtiger Erinnerungsspuren: jüdisches Kulturerbe in Lučenec »Zwar kann erzählte und/oder gelesene Geschichte in städtischen Räumen lokalisiert werden, doch in ihrer historischen Tiefe erschließt sich die urbane Landschaft nur denen, die die Schlüssel für diese Codes kennen. Das Lesen einer Stadt ist ein aktiver Prozess, bestimmt vom Wissen um Deutung und Bedeutung.« (Binder 2009: 15)
Lesen im wörtlichen Sinne ist einer der Schlüssel, der die BürgerInnen von Lučenec auf die jüdische Geschichte ihrer Stadt verweist. Denn vor allem über die lokalen und regionalen Zeitungen wird das jüdische Leben in Vergangenheit und Gegenwart in das städtische kommunikative, soziale Gedächtnis geholt. Zunächst sollen jedoch die anderen Formen, in denen das jüdische Kulturerbe in Lučenec auftritt, beleuchtet werden. Glaubt man den Aussagen der StadtbewohnerInnen, die ich beispielsweise auf der Straße, beim Einkaufen oder abendlichen Ausgehen zur jüdischen Kommune in Lučenec befragt habe, so gibt es diese Kommune nicht. Tatsächlich sagte ausnahmslos
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jeder und jede von mir Befragte, dass ihm oder ihr niemand mehr einfalle, der sich in Lučenec zum jüdischen Glauben bekennt. Nach längerem Überlegen fiel meist der Name der ehemaligen Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, Frau Sternlicht, die im Dezember 2007 verstorben war. Zu der Beerdigung von Juraj Fischer, der als Kriegs‑ veteran etliche Auszeichnungen erhalten und so Bekanntheit erlangt hatte, sind im Mai 2008 viele internationale Besucher nach Lučenec gekommen, auch darüber wur‑ de mir berichtet. Dass seine Tochter, Frau Vajová, den Vorsitz der jüdischen Kom‑ mune von Frau Sternlicht übernommen hat, ist einigen ebenfalls bekannt. Doch viel mehr erfuhr ich nicht bei den informellen Gesprächen, die ich während meiner Feld‑ aufenthalte 2008, 2011 und 2012 im städtischen Alltag führte. Auf der Suche nach Spuren des jüdischen Lebens wurde ich unter anderem auch von meinen InterviewpartnerInnen in der Stadtverwaltung auf das Neuburger Mu‑ seum und das städtische Archiv verwiesen. Doch weder die Museumsleiterin noch die Leiterin des Archivs und ihre Mitarbeiterinnen, konnten mir weiterhelfen. Die meisten Objekte aus Lučenec, die nicht während des Zweiten Weltkriegs zerstört oder »arisiert« und entwendet wurden, werden im jüdischen Museum in Bratislava aufbe‑ wahrt. Einiges wurde auch in ungarische Archive gebracht. Lediglich Zeitungen aus den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen gaben Anhaltspunkte auf die Situation der Juden in der damaligen Tschechoslowakei.30 Im Gespräch mit den Mitarbeite‑ rinnen des Archivs konnte ich nichts außer der Geschichte der jüdischen Gemeinde bis zum Holocaust erfahren. Sie waren auch der Ansicht, dass es keine jüdische Ge‑ meinde oder Kommune mehr in Lučenec gebe. Sie wussten aber, dass sich die weni‑ gen Menschen jüdischer Abstammung, die noch in der Stadt leben, zum jährlichen Gedenktag des Holocaust treffen. Die Archivleiterin Frau Becaniová hatte 1993 eine Foto-Ausstellung über jüdische Grabsteine initiiert und geleitet. Sie hat damals, um Informationen zu bekommen, auch »von Tür zu Tür« gehen müssen und die Leu‑ te hätten sich – mit Ausnahme von Frau Sternlicht – ihrem Projekt gegenüber sehr verhalten gezeigt. Ihre Ausstellung ist bislang die einzige zu diesem Themengebiet in Lučenec gewesen. Dass es kaum Quellen und keine Objekte im städtischen Museum und Archiv dazu gibt und die meisten Gespräche über das aktive jüdische Leben mit 30 | Vgl. Kapitel 4.1.1. Es ist beispielsweise auch eine Ankündigung vom 3. Juli 1939 im Original vorhan‑ den, die alle Juden und Ausländer in der Slowakei durch das Wirtschaftsministerium auffordert, Angaben über ihre Betriebe zu machen, die daraufhin von den Nationalsozialisten konfisziert wurden. Dort ist auch festgehalten, wer laut den damals geltenden Rassengesetzen als Jude galt und unter welchen Be‑ dingungen ein Betrieb jüdisch war. Ein Plakat vom 27. Februar 1946, das die jüdische Bevölkerung von Lučenec auffordert, Fragebögen auszufüllen, die zur Erfassung der überlebenden Juden sowie deren Besitzansprüche auf ihre im Jahr 1941 konfiszierten Besitztümer dienten, ist ebenfalls vorhanden (vgl. Ankündigung 1939; Plakat 1946). Außerdem wird im städtischen Archiv das Original einer Namensliste aufbewahrt, die darüber Aufschluss gibt, wer bei der Einrichtung des Ghettos im Frühjahr 1944 in Lučenec seine dort angesiedelte Wohnung mit den jüdischen Familien tauschen sollte und diese wiederum ihre Wohnsitze mit den ärmlichen Verhältnissen der anderen Stadtbewohner. Dieses Dokument durfte aller‑ dings aus archivinternen Gründen nicht vervielfältigt werden.
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dem Holocaust endeten, lässt vermuten, dass nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich nur wenig davon außerhalb der damaligen jüdischen Gemeinde erfahrbar war. Doch auch nach 1945 gab es in Lučenec ein jüdisches Leben, was sich im Interview mit Anna, die zu den Holocaustüberlebenden gehört und nach dem Zweiten Weltkrieg nach Lučenec zog, bestätigte. Sie ist auch während des Sozialismus regelmäßig zu den Gottesdiensten ins Gebetshaus gegangen (vgl. Kapitel 6.1.2). Dass sich kaum jemand, der nicht direkt mit dem damaligen und gegenwärtigen jüdischen Leben zu tun hatte und hat, daran erinnern und es wahrnehmen kann, ist auch der Tatsache geschuldet, dass die jüdische Gemeinde eher zurückgezogen gelebt hat und die Kommune seit einigen Jahren nicht mehr öffentlich aktiv ist (vgl. Kapitel 4.1.3). Die jüdische Vergan‑ genheit und Gegenwart hat, wie es scheint, keinen Einlass in die städtische Gedächt‑ nislandschaft gefunden und liegt, bis auf die Synagoge, weit hinten im Gedächtnis‑ speicher der Stadt und ihrer BewohnerInnen verborgen (vgl. Assmann 2006a: 55 f.). Der Begriff »öffentliche Erinnerungskultur« schließt laut Gottfried Korff die ge‑ sellschaftliche Organisation geschichtlicher Erfahrung mit ein, es handle sich um die »politisch-öffentliche Produktion von historischer Erfahrung, deren Ziel es ist, aus der Vergangenheit gesellschaftliche Deutungs- und Orientierungsimpulse für die Ge‑ genwart zu beziehen und somit Geschichte symbolisch zu vergegenwärtigen« (ebd. 1991: 165). Doch genau dieser Prozess der Bewusstmachung von Vergangenheit hat in Lučenec noch nicht eingesetzt. Auch bei den Interviews in der Stadtverwaltung bestätigte sich, dass lediglich einmal im Jahr der Holocaust-Gedenktag gemeinsam mit der Vorsitzenden der jüdi‑ schen Kommune auf dem jüdischen Friedhof veranstaltet wird. Die Zusammenarbeit mit Frau Vajová sei sehr gut, wie mir die zuständige städtische Mitarbeiterin für den Bereich Kultur und Sport 2011 sagte. Die Kulturarbeit der Stadt selbst zielt insgesamt darauf ab, vor allem die histori‑ schen städtischen Traditionen zu beleben, beispielsweise im Rahmen des jährlichen Mittelaltermarktes oder eines internationalen Folklore-Festivals. Es gibt darüber hinaus Angebote für verschiedene Zielgruppen, wie Lesungen im städtischen Park für die Jüngsten, ein Programm für Jugendliche oder Sportveranstaltungen, Ausstel‑ lungen und Konzerte. Außer dem Holocaust-Gedenktag erzählte mir die Mitarbei‑ terin der Stadtverwaltung im Interview 2011 nur von einer Veranstaltung, die eine Kollegin in einer Schule über den Holocaust abgehalten hatte. Herr Puntigán, dessen Hobby seit vielen Jahren die städtische und regionale Geschichte ist, beschäftigt sich auch mit dem jüdischen Kulturerbe in Lučenec. Ihm zufolge hat sich das Angebot an kulturellen Aktivitäten und Veranstaltungen in der Stadt in den letzten Jahren et‑ was verbessert, doch sei der Umgang mit der Geschichte »jämmerlich«. Für ihn habe auf das städtische Gedächtnis auch Einfluss, dass nach dem Zweiten Weltkrieg viele Menschen nach Lučenec zugezogen sind und »die alte Geschichte nicht gekannt ha‑ ben«. Während des Sozialismus war diese und die einst vielfältige und stark durch das jüdische Leben geprägte städtische Kultur in den Hintergrund gerückt und na‑ hezu vergessen worden. Den Menschen fehle das Bewusstsein dafür, denn »die neuen Generationen, die hatten nicht die Möglichkeit, die Geschichte kennenzulernen«, so
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Puntigán. Während des Sozialismus sind zudem viele historische Gebäude der Stadt zerstört worden: »Da waren sehr viele wertvolle Gebäude. Die alte Bücherei und mehr, sie haben alles zerstört, alles. Auch wo das weiße Haus [das Gebäude der Stadtverwaltung] ist, da stand ein historisches Gebäude. Es sind Häuser an Stellen gebaut worden, wo historische Gebäude standen und herausragende Persönlichkeiten gelebt haben. Das wurde meiner Meinung nach alles künstlich gemacht, damit die historischen Tatsachen verschwinden und man sich nicht mehr an sie erinnert. Und auch wenn jemand Informationen darüber haben möchte, hat er nicht einmal die Möglichkeit dazu.«
Herr Puntigán bedauerte die Zerstörung großer Teile des historischen Stadtkerns während des Sozialismus. Auch die Mitarbeiterinnen vom Amt für Denkmalschutz erklärten, dass während dieser Zeit der Abriss von alten Gebäuden mit nötigen Sa‑ nierungsmaßnahmen begründet worden sei. Diese von Herr Puntigán dargestellte Situation des städtischen Gedächtnisverlusts kann mit Aleida Assmann auch als eine Form des »Mnemozids« als Folge des sozialistischen »Urbizids« verstanden werden.31 Erhalten sind in Lučenec vor allem die Altbauten an der Masaryková, einem Teil der Hauptstraße die überwiegend der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert entstam‑ men und mit eklektizistischen und Ornamenten des Jugendstils ausgestattet sind. Deren Fassaden wurden ab den 1990er Jahren nach und nach restauriert. Diese Ge‑ bäude zeugen auch von der Blütezeit der Stadt, die sich nach dem verheerenden Brand von 1849 zum wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum von Novohrad [Neuburg/ Nógrád] etablierte. Dies geschah auch mit Hilfe der Juden, die zahlreiche Geschäfte und Fabriken betrieben und zur wirtschaftlichen Prosperität der Stadt beitrugen (vgl. Drenko et al. 2007: 24 ff.; SNM 2010: 34). »Lučenec wurde damals das kleine Budapest oder Debrecen genannt.« Herr Puntigán erklärte, dass besonders das kulturelle Leben in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg sehr vielfältig gewesen, doch gegenwärtig davon nichts mehr spürbar sei. Am 4. Dezember 1991 sind auf Bestreben des Amtes für Denkmalschutz Lučenec die Kirchen und die Synagoge, das historische Zentrum an der Masaryková und ei‑ nige weitere Gebäude in der Stadt zur denkmalgeschützten Zone beziehungsweise zu denkmalgeschützten Objekten erklärt worden (vgl. Drenko et al. 2007: 30). Herr Puntigán ist der Meinung, dass man in Lučenec Stadtführungen für Tou‑ ristInnen anbieten sollte. Gemeinsam mit dem städtischen Informationszentrum [Mestské informačné Centrum, M.i.C.] sollen entsprechende Touren erarbeitet wer‑ den. »Dazu braucht man Leute und bestimmte Voraussetzungen, das wird geplant. Wie das in der Zukunft letztendlich aussehen wird, weiß ich nicht.« Im städtischen Informationszentrum, das seit 1993 besteht, sprach ich 2008 mit den Mitarbeiterinnen über ihre Erfahrungen mit der Kulturarbeit in der Stadt und das Interesse am jüdischen Kulturerbe. Zudem erhielt ich dort zahlreiche Broschüren 31 | Vgl. ebd. (2009: 20). Aleida Assmann bezieht sich hier auf die Schriften des Architekten Bogdan Bo‑ gdanović (1993, 1994).
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über die Stadt und Postkarten. 2011 besuchte ich das M.i.C. wieder, um mich nach Neuerungen und aktualisiertem Informationsmaterial zu erkundigen. Die Mitar‑ beiterin erzählte mir von den geplanten Stadtführungen für TouristInnen und gab mir einen Plan für die »Sightseeing tour Nr. 2, Wandering for historical Heritage of Lučenec II.« mit. Der Plan beinhaltet drei Stationen des historischen Zentrums sowie den Park. Die Synagoge ist nicht dabei (vgl. Sightseeing tour 2; M.i.C. Lučenec). Es gibt sonst keine Broschüre über die Stadt, in der die Synagoge nicht abgebildet wäre. Auf den Postkarten unterschiedlicher Größe, die mit Motiven aus dem städti‑ schen Panorama versehen sind, ist auch die Synagoge abgebildet. In den Broschüren kann man, wie oben bereits geschildert, beispielsweise lesen, dass die Synagoge zu den »Dominanten« der Stadt gehöre und ihr Panorama präge (vgl. Damjanová et al. 2006: 2). Direkt über dieser Aussage ist eine Fotografie der äußerlich gut erhaltenen Trauerhalle auf dem jüdischen Friedhof, die einen Davidstern trägt, was etwas irre‑ führend ist, da man dort eigentlich die Synagoge erwarten würde. Außerdem steht dort über die Gebäude: »Viele von ihnen fielen dem Zahn der Zeit, Geldmangel, oder auch dem Desinteresse der Zuständigen zum Opfer« (ebd.). Daneben befinden sich noch Bilder anderer, äußerlich gut erhaltener Gebäude und Kirchen der Stadt. Erst die vorletzte Seite des viersprachigen Prospekts über Denkmäler und Architektur in Lučenec ist der Synagoge gewidmet. Dort wird man über die Eckdaten der Synagoge und der ehemaligen jüdischen Gemeinde informiert, allerdings wird dort kein Wort über den Holocaust verloren. Eine Fotografie aus der Distanz von der Synagoge und ein Bild aus ihrem Inneren, das die kahlen Wände zeigt, sind auch dort enthalten (vgl. Damjanová et al. 2006: 28). Auffällig ist, dass die Synagoge in allen Broschüren und auf allen Postkarten von ihrer – falls man es so nennen kann – vorteilhaftesten Seite abgebildet ist, also entweder von der Südwest-Seite und leicht schräg, so dass der Haupteingang auf dem Bild ist, oder es ist nur der obere Teil, meist mit der mitt‑ leren und größten Kuppel – die relativ unversehrt scheint – zu sehen, und der Rest ist abgeschnitten. Beim Durchblättern einer Broschüre, die 2007 herausgegeben wurde und 2012 noch im M.i.C. auslag, fällt auf, dass die Synagoge zwar aus einer anderen Perspektive, mit eingewachsener Ostseite und der Kneipe an ihrem Fuße sowie der evangelischen Kirche daneben, fotografiert wurde, doch aus der großen Distanz lässt sich auf den ersten Blick das Ausmaß des Verfalls nicht erkennen. Dazu ist wieder die größte Kuppel fotografisch abgelichtet, die durch eine grafische Zeichnung einer der kleineren, beschädigteren Kuppeln – weiß auf dunkelblauem Hintergrund – ergänzt wurde. In einer weiteren Zeichnung dieser Art ist die Synagoge auf dieser Seite ganz dargestellt (vgl. Stieranková et al. 2007: 10; Abbildung 17). Es ist auffällig, dass die Gebäude in allen Broschüren von ihrer besten Seite gezeigt werden, auch wenn sie sich insgesamt in einem sehr desolaten Zustand befinden, wie auch das baufällige Stadtschlösschen des Grafen Szillassy (vgl. ebd.: 11). Auf Postkarten sind zum Teil ebenfalls nur Ausschnitte der Synagoge mit der Hauptkuppel abgebildet, oder sie ist aus größerer Entfernung sehr klein dargestellt. Einige Karten sind durch ein spezi‑ elles Design auf »alt« gemacht und somit sind auch die Schäden weniger prominent, wieder andere bestehen aus reinen Bleistiftzeichnungen der Synagoge (Abbildun‑
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gen 13–16). Diesem Phänomen begegnete auch Philip Bohlman bei seiner Forschung in den 1990er Jahren: »To a large degree, synagogue restoration in Slovakia is a matter of representation rather than physical renovation. Indeed, it might be said that photography itself is the most visible form of restoration, for the images of destroyed synagogues appear on many of the most frequently purchased postcards in Slovakia. On such postcards, sepia tones and horse-drawn carts create a magical world of pastness, framed by the sug‑ gestions of tolerance, as Christian churches provide a backdrop.« (Salner 1993 zit. n. Bohlmann 2000: 57 f.)
In einigen der neueren Broschüren wird man darüber informiert, dass die Synagoge »nicht zugänglich ist und auf ihre Rekonstruktion wartet« (Stieranka 2009: 8). Die Synagoge ist seit jeher ein Element auf den Postkarten und Informationsbro‑ schüren der Stadt, wie die Mitarbeiterinnen des Informationszentrums mitteilten. Auf der Website der Stadt selbst findet man unter der Rubrik »Geschichte« nichts über die der einstigen jüdischen Gemeinde. Lediglich ein Foto der Synagoge aus dem Jahre 1980 ist unter der Rubrik »historische Fotografien« zu sehen.32 Was Beate Binder für Berlin feststellt, trifft zu einem gewissen Teil auch für Lučenec zu: »Die Vermarktung von Städten, die im Hintergrund dieser Form der konservatorischen und denkmalpfle‑ gerischen Arbeit steht, hat zu einer gewissen Beliebigkeit bei der Auswahl historischer Versatzstücke ge‑ führt. Die Verschränkung von kulturellen Symbolen und unternehmerischem Kapital, wie sie mit dem Be‑ griff der symbolischen Ökonomie umrissen wird, prägt das Erscheinungsbild von Städten, die Struktur des öffentlichen Raums und das Aussehen von Straßen und Plätzen in spezifischer Weise.« (Binder 2009: 49 f.)
Die Synagoge wird als eines der wichtigsten Denkmäler im städtischen Panorama für Marketingzwecke genutzt, da sich Lučenec als das kulturelle, soziale und wirtschaft‑ liche Zentrum der Region Novohrad [Neuburg] sieht und sich sowohl mit den bereits restaurierten als auch mit den teilweise stark baufälligen Objekten als historischen Meilensteinen der Stadtarchitektur rühmt (vgl. u. a. Stieranková et al. 2007; Drenko et al. 2007). Dazu im Widerspruch steht einerseits der Zustand und der Umgang mit der Synagoge als Spekulationsobjekt und das geringe Bewusstsein der BürgerInnen für die Geschichte der Stadt, zu der das jüdische Kulturerbe gehört. Dies zeige sich unter anderem auch am Interesse der Menschen, die das kulturel‑ le Angebot in der Stadt nutzen, wie mir Kristina, die seit mehreren Jahrzehnten im kulturellen Bereich der Stadt tätig ist und dafür immer noch Veranstaltungen orga‑ nisiert, sagte. Auch die Mitarbeiterin der Stadtverwaltung erklärte zu den kulturell Interessierten: »Es ist immer so eine bestimmte Gruppe, die zu solchen Veranstaltun‑ gen kommt.« Ebenso gebe es, wie mir die Gymnasiallehrerin aus Lučenec bei unserem Interview gesagt hatte, außer ihr niemanden in der Stadt, der sich für die Vermittlung des Holocaust an die Kinder und Jugendlichen durch das Holocaust-Dokumentati‑ 32 | Diese Seiten wurden seit Januar 2009 auch nicht aktualisiert (vgl. Lučenec/Website/Geschichte; Lučenec/Website/historische Fotografien).
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Abbildung 13: Postkarte aus dem MiC Lučenec, herausgegeben von der Agentur ES (2008)
Abbildung 14: Postkarte aus dem MiC Lučenec, gezeichnet von I. Beník, herausgegeben von DH Grafika (keine Jahresangabe)
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Abbildung 15: Postkarte aus dem MiC Lučenec, herausgegeben von der Agentur ES (2008)
Abbildung 16: Postkarte aus dem MiC Lučenec, herausgegeben von der Agentur ES (2008)
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Abbildung 17: Broschüre »Das Herz von Novohrad« aus dem MiC Lučenec, herausgegeben von Stieranková (2007: 10)
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onszentrum (DSH) ausbilden lasse oder sich dafür interessiere (vgl. Kapitel 4.1.4). Außer einem öffentlich vorgestellten Projekt, das sie vor einigen Jahren mit ihren SchülerInnen zur Geschichte der jüdischen Gemeinde und des Holocaust in Lučenec initiiert hatte, gibt es keine anderen Veranstaltungen dieser Art. Um auf die eingangs angesprochene »Lesbarkeit« des jüdischen Kulturerbes in Lučenec zurückzukommen, soll nun ein Blick in die Zeitungen geworfen werden. Im Archiv der Novohradské Noviny/My [Neuburger Zeitung/Wir] habe ich die Bericht‑ erstattung auf Themen rund um die jüdische Gemeinde und Kultur untersucht. Die meisten der Berichte handelten vom Schicksal der Juden in der Slowakei, worüber bei‑ spielsweise anlässlich des Holocaust-Gedenktages berichtet wurde. Dazwischen fan‑ den sich auch noch ZeitzeugInnenberichte und Artikel zu Beerdigungen, wie die be‑ reits genannten von Herrn Fischer oder Frau Sternlicht (vgl. Anonymus/NN/Fischer 2007: 2; Anonymus/NN/Sternlicht 2008: 17). Schlagzeilen lauteten zum Beispiel: »Der Holocaust ist ein Dorn in der Ferse der Slowakei«, »Wir haben das Konzentrationsla‑ ger Auschwitz besucht. Den größten Friedhof der Welt« oder »Die Geschichte eines Menschen, der den Holocaust überlebt hat« (vgl. Rapco 2007: 5; Koštálová 2007: 4; Mihály 2008: 3). Der Stellenwert jüdischer Themen in den lokalen Medien ist, wie mir von einer Redakteurin der Zeitung 2008 bestätigt wurde, nicht sonderlich groß. Es wird eben nur zu besonderen Anlässen wie Gedenkfeiern, Beerdigungen bekannterer Personen oder wichtigen Jahrestagen berichtet. Die Berichterstattung zielt dabei auf historische Fakten ab, die je nach Themenlage unterschiedlich stark dramatisch un‑ terlegt sind: »Der Krieg war schrecklich! Emilia Korimová: Ich bete, dass niemand auf der Welt noch einmal so ein Grauen erlebt« oder »Das Lager Mauthausen war eine Fa‑ brik des Todes« (vgl. Suráková 2007: 8; 2008: 4). Man habe sich mit der Berichterstat‑ tung an die Interessen der Leserschaft angepasst, so die Redakteurin. Anlässlich des jährlichen Holocaust-Gedenktages erscheinen beispielsweise Schlagzeilen wie: »In Lučenec gibt es zwei jüdische Friedhöfe« (vgl. Suráková/Rapco 2007: 2). Dem Thema wurde in der Ausgabe eine ganze Seite und die halbe Titelseite gewidmet. Auch hier wurden überwiegend Fotografien von den noch einigermaßen gut erhaltenen Stellen und Gräbern auf dem jüdischen Friedhof gemacht, der 1871 von der neologischen Gemeinde angelegt wurde (vgl. ebd.; SNM 2010: 33). Den jüdischen Friedhof kann man an zwei Tagen in der Woche vormittags be‑ suchen. Als ich bei meinem Forschungsaufenthalt 2008 den langen, von Bäumen ge‑ säumten Weg vom Friedhofstor auf das Trauerhaus zuging, hatte ich das Gefühl, eine andere Welt zu betreten und Lučenec Schritt für Schritt hinter mir zu lassen. Neben dem Trauerhaus führt ein unbefestigter Weg durch ein rostiges Tor auf den eigentlichen Friedhof. Das erste Grab, das einzeln steht, ist das neueste, das von Frau Vajovás Vater. Dies hatte sie mir selbst ver‑ raten, denn es sei »ein schönes, modernes Grab, unverkennbar«. Dahinter stehen nach einem Stück länger nicht mehr gemähtem Rasen die ersten alten Grabsteine. Die Fläche ist in zwei Hälften unterteilt, in der Mitte verläuft ein überwachsener Kiesweg. Rechts und links davon stehen zwischen hochgewachsenen Bäumen und Sträuchern die Gräber. Manche der Sträucher wachsen auch aus den Gräbern heraus, haben die Grabplatten aufgebrochen und mit ihren Ästen und Blättern überwuchert. Mir bot sich, je weiter ich
234 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 den Weg entlangging, ein bedrückendes Bild. Zahlreiche Grabsteine standen schief, wenn sie nicht schon komplett umgestürzt oder in der Mitte abgebrochen waren. Dazwischen fand sich auch immer wieder etwas Müll. Das Alter der Gräber ließ sich sowohl an der Beschaffenheit der Steine als auch teilweise an‑ hand der Grabinschriften ablesen. Es gab dort auch die mächtigen, über drei Meter hohen Grabsteine und Obelisken aus schwarzem Marmor mit goldenen Inschriften. Die meisten von ihnen stammen aus der Blü‑ tezeit der jüdischen Gemeinde in der Stadt im ausgehenden 19. Jahrhundert und der Zwischenkriegszeit. Die größten Gräber sind die der reichen Unternehmerfamilien. Dieser Friedhof hat nur selten Besucher. Das sieht man unter anderem daran, dass auf keinem der Gräber die kleinen Haufen von Steinen liegen, die man bei seinem Besuch an Stelle von Blumen auf ein jüdisches Grab legt. Diese liegen außer am Ho‑ locaust-Mahnmal vor der Leichenhalle nur auf dem Grab von Herrn Fischer, der kürzlich beerdigt wurde. So ist auch der jüdische Friedhof ein Ort, der viel über die Gegenwart und Vergangenheit des jüdischen Lebens in der Stadt verrät. Einerseits geben die Grabsteine Aufschluss über die einstige Prosperität und den Reichtum vieler jüdischer Bewohner in der Stadt, manche der deutschen, ungarischen, hebräischen und slowakischen Inschriften verraten viel über die verstorbene Person und ihre Familie. Dass nach 1945 und auch in den darauffolgenden Jahrzehnten nur wenige beziehungsweise immer weniger Gräber ange‑ legt wurden, zeigt die Spuren des Holocaust und des Sozialismus und die einer immer kleiner werdenden Gemeinde. Der Zustand des einsam gelegenen Friedhofs, der, wie es scheint, durch seine hohe Backstein‑ mauer und den langen Weg zur Straße von der Außenwelt und der Stadt abgeschnitten ist, bildet die Gegenwart der jüdischen Kommune ab. Keine Kerzen, Blumen oder Steine liegen auf den Gräbern. Aller‑ dings gibt es einen Friedhofswärter, der regelmäßig den Rasen mäht und mit seinem Hund den Friedhof bewacht, wie mir Frau Vajová gesagt hatte. (Eintrag aus dem Feldtagebuch vom Juli 2008)
Der ältere jüdische Friedhof befindet sich unweit des anderen, auf einem kleineren Areal direkt an der Mocsaryho Straße. Er wurde 1823 von der damaligen orthodoxen Gemeinde angelegt und ist heute zur Rechten und zur Linken von Privatgrundstü‑ cken umgeben. Dass dieses Areal, in dem man zwischen Gras, Gestrüpp und stellen‑ weise Unrat noch Gräber erkennen kann, zur jüdischen Gemeinde gehört, ließ sich vor allem aufgrund eines kleinen Schildes am Zaun ausmachen, das Frau Vajová kurz zuvor hatte anbringen lassen, wie sie mir im Juli 2008 erzählte. 2011 war der Friedhof gereinigt und das Gras gemäht. Zufällig traf ich dort den Mann, dem das Grundstück direkt neben dem Friedhof gehört. Sein Gemüsegarten schließt direkt an ihn an. Er erzählte mir, dass der Friedhof in den 1960er Jahren, als er sein Grundstück daneben erworben hatte, unter Müllbergen versunken sei. Im Verhältnis dazu sehe der Fried‑ hof heute gut aus. Lučenec ist kein Einzelfall, was den Zustand der Friedhöfe und Synagogen – falls noch existent – betrifft. Tomáš Stern, der sich für das jüdische Kulturerbe in der Slo‑ wakei einsetzt, diagnostiziert in seinem Artikel über jüdische Friedhöfe in der Slowa‑ kei auf selbigen landesweiten Verfall und mutwillige Zerstörung. Es gab circa 600 bis 700 jüdische Friedhöfe in der Slowakei, von denen die wenigsten noch als solche er‑ kennbar sind. Wie die Synagogen seien sie umfunktioniert worden, zu tatsächlichen Müllkippen, zu Fußball- oder Kinderspielplätzen, zu katholischen Friedhöfen oder zu Baugrund. Auch für die Grabsteine findet sich mannigfaltige Verwendung, bei‑
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Abbildung 18: Der alte jüdische Friedhof in Lučenec an der Mocsaryho Straße, fotografiert im Juli 2011
spielsweise als Feuerstellen auf Campingplätzen oder als Baumaterial. Dort, wo nicht Menschen die Friedhöfe zerstörten, tue die Natur seit Jahrzehnten ihr Übriges, so Stern (vgl. ebd. 1998: 38). Dabei ist jedoch auch zu bedenken, dass mancherorts in der Slowakei jüdische Friedhöfe auch von AnwohnerInnen oder SchülerInnen gereinigt wurden, wie mir in Košice erzählt wurde. Darüber wird auch regelmäßig in Zeitun‑ gen berichtet (vgl. Zigová 2012). Über die jüdischen Friedhöfe in Lučenec findet man allerdings, ähnlich wie auch über die jüdische Kommune, selten etwas in den Medien. Beobachtet man die Be‑ richterstattung der regionalen und überregionalen Zeitungen in den letzten Jahren, fällt jedoch auf, dass es in den vereinzelten Beiträgen vor allem um die Synagoge geht. Der Diskurs um den Erhalt der Synagoge lässt sich mitverfolgen, wie neben den oben bereits genannten auch diese Schlagzeilen verdeutlichen: »Die Synagoge in Lučenec wartet auf ihre Rettung«, »Die Stadt hat die Synagoge verkauft, jetzt will sie sie zurück haben« oder »Für die Reparaturen an der Synagoge will die Stadt fast 2,5 Millionen Euro aus Euro-Fonds« (vgl. Fajčíková 2007; Anonymus/NN/Synagoge Lučenec 2012a; Anonymus/NN/Synagoge Lučenec 2014). Letztendlich ist es gerade dieses »widerspenstige Gebäude«, das vor allem in den letzten Jahren in den lokalen und nationalen Medien von sich Reden machte. In jeder der mehr oder weniger ausführlichen Reportagen dazu ist auch die einstige jüdische
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Gemeinde und ihr materielles sowie immaterielles Kulturerbe in der Stadt erwähnt worden. Im Gegensatz zur gegenwärtigen jüdischen Kommune, über die außer zum jährlichen Holocaustgedenktag im Juni kaum noch eigens berichtet wird, ist die Sy‑ nagoge also Dreh- und Angelpunkt, um den sich das fragile kommunikative bezie‑ hungsweise soziale Gedächtnis der LeserInnen aufspannt. Durch die hier dargestellten Diskurse, die sich seit nunmehr über zwölf Jahren um die neologische Synagoge in Lučenec generieren, gerät das jüdische materielle und auch immaterielle Kulturerbe nicht nur über die lokalen und zwischenzeitlich auch nationalen Medien ins Bewusstsein der Menschen. In Lučenec dominiert das Gebäu‑ de im städtischen Panorama, es ist eines der Wahrzeichen der Stadt, das vieles über die wechselvolle und tragische Geschichte der jüdischen Gemeinde in dem Städtchen, aber auch über dessen Geschichte selbst aussagt (vgl. Kapitel 4.1). Durch die Medien, die Bemühungen einzelner BürgerInnen und deren Initiativen zum Erhalt der Synagoge und gegenwärtig auch durch die Bestrebungen der Stadt‑ verwaltung, national und international Gelder für ihre Sanierung einzuwerben, wird die Erinnerung an die jüdische Geschichte und Gegenwart auch außerhalb der städ‑ tischen Grenzen dargestellt (vgl. Levy/Sznaider 155 ff.). Doch ein kosmopolitisches Gedächtnis im Sinne der beiden Soziologen hat sich hier über das jüdische Kulturerbe nicht etabliert, denn es gibt über die meist temporär begrenzten Bemühungen um die Synagoge kaum aktive trans- und internationale Kontakte, auch nicht von Mitglie‑ dern der jüdischen Kommune. Die eingangs mit Beate Binder angesprochenen Codes, die zum Verständnis der städtischen und der jüdischen Geschichte in Lučenec nötig sind, sind erst mit dem dazu nötigen Wissen um die Hintergründe der jüdischen Geschichte verfügbar. Denn »[d]ie entkörperten und zeitlich entfristeten Inhalte des kulturellen Gedächtnisses müssen […] immer wieder neu mit lebendigen Gedächtnissen verkoppelt und von diesen angeeignet werden«, so Aleida Assmann (ebd. 2006a: 34). Diese Verkoppelung und Aneignung steht in Lučenec noch aus. Die auch in Kapitel 4.1.4 und 4.2.3 dar‑ gestellte Situation der Aufarbeitung des Holocaust und der kritischen Reflexion der Lokalgeschichte ist einer der Belege dafür. Die städtische Gedächtnislandschaft weist somit zahlreiche Lücken auf, die in Verbindung mit der Synagoge als Erinnerungsort alleine nicht gefüllt werden können. Dabei spielt auch der Wandel des städtischen Raumes eine Rolle, bei dem man nach der politischen Zäsur 1989 erst einmal auf die Modernisierung der Kleinstadt setzte. Die Anthropologin Daphne Berdahl spricht von »Landscapes of Transition«, die sich seit 1989 über das östliche Europa erstrecken. Sie sind – wie beispielsweise auch in Lučenec – von überdimensionalen Werbetafeln für Produkte aus dem Westen, die man kurz vor dem Ortsschild an der Landstraße sieht, oder von großen Kaufhäu‑ sern und ganzen Geschäfts-Blöcken, von denen in Lučenec bereits einige vorhanden sind, und Baustellen, an denen neue Wohnblocks entstehen und alte Plattenbauten energietechnisch aufgewertet werden, gekennzeichnet.
Zwischen Erinnern und Vergessen: Jüdisches Kulturerbe | 237 »The unfolding landscapes of Eastern Europe do not merely mirror transition, but […] they are them‑ selves important and multilayered symbols of change and continuity. Landscape, in this sense, may be viewed as a social process, reflecting and constituting depictions of rapid change in the apparent stability of place.« (Berdahl 2000: 6)
In Lučenec ist beispielsweise das Kongresszentrum mit seinen beiden Wolkenkrat‑ zern, die man schon von Weitem sieht, ein Symbol für die Stadt als prosperierendem Wirtschaftsstandort (vgl. Drenko et al. 2007: 62 ff.). Die »moderne Architektur« die‑ ser beiden Türme, die unmittelbar an die alte Stadthalle und das historische Zentrum mit dem alten Marktplatz angegliedert sind, steht in starkem Kontrast zu diesem Um‑ feld (vgl. ebd. 68f.; Stieranková 2007: 14 f.). Wolfgang Benz schreibt, dass es im Kontext des kollektiven Erinnerns und öffent‑ lichen Gedenkens notwendig sei, darüber nachzudenken, wie authentisch der histo‑ rische Ort im wachsenden Abstand zu den Ereignissen ist, angesichts oft jahrzehn‑ telanger Überformung und der Notwendigkeit konservatorischer Maßnahmen (vgl. Benz 2005: 198). Die Pläne zur Restaurierung der Synagoge schließen diese Gedanken zur Authentizität des Ortes mit ein. Doch erst wenn sie umgesetzt werden können, würde es ein kollektives Erinnern und Gedenken geben. Die Synagoge wie sie jetzt ist, dient für viele der BewohnerInnen nicht als Ort des Gedenkens oder Erinnerns in der Stadt, da sie selbst keine persönlichen Erfahrungen mit ihr verbinden. Daher bedarf es, wie Philip Bohlmann feststellt, bei der Restaurierung einer Syn‑ agoge im östlichen Europa mehr als ihrer reinen Reparatur: »But synagogue restoration in Eastern Europe is not truly about plaster and drywall. It is about restoring the past by connecting it to the present. Such continuity, such processes of transition, however, cannot be undertaken effectively. The historical disjuncture is too great. It is, nonetheless, precisely this historical disjuncture that can be sutured and repaired, if not restored.« (Bohlmann 2000: 68 f.)
Aleida Assmann zufolge befestigen »Monumente und Denkmäler, Jahrestage und Riten […] Erinnerung transgenerationell durch materielle Zeichen oder periodische Wiederholung. Sie bieten damit Anlässe für spätere Generationen, ohne eigenen Erfahrungsbezug in eine gemeinsame Erinnerung hineinzuwachsen« (ebd. 2006a: 35). Da jedoch in Lučenec die Erinnerung an die jüdische Vergangenheit und das Bewusstsein für die Gegenwart der Kommune und das kulturelle Erbe sehr fragmen‑ tarisch ist, müsste die Synagoge zunächst saniert und restauriert werden, damit sie von Menschen genutzt und mit persönlichen Erinnerungen verbunden werden kann. Indem in ihr nicht nur ein multikulturelles Zentrum für diverse Veranstaltungen ent‑ stehen soll, sondern dort auch ein Teil der Geschichte der Juden in der Stadt und der Region ausgestellt werden könnte, könnte sie dann auch als Erinnerungsort fungie‑ ren, der auch tieferliegende Schichten des kulturellen Gedächtnis reaktivieren würde. Erst indem sie nutzbar gemacht wird, könnten Menschen wieder individuelle Bezie‑ hungen zu diesem Ort aufbauen und sich darüber auch dessen Geschichte bewusst machen. Da das – wenn überhaupt – erst nach einigen Jahren oder Jahrzehnten des
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Umbaus und der Sanierung geschehen könnte, liegt hier eine große Gedächtnislücke vor. Damit wäre die Synagoge im wahrsten Sinne des Wortes auch ein Beispiel dafür, dass kulturelles Erbe nicht ist – sondern gemacht wird (vgl. Bendix et al. 2007: 9). Die (nutzbar gemachte) Synagoge kann somit als symbolische Brücke in der städtischen Gedächtnislandschaft gesehen werden, die über den Gedächtnislücken aufgespannt wird und die Gegenwart mit der Vergangenheit verknüpft. Denn laut Beate Binder kann »[e]rst das ›wahrnehmende Auge‹, eingebunden in ein System von Deutungen und Bedeutungen und damit in individuelle wie kollektive Sinnstiftungen und Iden‑ titätskonstruktionen, […] dem Überlieferten wie Neugebauten auch Bedeutung und historische Tiefe geben« (ebd. 2009: 15).
5.3 K onfligierende Palimpseste »Erinnerung ist für den Einzelnen wie für die Gesellschaft, in der er lebt, Teil der Selbstvergewisserung, Teil der Identität und, wie das Vergessen, notwendig für alle menschliche Existenz. Erinnerung stiftet Selbstbewusstsein und Frieden, Erinnerung quält aber auch und ist schmerzhaft. Zeichen und Rituale sind hilfreich, um aus Erinnerung Sinn zu stiften für Mitlebende und Nachgeborene, um Erinnerung öffentlich zu machen.« (Benz 2005: 197)
Dieses Zitat von Wolfgang Benz umreisst ziemlich genau das Spektrum, in dem Erin‑ nerungen in diesem Kapitel eine Rolle spielen. Wie sich gezeigt hat, sind Košice und Lučenec zwei Städte mit einer weit zurückreichenden und wechselvollen Geschichte, die insbesondere seit dem 19. Jahrhundert auch stark durch die jüdische Bevölkerung geprägt wurde. Mit Blick auf die bislang nur fragmentarisch aufgearbeitete Vergan‑ genheit wurde auch deutlich, dass beide Städte ihre Geschichte und deren Bedeutung für die Zukunft erst vor wenigen Jahren entdeckten. Dem Historiker Rudolf Jaworski zufolge haben »[a]lle Länder Osteuropas […] mit mehrfachen Brüchen und spürbaren Diskontinuitäten in ihrer Ge‑ schichte zu kämpfen, die vor allem durch wiederholte Fremdbestimmung aber auch durch notorische Nachbarschaftskonflikte verursacht wurden. Historische Erfahrungs- und Erinnerungsräume konnten sich darum in diesem Teil Europas fast nirgendwo als stabile und selbstverständliche Referenzrahmen etablieren. Kollektives Erinnern war hier stets mit Hindernissen und mit Unterbrechungen verbunden.« (Jaworski 2003: 14)
Diese »Unterbrechungen« oder Brüche zeichnen sich, wie anhand des jüdischen Kultu‑ rerbes gezeigt wurde, auch im städtischen Raum ab. Dieser ist geprägt von Orten, die zahlreiche Erinnerungen an die Vergangenheit, aber auch Spuren der Gegenwart ihrer BewohnerInnen tragen. Wenn man mit Rolf Lindner die Stadt »als von Geschichte und Geschichten durchtränkte[n], kulturell kodierte[n] Raum« begreift, so sind Košice und Lučenec voll der Narrative, die sich ihren »Lesern«, »Beobachtern« und »Zuhörern« auf verschiedenste Weise darbieten (Lindner 2008b: 86; vgl. Kapitel 2.1.5).
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Um die nötigen Codes zu erlangen, die man benötigt, um die jeweiligen Erinne‑ rungslandschaften zu entschlüsseln, braucht man Wissen. Dieses Wissen schließt die Aufarbeitung der Geschichte mit ein, denn nach Aleida Assmann können »[d]ie authentischen historischen Orte […] als begehbare Geschichtsbücher aufgefasst werden, zu denen freilich der jeweilige Text immer erst noch geschrieben werden muss in Form von Plaketten, historischen Informationen und optischen Inszenierungen, und dieser Text kann auch gleich noch die Geschichte des Vergessens und Erinnerns an diesem Ort mit umfassen.« (Assmann 2012a: 37 f.)
Eine neue Wahrnehmung jüdischer Geschichte und Räume hat nach 1989 im östli‑ chen Europa – in unterschiedlichem Maße und auf verschiede Weise – eingesetzt. »Last but not least, the events of 1989 have led to a new awareness of Jewish space and Jewish places in Central and Eastern Europe, which have by now become the test case for a Europe that is historically conscious, diverse, and inclusive. Whereas the Cold War promulgated strong homogenizing dynamics and strengthened the (self-) perception of monolitic, clearly demarcated European nation states on both sides of the Iron Curtain, the changes initiated by its fall in 1989 led to a change of perspective which allowed many to rediscover European diversity, historical interconnectedness, and transnational dynamics.« (Brauch et al. 2008: 14)
Wenn man also um die jüdische Vergangenheit in der Stadt weiß, kann man beispiels‑ weise an der neologischen Synagoge und den jüdischen Friedhöfen in Lučenec die Geschichte der Gemeinde ab ihrer Blütezeit bis hin zum Holocaust und Sozialismus ablesen, aber auch Schlüsse über die Gegenwart der seit Jahren immer kleiner wer‑ denden, gegenwärtig kaum aktiven Kommune ziehen. So verwundert es bei einge‑ hender Betrachtung der Situation nicht, dass es gerade die neologische Synagoge ist, die inmitten von mehrfachen Besitzerwechseln, als Konkursmasse und permanent von Verfall bedrohtes Spekulationsobjekt, immer wieder in der Presse von sich reden macht und sich sprichwörtlich in Erinnerung ruft. Im Gegensatz dazu schweigt die lokale jüdische Kommune. Ähnliches bietet einem auch das materielle Erbe der jüdischen Gemeinde in Košice, wo sich in viele der Gebäude in der Innenstadt ihre Spuren eingeschrieben haben. Nachdem ein Teil der Gebäude in den 1990er Jahren restitutiert wurde, sah sich die Gemeinde in Košice vor allem mit hohen Ausgaben für ihren Erhalt und mit der Frage nach der Nutzung dieser Räume konfrontiert. Diese Erinnerungsorte wur‑ den zum Teil verkauft, um die Reparaturen anderer zu finanzieren, wobei, wie ge‑ zeigt wurde, auch die Reparaturen nicht entsprechend der Vorgaben des Amtes für Denkmalschutz und somit auch nicht die optimale Lösung für die Gebäude waren. Passend dazu stellte Philip Bohlmann fest: »[…] the narratives of Eastern European synagogues are those of disjuncture and fragmentation. The histories and stories of synagogues in the 1990s do not fit together neatly, not least because of the problem of ›doing something,‹ of recovering the narrative voice« (ebd. 2000: 47).
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Wie sich gezeigt hat, lassen sich sowohl die Beschaffenheit der städtischen Ge‑ dächtnislandschaften als auch die Situation der jüdischen Gemeinde und Kommune am Umgang mit ihrem materiellen Kulturerbe ablesen. Heute sind jedoch nicht nur die Spuren der Zerstörung an den Gebäuden erkennbar, sondern auch die des Verfalls aufgrund mangelnder Instandhaltung und Pflege. Die Nutzung und der Umgang mit dem materiellen jüdischen Kulturerbe geht einher mit der Größe und Aktivität der Gemeinde. Diese ist nach dem Aufschwung in den 1990er Jahren durch die altern‑ den Mitglieder mittlerweile wieder rückläufig. Parallel dazu scheint gerade jetzt die Stadt das jüdische Kulturerbe als effektives Instrument des Stadtmarketings für sich entdeckt zu haben. Diese Praktiken erinnern sowohl in Košice, als auch in Lučenec im Ansatz an das von Ruth Ellen Gruber als »virtually Jewish« benannte Phänomen: »In a trend that developed with powerful momentum in the 1980s and accrued particular force after the fall of communism in 1989–90, Europeans […] have stretched open their arms to embrace a Jewish component back into the social, political, historical and cultural mainstream« (Gruber 2002: 4). Gruber erkennt eine Ironie darin, denn die Geschichte der Juden sei nach dem Zweiten Weltkrieg marginalisiert und unterdrückt worden, sowohl in Ländern, in denen sich der Holocaust zugetragen hatte, als auch in denjeni‑ gen, die weniger davon betroffen waren (vgl. ebd.: 5). »Jews, their culture, and their history were often viewed as something distinctly apart, off-limits; even the Holocaust was regarded as an internal ›Jewish thing,‹ detached from the general flow of national history and national memory. In eastern Europe communist ideology made the extermination of the Jews and the world that was destroyed with them a footnote to the overall suffering in World War II […] By the late 1990s ›the Jewish phenomenon‹ – anything to do with Judaism, Jews, the Holocaust, and Israel – was increasingly recognized as a part of the official policy. […] As a part of this trend, Jewish culture – or what passes for Jewish culture, or what is perceived or defined as Jewish culture – has become a visible and sometimes highly visible component of the popular public domain in countries where Jews them‑ selves now are practically invisible.« (Ebd.)
Der Trend in Košice ist nicht mit dem in Prag oder in Budapest zu vergleichen, wo es zusätzlich zur touristischen Destination, zu der die jüdischen Viertel geworden sind, auch ein aktives jüdisches Gemeindeleben gibt. Auch sind die Formen der Inszenie‑ rung des Jüdischen bei weitem nicht vergleichbar. Falls jedoch die jüdische Gemeinde in Košice, wie mir von Beginn meiner Forschung an prophezeit wurde, tatsächlich »aussterben« sollte, so blieben von ihr lediglich die Gebäude und Synagogen in der Stadt zurück. Gegenwärtig gibt es noch regelmäßig Veranstaltungen der jüdischen Vereine, zu denen auch die Öffentlichkeit in der Stadt eingeladen wird. Allerdings wird die Gemeinde von einem Teil der Befragten als eher zurückgezogen wahrge‑ nommen. Sowohl in Lučenec, wo nur noch wenige Juden leben und an den informellen Tref‑ fen der Kommune durchschnittlich nur ungefähr fünf Personen teilnehmen, als auch in Košice, wo die jüdische Gemeinde zwar zahlenmäßig stärker, aber auch kein per‑
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manenter Bestandteil im städtischen Funktionsgedächtnis ist, drängt sich daher die These des »virtuell Jüdischen« von Ruth Ellen Gruber auf (vgl. Gruber 2002). Denn beide Städte vermarkten sich nach außen hin vor allem mit dem materiellen jüdischen Kulturererbe. Alena Heitlinger zufolge muss dabei jedoch Folgendes beachtet werden: »Using Jewish heritage sites for tourism and as a municipal economic development strategy raises dif‑ ficult questions about authenticity and representation, and about the balances between education and remembrance and public and private funding. There is also the issue of the extent to which Holocaust sites and museums differ from other tourist attractions.« (Ebd. 2006: 148)
Obwohl es in Košice seit der politischen Zäsur 1989 eine regelmäßige Berichterstat‑ tung in den lokalen und regionalen Medien über die Belange der jüdischen Gemeinde und deren Gebäude gibt und diese im Stadtzentrum auch durch ihre Architektur do‑ minieren, wussten viele Menschen, die ich in informellen Gesprächen dazu befragt habe, nichts über das jüdische Kulturerbe. Mit Aleida Assmann lässt sich zusammen‑ fassen, dass das jüdische Kulturerbe für einen Teil der Stadtbevölkerung im aktuellen, präsenten Funktionsgedächtnis, für die Mehrheit aber im unbewussten, kaum zu‑ gänglichen Erinnerungsarchiv des latenten Speichergedächtnisses verhaftet ist (ebd. 2006a: 56). Denn »[o]bwohl im Stadtraum alles gleichzeitig anwesend ist, heißt das jedoch keineswegs, dass jeweils alle Schichten auch gleichzeitig wahrgenommen wer‑ den und im Bewusstsein präsent sind« (ebd. 2009: 19). Laut Beate Binder liegen »Gedenk- und Gedächtnisorte, Relikte und Spuren der nahen und fernen Vergangenheit […] im urbanen Raum dicht beieinander und sind eng miteinander verwoben. Stadtlandschaften sind wie Palimpseste, auf deren Ober‑ fläche sich Zeichen überlagern, sich kreuzen und miteinander kommunizieren« (ebd. 2009: 15). Mir hat sich in Košice und Lučenec das Bild zweier Städte offenbart, die nach den repressiven Regimen der Vergangenheit mit ihrem jüdischen Kulturerbe erst allmäh‑ lich umgehen lernen. Dies bildet sich vor allem in »konfligierenden Palimpsesten« ab, die von den Erbstreitigkeiten um die Gebäude zwischen Stadt und jüdischer Gemein‑ de sowie den schwierigen Resititutions- und Restaurierungsprozessen der Synagogen und letztendlich auch von ihrem Verfall erzählen. Dabei verlaufen diese Diskurse quer zur Etablierung der kulturellen Gedächtnislandschaft der Städte, die sich mit dem jüdischen Erbe bewerben. Denn »[d]er Ort ist all das, was man an ihm sucht, was man von ihm weiß, was man mit ihm verbindet. So gegenständlich konkret er ist, so vielfältig präsentiert er sich in den unterschiedlichen Perspektivierungen« (Assmann 2006a: 225). Diese Diskurse der Gegenwart vermischen sich mit den divergierenden, zum Teil traumatischen Erinnerungen der jüdischen Gemeinde und der AkteurInnen, die so‑ wohl privat als auch innerhalb der Gemeinde ihre Strategien im Umgang mit ihrer jüdischen Identität aushandeln. Unter anderem um diese Strategien soll es im Fol‑ genden gehen.
6 » New Jewish Identities«? Perspektiven auf individuelle Lebens- und Erfahrungswelten Die hier gewählte Überschrift rekurriert auf den im Jahre 2003 erschienenen Ta‑ gungsband »New Jewish Identities: Contemporary Europe and Beyond« (Gitelman et al. 2003). Die AutorInnen beschäftigten sich vor über zehn Jahren interdisziplinär und im internationalen Rahmen mit jüdischen Identitäten nach dem Zusammen‑ bruch des Sozialismus. In einer einleitenden Zusammenfassung der Beiträge stellen die Herausgeber fest, dass es generell eine geringere Nachfrage kollektiv-gemeindli‑ cher Ansprüche an einzelne Juden gebe. Damit einher gehe ein Trend in Richtung Individualisierung und dahin, dass jeweils eine Auswahl einzelner Aspekte der jüdi‑ schen Traditionen getroffen werde, die man in seinem Leben bewahren wolle. Zudem gebe es weniger religiöses Engagement oder letztendlich auch tatsächliches Prakti‑ zieren des Jüdischen, obgleich diesbezüglich signifikante Unterschiede zwischen den Generationen zu berücksichtigen seien. Auch die Frage danach, wer in die jüdische Gemeinde aufgenommen werde und wer nicht, habe im Sinne von Abgrenzungsfra‑ gen besonders im Zuge steigender Zahlen von »Mischehen« auffällig zugenommen (vgl. Gitelman et al. 2003: 3). Die bisher aufgezeigten Rahmen und Entwicklungslinien, in denen sich jüdisches Leben in Košice und Lučenec bewegt, lassen darauf schließen, dass einige der Ergeb‑ nisse dieser Studien von Gitelman und KollegInnen auch für Charakteristika meines Feldes sprechen. Um jedoch ein detaillierteres Bild jüdischer Lebenswelten zu erhal‑ ten, sollen im Folgenden zehn AkteurInnen aus verschiedenen Generationen zu Wort kommen. Über die in Interviews gewonnenen Einblicke in die Erfahrungswelten der Akteu‑ rInnen gelingt es, deren spezifische identitäre Verortungsstrategien nachzuvollziehen und im Kontext des bisher Erarbeiteten darzustellen. Denn: »Identität heißt zunächst einmal eine Vorstellung von sich selbst zu haben. Diese Vorstellung kann aber nicht nur behauptet oder erzählt werden, sondern sie will auch erprobt und akzeptiert sein, sie steht also in sozialen Bezügen. Wir haben keine Identität, sondern wir arbeiten an unserer Identität. Ein Element (es gibt noch zahlreiche andere) dieser lebenslangen Arbeit ist der Entwurf einer Lebensgeschichte. Wer sich erinnert, will wissen, wer er ist.« (Jureit 2009: 87, Herv. i. O.)
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Aus der jeweiligen Biografie wird in Einzelstudien herausgearbeitet, an welche Ele‑ mente des Jüdischen der/die AkteurIn jeweils anknüpfen und welche er/sie für sich beleben kann, aber auch, welche in ihrem Identitätskonstrukt nicht mehr passend erscheinen. Dabei wird auch die eingangs formulierte These der »(Trans-)Formatio‑ nen« wieder aufgegriffen. Denn gerade die wechselvollen lebensweltlichen Rahmen‑ bedingungen spielen – generationsspezifisch – in meinem Feld eine wesentliche Rolle. So werde ich der von mir kritisch formulierten Frage nach »New Jewish Identities?« vor der Folie des bereits dargestellten historischen, politischen, soziokulturellen und urbanen Umfelds nachgehen. Dabei ist nach Heiner Keupp und KollegInnen zu be‑ achten, »[…] dass das, was im Akt der Selbstreflexion entsteht (beispielsweise eine Vorstellung einer bestimmten Teilidentität), sich mit dem selbstreflexiven Akt bereits wieder zu verändern beginnt, man sich also in und mit seiner Selbsterzählung ständig neu konstruiert« (ebd. 2002: 189). Die dominanten Kategorien, die sich bei der Analyse der Interviews herauskris‑ tallisiert haben, sind nicht nur die zeitgeschichtlichen Epochen, die die Lebenswelten und identitären Verortungsstrategien der AkteurInnen am meisten beeinflusst ha‑ ben: der Holocaust, der Sozialismus und die Zeit nach der Wende 1989. So unterteile ich die Fallbeispiele entsprechend der Argumentationslinien und Erzählmittelpunkte meiner InterviewpartnerInnen, wie etwa auch den innerfamiliären Umgang mit der jüdischen Geschichte und Gegenwart und deren Erinnerungspraktiken. Die Unter‑ teilung nach Generationen erwies sich hier als sinnvoll, daher leiten die Porträts mei‑ ner ältesten InterviewpartnerInnen das Kapitel ein. Ihnen folgt die Nachkriegsgene‑ ration, abschließend kommt die Generation der »Jungen« zu Wort. Hier handelt es sich jeweils um Einzelanalysen, da ich außer drei Mutter-Kind-Paaren keine weiteren Familienangehörigen der anderen InterviewpartnerInnen interviewen konnte. Die Porträts von Lena und Leon werden hier einzeln dargestellt, in dem Porträt von Ella werden Aussagen ihrer Mutter Laura berücksichtigt, sie selbst wird jedoch nicht extra in der Nachkriegsgeneration porträtiert. Eine Auswahl aus 25 InterviewpartnerInnen zu treffen, deren Lebensgeschichten alle sehr interessante Porträts ergeben hätten, fiel schwer. Für die hier ausführlich behandelten zehn Beispiele habe ich mich sowohl aufgrund ihrer Aussagekraft im Hinblick auf die Fragestellung des Projekts als auch aufgrund ihrer Heterogenität untereinander entschieden. Neben dem jeweiligen Kontext der Erhebung und der Beziehung zwischen mir und den Interviewten werden auch die Bedingungen des Erzählens und der erinnern‑ den Rekonstruktion der Biografien berücksichtigt. Denn hier, so Heiko Haumann, werden »[d]ie Wechselbeziehungen zwischen der persönlichen Erfahrungswelt und den gesellschaftlichen Bedin‑ gungen […] sichtbar. Gerade an den Wende- und Schlüsselpunkten der Lebensgeschichte lohnt es sich, sehr detailliert zu analysieren, um die verschiedenen Schichten der Erinnerung freizulegen, die Kommuni‑ kationsvorgänge zu erhellen, die Formen kollektiver Erinnerung nachzuzeichnen und in einen Dialog mit dem Akteur zu treten. Ähnlich wichtige Ansatzpunkte für diesen Dialog sind ›Fenster zur Erinnerung‹, die in den Selbstzeugnissen deutlich werden, Widersprüche und ›Stolpersteine‹ in der Erzählung, Nicht-Er‑
»New Jewish Identities«? Perspektiven auf individuelle Lebens- und Erfahrungswelten | 245 zähltes, Tabus, Abwehr von Einsichten, besondere Ereignisse, die aus dem Gewohnten herausfallen.« (Ebd. 2012: 90)
Im Hinblick auf die in Kapitel 2.2.3 beschriebene Metapher der artifiziellen Patchwork-Objekte, in denen sich die Identitätskonstruktionen der AkteurInnen ab‑ bilden, ist die Inhaltsanalyse des Gesagten durch die von Charles Liebman geforderte Offenheit gekennzeichnet: »The question, after all, is not what exactly we mean by Jewish identity, but whether it is a fair term under which we can group studies of Jewish consciousness – how strongly Jews feel about Judaism and/ or Jewishness, and how much space these feelings occupy in their lives; and Jewish meaning – how Jews define Judaism to which they subscribe and how they define their Jewishness, how they relate to the organized Jewish community, what are the implicit or explicit boundaries of Jewishness, and so on.« (Ebd. 2003: 341 f.)
6.1 D ie G eneration der Ä ltesten In diesem Kapitel verbindet die AkteurInnen vor allem eine Erfahrung: der Ho‑ locaust, den sie als Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene überlebt haben. Dies geschah auf sehr unterschiedliche Weise, denn Anna, Karl und Henry überlebten ihn in Verstecken, Magdalena überlebte ihn als Gefangene in zwei Konzentrations‑ lagern. Alle haben Familienmitglieder und FreundInnen verloren. Außer Anna, die im ehemaligen Galizien geboren wurde und seit dem Zweiten Weltkrieg in Lučenec lebt, sind die anderen Vertreter dieser Generation aus Košice. Magdalena und Karl sind in der Stadt geboren und aufgewachsen, Henry stammt aus dem nahe gelegenen Prešov und hat – im Gegensatz zu den anderen – den slowakischen Holocaust über‑ lebt. Dabei ist auch zu bedenken, dass das Alter, in dem die AkteurInnen während des Holocaust waren, eine Rolle spielt, denn »[z]weifelsohne erleben Kinder und Erwach‑ sene Krieg auf unterschiedliche Weise. Kinder sind gleichermaßen verletzlicher und verformbarer als Erwachsene und sind mit dem extremen Trauma des Holocaust auf andere Weise umgegangen« (Kellermann 2009: 58). Die Erfahrungen von Gewalt, Tod, Leid und Zerstörung prägten die Menschen nachhaltig: »Elie Wiesel hat wiederholt festgestellt, daß Holocaust-Überlebende in einem Alptraum leben, der sich unserem Verständnis für immer entzieht« (Herzog 1995: 146). Doch gilt es auch, diese Akteursgruppe nicht nur auf die Erfahrung des Holocaust zu reduzieren und so zu Opfern ihres Schicksals zu machen. Ulrike Jureit hat in ihrer Studie »[z]ur Methodik lebensgeschichtlicher Interviews mit Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager« herausgearbeitet, dass sich »[…] sowohl deutliche Abgrenzungen als auch einzelne Momente möglicher Kooperation zwischen Psychoanalyse und biografischer Interviewforschung feststel‑ len« lassen:
246 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 »Ihnen gemeinsam ist ihr Interesse an der Lebenspraxis und der Selbstdarstellung des Subjekts, die als individuelle Wahrnehmung sozialer Wirklichkeit verstanden werden. Sowohl die Manifestation der Erin‑ nerungen als sprachliche Symbole wie auch das sich in der Interviewsituation entwickelnde Verhältnis zwischen Wissenschaftler und Befragtem ist Gegenstand der interpretatorischen Auswertung. Lebens‑ geschichtliche Interviews sollten nicht auf ihre textliche Gestalt reduziert werden, liegt gerade in dem direkten Kontakt zwischen Forschenden und Zeitzeugen ein zusätzliches Moment der Informationserhe‑ bung. Die Interviewsituation als Ort der Erinnerung gehört zum interpretatorischen Prozeß, denn auch im Zeitzeugengespräch sind Übertragungsphänomene existent.« (Jureit 1999: 58 f.)
Dabei ist auch zu bedenken, dass Zeitzeugenberichte als unzuverlässig gelten, da zwi‑ schen dem Bericht und dem Geschehenen oft eine lange Zeit liegt. Meine Intervie‑ wpartnerInnen unter den hier porträtierten ZeitzeugInnen waren zwischen 77 und 91 Jahre alt, ihre Erlebnisse – beispielsweise während des Holocaust – lagen also min‑ destens 70 Jahre zurück. Doch ist es nicht relevant, ob sie über bestimmte Epochen ihres Lebens die Wahrheit oder Unwahrheit erzählten, sondern welcher Gehalt hinter dem Gesagten steckt. Dabei ist auch Folgendes zu beachten: »Die Leistung des Gedächtnisses, das heißt, das schlichte Erinnerungsvermögen, ist das eine Problem, die Veränderung und Umdeutung früherer Erlebnisse durch objektive historische Veränderungen sowie durch spätere subjektive Erfahrungen ist das andere. Grundsätzlich werden Erlebnisse bei jedem Erzählen neu erinnert und neu gestaltet, so dass sie sich Schritt für Schritt verändern. Manche Erlebnisse werden im Laufe eines Lebens jedoch zu ›geronnenen Geschichten‹, die immer gleich erzählt werden. Sie verwei‑ sen zumeist über das erzählte Ereignis hinaus auf eine ›Lehre‹ oder ›grundlegende Erfahrung‹.« (Spuhler 2010: 18)
Der Holocaust wird häufig als der Bruch in der (kollektiven) jüdischen Selbstwahr‑ nehmung, gleichzeitig aber auch als zentraler Bezugspunkt in der identitären Veror‑ tung gekennzeichnet: »For most Jews, especially in Europe, the Holocaust is a signif‑ icant part of their understanding of who they are« (Solomon 1994: 94). So beschreibt auch Sandra Konrad für die von ihr beforschte Gruppe jüdischer Frauen: »Wie bereits erwähnt, ist das Judentum und die jüdische Identität – trotz der unterschiedlich engen Be‑ ziehungen zum Judentum und dessen vielfältigen Auslegungsmöglichkeiten – heute noch ausnahmslos stark mit der Erfahrung des Holocaust verknüpft, gleichgültig, in welchem Land die Jüdinnen leben und wie ihnen das Judentum familiär vermittelt wurde. Eine Jüdin zu sein, bedeutet für alle hier befragten Frauen, auch den Schmerz in sich zu tragen, den sie selbst oder ihre Vorfahren während der nationalsozi‑ alistischen Verfolgung erleiden mussten […].« (Ebd. 2007: 428)
Einerseits sei diese Erfahrung der Grund, weshalb sich gerade auch unter den kom‑ munistischen Regimen im östlichen Europa viele der Überlebenden von ihrer jüdi‑ schen Abstammung distanzierten (vgl. Salner 2013: 7; Heitlinger 2006: 197; Kapi‑ tel 4.1.3) Andererseits wird er auch als gemeinsames, identitätsstiftendes Moment innerhalb der Familienbiografie gesehen und jeweils unterschiedlich bewertet. Die
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Generation der ZeitzeugInnen wird daher als wichtiger Ausgangspunkt für die Ent‑ wicklungen der nächsten Generationen gesehen. So ist unter anderem James Herzog der Auffassung, dass »die Analyse erklären [kann], wie die Tragödie einer Generation an nachfolgende Generationen vermittelt wird, und [sie kann] die Leidenskette auf diese Weise durchbrechen« (ebd. 1995: 146). Josef Hidasi, der in Lučenec geboren ist und den Holocaust als Jugendlicher über‑ lebte, leitete seine Biografie mit einer Metapher ein, die auch als Einleitung für dieses Kapitel passt: »Erinnerungen sind gespeicherte Bilder, sie liegen kunterbunt in unserem Gedächtnis herum, beieinander und aufeinander wie in einer tiefen Schublade. Das Bild, das wir bei Gelegenheit hervorzeigen, ist nur ein aktueller Moment eines Ereignisses, das sich in uns fest einprägte. Es können auch mehrere Bilder sein, die uns in einer Zeitfolge hintereinander begleiten. Ich schrieb kein Tagebuch, ich machte mir auch keine Aufzeichnungen von manchen Erlebnissen, die mich empfindlich und nachdenklich machten. Sie wären sowieso verloren gegangen im Laufe vieler Umbrüche meines Lebens.« (Ebd. 2009: 11)
6.1.1 Henry 6.1.1.1 »Ich bin ein seltsamer Typ, nicht wahr?« Über den Verein The Hidden Child habe ich unter anderem den Kontakt zu Henry bekommen, der, wie mir versichert wurde, sehr auskunftsfreudig sei und mir viel er‑ zählen könne. Mit 91 Jahren war er mein ältester Interviewpartner. Einen Tag nach‑ dem ich ihn angerufen und um einen Termin gebeten hatte, empfing er mich in seiner Wohnung. Er trug eine Armschlinge, war aber sehr vergnügt und schien neugierig auf mich zu sein. Er hatte sich einige Tage zuvor bei einem Sturz die Schulter gebrochen, winkte jedoch bei meinem Vorschlag, das Interview zu verschieben, ab und führte mich in sein Wohnzimmer. Dort lagen ausgebreitet auf der Couch, dem Couchtisch und der Kommode zahlreiche Stapel mit Dokumenten und Zeitungsartikeln. Henry hatte sich offenbar auf unser Gespräch vorbereitet. Ich war gespannt darauf, was er mir zeigen und erzählen würde. Zwischen den Papierstapeln stand auch ein Teller mit (gekauftem) Marmorkuchen und anderem Gebäck. Diesen bot er mir im Verlauf un‑ seres Interviews in regelmäßigen Abständen an, mit dem Zusatz, er habe schließlich die ganze Nacht für mich gebacken, jetzt müsse ich auch etwas davon essen. Henrys Humor sorgte von Anfang an für eine angenehme und lockere Gesprächsatmosphäre.
6.1.1.2 H olocaust: »Ich kann selbst nicht glauben, was ich überlebt habe … weil ich normal gelebt habe … wie ein Arier« Für Henry war von Beginn unseres Interviews an seine Überlebensgeschichte zentral. Als ich ihn traf, setzte er sich gerade aktiv damit auseinander, da in Zusammenarbeit mit HistorikerInnen der Universität Prešov ein Film darüber entstehen sollte.1 Gebo‑ 1 | Zum einen arbeitet Henry gerade mit der Universität Prešov an dem Film, der die Geschichte seines Überlebens während des Holocaust zeigen soll, zum anderen ist auch das Kulturreferat der Stadt Košice
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ren und aufgewachsen ist er in einer neologischen jüdischen Familie in Prešov. Sein Vater ist jedoch vor dem Zweiten Weltkrieg zur evangelischen Kirche konvertiert, so dass die Familie säkular gelebt hat. Henry ist auf ein evangelisches Gymnasium ge‑ gangen, wo er kurz vor Ausbruch des Krieges noch sein Abitur gemacht hat. Während des Zweiten Weltkriegs hatte er eine andere Identität angenommen und sich 18 Mo‑ nate lang unter einem anderen Namen in Militärkasernen versteckt. Schließlich ist er in ein kleines nordslowakisches Dorf gelangt, das von Deutschen und ukrainischen Soldaten besetzt war. Dort arbeitete er in einer Baufirma. »Ich habe wie ein Arier ge‑ lebt, aber sie wussten über mich Bescheid, sie müssen es gewusst haben.« Henry war sich sicher, dass seine Retter gewusst haben, dass er Jude ist. Trotzdem wurde er von ihnen versteckt. Das gesamte Dorf habe davon gewusst, doch alle hätten geschwiegen. »Damals habe ich mich in einer Ziegelei versteckt […] da war ich eingemauert, ja. Da habe ich ungefähr drei Wochen gelebt und dann kamen sie und haben gesagt, das hätte keinen Sinn und ich solle da raus‑ kommen. Und dann bin ich zu so einer kleinen Siedlung hinaufgegangen, so ein kleiner Ort mit vielen winzigen Häuschen. Und da war ich, bis es sich beruhigt hat und dann bin ich ins Dorf zurückgekommen.«
Für Henry ist es ein Wunder, dass er sich zu dieser Zeit in der Slowakei frei bewegen und leben konnte, wie andere SlowakInnen, die nicht verfolgt wurden. »Ich habe gelebt wie ein Graf, wie … also unglaublich. Ich hatte im Slowakischen Staat alles. Ich konnte reisen. Ich war mit Deutschen zusammen. Unglaublich. Wissen Sie. Also verstehen Sie? Warum, weshalb, mein Potenzial, meine Arbeit, sie wussten nicht, wer ich bin. Sie wussten nicht, dass ich Jude bin.«
Alleine die Tatsache, dass er auf diese Weise überleben konnte und seine wahre Ab‑ stammung nicht entdeckt wurde, lässt ihn seine Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs fast positiv schildern, wenn er beispielsweise davon spricht, »wie ein Graf« gelebt zu haben. Dennoch sind die Gefahren, denen er sich permanent ausgesetzt sah, immer noch stark für ihn präsent. »Und das Dorf war von Soldaten der Wlassow-Armee 2 und den Deutschen besetzt. Das waren die Ukrainer, die Ukrainer. Und die sind jeden Tag durch die Wälder gegangen und haben Überfälle gemacht. Natürlich haben sie Partisanen gesucht, Juden, die sich verstecken, oder sie sind einfach durch die Häuser gegan‑ gen. Und mich hat also ein Ukrainer, also er ist in dieses Haus gekommen, wo ich zu Mittag gegessen habe und es war ein bewaffneter Ukrainer und er hat damals meine Uhr verlangt. Dass ich sie ihm verkaufe. Und ich war so geistesgegenwärtig, dass ich sie ihm nicht verkauft habe. Also … aber ich habe mich erschro‑ cken, als hätte er mich schon gefangengenommen … damals hat er eine Razzia gemacht.« dabei, das Material schriftlich aufzuarbeiten. Auf genaue Quellenangaben wird hier aufgrund der Anony‑ misierung verzichtet. 2 | Andrej A.Wlassow war ein sowjetischer Generalleutnant, der 1942 in deutscher Gefangenschaft die Seiten wechselte und eine Armee aufbaute, die gegen die Sowjetunion kämpfte. Vgl. hierzu Thorwald (1995), Schröder (2001).
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Henry erzählte seine Geschichte aufgeregt, fast ohne Punkt und Komma, unter häu‑ figer Verwendung der Konjunktion »und«. Es schien so, als würde er die Aufregung von damals bei der Wiederholung dieser Erlebnisse wieder spüren. Der Ukrainer habe nicht gewusst, dass Henry Jude ist. Damals hätten die Russen jedem die Uhren abgenommen, »das war so ein Sport,« erklärte Henry. »Ich durfte ihm nicht zeigen, dass ich mich fürchte.« Es sei eine ganz gewöhnliche Uhr gewesen, nichts Besonderes, doch Henry war sich sicher, dass es ihn gerettet habe, dem ukrainischen Soldaten die geforderte Uhr damals nicht zu geben. »Nein, ich musste ihm zeigen, dass ich kein Jude bin, ich musste es ihm so zeigen. Und nachdem das passiert ist, bin ich nach Hause [in das Versteck] gegangen und habe zwei Tage lang geschlafen. Das war schrecklich, das kann man nicht beschreiben. Das geht nicht. Das muss ein Psychologe bewerten. Das ist … das kann man nicht beschreiben. Das kann man nicht erklären. Das ist ein Wunder. Also hatte ich einen Schutzengel bei mir.«
Henrys Stimme zitterte, als er mir von dieser für ihn lebensgefährlichen Begegnung erzählte. Dass und wie er sie überleben konnte, sei für ihn unerklärbar, was er häufig mit den Adjektiven »unglaublich« oder »unfassbar« ergänzte. »Ich habe da zwischen den deutschen Soldaten gelebt. Wissen Sie, das ist unglaublich.« Auch gegen Ende unseres Interviews wiederholte er: »Ich hatte einen Schutzengel. Das ist … unglaub‑ lich, es ist unglaublich. Ich habe das nicht begriffen. Ich glaube das bis heute nicht. Aber es ist die Wahrheit.« Für ihn schien die Geschichte noch lebendig und aktuell zu sein, obwohl sie schon fast sieben Jahrzehnte zurückliegt. Laut dem Historiker Gregor Spuhler bleiben »[b]esonders gut […] solche Erlebnisse in Erinnerung, die mit starken Emotionen verbunden waren« (Spuhler 2010: 19). Im Unterschied zu Magdalena (vgl. Kapitel 6.1.2) thematisierte Henry sehr de‑ tailliert seine Erlebnisse und Empfindungen aus dieser Zeit. Dies liegt unter anderem an den divergierenden Gewalt- und Unterdrückungserfahrungen, die Opfer während des Zweiten Weltkriegs individuell gemacht haben. Magdalena, die das Vernichtungs‑ lager Auschwitz und das Konzentrationslager Ravensbrück überlebte, musste in Ge‑ fangenschaft anderes erleben als Henry, der sich, wie er selbst sagte, relativ frei be‑ wegen konnte. Henrys Überlebensgeschichte ist trotz der permanenten Gefahr, dass er hätte entdeckt werden können, zudem eine Erfolgsgeschichte. Gabriele Rosenthal fand heraus, dass »[…] im Vergleich mit Lebensgeschichten von Überlebenden, die sich selbst nicht aufgaben, sondern mit List und Tücke um ihr Überleben kämpften und die aufgrund ihrer spezifischen Lebenssituation nicht zu völliger Passivität verurteilt waren – wie dies zum Beispiel bei in engen Verstecken eingepferchten Menschen der Fall war, […] manche lange und ausführlich, nahezu obsessiv erzählen können.« (Ebd. 1997b: 41)
Zwar sprach Henry nicht »obsessiv« von seinem Überleben während des Holocaust, doch zog sich dieser Erzählstrang sehr dominant durch unser Gespräch. Er erzählte
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mir, dass seine verstorbene Frau im Konzentrationslager Ravensbrück war, und deu‑ tete selbst Unterschiede zwischen ihrem und seinem Schicksal an: »Also sehen Sie mal, das ist … dass Sie zurückgekehrt ist, das ist … das ist Glück, das ist ein Wunder. Sehen Sie her, ich spreche freier, weil ich nicht im Konzentrationslager war. Diejenigen, die im Konzen‑ trationslager waren, die … können nicht so viel sagen, weil sie zum Tode verurteilt waren. Sie waren sich de facto darüber bewusst, ob sie überleben oder nicht. Diese Dinge, die sich im Konzentrationslager abgespielt haben, also die habe ich von meiner Frau gehört und ich habe letztendlich dann gesagt: Sprich nicht weiter, ich will das nicht hören. Wissen Sie, da kann man schlecht zuhören.«
Er selbst habe seine Frau gebeten, nicht über ihre Erfahrungen zu sprechen. Überle‑ bende aus Konzentrationslagern haben nicht nur selbst Leid und Bedrohung erfah‑ ren, sondern waren auch tagtäglich direkt mit dem Leid und dem Tod anderer Men‑ schen konfrontiert (vgl. hierzu auch Bergman/Jucovy 1995: 31). Henry hingegen teilt diese Erlebnisse nicht. Der Psychoanalytiker James Herzog sieht in den Beziehungen von Holocaust‑ überlebenden einerseits Potenzial, einen Raum für die Aufarbeitung des Erlebten zu schaffen (vgl. ebd. 1995: 131). Er formuliert jedoch weiterhin die These: »Je begrenzter der gemeinsame sichere Raum der Ehepartner ist, desto weniger Möglichkeit bietet er, Erlittenes innerhalb der Beziehung zu heilen und auszuhalten« (ebd.: 132). Das, was an Traumata innerhalb der Ehe von Überlebenden nicht auszuhandeln und zu lösen sei, müssten deren Kinder mittragen und lindern (vgl. ebd.). Inwiefern dies in Henrys Familie der Fall war, kann hier nicht detailliert nachvollzogen und beurteilt werden. Dadurch, dass er sich den traumatischen Erfahrungen seiner Frau entziehen wollte, verweigerte er – zumindest teilweise – deren gemeinsame Aufarbeitung und Verankerung im Familiengedächtnis. Henrys Tochter wisse jedoch über das Schicksal der Familie Bescheid. Seine Frau, deren Foto er mir zeigte, habe ihr, wie er selbst auch, alles erzählt und sie im »jüdi‑ schen Geiste« erzogen. Er zeigte mir auch die Fotografien seiner Tochter und ihres Sohnes. Auf seinen einzigen Enkel sei er sehr stolz, und suche noch eine Frau für ihn. Da er mich dabei erwartungsvoll ansah, gab ich ihm freundlich zu verstehen, dass er bei mir nicht zu suchen brauche, und wir lachten beide. Diese humorvollen Momente sorgten während des Gesprächs auch für den Abbau von Spannungen, die durch emo‑ tional schwierige Themen entstanden. Henrys Tochter besucht die Synagoge an den hohen Feiertagen, ebenso wie sein Enkel. Der wiederum interessiere sich aber kaum für seine jüdische Abstammung, erklärte Henry. Im Laufe des Interviews sahen wir uns viele weitere Bilder seiner Ver‑ wandten an. Diese riefen in unterschiedlichem Maße Emotionen bei Henry hervor. Als er mir Fotografien seiner Mutter zeigte, wirkte er sehr traurig. Seine »Mama«, wie er sie liebevoll nannte, ist verstorben, als er vier Jahre alt war. Sein Vater heiratete dann schnell wieder eine jüdische Frau. Henry war das jüngste von fünf Kindern und bekam durch die erneute Heirat seines Vaters noch einen Stiefbruder. Vorsichtig fragte ich ihn nach seinen Geschwistern.
»New Jewish Identities«? Perspektiven auf individuelle Lebens- und Erfahrungswelten | 251 »Der eine war Ingenieur, 38 Jahre alt. Den haben die Deutschen erschossen. Und dann hatte ich einen Bruder, der war Apotheker, hier in Košice, der ist schon gestorben, weil er älter war. Heute wäre er wohl 100 Jahre alt. Und das ist die Schwester von meinem Vater und ihre Kinder. […] Aber die haben sie ins Konzentrationslager mitgenommen. Nach Auschwitz. Die sind ins Gas gegangen … alle … wissen Sie. Die sind ins Gas gegangen.«
Henry wurde bei den letzten Sätzen immer leiser und blickte mich mich mit tränener‑ füllten Augen an. Seine Trauer über die ermordeten Familienmitglieder war deutlich spürbar und die Umschreibung ihres Todes, »die sind ins Gas gegangen«, weist darauf hin, welche Bilder er damit assoziierte. Als ich ein Foto mit ihm neben einem Grab in den Händen hielt, erklärt er mir: »Das ist ein Grab. Da bin ich. Da sind die, die sie umgebracht haben. Die Familie mei‑ nes Onkels, die sie im Konzentrationslager beziehungsweise in Auschwitz verbrannt haben.« Die Wortwahl, mit der er den Tod der Verwandten beschrieb, war wieder mit extremen Bildern verbunden. Die starken Emotionen, die seine Erinnerungen begleiteten, hat er auch in einem Brief an eine in Deutschland lebende Freundin fest‑ gehalten, den er mir vorlas: »Die Erinnerungen sind sehr traurig, schrecklich und es gibt keine Worte, die das beschreiben könnten. Viele wurden deportiert und sind im Konzentrationslager gestorben. Das war eine schreckliche und un‑ vorstellbare Zeit. […] Die heutige Generation kann das nicht wahrhaben, sie will das nicht einmal hören, dass es möglich ist, dass wir diesen Fluch überlebt haben, der immer wiederkehrt.«
Henry fügte hinzu: »Das wird noch wiederkehren, wissen Sie.« Er sei überzeugt da‑ von, dass sich der Holocaust wiederholen werde. »Das wird sich wiederholen, weil der Antisemitismus ist groß, die Armut ist groß, der Neid ist groß.« Er sehe den Antise‑ mitismus als allgegenwärtig an, als ein permanentes Phänomen. »Ja, also … sehen Sie mal, auch jetzt ist dieser Antisemitismus hier. Auch hier gibt es Antisemitismus.« Und auch die Angst vor Übergriffen gebe es noch, »Angst, das geht nicht, die gibt es auch jetzt. Das ist in den Wurzeln der Menschen, dieser Hitler – dieser Nationalismus ist verwurzelt. Das kann man nicht von einem Tag auf den anderen auslöschen, den Na‑ tionalismus.« Unter anderem seine Lebenserfahrung hat in ihm diese Wahrnehmung gefestigt, denn Henry hat, wie er sagte, fünf Regime erlebt: »Das Masaryk-Regime, weil ich nach dem Ersten Weltkrieg geboren wurde. Dann kam der Slowakische Staat. […] Dann kam die Befreiung, 1945 bis 1948 gabs die Republik und dann war der Kommunismus oder Sozialismus und jetzt haben wir … das ist Demokratie. Und es ist keine Demokratie. Ich kanns beur‑ teilen. Ich kenne die Geschichte besser, wegen der Erinnerung, weil ich das erlebt habe. Ich weiß mehr.«
Hier hob er seine Rolle als Zeitzeuge hervor, der die Geschichte besser kennt als die HistorikerInnen. Henry setzte seine Erfahrungen unter anderem für Oral-Histo‑ ry-Projekte und den Film ein, der über seine Überlebensgeschichte gedreht wurde. In diesem Film soll es aber nicht darum gehen, die Gräuel des Zweiten Weltkriegs und
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des Holocaust, sondern vor allem die Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit zu zeigen, die ihm damals zuteil wurde. »Das ist nicht … weil die Menschen … ich mache den Film nicht darüber, was ein Konzentrationslager war. Ich zeige in dem Film nicht, wie die Menschen gelitten haben, sondern ich zeige das Gute im Menschen, dass ich da bin, dass sie mich gerettet haben.« Henry hatte an den Film hohe Ansprüche, er wollte, dass er gut wird und inves‑ tierte daher viel Zeit darin, »weil der Film wertvoll und schön werden muss, damit er Niveau hat. Ich weiß nicht, ob mir das gelingt«. Sein Film hat eine Botschaft, die weit über die der Erinnerung und Dokumentation seiner Geschichte hinausgeht: »Damit diese Gleichgültigkeit nicht so ist, damit dieser Hass nicht so ist, darum mache ich diesen Film. Und wenn es mir gelingt dann … das ist also … […] Also deshalb mache ich diesen Film.« Henry will mit diesem Film an das Gute im Menschen appellieren und seine Er‑ lebnisse entsprechend verarbeiten. Wie wichtig ihm der Film ist, zeigte sich nicht nur darin, dass er ihn häufig erwähnte, sondern auch, dass er in seinem hohen Alter gerne und viel dafür arbeitet. »Ich habe das Maximum gemacht, und wenn ich den Film mache, dann bin ich schon … ich mache so eine schöne Dokumentation.« Dass Henry diese öffentliche Form der Erinnerungsarbeit leistet, zeigt, dass er seine Überlebensgeschichte zumindest zum Teil bereits verarbeiten konnte. Diese fil‑ mische Dokumentation seines Überlebens während des Holocaust hilft ihm einmal mehr dabei, einen Blick von außen auf seine persönlichen Erfahrungen zu werfen. Dass dabei der Fokus auf den positiven Aspekten und seiner Rettung liegt, verhilft ihm zu einem guten oder zumindest besseren Gefühl in Bezug auf diese Erlebnisse. Bis Henry jedoch so offen mit seiner Vergangenheit und seiner jüdischen Abstam‑ mung umgehen konnte, dauerte es nach dem Zweiten Weltkrieg noch einige Jahr‑ zehnte.
6.1.1.3 W eiterleben im Sozialismus: »Die Juden hat man nirgendwo gemocht. Das ist die Wahrheit« Während des Sozialismus sei es Henry nicht schlecht ergangen, da er eine gute An‑ stellung hatte. »Mir ging es während des Kommunismus sehr gut, weil ich als Archi‑ tekt angestellt war. Und ich war in einer Firma angestellt, die ich gegründet habe, in einer Militär-Firma. Und ich habe im Osten alle militärischen Bauten gemacht.« Henry war merklich stolz auf seinen Beruf, in dem er bis heute tätig ist. Er ist damit in die Fußstapfen seines Vaters getreten, der ebenfalls ein bekannter Architekt gewesen ist. Er sprach immer wieder stolz von seinem Vater, der, wie er sagte, »viel gebaut hat« und dessen Gene er geerbt habe. Als wir eine Fotografie seines Vaters betrachteten, lobte er dessen gutes Aussehen. Daran schloss er schmunzelnd an, dass er das eben‑ falls von ihm habe. Henry zeigte mir auf Karten und Fotografien, was er selbst hatte erbauen lassen. Zudem hatte er auch ein Verzeichnis all der Bauten, die sein Vater vor allem für den Staat hatte errichten lassen. Dieser hatte Kasernen, Mietshäuser, Denk‑ mäler, Krankenhäuser und Schulen gebaut und ist zu seiner Zeit einer der größten Geschäftsmänner der Umgebung gewesen. Für Henry ist es selbstverständlich, auch
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heute noch in seinem Beruf tätig zu sein. »Ich bin zufrieden, wenn ich arbeite.« Sei‑ ner Meinung nach hätte er keine Berechtigung, noch da zu sein, wenn er nicht mehr arbeiten könnte. Trotzdem sieht er es als Wunder an, dass er in seinem Alter noch so viel leisten kann. »Ich fühle mich wie ein 18‑Jähriger, so jung. Aber ich weiß nicht, wie lange noch. Bis mich der heilige Petrus zu sich bittet.« Sein Beruf hatte ihm auch viel Anerkennung bei der Stadtverwaltung zuteil wer‑ den lassen, so dass er in der Baukommission alle Projekte realisieren konnte. Die Stadt habe ihm aufgrund seiner Leistungen ihre Loyalität gezeigt, worauf er sehr stolz ist. Henry zeigte mir auch Fotografien der Gebäude, die sein Vater bauen ließ, darunter auch das Mausoleum für Henrys früh verstorbene Mutter. »Ja, das hat mein Vater ge‑ baut, wissen Sie. Er war ein großer Architekt. Das hat er gemacht, umsonst. Das hat er der Gemeinschaft geschenkt.« Sein Vater sei auch für die jüdische Gemeinde in seiner Heimatstadt tätig und bei ihr sehr anerkannt gewesen. Auch hier tat es Henry seinem Vater nach und unterstützte die jüdische Gemeinde nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem finanziell, aber unter einem anderen Namen. »Ich habe einen anderen Namen ausgesucht und ich habe ihnen immer einen Scheck geschickt, weil ich mich davor gefürchtet habe, dass sie [die staatlichen Kontrollorga‑ ne] herausfinden, dass ich das zahle.« Während des Zweiten Weltkriegs lebte Henry unter einem anderen Namen, um sich zu schützen. Diesen behielt er hinterher für die Zahlungen an die jüdische Gemeinde bei, um während des Sozialismus keinen Ver‑ dacht gegen sich zu erregen. Er ist in dieser Zeit auch nicht in die Synagoge gegangen. »Nein, nein. Ich hatte Angst. Ich hatte Angst, dahin zu gehen.« Henry verheimlichte seine jüdische Identität weiterhin, fühlte sich der jüdischen Gemeinde aber zugehörig. Sich offen zu seiner Abstammung zu bekennen, hätte ihn aufgrund der Repressionen des sozialistischen Regimes in Schwierigkeiten bringen können. Seine Furcht veran‑ lasste ihn dazu, den falschen Namen als Relikt aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs beizubehalten und somit eine Form des Doppellebens und auch des versteckt Seins, weiterzuführen. »Damals war die Religion … sehen Sie, ich würde es so erklären, ich öffne Ihnen wieder die Augen: Die Juden hat man nirgendwo gemocht. Das ist die Wahrheit. Das muss man zugeben. Während des Kommu‑ nismus durfte man nicht sagen, dass man im Konzentrationslager gewesen ist. Das wollten die Russen nicht. Sie wollten es nicht, sie wollten es nicht, wissen Sie. Das durfte man nicht sagen. Das war ein negativer Punkt.«
Hier sprach er auch die Unterdrückung der Aufarbeitung des Holocaust an, die die Betroffenen weiter in ihrem Schweigen und der Verheimlichung ihrer jüdischen Wur‑ zeln bestärkte (vgl. Jakschová 2008: 63; Kapitel 4.1.4). Von Henrys jüdischer Abstam‑ mung habe man allerdings überall gewusst, auch bei seiner Arbeitsstelle. Negative Erfahrungen hat er aber nie gemacht. Möglicherweise waren es zum Teil auch die Ängste, die in Henry nach dem Holocaust weitergewirkt haben, die ihn dazu ver‑ anlassten, seine Abstammung und seine Beziehung zur jüdischen Gemeinde nicht öffentlich zu machen. Ähnliches berichtet auch Alena Heitlinger, die passend zu Hen‑
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rys Beispiel feststellt: »Strategies of full concealment were most frequently pursued in large cities, where urban anonymity offered the illusion that one’s Jewish origin could be kept secret« (Heitlinger 2006: 84). Henry ist die Geheimhaltung gelungen, wie er erzählte. Erst nach der Wende 1989 ist er wieder regelmäßig am Schabbat und den großen jüdischen Feiertagen in das Gebetshaus und in die Synagoge gegangen. »Ja, ich bin immer gegangen. Immer. Nach der Revolution bin ich gegangen. Jetzt gehe ich nicht mehr.« Mittlerweile hält ihn jedoch nicht nur sein hohes Alter davon ab, am Gemeindeleben teilzunehmen, sondern auch dort bestehende Konflikte. Er selbst hatte dort unerfreuliche Erfahrungen gemacht, die ihn dazu veranlassen, selbst keinen Kontakt mehr zur Gemeinde zu halten. Davon ausgenommen ist lediglich eine Gruppe, zu der er ein gutes Verhältnis hat. So hat er sich vollkommen zurückgezogen und lehnt auch die mobile Versorgung mit koscherem Mittagessen und die medizinische durch die Krankenschwester der Gemeinde ab. Er gab sich trotz seines hohen Alters als sehr selbstständig, denn er bestreitet sein Leben in der Wohnung ganz alleine. Lediglich von einer Zugehfrau und seiner Tochter lässt er sich helfen. Die Gemeinde sieht er insgesamt als sehr ge‑ altert an: »Ich würde es so sagen: Diese Juden sind alt. Die Gemeinde stirbt schon aus. Die junge Generation will damit nichts zu tun haben.« Henry diagnostizierte der jüdischen Gemeinde Košice, wie viele andere meiner InterviewpartnerInnen auch, neben mangelnden Aktivitäten, dass diejenigen, die sie noch am Leben erhielten, be‑ reits Senioren sind und somit bald (aus)sterben würden. Die jüdische Gemeinde in Prag hingegen stelle einen großen Unterschied zur hiesigen dar, wie er sagte. Dabei bedachte Henry nicht, dass die Prager Gemeinde wesentlich mehr Mitglieder hat und in ein gänzlich anderes urbanes Setting eingebettet ist.3 Seine kritische Haltung der Košicer Gemeinde gegenüber schmerzte ihn selbst merklich, da er sich eigentlich ger‑ ne einbringen und austauschen würde.
6.1.1.4 Küsschen und Kuchen Nach zwei Stunden, die sehr schnell vergingen, verabschiedete sich Henry mit Küs‑ schen rechts und links von mir und gab mir noch etwas von seinem Kuchen mit. Beeindruckt von seiner Agilität und gerührt von seinem Charme verließ ich seine Wohnung. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich seine Überlebensgeschichte, seine Erfolge als Architekt und der Stolz auf seine Familie, als markante Punkte durch un‑ ser Gespräch gezogen haben. Über die ermordeten Familienmitglieder zu sprechen fiel ihm schwer, er er‑ wähnte sie erst, als wir deren Fotografien ansahen. Laut Franziska Becker können »[…] Gegenstände solcher Art, von denen eine traurige oder unangenehme Erinne‑ rung (Verlust- oder Schuldgefühle) ausgeht, [den symbolischen Gehalt] immer erst 3 | Die jüdische Gemeinde in Prag hat ungefähr 1600 Mitglieder. Der jüdische Stadtteil Josefov ist in Prag ein Touristenmagnet und steigert die Einnahmen der jüdischen Gemeinde durch Touren, Eintrittsgelder und Souvenirverkäufe erheblich (vgl. u. a. Heitlinger 2006: 149, 164).
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dann erlangen, wenn wir bereits in der Lage sind, Schmerz oder Trauer zu äußern, also Emotionen nach außen zu verlagern« (Becker 1991: 297). Sie erklärt weiterhin passend zu Henry, es gebe da »beispielsweise […] die Fotografie eines geliebten Menschen, deren Erinnerungskraft wir erst dann aus‑ halten oder überhaupt erst wahrnehmen können, wenn die Gefühle gewissermaßen im Bild abgelegt sind. Erst dann kann sich Trauer am Bild äußern, also in einem von uns bewußt gewählten Augenblick. Das Bild als emotionalen Auslöser zuzulassen heißt immer auch, die bedrückende Realerfahrung des Schmer‑ zes ein Stück hinter sich gelassen zu haben.« (Ebd.)
Henrys Aussagen und deren emotionaler Gehalt verrieten viel über den Schmerz und den Verlust, den er beim Gedanken an den Holocaust verspürte. Dass er aber gelernt hatte, mit diesem Schicksal umzugehen, zeigte sich in seiner aktiven Arbeit an einem Dokumentarfilm über seine Überlebensgeschichte während des Holocaust. Neben zahlreichen anderen Interviewprojekten ist dies eine Form der Erinnerungs- und Zeitzeugenarbeit, die ihn erfüllt. Auch das zentrale Motiv des aktuellen Filmprojekts, die positive Seite seines Schicksals mit Betonung auf seine Retter zu zeigen, fungiert als sinnstiftendes Element für ihn. Dass er sein Überleben und die damit verbun‑ denen Erfahrungen des Holocaust rückblickend als ein Wunder empfindet und dies fortwährend betonte, fügt sich in die positivere Perspektivierung und Ausrichtung seines Films über den Holocaust. Des Weiteren vereint er mit dieser Arbeit auch eine Grundhaltung in seinem Leben, des unermüdlichen Arbeitens und somit des Nutzens für andere. Die große Anerkennung, die er durch sein Schaffen als Architekt genoss, macht ihn stolz, und er will daher auch weiterhin produktiv sein. Zum Anderen führt er in diesem Beruf auch das Erbe seines Vaters weiter, da dieser auch ein bekannter Architekt gewesen ist. Dass ihm Familie wichtig ist, zeigte sich auch darin, dass er sowohl viel über seinen Vater und dessen Leistungen, als auch über seine Tochter und deren Sohn sprach. Seine Beziehung zu seiner säkularen jüdischen Abstammung war seit dem Holocaust und der Zeit des Verstecktseins bis in den Sozialismus jahrzehnte‑ lang von Verheimlichung geprägt. Seinen slowakischen Namen hat Henry auch wäh‑ rend des Sozialismus beibehalten, um die Mitgliedsbeiträge an die jüdische Gemeinde begleichen zu können und dabei nicht entdeckt zu werden. Die Ängste aus der Zeit der Verfolgung wirken nach wie vor in ihm, wofür auch seine Überzeugung, dass sich der Holocaust wiederholen könnte, sprach. Umso größer war seine Enttäuschung über den Konflikt mit der jüdischen Gemeinde. Auch wenn er aufgrund dieser Erfahrung nichts mehr mit der jüdischen Gemein‑ de zu tun haben will, sieht er sein jüdisches Erbe als gegeben an, er kann und will es nicht leugnen, denn er hat »ein semitisches Aussehen«, wie er betonte. Seine jüdische Identität steht für Henry fest. So ist sein Leben durchzogen von zahlreichen Ambivalenzen. Zum einen, dass er sich während des Holocaust als Arier ausgab und sich trotz seines Ansehens während des Sozialismus nicht offen zu seiner Abstammung bekennen wollte, gleichzeitig aber die jüdische Gemeinde – im Sinne seines Vaters – stets unterstützte. Er leistet einer‑
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seits Aufklärungs- und Erinnerungsarbeit durch seinen Film und andere Aktivitäten, ist andererseits aber davon überzeugt, dass sich der Holocaust wiederholen werde und es generell eine negative Haltung gegenüber Juden gebe, die er auch mittels seiner Arbeit bekämpft. Henry rekapitulierte seine Biografie in für ihn stimmigen Erzählmotiven, die sich über neun Jahrzehnte, zum Teil fragmentiert, bis in die Gegenwart zogen. Dabei ist mit Ulrike Jureit zu bedenken, dass für die ZeitzeugInnen, die als ExpertInnen ihrer selbst sprechen, gilt: »Auf dem Weg der Verfestigung entstehen abgerundete ›flüssig‹ erzählte und in sich geschlossen wirken‑ de Geschichten, die durch häufige Wiederholung immer konstantere Strukturen annehmen können. Diese Dynamik kann bewirken, daß sich über viele Jahre Erzählversionen festsetzen, die in gleicher Weise – teil‑ weise in wortwörtlicher Übereinstimmung – rekapituliert werden. Wir haben es also mit Ritualisierungen zu tun.« (Ebd. 1999: 88).
Henry hatte sein Leben schon oft zusammengefasst und dementsprechend souverän erzählt. Trotz seiner offensichtlichen Narrationserfahrungen, waren gerade an den Brüchen und tragischen Momenten seines Lebens die Emotionen in seinem Erinne‑ rungsprozess situativ und authentisch.
6.1.2 Magdalena 6.1.2.1 »Ist das Ding schon an?« Den Kontakt zur damals 85-jährigen Magdalena bekam ich über eine andere Inter‑ viewpartnerin, die sie schon lange kannte. Zum Interview erklärte sie sich sofort be‑ reit und empfing mich kurz darauf in ihrem Wohnzimmer. Sie ließ mich auf einem Sessel ihr gegenüber Platz nehmen, zwischen uns stand ein niedriger Couchtisch. Zu Beginn wollte sie von mir wissen, ob das Interview tatsächlich für meine Doktorar‑ beit sei und ob es nicht für das Fernsehen oder Radio verwendet werde. Sie bat mich zu Beginn, das »Ding«, mein Aufnahmegerät, für eine Weile wieder auszuschalten. Ihr augenscheinliches Misstrauen legte sich aber mit der Zeit. Trotzdem blieb eine gewisse Distanz zwischen uns beiden bestehen. Bereits bei der Terminvereinbarung am Telefon fragte sie mich nach meiner Konfession und schnitt das Thema auch beim Interview wieder an. Sie interessierte sich besonders für meine Motivation, als Nicht-Jüdin über ein solches Thema zu forschen (vgl. auch Kapitel 1.3). Ich erläuterte ihr mein Interesse daran, das mit dem Studium und meiner Magisterarbeit begonnen hatte. Als ich meine Tante in Lučenec erwähnte, schien das jedoch die einleuchtendste Erklärung für sie zu sein: »Also haben Sie in der Familie auch welche [Juden].« Mir kam es während des gesamten Gesprächs so vor, als sei es für Magdalena eine Art Pflichtübung, die sie nicht allzu gerne erfüllte. Das zeigte sich unter anderem da‑ rin, dass sie mich nach ihren Antworten häufig aufforderte, weitere Fragen zu stellen, als wolle sie den Ablauf des Interviews beschleunigen. Zudem hatte sie von vornhe‑ rein unsere Gesprächszeit begrenzt, indem sie sich im Anschluss daran zum Essen
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verabredet hatte. Trotz der wahrgenommenen Vorbehalte und der Distanz zwischen uns, gewährte mir Magdalena interessante Einblicke in ihr Leben.
6.1.2.2 L eben nach dem Holocaust: »Ich habe mich nicht gefürchtet. Ich habe immer gesagt ich bin eine bewusste Jüdin. Also habe ich mich nicht versteckt« Nachdem ich sie eingangs danach gefragt hatte, ob sie in Košice geboren sei, begann Magdalena ihre Erzählung mit einem knapp zusammengefassten Rückblick: »Ja, ich bin hier geboren … ehh … sehr … wie soll ich sagen … in eine sehr solide jüdische Familie, die die Traditionen eingehalten hat. Ehh … alle sind gestorben … ehh … die Eltern und zwei Geschwister sind im Konzentrationslager gestorben. Und wir vier Schwestern haben uns gerettet, aber von ihnen sind schon zwei in Israel an Krebs gestorben. Sie sind nach dem Krieg nach Israel ausgewandert. Ich bin hier‑ geblieben, da ich das Haus – wir hatten noch das Haus unserer Eltern – auflösen sollte, und dann wollte ich nachkommen. Aber inzwischen sind die Grenzen geschlossen worden und als es wieder die Möglich‑ keit gab, zu ihnen zu fahren … da war es schon schwieriger weil wir hatten hier schon Arbeit, ein Kind, die Wohnung, und ich habe es mir nicht mehr zugetraut, ein neues Leben in Israel aufzubauen. Ehhh … fragen Sie mich weiter!«
Magdalena markierte in ihrer Antwort wichtige Stationen ihres Lebens, ohne aus‑ führlicher auf einzelne Punkte einzugehen. Sie sprach dabei von ihrem Leben vor dem Zweiten Weltkrieg in einer religiösen jüdischen Familie, vom Holocaust, den sie als junge Frau überlebt hatte, und begründete, weshalb sie hinterher nicht wie ihre Schwestern nach Israel emigriert ist. An den paraverbalen Äußerungen und Pausen lässt sich erkennen, dass sie vor allem, als es um den Tod der Eltern und zweier Ge‑ schwister im Konzentrationslager ging, Schwierigkeiten hatte, diese Erinnerungen zu verbalisieren. Sie ging im weiteren Verlauf des Interviews weder auf den Holocaust und die Schicksale ihrer Familienangehörigen noch auf ihr eigenes während dieser Zeit ein. Laut Gabriele Rosenthal »[…] lassen Lebensgeschichten von Überlebenden weiterhin erkennen, daß die Zeit der Verfolgung, die Zeit zuvor wie auch die Zeit danach, in den Bereich der Geschichtenlosigkeit versinken kann« (ebd. 1997b: 41). Bei Magdalena betraf dies vor allem die Zeit vor und während des Holocaust, wie sich zeigte. Magdalena selbst ist in den Konzentrationslagern Auschwitz und in Ravens‑ brück4 gefangen gewesen, wo sie 1945 von der sowjetischen Armee befreit wurde. 4 | Eine umfassende Studie zum Frauenkonzentrationslager Ravensbrück liefert beispielsweise Bernhard Strebel (2003). Ihm zufolge wurden etwa 9000 ungarische Jüdinnen direkt oder über Auschwitz nach Ravensbrück deportiert. Aufgrund der schwierigen Quellenlage sind genaue Zahlenangaben auch zu den dorthin deportierten slowakischen Jüdinnen nicht möglich, es seien jedoch mindestens 1000 gewesen (vgl. ebd.: 131 f.). Das Lager ist bis Anfang 1942 das einzige Frauenlager des KZ‑Systems gewesen, spä‑ ter wurden aber auch Männer, Kinder und Jugendliche inhaftiert (vgl. ebd.: 21). Neben zahlreichen Zeit zeugInn enb erichten und autobiografischen Abhandlungen gibt es zum größten Konzentrations- und Ver‑
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Mehr erzählte sie dazu nicht, sondern sie sprang gleich in die Gegenwart, in der sie anlässlich des 60. und 65. Jahrestags der Befreiung des Konzentrationslagers Ravens‑ brück dorthin eingeladen wurde. Bei ihrem letzten Besuch dort habe sie auch das Holocaust-Mahnmal und das jüdische Museum in Berlin gesehen. Magdalena hat vor dem Holocaust geheiratet, als sie sehr jung war. »Mein Mann war vier Jahre in Russ‑ land. Nicht in Gefangenschaft, aber wir waren hier Ungarn, ja, wir waren hier von Ungarn besetzt. Und sie haben meinen Mann ins Arbeitslager mitgenommen. Wir haben uns vier Jahre lang nicht gesehen.« Wie bei Henrys Ehe spricht die Tatsache, dass Magdalena und ihr Mann nach dem Zweiten Weltkrieg gemeinsam ein neues Leben begannen, dafür, dass sie auch gemeinsam an ihrer Zukunft arbeiten konnten: »Es scheint, daß Erst-Ehen von Überlebenden, also Verfolgten, die weder einen Partner noch Kinder ver‑ loren haben, bessere Voraussetzungen zur Schaffung eines gemeinsamen Raumes bieten, in dem sie das, was sie erlitten haben, gemeinsam tragen und verarbeiten können, so daß die traumatischen Auswirkun‑ gen auf die Entwicklung ihrer Kinder möglichst gering bleiben.« (Herzog 1995: 131).
Doch über Magdalenas Mann und eine gemeinsame Aufarbeitung erfuhr ich nicht genug, ebensowenig über ihren Sohn, der wenige Jahre nach Kriegsende zur Welt kam. So kann weder diesbezüglich noch über die Verarbeitung des Holocaust im fa‑ miliären Gedächtnis eine Aussage getroffen werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg emigrierten ihre drei Schwestern nach Israel. Mag‑ dalenas Wunsch war es, ihnen nach dem Verkauf ihres Elternhauses zu folgen, doch die politischen Umstände haben dies extrem erschwert. Die Ausreise nach Israel ver‑ zögerte sich auch durch die Geburt ihres Sohnes. Sie beschloss schließlich, in Košice zu bleiben, und konnte erst nach 14 Jahren ihre Familie in Israel besuchen. Schuld daran seien die strengen Ausreisebestimmungen des sozialistischen Regimes gewe‑ sen, denn man habe bestimmte Papiere5 dafür gebraucht. Und diese zu bekommen, nichtungslager Auschwitz die mehrbändige Studie von Waclaw Dlugoborski und Franciszek Piper (1999). Siehe auch den Zeitzeugenbericht der beiden slowakischen Juden Rudolf Vrba und Alfred Wetzler, denen es 1944 gelang, aus Auschwitz zu fliehen: vgl. Bestic/Vrba (1964); Wetzler (2007); Świebocki (1997); vgl. dazu auch Karny (2002). 5 | Die Ausreisepapiere (slowakisch: vycestovacie doložky, tschechisch: výjezdní doložka), habe man für die Ausreise aus der Tschechoslowakei gebraucht, wobei es für die verschiedenen Ostblock-Staaten je‑ weils andere Ein- und Ausreisebestimmungen gegeben hat. Damals habe man keinen Reisepass gehabt, sondern lediglich ein zweiseitiges Formular, auf dem die Geburtsdaten festgehalten waren. Ein mehrsei‑ tiges Antragsformular, in dem man Gründe für die Ausreise und weitere Informationen angeben musste, bildete bei Genehmigung durch die Behörden zusammen mit den Ausweispapieren, die Ausreisepapiere. Wie mir verschiedene ZeitzeugInnen aus Lučenec berichteten, habe man den Papieren eine Erlaubnis des Arbeitgebers beifügen und für bestimmte Länder wie beispielsweise das damalige Jugoslawien, habe man gesondert Visa beantragen müssen. Das Geld, das man ins Ausland mitnehmen wollte, habe eigens genehmigt werden müssen. Es habe für alles Formulare gegeben, und alles sei strengen Kontrollen unter‑ legen. Die Aussagen der ZeitzeugInnen, die ich dazu befragt habe, beziehen sich auf die 1960er Jahre. In
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ist sehr schwer gewesen. Größtenteils sei es nur mit Korruption gegangen, erklärte sie, »wir haben irgendeinen Beamten bezahlt und er hat sie uns gegeben.« Es ist damals nicht einfach gewesen, nach Israel zu reisen, denn das Land sei laut Magdalena »der größte Feind« gewesen, »weil da war der Zionismus. Der Zionismus war eine feind‑ liche Bewegung.« Laut Alena Heitlinger unterstützte das kommunistische Regime in der Tschechoslowakei den neuen israelischen Staat und die Emigration tschechoslo‑ wakischer Juden zunächst noch. Doch 1949 habe sich die Situation geändert (vgl. u.a. Avriel 1984; Rucker 2001; Brod 1980 zit. n. Heitlinger 2006: 41; Kapitel 4.1.3). Peter Salner beschreibt diese Zeit folgendermaßen: »The Czechoslovak Communist Party (KSČ) soon changed its forthcoming attitude and it labeled ›Zionists‹ as enemies (the term was used to denote Jews in general). Not only active Zionists, but also the Jews, who had nothing in common with this ideology, became the victims of the communist persecutions.« (Ebd. 2013: 30)
Magdalena war während des Sozialismus insgesamt zweimal in Israel. Ihre Schwes‑ tern sind kurz nach ihrer Emigration 1948 wieder nach Košice zu Besuch gekommen. Dann haben sie sich lange nicht gesehen. »Ich sage ja, nach 14 Jahren war ich zum ersten Mal dort. Also das ist eine sehr sehr lange Zeit im Leben eines Menschen.« Erst als während des Prager Frühlings die politische Situation etwas gemäßigter und die Ausreisebestimmungen lockerer wurden, konnte Magdalena ihre Familie wieder in Israel besuchen. Ihr Sohn lebte damals für kurze Zeit dort, bevor er nach Amerika auswanderte. Magdalena hatte zu diesem Zeitpunkt aber nicht mehr erwogen, die Tschechoslowakei dauerhaft zu verlassen: »Nein, ich war damals nicht mehr so jung, dass ich von vorne hätte anfangen können. Ich hatte eine Woh‑ nung, diese Wohnung, das ist eine anständige Wohnung, ich mag sie. Ich hatte eine gute Arbeitsstelle und Anerkennung, ich habe nie persönlich Antisemitismus gespürt. Die einzige Schwierigkeit für mich war, dass ich meine Familie nicht besuchen konnte, wenn ich es wollte. Aber ich musste verschiedene Umwege finden, damit ich für Besuche raus konnte. Entweder zur Familie in Israel oder zu meinem Sohn. Aber hier und da ist es mir gelungen.«
den 1980ern wurden Reisepässe eingeführt. Hier ist zu bedenken, dass es in den unterschiedlichen Phasen des Sozialismus jeweils andere außenpolitische Beziehungen und auch entsprechend strenge oder gemil‑ dertere Reisebestimmungen gegeben hat. Vgl. hierzu auch die Studie über die Reiserestriktionen in der Tschechoslowakei in der Zeit der Normalisierung 1969–1989, hier fasst der Autor Jan Rychlík zusammen: »To travel to countries outside the East Bloc and Yugoslavia, one needed not only a valid passport, but also a special exit permit (výjezdní doložka) attached to the passport for each journey. The exit permits were issued by the regional Passport Offices. To obtain one, the hopeful traveller was required to present a foreign currency exchange permit « (ebd. 2012: 177).
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Unter anderem sind ihr die Treffen mit ihrem Sohn und seiner damaligen Verlobten geglückt, da sie sich in Ungarn und Rumänien6 treffen konnten. Rumänien ist Israel gegenüber liberaler gewesen. »Nach Ungarn und nach Rumänien durfte er. Da war es freier. Damals haben sie ihn nicht hierher gelassen. Er war hier für anderthalb Jahre als Dissident verurteilt. Als Dissident, nicht als Jude. Also haben wir uns in Ungarn oder Rumänien getroffen.« Bis auf diese Einschränkungen der Reisefreiheit hat Magdalena während des So‑ zialismus nie Probleme gehabt, wie sie immer wieder betonte. Auch hat sie in die‑ ser Zeit keinerlei persönliche Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht, »nur den Kommunismus habe ich gespürt, ja, dass ich nicht raus konnte. Aber da durften auch die Nicht-Juden nicht raus, nicht nur die Juden. Ja.« Die Repressionen der Religionen hatte sie zwar mitbekommen, doch auch dies sieht sie persönlich für sich nicht als problematisch. »Naja, Sie wissen also, dass der Kommunismus die Religionen unter‑ drückt hat. Aber ich habe mich immer zu meiner Religion bekannt und hatte deswe‑ gen keinen Schaden.« Dennoch gab es Einschränkungen und Sorgen in ihrem Alltag während des Sozialismus: »Ehh … sagen wir, sagen wir, dass ich schöne … ich hatte Familie in Israel und einen kleinen Sohn. Und sie haben mir wunderschöne Sachen zum Anziehen geschickt.« Magdalena hat damals verheimlichen müssen, dass sie Kontakt zu ihrer Familie in Israel hatte und Post von ihr bekam. »Also ich wollte nicht, dass er [ihr Sohn] sagt, dass er die Kleidung aus Israel bekommt, weil das war keine gute Werbung. Also habe ich ihm erzählt, dass wir das alles aus Moskau haben. Dann hat er gesagt, wir haben das aus Moskau. Ja, und alle haben darüber gelacht, weil jeder wusste, woher er das hat, ja, dass er das nicht aus Moskau hat.«
Magdalena hat auch im Briefkontakt mit ihrer Familie aufpassen müssen. Ihr Mann hat sich damals sehr gesorgt: »Also … mein Mann hat gesagt … er hat sich gefürchtet als der Stalinismus, der düstere Stalinismus, der Totalismus, also ich habe mit meinen Verwandten korrespondiert … Und mein Mann, der war ziemlich ängstlich … er hat sich gefürchtet und gesagt: ›Nein, pass auf, was du schreibst‹ … also musste ich aufpassen, was ich schreibe. Ich habe nicht über … geschrieben, sondern verschiedene Chiffren und
6 | Rumänien hatte als einziger der osteuropäischen Staaten weiterhin diplomatische Beziehungen zu Israel unterhalten, schreibt Paul Lendvai. Seine Ausführungen beziehen sich auf die Regierungszeit von Nicolae Ceauşescu von 1965 bis zum Erscheinen des Buches Anfang der 1970er. Er schreibt, auch über die Situation der Juden in Ungarn: »Rumäniens anfänglich fast unmerkliche, im ganzen aber sensationelle Emanzipation von der russischen Vorherrschaft in den sechziger Jahren hat sich auf die Position der jü‑ dischen Bevölkerung günstig ausgewirkt. Nicht nur genießen sie die gleiche Freiheit in der Religion und der Pflege ihrer eigenen Kultur wie ihre Glaubensbrüder im benachbarten Ungarn, die rumänischen Juden sind die einzigen der kommunistischen Welt, die seit 1965 enge Beziehungen zum Jüdischen Weltkongreß und zu jüdischen Gemeinden im Ausland aufrechterhalten dürfen« (ebd. 1972: 289).
»New Jewish Identities«? Perspektiven auf individuelle Lebens- und Erfahrungswelten | 261 andere Decknamen benutzt … ja, weil sie haben jeden zensiert, sie haben sehr zensiert. Natürlich haben sie jeden zensiert.«
Zögerlich und mit vielen Pausen erinnert sich Magdalena hier an die Zeit, als sie mit ihren Äußerungen vorsichtig sein und ihre Worte mit Bedacht wählen musste. Dies spiegelt sich in ihren fragmentierten Aussagen wieder. Ihren Ehemann beschrieb sie dabei als sehr ängstlich, doch sie habe trotzdem Kontakt zu ihrer Familie gehalten und sich der Angst widersetzt. Dabei ist ihr Mann im Gegensatz zu ihr und offen‑ bar auch trotz seiner Vorbehalte regelmäßig in die Gottesdienste im Gebetsraum der jüdischen Gemeinde gegangen, manchmal auch unter der Woche: »Ich hatte keine Probleme. […] Ich hatte nie Probleme wegen meiner Religion. Mein Mann ist in die Kirche7 gegangen, er war so ein jüdischer Jude, ja, und er ist in die Kirche gegangen.« Magdalena sprach hier wiederholt vom Jüdischen als ihrer Religion. Diese habe sie im Gegensatz zu ihrem Mann nicht so sehr ausgelebt, sich lediglich an einige der Traditionen gehalten. Die Bezeichnung »jüdischer Jude« steht hier für die stärkere Religiösität ihres Mannes und fungiert auch als Unterscheidung zwischen ihm und ihr sowie der unterschiedlichen Umsetzungen in religiösen Praktiken. Trotz der Restriktionen im Alltag und des Ausreiseverbots ins westliche Ausland beschrieb Magdalena ihr Leben während des Sozialismus rückblickend nicht als ne‑ gativ und gab an, im Gegensatz zu ihrem Ehemann damals keine Angst gehabt zu haben. »Aber ich habe mich nicht gefürchtet. Ich habe mich nicht gefürchtet. Ich habe immer gesagt, ich bin eine bewusste Jüdin. Also habe ich mich nicht versteckt.« Dazu trugen außer den gerade beschriebenen erfolgreichen Strategien, Kontakt zu ihrer Familie zu halten, insbesondere auch ihr soziales Umfeld und die Bestätigung ihrer beruflichen Leistungen bei.
6.1.2.3 Leben zwischen »guten Kommunisten«, Skype und den »Survivors« Magdalena betonte, dass sie nie direkt Antisemitismus zu spüren bekommen habe, obwohl ihr bewusst sei, »dass es ihn gegeben hat und dass man hinter meinem Rü‑ cken gesagt hat: ›Das ist eine Jüdin.‹ Aber ich habe ihn nie irgendwo gespürt, ich hatte eine gute Anstellung.« Sie erklärte: »Antisemitismus gab es immer und wird es immer geben. Es wird ihn auch da geben, wo keine Juden leben.« Diese Aussage traf sie sehr nüchtern und ohne ein Anzeichen von Angst oder Sorge, im Gegensatz zu vielen an‑ deren meiner InterviewpartnerInnen wie beispielsweise Henry. Allerdings erinnerte sie sich, dass einmal gewisse Vorurteile gegenüber Juden an sie herangetragen wur‑ den: »Ich habe viele nicht-jüdische Freunde. Und ich habe in einer Firma gearbeitet und mit meinen Kolle‑ ginnen darüber gesprochen, dass meine Freundin gerade bei der Messe war, weil ihre Mutter gestorben 7 | Magdalena sprach – wie viele andere meiner InterviewpartnerInnen auch – von der Kirche, meinte aber den jüdischen Gebetsraum in der Gemeindeanlage und die (orthodoxe) Synagoge in Košice an der Puškinová.
262 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 ist. Da hat meine Kollegin gesagt: ›Deine Freundin geht zur Messe? Und ist sie nicht auch Jüdin?‹ Und ich habe gesagt: ›Warum sollte sie Jüdin sein?‹›Weil man sagt, die Juden befreunden sich nur untereinander.‹ Verstehen Sie, was ich sage?«
Trotz dieser Erfahrung hob Magdalena ihre Arbeitsstelle als positiv hervor, da sie dort sehr geschätzt wurde. Sie wurde bilingual erzogen, hat mit den Eltern Ungarisch und mit ihrer Großmutter Deutsch gesprochen und in der Schule auch Englisch, Fran‑ zösisch und Latein gelernt. Diese Mehrsprachigkeit ist ihr besonders in ihrem Beruf zugute gekommen: »Also … also hatte ich es immer gut, auch als ich gearbeitet habe. Aber das waren alte Kommunisten. Hauptsache, sie waren Kommunisten, ja? Gute Kommunisten, aber das waren anständige Menschen, ich konnte mich nicht über sie beschweren. Und sie haben mich geschätzt, weil sie gesehen haben, dass ich die gesamte Rechtschreibung beherrsche und wenn sie eine Sprache brauchten, habe ich auch die ge‑ konnt. Also war ich immer zufrieden und sie mit mir auch. Ich habe mich nicht beschwert, ich habe mich in der Arbeit gut gefühlt und genauso mein Mann.«
In dieser Aussage beschrieb Magdalena ihre Vorgesetzten, die Mitglieder der kom‑ munistischen Partei gewesen sind, als gute Menschen. Für sie stand im Vordergrund, dass sie gut behandelt und nie offen diskriminiert wurde. Ihr Wissen und ihre Leis‑ tungen wurden anerkannt. Ihre Fähigkeiten hob sie mir gegenüber ebenfalls stolz hervor, denn sie gibt ihren Bekannten bis heute Sprachunterricht. »Ja, ich bin so … ich habe ein Talent für Sprachen, also nutze ich diese Sprachen und gebe Privatunterricht in Deutsch und Englisch.« Magdalena war es offensichtlich wichtig, im Leben auch beruflich etwas geleistet und erreicht zu haben. Die Bestätigung, die sie aufgrund ih‑ rer Leistungen erhielt, war immer eng mit der sozialen Komponente verknüpft. Kon‑ takte zur Familie und zu FreundInnen sind ihr sehr wichtig, so dass sie sie sehr gewis‑ senhaft pflegt. Dazu zählt neben dem Sprachunterricht auch ihr Engagement in der jüdischen Gemeinde. Sie gehört dem Survivors Club an und vertritt ihre Generation auch beim Verein jüdischer Frauen, ESTER. Die regelmäßige Begegnung mit anderen Mitgliedern der jüdischen Gemeinde und die Gruppenzugehörigkeit stellten sich im Verlauf des Gesprächs als besonders wichtig für sie heraus. Die jüdische Gemeinde beschrieb sie als lebendig und aktiv, obwohl sie zahlenmäßig sehr geschrumpft und auch gealtert ist: »Und jetzt sind hier nurmehr 300 Menschen, die offiziell in der jüdischen Gemeinde registriert sind. Aber außerdem gibt es hier sehr viele, die nicht eingetragen sind, oder sie leben in Mischehen und haben sich nicht bei der jüdischen Gemeinde gemeldet. Aber die sind hier so verstreut und so verloren. Um nicht zu sagen … also sie leben nicht zusammen mit uns. Wir haben ein sehr lebendiges … Leben in der Gemein‑ de. Wir haben dort verschiedene kulturelle [Aktivitäten], wir haben da beispielsweise den Club für die, die überlebt haben. Den Club für die Survivors.«
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Diejenigen, die der jüdischen Gemeinde nicht angehören, beschreibt Magdalena als »verstreut«, sie hingegen genieße die Annehmlichkeiten, die der Generation der Sur‑ vivors in der Gemeinde zuteil würden: »Die kennen Sie, die Survivors, ja? Die haben verschiedene Vorteile. Beispielsweise bietet ihnen die Ge‑ meinde Massagen und Kosmetik an. Sie liefern das Mittagessen zu einem sehr guten Preis nach Hause. Aber sie kochen dort auch und wir gehen da hin. Diejenigen, die nicht krank sind, die gehen dorthin zum Mittagessen. Ich gehe da auch zumindest zwei-, dreimal wöchentlich zum Mittagessen hin. Ich könnte jeden Tag gehen, aber ich will mir auch ab und zu etwas zu Hause kochen. Aber wir gehen da dreimal die Woche hin, da treffen wir uns, wir haben dort den Club der Survivors.«
Magdalena erzählte von den Treffen der ältesten Überlebenden und erklärte mir auch den Unterschied zwischen den Survivors und den Hidden Children. Der Hauptunter‑ schied bestehe im Alter, doch viele der Survivors seien auch in Konzentrationslagern gewesen. »Das ist sehr … es ist auch … das gibt mir so ein gutes Gefühl. Ich treffe mich da mit Leuten, Freunden, Gleichaltrigen. Wir sprechen, diskutieren alle Ereig‑ nisse, sowohl politische als auch unpolitische sowie gesellschaftliche. Und das ist da sehr angenehm.« Laut Miriam Victory Spiegel und Sylvie Tyrangiel lässt sich für die Generation der Holocaustüberlebenden »[d]ie Suche nach Kontakt mit Menschen, die Ähnliches erlebt haben, […] als eine sehr bedeutsame Bewältigungsstrategie verste‑ hen« (ebd. 2002: 32). Außer den Massagen und kosmetischen Behandlungen, die exklusiv nur für die ältesten Gemeindemitglieder angeboten werden, gibt es auch einmal die Woche ein Gymnastik-Angebot für sie. Neben den sozialen Kontakten, die ihr die Vereine der jü‑ dischen Gemeinde ermöglichen, weiß Magdalena auch das Angebot und die Privile‑ gien für die Ältesten zu schätzen. Doch auch die jüdischen Traditionen spielen für sie eine wichtige Rolle, obgleich sie, wie schon beschrieben, nicht religiös lebt. Zu Beginn unseres Interviews erwähnte sie noch, dass sie aus einer weniger strengen orthodoxen Familie stammt: »Meine Mutter ist gegangen, meine Mutter und mein Vater sind in die Puškinová in diese Synagoge gegangen, in die [gegenwärtig] renovierte. Und die war so, so gemäßigt.« Dies war die einzige Erinnerung aus der Zeit vor dem Holocaust, die Magdalena mit mir teilte. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist ihr Mann während des Sozialismus am Schabbat regelmäßig in das Gebetshaus gegangen, »er hat sich da mit seinen Kollegen und Freunden getroffen. Ich bin an den großen Feiertagen, wie Neujahr, dem jüdischen Neujahr und zu Jom Kippur auch in die Kirche gegangen. Sonst bin ich nicht gegangen«. Bis heute hält sie diese Traditionen ein. An Jom Kippur fastet sie sogar den ganzen Tag, daran hat sie sich bisher immer gehalten, wie sie stolz erzählte. Wichtig sind ihr auch die Messen für die Verstorbenen, die sie in Gedenken an ihre Familienmitglieder immer besucht »Wir haben viermal im Jahr solche Mes‑ sen für die Toten. Das heißt Maskir. Und ich gehe zu jeder, bisher war ich immer da.« Auch am Schabbat zündet sie bis heute jeden Freitagabend Kerzen an. Diese Rituale haben für sie persönlich eine Bedeutung und sind ihr wichtig. Sie vermitteln ihr bei der Ausführung Kohärenz sowie Kontinuität und wirken sich auf die Konstruktion
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positiver Identitätsgefühle aus. Denn laut Keupp und KollegInnen »repräsentiert [das Kohärenzgefühl] jene Gefühle, mit denen ein Subjekt die Sinnhaftigkeit, Machbar‑ keit und Verstehbarkeit seiner Selbsterfahrungen (bzw. der darin enthaltenen eigenen Identitätsentwürfe und -projekte) bewertet« (ebd. 2002: 242). Insgesamt hat Magdale‑ na aber eine lockere Einstellung zur Ausübung der Traditionen: »Sehen Sie, ich kann mich als Jüdin fühlen, aber ich muss die Feiertage und Traditionen nicht einhalten. Ich halte sie zufällig ein, aber nicht so streng. Ja? Ich zünde Freitagabend die Kerzen an. Das ist wahr. Aber sonst … « Dazu stellte Peter Salner fest: »In response to the Holocaust trauma, the Jewish community members lost (young ones could not de‑ velop any) interest in Judaism as a religious system. However, they did not get rid of all their spiritual and emotional links with their past. They have perceived their Judaism in a secular way, but it still exists. They did not loose their (formal) connection with religious roots. They try to demonstrate it ›ritually‹ on participation at Mazkir, Seder, by consuming Matzos instead of bread on Passover, by fasting on Yom Kipur or choosing some kind of semi-kosher diet, i.e. a symbolic observation of some kashrut principles. The above mentioned (including others) demonstrations of respect for traditions do not reflect religiosity, but rather one’s respect for ancestors and their traditions.« (Ebd. 2013: 37, Abk. i. O.)
Die Feiertage haben bei Magdalena stets einen traurigen Beigeschmack, da sie sie ganz alleine verbringt. Mit ihren Verwandten hält sie über Skype Kontakt, und sie spricht jeden Tag mit ihnen, auch an den Feiertagen: »Sehen Sie, jetzt bin ich schon gar nicht in die Kirche gegangen und ich bin hier alleine, also was soll ich mir hier ein Festessen kochen? Also mache ich mir lieber nicht bewusst, dass ich einen Feiertag habe, damit ich hier nicht alleine trauere. Dass ich hier verlassen und alleine bin. Und die Familie ist dort und alle treffen sich schön, sie haben mich übers Internet und übers Telefon beglückwünscht und sie haben da schön die ganze Familie zusammen und ich bin hier alleine. Also sage ich mir, dass ich das lieber nicht so wahrnehmen sollte. Lasst mich in Ruhe, damit ich Ruhe habe und hier nicht sitze und weine und mich selbst bemitleide. Ja.«
Magdalena fällt die Trennung von ihrer Familie trotz des täglichen Kontakts und der regelmäßigen Besuche schwer. Indem sie ihren beruflich sehr erfolgreichen Sohn und ihre Familie häufig und stolz erwähnte, zeigte sie, wie wichtig sie ihr sind. Sandra Konrad hat im Rahmen ihrer Dissertation über die »Auswirkungen des Ho‑ locaust auf jüdische Frauen dreier Generationen« herausgearbeitet, dass »[f]ür die Holocaust-Überlebenden selbst wie auch für ihre Nachkommen […] Familie einen hohen – vielleicht den höchsten – Wert dar[stellt]« (ebd. 2007: 416). Dies trifft auch auf Magdalena zu. Dass sie selten mit ihrer Familie zusammen sein kann, kompensiert sie in einem aktiven Sozialleben. Hier betonte sie wieder die große Toleranz, die sie zwischen Juden und Nicht-Juden in ihrem Umfeld wahrnimmt: »Ich sage ja, ich habe bessere nicht-jüdische Freundinnen als jüdische, weil meine jüdischen Freundinnen allmäh‑ lich sterben. Also so ist das. Ich habe sie nicht mehr oder sie sind alt und ich muss sie
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pflegen.« Magdalena kümmert sich um ihre Freunde und Freundinnen, so gut sie es kann. »Ich habe damit keine Probleme und ich habe sehr gute nicht-jüdische Freun‑ dinnen, mit denen ich mich absolut gleichwertig fühle. Dass sie keine Jüdin ist und ich eine bin, spielt keine Rolle. Wir haben uns sehr gerne, und wir helfen uns gegenseitig sehr.« Über die jüdische Gemeinde stellte sie bei dieser Gelegenheit traurig fest: »Es gibt nur noch wenige Frauen, weil alle schon so gealtert sind. So dass schon … Wenn wir da 10, 15 Frauen sind, dann ist das viel.« Auch bei den Gottesdiensten seien immer weniger Bekannte aus ihrer Generation da, »ja, so langsam … einst war sie [die Syna‑ goge] voll, auch der kleine Gebetsraum war voll. Jetzt kommen noch 10 bis 15 Leute. Weil sie schon alt sind, nicht mehr können, sie sind schon krank und größtenteils in den Altenheimen. Also so treffen wir uns dort immer noch. Das ist alles.«
6.1.2.4 Kontinuitäten Magdalenas Porträt erinnert unwillkürlich an das folgende von Anna aus Lučenec (vgl. Kapitel 6.1.3). Beide Frauen haben als zentrale Themen ihre Familie, die Arbeit sowie die Anerkennung und weniger die negativen Erlebnisse in ihrer Biografie her‑ vorgehoben. So wurden der Holocaust und die traumatischen Erfahrungen auch von Magdalena knapp zu Beginn des Gesprächs zusammengefasst, aber nicht weiter aus‑ geführt und auch nicht noch einmal erwähnt. »Für die Interpretation, daß die vor der Verfolgung liegende Lebensgeschichte aufgrund der Vernichtung sämtlicher Kontinuitäten verlorengeht, spricht weiterhin, daß diejenigen, die von der Zeit vor der Verfol‑ gung erzählen, gerade jene biografischen Stränge erzählerisch ausbauen, die auch nach dem Krieg wieder aufgenommen werden konnten.« (Rosenthal 1997b: 43)
Dies bestätigte sich bei Magdalena, deren dominante Erzählstränge sich insbesondere um die mit Erfolg verbundenen Aspekte ihres Lebens drehten. Nach ihrer knappen Einleitung, in der sie in einem Satz ihr Leben vor dem Holocaust und das Schicksal ihrer Familie erwähnt hatte, sprach sie gleich vom Leben danach, der Gründung ihrer eigenen Familie mit ihrem Ehemann, der auch überlebt hatte, und der Trennung von ihren emigrierten Geschwistern. Ihr Leben während des Sozialismus beschreibt sie als von Unterdrückung gezeichnet, die sie aber nicht aufgrund ihrer jüdischen Ab‑ stammung empfunden hat, sondern vor allem aufgrund der strengen Ausreisebestim‑ mungen, die ungeachtet ihrer Abstammung, für alle gegolten hatten. Auch diese hat sie, ähnlich wie den Kontakt zu ihren Schwestern nach Israel und zu ihrem Sohn in die USA, mit List erfolgreich bewältigt. Ihr Beruf bildet eine weitere Erfolgsgeschichte in ihrer Biografie, die sie bis auf eine Erinnerung an ein an sie herangetragenes jüdi‑ sches Stereotyp, positiv ausschmückte. Magdalena betonte, dass sie nie Angst oder direkten Antisemitismus ihr gegenüber gespürt habe. Hier stellt sich die Frage, ob sie dabei bewusst nur die Zeit nach dem Holocaust erinnert hat oder gerade aufgrund ih‑ rer extremen Erfahrungen in den Konzentrationslagern die Formen des Antisemitis‑ mus nach 1945 als weniger beängstigend wahrgenommen hat. Die Teilidentitäten, die
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Magdalena in ihrer Biografie hervorhob, beziehen sich insbesondere auf ihre Rollen in der Familie und im Beruf. Da ihr Beruf seit einigen Jahren weggefallen ist, kom‑ pensiert sie dies durch ihr Engagement in den jüdischen Vereinen und als Sprachleh‑ rerin sowie durch ihre Freundschaften, die im »Prozess dialogischer Anerkennung« für sie wichtige soziale Ressourcen bei ihrer Identitätsarbeit darstellen (vgl. Keupp et al. 2002: 198). Ihre jüdische Identität belebt sie sowohl durch die sozialen Kontakte in der Gemeinde als auch durch die Einhaltung bestimmter Traditionen, die ihr im All‑ tag das Gefühl von Kontinuität vermitteln, ebenso wie der tägliche Kontakt zu ihren Familienmitgliedern über Skype. Aus Magdalenas Erinnerungen lässt sich also vor allem ein positiver Zugang zu ihrer jüdischen Identität ablesen. Allerdings ist dies nur ein Blickwinkel aus einer Momentaufnahme heraus, über den sie mir als einer fremden Person Einsicht in ihr Leben gewährte. Laut Aleida Assman ändern sich manche Erinnerungen im Lauf der Zeit »und mit der Veränderung der Person und ihrer Lebensumstände, andere verblassen oder gehen ganz ver‑ loren. Insbesondere verändern sich die Relevanzstrukturen und Bewertungsmuster im Laufe des Lebens, so daß ehemals Wichtiges nach und nach unwichtig und ehemals Unwichtiges in der Rückschau wichtig werden kann. Die in Erzählungen gebundenen und oft wiederholten Erinnerungen sind am besten kon‑ serviert, allerdings verlieren sie durch Routinisierung viel von ihrer ursprünglichen Erfahrungsqualität und können auch zu Deckerinnerungen werden, die den Zugang zu einer vorausgegangenen Erfahrung gänzlich versperren.« (Ebd. 2001: 118)
Außer über die Zeit vor und während des Zweiten Weltkriegs und die – meist erfolg‑ reich bewältigte – Unterdrückung während des Sozialismus fiel es Magdalena nicht schwer, über ihr Leben und die für sie wichtigen Stationen zu sprechen. Magdalena schafft es also, einzelne Elemente des Jüdischen in ihrer Identität pas‑ send für sich zu verknüpfen und entsprechend ihrer Lebensumstände auszuleben. Das Einhalten bestimmter Traditionen wird von ihr seit der Nachkriegszeit auf diese Weise und in gleichbleibender Intensität ausgelebt und generiert damit Kontinuität. Die Erfahrungen, die sie innerhalb ihrer sozialen Kontakte innerhalb und außerhalb der jüdischen Gemeinde macht, sind durchweg positiv behaftet und lassen Magdalena die für sie spürbaren und zu vereinbarenden Bereiche – aus Vergangenheit und Ge‑ genwart – erfolgreich in ihrem Identitätskonstrukt umsetzen.
6.1.3 Anna 6.1.3.1 Die schwierige Genese eines Interviews Kurz vor meiner Ankunft in Lučenec erfuhr ich, dass die damals 84-jährige Groß‑ mutter meiner angeheirateten Tante Evi die letzte noch in der Stadt lebende Jüdin aus der ersten Generation ist. Das freute mich zunächst, da ich mir sicher war, somit eine überaus interessante Interviewpartnerin zu bekommen. Dies erwies sich jedoch als schwieriger als gedacht. Da ich keinen Kontakt zur Familie meiner Tante hatte,
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war ich hier auf ihre persönliche Vermittlung angewiesen. Sie selbst ist in meinem Alter und ohne jeglichen Bezug zu ihren jüdischen Wurzeln aufgewachsen. Daher redete sie kaum mit mir über mein Forschungsthema und ich gewann schnell den Eindruck, dass sie demgegenüber eine abwehrende Haltung eingenommen hatte. Ob‑ wohl es naheliegend gewesen wäre, sie selbst und ihre Mutter sowie ihre Tante für ein Interview zu gewinnen, gelang mir dies nicht. Evi reagierte eher abweisend oder gar nicht, als ich sie darauf ansprach. Mit den schweren Erkrankungen ihrer Mutter und Tante wurde begründet, dass ich kein Interview mit ihnen führen könnte. Es kam mir auch so vor, als wolle Evi sie vor einem Gespräch mit mir bewahren oder beschützen. Als ich die Hoffnung auf ein Treffen mit ihrer Großmutter Anna schon fast aufge‑ geben hatte, fuhr mich meine Tante eines Abends spontan zu ihr. Um eine ›freiere‹ Interviewsituation zu gewährleisten, in der die Großmutter nicht in Gegenwart der Enkelin über bisher eventuell Beschwiegenes sprechen musste, bat ich meine Tante, uns alleine zu lassen. Sie verabschiedete sich für einige Zeit, um etwas zu besorgen. So war ich zumindest für eine Weile alleine mit Anna. Später kam Evi wieder zurück und ich versuchte, sie ins Gespräch miteinzubeziehen, was sich jedoch als schwierig erwies. Insgesamt spürte ich, dass meine Tante auch ihrer Großmutter mit dem In‑ terview nicht zu viel zumuten wollte, da sie mich indirekt sehr schnell zum Aufbruch drängte. In der kurzen Zeit unseres Gesprächs zeichnete Anna mit ihren Erinnerun‑ gen ein eindrückliches Bild ihrer Biografie, in dessen Licht auch die Haltung meiner Tante verstehbarer wird.
6.1.3.2 » Also ich bin als Einzige am Leben geblieben … Was willst du noch wissen?« Nachdem wir uns in ihrem Wohnzimmer gesetzt hatten, begann Anna sofort, ihr Leben zusammenzufassen: »Ich bin aus Polen. Ich habe den Krieg in Ungarn überlebt. Also ich bin in Polen geboren. Das war Galizien und das gehört jetzt zur Ukraine und einst gehörte es zu Polen. Aber jetzt gehört es zur Ukraine. Und als dann die Deutschen kamen, 1939, wurde Polen zwischen den Deutschen und den Russen geteilt. Und dann, 1941, haben die Russen die Deutschen überfallen und die Deutschen die Russen. Und so kam ich nach Ungarn. Und dort habe ich den Krieg als Christin in einem Internat überlebt. Also habe ich den Krieg überlebt. Ich war beim Direktor des Internats das Zimmermädchen. Und keiner hat gewusst, dass ich Jüdin bin. Ich bin richtig in die Kirche gegangen und alles. Und als der Krieg zu Ende war, habe ich meinen Mann kennen gelernt, der aus Lučenec stammte. Und hier habe ich 1946 geheiratet. Nach dem Krieg. Dann habe ich zwei Töchter geboren, dann habe ich in einer Fabrik gearbeitet. Wir hatten die Synagoge [den Gebetsraum], und viele sind hergekommen. Wir haben uns amüsiert und uns immer an die großen Feiertage gehalten, ob die Osterfeiertage oder die im Herbst, Neujahr oder Jom Kippur, das ist der Tag der Versöhnung. Und jetzt sind alle gestorben. Und nur ich bin als einzige von den Alten in Lučenec geblieben. Die alten Leute, die den Holocaust überlebt haben, sind gegangen. Also bin nur noch ich da. Mein Mann ist 1971 gestorben. Und nun habe ich zwei Töchter, Enkel, Urenkel. Und so lebe ich, kränklich, allein. Das ist also meine Geschichte.«
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Für Anna schien das, was sie mir dargelegt hatte, alles an wichtigen Informationen zu beinhalten, die sie mir geben konnte. An ihrer Zusammenfassung ist neben wei‑ teren Parallelen zu Magdalenas vorangegangenen Ausführungen (vgl. Kapitel 6.1.2) auffällig, dass sie außer der Tatsache, dass sie aus Galizien stammte, nichts über die Zeit vor dem Holocaust erzählte. Die geopolitischen Fakten über ihre einstige Heimat schmückte sie jedoch mit einigen Wiederholungen aus. In ihre Erzählung schloss sie chronologisch alle wichtigen Ereignisse ihres Lebens ein, ohne jedoch weiter auf sie einzugehen. Sie beendete sie mit dem Satz: »Also ich bin als Einzige am Leben ge‑ blieben … Was willst du noch wissen?« und gab damit auch den einzigen Hinweis darauf, dass sie ihre gesamte Familie während des Holocaust verloren hatte. Die Auf‑ forderung an mich, ihr weitere Fragen zu stellen, wirkte dabei wie ein Schnitt zu dem vorher Gesagten, das nicht mehr angesprochen werden sollte. Wie bei Magdalena fällt auch für Anna die Zeit des Holocaust und ihr Leben davor in das Nicht-Erzählbare (vgl. Kapitel 2.1.3). Laut Gabriele Rosenthal werden diese Themen vermieden, um eine glückliche Zeit vor der Verfolgung und positive Erinnerungen an die Familie nicht zu gefährden (vgl. Rosenthal 1997b: 43). Ich musste mich also vorsichtig vorantasten, um mehr zu erfahren. So sprachen wir über ihren Ehemann, der den Krieg durch einen Zufall und viel Glück in einem Arbeitslager überlebt hatte: »Und da hatten sie dann keinen Chauffeur. Und mein Mann war Chauffeur. Also ist er auf einen Lastwagen gelangt und hat Proviant für die Soldaten verteilt. Sie waren gezwungen, einen Juden zu nehmen, weil damals gab es nicht so viele Autos. Es gab auch kaum Fahrer, und so hat er also den Krieg überlebt.«
Anna hingegen hat versteckt überlebt und ist damals wie viele andere jüdische Kinder katholisch getauft worden: »Auf dem Papier stand es, und sie haben es mir geglaubt [dass sie Katholikin war], und so habe ich über‑ lebt. Also war ich auch nicht in Auschwitz. Und so habe ich den Krieg überlebt, inkognito halt. Und ich war so klug, ich hatte so viel Selbstvertrauen in mir, dass ich richtig in die Kirche gegangen bin, und das waren richtige Katholiken. Und die liebenswürdige Hausdame, das war eine Schwäbin, eine Deutsche, eine große Katholikin. Und so konnte ich alles machen wie sie. Ich war jung, also konnte ich das alles machen, ich bin sogar zur Beichte gegangen.«
Wie bei ihrem Ehemann hob Anna auch ihre Fähigkeiten hervor, mit denen sie es geschafft hatte, den Holocaust zu überleben. Hier weist ihre Überlebensgeschichte Parallelen zu der von Henry auf, denn auch er schaffte es durch seinen Mut und seine Selbstsicherheit, während des Zweiten Weltkriegs in seinen Verstecken nicht entdeckt zu werden (vgl. Rosenthal 1997b: 41). Anna vertiefte ihre »Erfolgsgeschichte« nicht, sondern knüpfte wie Magdalena und Henry sofort an die Ereignisse an, die in ihrem Leben Kontinuität generierten, so beispielsweise die Gründung einer Familie. Sie er‑ zählte, dass sie ihren Ehemann in Budapest kennengelernt und ihn nach dem Ende
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des Zweiten Weltkriegs gleich geheiratet hatte. Lučenec ist seine Heimatstadt gewe‑ sen, daher haben sie sich dort niedergelassen. Sandra Konrad schreibt, dass »es für die Überlebenden des Holocaust auch nach der Befreiung meist kein schützendes Umfeld [gab], das sie in ihrem Prozess des Trauerns unterstützen konnte. Im Gegenteil, es wurde von ihnen erwartet, dass sie die Vergangenheit verdrängen und sich ungeachtet ihrer schweren psychischen, familiären und sozialen Beschädigungen in die jeweilige Gesellschaft funktionierend integrieren. Die Ausrichtung auf Zukunft scheint in vielen Fällen jedoch stabilisierend gewirkt und das Gefühl der Selbstwirksamkeit wie‑ der hergestellt zu haben.« (Ebd. 2007: 44)
Dabei spielte die Gründung einer Familie auf mehreren Ebenen eine wichtige, wenn nicht sogar die wichtigste Rolle, wie auch James Herzog betont: »Darüber hinaus haben Überlebende häufig den starken und überwältigenden Wunsch, etwas Neues zu erschaffen – einen Wunsch, der sich unter Umständen als entscheidender Faktor erweist. Das Verlan‑ gen, Ersatz für Verlorenes zu finden, die geplante Vernichtung zu widerlegen, ungeschehen zu machen und weiterzuleben, kann in der Ehe Überlebender zur vorrangigen Antriebskraft beider Partner werden.« (Ebd. 1995: 131)
Die Familie erwies sich daher auch bei Anna als ein zentrales Lebensmotiv. So beton‑ te sie, dass sie keine Freundinnen mehr habe, denn die seien alle bereits gestorben. »Ich habe nur meine Kinder. Wir sind jeden Tag zusammen. Ich war auch heute bei ihnen und alle waren da. Also die Kinder. Die Kinder halten mich über Wasser. Und das mit 84.« Anna war damals bereits mehrfache Urgroßmutter und sehr stolz auf ihre Familie. Wie mir beispielsweise von meiner Großmutter erzählt wurde, spricht Anna bei gemeinsamen Treffen nach wie vor hauptsächlich über ihre Kinder und EnkelInnen und wird auch täglich von ihnen besucht. »Die Kinder, die von Holo‑ caustüberlebenden geboren wurden, bedeuteten für diese häufig einen Triumph über die intendierte Vernichtung. Auch die gesellschaftlichen und beruflichen Integrati‑ onsleistungen nach der Befreiung trugen zur Stabilisierung der Überlebenden bei« (Konrad 2007: 33). Anna betonte dementsprechend auch, dass sie stets ein gutes Leben und nie Schwierigkeiten gehabt habe, weil sie Jüdin ist.
6.1.3.3 »Ich habe viel erlebt, ich lasse nichts auf meinen Glauben kommen« Annas Meinung nach wissen alle in der Stadt, dass sie Jüdin ist. Sie hat die Traditio‑ nen und die jüdischen Feiertage gemeinsam mit ihrem Mann und nach dessen frü‑ hem Tod auch alleine eingehalten. »Ich zünde mir auch heute noch jeden Freitag eine Kerze an, weil dann ist Schabbat.« Während des Sozialismus hatte sie keine Schwie‑ rigkeiten, ihren Glauben auszuüben, und sie musste nie etwas verheimlichen. »Hier weiß das doch jeder, ich bin stolz darauf und verstecke mich nicht. Ich habe viel erlebt, ich lasse nichts auf meinen Glauben kommen. Ich habe deswegen viel erlebt. Ich bin bei dem alten Glauben geblieben. So ist es.« Mehrfach wiederholte Anna auch: »Ich bin orthodox, weil ich bin aus Polen und da waren alle orthodox. Ich konnte ruhig in
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die Kirche [den Gebetsraum] gehen. Und sie haben gewusst, dass wir einen Feiertag haben. Und sie wissen, wenn die Juden große Feiertage haben und den Versöhnungs‑ tag und Neujahr und Pessach.« Anna zählte mir die Feiertage auf und erklärte: »Also weiß ich das, weil ich bin aus einer orthodoxen Familie und aus Polen, also weiß ich das.« Doch lebte sie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht streng religiös, sondern wie die meisten anderen meiner InterviewpartnerInnen hielt sie sich an die Rituale, die mit dem Alltag im Sozialismus vereinbar waren. »Aber hier ließ sich das nicht so ein‑ halten … mein Mann war auch ein Atheist, der war auch nicht so … aber ich stamme aus Polen, aus einer orthodoxen Familie«, räumte Anna ein. Es schien so, als sei der Glaube und die Erinnerung an ihr einst religiöses Leben das, was sie noch mit ihrer im Holocaust ermordeten Familie verbindet. Daher wiederholte sie oft, dass sie aus Polen stammt und – im Gegensatz zu den meisten verbliebenen Juden im Lučenec der Nachkriegszeit sowie auch ihrem Mann – orthodox aufgewachsen ist. »Und mir hat nie jemand weh getan deswegen und jeder hat mich respektiert. Ich habe 18 Jahre in einer Fabrik gearbeitet, hatte wirklich gute Kollegen, sie mochten mich, das kann ich sagen. In Lučenec war das [sie meint die Repressionen während des Sozialismus] nicht so, das ist nicht wahr. Sie haben mir kein einziges krummes Wort gesagt. Und wenn Feiertage waren, haben sie mir frei gegeben.«
Für Anna ist es während des Sozialismus ganz und gar nicht schwierig gewesen, ihren Glauben auszuleben. Auch hat sie sich durch nichts eingeschränkt gefühlt. Dies steht im starken Kontrast zu den Aussagen von Henry und Magdalena, die ihre jüdische Abstammung damals verheimlichten, und auch zu den Erfahrungen der Nachkriegs‑ generation, wie beispielsweise von Annamaria (siehe Kapitel 6.2.2). Hier spielt jedoch auch der Unterschied zwischen den beiden Städten und der Größe sowie Aktivität der dort lebenden jüdischen Gemeinde eine Rolle, ebenso wie die individuellen Lebens‑ umstände der AkteurInnen. Henry musste schon alleine aufgrund seines Berufs im öffentlichen Sektor und einer gehobeneren Position aufpassen, Magdalena wegen des Kontakts zu ihrer Familie in Israel und den USA. So fügte auch Anna an dieser Stelle hinzu: »Ich sage ja, es ist wahr, dass wir während des Sozialismus hier ruhig [zum Gebet] gehen konnten. Aber ich habe gehört, dass es in größeren Städten Kontrollen gab. In Lučenec nicht.« In einem anderen Punkt gleichen Annas Anschauungen wiederum denen meiner anderen InterviewpartnerInnen aus Lučenec, etwa dass sie im Vergleich zur momen‑ tanen prekären wirtschaftlichen Situation diejenige, die im Sozialismus geherrscht hatte, vorziehen. Denn damals hatte sie wenigstens einen sicheren Arbeitsplatz. »Ich habe in der Fabrik acht Stunden gearbeitet, bin dann nach Hause gegangen und hatte meine Ruhe. Und meine Stelle war mir sicher. Wenn ich zurückgekommen bin, war‑ tete mein Arbeitsplatz auf mich.« Man habe sich zur damaligen Zeit auch in der Stadt sicherer gefühlt, so Anna: »Wir konnten ruhig auch abends in die Synagoge [den Gebetsraum] gehen. Wie ich weiß, fürchten sich die Leute jetzt mehr, abends rauszugehen als damals. Das kann ich Ihnen sagen. Ich bin in die Fabrik gegan‑
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Anna schätzte die Sicherheit und die Anerkennung, die ihr die Arbeitsstelle in der Fabrik und die KollegInnen dort vermittelten. Sie betonte zwar nicht besondere Leis‑ tungen und Fähigkeiten, die ihr zu beruflichem Erfolg verholfen haben, wie beispiels‑ weise Henry oder Magdalena, doch verschaffte ihr diese langjährige Anstellung ein Kontinuitätsgefühl und ökonomische Sicherheit. Wichtig war auch, dass die Ausle‑ bung ihres Glaubens mit ihrem Alltag vereinbar und ihr dies auch im Rahmen der damaligen jüdischen Gemeinde und in der Stadt möglich war.
6.1.3.4 E in einsames Familiengedächtnis: »Klar wissen die Kinder, was sie sind« Als es um die Tradierung des Glaubens in ihrer Familie ging, erklärte sie, dass sie zwar selbst die hohen Feiertage und den Schabbat stets eingehalten hat, doch ihre Töchter hätten davon nichts übernommen. Somit ist es auch nicht an ihre EnkelIn‑ nen weitergegeben worden. »Meine Töchter wissen nicht viel darüber. Und das ist alles so vermischt heute.« Anna erklärte sich den Verlust der jüdischen Traditionen in ihrer Familie zum einen durch die »Mischehen« ihrer Töchter. Ihrer Meinung nach lässt sich in einer solchen Verbindung die jüdische Kultur nicht richtig erhalten. Zu den »Mischehen« in der Generation der Holocaustüberlebenden und ihrer Kinder schreibt Alena Heitlinger: »When compared with their Slovak counterparts, a higher proportion of Czech Jewish parents were sec‑ ular, had only one Jewish parent, and were married to non-Jews. Their high degree of assimilation and their lack of religious observance were passed on to their children. […] The relatively high rate of inter‑ marriage among Slovak Jewish participants in my study corresponds to that among their Czech Jewish counterparts, but it represents a significant departure from the marriage pattern among the parents’ generation.« (Ebd. 2006: 205 f.)
Demnach können auch »Mischehen« ein Faktor gewesen sein, der die Menschen weg von den jüdischen Traditionen und zur Assimilation an die Mehrheitsgesellschaft führte, wobei das immer auch von individuellen Einstellungen und den Rahmenbe‑ dingungen der jeweiligen Lebenswelt abhing. Ein weiterer Grund war laut Anna auch, dass die nachfolgenden Generationen kein Interesse mehr am jüdischen Leben gehabt hätten: »Nein, sie hatten kein Inter‑ esse. Ich weiß nicht warum. Ich weiß nicht, warum dieses System das so gemacht hat. Sie wurden von klein auf so erzogen, dass sie daheim alles bekommen, das haben sie genommen und sie haben sich satt gegessen und das war’s.« Hier betonte Anna eine 8 | Anna lebt in der größten Hochhaussiedlung in Lučenec, deren Bau laut den Informationen meiner Großmutter in den 1960er Jahren begonnen wurde.
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Art von Wertewandel, der auch mit den ökonomischen und politischen Veränderun‑ gen während des Sozialismus einherging. »Unlike their parents the second generation did not have to give up Judaism since they had never known it in the first place. Families under the influence of ›scientific atheism‹ promoted by the Communist society and integrated in school curricula distanced themself (at least in public but often in private, too) from religiousness in any form.« (Salner 2013: 75)
Als meine Tante Evi kurz darauf zu uns dazu kam, fragte ich sie nach ihren Erfah‑ rungen mit den jüdischen Traditionen in der Familie. Sie antwortete: »Wir sind in so einer Zeit aufgewachsen, dass uns einfach gar nichts gesagt wurde.« Ihr ist während des Sozialismus und auch nach der politischen Wende 1989 nichts von der jüdischen Kultur vermittelt worden und sie spürt diesbezüglich auch nichts. Anna fragte sie, ob sie einmal bei einem der traditionellen jüdischen Schabbat-Abendessen gewesen ist, das sie gekocht hat. Evi ist da nie hingegangen, ihre Mutter und ihre Tante schon. Diese haben jedoch nie mit ihr über ihre jüdische Abstammung gesprochen. Zwar gehen Annas Töchter mit ihr zum jährlichen Holocaust-Gedenktag auf dem jüdi‑ schen Friedhof, doch mehr Raum wird dem Jüdischen im Familiengedächtnis nicht gewährt. An den Treffen der jüdischen Kommune nehmen sie nicht teil. Als ich Anna auf das gegenwärtige jüdische Leben in Lučenec ansprach und erwähnte, dass ich auch mit der Vorsitzenden der jüdischen Kommune, Frau Vajová, gesprochen habe, erklärte sie: »Die weiß darüber nicht viel. Weißt du, sie ist zu jung.« Das wiederholte sie mehrfach, ebenso wie die Tatsache, dass es heute diesbezüglich nichts mehr in der Stadt gibt. »Ich lebe seit 1946 hier, wir haben uns zu den Feiertagen getroffen, wir haben richtig gebetet, Männer und Frauen. Und ich sage ja, jetzt ist hier nichts, nichts mehr.« Dies zeigt, dass es für sie wohl nur so lange ein »richtiges« jüdisches Leben gegeben hatte, wie es einen Minian und eine religiöse Gemeinde gab, in der gebetet werden konnte. Doch »es wurde weniger in Lučenec, weil die Leute wegsterben. Weil man braucht zehn Männer, einen der vorbetet, dann beten andere ihm nach. Und wenn keine zehn Männer da sind, dann Frauen … die zählen weniger. Nur die Männer. Wie es in der Bibel steht. Als die Männer gestorben sind, also die sind eher ge‑ storben als die Frauen, weil die irgendwie früher gegangen sind und es sind immer weniger und weniger. Und es gibt niemanden, der den Kindern vorbeten könnte. Niemand kann sie führen.«
Aus dieser Aussage von Anna lässt sich herauslesen, dass für sie zum einen eine jüdi‑ sche Gemeinde nur im Zusammenhang der Ausübung und des Erhalts der religiösen Traditionen Bestand hat. Dies steht im Einklang mit ihrer eigenen Biografie, da sie in ihrer Kindheit in einem religiös-orthodoxen Umfeld aufgewachsen ist. Der Holocaust markierte infolgedessen einen mehrfachen Bruch: Sie wurde, um überleben zu kön‑ nen, katholisch getauft und war gezwungen, sich diese Religion anzueignen und sie intensiv auszuleben. Da sie ihre gesamte Familie und die Verbindung zu ihrem frühe‑
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ren Leben in Polen verloren hatte, konnte sie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr daran anknüpfen. »Die Zeit vor der Verfolgung ist nicht mehr Teil der Lebenserzählung, beziehungsweise kann sie nicht mehr in die Biographie integriert werden, weil alles zerstört wurde. Es gibt keinen Bereich des vorherigen Lebens, an den man noch anknüpfen könnte, weder an eine Berufskarriere noch an das Familienleben. Ge‑ stalttheoretisch formuliert heißt dies: Die Figur des Lebens vor der Verfolgung ist nicht mehr integrierbar in die Figur nach der Verfolgung. Es gibt keine Verbindungslinien mehr zum Leben vor der Verfolgung.« (Rosenthal 1997b: 43).
Bei Anna gibt es allerdings eine Verbindungslinie, die sie aber nicht in dem gleichen Maße wie zuvor in ihr Leben nach dem Holocaust integrieren konnte – die Religion. Durch sie und den partiellen Erhalt der Traditionen schaffte sie eine Brücke zu ihrer Vergangenheit vor dem Zweiten Weltkrieg. Dabei half ihr auch das jüdische Umfeld in der Stadt, doch aufgrund des allmählichen Wandels von einer einst »religiösen jüdischen Gemeinde« zu einer »jüdischen Kommune«, durch Emigration der jünge‑ ren und das Sterben der älteren Mitglieder, ist Anna mittlerweile in ihrer Generation die Einzige und fühlt sich auch alleine in Lučenec. Auch ist sie in ihrer Familie die einzige, die sich bewusst an bestimmte Traditionen hält. Somit können die zentralen Erzählmotive aus Annas Leben als die für sie Stabilität und Identität stiftenden gese‑ hen werden. Diese konnte sie aus der gegenwärtigen Perspektive ihres Lebens rückbli‑ ckend und mit Harald Welzer »paßgenau« in ihre Biografie fügen. »Das kommunikative Gedächtnis beinhaltet als lebendiges Gedächtnis ebenjene Dialektik von Individu‑ alität und Sozialität, von Geschichte und Privatisierung von Geschichte, die zugleich die Suggestion von Ich- und Wir-Identität wie ihre permanente Veränderung erzeugt. Das Medium für die Erzeugung des Gefühls von Kontinuität und Stabilität, die wir unserem Selbst zuschreiben, ist gerade die lebenslange nuancierte Veränderung ebendieses Selbst in der kommunikativen Feinabstimmung in jeder neuen Situa‑ tion, in der wir uns befinden. Dem autobiografischen Gedächtnis kommt dabei die Aufgabe zu, all unsere Vergangenheiten so umzuschreiben und anzuordnen, daß sie dem Aktualzustand des sich erinnernden Ich paßgenau entsprechen.« (Ebd. 2008: 236)
6.1.4 Karl 6.1.4.1 Objektivationen einer jüdischen Erfahrungswelt Karl, der väterlicherseits jüdischer Abstammung ist, habe ich bei einem Treffen von The Hidden Child kennengelernt. Der damals 77‑Jährige hatte sich gleich zu einem Interview mit mir bereit erklärt und lud mich ein, ihn in seiner »Bibliothek« zu Hause aufzusuchen. Als er mich kurz darauf dort empfing, fand ich mich in seinem von Büchern und Unterlagen überfüllten, aber sehr gemütlichen Arbeitszimmer wieder, in dem sich außer zahlreichen Stapeln von Papieren und Zeitungen noch eine Réca‑ mière, ein Schreibtisch mit Computer und eine Wand mit vielen Fotografien, Souve‑ nirs aus Israel und einem Gemälde seiner Schwester befanden. Aus einem CD‑Player
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ertönte Musik von Ophra Haza, seiner Lieblingssängerin, wie mir Karl verriet. Von dem bequemen Sessel aus, den er mir anbot, hatte ich seine Bücherregale und sei‑ nen ebenso vollen Schreibtisch gut im Blick. Der Computer lief die ganze Zeit über und signalisierte mit lautem Klingeln, wenn eine Mail eingegangen war. Dem ers‑ ten Anschein nach wirkte Karl sehr beschäftigt. Dieser Eindruck bestätigte sich im Verlauf des Gesprächs, das nicht das einzige bleiben sollte. Ich besuchte ihn häufiger und führte insgesamt zwei mehrstündige Interviews im Abstand von neun Monaten mit ihm. Zudem schrieben wir uns E-Mails und tauschten uns auch per Skype aus. Karl sah sich seit unserem ersten Treffen als mein Mentor und wollte mir möglichst viel von seinem Wissen über das Judentum, die Religion, Philosophie, aber auch die Geschichte der Juden und den Holocaust mitteilen. Er hatte schon einigen Studen‑ tInnen bei wissenschaftlichen Arbeiten geholfen, sei es mit Interviews oder auch mit Fachliteratur, die er zu diesen Themen sammelt. Ich freute mich darüber, einen so gut informierten und vernetzten Interviewpartner gefunden zu haben. Doch bald sollte sich herausstellen, dass, sobald es um Karl und sein Leben selbst ging, diese vielen Bücher nicht hilfreich, sondern eher hinderlich für den Gesprächsfluss waren. Karl erwies sich zwar als Quelle umfangreichen Wissens und einer Menge Sekundärli‑ teratur, doch fiel es ihm merklich schwer, bei einem Thema zu bleiben und an ihn gerichtete Fragen zu beantworten, ohne abzuschweifen. Eine Strategie, mit für ihn unangenehmen Gesprächsinhalten umzugehen, war beispielsweise, dass er mitten im Satz aufsprang und mir Bücher holte, die ich »unbedingt lesen müsse«. Seine Antwor‑ ten selbst waren oft fragmentarisch, unvollständig, von vielen Pausen durchzogen, er würfelte die Satzbausteine durcheinander und wirkte zuweilen auch verwirrt. Ich gewöhnte mich allmählich an seine Art zu erzählen, musste allerdings bei der Ana‑ lyse der Interviewtranskripte mehr Zeit und Fingerspitzengefühl aufbringen als bei anderen. Dabei half mir wiederum, dass ich Karl über einen längeren Zeitraum besser kennenlernen durfte. Bei jedem Treffen zeigte er mir neben Literatur auch andere Erinnerungsstücke und Bilder, die sein Büro anfüllten. Dieser Raum erwies sich letzt‑ endlich als eine Art visuelle Metapher seiner Identitätssuche, denn er war mit allerlei Objekten ausgestattet, mit denen Karl etwas Jüdisches oder Erinnerungen an seine Familie assoziierte.
6.1.4.2 Gelbe Sterne und eine Reiseuhr – Erinnerungen an den Holocaust »Und das da oben, das ist mein Onkel, der hat sich erhängt, als er ausgehungert war und schon wusste, dass er, dass er … sie haben ihm da so ein Kreuz oder so was in seine Gesundheitsakte geschrieben im Konzentrationslager, und er wollte nicht ins Gas gehen. Er hat sich erhängt. Und daneben ist meine Tante.« Karl und ich standen vor dem Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer und sahen uns die Foto‑ grafien und Bilder an der Wand an. Er hat sie alle sehr sorgfältig aufgehängt. Auf einem kleinen Aktenschrank neben dem Schreibtisch stand auf einem Stapel mit Zeitungsartikeln eine antike Reiseuhr. Diese hatte seiner Tante Ági, der Schwester seines Vaters, gehört. Er sprach sehr liebevoll von ihr, seine Stimme wurde leiser und er hatte Tränen in den Augen. Dieser Uhr kommt als Erinnerungsobjekt neben
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den zahlreichen Fotografien eine besondere Rolle zu. Er zeigte wieder auf das Foto seiner Tante: »Tante Ági war eine sehr intelligente Frau. Sie hat mit ihrem Ehemann in Belgrad gelebt. Das hier ist ihr Mann.« Karl deutete auf ein anderes Bild. »Und das hier ist sie, ihr Mann und mein Cousin. Alle sind gestorben.« Seine Tante ist nach der Bombardierung von Belgrad alleine nach Košice gekommen, um sich zu retten. Karl sprach leise weiter. »Weil damals haben die Deutschen die Stadt besetzt. Und sie hat ihren Mann und meinen Cousin dort gelassen. Und im Jahr [19]44 kam das Gesetz, dass die Juden den Davidstern tragen müssen, den gelben Stern. Und im Mai haben die Transporte aus der Puškinová begonnen.9 Und das beschreibt diese Frau hier in ihrem Buch …« Als ob er ablenken wolle oder eine Pause vom eigentlichen Thema brauche, nahm Karl ein Buch in die Hand und zeigte es mir. Dabei wirkte seine Stimme wieder gefasster. Als er über das Schicksal seiner Tante weitersprach, wurde er wieder leiser und reihte die Inhalte der Sätze aneinander, als wollte er seine Aussage schnell hinter sich bringen: »Ja, und sie war da, und als dieses Gesetz kam und sie saß in der Ecke dort, wir haben in diesen Eisenbah‑ ner-Blöcken gewohnt, ich weiß nicht, ob du die kennst, dort bei … gegenüber der technischen Universi‑ tät sind solche Blöcke, große Blöcke, einer war für … die Eisenbahner und einer für die Proletarier. Ja, und wir haben dort gewohnt, ja, und sie hat dort bei uns gewohnt. Wir hatten dort eine Zwei-Zimmer-Woh‑ nung. Ja, und Tante Ági saß dort in der Ecke als dieser, sie saß in der Ecke … und hat diese gelben Sterne für uns genäht. Und ich habe sie wie ein Kind gefragt – wie alt werde ich gewesen sein – vielleicht 10 oder noch nicht einmal 10 … war ich, ›Tante Ági, was nähst du da?‹ Ja, und sie hat begonnen zu weinen und sie hat gesagt: ›Karl, das wirst du verstehen, wenn du erwachsen bist‹.«
Karls Stimme zitterte bei den letzten Sätzen zunehmend, und auch die fragmentierte Syntax lässt erkennen, wie schwer es ihm fiel, diese Erinnerungen zusammenzufas‑ sen. Dann sprach er von den Demütigungen, die er selbst während des Holocaust erlitten hatte, und lenkte die Erzählung wieder weg von seiner Tante: »Und uns haben meine besten Freunde, meine Mitschüler und so, [19]44 begonnen auf gewisse Weise zu diffamieren. ›Stinkender Jude‹ und so. Aber nenn mir mal einen zehnjährigen Menschen, der das versteht? Nein. Das konnte man nicht verstehen. Und dann hatte ich noch einen Bruder, der da in dem schwarzen Rahmen ist.«
Karl zeigte auf das Foto seines bereits verstorbenen Bruders. Er war einige Jahre jün‑ ger als er und hatte die Angriffe während seiner Kindheit teilweise mit Karl zusam‑ men erlebt.
9 | Der gelbe Davidstern musste nach Randolph Braham ab 5. April 1944 getragen werden (ebd. 2013a: lviii). Die Juden in Košice sind zunächst in den Straßen nahe der jüdischen Gemeinde ghettoisiert worden, von wo aus sie in die Ziegelei gebracht worden sind (vgl. SNM 2009: 210).
276 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 »Sie haben uns in so eine Ecke getrieben, in so ein … in einen Graben, da wo wir gewohnt haben in den Eisenbahner-Blöcken. Und die Jungs haben uns angepinkelt und … angespuckt und so. Ich weiß nicht, wer uns damals gerettet hat, ich weiß es nicht. Es ist jemand gekommen … da waren … wir konnten uns nicht schützen. Damals war die Atmosphäre in Košice so, im Jahr 1944.«
Karl sprach mit einem ernsten Gesichtsausdruck über die Erfahrungen, die er als Kind kurz vor Beginn der Deportationen in Košice gemacht hatte. Bei allen Erinne‑ rungen, die mit starken Emotionen verbunden waren, veränderte sich Karls Erzähl‑ modus von einem zwar nervösen und schnellen, aber sicheren Sprechen hin zu einem stark fragmentierten, leiseren, von vielen Pausen durchzogenen Satzbau, in dem er sich zuweilen häufig wiederholte. Dies zeigte, wie sehr sich die auf mehreren Ebenen erfahrenen Demütigungen in seinem Gedächtnis verhaftet haben. Nach Aleida Ass‑ mann festigen sich »[d]ie körperlichen Erinnerungen […] durch die Intensität des Eindrucks, die sprachlichen dagegen durch beständige Wiederholung. Die sinnlichen Erinnerungen sind geprägt von der Kraft des Affekts, dem Druck des Leidens, des Schocks. Sie haften im Gedächtnis, ganz unabhängig davon, ob sie zurückgerufen werden oder nicht. Dagegen ist der Rahmen für die sprachlichen Erinnerungen nicht der Körper, sondern die sozi‑ ale Kommunikation.« (Ebd. 2006a: 107)
Obgleich er schon Erfahrungen mit Interviews für Oral-History- und andere Projekte gesammelt und er selbst öffentliche Vorträge über den Holocaust und das Judentum gehalten hatte, schien bei Karl die Gewohnheit keinen Einfluss auf die Emotionen zu haben, die er empfand, während er die Bilder der Vergangenheit rekapitulierte. »Ja, und dann haben sie meine Tante mitgenommen. Mein Vater war im Arbeitslager, im Kriegsdienst. Vater hat sich retten können. Meine Großmutter hat in Bratislava gelebt. Da ist meine Oma, die alte Frau, und da ist auch mein Opa.« Karl zeigte wieder auf die Fotografien der Menschen, von denen er mir erzählte. Sein Großvater ist bereits vor dem Zweiten Weltkrieg gestorben. »Aber die Tante, die Oma, der Cousin, der Onkel und noch zwei Brüder, der eine [seine Fotografie] fehlt uns hier, der, der da mit der Brille ist Onkel Peter, der genauso. Die sind ins Konzentrationslager gegangen. Aber als Kind versteht man das nicht.« Schließlich erwähnte er das letzte Lebenszeichen seiner Tante, bevor sie nach Auschwitz deportiert wurde. »Weil als sie in die Ziegelei gegangen ist, dort ins Lager, da haben sie sie hingebracht … in der Nacht. Da hat sie für … da hat sie für … sie hat … diese Uhr dagelassen … für Vater, damit er sich an sie erinnert … diese Uhr.« Karl sprach wieder mit Tränen in den Augen, als er mir die Uhr seiner Tante zeigte. Hier wurde ihr symbolischer Wert deutlich. Einerseits ist sie ein Familienerbstück, das seine Tante als einzigen Besitz aus Belgrad mitgebracht hatte. Andererseits wird sie Karl immer an ihre Deportation und ihren Tod in Ausch‑ witz erinnern und somit auch an die fünf weiteren Familienangehörigen, die den Ho‑ locaust nicht überlebt haben. Im Rahmen ihrer Forschung über »Dinge als heimliche Erinnerungsträger« stellte Franziska Becker fest:
»New Jewish Identities«? Perspektiven auf individuelle Lebens- und Erfahrungswelten | 277 »Alle Dinge haben die Fähigkeit, Bedeutungen, die wir in sie hineinlegen, zu reflektieren. Diese Bedeu‑ tungen werden von uns teils individuell, teils kollektiv und scheinbar willkürlich verliehen. Bestimmte Objekte erlangen ›auftragsspezifische‹ emotionale Qualitäten und erscheinen uns demzufolge als anzie‑ hend, abstoßend oder ehrwürdig. Wir statten auf diese Weise zahllose Objekte mit emotionalem Gehalt aus, mit magischen Kräften und symbolischen Bedeutungen, mit Eigenschaften also, die weder durch das Objekt zwangsläufig gegeben sind noch durch anthropologische Bestimmtheiten erklärt werden können. Diese Empfindungen sind subjektiver Natur, emotionale Qualitäten, die die Dinge dadurch erlangen, daß wir ihnen eine Bedeutung zuweisen« 10
Die Uhr seiner Tante ruft bei Karl auch Erinnerungen an seine eigenen Erfahrungen von Demütigung und Verfolgung während des Holocaust wach. Wie Henry, so hat auch er mit der Zeit gelernt, mit dem Schmerz der Erinnerungen umzugehen, indem er sie, wie Franziska Becker formulierte, in den Bildern oder der Uhr und anderen Erinnerungsgegenständen, »abgelegt« hat (ebd. 1991: 297). Karl, sein Bruder und sein Vater sind vor den Deportationen noch einige Zeit lang durch die nicht-jüdische Mutter geschützt gewesen. Die Eltern haben Anfang der 1930er Jahre in der Slowakei christlich geheiratet, mit der Auflage, dass die gemeinsa‑ men Kinder in diesem Geiste erzogen werden. Die Familie seines Vaters hat sich vor dem Ersten Weltkrieg im ungarischen Teil der Habsburger Monarchie assimiliert und daher ihren deutsch-jüdischen Nachnamen in einen ungarischen »magyarisiert«. Die entsprechenden Unterlagen vom Ministerium, in denen das festgehalten ist, hat Karl noch, wie er mir stolz erklärte. Als 1939 der Slowakische Staat entstand, ist der Vater als Ungar von seinem zuvor slowakischen Wohnsitz nach Košice umgezogen. Zu die‑ ser Zeit hat sich der Vater auch christlich taufen lassen, um sich vor der Verfolgung zu schützen. Darüber hatte er allerdings nie gesprochen, und Karl hat es erst nach seinem Tod durch den Fund der Taufurkunde erfahren. Sein Vater sei ein sehr kul‑ tivierter, intellektueller Mann gewesen, der jedoch nicht religiös gelebt habe. »Es gab in seinem Leben nie irgendeine Religion. Er war der Abstammung nach Jude. Aber er war weder neologischer noch orthodoxer Jude.« An die Zeit vor dem Zweiten Welt‑ krieg hat Karl positive Erinnerungen: »Wir hatten ein sehr schönes Familienleben. Wir haben da bei der jüdischen Gemeinde gelebt.« Er hat das jüdische Leben dort also immer aus der Nähe beobachten können. Ein alter Rabbiner sei damals jeden Mor‑ gen sehr gebückt seiner Wege gegangen, und Karl habe als kleiner Junge seinen Vater gefragt, warum dieser Mann so krumm gehe. Sein Vater, der sehr wenig über deren jüdische Abstammung gesprochen hat, hat ihm geantwortet, der Rabbiner habe wohl einen schweren Kopf. Denn wenn ein Mensch schlau sei, sei sein Kopf schwer. Zwar hatte weder der Vater noch die Familie am religiösen Leben der jüdischen Gemeinde teilgenommen, doch aus Karls Ausführungen wird deutlich, dass sie regelmäßigen Kontakt zu ihr hatten, denn der Vater hat beispielsweise Scholet bei der Gemeinde ge‑ kauft, den Eintopf, der traditionell am Schabbat gegessen wird. Demnach hat sein Va‑ 10 | Becker (1991: 295). Zur Bedeutung von Erinnerungsobjekten im Zusammenhang mit dem Holocaust siehe auch Wettstein (2009).
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ter zumindest diesen Feiertag eingehalten, wie Karl bestätigte. Nachdem der Zweite Weltkrieg ausgebrochen war, wurde Karls Vater zur Zwangsarbeit in ein ungarisches Arbeitslager interniert. »Er hatte Glück, dass er nicht an die Front kam. Weil manche mussten an die Front und mussten da be‑ stimmte Arbeiten verrichten, wie Bunker ausheben … […] Und 1944 kam er nach Hause, und sofort soll‑ ten sie deportiert werden, die, die in Mischehen gelebt haben. Frauen und Männer sollten in die Polian ska-Straße in Košice. Habe ich dir gezeigt, wo die war?«
Karl sprach die Sätze sehr abgehakt, nervös, mit vielen Pausen und machte einige zeitliche Sprünge in der Erzählung, während er mir vom Ghetto in der ehemaligen Ziegelei in Košice (vgl. Kapitel 4.1.2) erzählte. »1944 im April war Košice judenfrei«, Karl sagte »judenfrei« auf Deutsch und wiederholte es, um die Bedeutung dieses Wor‑ tes noch hervorzuheben. Ich wies Karl vorsichtig darauf hin, dass der letzte Transport aus der Stadt am 3. Juni 1944 gegangen sei, woraufhin Karl sofort in einem Buch nach‑ schlug und meinen Einwand bestätigte (vgl. SNM 2009: 211). »Mein Vater war immer ein Idealist, ein Intellektueller, ein Poet. Und er hat das schon gesehen, dass es so nicht mehr geht, also hat er sich dann versteckt.« Hier stellte er seinen Vater, der für ihn auf vielen Ebenen eine Vorbildfunktion hat, als Helden dar: »Sie haben uns versteckt, damit wir nicht in … wir wurden versteckt, ich war bei Mönchen, hier bei … drei oder vier Monate lang war ich an verschiedenen Orten, sie haben uns versteckt, mich und meinen Bruder … damit sie uns nicht verletzen … weil mein Vater sich nicht zu diesem zweiten Transport gemel‑ det hat … den sie hier machen wollten. Also haben wir diese Zeit hier so überlebt. Mich haben sie auch aus dem Gymnasium geworfen, aus dem ersten Jahr am Gymnasium, ja, aber das ist jetzt schon passé.«
Mit dem letzten Satz signalisierte Karl, dass dieser Lebensabschnitt für ihn lange zu‑ rückliegt und er darüber auch nicht gerne spricht. Die Familie konnte sich retten, er erklärte, dass er und sein kleiner Bruder getrennt voneinander versteckt wurden: »Ja, ja, wir haben uns versteckt weil … diese … Gesetze damals von den ungarischen – nicht den Fa‑ schisten und nicht den Pfeilkreuzlern … also sie hatten auch uns Mischlinge auf gewisse Art hier … ich weiß nicht, ob auch Mischlinge aber sie sollten auch irgendwelche von denen im Januar [1945] deportie‑ ren. So war es nicht, aber so haben sie sich das vorgestellt.«
Hier spricht Karl beinahe triumphierend darüber, dass sie die Verfolger überlisten konnten und nicht von ihnen gefunden wurden. Bei Kriegsende war Karl zwölf Jahre alt. Der Psychologe Natan Kellermann schreibt, dass die sogenannten »Child Survivors« keine normale Kindheit gehabt hät‑ ten und sehr jung schon hätten »erwachsen« werden müssen: »Darüber hinaus haben sie sich eine Vielzahl von unterschiedlichen, außergewöhnlichen Überlebensstra‑ tegien angeeignet, um extremen Verlust zu bewältigen. Es ist daher nicht verwunderlich, ein einigerma‑
»New Jewish Identities«? Perspektiven auf individuelle Lebens- und Erfahrungswelten | 279 ßen komplexes posttraumatisches klinisches Bild bei den Überlebenden des Holocausts zu finden, die zum Ende des Krieges jünger als 16 Jahre alt waren. Wie zu erwarten, hallt solch eine frühe Traumatisie‑ rung über die gesamte Lebensdauer der Child Survivors nach und viele der frühen Strategien werden über das ganze Leben hinweg beibehalten.« (Ebd. 2009: 59)
Damals hatte man den Bruder seines Vaters, der 1938 nach Australien emigriert war, darüber informieren müssen, wer überlebt hat und wer nicht. »Ja und 1945 gab es noch nicht so eine Telegrafie oder so, also die Nachkriegszeit begann erst. Also hat er ein Telegramm geschickt, wie viele Tote es gibt.« Sein Vater hat seinem Bruder damals von den Opfern in der Familie in einem Gedicht geschrieben: »Sechs teure Seelen sind nicht mehr unter uns.« Dies wiederholte Karl bei jedem unserer Treffen. Nachdem sich die Familie vor der Deportation hatte retten können, sah sie sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit neuen Problemen konfrontiert: »Und mein größtes Problem war in erster Linie, dass ich nicht Slowakisch konnte. Und ich konnte nicht in die Schule gehen. Es gab keine ungarischen Schulen. Also wie kann ein Mensch ohne die Sprache in die Schule gehen, wenn er kein Slowakisch kann?« Er konnte Deutsch und Ungarisch, diese beiden Sprachen hat man in seiner Fami‑ lie gesprochen. Nun mussten er und seine Familie, die bereits vor dem Ersten Welt‑ krieg die Magyarisierungspolitik miterlebt hatte, Slowakisch lernen, um weiter im nun tschechoslowakischen Košice bleiben zu können. Er erlebte die Aussiedlung der ungarischen Bevölkerung und die antiungarischen Ressentiments der Nachkriegszeit selbst mit: »[…] Nach der Befreiung am 18. Januar 1945, da gab es keine Besetzung mehr von Ungarn, weil es eine Einigung zwischen … den Kriegsmächten gab. Ja, und die Menschen sind dann geflohen. Und die Un‑ garn, die die Reslowakisierung nicht unterschreiben wollten, wie meine Eltern auch … also meine Mutter konnte kein Slowakisch, sie konnte es nicht, weder der Vater noch die Mutter. Ja, und sie haben unter‑ schrieben und sie haben in ihrem Personalausweis stehen gehabt, dass sie Slowaken sind. Aber das waren keine Slowaken. Nur dass sie sich damals damit gerettet haben. Weil davor haben sie die Košicer mit 50 Kilo schweren Koffern nach Ungarn ausgewiesen.«
Die Nachkriegszeit brachte auch für die jüdische Bevölkerung, die im ungarisch-slo‑ wakischen Grenzraum lebte, weitere Diskriminierung und Vertreibung mit sich, wenn die Betreffenden UngarInnen waren (vgl. Kapitel 4.1.3; Singerová 2006a: 62; Bumová 2011: 24 f.). Nach dem Kriegsende hat Karl begonnen, Sport zu treiben: »Ja ich habe gleich mit dem Sport begonnen. Im Schwimmbad. Und auch Wettkämpfe … und ich hatte was zu tun.« Fortan konzentrierte er sich vor allem auf den Sport, der zu einem wichtigen Bestandteil seines zukünftigen Lebens und auch zu einer Bewältigungsstrategie für schwierige Situationen, wie etwa in der Nachkriegszeit, werden sollte. Seine jüdische Abstammung wurde bis zu diesem Zeitpunkt in der Familie gar nicht oder in Zusam‑ menhang mit der Verfolgung thematisiert. Letztere begleitete Karl und seine Familie auch in den kommenden Jahrzehnten.
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6.1.4.3 Sozialismus: Antisemitismus und »Schnecken ohne Häuser« Nach dem Zweiten Weltkrieg erwog Karls Vater, nach Australien auszuwandern, wo bereits sein Bruder lebte. Doch er ist geblieben und wurde Mitglied der kommunis‑ tischen Partei. »Also … und mein Vater ist dann in die Partei eingetreten, weil alle Intellektuellen jüdischer Abstam‑ mung in Košice in die Partei eingetreten sind. Weil sie dachten, der Kommunismus und der Sozialismus und die marxistische Ideologie beenden den Antisemitismus gegen die Juden hier damit, dass … dass es auf gewisse Weise für die Juden hier nicht das Paradies geben wird, aber dass sie mit dem Antisemitismus aufhören. Aber das war nicht die Wahrheit. Überall gab es antijüdisches Gerede.«
Der Glaube an eine Politik, die gegen den Faschismus und Antisemitismus arbeitete, überzeugte viele Juden in der Tschechoslowakei kurz nach Kriegsende davon, sie zu unterstützen. Doch täuschten sich die Menschen, was spätestens mit den Slánský-Pro‑ zessen zu Beginn der 1950er Jahre deutlich wurde.11 Karl erinnerte sich an diese Zeit: »Und ich sage so eine Sache, als Slánský [die Slánský-Prozesse] in der Tschechoslo‑ wakei war, haben sie alle Juden auf gewisse Weise aus den höheren und leitenden Positionen entfernt, die sie für die Kommunisten bereitgestellt haben.« Die feindliche Haltung den Juden gegenüber sei deutlich spürbar gewesen, denn »der Antisemitis‑ mus existierte hier unter den Kommunisten, und hauptsächlich Stalin war ein großer Antisemit.« Karl betonte das laut und mit Nachdruck, »und dann war letztendlich auch hier … aber das war schon auf irgendeine Art nicht so … offen, oder er war nicht so sichtbar, der Antisemitismus, aber es gab ihn.« Die Unterdrückung durch das so‑ zialistische Regime verbot jede Religion, wie Karl sagte. »Nein, Religion gab es nicht, weil während des Sozialismus gab es keine … das war das Erste, dass sie dem Kader darüber berichtet haben, dass man religiös war.« Die Repressionen drückten sich ins‑ besondere durch Kontrollen aus. »Und dann war der Sozialismus […] so eine verbor‑ gene Diktatur, die jeden, der nicht mit diesem Regime einverstanden war, entweder eingesperrt oder abgeschoben hat.« Ein funktionierendes jüdisches Gemeindeleben hat es demnach nicht gegeben, nur heimlich: »Aber sie konnten nicht so … also … wie soll ich sagen … damit ich das erklären kann … diese jüdi‑ schen Leute, die alt waren, die religiös waren, die sind noch [zu den Gebeten] gegangen und dann war 11 | Vgl. zu den Slánský-Prozessen Kapitel 4.1.3; Heitlinger (2006: 20 ff.); Salner (2013: 30 f.). Die Sozio‑ login Bettina Völter beschreibt in ihrer mehrgenerationalen Familienanalyse deutscher Juden in der DDR, dass »[d]ie einladende Kraft, die vom antifaschistischen Diskurs und vom sozialistischen Ideal ausging« für die Menschen viel kompensiert hat: »in ihrem Rahmen wurden die ehemaligen Opfer zu ›Siegern der Geschichte‹ erklärt, wenn auch als Juden nicht besonders geachtet; vom Sozialismus versprachen sie sich eine Gegenwart und Zukunft ohne Diskriminierung und einen (Wieder-)Einstieg in ein gesellschaftlich anerkanntes und engagiertes Berufsleben […] die Hinwendung zur kommunistischen Bewegung [hatte] für die Eltern jüdisch-kommunistischer Familien häufig eine Abkehr von der jüdischen Herkunftsfamilie sowie die entsprechend distanzierte Darstellung des Herkunftsmilieus bedeutet« (ebd. 2003: 308).
»New Jewish Identities«? Perspektiven auf individuelle Lebens- und Erfahrungswelten | 281 die Assimilation groß. Viele sind nach Palästina gegangen, nach Amerika, nach Kanada, sie sind emigriert und alles mögliche. So dass hier bei uns nur sehr sehr wenige Juden geblieben sind … hier in Košice.«
Karl erinnerte sich daran, dass es nach der Entstehung des jüdischen Staates 1948 auch anti-zionistische Appelle an die Juden in Košice gegeben hat (vgl. Heitlinger 2006: 21 f.). Diese äußerten sich beispielsweise in Schmierereien an Hauswänden. »Das war auf den Wänden da an der Krmanová-Straße, da wo die jüdische Gemeinde ist, dass die Leute weggehen sollen nach Palästina oder in den neuen jüdischen Staat.« Die Menschen haben gewollt, dass die Juden ausreisen und man habe herumerzählt, »dass Juden Gold mitnehmen und solche … solche … gegen die Juden hatten sie im‑ mer solche Redensarten, dass Juden stinken, dass sie Gold haben und Geld.« Doch es sei nicht nur bei diesen Beschimpfungen geblieben, so Karl. Die staatliche Kontrolle und antijüdische Politik waren das Eine, es hat aber auch unmittelbare Gewalt gegen Juden gegeben: »Ich habe noch so einen antisemitischen Übergriff gesehen, weil da an der Roosevelt-Straße, wo das Hotel ist, da beim ersten Tor, da hat ein Freund von mir gewohnt.12 Und einmal bin ich zu ihm gegangen und habe gesehen, dass Polizisten dort … zwei Juden, die so … das waren irgendwie sehr orthodoxe Juden. Und die haben sie dort geschlagen. Und solche Sachen habe ich erlebt.«
Karl sprach wieder abgehackt und nervös von diesem Gewaltakt, bei dem er Augen‑ zeuge war. So haben nur wenige der Holocaust-Überlebenden, die vor dem Zweiten Weltkrieg religiös gewesen sind, dem repressiven Regime zum Trotz weiter an den Traditionen festgehalten: »Ja und während des Sozialismus war es so, dass in deinem Kader-Bericht drin stand: Welche Einstellung haben Sie zu religiösen Fragen? Das ging auch gegen Katholiken, Evangeliken, Juden, alle hatten das auf bestimmte Weise in ihrem Kadermaterial. Wenn man gesagt hat, man ist gläubig, dann wurde man aus Führungspositionen entfernt. Und man hatte ein Problem, ja. Aber so auf bestimmte Weise. Der Staat durfte keinen Hinweis bekommen oder so. Oder man musste sich verstecken oder man hatte irgendwelche Beziehungen.« 13
Obwohl er nie religiös gewesen ist, hat sein Vater Karl kurz nach dem Ende des Zwei‑ ten Weltkriegs beschneiden lassen. »Und ich habe nicht gewusst, was das ist, als Kind hatte ich nicht so einen Verstand. Aber mein Vater hat nie darüber gesprochen. Aber darauf hat auch die Zeit damals einen großen Einfluss gehabt, weil er war in der kom‑ munistischen Partei.« So wurde innerhalb der Familie weiterhin über das Jüdische 12 | Die Krmanová-Straße mündet in die Roosevelt-Straße, so dass man die jüdische Gemeindeanlage beziehungsweise ihren Eingang in der Krmanová von dort aus gut sehen kann. 13 | Zu den Kaderakten, die 1948 von der kommunistischen Partei eingeführt worden sind und als Kont‑ rollinstrument insbesondere während der Zeit der »Normalisierung« als Kontrollorgan für die Säuberun‑ gen im Kultur- und Bildungsbereich eingesetzt wurden, siehe Spiritova (2010: 94 ff.).
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geschwiegen. Als sein Vater jedoch im Alter sehr krank geworden ist, hat er noch während des Sozialismus den Wunsch geäußert, Mitglied der jüdischen Gemeinde zu werden. Ihm sei wohl »bewusst geworden, wo er hingehört«. Karl erklärte es sich da‑ mit, dass sein Vater ein schlechtes Gewissen gehabt haben muss, weil er sich vor dem Holocaust umtaufen ließ und somit seine eigentliche Religion verlassen hatte. »Aber seine Krankheit hat dann schon begonnen, sehr schnell voranzuschreiten und er ist dann innerhalb von zwei Jahren gestorben. Hier, schau mal, kennst du dieses Buch, das ist eines über Mischlinge, das kennst du nicht (lacht), von einem Halbjuden, wie er die Dinge sieht.« Karl sprang plötzlich wieder von einem belastenden Thema hin zu einem anderen und seinen Büchern, von denen sich bis zum Ende unserer Gespräche immer höhere Stapel vor mir auftürmten. Auch wenn ich immer wieder versuchte, zurück zum ursprünglichen Thema zu kommen, passierte es häufig, dass Karl nur mit einem Satz darauf antwortete und dann wieder auf etwas anderes zu sprechen kam. Insbesondere dann, wenn es für ihn emotional wurde. Der Wunsch des Vaters, offiziell der jüdischen Gemeinde beizutreten, markierte einen wichtigen Wendepunkt in Karls Beziehung zu seiner jüdischen Abstammung. Denn sein Vater, den er mir von unserer ersten Begegnung an mit viel Bewunderung beschrieb, habe damals auf ihn so gewirkt, als habe er seine identitäre Bestimmung wiedergefunden. »Er war mir nicht nur ein Vater, sondern auch ein Freund. Er war ein Poet, er hat Gedichte geschrieben, war Buchhändler, ein renommierter Antiquar, er hat immer in seinem Sortiment gelesen und fast 65 Jahre in Buchhandlungen ge‑ arbeitet. Und dann ist ihm auf gewisse Weise bewusst geworden, dass er irgendwohin gehört.« Sein Vater hat zwar kaum mit ihm über seine jüdischen Wurzeln gesprochen, zum einen, weil er in einer »Mischehe« lebte und selbst nie religiös gewesen ist. Zum anderen war seine jüdische Abstammung über Jahrzehnte hinweg die Ursache für die Verfolgung und Bedrohung, vor der er sich und seine Familie schützen musste. Doch sein Wunsch ist für Karl heute verständlich: »Aber ein Jude bleibt ein Jude. Das sagt auch Einstein. Wenn eine Schnecke ihr Haus verliert, bleibt sie trotzdem eine Schne‑ cke. Auch wenn ein Jude nicht in die Kirche oder Synagoge geht, ist es [das Jüdische] immer in ihm lebendig. Also ist er immer ein Jude.« So habe sich auch Karl auf die Suche nach seinen Wurzeln begeben. »Ich hat‑ te einen Kollegen, mit dem ich zusammengearbeitet habe, er war Ingenieur, ich war Techniker, ja, aber ich habe gefühlt, dass … und ich wusste irgendwie … dass er jüdi‑ scher Abstammung ist …« Mit diesem Kollegen freundete er sich an und hat während des Sozialismus »nur sehr oberflächlich und in Maßen« darüber gesprochen. »Ja, und dann habe ich gesagt, dass ich etwas über das Judentum wissen möchte, weil damals konnte man keine Bücher oder Material dazu bekommen. Das war nicht so einfach, weil jetzt geht man in die Bücherei und bekommt alles Mögliche.« Sein Freund und Kollege brachte ihm damals den »Anzeiger der jüdischen religiösen Gemeinden in der Tschechoslowakei« [Věstniík židovských náboženských obcí v Československu]14 mit, 14 | Die Zeitung »Věstník židovské obce náboženské v Praze« [Zeitung der religiösen jüdischen Gemeinde in Prag] erschien erstmals 1934 unter diesem Namen bis 1939, weiterhin nach dem Zweiten Weltkrieg bis
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den dessen Mutter abonniert hatte. »Ja, und dann nach 1989, als die Revolution war, da hat er mich gebeten, er und seine Frau haben mich gebeten, dass ich in die jüdische Gemeinde komme. Sie haben gesagt, dass ich da auch hingehöre.« Mit diesem Schritt, Mitglied der jüdischen Gemeinde zu werden, begann für Karl die intensive Suche nach seiner (jüdischen) Identität.
6.1.4.4 »Es ist schwer zu sagen, dass ich Jude bin« »Aber ich fühle es. Und ich habe in einem Brief an meinen Freund geschrieben, dass ich bis in den letzten Knochen fühle, dass ich Jude bin. Weil die sechs Toten, die sind da.« Karl begründete seine jüdische Identität hier mit den während des Holocaust ermordeten Familienangehörigen. Wie er mir während unserer Interviews und auch per Mail immer wieder zu verstehen gab, beschäftigte ihn die Suche nach seiner Iden‑ tität sehr. Dabei machte ihm insbesondere die Tatsache zu schaffen, dass er, wie er selbst sagte, ein »Mischling« ist, denn »es ist nicht leicht, ein Halbjude zu sein«. Er sprach fortwährend davon, und einmal zeigte er mir auch einen Artikel, den er dazu verfasst und in einem ungarischen Magazin herausgegeben hat. Ihm sei bei seinem Beitritt zur jüdischen Gemeinde Anfang der 1990er Jahre nichts über die jüdischen Gesetze bewusst gewesen, »dass die Halacha noch existiert, ich wusste nichts.« Er hatte vorher nicht geahnt, dass es einmal eine Rolle spielen würde, dass er ein »Mi‑ schling« ist. Zu Beginn der 1990er Jahre wurde er in der jüdischen Gemeinde auf mehreren Ebenen aktiv. Zum einen bildete er Jugendliche, häufig auch Kinder und Enkel der Mitglieder der jüdischen Gemeinde, in Selbstverteidigung aus, denn er war mittler‑ weile ein professioneller Kampfsportlehrer. Zum anderen leitete er mit einem be‑ freundeten Psychologen, Herrn Kamenský, sieben Jahre lang den »Holocaust-Club« (vgl. auch Kapitel 4.2.2). Dort kümmerte er sich um die Aufarbeitung der Erfahrun‑ gen der ältesten Gemeindemitglieder. In diesem Rahmen konnte auch er seine Er‑ lebnisse auf einer anderen Ebene und in psychologischer Begleitung seines Freundes reflektieren. 1993 ist er auch zu The Hidden Child gekommen. Seit er nach der poli‑ tischen Zäsur 1989 und später durch das Internet zunehmend die Möglichkeit hatte, nahezu grenzenlos Informationen über das jüdische Leben, die (jüdische) Philoso‑ phie, Geschichte, Religion und den Holocaust zu bekommen, eignete er sie sich an. Gleichzeitig teilte er dieses Wissen in Vorträgen beispielsweise für The Hidden Child und auch im Rahmen der Öffentlichkeit und übersetzte auch einzelne Bücher und Essays, die es nur einsprachig gegeben hatte. Zudem verfasste er auch selbst Artikel, die in diversen Zeitschriften veröffentlicht wurden. Er nahm auch am Judaismus-Un‑ 1952. Bis 1990 wurde sie unter dem Namen »Věstník židovských náboženských obcí v Československu« [Zeitung der jüdischen Gemeinden der Tschechoslowakei] als landesweite Ausgabe publiziert. Ab 1990 war sie die monatlich erscheinende Zeitung, die vom Verbund der jüdischen Gemeinden der tschechischen Republik und der jüdischen Gemeinde in Prag unter dem Namen »Roš Chodeš« (Rosch Chodesch) [der erste Tag jeden Monats im jüdischen Kalender], herausgegeben wird (vgl. Kehila Prag; Kramerius; The European Library; NPRK; FZO).
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terricht des Rabbiners teil, in dem jede Woche ein Kapitel der Thora durchgenommen wurde, so dass man sie über das Jahr hinweg komplett gelesen hat. »Und ich war im‑ mer darauf vorbereitet, weil ich schon am Donnerstag begonnen habe zu lesen. Und zwar die übernächste Lektion, die erst eine Woche später dran war.« Karl hat sich sehr intensiv damit befasst und »im Gegensatz zu anderen dort« auch darüber diskutieren können, wie er betonte. »Und ich studiere das, und habe das studiert, gelernt, lange Jahre, der Judaismus fasziniert mich sehr, weil ich glaube, dass der Judaismus mit seinem Mystizismus und seiner Beschaffenheit sehr … sehr … sehr großen Einfluss auf das Denken des Menschen hat.« Immer wieder zitierte er Philosophen und warf in unseren Gesprächen auch Fragen ein wie »Wozu existiert die Zeit?« Karl ist dabei, wie er selbst sagte, immer auf der Suche gewesen: »Ich habe immer gesucht. Der Mensch muss dazu reifen.« Die Suche nach dem Wissen in der Literatur war gleichzeitig auch mit der Suche nach seiner jüdischen Identität verbunden. Hinzu kommt die Parallele zu seinem bibliophilen Vater, der auch in dieser Hinsicht als Vorbild gesehen werden kann. Karls Beispiel lässt sich weiterhin gut mit Jürgen Straub erklären: Danach sorgt Karl immer wieder durch seine verschiedenen Tätigkeiten, die er mit seiner jüdischen Abstammung in Verbindung bringt, für ein positives personales Selbstverhältnis. Durch seine »Identitätsarbeit« formt Karl seine jüdische Identität (vgl. ebd. 1998: 87). Denn: »Nur eine Verortung in jenem Koordinatensystem des physikalischen, leiblichen, sozialen, moralischen und zeitlichen Raums macht autonomes Handeln möglich und verleiht diesem jene Sinn- und Bedeu‑ tungsgehalte, welche ihrerseits personale Identität reproduzieren, stabilisieren oder bewahren können.« (Ebd. 86)
Ein entscheidender Faktor seiner Identitätssuche und -arbeit war daher, dass er sein Wissen in bereits genannten Vorträgen und Publikationen aktiv anwenden und es auch mit seinem praktischen Engagement in verschiedenen Initiativen verknüpfen konnte, wie etwa bei dem Projekt von The Hidden Child »Jeder Mensch hat seinen Namen« [Každý človek ma svoje meno] (vgl. Kapitel 4.2.2 und 4.2.3). Hier setzt er sich bewusst bei der Suche der Namen der im Holocaust getöteten Juden aus Košice ein. Da Karl im Gegensatz zu vielen Mitgliedern der jüdischen Gemeinde, die zugezogen waren, sein ganzes Leben in der Stadt verbracht hatte, sah er sich ihnen gegenüber in einer besonderen Position: »Ich bin ein gebürtiger Košicer. Ich kenne alles, was hier in Košice war. Und sie kennen das nicht. […] Weil ein Zugezogener nie den Spiritus Loci haben wird.« So weiß Karl über die Geschichte der Juden in Košice sehr gut Bescheid, er kennt alle wichtigen Orte in der Stadt und ist mit diversen HistorikerInnen und anderen WissenschaftlerInnen der Stadt und über ihre Grenzen hinaus vernetzt. Mit seinem Wissen trägt er auch zu diversen Veranstaltungen der jüdischen Gemeinde und ihrer Vereine bei und hat auch schon Auftritte im Fernsehen gehabt. Nach Heiner Keupp und KollegInnen kann das soziale Kapital, das Karl über solche Arbeit in‑
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nerhalb dieser Aktivitäten und Netzwerke anhäuft, als identitätsstiftende Ressource gesehen werden, zumal sie ihm auch Anerkennung verschafft (vgl. ebd. 2002: 202 f.). Doch die Mitgliedschaft in der jüdischen Gemeinde hat auch weitere Schwierig‑ keiten für ihn nach sich gezogen, auf die er immer wieder zu sprechen kam: »Es ist nicht leicht, Halbjude zu sein.« Nachdem kurz zuvor ein Artikel über seine Erlebnisse während des Holocaust in einer lokalen Zeitung15 veröffentlicht worden war, begrüßte er mich bei unserem zweiten Interview mit folgenden Worten: »Ich fürchte mich vor diesem Artikel. Dass mich die Juden hier verletzen. Weil ich ein Mischling bin. Ich bin ein Mischling und jetzt habe ich mich absolut ehrlich geäußert und es liegt nicht in meinem Charakter, etwas zu verbergen oder mir Dinge auszudenken. Ich erzähle nur das, was ich tatsächlich erlebt habe.«
Sich in diesem Artikel öffentlich zu seiner und der Geschichte seiner Familie bekannt zu haben, machte Karl sehr zu schaffen. Hier wirkten auch die alten Ängste aus der Zeit der Verfolgung während des Zweiten Weltkriegs sowie auch aus der Zeit des So‑ zialismus. Darauf gründete sich auch das fragmentarische familiäre Gedächtnis, das aufgrund des Verheimlichens des Jüdischen durch seinen Vater bis kurz vor dessen Tod aufrechterhalten wurde. Er brach mit diesem Artikel das Schweigen seiner Fa‑ milie. Karls Kinder beschäftigten sich seinen Angaben zufolge jedoch kaum damit, wüssten aber über seine Interessen und Hobbys Bescheid. Mit seiner ersten und der jetzigen Ehefrau, die beide keine Jüdinnen sind, hatte er deswegen nie Schwierigkei‑ ten. »Über diese Dinge habe ich in der Vergangenheit mit meiner Frau nicht gespro‑ chen und spreche auch jetzt nicht mit ihr. Nur irgendwelche Dinge, die man sagen muss, aber wir … bohren da nicht rein.« Als ich seine Ehefrau kennenlernte, sagte sie mir, wie sehr sie sich darüber freue, wenn Karl jemanden habe, mit dem er über diese Themen sprechen könne. Über seine eigene und die Geschichte seiner Familie zu sprechen, fällt Karl gene‑ rell schwer, wie sich auch im Verlauf unseres Interviews gezeigt hatte. Seine Unsicher‑ heit wurde dadurch verstärkt, dass er nach halachischem Gesetz kein vollwertiger Jude ist. Denn er betonte immer wieder, er sei ein »Mischling. Und ich bin in der jüdischen Gemeinschaft und Mitglied der jüdischen Gemeinde.« Als ich ihn fragte, ob er denn der Einzige sei, lachte er: »Ich weiß nicht, wer da ein Mischling ist, weil sich niemand dort damit rühmt. Oder niemand macht damit … aber ich denke, dass da … vielleicht gibt es dort welche. Also dieses Buch hier wäre sicher auch gut für dich.« Und wieder reichte mir Karl ein Buch, dieses Mal über den ungarischen Holocaust. Ich lenkte das Thema vorsichtig wieder auf die Probleme, die er aufgrund seiner Ab‑ stammung in der Gemeinde zu haben schien. Dort wüssten alle darüber Bescheid, bisher habe es auch keine Schwierigkeiten gegeben. Nur der Rabbiner, mit dem er sich sehr gut versteht, nimmt ihn nicht als vollwertiges Mitglied an. Deshalb geht er auch nicht gerne in die Synagoge und zum Schabbat-Gebet.
15 | Auf eine genaue Quellenangabe wird hier aufgrund der Anonymisierung verzichtet.
286 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 »Ich bin nicht in die Synagoge gegangen. Wegen einer Sache. Was ich schon erklärt habe. Wenn da zehn Leute sind, gibt es einen Minian. Das steht in der Bibel oder in der Thora, so soll es sein. Und in den 613 Mizwot, ja, dort. Und einmal war es so, mit meinem guten Freund, und es hat mir sehr wehgetan, und es hat mich sehr … nicht verletzt … ich habe nicht das Recht, verletzt zu sein, aber es hat mir auf ge‑ wisse Weise wehgetan. Wie ich gesagt habe, also zehn Leute sind im Gebetsraum, dann ist es ein Minian. Und wir waren dort zehn, mit mir. Und der Rabbiner ist weggegangen. Damit dort kein Minian ist. […] Mein Freund hat mir dann gesagt, dass der Rabbiner deswegen weggegangen ist, weil er mir nicht sagen wollte, er wollte es nicht offen sagen, dass ich da nichts zu suchen habe.«
Karl war der Auffassung, dass der Rabbiner ihn deshalb nicht als vollwertiges Mit‑ glied akzeptiert hatte, weil er nicht nach halachischem Gesetz jüdisch ist. Er wieder‑ holte: »Es hat mir wehgetan. Ja, wir waren dort zehn. Mit mir waren wir zehn. Aber ich habe da nicht hingehört. Weil da waren neun mit dem Rabbiner. Aber mit mir waren wir zehn. Ich glaube, dass ich da nach religiöser Auffassung nicht hingehöre, in diesen Minian.« Das hat Karl, der, wie er sagte, gut mit dem Rabbiner auskommt, sehr verletzt. Damals hörte er auf, zu den Schabbatgebeten zu gehen. Gesprochen hat er darüber allerdings nie mit dem Rabbiner, denn er wollte ihn nicht aufregen. Diese Ausgrenzungserfahrung verunsicherte Karl sehr und verursachte, wie er mir selbst sagte, eine Form der Identitätskrise.16 Letztendlich aber veranlasste sie ihn auch umso mehr, kritisch zu sein: »Und aus diversen Erfahrungen habe ich Folgendes für mich gezogen: Dass sie dich dulden, aber nicht aufnehmen. Und in diesem Judentum ist das problematisch, auch wenn in dem modernen heute nicht mehr so, aber hier in Košice, wo die jüdische Gemeinde schon nicht mehr so groß ist …« Hier spricht Karl die paradoxe Situation an, dass die jüdische Gemeinde in Košice stetig kleiner wird, es aber trotzdem diverse Konflikte und Ausgrenzungsmechanismen darüber gibt, wer »jüdisch« ist und als vollwertiges Mitglied dazugezählt werden kann. Dem Vorsitzenden der Gemeinde zufolge werden aber auch Personen aufgenommen, die nicht nach halachischem Gesetz jüdisch sind. Karl bezog sich also auf die Distinktionsmechanismen der Mitglieder und des Rab‑ biners (vgl. Kapitel 4.2.2 und 4.2.3). Dementsprechend entsteht nach Heiner Keupp und KollegInnen »[i]n sozialen Netzwerken […] ein (in seinen Grenzen heute oft unscharfes) Geflecht von Normalität, von ›In‹ und ›Out‹, von als ›cool‹ bewerteter Abweichung bis hin zur mit negativer Sanktionierung ver‑ bundenen Ausgrenzung. Vor allem wird im sozialen Netzwerk etwas verhandelt, was für den gesamten Identitätsprozeß […] konstitutiv ist: soziale Anerkennung.« (Ebd. 2002: 203)
Dies trifft auch bei Karl zu, denn die Anerkennung und positive Reaktionen auf sein Engagement spürt er, doch die gefühlte Ausgrenzung wiegt unter anderem aufgrund 16 | »Im Blick auf das Individuum meint der Begriff der Identitätskrise also die intensiv erlebte Erfah‑ rung grundlegender sozialer und kultureller Dissonanzen mit der gesellschaftlichen Umwelt« (Kaschuba 2006: 136).
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seiner Erfahrungen aus der Kindheit schwer. Karl habe aber sein Selbstbewusstsein und seine Würde, die er sich insbesondere durch den Sport angeeignet hat, so dass er sich von niemandem erniedrigen lässt. »Ich verzeihe jedem und lasse jeden in Ruhe … aber … aber mich darf niemand … der Einzige, der über mir ist, ist Gott, falls er exis‑ tiert … aber das wissen wir nicht.« Karl war der Ansicht, dass es nicht entscheidend ist, ob er an Gott glaubt, sondern ob Gott an ihn glaubt. Und auch nicht, ob er Gott mag, sondern ob Gott ihn mag. Dennoch will er nicht religiös sein, sondern sein Wis‑ sen über den jüdischen Glauben erweitern. Obwohl er nach wie vor verletzt und unsicher ob seiner Veröffentlichung in der Zeitung ist, formulierte er ein mögliches Ergebnis seiner Suche so: »Weil ein Mi‑ schling hat ein Problem mit der Identität, weil … ich fühle mich weder als Ungar noch als Slowake. Ich habe für mich die Bezeichnung Kosmopolit gewählt.«
6.1.4.5 Vom Suchen und Finden Karl begann erst nach 1989, mit über 50 Jahren, sich aktiv mit seiner jüdischen Ab‑ stammung auseinanderzusetzen. Zuvor hatte er sie lediglich als negativ erfahren, so‑ wohl durch die Verfolgung und Gewalt, die er als Kind während des Holocaust erlebt hatte als auch durch die schmerzlichen Verluste seiner ermordeten Familienmitglie‑ der. Auch in der Nachkriegszeit hatte er selbst den Antisemitismus in Form von ge‑ walttätigen Ausschreitungen gegen Juden beobachtet und während des Sozialismus zusätzlich die Unterdrückung durch das politische Regime miterlebt. Das familiä‑ re Gedächtnis wurde hinsichtlich der gemeinsamen jüdischen Abstammung durch den Vater aufgrund dieser Bedingungen und Erfahrungen nie belebt. Da dieser aber stets eine zentrale Figur mit Vorbildfunktion für Karl war, hatte auch der plötzliche Wunsch des damals bereits todkranken Vaters, Mitglied in der jüdischen Gemein‑ de zu werden, eine nachhaltige Wirkung auf Karl und die damit aktivierte Ausein‑ andersetzung mit seinen Wurzeln. Bis zur politischen Wende 1989 sorgte vor allem der asiatische Kampfsport, den Karl intensiv ausübte, auch für sein inneres Gleich‑ gewicht. Den Sport hob Karl im Gegensatz zu seinem Beruf, den er nur in einem Satz erwähnte, stark hervor. Denn er brachte ihm Anerkennung, Sicherheit und Res‑ pekt. »Weil ich habe Budo, das System des Budo gemacht. Ich war sehr hart, kompro‑ misslos, traditionalistisch und konservativ. Weil Konservativität und Traditionalität in gewisser Weise dem Menschen moralische und ethische Sicherheit verleiht.« Der Kampfsport verlieh ihm Sicherheit, sich in gefährlichen Situationen schützen zu kön‑ nen und durch die Ausbildung anderer in Selbstverteidigung wurde ihm als Lehrer Respekt gezollt. Nach 1989, als ihn seine eigene jüdische Abstammung zunehmend beschäftigte, verschob sich dies auch auf den Bereich des Wissens über das Judentum, das er sich durch den Erwerb vorher unzugänglicher Literatur und später auch durch das Internet anlas. Sein Wissen übertrug er in seine Tätigkeiten innerhalb verschie‑ dener Vereine der jüdischen Gemeinde und erhielt so wiederum Anerkennung. In seinen Verbindungen zu lokalen, nationalen und internationalen WissenschaftlerIn‑ nen tauscht er sich aus und trägt zur Verbreitung seines Wissens bei, er macht sich auch hier nützlich. Diesen vielfältigen Bereichen der Auslebung seines Wissens, die
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auch als eine Art Belebung oder Weiterführung des (späten) Erbes des Vaters gese‑ hen werden können, stehen seine Zweifel ob seiner »nur« halbjüdischen Abstammung entgegen. Hervorgerufen wurden diese Zweifel bei ihm in Form von indirekten Aus‑ grenzungsmechanismen innerhalb der jüdischen Gemeinde und vor allem durch den Rabbiner. Das Gefühl der Verletzung multipliziert sich bei Karl durch die traumati‑ schen Erfahrungen, die er als Junge während des Holocaust gemacht hatte und erst im Kontext seiner Tätigkeit im Holocaust-Club und der Mitgliedschaft bei The Hidden Child teilweise verarbeiten konnte. Laut Heiner Keupp und KollegInnen könnte Identitätsarbeit in der Spätmoderne, wie auch Karls Fall zeigt, »zwar dynamischer, aber auch konfliktreicher und anstren‑ gender« werden. Denn »Anerkennung ist zwar das wichtigste, allerdings nicht das einzige Identitätsziel. Im Rahmen der übergreifenden Identitätsziele gibt es immer wieder Spannungen, die eine wichtige Triebkraft der Identitätsarbeit darstellen« (ebd. 2002: 263). Diese »Triebkraft« lässt sich bei Karl deutlich erkennen: An der Schnitt‑ stelle der vom Vater geerbten Liebe zur Literatur, seiner Forschung über das Jüdische sowie seiner Aktivitäten, die Erinnerung und die Geschichte der Juden in Verbin‑ dung mit der Stadt Košice aufrechtzuerhalten als auch durch sein Wirken innerhalb der jüdischen Gemeinde, findet Karl als selbsternannter »Kosmopolit« zahlreiche Wege, seine jüdische Identität zu entdecken und auszuleben. Die zentralste Funktion nimmt dabei stets die Anerkennung durch die sozialen Gruppen ein, die ihm durch sein Schaffen auf verschiedenen Ebenen zuteil wird. Diese und das erworbene Wissen ersetzen bei Karl in gewisser Weise auch das familiäre Gedächtnis, das nur in frag‑ mentarischer Form ausgebildet ist.
6.1.5 Zusammenfassung: Wunder(n) zwischen Erinnern und Vergessen Am 21. Dezember 2012 las ich in der Süddeutschen Zeitung über »[d]as Wunder von Belsize Park«. Der Artikel handelte von der ältesten Holocaustüberlebenden, Alice Herz-Sommer. »Das Wunder ist die Mutter von Raphael Sommer selbst, Alice Sommer-Herz [sic]. Sie lebt. Vor wenigen Wochen ist sie 109 Jahre alt geworden. 1903 kam sie auf die Welt, in Prag. Sie gilt weltweit als älteste Holocaust-Überlebende. Das lässt sich schlecht nachprüfen. Was sich aber feststellen lässt: Sie ist die op‑ timistischste und fröhlichste Holocaust-Überlebende, die man je kennengelernt hat.« (Schmitz 2012: 3).
Diese Aussage von Thorsten Schmitz verwunderte mich tatsächlich, denn Fröhlich‑ keit und der Holocaust sind für mich so weit voneinander entfernt, dass sie kaum in einem Satz vereinbar scheinen. Der Journalist zitierte Frau Herz-Sommer weiterhin: »Mein Optimismus hat mir durch die dunkelste Zeit in meinem Leben geholfen. Ich interessiere mich für die schönen Dinge im Leben. Deshalb bin ich so alt geworden.«17 17 | Ebd. (2012: 3). Alice Herz-Sommer überlebte mit ihrem Sohn Raphael das Konzentrationslager The‑ resienstadt. Ihr habe die Musik das Leben gerettet, sowohl weil sie mit ihrem Sohn gemeinsam im Or‑
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Meine Verwunderung über die in dem Artikel über Alice Herz-Sommer geschil‑ derte Lebensfreude ließ nach, als ich mich mit den Holocaustüberlebenden in mei‑ nem Feld beschäftigte. Die Begegnungen und Gespräche mit Menschen, die den Zwei‑ ten Weltkrieg unter schwierigsten Bedingungen und permanenter Gefahr überlebt hatten, waren von vornherein besonders für mich. Unter anderem, weil sie tatsächlich ZeitzeugInnen des Holocaust waren und eine Generation, die allmählich »ausstirbt«. Die Ausführungen der hier vorgestellten vier InterviewpartnerInnen über ihre Erfahrungen unterschieden sich nicht nur inhaltlich voneinander, sondern auch in der Art und Weise, wie sie sie erzählten. Dabei waren die Narrative von Karl und Henry, die den Holocaust versteckt überlebt hatten, im Gegensatz zu denen von Anna und Magdalena sehr emotional. Die beiden berichteten detailliert von besonders erniedrigenden und gefährlichen, aber auch traurigen Erlebnissen aus der Zeit der Verfolgung, während Anna und Magdalena nur knapp auf den Holocaust und die ermordeten Familienmitglieder als Faktum ihrer Biografie eingingen. Insbesondere darin unterschieden sich die Erzählungen der beiden Frauen von denen der Männer. Ein wesentlicher und zu berücksichtigender Punkt bei Karl ist auch, dass er jünger als die anderen war, denn »[a]ußerdem wurden die sich entwickelnden Kinder auf unterschiedliche Weise vom Verfolgungstrauma in Mitleidenschaft gezogen. Da sie die Gräuel des Krieges in unterschiedlichen Stadien ihres kognitiven, emotionalen und persönlichen Wachstums erlebten, durchlitten sie in den langen Jahren der Gefangen‑ schaft oder Trennung der Familien verschiedenartige Beeinträchtigungen und Formen von Entwicklungs‑ stillstand.« (Kellermann 2009: 59)
Die ältesten AkteurInnen fassten ihr Leben und ihre Erfahrungen retrospektiv we‑ niger als negativ zusammen, sie stützten sich größtenteils auf positive Erlebnisse, die ihnen nach dem Zweiten Weltkrieg über einen langen Zeitraum, zum Teil bis in die Gegenwart, Kontinuität vermittelten, wie etwa die Gründung einer Familie oder ih‑ ren Beruf, der ihnen Anerkennung einbrachte. Anna und Magdalena kannten das jüdische religiöse Leben, wie es vor dem Holocaust gewesen war. Beide halten sich an einzelne Elemente der jüdischen Traditionen, die sie in ihrem Alltag und Um‑ feld und in ihrem mittlerweile hohen Alter, ausleben können. Für Anna ist dies stark mit der Erinnerung an ihre Kindheit in einem orthodoxen Elternhaus verbunden, Magdalena hielt sich in gleichem Maße an die Traditionen, wie sie es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs getan hatte (vgl. Salner 2013: 36 f.). Karl und Henry wuchsen in säkularen Familien auf und fanden erst allmählich zu ihren jüdischen Wurzeln. Karls späte Suche nach seiner jüdischen Identität mit über 50 Jahren kann hier als besonders hervorgehoben werden, da er sich zwar erst nach 1989, dafür aber intensiv mit allem auseinandersetzte, was er über das Judentum finden konnte. Dieses Wissen verstand und versteht er aktiv in diversen Netzwerken und Gruppen um- und einzu‑ chester des Konzentrationslagers gespielt hat, als auch, weil die Musik für andere Gefangene und sie »Nahrung […] und Erlösung zugleich« war (ebd.).
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setzen. Bei allen InterviewpartnerInnen steht im Vordergrund, dass sie ihre jüdische Identität vor allem im Rahmen von Anerkennung und im Gefühl der Kontinuität positiv bewerten und ausleben können. Dies setzt für alle ein gesichertes soziales Um‑ feld voraus, in dem vor allem die Familie eine wichtige Rolle spielt. Bei Henry und Karl wird dies durch ihre Funktion als Zeitzeugen innerhalb einer wissenschaftlichen und journalistischen Community ergänzt, bei Magdalena durch ihr Wirken in den Vereinen der jüdischen Gemeinde und in ihrem Freundeskreis. »Aus all dem wird deutlich, daß Identität also nichts ›für sich‹ Existentes ist, sondern stets auf soziale Relationen und kulturelle Interpretationen verweist; sie konstituiert sich überhaupt erst durch die Bezugnahme auf ein Anderes« (Kaschuba 2006: 138). Dabei haben die hier vorgestellten AkteurInnen ihre Bedürfnisse an ihre Umwelt je nach Lebenslage, beziehungsweise auch ihrem Alter angepasst. Die AkteurInnen stellen nach Heiner Keupp und KollegInnen »Netzwerkbeziehungen her, sie positionieren sich in Beziehung zu anderen und andere in Beziehung zu sich. Sie stellen Nähe und Distanz her, pflegen Beziehungen oder brechen sie ab, ordnen sich unter, über oder ein, sie erweitern Netzwerke oder isolieren sich, sie investieren in sich auf tradierte Familienbezie‑ hungen. Das soziale Netzwerk drückt nicht nur im Maß seiner Differenziertheit den Stand der Identitäts‑ entwicklung einer Person aus, sondern macht die Prioritäten deutlich, die diese setzt.« (Ebd. 2002: 169 f.)
Ein weiterer Grund, weshalb die Generation der Ältesten eine besondere Rolle in meinem Feld einnimmt, ist der, dass sie die nachfolgenden Generationen prägt. Zum einen mit dem Wissen über das jüdische Leben, wie es vor dem Holocaust gewesen ist, zum anderen auch mit dem Wissen über ihre Erfahrungen und das Schicksal der Fa‑ milie. Hier spielt eine wesentliche Rolle, inwiefern und auf welche Weise Menschen, die den Holocaust überlebt haben, dies im familiären Gedächtnis integrieren und darüber sprechen konnten. Denn laut Harald Welzer »scheint es freilich [häufiger] der Fall zu sein, daß das traumatisierende Ereignis hinreichend Streß dafür ausgelöst hat, daß die Erinnerung an dieses Ereignis fragmentarischer ist als gewöhnlich« (ebd. 2008: 38 f.). Bei allen hier vertretenen AkteurInnen äußerte sich dieser Stress auf un‑ terschiedliche Weise, durch wiederholtes, sehr emotionales Herausstellen besonders schwieriger Situationen während des Holocaust wie bei Henry und Karl oder durch generelles Schweigen darüber bei Anna und Magdalena. Über die Erinnerungen und die Analyse lebensgeschichtlicher Interviews von Konzentrationslager-Überlebenden schrieb Ulrike Jureit in ihrer Dissertation: »Wir mißverstehen ihre Erinnerungen, wenn wir die Worte als Synonyme unserer ›freien Sprache‹ auffas‑ sen. Es ist eine Sprache, die die Nachgeborenen nicht lernen mußten, deren Metaphorik wir wohl auch nie gänzlich werden verstehen können. Es ist eine Sprache, in der das Schweigen zur Grammatik gehört.« (Ebd. 1999: 86)
Diese Sprache, die sich die Generation der Holocaustüberlebenden individuell zu ei‑ gen machte, wurde insbesondere durch die Erfahrungen während des Sozialismus in
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der Slowakei mitgestaltet und geprägt. In diese Zeit wurde die nächste Generation hineingeboren. Alena Heitlinger beschreibt in ihrer Studie die Generation der Holo‑ caustüberlebenden so: »The impacts of Shoah and state socialism/communism on the first generation were also manifested in its strong desire to assimilate. The Holocaust survivors who did not emigrate typically regarded themselves as belonging to the Czech or Slovak nation and, as a result, they tended to raise their children to be cultur‑ ally Czech or Slovak. As a rule, there was little if any reference to Jewish cultural and religious traditions and, as we noted, in many cases there was also total silence about Shoah. The ambivalent or negative attitudes towards Jewishness can be largely attributed to traumas by new fears generated by Stalinism and its anti-Semitism in the 1950s.« (Ebd. 2006: 81 f.)
Ob und wie die Sprache der Holocaustüberlebenden für ihre Kinder und EnkelInnen verstehbar war, und wie sie von ihnen wahrgenommen und in ihren eigenen Identi‑ tätskonstruktionen interpretiert und umgesetzt wurde, soll nachfolgend aufgezeigt werden.
6.2 D ie N achkriegsgeneration »Lange Jahre war es in einer Art Kasten tief in mir vergraben. Ich wußte, daß ich – verborgen in diesem Kasten – schwer zu erfassende Dinge mit mir herumtrug. Sie waren feuergefährlich, sie waren intimer als die Liebe, bedrohlicher als jede Chimäre, jedes Gespenst. Gespenster aber hatten immerhin eine Gestalt, einen Namen. Was aber dieser Kasten in mir barg, hatte weder Gestalt noch ließ es sich benennen. Im Ge‑ genteil: Es besaß eine Macht von so düsterer, furchtbarer Gewalt, daß die Worte, die sie hätten benennen können, vor ihr zergingen. Oft war mir, als trüge ich eine entsetzliche Sprengladung mit mir herum. Flüchtige Bilder von Tod und Ver‑ nichtung hatte ich gesehen. War ich in der Schule vorzeitig mit einer Probearbeit fertig oder hing ich auf dem Heimweg meinen Tagträumen nach, so schien mir alles Gesicherte aus der Welt verschwunden, und mir traten Dinge vors Auge, die ein kleines Mädchen nicht hätte sehen dürfen. Blut, zerschlagenes Glas, Hügel von Gebeinen, schwarzer Stacheldraht, an dem Fleischfetzen hingen wie tote Insekten; getürmte Koffer, Berge von Kinderschuhen, auch Peitschen, Pistolen, Stiefel, Dolche und Nadeln. […] Nicht mehr als 75.000 Juden überlebten die Konzentrations- und Vernichtungslager, und zwei von ihnen waren meine Eltern. Der Kasten, den ich in mir herumtrug, hatte einen Raum für meine Eltern. Dort haus‑ ten sie für sich – abgesondert von anderen menschlichen Wesen. Als Kind mußte ich die Zahlen der Opfer nicht kennen: Ich wußte, meine Eltern hatten einen Abgrund überquert, und sie hatten es alleine getan. Ich war ihr erster Weggefährte, ein neues Blatt am Baum – und ich wußte, daß dieses Blatt die Essenz des Lebens sein mußte. Es unterschied sich vom Tod wie das Gute vom Bösen, wie die Gegenwart vom Vergangenen. Es bezeugte, daß die Macht des Lebens stärker war als die Gewalt der Vernichtung. Es war der Beweis dafür, daß sie selbst nicht gestorben waren. Die Tür, die in diesen abgesonderten Raum führte, war geheim; der Ort mußte wohl behütet werden.« (Epstein 1987: 9 ff.)
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Am Anfang ihres Buches über die intergenerationale Traumatransmission gewährt uns die in Tschechien geborene Autorin Helen Epstein Einblick in ihre emotionale Erfahrungswelt als Kind von Holocaustüberlebenden. Traumata, die sich von ihren Eltern auf sie übertragen hatten und die sie als extrem bedrohlich, belastend und ge‑ fährlich empfand, werden aus ihren Darstellungen deutlich. Damit verbunden sind grausame Bilder und Phantasien von Leid und Tod. All das nahm, wie es scheint, einen erheblichen Raum in ihrem Leben ein. Der Autorin ist bewusst, was ihre Eltern überlebt haben und welche Rolle ihr als Kind zukam, eine Aufgabe, die sie vor große Herausforderungen stellte. Der Respekt vor dem Überleben der Eltern und ihre damit einhergehende Position und Verantwortung ihnen gegenüber verlangten ihr viel ab. Helen Epsteins Erfahrungen geben einige Facetten des Lebens derjenigen in mei‑ nem Feld wieder, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden. Ihnen kamen als Kindern von Holocaustüberlebenden besondere Rollen zu, denn sie sind der Beweis dafür gewesen, dass nicht alle Juden umgebracht wurden und die Nazis somit ge‑ scheitert sind: »Galten die Kinder, die von Holocaust-Überlebenden geboren wurden, einerseits als triumphaler Beweis des Überlebens und der familiären und jüdischen Zukunftssicherung, hatten sie mit dieser Zuschreibung andererseits eine schwere Bürde zu tragen« (Konrad 2007: 47). Einige PsychologInnen und AnalytikerInnen stellten insbesondere bei dieser Ge‑ neration fest, dass sie eine außerordentlich starke Bindung zu ihren Eltern aufweist und ein hohes Maß an Verantwortung ihnen gegenüber fühlt (vgl. Ludewig-Kedmi/ Tyrangiel 2002; Rosenthal 1997b; Kliger et al. 2008). Bei Überlegungen zur Trau‑ maübertragung muss man laut Natan Kellermann auch »das komplexe Wechselspiel zwischen den verschiedenen Ebenen von transgenerationalem Einfluss an‑ erkennen. Dies legt nahe, dass Traumaweitergabe durch einen Komplex von vielfach in Beziehung stehen‑ den Faktoren verursacht wird, einschließlich biologischer Prädisposition, individueller Entwicklungsge‑ schichte, familiärer Einflüsse und sozialer Situation.« (Ebd. 2009: 70)
Man könne »Traumaweitergabe somit als ein Phänomen erklären, das von einem oder allen psychodynamischen, soziokulturellen, familiensystemischen und biologischen Faktoren sowie von einer ›ökologischen‹ Kombination aller Faktoren beeinflusst wird« (ebd.: 70 f.). Bei vielen meiner InterviewpartnerInnen begleitete die starke emotionale Bin‑ dung zu einem oder beiden Elternteilen unser gesamtes Gespräch. Diese wurde häufig nur indirekt, durch die Bezeichnung »Väterlein« [otecko] oder »Mamilein« [mamič‑ ka], einer besonders verniedlichenden Bezeichnung für »Mutter« und »Vater« im Slo‑ wakischen, verdeutlicht.18 Manchmal jedoch wurde die Bewunderung, der Respekt und die emotionale Verbindung auch direkt betont. Dabei spielt eine wesentliche Rolle, inwiefern der Holocaust und die Vergangen‑ heit Eingang ins familiäre Gedächtnis fanden. Die Generation, die nach 1945 geboren 18 | Diese Verniedlichungen werden aufgrund der besseren Lesbarkeit in den Fallporträts nicht verwendet.
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wurde, wuchs meist mit dem Schweigen ihrer Eltern über die Familienbiografie und den Repressionen des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei auf. Ei‑ nige meiner InterviewpartnerInnen erfuhren – wenn überhaupt – nur beiläufig von ihren jüdischen Wurzeln, wurden aber gleichzeitig in einem jüdischen Umfeld groß. Manchen von ihnen wurde erst nach 1989 allmählich bewusst, welche Elemente des Jüdischen bereits seit langer Zeit in ihrem Leben gewesen waren. Sie alle standen in gewissem Maße vor der Entscheidung, ob und wie sie nach der Zäsur dem Jüdischen in ihrem Leben Raum geben wollten. Alena Heitlinger stellte über die Nachkriegsgeneration fest, dass es in dieser Ge‑ neration einen großen Unterschied bedeutete, ob die AkteurInnen vor oder nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes 1968 geboren sind: »[I]ndividuals belonging to birth cohorts separated by only a few years found themselves in radically different conditions from which to conceive and renegotiate their Czech/Slovak Jewish identities. Thus the second generation is a heterogeneous group of people differentiated by year of birth, gender, lan‑ guage, cultural background, family politics, and geography. At the same time, the second generation also represents an ethnically unified symbolic community of fate which, like the one which created the first generation, was largley (sic) brought together by politics and the surrounding non-Jewish environment.« (Ebd. 2006: 89 f.)
Denn auch während des sozialistischen Regimes gab es unterschiedliche Phasen der Repression und des politischen Antisemitismus in der damaligen Tschechoslowakei (vgl. Kapitel 4.1.3). Doch was zeichnet die Generation, die nach dem Zweiten Welt‑ krieg geboren wurde, noch aus? Wie sind diejenigen, die in den Sozialismus hinein‑ geboren wurden und laut Alena Heitlinger im »Schatten« des Holocaust lebten, mit ihrem Erbe umgegangen? Welche Erfahrungen mit dem Jüdischen markieren ihre Biografien und welche Chancen gab es für die AkteurInnen, nach 1989 ihre jüdische Abstammung anders oder neu zu beleben? Das folgende Porträt gewährt uns Einblicke in die Lebenswelten von Lena, ihrem folgt das von Annamaria aus Lučenec. Ruth schließt als jüngste Vertreterin dieser Generation das Kapitel ab.
6.2.1 Lena 6.2.1.1 Zwischen den Stühlen Lena und ihrer Geschichte, die ich zu Beginn dieser Arbeit bereits kurz zusammen‑ gefasst habe (vgl. Kapitel 1.1), möchte ich hier mehr Platz einräumen. Unter anderem auch deshalb, weil ich ihren Sohn Leon im Kapitel über die Generation der »Jungen« (Kapitel 6.3.1) porträtiere. Wie sich zeigen wird, beeinflussen sich die Lebensentwür‑ fe und identitären Verortungspraxen von Mutter und Sohn gegenseitig. Aus Lenas Biografie wird nicht nur Leons Lebenswelt nachvollziehbarer, sondern vor dem Hin‑ tergrund seiner Identitätspraktiken erschließt sich auch ein dichteres Bild von Lenas.
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Lena wurde mir von Zoya, einer Interviewpartnerin aus der Generation der Ältes‑ ten, bei einem Konzert in der Synagoge vorgestellt und erklärte sich gleich zu einem Interview mit mir bereit. Dieses führten wir in ihrer Wohnung, im ehemaligen Kin‑ derzimmer ihrer Söhne. Nach deren Auszug und dem frühen Tod ihres Mannes, den sie im Interview kaum erwähnte, lebt sie alleine. Sie wirkte sehr offen und locker, duzte mich von Anfang an, und das Gespräch zwischen uns beiden entwickelte sich schnell zu einem offenen Dialog, in dem sie von Anfang an viel von sich preisgab. Lena ist Englischlehrerin, was sich in ihren Aussagen oft niederschlug. Sie verwendete stellenweise einzelne Begriffe aus dem Ungarischen, dem Englischen, manche auch aus dem Deutschen. Die Stellen, an denen sie nicht Slowakisch sprach, waren meist emotional behaftet und unterstrichen den semantischen Gehalt ihrer Aussagen. Lena gebührt auch eine besondere Position in meiner Arbeit, weil sie in Lučenec geboren und dort bis zu ihrem 18. Lebensjahr aufgewachsen ist und dann nach Košice kam. So gibt sie einen Einblick in beide von mir beforschten Städte und das jüdi‑ sche Leben dort. Zum Zeitpunkt unseres Interviews war sie 62 Jahre alt. Da wir mit Lučenec eine gemeinsame Heimatstadt haben, konnten wir immer wieder daran an‑ knüpfen.
6.2.1.2 H olocaust: »Wenn die Leute darüber reden, ist es immer sehr seltsam. Weil sie sagen, dass sie von diesem Auschwitz schockiert sind und nichts begreifen« Lena begann ihre Erzählung mit der Geschichte ihrer Familie. Ihr Vater stammte aus einer armen jüdischen Familie und hat es aus eigener Kraft geschafft, ein angesehener Arzt zu werden. Aus seiner ersten Ehe mit einer jüdischen Frau ging ihre Halbschwes‑ ter hervor, deren Porträt an der Wand des Zimmers hing, in dem wir saßen. Diese erste Ehe wurde geschieden, mit seiner zweiten Ehefrau bekam er wieder eine Tochter. Als der Zweite Weltkrieg begann, wurde ihr Vater in ein Arbeitslager interniert, das er überlebte. »Ja und dann, also … sie … da war dann die zweite Frau, ja, und die beiden Töchter. Die Kleine war noch sehr klein, die war als sie sie nach Auschwitz gebracht haben … sie haben sie nach Auschwitz gebracht, weißt du. Und die Kleine war sieben Jahre alt. Ja und das … meine [ältere] Schwester hat dann geheiratet und ist nach Australien gezogen. Also haben wir uns … sie war ab 1949 nicht mehr da. Wir haben uns also getroffen und sie hat mich an den Händen gehalten, als ich ein Jahr alt war, und dann haben wir uns erst wiedergesehen, als ich verheiratet war und sie hierher zurückgekommen ist, um ihre Mutter zu sehen.«
Lena sprang in ihrer Erzählung von der Deportation während des Holocaust in die Nachkriegszeit, bevor sie das Schicksal der zweiten Ehefrau ihres Vaters und ihrer beiden Schwestern detaillierter ausführte. Die zweite Ehefrau war keine Jüdin, doch »sie haben sie auch mitgenommen, als sie sie dahin weggebracht haben … das weißt du alles, wann sie sie aus Ungarn weggebracht haben?« Lenas älteste Schwester muss etwa 16 Jahre alt gewesen sein, als die Juden aus Lučenec deportiert wurden:
»New Jewish Identities«? Perspektiven auf individuelle Lebens- und Erfahrungswelten | 295 »Sie hat mir das erst erzählt, als ich schon erwachsen war. Im Jahr 2000 hat sie mir erzählt, wie das damals überhaupt war. Dass sie sie … sie waren in diesen Waggons, und jetzt – das ist interessant, wie sie das sieht. Sie haben sich absolut nicht gemocht, sie und die zweite Mutter, die Stiefmutter, weißt du. Sie mochte die kleine Schwester, aber nicht die Mutter. Und jetzt hat sie erzählt, dass sie an irgendeiner Station waren und die Deutschen da herumgelaufen sind und geschrien haben, dass sie Krankenschwes‑ tern brauchen.«
Lena sagte »Krankenschwestern« auf Deutsch, als wolle sie die Situation so original‑ getreu wie möglich wiedergeben. Dies verlieh der erzählten Sequenz Authentizität und die hier dargestellte Szene wirkte auch eindringlicher: »Verstehst du? Sie haben sie gesammelt, die Krankenschwestern, die dann dort [in Auschwitz] arbeiten würden als Krankenschwestern. Und die Stiefmutter hat sie [die ältere Schwester] aus dem Waggon raus‑ gestoßen und hat geschrien, weil sie gut Deutsch gekonnt hat, weil sie ja Deutschlehrerin war: ›Hier, hier ist Krankenschwester, nehmt sie.‹ Weißt du. Und jetzt stell dir vor, sie [Lenas älteste Schwester] sieht es so, dass sie ihr damit das Leben gerettet hat. Weil einerseits sagt sie, dass wenn sie in Auschwitz ange‑ kommen wären, hätte sie die Kleine [Schwester] an den Händen genommen und sie wäre automatisch ins Gas gegangen, so wie die Mutter mit dem Kind und auch weitere Verwandte mit kleinen Kindern alle ins Gas gegangen sind. Und sie war ja nicht mehr dort [bei der Familie], und sie sagt, dass sie sie außerdem gleich als Krankenschwester dorthin mitgenommen haben, dass es sicher ein Privileg war, nicht wie ein‑ fache Leute, sondern wie die Arbeiter in Auschwitz anzukommen.«
Ihre älteste Schwester hatte zuvor viel in der Arztpraxis des Vaters gelernt, in der sie ausgeholfen hat. Aber Lena wusste nicht, was in Auschwitz von diesem Wissen über‑ haupt nötig gewesen war: »Ich weiß nicht, was sie überhaupt gemacht haben. Und sie hat sehr wenig darüber erzählt, wie es dort war und manchmal hat sie erzählt, wie schrecklich es in diesem Auschwitz war, aber darüber weißt du si‑ cher Bescheid, du hast sicher viel davon gehört und viel darüber gelesen. Aber sie wollte nicht viel darüber sprechen. Das war also dieser seltsame Moment, weißt du, dass sie es zuerst so wahrgenommen hat, dass sie [die Stiefmutter] sie hinausgestoßen hat, damit sie mehr Platz für das eigene Kind hat, weißt du. Sie hat es ihr ganzes Leben so gesehen. Aber wenn sie es umgedreht hat, hat sie gemerkt, dass sie ihr damit das Leben gerettet hat. Weißt du.«
Lena beschäftigte nicht nur, dass ihre Halbschwester als kleines Mädchen mit ihrer Mutter in Auschwitz ermordet wurde, sondern auch das Dilemma ihrer älteren Halb‑ schwester, die Zeit ihres Lebens mit ihrer »Rettung« durch die ungeliebte Stiefmutter zu kämpfen hatte. Lena vergewisserte sich im Gesprächsverlauf häufig mit den Nach‑ fragen »Weißt du?«, »Verstehst du?«, »Das weißt du sicher auch?« der Richtigkeit ihrer Aussagen und auch darüber, dass ich sie und das Gesagte ernst nahm und ihr folgte. Ich bejahte und unterbrach sie nicht. Da Lena immer wieder nachfragte, ob ich das glauben könne, schien auch für sie selbst das Schicksal ihrer Familie – im wahrsten Sinne des Wortes – unglaublich zu sein. Im weiteren Verlauf des Interviews wurde
296 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989
ihre Unsicherheit immer deutlicher, insbesondere, als sie von ihrer Identität und ih‑ rer Zerrissenheit sprach, die vor allem mit ihrer Familienbiografie zu tun hat. Wie sehr sie das Schicksal ihrer Familie beschäftigte und berührte, machte vor allem diese Aussage deutlich: »Und für mich, ich bin damit in meiner Kindheit aufgewachsen, weil ich habe das zu Hause immer gehört, dass meine Halbschwester in diesem Gas war, weißt du, in diesem Gas und dass meine Schwester dort war […].« Lena benutz‑ te hier zunächst das slowakische, dann das deutsche Wort für Gas. Die Psychologin Teréz Virág beobachtete bei ihren Untersuchungen von ungarischen Familien Ho‑ locaustüberlebender, mit welchen Bedeutungen solche Begriffe für die nachfolgenden Generationen aufgeladen sein können: »Für die Familien der Überlebenden […] haben Worte wie Gas und Lager, Stacheldraht, Eisenbahnwag‑ gon, Seife […] eine vom ursprünglichen Sinn des Wortes losgelöste Bedeutung, und die durch diese Worte übertragene emotionale Spannung übermittelt dem Kind die Erinnerungen an die geheimgehal‑ tene Vergangenheit. Und all das wird dann damit vermischt, was in der Schule gesagt, durch die Medien vermittelt, aus den von den Großeltern erzählten Geschichten aufgenommen oder […] zufällig auf der Straße aufgeschnappt wird.« (Ebd. 2000: 197)
Dies lässt sich auch auf Lena übertragen, die ihre Emotionen sehr stark verbalisierte, sie aber auch durch Gestik und Mimik ausdrückte. Indem sie bestimmte Begriffe auf Deutsch oder Englisch und bewusst nicht auf Slowakisch benannte, schaffte sie es auch, die von Virág angesprochenen Erinnerungen, die sich mit den Begriffen ver‑ banden, wachzurufen und gleichzeitig die damit einhergehenden Spannungen abzu‑ bauen. Auch wusste sie, dass sie in mir eine Gesprächspartnerin hatte, die sie in allen drei Sprachen sofort verstand. So erzählte sie, immer lauter werdend, von ihrer Kindheit, in der sie sich über die Menschen in ihrem Umfeld gewundert hatte, die über den Holocaust geschwiegen beziehungsweise ihn ihrer Meinung nach nicht genug thematisiert hätten: »Ich habe nicht begriffen, dass diese Leute normal leben konnten und überhaupt nichts darüber gesagt haben. Überhaupt nichts. Weißt du, manchmal kam schon etwas heraus … sie haben sich verstellt und ich habe mich als Kind gefragt: Wie können sie sich noch darüber aufregen, dass man im Geschäft das oder das nicht bekommt, wenn sie in solch schweren Verhältnissen [im Konzentrationslager] waren?«
Dies machte unter anderem auch ihr Bedürfnis nach dem Sprechen über den Ho‑ locaust deutlich. Zwar wurde das Thema in ihrem Umfeld ab und zu angedeutet, aber niemand scheint sich wirklich so damit auseinandergesetzt zu haben, wie es sich Lena gewünscht oder es gebraucht hätte. Zudem hatte Lena erst mit über 50 Jahren die Details der Deportation und der Ereignisse in Auschwitz von ihrer älteren Halb‑ schwester direkt erfahren, aber bereits als Kind und im Verlauf ihres Lebens immer bruchstückhaft etwas darüber gehört und die Verdrängungsmechanismen sowie das Schweigen der Betroffenen ebenfalls zu spüren bekommen:
»New Jewish Identities«? Perspektiven auf individuelle Lebens- und Erfahrungswelten | 297 »Ja, meine Mutter hat mir erzählt, was sie weiß, ja, ja. Also bei uns hat man normal über diese Sachen gesprochen, nur hat man das wie alles andere gesagt. Aber sie hat mir davon erzählt, und sie hat mir auch erzählt, wer da [in Auschwitz] war und wer zurückgekommen ist und das alles. Und dass die Leute nichts sagen wollen und dass unsere Verwandten, ich weiß nicht, wo sie das erfahren hat, dass sie unsere Tante beispielsweise ausgepeitscht haben. Weil sie irgendetwas geklaut hat. Weil sie irgendjemandem etwas geklaut hat in diesem Auschwitz, weißt du, und dass sie so jung war, dass sie sie so schrecklich ausge‑ peitscht haben. Und sie hat das … irgendjemand hat es jemandem gesagt. Weißt du. Und meine Mutter hat gesagt: Ich kann das nicht begreifen, sie hat davon nichts erzählt und nicht ein halbes Wort darüber verloren. Und das war eine nahe Verwandte, sehr nah. Sie kam jede Woche zu uns und hat niemals mit jemandem darüber gesprochen.«
Am Ende wurde Lena immer leiser, flüsterte fast, als wollte sie sich dem Schweigen ihrer Tante anpassen. An ihrer Kindheit sei aber gerade das interessant gewesen, dass sie trotz des generellen Schweigens häufig die Geschichte ihrer Schwester gehört habe, erklärte Lena. Damit korreliert wiederum, dass über die jüdische Abstammung der Familie nicht gesprochen wurde, so dass Lena für sich nie einen Zugang dazu gefun‑ den hat. »Ich habe alles über die Familie gewusst. Alle Freunde, Bekannte waren eigentlich Juden. Aber es hat niemand darüber gesprochen. Niemand hat darüber gesprochen. Aber auch darüber nicht, dass sie Juden sind. Und ich selbst habe das auch nicht so angenommen. Mir ist das überhaupt nicht so klar gewesen, weißt du, dass ich, wenn meine Familie jüdisch ist, dass ich es dann wohl auch sein könnte oder sein müsste, weißt du. Ich habe gewusst, das mein Vater Jude ist, aber das wars auch für mich. Und ich habe mich damit überhaupt nicht beschäftigt. Und dann noch meine Mutter, die von der weiblichen Seite auch Jüdin war. Aber da eigentlich ihre eigene Mutter in eine Familie eingeheiratet hat, die absolut nicht jü‑ disch war, komplett nicht-jüdisch, wurde sie umgetauft und ist mit dieser kalvinistisch-reformatorischen Kirche aufgewachsen.«
Lenas Mutter entstammte einer »Mischehe«, was sie einige Zeit lang während des Zweiten Weltkriegs gerettet hatte. Ihr Vater ist früh gestorben und sie ist mit ihrer Mutter – Lenas Großmutter – alleine gewesen. »Das einzige, was ich vom Krieg weiß, was ihnen geschehen ist, dass sie in der letzten Phase, als ihnen gesagt wurde, sie sollen den gelben Stern tragen, weißt du, den Davidstern, damals war angeblich – aber das weiß ich auch nicht sehr genau, nur so ungefähr, da haben sie alle diese Leute eingesammelt, die so halb [jüdisch] waren. Angeblich haben sie sie aus Lučenec hinaus und in irgendeinen Wald geführt. Stell dir vor … und das konnte ich absolut nicht begreifen – und dass sie sie in zwei Gruppen geteilt haben, hat meine Mutter mir erzählt. Dass es solche waren, die die Abstammung nur halb hatten, so gemischt. Also haben sie sie auf zwei Gruppen aufgeteilt. Eine der Gruppen haben sie auf Autos aufgeladen und sie nach Hause gebracht. Sie haben sie nach Hause gelassen, ohne alles. Und die andere Hälfte haben sie dort zusammengeschossen. Kapierst du das? (Lena lachte laut auf.) Aber ich habe nie verstanden, um was es geht, warum … das wussten sie selbst nicht. Ich sage ja: Wie ist es möglich, dass ihr zu denen [zu der Gruppe der Überlebenden] dazu gekommen seid? Und meine Mama hat mir gesagt – vielleicht ist das auch
298 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 nicht wahr – wahrscheinlich hat meine Mutter mit ihnen schön auf Deutsch gesprochen, wahrscheinlich hat es ihnen gefallen, dass sie so gut Deutsch kann. (Sie lachte wieder laut auf.) Aber weißt du, sowas kann man auch nie wissen. Also war das so ein Zufall. Sie hätten sie auch zusammenschießen können – Ende. Und sie haben sie nach Hause geschickt und dann ist das [der Krieg] schon allmählich zu Ende gegangen. Sicher hätten sie sie auch weggebracht, wenn das noch ein, zwei Jahre gedauert hätte. Aber es war so.«
Lena erzählte mir vom Schicksal ihrer Mutter, als könnte sie es bis heute nicht glauben und untermalte ihre Ausführungen mit einem lauten Auflachen, das ihre Ungläubig‑ keit unterstrich. Ihre Mutter und Großmutter seien 1944 nicht im Ghetto von Lučenec gewesen wie die anderen Juden (vgl. Kapitel 4.1.2), sie hätten sich damals in Kellern versteckt. »Also ich kann das nicht verstehen, wie das passieren konnte. Weil diese eine Sache ist so geschehen und ansonsten … sie sind ganz normal zurückgekehrt und in den Keller gegangen, in dem sie zuvor waren. Unglaublich, nicht? Oder?« Für Lena ist alleine schon das Schicksal ihrer ältesten Halbschwester, das auf so tragische Weise mit der Beziehung zu und dem Schicksal der Stiefmutter und der anderen Halbschwester verbunden gewesen ist, schwer zu glauben. Ebensowenig ver‑ steht sie das Schicksal ihrer Mutter und Großmutter, die auch durch einen Zufall dem Tod entkamen. Als ihre Mutter im Alter erkrankte, kam Lena erneut mit deren Kriegserinnerun‑ gen in Berührung: »Weißt du wie … stell dir vor, dass meiner Mutter die Sachen aus dem Krieg wieder eingefallen sind. Das war furchtbar. Sie … das war nicht diagnostiziert, ob es Alzheimer oder was auch immer war, es gab keine Diagnose, weißt du, ich weiß nicht. Aber sie hat sich sehr seltsam verhalten. Weil das war genau so, dass sie ins Langzeitgedächtnis übergegangen ist und sie kein Kurzzeitgedächtnis mehr hatte. Ja … und so war das. Aber das alles konnte man aushalten, aber sie hat … irgendwelche Erinnerungen an den Krieg kamen wieder in ihr hoch. Und dann hat sie beispielsweise solche … ich weiß, dass sie dann in der Geriatrie war und alle haben sich beschwert, weil sie geschrien hat, und stell dir vor, sie mussten ihr dann Sedativa geben. Sie hat die ganze Geriatrie zusammengeschrien und die Leute haben sich dann bei mir beschwert, dass sie dort nicht schlafen können, weil sie geschrien hat: ›Ich will nicht sterben!‹ Weißt du und mir hat sie dann erzählt, sie wäre im Gefängnis, dass sie im Gefängnis ist.«
Aber im Gefängnis sei ihre Mutter nie gewesen, so Lena. Sie hatte sich in Kellern versteckt. »Es ist so schade, wenn du so eine Mutter hast … weißt du. Sie meinte, dass sie sie morgen aufhängen (lachte traurig auf), das hat sie auch gesagt.« Für Lena war es schlimm und immer noch unverständlich, dass ihre Mutter kurz vor ihrem Tod solche Erinnerungen an den Krieg hatte. So offenbarten sich Lena auf sehr emotionale und belastende Weise Dinge, die ihrer Mutter und deren Familie während des Krieges zugestoßen sein müssen. »Ja, ich war total excited darüber, dass diese Erinnerungen aus dem Krieg kamen.« Die Ereignisse aus dem Krieg hatte die Mutter nicht verarbei‑ tet, daher sind diese Erinnerungen hochgekommen. Morgens nach dem Aufstehen hat sie beispielsweise auch gesagt: »›Schnell, geh alles erledigen, einkaufen, man kann
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nichts mehr einkaufen. Bald kommt der Krieg.‹ Das hat sie mit mir gemacht … (Lena lachte wieder traurig auf.)« Lenas Mutter lebte bis zu ihrer Einweisung in die Geriatrie mit ihr gemeinsam in der Wohnung. Diese Erinnerungsfragmente der Mutter und die emotionale Art und Weise, wie sie von ihr hervorgebracht wurden, haben bei Lena erneut Fragen nach dem Schicksal ihrer Angehörigen während des Holocaust evoziert. Diese konnte ihr die kranke Mutter nicht mehr beantworten, was Lena wiederum in eine mit ihrer Kindheit und Jugend vergleichbare Situation beförderte, die des fragmentarischen Wissens bei gleichzeitigem Schweigen über traumatische Ereignisse. Damit musste sie zurechtkommen. Harald Welzer zufolge spielt »im Prozeß der Tradierung von Vergangenheit die emotionale Dimension der Vermittlung und der bild‑ haften Vorstellung eine größere Rolle […] als kognitiv repräsentiertes Wissen – dies scheint vielmehr im aktiven Bemühen, die erzählten Geschichten nachzuvollziehen und ihre Leerstellen aufzufüllen, weitge‑ hend suspendiert. Und die Leerstellen sind zahlreich.« (Ebd. 2001b: 177)
Dass sich Lena mit der Vergangenheit auseinandergesetzt und damit auch versucht hat, diese »Leerstellen« aufzufüllen, wurde später im Interview deutlich, als wir noch einmal auf den Holocaust und das Schicksal der ungarischen Juden im Allgemeinen zu sprechen kamen. Lena verwunderte es, dass die ungarischen Juden nicht auf die Warnungen reagierten, die sie vor ihrer Deportation erreichten: »Das hat mir meine Mutter auch gesagt, wie knapp das war, dass diese Menschen … was eigentlich in Auschwitz war, was da passiert, dass die Leute in die Gaskammern gehen. Und meine Mutter hat mir das so erzählt, dass sie angeblich tatsächlich geglaubt haben, dass sie duschen gehen. Dass sie sie ins Lager gebracht haben und gesagt haben, dass sie duschen gehen. Und die Unseren haben gedacht, dass es so war, ich weiß nicht, wer ihnen das gesagt hat, weil diejenigen, die Duschen gehen sollten, sind alle gestorben. Aber woher dieses Gerücht kam …? Diese Leute, weißt du, bei der Selektion als sie ins Gas geschickt wurden, wurde ihnen angeblich gesagt, dass sie duschen würden; und sie sind ruhig dorthin wie zum Duschen gegangen und dann haben sie das Gas reingelassen.«
Lena konnte nicht fassen, dass die ungarischen Juden, obwohl sie gewarnt wurden, nichts unternommen hatten und dass nur sehr wenige geflohen sind (vgl. Kapitel 4.1.2; Braham 2005: 18; Gerlach/Aly 2002: 54 ff.). Dass sie wiederholt von den »Unseren« über die Juden sprach, implizierte, dass sie sich auch dazu zählte und dies nicht zum ersten Mal so formuliert hatte. Aufgebracht sprach sie weiter: »Kannst du das begreifen? Wie ist denn das möglich! Und meine Schwester hat mir gesagt, als sie nach Auschwitz kamen, dass dort slowakische Mädchen, die dort schon länger waren, gesagt haben, dass sie wüssten, dass dort dieses Gas ist. Die slowakischen Mädchen, weißt du, aus Prešov, sind schon [19]42
300 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 gegangen 19 und meine Schwester kam [19]44 dorthin. Sie sagte, dass ihnen die slowakischen Mädchen, die schon länger in diesem Auschwitz waren, gesagt hätten, wie die Gaskammer funktioniert und wie dort gestorben wird. Aber man sagt, dass selbst dort viele Leute das nicht geglaubt haben. Und die, die zu Hause waren, haben es erst recht nicht geglaubt. Und das glaubt keiner, dass die Leute bis zum letzten Moment gewartet haben und viele, beispielsweise wie auch [Josef] Hidasi schreibt, dass er nicht weggehen wollte. Und die Leute saßen da und haben gewartet, kapierst du, bis zum letzten Moment! Warum sind sie nicht weggegangen? Weil die, die ein Schiff hatten – ich kenne auch solche Leute, die geflohen sind – sie haben das ausgemacht und sich aufs erste Schiff gesetzt und sind weggegangen. Alle [die geflohen waren] sind zurückgekehrt, es gab auch solche. Und andere [gingen] um nichts in der Welt.«
Aus dieser Aussage ist herauszulesen, dass Lena gut, sogar detailliert über den Verlauf der Vernichtung der Juden in Ungarn und der Slowakei Bescheid wusste und sich die‑ ses Wissen unter anderem über einschlägige Literatur wie beispielsweise die Biografie von Josef Hidasi, angelesen hatte (vgl. Hidasi 2009). Ihre verbal deutlich ausgedrück‑ te Fassungslosigkeit darüber, dass sich die ungarischen Juden trotz aller Vorzeichen nicht gerettet und ihre Ermordung abgewartet haben, spiegelte auch ihre Trauer und ihr Entsetzen darüber wider. Zugleich zog sie auch eine Verbindung zu der jüdischen Opfergemeinschaft, indem sie von den »Unseren« sprach. Unverständnis, Trauer und Fassungslosigkeit markierten auch die von Lena re‑ konstruierte Biografie ihrer Familie. Das Schicksal von Lenas Angehörigen war kein Geheimnis. Ihr wurde bereits als kleines Kind davon erzählt, und sie hörte auch Opfer des Holocaust aus dem Bekanntenkreis darüber sprechen. Allerdings fehlte hier die Auseinandersetzung mit dem Thema, die über einzelne Gespräche und Andeutungen nicht hinausging. Dies sowie auch die Tatsache, dass nur fragmentarisch über die traumatischen Ereignisse während des Holocaust gesprochen wurde, aber nie das Jü‑ dische und das Judentum an sich thematisiert oder gar gelebt wurden, ließen Lena mit Fragen zurück. Dieser Aspekt fehlt in ihrer Biografie und ist auch dem Sozialismus geschuldet, in dem sie aufwuchs.
6.2.1.3 S ozialismus: »Ich kann mich an nichts Jüdisches in meiner Kindheit erinnern. Meiner Meinung nach müssen die Leute das ignoriert haben« Nach dem dem Zweiten Weltkrieg verfasste Lenas Vater verschiedene Bücher, vor al‑ lem Gesundheitsratgeber. Lena zeigte mir stolz einige Exemplare. Ihr Vater starb, als sie neun Jahre alt war. »Und wegen diesen Büchern war mein Vater, du weißt schon wie er war. Du kennst diesen Typ, der immer auf der falschen Seite ist. Irgendjemanden hat es gestört, dass er Jude war, den einen hat es gestört,
19 | Lena meinte hier vermutlich den ersten Transport von 1000 jüdischen Mädchen und Frauen, mit dem die Deportationen der slowakischen Juden in der Nacht vom 25. auf den 26. März 1942 begannen (vgl. Kapitel 4.1.2; Kamenec 2002: 123; Strzelecka 2002: 186).
»New Jewish Identities«? Perspektiven auf individuelle Lebens- und Erfahrungswelten | 301 dass … den Ungarn hat es gestört, dass er Slowake war, die Slowaken hat es gestört, dass er Ungar war, also hat immer jemanden irgendetwas gestört.«
Hier sprach Lena die konfliktträchtige Situation an, die nach dem Zweiten Welt‑ krieg die in der Tschechoslowakei lebenden Minderheiten betraf. Einerseits wurden Juden aufgrund der Restitutionsforderungen ihres arisierten Eigentums mit Antise‑ mitismus konfrontiert. Doch auch ihre nationale Zugehörigkeit führte gerade in der Südslowakei, wo die meisten Juden sich während des Zweiten Weltkriegs zu Ungarn erklärt hatten, zu erheblichen Konflikten mit den Behörden bis hin zu ihrer Auswei‑ sung. »Auf Grundlage der Beneš-Dekrete hat die Nachkriegsgesellschaft die Bürger diskriminiert, deren Muttersprachen Deutsch, respektive Ungarisch war, da sie die Identifikation mit den Feinden der Nachkriegs-Republik hervorriefen« (Singerová 2006a: 62; vgl. auch Bumová 2010: 17). So wurden die Juden, die als UngarInnen im ehemals ungarischen Teil der Südslowakei den Krieg überlebt haben, wie Lenas Vater, innerhalb der neuen Landesgrenzen doppelt marginalisiert. Lena war der Meinung, dass es keinen triftigen Grund gegeben hat, ihren Vater einzusperren. Doch gerade »die ungarische Frage«, wie Lena sie nannte, sei zur dama‑ ligen Zeit interessant gewesen. Denn alle weit und breit sind Ungarn gewesen: »Aber natürlich konnten sie auch Deutsch und Slowakisch und man musste verschiedene Sprachen kön‑ nen. Und nach dem Krieg erinnere ich mich – auch das war so typisch –, da haben sie sich gefürchtet, Ungarisch zu sprechen, was aber das einzige war, das ich gekonnt habe. Damals haben sich die Ungarn gefürchtet, auf der Straße zu sprechen. Und ich konnte kein Slowakisch. Mit mir haben sie zu Hause nur Ungarisch gesprochen, ich habe Slowakisch erst in der ersten Klasse in der Schule gelernt.«
Lena erzählte von den staatlichen Kontrollen der Tschechoslowakisierungspolitik während der Nachkriegszeit in Lučenec: »Und dann weiß ich noch, dass beispielsweise meine Oma, die nicht Slowakisch konnte, der haben sie ein paar Worte beigebracht, für den Fall, dass eine Kontrolle kommt. Weil denen, die kein Slowakisch konn‑ ten, denen haben sie die Rente, die Pension genommen. Beispielsweise konnte unsere Patentante nichts und sie wollte auch nichts [vom Slowakischen] wissen, also hatte sie keine Pension.«
Lenas Familie war nicht nur ungarisch, sondern auch jüdisch. Zur Verleugnung der ungarischen Abstammung in der Öffentlichkeit kam das Schweigen über die jüdische hinzu wie bei Karl (vgl. Kapitel 6.1.4). In dem Umfeld, in dem sie aufgewachsen war, hatte man sich weder mit Traditionen noch mit anderen Elementen der jüdischen Kultur auseinandergesetzt, geschweige denn, sie ausgelebt: »Niemand hat sich damit überhaupt befasst, weißt du. Ich weiß nicht, ob wir oder ob wir nicht oder wie das überhaupt ist. Niemand hat sich damit sehr ausgiebig befasst. Man hat einfach normal gelebt. Schule, Pioniere, dies und das. Und vielleicht wurden manche zu Hause so [jüdisch] erzogen, aber man durfte nicht darüber sprechen. Ich kanns dir nicht sagen, aber ich denke, die meisten nicht. Die, die ich gekannt
302 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 habe, das waren alle die jüdischen Kinder von Ärzten. Ich würde tatsächlich sagen, wenn ich mich an unsere Bekannten erinnere, dass wirklich alle etwas Jüdisches hatten. Aber es wurde nichts Jüdisches gemacht, eine Synagoge gab es ja nicht. Es hat sich 100‑prozentig niemand irgendwo getroffen, und es gab meiner Meinung nach auch keinen Gebetsraum. Und niemand hat, ich weiß gar nicht, ob das jemand zu Hause gemacht hat, aber ich habe nicht ein einziges Mal in meiner Kindheit bei jemandem gehört oder gesehen, weißt du, nicht einmal den Schabbat und überhaupt nichts. Nichts, nichts wurde eingehalten. Auch keine Menora, nichts. Ich kann mich an nichts Jüdisches in meiner Kindheit erinnern. Und dabei muss ich jetzt, wenn ich darüber nachdenke und jetzt sagen würde, ich kenne den und ich kannte jenen, den und den, dann weiß ich, dass jeder zumindest zur Hälfte eine jüdische Abstammung hatte. Und auch die Kinder, mit denen wir zusammen waren.«
In dieser Aura aus dem Wissen um den Holocaust und die jüdische Abstammung, zu denen jeweils keinerlei Hintergründe vermittelt wurden, wuchs in Lena das bereits angedeutete Verhältnis zu ihren jüdischen Wurzeln als eine Tatsache heran. Sie habe sich nie so damit »identified«. Hier verwendet sie wieder das englische Wort. Darüber gesprochen habe sie aber schon. »Und bestimmt habe ich darüber gesprochen, dass … aber du weißt schon was, wie ein Depp. Ich habe darüber gesprochen, ja, dass mein Vater ein Jude war, Vater hatte diese Tochter, die in Auschwitz war, das habe ich allen sehr bereitwillig erzählt. Aber ich habe es immer so wahrgenommen, dass mich das nicht so sehr betrifft, weil das alles ja mit seiner anderen Ehefrau passiert ist. Und meine Schwester, die ist zwar Jüdin, weil ich weiß nicht was, weil sie war in diesem Auschwitz. Und ich weiß nicht, was sie für eine Abstammung hatte, aber sie war in Auschwitz, also ist sie Jüdin. Und natürlich haben wir das ganze Jüdische in der Familie, weißt du, aber ich habe das alles so irgendwie wahrgenommen, als würde mich das jetzt nicht mehr betreffen, weil doch jetzt Sozialismus ist, und jetzt bin ich hier Pionierin, und das alles betrifft mich nicht. So irgendwie habe ich das – ich kapiers nicht – wenn du darüber nachdenkst, ist das eigentlich reiner Unsinn. Weißt du, aber … nicht? Und so habe ich es verstanden, weil auch von den anderen niemand darüber gesprochen hat.«
Lena beschrieb hier, wie sie im Bekanntenkreis über ihre jüdischen Wurzeln gespro‑ chen hatte und rekonstruierte, wie sie sich selbst gegenüber ihre Einstellung dazu rechtfertigte. Sie argumentierte mit dem Sozialismus, der das Jüdische automatisch aus ihrem Leben ausgeschlossen habe. Gleichzeitig empfand sie diese Erklärungen als dumm und verstand sich selbst nicht, was an ihren zweifelnden Formulierungen deutlich wurde. Sie hat damals auch in anderen jüdischen Familien entsprechendes Verhalten erlebt und nur eine orthodoxe Familie gekannt, in der die jüdischen religiö‑ sen Traditionen eingehalten wurden: »Und all jene, die aus Auschwitz zurückgekehrt sind, wir sind sie besuchen gegangen. Zum einen, zum anderen. Ich habe bei keinem auch nur eine Kerze gesehen. Ich habe die ganze Kindheit nirgendwo etwas über Pes‑ sach gehört.« Laut Alena Heitlinger gab es verschiedene Abstufungen darin, wie Holocaus‑ tüberlebende in ihren Familien mit dem jüdischen Erbe umgingen:
»New Jewish Identities«? Perspektiven auf individuelle Lebens- und Erfahrungswelten | 303 »The survivors were devoted parents who often saw in assimilation an optimal strategy for protecting their children: ensuring that they would not be singled out as ›different‹ and thus marginalized in Czech and Slovak schools. The degrees of concealment varied, of course, ranging from complete denial of Jewish heritage to partial or full identification. Some parents practised total passing, to the extent of not telling their children that they were Jewish. […] Some parents incorporated discussion about a variety of Jewish topics into everyday life without feeling the need to ›explain‹ the meaning of Jewishness, while others stressed the necessity to keep such discussions within the family circle.« (Ebd. 2006: 82)
Lena war mit einigen jüdischen Kindern befreundet, aber ihre Abstammung wurde nie thematisiert: »Nicht ein Wort. Und das waren sehr enge Freunde.« Relevanter ist gewesen, wer slowakisch und wer ungarisch gewesen ist. Auch in der Familie ist die slowakisch-ungarische Thematik stets sehr stark gewesen. Nach dem frühen Tod von Lenas Vater in den 1950er Jahren hat ihre Mutter – aus Protest, so scheint es – weiter slowakisch-ungarische Lehrbücher für SchülerInnen geschrieben. Aus diesen Erfahrungen der Kindheit und Jugend entstand eine Art dauerhafte Verknüpfung des Jüdischen mit der Gefahr, deswegen verfolgt und getötet werden zu können. Denn solange sich Lena erinnern kann, wurde über das Jüdische nur im Zusammenhang mit dem Holocaust und den Opfern gesprochen, Positives aus der jüdischen Kultur wurde weder erwähnt noch praktiziert. Die Erfahrungen des Vaters, der sowohl aufgrund seiner jüdischen als auch der ungarischen Abstammung verfolgt und eingesperrt wurde, wirken in Zusammenhang mit dem auch von Lena gelebten Zwang, die ungarische Sprache nur heimlich sprechen zu dürfen. Lena wurde damit in permanente Gefahrenzonen aufgrund ihrer Abstammungen hineingeboren und wuchs damit auf, ihre jüdischen Wurzeln nicht wahrzunehmen und die ungarischen vor allem in der Öffentlichkeit zu verheimlichen. So vermischten sich bei Lena die Einflüsse der Familienbiographie mit denen ih‑ res sozialen Umfeldes und denen des politischen Regimes und wirkten auf spezifische Weise auf ihre identitären Verortungsstrategien.
6.2.1.4 » Open« – aber: »Ich will nicht so total involved sein.« Zwischen Söhnen, Religionen, Freunden und Konflikten »Weißt du, ich hatte immer einen solchen Zugang mit allen Sprachen, mit jedem Glauben, mit allen Künsten, Kulturen, einfach so ›open‹«, erklärte mir Lena, als es um ihre Lebenseinstellung ging. »Damit ich in keine Sache so stark eintauchen muss, damit ich diesen breiten Eindruck habe. Ich sehe das von mir selbst aus, dass ich, dass ich auch das eine ein wenig brauche, aber auch das andere, weißt du. Und tatsächlich will ich auch nicht einfach nur in dieser Gruppe sein und nur dort. Weil mich das wieder aus den anderen ausschließt. […] Also will ich nicht so total … der Ausdruck involved-sein ist dafür gut. So irgendwie total tief. […] Ich will in keiner Gruppe sein, nicht in so einer und nicht in so einer. Ich will weder Ungarin noch Slowakin, nichts sein. Einfach nur ein Mensch und einfach nur die Menschen mögen, weißt du. Und die, die mir nahe stehen, am meisten. Aber ich will nicht so eindeutig bei einer Gruppe sein, egal welche, ob die jüdische oder die ungarische oder ich weiß nicht, die christliche, gar keine. Das
304 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 ist also mein Zugang zum Leben, so ein ganzheitlicher, so ein grundsätzlicher Zugang zum Leben. So ist es. Weißt du.«
Darin habe ihre Mutter sie nachhaltig beeinflusst. Dies insbesondere auf die Weise, wie sie zu ihren jüdischen Wurzeln steht. Denn ihre Mutter hat sich nie zur Gänze einer einzigen Nationalität oder einem Glauben verschreiben wollen. Sie hat nie ab‑ hängig sein wollen, immer überall ein bisschen dabei, aber nie richtig tief, so Lena. »Und das hält mich auch ab, dass meine Mutter nicht so arg in dem Ganzen drin und absolut unabhängig sein wollte.« Ihre Mutter habe sich das ganze Leben lang aufgrund der negativen Erfahrungen mit der jüdischen und ungarischen Identität der Familie Sorgen gemacht. Als Lena angeboten wurde, auf einer ungarischen Schule zu unterrichten, hat es ihr die Mut‑ ter nicht erlaubt. So hat Lena auch stets ihre Ängste gespürt, vor allem als es um das Jüdische ging: »Mama hat sich sehr gekümmert, weißt du, und deshalb weiß ich auch, dass sie ihr ganzes Leben lang Angst hatte, dass so etwas zurückkommen könnte. Und als dann plötzlich [19]89 die Wende kam, weißt du, dann war das Erste, was sie gemacht hat, dass sie die Kinder genommen hat, sie hat die Kinder genom‑ men, nicht ich – und hat sie da zu dem Kalviner gebracht, um sie zu taufen.«
Lena, die selbst als Kind kalvinistisch getauft wurde, hat nichts dagegen gehabt, es war ihr vollkommen egal. Sie hat der Taufe ihrer Söhne zugestimmt, da sie wusste, dass »die Oma darüber froh wäre, wenn sie getauft werden«. Dass Lena stets auf die Ängste ihrer Mutter Rücksicht nahm, selbst als es um ihren Beruf ging, zeigte die tiefe Verbundenheit zu ihr. Aus dieser resultiert auch, dass sie sich nach wie vor nicht entscheiden kann, Mitglied in der jüdischen Gemeinde zu werden. Ihre Mutter wäre nicht glücklich darüber, so Lena. Hinzu kommt, dass sie eine offizielle Mitgliedschaft in der jüdischen Gemeinde auch aufgrund der dort bestehenden Konflikte ablehnt, die sie so beschrieb: »Also den nicht wählen und jetzt muss man das so machen, damit der nicht dahin kommt und ich weiß nicht was. Also ich will nicht so sehr involved sein, weil außer dem, dass es schön ist, in die Synagoge zu gehen, es wunderbar ist, zu einem Konzert zu gehen, sich bei irgendsoeiner Veranstaltung zu treffen, weißt du. Das alles ist wunderschön. Aber dass ich mich irgendwie tief in diese Konflikte und irgendwel‑ che Probleme mische, daran habe ich kein großes Interesse.«
Trotzdem nimmt sie an den Veranstaltungen der Vereine teil und genießt daran vor allem, dort FreundInnen zu treffen. »Ich fühle mich gut, aber ehrlich gesagt eher des‑ halb, weil ich dort Leute habe, die mir nahe stehen. Das ist für mich wahrhaft das Wichtigste.« Eigentlich, so Lena, sei sie so richtig erst durch ihren Sohn Leon zu den Aktivitä‑ ten der jüdischen Gemeinde und Vereine gekommen. Er hat sich eine Kippa gekauft, und sie hat ihm zum Geburtstag eine Menora geschenkt, worüber er sich sehr gefreut
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habe. »Das ist auch für mich eine Überraschung, dass jemand aus unserer Familie derart begonnen hat, sich dafür zu interessieren.« Sie empfindet es als positiv, dass einer ihrer Söhne dieses Interesse für seine jüdischen Wurzeln entwickelt hat. Sie hat auch offen mit beiden über das Schicksal der Familie gesprochen. Was genau ihre beiden Söhne darüber noch wissen, kann sie jedoch nicht sagen. Der Ältere habe ein Gedächtnis wie ein Computer, der irgendwann alles wieder lösche und sich nichts merke. Er vergesse alles und »was er nicht braucht, löscht er, wie ein PC«. Dement‑ sprechend spielt das Jüdische in seinem Leben eine sehr kleine Rolle. Dies zeigt sich auch daran, dass seine Frau durch einen Zufall erst nach fünf Jahren von seinen jü‑ dischen Wurzeln erfahren hatte, erzählte mir Lena verwundert. Er ist Mitglied einer evangelischen Kirche, in die Lena ihn bei ihren Besuchen auch begleitet. Mit Leon geht sie wiederum zu Veranstaltungen oder Gottesdiensten an den ho‑ hen Feiertagen in die Synagoge. Mit ihm ist sie auch einmal nach Israel zu Verwandten gefahren, »einfach, um das einmal gesehen zu haben«. Die Verwandten dort führen kein religiöses Leben. Sie betonte, dass sie dort keine einzige Synagoge gesehen habe und fasziniert gewesen sei, allerdings habe sie die extreme Mischung des Jüdischen, Muslimischen und Christlichen dort überfordert. Dies könnte auch mit ihren eigenen, vielschichtigen Identitätsfragmenten zusam‑ menhängen. »Ich habe so ein Gefühl. Also ich weiß nicht. Es ist schwer, dass ich … als ob sehr … somit, dass du weißt, von der einen Seite habe ich das, von der anderen Seite habe ich wiederum diesen Sohn … und ich bin eher so, als hätte ich so eine Bar‑ riere, weißt du, gegenüber diesen Dingen.« Da sie sich seit einigen Jahren intensiver mit dem Jüdischen auseinandersetzt, schien es so, als würde Lena nach neuen Möglichkeiten suchen, es in ihr Identitäts‑ konstrukt einzubauen.
6.2.1.5 »Mit dem Herzen fühlen« »Weißt du wie … ich weiß nicht … weißt du damit, dass … an sich interessiert es mich im Allgemeinen sehr, ich studiere diese Sachen, weißt du, wie die Bibel und das alte Testament und die Geschichte, das interessiert mich. Aber ehrlich gesagt interessiert es mich eher historisch, als dass ich es irgendwie mit dem Herzen fühlen könnte. Ich weiß nicht, ich denke, dass du darin aufwachsen musst und irgendwie … Manchen passiert es vielleicht, dass sie alt sind und es kommt auf einmal, weißt du, aber andererseits denke ich, dass diese Wurzeln, eigentlich weiß ich nicht, wie das ist. Also so allgemein interessiert es mich sehr und ich fühle mich gut damit. Aber ich kann nicht sagen, dass es so ist, weißt du, dass das gefühlt ist.«
Lenas Unsicherheit über den Raum, den sie dem Jüdischen in ihrem Leben einräumen möchte, verbalisierte sie mit einigen Pausen innerhalb der Sätze und damit, dass sie die Formulierung »weißt du« und »ich weiß nicht« häufig wiederholte. In dieser Aus‑ sage verwies sie sehr deutlich auf ihr gegenwärtiges emotionales Befinden gegenüber ihrer jüdischen Abstammung. Nachdem sie in den Sozialismus und in eine Atmosphäre des familiären sowie gesellschaftlichen Schweigens hineingeboren wurde, hat sie die entsprechenden Verhaltensmuster adaptiert und gelernt, dass Ungarisch nur zu Hause gesprochen
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werden darf und das Jüdische zwar irgendwie da ist, aber nichts mit ihr und ihrem Leben zu tun hat und ebenfalls verschwiegen werden muss. Verstärkt wurde diese Haltung zum Jüdischen durch die traumatischen Erfahrungen ihrer Familie während des Holocaust, sowohl durch den Tod ihrer Halbschwester und deren Mutter und die dramatische »Rettung« ihrer anderen Halbschwester, die Auschwitz überlebt hatte, sowie die für Lena unglaubliche Erfahrung ihrer eigenen Mutter und Großmutter, die der Erschießung wie durch ein Wunder entgangen sind. Diese und andere Schicksale wurden von der Familie nicht ausführlich, sondern stets nur nebenbei thematisiert und waren für Lena nicht hinterfragbar. Dass sie davon immer noch stark berührt ist, zeigte sich während des Interviews nicht nur durch ihre Aussagen, sondern auch durch die emotionale Art und Weise, wie sie von Lena verbalisiert und intoniert wur‑ den. So war das Interview mit ihr auf mehreren Wahrnehmungsebenen les- und er‑ fahrbar und muss unter Einbezug sowohl der Lautstärke, Gestik, Mimik als auch der wörtlichen und sprachlichen Ausdrucksweise analysiert werden. Denn Erstaunen, Wut, Trauer und Unverständnis begleiteten Lenas Rekonstruktion der Familienbio‑ grafie, die sie bis heute nachhaltig prägt und sich auf sehr unterschiedliche Art und Weise in ihren Ausführungen niederschlug. Laut Harald Welzer sind »Emotionen die zentralen Bewertungsoperatoren für unsere Erfahrungen […] – sie sagen uns, was gut oder schlecht für uns ist bzw. sein wird, und deshalb sind sie für unser Alltagshandeln so unverzicht‑ bar wie für den Aufbau und die Aufrechterhaltung von Freundschafts-, Liebes- und natürlich Verwandt‑ schaftsbeziehungen. Da sie im Kern das Selbst ausmachen, sind sie auch für das Vermögen unverzichtbar, die Vergangenheit zu interpretieren (und dabei das Unwichtige vom Wichtigen zu trennen) und Orientie‑ rungen für die Zukunft zu entwickeln.« (Ebd. 2008: 145, Abk. i. O.)
So behält Lena die vorsichtige und auch stets ängstliche Herangehensweise der Mutter bei, sich nie offiziell und vor allem nicht öffentlich zu einer Gruppe, Religion oder Nationalität zu bekennen. Passend dazu stellten die Psychologinnen Miriam Victory Spiegel und Silvie Tyrangiel fest: »Die Kinder wuchsen mit Eltern heran, die durch ihre Erfahrungen während der Verfolgung gezeichnet waren. Aufgrund dieser Erfahrungen hatten die Eltern traumatische Überlebensschlussfolgerungen ge‑ zogen, die als Überlebensstrategien fixiert, in der Freiheit beibehalten und zum alltäglichen Bestandteil familiärer Interaktion wurden. Diese ›survival-skills‹ wurden den Kindern in Form von unbewussten oder teilweise bewussten Botschaften weitergegeben. So nützlich diese Strategien unter KZ‑Bedingungen, im Versteck oder auf der Flucht waren, so unangemessen waren sie als familiäre Interaktionsmuster und als ›Werkzeuge für das Leben‹.« (Ebd. 2002: 44)
Das Gefühl der Unabhängigkeit ist Lena wichtig, schließlich verleiht es auch eine gewisse Sicherheit. Bis zum Tod ihrer Mutter – und insbesondere kurz davor durch deren Erkrankung – waren für Lena die Gefahren und grausamen Bilder, die mit der jüdischen Abstammung der Familie einhergingen, präsent. Nicht jedoch ihre umfassende Aufarbeitung. Erst im Alter von knapp 50 Jahren erfuhr sie die ganze
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Geschichte von ihrer älteren Schwester, die Auschwitz überlebt hatte. Damit konnte Lena erstmals für sich Lücken schließen. Dass das Jüdische positive beziehungsweise auch andere Seiten als die der Bedrohung und des Holocaust hat, wurde ihr im Laufe der letzten Jahre bewusst, als sie sich zunehmend mit der jüdischen Geschichte und Religion zu beschäftigen begann. Durch ihren Sohn Leon, der sich aktiv am jüdischen Leben beteiligt, ist auch ihr Interesse daran gewachsen. Gemeinsame Besuche der Synagoge und diverser jüdischer Veranstaltungen haben ein verbindendes Element zwischen Mutter und Sohn geschaffen, wobei sie auch an den Veranstaltungen der christlichen Gemeinde ihres anderen Sohnes teilnimmt. Die ambivalenten Gefühle, die sie zur jüdischen Gemeinde hat, motivieren sie einerseits durch die zu Gemeinde‑ mitgliedern bestehenden Freundschaften, am kulturellen Leben dort teilzunehmen, andererseits halten die dort bestehenden Konflikte sie davon ab, sich intensiver darauf einzulassen. Lena nimmt, so auch die These aus der ersten Überschrift, eine Position »zwi‑ schen den Stühlen«, also zwischen den Religionen ihrer Söhne, aber auch zwischen dem Slowakisch- und Ungarisch-Sein, ein. Dass sie dabei für sich einen »bequemen« Platz finden kann, hängt von ihren identitären Aushandlungsprozessen ab, in denen sie mittlerweile auch dem Jüdischen Raum gibt. Jedoch immer nur so viel, dass es ihr die Sicherheit gibt, die sie braucht, um sich damit gut zu fühlen.
6.2.2 Annamaria 6.2.2.1 Verabredung zum »Kaffeekränzchen« Den Kontakt zu Annamaria bekam ich über die Mutter meiner guten Freundin Alex. Sie und Annamaria kannten sich seit über 30 Jahren, so dass mir Alex‹ Mutter Ka‑ terina schon im Vorfeld des von ihr vereinbarten Interviewtermins ein wenig von Annamaria erzählen konnte. Diese war damals 62 Jahre alt, alleinstehend, hatte eine Tochter und lebte mit ihrem Vater gemeinsam in einer Wohnung. Ihre Mutter war Jüdin, der Vater Katholik. Zum Interview erklärte sich Annamaria gleich bereit, aller‑ dings sollten Alex und Katerina mitkommen. Mir war klar, dass dadurch eine beson‑ dere Interviewsituation gegeben sein würde und dass die Anwesenheit von Alex und ihrer Mutter das Gespräch und die Offenheit darin auch hemmen könnte. Ich wusste im Vorfeld nicht, wie viel und in welcher Intensität Annamaria mit Katerina über ihre jüdische Abstammung gesprochen hatte. Da ich aber keine Ansprüche auf ein Interview unter vier Augen stellen konnte und auch eine gewisse Sicherheit durch die Anwesenheit meiner Freundin spürte, willigte ich dankbar ein. Alex und ihre Mutter wussten über meine Forschung Bescheid, so dass es ihrerseits keine Irritationen dies‑ bezüglich gab. Im Verlauf des Interviews sollte sich herausstellen, dass die Anwesen‑ heit von Alex und Katerina sehr förderlich für das Gespräch war, da so schneller eine vertraute Atmosphäre entstand. Während des Gesprächs saßen wir alle im Fernsehzimmer von Annamaria, mit selbstgemachter Himbeerlimonade und Keksen, die sie vorbereitet hatte. Ich begann das Interview, indem ich Annamaria meine Forschungsinteressen erklärte. In den
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ersten Minuten war die Anspannung im Raum sehr stark zu spüren. Durch Annama‑ rias zitternde Stimme bei ihren ersten Antworten hatte ich das Gefühl, dass sie stark emotional betroffen war, weshalb ich sofort ein schlechtes Gewissen verspürte, da ich mich als Auslöser dafür sah. Meine Anspannung ging auch in die Richtung, dass es mir seltsam vorkam, ein solches Interview vor einer Freundin und ihrer Mutter zu führen. Ich hatte zudem das Gefühl, dass ich währenddessen nicht nur auf Anna‑ marias, sondern auch auf das Wohlbefinden und die zeitliche Verfügbarkeit meiner Begleiterinnen Rücksicht nehmen müsste. Doch im Verlauf des mehrstündigen In‑ terviews wich die Nervosität und Anspannung einer lockeren Gesprächsatmosphäre, bei der schließlich auch Alex’ Mutter viel mitredete. Dadurch verwandelte sich die In‑ terview-Situation in eine Art »Treffen unter alten Freundinnen« und mutete schließ‑ lich wie ein »Kaffeekränzchen« an, da Annamaria und Katerina häufig vom Thema abwichen und über ihre Kinder oder Begebenheiten aus ihrem Alltag sprachen. Das hatte zwar zunächst eine ablenkende Funktion, die eine Pause von den zum Teil sehr belastenden Themen bot, doch die von mir aufgeworfenen Fragen wurden schließlich auch intensiver diskutiert. Neben diesem Effekt wurden durch Katerinas Mitsprache auch Erinnerungen bei Annamaria evoziert, die ohne sie möglicherweise verborgen geblieben wären. Trotz der angenehmen Atmosphäre war Annamarias Nervosität deutlich spürbar. Diese äußerte sich nicht nur verbal und in der Lautstärke des Gesagten, sondern auch darin, dass sie häufig ihre Sitzposition wechselte, rauchte und das auch kommentierte, oder Alex bat, ihren Hund vom Hof in die Wohnung heraufzuholen, um ihm, als er bei uns war, ihre volle Aufmerksamkeit zu widmen. Mehrmals sprang sie auch auf, entweder um ihren Vater, der sich im Nebenraum aufhielt, nach etwas zu fragen, oder um ein Buch zu holen. Dies schien wie eine unbewusste Strategie von ihr, die negati‑ ven Emotionen und die Anspannung zu kompensieren, die möglicherweise mit ihren Erinnerungen in unserem Gespräch aufgekommen waren. Gleich zur Begrüßung fragte sie mich, ob sie mich duzen dürfe, da das unkompli‑ zierter sei. Ich hielt es für eine sehr gute Idee, da so eine persönlichere Atmosphäre herrschen würde. Im Verlauf der Jahre nach unserem ersten Interview erfuhr ich immer wieder von Alex und ihrer Mutter, wie es Annamaria ergangen war. Zu einem weiteren Interview für mein Dissertationsprojekt erklärte sie sich im Sommer 2012 sofort bereit. Auch dieses Mal begleitete mich meine Freundin. Vieles von dem, was sie mir 2008 erzählt hatte, wiederholte sich in diesem Gespräch. Doch vertieften sich einige Aspekte ihrer Biografie durch Erinnerungen, die sie in unserem ersten Gespräch nicht thematisiert hatte.
6.2.2.2 K indheitserinnerungen: »Das waren solche Wunden, da hat man lieber nicht dran gekratzt und lieber nicht darüber gesprochen« Nachdem ich Annamaria zu Beginn unseres ersten Interviews meine Interessen durch eine kurze Vorstellung meiner Forschung dargestellt hatte, sagte sie mir, dass sie mir nichts zum jüdischen Leben in Lučenec erzählen könnte. Denn: »Es ist sehr
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schwer, darauf zu antworten, weil meine Familie deportiert wurde. Und die, die aus Auschwitz zurückgekehrt sind, die haben bis zu ihrem Tod nicht über ihre Erlebnisse gesprochen, als ob sie das aus ihrem Gedächtnis ausradieren wollten.« Sie sprach leise und mit starkem Zittern in der Stimme. Als sie weitererzählte, zeigte sich, welche Bilder und Erinnerungen, die sie mit dem Thema Holocaust und ihrer Kindheit verband, sofort präsent waren. Es schien, als seien Traumata der Mut‑ ter und insbesondere der Tante, die Auschwitz überlebt hatte – wenn sie auch nicht direkt thematisiert wurden – innerhalb der Familie spürbar gewesen: »Zum Beispiel war es so, dass die, die aus dem Konzentrationslager zurückgekehrt sind, egal wie viel sie auf dem Teller hatten, sie haben es bis zum allerletzten Krumen aufgegessen. Weil sie dort so gehungert haben. Was ging, haben sie in sich reingestopft. Das war manchmal ziemlich unangenehm, wenn wir am Tisch gesessen sind und ich gesehen habe, dass es ihr [der Tante] nicht schmeckt oder wenn ich ihr ange‑ sehen habe, dass sie schon satt ist.«
Judith Kestenberg stellte bei ihren Analysen unter anderem fest, dass bei Eltern, die den Hunger im Konzentrationslager erlebt hatten, die Ernährung ihrer Kinder zu einer Frage über Leben und Tod geworden ist: »Sie beschäftigen sich mit Ernährung weit intensiver, als es normalerweise der Fall ist« (ebd. 1995: 123). Über das geschil‑ derte Essverhalten der Tante konnte Annamaria zum Teil erahnen, was diese in Aus‑ chwitz erleiden musste. Annamarias Schilderungen folgten sehr nah aufeinander zu Beginn des Inter‑ views, ohne dass ich weitergefragt hatte. Ihre Stimme zitterte, während sie über das Schicksal ihrer Familie sprach: »Mein Vater hat gerade gestern davon erzählt, dass er meine Urgroßeltern damals im Ghetto besucht hat. Meine Uroma war damals 60, sie konnte ohne Brille lesen, das war eine so feine alte Dame, die haben sie mitgenommen. Meine Großeltern, die habe ich nie kennengelernt, die sind nicht zurückgekehrt. Die älteste Schwester meiner Mutter mit ihrem Mann und zwei Kindern. Also sind sieben Menschen aus mei‑ ner engsten Familie weg. Die ältere Schwester meiner Mutter kam wie durch ein Wunder aus Auschwitz zurück. Sie hatte die Tätowierung. Sie hat nie über diese Erlebnisse gesprochen. Bis zum Schluss hat sie nicht darüber gesprochen. Am Ende hat sie mir aufgetragen: Annamaria, wenn ich sterbe, lass mich bitte verbrennen. Wenn ich das Krematorium [in Auschwitz] überlebt habe, dann soll sich der Wille vom Herr‑ gott erfüllen und verbrennt mich. Ich habe sie dann nach ihrem Tod verbrennen lassen.«
Annamaria sprach am Ende sehr leise, die letzten Worte verschluckte sie fast. Dass sich die Tante nach ihrem Tod verbrennen lassen wollte, deutet auf deren schwere Traumatisierung durch den Tod ihrer Familie und ihrer Erlebnisse in Auschwitz hin. Diese Traumata könnten dadurch, dass sie nie über ihre Erlebnisse gesprochen hatte, verstärkt worden sein. Dazu stellte auch Gabriele Rosenthal fest: »Sind Erlebnisse nicht erzählbar, so besteht die Gefahr, dass die Betroffenen im Erlebten verhaftet bleiben und sich von ihm nicht distanzieren können. Dadurch gelingt es ihnen nur schwer, das Vergangene als von
310 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 der Gegenwart unterscheidbar zu erleben […] Unseres Erachtens führt das Nicht-Erzählen-Können von traumatisierenden Erlebnissen und Lebensphasen zu einer zweiten Traumatisierung nach der Leidenszeit. Wenn es nicht gelingt, Erfahrungen in Geschichten zu bringen, werden die in den erlebten Situationen entstandenen Traumatisierungen weiter verstärkt.« (Rosenthal 1997b: 39).
Bei unserem letzten Interview erklärte Annamaria, dass sie dem Wunsch ihrer Tante nachgekommen sei und sie habe verbrennen lassen, ohne sich die Häftlingsnummer von ihrem Arm abgeschrieben zu haben: »Also ich … ich fühle mich schuldig, weil ich meine Tante habe sterben lassen und mir nicht ihre Nummer abgeschrieben habe … die sie eintätowiert hatte … ich habe sie nicht abgeschrieben.« Annamaria hatte Trä‑ nen in den Augen, sprach stockend und sehr leise. Sie überlegte: »Und wenn ich gesagt hätte: Tante Maja, zeig mir das, damit ich mir das abschreibe, dann hätte sie mir das sicher auswendig sagen können, weil sie hatte es doch da, Tag für Tag. Aber ich wollte nicht, ich wollte es nicht aus dem Grund, da sie dort [in Auschwitz] genug gehabt hat. Ich wollte nicht, dass sie anfängt zu weinen und mir zusammenbricht.«
Beim letzten Satz wurde Annamaria immer lauter, als wolle sie sich dafür rechtferti‑ gen, dass sie es versäumt hat, die Nummer zu notieren. Sie argumentierte damit, dass sie gespürt hat, dass die Menschen, die die Lager überlebt haben, das alles vergessen wollten. »Weißt du, es ist so: Du hast eine Wunde. An der kratzt du nicht herum. Damit sie verheilt. An Wunden kratzt man nicht herum. Das waren solche Wunden, dass da lieber nicht dran gekratzt wurde und nicht darüber geredet wurde.« Weder die Tante, noch die Mutter haben von ihren Erlebnissen während des Krieges gespro‑ chen, darüber wurde geschwiegen. Dass Annamaria ihre Tante nach deren Wunsch einäschern ließ, scheint in mehrerer Hinsicht bedeutsam zu sein. Einerseits ist es der Wunsch der Tante gewesen, dass sie, da sie im Gegensatz zu ihrer Familie Auschwitz überlebt hatte, letztendlich nach ihrem Tod durch die Verbrennung zumindest dieses Schicksal mit ihnen teilen kann.20 Das könnte auch für eine Überlebensschuld bezie‑ hungsweise -scham sprechen, die sie gegenüber den Ermordeten empfunden hat.21 Da 20 | Die Einäscherung von Toten hat seit jeher zu Kontroversen zwischen den orthodoxen und den pro‑ gressiven Juden geführt, die diese praktizieren. Der Holocaust hatte dieser Bestattungsart einen negati‑ ven Beigeschmack gegeben (vgl. Silberberg; Gluck/Stahl 2009). 21 | Die Psychologin und Humanwissenschaftlerin Ruth Leys erklärt die Verschiebung im psychiat‑ risch-psychoanalytischen Diskurs von einer »Überlebensschuld« hin zur »Überlebensscham«. Letztere be‑ treffe eher die Eigenschaften einer Person und die Schuld die Handlungen (vgl. Leys 2011: 90). »[…] die Überlebensschuld [war] das Ergebnis massiver psychischer Regression bei KZ‑Insassen, die versuchten, mit der Brutalität und dem Terror des Lageralltags fertig zu werden. Die These besagt, dass die Gefange‑ nen nach einer anfänglichen Schock-, Desorientierungs- und Depersonalisierungsperiode durch ›Roboti‑ sierung‹ oder ›Automatisierung‹ psychischer Funktionen überlebten, verbunden mit einer tranceartigen Unterdrückung der Selbstreflexion, des eigenen Willens und Urteilsvermögens sowie einer ebenso tran‑ ceartigen Regression zu automatisiertem Handeln, Fühlen und Verhalten« (Krystal/Niederland 1968: 331
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sie aber auch davon sprach, dass sich Gottes Wunsch mit ihrer Verbrennung erfüllen solle, weist darauf hin, dass sie dieses Schicksal auch als gottgewollt ansah. Die Rücksichtnahme Annamarias auf das emotionale Gleichgewicht der Tante spricht dafür, dass sie die schweren Verletzungen und die Qualen, die sie in Auschwitz erleiden musste, erahnen konnte und sich auch viel damit beschäftigte. Aufgrund ih‑ rer Sorge um das Befinden der Tante wurde das Schweigen innerhalb der Familie nicht gebrochen. Mit der Einäscherung gingen sowohl die Häftlingsnummer als auch die Erinnerungen der Tante für immer verloren. Dieser Teil der Familienbiografie arbeitet aber nach wie vor in Annamaria: »Mir … mir fällt sie nicht ein, aber sie war schon so verwischt, ich konnte die Zahl schon nicht mehr sehen. Die ältere Haut hatte sich verändert, also konnte ich das nicht mehr lesen. Aber sie hätte die Num‑ mer sicher auswendig gewusst, das war doch fürs ganze Leben. Ich bereue, dass ich sie mir nicht aufge‑ schrieben habe. Das wäre so eine Erinnerung gewesen. Eine hässliche, hässliche. Aber … es wäre eine Erinnerung gewesen. Das ist ein schwieriges Thema.«
Annamaria atmete angesichts dieses Ballasts schwer und deutlich hörbar aus. Später erzählte sie wieder von ihrer Tante, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Budapest zurückgekehrt und bis zu ihrem Tod dort geblieben ist: »Sie ist mit 36 Kilo und total verlaust und ich weiß nicht, wie noch aus Auschwitz zurückgekommen. Interessant ist, dass sie 92 Jahre alt geworden ist. Obwohl sie solchen Qualen ausgesetzt war. Ich weiß nicht, wie sie das überhaupt geschafft hat.« Laut Annamaria hatte eine Freundin aus dem Haus der Tante Milch zum allabendlichen Kaffee gebracht, da ihr eigener Kühlschrank damals kaputt war. Beim letzten Mal habe ihr die Nachbarin noch ein Eis bringen wollen, sei also zurück in ihre Wohnung gelaufen. Als sie kurz darauf wiedergekommen ist, lag die Tante tot auf dem Boden. »Als wir drei Tage später nach Budapest kamen, stand da noch die Tasse mit Kaffee und Milch. Also musste sie sich nicht quälen. Das ist gut, das beruhigt mich, dass sie keine Schmerzen hatte und in ihrer gewohnten Umgebung war.« Dann widmete sich Annamaria ihrem Hund, als müsse sie von dem Thema ablenken. Dass sie das Gespräch mit ihrem Vater über das Ghetto in Lučenec erwähnt hatte, deutete darauf hin, dass sie zumindest mit ihm über die Ereignisse der Vergangenheit zit. n. Leys 2011: 98; vgl. dazu auch Ludewig-Kedmi/Tyrangiel 2002: 28). Dem Sozialpsychologen Harald A. Mieg zufolge sei Überlebensschuld existenzieller als Selbstzurechnung und Schuldeingeständnisse, sie sei eine Art »unbewusste Selbstbestrafung«. Man würde sich dafür bestrafen, dass man froh ist, am Leben geblieben zu sein und würde sich durch die Selbstbestrafung wieder als moralisch erleben, dies wiederum fungiere als Bewältigungsstrategie (vgl. Ludewig-Kedmi 2001: 310, 351 zit. n. Mieg 2002: 137). »Überlebensschuld speist sich also aus verschiedenen Quellen. Da ist zum einen das Schuldempfinden, das aus der Dynamik der Opferrolle resultiert. Da ist zum anderen Überlebensschuld als Preis der Hand‑ lungsfähigkeit. Überdies, drittens, kann das Äussern von Überlebensschuld – genauso wie die Rede vom Zufall – der Rechtfertigung dienen. […] Überlebensschuld bezeigt Achtung vor denen, die den Holocaust nicht überlebt haben« (vgl. Mieg 2002: 137).
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reden konnte. Sie ging auch während unseres ersten Interviews spontan in den Ne‑ benraum, um ihn etwas dazu zu fragen. Was ihre Mutter betrifft, erklärte Annamaria mir, dass auch sie sehr wenig über ihre Erfahrungen während des Holocaust gespro‑ chen hätte, obwohl sie mit den jüdischen Traditionen aufgewachsen ist. Ihre Eltern lebten vor dem Zweiten Weltkrieg in Budapest und sind Fotografen gewesen. »Meine Mutter hat sich zur Kalvinistin umtaufen lassen – als Alibi – da hat sie schon gespürt, dass es schlimm ist. Sie hat wie eine Christin gelebt, nur um ihr Leben zu retten. So hat sie in Budapest die Bomben überlebt und was weiß ich.« Annamarias Mutter habe ihren Vater damals dazu gezwungen, sie zu heiraten, um sich vor der Deportation zu schützen, was in Kombination mit ihrer christlichen Taufe funktioniert hat. Ihr Vater musste an der Front kämpfen und ist nach Kriegsende wieder nach Budapest zur Mutter zurückgekehrt. Kurz nach Annamarias Geburt sind die Eltern in die Ge‑ burtstadt ihrer Mutter gekommen. »Nachdem sie so den Krieg überlebt hat, kam sie mit nacktem Hintern nach Lučenec zurück. Sie hatte nichts. Nichts hatte sie. Von meinen Großeltern ist nichts geblieben. Also hatte sie nichts. Das ist alles komplett ausgelöscht.« Annamaria betonte, dass weder ihre Tante noch die Mutter je über ihre Erfahrungen oder das jüdische Leben vor dem Holocaust geredet hätten: »Aber ich sage ja, meine Mutter hat absolut eine Mauer um sich herum aufgebaut und nicht über dieses jüdische Thema gesprochen. Ich wusste, dass ich jüdische Wurzeln habe, aber nicht einmal … wie irgend‑ ein jüdischer Gottesdienst aussieht, wie man jüdisch lebt, darüber hat sie nicht gesprochen. Sie hatte eine Wand vor sich und das abgelehnt.«
Zum Ende hin wurde Annamaria merklich lauter, als würde sie gegen diese Wand anreden wollen. Obwohl die Mutter nie darüber gesprochen hat, erinnerte sich An‑ namaria daran, dass sie sie einmal in das jüdische Gemeindehaus in der Moyzesová mitgenommen hat. »Hier in Lučenec. Damals waren hier irgendwelche Feiertage. Ich weiß, dass ich irgendein Gedicht vortragen sollte. Ich habe dafür sogar einen Preis bekommen. Aber was es für ein Feiertag war, weiß ich nicht mehr. Ich war vielleicht sieben Jahre alt. Und danach nichts.« Bei unserem zweiten Treffen erinnerte sie sich, dass sie damals ein sehr schönes Buch gewonnen hat, weil sie ein slowakisches Ge‑ dicht vorgetragen hat. An ihre Kindheit hat sie noch die Erinnerung, dass sie mit einigen anderen jüdischen Kindern gespielt hat: »Wir waren vier, fünf, sechs Kinder, ich habe auch ein Foto, wie wir auf dem Korso spazieren gegangen sind, damals gab es in Lučenec noch einen Korso auf der Hauptstraße. Wir Kinderchen sind ihn auf- und abgelaufen. Fünf, sechs jüdische Kinder. Das war meine Erinnerung an die Kindheit, die jüdische Zeit.«
Außerdem erinnerte sich Annamaria auch an das wohlschmeckende Brot des jüdi‑ schen Bäckers in der Stadt, bei dem die Mutter eingekauft hat. Weitere mit dem Jü‑ dischen verknüpfte Begebenheiten hat es nicht gegeben, denn die Mutter hat »nichts, nichts gesagt, was die Juden betrifft. Nein, nein, das war ein schrecklich sensibles Thema.«
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Somit hat Annamaria, ähnlich wie Lena, nichts über die jüdische Kultur und die religiösen Traditionen vermittelt bekommen. »Aber die Traditionen … Weihnachten [Chanukka] oder so, das wurde bei uns nicht gefeiert. Wir haben alles aus dem Christentum übernommen. Ja, es waren christliche Feiertage, also wurde ein Bäumchen aufgestellt, wie bei den Christen. Und … ich weiß nicht, ich weiß nicht, warum. Wir haben nie darüber gesprochen, warum nicht … Ich wurde da hineingeboren.«
Der Holocaust wurde ebenfalls mit keinem Wort erwähnt, obwohl er in einzelnen Situationen für Annamaria spür- und sichtbar geworden ist, wie beispielsweise beim oben erwähnten Essverhalten der Tante. »Und sie wollten nicht an ihren Wunden rühren, diese Wunden waren tief, wenn man sie erneut geöffnet hätte, hätte es nur geblutet.« Auch bei unserem zweiten Interview sprach Annamaria von der Vorstel‑ lung, dass sich diese tiefen und großen Wunden aus der Vergangenheit öffnen und möglicherweise nicht mehr schließen könnten. Mit dem Tod der Zeitzeuginnen in der Familie können weder ihre Fragen über die Zeit des Holocaust noch über das vorheri‑ ge (jüdische) Leben der Familie beantwortet werden. Durch das dauerhafte Schweigen fanden diese Erfahrungen keinen Eingang in das familiäre Gedächtnis. Lediglich die nonverbal tradierten Emotionen und Traumata bieten Annamaria Raum für Phan‑ tasien. »Welche Form die elterliche Kommunikation dieser Erlebnisse auch annahm – sei es durch Schweigen, durch sporadische Informationen oder durch ein überschwemmendes, zwanghaftes Erzählbedürfnis –, die Kinder waren der unverdauten Erinnerung, die ein oder beide Elternteile an eine frühere, schwere Traumatisierung in sich trugen, in mehr oder weniger bewusster Weise ausgesetzt.« (Victory Spiegel/ Tyrangiel 2002: 43; vgl. auch Rothschild 2002: 147)
Obwohl es in Annamarias Familie somit keine bewusst aufgebaute jüdische Identität gegeben hat, konnte sie diese für sich und ihre Tochter aktivieren. Denn einmal ist sie auf der Straße von der Vorsitzenden der jüdischen Kommune, Frau Vajová, direkt darauf angesprochen worden. Sie kennen sich seit ihrer Kindheit – man weiß schließ‑ lich, wer aus einer jüdischen Familie stammt, auch wenn man nie in die Synagoge [das Gebetshaus] gegangen ist. Frau Vajová hat sie auf der Straße direkt gefragt, ob sie nicht auch in die jüdische Kommune kommen wolle. Annamaria ist ihr in diesem Moment um den Hals gefallen und hat gesagt: »Endlich kann ich mich jemandem an‑ schließen. Weil die Wurzeln sind da. Diese Wurzeln spüre ich.« Frau Vajová habe ihr nahegelegt, auch ihre Tochter mitzubringen, denn »Wurzeln sind Wurzeln«. Hierauf erzählte Annamaria von ihrer Tochter, die, auch aufgrund der besseren Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten, lange Zeit im Ausland gewesen ist. Sie ist beispielsweise ganz alleine nach Israel gereist und hat ihr Leben dort als Kellnerin finanziert. So wird klar, dass Annamaria trotz des Schweigens der Mutter und der Tante einen Weg gefunden hat, mit ihrer jüdischen Abstammung umzugehen und diese auch auf ihre Weise an ihre Tochter weiterzugeben. Sie beschäftigt sich mit der jüdischen Kultur, unter an‑
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derem, indem sie viele Bücher über das Judentum und Biografien liest. Annamaria ist ihrer Tochter auch sehr dankbar dafür, dass sie sie dazu überredet hat, sich einen Internetzugang zuzulegen. »Sehr oft, wenn die Feiertage näherkommen, schaue ich mir im Internet an, worum es dabei geht. Damit ich wenigstens eine Ahnung davon habe, damit ich nicht so doof bin.« Ihre Dankbarkeit für die Aufnahme in die Kommune zeigte, wie wichtig ihr der jüdische Anteil ihrer Identität ist, den sie auf mehreren Ebenen lebendig hält. Sowohl durch die Lektüre zu jüdischen Themen in verschiedenen Medien als auch im Aus‑ tausch während der Treffen der Kommune: »Ja, ich bin froh, dass wir uns einmal im Monat treffen und dass wir uns zumindest soviel sagen wie: Lebst du noch und wen von uns kennst du noch? Wir reden untereinander und haben gemeinsame Themen. Ich bin froh, zu ihnen zu gehören. Weil ohne Wurzeln kann man nicht leben.«
Auch über den mittlerweile offenen Umgang mit dem Jüdischen in ihrer Familie gelingt es ihr, diesen Anteil ihrer Identität positiv für sich zu erleben. Laut Heiner Keupp und KollegInnen »bleibt auch eine Teilidentität stets etwas, das sich in einem permanenten Aushandlungsprozeß zwischen dem Subjekt und seinem sozialen und gesellschaftlichen Umfeld weiterentwickelt« (ebd. 2002: 241). Doch der Weg dorthin war für Annamaria nicht einfach, denn sie machte wäh‑ rend des sozialistischen Regimes auch aufgrund ihrer jüdischen Abstammung nega‑ tive Erfahrungen.
6.2.2.3 S ozialismus: »Weil die 40 Jahre in uns arbeiten. Dieses: Halt den Mund und funktioniere. Also lieber ruhig sein« Nachdem Annamaria mir mehr von den Reisen ihrer Tochter erzählt hatte, begann sie ohne weiteres Nachfragen meinerseits von einem der markantesten Ereignisse in ihrer Biografie zu sprechen: »Katka [Alex’ Mutter] hat dir sicher davon erzählt, was sich im Jahr 1968 abgespielt hat, als die Russen kamen? Das war im August. Ich war damals Kindergärtnerin. Der erste September ist im Kindergarten der größte Feiertag überhaupt. Weil wir an diesem Tag die neuen Kinder, die mit drei Jahren kommen und die noch nicht wissen, was der Kindergarten ist, willkommen heißen. Also mussten wir uns darauf vor‑ bereiten. Logischerweise hatten wir keine Zeit zu politisieren. Wir haben uns auf den ersten September vorbereitet. Aber an diesem Tag kamen die Kinderchen und jedes hatte einen Strauß Blumen. Also sind wir am ersten September mit vielen Blumen heimgegangen. Wir sind um die Post herumgegangen und da war irgendsoeine Gedenktafel. Also haben wir, um nicht so viele Blumen mit uns herumzuschleppen, die Hälfte davon dort hingelegt und jemand hat uns dabei gesehen. Und schon waren wir anti-sozialistisch eingestellt. Dann kam das Verhör.«
Annamaria wurde immer lauter, als sie weitererzählte: »Die erste Frage war: Was sa‑ gen Sie zum arabisch-israelischen Krieg? Weil sie wussten, was für Wurzeln ich habe. Ich habe daraufhin gesagt, dass ich den Krieg verurteile. Ja, was kann man denn auf
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so eine provokante Frage antworten? Ich verurteile den Krieg.« Den letzten Satz schrie sie fast. Sie holte aus und erläuterte ihre Ansichten über den andauernden Konflikt in Israel. Durch ihre emotionalen Ausführungen wurde schnell deutlich, dass sie auf der Seite der Juden in Israel stand, da sie die Araber als »arbeitsfaul« und »kriegstreibe‑ risch« bezeichnete. Ihre Betroffenheit zeigte aber nicht nur ihre Solidarität mit dem jüdischen Volk, denn diese rührte auch von einer Verbundenheit, die Annamaria auf‑ grund ihrer Abstammung zu ihnen verspürte. Peter Salner beschreibt den Stellenwert für die Nachkriegsgeneration so: »For many […] (not only people who live there) this state represented a high (if not the highest) rung in their hierarchy of values. They present their interest and solidarity permanently, not only at times of threat but this does not mean they want to live in Israel« (ebd. 2013: 71). Nach der Anhörung verlor Annamaria ihre Stelle als Kindergärtnerin und hatte mit Existenzängsten zu kämpfen. Dieses Verfahren mit »politisch unzuverlässigen Personen« stand nach der Niederschlagung des »Sozialismus mit menschlichem Ant‑ litz« durch die neue Parteiführung auf der Tagesordnung.22 Wie Marketa Spiritova in ihrer Untersuchung der »Arbeitswelt der Intellektuellen in der Tschechoslowakei nach 1968« weiterhin beschreibt, waren solche Befragungen auf die marxistisch-leninisti‑ sche Überzeugung hin bei Personen üblich, »[…] die nicht in der kommunistischen Partei waren, dem Bürgertum angehörten, sich zum katholischen Glauben bekann‑ ten, jüdische Vorfahren oder Familienangehörige hatten die ins westliche Ausland emigriert waren« (ebd. 2004: 337). Annamaria sagte mir, sie hat – zusätzlich zu ihrer jüdischen Abstammung – einen Onkel gehabt, der in den 1950er Jahren in die USA emigriert ist. »Man durfte nicht zugeben, dass man irgendwo im Westen Familie hat.« Für Annamaria – wie für die meisten anderen Betroffenen damals – hatte diese Befragung nicht nur die Konsequenz, dass sie ihren Arbeitsplatz verlor, sondern auch, dass sie nur sehr schwer wieder einen finden konnte, zumal ihr Fall in der Klein‑ stadt schnell bekannt wurde. Jemand, der sich damals regimewidrig verhielt, fand nur selten wieder eine existenzsichernde Position. Arbeitslosigkeit wurde außerdem als »Schmarotzertum« strafrechtlich geahndet (vgl. Sokolowsky 1980 zit. n. Spiritova 2004: 333). Marketa Spiritova zufolge »kam der Arbeit in den sozialistischen Ländern Ost- und Südosteuropas eine Schlüsselrolle zu. […] Hat‑ te man […] eine Arbeitsstelle, wurden alle Lebensvollzüge über den Arbeitsplatz vermittelt, gesichert und gelenkt […] Arbeit lieferte Einkommenssicherheit, soziale Sicherheit, Versorgung der Familie mit Wohnung, Kantinenessen, Kindergärten; Arbeit stellte Kulturleistungen bereit, regelte weitgehend Freizeit- und Urlaubsaktivitäten, bot Gelegenheit für Geselligkeit und über Deputatsleistungen und den Tauschmarkt auch ökonomische Vorteile.« (Greifenhagen M./S. 1993: 33 zit. n. ebd. 2004: 333)
So sah sich auch Annamaria, nachdem sie arbeitslos geworden war, mehrfach mit Problemen konfrontiert: Hatte man keinen Arbeitsplatz, verhielt man sich regime‑ 22 | Gemeint ist die Zeit vor 1968, in der Alexander Dubček durch seine Reformen versucht hatte, den Sozi‑ alismus in der Tschechoslowakei zu lockern (vgl. Spiritova 2004: 334 f.; Lipták 2000: 286 ff.; Kapitel 4.1.3).
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gegnerisch. Außerdem stellte kein Arbeitgeber jemanden ein, der schon politisch auf‑ fällig geworden war, aufgrund der Gefahr, dadurch bei den »Parteispitzeln« Aufsehen zu erregen. »Arbeit war moralische Pflicht und dementsprechend bedeutete Arbeitslosigkeit nicht nur moralischen Skandal und persönliche Scham, sondern einen ›kriminellen‹, besser gesagt, kriminalisierten Zustand, der in den meisten sozialistischen Ländern jahrzehntelang polizeilich verfolgt wurde. Der sozialistische Staat ging nämlich davon aus, dass im Sozialismus alle, die es wollten, arbeiten konnten; dementsprechend gab es keine Arbeitslosen- oder Sozialhilfe.« (Niedermüller 2004a: 30)
Hinzu kam auch die finanzielle Not. Annamaria fand schließlich im Laden einer Freundin Arbeit. Ihre Erinnerungen an die damalige Zeit der Unterdrückung be‑ schreibt sie so: »Die 40 Jahre waren so hart, sie haben uns eingetrichtert: Halt den Mund und mach. Motz nicht. Rede nicht. Sei still. Wie oft wurde ich auf eine Schu‑ lung geschickt und meine Chefin hat mir immer mit auf den Weg gegeben: Trink deinen Kaffee und schweig. Sprich nicht.« Annamaria verurteilte das totalitäre Regime aufs Schärfste, auch was die Ein‑ schränkung der Freiheit in der Glaubensausübung betraf: »Es war verboten, sich zu irgendeinem Glauben zu bekennen. Das war ein Tabu-Thema. Und insbesondere für Pädagogen. Da haben sie sehr aufgepasst, wer in die Kirche geht und wer nicht. Also sind wir um Kirchen kilometerweit herumgegangen, damit ihnen nicht zufällig einfällt, dass ich mich in die Kirche aufmache. Also wurde darüber auch nicht gesprochen im Sozialismus. Das war tabu.« 23
Annamaria war der Meinung, dass es im Sozialismus wesentlich schwieriger gewesen ist, die jüdische oder überhaupt irgendeine Kultur aufrecht zu erhalten, im Gegensatz zu heute: »Es war viel, viel schwieriger. Viel schwieriger aus dem Grund, den ich schon genannt habe, da jeder lieber seinen Mund gehalten hat. Wir haben von oben einen Befehl erhalten und den haben wir ausgeführt. Nicht wahr, Katka? Aber eine eigene Initiative konntest du nicht äußern.« Katerina: »Wenn du dich irgendwie geäußert hast, war’s aus.« Annamaria: »Dann war’s aus. Dann haben sie dich gebraten.« Katerina: »Dann warst du verdächtig, dass du was ausheckst.«
Die Erfahrungen der Unterdrückung aufgrund ihrer jüdischen Abstammung ver‑ banden sich während des Sozialismus mit den Verfolgungserfahrungen ihrer Mutter und der Tante während des Holocaust. Das Schweigen innerhalb der Familie darüber musste von Annamaria aus Angst um ihre Existenz fortgeführt werden.
23 | Hier meint Annamaria wohl generell Kirchen und nicht den Gebetsraum der jüdischen Gemeinde.
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So sah sie die Ursache für die gegenwärtige Ignoranz und das fehlende Engage‑ ment der Menschen – insbesondere in Bezug auf das jüdische Kulturerbe in Lučenec – auch im Sozialismus begründet: »Diese, meine Generation, das sage ich aus meinem Gefühl heraus, ich meine, dass diese 40 Jahre, diese Unterdrückung, das hat uns so weit weg davon gebracht, dass man überhaupt Initiative ergreifen kann. Unsere Generation gewöhnt sich schon daran. Vielleicht kommen nach uns welche, die diese Unterdrü‑ ckung nicht erlebt haben und tun etwas.«
6.2.2.4 »Ich bin Ungarin, aber ich schreie das hier nicht laut heraus« Vom Sozialismus ging es zu den Problemen der Gegenwart in Lučenec. Auf meine Frage, wie Annamaria das jüdische Leben in der Stadt beschreiben würde, sagte sie: »Was, diese sieben Leute hier?« und begann, diejenigen Juden und Jüdinnen aufzu‑ zählen, die sie kannte. Alex’ Mutter warf ein, dass ich besser vor zehn Jahren mit mei‑ nem Thema hätte kommen sollen, als die ältere Generation noch gelebt habe. Dann hätte ich wesentlich mehr Informationen bekommen. Sie habe einige von ihnen ge‑ kannt und wisse auch, dass sie an ihren »guten« Tagen etwas erzählt hätten, aber sonst nur sehr ungern. Annamaria erklärte es so: »Sie wollten das aus ihrem Gedächtnis streichen, das war doch so grauenhaft. Und weißt du, was am grauenhaftesten ist? Dass so ein kleiner Scheißer fähig ist, sich so eine Uniform anzuziehen und dass so viele junge Leute gar nicht wissen, dass es Auschwitz gab.« Annamaria würde diese sich in der Slowakei stetig mehrenden Anhänger rassistischer Ideologien für einen Monat auf Exkursion nach Auschwitz schicken, wie sie ergänzte. Katerina erklärte bei dem Interview im Jahr 2008, dass die Angst in den Men‑ schen immer noch zu stark sei, insbesondere vor den neu aufkeimenden rechtsradikal orientierten Bewegungen: »Es fängt schon wieder von vorne an. Weil du siehst im Fernsehen die Jungen in Žilina 24, in Nitra und Bratislava, wie sie in Budapest herumlaufen und wie sie in Stiefeln und schwarzen Hemden und Haken‑ kreuzen auftreten und ich weiß nicht wie. Das sind die Gardisten und die lieben Slota, und wenn dem etwas nicht gefällt, dann sagt er, dass die Juden und die Zigeuner daran schuld sind. Und sie rechnen mit dir ab, dann ist klar, dass die Leute sich fürchten. Weil die schreien nicht die an, die Kreuze 25 tragen. Manche auch die. Aber wenn ich einen jüdischen Davidstern tragen würde, dann würden sie sicherlich auch auf mich losgehen.«
24 | Žilina, eine Stadt in der Mittelslowakei, ist der ehemalige Amtssitz von Ján Slota, der dort Bürger‑ meister war (vgl. hierzu Thieme 2007: 148). 25 | Hier sind gewöhnliche Ketten mit Kreuz-Anhängern gemeint.
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Katerina schilderte hier die damals regelmäßig in den Medien kursierenden Auf‑ märsche der Anhänger rassistischer Vereinigungen wie etwa der »Slovakia Hammer Skins/SHS«26. Annamaria fuhr fort: »Weißt du Vanda, ich habe dir doch gesagt, dass ich Unga‑ rin bin. Mit meinem Hund kommuniziere ich beim Spazierengehen in der Stadt auf Ungarisch.« An dieser Stelle wurde Alex in den Hof geschickt, um den Hund hochzu‑ holen. »Also wenn ich beispielsweise mit dem Hund Ungarisch rede, warte ich darauf, dass mich deswegen jemand anspricht.« Denn »ich hatte schon einmal so ein Erlebnis, als ich in einem Geschäft einkaufen war und ich mich mit der Ver‑ käuferin unterhalten habe. Wir haben uns gekannt und uns auf Ungarisch unterhalten. Über belanglose Sachen. Belanglos. Währenddessen hat sie gearbeitet und meine Sachen erledigt und ich habe sie gefragt: Entschuldige, wie geht es dir? Und jetzt fragt mich einer, der hinter mir steht, warum ich Ungarisch rede. In der Slowakei hat man Slowakisch zu sprechen, meine Liebe! Das ist mir schon ein paar Mal passiert.«
Die Historikerin Elena Mannová beschreibt die Rolle der Sprache, die sie für den slo‑ wakischen Nationalismus bereits vor dem Zweiten Weltkrieg spielte, so: »Language and territory are central to Slovak nationalism. The autonomists’ political slogan Na Slovensku po slovensky [in Slovakia, in the Slovak language] was introduced into the socio-political practice of the Slovak Republic in the 1930s, reaching its peak in the years of ›re-Slovakization‹ of the Magyars between 1945 and 1948. The use of the Slovak language was identified with the national territory. From 1989, and even more so with the establishment of the independent state in 1993, several state attempts were made to strengthen the monopoly of the state language and to limit the use of minority languages.« (Mannová 2009: 190 f., Herv. i. O.)
Die Parole »In der Slowakei auf Slowakisch!« ist also wieder beziehungsweise nach wie vor im Bewusstsein der Bevölkerung präsent und wird, wie Annamaria beschrie‑ ben hat, in alltäglichen Situationen und nationalistisch-slowakisch motivierten Äu‑ ßerungen kanalisiert. Sie selbst habe sich in der besagten Situation umgedreht und den Mann gefragt, ob sie ihm, da er die Unterhaltung offensichtlich nicht verstanden hatte, alles übersetzen solle und was ihn das überhaupt angehe. Sie hat Mut, sich in solchen Situationen zu wehren, doch die Angst überwiegt trotzdem. Dann erzählten mir die beiden Frauen abwechselnd von dem Überfall auf die ungarische Studentin Hedviga Malinová, der sich 2006 in Nitra ereignet hatte.27 »Und der Innenminister 26 | »The SHS bases its ideology directly on the National Socialist message of the Slovak state of 1939–45. Aside from its primary aims, i. e. eradication of Hungarian irredentism, it celebrates Nazis such as Adolf Hitler and Rudolf Hess […]« (Milo 2005: 219). 27 | Hedviga Malinová, die zur ungarischen Minderheit in der Slowakei gehört, ist, nachdem sie sich in Nitra auf Ungarisch unterhalten hatte, zusammengeschlagen und ausgeraubt worden. Auf den Rücken ihrer Bluse sind anti-ungarische Parolen geschrieben worden. Der Fall wurde zu einem international dis‑ kutierten Skandal, da die Polizei und Politiker öffentlich die Meinung vertraten (und nach wie vor vertre‑
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hat nur gelacht und gesagt, das entspreche alles nicht der Wahrheit und dass sich Hedviga Malinova selbst geschlagen hätte. Und in so einem Staat leben wir.« Anna‑ maria fragte, ob ich mich da nicht fürchten würde. »Wir haben Angst. Wir haben Angst. In unserem Inneren ist Angst. Ich sag‹ ja, dass ich mit dem Hund durch die Stadt gehe und wenn ich eigentlich auf Ungarisch mit ihm reden sollte, spreche ich ihn lieber auf Slowakisch an, auch wenn er das nicht versteht. Weil ich mich fürchte, dass mir jemand eins überzieht.«
Annamaria und Katerina überschlugen sich förmlich in ihren Schilderungen über ihre Erlebnisse und ihre Ängste. Die Diskussion wurde unterbrochen, als Alex mit dem Hund hereinkam und die‑ ser die volle Aufmerksamkeit auf sich zog. Bei unserem Interview 2012 hatte sich die Situation für die ungarische Minderheit bereits gebessert, so Annamaria, doch sie sagte auch: »Besonders laut schreie ich noch immer nicht [in der Öffentlichkeit auf Ungarisch].« Diese Ängste, fuhr Annamaria fort, habe sie während des Sozialismus nicht ge‑ habt. Allerdings hat es ein Klassentreffen gegeben, bei dem ihre ehemaligen Klassen‑ kameradinnen aus der slowakischen Schule im angetrunkenen Zustand gesagt haben: »Weißt du Annamaria, wir haben dich nie richtig gemocht. Weil Ungarinnen und Jüdinnen alle so seltsame Typen sind.« Während der 13 Schuljahre hatte Annamaria immer gespürt, dass sie nicht richtig dazugehörte, aber dass sie ihr das so direkt ent‑ gegenbrachten, hat sie sehr verletzt. Zu Katerina fügte sie ergänzend hinzu, sie habe gewusst, wer das gesagt hat. Und man müsse immer darauf achten, wer einem das sagt. Trotzdem habe sie das tief getroffen. »Und wenn du solche Ohrfeigen vom Leben kriegst, dann nimmst du Abstand. Dann schaust du genauer hin, wer um dich herum steht.« Zudem versteckt sich Annamaria nicht, denn alle wüssten, dass sie Jüdin ist. »Aber es ist sehr schwer. Das weiß nur derjenige, der damit lebt. So ein Mensch von außerhalb, für dich ist das jetzt schwer. Du hast nicht damit gelebt, du kannst das nicht nachfühlen.« Als sich Alex eine Zigarette anzündete, bot das wieder Gelegenheit, vom Thema abzuschweifen. So kamen die Frauen auf das Alter ihrer Kinder, die Aussichten auf Enkelkinder und auf die Reisen von Annamarias Tochter zu sprechen. Als es wieder um die jüdische Kommune in Lučenec ging, erklärte Annamaria: »Weißt du, im Moment interessiert es die Leute mehr, wovon sie ihr Brot kaufen. Ich sage dir, jetzt habe ich 200 Kronen. 28 Und die hat mir mein Vater gegeben. Und erst am Montag werde ich meine Rente be‑ kommen. Und an den letzten Tagen des Monats muss ich überlegen, ob ich mir ein halbes Kilo Brot oder zwei Semmeln kaufe. Ich lebe immer von Rente zu Rente, und das ist eine Tragödie. Soweit ich weiß, habe ich immer ein bescheidenes Leben geführt und zuverlässig 30 Jahre lang abgearbeitet. Die Situation, wie ten), Malinová hätte diesen Überfall inszeniert. Bis heute ist der Fall nicht gelöst (vgl. hierzu u. a. Mayer/ Odenahl 2010: 196 ff.; Thanei 2007; Štrbáková Urbanovičová 2014). 28 | Im Jahr 2008 entsprachen 200 Slowakische Kronen ungefähr 6,14 Euro (vgl. Währungsrechner).
320 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 sie jetzt ist, wird in einem Jahr vielleicht schlimmer und der Mensch hat einfach keine Kraft mehr, auch wenn er wollen würde, dass er sich mit dem befasst, was mit der Synagoge wird und mit seinem Glauben. Die Wurzeln, ja, die spürt jeder, dass die da sind.«
Annamaria bestätigte, dass sie aufgrund ihrer gegenwärtigen Existenzängste keine Energie dafür hat, sich mit anderen Dingen zu befassen. Trotzdem hat auch sie sich einmal für die Synagoge in Lučenec eingesetzt. Ihre Tochter hatte bei ihrem ersten Aufenthalt in Israel versucht, Spenden für die Restaurierung zu organisieren. Doch ihr sei abgeraten worden, da jede (finanzielle) Hilfe nur dem schuldenbelasteten Kon‑ to des damaligen Besitzers zugutegekommen wäre (vgl. Kapitel 5.2.2). Annamaria war der Auffassung, dass dem Geschäftsmann nichts an der Synagoge liege. »Weißt du, das Geld macht die Musik. Wenn ein Mensch an Geld kommt, dann kennt er seine eigene Mutter nicht mehr. Den Eindruck habe ich. Und der Geschäftsmann ist für ein Tröpfchen zu dem Besitz [der Synagoge] gekommen, für ein paar Cent, und ihm liegt nichts daran.« Annamaria sprach hier von dem ersten Besitzer der Synagoge, der sie der Stadt Lučenec im Jahr 2002 für ungefähr 3000 Euro abgekauft hatte (vgl. Kapitel 5.2.2). Sie sagte auch, dass die jüdische Kommune so klein sei, dass sie nicht einmal etwas zu dem Thema Synagoge zu sagen hätte. »Es geht eben nicht. Man pinkelt doch nicht gegen den Wind, da pinkelt man sich selbst an.« So fasste Annamaria den Erfolg der Bemühungen um die Synagoge zusammen. Die jüdische Gemeinde und Kultur in Lučenec sieht sie nicht fortbestehen. Die Aussage von Katerina, dass mit dem Tod von Annamarias Generation alles zu Ende sein werde, besiegelte sie mit: »Es wird ausradiert sein.« Sie wünschte sich aber: »Dass wir hier in Lučenec ruhig durch die Stadt gehen können, ohne Angst zu haben, dass wir eine drauf kriegen.« Sie fügte hinzu: »Und für die ganze jüdische Gemeinschaft wünsche ich mir, dass endlich Frieden unter den Ölbäumen herrscht. Aber das wird niemals sein. Das ist die grausame Wahrheit, dass da [in Israel] niemals Frieden herrschen wird. Ich sage, ich wünsche mir nur das, dass ich ruhig durch die Stadt gehen kann, ohne dass mir jemand von hinten eins überzieht. Ja, bildlich gesprochen, dass ich keine Verletzung erleben muss. Aber es trifft dich, egal ob dich jemand mit Worten verletzt oder dir eins überzieht. Ich wünsche mir, dass endlich Frieden ist, dass wir endlich begreifen, dass der andere Mensch genauso ein Mensch ist wie ich.«
6.2.2.5 »Wurzeln sind Wurzeln« »Für Familien […] gilt in einem begrenzten Rahmen, was für Kulturen in einem sehr viel umfassenderen gilt: Ohne eine kontinuierliche Praxis der Erinnerung an die eige‑ ne Vergangenheit könnten Familien keine verlässliche Form ihrer eigenen Gegenwart sichern.«29 Die Identität von Familien, so Angela Keppler, bestehe ganz wesentlich da‑ rin, über vielfältig anschlussfähige Kommunikationswege zu verfügen. Durch ein zu‑ 29 | Angela Keppler thematisiert in ihrem Aufsatz basierend auf der Theorie von Maurice Halbwachs das Familiengedächtnis als Miniatur des kulturellen Gedächtnisses. Sie untersuchte die kommunikativen For‑
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grunde liegendes Repertoire an Kommunikationsmöglichkeiten seien Familienmit‑ glieder miteinander verbunden, und wie sich in ihren Untersuchungen gezeigt hat, sind die formalen Gemeinsamkeiten dabei wichtiger als die Inhalte (vgl. ebd. 2001: 140 f.). Bei Annamaria hat der jüdische Teil der Familie, die Mutter und die Tante, aufgrund der während des Holocaust erlebten Traumata weder diese noch die jüdi‑ schen Wurzeln der Familie thematisiert. Also gründete sich die familiäre Identität in diesem Bereich auf den Tatsachen, zu wissen, dass sie Juden sind und den Holocaust überlebt haben. Wie Lena hat Annamaria aber davon gewusst, denn die Mutter hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie Jüdin war. Zwar betonte Annamaria im‑ mer wieder, nichts über die jüdische Kultur zu wissen und kaum Erinnerungen an ihre Kindheit zu haben, doch gab es im Verlauf der Interviews immer wieder Momen‑ te, in denen sie sich bruchstückhaft erinnerte, wie beispielsweise an den jüdischen Bäcker und das gute Brot, das die Mutter in ihrer Kindheit dort gekauft hat. Hier weist ihre Biografie Parallelen zu Lenas auf, die nach eigenen Angaben ebenfalls in einem jüdischen Umfeld in Lučenec aufgewachsen ist, jedoch nie über Hintergründe dazu aufgeklärt wurde. Anders als Lena hat Annamaria auch nie Details der Erlebnisse ihrer Mutter und der Tante während des Holocaust erfahren, deren Traumata aber deutlich gespürt. Verstärkt wurden die negativen Gefühle im Zusammenhang mit ihren jüdischen Wurzeln durch die Diskriminierungserfahrung während des Sozia‑ lismus, als sie ihren Beruf verlor und um ihre Existenz kämpfen musste. Bei unseren Interviews 2008 und 2012 erklärte sie: »Ich gehöre hier in der Slowakei doppelt zur Minderheit. Ich bin Ungarin und Jüdin.« Ihre Sorgen, auch als Ungarin in der Klein‑ stadt angegriffen zu werden, machten ihr damals sehr zu schaffen. Doch habe sie sich in den Alltagssituationen, in denen sie deswegen verbal angegriffen worden sei, stets zu verteidigen gewusst. Nachdem sie in die jüdische Kommune eingeladen wurde, hat sie endlich gespürt, wohin sie gehört. »Damals ist der Groschen gefallen, als mich Frau Vajová angespro‑ chen hat. Damals habe ich das Gefühl dafür bekommen, dass ich dahin gehöre. Weil es hat mir gefehlt, es hat mir gefehlt.« So hat Annamaria mittlerweile eigene Mecha‑ nismen entwickelt, ihre jüdische Abstammung innerhalb des sich ihr bietenden Rah‑ mens zu beleben. Hierin ähnelt sie Karl, der auch erst mit über 50 Jahren seiner jüdi‑ schen Identität auf die Spur kam – jedoch unter anderen Bedingungen, schon alleine deshalb, da er Teil einer aktiveren jüdischen Gemeinde ist. Annamaria informiert sich über das Internet und die Lektüre zahlreicher Bücher über das Judentum. Doch betreibt sie es nicht in dem Maß wie Karl. Sie versucht damit, die Lücken beziehungs‑ weise »Leerstellen« (vgl. Welzer 2001b: 177) zu schließen, die durch das Schweigen ihrer Mutter und der Tante entstanden sind. Weitere Bausteine in ihrem Identitäts‑ konstrukt gründen sich auf der Verbundenheit zu Israel und dem jüdischen Volk, die durch die Verfolgungsvergangenheit ihrer Familie und ihre eigenen negativen Erfah‑
men und Gelegenheiten, durch die die Familienerinnerung aktiviert und bewahrt wird (vgl. ebd. 2001: 138).
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rungen während des Sozialismus verstärkt wurden. Laut Peter Salner hat Israel einen positiven Einfluss auf die jüdische Identität der AkteurInnen: »Eine wichtige Aufgabe kommt dem Stolz auf die Geschichte und Gegenwart des jüdischen Staates zu, aber auch die Sorge um sein weiteres Schicksal. Es ergeben sich auch pragmatische Faktoren: das Recht der Heimkehr, die Möglichkeit, ohne Probleme nach Israel zu reisen (eventuell auch die Staatsangehörig‑ keit zu beantragen), selbst den Alltag dort kennenzulernen, aber auch die politische, soziale und kultu‑ relle Realität. Hier spielt auch eine Rolle, dass es die Heimat von Verwandten, Bekannten und Freunden geworden ist. Und nicht zuletzt gilt es zu berücksichtigen, dass es in der Not als ›letztes Asyl‹ fungieren könnte.« (Ebd. 2011: 85)
Während es lange Zeit eher negative Empfindungen und Erinnerungen waren, die ihre jüdische Identität begleiteten, kann Annamarias Aufnahme in der jüdischen Kommune als ein Wendepunkt in diesem Verlauf gesehen werden, denn: »Es geht vor allem um die positive Besetzung der bisher negativ diskriminierten Merkmale, um die Be‑ schreibung anderer, eben minoritärer Lebens- und Erfahrungszusammenhänge, die nicht nur als Abwei‑ chung von der Mehrheits- bzw. Dominanzkultur, sondern auch als deren Bereicherung begriffen werden.« (Keupp et al. 2002: 171)
Und Annamaria empfindet die jüdische Kommune in ihrem Leben als Bereicherung, auch wenn sie sie als bereits vom Aussterben bedroht und wenig aktiv darstellte. Ihr Bedürfnis nach Zugehörigkeit und dem Bewusstsein, ein Teil dieser Gemeinschaft zu sein, wird in dem kleinen Kreis bedient. Die Initiative, die sie und ihre Tochter auch in Bezug auf die Synagoge gezeigt haben, spricht dafür, dass sie es schaffen, aktiv für diesen Teil ihrer Identität einzutreten. Trotz aller Umstände, die es für sie schwierig gestalten, ihre jüdischen und ungarischen Wurzeln offen zu zeigen, lebt Annamaria diese in ihrem privaten und im Umfeld der Kommune aus.
6.2.3 Ruth 6.2.3.1 » Also bei uns war das nie ein Geheimnis, aber wir haben uns damit auch nicht wirklich beschäftigt« Die damals 50‑jährige Ruth habe ich durch Zufall kennengelernt, als ich mit Laura eine Ausstellung in der Stadt besuchte. Die beiden Frauen kannten sich bereits länger und begrüßten sich freundschaftlich. Auch Ruths Ehemann, der sie in die Ausstellung begleitet hatte, war sehr herzlich und scherzte mit uns. Laura erzählte den beiden von meinem Projekt und forderte Ruth an meiner Stelle zu einem Interview auf, was mir zunächst etwas unangenehm war. Doch Ruth willigte sofort ein und wir trafen uns gleich am Tag darauf in ihrem Büro. Sie war sehr locker, offen und konzentriert, was von Anfang an eine angenehme Gesprächsatmosphäre zwischen uns entstehen ließ.
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6.2.3.2 Kindheit und Jugend: »Ich denke, wir waren eher weltlicher« Auf meine Frage, wie sie aufgewachsen war und welche Rolle das Jüdische dabei ge‑ spielt hat, sagte mir Ruth: »Also bei uns war das nie ein Geheimnis, aber wir haben uns damit auch nicht wirklich beschäftigt. Und meiner Meinung nach deshalb, weil nicht nur ich, sondern auch meine Eltern nicht aus religiösen Familien stammen. Hauptsächlich die Familie meiner Mutter, da ist der Einfluss stärker. Und mir kommt es so vor, als wäre auch meine Mutter nicht in einem religiösen Umfeld aufgewachsen. Man kann nicht sagen, dass sie sich vom Judentum entfernt haben, aber religiös waren sie nicht so, dass sie irgendwelche Traditionen eingehalten hätten. Väterlicherseits wurde beispielsweise auch das Koschere nicht eingehalten. Aber die wiederum sind beispielsweise in die Synagoge gegangen. Aber man kann auch nicht sagen, dass die Groß‑ eltern religiös waren. Ich denke, wir waren eher weltlicher.«
Ruths Eltern und Großeltern, die den Holocaust überlebt hatten, hielten die jüdischen religiösen Traditionen gar nicht oder nur in geringem Maße ein, was vor allem der Tatsache geschuldet war, dass sie bereits vor dem Zweiten Weltkrieg in säkularen Fa‑ milien gelebt hatten. Einerseits wurde in Ruths Familie offen über das Judentum und die Vergangenheit der Familie während des Holocaust gesprochen, andererseits wur‑ de ihr von klein auf beigebracht, nichts davon nach außen zu tragen. »Das war hier nie ein öffentliches Thema, man hat darüber nicht gesprochen. Auch wenn man gewusst hat, wohin man gehört und woher man kommt und so weiter. Also haben sie uns zu Hause beigebracht, dass es so ist und dass es niemanden sonst etwas angeht. Also haben wir darüber geschwiegen. Das haben nicht einmal unsere Freunde gewusst. Ja, unsere Freunde in der Kindheit haben nicht gewusst, dass wir Juden sind.«
Andauernde Verfolgungsängste nach dem Holocaust und die Repressionen des sozi‑ alistischen Regimes in der Tschechoslowakei veranlassten auch Ruths Familie dazu, das Jüdische als Familiengeheimnis zu hüten. Zu Hause hingegen hat man darüber of‑ fen gesprochen: »Also es war nicht so, dass gesagt wurde: Komm, setz dich hin, ich er‑ zähle dir jetzt etwas. Nein, es war ganz einfach so ein geläufiges Thema, wie jedes an‑ dere Familienthema auch, wir haben es irgendwann erwähnt und drei, vier Sätze dazu gesagt, und es ging weiter. Und genauso natürlich kam auch das, dass es nur uns et‑ was angeht und andere nicht.« Harald Welzer zufolge stellt das »›Familiengedächtnis‹ kein umgrenztes und abrufbares Inventar von Geschichten dar […], sondern [besteht] in der kommunikativen Vergegenwärtigung von Episoden, die in Beziehung zu den Familienmitgliedern stehen und über die sie gemeinsam sprechen.« So fanden und finden auch in Ruths Familie »Vergegenwärtigungen der Vergangenheit […] in der Regel beiläufig und absichtslos statt – Familien halten keine Geschichtsstunden […] ab, sondern thematisieren Vergangenes zu unterschiedlichsten Anlässen […]« (ebd. 2001b: 161 f.). Auch hat Ruth immer eine Antwort auf ihre Fragen erhalten, allerdings hat sie vor allem mit der Mutter und ihrer Großmutter darüber gesprochen. »Meinen Vater habe
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ich nie danach gefragt. Er war so verhalten und verschlossen. Aber ich meine, dass das einfach seine Art war.« Ruths Vater hat erst sehr spät, als er der jüdischen Gemeinde beigetreten ist und dort seine Vergangenheit aufgearbeitet hat, mehr über seine Erfah‑ rungen gesprochen. Bei Ruth, die Kind und Enkelin von Holocaustüberlebenden ist, trifft die Feststellung der Psychologin Hadas Wiseman zu: »One of the most striking changes in the familial-social-cultural context of knowing-not knowing processes is the greater freedom of the third generation to be in a position to listen to their grand‑ parents’ story, and also to have the liberty to ask questions« (ebd. 2009: 87). Sowohl Ruths Vater als auch die Mutter haben mit ihren Eltern den Holocaust überlebt. Sie ist mit den Geschichten aus dieser Zeit aufgewachsen. Auch der früh ver‑ storbene Großvater hat ihr von seinen Erlebnissen erzählt, doch hat sie sich als Kind noch keinen Reim darauf machen können. »Und dann, als ich ein wenig größer wurde und auch ein gewisses Alter dafür hatte, habe ich schrittweise vor allem von Seiten meiner Mutter davon erfahren, was sie in der Kindheit erlebt hat, vom Krieg und dessen Auswirkungen und dass das alles eigentlich die Konsequenz ihrer jüdischen Abstammung ist. Also ich sage ja, das war kein Geheimnis.«
Vor allem die Großmutter mütterlicherseits, die während des Holocaust drei ihrer Geschwister mit deren Familien verloren hat, erzählte ihr viel darüber und sprach oft von ihren Verwandten. »Also über sie habe ich viel gewusst. Das waren sehr kompli‑ zierte familiäre Beziehungen, doch ich kannte die verschiedenen Geschichten.« Ruth wuchs während ihrer Kindheit und Jugend also mit Eltern und Großeltern auf, die den Holocaust auf verschiedene Weise erlebt und überlebt hatten. Wie in Kapitel 6.1 illustriert, hat die Generation der Ältesten – auch alters- und sozialisationsabhän‑ gig – jeweils andere Erfahrungen und Umgangsweisen mit der Verfolgung während des Nationalsozialismus gemacht. So bedienten sich die Großeltern und die Eltern jeweils anderer Formen, um das familiäre Gedächtnis und auch Ruths Wissen um die Vergangenheit zu speisen und aufrechtzuerhalten. Ein wesentlicher Faktor, der die Kommunikation innerhalb des familiären Rahmens beeinflusste, ist, dass Ruths Eltern und Großeltern die Verfolgungserfahrungen gemeinsam gemacht haben und dies die Hemmungen, darüber zu sprechen, verminderte. So war im Unterschied zu den Erfahrungswelten der anderen in diesem Kapitel vorgestellten AkteurInnen die‑ ses Thema für Ruth stets ein Bestandteil des familiären Gedächtnisses und der im Gespräch geschaffenen familiären Identität (vgl. Keppler 2001: 141). Der größere Teil von Ruths Familie stammt aus Prešov, das während des Zweiten Weltkriegs zum Slowakischen Staat gehörte. Ruth erklärte mir, dass es Verwandte in Košice gegeben hat und sie auch deren Schicksale gekannt haben. Von den histori‑ schen Hintergründen des slowakischen und ungarischen Holocaust hat sie aber erst als Erwachsene erfahren, und in diesem Zusammenhang hat sie schließlich auch die Geschichten einzelner Familienmitglieder verstanden, die sie aus ihren Kindheits‑ erinnerungen rekonstruieren konnte. Im Alter von elf Jahren besuchte sie mit ihren Eltern Auschwitz. Auch dies spricht für den offenen Umgang mit der Familienver‑
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gangenheit. Ihr Vater überlebte den Krieg mit seinen Eltern versteckt in einer kleinen slowakischen Gemeinde, ihre Mutter war mit ihren Eltern im Arbeitslager Vyhne30 interniert, wo ihr Großvater Leiter einer Werkstatt gewesen ist und ihre Großmutter Taschen gefertigt hat. Ihre Mutter hat dort begonnen, in die Schule zu gehen. Ruth war über die Geschichte der Arbeitslager gut informiert und erklärte mir, dass es in der Slowakei drei davon gegeben und der Dachverband der slowakischen Juden da‑ mals mit dem Staat verhandelt hatte, um die Juden in solchen Lagern vor der Deporta‑ tion in Vernichtungslager zu schützen (vgl. Büchler/Fatranová 2009: 10; Rothkirchen 1996: 170). Der Alltag dort sei hart gewesen, doch »die Menschen sind dort nicht um‑ gebracht worden, sie sind nicht so verhungert. Es waren schreckliche Bedingungen, Hunger, Kälte und es gingen von dort aus auch Transporte nach Auschwitz, aber die Menschen dort sind in dem Arbeitslager nicht so gestorben«. Von all dem, was sie über das Lager gehört hat, ist es ihr so erschienen, dass man dort »gut habe existieren können«. Ihr Großvater, den Ruth als sehr geschickten Lebenskünstler bezeichnete, habe es sogar geschafft, Ausgang zu bekommen und mit ihrer Mutter Ausflüge zu machen, und einmal hätten sie sogar Urlaub gehabt und einen Onkel in einer über 100 Kilometer entfernten Stadt besucht. Ruths Schilderungen des Schicksals der Fa‑ milie im Arbeitslager muteten positiv an, auch, dass sie von einer »märchenhaften Umgebung mit vielen Wäldern« sprach, in der das Lager gelegen hat. Das wisse sie, da sie dort häufig im Rahmen von Dienstreisen hinfahre. Sie betonte, dass die Be‑ dingungen dort sehr hart gewesen seien, doch »man kann es nicht mit einem Kon‑ zentrationslager vergleichen, das ist sicher«. Die Bilder, die Ruth vom Schicksal ihrer Eltern und Großeltern während des Holocaust in der Slowakei zeichnet, hat sie aus deren Ausführungen übernommen. Es ist einerseits eine Erfolgsgeschichte, die vom Überleben mehrerer Familienmitglieder erzählt. Andererseits lässt sich aus diesen Narrativen auch das schlechte Gewissen der Großmutter ablesen, die im Gegensatz zu ihren drei Geschwistern und deren Familien nicht umgekommen ist. Denn häufig entwickele sich bei denjenigen, die den Holocaust überlebt haben, nach Ruth Leys eine sogenannte »Überlebensschuld« denen gegenüber, die gestorben sind.31 So schien das im Arbeitslager erlebte eigene Schicksal nicht so schlimm zu sein, wie das derje‑ nigen, die nicht überlebt haben. Die Erinnerung an die Verstorbenen wird daher aktiv im Familiengedächtnis und im offenen Umgang mit der Vergangenheit wachgehalten:
30 | Über das Arbeits- und Durchgangslager Vyhne, das in einem Kurort gelegen war, gibt es kaum wis‑ senschaftliche Quellen. Dies mag daran liegen, dass es im Zuge des Slowakischen Nationalaufstandes 1944 von AnwohnerInnen ausgeraubt und nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen 1945 gänzlich zerstört wurde. Ruth erklärte, dass es dort nur noch einen Gedenkstein gibt, der an das Lager erinnert. Eine – nicht wissenschaftliche – Studie über das Schicksal der Juden in Vyhne stammt von Marian Pavúk (vgl. ebd. 2012; vgl. auch Sivoš 2011: 31 ff.; Büchler/Fatranová 2009: 10). 31 | Vgl. Leys 2011, siehe auch Anmerkung Nr. 21, S. 310.
326 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 »Bei uns pflegt man meiner Meinung nach mehr die Erinnerung an die Verstorbenen, das sind die engen Verwandten, die gestorben sind. Also wird beispielsweise immer der Großeltern gedacht, meine Mutter hat uns beispielsweise viel über ihre Großeltern erzählt und letztendlich auch über die Verwandten, die den Krieg nicht überlebt haben. Also ist das hier viel stärker als das, was ich um mich herum wahrnehme. Beispielsweise bei meinen Freundinnen, meinen nicht-jüdischen Freundinnen, die wissen oft gar nicht, was Großeltern waren und dabei haben sie sie erlebt, sie hatten sie … es kommt mir so vor, als würden hier andere Werte dominieren.«
Ruth betont hier die Bedeutung der Familie und setzt sie auch in einen allgemeinen Bezug zum Jüdischen. Indem sie den Vergleich zu nicht-jüdischen Familien zieht, in denen sie eine geringere Wertschätzung dafür beobachten konnte, hebt sie demgegen‑ über diese Werte in ihrer eigenen Familie und auch in der jüdischen Kultur hervor. Dazu gehören auch Rituale, die mit der Erinnerung an die Toten verbunden sind: »Meine Mutter hat immer zum Todestag in Prešov die Gräber ihrer Großeltern be‑ sucht«, so Ruth. Unter anderem durch diese gemeinsam vollzogenen Praktiken, die regelmäßig wiederholt wurden, wurde das Gedächtnis der Familie und damit auch ihre gemeinsame jüdische Identität aktiv aufrechterhalten. Die religiösen jüdischen Traditionen hingegen wurden, ähnlich wie bei Lena und Annamaria, nicht eingehalten: »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir Cha‑ nukka gefeiert haben. Ich weiß nicht einmal etwas darüber. Es wurde irgendwie nicht im Besonderen über diese Dinge gesprochen. Aber damals war ich ein kleines Kind.« Das Jüdische war für Ruth zwar immer präsent, doch fehlten ihr – wie auch Lena – die Zusammenhänge, über die wiederum wenig oder gar nicht gesprochen wurde: »Und mich hat das unmittelbar in der frühen Kindheit nur da berührt – woran ich mich erinnern kann, dass mir mein Großvater bei allen Feiertagen und Festen oder solch wichtigeren Ereignissen angedeutet hat: ›Und du weißt, dass wir Juden sind?‹ Und ich wusste, dass die richtige Antwort war: ›Ja.‹ Und das hat mir nichts gesagt. Aber wir haben beispielsweise das erste Mal Weihnachten gefeiert, da war ich sieben Jahre alt. Ich bin das älteste von drei Kindern. Bis dahin wurde es nicht gefeiert. Doch ich kann mich bei‑ spielsweise nicht daran erinnern, dass wir Chanukka gefeiert haben.«
Erst als Ruths Geschwister auf der Welt waren, feierten die Eltern mit ihnen [das christliche] Weihnachten, um zu vermeiden, dass sich ihre Kinder gegenüber ande‑ ren in ihrem Alter benachteiligt fühlten. Bei ihren Interviews stellte Alena Heitlinger Ähnliches fest: »However, for many secular Jews, celebrating Christmas did not pose a major problem because under the communist regime Christmas had become a largely secular, materialistic holiday. Christmas was more about a tree, decorations, presents, special baking, and a traditional dinner with carp and a potato sal‑ ad than about celebrating the birth of Jesus. Nevertheless, some parents felt uncomfortable with the Christian aspect of the holiday. As they did not want their children to be singled out as ›different,‹ they sometimes adopted an uneasy compromise, such as having carp for dinner but doing without a Christmas tree, or having a Christmas tree but substituting gefilte fish for the Czech carp.« (Ebd. 2006: 70)
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In Ruths Familie gab es symbolische Geschenke wie Socken und Bücher, aber nie et‑ was außergewöhnlich Großes. Geburtstage hingegen waren in ihrer Familie die wich‑ tigsten Feiertage und wurden besonders zelebriert. Auch dies ist ein Hinweis darauf, dass die Familie und deren Mitglieder stets stärker im Vordergrund standen als die Religion oder spezifische traditionelle Elemente. Ein anderes Beispiel aus ihrer frühen Kindheit ist eine große jüdische Hochzeit gewesen, die in den Räumlichkeiten der jüdischen Gemeinde in Košice ausgerichtet worden ist. Ruth hatte sich sehr gewundert, da es etwas vollkommen anderes war, als sie es aus dem Alltag kannte. »Aber ich habe nicht verstanden, warum das anders ist, warum sie so komisch tanzen, dass sie im Kreis herumlaufen, auch das Essen war anders.« So kam sie zwar im familiären Alltag und zu besonderen Anlässen außerhalb des Elternhauses mit jüdischen Traditionen in Berührung, doch war sie sich nie deren Bedeutung bewusst. Erst als sie älter wurde, hat sie verstanden, dass vieles von dem, was in ihrer Familie täglich gelebt wurde, etwas mit dem Jüdischen zu tun hatte: »Und beispielsweise erkenne ich erst jetzt im Erwachsenenalter so schön, dass viele Sachen jüdisch wa‑ ren, nur dass ich nicht wusste, dass das jüdisch ist. Also eher diese verschiedenen aufgenommenen Tradi‑ tionen und die Angewohnheiten, die ganz beiläufig funktionieren. Und erst jetzt, wo ich beispielsweise in einer Mischehe lebe, erkenne ich, dass es das in ihrer [der Familie ihres Mannes] nicht gibt, und bei uns war das eine Selbstverständlichkeit.«
Ruth stellte dies insbesondere bei den Essgewohnheiten fest. Zwar hat sich ihre Fami‑ lie nie koscher ernährt, doch die Zubereitung der Speisen und dass man kein Schwei‑ nefleisch gegessen hat, sind Beispiele dafür gewesen. Es hat nie koscheres Fleisch ge‑ geben und das Geschirr ist für alles gemeinsam benutzt worden, »aber das System, dass dieser Topf für Milchspeisen und der andere für Fleisch ist, das haben wir im Blut. Das funktioniert einfach so. Es ist egal, ob das zusammen im Schrank steht, aber ich benutze diesen einen Topf für nichts anderes als Milchspeisen«.32 Ruth behält das bis heute so bei, es gibt in diesem Punkt allerdings Probleme mit ihrem Mann, der sich »seelenruhig« seine Würstchen in ihrem Milchtopf erwärmt. »Ich habe eine richtige Aversion dagegen, das ärgert mich«, sagte sie aufgebracht. Dabei ist Ruth nie in den Sinn gekommen, ihre Art und Weise zu kochen könnte aus der koscheren Kü‑ che stammen. »Wir haben es zu Hause so beigebracht bekommen, wir kannten es so. Es war einfach eine Angewohnheit. In dem Topf wurde dieses und im anderen jenes gekocht. Mir war das nie bewusst, dass wir das trennen. Mir hat einfach in den einen Topf kein Fleisch gepasst, in den anderen schon. Wirklich.« Es erscheint ihr aber auch
32 | Wie mir verschiedene InterviewpartnerInnen erklärten, sind in einer koscheren Küche alle Bereiche und Zubereitungsinstrumente für Fleisch- und Milchspeisen getrennt, ebenso die Aufbewahrungsorte. So ist in einer solchen Küche meist alles doppelt vorhanden, auch die Waschbecken, Gefriertruhen und Kühlschränke (vgl. auch Diner 2013c: 330 ff.).
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als ungesund und schwer, Fleisch und Milchspeisen zu kombinieren, doch ihren Ehe‑ mann stört es nicht. So, wie ihr die Erzählungen der Eltern und Großeltern über die Erfahrungen der Familie während des Holocaust erst mit der Zeit und in ihren Zusammenhängen klar wurden, wurden Ruth auch die Bedeutungen ihrer jüdischen Wurzeln erst allmählich bewusst. Dazu trug die Tatsache bei, dass sie in den Sozialismus hineingeboren wurde und die Repressionen des Regimes selbst miterlebte, die unter anderem das Verheim‑ lichen der jüdischen Abstammung vor der Außenwelt hervorriefen.
6.2.3.3 (Jüdisches) Leben zwischen »Schizophrenie« und »Schweigen« Ruth beschreibt das Doppelleben, das sie aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln führen musste, als »schizophren« und sieht in dem Schweigen und dem gelebten Religions‑ verbot auch Ursachen dafür, dass es heute so wenige Gläubige gibt: »Ich glaube, dass es daran liegt, dass sie uns Kinder, die kurz nach dem Krieg geboren sind, so stark von der Religion weggeführt haben. Ich glaube, dass jetzt die wenigsten wirklich gläubig sein können. Nicht nur wir Juden, sondern alle. Mir hat es als Kind beispielsweise nichts ausgemacht, dass sie uns vom Glau‑ ben weg orientiert haben, weil das dem, was ich zu Hause gehört habe, nicht widersprochen hat. Also mir kam das gar nicht so seltsam vor, beispielsweise, dass ich nicht erzähle, dass ich Jüdin bin. Sie [die ande‑ ren Kinder] erzählen doch auch nicht, dass sie in die Kirche gehen. Da hat jeder für sich in einer Art Schiz‑ ophrenie gelebt. Dass in der Schule etwas anderes erzählt wurde als zu Hause. Das war absolut üblich so.«
Ruth sprach aufgebracht und verbittert, was verdeutlichte, dass sie diese Defizite an Wissen über Religion und einer am Glauben orientierten Erziehung vermisst hatte. Die von der Familie auferlegte Form des Doppellebens, das sie auch aufgrund der politischen Situation in der sozialistischen Tschechoslowakei von klein auf gezwun‑ gen war zu führen, habe ihr und anderen Betroffenen ebenfalls geschadet. »Und es ist sehr schädlich, weil ich glaube, dass sie uns so den Charakter verdorben haben, unser Wesen. Dass sie uns beigebracht haben, dass es absolut üblich ist zu lügen. Ja, weil es wurden irgendwelche Kader-Hefte geschrieben.« Marketa Spiritova beschreibt die Phase der »Säuberungen« im Kultur- und Bildungsbereich während der Zeit der »Normalisierung«33 ab 1968 in der Tschechoslowakei so: »Die Kommunistische Partei gewann zusehends wieder das Machtmonopol und übernahm die totale Kon‑ trolle über alle staatlichen Einrichtungen (und das waren so gut wie alle Institutionen). Sie baute ihre Organe wieder auf und besetzte alle Schlüsselpositionen mit Leuten, die den ›Normalisierungskurs‹ un‑ 33 | Die Zeit der »Normalisierung« begann mit dem Ende des Prager Frühlings durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts und endete mit der Revolution 1989. »The term ›normalization‹ was de‑ rived from the clearly proclaimed efforts of the new leadership of the communist party to distance itself from the reformist efforts, officially designated ›rightist opportunism‹, to return to ›normal‹, that is to the Czechoslovak version of the Soviet dictatorship” (Lipták 2002: 289 ff.; siehe dazu auch Spiritova 2010: 65 ff.).
»New Jewish Identities«? Perspektiven auf individuelle Lebens- und Erfahrungswelten | 329 terstützten, welche wiederum dafür zu sorgen hatten, ›den gesunden Kern‹ […] vom ›Klassenfeind‹ […] zu trennen. Die Partei griff dabei auf die seit 1948 eingeführten Kaderakten zurück, die über jeden Bürger nach seinem Eintritt ins Berufsleben geführt wurden. Die Kaderakten beinhalteten Informationen über die bisherige berufliche Laufbahn und die ideologische Gesinnung. Dieses Kontrollinstrument ermöglich‑ te dem Machtapparat, ›ideologische Zentren‹ ›gleichzuschalten‹ und zu einem totalitären System sowje‑ tischen Typs zurückzukehren.« (Spiritova 2010: 95)
Beispielsweise habe ein Lehrer in Ruths Schule über jedes Kind Buch geführt. Dazu gehörte auch, dass er sich die Berufe und etwaige politische Aktivitäten der Eltern notierte. Wenn der Vater Arbeiter war, ist es gut für die Kinder gewesen. Ihre Mutter war Apothekerin, gehörte somit zur »Intelligenz«, das war, wie Ruth sagte, »ein Mi‑ nus für ihre Kinder« (vgl. u. a. Lipták 2000: 291 ff.; Kapitel 4.1.3). Die Scheidung ihrer Eltern wurde damals vor der Schule verheimlicht, da ein nicht intaktes Elternhaus auch nicht die Voraussetzung für eine vorbildliche Erziehung erfüllte, die Kinder nicht gut lernen und gute Pioniere sein sowie sich kaum für die (kommunistische) Partei engagieren könnten. Bei Ruths jüngeren Schwestern hat die Schule schließlich davon erfahren. Bis zu diesem Zeitpunkt hat in den Berichten der beiden Mädchen gestanden, dass sie in »beispielhaften Familien« lebten. Neben diesen Formen der Kontrolle und Unterdrückung in ihrem Alltag als Kind und Jugendliche erinnerte sich Ruth auch daran, dass die jüdische Gemeinde damals bestanden hat und sie ebenfalls Repressionen ausgesetzt gewesen ist. Dies betraf ins‑ besondere die jungen Juden in Košice: »Wir haben nachträglich erfahren, dass sie [die jüdische Gemeinde] auch staatlich kontrolliert und gebremst wurde, weil der Staat kein Interesse daran hatte, dass sich junge Leute dort treffen und Mitglieder werden. Also vermutlich wurde Druck auf sie ausgeübt, damit sie nicht die Jugend um sich herum versammeln.« Unter anderem deshalb hat Ruth die jüdische Gemeinde damals als einen »Ort für die Alten« wahrgenommen. »Und wenn ich dahin gegangen bin, dann am ehesten mit meinen Großeltern. Beispielsweise ist meine Großmutter ab und zu dorthin gegangen, um koscher zu essen. Also habe ich sie von Zeit zu Zeit dorthin begleitet, ja, aber ich erinnere mich nicht an irgendwelche kulturellen Aktionen oder große Tatkräftig‑ keit. Um die religiöse Seite haben sie sich wohl gekümmert, aber dass sie tatsächlich Raum für irgendein gemeinschaftliches Leben geschaffen hätten, daran erinnere ich mich nicht.«
Erst zur Zeit der »Normalisierung« in der Tschechoslowakei in den Jahren 1968 bis 1970 etwa, begannen laut Ruth allmählich auch die jungen Juden in der Stadt aktiv zu werden. Sie ist damals noch ein Kind gewesen, erinnert sich aber an eine Silvesterfeier der jüdischen Gemeinde für die Jugendlichen. Dorthin haben sie Bekannte der Mut‑ ter mitgenommen, die damals ungefähr im Alter von 16 bis 22 Jahren waren: »Also da erinnere ich mich daran, dass es in der Gemeinde stattgefunden hat. Und es gab sicher irgendein offizielles Programm als Ausgangsidee. Ich weiß nicht, ob da nicht auch ein Rabbiner war, ich erinnere
330 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 mich an einen Mann mit Hut und langem Bart und es wurde dort gesungen und geredet, und es hat mich nicht interessiert. Es war ziemlich ernst für mein Alter. Und ich weiß, dass alle meine Bekannten dort waren.«
Hinterher hat sie – allerdings als Gerücht – gehört, dass angeblich jemand aus dieser Gemeinschaft die Veranstaltung an die Staatssicherheit verraten haben soll und es eine Untersuchung des Ganzen gegeben hat. »Meine Bekannten haben das erwähnt, aber ich habe nie gehört, dass dort [in der Gemeinde] etwas pas‑ siert ist, was nicht hätte passieren dürfen. Und es hatte mit Sicherheit nichts mit Politik zu tun. Das war wirklich ein kulturelles Treffen der Jugend. […] Es wurde unterdrückt, wenn es deswegen ein Problem mit der Staatssicherheit gab. Also ich weiß nicht, warum es da ein Problem gab. Wahrscheinlich, weil sich eine größere Zahl junger Leute zusammengefunden hat und sie das einfach überwacht haben. Es war wohl nicht verboten, aber sie haben die Leute deshalb verfolgt, damit sie sich nicht auf solche Weise organisieren.«
Laut der Soziologin Alena Heitlinger gab es in Košice von 1967 bis 1969 eine Gruppe jüdischer Jugendlicher, die sich im Speisesaal der Gemeinde regelmäßig traf.34 Die Ethnologin Ivica Bumová untersuchte das Verhältnis der Staatssicherheit und der jüdischen Jugend in den Jahren 1969 bis 1980 am Beispiel der Westslowakei. Dabei stellte sie fest: »In einem Land, das während der Zeit der Normalisierung ›hermetisch‹ gegen die westlichen Länder ab‑ geriegelt war, wurden die jüdischen Bürger im besten Fall als unzuverlässig oder verdächtig eingestuft. Meist hatten sie auch breit gestreute verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen hinter dem ›Eisernen Vorhang‹ und darüber hinaus im ›feindlichen‹ Israel. Ideeller Kosmopolitismus multipliziert mit der Kenntnis von Fremdsprachen fungierte als ungünstig für die Gemeinde und wurde während des tota‑ litären Regimes als Ausdruck ›rechtlichen Opportunismus‹, ›Zionismus‹ und antisozialistischer Orientie‑ rung wahrgenommen. Die Reaktionen der Juden auf die ›kollektive Verdächtigkeit‹ seitens des Regimes hatten individuellen Charakter. Sie entsprachen den persönlichen Eigenschaften und dem konkreten Um‑ feld, in dem sie sich befanden.« (Ebd. 2006: 93)
Ruth erinnerte sich außer an diese Feier nicht an weitere Aktivitäten oder Zusam‑ menkünfte der jüdischen Jugend. Ihr Kontakt mit der Gemeinde hat sich darauf be‑ 34 | Diese Gruppe, so Heitlinger, ist das Pendant zu der Jugendgruppe in Bratislava gewesen, die sich dem Ort des Treffens nach Kuchyňa [Küche] genannt hat. Diese regelmäßigen Treffen hatten einen sozialen Charakter und erfüllten ihren Zweck auch insofern, dass man dort einen jüdischen Partner hat finden können (vgl. ebd. 2006: 107 f.; vgl. Kapitel 4.1.3). Während der Zeit der De‑Stalinisierung zwischen 1962 bis 1968 sei es weniger riskant gewesen, einer solchen Gruppe anzugehören, so Heitlinger. »However, in the post-1968 normalization period, participation in formal and informal Jewish youth groups brought the young generation into conflict with the communist officials, who tended to regard such activities as subversive and anti-socialist” (ebd.: 105 f.).
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schränkt, dass sie ihre Großmutter dorthin zum Essen begleitete, auf Beerdigungen gegangen ist und an den Feiertagen Rosch Haschana und Jom Kippur mit ihrer Mut‑ ter die Synagoge besucht hat. An Pessach im Frühjahr haben sie an keinem Gottes‑ dienst teilgenommen, nur an den hohen Feiertagen im Herbst. Außer bei diesen Gelegenheiten hat ihre Familie nicht viel Kontakt mit anderen jüdischen Bekannten gehabt, denn »[19]68 und schon zuvor kam eine große Emigrati‑ onswelle, und eigentlich alle Freunde meiner Eltern, quasi alle, sind emigriert. Einige leben in Bratislava, aber die, die in Košice waren, mit denen wir Kontakt hatten, sind alle draußen«. Für ihre Eltern ist die Emigration nicht in Frage gekommen, denn Rut‑ hs Mutter hätte die Großeltern niemals zurückgelassen. Sie hat als Kind während des Holocaust miterlebt, wie in anderen Familien die Großeltern im Wald zurückgelassen worden sind, damit sich die Eltern und die Kinder retten konnten. Die Zurückgelas‑ senen haben nicht überlebt. Dies spricht für eine starke emotionale Bindung zwischen Ruths Mutter und ihren Eltern, die durch die gemeinsame Erfahrung des Holocaust verstärkt wurde. Laut den Psychotherapeutinnen Revital Ludewig-Kedmi und Silvie Tyrangiel fühlen sich »[w]egen der leidvollen Shoah-Erfahrungen […] viele Angehö‑ rige der zweiten Generation mit ihren Eltern sehr verbunden und möchten diese vor weiteren Verletzungen schützen. Dieser Schutz soll dadurch gewährleistet werden, dass die Kinder in ihrem Gefühlsleben immer bei den Eltern bleiben« (ebd. 2002: 31). Mit der Entscheidung, nicht zu emigrieren ging auch einher, dass sie zusätzlich zur selbstgewählten Anonymität in einer immer kleiner werdenden jüdischen Umge‑ bung lebten. »Also sind wir als Kinder total aus der jüdischen Gemeinschaft rausge‑ fallen und wir hatten tatsächlich keine jüdischen Freunde.« Diese Tatsache hat später, als Ruth sich mit ihrem (katholischen) Mann verloben wollte, vor allem mit ihrer Mutter zu Kontroversen geführt: »Meine Mutter war wohl vor den Kopf gestoßen, weil sie gehofft hatte, dass wir jüdische Partner haben würden. […] Und ich weiß, dass sie meinen Mann letztendlich gekannt hat, seit er mir den Hof gemacht hat. Er ist also zu uns gekommen und sie hat ihn gekannt und ich glaube, er war ihr sympathisch. Aber als ich gesagt habe, dass ich ihn heiraten will, hat sie damit angefangen, ob das denn gut sei und dass doch nur noch ein jüdischer Junge … und so weiter.«
Laut Ruth befürchtete ihre Mutter, dass ihre zwei jüngeren Schwestern auch Mische‑ hen eingehen würden, wenn sie es ihnen so vormachte. Ruth hat ihre Mutter damals gefragt, welchen Juden sie denn heiraten solle, wenn sie doch keinen kenne. »Und damals ist ihr [der Mutter] wohl zum ersten Mal bewusst geworden, dass ihre Freun‑ de alle draußen [im (westlichen) Ausland] sind und wir nur über Briefe und Fotos Kontakt haben. Ganz davon abgesehen, dass der Funke auf diese Weise nicht über‑ springen muss.« Damals sei der einzige junge Mann, den Ruth in Erwägung hätte ziehen können, ein guter Freund ihres zukünftigen Ehemannes gewesen. Die Lösung ihrer Mutter ist damals eine Kennenlern-Party zu Silvester gewesen, mit der Absicht dahinter, dass ihre drei Töchter die noch in der Stadt weilenden jüdischen Männer kennenlernen. Die Feier fand bei ihnen zu Hause statt und tatsächlich haben sich die
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jungen Leute, die dorthin kamen, bis zu diesem Zeitpunkt nicht gekannt. Ruth ist schließlich trotz der Bedenken ihrer Mutter die Ehe mit ihrem heutigen Ehemann eingegangen. »Weil sie hat immer beteuert, dass nur bei einem Juden ausgeschlossen ist, dass er sich wie ein Antisemit benimmt (lacht).« Ruth hat darauf vertraut, dass ihr ein solcher Konflikt mit ihrem Ehemann, der auch heute einen großen jüdischen Freundeskreis hat und dessen bester Freund ein Jude ist, erspart bleibt. Letztendlich, erklärte Ruth lachend, hat ihr Ehemann sie damals in die jüdische Gemeinde ein‑ geführt, denn er ist derjenige gewesen, der dort über die Hälfte der Leute gekannt hat – nicht sie. Ihre Mutter hat jedoch immer an ihrer Überzeugung festgehalten. Nach der Scheidung von ihrem Mann hat sie keine Beziehungen mehr gehabt, obwohl es laut Ruth die Möglichkeit dazu gegeben hätte. »Aber es war nie ein Jude dabei und sie hat gesagt, dass ein nicht-jüdischer Partner nicht in Frage käme, auf gar keinen Fall.« Peter Salner bestätigt die Haltung von Ruths Mutter, indem er über die Wahl der EhepartnerInnen innerhalb der Generation der Holocaustüberlebenden schreibt: »From the ethnological perspective it is interesting that endogamy was not always motivated by an effort to reach unity in fatih, culture or ethnicity. Even those survivors who chose to assimilate, joined the Com‑ munist Party and its atheist ideology, trying to blend in with the Slovak majority society, sought a Jewish husband or wife. In my view this preference seemingly lacking in logic stemmed from the fear that a person who had not experienced the recent horrors first hand could not understand their Jewish partner. This means the endogamy of shared experience.« (Salner 2000: 43 zit. n. ebd. 2013: 40)
Über Ruths Ehe ist leidiglich im weiteren Bekanntenkreis ihres Mannes einmal eine Bemerkung gefallen, die ihr bitter aufgestoßen ist und sie hat vermuten lassen, dass es »bei ihnen Thema gewesen ist, dass er sich eine Jüdin ausgesucht hat und lieber eine andere hätte wählen sollen«. Auch sonst hat sie vor allem indirekten Antisemitismus erlebt, so zum Beispiel während der Schulzeit, als eine Mitschülerin ihr die Freundschaft kündigte, weil »ich nicht in die Kirche gehe«, und während des Studiums. »Ich habe eher die Erfahrungen gemacht, dass Leute miteinander gesprochen haben und sich gegenseitig antisemitische Bemerkungen zugeworfen haben. Und mir ist bewusst geworden, dass sie ihre Klappe aufreißen und sich nicht darüber im Klaren sind, dass ich eine von ihnen bin und es mich betreffen könnte. Dass sie das verkennen.«
An der Universität hat sie zufällig einer Diskussion beigewohnt, bei der sich drei jun‑ ge Männer anti-jüdisch geäußert und zwei Frauen gegen sie argumentiert haben: »Und wir [die Mädchen] wollten die ganze Zeit, dass sie uns sagen, warum man den Juden gegenüber feindlich gesinnt sein sollte. Ein großes Argument war, dass niemand sie mag und ein anderes, dass sie immer zusammenhalten. Sie konnten eigentlich nichts Konkretes sagen. Weil dann haben sie darüber gesprochen, was aus der Literatur bekannt ist, dass Juden Kneipenbesitzer waren und das slowakische
»New Jewish Identities«? Perspektiven auf individuelle Lebens- und Erfahrungswelten | 333 Volk betrunken gemacht haben. Und solche Dinge … ja, also. Damals war ich ziemlich enttäuscht, weil das meine Kommilitonen waren, heute sind sie Ingenieure. Also wieder die Gebildeteren.«
Ruth glaubte nicht, dass die Streitenden damals gewusst haben, dass sie Jüdin ist. Doch es stimmte sie traurig, weil sie ihre Standpunkte nicht begründen konnten, »aber sie tragen es in sich. Sie bekommen das wohl einfach aus dem Umfeld mit, in dem sie leben.« Für sie sei daran auch schockierend, dass viele von denjenigen, die ihre antisemitischen Einstellungen offen nach außen getragen haben, gehobenere Po‑ sitionen inne haben und sogar politisch aktiv sind. Ihre Erfahrungen sind ähnlich zu denen, die andere meiner InterviewpartnerInnen während des Sozialismus gemacht haben, wie beispielsweise Zoya (vgl. Kapitel 4.1.3). In Košice selbst hat sie keine Bedenken, sie spürt den in der Slowakei gegenwär‑ tigen Nationalismus hier weniger. Doch sie ist der Ansicht, dass die Anhängerschaft Ján Slotas oder Márian Kotlebas die Menschen hierzulande sehr beeinflusst. Und sie empfindet es als furchtbar, dass er und seine aggressiven AnhängerInnen vor einigen Jahren auch einen Aufmarsch durch das »tolerante Košice« geführt haben.35 »Und es gibt immer solche Aktionen, so dass man sich fragt, ob es gut ist, dass man da ist.« Mit dieser Aussage stellte sie angesichts der rechtspopulistischen Aktivisten ihre Existenz, aber auch die Toleranz Košices36 in Frage. So ist sie zwar nie direkt aufgrund ihrer jüdischen Abstammung angegriffen worden, doch gegen Ende unseres Interviews äußert sie große Angst, die sie unter anderem davon abhält, der jüdischen Gemeinde als Mitglied beizutreten: »Als bei‑ spielsweise damals Juden gesucht wurden, da waren eine der Hauptquellen die Ver‑ zeichnisse der jüdischen Gemeinden. Und man hat dann das Gefühl, wenn sie wieder Juden suchen, dann sind wir wieder dort. Als würde der Mensch sich selbst mit einem bestimmten Stempel versehen.« Ihre Sorge, dass es wieder dazu kommen könnte, dass Juden verfolgt und gesucht werden wie während des Holocaust, spricht für von den Eltern und Großeltern tradierte Ängste, die sich mit ihren eigenen Erfahrungen von Antisemitismus und der Unterdrückung der Juden während des Sozialismus vermi‑ schen: »Weil in der Zeit, als sie die Menschen irgendwie politisch verfolgt haben, hat man immer irgendwelche Verzeichnisse gehabt, ja, auch nach [19]68. Also man will sich einfach keinen Stempel aufdrücken.« Allerdings sind ihre Eltern trotz der glei‑ chen Bedenken schließlich doch der Gemeinde beigetreten und in einigen Clubs aktiv geworden. »Sie haben dann später an den Aktivitäten der jüdischen Gemeinde teilge‑ nommen und auch an dokumentarischen Tätigkeiten. Sie haben immer gesagt, man 35 | In der Košicer Tageszeitung Korzár beschreibt ein Autor den Aufmarsch von Kotleba und seinen An‑ hängern als weniger erfolgreich in Košice. Er habe mit seinen Reden keinen Anklang bei den städtischen Bürgern gefunden (vgl. Anonymus/Korzár/Kotleba 2009; vgl. u. a. Mayer/Odenahl 2010: 196 ff.). 36 | »Košice with its multicultural population is known as the city of tolerance since various nationalities live here […]”, so wird die Stadt auf der Website eines der Projekte des Kulturhauptstadtjahres – Pen‑ tapolitana – beschrieben. Pentapolitana basiert auf der vor allem ökonomischen Zusammenarbeit von fünf innerhalb einer Region gelegenen Städten (vgl. Pentapolitana).
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müsse die Gemeinde unterstützen, jetzt sei es schon egal. Also ja. Aber sie haben mich nie versucht zum Beitritt zu überreden.« Dabei hat Ruth, obwohl sie auch ihre Kinder davor schützen möchte, großes Interesse daran, ihnen so viel Wissen wie möglich über die jüdische Kultur und die Traditionen beizubringen.
6.2.3.4 V on der großen »Euphorie« zum »Nullpunkt«: Erfahrungen mit dem jüdischen Leben nach 1989 Nach dem politischen Umbruch 1989 hat es laut Ruth »so eine große Euphorie« in Košice gegeben, das jüdische Leben ist wiederhergestellt worden und die Gemeinde hat förmlich begonnen, die Menschen anzulocken, »damit wir uns kennenlernen«. Es hat viele verschiedene kulturelle Angebote gegeben, für alle Altersklassen. Bei‑ spielsweise gab es den »Club für Kinder«. Es ist damals gut gewesen, da es für sie tolle Aktivitäten gegeben hat. Sie haben sich beispielsweise an Purim getroffen, da sind sie mit den Kindern hingegangen und haben etwas zu essen mitgebracht. Die Jugendli‑ chen haben dort mit den Kindern gespielt und auch einiges vorbereitet. So sind auch die Erwachsenen zusammengekommen, was laut Ruth wirklich gut war. Doch als die Kinder älter geworden sind, wurden diese Aktivitäten seltener und die Clubs haben sich allmählich aufgelöst. Man hatte erwartet, dass die Älteren sie weiterführen wür‑ den, doch viele sind ins Ausland gegangen und dort geblieben. Die letzten Jahre über haben sich die Kinder zwar getroffen, doch da ist es nicht mehr um etwas Jüdisches gegangen. »Als ich einmal dorthin gegangen bin, um zu sehen, was sie machen, haben dort alle mit ihren Handys gespielt.« Ruth hat sich sehr gewünscht, dass es funktio‑ niert, dass sich die jüdischen Kinder untereinander kennen- und etwas über das Ju‑ dentum lernen. »Weil ich weiß, dass ich ihnen das nicht beibringen kann. Das, was ich weiß, sage ich ihnen, aber das ist wenig.« Sie hat sich zwar etwas angelesen, doch das meiste Wissen über das Judentum hat sie sich bei ihrem Aufenthalt bei orthodoxen Juden in London angeeignet. Die Reise hat sie 1995 gemeinsam mit ihrer Schwester unternommen, als sich Mitte der 1990er Jahre Rabbiner Herschel Gluck 37 für das jüdi‑ sche Leben in Košice eingesetzt und unter anderem den Aufenthalt einiger Juden aus Košice in London unterstützt hat. Ruth und ihre Schwester sind mit anderen slowa‑ kischen Juden in einem reichen, jüdischen Viertel in London untergebracht worden. Die beiden sind bei einer sehr wohlhabenden, religiösen Familie gelandet und haben dort zum ersten Mal das jüdische religiöse Leben miterlebt. Für Ruth ist es interessant gewesen, beispielsweise eine richtig koschere Küche zu sehen, in der es zwei Kühl‑ schränke und sogar zwei Geschirrspülmaschinen gegeben hat und den Schabbat in einem orthodoxen Haushalt zu erleben, wo alle Geräte so programmiert sind, dass nichts von Menschenhand bedient werden muss. Die Familie hat die Lichtschalter im Haus so eingestellt, dass sie automatisch angehen sollten, doch funktioniert haben sie nicht. Ebenso das Gerät, das das Abendessen erwärmen sollte und ein Gerät, das 37 | Rabbiner Herschel Gluck stammt aus London und bemühte sich auf seinen Reisen durch Europa, das jüdische Leben in kleinen Gemeinden zu beleben. In Košice hielt er sich 2001 unter anderem anlässlich der ersten jüdischen Hochzeitszeremonie nach über 60 Jahren in der Slowakei auf (vgl. Gruber 2001).
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Wasser für Tee oder Kaffee warm hält. »Den Kaffee durften wir nur so zubereiten, dass wir erst den Nescafé in die Tassen tun, dann das Wasser. Nicht andersherum, denn sonst hätten wir gearbeitet.« Für Ruth sei das nicht nachvollziehbar. Am Schab‑ bat durften sie nichts aus dem Haus mitnehmen, kein Geld, keine Taschen, denn sonst hätten sie »das Glück hinausgetragen«. »Wenn wir ein Taschentuch gebraucht hätten, hätten wir es an unseren Mantel annähen müssen.« Auf Ruth habe das alles sehr exo‑ tisch gewirkt, wie sie sagte, und sie selbst würde das so nicht wollen. »Es war für mich sehr einschränkend, sehr begrenzt.« Sie und ihre Schwester haben sich dem komplet‑ ten Programm und den Bräuchen in der Familie untergeordnet und alles mitgemacht, auch, als Ruth wie eine verheiratete religiöse jüdische Frau ein Tuch auf dem Kopf tragen sollte, was bei ihr sonst absolut »kein Standard« ist. Da sie nicht religiös ist, kommt es für sie auf solche Dinge nicht an, sie braucht das nicht. Ihre Schwester ist einen Monat nach dem Aufenthalt in London nach Israel emigriert. Ruth hat sie im Jahr darauf dort besucht, als sie im Rahmen einer unter anderem von der Gemeinde in Košice initiierten und finanzierten Reise nach Israel gefahren ist. Die Busreise hat unter dem Motto »Reise nach Israel für die mittlere Generation« stattgefunden. Man hat sich damals bemüht, Israel von seiner schönsten Seite zu prä‑ sentieren und neben dem kulturellen Programm auch die Immigrationsbestimmun‑ gen erläutert. Nach dieser organisierten Reise ist sie noch eine Woche lang bei ihrer Schwester geblieben und hat miterlebt, unter welch schwierigen Bedingungen sie sich dort ihr Leben hat aufbauen müssen. Das sei sehr schmerzhaft für sie gewesen. Ihren eigenen Kindern möglichst viel über das Judentum beizubringen, ist ihr sehr wichtig, doch hätte sie Bedenken, wenn sie sich beispielsweise für ein Leben in Israel entscheiden würden: »Es ist ein sehr gefährliches Land. Und ich will auch nicht, dass sie so weit weg sind und die Familie dann so zerrissen ist.« Ruth selbst hat sich dort nicht zu Hause gefühlt. Aus Ruths Aussagen und der Sorge um ihre älteste Toch‑ ter, die sich aktiv im jüdischen Leben engagiert und Judaistik studieren wollte, wurde deutlich, dass der Wunsch danach, die Familie zusammenzuhalten, von ihrer Mutter auf sie übergegangen ist. Für Ruth ist es immer wichtig gewesen, dass ihre Kinder viel Wissen über die Religion und die jüdische Kultur erwerben und zu toleranten Men‑ schen erzogen werden: »Damit es nicht zum Streit kommt, wenn sie merken, dass ein anderes Kind religiös ist.« Sie selbst hat sich als Kind mit anderen gestritten, als es um solche Themen gegangen ist. »Ich habe ihnen versucht, nicht mit Gewalt beizubringen, dass es keinen Gott gibt. Ich habe ihnen gesagt, dass ich einfach nicht an ihn glaube. […] Ich würde ohne Umschweife sagen, dass ich Atheistin bin. Mein Mann würde das nicht so einfach über sich sagen. Ich habe die Kinder also dazu erzogen, dass sie keinen von uns beiden verurteilen.«
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Ruth hat mit ihrem Ehemann, der als Katholik selten in die Kirche geht, kämpfen müssen, als es darum gegangen ist, die Kinder in das Ferienlager nach Szarvas38 zu schicken. Sie empfindet es als eine gute Sache, vor allem für Kinder aus »Mischehen«, denen zu Hause wenig über den Glauben vermittelt wird. Dort würden sie etwas ler‑ nen. Peter Salner schreibt über das beliebte Ferienlager: »Participants become acquainted with the principles and formal aspects of Judaism, learn about Jewish traditions, history and Israeli culture. But most importantly they forge mutual contacts and social net‑ works for the future. In spite of this we can not speak of return to religion. Camp graduates are, with very few exceptions, secular, but thanks to Szarvas they know what happens during religious services and how to respond.« (Ebd. 2013: 78)
Ihr Mann hatte damals befürchtet, dass die Kinder in Szarvas stark verändert wür‑ den, dass man sie mit Hilfe der Religion manipulieren könnte. »Er hat gesagt, dass sie ihnen dort das Hirn rauswaschen. Weil der ganze Sozialismus Hirnwäsche war, sie haben uns zu irgendeiner Ideologie gezwungen.« Sie haben es ihren Kindern schließ‑ lich freigestellt, dorthin zu fahren, wenn es ihnen gefallen hat. Für ihre Tochter ist es zum zweiten Zuhause geworden. Ihr Engagement ist Ruth aber schon beinahe zu viel, so hat es sie beruhigt, als ihre Tochter nicht zum Judaistik-Studium angenommen wurde und ihr auch selbst klar geworden ist, dass ein solches Studium nichts mit dem Ferienlager zu tun hat. Kürzlich hat ihre Tochter sie auch dorthin eingeladen, um ein Schabbat-Wochenende dort zu verbringen. Ruth hat in dem Ferienlager eine latente Manipulation gespürt. »Dadurch, dass die Kinder sich da gut fühlen, es eine große Gruppe ist, sind sie auch für die Religion zu begeistern.« Ruth will nicht, dass ihre Kinder in eine Richtung gedrängt werden, sondern wünscht sich Unabhängigkeit für sie. Ihre beiden Söhnen sind sehr rational und interessieren sich für Mathematik. Sie wehren sich nicht dagegen, »wenn es etwas Jüdisches gibt, aber sie verspüren keinen Drang danach«. Ruth ist es dennoch wichtig gewesen, dass ihre Söhne nach dem Tod ihres Onkels bei der Totenwache gewesen sind, denn dort ist ein Minian notwendig, was aufgrund der wenigen damals verfügbaren Männer ein Problem dargestellt hat. »Hier gibt es einfach nicht so viele Männer. Die Jungen sind nicht religiös, für sie ist das nicht wichtig. Der Minian sieht so aus, dass hier einfach Menschen aufgrund des Respekts vor den Traditionen oder der Religion mitmachen. Wer kann.« So haben auch ihre Söhne aus Respekt diese Pflicht erfüllt, nehmen aber freiwillig nicht an Aktivitäten der jüdischen Gemeinde teil.
38 | Das 1990 von Ronald S. Lauder gegründete Ferienlager ist mittlerweile weltweit bekannt und bietet Kindern und Jugendlichen jährlich die Möglichkeit, in einem Umfeld aus Spiel und Spaß ihre jüdischen Wurzeln zu entdecken und zu beleben. Der Website lässt sich entnehmen: »Szarvas has already turned to a keyword, a symbol, an unmistakable concept for Eastern-European, and especially for Hungarian Jewry « (Szarvas – Our Story).
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Diese sieht Ruth auch als Institution an, in der man sich gegenwärtig hauptsäch‑ lich noch um die älteste Generation kümmert. »Es [das jüdische Leben] ist minimal, minimal. Und hauptsächlich gerät das Leben meiner Generation vollkommen an einen Nullpunkt.« Und bis heute ist Ruth nicht bereit, der jüdischen Gemeinde bei‑ zutreten, nicht nur aufgrund der bereits genannten Ängste, man könne ihre Familie dann sehr leicht ausfindig machen, sondern, wie Lena, auch aufgrund der Konflikte innerhalb der Gemeinde: »Sie haben versucht, mich zur Mitgliedschaft zu überreden. Aber es gibt auch in dieser Gemeinde Sachen, die mir nicht gefallen. Und ich habe gesagt, dass ich nicht beitrete, weil ich nicht das Bedürfnis dazu spüre.«
6.2.3.5 A ls Touristin im jüdischen Leben: »Also in Israel ist mir klar geworden, dass ich mehr Slowakin als Jüdin bin« Aus Ruths Ausführungen lässt sich ablesen, dass sie in einer Atmosphäre der Offen‑ heit aufgewachsen ist, die es in anderen hier vorgestellten Familien nicht gegeben hat. Diese Offenheit bezog sich in Ruths Kindheit und Jugend vor allem auf die Schicksale ihrer Familienangehörigen während des Holocaust. Darüber und über die Opfer wur‑ de jederzeit offen gesprochen. Über die jüdischen Traditionen jedoch wurde in der bereits vor dem Zweiten Weltkrieg säkular lebenden Familie nichts weitergegeben. Lediglich eine der Großmütter hat auch während des Sozialismus auf den Besuch der Synagogen an den hohen Feiertagen und – soweit dies möglich war – auf koschere Ernährung bestanden. Aufgrund der gemeinsamen Erfahrung des Holocaust, den sowohl Ruths Eltern als auch beide Großelternpaare unter jeweils unterschiedlichen Bedingungen überlebt hatten, erlebte sie eine besondere familiäre Verbundenheit und hohe Wertschätzung der Einzelnen innerhalb des verwandtschaftlichen Gefü‑ ges. Dies zeigte sich einerseits in den im kommunikativen Gedächtnis stets vergegen‑ wärtigten Erinnerungen an die verstorbenen Familienmitglieder, am regelmäßigen Besuch ihrer Gräber auf dem Friedhof, dem Besuch von Auschwitz und in den stets groß gefeierten Geburtstagen. Die jüdischen Traditionen hingegen liefen, wie etwa auch die Zubereitung von Speisen, die rein intuitiv an Gesetze des Kaschrut angelehnt waren, eher unbewusst und nebenbei ab, so dass sich Ruth erst spät ihres jüdischen Ursprungs bewusst wurde. Dazu erlebte Ruth es während des Sozialismus, dass sie ihre jüdische Abstammung verschweigen musste und sie nur im privaten Rahmen der Familie thematisieren durfte. Auch schwand mit der Emigration vieler Juden im Laufe ihrer Kindheit und Jugend ihr jüdisches Umfeld. So wuchs Ruth mit der auf das häusliche Umfeld beschränkten jüdischen Identität auf, die sich vor allem auf die Erinnerung an den Holocaust und einzelne Familienmitglieder stützte. Nach dem politischen Umbruch 1989 nahm sie – insbesondere für ihre Kinder – am neu erblühten Gemeindeleben in Košice teil und nutzte auch die Möglichkeiten, die sich ihr beispielsweise in Reisen nach London und Israel boten, um das jüdische Leben dort kennenzulernen. Doch hat sie das streng religiöse Leben in London eher irritiert. Im Gegensatz zu ihrer Schwester, die dorthin emigriert ist, kann sie sich ein Leben in Israel nicht vorstellen. »Also in Israel ist mir klar geworden, dass ich mehr Slowakin als Jüdin bin. Ich habe mich dort sehr komisch gefühlt. Ich würde dort als
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Touristin hinfahren, ja, das hat mir gefallen und mich interessiert, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass ich dort lange bleiben wollte.« Diese Aussage lässt sich als bezeichnend für ihre identitäre Verortung im Hin‑ blick auf ihre jüdische Abstammung lesen. Ihr Interesse am Jüdischen ist zwar da, und sie ist sowohl über den Holocaust als auch über die anderen Begebenheiten der jüdischen Geschichte und die religiösen Traditionen sehr belesen. Doch behält sie sich vor, ihre »Reisen ins Jüdische« auf eine bestimmte Zeit und ein bestimmtes Maß für sich zu begrenzen. Hier wirken die Erfahrungen aus ihrer Kindheit und Jugend hinein, als das Jüdische hauptsächlich im privaten, familiären Bereich, nicht jedoch in der Öffentlichkeit lebbar war. Zwar hat sie auch mit Hilfe der Reisen ihr Erfahrungsspektrum bewusst erweitert, doch weder diese noch das jüdische Leben in Košice, das sich ihrer Meinung nach mittlerweile eher auf die Versorgung der Ältesten beschränkt, haben sie von einer stärkeren Hinwendung zu ihren jüdischen Wurzeln überzeugt. Vor allem aufgrund tradierter Verfolgungsängste hat sie sich auch gegen eine offizielle Mitgliedschaft in der Gemeinde entschieden, um sich und ihre Familie nicht mit einem bestimmten »Stempel« zu versehen. Ihren Kindern jedoch wollte Ruth so viel Wissen wie möglich über ihre jüdische Abstammung mitgeben und unterstützte dies durch die Teilnahme an damals noch angebotenen Aktivitäten der jüdischen Gemeinde und Fahrten ins Ferienlager für jüdische Kinder und Jugendliche. So konnte sie ihren Kindern bieten, was ihr selbst während des Sozialisms verwehrt geblieben war. Andererseits zeigte ihre Sorge vor der religiösen Manipulation im Ferienlager oder dem Interesse ihrer Tochter an einem Leben in Israel, auch ihre stets ambivalente Haltung dazu. Trotz der offenen Erziehung ist es ihr wichtig, die Kinder vor etwaigen Gefahren zu schützen. Mit ihren gleichzeitig von Offenheit und Vorsicht gekennzeichneten identitären Verortungsstrategien hat sie für sich und ihre Kinder die Aussage »Also bei uns war das nie ein Geheimnis, aber wir haben uns damit auch nicht wirklich beschäftigt« als Lebensmotto in Frage gestellt. Sie beschäftigt sich mit dem Jüdischen, allerdings – und hier weist sie Parallelen zu Lena auf – nur soweit, wie es für sie und auch ihre Familie sicher zu sein scheint und solange es ihr ein gutes Gefühl vermittelt.
6.2.4 Z usammenfassung: Eine Generation zwischen Holocaust, Sozialismus und »Conspiracies of Silence« Die Porträts der Frauen aus der Nachkriegsgeneration haben einige Parallelen, ins‑ besondere in den zentralen Motiven, die ihre Biografien nachhaltig prägten. Diese sind zum einen die Erfahrungen ihrer Eltern – und in Ruths Fall auch der Großel‑ tern – während des Holocaust und wie eingangs erwähnt, auch deren Präsenz im familiären Gedächtnis. Bei Lena, Ruth und Annamaria haben sich die Traumata auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlicher Intensität von den Holocaustüberle‑ benden in ihren Familien auf sie übertragen.
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Alena Heitlinger zieht aus ihrer Forschung zum jüdischen Leben nach 1945 in der Tschechoslowakei unter anderem das Resümee: »[T]he ›conspiracy of silence‹ about the Holocaust was a viable parental strategy for coping with the wartime horrors, although it did not work as well for the children, the second generation. One of the main reasons for the parents‹ silence about the Holocaust was their desire to move on with their lives and not dwell on their wartime suffering.« (Heitlinger 2006: 76)
Auch Sandra Konrad stellte fest: »Dementsprechend wuchs auch die zweite Genera‑ tion ›im Schatten der Shoah‹ auf, die Traumata der Eltern waren stetig in der Familie präsent, gleichgültig, ob darüber gesprochen wurde, oder nicht« (Konrad 2007: 48). Wie in den Porträts aufgezeigt, wurde nicht bei allen geschwiegen. So wurde Ruth, die mit zwei Generationen Holocaustüberlebender aufwuchs, über die Geschehnisse wäh‑ rend des Zweiten Weltkriegs aufgeklärt. In ihrer Familie war es auch ein Bestandteil des Familiengedächtnisses, regelmäßig der Verstorbenen zu gedenken. Lena erhielt diese Informationen auch, jedoch wurden sie ihr absichtslos und beiläufig zugetragen und es wurden nie vertiefende, klärende Gespräche darüber geführt, was der Familie in Auschwitz passiert war. Annamarias Mutter und Tante hingegen schwiegen bis zu ihrem Lebensende. Im Gegensatz zu Ruth, mit der ausführlich über den Holocaust und die Hintergründe der Verfolgung ihrer Familienangehörigen gesprochen wurde, und Lena, die – wenn auch spät – zumindest einen großen Teil der Geschehnisse aus der familiären Vergangenheit erfuhr, sagte Annamaria, sie wisse darüber nichts. In Bezug auf die Metapher der Wunde, an der man nicht rühren soll, da sie sonst nicht verheilen kann, führte sie das Schweigen ihrer Tante und der Mutter fort. So hatte sie, wenn sie die Geheimnisse über deren Erfahrungen nicht entschlüsseln konnte, zumindest emotional dechiffriert, wie schmerzhaft sie gewesen sein mussten. »The many references to messages about the Shoah and in particular personal reflections of this period (often taking form of memories of parents, their behaviour, how they spoke or kept silent about the Sho‑ ah), which appear regularly, document that this phenomenon represents one of the pillars of identity of individuals as well as of the group as a whole.« (Salner 2013: 49 f.)
Ein wichtiger Faktor, der das Schweigen verstärkte, war das kommunistische Regime in seinen verschiedenen Phasen: »For the postwar cohorts, socialism/communism was a given, taken-for-granted socio-economic political system into which they were born, under which they grew up, and which some escaped by emigrating. Those who remained adapted to it as best as they could, along the same pragmatic lines as their non-Jewish peers« (Heitlinger 2006: 80). Die Ängste, die sich auch nonverbal auf die Nachkriegsgeneration übertrugen, wirkten in Zusammenhang mit Erfahrungen des Antisemitismus, die Annamaria insbesondere während des Sozialismus gemacht hatte, verstärkend. Auch Lena und Ruth hatten diverse Erfahrungen mit dem kommunistischen Regime gemacht, die sich sowohl auf die ungarische als auch auf die jüdische Abstammung negativ aus‑
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wirkten. Zum einen waren es die Beneš-Dekrete der Nachkriegszeit, die alle Min‑ derheiten unterdrückten. Es waren jedoch spätestens die Slánsky-Prozesse, die die jüdische Bevölkerung, die bis dahin nicht emigriert war und/oder die kommunsti‑ sche Partei bis dahin unterstützt hatte, desillusionierten (vgl. Heitlinger 2006: 81; 89). Nachdem die Phase des Prager Frühlings etwas gemäßigter war, folgte ihr die Phase der »Normalisierung«, in der die staatlichen Repressionen und die Kontrollen wieder forciert wurden (vgl. Kapitel 4.1.3): »[T]he opening of the Cold War borders and the communist initiated processes of re-evaluation of official policies towards organized religion and towards youth were of particular significance to the postwar generation of Czech/Slovak Jews. The de-Stalinization process also made individual travel much easier, including visits and even emigration to Israel. However, the re-imposition of communist orthodoxy after 1969 meant that the benefits of the reform policies were not equally distributed across the various birth cohorts.« (Heitlinger 2006: 89)
Ruth, die während dieser Zeit aufwuchs, empfand die Auswirkungen der Politik in ihrem Alltag bereits als Kind extrem. Für Lena und Annamaria war die doppelte Marginalisierung ihrer ungarisch-jüdischen Familie besonders schwer. Zumal sich Annamaria in Lučenec auch in den letzten Jahren mit antiungarischen Parolen kon‑ frontiert sah. Zusätzlich zur antisemitischen Propaganda gab es auch direkte und in‑ direkte Anfeindungen seitens des persönlichen Umfelds der AkteurInnen (vgl. u. a. Heitlinger 2006: 99). So halten Ängste, die mit den transgenerational tradierten Trau‑ mata der Eltern und Großeltern an die Nachkriegsgeneration weitergegeben wurden, weiterhin an und vermischen sich zum Teil mit den eigenen Erfahrungen der Akteu‑ rinnen während des Sozialismus und in der Gegenwart. Eine wesentliche Rolle im Hinblick auf die gegenwärtigen Aushandlungsprozesse des Jüdischen spielt nicht nur das familiäre, sondern auch das weitere soziale Umfeld. Innerhalb der hier dargestell‑ ten Familien wurden jüdische Traditionen kaum oder lediglich unbewusst – wie etwa bei Ruth bei der Zubereitung von Speisen – weitergegeben. Annamaria konnte sich lediglich an zwei Gelegenheiten aus ihrer Kindheit er‑ innern, die mit dem Jüdischen in Verbindung standen, in ihrer Familie wurde nicht nur über den Holocaust, sondern über alles Jüdische geschwiegen. Lena ist zwar in einem jüdischen Umfeld aufgewachsen, doch es wurden keinerlei Traditionen aus‑ gelebt. In Ruths Familie wurden seitens einer Großmutter noch einige der Traditi‑ onen eingehalten, doch auch sie bekam kaum Wissen darüber vermittelt. Entschei‑ dend war auch, dass es durch die Auswanderung von über der Hälfte der jüdischen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei (vgl. Heitlinger 2006: 19) weder in Lučenec, noch in Košice ein jüdisches Umfeld gab, in dem die Akteurinnen hätten sozialisiert werden können. Laut der Soziologin Tina Gyárfášová gingen VertreterInnen dieser Generation im Unterschied zur Generation ihrer Eltern auch mehr »Mischehen« ein, da aufgrund der Emigration kaum jüdische EhepartnerInnen da gewesen seien (vgl. Gyárfášová 2008: 183; Heitlinger 2006: 205 f.).
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Nach 1989 hatte auch die Nachkriegsgeneration in Košice die Möglichkeit, das jü‑ dische Leben neu kennenzulernen, als in den 1990er Jahren die Gemeinden zu neuem Leben erwachten. In Lučenec nahm die Zahl der Mitglieder mit erneuten Emigra‑ tionswellen stetig ab, so dass das Leben der jüdischen Kommune bald nur noch aus Treffen zum informellen Austausch bestand. In Košice hingegen wurde trotz des Wegzugs weiterer Mitglieder das jüdische Leben in diversen Initiativen und Vereinen wiederbelebt. Darüber hinaus erlebte auch die zweite Generation den Wandel von der »Kultur des Schweigens« hin zur kollektiven, sozialen und kommunikativen Erinne‑ rung, in die die Vergangenheit und Gegenwart der Juden im städtischen, nationalen und internationalen Rahmen Eingang fand (vgl. Kapitel 4.1.4 und 4.2; 5). Ob und wie sie sich für eine aktive Partizipation am Gemeindeleben entschieden, hing auch von ihren bis dahin gemachten Erfahrungen und schließlich auch von den konflikthaften Entwicklungen innerhalb der Gemeinden und ihrer Vereine ab (vgl. Kapitel 4.2). Peter Salner schreibt treffend: »In the second generation the attitude to the Jewish community was determined significantly by personal experience« (ebd. 2013: 45). Lena, Annamaria und Ruth beschäftigten sich alle drei mit der jüdischen Geschichte und Kultur und eigneten sich Wissen an, das ihnen bis dahin gefehlt hat‑ te. Auch darüber generierten und verstärkten sie ein Zugehörigkeitsgefühl zur sym‑ bolischen Gemeinschaft der Juden. Die bisher häufig auf negativen Erfahrungen und Emotionen wie dem Holocaust und dem Antisemitismus gegründete jüdische Identi‑ tät erhielt insbesondere durch das Erleben innerhalb der Gemeinschaft der jüdischen Gemeinde und der Kommune positive Komponenten. »As social constructs resting on concepts of symbolic ethnicity and collective memory, the majority of Czech and Slovak Jewish identities are characterized by a high degree of voluntarism, and, as such, represent a unique combination of history, generation and biography« (Heitlin‑ ger 2006: 196). Annamaria war die soziale Komponente besonders wichtig, so dass sie den Austausch in der kleinen Gruppe sehr schätzt. Lena kam erst im Laufe der letzten Jahre durch ihren Sohn Leon dazu, an verschiedenen Veranstaltungen der jüdischen Gemeinde teilzunehmen und an den hohen Feiertagen die Synagogen zu besuchen. Auch sie genießt vor allem die Begegnung mit ihren FreundInnen und Bekannten dort. Ruth hingegen ist, nachdem sie während der 1990er Jahre vor allem wegen ihrer Kinder an den verschiedenen in der Gemeinde angebotenen Aktivitäten teilnahm, mittlerweile nicht mehr daran interessiert. Laut Peter Salner spielen nach wie vor auch andere Faktoren dabei eine Rolle: »Outside factors play an important role in the formation (and preservation) of identity, e. g. the antisemitism of the surrounding society, which sometimes triggers fear while for others it ›forces them to Jewishness‹« (ebd. 2013: 45, Abk. i. O.) Es zeigte sich also, dass neben den eigenen Erfahrungen, die sie mit ihren jüdi‑ schen Wurzeln machte, der »Schatten der Shoah«, in dem die zweite Generation auf‑ wuchs, eine nachhaltige Wirkung auf die Entwicklung ihrer jüdischen Identitäten hatte. Es war unter anderem an dieser Generation, das Licht entsprechend auf ihre Kinder zu lenken, um sie aus diesem Schatten herauszuführen beziehungsweise ihn für sie zu verkleinern.
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Anhand der nächsten drei Porträts wird dargestellt, wie die Generation der »Jun‑ gen« in den Licht- und Schattenverhältnissen ihrer Familien und der soziopolitischen Rahmenbedingungen ihre jüdischen Identitäten aushandeln.
6.3 D ie »J ungen « – an der S chnittstelle zwischen V ergangenheit und Z ukunft Die Porträts der Generation der jüngsten von mir Interviewten bilden den letzten Teil dieses Kapitels. Dass es nur drei Personen sind, die ich hier porträtiere, spiegelt auch die bereits erwähnte Situation der jüdischen Gemeinde und Kommune in den von mir beforschten Städten wider. Die meisten AkteurInnen aus der Generation, die zwischen 1979 und 1987 geboren sind, sind aufgrund ihrer Ausbildung und der pre‑ kären Arbeitsmarktsituation in umliegende, wirtschaftlich besser aufgestellte Länder wie Tschechien oder Ungarn oder ins westliche Ausland migriert. Leon, der Sohn von Lena, die ich in der Einleitung und im vorigen Kapitel porträtiert habe, ist zwar Mitglied der jüdischen Gemeinde in Košice, lebt aber aufgrund seines Arbeitsplatzes in Bratislava, wo ich ihn interviewt habe. Ella, die während meiner Forschungsauf‑ enthalte noch in Košice studierte, hat mittlerweile einen Aufbaustudiengang in Prag abgeschlossen. Dominic, den ich bereits seit meiner Jugend kenne, lebt nach einigen längeren Aufenthalten im Ausland wieder in Lučenec. Sie alle vertreten hier die Generation, die mir mehrfach als die »Hoffnungsträ‑ ger« für das Fortbestehen des jüdischen Lebens in Košice, aber auch für die Slowakei im Allgemeinen, beschrieben wurde. Laut der Soziologin Tina Gyárfašová kam es nach der »Samtenen Revolution« zu zwei Prozessen, die zum Erstarken der jüdischen Identität führten. Sie entsprangen der Lockerung der kommunistischen Zensur und waren eine Reaktion auf die neue Freiheit. Einerseits seien sie aus dem Inneren der Gemeinden heraus entstanden, andererseits durch den Druck von außen in Gestalt neuer Formen des Antisemitismus (vgl. Gyárfášová 2008: 184). Schon alleine aufgrund der politischen Situation nach 1989 hatte diese Generati‑ on, anders als ihre Eltern und Großeltern, die Möglichkeit, ihre jüdischen Identitäten in jungen Jahren frei zu beleben. Andererseits wurden ihr – in jeweils unterschied‑ lichem Ausmaß und auf unterschiedliche Weise – die Erfahrungen aus Holocaust und Sozialismus meist von zwei Generationen tradiert. Die Genese des familiären Gedächtnisses, wenn es um den Holocaust geht, ist, wie schon bei den vorhergehen‑ den Porträts gezeigt wurde, zentral für die Bildung der familiären und individuellen, jüdischen Identität bei allen AkteurInnen. Der Sozialismus prägte die Nachkriegsgeneration entscheidend darin, wie sie ihre jüdischen Wurzeln wahrnahm und auslebte. Die meist mit Unterdrückung, den Traumata der Eltern und Schweigen verbundenen Erfahrungen wurden auch an die Kinder tradiert. Die politische Wende von der kommunistischen Diktatur hin zu einer Demokratie ermöglichte es den Menschen, ihre Glaubenszugehörigkeit offen auszuleben und wie in Košice, auch im Kollektiv der zu neuem Leben erwachten jü‑
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dischen Gemeinde, auszuhandeln (vgl. Kapitel 4.1.4). Dies sei, so Tina Gyárfášová, ein wichtiger Aspekt im Leben der Generation, die in den 1990er Jahren erwachsen wurde. Denn sie habe erlebt, wie die slowakischen jüdischen Organisationen in inter‑ nationale Netzwerke eingestiegen sind, was bis dahin ungekannte Möglichkeiten im sozialen Leben der AkteurInnen gebracht hat (ebd. 2008: 184). Bei Dominic, Ella und Leon ist zentral, ob und wie das Jüdische in und mit der Familienbiografie vermittelt und festgehalten wurde. András Kovács resümiert die Empfindungen dieser Generation so: »For the young generation of Jews who in the last ten years have lived without the political restrictions placed upon their parents in the Communist system such identity has been not simply unattractive but absolutely unbearable« (ebd. 2003: 237). Über das jüdische Leben in Ungarn schreibt András Kovács weiterhin: »The process whereby Jewish identity was reconstructed began among the younger generation as early as the late 1980s and accelerated after the collapse of the Communist system. One reason for the resurgence of Jewish identity is a general strengthening of the demand for ethnic and religious identities. This is a natural phenomenon at a time of great social change which generally plunges acquired social identities into a crisis. This search for identity was enhanced by the growing acceptance of multiculturalist orienta‑ tions. Finally, the choice of the ›acceptance‹ strategy was facilitated by the opening of borders and above all by rapidly developing relations with Israel and Jews in the United States.« (Ebd. 2003: 237)
Andererseits heben Sandra Konrad, Gabriele Rosenthal und andere PsychologInnen die Rolle der innerfamiliären Aushandlungsprozesse im Umgang mit dem Holocaust hervor, wie oben bereits angedeutet wurde: »For the children and grandchildren of survivors, listening to the experience of their parents or grandpar‑ ents has multiple consequences. The second and third generations listening to traumatic memories are hearing not only what their elders went through and incorporating the constructed meanings of these events; they are also hearing who the parent or grandparent is. The normative developmental process of identification yields the incorporation of how the parent or grandparent is portrayed in the shared mem‑ ory. When a particular attribute of a survivor parent or grandparent is clear and emotionally compelling, this attribute can become an organizing value system in the developing identity of the child.« (Kliger et al. 2008: 155; vgl. u. a. Konrad 2007; Rosenthal 1997)
Die Generation der »Jungen« hat also auch die Last der vorherigen Generationen und deren Umgang mit Holocaust und Sozialismus zu tragen und muss auch mit dem ent‑ sprechend ausgestalteten familiären Gedächtnis umgehen. Dies und die Ressourcen, die sich den AkteurInnen in ihrem Umfeld dafür jeweils bieten, sind zentral für ihre identitären Verortungsstrategien. Ella war als Kleinkind beispielsweise noch im jüdischen Kindergarten in Košice, sie ist mit den jüdischen Traditionen, aber nicht religiös aufgewachsen. Sie gehört der Generation an, die als Kleinkinder und Kinder noch die »Renaissance« des jüdischen
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Lebens in Košice mitbekam, in ihrer Jugend und bis in die Gegenwart allerdings auch dessen allmählichen Niedergang. Leon erfuhr erst nach 1989 von seiner jüdischen Abstammung. Seine Großmutter wollte ihn und seinen Bruder beschützen, daher wurde er nach dem Systemwechsel kalvinistisch getauft. Nachdem sein Vater Katholik gewesen, seine Mutter Jüdin und er protestantisch getauft ist, habe er eine breite Auswahl unter den Religionen, wie er mir sagte. Warum er sich gerade dafür entschied, seine jüdischen Wurzeln zu bele‑ ben, und wie er das seit einigen Jahren tut, wird nachfolgend zu lesen sein. Dominic, mein einziger Interviewpartner aus der Generation der »Jungen«, den ich in Lučenec interviewt habe, hat erst mit 18 Jahren durch einen Zufall erfahren, dass sein Vater Jude ist. In der Kleinstadt, in der es kein aktives jüdisches Leben und kaum Rahmen für ihn gibt, seine jüdische Identität zu beleben, wird er auch im Hin‑ blick auf das fragmentarische familiäre Gedächtnis gleich vor mehrere Herausforde‑ rungen gestellt. Alle drei bringen jeweils andere Voraussetzungen und Erfahrungen mit dem Jü‑ dischen mit, die, wie gezeigt werden wird, sehr starken Einfluss auf ihre identitären Verortungspraktiken haben.
6.3.1 Leon 6.3.1.1 Eine andere Form von »Burgfrieden« Mit Leon, der damals 33 war, traf ich mich in Bratislava. Lena, seine Mutter, hat‑ te mir den Kontakt zu ihm vermittelt. Er holte mich mit seinem Auto von meinem vorherigen Interview ab und fuhr zur Burg. Dort spazierten wir eine Weile umher, bis wir einen Platz fanden, an dem wir einigermaßen ungestört reden konnten. Leon wirkte dabei alles andere als gelassen, eher schlecht gelaunt und nervös. Als ich mich bei ihm dafür bedankte, dass er sich Zeit für das Interview genommen hatte, erklärte er, er tue das nur, weil seine Mutter ihn dazu überredet hätte. Diese ungünstige Aus‑ gangsstimmung schlug sich einige Zeit lang auch in unserem Gespräch nieder. Er antwortete zwar auf meine Fragen, doch es wollte kein richtiger Redefluss entstehen. Seine Antworten waren abgehackt und er kam von sich aus nicht richtig ins Erzäh‑ len. Bei einigen offenen Fragen gab es Verständnisschwierigkeiten, so musste ich sie stärker definieren und genauer umschreiben. Der Zeitdruck, unter dem Leon stand, da er sich im Anschluss noch verabredet hatte, war während des Interviews ebenfalls spürbar. Dass er sich insgesamt nur eine Stunde Zeit dafür genommen hatte, lässt ebenfalls darauf schließen, dass er eigentlich nicht dazu bereit war. Seine Antworten formulierte er knapp und die vielen Pausen ließen auf Unsicherheit schließen. Diese äußerte sich auch darin, dass er es vermied, das Wort »Jude« in jedweder Form aus‑ zusprechen und dass er immer leiser wurde, wenn Spaziergänger in der Nähe waren. Nach einiger Anlaufzeit jedoch fanden wir eine bessere gemeinsame Gesprächsbasis und die Anspannung fiel merklich von Leon ab. Ich verstand, wie ich meine Fragen formulieren musste und er antwortete immer offener und erzählte von sich aus länger. Auch als bereits eine Stunde vergangen war und er zu seiner Verabredung musste,
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blieb er und nahm sich noch genügend Zeit, um das Interview mit mir zu Ende zu führen. Mein schlechtes Gefühl vom Beginn des Treffens war spätestens mit unserem Abschied verflogen, der sehr herzlich war. Leon begleitete mich noch ein ganzes Stück und zeigte mir den Weg, den ich in die Innenstadt nehmen musste. Zuletzt bot er mir auch an, ich könne mich jederzeit bei ihm melden, sollten sich noch Fragen ergeben.
6.3.1.2 E ine »behütete Kindheit« mit drei Religionen, einer atheistischen Erziehung und Schweigen Leon erklärte mir, dass er während seiner Kindheit und Jugend nicht bewusst mit dem Jüdischen in Berührung gekommen sei und sich erst seit ungefähr sechs bis acht Jahren damit beschäftige: »Mama hat sich nicht so sehr dafür interessiert, genaugenommen sind wir von der Familie nicht auf diesen Weg gebracht worden. Also bin ich alleine … also im Grunde kam es so von ganz alleine, automatisch. Ich kann nicht sagen, dass ich es gesucht hätte. Eher … ich weiß nicht, das kann man nicht so definieren. Wir haben das schrittweise herausgefunden. Und ich habe herausgefunden, dass auch Freunde und viele Leute im Umfeld eine solche Abstammung haben. Und die Aktivitäten kamen somit allmählich dazu. Falls du den Besuch der Synagoge meinst, das kam dann allmählich.«
Seine Mutter Lena habe erst in den letzten Jahren vermehrt über die Familienver‑ gangenheit gesprochen, »aber nach [19]89 natürlich, vorher nicht. Wir hatten absolut keine jüdische Erziehung«. Als sie von ihren jüdischen Wurzeln erfuhren, war Leon 13, sein älterer Bruder ungefähr 15 Jahre alt. »Also die [jüdische] Abstammung habe ich von meiner Mutter. Und die Erziehung meiner Mutter und der Mutter meiner Mutter waren so absolut neutral, ich würde eher sagen, dass sie so neutral war, dass da nichts vom Jüdischen war … so eine behütete Erziehung würde ich das nennen, zumindest denke ich das.«
Leon berichtete, dass er in seiner Kindheit und Jugend bis zum Zusammenbruch des Sozialismus 1989 zu Hause nichts von seinen jüdischen Wurzeln erfahren habe. Dar‑ über ist, wie seine Mutter Lena es mir bereits geschildert hatte, geschwiegen worden. Die »behütete Erziehung«, wie sie Leon nannte, hatte tatsächlich den Zweck, die Kin‑ der und die Familie zu schützen. Dies resultierte sowohl aus den Ängsten der Groß‑ mutter, die während des Holocaust verfolgt worden war und ihn mit viel Glück über‑ lebt hatte, als auch aus den negativen Erfahrungen der ungarisch-jüdischen Familie während des sozialistischen Regimes in der Tschechoslowakei (vgl. Kapitel 6.2.1.2). Leon erinnerte sich nicht daran, wann er begonnen hatte, sich mit seiner jüdi‑ schen Abstammung auseinanderzusetzen. Es sei allmählich und schrittweise dazu gekommen. Als Jugendlicher habe er in seinem Umfeld Unterschiede in der Erzie‑ hung, der Bildung, in der Denkweise über gewisse Themen und auch in der Kommu‑ nikation wahrgenommen: »Und wenn ich das dann mit anderen Familien verglichen
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habe, dann habe ich gesehen, dass … dass es so eine ähnliche Erziehung in anderen Familien gab.« Zudem hat er sich selbst auch als »anders« wahrgenommen: »Verstehst du, … ich habe sehr gute Freunde, mit denen ich sehr gut auskomme. Sie haben auch so eine Abstammung … und sie denken ähnlich und wir verstehen uns einfach. Oder … ich habe beispielsweise darüber nachgedacht, dass ich mich mit ihnen besser verstehe als mit den anderen Leuten oder warum ich ein wenig anders bin … Verstehst du?«
Spätestens hier fiel mir auf, dass Leon die Worte »jüdisch« oder »Jude« bisher kaum verwendet hatte. Er vermied es, sie zu nennen und sprach auch leiser, wenn es darum ging. Manchmal liefen Spaziergänger vorbei, dann wartete er stets, bis sie weiter weg waren und flüsterte fast. Es schien so, als wolle Leon in der Öffentlichkeit nicht damit auffallen, dass er über seine jüdische Abstammung sprach. Dies behielt er das gesamte Interview über bei. Hier zeigte sich die während des Sozialismus in der Familie gel‑ tende Regel, nicht über das Jüdische zu reden, die er nun, wie es schien, unbewusst beibehielt. Dass er sich nicht laut über seine Abstammung äußern wollte, mag einer‑ seits auch daran liegen, dass er das Schweigen darüber während seiner Kindheit und Jugend in der Familie erlebt und übernommen hatte. Erst als junger Erwachsener begann er, sich damit zu befassen und darüber zu sprechen. So wirkt auch die Lebens‑ philosophie der Großmutter weiter, sich nie öffentlich zu einer Religion oder Natio‑ nalität zu bekennen. Dieser Prämisse folgt auch seine Mutter Lena bis heute, so dass Leon die meiste Zeit seines Lebens den über zwei Generationen hinweg tradierten Umgang nicht durchbrochen hat (vgl. hierzu Rosenthal 1997b: 50). Seiner Erinnerung nach ist das Jüdische damals etwas Negatives gewesen. »Si‑ cher … sicher doch. Das war negativ. Und bis heute wird es als Negativum wahrge‑ nommen … allgemein.« Er meinte nicht nur das Jüdische als Abstammung, sondern: »Auch das Wort als solches … aber nur … es kommt natürlich auf die Bildung und das Niveau der Leute an.« Damit bestätigte er seine Vorbehalte, das Wort »jüdisch« überhaupt auszusprechen: »Also ich habe gedacht, dass es … dass wenn jemand her‑ ausfindet, dass ich Jude bin, dann ist die erste Reaktion darauf so … sie kann negativ sein. So dass der andere gar nicht weiß, was es überhaupt bedeutet, und er denkt, das sei etwas Negatives.« Leon erklärte weiterhin: »Aber das hält aus der Vergangenheit noch an … als ob die Leute denken, das sei etwas Schlechtes wenn … Und es ist logisch, schließlich wurde es vor vielen Jahren dargelegt, das hat überdauert und es wird über die Generationen tradiert. Wenn jemand ein Antisemit war, vor 60 oder vor 40 Jahren, dann ist es auch möglich, dass seine Nachfahren es heute noch sind. Was natürlich nicht sein muss, das ist keine Bedingung. Aber ich habe schon damit Erfahrungen gemacht, dass es [das Jüdische] negativ wahrgenom‑ men wurde.«
Zwar ist er deswegen nie in einen ernsthaften Konflikt geraten, aber die Erfahrun‑ gen sind unangenehm gewesen. Hier vermischen sich die aus der Familienbiografie heraus tradierten Ängste mit den eigenen Erfahrungen, die Leon gemacht hat. Diese
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münden insbesondere in einem hohen Maß an Vorsicht damit, sich öffentlich als Jude zu identifizieren, sei es durch ein offenes Bekenntnis oder nur durch die laute Erwäh‑ nung des Wortes. Auch wenn Traumata und Ängste nicht thematisiert werden, sind sie trotzdem spürbar und werden von Kindern und Jugendlichen wahrgenommen und verinnerlicht. Unter anderem vertritt auch der Psychoanalytiker Berthold Roth‑ schild passend hierzu die These: »Tradiert wird nicht nur das Mitgeteilte, sondern auch das Nicht-Mitgeteilte und Verschwiegene, und es muss, so oder so, in die psychische Repräsentanz (Vorstellungswelt) des Subjekts integriert werden und bleibt dort, wie jeder andere psychische Inhalt, als Teil der ›historischen Wahrheit‹ wirksam. Und es könnte sogar sein, dass dieser stumme Teil der historischen Wahrheit transgenerationell länger und hartnäckiger tradiert wird als der evidente, weil er aus Mangel an Symbolisierung weder totemisiert noch ritualisiert noch abgetragen werden kann.« (Ebd. 2002: 148)
Als Jugendlicher hat Leon aufgrund der Beobachtungen, die er in seinem Umfeld ge‑ macht hat, schließlich begonnen, Fragen zu stellen. Diese sind ihm erst nach Zusam‑ menbruch des Sozialismus ausführlich beantwortetet worden, als die Ängste seiner Großmutter und Mutter vor einer möglichen Verfolgung durch das politische Regime geringer geworden sind: »Aber ja, ja, wenn ich sie etwas gefragt habe, dann … ja, ja. Oma hat dann eigentlich auch … aber ich glaube, dass … dass es ein wenig gedauert hat [bis sie darüber gesprochen haben] … dass nicht gleich in den ersten Jahren als die Transformation begonnen hat. Also vielleicht nicht gleich im ersten Jahr, da haben sie noch Angst gehabt. Aber dann in den weiteren Jahren vielleicht, da haben sie allmählich schon gesehen, dass sie reden können und dass es keine Bedrohung gibt und dann glaube ich, dass es immer mehr wurde.«
So passte die schrittweise Entdeckung seiner Abstammung auch zu dem Tempo, in dem ihm davon erzählt wurde: »Es gab Hinweise in der Familie und auch im Umfeld, also ist mir das dann schon gekommen. Ja, aber ich weiß nicht, ich kann mir überhaupt nicht, ich will jetzt nicht mutmaßen, weil ich mich überhaupt nicht an einen Moment oder eine Zeit oder ein Jahr oder irgendein Gespräch mit meiner Mama oder Oma erinnern kann, so dass man einen Moment festmachen kann, in dem ich das herausgefunden habe. Das war so allmählich, schrittweise. Ich kann das nicht definieren. Vielleicht habe ich darüber früher, vielleicht auch später nachgedacht.«
Bei ihrem Besuch in Košice hat er auch die ältere Halbschwester seiner Mutter, die in Australien lebte, kennengelernt. Sie hat damals nicht nur Lena, sondern auch ihn und seinen Bruder über das Schicksal der Familie während des Holocaust aufgeklärt und von ihren Erlebnissen in Auschwitz erzählt. Zwar hat sich damit eine Leerstelle im familiären Gedächtnis gefüllt, doch hat, so wie in Lenas Jugend auch, das Wissen
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über das Judentum an sich gefehlt. Alles, was Leon heute darüber weiss, hat er sich selbst beibringen müssen: »Was die Traditionen und Bräuche an den einzelnen Feiertagen betrifft, da ist es eher so, dass ich mir das irgendwie selbst angeeignet habe, welcher Feiertag was bedeutet und was ich nicht wusste … nehme ich aus Büchern, natürlich lese ich verschiedene Bücher mit dieser Thematik. Aber wir haben weder von unserer Mutter noch von den Großeltern irgendein … Know-how bekommen, wie und was man an den einzelnen Feiertagen machen muss. Natürlich kann ich kein Hebräisch, weil mir das niemand beigebracht hat, und … ja. Und dadurch, dass die Erziehung so neutral war, ist aus mir ein so praktisch veranlagter Mensch geworden. Ich denke, dass ich eine ausreichende Einsicht habe … und … hmmm, so eine … und ein Besuch der Synagoge ist eher der Respekt gegenüber der Abstammung und den Vorfahren, als dass es irgendein Bedürfnis ist, sich mit Gott zu treffen oder ich weiß nicht, irgend so etwas bestimmt nicht. Es geschieht aus Respekt für die Abstammung … das betrifft auch die Feiertage.«
Hier betont er wieder, dass er während seiner Kindheit und Jugend nichts über das Ju‑ dentum beigebracht bekommen hat. Es schien so, als wolle er den Umfang seines Wis‑ sens rechtfertigen, als er mit vielen Pausen erklärte, er habe wohl eine ausreichende Einsicht in das Thema und aufgrund seiner atheistischen Erziehung keinerlei Bezug zu Gott. Er erklärte auch, »es gibt viele solche Familien mit dieser Abstammung, die sich fürchten. Und sie leben so und erziehen ihre Kinder so neutral, also … Beispiels‑ weise gibt es einige in meinem Alter und auch jünger, die überhaupt nicht wissen, dass sie jüdische Wurzeln haben, sowohl in Bratislava als auch in Košice.« Hier stellt sich die Frage, woher Leon von der Abstammung besagter Personen weiß, wenn sie selbst nichts davon ahnen. Doch indem er von dem in der Slowakei weitverbreiteten Phänomen des Verschweigens in zahlreichen anderen Familien spricht, deren bereits erwachsene Kinder nichts von ihren jüdischen Wurzeln wüss‑ ten, reduziert er einerseits sein Alleinstellungsmerkmal, hebt sich aber gleichzeitig hervor. Denn er ist sich schließlich seiner jüdischen Identität bewusst und setzt sich auch mit ihr auseinander. Den Sozialismus hält er, auch wenn er nicht viel dazu sagen kann, auch aufgrund des Religionsverbots für negativ. Doch gerade im Hinblick darauf erscheint ihm seine Auswahlmöglichkeit unter drei Glaubensrichtungen seltsam: »Das Ganze ist ziemlich absurd. Weil ich eigentlich von meiner Mutter die halachische jüdische Abstam‑ mung habe, weil ich von einer Jüdin geboren wurde. Seitens meines Vaters bin ich Katholik, also den Regeln der katholischen Kirche nach kann der Sohn, wenn der Vater katholisch ist, es auch sein. Also kann ich es mir aussuchen, was die Religion betrifft. Nach den Regeln des einen und des anderen. Und ich weiß nicht, ob meine Mutter das erwähnt hat, aber ich denke, als wir klein waren, noch während des Sozialis‑ mus, da gabs so eine Art Taufe zum Schutz, das hat unsere Großmutter noch gemacht. […] Also gibt’s da so einen Taufschein für irgendeine reformierte [kalvinistische] Kirche. Theoretisch könnte ich mich auch darauf berufen und mich für diese Religion entscheiden. Ich finde das Ganze zum Lachen. Deshalb spreche ich lieber von meiner ›Abstammung‹.«
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Leon und sein Bruder wurden, wie Lena es mir bereits erklärt hatte, aufgrund der Verfolgungsängste der Großmutter auf ihren Wunsch direkt nach dem politischen Umbruch 1989 kalvinistisch getauft. Dass er sich zwischen drei Religionen entschei‑ den kann, ist für ihn angesichts der Tatsache, dass er atheistisch erzogen wurde, belus‑ tigend. Seine Wahl fällt allerdings nicht auf eine Religion, sondern auf seine jüdische Abstammung. Denn diese offenbart ihm mehr Facetten, als es die Glaubensformen täten. »Also es bedeutet das, dass … dass ich weiß, welche Abstammung ich habe und … wenn … hmmm … auch wenn die Erziehung eher atheistisch war, aber wenn ich mir aussuchen soll, in welche Kirche ich gehe, dann gehe ich in die Synagoge.« Zunächst erklärte er die Bedeutung seiner jüdischen Wurzeln zögerlich und eher pragmatisch, und wie es schien, aus der Neutralität heraus, mit der er erzogen wurde: »Wichtig … also es ist so, dass ich die Tatsache akzeptiert habe und versuche, mich darüber zu freuen … also ich nehme es als neutral wahr und es ist weder negativ noch positiv, also … ich schäme mich nicht dafür. Ich bin darauf stolz und ich freue mich darüber. Aber mehr auch nicht. Ich lebe das gleiche Leben, das ich vorher gelebt habe, als ich nichts davon gewusst habe. Es hat sich nicht geändert.«
Dass sich für ihn und in seinem Leben durch das Interesse an seinen jüdischen Wur‑ zeln doch etwas verändert hat, kristallisierte sich im Verlauf des Gesprächs weiter heraus.
6.3.1.3 E ine neue Identität als Gewinn und Herausforderung: »Das ist wiederum schwer, weil wir nicht damit aufgewachsen sind« In welchem Jahr er Mitglied der jüdischen Gemeinde in Košice geworden ist, weiss er auch nicht, aber es sei überhaupt kein Problem gewesen. Denn »sie wissen eigentlich, wer meine Mutter ist, sie wissen, wer meine Großeltern waren, also war es natürlich kein Problem«, sagte mir Leon selbstbewusst und mit lauter werdender Stimme. Aus dieser Aussage war auch ein wenig Stolz herauszuhören. Leon ist zwar offiziell Mitglied der jüdischen Gemeinde in Košice, lebt und arbei‑ tet aber in Bratislava, wo er an Veranstaltungen der Gemeinde teilnimmt und auch Mitglied der slowakischen Union der jüdischen Jugend [Slovenská únia židovskej mládeže, im Folgenden SUŽM]39 ist. Wieder flüsterte Leon, als er darüber sprach. In Bratislava, so Leon, hat er regelmäßig und auch häufiger die Gelegenheit, an Veran‑ staltungen teilzunehmen, als in Košice. Das bewertete er eindeutig als Vorteil, denn bei der SUŽM »ist ständig etwas los, das ist fein«. In Košice finden der geringen An‑ zahl junger Juden entsprechend kaum Aktivitäten statt. Er ist jedoch auch bei den wenigen Gelegenheiten, die sich ihm dort bieten, gerne dabei und hat beispielsweise auch an Sukkot, dem letzten Laubhüttenfest in Košice, teilgenommen.40 39 | »Die slowakische Union jüdischer Jugend« gehört zu der »Europäischen Union jüdischer Studenten« [European Union of Jewish Students, EUJS], die 1978 in Frankreich gegründet wurde (vgl. EUJS). Die SUŽM hat keine eigene Internetseite, die Facebookseite ist gegenwärtig nicht in Betrieb. 40 | Dies ist von Rabbiner Zev Stiefel für die israelischen StudentInnen in Košice organisiert worden.
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Durch die Aktivitäten der SUŽM ist er bei internationalen Zusammentreffen im Ausland auch mit jungen Leuten aus westlichen Ländern in Kontakt gekommen, die junge Juden aus dem östlichen Europa kritisch sehen würden. In Frankreich würden jüdische Kinder, wie beispielsweise ein Freund von Leon, selbstverständlich Hebrä‑ isch sowie die Traditionen erlernen und die Synagoge besuchen: »Sie wachsen automatisch damit auf, für sie ist das alles selbstverständlich. Und für sie sind wir anders. Dass wir das nur so nachlässig machen, warum wir das nicht wissen, weil sie wiederum … es ist nicht so, dass wir das nicht wissen, sie denken, wir praktizieren das nicht. Und sie denken, wir hätten kein Inter‑ esse. Und dass wir so sind wie Atheisten. Aber daran sind wir nicht schuld. Sie sehen nicht, was gewesen ist. Weil sie die Geschichte nicht kennen. Also wissen sie nicht, dass hier ein Leben war, das das absolut verboten hat.«
Leon hatte sich bei diesen internationalen Treffen für seine Art, das Jüdisch-Sein zu leben, erklären müssen. Dass ihm das zugesetzt hat, äußerte sich unter anderem an seinem schärfer werdenden Ton: »Klar wissen sie [über den Sozialismus] Bescheid, nur wissen sie nicht, was das in der Praxis bedeutet. Weil sie von klein auf in ihrer Umgebung aufgewachsen sind, daher glauben sie, dass es wohl auch bei uns so gewesen ist. Als ich ihnen erklärt habe, was alles [hier los] war, was wir durften und was nicht, was verboten war, haben sie es natürlich begriffen. Das ist eigentlich das Problem all dieser postkommunisti‑ schen Länder. Weil bei diesen internationalen Treffen sind auch Leute aus anderen Staaten. Also nehmen sie Osteuropa allgemein so wahr, Tschechien, Ungarn, Polen, die Slowakei sehen sie so … und dann ist es umso schwerer, sich in der Gemeinschaft einzufinden.«
Die Reisen und Treffen der SUŽM ermöglichten Leon einerseits, sich dem Jüdischen inmitten einer Gemeinschaft zu nähern und soziale Kontakte zu anderen Juden in seinem Alter zu pflegen. Doch führten sie ihm im internationalen Rahmen auch die Gegensätze zwischen seiner hier als defizitär empfundenen atheistischen Erziehung und der traditionell jüdischen anderer TeilnehmerInnen vor Augen. Leon rechtfer‑ tigte dies mit dem repressiven sozialistischen Regime und bezog dessen Folgen auch auf seine Familie: »Ja, das Problem ist, dass wenn etwas für kurze Zeit verboten wird, dann wirst du es, wenn du es nach einer Weile wieder darfst, weiterhin machen. Aber wenn sie dir das für einige Jahre verbieten, für eine bestimmte lange Zeit, dann lernst du, damit zu leben. Das hast du gelernt, du hast schon Jahre damit gelebt, dass du es nicht darfst, also fehlt es dir auch nicht.«
Doch gerade diese Konflikte, innerhalb derer er das jüdische Leben im westlichen und östlichen Europa als sehr gegensätzlich darstellte, bringen ihn dazu, sich mit der Vergangenheit seiner Familie auseinanderzusetzen und Antworten für sich zu finden. Es schien so, als würde er damit auch Lenas Bezug zu ihren jüdischen Wurzeln um‑ schreiben. Er überlegte weiter:
»New Jewish Identities«? Perspektiven auf individuelle Lebens- und Erfahrungswelten | 351 »Weil diese Dinge, ja, die sind absurd. Ob jetzt der Holocaust oder irgendwelche Dinge, die im Kommunis‑ mus waren. Da waren auch absurde Sachen. Und wenn dich also das System dazu zwingt, irgendwelche Dinge zu tun, irgendein absurdes System, so ein absurdes System dazu zwingt, und du musst es akzeptie‑ ren und du akzeptierst es, also dann … ich glaube, ich verstehe jetzt, wie es die ältere Generation wahr‑ nimmt. Also dann verstehe ich, warum sie sich fragen, weshalb sie dazu [zum Judentum] zurückkehren sollten.«
Er betonte die Sinnlosigkeit des politischen Systems und erklärte sich daraus auch die Resignation der Menschen, die sich beispielsweise an das Leben ohne Religion gewöhnen, wie auch seine Mutter: »Ich denke, dass die Traditionen wichtig sind und auch, dass man von klein auf stückchenweise zur Religi‑ on geführt wird. Und dann bekommen die Kinder das automatisch mit. Wenn das nicht so ist, dann kann niemand mehr von einem erwachsenen Menschen erwarten, dass er beginnt, so zu tun, als bräuchte er das. Ich denke eher, weil es gibt solche, die das total … also es gibt solche, die so tun, als wären sie sehr, sehr religiös und das erscheint mir ein wenig absurd, wenn sie es so übertreiben. Dass zuerst nichts da war, und jetzt ist es auf einmal so stark.«
Das Phänomen, dass nach 1989 einige Menschen ihre jüdische Abstammung ent‑ deckten und nun, wie Leon es nannte, »übertrieben« religiös seien, beschrieben mir auch andere InterviewpartnerInnen. So scheint die Art und Weise, wie diese »sehr« Religiösen ihr Jüdisch-Sein ausleben, auch auf Leon nicht glaubhaft zu wirken. Zu‑ mal dieses Modell ganz und gar kontrovers zu seinem eigenen steht. Denn er hat das Jüdische stückchenweise und ganz allmählich in sein Leben gelassen und behält sich bislang auch vor, den religiösen Aspekt auszusparen. Lena hat auf sein Interesse am Judentum positiv reagiert und sich darüber gefreut. »Ich mache schließlich nichts Schlechtes, ich mache nur bessere Dinge, beziehungs‑ weise habe ich ein besseres Leben. Beispielsweise reise ich dank dem [Jüdischen] mehr, also das ist wirklich nur positiv. Meine Mutter freut sich darüber, wenn ich die Möglichkeit habe, irgendwohin zu fahren.« Alleine die Tatsache, dass Leon an den Aktivitäten der jüdischen Gemeinde in Bratislava und Košice sowie den Treffen der SUŽM teilnimmt, seit er sich seiner jüdischen Abstammung bewusst widmet, stellt eine positive Bereicherung für sein Leben dar. »Klar, vorher gab es keine Aktivitäten und jetzt schon und das ist fein … weil es angenehm ist, sich zu treffen.« So wie bei Lena auch, überwiegt hier bei ihm der soziale Aspekt des Erlebens innerhalb einer Gemeinschaft. Es gibt zahlreiche Parallelen, Verbindungs- und Anknüpfungspunkte zwischen den Aushandlungspraktiken des Jüdischen bei Mutter und Sohn. Auch wirken sie wechselseitig aufeinander ein, wie sich bei der Lektüre beider Porträts erkennen lässt. Dass Leon seine jüdische Abstammung stärker und als selbstverständlich in seinen Alltag integriert, zeigte sich vor allem gegen Ende unseres Gesprächs.
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6.3.1.4 Alles koscher?! Wie sich herausstellte, ist für Leon ein weiterer positiver Aspekt der jüdischen Tradi‑ tionen die koschere Ernährung. Diese bekomme ihm auch gesundheitlich besser, als beispielsweise die slowakische Küche, die aufgrund der häufigen Kombination von Fleisch und saurer Sahne zu schwere Kost sei, wie er erklärte: »Ich bemühe mich im Rahmen der hier gegebenen Möglichkeiten und der Schnelllebigkeit des Alltags entsprechend, mich koscher zu ernähren. Und das bereits seit einigen Jahren. Und das Lustige an der Sache ist das, dass es dafür keinen religiösen Grund gegeben hat, sondern eher die Gesundheit. […] Ich bin darauf gekommen, dass wenn ich mich daran halte, dann bin ich um 80 Prozent gesünder und fühle mich wesentlich besser. Also habe ich begriffen, dass wohl mein Körper das braucht, dass ich mich koscher ernähre, nach den Gesetzen des Kaschrut.«
Zwar sei es für Leon schwierig, sich nach religiösen Prämissen »richtig koscher« zu ernähren und »wenn ein Rabbiner das kontrollieren würde, würde er sagen, dass das nicht koscher ist. So, wie ich das mache, wie ich es versuche, mich zu ernähren, das würde nicht durchgehen.« Aber er achtet zumindest auf die Grundlagen, verzehrt kein Schweinefleisch, keine Meerestiere und verzichtet auf die Kombination von Milch- und Fleischprodukten. »Es ist für mich sehr sehr positiv, dass ich die Möglich‑ keit dazu habe. Aber ich musste es mir selbst irgendwie beibringen, was ich darf und was nicht und was womit koscher ist und was nicht. Und bis heute weiß ich das nicht genau …« Leon lachte, als er von seiner Ernährungsweise sprach, was sein gutes Ge‑ fühl dazu unterstrich. Dass diese für ihn gesündere Art zu essen, mit seinen jüdischen Wurzeln in Verbindung steht, hob er als selbstverständlich hervor. Auch bei Ruth stand ihre zum Teil koschere Ernährungsweise in Verbindung zu ihrer jüdischen Abstammung. Sie erklärte ihr Bedürfnis danach allerdings aus einer inneren Geschmacksdisposition heraus. Für Leon bietet dieses Thema eine weitere Möglichkeit, sich mit seinen jüdischen Wurzeln und der jüdischen Kultur zu beschäf‑ tigen, was er alleine aufgrund des Bedürfnisses zu essen, täglich mehrmals tun muss. Für ihn ist dies zudem positiv behaftet, da es ihm körperlich gut tut und er es durch die Verinnerlichung der Speisen auch im Sinne des Genusses erfährt und spürt. Er schafft es somit, für sich positive Bausteine des Jüdischen in sein Leben zu integrieren: »Und die Traditionen sind sehr schön, die Feiertage und das alles. Da gibt es viele, viele gute Dinge, die ich darin sehe. Ich betrachte das eher aus der Perspektive des Alltags und praktischer Dinge, der Gesundheit und so, wie beispielsweise auch mit der Ernährung. […] All diese Dinge basieren darauf, dass es gesund ist für das Leben, auf dieser Grundlage sind sie entstanden. Und sie wurden deshalb so festgehalten, damit die Menschen sich an sie halten.«
Er habe, so führte er weiter aus, nicht nur den praktischen und nützlichen Sinn, son‑ dern auch einen höheren Wert hinter den jüdischen Traditionen für sich erkannt. Auch deshalb sind sie ihm so wichtig und mit positiven Gefühlen verbunden:
»New Jewish Identities«? Perspektiven auf individuelle Lebens- und Erfahrungswelten | 353 »Denn auch dieses System, Schabbat beispielsweise, Freitag, Samstag, die Familie soll zusammen sein, das ist eine super Sache in der heutigen schnelllebigen Zeit der Konsumgesellschaft. Das ist ein großar‑ tiger Wert. Und ich denke wiederum nicht, dass man das beispielsweise machen muss, weil es von oben so bestimmt ist, sondern damit man zumindest einen Tag, oder einen Abend und einen Tag, von Abend zu Abend, zusammen ist. Ich sehe darin eher diese Dinge, solche Werte.«
Leons Einstellung zu und Gefühl für bestimmte, von ihm gelebte jüdische Traditio‑ nen passen in seinen Lebensentwurf und zu seiner Identitätskonstruktion. Dies be‑ stätigte er auch, indem er wieder von seinem geringen Wissen auf dem Gebiet der Religion sprach: »Leider weiß ich nichts über … diese Dinge wie die Entstehung der Welt, wie viele Götter es gibt und ob es überhaupt einen gibt, und welche Religion und all diese Konflikte. Und ich kenne mich darin nicht aus. Warum es so viele gibt, einen Gott und warum so viele Religionen, das sind solche Dinge, die ich als Öko‑ nom nicht so gut vorhersagen und zusammenfassen kann, daher habe ich zu all dem so eine Einstellung.«
Mit seinem Beruf geht auch eine gewisse Pragmatik einher, das hatte Leon bereits zu Beginn unseres Interviews gesagt. Diese wirkt sich auch darauf aus, wie er einzelne Komponenten des Jüdischen in seinem Alltag stimmig für sich verknüpft und dabei die Religiosität außen vor lässt, da sie für ihn nicht in sein Lebenskonzept passt. Darü‑ ber wurde ihm und seinem Bruder während ihrer neutralen, atheistischen Erziehung auch nichts vermittelt. Tina Gyárfašová beobachtet dieses Wählen aus verschiedenen Aspekten des Jüdischen vor allem der dritten Generation aus einem »Rationalismus« heraus. Die Bräuche oder gelebten und neu belebten Traditionen würden, wie bei‑ spielsweise auch bei Leon, mit rationaler Logik argumentiert. Gyárfášová spricht hier auch vom Beispiel der koscheren Ernährung: »Ein häufiges Beispiel dieses Rationalis‑ mus ist das Wahren der Grundzüge der koscheren Ernährung (vor allem das Verbot, Fleisch und Milch zu mischen), aus der Perspektive gegenwärtiger Theorien gesunder Ernährung« (Gyárfášová 2008: 188 f.). Die familiäre Biografie und das erst spät entstandene familiäre Gedächtnis wer‑ den nun insbesondere zwischen Leon und Lena aufrechterhalten, und auch hier stellte er sich als die treibende Kraft dar: »Jetzt ist es so, dass auch Mama von sich aus in die Synagoge geht, wenn Feiertage sind. Aber davor war es so, dass ich gesagt habe: ›Komm, gehen wir!‹ Und sie ist mit mir gegangen. Und nicht ich mit ihr, sondern sie mit mir. Verstehst du?« Die Verbindung zwischen Mutter und Sohn hat durch die gemeinsame jüdische Abstammung eine positiv konnotierte Komponente gewonnen. Einerseits entstand für Lena und Leon durch die gemeinsame jüdische Abstammung und das zunehmen‑ de Thematisieren der Familienvergangenheit ein wertvoller Bestandteil ihrer Identitä‑ ten. Laut Angela Keppler, die sich »mit der erinnernden Kommunikation in heutigen Familien« beschäftigt, »[…] gilt: Ohne eine kontinuierliche Praxis der Erinnerung an die eigene Vergangenheit könnten Familien keine verläßliche Form ihrer eigenen Ge‑
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genwart sichern« (Keppler 2001: 137). Diese Form der Gegenwart konnte in Bezug auf das Jüdische erst nach 1989 in Leons Familie aktiviert und weiterhin belebt werden. Durch die Teilnahme an kulturellen Aktivitäten innerhalb der jüdischen Gemein‑ de wird die sowohl von Mutter als auch Sohn als traumatisch empfundene Famili‑ enbiografie und das fragmentarische Wissen um das Jüdische positiv ergänzt. Dabei spielt für beide auch das Zusammentreffen mit Freunden und Bekannten eine we‑ sentliche Rolle. Die im Gegensatz zu der Verfolgungsvergangenheit der Familie kaum thematisierte jüdische Religion und Kultur dringt über die Aktivitäten innerhalb der jüdischen Gemeinde(n), an denen beide getrennt und gemeinsam teilhaben sowie über ihre individuell ausgelebten Interessen wie etwa die Lektüre einschlägigier Lite‑ ratur oder auch Leons Ernährungsweise, allmählich als Bewusstsein für die jüdischen Wurzeln ans Licht. Dabei spielt für Leon der von der Mutter und Großmutter vorgelebte Umgang mit dem Jüdischen aber nach wie vor eine Rolle. Zwar wirken Ängste von Lena und deren Mutter in Leons identitäre Aushandlungsprozesse hinein, was sich beispielsweise am Vermeiden, laut über das Jüdische zu sprechen, äußerte. Doch zeigt sich an seinen Strategien und Bewertungsmustern, anhand derer er das Jüdische in den Alltag in‑ tegriert, dass er über die jüdischen Identitäten seiner Mutter und Großmutter hin‑ aus seine eigene anders für sich aushandelt und zu einem gewinnbringenden, positiv empfundenen Bestandteil seines Selbst konstruiert.
6.3.2 Ella 6.3.2.1 Tiefe Einblicke Ella wurde bereits in einigen Kapiteln alleine und in Verbindung mit ihrer Mutter Laura genannt. Sie und ihre Freundin Lisa waren in Košice die ersten Interviewpart‑ nerinnen aus der Generation der »Jungen«, die ich getroffen habe. Dabei war es purer Zufall, dass ich in einer NGO in Bratislava eine junge Frau kennenlernte, die mir den Kontakt zu Lisa vermittelte, da sie sich aus der Kindheit und dem Ferienlager Szarvas kannten. Lisa nahm Ella dann zu unserem Interview mit. Beide interviewte ich bald darauf auch gemeinsam mit ihren Müttern. Mit Ella und ihrer Mutter Laura freun‑ dete ich mich schnell an und verbrachte bei all meinen Forschungsaufenthalten in Košice viel Zeit mit ihnen. So erhielt ich tiefere Einblicke in ihre Lebenswelten und es baute sich auch schnell Vertrauen auf. Da ich Laura kein eigenes Porträt in dieser Arbeit widme, kommt sie hier bei ihrer Tochter Ella zu Wort. So lassen sich auch die Dynamiken des familiären Gedächtnis‑ ses und die Beziehung zwischen Mutter und Tochter besser nachvollziehen. Bei unserer ersten Begegnung saßen Ella, Lisa und ich in einem sehr belebten Café im Stadtzentrum. Wir bestellten Getränke, Eis und Kuchen und begannen ein zunächst etwas angespanntes, mit der Zeit aber immer lockerer werdendes Gespräch. Dass Lisa Ella mitgebracht hatte, schien den beiden Mädchen einerseits Sicherheit in einer ungewohnten Situation zu verschaffen, aber es hatte auch zur Folge, dass sich beide nur soweit öffneten, wie sie es vor der jeweils anderen vertreten konnten. So ist
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das Gesagte immer vor dem Hintergrund der Beziehung zwischen den Anwesenden zu interpretieren. Ebenso verhält es sich bei den Gesprächen, die ich mit Ella und ihrer Mutter gemeinsam führte.
6.3.2.2 Kindheit in den 1990er Jahren: »Also bei uns war das so normal« Ella erzählte mir, dass sie mit dem Wissen um ihre jüdische Abstammung aufgewach‑ sen ist. Beide Großmütter haben regelmäßig jüdische Traditionen ausgelebt: »Also sie haben alle beide den Samstag, den Freitag und den Samstag [Schabbat] eingehalten. Also sie waren noch so … und die größeren Feiertage sicher auch. Ich glaube, dass sie an Jom Kippur nicht ge‑ gessen haben und an den größeren Feiertagen. Aber wir haben uns wiederum nicht koscher ernährt …«
erklärte sie lachend. »Also so würde ich das sagen: Es gab kein Extrem, aber … bei‑ spielsweise hatten wir keinen Weihnachtsbaum.« Ella ist also von ihren Eltern, die beide Juden sind, nicht religiös erzogen worden, hält sich aber an einige Traditio‑ nen, wie das Fasten an Jom Kippur. »Da esse ich auch kein Brot. Aber sonst mache ich nichts Spezielles.« Ihre Mutter Laura erzählte, dass es in der heutigen Zeit nicht mehr so streng genommen werde: »Ja, meine Mutter hat immer noch morgens vor dem Frühstück und vor dem Schlafengehen gebetet, so wie es sich gehört. Also ich mache das nicht mehr so, ich würde sagen, dass ich nur ein paar Traditionen einhalte, aber ich denke nicht wirklich darüber nach. Das ist jetzt nur noch eine modernisierte Form davon.« Ella wurde in die Zeit hineingeboren, als die jüdische Gemeinde in Košice gerade zu neuem Leben erblühte. Damals ist sie in den jüdischen Kindergarten gegangen, es hat zahlreiche Angebote für die Kinder und deren Eltern gegeben. Als sie etwas grö‑ ßer wurde, ist sie auch von ihrem älteren Bruder zu den Treffen der jüdischen Jugend mitgenommen worden: »Ich habe einen älteren Bruder … und als er jünger war, hat das hier meiner Meinung nach wirklich funktioniert. Als er in meinem Alter war, gab es hier drei Gruppen für junge Leute. Manchmal hat er mich auch mitgenommen. Aber jetzt gibt es seitens der Jungen auch nicht so ein großes Interesse. Also auf der Ebene hat es aufgehört, weil vorher gab es jeden Sonntag Treffen, aber irgendwie hat das aufgehört … irgendwann.«
Ella und Lisa beschrieben beide, dass sie von ihren Eltern zu den verschiedenen Tref‑ fen und Veranstaltungen für jüdische Kinder mitgenommen wurden, doch mit der Zeit ist dieses Angebot der Gemeinde eingestellt worden. Als ihre Generation älter ge‑ worden ist und viele aufgrund der Ausbildung und der Arbeit ins Ausland gegangen sind, hat es nicht mehr viele junge Leute in Košice gegeben, die die Gruppen hätten aufrechterhalten können. Als Kinder sind sie auch regelmäßig jeden Sommer in das
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Ferienlager Szarvas41 nach Ungarn gefahren. Dort haben sie zwei Wochen lang mit jüdischen Kindern und Jugendlichen verschiedener Altersgruppen eine gute Zeit ver‑ bracht. Ella und Lisa schwärmten von ihren Erlebnissen dort. Mittlerweile seien sie jedoch zu alt dafür. Lisa würde nur noch selten an Veranstaltungen der jüdischen Ge‑ meinde teilnehmen, Ella hingegen sei aktiver: »In den letzten Jahren habe ich begon‑ nen, mich dafür zu interessieren. Und es hat mir gefallen, wie das in anderen Ländern und anderen Städten in den Gemeinden funktioniert. Nicht so wie … hier.« Damit sprach Ella die Situation der Košicer jüdischen Gemeinde an, die jungen Leuten wie ihr gegenwärtig nichts biete. Sie hat auf ihren Reisen durch Europa bereits einige jü‑ dische Gemeinden besucht und dort beobachtet, wie jüdisches aktives Leben aussieht. Da in Košice das Gegenteil der Fall ist, hat sie für sich andere Wege gefunden, ihre In‑ teressen am Jüdischen auszuleben. »Weil ich nehme auch an israelischen Tänzen teil, ich weiß nicht, ob du das kennst. Das ist so ein Seminar für israelischen Tanz. Weil in Szarvas haben mir die Tänze so gefallen, und für das Tanz-Seminar fahre ich immer für vier bis fünf Tage nach Tschechien.« In Prag kennt sie viele Leute und weiß, dass sich Schüler der Lauder-Schule42 jede Woche für zwei Stunden treffen, tanzen und dann gemeinsam noch etwas trinken gehen. Und wenn jemand Geburtstag hat, wird gemeinsam mit der ganzen Gemeinde gefeiert. »Aber hier würde ich sagen ist … hier gibt es nicht so ein … Feedback.« Daher sei ein aktives Leben innerhalb aller Genera‑ tionen in Košice nicht vorstellbar. Wie sehr sie das bedauerte, wurde unter anderem auch deutlich, als wir einmal zu Beginn meiner Forschung abends ausgingen und Ella plötzlich sagte, sie spüre ihre jüdischen Wurzeln und würde sie gerne aktiver beleben, doch dazu habe sie in Košice keine Möglichkeit. Daher denkt sie, dass sie, um ein jü‑ disches Leben zu führen, weggehen müsste. Die Diskrepanz zwischen dem jüdischen Leben in ihrer Heimatstadt und in anderen Städten, die sie bei ihren zahlreichen Rei‑ sen habe beobachten können, bestärke sie umso mehr in ihrem Denken. Zu Silvester ist sie beispielsweise im Rahmen einer organisierten Fahrt der slowa‑ kischen Union der jüdischen Jugend (SUŽM) in Italien gewesen. Sie haben die Zeit dort mit jungen Juden einer lokalen Gemeinde verbracht, sind tagsüber Ski gefahren, abends hat es ein gemeinsames Programm mit Disko, Vorträgen, Hebräisch-Kursen, Tanz, aber auch Gebeten gegeben. Ella hat die anderen beobachtet und miterlebt, wie jüdisches Leben innerhalb einer Gemeinschaft funktionieren kann: »Sie haben damit gelebt, ich habe das an ihnen gesehen, dass … so wie du dir das vorstellst, dass sie mit der Religion gelebt haben. Und auf der einen Seite waren da ganz normale junge Leute, aber auf der anderen, als dieser Freitag [Schabbat] war, kamen alle zusammen und haben gebetet. Und ich sage ja, da 41 | Peter Salner schreibt über das Ferienlager, dass in manchen Jahren die Teilnehmerzahlen der slowa‑ kischen Kinder und Jugendlichen in Szarvas am höchsten waren (vgl. ebd. 2013: 78). 42 | Die Lauder-Schule ist eine von der jüdischen Gemeinde in Prag geführte Bildungseinrichtung mit Kindergarten und einer Gesamtschule, die man 13 Jahre besuchen kann. Diese Schule kann auch von nicht-jüdischen Kindern besucht werden und wird von der Ronald S. Lauder-Foundation unterstützt (vgl. Lauder-Schule Prag; Ronald S. Lauder Foundation).
»New Jewish Identities«? Perspektiven auf individuelle Lebens- und Erfahrungswelten | 357 waren welche, die alles [Religiöse] auch unter der Woche eingehalten haben, die selbstverständlich auch koscher gegessen haben und alles. Es waren solche da, die jeden Morgen gebetet haben, weil man sollte jeden Morgen beten, und vor allem hat sich da niemand geschämt, es war kein Problem. Es ist ja nicht so, als ob man dazu gezwungen wird. Diese Leute leben damit. Und es war so ein fantastischer Rabbiner da, aus Mailand.«
Ella schwärmte geradezu, während sie mir die Zeit in Italien schilderte. Insbesondere bewunderte sie, wie andere junge Menschen ihre jüdische Abstammung auslebten. Das sei in Košice – zumindest gegenwärtig – nicht möglich, was Ella bedauerte: »Hier ist vielleicht eine Gemeinde. Aber meiner Meinung nach macht einen Teil hier die Generation der Ältesten aus, die nach und nach ausstirbt. Und dann ist hier noch die mittlere Generation, die … keine Ahnung.« Für die junge Generation gibt es kei‑ ne Angebote, doch Ella besucht gemeinsam mit ihrer Mutter Laura Veranstaltungen wie Konzerte, die Chanukka-Feier der Gemeinde, sofern es eine gibt, oder auch die Holocaust-Gedenktage auf dem jüdischen Friedhof. Laura ist Mitglied bei ESTER, dem Verein jüdischer Frauen, doch auch der ist nicht mehr so aktiv wie vor eini‑ gen Jahren. Dabei sind sich Mutter und Tochter einig, dass die Menschen teilnehmen würden, wenn es entsprechende Angebote gäbe: »Ich sage dir, wenn es ein Programm gibt, würde jeder kommen. Jedes Programm, von dem wir erfahren, absolvieren wir.« Tatsächlich haben sowohl Ella als auch Laura Netzwerke, innerhalb derer sie am jüdi‑ schen Leben teilhaben können. Ella steht in Kontakt zu Rabbiner Zev Stiefel, der im westslowakischen Piešťany lebt und sich unter anderem um die israelischen Studen‑ tInnen in Košice kümmert. Er veranstaltet anlässlich religiöser Feiertage regelmäßig festliche Treffen wie beispielsweise ein Pessach-Abendessen oder die Purim-Party für sie. Dabei bedient er zum einen den religiösen Teil mit Gebeten, da die StudentInnen jedoch zum Großteil nicht religiös sind, steht das Feiern für sie im Vordergrund – so zumindest an Purim, als ich auch dabei war (vgl. Kapitel 1.3). Über Facebook und E‑Mail-Verteiler wird Ella informiert, wenn etwas stattfindet und nimmt immer teil, wenn sie in Košice ist. Diese Netzwerke nutzt sie auch, wenn sie in anderen Ländern unterwegs ist, um Anschluss an jüdische Gruppen und Gemeinden zu finden und an ihren Aktivitäten teilhaben zu können oder einfach Kontakt zu ihnen zu halten. Ihre Mutter Laura nutzt auch das Internet, um sich beispielsweise mit denjeni‑ gen auszutauschen, die während des Sozialismus aus der Tschechoslowakei emigriert sind. Viele von ihnen kennt sie seit ihrer Kindheit und so kann sie Kontakt zu ih‑ nen halten. Jedes Jahr findet auch ein großes, mehrtägiges Treffen statt. Ella erklärte begeistert: »Und das ist für meine Mutter so super, dass sie ihre Bekannten treffen kann.« Hier wird der soziale Aspekt deutlich, der sowohl für Laura als auch für Ella bei diesen Aktivitäten im Vordergrund steht. Laura wünschte sich, dass es auch für ihre Generation regelmäßig Angebote gebe: »Also dass einmal alle paar Wochen oder einmal im Monat mit einer gewissen Regelmäßigkeit Treffen stattfinden und auch in dem Fall, wenn Feiertage sind.« In Košice kann man Verschiedenes unternehmen, schließlich ist es auch zur Kulturhauptstadt ernannt worden, wie Ella betonte. »Ge‑ meinsame Wochenenden, Grillen, ins Theater gehen, Vorträge über Bücher, Filme,
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in Ausstellungen oder in die Philharmonie gehen. Es gibt genug, was man machen könnte.« Ella und ihre Mutter haben beide die »Renaissance« des jüdischen Lebens in Košice erlebt, aber auch, wie die einst zahlreichen Angebote für jede Altersgruppe, insbesondere für die der jungen und jüngsten, wieder abnahmen und gänzlich ver‑ ebbten (vgl. Kapitel 4.2.1). Doch beide Frauen verspüren Bedarf, ihre jüdischen Iden‑ titäten aktiv zu beleben und stillen diese Bedürfnisse auch außerhalb der lokalen jü‑ dischen Gemeinde durch diverse virtuelle und transnationale Netzwerke, über die sie sich sowohl informieren als auch austauschen. Diese Netzwerke ermöglichen ihnen die Teilhabe an jüdischen kulturellen Veranstaltungen, jedoch vor allem, sich als Teil der Gemeinschaft zu fühlen, denn »[d]ie Verwirklichung von Identitätsprojekten braucht immer soziale Unterstützung. Zugespitzt formu‑ liert bedeutet das: Ohne sozialen gibt es keinen psychischen Zusammenhang. Dieser soziale Zusammen‑ hang liegt nicht nur auf der Interaktionsebene. Beziehungen basieren wesentlich auf geteilten Werten und gemeinsam angestrebten Zielen. Insofern sind soziale Netzwerke immer auch als Konkretisierung kultureller Einbettung aufzufassen.« (Keupp et al. 2002: 187)
Für Ella gewann dies eine besondere Dimension, als sie über das Projekt Taglit-Bir‑ thright nach Israel reisen konnte. Zwar ist sie bereits auf Familienbesuch dort gewe‑ sen, doch ihre Begeisterung war nach ihrem Birthright-Trip so groß, dass sie sich als Mentorin engagieren und wieder mitfahren wollte.43 Außer diesen Interessen an der jüdischen Kultur und den sozialen Netzwerken verbinden Mutter und Tochter noch mehr Elemente ihrer jüdischen Identitäten, die vor allem im Zusammenhang mit dem familiären Gedächtnis stehen.
6.3.2.3 Familiengedächtnis: Traumata und Traditionen Einen wichtigen Faktor ihrer jüdischen Identität bildet das Familiengedächtnis und dessen Aufrechterhaltung durch Ella und Laura. Der Feiertag Jom Kippur war eine der Gelegenheiten, bei denen ich ihren Umgang mit den jüdischen Traditionen beob‑ achten konnte: Ella und Laura haben mich eingeladen, das Wochenende mit ihnen zu verbringen. Es ist nicht irgendein Wochenende, sondern das von Jom Kippur, dem höchsten Feiertag im jüdischen Kalender. Noch dazu fällt
43 | Der Website der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland ist über den Birthright-Trip zu entnehmen: »Ziel von Taglit-Birthright Israel ist es, der Assimilation entgegenzuwirken, indem man junge Juden ihrer jüdischen Identität, dem Staate Israel und ihren örtlichen Jüdischen Gemeinden näherbringt. Das Projekt Taglit-Birthright Israel beruht auf der Idee, dass jeder junge jüdische Erwachsene zwischen 18 und 26 Jahren das Geburtsrecht hat, wenigstens einmal in seinem Leben Israel zu besuchen. Diese Studienreise ist ein Geschenk des jüdischen Volkes an die junge Generation und daher für die Teilnehmer kostenlos« (ZWST – Taglit). Vgl. auch die Website von Taglit-Birthright Israel.
»New Jewish Identities«? Perspektiven auf individuelle Lebens- und Erfahrungswelten | 359 er in diesem Jahr auf den Schabbat, also einen Freitag und Samstag, so dass er »noch besonderer ist als ohnehin schon«, wie mir verschiedene Leute aus der jüdischen Gemeinde vorab versichert hatten. Als ich am frühen Freitagabend bei Ella und Laura ankomme, sind beide feierlich gestimmt. Im Wohn‑ zimmer ist der Tisch mit einer weißen Tischdecke und feinen Tellern und Gläsern gedeckt, eine Flasche Wein, ein mit einem Tuch bedeckter Brotkorb und ein Kerzenständer mit zwei weißen Kerzen stehen da. Ella bringt den Flaschenöffner. Laura begibt sich ans Tischende, nachdem Ella und ich Platz genommen haben. Sie zündet die Kerzen vor sich an, breitet ihre Arme über ihnen aus und bewegt sie dreimal kreis‑ förmig über den Flammen. Dann bedeckt sie ihre Augen mit den Händen und spricht auf hebräisch die »Brachá für das Lichteranzünden«: »Gelobt seist Du, Herr unser Gott, König der Welt, der Du uns geheiligt durch Deine Gebote und uns befohlen hast, das Schabbatlicht anzuzünden« (Ydit 1984: 55). Dann segnet sie das Brot, das auf dem Tisch steht, und gibt uns anschließend ein Stück davon mit Honig. Damit wünscht sie uns ein »süßes neues Jahr«. Erst, wenn das Brot gesegnet sei, dürfe man es essen, das habe auch die Großmutter jeden Freitag so gemacht, erklärte Ella. Als Hauptgang gibt es Hähnchen mit Gemüse und Kartoffeln. Dazu trinken wir den koscheren Rotwein, den Laura extra in der Gemeinde besorgt hat. Nach dem Abendessen gehen wir gemeinsam zum Gottesdienst in die Synagoge, die anlässlich des Feiertags gut besucht ist. Nach dem Gottesdienst unterhalten sich Ella und Laura mit ihren Bekannten, bis wir nach Hause gehen. Am nächsten Tag fasten beide bis zum Sonnenuntergang, das machen sie jedes Jahr so. Mittags begleite ich Laura zu dem Gedenkgottesdienst für die Verstorbenen in die Synagoge. Kaum dass wir dort angekommen sind, schickt Laura mich mit den Worten: »Du solltest jetzt lieber kurz draußen warten, bis der Maskir vorbei ist, deine Eltern leben doch noch« schon wieder hinaus. Als ich eine Viertelstunde später wieder hineingehe und neben Laura Platz nehme, sehe ich, dass sie Tränen in den Augen hat. (Eintrag aus dem Feldtagebuch vom 17. und 18. September 2010)
Familientraditionen sind sowohl Laura als auch Ella sehr wichtig. Dies unter anderem auch, weil sie durch ihre Bewahrung die Erinnerung an die Großmutter aufrechter‑ halten und bei jedem dieser Akte ihrer gedenken und sich ihrer gemeinsamen jüdi‑ schen Abstammung vergewissern. Diese gewinnt beim Besuch der Synagoge und der Verbindung ihrer Erinnerungen, die damit einhergehen, auch eine kollektive Dimen‑ sion (vgl. Assmann 2006a: 217 f.; Kapitel 5.1.3). Sandra Konrad stellte fest, dass die wiederhergestellte Generationenfolge – wie auch in Ellas Familie – eine heilende Wirkung auf alle Generationen habe: »Den Überlebenden wurde durch ihre Kinder und Enkelkinder wieder die Gewissheit einer familiären Zu‑ kunft und Vollständigkeit ermöglicht; die Angehörigen der zweiten und dritten Generation haben durch ihre eigenen Familiengründungen darüber hinaus auch den wichtigsten Auftrag ihrer Vorfahren erfüllt, der zu ihrem eigenen wertvollen Vermächtnis wurde. Den meisten Frauen der Untersuchung ist es wichtig, ihre eigenen familiären, kulturellen und traditionellen Erfahrungen auch an ihre Kinder weiterzugeben, d. h. in der Mehrzahl der Fälle die Kinder auch mit den jüdischen Traditionen zu erziehen. Die Möglichkeit, etwas aus der eigenen Kindheit bzw. dem eigenen Leben weiterzugeben, wird von den Nachkommen der Überlebenden hochgeschätzt. In Familien, die durch den Holocaust viele Verluste erlitten und neben Familienmitgliedern auch materielle und ideelle Werte verloren, wird das eigene Erbe zu einem bewusst wertgeschätzten Gut.« (Ebd. 2007: 416, Abk. i. O.)
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Konrad hebt jedoch auch die besondere Rolle von Frauen bei der transgenerationalen Traumatradierung hervor, die auch auf Laura und ihre Mutter zutreffen könnten: »Die Relevanz des in dieser Arbeit auf weibliche Holocaust-Überlebende und deren weibliche Nachkom‑ men gerichteten Fokus erklärt und bestätigt sich unter anderem durch hier aufgeführte Untersuchungen über weibliche Sozialisationseffekte: Als Töchter sind sie sensibler und vulnerabler für Trauma-Tradie‑ rungen und in ihrer Rolle als Mutter und damit als erste und wichtige Bezugsperson maßgeblich für die Weitergabe von Traumatisierungen.« (Ebd. 2007: 78)
Bei unserem ersten Gespräch erklärte mir Laura, dass ihre Mutter von insgesamt acht Personen in der Familie als einzige den Holocaust überlebt hat. Sie wurde nach Aus‑ chwitz deportiert und hat insbesondere über die Zeit im »Lager« nie gesprochen: »Meine Mutter44 hat sich nicht gerne an diese Zeit erinnert. Sie hat so gelebt, dass ich mich gut fühle. Sie hat immer alles dafür getan. Sie hat sich darum gekümmert, dass ich alles habe, hat eingekauft, ist mit mir zu allen möglichen Aktivitäten gegangen, in den Urlaub gefahren und ich hatte nie das Gefühl, dass mir etwas fehlt.«
Laura hatte als Einzelkind eine sehr enge Bindung zu ihrer alleinerziehenden Mutter. Ihr Vater ist ebenfalls ein Holocaustüberlebender gewesen und eines plötzlichen To‑ des gestorben, als Laura noch ein Kleinkind war. »Ich war noch keine zwei Jahre alt, da hat sich mein Vater abends hingelegt und am Morgen war er schon tot. Ja. Ist doch klar, dass es das Herz war, weil das hatte jeder, der von dort [aus dem Konzentrati‑ onslager] zurückkam.« Diese Aussage steht exemplarisch für die Vorstellungen, die Laura über Konzentrationslager und deren Folgen für Überlebende hat. Die Großmutter hat bis zu ihrem Tod mit Laura und Ella zusammen gewohnt. Ella beschrieb sie mir als eine sehr feine alte Dame, die viel Humor gehabt hat und sich beispielsweise auch im hohen Alter aus Spaß von Ella die Fingernägel lackieren ließ. Laura erzählte: »Meine Mutter hatte eine Schwester und deren erstes Kind ist an Scharlach gestorben, weil man das damals noch nicht heilen konnte. Das war noch vor dem Konzentrationslager. Also ist es da auf dem Fried‑ hof. Die Schwester und auch ihr zweites Söhnchen und ihr Mann und die ganze Familie sind in Auschwitz geblieben. Meine Mutter ist noch dorthin [auf den Friedhof] gegangen, also weiß ich, wo das [Grab] ist und ich gehe dahin. Wir sind jetzt schon die Letzten, nach uns kommt niemand mehr.«
Laura hat die Familientraditionen im Sinne ihrer Mutter weiter aufrechterhalten, wie ich beispielsweise an den hohen Feiertagen im Herbst miterleben konnte. Zu Purim im Frühjahr, dem »fröhlichsten jüdischen Fest«, hat sie traditionelles Gebäck, »Ham‑ 44 | Laura sprach stets in einer verniedlichten, besonders liebevollen Form (»mamička«) von ihrer Mutter, die im Deutschen mit »Mamilein« übersetzt werden könnte. Da es hier irritierend wirkt, wird im Folgen‑ den von »Mutter« die Rede sein.
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ans Ohren«, gebacken und Ella und mir nach der durchfeierten Nacht ein reichhal‑ tiges, »typisch jüdisches« Frühstück zubereitet.45 Sie bewahrt auch die Erinnerung an ihre verstorbene Mutter und die im Holocaust ermordeten Familienmitglieder, wenn sie ihrer, wie beispielsweise oben beschrieben, bei den Gottesdiensten wie an Jom Kippur, gedenkt. Ella besucht ebenfalls regelmäßig die Synagoge mit ihrer Mut‑ ter und pflegt mit ihr zu Hause die von der Großmutter übernommenen Traditionen. Doch über den Holocaust hat die Großmutter auch mit ihr nie gesprochen: »Ich habe sie nie danach gefragt, ich habe es immer so gehandhabt, dass sie mir sagen konnte, was sie will und was sie braucht. Aber vom Krieg hat sie mir konkret nichts erzählt, glaube ich. Nur sowas, dass sie gesagt hat: Aus einem Becher dieser Art haben wir gegessen, beispielsweise. Aber sie hat mir nie von den schlechten Seiten erzählt. Eher davon, was vor dem Krieg war. Oder sie hat sich an ihre Geschwister erinnert, weil sie die Jüngste war. Und dann vor allem am Ende, als sie schon im Sterben lag, hat sie sehr liebevoll an ihre Geschwister gedacht, da hat sie sich die ganze Zeit noch einmal an sie erinnert.«
Ella erzählte, dass ihre Großmutter an einem Oral-History-Projekt teilgenommen und ein Zeitzeugenvideo hat aufnehmen lassen. Dieses hat sie selbst nie gesehen, Laura allerdings schon, als sie einmal alleine zu Hause und die Großmutter schon tot war. Damals hat sie Ella weinend angerufen und ihr gesagt, dass sie von all die‑ sen Dingen zum ersten Mal gehört habe. Ella hat sich damals große Sorgen um die Mutter gemacht und sie geschimpft, da sie sich »so etwas doch nicht alleine ansehen kann«. Wie sich im Laufe der Zeit und unserer vielen Begegnungen herausstellte, hinterließ das Schweigen der Großmutter sowohl bei Laura als auch bei Ella seine Spuren. Gabriele Rosenthal sieht die Ursachen dafür, dass Überlebende wie Ellas Großmutter nicht über ihre Erlebnisse sprechen wollten, auch darin, dass sie ihre Familie schützen wollten: »Eine Großmutter beispielsweise, die das Ghetto und das Vernichtungslager überlebt hat, leugnet im Unterschied zu den Tätern und auch Mitläufern ihre Vergangenheit als Verfolgte nicht. Wenn sie darüber nicht spricht, dann u. a. deshalb, weil sie ihre Kinder und Enkel vor all den Tag- und Nachtträumen, von de‑ nen sie selbst verfolgt wird, schützen will. Überlebende wollen mit ihrem Schweigen den Kindern Belas‑ tungen ersparen und sich anderen mit ihren schmerzhaften Erlebnissen nicht zumuten.« (Ebd. 1997a: 19).
Auf der anderen Seite möchten »Kinder und Enkel von Überlebenden […] sich ihre Eltern und Großeltern nicht in Situationen vorstellen, in denen versucht wurde, ihnen die menschliche Würde zu nehmen und in denen sie hilflos die Demü‑ tigungen und die Ermordung anderer Menschen, wie ihrer Eltern, Geschwister oder auch ihrer Kinder, erdulden mußten. Sie wehren die Wahrnehmung und das Wissen über das Erlittene der Großeltern oder
45 | Das Frühstück bestand unter anderem aus den traditionellen, ungesäuerten Matzen, die Laura mit Eiern in der Pfanne röstete.
362 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 Eltern auch deshalb ab, weil sie sich schuldig fühlen, ihnen dieses Leiden nicht abnehmen zu können oder weil sie selbst dies nicht zu erleiden hatten.« (Rosenthal 1997a: 19 f.)
Diese Verhaltensmuster können auch auf Ella und ihre Familie zutreffen. Laura hat also erst nachdem ihre Mutter gestorben war und keine Kontrolle mehr über das Schweigen in der Familie hatte, selbst entschieden, dass sie vom Schicksal ihrer Mut‑ ter während des Holocaust erfahren wollte. Laut der Psychoanalytikerin Ilany Kogan ist es »[d]ie Konstruktion eines vollständigen Berichts – eines, der die Lücken im Wissen des Kindes füllt, der es erlaubt, auszusprechen, was unaussprechlich war, der das Wissen um Vergangenheit und Gegenwart mit der Wirklichkeit und dem Schrecken des Holocaust verwebt – dieser vollständige Bericht erlaubt dem Kind des Überlebenden, sich schrittweise mit dem auszusöhnen, was mit nicht zugelassenen Ängsten und Affekten abgespalten war.« (Ebd. 2009: 121)
Laura hat diesen Schritt gewagt, Ella hingegen noch nicht. Laura, die den Sozialis‑ mus miterlebt hatte, konnte sich nicht an Schwierigkeiten erinnern, die sie oder ihre Mutter aufgrund ihrer Abstammung gehabt hätten. »Meine Mutter hat in einem Kol‑ lektiv gearbeitet, wo sonst keine Juden waren. Und immer, wenn Feiertage waren, hat sie sich freigenommen und gesagt, ›ich gehe‹, und sie haben sie gelassen. Es hat nie irgendeinen Kommentar gegeben.« An Ella gewandt fragte sie: »Stimmt doch, oder? Wir haben keine schlechten Erfahrungen gemacht. Und genauso haben sie es in der Schule gewusst.« Ella hat auch keine Probleme aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln ge‑ habt, allerdings schilderte sie einige Situationen, in denen ihre Vorbehalte vor einem offenen Umgang mit ihrer Abstammung deutlich wurden. Sie würde beispielsweise ihre Kette mit Davidstern nie in der Öffentlichkeit tragen, wie andere Leute Ketten mit Kreuzanhänger. »Ich habe beispielsweise auch so einen [Anhänger] bekommen, aber ich würde ihn nie tragen.« Für Christen sei es etwas völlig anderes, eine solche Kette zu tragen, als für sie, einen Davidstern. Ella erklärte das so: »Ich hatte eine Mitschülerin auf der Grundschule und damals habe ich mich damit … also … ich wollte noch nicht, dass die anderen wissen, dass ich Jüdin bin. Ich habe eine Tante in Israel und die hat mir manchmal T‑Shirts und Kleider geschickt, da stand etwas auf Hebräisch drauf. Also ich wollte das nicht in der Schule tragen, weil ich mir gesagt habe, dass die anderen es nicht wissen sollen und so. Und für sie [die Mitschülerin] war das … sie war im Urlaub in Israel, hat sich ein Shirt gekauft und es normal getra‑ gen. Weil … weil es für sie nicht komisch war, dass … Weil es ist so: Im Inneren hast du diese Angst … oder … du denkst, die anderen haben dir gegenüber Vorurteile. Ich kann das nicht anders erklären.«
Ellas Erzählfluss stockte merklich in ihren Ausführungen über diese für sie schwie‑ rige Situation. »Weil sie hat es eigentlich so … als würdest du nach Griechenland fahren und dir dort ein T‑Shirt kaufen, dann trägst du es ganz normal. Weil du im Urlaub warst und zeigen kannst: ich war da. Also war es für sie
»New Jewish Identities«? Perspektiven auf individuelle Lebens- und Erfahrungswelten | 363 [die Mitschülerin] so, weil sie in Israel war. Ich hatte es, weil meine Tante es mir geschickt hat, weil wir auch dort im Urlaub waren. Aber ich habe mir gedacht, jetzt werden es alle über mich wissen.«
Ella scheute sich, Symbole zu tragen, die auf ihre jüdische Abstammung hinweisen könnten. Zwar sagte Laura, sie selbst habe nie negative Erfahrungen aufgrund ihrer jüdischen Abstammung gemacht, doch ihre Bemerkung »Man redet nur in der [jüdi‑ schen] Gemeinschaft darüber, weil die Menschen hier meist der Ansicht sind, dass so‑ wieso viele von uns überlebt haben und man auch noch mehr hätte vergasen können«, lässt darauf schließen, dass auch sie misstrauisch ist. Ihre besorgte Haltung äußerte sich auch in ihren Bedenken nicht-jüdischen Part‑ nern gegenüber. Lauras Mutter hat in Bezug auf ihre jüdische Abstammung stets ge‑ sagt: »Man sollte sich damit nicht rühmen, aber verheimlichen darfst du das auch nicht.« Laura fuhr fort: »Weißt du, man sollte das gleich sagen und genauso habe ich das meiner Tochter gesagt, wenn sie mit Jungs und so weiter … dann soll sie das gleich am Anfang sagen, weil es kann ja sein, dass es jemandem nicht passt. Damit du dann nicht enttäuscht bist.« Ella hatte mir bei unserem ersten Treffen erzählt, dass sie sich hinsichtlich der Partnerwahl auch Gedanken macht: »Ich habe immer stärker das Ge‑ fühl, dass mir immer mehr bewusst wird, dass wenn ich einen Partner hätte, der nicht jüdisch ist, dann wäre da immer so ein … Problem, ja, oder ich weiß nicht, es gäbe einen Streit und er sagt: ›Aber du bist eine Jüdin‹.« Ellas Sorge ging dahin, dass sie ein nicht-jüdischer Partner irgendwann einmal aufgrund ihrer jüdischen Abstammung beleidigen könnte. Während meiner Forschung ging sie eine Beziehung zu einem jun‑ gen Mann ein, dessen Familie zwar katholisch, er selbst aber Atheist war. Ella erzählte mir, dass er sehr gut reagiert hätte, nachdem sie ihm gesagt hatte, sie sei Jüdin. Doch sprach sie mir gegenüber immer wieder davon, dass es den Anschein habe, ihrer Mut‑ ter passe es nicht, dass er kein Jude sei. Sie vermutete andererseits auch, dass seine Eltern ein Problem mit ihr hätten. Diese Sorgen sagen viel darüber aus, welche Vorstellungen und Ängste auch in‑ nerfamiliär tradiert wurden. Bei dem gemeinsamen Interview mit Lisa reagierte Ella empfindlich, als diese erzählte, ihre Beziehung zu einem Nicht-Juden verlaufe absolut problemlos: »Ja klar, aber dir ist das doch auch völlig egal, du hast an Weihnachten auch einen Christbaum!« Diese Situation zeigte, dass Ella im Gegensatz zu Lisa mehr Wert auf die jüdischen Traditionen legte und sich damit bewusst von ihr differen‑ zierte, sich aber auch mit den mit möglichen »Gefahren« einer »Misch-Beziehung« auseinandersetzte. Tina Gyárfášová fand dementsprechend heraus, dass »auch die Angst vor Intoleranz zur Wahl eines jüdischen Partners führen [kann]. Diese scheint insbesondere in den älteren Generationen stark zu sein« (ebd. 2008: 185). Obwohl Ella die Generation der »Jungen« vertritt, sind diese Sorgen bei ihr ausgeprägt. Zwar gab sich Ella mir gegenüber die meiste Zeit über stolz und selbstbewusst, was ihre jüdische Identität betraf, doch bei meinem zweiten Forschungsaufenthalt offenbarte sie mir ihre Ängste auf eindrücklichere Weise. Ella war meist gut darüber informiert, womit ich mich gerade beschäftigte. So erzählte ich ihr an einem Abend, als wir in einem Lokal zusammensaßen, dass ich mich gerade mit dem materiellen
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kulturellen Erbe der jüdischen Gemeinde in der Stadt auseinandersetze und mehr über die Synagogen herausfinden wolle. Daraufhin sagte sie mir, dass sie sich Gedan‑ ken darüber gemacht habe und sich frage, warum mir die Menschen darüber Aus‑ kunft geben sollten? Denn wenn man in meiner Doktorarbeit nachlesen könne, dass die Juden in Košice diverse Besitztümer und Immobilien hätten, könnte wie »damals« einer »durchdrehen« und der wisse dann ganz genau, wohin er kommen müsse und wo seine Ziele seien. Während ich fassungslos da saß und mich an meinem Bier fest‑ hielt, erläuterte Ella weiterhin, dass jeder in ihrem Wohnblock wisse, dass sie eine jüdische Familie sind. Sie wisse nicht woher, doch man wisse hier einfach, wenn die Leute jüdisch sind. Und es könne jederzeit wieder so ein Verrückter die gleichen Ge‑ danken haben wie »damals« und heute gebe es eine viel bessere Technik, bessere Waf‑ fen, das Internet, mit dem man seine Ziele besser erreichen könne. Aus Ella sprach Angst, aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln verfolgt zu werden. So auch die Aussage: »Du schreibst das doch für die Deutschen, oder?« Dies stand im totalen Kontrast zu ihrer Offenheit mir gegenüber, da sie mich an vielen sehr persönlichen Details ihres Lebens teilhaben ließ. An diesem Abend gelang es mir halbwegs, Ella zu beruhigen, doch ich selbst verzweifelte aufgrund ihrer Aussagen immer mehr. Denn offensicht‑ lich stellte meine Forschung für eine Akteurin in meinem Feld eine Bedrohung dar. Erst einige Zeit, nachdem ich das Feld wieder verlassen hatte, ließ sich diese schwieri‑ ge Situation für mich allmählich lösen. Mit der nötigen zeitlichen und geografischen Distanz wurde mir klar, dass Ellas Ängste in unmittelbarem Zusammenhang mit der Großmutter und deren nie direkt verbalisierten Erlebnissen des Holocaust standen. Dabei spielt auch die große räumliche und emotionale Nähe eine Rolle, da Ella, Lau‑ ra und die Großmutter Tür an Tür gelebt hatten. So verging auch kein Treffen mit den beiden, ohne dass die Großmutter auf irgendeine Weise erwähnt worden wäre. Bei jeder Erinnerung wurden jedoch nicht nur die positiven Bilder aktiviert, sondern auch die Tatsache, dass die Großmutter in Auschwitz gewesen ist. Durch das von der Großmutter Nicht-Gesagte haben sich bei Ella, so wie bei Dominic (vgl. Kapitel 6.3.3), Phantasien darüber ausgebildet, was ihr und den Verwandten im Konzentrationsla‑ ger zugestoßen sein könnte (vgl. Rosenthal 1997a: 22 f.). Diese Phantasien begleiten Ellas Erinnerungen an ihre Großmutter und die nonverbal tradierten Traumata ver‑ stärken Ellas gegenwärtige Ängste. Wie mir Ella bei einem unserer letzten Treffen erklärte, sei auch der Rechtsextremist Marian Kotleba (vgl. Kapitel 4.1.4; vgl. Mayer/ Odenahl 2010: 169 ff.) der Grund für ihre Angst, dass sich der Rassismus auch wieder gegen die Juden im Land wenden werde. Sandra Konrad stellte in ihrer Studie fest: »Auch bei der Mehrzahl der Frauen der zweiten und dritten Generation ist eine Beeinträchtigung des Sicherheitsgefühls zu beobachten, ungeachtet ihres Lebensortes. Eine erneute Judenverfolgung scheint einerseits in ihren Augen unrealistisch und ist andererseits doch Teil der familiären Erfahrung, die dem Aufbau eines echten und tiefen Sicherheitsgefühls im Wege steht.« (Ebd. 2007: 405)
Bei Ella verbinden sich die Erinnerungen an die Großmutter und die von ihr über‑ nommenen und gemeinsam mit der Mutter aufrechterhaltenen Elemente der jüdi‑
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schen Traditionen in ihrer aus dem familiären Gedächtnis heraus gespeisten jüdi‑ schen Identität. Dabei spielt auch ihre Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinde eine wesentliche Rolle, die sie insbesondere in ihrer Kindheit positiv geprägt hat und die sie jetzt durch die oben genannten Netzwerke kompensiert. Hinzu kommen jedoch auch die Ängste, die durch die nonverbal tradierten Traumata der Großmutter ent‑ standen sind und durch gegenwärtige, als Bedrohung empfundene Faktoren in ihrem Leben aktiviert werden (vgl. Gážovičová 2011: 124).
6.3.2.4 » Die Leute schämen sich nicht dafür, aber sie geben damit auch nicht an« So beschrieb Ella die von ihr in Košice wahrgenommene öffentliche Haltung der Menschen zu ihren jüdischen Wurzeln. Wie bereits Laura, wiederholte Ella hier auch die Worte ihrer Großmutter, die sie stets zu dieser Haltung ermahnt hatte. Folglich »outet« sich Ella nicht sofort als Jüdin, wenn sie neue Freunde kennenlernt. »Also ich ziehe die Einstellung vor, dass ich die Leute zunächst normal kennenlerne, so als würde ich ihnen zeigen: Seht her, ich bin genauso wie ihr. Ich weiß nicht, ob du das verstehst? Einfach, dass du dich mit den Leuten anfreundest und normal mit ihnen auskommst und sie sehen, dass du in den gleichen Situationen genauso reagierst wie sie … also genauso … Weil die Menschen haben Vorurteile, dass das [Jüdische] etwas anderes, Spezielles, Schlechtes ist, also alle negativen Worte gegenüber Juden, nicht wahr?«
Während meiner Forschungsaufenthalte lernte ich einige FreundInnen und Bekannte von Ella kennen, die (noch) nicht wussten, dass sie Jüdin ist. So bat sie mich, ihnen nichts darüber zu erzählen: »Weil die Menschen nichts darüber wissen, darum denken sie so. Weil der Mensch sich vor allem Unbe‑ kannten fürchtet, glaube ich. Und darum … wenn ich solche Leute treffe und erkenne, dass sie normal sind und ihnen dann in so einer Situation sage [dass ich Jüdin bin], dann schauen sie mich mit großen Augen an. Und ich habe schon oft zu hören bekommen: Du bist tatsächlich normal. Und das kommt mir vor wie … Jude und normal … also mehr oder weniger so kam mir das vor …«
Ella hat bereits negative Erfahrungen damit gemacht, sich zu »outen«, doch »[w]enn mich jemand direkt fragen würde, dann lüge ich nicht, weil ich schäme mich nicht deswegen, so dass ich lügen würde. Aber … ich sage es nicht so … also entsprechend des Interesses.« Bei der Entscheidung zwischen ihren Vorbehalten und dem Selbst‑ bewusstsein, mit dem sie beispielsweise bei der Purimfeier der israelischen Studen‑ tInnen oder in der Synagoge aufgetreten ist, spielt das Umfeld eine wesentliche Rolle. Wie in der Kapitelüberschrift angedeutet, bezieht sich diese Haltung nicht nur auf sie und ihre Familie, sondern auf die Juden in Košice allgemein. Ella zog den Vergleich zu anderen jüdischen Gemeinden, die sie kannte: »Und es kam mir so … seltsam vor, dass es dort bei ihnen funktioniert und hier kommt es mir mehr oder weniger so vor als … wäre das Scham oder ich weiß nicht was …« Sie hat das Gefühl, die Menschen in ihrer Heimatstadt würden sich schämen, ihre jüdische Abstammung öffentlich zu
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machen. Das liege allerdings auch an der Atmosphäre in Košice, die zwar verhält‑ nismäßig und im Vergleich zu anderen slowakischen Städten noch sehr tolerant sei, so Lisa bei unserem gemeinsamen Gespräch. Doch waren sich die beiden Mädchen einig, »dass es hier nicht normal ist, mit einer Kippa auf dem Kopf durch die Stadt zu gehen«. Lisa ergänzte: »Weil sich dann jeder nach dir umdrehen würde.« Ella und Lisa verglichen dies mit der Situation, der sich ein homosexuelles Pärchen ausgesetzt sähe, wenn es händchenhaltend durch das Stadtzentrum laufen würde. »Das wäre für die gesamte Hauptstraße ein Problem. Das sind Vorurteile, die sie nicht überwinden kön‑ nen.« Ellas und Lisas Wahrnehmung bezieht sich nicht nur auf Košice, sondern auf die gesamte Slowakei, in der es ihrer Meinung nach gelte, zunächst andere Probleme zu lösen, wie beispielsweise die Homophobie, bevor sich Juden in der Öffentlichkeit wieder als solche zeigen könnten. Trotz all ihrer Vorbehalte schafft es Ella, ihre jüdische Identität als festen Bestand‑ teil ihres Alltags, auszuleben. Hinderlich sind dabei Ängste, die sowohl durch die nonverbal tradierten Traumata ihrer Großmutter, als auch durch den immer wieder aufflammenden Rechtsextremismus und Antisemitismus in der Slowakei und ande‑ ren osteuropäischen Ländern forciert werden. Eine wesentliche Rolle spielen für das positive Empfinden ihrer jüdischen Abstammung familiäre Rituale, die sie gemein‑ sam mit ihrer Mutter in Erinnerung und Gedenken an die Großmutter aufrecht er‑ hält. Ihre jüdische Identität gründet sich nicht auf dem Glauben, jedoch auf einzel‑ nen jüdischen religiösen Traditionen, der Erinnerung an die während des Holocaust ermordeten Familienmitglieder, der Zugehörigkeit zum jüdischen Volk, die sie auch durch ihre Reisen nach Israel für sich bestätigt, und auf der Ebene des sozialen Kon‑ takts zu anderen Juden und Jüdinnen. Anders als Leon sind Ella insbesondere die Traditionen wichtig, die für sie seit ihrer Kindheit im familiären Gedächtnis veran‑ kert sind und auch eine Verbindung zwischen ihr und ihrer Mutter Laura schaffen. »Je natürlicher und früher die Kinder von ihrer Zugehörigkeit erfahren, desto selbst‑ verständlicher wird für sie auch diese Identität«, so Tina Gyárfášová (ebd. 2008: 187). Diese Aussage trifft auf Ella zu, da sie von klein auf mit dem Wissen über ihre jüdi‑ schen Wurzeln aufwuchs. Die aktive Auslebung ihrer jüdischen Identität gelingt ihr insbesondere über die Netzwerke, die sie sich geschaffen hat – hier verbinden sich die Erfahrungen von Ella und Leon. Über sie erfährt sie sich mit ihrer jüdischen Abstammung als stimmig und diese als positiv. Ein wesentlicher Faktor dafür war in ihrer Kindheit, dass sie wäh‑ rend der Blütezeit der jüdischen Gemeinde deren Angebote genutzt hat und dies nach dem »Verblühen« derselben innerhalb anderer Rahmen weiter fortführt: »Identität bezieht sich also immer auch auf den Vorgang eines konkreten Aushandelns in konkreten Si‑ tuationen, in denen jeweils andere Zuordnungen und Bezüge gegeben sind: Jeder soziale Ort weist seine eigene Struktur von festliegenden Verhaltensregeln wie offenen Verhaltensspielräumen auf, die respek‑ tiert und gestaltet werden müssen. So kann Identität nur als soziale Praxis verstanden werden: als ein Umsetzen allgemeiner Regeln und Vorstellungen des eigenen So-Seins in konkretes kommunikatives und
»New Jewish Identities«? Perspektiven auf individuelle Lebens- und Erfahrungswelten | 367 interaktives Verhalten, das sich mit jeder Veränderung der Situation wiederum selbst verändert.« (Ka‑ schuba 2006: 135)
6.3.3 Dominic 6.3.3.1 Jugenderinnerungen im Biergarten Dominic war bei unserem Treffen 29 Jahre alt und lebte nach einigen Arbeitsaufent‑ halten in Tschechien und Großbritannien wieder in Lučenec. Wir kennen uns seit unserer Jugend über unsere gemeinsame gute Freundin Alex. Vor ungefähr 18 Jahren hatte ich mit ihr und Dominic meine Ferien in Lučenec verbracht – eine Zeit, an die wir alle gute Erinnerungen haben. Danach hatten Dominic und ich uns aus den Augen verloren, der Kontakt zu Alex hingegen war uns beiden geblieben. Nachdem Alex schon länger von seiner jüdischen Abstammung wusste, hat sie Dominic in den letzten Jahren immer wieder von meinem Projekt erzählt und schließlich auch das Interview im Biergarten des städtischen Parks vereinbart, dem Dominic sofort zu‑ gestimmt hatte. Alex’ Anwesenheit wirkte wie bei den Treffen mit Annamaria nicht störend, sondern vielmehr auflockernd auf die Gesprächsatmosphäre. Dominic und ich hatten zwar über fast zwei Jahrzehnte hinweg keinen Kontakt miteinander gehabt, doch unsere Freundschaft zu Alex bot dem Interview eine vertraute Basis – schließ‑ lich konnten wir auch immer wieder über lustige Anekdoten aus unserer Jugend la‑ chen. Daraus ergaben sich innerhalb kurzer Zeit auch sehr emotionale Einblicke in Dominics Leben.
6.3.3.2 Familiengeheimnisse: »Vater, sind wir Juden?« Durch diese an seinen Vater gerichtete Frage hat Dominic im Alter von 18 Jahren eher zufällig von seiner jüdischen Abstammung erfahren. Er schilderte zu Beginn des In‑ terviews, dass er mit einem guten Freund, der Jude ist, damals viel über das Judentum und die jüdische Geschichte diskutiert habe. Als er nach Hause gekommen ist, hat er dort Bücher zu all dem gefunden, was ihm der Freund zuvor erzählt hatte. Daraufhin hat er seinem Vater die oben zitierte Frage gestellt. Dessen Antwort lautete: »Wer ist es denn nicht, Sohn?« Dominic hat von ihm jüdische Wurzeln geerbt. In seinem Eltern‑ haus ist nie über Religion gesprochen worden, er ist auch nicht getauft. Als er seine Eltern als Kind danach fragte, war die Antwort: »Wenn du 18 Jahre alt bist, wählst du den Weg, den du gehen wirst.« So ist es auch geschehen. »Und ich habe meinen Weg gefunden, denn ich hatte es ja schließlich zu Hause. Das, was ich entdeckt habe, hatte ich die ganze Zeit vor mir. Nur mein Vater hat mir nie davon erzählt. Vielleicht hat er sich gefürchtet oder wollte nicht darüber sprechen. Ich weiß nicht warum. Wir hatten nicht einmal einen Bezug zueinander.«
Über die jüdischen Wurzeln hat er einen Weg gefunden, endlich mit seinem Vater kommunizieren zu können, denn sie hatten vorher kein gutes Verhältnis:
368 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 »Und damit hat eigentlich unsere Konversation begonnen und jetzt verstehen mein Vater und ich uns gut. Weil wir ein gemeinsames Thema gefunden haben. Es war ein Problem, dass ich … mein Vater ist Angler. Er angelt. Ich spiele Bassgitarre. Er braucht Stille, ich brauche es laut. Das ist … wir sind verschieden. Aber das hat uns verbunden und wir haben herausgefunden, dass wir eigentlich gleich sind, nur jeder hat … [andere Interessen] also in bestimmten Dingen. Und ich habe viel von ihm geerbt. Und als ich dann seine Bekannten getroffen habe, haben mir auch einige gesagt, dass ich ganz wie mein Vater bin. Auch in seiner Gestik und Mimik und so weiter. Nur dass er älter ist und keine Haare mehr hat (Lachen).«
Dominic spricht im Verlauf des Interviews immer wieder bewundernd über seinen Vater, der sehr belesen ist und mehrere Sprachen beherrscht. Die Entdeckung der ge‑ meinsamen jüdischen Abstammung hat zwischen Vater und Sohn eine Art Brücke über zuvor unüberwindbare Differenzen geschlagen, auf der man sich nun friedlich begegnet. Zwar kann sich Dominik mittlerweile mit ihm über alles Mögliche unter‑ halten, wenn es aber um das Judentum geht, läuft es so ab: »Mein Vater redet wenig darüber. Und meist geht die Konversation über das Thema so: Ich sage etwas und er verbessert mich.« Sobald er jedoch das Schicksal der Familie während des Holocaust anspricht, verweigert sich der Vater ihm völlig. Hier wich Dominics scherzhaftes Er‑ zählen, das er mit selbstbewusster, kräftiger Stimme und häufigem Lachen untermal‑ te, einem ernsten und stockenden, auch leiseren Sprech- und Erzählmodus: »Das hat mir mein Vater nicht gesagt. Er sagt nichts. Nein. Da ist dieser … und ich bemühe mich … er erzählt von seinem Vater und seiner Mutter. Aber er sagt nichts vom Bruder seines Vaters, falls da einer war. Ich weiß nicht, ob es einen gab. Er sagt nichts vom Vater seines Vaters. Und so weiter. Und ich glaube, er weiß was darüber. Weil wenn ich ihn frage, dann weicht er auf ein anderes Thema aus. Er sagt was anderes. (Lacht verbittert). Er hat was anderes gehört. Was anderes. Er hat nicht gehört, was ich gefragt habe. Er sagt was anderes. Und ich kann mich … egal was ich mache, ob ich erneut frage, er sagt es nicht. Macht er nicht. Nein.«
Was er über die Familie seines Vaters weiss, hat er von seiner Mutter erfahren. »Über dieses Thema haben sie sich nicht unterhalten, weil meine Mutter Katholikin ist und … sie haben nicht darüber gesprochen.« Die Mutter hat über den Holocaust nur sehr wenig von ihrer Schwiegermutter erfahren, die sich kaum dazu geäußert hat. Für Dominic, der mehr über seine Wurzeln wissen möchte, ist es umso schwieriger, mit dem Schweigen in der Familie umzugehen. Er hat die Eltern seines Vaters, die ihm als unmittelbare ZeitzeugInnen mehr hätten erzählen können, nicht kennen gelernt. Sein Großvater mütterlicherseits ist schwer erkrankt, als er noch ein kleiner Junge gewesen ist. Seine vor zwei Jahren verstorbene Großmutter (mütterlicherseits) ist die einzige Verwandte aus dieser Generation gewesen, die er gekannt hat. Sie ist für ihn zu einer zentralen Bezugsperson geworden, über die er voller Liebe und Respekt sprach. Es ist fraglich, ob die »Mischehe« von Dominics Eltern dazu beigetragen hat, dass dem Jüdischen innerhalb der Familie kein Raum gewährt wurde. Der Hauptgrund dafür lag und liegt im innerfamiliären Beschweigen der Vergangenheit.
»New Jewish Identities«? Perspektiven auf individuelle Lebens- und Erfahrungswelten | 369
Während unseres Gesprächs zitierte Dominic immer wieder Beispiele aus der Literatur, was zeigte, dass er sich viel mit dem Judentum aber auch mit Geschichte und Politik auseinandersetzt. Gelesen hatte er bis zu dem Zeitpunkt, als er von seiner Abstammung erfahren hat, sehr wenig. »Ich sage ja, es hat mich ergriffen […] Dann habe ich begonnen, zu lesen und letztendlich suche ich mir Bücher heraus und ich habe mir auch welche gekauft, so wie den ›Talmud für Alle‹ oder ›Die Geschichte der Juden in der Slowakei‹.« Was ihm an Wissen durch das Schweigen seines Vaters verwehrt bleibt, versucht er, wie auch andere hier vorgestellte AkteurInnen, durch die Lektüre einschlägiger Literatur zu erfahren. Doch neben den Grenzen der Literatur, die ihm keine Auskunft über das Schicksal seiner eigenen Familie geben kann, gibt es hier auch emotionale Grenzen für ihn, denn es ist für Dominic generell schwer, sich mit dem Thema Holocaust zu beschäftigen: »Und ich habe viel darüber gelesen. Es war schon schwer für mich, das zu lesen. Und auch das Buch, von dem ich dir erzählt habe, da konnte ich nicht einmal die Hälfte lesen. Weil die Emotionen, das arbeitet im Menschen … Ich habe Angst, Angst, dorthin [an bestimmte Stellen in Büchern] zu kommen.«
Die Sozialpsychologin Gabriele Rosenthal stellte fest, dass die mit dem Schweigen ver‑ bundenen Familiengeheimnisse und -mythen »zu den wirksamsten Mechanismen beim Fortwirken problematischer Familienvergangenheiten gehö‑ ren. […] Je geschlossener oder verdeckter der Dialog in der Familie ist, je mehr verheimlicht und retu‑ schiert wird, desto nachhaltiger wirkt sich die Familienvergangenheit auf die Kinder- und Enkelgenerati‑ on aus.« (Bar-On 1995 zit. n. Rosenthal 1997a: 21)
Hierin weisen die Biografien von Ella und Dominic Parallelen auf. Dominic erklärte mir auch, dass er Angst habe, nach Auschwitz zu fahren und dort die Gedenkstätte zu besuchen: »Ich bin noch nicht da gewesen, ich habe Angst, dass ich dort zusam‑ menbreche.« Das Schweigen von Dominics Vater hält an, doch die Phantasien darüber, was mit seiner Familie während des Holocaust passiert sein könnte, arbeiten trotzdem in ihm und wirken so traumatisierend. Doch stehen für ihn vor allem positive Anteile seiner jüdischen Identität im Vordergrund, wie sich im Laufe des Gesprächs herausstellte.
6.3.3.3 »Zigeuner«, Skinhead, Jude? Zuschreibungen und Verortungen Sein ganzes Leben lang hatte Dominic, wie er mir erzählte, Schwierigkeiten, da er sehr dunkelhäutig ist. Auch dafür habe er durch die Entdeckung seiner jüdischen Abstammung endlich eine Erklärung: »Dass ich mich entdeckt habe, dass ich mich gefunden habe, dass ich weiß, wer ich bin. Als Kind hatte ich Probleme, weil ich ein dunkler, ein brauner Mensch bin. Und … als ich … als ich mit weißen Kindern spielen wollte, haben sie mir gesagt: ›Geh weg, du bist ein Zigeuner.‹ Dann bin ich zu den Zigeunern
370 | (Trans-)Formationen jüdischer Lebenswelten nach 1989 gegangen. Und die Zigeuner: ›Aber du bist doch weiß! Geh weg!‹ Also wer bin ich jetzt? Und von klein auf hatte ich dieses Problem.« 46
Dieses »Problem« mit seinem Äußeren und den Zuschreibungen seiner Umwelt trug er in einem inneren Kampf auf der Suche nach seiner Identität aus, was ihn als Jugend‑ lichen eine »extreme« Richtung einschlagen ließ. Zu dem Zeitpunkt, als Dominic und ich uns kennenlernten, war er ungefähr 12 Jahre alt. »Damals hatte ich eine Phase, in der ich Skinhead war. Das ist eine sehr ernste Sache. Weil ich damals letztendlich bestimmte Dinge gegen mich selbst geäußert habe. Das ist unentschuldbar, aber er‑ klärbar.« Ich selbst erinnere mich gut an seinen damaligen Kleidungsstil, mit viel zu weiten, bunt karierten Hemden und noch weiteren, immer hochgekrempelten Jeans. Seinerzeit gaben mir lediglich die Springerstiefel zu denken, die auch in meinem hei‑ mischen Umfeld in München als Zeichen für »Extreme« galten. Dominic hat genau das gefallen, dass eine einheitliche Art, sich zu kleiden, vorgeschrieben gewesen war und er darüber das Gefühl bekommen hat, »dazuzugehören«. Die rechtsextrem ori‑ entierte Gruppe, der er sich damals angeschlossen hatte, habe die Geschichte verdreht und verfälscht, um damit Kinder für ihre Zwecke zu gewinnen. Mit 13, 14 Jahren sei er schließlich selbst darauf gekommen, dass es nicht richtig ist, etwas gegen jemanden zu haben, der ihm nichts getan und ihn nicht angegriffen hat. Aus dem ersten Satz des einleitenden Zitats lässt sich auch der zentrale Stellenwert seiner jüdischen Identität ablesen: »Dass ich mich entdeckt habe, dass ich mich gefun‑ den habe, dass ich weiß, wer ich bin.« Seine »Entdeckung« markierte er durchweg als positiv, denn sie hat ihm weit mehr gebracht als eine Erklärung für seinen dunklen Hauttyp. Dieses Wissen um seine jüdische Abstammung und das damit einherge‑ hende Identitätsgefühl bestätigt Dominic, indem er sich einerseits die Geschichte der Juden, ihre Religion und Traditionen aneignet, womit er auch eine Art Kohärenz für sich und sein Leben erzeugt: »Mich interessieren die Bräuche, das Schöne, die Tra‑ ditionen, ja, das ist das Herrliche daran. Und warum man das so macht, wie man es macht.« Auch hier wählt er für sich das aus, was für ihn passend erscheint, denn er liest nur das, was ihn interessiert. Heiner Keupp und KollegInnen zufolge ist »Kohärenz […] nicht das objektivierbare Resultat der Identitätsarbeit, das auf das persönliche Konto wie dauerhafter Besitz geschrieben werden könnte, sondern ein Prozeßgeschehen der ständigen Balancie‑ rung und Austarierung von Erfahrungen mit der eigenen Handlungswirksamkeit in einer Alltagswelt, die längst nicht immer den eigenen Erwartungen entspricht. Kohärenz ist ein Grundprinzip unserer Innen‑ weltorganisation.« (Ebd. 2002: 296)
Dominic gelingt es, sich mit seiner jüdischen Identität stimmig zu fühlen und einzel‑ ne Elemente situativ in seinem Alltag einzubauen:
46 | Vgl. vertiefend hierzu Picard (2012).
»New Jewish Identities«? Perspektiven auf individuelle Lebens- und Erfahrungswelten | 371 »Ich bin kein praktizierender Jude, ich ernähre mich nicht koscher, ich gehe nicht zu Gottesdiensten, ich gehe nicht, ich halte den Schabbat nicht ein … ich habe keine Möglichkeit dazu. Aber trotzdem bemühe ich mich, einmal im Monat oder auch zweimal die Woche Zeit zu finden, um in mich zu gehen und zu meditieren und mit Gott zu sprechen, in Umgangssprache, ja. Also ich bete auch. Und … weil ich darauf gekommen bin, dass ich mich, nachdem ich diesen Akt vollzogen habe, besser fühle. Ich fühle mich reiner, besser.«
Seine jüdische Identität wird auch beim jährlichen Holocaust-Gedenktag bestärkt, denn daran nimmt er im Gegensatz zu den informellen monatlichen Treffen der jüdischen Kommune teil. Hier bestätigt sich sein Zugehörigkeitsgefühl zur lokalen Kommune und – gerade aufgrund des Anlasses – auch auf seine Zugehörigkeit zur Opfergemeinschaft der Juden. Er erwähnt, dass Frau Vajová bei der letzten Gedenk‑ veranstaltung etwas sehr Wichtiges gesagt habe: »Wir müssen uns daran erinnern, wir dürfen es nicht vergessen. Nicht, damit wir jemandem Vorwürfe machen, wie der deutschen Nation, dass sie etwas Schlechtes getan haben. Das ist eine historische Tatsache.« Dominic hat über die Worte der Vorsitzenden nachgedacht und ist darauf gekommen, dass »jede Nation eine Schattenseite in ihrer Geschichte« habe. Und die Deutschen hätten daraus gelernt. Er spricht sich bewundernd für die Wirtschafts‑ macht Deutschlands aus, die seiner Meinung nach »ganz Europa zieht«. Ganz im Ge‑ gensatz dazu stünde für ihn die Slowakei, die unter Jozef Tiso auch faschistisch gewe‑ sen sei, aber nach wie vor fehle hier die Aufarbeitung und Aufklärung beispielsweise im Schulunterricht. Er selbst hat in der Schule nichts über den Holocaust gelernt, sondern sich alles in den letzten Jahren selbst angelesen. Was die Erinnerungspolitik betreffe, so Dominic aufgebracht, beriefen sich führende politische, nationalistische Parteien immer noch auf den Slowakischen Staat von 1939 (vgl. hierzu Kapitel 4.1.3 und 4.1.4): »Was nicht die Wahrheit ist, weil wir historisch von der Tschechoslowakei getrennt waren und die Tschechoslowakei ist nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie als gemeinsamer, kapitalistischer Staat entstanden […] In welchem die Amerikaner ein Dokument über uns verfasst haben, in dem steht, dass hier, in der Tschechoslowakei, Menschen verschiedener Nationalitäten und verschiedenen Glaubens auf einem Haufen leben. Und sie sind tolerant. Ich bin der Meinung, dass unsere Geschichte hier beginnt.«
Dominic erklärte kurz darauf, dass er sich als Tschechoslowake fühle, denn er sei schließlich in der Tschechoslowakei geboren. »Ich fühle mich in Prag genauso zu Hause. Auch wenn das jetzt eine andere Republik ist, aber ich fühle mich dort zu Hause.« Die Auseinandersetzung mit der Geschichte führt ihn zu einer kritischen Haltung gegenüber der Politik in Vergangenheit und Gegenwart, die er während un‑ seres Interviews häufig kundtat. So auch, als er eine mögliche Erklärung für den gegenwärtigen Rassismus gegen die Roma sucht: »Vielleicht ist es das Problem, dass hier bei uns in der Slowakei die Roma so leben, wie sie leben und Geld aus der Staatskasse nehmen«, überlegte er. Doch sei es eher ein Problem, dass man sie nicht zum Arbeiten bewegen könne. An‑
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dererseits würde nicht ein einziger von den Menschen, die über Roma sagen, sie seien schlecht, einen von ihnen einstellen. Also hätten sie auch keine Chance, sich zu be‑ weisen. »Nur die Kommunisten haben die Zigeuner so erzogen, dass es gut ist, dass sie … alle sind gleich, aber das war gut. Aber auf der anderen Seite haben sie ihnen nicht beigebracht, Verantwortung zu überneh‑ men. Der Kommunismus in der Slowakei war so, dass das, was heute ein Mensch macht, damals von fünf gemacht wurde, oder vier sind dagesessen und haben dem einen zugesehen, der gearbeitet hat.« 47
Dominic sah im Sozialismus die Ursachen für viele gegenwärtige ökonomische und soziokulturelle Probleme in der Slowakei begründet. So hätten damals viele Men‑ schen gute Voraussetzungen für ein Studium gehabt, »doch es wurde ihnen vom Sys‑ tem verwehrt, weil ihre Eltern nicht in die politische Partei eintreten wollten.« Dies sei auch in seiner Familie ein Problem gewesen: »Mein Großvater hat geantwortet, als sie ihn gefragt haben, ob er in die Partei eintreten will – er war betrunken: ›Ich scheiß’ drauf!‹ (lacht). Und meine Mutter konnte nicht auf die Mittelschule48 gehen. Meine Mutter arbeitet, seit sie 16 Jahre alt ist. Wegen dieser Sache.« (Vgl. hierzu Ka‑ pitel 4.1.3). Dominics Familie hat unter der politischen Situation gelitten. »Und das ist ein Problem, das ist nicht gut, ein totalitäres Regime ist schlecht.« Seine Mutter hat in den 1990er Jahren schließlich den Abschluss nachgeholt. Er selbst erinnert sich auch an die Entbehrungen dieser Zeit: »Mein kommunistisches Weihnachten war so, dass meine Mutter aus dem Obstladen zwei Bananen und zwei Orangen mitgebracht hat. Und sie hat gesagt: Willst du eine Orange oder eine Banane? Und ich habe gesagt: Sowohl als auch. Aber das ging nicht, weil wir zu viert waren. Also entweder das Eine oder das Andere. Und ich habe geweint und nicht verstanden, warum. Aber meine Mutter hat morgens in einer langen Schlange vor dem Obstladen gestanden und zwei Bananen und zwei Mandarinen bekommen an Weihnachten und das ganze Jahr über nicht. Es gab keine Bananen, keine Mandarinen. Es gab Äpfel und Birnen. Und vielleicht Pfirsiche und Zwetschgen. Vielleicht gab’s das. Etwas, das hier angebaut wird, aber
47 | Die Roma sind während des Sozialismus wie andere Minderheiten auch zur Assimilation gezwungen beziehungsweise unterdrückt worden. Zur Situation der Roma in der Slowakei ab 1918 vgl. Mann (2009). 48 | Nach den ersten neun Jahren auf einer Grund- beziehungsweise Volksschule konnte man für wei‑ tere vier Jahre einen bestimmten Zweig der Mittelschule (Gesundheitswesen, Wirtschaft, Pädagogik, Landwirtschaft u. a.) besuchen und sich parallel in einem entsprechenden Betrieb ausbilden lassen. Man beendete die Schule mit dem Fachabitur. Es gab auch die Möglichkeit, für vier Jahre ein Gymnasium zu besuchen. Diese Informationen stammen von einer Zeitzeugin aus Lučenec, die 1958 geboren wurde. Sie erklärte, dass nur die Kinder eine weiterführende Ausbildung erhalten hätten, deren Eltern Mitglieder der kommunistischen Partei gewesen seien.
»New Jewish Identities«? Perspektiven auf individuelle Lebens- und Erfahrungswelten | 373 nichts aus dem Ausland. Wir kamen in den Laden und es gab dort nur den Zvolener Joghurt 49. Und viel‑ leicht gab’s die Sorten Erdbeer und Pfirsich, aber andere nicht. Und es gab dies und das nicht, und heute kommt man in den Laden und schaut sich um und tut sich schwer, etwas auszusuchen.«
Während des Sozialismus war die Auswahl sehr eingeschränkt, heute aber ist das Problem, dass die Menschen kaum Geld haben, um sich bei dem Überfluss an Waren etwas leisten zu können: »Und auf einmal stellt man fest, dass man wenig Geld hat, weil man will dies und das und auch das andere. Und vorher hatte man genauso viel Geld, konnte sich aber nur eines kaufen. Hier ist das Problem, dass den Leuten die Augen dafür geöffnet wurden, dass sie mehr haben könnten, aber sie haben kein Geld. Weil nur wenige verstehen, dass … das Problem liegt nicht darin, dass es damals [während des Sozialismus] besser war. Jetzt ist es zwar besser, aber wir haben keine Mittel.«
Vom Realsozialismus zog Dominic die Linie in die Gegenwart, in der die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Slowakei insbesondere für junge Menschen wie ihn und Alex schwierig sind. Daher ist er, wie viele seiner Freunde auch, ins Ausland gegan‑ gen, wo er eine bessere Bezahlung bekommen hat. Doch leben will er in Lučenec. Dominic arbeitet im Lager einer Textilfirma, der Verdienst beträgt jedoch nur halb so viel, wie er eigentlich für ein bescheidenes Leben bräuchte. Seine monatlichen Kosten sind bei weitem nicht gedeckt, wobei er keine hohen Ansprüche stellt und der einzige Luxus, den er sich wünscht, zwei Restaurantbesuche im Monat sind, einmal im Jahr ein Urlaub und ein Musik-Festival, und er will es sich leisten können, Geschenke zu entsprechenden Anlässen zu kaufen und sein Auto zu unterhalten. Doch in Lučenec verdient man nur in gehobeneren Positionen monatlich mehr als 350 Euro50, wie auch Alex bestätigte. Heiner Keupp und KollegInnen zufolge ist »[d]ie Betrachtung von Ar‑ beit – und im engeren Sinn Erwerbsarbeit – als zentralen, wenn nicht wesentlichsten Stützpfeiler von Identität […] ein über lange Zeit unhinterfragter Konsens der Leis‑ tungsgesellschaft« (2002: 111). Somit seien »berufliches Fortkommen sowie ein damit einhergehendes, im Laufe des Lebens allmählich wachsendes Einkommen, das einem wirtschaftliche Unabhängigkeit von den Eltern und die Möglichkeit, eine eigene Fa‑ milie ›zu ernähren‹, sicherte […] bislang so gut wie unverzichtbare Ingredienzen einer am männlichen Normalmodell orienterten Identität« gewesen (ebd.). Dominic plant aufgrund der beruflichen Aussichtslosigkeit in der Slowakei, wieder nach England zu gehen, um mehr Geld zu verdienen. Dies will er mit dem 49 | Der Zvolener Joghurt [Zvolenský Jogurt] stammt aus einer regionalen Molkerei, die 1947 gegründet wurde und bis zur politischen Wende 1989 bestand und den mittelslowakischen Milchbetrieben angehör‑ te. In den 1990ern wurde der Betrieb von westeuropäischen Firmen aufgekauft (vgl. Zvolenský Jogurt). 50 | Laut der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland für Außenwirtschaft und Standortmarketing (Germany Trade u. Invest) betrug »der durchschnittliche Bruttomonatslohn in der [slowakischen] Gesamt‑ wirtschaft 769 Euro« im Jahr 2010. Dabei hat das Bruttoeinkommen von zwei Drittel der Bevölkerung unter diesem Durchschnitt gelegen (vgl. Strohbach 2011: 3 f.).
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Interesse an seinen jüdischen Wurzeln verbinden, über die er unter professioneller Anleitung mehr lernen möchte. Er würde in England einer Jeschiwa beitreten, um irgendwann konvertieren zu können und als halachischer Jude anerkannt zu werden. Damit wäre seine jüdische Abstammung zugleich Motivation und Wegbereiter für einen gesicherteren identitären Stützpfeiler im Keupp’schen Sinne und somit für eine bessere Zukunft, die er nicht nur für sich nutzen will. Denn sein in England erworbe‑ nes Wissen will er dann in Lučenec einsetzen, um die jüdische Kommune zu erhalten. Dass er als Jude nach halachischem Gesetz anerkannt werden will, spiegelt auch seine Vorstellung einer »richtigen« jüdischen Identität wider. Das Lernen in einer Jeschiwa und die schriftliche Bestätigung der Konversion würden zudem das fehlende Wissen und möglicherweise auch Leerstellen im familiären Gedächtnis – auch auf dem Pa‑ pier – ausgleichen (vgl. Welzer 2001b: 177 f.). Dass ihm das jüdische Kulturerbe in Lučenec wichtig ist, zeigte sich unter ande‑ rem darin, dass er die Geschichte der ehemaligen Gemeinde gut kannte, über einzel‑ ne Schicksale der Mitglieder und über die Situation der neologischen Synagoge gut informiert war. Seiner Einschätzung nach gebe es trotz der schwierigen Situation der hiesigen jüdischen Kommune Hoffnung, sie zu erhalten. »Sie ist klein, sie ist hier, aber sie ist klein, die jüdische Kommune. Und die Wenigsten wissen, dass sie überhaupt existiert. Und es gibt wenige junge Leute. Sie sterben sicher aus.« Im letzten Jahr je‑ doch ist eine ehemals aus Lučenec stammende Frau mit ihren Kindern aus Israel zu der Holocaust-Gedenkveranstaltung gekommen. Sie sind ob der geringen Größe der Kommune ernüchtert gewesen, doch es hat ihnen gefallen, dass die Kommune weiter‑ hin existiert. »Auch wenn sie klein ist, es gibt sie. Das kleine Licht ist da«, so Dominic.
6.3.3.4 J üdisch-Sein als Sinnstiftung und Zukunftsperspektive: »Aber wer will, findet was« »Aber es gibt leider Menschen, denen das egal ist«, fügte Dominic hinzu. Damit mein‑ te er diejenigen, die sich trotz ihrer offenbar vorhandenen jüdischen Abstammung nicht dafür interessieren, wie das Mädchen, das er mir als Beispiel dafür nannte. Er hat vor einem halben Jahr eine »Blondine« mit blauen Augen getroffen, die Dominic zufolge einen ungarisch-jüdischen Nachnamen trage. Er hat zu ihr gesagt: »Wow, du bist Ungarin und Jüdin!« Sie habe sich allerdings dagegen verwehrt und sei mit den Worten, dass es nicht stimme und sie nicht interessiere, weggegangen. Seine Betrof‑ fenheit über die Haltung dieses Mädchens machte deutlich, wie wichtig ihm seine eigene jüdische Abstammung ist. Aus Dominics Porträt lässt sich damit auch ablesen, was Keupp und KollegInnen mit dem »Entwicklungsaspekt von Identität« beschreiben »[…] die Identität als ein Werden, als ein Sich-selbst-Finden. Identitätsarbeit, -suche, -findung, -bildung […]«, denn »Identität so verstanden ist nicht etwas, was man von Geburt an hat, sondern was man entwickelt, ein Weg, der viele Verläufe nehmen kann und vielen Einflüssen ausgesetzt ist« (2002: 65). Diesen Weg hat Dominic in seinen Ausführungen aufgezeigt: Ein Teil dessen be‑ inhaltet, dass er viel über seine Familie und seine Vorfahren nachgeforscht hat, er
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kennt die Berufe seiner Großeltern mütterlicherseits, deren Namen und hat die Daten auch an Frau Vajová weitergegeben, damit sie nachsieht, »ob da auch was [Jüdisches] ist«. Die Bestätigung seiner jüdischen Identität setzt sich mit der Suche nach seinen Wurzeln fort. Durch die Lektüre zur jüdischen Geschichte und Kultur eignet er sich nicht nur Wissen um gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge an, sondern füllt bis zu einem gewissen Maß damit auch Lücken seiner eigenen Familiengeschichte auf. Obwohl aufgrund des Schweigens seines Vaters über den Holocaust und mögliche Opfer in der Familie einiges unbeantwortet bleibt und dies auch traumatisierende Wirkungen auf ihn hat, ist seine jüdische Identität für Dominic positiv behaftet. Denn schließlich ist die gemeinsame jüdische Identität zum verbindenden Element und zu einer neuen Kommunikations-Basis zwischen ihm und seinem Vater geworden. Über die Gespräche, die Dominic mit seinem Vater und Freunden über seine jüdische Ab‑ stammung führt, vergewissert er sich ihrer und schafft durch die soziale Resonanz für sich wiederum ein positives Identitätsgefühl (vgl. Keupp et al. 2002: 169 f.). Trotz der Erfahrungen mit Rassismus und Ausgrenzung, die er aufgrund seiner Hautfarbe gemacht hat, zieren seit einiger Zeit zwei tätowierte Davidsterne seine Oberarme, die er gut sichtbar im ärmellosen Shirt zeigt. Da er sowohl als Kind als auch als Erwachsener für einen Rom gehalten wurde, verweisen diese Tattoos eindeu‑ tig auf seine tatsächliche Abstammung. Für ihn sind sie Ausdruck seiner Überein‑ stimmung mit seiner jüdischen Identität, die ihm, seit er von ihr weiß, ein Gefühl der Stimmigkeit mit sich und seiner Biografie vermittelt und ihm ein breites Spektrum an neuen Optionen eröffnet. Diese hat er auch auf intellektueller Ebene gefunden, indem er sich durch Lektüre intensiv mit seinen Wurzeln beschäftigt. Ihm fehlte mangels einer aktiven jüdischen Gemeinde bisher ein soziales Ge‑ dächtnis, in das er seine neu gewonnene Identität hätte einordnen können und das Er‑ innerungen an jüdisches Leben und die Aufarbeitung des Holocaust beinhaltet hätte. Ein Stück weit kann er dies in Gesprächen mit seinem Vater und Freunden aufbauen, doch es obliegt ihm, ob und wie er sich in ein größeres soziales Netzwerk einfindet, in dem er seine jüdische Identität weiterhin beleben kann, so wie beispielsweise auch Ella und Leon. Dafür erwägt er, nach London auszuwandern, um dort die Angebote des aktiven jüdischen (religiösen) Lebens für sich nutzen zu können. Darüberhinaus versucht er auch, einen Weg zu finden, seine jüdische Abstam‑ mung in seinen Alltag zu integrieren, obgleich er diesen Weg eher alleine für sich geht. »Ich fühle mich wie ein gläubiger Jude, der zu keiner Gemeinde gehört. Ich glau‑ be an Gott, an die Existenz der Schöpfung, und ich fühle mich als Jude, der in der Tschechoslowakei geboren ist … und ich fühle mich gut (grinst). Fürs Erste.« Die‑ ses positive Gefühl überwiegt für ihn, auch durch die Zukunftsperspektiven, die er glaubt, mit Hilfe seiner jüdischen Abstammung verwirklichen zu können. So ist Dominics Konstruktionsprozess seiner jüdischen Identität auch das »Pro‑ jekt, das […]« ihn »zu sich selbst führt […]« (Keupp et al. 2002: 65).
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6.3.4 Z usammenfassung: Die Generation im Schatten des Holocaust und Sozialismus Wie Tina Gyárfášová schreibt, seien die Kinder der Nachkriegsgeneration in der Tschechoslowakei genau so aufgewachsen: im Schatten der beiden repressiven Regi‑ me des 20. Jahrhunderts. Sie mussten sowohl mit dem Erbe des Holocaust als auch mit dem Sozialismus umgehen, den sie zum Teil auch selbst noch miterlebten. Dieje‑ nigen, die mit ihren Großeltern aufgewachsen sind, hätten teilweise direkt von deren Traumata erfahren oder hätten sie in tradierter Form auch durch ihre Eltern mitbe‑ kommen: »Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer grundsätzlichen Veränderung der jüdischen Gemeinde und ihrer kollektiven Identität. Die tragische Erfahrung des Holocaust und die nachfolgenden wiederholten Ausdrücke von Antisemitismus durch die kommunistische Partei trugen zum Erstarken der negativen jü‑ dischen Identität bei. In der Generation der Überlebenden gab es ein starkes Gefühl der Stigmatisierung. Die Angst wurde auch in der Erziehung der zweiten Generation übernommen. Die Eltern erzogen sie zur Assimilation, oder zumindest zum Verheimlichen ihrer Abstammung vor einem nicht-jüdischen Umfeld. Traditionelle Aspekte wie Religion oder das Einhalten von jüdischen Bräuchen verfielen und verschwan‑ den. Dort, wo sie erhalten wurden, wurden sie im inneren Kreis der Familie oder der kleinen Gemeinde verschlossen gehalten. In diese Orientierung wurde die dritte Generation hineingeboren.« (Gyárfášová 2008: 189 f.)
So hatten die Kinder der Nachkriegsgeneration zunächst eine doppelte Belastung und somit ein schwieriges Erbe zu tragen, denn »[w]enngleich die dritte Generation unter anderen Bedingungen aufwuchs als ihre Eltern, die von trau‑ matischen Erfahrungen der ersten Generation direkt geprägt worden waren und individuell wie auch familiär unterschiedliche Bewältigungsversuche unternommen wurden, so gilt doch für alle Nachkom‑ men der hier befragten Holocaust-Überlebenden, dass die Erfahrungen der ersten Generation auf das Leben der Nachkommen gewirkt haben. Es scheint, als ob das Maß der Beeinträchtigung der Enkelinnen im Zusammenhang mit dem Maß der psychischen Befindlichkeit ihrer Eltern stünde, den Angehörigen der zweiten Generation. Diese Annahme impliziert erneut die außerordentliche Bedeutsamkeit der müt‑ terlichen bzw. elterlichen care-taking Fähigkeit bzw. der Psychodynamik zwischen Eltern und Kindern.« (Konrad 2007: 403, Abk. i. O.)
Dies ließ sich bei allen von mir Befragten feststellen. Doch nicht nur das familiäre Gedächtnis, das im privaten Rahmen und auch bei Treffen mit Verwandten oder Be‑ kannten ausgehandelt wurde, spielt für die Identitätskonstruktionen eine wesentliche Rolle. Das innerfamiliäre Schweigen hing mit dem gesamtgesellschaftlichen Rahmen zusammen, in dem es nach der politischen Zäsur 1989 allmählich auch ein Bewusst‑ sein für die Opfer des Holocaust gab. Neue kommunikative und soziale Erinnerungs‑ kulturen etablierten sich und boten den Menschen neue Rahmen, innerhalb derer sie ihre Erinnerungen und ihre Identitäten aushandeln konnten. Dabei spielten die jüdi‑
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sche Gemeinde und ihre verschiedenen Initiativen eine wesentliche Rolle und auch, dass sie den AkteurInnen verschiedener Alters- und Interessensgruppen die Möglich‑ keit bot, sich auszutauschen (vgl. Kapitel 4.1.4 und 4.2). Die hier vorgestellten AkteurInnen erlebten den Zusammenbruch des kommu‑ nistischen Regimes in der ehemaligen Tschechoslowakei als Kinder und somit den Wandel zu einem offeneren Umgang mit dem Jüdischen auch innerhalb ihrer Famili‑ en. Das Schweigen um die jüdische Identität der Familie wurde allmählich gebrochen, wie es bei Leon der Fall war. In anderen Familien, wie beispielsweise Dominics, hat es länger gedauert, bis durch Zufall das gut gehütete Geheimnis um die jüdische Ab‑ stammung gelüftet wurde. Ella wuchs mit dem Wissen um ihre jüdischen Wurzeln auf und erlebte auch die Ausübung der Traditionen im familiären Alltag mit. Doch wie bei Dominic wurde im kommunikativen Gedächtnis ihrer Familie der Holocaust ausgespart, was Raum für die Entwicklung von Ängsten ließ. Die Erfahrungswelten von Leon, Ella und Dominic zeigen, wie unter diesen je‑ weils sehr heterogenen Bedingungen jüdische Identitäten wahrgenommen, er- und belebt werden. Dabei spielen vor allem soziale Netzwerke eine Rolle, in denen die AkteurInnen ihre jüdische Identität suchen, finden und vor allem immer wieder be‑ stätigen können. Anders als Ella und Leon, die durch ihre Netzwerke und die Gemeinden in Košice und Bratislava diverse Möglichkeiten der aktiven Partizipation am jüdischen Leben haben, hat Dominic diese in Lučenec nur selten. Doch auch er plant seine Zukunft unter Einbezug seiner jüdischen Abstammung und greift auf für ihn verfügbare Res‑ sourcen zurück, seine jüdischen Wurzeln für sich zu beleben. Denn das, was der Ge‑ neration der Holocaustüberlebenden und der Nachkriegsgeneration in jungen Jahren und lange Zeit gefehlt hat, sind die vielen Möglichkeiten, die sich durch den Fall des Eisernen Vorhangs für die Menschen ergeben haben, ihre jüdische Identität für sich erfahr- und erlebbar zu machen, wie etwa die uneingeschränkte Nutzung von Medi‑ en, virtuellen und realen Netzwerken wie einer aktiven jüdischen Gemeinde, die Frei‑ heit zu reisen und seinen Lebensmittelpunkt auf der ganzen Welt zu suchen. Dabei spielte die Religion innerhalb der Generationenfolge eine immer geringere Rolle im Gegensatz zu den gerade aufgezählten Ressourcen (vgl. Salner 2013: 74 f.,79 f.; 2011: 84 ff.; Gyárfášová 2008: 190). »Das Ziel von Identitätsarbeit ist die Herstellung eines Passungsverhältnisses zwischen der Person und ihrer sozialen Welt. Das heißt: Soziale Netzwerke werden so gestaltet, daß die Identitätsprojekte einer Person darin Einbindung, Anerkennung und Unterstützung finden. Gelingt das nicht, kommt es zu prekären Passungen, entweder muß der soziale Kontext verändert oder das Identitätsprojekt aufgegeben werden. Unter den Bedingungen gesellschaftlicher Pluralität ist es möglich, einen sozialen Kontext zu verlassen, aber es ist unmöglich, den Kontext des Sozialen zu verlassen. Das Soziale allerdings ist nicht abstrakt, sondern wird hergestellt über die Identitätsprojekte der einzelnen und die sich daraus ergebenden Netz‑ werke.« (Keupp et al. 2002: 170, Herv. i. O.)
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Dies gilt nicht nur für die Generation der Jungen, sondern, wie gezeigt wurde, für alle hier beschriebenen Identitätsprojekte.
6.4 » N ew J ewish I dentities?« – »N ew P ossibilities and Strategies for J ewish I dentities !« Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass für die hier vorgestellten Akteu‑ rInnen aus den verschiedenen Altersgruppen die wesentlichen Bausteine ihrer indi‑ viduellen Identitätskonstrukte das familiäre Gedächtnis und der darüber vermittelte Umgang mit den Traumata aus dem Holocaust und den jüdischen Traditionen, die individuellen und sozialen Praktiken des Erinnerns und die jeweilige Fähigkeit sind, Ressourcen für die eigene Identitätsarbeit zu mobilisieren, wie beispielsweise sozia‑ le Netzwerke. Diese Bausteine galt es, unter den oft widrigen soziokulturellen und politischen Bedingungen des jeweiligen Lebensumfeldes stimmig auszubalancieren, um das jeweilige (jüdische) Identitätskonstrukt zu stabilisieren (vgl. u. a. Keupp et al. 2002: 7). Wie hier gezeigt werden konnte, fanden die vorgestellten AkteurInnen nach dem Holocaust, während des Sozialismus und auch nach 1989 spezifische Wege, um ihre jüdischen Identitäten in ein entsprechendes Passungsverhältnis zu bringen (vgl. ebd.). Dazu gehörte es bei manchen auch, dass sie die jüdischen Bestandteile in ihrem Iden‑ titätskonstrukt weit nach hinten verschoben und (für einige Zeit) verdrängten. Ängs‑ te vor erneuter Verfolgung und Traumata aus dem Holocaust hüllten die jüdischen Teilidentitäten in eine Art Unsichtbarkeit, die durch eine Aura des Schweigens im Hintergrund gehalten wurden, für die Betroffenen aber dennoch fühlbar waren. Die Generation der Holocaust-Überlebenden hat, wie auch die vier hier vorge‑ stellten Fallbeispiele zeigten, nach Ende des Zweiten Weltkriegs kein jüdisches Leben wie zuvor führen können. Dies galt sowohl für diejenigen, die aus religiösen Familien stammten, als auch für die, die säkular gelebt hatten. Einerseits, weil die Erfahrungen aus dem Holocaust sie in ihrem Glauben erschütterten und sie sich von der Religion abwendeten, andererseits, weil die politischen und gesamtgesellschaftlichen Rahmen‑ bedingungen in der Nachkriegszeit durch Antisemitismus und das kommunistische Regime auch das jüdische Leben unterdrückten. Daher konnten Karl und Henry, die aus säkularen Familien stammten, auch nie ein religiöses Leben kennenlernen. Hin‑ zu kam die Emigration vieler Gemeindemitglieder, so dass es bis in die Gegenwart nur wenige der Ältesten waren, die an der Religion festhielten. Anna und Magdalena schafften es jedoch für sich, die Ausübung bestimmter religiöser Traditionen vor al‑ lem im privaten aber auch im öffentlichen Rahmen, beizubehalten und darüber im‑ mer wieder auch ihre Erinnerungen an die Familie und die Zeit vor dem Holocaust zu aktivieren. Die Generation ihrer Kinder, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, konnte nie ein religiöses und aktives jüdisches Gemeindeleben kennenlernen. Aus den Traumata, dem Schweigen, den meist geringfügig vermittelten Wissens- und Er‑
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innerungsfragmenten durch ihre Eltern und Großeltern, generierte die Nachkriegs‑ generation ihre jüdischen Identitäten. Auch wenn in den Familien bekannt war, dass sie jüdisch sind, wurde dies beispielsweise bei Ruth, Annamaria und Lena vor al‑ lem mit dem Holocaust assoziiert. Damit einher ging ein negatives Gefühl bei dem Gedanken an die jüdische Identität. Dies ist verbunden mit der Traumatradierung innerhalb der Familien, die sich zum Teil sowohl verbal, wie bei Ruth und Lena, als auch nonverbal und verknüpft mit vielen (Familien‑)Geheimnissen wie bei Annama‑ ria, vollzog. Doch auch bei Lena und Ruth blieb genug Raum für die Ausbildung von Ängsten im Zusammenhang mit Phantasien über den Holocaust, da dieser eher bei‑ läufig thematisiert und in den Familien nie aufgearbeitet wurde. Im Zusammenhang mit dem Jüdischen stand für diese AkteurInnen also vor allem Gefahr und Bedro‑ hung, denn über positive Erfahrungen und jüdische Traditionen wurde nichts an sie weitergegeben. Entsprechend nahmen sie auch ihr jüdisches Umfeld wahr, das durch Emigration immer kleiner wurde. Die politische Unterdrückung und der latente An‑ tisemitismus in der Bevölkerung verstärkten ihre im heimischen Umfeld generierten Mechanismen im Umgang mit dem Jüdischen. 1989 hatten die Holocaustüberlebenden, die Nachkriegsgeneration und ihre Kin‑ der, die meist auch in eine Atmosphäre des Schweigens hineingeboren wurden, erst‑ mals die Möglichkeit, offener mit ihrer jüdischen Abstammung umzugehen und in der neu auflebenden jüdischen Gemeinde in Košice diese durch Aspekte wie beispiels‑ weise die Religionsausübung und durch kulturelle Veranstaltungen zu bereichern. Ella wurde in diese »neue Lebendigkeit« hineingeboren und wuchs einige Jahre damit auf. Einige aus der Generation der »Jungen«, wie Leon und Dominic, erfuhren erst im Zuge ihrer Jugend und des Erwachsenwerdens, dass sie Juden sind. Leon entdeckte das Jüdische nach und nach und wählte für sich aus dem breiten Angebot eines jü‑ dischen Lebens die Elemente aus, die für ihn mit seinem Leben vereinbar sind. Ella musste, nachdem die jüdischen Vereine für Kinder und Jugendliche in Košice aufge‑ löst worden waren und das aktive jüdische Leben stagnierte, neue Wege und Netz‑ werke finden, um ihre jüdischen Wurzeln für sich zu beleben. Auch Dominic mobi‑ lisiert für sich Ressourcen, die ihn in einem überwiegend nicht-jüdischen Umfeld in Lučenec seine jüdische Identität positiv für sich erleben lassen. Wie sich herausstellte, kommt dem familiären Gedächtnis und den in weiteren sozialen Netzwerken geteilten Erinnerungen sowohl im negativen als auch im posi‑ tiven Sinne bei allen meinen InterviewpartnerInnen eine wesentliche Rolle bei der Genese und Festigung ihrer Identitätskonstrukte zu. Daher erscheint es im Hinblick auf die zu Beginn des Kapitels gestellte Frage nach dem Vorhandensein von »new Jewish Identities« als sinnvoll, diese nicht mit einem eindeutigen »Ja« zu beantworten. Denn in allen hier vorgestellten Fällen gab und gibt es nach den großen soziokulturellen und politischen Umbrüchen und den damit ein‑ hergehenden Transformationen Bestandteile der Identitäten, die bewahrt wurden, auch wenn sich vieles veränderte. Zudem vollziehen sich Transformationen nicht von einem Moment auf den nächsten, sondern allmählich und prozesshaft (vgl. Kapitel 1.1). Daher verliefen
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die Übergänge und Veränderungen im Leben der AkteurInnen nicht plötzlich und schnell, so dass nach der politischen Zäsur 1989 viele der »alten« Elemente und Bau‑ steine in ihren Lebenswelten und Identitätskonstrukten beibehalten wurden. Das galt in unterschiedlichem Maß für alle hier vorgestellten Beispiele. In Lučenec nahmen die Aktivitäten der ehemaligen jüdischen Gemeinde immer weiter ab, so dass auch Anna mit dem Älterwerden einige der jüdischen Traditionen nur noch zu Hause und für sich alleine auslebt. Auch Magdalena übt dies weiterhin aus, um damit für sich Kontinuität im Alltag zu schaffen. Sie, Karl und Henry nutzten in jeweils unterschied‑ licher Intensität die neuen Angebote, die es nach 1989 in der jüdischen Gemeinde in Košice und darüberhinaus für sie gab, ihre Abstammung zu be- und erleben. Karl begab sich ab 1989 auf eine intensive Suche nach seiner jüdischen Identität, die er auf vielfältige Weise durch soziale Netzwerke, das Internet und Medien beleben konnte. Die Nachkriegsgeneration, vertreten durch Annamaria, Lena und Ruth, bekam nach Jahren des Schweigens und der Unterdrückung im Sozialismus auch die Chance, ihre jüdische Identität neu für sich zu entdecken. Annamaria und Lena nutzen zu einem gewissen Maß die Angebote, die sich ihnen dafür bieten, gewähren dem Jüdischen aber auch aus Vorsicht keinen großen Raum in ihrem Leben. So ist es auch bei Ruth, die das jüdische Gemeindeleben zwar kennenlernte, aber wie Lena aufgrund der dort herrschenden Konflikte und des mangelnden Angebots außer an den sozialen Kon‑ takten zu Freunden und Bekannten, kaum Interesse daran hat. Insgesamt hat sich herausgestellt, dass sich im Zuge der vielschichtigen Transfor‑ mationen nach 1989 zahlreiche neue Möglichkeiten für alle AkteurInnen eröffneten, ihre jüdischen Identitäten neu für sich zu entdecken und zu erfahren. Alleine das Internet und die sich verändernden und neu etablierenden Erinnerungskulturen und Netzwerke boten ein breites Spektrum an Optionen für die AkteurInnen. Diese Ange‑ bote wurden von Fall zu Fall auf unterschiedliche Weise genutzt. In der prozesshaften Entwicklung und Konstruktion von Identitäten spielt, wie Heiner Keupp und Kolle‑ gInnen (vgl. ebd. 2002) zeigen, stets auch die Vergangenheit eine Rolle. Und gerade weil die (jüdischen) Identitätskonstrukte meiner AkteurInnen wesentlich von den Erinnerungen und bereits bestehenden Identitätsbausteinen getragen werden, kann hier nicht die Rede von »new Jewish Identities« sein. Wie in Kapitel 2.2.3 beschrieben, fungieren die Erinnerungen in den Identitätskonstruktionen meiner AkteurInnen tatsächlich als »Kleber«, der, je nachdem, ob es positive oder negative Erinnerungen sind, die Identitätsbausteine mal besser, mal schlechter zusammenhält. Nach der Zäsur 1989 konnten die AkteurInnen die »Rezepturen« für ihre Kleber und damit auch ihre jüdischen Identitäten wieder stärken und durch neue Bausteine erweitern oder alte, verdrängte, hervorholen und wieder beleben. Daher würde ich eher von »new possibilities and strategies for Jewish Identities« sprechen. Im nachfolgenden Resümee werden diese Möglichkeiten und Strategien, ihre Umstände und ihre Bedingungen im Zusammenhang mit den Kernpunkten der Ar‑ beit noch einmal zusammengefasst.
7 S chlussgedanken: Jüdische Lebenswelten voller Licht und Schatten »Das ist also mein – typisch mitteleuropäisches – Lebensmotiv: Diskontinuität. Eine Veränderung tritt ein, erzwungen von äußeren Umständen, gewaltvollen Eingriffen und alles, oder zumindest das Meiste von dem, was bis dahin gezählt hat, wird ausradiert und man beginnt bei Null. Es wird nur ab dem neuen Beginn gezählt, man geht also von einer anderen Zeitrechnung aus.« (Kalinová 2012: 9)
Das, was die slowakische Holocaustüberlebende Agnesa Kalinová hier zu Beginn ih‑ rer Biografie schreibt, fasst treffend die Erfahrungen ihrer Generation in meinem Feld zusammen und knüpft auch an die zuletzt getroffenen Aussagen in Kapitel 6.4 an. Wie vor allem in den Kapiteln 4 und 6 dargestellt wurde, sind die Lebenswelten der Menschen mit jüdischer Abstammung im slowakisch-ungarischen Grenzraum von zahlreichen, vielschichtigen Brüchen geprägt, die sich in unterschiedlichem Maße auf ihre Identitätskonstruktionen auswirkten. Diese Erfahrungen und insbe‑ sondere der Umgang mit ihnen übertrugen sich, oft gefiltert durch Schweigen und Verheimlichen, bis in die Gegenwart von einer Generationen auf die nächste. Was die Aussage von Agnesa Kalinová so interessant für diese Arbeit macht, ist das, was ihr zufolge angesichts dieser wirkmächtigen Zäsuren ganz oder teilweise aus dem vorherigen Leben der Menschen »ausradiert« wurde. Von außen betrachtet er‑ scheint dieses Bild nachvollziehbar, denn nach dem Holocaust wandten sich viele der Überlebenden vom Judentum ab. Dass einige, selbst wenn sie es gewollt hätten, nur in geringem Maße wieder an ihr Leben vor dem Holocaust anknüpfen konnten, ist den Lebensbedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg geschuldet. Denn dies wurde durch das repressive kommunistische Regime und den weiterhin herrschenden Antisemitis‑ mus in der (Tschecho)Slowakei nahezu verhindert. Dabei ist jedoch auch zu beachten, dass die Repressionen gegen die jüdische Bevölkerung während des Sozialismus nicht durchgehend in gleicher Härte umgesetzt wurden und es einige wenige Phasen gab, während derer Aktivitäten der jüdischen Gemeinden vom Regime zum Teil geduldet wurden (vgl. Kapitel 4.1.3). Hinzu kamen, bedingt durch die politischen Brüche, auch mehrfache Grenzver‑ schiebungen in dem Gebiet zwischen Ungarn und der Slowakei. Damit einher gingen
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auch nach dem Zweiten Weltkrieg Anfeindungen und politische Ressentiments gegen die Juden aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit. Diese Spannungen sind gerade nach der politischen Wende 1989 und der Unabhängigkeitserklärung 1993 und der damit einhergehenden Suche nach einer nationalen Identität in der Slowakei in Ge‑ stalt rassistischer Ausschreitungen gegen die ungarische und andere Minderheiten, wieder virulent geworden. Wie in Kapitel 6 dargestellt, haben alle von mir befragten Generationen insbe‑ sondere nach der Zäsur 1989 neue Möglichkeiten und Wege gefunden, die jüdischen Anteile ihrer Identitäten zu entdecken, sie zu beleben und für sich auf verschiedene Weise zu intensivieren. Was in dieser Arbeit gezeigt werden konnte ist aber auch, dass die von mir be‑ fragten Menschen angesichts dieser vielen Brüche nicht immer »bei null« anfingen und nicht »alles ausradiert« werden konnte, was in der Vergangenheit lag. Auch wenn die Menschen ihre negativen Erinnerungen an den Holocaust vergessen, auslöschen und, wie beispielsweise auch Annamaria gesagt hatte, »ausradieren« wollten, so wur‑ den diese Erfahrungen in unterschiedlichen Anteilen in ihren Gedächtnissen wei‑ tertransportiert und innerhalb der Familien auch weitergegeben. Denn Vergessen vollzieht sich nie intentional, wie unter anderem Aleida Assmann feststellte (vgl. ebd. 2006a: 104). Allerdings konnte mit Anna und Magdalena gezeigt werden, dass einige Menschen ihr Jüdisch-Sein trotz ihrer Erfahrungen während des Holocaust und trotz den Repressionen während des Sozialismus für sich ausleben konnten und dies bis in die Gegenwart weiterführten. Die Epoche, die nach der Zäsur 1989 anbrach, kann in vielerlei Hinsicht als ein Neuanfang gesehen werden. Zum einen erwachten einige jüdische Gemeinden in der Slowakei, wie die in Košice, wieder zu neuem Leben. Indem nach über einem halben Jahrhundert des Schweigens der Opfer des Holocaust und der ideologisch gefärbten Geschichtsschreibung von einer jüngeren Generation Fragen nach der Vergangen‑ heitsaufarbeitung aufgeworfen wurden, etablierten sich auch neue Erinnerungs‑ diskurse. Damit wurde den Stimmen der Opfer auch auf lokaler, nationaler, trans‑ nationaler und internationaler Ebene Gehör geschenkt. Dass die Aufarbeitung der Vergangenheit und die Gedächtnislandschaften nach wie vor lückenhaft sind, konn‑ te auch im Hinblick auf das kulturelle Erbe der jüdischen Gemeinde in Košice und Lučenec deutlich gemacht werden. Sowohl in Košice, wo es eine aktive jüdische Ge‑ meinde gibt, als auch in Lučenec, wo immer seltener informelle Treffen der wenigen verbliebenen Mitglieder der Kommune stattfinden, ist es vor allem das materielle jü‑ dische Kulturerbe in Form der Synagogen, das temporär und für bestimmte Bevölke‑ rungsgruppen Anknüpfungspunkte zum kommunikativen, sozialen und kulturellen Gedächtnis bietet. Voraussetzung dafür sind die »in einer Gesellschaft vorhandenen Wissensbestände«, denn nach Beate Binder liefern »tradierte und aktuelle Überzeugungen und Werte […] Deutungsangebote für den gebauten Raum. Doch Wissen macht die symbolische Textur einer Stadt, das städtische Palimpsest in unterschiedlicher Weise lesbar […] Durch die Bezugnahme auf geteilte historische Wissensbestände kann die Stadt zu einem
Schlussgedanken: Jüdische Lebenswelten voller Licht und Schatten | 383 Raum kollektiver Identifikationsangebote werden. Durch kollektiv geteiltes Wissen wird das Lesen zu einer Erfahrung, die Gemeinschaft herstellt und festigt.” (Ebd. 2009: 15 f.)
Die städtischen Gedächtnislandschaften in Košice und Lučenec stellten sich im Hin‑ blick auf das immaterielle und materielle jüdische Kulturerbe als fragmentiert und auch im Umgang damit als äußerst konflikthaft dar. Dies hat sowohl damit zu tun, dass viele in der Stadt lebende Menschen kaum Wissen über die jüdische Gemeinde und Kommune haben und dieses erst generiert werden müsste. Andererseits übt sich auch die jüdische Gemeinde öffentlich in Zurückhaltung, so dass vor allem ihre Erin‑ nerungsorte im Rahmen städtischer Vermarktungsstrategien als touristische Attrak‑ tionen vermittelt werden, die lebendigen Bezüge zu den Objekten jedoch weitgehend ausgespart bleiben. Die Konstitution der städtischen Gedächtnislandschaften machte unter anderem auch deutlich, dass Transformationen prozesshaft sind und sich nicht plötzlich von einem Moment auf den anderen vollziehen. Sie laufen vielschichtig und auf mehre‑ ren Ebenen ab und berühren einzelne Bereiche – öffentlich wie privat – in unter‑ schiedlichem Maße und sparen einige ganz aus. Für diejenigen, die sich nie bewusst mit dem jüdischen Leben und Kulturerbe in Košice und Lučenec auseinandergesetzt haben, gibt es nach wie vor keine Anbindung an die kommunikativen und sozialen Gedächtnisse, in denen die jüdische Vergangenheit und Gegenwart in den Städten ausgehandelt wird. Diese Bewusstseins- und Gedächtnis-»Formationen« haben sich (noch) nicht gewandelt. Das gilt auch für die Lebenswelten und Identitätskonstruktionen der Menschen mit jüdischer Abstammung in beiden Städten. Wie sich gezeigt hat, gab es bei keiner/m der AkteurInnen einen plötzlichen und totalen Übergang etwa von einem nicht-jü‑ dischen Leben in ein jüdisches, sondern die Aushandlung geschah allmählich. Dabei waren jedoch nicht nur die »großen« Brüche und Veränderungen, wie die Neukons‑ titution der jüdischen Gemeinde in Košice und die Intensivierung des jüdischen reli‑ giösen und kulturellen Lebens nach 1989, an denen sie nun auch öffentlich teilhaben konnten, wesentlich, sondern auch die kleineren Momente der Transformationen im Alltag der AkteurInnen. So wirkten die Erfahrungen aus der Vergangenheit, wie ihre Sozialisation in der Kindheit und Jugend, der Freundeskreis, ihre (»Misch‑«)Ehen, die innerfamiliären Beziehungen und der Dialog über deren Geschichte sowie Erfahrun‑ gen mit Antisemitismus und Konflikte innerhalb der Gemeinde oder auch die Entde‑ ckung des Koscheren in einer nicht-koscheren Ernährungsweise, auf ihre Identitäts‑ arbeit ein. Nach 1989 waren beispielsweise auch die Freiheit zu Reisen, das Internet als Vernetzungs- und Informationsquelle sowie die Verfügbarkeit von Literatur über das Judentum für viele wichtige Elemente, um ihre jüdischen Identitäten zu beleben. Diese Ebenen der vielschichtigen, heterogenen lebensweltlichen Erfahrungen und Identitätskonstruktionen herauszufinden, gelang nur über die im Feld aufgebaute Nähe zu den AkteurInnen und die offenen, narrativ-biografischen Interviews. Der hier angewandte Methodenpluralismus aus teilnehmender Beobachtung, Archivre‑ cherchen und Medienanalysen erlaubte zudem, diese Lebenswelten, aber auch die jü‑
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dische Gemeinde in Košice und die Kommune Lučenec in ihren jeweiligen urbanen Verflechtungen und Spannungsfeldern, nachzuvollziehen und die vielen eingefange‑ nen Stimmen und Quellen aus dem Feld heraus und für sich selbst sprechen zu lassen. Gerade die multiperspektivische und offene Herangehensweise, die ethnografi‑ sches Arbeiten auszeichnet, brachte ein breites und reichhaltiges Quellenspektrum, mit dem ich diesen bislang weißen Fleck in der Forschungslandschaft um ein buntes Bild, das detailliert und mit »hoher Tiefenschärfe« (vgl. Kaschuba 2006: 214) jüdische Lebenswelten abbildet, bereichern kann. Da sich bisher nur wenige wissenschaftliche Arbeiten mit dem jüdischen Leben in den beiden Städten beschäftigt haben, zeigt auch, dass dieser spannungs- und konfliktreiche slowakisch-ungarische Grenzraum seitens der Wissenschaft bislang ausgespart wurde. Auch hier sind unter anderem die historischen Grenzen und ihre vielfachen Verschiebungen dafür verantwortlich, dass auch über 20 Jahre nach dem Ende der kommunistischen Regime in Ungarn und der Slowakei diese heterogene Ge‑ dächtnislandschaft wie ExpertInnen erklärten, ein »verfluchtes Gebiet« (vgl. Jesenský 2013; Kapitel 4.2.4) und dies meinen Erkenntnissen nach, unter dem »langen Schatten der Vergangenheit« ist (vgl. Assmann 2006a). Mit der Metapher des »Schattens«, in dem die Menschen mit jüdischer Abstam‑ mung nach Holocaust und Sozialismus (in Tschechien und der Slowakei) leben, hat auch Alena Heitlinger ihre Arbeit betitelt (vgl. ebd. 2006). Mir ist, trotz vieler »Schat‑ ten« in meinem Feld, das jüdische Leben dort in seiner Vielschichtigkeit, Dynamik und Pluralität begegnet. Den AkteurInnen aus allen hier vertretenen Generationen gelingt es mit unterschiedlichen Mitteln und Strategien, ihre Identitätskonstrukte stimmig für ihr Leben zu gestalten, auch wenn negative Elemente wie die Erfahrun‑ gen des Holocaust immer eine Rolle dabei spielen. Diese Diversität ist es, die laut der Soziologin Tina Gyárfášová den jüdischen Iden‑ titäten auch zukünftig ihre Stärke sichern wird: »Die Skala der Möglichkeiten, die in der individuellen Identität eine Rolle spielen, ist sehr breit. Ich stelle sie mir als einen Tisch vor, mit vielen Füßen. Wenn auch einige nicht so stark sind, (beispielsweise der religiöse Aspekt), sind andere stärker und halten ihn weiter« (ebd. 2008: 187). Mein Interviewpartner Dominic aus der Generation der »Jungen« bestätigt – wie auch die meisten anderen hier vorgestellten Beispiele – diese These. Er erfuhr erst mit 18 Jah‑ ren von seiner jüdischen Abstammung, und mittlerweile ist sie für ihn ein zentrales Element seiner Identität, dem er in seinem Leben viel Raum gibt. Er traf über die jüdi‑ sche Kommune in Lučenec folgende Aussage: »Auch wenn sie klein ist, es gibt sie. Das kleine Licht ist da.« So bestätigt er seinen positiven Bezug zum Jüdischen. Damit steht er, wie hier gezeigt werden konnte, nicht alleine, doch gibt es auch in diesem Feld viele Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen keinerlei Verbin‑ dung zu ihren jüdischen Wurzeln aufbauen können und wollen. Einige von ihnen haben, wie mit Agnesa Kalinová einleitend beschrieben, beispielsweise nach dem Ho‑ locaust »bei Null« angefangen und hüten ihre jüdische Vergangenheit als ein Geheim‑ nis. Dass es sie gibt und sie auch verborgen hinter einer Mauer aus Schweigen einen
Schlussgedanken: Jüdische Lebenswelten voller Licht und Schatten | 385
Einfluss auf diejenigen hat, die mit ihr in Berührung kommen, wurde in dieser Studie auch herausgearbeitet. Die Schatten der Vergangenheit können demnach nur dort durch Licht erhellt werden, wo den Erinnerungen bewusst Raum gegeben wird. Daher soll diese Studie mit den Worten des Holocaustüberlebenden Elie Wiesel enden. Sie drücken aus, was die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft der jüdischen Lebenswelten nicht nur in dem hier vorgestellten Feld bestimmt: »For in the end, it is all about memory, its sources and its magnitude, and, of course, its consequences« (Wiesel 2006: XV).
8 Glossar Alle im Glossar aufgelisteten Begriffe wurden im Text erwähnt. Die Erklärungen entstammen verschiedenen Quellen, die Meisten wurden direkt oder indirekt der Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (Diner 2013a-d), der Encyclopedia of Jewish Life and Thought (Pearl 1996) sowie den Werken von Borský (2007), Roden (2012), Ydit (1984) und Stern (1999) entnommen. Aaron Ha-Kodesch: Torahschrein, in dem die Torahrolle in der Synagoge aufbe‑ wahrt wird. Der Schrein befindet sich an der Wand der Synagoge, die in Richtung Israel liegt. Alijah: Beschreibt die Migration von Juden nach Israel. Aschkenasim: Juden, die sich ab dem Mittelalter nördlich der Alpen und in den Os‑ ten ausdehnten. Ihr Zentrum befand sich ab der Neuzeit in Polen und Litauen. Als wichtigstes Emblem galt für die Aschkenasim nach dem Zweiten Weltkrieg die jid‑ dische Sprache. Barches/Challa: Weiches Brot, das in Zopfform geflochten und anlässlich bestimm‑ ter Feiertage in unterschiedlichen Formen (rund, oval u. a.) und mit unterschiedli‑ chen Zutaten, wie beispielsweise Sesam oder Rosinen versehen, gegessen wird. Bar/Bat Mitzwa: Ritus, der die Religionsmündigkeit von Jugendlichen und ihre Auf‑ nahme als vollgültige Mitglieder in die jüdische Gemeinschaft markiert. Bar Mitzwa bezeichnet den männlichen, Bat Mitzwa den weiblichen Übergangsritus. Beit Midrash/Beit Midrasch: Lehrhaus. Bimah: Kanzel in einer Synagoge, die je nach Glaubensausrichtung eine andere Posi‑ tion in der Synagoge hat. In orthodoxen Synagogen ist sie in der Mitte des Raums, in neologischen in der Nähe des Thoraschreins. Brachá: Gebet.
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Chanukka: Das acht Tage andauernde »Lichterfest« im November/Dezember. Es wird in Erinnerung an die Befreiung des zweiten Tempels im Jahre 165 v. Chr. gefeiert. Im Tempel sei laut dem Talmud Öl gefunden worden, das eigentlich nur für einen Tag gereicht hätte, aber – einem Wunder gleich – acht Tage lang gebrannt hat. In Geden‑ ken an dieses Wunder wird jeden Tag eine weitere der acht Kerzen der Chanukkia angezündet. Chanukkia: Acht- oder neunarmiger Kerzenständer, der anlässlich des Lichterfests genutzt wird. Bei einem neunarmigen Kerzenständer dient der Arm in der Mitte für die Kerze, mit der die anderen Acht entzündet werden. Chassidismus: Populäre Form der jüdischen Mystik, die aus der (heutigen) Ukrai‑ ne stammt und auf die Lehren von Ba’al Schem Tov im 18. Jahrhundert zurückgeht. Heute wird die Bewegung mit der jüdischen Ultraorthodoxie in Verbindung gebracht. Hauptmerkmal ist die Bewahrung des Traditionalismus in einer zunehmend säkula‑ ren Welt. Cheder: Jüdische Grundschule. Chewra Kadischa: Bruderschaft beziehungsweise eine Gruppe von Männern, die für die Krankenpflege und Beerdigungen in der jüdischen Gemeinde zuständig ist. Gefilte Fisch: Traditionell erster Gang beim Schabbat- und Feiertagsessen. Ursprüng‑ lich wurde die Haut eines Hechtes oder Karpfens abgezogen und mit einer Fischfarce gefüllt. Mittlerweile besteht das Gericht nur noch aus der usprünglichen Fischmasse, die zu Bällchen gerollt und in Fischfond pochiert wird. Haggadah: Buch mit bestimmten Auszügen des Talmud, das an Pessach gelesen wird. Halacha: Gesamtheit der Vorschriften, die das jüdische Leben reguliert. Hamantasch/Hamans Ohren: Dreieckiges Teiggebäck mit süßer Füllung aus Mar‑ melade, Mohn oder Nuss, das zu Purim zubereitet wird und an die Ohren des besieg‑ ten Feindes des jüdischen Volkes, Haman, erinnern soll. Andere Quellen berichten davon, dass die Dreiecksform an die Hüte erinnern soll, die zur Zeit Hamans im ba‑ bylonischen Exil getragen wurden. Haschomer Hacair: 1914 in Polen gegründete zionistische Jugendorganisation, deren Ziel es war, den marxistischen Sozialismus im gemeinschaftlichen Leben im Kibbutz in Israel umzusetzen. Haskala: Erleuchtung, jüdische Aufklärung im 18. Jahrhundert.
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Jeschiwa/Jeschiwot: Das höchste Bildungsinstitut für Studien des Judaismus, ähnlich einer jüdischen Hochschule. Neben dem Rabbiner-Seminar ist die Jeschiwa auch ein Zentrum für die Studien der Torah und des Talmud. Jom Kippur: Jom Kippur wird zehn Tage nach Rosch Haschana gefeiert und ist der Sühne- und Versöhnungstag und höchste jüdische Feiertag. An diesem Tag sind un‑ ter anderem Essen, Trinken, das Waschen oder Einölen des Körpers, das Tragen von Lederschuhen sowie eheliche Kontakte verboten. Kaddisch: Ein aramäisches Gebet zum Lobpreis Gottes. Eine der vielen Formen des Kaddisch ist das Totengebet für die verstorbenen Eltern oder Verwandten. Kaschrut: Regelwerk von Vorschriften und Handlungen über die rituelle Reinheit der Nahrung und ihrer Zubereitung, das Bestandteil der Halacha ist. Beispielsweise dürfen Fleisch- und Milchprodukte weder bei der Zubereitung, noch beim Verzehr vermischt werden. Sie müssen separat aufbewahrt und in gesondertem Geschirr zu‑ bereitet werden. Es werden nur Wiederkäuer mit gespaltenen Hufen sowie auch ei‑ nige Vogelarten als koscher betrachtet. Dazu gehören auch Fische mit Flossen und Schuppen. Obst, Gemüse, Eier, Pflanzenfette, Zucker, Honig, Kaffee, Tee, u. a. gelten als neutrale Lebensmittel, die immer sowohl mit Milch- als auch Fleischprodukten verspeist werden dürfen. Kehilla: (Jüdische) Gemeindeorganisation, die auf die Zeit des zweiten Tempels (515 v. Chr.) zurückgeht. Kibbutz: Landwirtschaftliche Gemeinschaft in Israel, in der nationale, soziale und humanitäre Ideologien zu einem Lebenskonzept verbunden werden. Das erste Kib‑ butz ist 1909 gegründet worden. Kippa/Kippot: Kopfbedeckung jüdischer religiöser Männer. Klezmer: Musikrichtung, die aus den Traditionen der aschkenasischen Juden wur‑ zelt. Koscher: Rituell unbedenkliche, taugliche Speise, die den Regeln des Kaschrut ent‑ spricht. Ma’ariv: Tägliches Abendgebet religiöser Juden. Maskir/Jiskor: Gebet – oder auch »Seelengedenkfeier« (wörtliche Übersetzung von Maskir) – zur Erinnerung an die verstorbenen Eltern oder die nächsten Verwandten und im letzten Jahr verstorbene Gemeindemitglieder, das zu vier religiösen Feierta‑ gen im Jahr (u. a. an Jom Kippur), gesprochen wird.
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Matze: Ungesäuertes Brot aus Mehl und Wasser, das unter anderem an Pessach ge‑ gessen wird. Menora: Siebenarmiger Leuchter, der zum zentralen Symbol des Judentums wurde. Er steht als Metonym für den (zerstörten) Tempel, Jerusalem und das Land Israel. Mikwe: Tauchbad, in dem sich »Verunreinigte« der rituellen Reinigung unterziehen. So nutzen beispielsweise verheiratete Frauen am Ende ihrer Monatsblutungen und nach Geburten das Bad. Dabei muss das Wasser in der Mikwe fließendem Gewässer oder Regenwasser entstammen. Minchá: Tägliches Vespergebet am Spätnachmittag. Minian: Eine Gruppe von zehn jüdischen Männern, die als Bedingung für das Zu‑ standekommen von Gottesdiensten und anderen religiösen Zeremonien nötig sind. Mitzwa/Mizwot: 613 religiöse Pflichten und Gebote, nach denen ein gläubiger Jude sein Leben ausrichten muss. Pessach: Das erste der drei Wallfahrtsfeste, bei dem die Befreiung der Juden aus der ägyptischen Sklaverei gefeiert wird. Zudem ist es auch das Fest des ungesäuerten Bro‑ tes und das Frühlingsfest im jüdischen Kalender. Purim: Wird im Frühjahr gefeiert und ist laut Aussagen meiner InterviewpartnerIn‑ nen das fröhlichste Fest im jüdischen Kalender. Es ähnelt aufgrund des Brauches sich zu kostümieren, dem Faschingsfest. Gefeiert wird der Sieg der Königin Esther gegen Haman, der alle Juden im persischen Reich töten lassen wollte. Am Purim-Abend wird die Geschichte der Rettung des jüdischen Volkes aus dem Buch Esther vorgele‑ sen, wobei dies ritualisiert durch einen Wechsel von Gebet, Gesang und bei der Nen‑ nung des Namens »Haman« durch Lärm begleitet wird. Rosch Chodesch: Monatsbeginn und Name der monatlich erscheinenden Zeitung, die vom Verbund der jüdischen Gemeinden der tschechischen Republik und der jüdi‑ schen Gemeinde in Prag herausgegeben wird (»Roš Chodeš«). Rosch Haschana: Das jüdische Neujahrsfest. Schacharit: Morgengebet. Schabbat: Am Freitag ungefähr eine Stunde vor Sonnenuntergang beginnt der Feierund Ruhetag Schabbat der bis circa eine Stunde nach dem Sonnenuntergang (wenn drei Sterne am Himmel zu sehen sind) am darauffolgenden Samstag andauert. Es gilt die Pflicht, gewisse Schabbatzeremonien zu vollziehen als auch den Feiertag
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ohne produktive Arbeit und Trauer einzuhalten. Es gibt 39 verbotene Tätigkeiten wie beispielsweise: Kochen, Backen, Schreiben, Feuermachen, Rauchen, Handwerken, Lastentragen, Transaktionen von Geld und Gütern, Haus- und Gartenarbeit, Sport, Erzeugung von Elektrizität oder die Nutzung von elektrischen Geräten, sowie alle produktiven Tätigkeiten. Erlaubt ist das Spazierengehen, die Körperpflege, das Zube‑ reiten und der Verzehr von kalten Speisen und solchen, die von selbst garen sowie die Benutzung von automatisch geschalteter Elektrizität. Scholet/Tscholent: Über Nacht gegarter Eintopf aus Rindfleisch, Kartoffeln und Boh‑ nen, der am Samstagmittag des Schabbat gegessen wird. Seder: Der Vorabend des Pessach-Festes. Am Sederabend wird den Vorgaben der Haggadah entsprechend der Tisch mit einem Sederteller gedeckt, auf dem sich be‑ stimmte Speisen sowie Kräuter befinden, die zusammen mit vier Gläsern Wein in einer bestimmten Reihenfolge verspeist und getrunken werden. Es werden Lieder ge‑ sungen und biblische Stellen in Gedenken an den Auszug aus Ägypten gelesen. Sukkot: Siebentägiges Laubhüttenfest, dem Erntedankfest ähnlich. In Erinnerung daran, dass die Juden einst ein Nomadenvolk waren und keine Ernteerträge hatten, soll an diesem biblischen Fest Dank für die Gaben Gottes zum Ausdruck gebracht werden. Dazu wird eine Sukka (Laubhütte) erbaut, in der man während der Festzeit wohnen soll. Tallit: Gebetsschal aus Wolle, Leinen oder Seide, der während bestimmter ritueller Zeremonien, beispielsweise an Jom Kippur, angelegt wird. Üblicherweise ist der Schal weiß mit schwarzen oder dunkelblauen Streifen. Tefilin: Zwei Gebetskapseln mit Gebetsriemen aus Leder. Eine der Kapseln wird auf dem Kopf befestigt, die andere um den Arm gewickelt. In diesen Kapseln befinden sich auf Pergament geschriebene Stellen aus der Torah. Tefilin werden – meist von religiösen Männern – zum Gebet getragen. Talmud: Ist nach der Bibel das wichtigste Buch im Judentum. Er besteht aus zwei Tei‑ len, der Mischna und der Gemara und beinhaltet die Auslegungen und Erklärungen der biblischen Gesetze. Torah: Das erste der fünf Bücher der Bibel und die Basis des jüdischen Gesetzes und Glaubens.
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9.2.4 Abbildungsverzeichnis Die Abbildungen 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 10, 11, 12, 18 sowie die Fotografie auf dem Buchcover wurden von der Autorin selbst aufgenommen.
Literatur und Quellen | 427
Abbildung 8: Fotografie aus dem Archiv des Amtes für Denkmalschutz Košice: Die Originalkuppel der neologischen Synagoge nach dem Umbau zum Haus der Kunst. Aus: Akte Nr. KE-02/250/1499/HL. Abbildung 9: Fotografie aus dem Archiv des Amtes für Denkmalschutz Košice: die orthodoxe Synagoge an der Puškinová nach ihrer Restaurierung 2009, mit Blick auf die Bimah und den Thoraschrein. Abbildungen 13, 15, 16, Postkarten aus dem MiC Lučenec (städtisches Informati‑ onszentrum Lučenec), herausgegeben im Jahr 2008 von der Agentur ES. Abbildung 14: Postkarte aus dem MiC Lučenec, gezeichnet von I. Beník, herausgege‑ ben von DH Grafika (Jahr unbekannt). Abbildung 17: Stieranková, Eva et al. (2007): Lučenec – srdce Novohradu. [Lučenec – das Herz von Novohrad. Traditioneller Reiseführer.] Velký Krtíš, S. 10.