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German Pages 352 Year 2014
Stefanie Husel Grenzwerte im Spiel
Theater | Band 65
2014-06-26 09-41-19 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03c4370185537572|(S.
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Stefanie Husel (Dr. phil.) lehrt Theaterwissenschaft und ist als wissenschaftliche Koordinatorin des Forschungszentrums für Sozial- und Kulturwissenschaften (SoCuM) sowie des IPP Performance and Media Studies an der Universität Mainz tätig.
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Stefanie Husel
Grenzwerte im Spiel Die Aufführungspraxis der britischen Kompanie »Forced Entertainment«. Eine Ethnografie
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Titelbild sowie alle anderen Abbildungen im Buch: © Husel, Düsseldorf, 2012 Lektorat & Satz: Stefanie Husel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2745-9 PDF-ISBN 978-3-8394-2745-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt
V ORWORT | 7 I.
V ERSPIELTES T HEATER | 9 1. 2. 3. 4. 5.
Zum Gegenstand: Im Spiel Forced Entertainments | 9 Analytisches Außen | 15 Interdisziplinäre Grenzgänge: Zur Methode | 24 Schreiben mit dem Finger auf der Fernbedienung | 31 Ziele und Aufbau der Arbeit | 34
II. S PIEL – V OM P HÄNOMEN ZUM M ODELL | 37 1. 2. 3. 4.
Anthropologische Ansätze | 40 Ästhetische und semiotische Spiel-Metaphern | 48 Das Spiel als Modell sozialer Situationen | 58 Fazit: Spielregeln – Vokabular für eine Ethnographie | 65
III. S PIELRÄUME . Z EIT - UND R AUMGESTALTUNG DER A UFFÜHRUNGEN | 73 1. 2. 3. 4.
Begriffsklärung: Innere und äußere Klammern | 73 Produktion von Aufführungszeit | 76 Materialisierungen: Zeit-Raum und Raum-Zeit | 101 Aufführungsräume | 110
IV. S PIELFIGUREN DER A UFFÜHRUNGEN | 121 1. 2. 3. 4.
Begriffsklärung: Darsteller, Rollen und Figuren | 122 An den leiblichen Grenzen der Figuren | 126 Um Kopf und Kragen: Sprechweisen der Inszenierungen | 153 Figuren im Ensemblespiel | 178
V. S PIELER – D AS P UBLIKUM DER A UFFÜHRUNGEN | 191 1. Begriffsklärung: Zuschauer als Spieler | 192 2. Appellstruktur(en)? | 204 3. Dramaturgie der negativen Erfahrung | 230 4. Empirische Publikumsforschung | 243
VI. C OMING HOME | 269 1. Proben-Forschung als Forschung über das Zuschauen | 270 2. Souvenirs | 303 VII. K ONTEXTE | 307 1. E-Mail Interviews, 2004-2006 | 307 2. Live Interviews 2008-2010 | 318 5. Szenare | 327 Q UELLENVERZEICHNIS | 331
Vorwort Diese Arbeit nahm ihren Anfang in meiner Begegnung mit der britischen Theaterbzw. Live-Art-Gruppe Forced Entertainment. Nachdem ich im Jahr 2001 zum ersten Mal ein Stück der Gruppe gesehen hatte, First Night, dessen seltsame, für mich zu diesem Zeitpunkt noch nicht einzuordnende Intensität mich begeisterte, nahm ich zwei Jahre später die Gelegenheit wahr, für einen kurzen Zeitraum im Probenprozess der Inszenierung Bloody Mess zu assistieren. Ausgehend von diesen beiden ersten Zusammentreffen entwickelte sich eine langjährige Beziehung zwischen mir und Forced Entertainment. Nach meiner ersten Assistenz besuchte ich noch oft Proben und Aufführungen, interviewte Gruppenmitglieder und führte E-MailKonversationen mit Tim Etchells, der meist als Sprecher und oft auch als ›Hausautor‹ der Kompanie fungiert. In meiner theaterwissenschaftlichen Magisterarbeit The Parts of the Bargain aus dem Jahr 2005 habe ich mich erstmals umfassend mit Darstellungsweisen Forced Entertainments befasst. Die vorliegende Studie, die auf die Inszenierungen Bloody Mess und The World in Pictures fokussiert, fasst die Ergebnisse meiner langen Bekanntschaft mit der Kompanie zusammen und bearbeitet eine Reihe epistemischer Fragen, die eine Wissenschaft des »post-dramatischen« Theaters aufwirft. Meine Arbeit versteht sich dabei als interdisziplinär: Sie ist nicht nur theoretisch und methodisch zwischen zwei wissenschaftlichen Disziplinen angesiedelt, sondern wurde auch von zwei Seiten betreut – aus der Theaterwissenschaft durch Prof. Hans-Thies Lehmann und aus der Soziologie durch Prof. Stefan Hirschauer. Insofern könnte man diese Arbeit auch als das Ergebnis einer beständigen Reisetätigkeit beschreiben: einer Reise zwischen den beiden genannten Disziplinen, sowie zwischen theoretischer Reflexion und praktischen ›Feldaufenthalten‹. Die Aufgabenstellung der Studie wuchs mit und an ihrem Gegenstand. Um dieser Entwicklung auch in der Darstellung des Forschungsprojekts gerecht zu werden, verzichtet mein Buch daher auf eine radikale Unterscheidung von theoretischer Herleitung und der Darstellung empirischer Daten. Stattdessen werde ich zunächst in zwei aufeinander aufbauenden kurzen Kapiteln die Ausgangslage sowie die ›Ausrüstung‹ meiner ›Reise‹ beschreiben, um danach direkt in einen ›Reisebericht‹
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einzusteigen: Unter I. stelle ich meine doppelte disziplinäre Herkunft vor und berichte über die Verortung der Gruppe Forced Entertainment und ihrer Inszenierungen Bloody Mess und The World in Pictures in der Theaterpraxis und in deren ästhetischer Reflexion. Unter II. stelle ich mein wichtigstes begriffliches Werkzeug vor, den Spielbegriff, der mir bei meinen ›Expeditionen‹ treue Dienste geleistet hat. Unter III., IV. und V. findet sich ein ethnographischer Bericht zu den Aufführungssituationen von Bloody Mess und The World in Pictures. Unter VI. möchte ich ausblickend zeigen, dass eine dichte Beschreibung von Theateraufführungen nur unter Einbezug anderer Situationen machbar wird; ich schlage daher an dieser Stelle die Ausweitung der Aufführungsanalyse auf eine Erforschung von Probensituationen vor. Meinen beiden Betreuern, Hans-Thies Lehmann und Stefan Hirschauer, sowie den Kollegen aus meinen beiden ›Heimatorten‹ (also allen Mitgliedern des theaterwissenschaftlichen Doktorandenkolloquiums der Universität Frankfurt und des soziologischen Praxiskolloquiums der Universität Mainz) danke ich dafür, dass sie geduldig viele meiner unausgereiften ›Reiseerzählungen‹ ausgehalten haben und mir in ihren Kommentaren und Präsentationen zahlreiche Anregungen mit auf den Weg gaben. Forced Entertainment danke ich dafür, dass sie mich so bereitwillig aufgenommen, und manchmal sogar beherbergt haben, sich piesacken, beobachten und ausfragen ließen – insgesamt ganze acht Jahre lang. Mein spezieller Dank gilt dabei Tim Etchells, insbesondere auch für seine freundliche Erlaubnis, gesammeltes Material im Rahmen dieser Arbeit zu veröffentlichen. Schließlich danke ich meiner Familie, die meine frequenten (geistigen) Absenzen verziehen hat und mich immer wieder ermutigte, weiter zu gehen.
Stefanie Husel, Düsseldorf 2013
I. Verspieltes Theater 1. Z UM G EGENSTAND : I M S PIEL F ORCED E NTERTAINMENTS »About Us: We are a group of six artists. We started working together in 1984 and in the many projects we’ve created we’ve tried to explore what theatre and performance can mean in contemporary life. [...] As well as performance works, we’ve made gallery installations, site-specific pieces, books, photographic collaborations, videos and even a mischievous guided bus tour. We’re based in Sheffield but we present the work we make all over the world.«1
Forced Entertainment arbeiten als Kerntruppe von sechs Personen seit 1984 zusammen. Als freie Truppe, also als nicht an einen speziellen Spielort oder Geldgeber gebundene Arbeitsgemeinschaft, gelingt es ihnen inzwischen seit dreißig Jahren, ein Publikum zu finden und an sich zu binden, wie es sich in zahlreichen Publikationen und begeisterten Kritiken zu ihrer langjährigen Zusammenarbeit zeigt. Die Bekanntheit der Gruppe hat sich in den vergangenen fünfzehn Jahren enorm gesteigert: vormals Geheimtipp auf kontinentaleuropäischen Off-Theater-Festivals, touren Forced Entertainment inzwischen weltweit.2 Insofern ist die Kompanie im wechselhaften Umfeld der freien bzw. Off-Theaterszene, alleine schon auf Grund ihres konstanten und anwachsenden Erfolges, ein hochinteressanter Fall sowohl für ästhetisch-theaterwissenschaftliche wie auch für sozialwissenschaftliche Untersuchungen. Die in Sheffield stationierte Gruppe produziert hauptsächlich Projekte, in denen Macher und Publikum sich in Aufführungssituationen live begegnen. Im Theaterumfeld wird die Gruppe als eine der wichtigsten »Avantgarde«-Kompanien der letzten Dekaden gehandelt; dasselbe Label nutzen auch die Mitglieder, um das ei-
1
Aus der Selbstbeschreibung der Gruppe Forced Entertainment auf deren Homepage; vgl. http://www.forcedentertainment.com/page/3009/About-Us (zuletzt geprüft am 01.04.2014).
2
Eine Google-Karte mit allen Orten, an denen Forced Entertainment ihre Arbeiten gezeigt haben, findet sich unter http://www.forcedentertainment.com/page/3038/Past-Tour-Dates (zuletzt geprüft am 01.04.2014).
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gene Schaffen zu adressieren, wenn auch manchmal in ironisierter Weise. Forced Entertainment werden dabei in den Kontext all jener Künstler gestellt, die kritische, politisch relevante und post-moderne Ästhetiken vertreten, ästhetische Konzepte also, die sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie auf die eigene theoretische wie praktische Herkunft reflektieren und diese vielfach auch kritisieren.3 »Forced Entertainment steht seit Jahren im Mittelpunkt der internationalen experimentellen Theater- und Performance-Szene wie kaum eine andere Kompanie: Unverwechselbar, spielerisch und zugleich hoch reflektiert zieht die britische Gruppe mit ihrer mal lustvoll überbordenden, mal puristisch reduzierten Ästhetik Theaterliebhaber wie Fachleute weit über Europa hinaus in ihren Bann.«4
Auch die Kompanie beschreibt ihre künstlerischen Intentionen als (selbst)reflexiv und kritisch: »It’s seriously playful work and we’re still trying to answer our questions about theatre and performance – about what those things might be for us and what kinds of dialogue they can open with contemporary audiences.«5 Es mag in Anbetracht dieser Selbst- und Fremdbeschreibungen auf den ersten Blick verwundern, dass nur einige wenige der Live-Art Arbeiten Forced Entertainments die traditionelle Theater-Aufteilung in Zuschauer und Schauspieler komplett aufgebrochen haben, wie es zum Beispiel in einer Bustour der Fall war, während der das Publikum zu Teilnehmern einer inszenierten Stadtrundfahrt durch Sheffield wurde.6 Von den insgesamt 58 Projekten, welche die Gruppe auf ihrer Homepage dokumentiert, sind 37 als »theatre performance« oder »durational performance« kategorisiert.7 In den meisten Projekten, die die Gruppe in den vergangenen siebenundzwanzig Jahren produziert und zur Aufführung gebracht hat, blickt also ein sitzendes Publikum aus dem Dunkeln auf das theatrale Aufführungsgeschehen. Al3
Zur Selbstverortung der Kompanie vgl. auch Kapitel V. und VI. der vorliegenden Arbeit.
4
Auszug des Textes auf der Buchrückseite von Not even a Game anymore (Hel-
5
Aus der Selbstbeschreibung der Gruppe Forced Entertainment auf deren Homepage.
mer/Malzacher/Benecke et al 2004). Vgl. unter http://www.forcedentertainment.com/page/3009/About-Us (zuletzt geprüft am 01.04.2014). 6
Der Begriff Live-Art wird im Feld zeitgenössischer Theatermacher, insbesondere im angelsächsischen Kontext, gerne alternativ zum traditionell anmutenden Theaterbegriff verwendet, vgl. z.B. Heathfield 2004.
7
Auch die durational performances nutzen die erwähnte traditionelle TheaterBlickordnung, sie heben sich allerdings von ›gewöhnlichem‹ Theater ab, da sie aufgrund ihrer langen Dauer nicht von ihrem Publikum verlangen, ununterbrochen im Zuschauerraum zu verharren; vielmehr können Zuschauer kommen und gehen, wie es ihnen beliebt. Die Aufführung läuft unterdessen immer weiter.
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lerdings fordern diese Arbeiten Sehgewohnheiten im Medium einer zunächst traditionell erscheinenden Theatersituation heraus, die Aufführungssituation wird insofern in situ bespiegelt.8 Florian Malzacher und Judith Helmer fassen im von ihnen mit herausgegebenen Sammelband zum Theater Forced Entertainment deren doppelbödig-reflexive Art des Theaterspiels wie folgt zusammen: »Die britische Theatergruppe Forced Entertainment [...] liebt das Theater ebenso, wie sie ihm misstraut. Lässt sich von ihm treiben und mitreißen, ebenso wie sie es vorführt, an seine Grenzen bringt, es scheitern lässt, mal implodierend, mal explodierend.« (Malzacher/Helmer 2004: 12) Neben solcher Reflexivität wird die Gruppe auch dafür gefeiert, dass ihre Aufführungen Zuschauer auf eine besonders intensive Art involvieren, gewissermaßen mit ins Spiel nehmen – manchmal sogar auf fast schmerzhafte Weise, wie Lyn Gardner in ihrer Kritik zu Forced Entertainments Bloody Mess bemerkt: »Forced Entertainment know how to get you where it hurts. They make you roar with laughter, then leave a ruin of a smile on your face as they force you to contemplate your own mortality. They can make you feel only as desperate as you can feel at 4am after a really good party when somebody turns on the overhead light. [...] It is ridiculously good.«9 Als ich selbst im Jahr 2001 zum ersten Mal eine Aufführung von Forced Entertainments Inszenierung First Night sah, in der zehn grinsende Showmaster-Figuren beständig an ihrem vorgeblichen Versuch scheitern, ihr Publikum fröhlich und seicht zu unterhalten, faszinierte auch mich diese Kombination aus traditioneller Theatersituation und einer irgendwie gar nicht zum distanzierten Sitzen im dunklen Zuschauerraum passenden Nähe, die zum Aufführungsgeschehen spürbar wurde. Auch fühlte ich mich vollkommen in das Bühnengeschehen von First Night ›eingespielt‹, involviert, sogar immer wieder auf spielerische Art persönlich angesprochen, manches Mal ertappt. Die Aufführung schien mich ganz genau zu kennen und mit mir zu spielen. Ähnliches berichtet Sylvia Staude in der Frankfurter Rundschau, in einer Kritik zu einer Aufführung von The World in Pictures: »Aber Vorsicht: Forced Entertainment wissen verdammt genau, was sie tun, und sie haben einen schon am Wickel als man noch denkt: Und?«10 Als ich zwei Jahre nach meinem ersten Aufführungserlebnis mit First Night die Gelegenheit erhielt, bei den Endproben zur Produktion Bloody Mess zu assistieren, hoffte ich daher, hinter das ›Geheimnis‹ dieser Art des Theaters zu gelangen, dessen Spiel mich zuvor so intensiv involviert hatte. Im Folgenden soll daher – in einem
8
Eine theoretische Einordnung solch selbstreflexiver Theaterarbeit in den Kontext »postdramatischer« (u.a.) Theaterästhetik findet sich im folgenden Unterpunkt.
9
Lyn Gardener: Bloody Mess. In: The Guardian vom 03.11.2004.
10 Sylvia Staude: Denn sie wissen, was sie tun. In: Frankfurter Rundschau vom 30.01.2007.
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persönlichen Bericht – geschildert werden, wie meine erste Erfahrung auf den ›Hinterbühnen‹ Forced Entertainments verlief.11 Im Oktober 2003 assistierte ich im Rahmen eines über die Bayerische Theaterakademie vermittelten Praktikums gemeinsam mit zwei weiteren Studentinnen bei den Endproben der Inszenierung Bloody Mess, die im Akademietheater in München im Vorfeld des SpielArt Theaterfestivals stattfanden.12 Die Mitglieder der Kompanie verstanden uns als unerwartetes, doch willkommenes ProbenPublikum. Wir wurden gebeten, während der Proben zu beobachten, was uns geboten wurde und ggf. am Ende des Tages mit der Gruppe über das zu diskutieren, was wir gesehen hatten. Außerdem assistierten wir reihum bei der Handhabung einer Videokamera, mit der alle Probenarbeit gefilmt wurde. Unerwartet fand ich mich also, schon bei dieser ersten persönlichen Begegnung mit der Kompanie, in einer für die »teilnehmende Beobachtung« prädestinierten Situation wieder.13 Zwischen zehn Uhr vormittags und spät abends wechselten sich Improvisationsproben mit langen Besprechungen und Diskussionen der improvisierten Szenen ab. Während der Improvisationen lief die erwähnte Videokamera ständig mit; dabei wurde nicht fokussiert, sondern lediglich eine Totale des Geschehens aufgenommen. Für uns Beisitzerinnen war in den ersten Probentagen zwar leicht ersichtlich, dass die Gruppe hart an etwas arbeitete – an was genau aber war nicht zu verstehen. Mitten in die laufenden Proben hineingeworfen, begriffen wir nicht, was vor sich ging; auch konnten wir nicht nachvollziehen, welchen Zweck die Improvisationen und die endlos scheinenden Diskussionen verfolgten. Mehr oder weniger an die Arbeitsweise eines Theaters gewöhnt, das Dramen inszeniert, suchten wir in den ersten beiden Tagen erfolglos nach einem grundlegenden Konzept oder Skript, welches das für uns ›wild‹ erscheinende Probengeschehen im Hintergrund regulierte. Es gelang uns also nur allmählich, die zunächst chaotisch wirkenden Abläufe einzuordnen. Beispielsweise diskutierten die Mitglieder Forced Entertainments während einer ihrer Besprechungen mehrfach die Frage: »Shall we try the Bark here? Shall we put the Bark in later?« etc. Auf die Bezeichnung »the Bark« – und somit auf die
11 Zur Formatierung: Dichte Beschreibungen meiner Erfahrungen mit Aufführungs- sowie Proben-Geschehen sind in der vorliegenden Arbeit links eingerückt wiedergegeben; auf diese Weise sollen sie von theoretische Diskussionen, sowie von den Reflexionen der gelieferten Beschreibungen differenzierbar bleiben. 12 Das zweijährig stattfindende Theater-Festival SpielArt München existiert seit 1995 und lädt Forced Entertainment seit 1999 regelmäßig ein; vgl. http://spielart.org/ (zuletzt geprüft am 01.04.2014). 13 Auf die Methode der teilnehmenden Beobachtung als Teilbereich ethnografischer Forschung gehe ich weiter unten ein.
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ganze Diskussion – konnten wir Praktikantinnen uns keinen Reim machen. Erst am Abend des Probentages stellten wir fest, dass es sich bei »the Bark« um ein Kürzel für darstellerisches Material gehandelt hatte; zu allem Überfluss hatten wir uns verhört: Tatsächlich war »the Bach«, Johann Sebastian Bach, gemeint gewesen; die Gruppe hatte sich auf eine Musikaufnahme bezogen, die während der Improvisationen wiederholt eingespielt worden war. Trotz mehrtägigen Feldaufenthalts waren wir zu diesem Zeitpunkt ganz offensichtlich noch partiell Außenstehende, die kaum verstanden, ›was gespielt wurde‹: Obgleich alle nötigen Informationen offen zutage lagen, waren wir in der beschriebenen Situation nicht in der Lage, »Sinn zu machen«.14 Schon kurze Zeit später aber begann ein Theaterstück Gestalt anzunehmen, die Inszenierung Bloody Mess entstand, im Sinne einer Gesamtdramaturgie der geplanten Theateraufführungen. Die Gruppe legte eine szenische Reihenfolge für die Aufführungen fest, und übte diese in mehreren ›Durchläufen‹ ein. Nun stand ein auf etwa hundertfünfzig Minuten komprimierter Ablauf vor Augen, der in sich kohärent war und so ein verständliches Display anbot. Unerwartet schnell war der Theaterabend fertig, bzw. ›vorzeigbar‹ geworden.15 Erst jetzt zeigte auch das neue Stück die Eigenschaft, die mich zuvor als Zuschauerin in Forced Entertainments Aufführungen so begeistert hatte: Jedes Mal aufs Neue konnte man sich nun durch die Aufführungen von Bloody Mess unmittelbar angesprochen und involviert fühlen – im großen Gegensatz zu den Proben, bei denen meine Praktikumskolleginnen und ich nie ganz bei dem ›mitgekommen‹ waren, was ›gespielt‹ wurde. Was genau die Art und Weise des Probens, die Forced Entertainment anwenden, mit der geschilderten Dramaturgie der ›Einspielung‹ zu tun hat, konnte ich zu diesem Zeitpunkt mehr erahnen als explizieren. Doch blieb mir der extreme Gegensatz
14 Die im Englischen gängige Formulierung, »Sinn machen« (to make sense) nutzt Jean-Luc Nancy in seinem gleichnamigen Aufsatz um auf die Sozialität und die Aktivität hinter jeder Semiose zu verweisen, (vgl. Nancy 2011a&b); im Folgenden nutze ich den Begriff in Verweis auf die dort diskutierten Thesen. 15 Nichts desto weniger enthielt auch der fertig gefügte Ablauf zahlreiche Möglichkeiten interpretativer Unsicherheiten: Ein Publikum konnte weiterhin in plötzliche InterpretationsZweifel (ähnlich wie bei meinem »the Bark«-Erlebnis) geraten. Allerdings schienen diese Möglichkeiten zur Unsicherheit nun in einer wohldosierten, qualitativ völlig anders gelagerten Form aufzutreten: Sie unterschieden sich von der »the Bark«-Verunsicherung, da sie alle schnell und wie von selbst wieder zu neuer Verständlichkeit führten. Zudem waren solche ›inszenierten Unsicherheiten‹ beliebig wiederholbar: die kleinen, ›aufbewahrten‹ Krisen vergnügten nun auf dieselbe Art, wie ein guter Witz, der immer wieder zum Lachen reizt.
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in lebhafter Erinnerung, zwischen dem ›Mitspielen-Können‹, das ich als Zuschauerin der Aufführungen Forced Entertainments erlebte, und dem ›Nicht-wissen-wasgespielt-wird‹, das mir während meiner ersten Probenbesuche widerfahren war. Daher sollen in der vorliegenden Studie die Inszenierungen Bloody Mess und The World in Pictures – Bühnenstücke Forced Entertainments, die in den Jahren 2004 bzw. 2006 uraufgeführt wurden – ausgehend vom Topos des ›Mitspielens‹ behandelt werden. Die Auswahl dieser beiden Inszenierungen ist der Zugänglichkeit der Produktions- und Aufführungsprozesse beider Projekte geschuldet: Nach dem geschilderten Beginn meiner Bekanntschaft mit Forced Entertainment und meinen Probenerfahrungen mit Bloody Mess konnte ich auch bei Endproben zu The World in Pictures hospitieren, außerdem war es mir möglich, in beiden Fällen während zahlreicher Aufführungen anwesend zu sein (jeweils etwa fünfzehn bis zwanzig Mal), zu filmen, Tonaufnahmen zu erstellen, Tagebuch zu führen, und nicht zuletzt ausführlich mit den Mitgliedern der Gruppe zu sprechen. Beide Inszenierungen wurden entwickelt, um sie auf Proszeniums-Bühnen vorzuführen, wie man sie in Deutschland in Stadttheatern und in ganz Europa in Theatergebäuden und manchmal auch als Mehrzweckbühnen in Stadthallen u.ä. findet. Im Folgenden soll grob geschildert werden, was als inszeniertes Geschehen in den jeweiligen Aufführungen zu sehen ist: In Bloody Mess ist eine Gruppe von zehn Entertainern auf der Bühne versammelt; die meisten dieser Figuren lassen sich mit nicht ganz seriösen Bühnentraditionen assoziieren, auch scheinen sie in gewisser Weise randständig: Zwei Darsteller sind offensichtlich als ›Rock’n’Roll-Roadys‹ zu begreifen, als prototypisch schwarz gekleidete Bühnenarbeiter mit Langhaarfrisuren. Zwei weitere männliche Figuren bauen ihre Vorführung vor allem um ihre Requisiten – zwei große silberne Pappsterne – auf, die sie immer wieder über die Bühne tragen; (ich spreche im Folgenden von den ›Stars‹). Weiterhin tauchen auf: Zwei mürrische Clowns, von denen einer versucht, die Geschichte vom Urknall und die Geschichte vom Ende der Welt zum Besten zu geben, außerdem ein Cheerleader, eine Frau im Gorilla-Kostüm sowie eine leichtbekleidete Dame, die das Groupie für eine nicht vorhandene Band abzugeben scheint. Eine Darstellerin schließlich hat ihre Aufgabe offenbar darin gefunden, die ernsthafte Darstellung ihres melodramatischen Bühnentods einzufordern. Diese zehn Figuren buhlen während des gesamten Theaterabends um die Mitte der Bühne und um die Aufmerksamkeit ihres Publikums; dabei unterstützen oder boykottieren sie sich abwechselnd und verhindern auf diese Weise das Entstehen eines kohärenten ›großen Ganzen‹ – zu Gunsten einer nichts desto weniger rhythmisch stimmigen Aufführung.
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The World in Pictures hingegen behauptet von Anfang an, dass etwas Großes, sogar die gesamte Geschichte der Menschheit (»the history of mankind«) erzählt werden solle; verbalisiert wird diese durch eine Sprecherin, die sich als Terry vorstellt und von Forced Entertainments Gründungsmitglied Terry O‹Connor gespielt wird. Neun weitere Darsteller – so die Behauptung – bemühen sich unterdessen darum, diese größte aller möglichen Geschichten zu bebildern: Beginnend mit dem wüsten Tanz einer Höhlenmenschenhorde in künstlichen Fellen und billigen Langhaarperücken, übergehend in Szenen mit Bettlaken oder Plastikschwertern als Ausstattung, welche für ›das römische Reich‹ bzw. ›das Mittelalter‹ steht, verselbstständigt sich die szenische Illustration zunehmend. Die anfangs behauptete Kohärenz der großen Geschichte wird damit ad absurdum geführt. Zusätzlich konterkariert wird Forced Entertainments ›Welt in Bildern‹ von drei Monologen der Figur Jerry, die am Anfang, in der Mitte und am Schluss der Aufführung das Publikum ansprechen. Diese Monologe thematisieren den Zuschauer als Subjekt, das konkrete Hier und Jetzt und den Tod – als eine mögliche Klimax und Bedrohung von Subjekt wie von Gegenwart. Bevor die in vielerlei Hinsicht komplexen und spielerischen Aufführungssituationen beider Inszenierungen im Detail untersucht werden (Kapitel III.–V.), soll im Folgenden geklärt werden, in den Kontext welcher ästhetischen Tradition Forced Entertainment gewöhnlich gestellt werden. Weiterhin wird dort der disziplinäre Zugang der vorliegenden Untersuchung besprochen und ein analytisches Vokabular eingeführt. 2. A NALYTISCHES A USSEN a) Theaterwissenschaftliches Umfeld »Fucking Shit! Complete fucking shit an crap and bollocks....! The atmosphere in here is... completely wrong! I’s fucking ruined!«16 Dieses Zitat stammt aus Bloody Mess: Figur Cathy springt plötzlich auf, nachdem sie eine ganze Weile eine Leiche gemimt hat, und erklärt die Szene wäre ruiniert. Trotz dieses angeblichen Ausbruchs aus der Darstellungsebene bleibt die Aufführungssituation weiter aufrechterhalten, das Bloody Mess Ensemble führt immer neue Szenen auf, über zwei Stunden können die Zuschauer die Aufführung verfolgen. Die Tatsache, dass eine Aufführung stattfindet, die auf inszenierten Abläufen beruht, wird dabei beständig 16 Wörtliche Zitate aus Bloody Mess stammen im Folgenden, so nicht anders vermerkt, aus einer Aufführung, die am 29.02.2008 in Leeds, UK stattfand. Die Videoaufnahme, mit Hilfe derer die Zitate transkribiert wurden, ist bei der Autorin erhältlich.
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durch ›Ausbrüche‹ wie den zitierten deutlich gemacht. Diese reflexive Darstellungsweise Forced Entertainments lässt sich unschwer in den Diskurs des »postdramatischen« Theaters einordnen. Der von Hans-Thies Lehmann 1999 in seinem gleichnamigen Buch eingeführte Begriff bezieht sich, wie schon aus der Wortbildung deutlich wird, zum einen auf die Postmoderne und zum anderen auf dramatisches Theater, auf ein Theater also, das sich auf schriftlich fixierte Vorlagen, auf Dramen stützt. Die Rede vom »post-dramatischen« Theater verweist damit, um sehr grob einzugrenzen, auf nach der klassischen Moderne auftauchende Theaterformen, die nicht mehr auf Dramenvorlagen (und andere Skripte) zurückgreifen, um sich als Theater zu legitimieren.17 Zugleich zeichnen postdramatische Theaterarbeiten sich durch ihre Reflexivität auf dramatische Vorläufer aus. Das Label der PostDramatik, das inzwischen für die Bezeichnung von im einzelnen relativ unterschiedlichen Theaterformen genutzt wird, orientiert sich also sowohl an korrespondierenden ästhetischen Programmen, als auch an sich ähnelnden Produktionsbedingungen sowie an einem Pool wiederkehrender Darstellungsmittel. Der Diskurs um das postdramatische Theater soll an dieser Stelle kurz theater- bzw. kulturgeschichtlich eingeordnet werden: Schon die klassische Moderne des Theaters, deren Beginn um das Jahr 1900 angesiedelt wird, zeichnet sich durch eine emanzipatorische Befreiungsbewegung des Theaters vom literarischen Drama und durch die Entwicklung eines Selbstverständnisses als eigenständige Kunstform aus. Dem entsprechen zwei Tendenzen; deren erste ließe sich unter dem Schlagwort der ›Entliterarisierung‹ zusammenfassen: Zwar entstehen weiterhin Theatertexte, diese stellen aber nun nicht mehr das Herzstück dessen dar, was in der ästhetischen Diskussion als das ›eigentliche Werk‹ betrachtet wird. Diese moderne Entliterarisierung korrespondiert (stark vereinfachend gesprochen) mit einer ›Theatralisierung‹ des Theaters: Vormals nicht als ästhetisch wertvoll erachtete Bühnenpraktiken (aus Zirkus, Varieté etc.) werden dem Darstellungsrepertoire des Kunsttheaters hinzugefügt – Darstellungsmittel also, die Emphase auf die dem Theater spezifische LiveSituation legen und diese betonen. Es entstehen Formen wie das »epische Theater« Bert Brechts, oder das »grausame Theater« Antonin Artauds.18 Folgt man Lehmanns Argumentation zum Theater der Postmoderne, legt zeitgenössische postdramatische Theaterprogrammatik, etwa seit den fünfziger bis sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, nicht mehr nur Emphase auf die Aufführungssituation, wie es schon ihre modernen Vorgänger taten, sondern sie reflektiert darüber hinaus auf eben diese Situation und ihre (gesellschaftlichen, materiellen, psychologischen, etc.) Möglichkeitsumstände. Erst jetzt gibt die Aufführungssituation end17 Im Folgenden wird mit Rücksicht auf das Schriftbild auf die Anführungszeichen und den Bindestrich bei Nennung des Begriffs verzichtet. 18 Zur Theatermoderne vgl. z.B Brauneck 2001.
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gültig nicht mehr nur den Rahmen für die Darstellung einer ›anderen Welt‹ ab – vielmehr thematisiert sich nun theatral gerahmte Darstellung exzessiv selbst, im Hier und Jetzt der Aufführungssituation: »Erst das postdramatische Theater hat die Gegebenheit der faktischen nicht konzeptionell fortwährend ›mitspielenden‹ Ebene des Realen explizit zum Gegenstand nicht nur [...] der Reflexion, sondern der theatralen Gestaltung selbst gemacht.« (Lehmann 2001: 171) Diese postdramatische Reflexivität der Aufführungssituation bringt eine Akzentuierung von Gegenwart, Materialität und von sozialer Gemeinschaft mit sich. Aufführungen sind nun emphatisch Situation, sie werden in ihrer reflexiven, performativ auf sich selbst rückverweisenden Lokalisierung ästhetisch interessant; von »Situation« zu sprechen, ist dabei programmatisch, zugleich wird die Teilnehmerschaft der Rezipienten postdramatischen Theaters betont: »Den Begriff der Situation neben den gebräuchlichen des Ereignisses zu stellen, hat den Sinn, das Umfeld der existenzphilosophischen Thematisierung von Situation (Jaspers, Sartre, Merleau-Ponty) als einer ungesicherten Sphäre der zugleich möglichen und aufgezwungenen Wahl und der virtuellen Transformierbarkeit der Situation ins Spiel zu bringen. Spielerisch schafft das Theater eine Lage, bei der man sich dem Wahrgenommenen nicht mehr einfach ›gegenüber‹ stellen kann, sondern beteiligt ist und daher akzeptiert, dass man, wie es Gadamer von der ›Situation‹ betont, so in ihr steht, dass man ›kein gegenständliches Wissen von ihr haben kann‹[.]« (Lehmann 2001: 181)
Die Darstellungstechniken, in die postdramatische Konzepte in ihren Aufführungen das Publikum verwickeln, sind vielfältig und oft provokant, sie scheinen ›Spielregeln‹ der Aufführungssituation in Frage zu stellen. Vor allem aber produzieren Theateraufführungen postdramatischer Machart Nicht-Unterscheidbarkeit. Die Wahrnehmung der Situation als einer ›ästhetisch gemeinten‹ Theatersituation wird immer wieder in Frage gestellt, die Grenzen zwischen der Situation des Theaterspiels und seines (immer auch konstitutiven) Außen stehen in Frage. Eine der wichtigsten Pointen im postdramatischen Theater besteht also gerade in einer »Verunsicherung durch die Unentscheidbarkeit, ob man es mit Realität oder Fiktion zu tun hat«, so Hans-Thies Lehmann (Lehmann 2001: 173).19 Postdramatische Theaterpraktiker betrachten sich dabei oftmals als Forscher, die in ihren künstlerischen Aufführungssituation Versuche mit eben derselben Live-Situation anstellen, und so Wissen über die Bedingungen von Aufführungen produzieren. Lehmann selbst, wie 19 Traditionelle dramatische Theaterformen würden sich hingegen eher darum bemühen, ihrem Publikum, z.B. mit Hilfe einer in sich geschlossenen Fabel, klare Unterscheidbarkeiten vorzusetzen, so dass sich die Arbeit der Zuschauer an dem, was auf der Bühne wahrnehmbar wird, in klaren Grenzen abspielen kann (z.B. indem Darsteller mit Leichtigkeit als momentan ›in ihrer Rolle befindlich‹ erkennbar sind).
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auch viele andere Theoretiker, ordnen Forced Entertainments Inszenierungen dem postdramatischen Theater zu. Sie alle, wie auch Forced Entertainments Gründungsmitglied Tim Etchells, den Florian Malzacher als den »wirkungsmächtigsten Interpret der eigenen Arbeiten« bezeichnet (vgl. Malzacher/Helmer 2004: 12), betonen dabei das forschende Interesse, das die Kompanie gegenüber Aufführungssituationen hat.20 Etchells formuliert dieses Interesse in einem Interview von 2011 knapp und unprätentiös: »It’s as if each performance might be a process of unpacking of what now could be.« (Etchells 2011: 20) Auch die hier betrachteten Inszenierungen Bloody Mess und The World in Pictures wenden diverse Darstellungsweisen an, die die Aufführungssituation in Frage zu stellen scheinen, sie thematisieren und herausfordern und sie auf diese Art einer Reflexion zukommen lassen. Auch wenn die Gruppe auf diese Weise eine Art ›kurzgeschlossenes‹ Theater herstellt, in dem Figuren gleichsam an dem Ast zu sägen scheinen, auf dem sie sitzen, werden die Aufführungssituationen dennoch niemals ›gesprengt‹; vielmehr besteht der Reiz der Aufführungen gerade im aufrechterhaltenen Spannungsfeld einer neugierigen und spielerischen Aushandlung der Aufführungssituation. Neben dem Begriff des postdramatischen Theaters existieren inzwischen noch zahlreiche weitere Bezeichnungen für neuere Dramaturgien, die sich von einem traditionellen dramatischen Theater gelöst haben und die Aufführungssituation reflektieren: So wird, vor allem im Englischen, auch von der Live-Art gesprochen, wobei die Emphase auf dem Moment der unmittelbaren Begegnung liegt und das Theater gar nicht mehr im Begriff auftaucht. Häufig wird auch von »Performance-Theater« gesprochen, zum einen, um auf die Nähe zu verweisen, die viele postdramatischen Theaterkonzepte zur Performance-Art aufweisen, zum anderen um die besondere Performativität dieser Theaterform (im Sinne einer Betonung der Aufführungssituation und ihrer Mittel) zu unterstreichen. Der Begriff devised theatre zielt hingegen speziell auf die kollaborativen Arbeitsweisen zeitgenössischen Theaters.21 Der Theaterwissenschaftler André Eiermann führte zudem den Begriff des »postspektakulären« Theaters ein, um Theaterformen zu benennen, die die »Alterität« von Aufführungen (also ihre Sozialität, Zeitlichkeit, Materialität, Vermitteltheit, etc.) respektieren und feiern, statt sie überwinden zu wollen. Schließlich ist in diesem Zusammenhang auch die Theoretisierung situationsreflexiver Kunstformen zu nennen, die der Kurator und Kritiker Nicholas Bourriaud in seiner Arbeit relational aesthetics vornimmt: Bourriaud weist darauf hin, dass in Fortführung des »modernen Projekts« immer mehr Kunstformen etabliert werden, in denen situative Begeg20 Vgl. z.B. Certain Fragments (Etchells 1999), oder in Helmer/Malzacher/Benecke et al 2004, oder in Heathfield 2004. 21 Vgl. Oddey 2003 und Kapitel VI der vorliegenden Arbeit.
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nungen (und keine Werke o.ä.) im Mittelpunkt stehen, also (hier am Beispiel bildender Kunst): »[...] an art form where the substrate is formed by intersubjectivity, and which takes being-together as a central theme, the ,encounter‹ between beholder and picture, and the collective elaboration of meaning.« (Bourriaud 2006: 15) Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass zeitgenössische Selbstbeschreibungen postdramatischer Theatermacher sich in einen Chor von Künstlern aller Sparten einordnen, indem sie betonen, ihrem Publikum nicht mehr nur »offene Kunstwerke« bieten zu wollen (vgl. Eco/Memmert 2006), sondern »offene Handlungsfelder« (vgl. Weibel/Bonk 1999): die Situation der Begegnung wird in den Fokus ästhetischen Interesses gestellt. Ob man also von »relationaler Ästhetik«, von postdramatischem oder »post-spektakulären« Theater spricht, um Forced Entertainments Arbeiten theater- und kunstgeschichtlich zu kontextualisieren: All diesen Verankerungen im ästhetischen Diskurs ist gemein, dass sie den reflexiven Situationsbezug künstlerischer Aufführungen betonen.22 Die Herausforderung für eine theaterwissenschaftliche Verarbeitung von Aufführungen wie denen Forced Entertainments besteht damit auch und vor allem in methodischen Fragen: Denn wenn keine unveränderlichen Werke (wie z.B. Skripte, Konzepte oder Dramenvorlagen) den interessierenden Wesenskern einer ästhetischen Arbeit mehr bilden, sondern vielmehr soziale Begegnungen und Situationen als zentral erachtet werden, geraten vormals etablierte hermeneutische Methoden an ihre Grenze. Mit diesem Problem befassen sich zahlreiche zeitgenössische TheaterWissenschaftler, am prominentesten sicherlich Erika Fischer-Lichte; ursprünglich bekannt für ihre Semiotik des Theaters, die in drei Bänden die Spezifika des »Theaterzeichens« als eines Zeichens von Zeichen bespricht, schlug sie 2004 eine Ästhetik des Performativen vor;23 eine solche müsse sich endgültig vom Werkbegriff verabschieden, nachdem Theatermacher nun »kein Werk, das [von Künstler und Situation – SH] ablösbar, fixier- oder tradierbar gewesen wäre« mehr produzierten (Fischer-Lichte 2007: 10). Besonderes Augenmerk legt Fischer-Lichte dann, in Rückgriff auf die Arbeiten zum Ritual von Victor Turner, auf den Moment des theatralen Grenzgangs wenn »alte Ordnungen« situativ, während der Aufführung, in Frage gestellt würden. Fischer Lichte nennt den Zustand des Übergangs und der Unsicherheit, der dort entstehen kann, »Liminalität«.24 Dazu lässt sich anmerken, dass im 22 Eine Reflexion auf die zeitgenössische ästhetische Emphase auf Situativität findet sich ausführlicher im Kapitel II der vorliegenden Arbeit. 23 Vgl.: Semiotik des Theaters, Bd. 1-3. (Fischer-Lichte 1999 und dies. 2003a, 2003b) und Fischer-Lichte 2007. 24 »Was geschieht nun im Augenblick des Umspringens, das heißt in dem Moment, in dem die bisher gültige Ordnung der Wahrnehmung gestört, aber eine andere noch nicht etabliert ist, im Augenblick des Übergangs von der Ordnung der Präsenz zu der Ordnung der
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Sinne Turners auch grenzgängerische Theater-Situationen eher als »liminoid« denn als »liminal« zu bezeichnen wären.25 Weiterhin lässt sich die Tendenz beobachten, vormals funktionale analytische Werkzeugkästen zur Bearbeitung postdramatisch reflexiver Aufführungen umzurüsten: Nachdem die Theaterwissenschaft um 1900 aus der Literaturwissenschaft hervorging und so traditionell auf Methoden der Textauslegung spezialisiert ist, verwundert es nicht, dass zunächst der Textbegriff poststrukturalistisch ausgeweitet wird;26 »Text« verweist nun auf alle sinnproduzierenden Zusammenhänge und Relationen, nicht mehr nur auf Sprache und/oder Buchstaben; dementsprechend formuliert noch Lehmann im Postdramatischen Theater: »Etabliert ist die Unterscheidung zwischen den Ebenen der Theateraufführung in linguistischen Text, Inszenierungstext und ,Performance Text‹. Das sprachliche ,Material‹ und die Textur der Inszenierung stehen in Wechselwirkung mit der im Konzept ,Performance Text‹ umfassend verstandenen Theatersituation.« (Lehmann 2001: 145) Auch wird der Begriff der Dramaturgie häufig als Hilfsbegriff genutzt, um von nicht mehr literarischen Theaterformen und ihren Darstellungsmitteln zu sprechen, z.B. indem von »Dramaturgien...« des Tanzes, der Bewegung, der Geste, etc. die Rede ist.27 Eine umfassende Phänomenologie des Theaters entwirft hingegen Jens Repräsentation bzw. vice versa? Es entsteht ein Zustand der Instabilität. Er versetzt den Wahrnehmenden zwischen zwei Ordnungen, in einen Zustand ,betwixt and between‹. Dieser befindet sich nun auf der Schwelle, die den Übergang von einer Ordnung zu einer anderen bildet, und in diesem Sinne in einem liminalen Zustand.« (Fischer-Lichte 2007: 258). 25 Turner diskutiert dies im Zusammenhang mit absurdem Theater, argumentiert aber in einer Art und Weise, die genauso auf postdramatische Theaterformen zutreffen kann: »In unserer Gesellschaft könnten wir das ,absurde Theater‹ von Ionesco, Arrabal und Beckett als ,liminal‹ auffassen, obwohl ich hier den Begriff ,liminoid‹ [...] vorziehen würde, da dieses Theater zwar einerseits dem Liminalen in tribalen und feudalen Ritualen ähnelt und vielleicht sogar von ihm abstammt, gleichzeitig aber sich insofern von ihm unterscheidet, als es eher die Schöpfung individueller als kollektiver Inspiration ist und den Zielen der bestehenden Sozialordnung eher kritisch als fördernd gegenübersteht.« (Turner 1989: 180). 26 Für ein derart ausgeweitetes Textverständnis eignet sich ein dreigliedriger, pragmatischer Zeichenbegriff, wie ihn Fischer-Lichte rückgreifend auf Morris entwirft; ein so vorgestelltes Zeichen bietet zudem die Möglichkeit, zu beschreiben wie »ästhetische Erfahrung« als ein Oszillieren von Sinn entstehen kann (vgl. dazu Fischer-Lichte 2001). 27 Beim Kongress Play – relational dramaturgy in Gent, März 2012 äußerte sich Patrice Pavis in seinem Keynote-Vortrag besorgt über diesen Ausverkauf des Begriffs der Dramaturgie.
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Roselt in seinem gleichnamigen, 2008 erschienenen Buch: »[D]ie Untersuchung von Aufführungen soll beim Staunen nicht halt machen, sondern von hier aus ihren Anfang nehmen. Die These ist, dass Aufführungen von den Augenblicken dieser Erfahrungen her analytisch sinnvoll erschlossen werden können.« (Roselt 2008: 2021) Die gewählten Beispiele illustrieren, dass – grob gesprochen – aus zwei Richtungen auf die (nun als ästhetisch wesentlich begriffene) Aufführungssituation zugegangen wird: ›Von Außen‹, indem textartige, ggf. vorausgeplante Sinnstrukturen beschrieben werden, und ›von Innen‹, indem auf das Erleben von Situationsteilnehmern rekurriert wird. Beide Blick- oder Forschungsrichtungen gehen bewusst und erklärt über diese Unterteilung hinaus – so wird im obigen Zitat mit dem Begriff Performance Text gerade auf die live stattfindende Aufführungssituation abgezielt, phänomenologische Sichtweisen wie das erwähnte Buch Roselts untersuchen dezidiert auch der Aufführung äußerliche, vorgefasste Inszenierungsmittel. Dennoch spiegelt sich im Vokabular der Theaterwissenschaft bis heute die in der Praxis etablierte Unterscheidung in Inszenierung und Aufführung, Produktion und Rezeption, auch wenn eine Überwindung dieser epistemischen Kluft schon lange angestrebt und auf je spezifische Weise (poststrukturalistisch oder phänomenologisch) angegangen wird. Pragmatische Mittelwege beschreiten Pirkko Husemann und Isa Wortelkamp in ihren die Methoden zeitgenössischer Theater- bzw. Tanzwissenschaft kritisch reflektierenden Arbeiten.28 Wortelkamps Buch Sehen mit dem Stift in der Hand argumentiert, dass um das Entstehenlassen von Gegenwärtigkeit, also »die Produktion der Erfahrung von Gegenwart« begreifbar zu machen, vor allem auf den »Einsatz von Körpern« und die »Verfahren der Bewegung« verwiesen werden muss (vgl. Wortelkamp 2006: 163). Wortelkamp dirigiert also das wissenschaftliche Augenmerk auf Praktiken (z.B. Praktiken des Körpereinsatzes) als Träger situativen Sinns. Pirkko Huseman bezieht sich in ihrer 2009 erschienenen Studie Choreographie als kritische Praxis auf Bourdieu, wenn sie eine »Theorie der Praxis« für die Erforschung zeitgenössischer choreographischer/inszenatorischer Arbeitsweisen vorschlägt, um so deren Potential als kritische Praktiken zu beleuchten.29 Und auch 28 Dass beide Theaterwissenschaftlerinnen diesen practice turn gerade in Studien vollziehen, die sich mit Arbeiten aus dem Umfeld des Tanzes befassen, spricht davon, wie sehr die theaterwissenschaftliche Untersuchung von Theaterformen, in denen das Sprechen eine größere Rolle spielt, noch den Textparadigmen einer dramatischen Tradition verhaftet ist. 29 »Im Folgenden soll nun ein praxisgeleiteter Ansatz verfolgt werden, der sich als Vorstoß in Richtung einer praxeologischen Tanzforschung versteht. Eine ›Kritik der Theoretischen Vernunft‹ wird hier allerdings nicht als Selbstprüfung der theoretischen Perspekti-
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Andrzej Wirth, Gründer des Gießener Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft, wünschte einen radikal pragmatischen Weg für das Theater und seine Reflexion, wenn er äußert: »Ich habe von einem praxeologischen Zugang zur Theaterwissenschaft geträumt.« (Wirth 1998: 317)30 b) Soziologische Berührungspunkte: Theorien der Praxis Hinter dem besonders von Pirkko Husemann stark gemachten Konzept der Praktiken verbirgt sich eine Theorie- und Methodendiskussion, die in der Soziologie und zunehmend auch in benachbarten Disziplinen geführt wird und ähnliche epistemische Neujustierungen adressiert, wie sie durch eine Wissenschaft vom postdramatischen Theater gefordert werden.31 Andreas Reckwitz fasst die Grundzüge dieser Diskussion in seinem 2003 erschienen Aufsatz Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken zusammen (vgl. Reckwitz 2003): Er gruppiert dort Theorien und Methodologien aufgrund des ihnen gemeinsamen Forschungsinteresses und ihres spezifischen Blicks auf das Soziale, mit dem sie sich von anderen Theoriefamilien abgrenzen lassen.32 Statt die Grundlage des Sozialen in abstrakten Strukturen und Strukturgesetzen, oder aber ›in den Köpfen‹ von Akteuren zu verankern,33 zeichnen sich Theorien der Praxis, unter die Reckwitz beispielhaft etwa Ansätze Bourdieus und Giddens einordnet, dadurch aus, dass hier »Praktiken« als der Ort des Sozialen bzw. des Kulturellen identifiziert werden (Reckwitz 2003: 283): »Das Soziale ist hier nicht in der ›Intersubjektivität‹ und nicht in der Normgeleitetheit, auch nicht in der ›Kommunikation‹ zu suchen, sondern in der Kollektivität von Verhaltensweisen, die durch ein spezifisches ,praktisches Können‹ zusammengehalten werden.« (Reckwitz 2003: 289) Familienähnlichkeiten zu dem, was Reckwitz als »praxistheoretische« Fragestellung definiert, finden sich also auch in Ludwig Wittgensteins Spätwerk (auf das ve, sondern durch eine detaillierte Analyse von Le Roy und Lehmens künstlerischer Praxis innerhalb ihres kulturellen Feldes betrieben.« (Husemann 2009: 95). 30 Wirth verwendet den Begriff allerdings in Anlehnung an die Prolegomena einer allgemeinen Theorie der Praxis, die der polnische Philosoph Tadeusz Kotarbiski formulierte, vgl. Wirth 1998: 317. 31 Diese Methodendiskussion wird – Disziplin-spezifisch – jeweils äußerst unterschiedlich aufgefasst; um den Umfang dieser Einführung nicht zu sprengen, sollen an dieser Stelle nur kurz die Schnittstellen behandelt werden, die zwischen soziologischer Praxis-Theorie und postdramatischer Ästhetik aufgezeigt werden können. 32 Es tauchen dort auch die alternativen Bezeichnungen »Praxistheorie«, »Theorien der Praxis« und »Praxeologie« auf. 33 Reckwitz 2003 spricht in diesem Zusammenhang auch von »Textualismus« und »Mentalismus«, vgl. ebendort 288f.
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viele »Praxis-Theoretiker« sich beziehen), in der Ethnomethodologie (in Anschluss an Harold Garfinkel und Harvey Sacks), bei poststrukturalistischen Autoren (wie Michel Foucault, Gilles Deleuze oder Michel Serres) und in den Cultural Studies (vgl. Reckwitz 2003: 283).34 Eine im Umfeld von Praxistheorien häufig herangezogene Definition von »Praktiken« (bzw. »Praxis«, im Singular) stammt aus Theodore Schatzkis Arbeit Social practices, wo »practice as a temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings« betrachtet wird (Schatzki 2003: 89). So gehört, um ein alltägliches Beispiel zu verwenden, zum »nexus« der Praxis des Schachspielens sowohl das Bewegen von Figuren auf dem Schachbrett, wie das Aussprechen der Worte »Schach matt!«, als auch das auf unterschiedliche Akteure verteilte Wissen um die Spielregeln, ebenso die Nutzung schriftlicher Spielanleitungen, usw. Praktiken als eine analytische Einheit zu betrachten, bringt zahlreiche traditionelle Polaritäten sozial- und kulturwissenschaftlicher Theorie ins Wanken – denn als ein »nexus of doings and sayings« sind Praktiken zugleich als materiell und als ideell beschreibbar, sie sind transitorisch, performativ, sie oszillieren zwischen Akteuren, Artefakten und Situationen; zudem wandern Praktiken, sind also nicht an einzelne Akteure oder kulturelle Zusammenhänge gebunden. Praktiken können somit auch niemals zur Gänze als lokal oder situativ begriffen werden: Die Praxis des Schachspielens wird an unzähligen Orten von unzähligen Akteuren in immer neuer Weise ausgeführt. Dennoch sind Praktiken auch nie ausschließlich als global flottierend und unabhängig von ihrer lokalen Verwirklichung zu denken – auf das Beispiel rückbezogen: nur dadurch, dass zahlreiche Akteure und Artefakte konkret und immer wieder lokal bzw. situativ an der Praxis des Schachspielens beteiligt sind, kann diese Praxis als solche überhaupt identifiziert werden, überdauern, sich langsam verändern und ›Sinn machen‹. Die Fokussierung auf Praktiken führt sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung also notwendigerweise zu einem veränderten Blick auf traditionell genutzte Konzepte wie ›Subjekt‹, und ›Objekt‹ (oder Artefakt), sowie auf Unterscheidungen wie ›Mikro versus Makro‹, ›Struktur versus Handeln‹ usw. Viele dieser Konzepte werden in »Praxis-Theorien« konstruktivistisch reformuliert, manche Konzepte gewinnen in ihrer praxeologischen Justierung auch vermehrte und neue Bedeutung. Herauszuheben ist hier das Konzept des Wissens: »Der Wissensbegriff der Praxistheorien ist gewissermaßen ,tiefergelegt‹, er zielt auf vorsprachliche Kompetenzen, denen gegenüber das auskunftsfähige Wissen nur eine Restgröße darstellt. Diese Theorien führen zu einer körpersoziologisch begründeten Verschiebung des Wissensbegriffs. Die alte wissenssoziologische Frage, wer etwas weiß [...], wird verdrängt
34 Vgl. z.B. Serres 2002, sowie Deleuze/Foucault 1977 oder Deleuze/Guattari 1977.
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durch die konstitutionstheoretische Frage, wie etwas überhaupt gewusst wird? Auf welche Weise ist es bekannt, vertraut, präsent, verfügbar, verstanden?« (Hirschauer 2008b: 977)
Neben dem expliziten, sprachlich verfügbarem Wissen (z.B. im Zusammenhang mit dem obigen Beispiel: Wissen über die Spielregeln im Schach) gehen Praxistheorien also von einem ungleich größeren Pool impliziten praktischen Wissens aus; schon Wittgenstein besprach solches Praxiswissen – und nutzt dazu das Beispiel vom Erlernen des Schachspiels. Er weist darauf hin, dass ein Schach-Schüler die Erklärung, welche Figur der König ist, nur deshalb verarbeiten könne, weil er schon über praktisches Wissen verfügt; nämlich darüber, wie man es grundsätzlich anstellt, ein Spiel zu spielen: »nicht dadurch, dass der, dem wir die Erklärung geben, schon Regeln weiß, sondern dadurch, dass er in anderem Sinne schon ein Spiel beherrscht.« (Wittgenstein 2004: 255)35 Nachdem in der (unscharf begrenzten) Familie der sozial- und kulturwissenschaftlichen Praxistheorien alle Sozialität als in Praktiken aufbewahrt und praktisch ausagiert begriffen wird, und damit umgekehrt jede Form der Praxis als genuin sozial betrachtet wird, gewinnen dort auch Fragen nach der Performativität (im Sinne einer basalen Expressivität) zentrale Bedeutung. Insofern sind für Soziologen, die zum Diskurs um die Praxis-Theorien beitragen, Aufführungen von besonderem Interesse. Robert Schmidt spricht in diesem Zusammenhang von einer »Öffentlichkeit« der Praktiken: »Gegenstand praxeologischer Beobachtungen ist [...] eine immer schon praktisch erzeugte soziale Sichtbarkeit. Sehen und Erkennen selbst sind in diesem Sinne Fähigkeiten, die voraussetzen, dass der Teilnehmer ,schon ein Spiel beherrscht‹.« (Schmidt 2011: 27)36 Um Praktiken wissenschaftlich nutzbar in Sprache zu überführen, beobachten Praxis-Theoretiker also nicht nur sorgfältig deren Empirie, sie fanden auch und vor allem nach dem praktischen Wissen, über das Akteure (oft unwissentlich) verfügen, ebenso nach dem ›Geist‹ der Praktiken und ihren Artefakten – zumeist unversprachlicht – innewohnt: »Die praxistheoretische These betont, dass in den Alltagspraktiken der in der Materialität der Welt verwickelten Bewohner oft mehr implizite Bedeutung und Poesie liegen als in den konventionellen Erzählungen und Diskursen der bekannten Sprach und Sprechgemeinschaften.« (Hörning 2001: 192) 3. I NTERDISZIPLINÄRE G RENZGÄNGE : Z UR M ETHODE Nicht nur Forced Entertainment in ihrer Selbstverortung, sondern auch beide beschriebenen theoretischen Ausgangspunkte der vorliegenden Arbeit legen also Emphase auf flüchtige, soziale, materiell konkrete Momente praktischer Aufführungen, 35 §31 der Philosophischen Untersuchungen. 36 Vgl. zu diesem Thema auch Kapitel V. der vorliegenden Arbeit.
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auf nicht explizit vorhandene Wissensschätze im oben beschriebenen praxeologischen Sinn, kurz: auf (noch) nicht Versprachlichtes. Beide Disziplinen sehen sich daher mit einem ›Versprachlichungs‹- und/oder ›Aufschreibeauftrag‹ befasst, der nicht nur häufig thematisiert, sondern auch problematisiert wird: »Wenn aber Sprache als zentrales Ausdrucks- und Erkenntnismittel in den Hintergrund rückt, haben wir (als Praktiker) das Problem, diese Alltagspraktiken ,zum Sprechen‹ zu bringen – gerade weil solche Praktiken nicht weniger ,geistvoll‹ sein müssen.« (Hörning 2001: 192) In der Theaterwissenschaft wird weiterhin häufig der Versuch kritisiert, gegen die Flüchtigkeit des Theaterereignisses anzuschreiben und ihm die Sicherheit einer (als statisch gedachten) wissenschaftlichen Schrift entgegenzusetzen. Isa Wortelkamp bemängelt beispielsweise, dass häufig »die Aufführung, die einer nachträglichen und wiederholten Betrachtung unzugänglich ist« als Verlust konzipiert würde. Dem entspräche die »Tendenz, die konkrete sinnliche Erfahrung auszuklammern und das transitorische Phänomen fixier- und damit objektivierbar zu machen.«37 Wortelkamp stellt dem eine ihrerseits flüchtige, kreative und poetische écriture als adäquate Darstellung flüchtiger Aufführungskunst gegenüber; das Schreiben der Wissenschaftlerin versucht nun gar nicht mehr, den Gehalt des bewegten (und bewegenden) Ereignisses abzubilden, sondern vielmehr schreibend eine eigenständige Bewegung zu erzeugen, die Transformation des Ereignisses im eigenen Aufschreiben als Mehrwert zu würdigen. So sehr sich der Gedanke unterstützen lässt, dass eine ›Aufbewahrung‹ ästhetischen Erlebens nicht machbar ist, muss doch auch auf die Kehrseite dieser Argumentation verwiesen werden: In der emphatischen Hinwendung zur Flüchtigkeit fetischisiert theaterwissenschaftliche Forschung nur allzu oft das Geheimnis situativer Präsenz. Dem flüchtigen Zauber der Aufführungssituation wird dann mit fast religiöser Scheu gegenübergetreten. Dabei kann es geschehen, dass jeder Versuch, der Empirie der Aufführungssituation nahezukommen, erschreckt als Stillstellung des ästhetischen Ereignisses diskreditiert wird. Scheu vor der Empirie aber verhindert, die dort vermutete praktische Poesie und ihre Wissensbestände überhaupt aufzuspüren. Die (vornehmlich soziologischen) Praxistheorien sehen sich zwar ebenfalls der Herausforderung gegenüber, flüchtig-situative soziale Wirklichkeiten einer schriftlichen Analyse zuzuführen; das Desiderat, »dichte« Beschreibungen des Sozialen bzw. des Kulturellen herzustellen, formulierte prominent Clifford Geertz, der häufig als Vorbild bei praxeologischen Aufschreibefragen genannt wird (vgl. Geertz 2009a und 2009b). Allerdings problematisieren Praxistheorien gewöhnlich nicht das Geheimnis um Präsenz und Flüchtigkeit. Sie sorgen sich eher um die Erreichbarkeit 37 Wortelkamp 2002: 597; vgl. ausführlicher in Wortelkamp 2006: 85ff und 161ff.
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von praktischem Wissen und um die Interferenzen zwischen »Teilnehmertheorien« und eigenem theoretischem Interesse; denn auch die Akteure von Praktiken haben zumeist eine Theorie über das, was sie gerade tun, genutzte Objekte besitzen Gebrauchsanweisungen, in manchen Situationen folgen die Praktiken zu großen Teilen einem festgelegten Plan u.ä.. Soziologische Praxistheoretiker betonen entsprechend die Schwierigkeit, zwischen der eigenen Reflexivität und der Reflexivität ihres Gegenstandes zu unterscheiden. Der Grenzgang, den Praxis-Theoretiker in diesem Zusammenhang leisten müssen, besteht einerseits darin, die Praxis nicht abstrakttheoretisch zu überfrachten, sie aber andererseits auch nicht aus einer unreflektierten Teilnehmerperspektive nachzuerzählen.38 Die bis hier kurz skizzierten ›Aufschreibeprobleme‹ beider Disziplinen sind in der Ethnographie adressiert, die für die vorliegenden Arbeit Methode der Wahl war. Die zitierten Theaterwissenschaftler (Wortelkamp, Husemann), wie auch zahlreiche Soziologen mit praxeologischer Perspektive favorisieren ethnographische Beobachtungs- und Schreibweisen, um der Praxis und ihren Aufführungen forschend nahe zu kommen. Die Ethnographie wurde als Forschungsmethode zunächst in der Kulturanthropologie bzw. Ethnologie, doch schon seit den Neunzehnhundertvierzigern auch in der Soziologie ausgearbeitet und später reflexiv überarbeitet; dabei entstanden einige höchst brauchbare Begriffe und methodische ›Spielregeln‹, z.B. das Hin und Her aus going native und coming home, sowie die Idee der »Befremdung der eigenen Kultur«. Diese sollen im Folgenden kurz umrissen werden. In der Kulturanthropologie kritisiert zunächst Bronislaw Malinowski die seinerzeit vorherrschende »Armchair-Anthropology«, und fordert die teilnehmende Beobachtung von Wissenschaftlern in den zu erforschenden Kulturen; Forscher sollten sich in die Mitte der durch sie Beforschten begeben. Später nutzen Sozialwissenschaftler teilnehmende Beobachtung nicht mehr zur Erforschung vollkommen fremder Kulturen sondern auch um fremdartige Subkulturen zu studieren; bekannt wurde beispielsweise William Foote Wythes Studie Street Corner Society aus dem Jahr 1943 (vgl. Whyte/Blomert/Atteslander 1996). Während sich die Idee des teilnehmenden Beobachtens zunächst noch eurozentristisch und/oder autoritär objektivierend den beobachteten Fremden gegenüber platzierte, wurde etwa seit Beginn der 1990er mit diesem Selbstverständnis »gründlich aufgeräumt«, wie Amann und Hirschauer in ihrem Beitrag zur Ethnographie von 1997 anmerken (vgl. Hirschauer/Amann 1997: 10). Inzwischen wird Ethnographie in der Soziologie als eine Me38 Zu praxeologischen Forschungsdesideraten und sich ergebenden Herausforderungen für die wissenschaftliche Verschriftlichung vgl. z.B. Ethnographisches Schreiben und die Schweigsamkeit des Sozialen. Zu einer Methodologie der Beschreibung (Hirschauer 2001); Mehr zur Ethnografie, ihrer Geschichte und ihrer Verwendung in der neueren Soziologie vgl. im jüngst erschienenen Breidenstein et al 2013.
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thode begriffen, die sich zu allererst durch einen Erkenntnisstil des »Entdeckens« von vormals Unbekanntem auszeichnet: »In der Geschichte der Ethnographie hatte dieser Erkenntnisstil seinen ersten Bezugspunkt in der ethnologischen Erfahrung kultureller Fremdheit.« (Hirschauer/Amann 1997: 8). Den Ausführungen Hirschauers und Amanns weiter folgend, lässt sich zusammenfassen, dass neuere Soziologie praxis-theoretischer Provenienz vom Grundverständnis ethnographischen Forschens zunächst die Idee einer Enkulturation in bestimmte praktische »Felder« übernimmt:39 Indem Forscher gezieltes going native betreiben, (eine Begrifflichkeit, die vormals abwertend von einer ethnographischen Gefahr statt von einer Chance zur Wissensgewinnung sprach), erwerben sie Teilnehmerwissen, wie es für die untersuchten Felder typisch ist; mehr noch: sie erlernen feldspezifische Praktiken, enkorporieren also in ihrer eigenen Leiblichkeit praktisches Wissen aus dem Feld: »Teilnehmende Beobachtung bedeutet die Produktion von Wissen aus eigener und erster Hand. Es geht um den zeitgleichen, aufmerksamen und mit Aufzeichnungen unterstützten Mitvollzug einer eigene kulturelle Ordnungen konstituierenden, lokalen Praxis« (Hirschauer/Amann 1997: 21). Aus diesem Grund nennen Hirschauer/Amann die Ethnographie auch eine »mimetische Form empirischer Sozialforschung« (Hirschauer/Amann 1997: 20). Gleichberechtigter Gegenpart zum – hier durchweg positiv verstandenen – going native besteht in der perspektivierenden Bewegung des coming home:40 Bei Rückkehr in die wissenschaftliche ›Heimat‹, in den Kreis der Kollegen, wird erworbenes Praxiswissen nach und nach expliziert und perspektiviert, um schließlich eine schriftliche (oder anderweitig medial gestützte) Darstellung abzufassen. Voraussetzung für diese Gegenbewegung zum Erwerb der nativeness ist ein schon in der Feldpraxis betriebenes, ständiges »Befremden« des Erlebten, das zum Beispiel durch das Führen von Feldtagebüchern oder durch das Herstellen diverser medialer Mitschnitte, ebenso aber durch theoretische Werkzeuge, z.B. bestimmter Begriffe oder Modelle, unterstützt wird. Der oben genannte Mitvollzug lokaler Praxis durch den Feldforscher wird also eine »distanzierende Rekonstruktion, in den Worten von James Clifford: ein ständiges Hin- und Her-Lavieren zwischen dem ,Inneren‹ und dem ,Äußeren‹ von Ereignissen« beiseite gestellt: »Das weitgehend Vertraute wird dann betrachtet als sei es fremd, es wird nicht nachvollziehend verstanden, sondern 39 Den Begriff des Feldes verwende ich hier im (praxistheoretischen) Sinne Bourdieus. 40 Der Begriff going native bezeichnet die Akkulturation in einem fremden Feld. Dieser Vorgang wurde vormals als methodisches Problem der teilnehmenden Beobachtung begriffen, als Distanzverlust des im Feld eingetauchten Beobachters. Dem treten Hirschauer/Amann im zitierten Text entgegen; anstatt den Vorgang des going native umgehen zu wollen, fordern sie ein kreatives Wechselspiel: »Dem ,going native‹ wird ein ,coming home‹ entgegengesetzt, das dem Individualismus der Datengewinnung einen Kollektivierungsprozess entgegenstellt.« (Hirschauer/Amann 1997: 28).
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methodisch ,befremdet‹: es wird auf Distanz zum Beobachter gebracht.« (Hirschauer/Amann 1997: 12) Eine besonders wichtige Rolle spielen dabei sogenannte Data-Sessions im Kollegenkreis: Material aus dem Feldaufenthalt wird Fach-Kollegen präsentiert und auf diese Weise noch weiter distanziert bzw. perspektiviert: »Das verständlich Gemachte und vertraut Gewordene wird erneut einer befremdenden Betrachtung Dritter unterzogen. Deren disziplinärer Diskurs stellt begriffliche Verfremdungsmittel bereit, die im Untersuchungsfeld als Optik weiterer Beobachtungen eingesetzt werden können.« (Hirschauer/Amann 1997: 28) Wird die Methode der Ethnographie durch Praxeologen betrieben, ist schon in der Rede vom going native und coming home ironische Distanzierung enthalten, eine spielerische Geste der ›Befremdung‹; denn die Felder, in die sich zeitgenössische Praxeologen ›enkulturieren‹, sind diesen zumeist keineswegs gänzlich fremd, und bei den beforschten Akteuren handelt es sich weder zwingend um ethnisch noch um sozial Fremde. Vielmehr schlüpft der Forscher hier ganz bewusst in die Rolle des Ethnographen, der ›fremde Welten‹ bereist und erforscht. Schon die Behauptung Ethnographie zu betreiben setzt damit eine performative Praxis in Gang, deren Ziel es ist, einen Entdeckerblick auf die eigene Kultur zu werfen. Der Hintergrund dieses Vorgehens, dieser Befremdung der eigenen Kultur (so der Titel des Bandes Hirschauer/Amann 1997) ist dabei aus praxeologischer Sicht, die ›Transparenz‹ sozialer Praxis überwinden zu wollen – im Sinne einer zunächst ganz simpel und durchsichtig erscheinenden Logik und Folgerichtigkeit bekannter Praxis. Dabei ist der »Prozess des Befremdens [...] im Prinzip unabschließbar: er entspricht der Bodenlosigkeit kultureller Phänomene.« (Hirschauer/Amann 1997: 29) Die bis hier zusammengefasste Methodologie einer soziologisch/praxeologischen Ethnographie mündet schließlich in Verschriftlichung; Amann und Hirschauer erinnern an die vor allem in den Neuzehnhundertneunzigern erschienenen zahlreichen Dekonstruktionen ethnographischen Schreibens: diese Kritik habe zu einer großen Bandbreite ethnographischer Schreibweisen und zu einem »hohen Bewusstsein von der rhetorischen Konstruiertheit ethnographischer Wirklichkeiten« geführt. Gerade diese Konstruiertheit machen Hirschauer/Amann nun stark und gelangen damit zur folgenden Konzeption des Schreibens: »[D]ie textuelle Verdichtung – also die Herstellung von Gleichzeitigkeit, die Sequenzierung, die Komposition von Szenen – bildet nicht Beobachtungen ab, sie überbietet sie eher, indem sie Protokollnotizen, Sinneseindrücke und situative Assoziationen zusammenkomponiert – ein Unterfangen der Simulation von Erlebnisqualitäten.« (Hirschauer/Amann 1997: 29) Die ethnographische Schreibweise, die auch in der vorliegenden Arbeit zum Einsatz gelangt, versteht sich also ihrerseits als mit konkretem Material agierende produktive Praxis, die sich eng an der situativen Empirie der Aufführungen entlang bewegt und somit gewissermaßen mimetisch vorgeht. Man könnte ethnographisches
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Schreiben insofern, mit Della Pollock, auch als ein »performatives« Schreiben bezeichnen: »Performativity describes a fundamentally material practice. Like performance, however, it is also an analytic, a way of framing and underscoring aspects of writing/life.« (Pollock 1998: 75) Die hier beschriebene Methodologie einer praxeologisch bzw. performativ verstandenen Ethnographie gelangt in nächste Nähe dessen, was Tim Etchells, Sprecher und oft auch Autor Forced Entertainments, über seine Schreib-Praxis berichtet, die zum Pool der Arbeitsweisen der Gruppe gehört. Zum Beispiel berichtet Etchells in Certain Fragments von Techniken der ›Befremdung‹, die er nutzt: »Perhaps the most useful discovery was in the writing I did describing our work at a distance – referring always to ,they‹, writing as if Forced Entertainment were some distant, semi-fictional group.« (Etchells 1999: 16) Etchells erwähnt weiterhin Schreibweisen, die Erlebnisqualitäten mimetisch zu simulieren scheinen: »And when I try to write all this down I find that I do it by ,doing‹ all the people [...] trying to get the expression, [...] trying to find the twitches and the breathing and the pulses.« (Etchells 1999: 73-74)41 Nicht nur in ihrem zentralen Interesse (an Aufführungs-Praxis und an der Performativität von Praxis im allgemeinen), sondern auch in ihren ›Aufschreibefragen‹ und den damit korrespondierenden Methoden von Enkulturation, abwechselnder ›Befremdung‹ und schreibender ›Mimese‹ scheinen sich also der hier intendierte Gegenstand wie die doppelte disziplinäre Verortung dieser Studie nahe zu stehen; es begegnen sich in der vorliegenden Arbeit gewissermaßen mehrere Reflexivitäten. Diese Beobachtung führt zu der Annahme, dass mir die ›Enkulturation‹, also das going native im Feld der Aufführungen Bloody Mess und The World in Pictures, sehr leicht fallen wird, unter Umständen sogar in einer Art und Weise, die den Erkenntnisgewinn, den sich meine Ethnographie aus der ›Befremdung‹ erhofft, in Frage stellt.42 Um also einem Übergewicht auf der Seite der nativeness entgegenzuwirken, soll in Folge mit einem begrifflichen Hilfsmittel operiert werden, dass es mir selbst und meinen Lesern immer wieder aufs Neue erlaubt, die AufführungsPraxis der beiden Stücke Bloody Mess und The World in Pictures zu ›befremden‹: Aufführungssituationen sollen als ›Spiele‹ beschrieben werden. Auch soll auf diese Weise ein gemeinsamer Bezugspunkt für beide Heimatdisziplinen mit ihrem doch 41 Die Parallelen zwischen ethnografischer Methode und Arbeitsweisen Forced Entertainments werden in Kapitel VI. der vorliegenden Arbeit thematisiert. 42 Die oben eingefügte Schilderung der Fallhöhe zwischen meinen unterschiedlichen ›Mitspielkompetenzen‹ im Feld der Aufführungen und im Feld der Proben Forced Entertainments kann als erstes Indiz dafür genommen werden, dass meine ›Enkulturation‹ in das Feld zeitgenössischer reflexiver Theateraufführungen schon im Vorfeld meiner Studie recht weit gediehen war – im Gegensatz zu meiner anfänglich noch mangelnden Mitspielkompetenz in der Probenpraxis.
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jeweils unterschiedlich gewachsenen Vokabular und Erkenntnisinteressen erarbeitet werden.43 Ein weiterer Nutzen des Spielbegriffes besteht darin, die Auswahl des hier intendierten Feldes zu klären: Wie bereits erwähnt, wird sich die folgende Studie mit Aufführungssituationen der Inszenierungen Bloody Mess und The World in Pictures befassen; Theateraufführungen stellen einen interessanten Sonderfall für die (praxeologisch interessierte) Forschung dar: Im Gegensatz zu vielen anderen denkbaren sozialen Zusammentreffen besteht in Theateraufführungen ein sehr langer, breiter Zusammenhang von Praktiken, der über viele Tage, Wochen, manchmal gar Jahre in relativ gleichbleibender stabiler Form wiederholt wird.44 Dabei ist ein kleiner Teil der Situationsteilnehmer jedes Mal wieder anwesend (Darsteller, die Produktion betreuende Techniker, manchmal auch hartnäckige Fans); das Publikum hingegen, also der weitaus größere Teil der Situationsteilnehmer, ist bei jeder Aufführung anders zusammengesetzt. Dennoch bleiben, so eine erste minimale These, Aufführungssituationen derselben Inszenierung relativ stabil, wiederholen sich also auf ähnliche Art und Weise. Praxeologisch ausgedrückt ist somit anzunehmen, dass in jeder Aufführungssituation jeweils mehr oder weniger dieselben Praktiken ausgeführt werden, die die Situation formen. Ebenso wie man also bei Spielen zwischen relativ stabil bleibenden Regelwerk und einer situativen momentanen Verwirklichung unterscheiden kann, scheinen Inszenierungen Spielregeln zu vermitteln, die es allen Situationsteilnehmern – also auch und vor allem einem Publikum – ermöglichen, ›mitzuspielen‹.
43 Schon beim Verfassen meiner Magisterarbeit The Parts of the Bargain (Husel 2005) habe ich mit dem Spielbegriff operiert und Analogien zwischen einigen Arbeits- und Darstellungspraktiken Forced Entertainments und Praktiken eines (alltäglichen) Spielens hervorgehoben. Die Nutzung des Spielbegriffes in der vorliegenden Studie geht in ihrer theoretischen Verortung weit über meine damalige Begriffsnutzung hinaus. Zugleich begreift sie ›Spiel‹ emphatisch als ›befremdendes‹ Vokabular und Modell, und nicht als willkommene Analogie zum Gegenstand. 44 Auch andere Praktiken werden, wie kleine Theaterstücke, immer wieder aufgeführt; z.B. Verkaufs-Interaktionen an der Käsetheke etc. Darauf wies u.a. Erving Goffman in seinen zahlreichen, mit der Theatermetapher als ›Befremdungs-Instrument‹ operierenden Schriften hin. Es liegt allerdings auf der Hand, dass alleine schon quantitativ ein enormer Unterschied zwischen mehrstündigen Theateraufführungen und den kurzen Versatzstücken anderer, alltäglicher Aufführungen besteht. Die noch weit darüber hinausweisende reflexive Qualität, die Theateraufführungen produzieren können, soll einer der Gegenstände dieser Studie werden und wird daher an dieser Stelle nicht weiter vorweggenommen.
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4. S CHREIBEN
MIT DEM
F INGER
AUF DER
F ERNBEDIENUNG
Nicht nur Soziologen, die Alltagspraxis untersuchen, sondern auch mit postdramatischem Aufführungen befasste Theaterwissenschaftler stehen weiterhin forschungspraktischen medialen Fragen gegenüber, die eng mit den oben geschilderten ›Aufschreibefragen‹ korrespondieren. Insgesamt birgt die wissenschaftlich explizierende Arbeit an sozialen Situationen, z.B. Theateraufführungen, mehrere Medienwechsel: Der Weg führt von der persönlichen, oftmals körperlich eingeschriebenen Erfahrung der Wissenschaftlerin im Feld, über die Arbeit an Videoaufzeichnungen und Notizen, weiter über deren Formalisierungen und Reinschriften bis hin zur Herstellung eines analytischen Texts. Videoaufzeichnungen stellen in diesem Zusammenhang ein besonders eigenwilliges Instrument dar, das gerade in der Theaterforschung noch Reflexionsbedarf besitzt. Denn im Gegensatz z.B. zu einem in sich sinnvoll geschlossenen Fernsehfilm, der auch ohne all zu großen Reibungsverlust als Video rezipiert und untersucht werden kann, ist es offensichtlich nicht möglich, ganze empirische Theateraufführungs-Situationen ›mit nach Hause‹ zu nehmen, um sie analytisch zu begutachten. Denn es ist gerade die ganze Aufführungssituation, die analysiert sein will, und nicht nur das was auf der Bühne vor sich geht und daher evtl. noch ›abfilmbar‹ wäre. Dennoch wird Videomaterial (und andere technisch hergestellte Hilfsmittel) aus Aufführungssituationen zu einer zentralen Quelle theatertheoretischer und praxeologischer Reflexion, spätestens wenn eine sorgfältig berichtende Reformierung des Theaterereignisses erstellt wird und die Wissenschaftlerin eine Gedächtnisstütze nutzen möchte.45 Es erscheint daher notwendig, kurz zu reflektieren, worin genau der Nutzen technischer Mitschnitte aus Aufführungssituationen für eine ethnographische Studie zu Aufführungssituationen bestehen kann. Im Gegensatz zum menschlichen Beobachter sieht die Videokamera nichts, vielmehr speichert sie in sturer Breite Lichtdaten. Die menschliche Beobachterin im Zuschauerraum ist unterdessen in ihrem Sehen gezwungen, Aufmerksamkeit zu fo45 In der berichtenden und beschreibenden Reformierung des Aufführungsereignisses besteht ein immer schon nicht zu vernachlässigend großer Teil theaterwissenschaftlicher Arbeit; dieser wird allerdings leider oft als rein technisch-formale Arbeit betrachtet und verschwindet hinter der begrifflichen Arbeit, z.B. der Formulierung ästhetischer Theoreme. Die resultierende Verschwiegenheit den eigenen theaterwissenschaftlichen Techniken gegenüber (die sicher manchmal auch der oben geschilderten Fetischisierung der Aufführungssituation geschuldet ist) ist doppelt fatal. Denn sie verbirgt das Wirken der Wissenschaftlerin am Gegenstand und behauptet damit eine Form der Objektivität, die nicht gewährleistet werden kann. Darüber hinaus führt das Verbergen der wissenschaftlichen Praxis am und mit dem Gegenstand – der Aufführungssituation – dazu, dass eine mögliche Quelle der Erkenntnis über diesen Gegenstand von vornherein ausgeblendet wird: die Wahrnehmung der Aufführungen durch die wissenschaftliche Beobachterin.
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kussieren, dabei einzelne Blickpunkte auszuwählen und ganz konkret die Augen über das Bühnengeschehen wandern zu lassen. Sie ist auf diese Weise nicht zuletzt körperlich ins Aufführungsgeschehen involviert, nimmt Atmosphären, Gerüche, Temperatur u.v.a. wahr und wird vom Verhalten der Umsitzenden beeinflusst. Nachdem gerade ein Theater wie das Forced Entertainments diese Involviertheit des teilnehmenden Zuschauers nicht nur als Voraussetzung seiner Existenz benötigt, sondern sie auch immer wieder zum Thema seiner Inszenierungen werden lässt, scheint eine analytische Arbeit an der Videoaufzeichnung hier besonders prekär. Glücklicherweise bieten Videos eine Fülle anderer Verwendungsmöglichkeiten, als sie eine naive Betrachtung medialer Hilfsmittel als ›Aufbewahrung der Aufführung‹ erahnen lässt: Zwar zeigen Videos das Aufführungsereignis ebenso wenig wie beispielsweise ein Mikroskop einen ganzen Organismus zeigen kann – als skopische Instrumente sind sie aber in der Lage, spezielle Einzelaspekte des Ereignisses darzustellen oder sie erst beschreibbar zu machen, (so wie ein Mikroskop bestimmte Strukturen erst vor das Auge der Wissenschaftlerin bringt, die anders weder zugänglich noch reflektierbar wären). Die spezielle Qualität des Videos, die es für die Aufführungsanalyse unersetzbar werden lässt, ist also gerade die dem AufführungsEreignis vollkommen fremde sture Breite der Aufzeichnung sowie die durch das Band produzierte Wiederholbarkeit, bzw. ›Spulbarkeit‹. Das wiederholte Betrachten von Daten auf dem Video ermöglicht der wissenschaftlichen Nutzerin, die während der Aufführung gemachten Notizen (bzw. die im Gedächtnis ›notierten‹ Erfahrungen) erneut zu reflektieren. Erst in einer so verstandenen Arbeit am Video wird deutlich, dass Wahrnehmungen von Aufführungsgeschehen immer schon Anteile theoretischer Reflexion enthalten. Die Zuschauerin hat normalerweise schon in situ eine rudimentäre Theorie darüber, was gerade ›gespielt‹ wird. Diese Theorie tritt beispielsweise in Aufführungsnotizen zutage. So kann man in Notizen, die ich selbst während Aufführungen von Bloody Mess gemacht habe, Sätze lesen wie: »Die Struktur scheint auszufasern, weil so viel gleichzeitig passiert« oder »Alles geschieht durcheinander, Chaos auf der Bühne.« Solche ersten, schon in das praktische Wahrnehmen während der Aufführungssituation eingebetteten Theorien der Zuschauerin können mithilfe von Videoaufzeichnungen auf eine veränderte Art nachvollzogen werden: Der in meinen Notizen erwähnte Eindruck des »Chaos auf der Bühne«, der während der Aufführung von mir darauf bezogen wurde, dass »alles gleichzeitig geschieht«, konnte beispielsweise durch wiederholtes Betrachten des fraglichen Abschnittes auf Band darauf zurückgeführt werden, dass an genau vier verschiedenen Bühnenstellen gleichermaßen aufmerksamkeitsheischende Handlungen abliefen, die für die Live-Zuschauerin nicht gleichzeitig fokussierbar waren.46 Aus meiner Teilnehmertheorie »Alles geschieht durcheinander, Chaos auf 46 Konkret wurden für diese Arbeit drei Videoaufnahmen, kombiniert mit erinnerten Eindrücken und Notizen aus dem Zuschauerraum genutzt:
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der Bühne« konnte also die Erkenntnis werden, dass der Eindruck des Chaotischen während des betrachteten Abschnittes aus einer ganz klaren, einfache strukturierten (und dabei alles andere als chaotischen) Überforderung meines Zuschauerblicks hervorging. Die hier vertretene These im Umgang mit den verschiedenen medialen Übersetzungen von Theateraufführungen (Videomitschnitte, Feldnotizen, Timelines, Skizzen u.a.) lautet also, dass sie alle das Entstehen erster Theorien der (wissenschaftlichen) Betrachterin zu dem, was in der Aufführung geschieht, beobachtbar machen.47 Interessant wird dabei eben nicht eine ›Berichtigung‹ zuvor erlebter und ggf. notierter Eindrücke und erster Theorien, die die Zuschauerin in Aufführungen wahrnehmend formulierte. Ziel ist also nicht eine (zwangsläufig verfälschende) Rekonstruktion eines objektiv greifbaren Kunstwerks, sondern die Aufschlüsselung der Konstruktion, der Genese der durch mich wahrgenommenen Aufführungssituation. Videoaufzeichnungen und andere mediale Instrumente dienen insofern im Folgenden als sehr spezifische, skopisch eingesetzte Instrumente, gewissermaßen Eine Videoaufnahme zu Bloody Mess habe ich selbst im Februar 2008 in Leeds (UK) hergestellt (Husel/Forced Entertainment 2008); sie zeigt das Bühnengeschehen während einer Aufführung als Totale ohne Zooms und Schnitte; diese Videoaufnahme ist kombinierbar mit einer ebenfalls an diesem Abend erstellten Tonaufnahme des Geschehens im Zuschauerraum. Weiterhin entstanden im Verlauf meiner Studie eine Timeline sowie ein Szenar zu Bloody Mess, die auf den genannten Aufnahmen basieren (Das Szenar findet sich in Kapitel VII., die Timeline ist bei der Autorin erhätlich, z.B. unter www.stefaniehusel.de. Eine weitere Videoaufnahme zu Bloody Mess, die hier zum Einsatz kam, wird von Forced Entertainment als DVD für den Verkauf herausgegeben (Forced Entertainment 2004); allerdings wurde diese Aufnahme nur wenig genutzt, da sie zwar eine in Echtzeit dokumentierte Aufführung suggeriert, dabei aber recht intensiv mit Zooms arbeitet und tatsächlich aus zwei verschiedenen Aufführungen zusammengeschnitten wurde. Ich habe dieses Video nur dann zur Hilfe genommen, wenn mir einzelne Videostills als geeignete Beispiele zur Illustration meiner Argumentation dienen konnten, oder wenn einzelne Momente des Bühnengeschehens dort besser sichtbar und hörbar wurden als auf den durch mich erstellten Aufnahmen. Leider hatte ich keine Gelegenheit, eine eigene Aufnahme zu The World in Pictures zu herzustellen; ich verwendete daher für meine reflexive Arbeit am Video, sowie für die Herstellung einer Timeline und des unter VII eingefügten Szenars eine zwar aus verschiedenen Blickwinkeln zurechtgeschnittene, dabei aber immer noch zeitlich konkrete Aufnahme, die von Hugo Glendinning hergestellt wurde. Diese basiert auf den Mitschnitten mehrerer Kameras während einer Aufführung von The World in Pictures in Lancaster 2006 (vgl. Forced Entertainment 2006). 47 Zur ethnografischen Arbeit, zur Frage nach ›Aufzeichnung‹ und dem Aufschreiben vgl. auch Hirschauer 2001; zur Arbeit am Video bzw. zur praxeologischen Konzeptionalisierung des Sehens von Videos vgl. Mohn 2002 und Schindler/Liegl 2013.
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als ›Aistheto-skope‹. Die sorgfältige Arbeit an und mit medialen Übersetzungen enthält insofern ein stark selbstreflexives Moment. Die Wissenschaftlerin wurde dabei als prototypische Zuschauerin betrachtet, die zwar möglicherweise über zu viel Expertenwissen verfügt, die aber andererseits den unbestreitbaren Vorteil eines privilegierten Zugangs zu ihrem Bewusstsein mitbringt. 5.
Z IELE
UND
A UFBAU
DER
A RBEIT
Ich möchte die bis hier getätigte Vorstellung des Gegenstandes, disziplinärer Grundlagen und methodischer Vorüberlegungen zusammenfassen: In der vorliegenden Arbeit soll das intensive Mitspielen, das Aufführungssituationen der Forced Entertainment Inszenierungen Bloody Mess und The World in Pictures ihrem Publikum ermöglichen, beschrieben und analysiert werden. Dabei wird auf die Praktiken fokussiert werden, die diese Aufführungen entstehen lassen, auf Praktiken der Darstellung ebenso wie auf Praktiken der Wahrnehmung. Die theoretische Basis der Studie ist interdisziplinär: Theaterwissenschaftliche Forschung, die sich mit postdramatischem Theater befasst, und soziologische Theorien der Praxis teilen ein Interesse an Aufführungs- und Wahrnehmungs-Praktiken, beide Theoriefamilien sollen daher begriffliche Bausteine zum hier verwendeten analytischen Vokabular beitragen. Auch die möglichen epistemischen Probleme, die aus dem geteilten Interesse an Darstellungs- und Wahrnehmungspraxis erwachsen, ähneln sich. Aus diesem Grund wurde mit der Ethnographie eine Forschungsmethode gewählt, die die in beiden Disziplinen verbreiteten ›Aufschreibeprobleme‹ adressiert: Die Aufführungssituationen zu Bloody Mess und The World in Pictures sollen in einem dichten ›Hin und Her‹ aus Beschreibung und theoretischer Reflexion reformiert und reflektiert werden. Erfahrungen subjektiver nativeness werden dabei einem disziplinären coming home zugeführt. In einer diesem ethnographischen Vorgehen kompatiblen Mediennutzung, die anstrebt, Aufführungs-Mitschnitte ›aisthetoskopisch‹ einzusetzen, soll der subjektive Erkenntnisprozess der Verfasserin als prominentes Beispiel für das ›Sinn-Machen‹ in Aufführungssituationen genutzt werden. Eine fruchtbare ›Befremdung‹ des Gegenstandes und interdisziplinäre Kompatibilität sollen dabei erreicht werden, indem auf ein Vokabular des ›Spiels‹ zurückgegriffen wird. Das Ziel der Arbeit Grenzwerte im Spiel besteht in der Erarbeitung mehrfachen wissenschaftlichen Gewinns, wie ihn das Zusammentreffen unterschiedlicher Reflexivitäten, praxeologischer, ästhetisch interessierter und aufführungspraktischer, verspricht. Dabei gilt: »Reaktivität ist nicht ein Objektivitätsbemühungen bedrohender Horror, sondern der modus vivendi der Forschung.« (Hirschauer/Amann 1997: 17) Die Begegnung theaterwissenschaftlich-ästhetischen Interesses mit praxeologisch informierter, ethnographischer Methodik und der praktischen Reflexivi-
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tät Forced Entertainments zielt darauf, vom Was zum Wie postdramatischer Theater-Praxis vorzudringen: Wie, also durch welche Praktiken, werden ästhetisch »liminoide« Situationen produziert? Und auf welche Weise kann eine eigenständigen Positionierung der theaterwissenschaftlichen Autorin gegenüber solch reflexiver Praxis gelingen? Eine praxistheoretisch ausgerichtete Soziologie kann von der Begegnung mit dem Feld reflexiver Theateraufführungen profitieren, da sie hier Praktiken des Aufführens, also professionell erprobte Performativität, in relativ stabil bleibender Wiederholung untersuchen kann, und damit die Gelegenheit erhält, geballtes Wissen zu Praktiken des Aufführens und der Aufführungswahrnehmung abzuschöpfen. Postdramatische Theaterpraxis und ihre Akteure können aus der Begegnung mit ethnographisch wie ästhetisch informierter Beobachtung neue, und gegebenenfalls ästhetisch nutzbare Perspektivierungen, ›Befremdungen‹ zurückbehalten. Der Aufbau der Arbeit folgt der Prämisse, der beschriebenen Empirie möglichst viel Raum zu lassen. Daher ist die Herausarbeitung des verwendeten SpielVokabulars im nun folgenden Kapitel II. Spiel – Vom Phänomen zum Modell als knapper Überblick über anthropologische, ästhetische und sozialwissenschaftliche Verwendungen des Begriffes gestaltet; darauf werden die Begriffe des ›Spielraums‹, der ›Spielfigur‹ und der ›Spieler‹ vorgestellt, die die folgende Ethnographie prominent nutzt. Die anschließenden Kapitel III., IV. und V. befassen sich mit den Aufführungssituationen der ausgewählten Inszenierungen, Forced Entertainments Bloody Mess und The World in Pictures. In jedem Kapitel werden dabei andere Aspekte der untersuchten Aufführungssituationen beleuchtet. Das Forschungsfeld soll auf diese Weise eingekreist und beschreibend rekonstruiert werden:48 Kapitel III. befasst sich mit all jenen Praktiken, die Zeit und Raum der Aufführungen etablieren. In Kapitel IV. Spielfiguren der Aufführungen werden Praktiken Thema, die Rollen, Figuren und Darsteller der Aufführungen wahrnehmbar werden lassen. Unter V. Spieler – Das Publikum der Aufführungen wird untersucht, auf welche Weise sich ein Publikum in der Aufführungssituation formiert. Jedem dieser drei Kapitel, die das ethnographische Herzstück der Arbeit ausmachen, ist eine knappe theoretische Einführung vorangestellt, in der das unter II. in groben Zügen etablierte Spielvokabular einer Feinjustierung unterzogen wird: So befasst sich Unterpunkt III.1. mit der »Klammerung« von Spielräumen, IV.1 diskutiert kurz das Verhältnis von Darstellern, Rollen und Spielfiguren und Punkt V.1. ordnet die Idee der Zuschauer als der eigentlichen Spieler der Aufführungssituation in eine Reihe entsprechender Diskurse ein. 48 Als »einkreisende« Bewegung beschreibt der Soziologe Michael Liegl seine ethnografische Arbeitsweise in der Studie Digital cornerville (Liegl 2010).
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In Kapitel VI. Coming home findet die Arbeit ihren Abschluss: Ausblickend wird vorgeschlagen, eine praxis-theoretisch inspirierte Erforschung von Aufführungssituation auf die Reflexion von Probenpraxis auszuweiten. Im Appendix der Arbeit (VII. Kontexte) finden die Interviews, die ich seit dem Jahr 2004 mit Tim Etchells, Gründungsmitglied und Sprecher Forced Entertainments geführt habe, weiterhin Szenare zu beiden Inszenierungen, die zwei konkrete Aufführungsabläufe abbilden. Verwendete Video- und Audiomaterialien sind auf Anfrage zugänglich.
II. Spiel – Vom Phänomen zum Modell »Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ,Andersseins‹ als das ,gewöhnliche Leben‹.« (Huizinga 2006: 37)
Auf den folgenden Seiten soll ein knapper Überblick über verschiedene Diskurse zum Begriff des Spiels geboten werden, mit dem Ziel, ein analytisch ›befremdendes‹ Vokabular für eine Ethnographie postdramatischer Aufführungssituationen zu entwickeln, das sowohl als disziplinärer Beitrag zur Theaterwissenschaft wie zur Soziologie gelesen werden kann.1 Um diesem Zweck zu genügen, soll der Spielbegriff zunächst in den Kontext einiger seiner – äußerst zahlreichen und vielfältigen – Verwendungen eingeordnet werden, ohne dabei einen Anspruch auf Repräsentativität oder Vollständigkeit zu erheben.2 Dabei soll zunächst erörtert werden, welche Verhaltensformen der Begriff ›Spiel‹ gewöhnlich denotiert und wie die Anthropologie Spielverhalten reflektiert. Darauf wird die metaphorische Verwendung des Spielbegriffs, wie sie in der Ästhetik vorherrscht, eingeführt und in Verbindung zu sozialwissenschaftlichen Spielmodellen gebracht. Abschließend soll Erving Goffmans Spiel- und Rahmenmodell sozialer Situationen als Grundlage für die folgenden Berichte und Analysen vorgestellt und zugeschnitten werden.
1
Allen voran, vgl. Kapitel I, den Diskursen zu einer Ästhetik des postdramatischen Thea-
2
Eine sehr umfassende Diskussion verschiedener Diskurse zum Spielbegriff in der abend-
ters sowie einer soziologischen Praxeologie. ländischen Philosophie und Wissenschaft seit dem achtzehnten Jahrhundert liefert Mihai Spariosu in Dionysus Reborn. Doch selbst er konstatiert: »Although my book takes into account a fairly large variety of play concepts, it by no means claims to be a comprehensive history of the modern concept of play. Such a history, if it were ever written, would not only reach monumental proportions but could also easily miss its mark.« (Spariosu 1989: xi).
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Der Begriff ›Spiel‹ kann im Deutschen von einer Schachtel mit Spielsteinen sprechen (»Hol’ bitte das Spiel aus dem Regal«), von einem Regelkanon (»Wie geht denn das Spiel?«), ebenso von einem aktuellen Spielprozess oder Spielstand (»Das Spiel ist aus, ich habe gewonnen«); darüber hinaus ist es möglich, ›Spiel‹ als Äquivalent zu ›Spielraum‹ zu verwenden (»Die Tür hat noch Spiel im Scharnier«). Das Englische kennt eine solch umfassende Gleichsetzung von Material, Rahmen und Spielprozess nicht, dort existiert die Unterscheidung in game und play;3 wobei sich game auf ein sozial gesetztes Regelwerk und play auf den spielerischen Prozess bezieht.4 Im Zusammenhang mit dem Theater aber nutzt auch die englische Sprache das Nomen play für das Theaterstück. Der Begriff ›Theater‹, der in den allermeisten europäischen Sprachen gebräuchlich ist, ist etymologisch nicht mit dem ›Spiel‹ verbunden, sondern geht zurück auf das altgriechische theãstai: »schauen, anschauen« bzw. auf das daraus abgeleitete »théatron«, wie der Zuschauerbereich im antiken griechischen Theater hieß (vgl. z.B. Kotte 2005: 337). Dennoch wird im Deutschen, ebenso in vielen anderen Sprachen, eine Verbindung zwischen ›Theater‹ und ›Spiel‹ ganz selbstverständlich hergestellt; beide Begriffe und ihre semantischen Felder sind offenbar eng miteinander verbunden: Theater wird gespielt, ja Theater ist Schau-Spiel; Helmar Schramm fasst in seinem Eintrag zum Begriff des Spiels im Metzler-Lexikon Theatertheorie die möglichen Verbindungen von Theater- und Spielbegriffen wie folgt zusammen: »Aufführung und Performance reihen sich ein in die unermessliche Fülle kultureller Spielformen. Begriffe wie Schauspieler, Spielraum, Maske, Rolle, Figur lassen sich als Spielmittel auf historisch sich wandelnde Kontexte sozialer Spielkultur beziehen. Formen theatraler Bewegung [...] können als spezifischer Ausdruck spielerischer Dynamik begriffen werden. Theatrale Techniken und Verfahrensweisen [...] lassen sich verstehen als konkreter Ausdruck historisch variierender Spielstrategien.« (Schramm 2005: 313)
Dass gerade die deutsche Sprache, die Theater auch als ›Schauspiel‹ fasst, Spielbegriffe so vieldeutig auf Objekte, Prozesse, Regeln und Räume bezieht, erklärt sich 3
Sofern es sich um Kampf- oder Sportspiele als Einheiten handelt, wird im Englischen auch noch der Begriff ›match‹ verwendet.
4
Beide Begriffe lassen ihre unterschiedliche semantische Verankerung gut erkennen, betrachtet man ihre Herkunft: Während ›play‹ zurückgeführt wird auf die Wurzeln des Bewegung denotierenden Begriffes plega (W.Saxon) bzw. plæga (Anglian): ,exercise, brisk or free movement or action‹«, wird davon ausgegangen, dass ›game‹ eine gemeinsame gotische Herkunft mit man/men aufweist und soziale Regulation denotiert: »regarded by most Germanists as etymologically identical with Goth. gaman neut., participation, communion, f. ga – prefix, together, ,com-‹ [...] + root of MAN«. (Vgl. Einträge PLAY und GAME im The Oxford English dictionary 1989: 344 und 1011).
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aus der Etymologie, denn der dem ›Spiel‹ zugrunde liegende westgermanische Begriff ,spil‹ bezeichnete ursprünglich eine lebhaft pendelnde, tänzerische Bewegung.5 Aus seinen Wurzeln in der Beschreibung einer Bewegung können alle Bedeutungsmöglichkeiten des deutschen Spielbegriffes verständlich werden: So ist es möglich, eine Bewegung als Gestalt in Raum und Zeit und damit als etwas objekhates zu begreifen, sie kann aber auch als (nicht objekthafter) Prozess verstanden werden, während zugrunde liegende Muster als Regelwerke vorstellbar sind; schließlich benötigt und ›ertanzt‹ (oder ›erpendelt‹) Bewegung sich Raum. Huizinga weist darauf hin, dass auch in zahlreichen anderen Sprachen, z.B. im Alt-Sanskrit und im Altgriechischen, Bezeichnungen für das Spielen auf Bewegungsbeschreibungen zurückgehen (vgl. Huizinga 2006: 39ff); auch die Sprachphilosophin Sybille Krämer hebt die Bewegung als Ursprung des Spielbegriffs hervor: »Unsere Vermutung nun ist, dass der intransitive Gebrauch von ,spielen‹ und ,Spiel‹, mit dem ein ungerichtetes pendelndes Bewegungsverhalten, ein schwebendes Hin und Her ausgedrückt wird, gerade den begrifflichen Kern der Idee des Spiels ausmacht.« (Krämer 2005: 11-12) Der Begriff ›Spiel‹ bringt aufgrund seiner Bewegungs-Wurzel weiterhin die Möglichkeit mit sich, auf Prozesse zu verweisen und dabei weder ein Subjekt noch ein Objekt als Akteur (oder Aktanten) vorauszusetzen: Vielmehr gilt: »›Etwas‹ spielt sich – ab. Das ist die grammatische Form nach Art des altgriechischen Mediums, das die Wahl zwischen Aktiv und Passiv vermeidet.« (Lehmann 2011: 37) Der Spielbegriff scheint insofern prädestiniert, primär auf Prozesse und Praktiken zu fokussieren, im Zusammenhang mit dem Theater, also dem Schauspiel, besonders auf solche der Schau. Zugleich aber kann gelten: »Play is one of these elusive phenomena, that can never be contained within a systematic scholarly treatise; indeed, play transcends all disciplines, if not all discipline.« (Spariosu 1989: xi) Insofern kann keine Disziplin Spielbegriff und Spielphänomene als Teil einer exklusiven disziplinären Diskursgeschichte für sich verbuchen. Der Spielbegriff scheint aus diesem Grund dafür geeignet, Theateraufführungen auf eine Weise zu untersuchen, die sowohl für eine Wissenschaft vom postdramatischen Theater als auch für praxeologische Fragestellungen anschlussfähig ist. 5
»Spiel /S/ N: Substantiv Neutrum std. Standardwortschatz (9. Jh.), mhd. spil, ahd. spil, mndd. spel(e), spil spol(e), mndl. spel Stammwort. Dazu das Verb mhd. spil(e)n, ahd. spilOn, as. spilon; entsprechend afr. spil, spel und spilia. Die Ausgangsbedeutung scheint ›Tanz, tanzen‹ zu sein – alles weitere ist unklar. Verb: spielen. Ebenso nndl. spel.« (SPIEL in: Kluge 2002: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache). Vgl. auch: »Moritz Lazarus hat 1883 darauf hingewiesen, dass die sprachgeschichtliche Herkunft von Spiel auf eine leicht, ziellos schwebende, in sich zurücklaufende Bewegung verweise: das westgermanische Spil hat die Bedeutung: In lebhafter Bewegung sein.« (Krämer 2005: 11).
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Aufführungen Forced Entertainments erinnern ihr Publikum und ihre Kritiker offenbar besonders intensiv an die spielerische Komponente allen Theaterspiels. So beschrieb zum Beispiel der Philosoph und Regisseur Andrew Quick in seinem Aufsatz Bloody Play – Games of Childhood and Death das Theater der Kompanie als geradezu entsetzlich verspielt; unter anderem berichtet er dabei von einer Aufführung der Inszenierung 200% and Bloody Thirsty im kleinen italienischen Dorf Polverigi, deren Besucher die energetische Spielfreude der Kompanie, ihrerseits lebhaft animiert, mit dem Ausruf »Come Bambini! Come Bambini!« (»Wie die Kinder! Wie die Kinder!«) begleitet hätten. Quick schließt seinen Aufsatz mit einer Frage, die nicht nur an das Theater Forced Entertainments gerichtet, sondern auch als umfassende, philosophische Überlegung zum Spiel begriffen werden kann: »This is its secrete gesture: Play as the movement between order and disorder; unity and the world in bits; coherence and mess; losing and finding; living and dying; ,Like children, like children‹. Is this the the bloodiness of play?« (Quick 2004: 165) In den zahlreichen Diskursen um das ›Spiel‹ fallen drei grob unterscheidbare Verwendungen des Begriffs auf: Erstens dient der Spielbegriff häufig als Name für ein Phänomen, für eine bestimmen Form des Verhaltens unter Menschen und Tieren. Zweitens wird er als Metapher eingesetzt (z.B. wird vom »Spiel der Zeichen« gesprochen). Drittens dient der Begriff als umfassendes sozial- oder kulturwissenschaftliches Modell, das ein Beschreibungsraster für soziale Begegnungen liefert. Entsprechend nimmt die folgende Diskussion ihren Ausgang in einer Besprechung klassischer Spieltheorien (Huizinga, Caillois u.a.), die Beobachtungen zu Spielphänomenen bei Menschen und im Tierreich in Theorien vom Spiel als einem »weltenbildenden Phänomen« überführten. (II.1.) Die kreative »Weltenbildung« von Spielen ist Grundlage vieler ästhetischer Spielmetaphern (Gadamer, Adorno, Derrida u.a.), die unter II.2. besprochen werden – sie ähneln sprachphilosophischen und semiotischen Spiel-Vergleichen. Im Unterpunkt II.3 wird die Verwendung des ›Spiels‹ als Modell für soziale Situationen diskutiert, unter II.4 schließlich stelle ich das Spielvokabular vor, das ich für meine Ethnographie der Aufführungssituationen von Forced Entertainments Bloody Mess und The World in Pictures nutzen möchte. 1. A NTHROPOLOGISCHE A NSÄTZE Während der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, mitten in der klassischen Moderne, begannen Kulturtheoretiker und -Anthropologen sich wie kaum jemals zuvor dezidiert für das Phänomen des Spielens bei Mensch und Tier zu interessieren. Schon 1928 hatte der Kulturtheoretiker Walter Benjamin in seinem Artikel Spielzeug und Spielen, den er im Zuge einer begeisterten Kritik zum 1927 erschienen Bildband Kinderspielzeug aus alter Zeit verfasste, die Neubelebung einer
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Spieltheorie gefordert (Benjamin 1972b: 130); in groben Zügen entwirft Benjamin an Ort und Stelle die Aufgaben, die eine solche Theorie zu erfüllen hätte: Sie müsste eine »Gestaltlehre der Spielgesten« bieten, außerdem sollte sie eine Erforschung des geheimnisvoll »Rhythmischen« im Spielen leisten, dem Benjamin sehr viel Bedeutung beimisst, da er vermutet, dass erst das Rhythmische im Kinderspiel uns »unserer selbst habhaft werden lässt«.6 Schließlich sei das Spielen als eine genuine Lust an der Wiederholung zu umschreiben. Benjamins Forderungen werden kurze Zeit später eingelöst:7 Es entstanden die beiden, bis heute als Standardwerke rezipierten, kulturanthropologischen Spieltheorien, Johan Huizingas Homo ludens (Org. 1938) und Roger Caillois’ Les jeux et les hommes (Org. 1958).8 a) Spiele als Welten-bildende Phänomene Johan Huizingas Theorie des Homo Ludens betrachtet das menschliche Spiel als den Ursprung menschlichen Kulturschaffens schlechthin; zunächst aber stellt sich der Autor der schwierigen Aufgabe, eine eigenständige Definition des Spiels zu bieten, eine Definition, die Spielen nicht primär aus seiner biologischen oder psychologischen Funktionalität erklärt, sondern ausgehend von einer phänomenologischen und kulturtheoretischen Blickrichtung auf Spielpraxis.9 Zu diesem Zweck abstrahiert Huizinga grundlegende Strukturmerkmale des Spielens: Spielen bezeichnet für Huizinga zunächst ein freiwilliges Handeln, das sich ausschließlich in Freiheit entfalten kann. Hierfür schafft sich Spiel einen Freiraum in Außeralltäglichkeit, es 6
Vergleicht man diese Hypothese mit zeitgenössischen neurowissenschaftlichen Theorien, beweist Benjamin zukunftsweisende Intuition; vgl. z.B. Alva Noës Schriften zur Erschließung der wahrnehmbaren Welt (z.B. Noë 2004) oder die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Arbeit Michael Tomasellos (Tomasello 2010) zur Sprachentwicklung bei Kleinkindern. Auch der Entwicklungstheoretiker Brian Sutton-Smith verweist in seiner Arbeit The Ambiguity of Play (Org. 1997) auf die Redundanz im Spiel; vgl. unten und Sutton-Smith 2001: 222.
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Auch die weniger bekannte Arbeit Wesen und Sinn des Spiels von Jacobus Buytendijk da-
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Da Caillois Arbeit in ihrer deutschen Übersetzung vergriffen war, beziehe ich mich im
tiert in dieselbe Zeit (Org. Het spel van mens en dier, 1932). Folgenden auf die englische Ausgabe; vgl. Caillois 2001. Huizinga konnte ich in der deutschen Übersetzung rezipieren, vgl. Huizinga 2006. 9
Die Schwierigkeit, die sehr heterogenen, einander unscharf überlappenden Praktiken, die Menschen als »Spielen« bezeichnen, in einer gültigen Definition zusammenzufassen, nutzt Wittgenstein um umgekehrt die Sprache als Spiel zu kennzeichnen; vgl. Philosophische Untersuchungen §69-§71 (z.B. in Wittgenstein 2004: 279f). Unter Punkt 2. und 3. des vorliegenden Kapitels komme ich noch einmal auf die modellhafte Nutzung des Spielbegriffs durch Wittgenstein zurück.
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grenzt sich vom zweckgebundenen Alltagshandeln ab. Dabei zeigt das Spielen eine weitreichende Interesselosigkeit an alltäglichen Überlebenszwecken – es wird um seiner selbst willen betrieben. Um in solcher Zweckfreiheit existieren zu können, muss das Spiel konkrete Abgrenzungen zur Außenwelt etablieren: »Das Spiel sondert sich vom gewöhnlichen Leben durch seinen Platz und seine Dauer. Seine Abgeschlossenheit und Begrenztheit bilden sein drittes Kennzeichen. Es ,spielt‹ sich innerhalb bestimmter Grenzen von Zeit und Raum ,ab‹.« (Huizinga 2006: 18) Weiterhin argumentiert Huizinga, dass die in kleinen abgeteilten Freiräumen innerhalb des Alltags zeitlich begrenzt ablaufenden Spiele sich leicht memorieren lassen; hierin besteht in seinen Augen der Grund für ihre Wiederholbarkeit.10 Auch schaffen die eigenständigen Spielwelten eigene Gesetze, Spiel »schafft Ordnung, ja es ist Ordnung« (Huizinga 2006: 19). In seinen ordentlichen Abläufen erkennt Huizinga schließlich die genuin ästhetische Qualität des Spiels: »Das Spiel bindet und löst. Es fesselt, es bannt, das heißt: es bezaubert. [...] Es ist erfüllt von Rhythmus und Harmonie.« (Huizinga 2006: 19) Diese ästhetisch-rhythmische Qualität allen Spiels erklärt für Huizinga schließlich, warum Spiel zugleich als spannend und entspannend beschrieben werden kann: Spannung baut sich rhythmisch auf, um sich schließlich in Harmonie zu lösen. Schon diese Zusammenfassung der von Huizinga benannten Strukturmerkmale des Spiels zeigen das Anliegen des Autors, Spiel als in seinem Wesen frei und zweckentbunden zu erfassen; diese Stoßrichtung der Argumentation führt schließlich dazu, dass für Huizinga der Freiraum, den Spiele (sich) schaffen, letztlich als die Keimzelle aller Kulturentwicklung erscheint: Spiele schaffen eigene »Welten«. Huizingas sehr weit greifende Diskussion des Spiel-Phänomens als ein eigenständiges, autonomes und damit schöpferisches Phänomen erinnert also durchaus an das ältere und viel zitierte Diktum Friedrich Schillers: »Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.«11 Zugleich aber verweist Huizingas Besprechung des Spielens als eine ganz und gar autonome Praxis, die sich aber einen begrenzten Freiraum erst schaffen muss, auch auf ein Paradox des 10 »Unmittelbar mit der zeitlichen Begrenztheit hängt nun aber ein weiteres bemerkenswertes Kennzeichen zusammen. [...] Wenn es einmal gespielt worden ist, bleibt es als geistige Schöpfung oder als geistiger Schatz in der Erinnerung haften, es wird überliefert und kann jederzeit wiederholt werden. [...] Diese Wiederholbarkeit ist eine der wesentlichsten Eigenschaften des Spiels.« (Huizinga 2006: 18). 11 Vgl. Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen Brief 15. Z.B. in: Schiller/Berghahn 2000: 62f. Huizinga selbst empfindet übrigens Schillers Nutzung des Spielbegriffes als zu metaphorisch und die Idee Schillers, Kunst habe sich aus dem menschlichen Spieltrieb ergeben, als zu wenig theoretisch untermauert, vgl. Huizinga 2006: 184.
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Spiels, auf seine Positionierung zwischen Regulation und Freiheit.12 Dieses Paradox wird durch Roger Caillois eingehender erforscht. Caillois übernimmt in seiner Arbeit Les jeux et les hommes (im Folgenden zitiert nach der Englischen Ausgabe, Man, play, and games) größtenteils Huizingas Spieldefinition, indem er dessen formale Kriterien des Spielens, mit nur wenigen Anpassungen, neu formuliert: Spiele geschehen freiwillig, sind vom Rest des alltäglichen Lebens zeitlich und/oder räumlich getrennt, ihr Ausgang oder letztgültiger Spielstand ist unvorhersehbar, sie produzieren keinen alltäglichen Mehrwert, werden durch Spielregeln bestimmt und besitzen eine ›Als-ob‹-Komponente.13 Darauf aber kritisiert Caillois, dass in Huizingas Homo ludens eine Klassifikation der Spiele übergangen würde und nimmt diesen Mangel als Ausgangspunkt für die eigene Arbeit: Er bestimmt vier Grundkategorien der Spiele, agon (Wettkampf), alea (Glücksspiel), mimicry (Maskenspiel und Nachahmung), sowie ilinx (Rausch und das Vergnügen an schwindelerregender Körperbetätigung, z.B. im Karussell). Alle vier Spielformen bewegen sich dabei für Caillois zwischen den Polen paidia und ludus, die Sybille Krämer stimmig zusammenfasst: »Paidia ist das Prinzip archaischen Vergnügens, freier Improvisation, überschäumender Lebensfreude und unkontrollierter Fantasie. Unter ludus versteht er [Caillois – SH] die gebieterische Konventionalität, die strenge Regularität, die trainierbare Vollzugskompetenz, die Hindernissuchende und -überwindende Meisterschaft im Spiel.« (Krämer 2005: 11) Das Spiel-Paradox, dieses offenbar in den Augen vieler Autoren dem Spiel typische Oszillieren »zwischen Rausch und Regel«, erscheint damit in Caillois’ Matrix der Spielformen und -Tendenzen als eine genuine Herausforderung alltäglicher Ordnung und Grenzen:14 Im schwindelnden Drehspiel ilinx werden die Sinne (z.B. der Gleichgewichtssinn) bis an ihre Grenzen getrieben, in der mimesis steht die Abgrenzung der spielenden Individuen ›auf dem Spiel‹, im Wettkampf agon sind persönliche Leistungsfähigkeit und Gegner herausgefordert, und im Glücksspiel alea sogar das Schicksal selbst. Zwar wird also auch bei Caillois das Spiel als selbstgenügsam und unproduktiv, als autonome »eigene Welt« gekennzeichnet – doch scheint es immer über seine abgeschlossene Sphäre hinauszuweisen, indem es die übrige Lebenswelt, aus der es separiert ist, herausfordert.
12 Ein äquivalent gebautes Paradox wird, vgl. unten, von Theodor Adorno für die Kunst beschrieben und schließlich als »Abstoßen des Autonomen aus dem Heteronomen« gefasst. 13 »[T]he preceding analysis permits play to be defined as an activity which is essentially 1. Free [...] 2. Separate [...] 3. Uncertain [...] 4. Unproductive [...] 5. Governed by rules [...] 6. Make-believe.« (Caillois 2001: 9-10). 14 Zwischen Rausch und Regel lautet der Titel einer Veröffentlichung der Stiftung Deutsches Hygiene-Museum Dresden (2005).
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b) Jenseits des Spielparadoxes: »adaptive variability« und »komplexes Spiel« Beide Klassiker der (kulturanthropologischen) Spieltheorie, Huizinga wie Caillois, haben sich zum Ziel gesetzt, Spiel nicht mehr als »sekundäres Phänomen« zu beschreiben: Spielen sollte nicht lediglich als das Üben für etwas ganz anderes begriffen werden, nicht mehr als die schwächere Version von etwas ›Eigentlichem‹ gelten, oder als die Entspannung und Erholung, die nötig ist nach anstrengendem ›ernsten‹ Tagwerk. Stattdessen sollte gerade das Moment der spielerischen Freiheit, das ›Um-seiner-selbst-willen‹ des Spiels betont werden; Huizinga spricht in diesem Zusammenhang davon, Spiel als »primäre Lebenskategorie« zu begreifen (vgl. Huizinga 2006: 11). Diese Intention der beiden klassischen Spieltheorien wird bei beiden Autoren zum Antrieb, eine umfassende, schematisch-formale Darstellung des Spiels zu erstellen. Allerdings erscheint nun der Bezug, den jedes noch so autonome Spiel auf seine Umwelt nehmen muss, und sei es nur, um sich gegen diese abzugrenzen, als problematisch, ja als Paradox des Spielens. Anders als bei Huizinga und Caillois, wo Spielen gerade als Selbstzweck definiert ist, wurden dem Spielen bei vielen anderen, am konkreten Phänomen interessierten Autoren, immer neue über die konkrete Spielsituation hinausweisende Funktionen zugeschrieben; der Entwicklungstheoretiker Brian Sutton-Smith zählt in seinem 1997 erschienenen Buch The Ambiguity of Play sieben unterschiedliche Rhetoriken auf, die sich in solchen Diskursen zur Funktionalität des Spiels wiederfinden lassen, u.a. die Rhetorik des Fortschritts (»Spielen treibt menschlichen Fortschritt voran!«) oder die Rhetorik der Macht (»Spielen hilft, politische oder kriegerische Absichten vorzubereiten; Strategien werden durchgespielt!«).15 Sutton-Smith selbst kritisiert solch teleologisch-funktionale Beschreibungen von Spielpraktiken; dennoch gelangt auch er zu einer, wenn auch äußerst vermittelten, »FortschrittsRhetorik« des Spiels: Zunächst fallen ihm (formale) Analogien zwischen Spielen und evolutionären Gesetzmäßigkeiten auf. Evolutionäre Entwicklung in der Biologie wird, so argumentiert Sutton-Smith, nur durch Flexibilität möglich: Genetische Variabilität (»quirky shifts and latent potential«), die ihrerseits erst in dauernder Wiederholung (»redundancy«) entstehen, müssen vorhanden sein, damit evolutionäre Auswahl und Anpassung stattfinden können (vgl. Sutton-Smith 2001: 221ff) Spiele (die ebenfalls voller »quirky shifts« und »redundancy« stecken) begreift Sutton-Smith nun allerdings nicht als weitere Motoren im evolutionären Auswahlverfahren, sondern eher umgekehrt, als schützende Bremsen: »Biologically, its [play’s 15 Vgl. Sutton-Smith 2001: 215. Sutton-Smith ordnet übrigens auch Huizinga einem dieser Diskurse bei: Da Huizinga im Spiel die Keimzelle kultureller Entwicklung sieht, scheint er für Sutton-Smith, zumindest in seiner Besprechung von Wettkämpfen, eine SpielRhetorik der »Macht« zu vertreten.
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– SH] function is to reinforce the organism’s variability in the face of rigidifications of successful adaption [...]. This variability covers the full range of behavior from the actual to the possible.« (Sutton-Smith 2001: 231) In der Betrachtung des Entwicklungstheoretikers erscheint Spiel also als Garant für adaptive Variabilität im Verhalten von Mensch und Tier, oder, etwas poetischer ausgedrückt, als Schutzraum für ein Handeln in Narrenfreiheit. Sutton-Smith gesteht zum Ende seines Buchs, seinerseits spielerisch, dass er nun selbst Beiträger zu einer funktionalen Logik des Spiels geworden sei.16 So funktional-logisch SuttonSmiths Argumentation formuliert ist, erscheint sie doch als Öffnung, die über das Paradox hinausweist, das andere Theorien produzieren, wenn sie Spiel-Phänomene zwischen Regulation und Freiheit zu positionieren suchen. Zwar sind auch bei Sutton-Smith Spiele sowohl reguliert und begrenzt als auch frei und kreativ; in der Umwidmung der Begrenzung zum Schutzraum, die seine Theoretisierung des Spielens mitbringt, verliert das entstehende Spannungsverhältnis jedoch seinen unlogischen, paradoxalen Charakter. Exzessives Spiel kann, diesen Effekt hat sicher jeder schon in Kindertagen erlebt, seine einmal gesetzten Grenzen überschreiten, und auf diese Weise zu (manchmal bitterem) Ernst werden, zum Beispiel wenn das eben noch spielerische Gerangel unter Kindern zu Schmerzen oder Verletzungen führt, ein Mitspieler weint oder wütend zurückschlägt; in so einem Fall ist die oft schmale Grenze zwischen Spiel und Ernst überschritten, das Spiel schlägt um und wird zu etwas anderem, zu einer nicht mehr spielerischen Situation. Neben glückendem und in Ernst umschlagendem Spiel sind aber auch grenzgängerische Spielformen denkbar, die ihre eigenen Grenzen (bzw. ihr Regelwerk) herausfordern, es gewissermaßen austesten, ohne es dabei zu zerstören. Solche Spiele interessierten Gregory Bateson in besonderem Maß. In seinem Essay Eine Theorie des Spiels und der Phantasie befasst sich auch Bateson zunächst mit der unproduktiven Paradoxalität, in der manche Beschreibungen von Spielphänomenen steckenbleiben (vgl. Bateson 1983). Bateson führt dies zurück auf eine mentalistische, bzw. stur logische Missinterpretation der Fiktionalität bzw. der MetaKommunikation, die das Spielen schon im Verhalten von Tieren etabliert; er paraphrasiert zu diesen Zweck die »Mitteilung«, die im spielerischen Zwicken zweier Otter steckt, deren Spiel er im Zoo beobachtet:17 So ›sagt‹ dieses Zwicken: »Diese 16 »I add, however, the final note that, despite my extensive criticisms of the rhetoric of progress, I have now invented yet another form of it, although this time as only the potentiation of adaptive variability.« (Sutton-Smith 2001: 231). 17 Die Begriffe »meta-kommunikativ« und »meta-sprachlich« führt Bateson direkt zu Beginn des Aufsatzes ein; Mitteilungen dieser Art beziehen sich auf Spielregeln der Kommunikation (»Das war doch freundlich gemeint!«) bzw. der Sprache (»Liebe ist auch nur
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Handlungen, in die wir jetzt verwickelt sind, bezeichnen nicht, was jene Handlungen, die sie bezeichnen, bezeichnen würden.« (Bateson 1983: 244) Bateson konstatiert also, dass das spielerische Zwicken zwar Ähnlichkeit mit dem ernsthaften Biss aufweist, dass es ihm aber zugleich gelingt, nicht dasselbe konsequenzbehaftete Verhalten auszulösen, das mit einem eigentlichen Biss einherginge. Obwohl spielerisches Verhalten also von beteiligten Mitspielern, seien es Menschen oder Otter, problemlos als solches begriffen wird und Mitspieler sich begeistert ins Spiel involvieren, erscheint spielerische Praxis, sobald sie in eine sprachliche Mitteilung übersetzt wird, als unlogisch, ja paradox: »Nach der logischen Typenlehre ist eine solche Mitteilung natürlich unstatthaft [...] Alles, was wir aber aus einer solchen Kritik lernen, ist, dass es schlechte Naturgeschichte wäre, von den geistigen Prozessen und Kommunikationsgewohnheiten der Säugetiere zu erwarten, dass sie dem Ideal des Logikers entsprechen.« (Bateson 1983: 244f) Auch wenn Spielpraktiken nicht dem »Ideal des Logikers« entsprechen, benötigt das Herstellen einer vom alltäglichen ›ernsthaften‹ Überlebenskampf separierten Spielwelt, dies wird in Batesons Otter-Beispiel ebenfalls deutlich, eine äußerst feine soziale Abstimmung aller Mitspieler: Um das Spiel aufrecht zu erhalten und es eben nicht in Ernst umschlagen zu lassen, wird es offenbar nötig, dass Spieler einander in irgendeiner Weise immer wieder die Mitteilung »Dies ist (noch) Spiel« übermitteln. Diese Notwendigkeit des Spiels sorgt dafür, dass gerade im Spielen derjenigen Organismen, die »vom Baum der Erkenntnis gegessen haben«, manchmal auch eine komplexe Form des Spiels betrieben wird:18 »[D]ies führt uns zur Anerkennung einer komplexeren Form des Spiels [play]; das Spiel [game], welches nicht auf die Prämisse ,Das ist ein Spiel‹ gegründet ist, sondern sich eher um die Frage dreht ,Ist das Spiel?‹ [Englischsprachige Einfügungen i. dt. Org]« (Bateson 1983: 247) Gerade solche »komplexen Spiele« eigenen sich, so führt Bateson in der Folge vor, hervorragend dazu immer neue Paradoxe zu produzieren, indem Spielregeln ins Spiel hineingezogen und kunstvoll verdreht werden, oder indem Doppeldeutigkeiten und Bezugsprobleme hergestellt werden. Bateson verweist damit auf eine Eigenschaft des Spielens, die in einer stur auf formaler Logik beharrenden Betrachtungsweise von Spielparadoxien unbeachtet bleibt: Komplexe Spiele weisen offenbar über sich hinaus, indem sie die eigene Begrenztheit dehnen; zuvor produzierte Paradoxien bzw. Einengungen werden kreativ umgangen. Auf diese Weise
ein Wort«). Bateson stellt zudem fest, dass beide Sorten der Meta-Mitteilung häufig implizit bzw. nicht sprachlich mitgeteilt werden, vgl. Bateson 1983: 241f. 18 Bateson spricht vom »Drama, das heraufbeschworen wird, wenn Organismen, die vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, entdecken, dass ihre Signale Signale sind« (Bateson 1983: 243).
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werden beständig neue Regeln ›erspielt‹.19 Die Grundsituation des Spiels zwischen Reguliertheit und Freiheit erscheint daher nicht nur in Sutton-Smiths, sondern auch in Batesons Betrachtungsweise in höchstem Maße generativ. Zusätzlich zu einer evolutionstheoretischen Erklärung liefert Batesons Theoretisierung mit dem »komplexen Spiel« auch ein Konzept, welches die seltsam paradox anmutende Produktivität von Spielpraxis thematisiert. Die bis hier besprochenen kulturanthropologischen Sichtweisen auf menschliches und tierisches Spiel betonen also das Herstellen eigener Spielwelten, in denen spielerische Bewegung und Begegnung separiert von konsequenzbehaftetem Alltagshandeln möglich wird. Das Herausfordern spielerischer Grenzen, das geschieht, sobald ein Spiel zu »komplexem Spiel« wird, kann dabei auch als ein Problematisieren oder Thematisieren dieser Grenzen bzw. Spielregeln betrachtet werden: Spielerische Grenzgänge produzieren ästhetische Hervorhebungen der Spielbegrenzung und können damit auch als praktische Semiosen begriffen werden. Glücken können solche Grenzgänge im Rahmen des Spiels allerdings nur dann, wenn alle Spielteilnehmer ›mitspielen‹, die Spielsituation also nicht in bitteren Ernst umschlägt. Eine Beschreibung der Aufführungssituationen Bloody Mess und The World in Pictures in einem an den vorgestellten Spiel-Anthropologien inspirierten Vokabular baut insofern Nähe zu Fragestellungen einer performativen, semiotischen wie phänomenologischen Ästhetik auf, und lässt es zu, auf die nun als »komplexes Spiel« erscheinende selbstreferenzielle Darstellungsweise postdramatischen Theaters zu rekurrieren. Weiterhin wird eine dichte Beschreibung von Aufführungen als ›Spielsituationen‹ immer nach den praktischen sozialen Voraussetzungen ihrer Aufrechterhaltung fragen müssen: Wie funktioniert das Mitspielen aller Beteiligten in der Praxis? Insofern werden auch praxeologische Interessen zentral adressiert.
19 Ein eingängiges Beispiel für solch selbstreferenzielle Generativität von Spielregeln kann mit Blick auf das Fußballspiel gefunden werden: Die Abseitsregel wurde spät erfunden, zu einem Zeitpunkt, als die übrigen Spielregeln schon existierten; sie soll spielerischer Langeweile vorbeugen, indem sie verhindert, dass Spieler vor dem Tor abwarten, um einen Ball in Momenten mangelnder Verteidigung kunstlos ins Tor zu kicken. Spieltaktiker haben inzwischen nachgezogen und die Abseits-Falle entwickelt, die ihrerseits neue Verteidigungsstrategien aud den Plan ruft, usw.
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2. Ä STHETISCHE
UND SEMIOTISCHE
S PIEL -M ETAPHERN
Spiele bauen also wie beschrieben eigene Welten auf, die von einer alltäglichen Umwelt und dem dort meist vorherrschenden zweckdienlichen Handeln schützend abgegrenzt sind; innerhalb ihrer (in ständiger Aushandlung befindlichen) Grenzen bieten sie Raum für spielerische Bewegung; um mit Foucault zu sprechen: Spiele bilden ganz konkrete »andere Räume«;20 ihre »heterotopischen« Eigenschaften teilen Spiele mit zahlreichen künstlerischen Praktiken. Auch werden Spiele ihrerseits Gegenstand ästhetischer Reflexion, z.B. im derzeit neu entstehenden medienwissenschaftlichen Feld der »Ludologie«.21 Schon Huizinga nennt den Spaß am Spiel eine »tief im Ästhetischen verankerte Eigenart«, die sich einer quantitativen Erhebung der Experimentalwissenschaft entziehe (Huizinga 2006: 10). Neben einer ästhetischen Diskussion konkreter Spielphänomene existiert in der Ästhetik aber auch eine intensive Nutzung von Metaphern des Spiels: Eigenschaften von Spielphänomenen, wie sie entweder aus der Etymologie des Begriffs und/oder aus der Anthropologie des Phänomens ableitbar sind, werden zum Bild für ästhetische Interesselagen. Im Folgenden möchte ich anhand einiger ausgesuchter Beispiele einen der Wege aufzeigen, den Spielmetaphern in der Ästhetik genommen haben. Es lässt sich eine theoretisch-diskursive Entwicklung nachzeichnen, in der das Spiel zunächst für ein in sich selbst spielendes, bewegtes und niemals feststellbares Kunstwerk steht, um darauf fort vom Werkbegriff und hin zu einer relationalen Ästhetik zu führen, in der spielerische Rezeptionssituationen zum ästhetischen Hauptinteresse werden.
20 »Es gibt [...] wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte ausserhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien.« (Foucault 2002: 39). 21 Ludologen erforschen Spiele vornehmlich, um zu ästhetischen Positionen zu gelangen, die es erlauben, Computer-Spiele in einem akademischen Kontext zu reflektieren. In der Narratologie-vs.-Ludologie-Debatte, die Anfang der 2000er Jahre vor allem in der angelsächsischen und skandinavischen Computerspiel-Forschung (Game Studies) geführt wurde, erarbeiteten Ludologen eine ganze Anzahl von Begriffen, um zeitgenössische Computer-Spiel-Phänomene ästhetisch zu untersuchen, z.B. den Begriff des »gameplay« der bezeichnet, wie viel ›Spiel‹ (play) ein Game für seine Spieler offen lässt, wie viele Spielräume, bzw. Entscheidungsmöglichkeiten im Verlauf eines Games existieren (vgl. zu diesem Thema Jesper Juul: Dictionary of Video-Game-Theory unter: http://www.half-real.net/dictionary/ (zuletzt geprüft am 01.04.2014).
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a) »Es spielt« – Kunstwerke und Strukturen in Bewegung Prominenter Nutzer einer ästhetischen Spielmetapher ist Hans Georg Gadamer. In seiner Hermeneutik kennzeichnet er Spiel zunächst im Sinne einer in sich zurückkehrenden, eigenständigen Bewegung, die kein Subjekt benötigt: »Immer ist da das Hin und Her einer Bewegung gemeint, die an keinem Ziele festgemacht ist, an dem sie endet. [...] Es ist das Spiel das gespielt wird oder sich abspielt – es ist kein Subjekt dabei festgehalten, das da spielt. Das Spiel ist Vollzug der Bewegung als solcher. [...] der ursprünglichste Sinn von Spielen [ist] der mediale Sinn.« (Gadamer 1990: 109) Dieses Bild vom Spiel, verstanden als Spielbewegung, wird Gadamer darauf zum Bild für das Kunstwerk: »Wenn wir im Zusammenhang der Erfahrung der Kunst von Spiel sprechen, so meint Spiel nicht das Verhältnis oder gar die Gemütsverfassung des Schaffenden oder Genießenden und überhaupt nicht die Freiheit einer Subjektivität, die sich im Spiel betätigt, sondern die Seinsweise des Kunstwerks selbst.« (Gadamer 1990: 107) Wird in sich spielende Bewegtheit als Eigenschaft, sogar als Wesen des Kunstwerks bestimmt, muss die Rezeption solch oszillierender Spiele als – wie auch immer gearteter – Eingriff in deren Bewegtheit konzipiert werden. Entsprechend spielt im Kunstwerk Gadamers zwar ständige Bewegtheit, zu seiner »eigentlichen« Bestimmung aber gelangt das derart ephemer gezeichnete Werk erst bei Hinzutritt des Beobachters, denn »indem das Spiel für ihn ist, wird anschaulich, dass es einen Sinngehalt in sich trägt, der verstanden werden soll« (Gadamer 1990: 115). Den Moment der Rezeption und Sinnbildung, die ästhetischen Semiose, bespricht Gadamer entsprechend als ein Stillstellen und Fixieren der im spielerischen »Werk« angelegten Bewegtheit: »Ich nenne diese Verwandlung, in der das menschliche Spiel seine eigentliche Vollendung, Kunst zu sein, ausbildet, Verwandlung ins Gebilde. Erst durch diese Wendung gewinnt das Spiel seine Idealität, so dass es als das selbe gemeint und verstanden werden kann.« (Gadamer 1990: 116) In der »Zusammenschau« durch den Betrachter erst kann bei Gadamer das zweckferne Hin- und Her-Oszillieren des ästhetischen Spiels als ein Ganzes in den Blick genommen und damit zu Sinn gemacht werden. Entsprechend besteht bei Gadamer auch die Aufgabe der Ästhetik in solch hermeneutischer (Zusammen-)Schau. Ein diametrales Gegenprogramm zur einer Spiel-Hermeneutik, wie sie Gadamer versteht, entwirft Jaques Derrida; dabei nutzt auch er die Metapher vom Spiel als unaufhörliche Bewegtheit, die sich bei ihm allerdings nicht nur auf Kunstwerke beschränkt, sondern aller »Struktur« eignet. Derrida kritisiert in seinem Aufsatz »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaft vom Menschen«, dass die spielerische Eigendynamik »der Struktur« in hermeneutischen Kontexten
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immer nur in beschränkter bzw. ›befriedeter‹ Form beschrieben wurde:22 »Der Begriff der zentrierten Struktur ist in der Tat der Begriff eines begründeten Spiels, das von einer begründeten Unbeweglichkeit und einer versichernden Gewissheit, die selber dem Spiel entzogen sind, ausgeht.« (Derrida 2004b : 115) Die »Zusammenschau«, in der für Gadamer die eigentliche Vollendung des ästhetischen Spiels bestand, erscheint also in Derridas Lesart als eine der zahlreichen abendländischen Fixierungsgesten dem Spiel aller Struktur gegenüber: Der Struktur wird ein Zentrum und/oder ein (synthetisierendes) Außen beigestellt.23 Demgegenüber fordert Derrida »Strukturalität zu denken« und auf diese Weise alle »versichernde Gewissheit«, alle sinnstiftenden Zentren bzw. Fluchtpunkte als Fiktion zu entlarven (Derrida 2004b: 116). Statt das Spiel der Struktur nur in Fixierung oder momentaner Stillstellung zu fassen (z.B. indem eine Gegenüberstellung von Subjekt und Struktur als Keimzelle des Sinns gesetzt wird), will Derrida gerade in ihrem dauernd bewegten Spiel das Wesen der Struktur denken, fußend in der beständigen Substitutionsbewegung der Zeichen, (welche er andernorts auch als différance beschreibt):24 »Die Unmöglichkeit der Totalisierung kann aber auch anders definiert werden: Nicht länger mit Hilfe des Begriffs der Endlichkeit, als Angewiesensein auf die Empirizität, sondern mit Hilfe des Begriffs des Spiels. Wenn sich die Totalisierung alsdann als sinnlos herausstellt, so nicht weil sich die Unendlichkeit eines Feldes nicht mit einem Blick oder einem endlichen Diskurs erfassen lässt, sondern weil die Beschaffenheit dieses Feldes – eine Sprache und zwar eine endliche Sprache – die Totalisierung ausschließt: Dieses Feld ist in der Tat das eines Spiels, das heißt unendlicher Substitutionen in der Abgeschlossenheit (clôture) eines begrenzten Ganzen.« (Derrida 2004b: 132)
Was Derrida also vorschwebt, ist eine der Hermeneutik entgegengesetzte »Interpretation der Interpretation«, die nicht länger einer Suche nach dem »Ursprung« oder anderer Stillstellung zugewandt bleibt, sondern stattdessen »das Spiel bejaht« (Derrida 2004b: 138).
22 Original 1967 erschienen in der Sammlung L’Écriture et la différence. Hier zitiert nach der Ausgabe Derrida 2004a. 23 Zu solch fixierenden Gesten rechnet Derrida alle »Bestimmung des Seins als Präsenz«: »Man könnte zeigen, dass alle Namen für Begründung, Prinzip, oder Zentrum immer nur die Invariante einer Präsenz (eidos, arche, telos, energeia, ousia [Essenz, Existenz, Substanz, Subjekt], aletheia, Transzendentalität, Bewusstsein, Gott, Mensch usw.) bezeichnet haben.« (Derrida 2004b: 116). 24 Vgl. dazu Derrida: Die Différance (Derrida 2004a).
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Gadamer und Derrida führen also zunächst eine recht ähnliche Spielmetaphorik ein, um Kunstwerke bzw. um allgemein Struktur als schillernde Bewegtheit zu beschreiben; beide erteilen auf ihre Weise dem Gedanken an einen subjektiven Ursprung solcher Bewegtheit (z.B. durch einen übermächtigen Schöpfer-Autor) eine klare Absage. Allerdings gelangen sie dann zu diametral entgegengesetzten ästhetischen bzw. semiotischen Betrachtungsweisen: Während das Spiel in Gadamers Metaphorik erst stillgestellt werden muss, um zu sinnhafter Vollendung zu finden (in Gadamers Worten: das Spiel muss zu »Schau-Spiel« werden), und auf diese Weise doch wieder ein Subjekt ins Spiel gelangt, propagiert Derrida eine entgrenzende Bejahung spielerischer Bewegtheit: Alles wird zum Spiel, hinter jeder Semiose steckt bei ihm das potentiell unendliche Spiel der différance, das Subjekt wird als ein Scheiterndes gedacht. Gadamers und Derridas so ähnliche und doch so unterschiedlich eingesetzte Spielmetaphorik wird unter anderem von Ruth Sonderegger aufgegriffen.25 Sie weist in ihrer Arbeit Für eine Ästhetik des Spiels darauf hin, dass beide Theoretiker sich, wenn auch auf unterschiedliche Weise, anhand der Spielmetapher vornehmlich mit dem Topos eines »Verstehens« auseinandersetzen, das dem Spiel in irgendeiner Weise entgegengesetzt scheint: »Während Gadamer die ästhetische Erfahrung zur ausgezeichneten Quelle einer mit Sinnlichkeit und Neuem angereicherten Erkenntnis macht, ist sie Derrida zufolge der Ort der Einsicht in das Scheitern allen Verstehens.« (Sonderegger 2000: 13) Sowohl Gadamer als auch Derrida beschreiben in Sondereggers Lesart analoge Rezeptionsszenen, die sich lediglich in ihrem Ende unterscheiden: Das zu rezipierende Kunstwerk, bzw. die spielende Struktur, lässt sich in Gadamers Beschreibung durch Zusammenschau meistern, während sie sich in der von Derrida entworfenen Szene einem synthetisierenden Zugriff entzieht. Semiose, mentalistisch als vom Werk klar unterschiedene Verstehensleistung gefasst, glückt hier und scheitert dort. Sonderegger wirft in ihrer Diskussion entsprechend beiden Autoren denselben Denkfehler vor. In ihrer Fixierung auf ein dem Spiel äußerliches Verstehen würden »beide in einen Jargon der Eigentlichkeit, [verfallen] sobald sie über das Ästhetische sprechen, das sie auf diese Weise auslöschen« (Sonderegger 2000 118). Diesem Jargon setzt Sonderegger eine überarbeitete ästhetische Spielmetaphorik entgegen: Ihre Spiel-Ästhetik beschreibt das Kunstwerk und die ästhetische Erfahrung unter den Vorzeichen der Bewegtheit. Die Autonomie dieses bewegten Prozesses soll in ihrem Bild erhalten und nicht einem – ob glückend oder scheiternd aufgefassten – Primat des Verstehens untergeordnet werden. Sondereggers Kunstwerk manifestiert sich daher in oszillierendem Spiel zwischen »Produktion und Produkt«, 25 Auch Hans-Thies Lehmann bespricht die zugleich so ähnlichen wie unterschiedlichen Spielmetaphern der beiden Theoretiker in seinem Aufsatz Versuch zum Verstehen, den ich weiter unten noch mehrfach anspreche (vgl. Lehmann 2011).
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dabei besteht die Autonomie des so verstandenen Kunstwerks (bzw. des KunstProzesses) gerade im ›Hin und Her‹ zwischen glückender Semiose und deren Konstitution bzw. Auflösung (vgl. Sonderegger 2000: 190). »Das ästhetische Spiel ist demnach ein über bestreitende Reflexion vermitteltes. Bezieht man die hermeneutische und die nichthermeneutische Strategie im Modus des Spiels aufeinander, so ist damit nicht nur ein Argument gegen eine hermeneutische und ebenso gegen eine nichthermeneutische Ästhetik geltend gemacht, sondern auch die ästhetische Notwendigkeit ihres wechselseitigen Aufeinander-Angewiesenseins gezeigt.« (Sonderegger 2000: 193)
Es lässt sich in der Nutzung ästhetischer Spielmetaphern insofern eine Tendenz nachzeichnen, die Gegenüberstellung von Werk (bzw. Struktur) und Rezeption des/derselben mit Hilfe einer ästhetischen Spielmetaphorik allmählich in ihrer Statik zu modifizieren: Bei Gadamer wird das Werk als in sich spielendes verstanden, dem dann ein synthetisierender, gewissermaßen ›fest-stellender‹ Blick gegenübertreten muss. Derrida zeichnet hingegen das Bild eines bewegten Spiels der Struktur, an dem hermeneutischer Zugriff scheitert, und verweist hoffnungsvoll auf antihermeneutische Dekonstruktion, der es gelingen soll, dieses Scheitern zu bejahen. Ruth Sonderegger schließlich löst den Werkbegriff, ebenso wie das ihm gegenüberstehende Verstehen, in einem Bild vom Kunstwerk als autonomen Prozess auf, der im ständigen ›Hin und Her‹ aus Produkt und Produktion oszilliert; in ihrer Spielästhetik wird es damit möglich, statt von einem Werk von ästhetischen (Spiel-) Situationen zu sprechen, die sich dadurch auszeichnen, dass Sinn immer in Frage bleibt: »Dort, wo die Erfahrung des formalistischen Bestimmens offen für den hermeneutischen Einspruch ist, bzw. die entsprechende Situation diesen nahelegt, gibt es gute Chancen, dass sie eine ästhetische im Sinn der Spielästhetik wird. Diese bestimmt die ästhetische Erfahrung als eine solche, deren Gegenstand wesentlich fraglich ist: (k)ein Ding, (k)ein Text, (k)eine schöne Konstellation von Symmetrien und Differenzen. Man könnte vielleicht sagen, dass die ästhetische Erfahrung darin besteht, in Erfahrung zu bringen, was es ist, was sie erfährt.« (Sonderegger 2000: 265)
b) Spiel als Metapher für Relationalität Bewegtheit und Autonomie der Kunst werden in Theodor W. Adornos Ästhetischer Theorie als zentrale Begriffe reflektiert; Adorno nutzt dabei ebenfalls an prominenter Stelle eine Spielmetapher; allerdings bildet diese bei ihm nicht den gesamten Prozess ästhetischer Bewegung ab, sondern formt gleichsam den ›antithetischen‹ Teil der Dialektik, unter deren Prämisse Adorno die Bewegtheit des künstlerischen
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Feldes beschreibt.26 Nichts desto weniger ist »Bewegtheit« bei Adorno das einzige »Wesensmerkmal« dass sich für die Kunst angeben lässt: »Deutbar ist Kunst nur an ihrem Bewegungsgesetz, nicht durch Invarianten. Sie bestimmt sich im Verhältnis zu dem, was sie nicht ist. Das spezifisch Kunsthafte an ihr ist aus ihrem Anderen: inhaltlich abzuleiten; das alleine genügte irgend der Forderung einer materialistischdialektischen Ästhetik. Sie spezifiziert sich an dem, wodurch sie von dem sich scheidet, woraus sie wurde; ihr Bewegungsgesetz ist ihr eigenes Formgesetz. Sie ist nur im Verhältnis zu ihrem Anderen, ist der Prozess damit.« (Adorno 2002: 12)
Betrachtet man genauer, wie Adorno sein »Bewegungsgesetz der Kunst« aus der Idee der »Autonomie der Kunst« herleitet, zeigen sich zahlreiche Verbindungen zu schon besprochener Spielmetaphorik, ebenso zu den oben behandelten kulturanthropologischen Spieltheorien; schließlich lässt sich ein methodischer Appell ablesen, der gerade in jüngster Zeit, zum Beispiel in Nicolas Bourriauds relationaler Ästhetik formuliert wird. Um diesen methodischen Anspruch zeitgenössischer Ästhetik begreiflich zu machen, soll zunächst Adornos Idee eines »Abstoßens« autonomer Kunst aus dem ihr Heteronomen besprochen werden, die in enger Verbindung seiner Konzeption des Kunstwerkes als fait social steht. Die Autonomie der Kunst besteht für Adorno vornehmlich im Ideal des »Selbstseins ihrer Erzeugnisse«. Kunst existiere heute um ihrer selbst willen, sie hat – in dieser Überlegung nimmt Adornos Ästhetik ihren Ausgangspunkt – nach Aufklärung und Moderne, spätestens aber nach zwei Weltkriegen, endgültig ihre ehemaligen Verpflichtungen zur Repräsentation der Macht abgestreift; nun gelte: »Kunstwerke sind Nachbilder des empirisch Lebendigen, soweit sie diesem zukommen lassen, was ihnen draußen verweigert wird, und dadurch von dem befreien, wozu ihre dinghaft-auswendige Erfahrung sie zurichtet« (Adorno 2002: 14). Weiterhin könne gelten: »Lebendig sind sie [die Kunstwerke – SH] als sprechende, auf eine Weise, wie sie den natürlichen Objekten und den Subjekten, die sie machen, versagt ist. Sie sprechen vermöge der Kommunikation alles Einzelnen [...] Gerade als Artefakte aber, Produkte gesellschaftlicher Arbeit kommunizieren sie auch mit der Empirie, der sie absagen, und aus ihr ziehen sie ihren Inhalt.« (Adorno 2002: 14–15)
26 Angetrieben wird diese Dialektik bei Adorno zunächst durch die Idee des Erhabenen in der Kunst, die seit Kant in der Ästhetik verankert ist; denn durch »die Transplantation in die Kunst wird die Kantische Bestimmung des Erhabenen über sich hinausgetrieben.« (Adorno 2002: 293) »Spiel« wird darauf für Adorno antithetischer Gegenpol einer Kunst des Erhabenen.
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Adorno bestimmt die Kunst insofern als autonome Kraft des ihr Heteronomen, und nennt dieses Spannungsverhältnis den »Doppelcharakter der Kunst«: »Der Doppelcharakter der Kunst als autonom und als fait social teilt ohne Unterlass der Zone ihrer Autonomie sich mit.« (Adorno 2002: 16) Kunstwerke beginnen also erst durch die spannungsgeladene Verbindung ihrer Autonomie zum ihnen Heteronomen, z.B. zu ihrer sozialen Konstruktion, »lebendig zu sprechen«. Kunstwerke mit Adorno als fait social zu betrachten, bedeutet dabei zugleich anzuerkennen, dass in Kunstwerken mehr als nur gewöhnliche Artefakte bestehen: »Kunstwerke sind das Gemachte, das mehr wurde als nur gemacht.« (Adorno 2002: 267) Dieses »Mehr« beziehen Kunstwerke wiederum aus ihrem Anderen: »Kunst verhält sich zu ihrem Anderen wie ein Magnet zu einem Feld von Eisenfeilspänen.« (Adorno 2002: 18) Kunst stößt sich also, wie Adorno im Bild des Magneten verdeutlicht, vom ihr Heteronomen ab. Dabei gilt weiterhin, dass Kunst diesen »Prozess des sich Abstoßens«, im Sinne ihrer Autonomisierung, immerzu erneuern muss (Adorno 2002: 17). Kunst im Verhältnis zu ihrer Umwelt, zum ihr Heteronomen, wird im zitierten Bild als eine quasi physische Relativität umschrieben. Der Prozess des »Abstoßens« wird in diesem Bild als ein ganzheitlicher und dynamischer gekennzeichnet und erinnert zugleich an die konkret materielle Verfasstheit von Kunstwerken. Der Prozess einer ständigen Autonomisierung der Kunst aus dem ihr Heteronomen wird durch Adorno schließlich in Form eines aufgehobenen Paradoxons umschrieben; welches an die oben besprochene Generativität komplexer Spiele erinnert: »Kunst [bezieht zum empirisch Daseienden – SH] Position gemäß dem Hegelschen Argument wider Kant, sobald man eine Schranke setze, überschreite man durch diese Setzung sie bereits und nehme in sich hinein, wogegen sie errichtet war.« (Adorno 2002: 16) Betrachtet man konkrete, materielle Kunstwerke mit Adorno als faites sociales, wird das zunächst wie ein Paradox wirkende Spannungsverhältnis zwischen deren »Autonomie« und »Heteronomie« konkreter fassbar: Kunstwerke befinden sich mit Adorno inmitten einer Matrize zwischen der sozialen Arbeit an ihrer Entstehung (z.B. als Artefakte oder Rezeptionssituationen) und ihrer Existenz als autonomisierte Dinge per se ipsum. Beide Positionen werden in Adornos Argumentation aufeinander zubewegt und bilden ein Feld der Kunst aus, in dem Produktion und Rezeption als »befreite Praxis« gelten kann: »[Kunst] straft Produktion um ihrer selbst willen Lügen, optiert für einen Stand der Praxis jenseits des Banns von Arbeit.« (Adorno 2002: 25) Der Betrachter, mehr noch als der Künstler, ist dabei nach Adornos Konzeption am ständigen Prozess des Kunstwerks genuin beteiligt, denn erst sein Blick verwirklicht die im Kunstwerk angelegte Bewegtheit: »Durch betrachtende Versenkung wird der immanente Prozesscharakter des Gebildes entbunden.« (Adorno 2002: 262) Adornos Beschreibung ästhetischer Rezeption dreht insofern die Vorzeichen des Gadamer’schen »Schau-Spiels« um, dessen Bewegtheit im Blick des
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Rezipienten ›gerinnt‹. Insofern erlangt Kunstrezeption hier den Charakter eines Mitspielens im – ästhetischen – Spiel:27 »Nur Kunstwerke die als Verhaltensweisen zu spüren sind, haben ihre raison d’être.« (Adorno 2002: 24) Die Bestimmung der Kunst aus ihrem »Doppelcharakter« und »Bewegungsgesetz« birgt entsprechend einen methodischen Appell an die Ästhetik, der sich in Adornos Worten wie folgt ausnimmt: »Wird sie [die Kunst – SH] strikt ästhetisch wahrgenommen, so wird sie ästhetisch nicht recht wahrgenommen [...] Sie ist für sich und ist es nicht, verfehlt ihre Autonomie ohne das Heteronome.« (Adorno 2002: 17) Adornos Rede von der Kunst als fait social hilft also dabei, ein passendes Vokabular für eine spieltheoretisch informierte ästhetische Analyse zu finden, die das zitierte Diktum ernst nimmt: Das Feld der Kunst wird für eine Betrachtung unter der Prämisse der »Verhaltensweisen zueinander« freigegeben; der Beitrag, den der Rezipient in seinem, die spielerische Bewegtheit der Kunst erst »entbindenen« Mitspielen leistet, kann nun als der Kunst zugehöriges Moment, nicht mehr als außenstehende Position reflektiert werden. Die bewegte Autonomisierung von Kunst, ihre je im Besonderen stattfindende Aktualisierung, Neuinterpretation oder ggf. Verweigerung wird auf diese Weise als konkret stattfindende Empirie beschreibbar; komplexes Spiel kann dabei Metapher der ständigen generativen Erneuerung werden. Adornos Ästhetik gibt all jene Stichwörter an die Hand, die in einer relationalen Ästhetik, wie sie Kunstkritiker und Kurator Bourriaud sie entwirft, wieder auftauchen. Darum möchte ich abschließend die Grundlagen dieses neueren Diskurses aufzeigen und erläutern, auf welche Weise dort mit der Metapher des Spiels operiert wird. In seinem 1998 erstmals erschienen Essay Esthétique relationnelle konstatiert Nicolas Bourriaud, dass in zeitgenössischer Kunst offenbar gerade das von Adorno als »heteronom« benannte »Relationale« von zentralem Interesse sei:28 »[T]he liveliest factor that is played out on the chessboard of art has to do with interactive, user-friendly and relational concepts.« (Bourriaud 2006: 8) Bourriaud findet eine kulturtheoretische Erklärung für diesen Umstand: Die Alltagswelt habe sich, den Voraussagen des kulturpessimistischen Philosophen Guy Debord entsprechend, zu einem dauernden und globalisierten Spektakel gewandelt;29 demgegenüber wären al27 Wobei Kunstrezeption, die ich hier als ästhetisches ›Mitspielen‹ kennzeichnen würde, im Sinne Adornos den Charakter eines (seinerseits praktischen) Aufkündigens alltäglicher Praxis, alltäglichen ›Mitspielens‹, besitzt: »Noch das kontemplative Verhalten zu den Kunstwerken [...] fühlt sich als Kündigung unmittelbarer Praxis und insofern ein selbst praktisches, als Widerstand gegen das Mitspielen [Hervorhebung SH].« (Adorno 2002: 24). 28 Ich zitiere im Folgenden aus der englischen Ausgabe, vgl. Bourriaud 2006. 29 Vgl. Guy Debord, La Société de Spectacle (Org. 1973); in Deutscher Übersetzung vgl. Debord (1996).
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lerdings die Künste zum Refugium für alternative Praxis geworden: »Contrary to what Debord thought, [...] artistic praxis appears these days to be a rich loam for social experiments, like a space partly protected from the uniformity of behavioural patterns.« (Bourriaud 2006: 9) Bourriaud modelliert also das Feld der Kunst als Schutzraum – schon hier klingt die Metapher vom Spiel wieder an; zudem zeichnet er diesen geschützten Raum als widerständige Enklave, die bis heute mit dem Projekt der Aufklärung, Moderne und Postmoderne befasst sei: »It is evident, that today’s art is carrying on this fight, by coming up with perceptive, experimental, critical and participatory models, veering in the direction indicated by Enlightenment philosophers.« (Bourriaud 2006: 12) Dass die konkrete Ausformung der Künste sich weiterhin so widerständig geriert und also heute vollkommen anders aussieht, als nur zwei Jahrzehnte zuvor von Debord angenommen, erklärt Bourriaud in einer Spielmetaphorik, die an das »Bewegungsgesetz« in Adornos Ästhetik erinnert: »Artistic activity is a game, whose forms, patterns und functions develop and evolve according to periods and social contexts; it is not an immutable essence. It is the critic’s task to study this activity in the present.« (Bourriaud 2006: 11) Zugleich verdeutlicht dieses Zitat, wie viel Wert Bourriaud auf den Begriff der Aktivität legt: Kunst wird hier als Tätigkeit, als Praxis beschrieben. Folgt man Bourriaud, modelliert Kunst heute, statt wie zuvor als Troubadour immer neuer Utopien voran zu marschieren, eher kleine, wenig spektakuläre Alternativwelten, als eine spielerisch auf ihre Umstände reagierende Praxis. (vgl. Bourriaud 2006: 13). Dass Kunst sich inzwischen so wenig repräsentativ gibt, verbindet sich für Bourriaud problemlos mit der Logik eines weltumspannenden urbanisierten Kapitalismus, dessen Subjekte zu allererst mobil und flexibel agieren müssen. »Große Kunstwerke« (auch ganz wörtlich, im Sinne schwer transportabler Gegenstände), die repräsentativ Territorien markieren, hätten inzwischen ausgedient. An ihre Stelle treten Kunstwerke, die sich in der Zeit statt im Raum entfalten, vor allem aber: »an art form where the substrate is formed by intersubjectivity, and which takes being-together as a central theme, the ,encounter‹ between beholder and picture, and the collective elaboration of meaning« (Bourriaud 2006: 15). Bourriaud räumt ein, dass Kunst schon immer notwendig relational gewesen sei; zeitgenössische Kunst aber mache ihre Relationalität darüber hinaus zu ihrem wichtigsten Thema, zu ihrem Kernanliegen.30 Kunst ist in dieser Lesart zu einer »arena of exchange« geworden; sie schlägt ihren Rezipienten bzw. Nutzern alternative Welten vor, ihr Wesen ist die Begegnung: »Art is a state of encounter.« (Bourriaud 2006: 18) Begegnung wird hierbei als konkretes Zusammentreffen vorgestellt – die »relationale Ästhetik« propagiert einen »Materialismus der Begegnung«; aus diesem 30 Ähnliches konstatiert Lehmann im Zusammenhang mit dem postdramatischen Theater; vgl. auch Kapitel I der vorliegenden Arbeit.
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Grund erklärt Bourriauds relationale Ästhetik sich als Theorie der Form: »Relational aesthetics does not represent a theory of art, this would imply the statement of an origin and a destination, but a theory of form.« (Bourriaud 2006: 19) Form im hier zitierten Sinn entsteht mit Bourriaud immer erst dann, wenn bislang disparate bzw. »parallele Elemente« zusammentreffen (z.B. Rezipient und Bild). Der Rezipient »entbindet« insofern für Bourriaud nicht mehr nur im Werk angelegten Sinn, sondern er manipuliert ihn, lässt ihn jeweils erst situativ entstehen. Er wird deshalb auch als »beholder-manipulator« bezeichnet (Bourriaud 2006: 20). Indem die relationale Ästhetik, wie Bourriaud sie entwirft, den Moment der Begegnung als die eigentlich ästhetisch relevante »Form« begreift, wird nun die soziale, zeitlich wie räumlich und materiell konkrete (Begegnungs-)Situation zu dem Gegenstand, dem ästhetische Reflexion sich vornehmlich zuwendet. Um konkrete Begegnung und alle dort vorkommenden Praktiken als relevant wahrzunehmen, und diese ästhetische Urszene nicht mehr in eine Richtung aufzulösen (z.B. in Richtung eines Werkes oder eine wahrnehmenden Subjektes) wird wiederum das Spiel Metapher, wobei dieses Mal kein Paradox produziert wird; Bourriauds Bild nimmt sich unprätentiös, fast lakonisch aus: »Producing a form is to invent possible encounters; receiving a form is to create the conditions for an exchange, the way you return a service in a game of tennis.« (Bourriaud 2006: 23) Der von Bourriaud beschriebene Paradigmenwechsel zu einer in sich oft unspektakulären, relationalen Kunst führt zum Abschied von einem auratisch begriffenen Werk sowie zu einer Zuwendung zu Situativität und Materialität; dennoch wird dafür nicht erneut ein (ursprünglich oder autorenhaft konzipiertes) Subjekt ins Spiel gebracht, sondern auf eine »Materialität der Begegnung« fokussiert.31 Ähnliche Positionen werden von zahlreichen Theoretikern einer zeitgenössischen Ästhetik beschrieben, auch im Zusammenhang mit dem Theater; z.B. bespricht Hans-Thies Lehmann, wie bereits erwähnt, die Thematisierung der immer schon in Aufführungen besonders auffälligen »Relationalität« im postdramatischen Theater, die dort als »fortwährend ,mitspielende‹ Ebene des Realen explizit zum Gegenstand [...] der theatralen Gestaltung selbst gemacht« werde; Erika Fischer-Lichte beschreibt das Aufkommen einer »Ästhetik des Performativen«;32 André Eiermann führt den Be31 Dieser Paradigmenwechsel zeigt sich exemplarisch sogar in aufeinander verweisenden Titeln ästhetischer Arbeiten, z.B. wenn Peter Weibel mit Offene Handlungsfelder auf Umberto Ecos Das offene Kunstwerk (Org. 1961) referiert; vgl. Eco/Memmert 2006 und Weibel/Bonk 1999. 32 Zum relationalen Werkbegriff in der Ästhetik des Performativen vgl. z.B.: »Die Künstlerin stellte mit den Handlungen, die sie vollzog, nicht ein Artefakt her; sie schuf kein Werk, das von ihr ablösbar, fixier- oder tradierbar gewesen wäre« (Fischer-Lichte 2007a: 10).
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griff des »post-spektakulären« Theaters ein, (vgl. Eiermann 2009) und Katharina Pewny bespricht in ähnlichem Zusammenhang die Wiederkehr des Ethischen im Theater als »Drama des Prekären« (vgl. Pewny 2011). Im Rundblick über die Anwendungen der Spielmetapher bei so unterschiedlichen Philosophen, bzw. Wissenschaftlern und Kunst-Kritikern wie Gadamer, Derrida, Sonderegger, Adorno und Bourriaud konnte nachvollzogen werden, wie das Bild des Spiels zur Umschreibung spielerischer Bewegtheit und ästhetischen Grenzgängertums verwendet wurde; der Platz im ästhetischen Diskurs, den vormals das Werk einnahm wurde dabei neu besetzt mit einer spielerischen und doch konkret-situativen ästhetischen Begegnung. Aufführungssituationen von Forced Entertainments Inszenierungen Bloody Mess und The World in Pictures entsprechend der bis hier erörterten Metaphorik als spielerische, »relationale« Situationen zu begreifen, bedeutet, sich für diese Aufführungen als ästhetische Begegnungen zu interessieren, in denen Besuchern die »conditions for an exchange« angeboten werden – so wenig autoritär und doch so zwingend wie Services in einem Tennisspiel. Untersucht werden können solche Situationen durch die wissenschaftliche Beobachterin also nur, wenn diese sich selbst mitten ins Spiel begibt, sich dort ›einspielen‹ lässt und aktiv mitspielt. 3. D AS S PIEL
ALS
M ODELL
SOZIALER
S ITUATIONEN
Die Begegnung, bzw. das situative Zusammentreffen, dieser in der Ästhetik relativ neu entdeckte Gegenstand, war in der Sozialwissenschaft zwangsläufig immer schon einer der Knotenpunkte forschenden Interesses, so auch in den oben vorgestellten Praxistheorien. Zwei der Theoretiker, die nachträglich als erste Stimmen einer praxeologischen Schule angesehen wurden (vgl. Reckwitz 2003), nutzten den Spielbegriff, um konkrete soziale Situationen zu beschreiben. In beiden Fällen diente ein umfassendes Spiel-Modell dazu, epistemische Probleme der Heimatdisziplinen zu adressieren: Der späte Ludwig Wittgenstein entwarf das Modell eines »Sprachspiels«, Erving Goffman operierte zunächst mit einem einfachen Spiel-, später mit einem komplexeren Theater- bzw. Rahmen-Modell. a) Pragmatik mit Wittgenstein Wittgenstein formulierte in den losen Aufzeichnungen seines posthum unter dem Titel Philosophische Untersuchungen veröffentlichten Spätwerks eine Theorie, in der die Sprache als »Sprachspiel« modelliert ist. Ausgangsgedanke für diesen theoretischen Schachzug Wittgensteins wird sein (demonstrativ genutzter) Versuch, den Begriff des Spiels zu definieren; dabei stellt er fest, dass eine letztgültige Definition nicht möglich ist, da es keine übergreifende Eigenschaft gibt, die jedem denkbaren
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Spiel zugeordnet werden könnte; Spiele ließen sich vielmehr als Kategorie nur auf Grund von »Familienähnlichkeiten« zusammenfassen: 33 »Betrachte z.B. einmal die Vorgänge, die wir ›Spiele‹ nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiel, Kampfspiele, usw. Was ist allen diesen gemeinsam? – Sag nicht: ,Es muss ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ,Spiele‹, – sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. [...] Und das Ergebnis dieser Betrachtung lautet nun: Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen.« (Wittgenstein 2004: 277ff §66)
Solche Unschärfe, weist Wittgenstein weiter nach, eignet beileibe nicht nur dem Spielbegriff, sondern lässt sich auf jedes beliebige Nomen anwenden, Beispiele werden weiterhin der Begriff ›Zahl‹, die Namen verschiedener Farben und Formen und andere mehr. Wittgenstein stellt darauf die (rhetorische) Frage: »Ist das Unscharfe nicht gerade oft das, was wir brauchen?« (Wittgenstein 2004: 280, §71) und verdeutlicht die praktischen Vorteile sprachlicher Unschärfe und Indexikalität, zum Beispiel, indem er den Leser darauf hinführt anzuerkennen, dass die Botschaft »Halte dich hier auf« bei übermäßiger Forderung nach Genauigkeit (»ganz genau hier«, »auf diesem Quadratzentimeter«) aufhört, praktikabel zu sein (vgl. Wittgenstein 2004: 290, §88). Wenn Wittgenstein dann Sprache als »Sprachspiel« modelliert, spricht seine Formulierung von der genuinen Praxis-Gebundenheit aller Zeichen, aller Struktur und aller Semiose, und damit von der sprachphilosophischen Notwendigkeit, den konkreten Gebrauch von Sprache in Raum, Zeit und sozialem Kontext zu umschreiben:34 »Wir erkennen, dass, was wir ,Satz‹, ,Sprache‹, nennen, nicht die formelle Einheit ist, die ich mir vorstellte, sondern die Familie mehr oder weniger miteinander verwandter Gebilde. [...] Wir reden von dem räumlichen und zeitlichen Phänomen der Sprache; nicht von einem unräumlichen und unzeitlichen Unding.« (Wittgenstein 2004: 298, §108) Eine spielerisch konkrete Praxis zu beschreiben hindert aber, so Wittgenstein weiter, nicht daran, aus dieser Praxis Spielregeln abzuleiten: »Aber wir reden von ihr [der Sprache – SH] so, wie von den Figuren des Schachspiels, indem wir Spielregeln für sie angeben, nicht ihre physikalischen Eigenschaften beschreiben. Die Frage ,Was ist eigentlich ein Wort?‹ ist analog der ,Was ist eine Schachfigur?‹« (Wittgenstein 2004: 298, §108) Wittgensteins Sprachpragmatik bringt darüber hinaus den Vorteil mit sich, die Kreativität und Generativität von »Sprachspielen« 33 Den Begriff der Familienähnlichkeit führt Wittgenstein in Paragraph 67 ein, vgl. Wittgenstein 2004: 278. 34 Wittgenstein widerspricht damit nicht zuletzt seinen eigenen Thesen aus dem Tractatus Logico Philosophicus, worauf die hier zitierte Formulierung »die ich mir vorstellte« hinweist.
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bzw. Sprechpraxis verständlich werden zu lassen: »Steckt uns da nicht die Analogie der Sprache mit dem Spiel ein Licht auf? [...] gibt es nicht auch den Fall, wo wir spielen und – ›make up the rules as we go along‹? Ja auch den, in welchem wir sie abändern – as we go along?« (Wittgenstein 2004: 287, §83) Sprache wird im Spiel-Modell Wittgensteins also zur spielerischen Praxis mit ›weichen‹ Spielregeln, die ebendort, innerhalb dieser Praxis, veränderbar sind. Eine derartige Modellierung der Sprache als Spiel kann als eine radikale pragmatische Wende in Wittgensteins Sprachphilosophie gelesen werden: Er erteilt hier nicht nur einem Großteil seiner eigenen Theoreme, die er im Tractatus logico-philosophicus aufgestellt hatte, eine klare Absage, sondert wendet sich auch gegen die meisten sprachphilosophischen, logischen und linguistischen Theorien seiner Zeitgenossen:35 Folgt man Wittgensteins Spiel-Modell, scheint die Anstrengung, ein klar formulierbares, objektivierbares System der Sprache zu konzipieren, vollkommen obsolet. Seine Sprachpragmatik fordert stattdessen, konkreten Sprachgebrauch zu untersuchen und sich an empirische Sprechweisen und ihre Situationen heranzuwagen. b) Fun in Games und die Analyse situativer Rahmen Der Soziologe Erving Goffman nutzt ebenfalls ein Spielmodell, um auf die Notwendigkeit pragmatischer Erdung und empirischer Sorgfalt hinzuweisen. Er beschreibt dabei nicht nur Sprechpraxis, sondern die soziale Praxis jeder Semiose anhand modellhafter Spielsituationen. In seinem frühen Essay Spaß am Spiel definiert Goffman dafür zunächst Spiele und ähnliche Situationen (wie Theateraufführungen oder Feste), und darauf auch gewöhnliche Gespräche als »zentrierte Interaktionen«: »Eine zentrierte Interaktion tritt ein, wenn Menschen effektiv darin übereinstimmen, für eine gewisse Zeit einen einzigen Brennpunkt der kognitiven und visuellen Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, wie etwa in einem Gespräch, bei einem Brettspiel oder bei einer gemeinsamen Aufgabe, die durch einen kleinen Teil von Teilnehmern ausgeführt wird.« (Goffman 1973: 7) 36 35 »Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.« (z.B. in Wittgenstein 2004: 9) Während der zitierte, inzwischen sprichwörtlich gewordene Satz aus dem Vorwort des Tractatus Klarheit und Sagbarkeit auslobt, erteilen die philosophischen Untersuchungen jeder sprachlichen Klarheit eine Absage, da hier die Unschärfe der Sprache Möglichkeitsumstand des »Sprachspiels« wird. Vgl. zu Wittgensteins anthropologischen Thesen auch Gebauer 2009. 36 Org. erschienen 1961 als Fun in Games im Essayband Encounters – two studies in the sociology of interaction. Hier im Folgenden zitiert nach Goffman 1973.
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Eng am Exempel des Spielens entlangführend, unterstreicht Goffman die Notwendigkeit, Handeln, das sozial sinnvoll werden soll, im Hinblick auf seine Wahrnehmbarkeit sowie auf die Gestaltung dieser Wahrnehmbarkeit zu betrachten: Spiele und andere »zentrierte Interaktionen« müssen – zumindest eine gewisse – Regulierung kollektiver Aufmerksamkeit leisten. Diese zentrierende, die Situation aufrecht erhaltende, dabei genuin ästhetische Tätigkeit beschreibt Goffman in Rückgriff auf Gregory Bateson als »Rahmungsaktivität«: »Nach Batesons zutreffendem Ausdruck legen Spiele einen ›Rahmen‹ um eine Flut von Ereignissen und bestimmen die Art von Sinn, der allem innerhalb des Rahmens zugemessen wird.« (Goffman 1973: 23) »Rahmen« sind dabei nicht als undurchlässige Situationsgrenzen imaginiert, vielmehr schreibt Goffman ihnen eine Art Filterfunktion zu, »wie ein Sieb gestatten sie, dass einige wenige Dinge in die Begegnung sickern können« (Goffman 1973: 34). Beispiel für solch filternde Durchlässigkeit wird eine Feier, bei der der eingeladene Chef zwar nicht als Chef fungiert, aber dennoch einen Ehrenplatz erhält.37 Rahmen (in Spaß am Spiel auch: »Membranen«) der Spielsituation entstehen dabei für Goffman mithilfe verschiedener Spielregeln, z.B. durch die Durchführung von Begrüßungs- und Abschiedszeremonien, anhand von »Transformationsregeln«, die den Weg außerweltlicher Attribute in die Spielwelt bestimmen (z.B. »alle Damen sitzen rechts, alle Herren links«) sowie mögliche »Hilfsmittel« (wie z.B. bestimmte Rollensets). Ebenso wie die oben besprochenen SpielAnthropologen betont Goffman also, dass Spiele eigene Welten erschaffen; darauf fokussiert er auf das praktische Wie dieser Weltenbildung und auf ihre Aufrechterhaltung. Goffmans Untersuchungen thematisieren also all jene praktischen Aktivitäten und Bedingungen, die die Rahmen von (Spiel-) Welten erschaffen. Auf diese Weise gelingt es ihm, modellhaft begreiflich zu machen, wie Spielwelt und Außenwelt praktisch miteinander gekoppelt sind, ja, wie Spiele überhaupt erst gesonderte Welten hervorbringen können:
37 Goffman merkt an, dass in solchen Fällen gewöhnlich davon gesprochen würde, dass bestimmte Attribute aus der Außenwelt in der Spielsituation »ausgedrückt« würden (Goffman 1973: 35). Indem Goffman also, gewissermaßen im Vorbeigehen, die Idee des ›Ausdrucks‹ umformuliert, ›Ausdruck‹ nun als das Ergebnis einer Rahmungsaktivität und deren Filterung bzw. »Transformation« begriffen wird, umgeht sein pragmatischer Ansatz m.E. äußerst geschickt die Fallstricke abendländischer Repräsentations-, Abbildungs- und Simulationsdiskurse: Denn auf diese Weise ist im Spiel- bzw. Rahmen-Modell aller ›Ausdruck‹, jedes Zeichen immer sowohl auf einen (äußeren) Referenten bezogen als auch als genuin performativ, selbstreferenziell, erst in der Situation produziert begriffen; ähnliches leisten in der Semiotik triadische Zeichenmodelle; vgl. beispielsweise Nöth 2000: 136.
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»Wenn wir uns eine Begegnung so vorstellen, dass sie von einer metaphorischen Membrane umgeben ist, können wir [...] sehen, dass die Dynamik einer Begegnung an das Funktionieren des Grenzen-erhaltenden Mechanismus geknüpft ist, der die Begegnung selektiv von der Umgebung abgrenzt. Und wir können damit anfangen, nach den Arten von Komponenten im äußeren Milieu der Begegnung zu fragen, die den Bereich der Ereignisse, mit dem sich die Begegnung befasst, ausweiten oder einengen, und nach den Arten von Komponenten, die die Begegnung elastisch machen oder die sie zerstören werden.« (Goffman 1973: 74)
Goffman betont in seinem Essay Spaß am Spiel schließlich, dass davon auszugehen ist, dass auch jede nicht-spielerische soziale Praxis »Grenz-erhaltende Mechanismen« benötigt, um jeweils geltende Wirklichkeiten aufrecht zu erhalten – nur wäre die sozialwissenschaftliche Beschreibung oft nicht dazu bereit, eine derart weitreichende Konstruktivität der Wirklichkeit auch im Zusammenhang mit ›ernsthaften‹ Situationen anzuerkennen.38 In seiner im Original erstmals 1974 erschienenen Rahmen-Analyse legt Goffman entsprechend ein umfassendes theoretisch-methodisches Vokabular vor, um die spielerische Konstruktions-Aktivität alltäglicher sozialer Wirklichkeit beschreibbar zu machen – unabhängig davon, ob sie ›ernsthafte‹ oder spielerische Situationen produziert.39 Die Rahmen-Analyse beginnt mit dem schon aus Spaß am Spiel bekannten Rekurs auf Bateson und referiert auf Spiele und deren Weltenbildung. Gerade diejenigen Zeichen die den Rahmen einer Situation bilden sind, so betont auch Goffman, besonders anfällig für Paradoxie und Verwirrung, und können daher zu komplexen Verwicklungen führen: »Wie ein Bilderrahmen gehören diese Zeichen wohl weder zum eigentlichen Inhalt der Tätigkeit noch zur Welt außerhalb, sondern sowohl zum Innen wie zum Außen – ein paradoxes Verhältnis, [...] dem man nicht aus dem Weg gehen sollte, nur weil man es gedanklich nicht ohne weiteres in den Griff bekommt.« (Goffman 1989: 279) Weiterhin betont Goffman die spielerische Formbarkeit und die Übertragbarkeit jedes Rahmens und führt dafür den Begriff der »Modulation« ein: Zunächst beschreibt er, dass Situationsteilnehmer mit Hilfe »primärer Rahmen« Sinn machen können:40 Bestimmte Handlungen werden als ›etwas‹ wahrnehmbar; z.B. wird das 38 »Spiele sind also weltschaffende Tätigkeiten. Ich will darauf hinweisen, dass ernste Tätigkeiten diese Eigenschaft auch besitzen. Wir sind bereit zu sehen, dass es außerhalb der verschiedenen Spiele keine Welt gibt, die ganz mit der vom Spiel geschaffenen korrespondiert; wir waren aber weniger bereit einzusehen, dass die verschiedenen Beispiele einer ernsten Begegnung eine Welt von Bedeutungen schaffen, die für sie ausschließlich ist.« (Goffman 1973: 30). 39 Hier zitiert nach der Ausgabe Goffman 1989. 40 »Zentrierte Interaktionen« zeichnen sie sich für Goffman auch dadurch aus, dass sie weder »Mitglieder« besitzen (wie zum Beispiel Organisationen oder Gruppen), noch voll-
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Zudrücken eines zarten Frauenhalses durch kräftige Männerhände als »Erwürgen« begreifbar, als Mordanschlag. Solche primären Rahmen sind aber zur Modulation fähig: Findet der beschriebene Mordanschlag z.B. auf einer Bühne statt, nachdem der Herr die Dame gefragt hat: »Have you pray’d to-night, Desdemona?«, wird für die meisten Teilnehmer erkennbar, dass sie es mit Shakespeares Othello zu tun haben. Würde »Desdemona« sich darauf befreien und eine flammende Rede halten, könnten die Zuschauer annehmen, dass sie Zeugen einer gewagten Bearbeitung des Stückes seien, der Rahmen der Othello-Aufführung wäre dann seinerseits moduliert. Während der Proben zur beschriebenen Aufführung schließlich würden Modulationen der Aufführung produziert, usw. In Spiel, Kunst und Unterhaltung werden, so Goffman, Modulationen besonders auffällig; doch führt sein Spiel- und Rahmenmodell nach und nach zu der Erkenntnis, dass spielerische Moduliertheit in der alltäglichen Produktion von Wirklichkeit und ihrer Erfahrung die Regel und eben keine ästhetische Ausnahme darstellt. Die Übergänge von Spielwelten in ernste Welten fließen in Goffmans Rahmen-Modell ineinander, das Herstellen »geklärter« Rahmen ist eine besondere Anstrengung, denn: »[A]lles kann das Original sein, von dem etwas eine bloße Nachahmung ist – was den Gedanken nahe legt, das Eigentliche sei die Relation und nicht die Substanz.« (Goffman 1989: 602) Auch wenn es nie Goffmans Absicht war, eine wie auch immer geartete Ästhetik zu formulieren, rückt ihn das Hauptinteresse seines Spiel- und Rahmungs-Modells, nämlich die »Organisation von Alltagserfahrungen« zu beschreiben, in nächste Nähe zu ästhetischen Fragestellungen. Im Essay Fun in Games betont Goffman, dass das Management einer sozialen Situation zu allererst im Management von Wahrnehmungen dieser Situation bestünde – dass also eine sozialwissenschaftliche Analyse ebendiese Gestaltung von Wahrnehmung untersuchen müsse. Spaß am Spiel, und damit auch die Aufrechterhaltung einer Spielsituationen sei beispielsweise erst gewährleistet, wenn ein bestimmtes Maß an »Spannung« erreicht werde. Möchte die an der Spielsituation interessierte Sozialwissenschaftlerin also beschreiben, wie die Situation aufrechterhalten wird, muss sie sich ihrer Herstellung von Spannung widmen.41 kommen voneinander unabhängige Individuen umfassen. Vielmehr setzen sich zentrierte Interaktionen aus Teilnehmern zusammen – und bringen diese umgekehrt erst hervor. Auch im Zusammenhang mit Teilnehmern und deren Subjektivität betont Goffman also die situative Genese und damit die umfassende Konstruiertheit sozialer Wirklichkeit (vgl. Goffman 1973: 12). 41 An dieser Stelle gelingt es Goffman allerdings meines Erachtens noch nicht, eine eingängige Beschreibung für die Produktion spielerischer Spannung zu finden: »Wie hier dargestellt, bezieht sich die Spannung [...] auf eine empfundene Diskrepanz zwischen der Welt,
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In der Rahmen-Analyse entwickelt Goffman die Frage nach der Gestaltung situativer Wahrnehmung, sowie nach deren praktischen ästhetischen Bedingungen weiter, wobei er den Begriff der »negativen Erfahrung« einführt. Dieser zeigt den engen Zusammenhang auf, der zwischen dem Engagement von Teilnehmern bei der Aufrechterhaltung situativer Rahmen und der Wahrnehmung möglicherweise drohender »Rahmenbrüche« besteht: So lässt sich im Alltag nachweisen, dass Teilnehmer in unproblematisch verlaufenden Situationen nur mildes Engagement zeigen. Sobald eine Situation aber zu entgleisen scheint und ihre Rahmung auf dem Spiel steht, bemühen sich Teilnehmer kollektiv darum, entweder den Rahmen aufrecht zu erhalten, oder aber möglichst schnell einen neuen Rahmen zu etablieren: Taktvoll werden thematische Ausreißer aufgefangen, Entschuldigungen gefunden oder entgleiste Situationen in humorvolle Tändelei übergeleitet. Sollten allerdings sowohl Rettung als auch Neuetablierung von Rahmen scheitern, entsteht für Momente ein Situations-definitorisches Vakuum, in dem die Wahrnehmung der Teilnehmer »anomisch oszilliert« (Goffman 1989: 409). Während im Fall existenzbedrohender Rahmenbrüche (z.B. wenn der Schwiegersohn in spe sich als Betrüger entpuppt oder der Familienausflug in einem Autounfall endet) die plötzliche »negative Erfahrung« für Situationsteilnehmer meist nichts als ganz reale Furcht und echten Schrecken produziert, sieht dies im Falle mehrfach modulierter, also ›unernster‹ oder ›nur gespielter‹ Situationen anders aus; denn dort gilt: »Das [Ereignis des Rahmenbruchs] bringt den [getäuschten Figuren – SH] Schock, Kümmernis und Überraschung. Doch dem Publikum bringt es Engagement.« (Goffman 1989: 413) So produzieren katastrophische Rahmenbrüche in Molieres Betrüger-Komödie Der Tartuffe Spannung bis zum Ende des Stückes, in Forced Entertainments Bloody Mess kann die während der ›Silences‹ Sequenz erzählte Geschichte vom tödlich endenden »Familiy Outing« zur makabren Lachnummer werden.42 Goffman erkennt und betont also den ästhetischen Reiz, den brechende Rahmen und die ausgelöste »negative Erfahrung« haben können, und vergleicht sie mit dem, was Roger Caillois in seiner Spieltheorie als »une sorte panique volupteuse« bezeichnet (Goffman 1989: 411). Goffmans Überlegungen zur ästhetischen Funktion (modulierter) Rahmenbrüche weist also große Nähe zu Konzepten der »ästhetischen Erfahrung« auf, insbesondere zu denjenigen, die mit dem ursprünglich von Victor Turner etablierten Begriff des »Liminoiden« operieren.43
die für das Individuum spontan real wird – oder der, die es als gegenwärtige Realität zu akzeptieren in der Lage ist – und der, in der es leben muss.« (Goffman 1973: 48) 42 Vgl. z.B. Molière 1997; zum Publikums-Engagement während der ›Silences‹ Sequenz in Bloody Mess vgl. Kapitel V.4. der vorliegenden Arbeit. 43 Wie zum Beispiel in Erika Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen (vgl. oben, Fischer-Lichte 2007a: 258), sowie Turner 1989 und Turner/Schechner 1995.
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Goffmans Spiel- bzw. Rahmungs-Modell führt einen ästhetischen Blick in die Sozialwissenschaften ein, indem es zunächst auf die Notwendigkeit verweist, Wahrnehmungen zu organisieren, um soziale Situationen aufrecht zu erhalten. In einem zweiten Schritt wird systematisch auf die praktischen Bedingungen solcher Wahrnehmungsorganisation fokussiert. Dabei legt die Rahmen-Analyse, ebenso wie Wittgensteins oben besprochenes »Sprachspiel« Modell nahe, dass keine klaren, eindeutigen Regeln solch spielerischer Wirklichkeitsproduktion festgelegt werden können. Dennoch ist auch hier anzunehmen, dass Rahmen, Membranen oder Spielregeln be- bzw. entstehen müssen, damit Situationen für ihre Teilnehmer intelligibel werden: Es wird kollektiv ›Sinn gemacht‹. Daraus folgt, dass wissenschaftliche Beobachter solcher als weich bzw. lose konzipierten, erst in situ etablierten sozialen Wirklichkeiten sich immer wieder aufs Neue in die Empirie begeben müssen, um die ›Spielzüge‹ zu beschreiben, die dort nach immer wieder neu entwickelten Spielregeln vollzogen werden, »as we go along«. Sollen die Aufführungssituationen der Forced Entertainment Inszenierungen Bloody Mess und The World in Pictures also inspiriert von Wittgensteins Pragmatik und Goffmans Spiel- bzw. Rahmen-Modellen beschrieben werden, muss besonderer Wert darauf gelegt werden, die rahmenden Aktivitäten zu erfassen, die in diesen Situationen wahrnehmbar werden, und die umgekehrt diese Situationen erst als Theateraufführungen wahrnehmbar machen, ebenso all jene Praktiken, die den Rahmen der Aufführung brechen (oder zu brechen scheinen). 4. F AZIT : S PIELREGELN – V OKABULAR
FÜR EINE
E THNOGRAPHIE
Forced Entertainments Inszenierungen Bloody Mess und The World in Pictures spielen in ihren Aufführungen mit traditionell bekannten Theaterkonventionen, sie nutzen sie, machen sie sichtbar, treten mit ihnen in Dialog, widersprechen ihnen und führen sie nicht selten ad absurdum. Die vorliegende Studie möchte solche Reflexivität auf theatrale (und andere) Konventionen in den untersuchten Aufführungen beobachten, sie möchte das Spiel mit den die Aufführung ermöglichenden Rahmen im praktischen Vollzug beschreiben und nachvollziehbar machen. Dabei soll beobachtbar werden, inwiefern ›im Spiel‹ der Theateraufführung neue Spielregeln eben solcher Aufführungen etabliert werden können; meine Untersuchung der »Grenzwerte im Spiel« Forced Entertainments möchte die Möglichkeitsumstände und die konkrete Praxis der Aufführungssituationen zu Bloody Mess und The World in Pictures sowohl praxeologischen wie auch postdramatischen Interessen zugänglich machen. Dafür soll auf den folgenden Seiten das Vokabular für die Ethnographie der Aufführungssituationen zu Forced Entertainments Bloody Mess und The World in Pictures vorgestellt werden, wobei Goffmans Theaterrahmen in überarbeiteter Form als Grundlage dient.
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a) Ein Rahmen für das Theater-Spiel Ab dem fünften Kapitel der Rahmen-Analyse beginnt Goffman, sich speziell mit dem Theater und dessen Rahmen auseinanderzusetzen. Er arbeitet dabei sein SpielModell sozialer Begegnung gewissermaßen zu einem Theater-Spiel-Modell um, das den weiteren Verlauf der Argumentation in der Rahmen-Analyse bestimmen wird; dabei interessiert er sich für all jene Zeichensetzungen, Praktiken und Materialitäten, die Situationsteilnehmer während einer Theateraufführung zu der Überzeugung gelangen lassen, dass sie sich innerhalb des Rahmens ›Theater‹ befinden. Seine Ausführungen haben Goffman auf Seiten von Theatermachern und Experten nicht nur Freunde eingebracht, da »der Theaterrahmen«, der hier entworfen wird, dem eines illusionistischen Guckkastentheaters entspricht und damit heute obsolet scheint. Zudem erschien Goffmans frühere Arbeit, The presentation of self in everyday life in Deutschland unter dem recht abgeschmackten Titel Wir alle spielen Theater.44 Ästhetik-interessierte Leser befürchten insofern hinter Goffmans Modellen die geistlos ausufernde Nutzung einer teatrum mundi Metapher, in deren Kontext Theaterbegriffe wie der der ›Dramaturgie‹ oder der ›Inszenierung‹ zu nicht mehr trennscharfen Umbrella Terms geraten.45 Dass es in der Soziologie zudem üblich ist, Theoreme Goffmans und einiger seiner Nachfolger als »Dramaturgischen Ansatz« zu bezeichnen, spielt solchem Verdacht von ästhetischer Seite in die Hände.46 Das sozialwissenschaftliche Hantieren mit Theatervokabular ist so verbreitet, dass sich selbst einige Figuren der Forced Entertainment Inszenierung First Night damit befassen (wobei sie ihrerseits Shakespeares As you like it zitieren, vgl. z.B. Shakespeare 2007):
44 Original Goffman 1959; deutsche Version Goffman 2007. 45 Zu diesem Diskurs vgl. z.B. Eleonore Kalisch und Thomas Weber in der Ausschreibung zur Konferenz Dramaturgie an der Schnittstelle der Disziplinen, 31.03.2011. Die Autoren verleihen dort entsprechenden Befürchtungen Ausdruck: »weitet man ihn [den Dramaturgie-Begriff] aus, nutzt ihn gar für Phänomene des kulturellen oder politischen Alltags oder für alle möglichen Arten performativer Darstellung [...] droht [er] sich zu einem unspezifischen ,Umbrella Term‹ zu wandeln.« (Vgl. http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/termine/id=15706, zuletzt geprüft am 01.02.2014). 46 Allerdings geht die Bezeichnung »Dramaturgischer Ansatz«tatsächlich darauf zurück, dass Goffman und seine Nachfolger sich so explizit für die Gestaltung von Handlung und Wahrnehmung interessierten; insofern ist der Begriff der ›Dramaturgie‹ hier gar nicht bildhaft, sondern durchaus im Wortsinn eingesetzt, vgl. z.B. Joas 2007: 113ff und Weiler 2005: 80ff.
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Aufgereiht an der Bühnenrampe stehen fünf Herren und drei Damen im grellen Scheinwerferlicht. Sie tragen glitzernde Showmontur und lächeln grimassierend ins Publikum. Dame: »I... I’m reminded of an old saying... uhm... which goes something like this: ...All the world is a stage – and we are some of the people on it!« Herr 1: »So... It doesn’t matter, Ladies and Gentlemen, that we’re up here... on the stage, and you’re not, because the whole world is one!!« (Er lacht ein Showmasterlachen) Herr 2: (Besorgt) »Oh. Uhm. Yes – but toniiight... (!) we are going to be staying on this... uhm... uhm... you know; (er zeigt auf die Bühne unter seinen Füßen) ...the smaller stage, you know, which is nevertheless (gestikuliert vage in die Ferne) part of the even larger one that is the whole world!« (Er lacht forciert.) Herr 1: »A, yes. uhm... (nun ebenfalls besorgt) And you are going to be staying on that bit of it... (er weist in den Zuschauerraum) ...which ...which ...isn’t this bit!«47
Es scheint aus diesem Grund angebracht nachzuprüfen, aus welchem Grund Goffman wiederholt sein durchaus funktionales Spielmodell zu Gunsten eines TheaterModells verlässt und dabei außerdem mit fröhlicher Nonchalance den Bereich seiner wissenschaftlichen Expertise gegen fremdes Terrain eintauscht: »Meine Entschuldigung dafür, dass ich einfach in dieses geschützte Gebiet eindringe, ist mein spezielles Interesse, das keinen Wertunterschied kennt.« (Goffman 1989: 25) Goffmans Interesse am Theater ist weder kulturhistorisch noch ästhetisch begründet, sondern wird explizit darauf zurückgeführt, dass der metaphorische und/oder modellierende Rekurs auf das Theater in der Sozialwissenschaft so gängig ist: »Weil die Sprache des Theaters tief in die Soziologe eingedrungen ist, [...] empfiehlt es sich, das Problem der Bühne von Grund her aufzurollen. Dies auch, weil es an allen möglichen Schwierigkeiten nicht mangelt.« (Goffman 1989: 143) Es sind also die (wie beschrieben auch von einigen Vertretern der Ästhetik als problematisch wahrgenommenen) »Schwierigkeiten« in der Rede vom teatrum mundi, an die Goffman im Kapitel »Der Theaterrahmen« in der Rahmen-Analyse herantritt. Dabei adressiert er drei eng miteinander verknüpfte epistemische Probleme, die ich kurz zusammenfassen möchte: Werden soziale Situationen, Face-toFace Begegnungen und ihre Kommunikationen auf naiv vereinfachte Weise als ›Theater‹ betrachtet, impliziert dies gewöhnlich erstens intentionale Subjekte (einen ›Schauspieler‹, einen ›Zuschauer‹) und lässt diese, zweitens, auf Basis eines vorgängigen, meist textförmigen Regelsystems (in Form einer Rolle) miteinander in Kontakt treten. Damit wird, drittens, alles was in der Situation Sinn erzeugt, aus derselben hinausverlagert: Denn sowohl die Subjekte als auch die Rollenstruktur, die angeblich ihre Begegnung lenkt, sind schon vor der eigentlichen Situation (der
47 Dieses Transkript beruht auf einem Aufführungsmitschnitt zu Forced Entertainments Inszenierung First Night, vgl. Forced Entertainment 2001.
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Aufführung) gegeben.48 Wie sozialer Sinn situativ entsteht, lässt sich in einem so verstandenen Theater-Modell also nur mit Rekurs auf der Situation äußerliche Strukturen (Normen und Subjekte) erklären. Eine naive sozialwissenschaftliche Nutzung von Theatermetaphorik widerspricht insofern Goffmans Spiel- und Rahmenmodell diametral. Aus diesem Grund arbeitet er heraus, dass in jeder konkreten Theateraufführungspraxis und den ihr notwendigen Möglichkeitsumständen viel mehr Komplexität steckt, als ein metaphorisch-abstrahierender Blick auf ›das Theater‹ nahelegt. Zum Beispiel, so stellt Goffman fest, treten innerhalb des komplexen kulturellen Settings eines dramatischen Illusions-Theaters nicht nur auf der Bühne Doppelwesen aus realen Schauspielern und verkörperten Figuren auf – sondern es lassen sich auch im Zuschauerraum und Foyer geschichtete Wirklichkeiten finden.49 In die Herstellung und Aufrechterhaltung von Goffmans Theaterrahmen fließen also die Praktiken aller Situationsteilnehmer dauernd und aktiv ein, es sind zahlreiche materielle Voraussetzungen beteiligt, weiterhin wird die Situation erst in ihrem Verlauf etabliert, bzw. ›erspielt‹. Indem er also den Theater-Rahmen »von Grund her aufrollt« und dabei in seiner praktischen Vielschichtigkeit thematisiert, richtet Goffman die für viele Sozialwissenschaftler so selbstverständliche Rede vom Theater in spielerischer Leichtigkeit neu ein: Die sozialwissenschaftliche Theatermetapher wird in ein Modell vom Theater transformiert, das weitestgehend Goffmans oben behandelten Spiel-Modell entspricht. Um die »zentrierte Interaktion« aufrecht zu erhalten, die in einer Theateraufführung gegeben ist, ›erspielen‹ alle Situationsteilnehmer beständig den TheaterRahmen und dessen Spielregeln. Im dramatischen Guckkastentheater, das Goffman exemplarisch bearbeitet, muss zum Beispiel garantiert werden, dass Bühnengesche48 Man könnte einwenden, dass Subjektivität bei vielen Nutzern der Theatermetapher (vgl. z.B. Simmel 2005) eben nicht als vorgängig gedacht sei, sondern dass die Beschreibung ›Schauspieler-verkörpert-Rolle‹ gerade als Modell für den Prozess einer gesellschaftlich gesteuerten Subjektivierung dienen würde. Doch selbst auf diese sensiblere Weise verwendet, handelt der Vergleich ebendieselben »Schwierigkeiten« ein: Denn auch hier bleibt in der ›Rolle‹ eine einheitliche und klar umrissene Struktur impliziert, die einen spezifischen Verfasser zu besitzen scheint. Darüber hinaus entsteht ein problematischer Homunculus. Denn nun lässt sich fragen, wer dieser ›Schauspieler‹ ist, der die Maske der sozialen Rolle trägt, und woher er stammt. Ist er seinerseits ein Subjekt, oder gar ein geheimnisvolles, sich verbergendes authentisches Selbst? 49 Z.B. existiert dort sowohl die ›Rolle‹ des Theaterbesuchers, der für Geld ein Ticket löst, als auch die des Zuschauers, der sich ins ästhetische Spiel verwickeln lässt. Auch Publikums-Teilnehmer, nicht nur Schauspieler, müssen entsprechend im Verlauf der Aufführung immer wieder deutlich machen, in welcher ihrer ›Rollen‹ sie gerade agieren (vgl. Goffman 1989: 149).
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hen als solches begriffen wird – dass also das Publikum dem fiktiven Plot zwar gespannt folgen kann, dabei aber dennoch nie vergisst, es ›nur‹ mit gespielten Geschehnissen zu tun zu haben. Als »Transkriptionsmethoden« bzw. Modulationen, die diese interessante Doppelfunktion der dramatischen Szene ermöglichen, beschreibt Goffman all jene Techniken, die sowohl die Darstellungs- wie auch die Wahrnehmungsleistungen aller Situationsteilnehmer auf die Theatersituation zuschneiden. In den Fokus des Interesses treten damit noch die am selbstverständlichsten erscheinenden Grundlagen der praktischen sozialen Situation traditioneller Theateraufführung, z.B. dass »eine Grenzlinie [...] zwischen einer Bühnenzone, [...] und einem Zuschauerraum« errichtet wird, weiterhin dass eine »grundsätzliche Unterscheidung [...] zwischen einem Schauspieler oder Darsteller, der auf der Bühne auftritt und der Rolle oder Figur, die er dabei verkörpert« existiert (vgl. Goffman 1989: 134 und 147). Schließlich erinnert Goffman daran, dass gerade das in einem solch hochartifiziellen Setting stattfindende dramatische Theater den Anspruch auf illusionistische Darstellung erhebt – und von den meisten Zuschauern auch als solche verstanden wird; das Publikum muss insofern aktiv ›mitspielen‹, auch wenn die Publikums-Mitglieder diese Aktivität nicht notwendigerweise reflektieren. Denn um einer Darstellung im Guckkasten-Kontext ein Stück realistische Darstellung abzugewinnen, muss der Zuschauer, wie Goffman ironisierend feststellt, als Komplize der Illusion agieren und die »höchst bemerkenswerte[] Fähigkeit« zeigen »sich von einer Transkription gefangen nehmen zu lassen« obwohl diese »grundlegend und systematisch von jedem vorstellbarem Urbild abweicht.« Goffman formuliert also den Theater-Rahmen als einen Zusammenhang, der in Anlehnung an Michel Foucault auch als Dispositiv eines dramatischen IllusionsTheaters bezeichnet werden könnte, als ein »entschieden heterogenes Ensemble, das [...] Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst.« (Foucault 1978: 119f) b) Spielräume, Spielfiguren und Spieler Lange also bevor »relationale« Ästhetiken die Notwendigkeit betonten, Situationen der Begegnung mit Kunst als konkret, sozial und materiell verwirklicht zu begreifen, Kunst-Begegnungen in ihrer Situativität und damit auch Alterität zu untersuchen, reflektierte Goffman auf die dramatische Theatersituation und deren praktische Möglichkeitsumstände. Goffmans Situations-reflexiver »dramaturgischer Ansatz« gilt als eine der Grundlagen praxeologischer Forschung der Soziologie;50 zu50 Andreas Reckwitz ordnet Goffmans Arbeiten einer »interpretativen Kulturtheorie« zu (vgl. Reckwitz 2006b:185) und formuliert sodann die These: »Die spiegelbildliche Transformation der neostrukturalistischen und der interpretativen Kulturtheorie [...] mündet am Ende in eine Version der Kulturtheorie, die auf beiden Seiten in ihren Grundzügen übereinstimmt: Vorläufiges Ergebnis dieser Transformation ist eine ,kulturtheoretische‹ Pra-
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dem lässt er sich, insbesondere in den Begriff der »negativen Erfahrung« und der »Modulation« auch mit den Interesselagen einer »Ästhetik des Performativen« in Verbindung bringen. Dabei lässt sich zwar konstatieren, dass komplex verspielte Aufführungen wie die Forced Entertainments in einem gegensätzlichen Verhältnis zur alltäglichen und/oder dramatischen Darstellungspraxis des »GoffmanPerformers« stehen (denn sie zielen gerade nicht auf die Verminderung von Komplexität und Kontingenz);51 ludische performances (wie Natascha Adamowsky verspieltes Aufführungs-Geschehen nennt) »erspielen« vielmehr die Chance, situativen Sinn in der Schwebe zu halten: Teilnehmer dürfen dort in »panique volupteuse« geraten, indem sie paradox aufgeschichteten Figuren begegnen, es dürfen ambigue (Zeit-)Räume und seltsame Teilnehmer-Rollen auftauchen, usw. (vgl. Goffman 1989: 411).52 Dennoch kann die praktische soziale Bearbeitung solcher Situationen mit Hilfe von Goffmans Rahmenmodell beschrieben werden – unabhängig davon, ob spielerische Zwischenzustände oder gesicherte Wirklichkeiten entstehen. Aus diesen Gründen sollen im Folgenden die Grundbestandteile von Goffmans (dramatischem) Theaterrahmen in aller Kürze reformuliert werden, um auch für die Untersuchung der postdramatischen, »relationalen« Aufführungsweise Forced Entertainments nutzbar zu werden – wobei auf das zugrundeliegende Spielmodell zurückgegriffen wird; dabei sollen die Leitbegriffe ›Spielräume‹, ›Spielfiguren‹ und ›Spieler‹ formuliert werden, die die Überschriften der folgenden Kapitel III., IV. und V. formen und dort je unterschiedliche Perspektivierungen des Aufführungsgeschehens ermöglichen. Ausführlicher werden diese drei Leitbegriffe in den Begriffsklärungen der folgenden Kapitel erläutert und dabei jeweils kurz in den Zusammenhang der praktischen Aufführungen und disziplinärer Betrachtungsweisen gestellt.
xistheorie [...] die eine grundsätzliche Abkehr vom Projekt einer Geist- oder Bewußtseinsanalyse betreibt, dabei ,bewahrenswert‹ erscheinende, innovative Elemente der strukturalistisch-semiotischen und der phänomenologisch-hermeneutischen Tradition integriert[.]« (Reckwitz 2006b: 186f). 51 Vom »Goffman-Performer« spricht Natascha Adamowsky, vgl. Adamowsky 2000: 65; dort merkt sie auch an: »Jede [ludische – SH] performance impliziert und aktualisiert ein Pastiche ineinanderlaufender Bedeutungsspuren. [...] Koordinatoren des Geschehens sind die Spielfiguren, die Choreographen der ludischen Vorgehensweise, welche darin besteht, das Unmögliche oder Nicht-Eigentliche erscheinen zu lassen.« (Adamowsky 2000: 66). 52 In nicht »ludischen« Situation hingegen, beispielsweise im Alltag, würde so eine ›bloody mess‹ alle Beteiligten überfordern. Ludische Performances bzw. komplexe Spiele lassen also ihre Teilnehmer in den Genuss einer unbestimmten, in Aushandlung befindlichen Situation kommen.
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Spielräume Um dramatische, illusionistische Theateraufführungen entstehen zu lassen, sind – so Goffman – ebenso wie in anderen »zentrierten Interaktionen« zeitliche und räumliche »Klammern« nötig: Zeit und Raum der Aufführung müssen für die Situationsteilnehmer bestimmbar werden.53 In den Aufführungssituationen zu Forced Entertainments Bloody Mess und The World in Pictures scheinen hingegen Zeit und Raum immerzu auf dem Spiel zu stehen. Kapitel III wendet sich daher unter dem Titel ›Spielräume‹ all jenen Praktiken, Materialitäten und/oder Zeichen zu, die Zeit und Raum der Aufführungen zugleich etablieren und in Frage stellen: Welche Markierungen oder Differenzierungsmerkmale ermöglichen Teilnehmern die Wahrnehmung zeitlich und räumlich umgrenzter Situationen? Welche Momente im Verlauf der Aufführungen stellen ebensolche Zuordnung wieder in Frage? Spielfiguren Aufführungen (und andere Spiele) nutzen, wie Goffman in Spaß am Spiel beschreibt, »realisierte Hilfsmittel« zu ihrer Aufrechterhaltung;54 mit diesem Begriff bezieht Goffman sich auf all jenes Spielzeug, das das Spiel bestimmt, vorantreibt und stabilisiert.55 In beiden hier untersuchten Aufführungen werden die auftretenden Spielfiguren zu besonders auffälligen Spielzeugen, die für Situationsteilnehmer zur Verfügung stehen: So nennen im Rahmen beider Inszenierungen Darsteller sich bei ihren (authentischen) Vornamen, erläutern ihre angebliche Darstellungsabsicht, zeigen körperliche Erschöpfung, Scham und andere starke Hinweise auf ihre tatsächliche leibliche Anwesenheit, werden dann aber wieder als Gestalter dieser ›authentischen‹ Selbst-Darstellung wahrnehmbar, usw. Es tauchen also klar identifizierbare Spielfiguren auf, die sich aber dennoch zugleich beständig in Frage stellen, und die auf diese Weise schließlich in sich verschachtelt wirken wie russische Pup53 Bezugnehmend auf Begriffe des Soziologen und Actor-Network Theoretikers Bruno Latour könnte man dabei auch davon sprechen, dass Aufführung im Hier und Jetzt »lokalisierbar« werden müssen (vgl. Latour 2007: 319). 54 Vgl. Goffman 1973: 29; als Beispiele nennt Goffman hier im Spiel erzeugte Identitäten, doch auch die Spielfiguren im Schach. 55 Der Deutsche Begriff des ,Zeugs‹ vereint passiv-aktive Assoziationen in sich, die ein Spiel-Vokabular hervorragend zu unterstützen vermögen: Kann doch das ,Zeug‹ auf ein Werk-Zeug verweisen, ebenso wie einen Rohstoffe oder auf das, was »erzeugt« wird. »Zeugen« steht weiterhin für das Erschaffen, sei es von Lebewesen oder aber, im »Bezeugen«, von Wahrheiten. Vgl. dazu den umfassenden Eintrag »Zeug« im Deutschen ethymologischen Wörterbuch der Brüder Grimm, online verfügbar unter: http://www.kruenitz1.uni-trier.de/xxx/z/kz00622.htm (zuletzt geprüft am 01.04.2014).
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pen. In seiner Untersuchung des dramatischen Theaterrahmens fragt Goffman nach den Methoden, mit Hilfe derer Zuschauer eine Rollenfigur identifizieren und diese von ihrem Darsteller unterscheiden können. Kapitel IV meiner Arbeit befragt die Aufführungssituationen Bloody Mess und The World in Pictures nach all jenen Praktiken, die eine traditionelle Darsteller-Rollen-Matrix herausfordern. Dabei sollen Grenzregionen beschrieben werden, die zwischen den als Schauspieler arbeitenden Teilnehmern der Aufführungssituation und ihren jeweiligen Rollen entstehen und ästhetisch nutzbar gemacht werden. Spieler Goffmans Betrachtung des illusionistischen Theaterrahmens fokussierte schließlich (in einer im Zusammenhang mit dramatischer Ästhetik unüblichen Beharrlichkeit) auf die Zuschauer und deren mitspielende Aktivitäten. In Aufführungen zu Bloody Mess und The World in Pictures befinden sich Mitglieder im ›Ensemble‹ des Publikums kontinuierlich auf der Suche nach dem konkreten Raum und der Zeit der Aufführungen, ebenso nach dem Wirklichkeitsstatus der auftretenden Figuren. Auf diese Weise werden Zuschauer aufmerksam auf die eigene praktische Verstricktheit in den Aufführungssituationen und auf ihre situative Praxis des ›Sinn-Machens‹. Dieses in Bloody Mess und The World in Pictures intensivierte und vorgeführte ›Mitspielen‹ der Zuschauer untersucht Kapitel V. meiner Arbeit: Wie lassen sich ein in Inszenierungen antizipiertes Publikum, bzw. die dort angelegten ›Spielregeln‹ beschreiben? Und durch welche (Wahrnehmungs-) Aktivität entsteht ein ›tatsächliches‹ Publikum im Verlauf der untersuchten Aufführungen? Insbesondere sollen dabei diejenigen Praktiken interessieren, auf die Hans-Thies Lehmann sich in seinem Aufsatz Versuch zum Verstehen mit dem Begriff des »Mit-Verstehens« bezieht (Lehmann 2011: 29).
III. Spielräume. Zeit- und Raumgestaltung der Aufführungen 1. B EGRIFFSKLÄRUNG : I NNERE
UND ÄUSSERE
K LAMMERN
Zum Zweck der Etablierung zentrierter Interaktionen sind laut Goffman gewisse einfache kollektive »Zeremonien« notwendig, z.B. zur Begrüßung und zum Abschied. Auch würden Zeichen angewandt, »die den Beginn und das Ende der Begegnung oder der zentrierten Versammlung als Einheit bestätigen« (Goffman 1973: 20). Durch sie erst tauche in Aufführungen »ein ›Wir-Gefühl‹ auf, ein Gefühl für die eine Sache, die wir gemeinsam tun« (ebenda). In der Rahmen-Analyse behandelt Goffman solche Begrüßungs- und Abschiedszeremonien, sowie alle anderen Anfangs- und Endzeichen unter dem Begriff der »Klammer« (im englischen Original »brackett«, und vgl. Goffman 1989: 57). Klammern helfen Situationsteilnehmern (ebenso der wissenschaftlichen Beobachterin), ein Ereignis als Entität mit eigener Identität herzustellen.1 Um all jene ›Spielzüge‹ in Aufführungssituationen von Bloody Mess und The World in Pictures zu adressieren, die Zeit und Raum der Situationen etablieren, soll der Begriff der Klammer übernommen und zunächst kurz näher erläutert werden. »Am Anfang gehen die Lichter aus, die Glocke läutet und der Vorhang hebt sich, am Ende fällt der Vorhang und die Lichter gehen an. [...] Und in der Zwischenzeit beschränkt sich die gespielte Welt auf den physischen Schauplatz, der durch die Grenzen der Bühne eingefasst ist.« (Goffman 1989: 279) Eine ›gewöhnliche‹ Theateraufführung beginnt und endet also, ebenso wie ein Spiel, auf eine Weise, die alle Situationsteilnehmer gemeinsam vollziehen können; außerdem kann davon ausgegangen werden, dass die Teilnehmer einer Theateraufführung sich in irgendeiner Weise verorten, dass sie also auch räumlich ›eingeklammert‹ werden, z.B. indem sich ein Raum für die darstellerischen Abläufe der Aufführung und ein Zuschauerraum herausbilden. Häufig ist eine derart geklammerte Raumordnung auch schon vorgängig vorhanden. Im bürgerlich geprägten, eu1
Es ist ersichtlich, dass eine solche Operation der Identifikation jeder Werk-Konstitution zugrunde liegen muss. Um aber den Rahmen vorliegender Arbeit nicht zu sprengen, möchte ich die Diskussion von Fragen, die den Werkbegriff berühren, außen vor lassen.
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ropäischen Theaterraum herrscht bis heute eine architektonisch vororganisierte, tradierte Raumstruktur vor.2 Auf den folgenden Seiten sollen also gut wahrnehmbare und beschreibbare »Zeremonien«, Zeichen, Markierungen beschrieben werden, die es Situationsteilnehmern in den Aufführungen von Forced Entertainments Bloody Mess und The World in Pictures ermöglichen, Zeit und Raum der Aufführung zu definieren.3 Dabei soll berücksichtigt werden: »[...] Anfangs- und Schlussklammern sollte man manchmal als ›äußere‹ bezeichnen, da bei vielen Vorgängen innere Klammern vorkommen, das heißt solche, die in einem Ablauf kurze Pausen bezeichnen« (Goffman 1989: 287). Die zitierte unscharfe Unterscheidung äußerer und innerer Klammern führt Goffman in der Rahmen-Analyse ein, um die Tatsache zu umschreiben, dass auch die innere Strukturiertheit einer Situation (z.B. einer Aufführung) diese definiert und von ihrer Umwelt abgrenzt: Im prototypischen Beispiel eines mit Vorhängen operierenden Guckkastentheaters wären Szenen-Vorhänge als innere Klammern vorstellbar. Ist im Folgenden von inneren Klammern die Rede, soll also darauf verwiesen werden, dass die Entität ›Aufführung‹ sich in geordnete Segmente, wie zum Beispiel szenische Einheiten bzw. Szenen-artige Sequenzen unterteilen lässt, die der Aufführung eine innere Struktur verleihen. Damit zeichnet sich ab, dass, verwendet man Klammern als Modell der Beschreibung, zwei unterschiedliche Formen ihrer Organisation vorstellbar sind: Zum einen könnte Ausschau gehalten werden nach Grenzzeichen, Grenzlinien oder anderen eigenständigen Sequenz-Markern; nach Zeichen des Beginns oder des Endes 2
Umfassend beschrieben und analysiert wird die Raumordnung des zeitgenössischen Theaters und ihre Genese in Der Schnitt durch den Raum (Rodatz/Böhme 2010). Goffman fasst diese Theater-Raumordnung in seiner Rahmen-Analyse in aller Kürze zusammen: »Gewöhnlich wird eine Grenzlinie errichtet zwischen einer Bühnenzone, wo die eigentliche Aufführung stattfindet und einem Zuschauerraum, in dem sich die Zuschauer befinden.« (Goffman 1989: 143).
3
Eine klare oder definitorische Unterscheidung zeitlicher und räumlicher Klammern ist dabei vermutlich nicht immer zu ziehen. So könnte schon der klischeehafte Theatervorhang (der in Forced Entertainments Inszenierungen Bloody Mess und The World in Pictures nicht zum Einsatz gelangt) als prototypisches Beispiel sowohl zeitlicher wie räumlicher Klammern dienen: Das Öffnen und Schließen des Vorhangs markiert und klammert die Aufführung temporal, gleichzeitig bewegt sich der Theatervorhang als materiell greifbare, flexible Trennwand direkt auf der Rampe, der räumlichen Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum; er ist damit auch genuin an der Entstehung eines Theaterraums beteiligt. Wenn im Folgenden dennoch von zeitlichen und räumlichen Klammern die Rede sein wird, ist dies vor allem der literarischen Darstellung des Aufführungsgeschens geschuldet, und soll keine vorgängige Unterscheidbarkeit beider Darstellungsebenen postulieren.
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einer Einheit, die durch wahrnehmbare Artefakte oder Handlungen geleistet werden, die ihrerseits zu keiner der beiden unterschiedenen Seiten gehören. (Beispiele für eine solch eigenständige Form der ›Klammerung‹ könnten nicht nur die schon genannten Theatervorhänge werden, sondern auch performative Sprechakte wie z.B. »Jetzt geht es los!«, oder »Wir bleiben auf unserer Seite des Raumes, ihr auf der Euren!«)4 Materiell eigenständige Klammern besitzen dabei potentiell paradoxen Status, nachdem sie selbst zu keiner der unterschiedenen Seiten zu gehören. Aus diesem Grund besitzen sie das Potential, situativ zu krisenhaften Grauzonen ausgebaut und ästhetisch übersteigert zu werden. Zum anderen können sich aber auch zwei geklammerte Seiten (Innen/Außen, Sequenz A versus Sequenz B, usw.) in ihrer Strukturiertheit unterscheiden – so wird die Wahrnehmung abgegrenzter Entitäten auch ohne eine eigenständige Grenzlinie o.ä. möglich; man denke an die Figur-Grund-Beziehung und die übrigen Gestaltgesetze nach Katz und Wertheimer.5 In diesen Fällen erlauben dem Wahrnehmenden bestimmte Übereinstimmungen in der Struktur, die geschlossene Einheit eines Phänomens gegenüber einer (meist eher offenen) Umwelt zu konstruieren (vgl. Abbildung 1 Figur-GrundBeziehung).6 Beide Klammerungsformen, eigenständige Klammern und nach dem Figur-Grund-Prinzip funktionierende, lassen sich mit der begrifflichen Auffächerung in äußere und innere Klammern assoziieren, wenn auch nicht zur Deckung bringen. Die folgende Untersuchung zeitlicher und räumlicher Klammern, der Aufführungen Bloody Mess und The World in Pictures befasst sich zunächst mit der spielerischen Produktion von Aufführungszeit (2), danach mit Darstellungsweisen, die Zeit und Raum der Aufführungen zu verwischen scheinen (3); schließlich sollen die Räume der Aufführungen thematisiert werden (4).
4
So gesprochen in Forced Entertainments First Night, vgl. z.B. Forced Entertainment 2001.
5
(Vgl. z.B. Wertheimer 1924) Online verfügbar unter http://ebookbrowse.com/uebergestalttheorie-max-wertheimer-1924-pdf-d217718450 (zuletzt geprüft am 01.04.2014).
6
Mühelos vorstellbar wird diese zweite Form der Klammerung nach dem Figur-GrundPrinzip im Bezug auf Aufführungen am Beispiel eines Konzerts: Das Einsetzen des ›eigentlichen Stückes‹ ist vor allem durch seine rhythmische und melodiöse Ordnung von anderen Geräuschkomplexen, wie z.B. dem Stimmen der Instrumente unterscheidbar, und könnte daher auch ohne weitere eigenständige Klammerung (wie Lichtwechsel, Vorhänge, etc.) als ein abgegrenztes Ganzes wahrgenommen werden.
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Abbildung 1: Figur-Grund-Beziehung
Links wird der Kreis wahrnehmbar, da er eine Begrenzungslinie besitzt; rechts durch eine Figur-Grund-Unterscheidung.7
2. P RODUKTION
VON
A UFFÜHRUNGSZEIT
a) Der zögerliche Beginn Zu einer ersten und sehr einfachen Beschreibung der äußeren zeitlichen Klammer der Aufführung Bloody Mess dient deren Lichtdramaturgie, denn diese leistet eine sehr klare, unmissverständliche Zeichensetzung: Die Aufführung beginnt und endet mit einem Lichtwechsel im Saal, das Zuschauerlicht erlischt, bzw. flammt wieder auf. Doch ist der Einlass des Publikums vor der Aufführung Bloody Mess auf eine Weise aufgebaut, der die Klarheit dieser äußeren Klammer herausfordert:8 Die Türen zum Theatersaal werden geöffnet und nach und nach füllt sich der noch hell erleuchtete Zuschauerraum mit Besuchern. Diese suchen in aller Ruhe ihre Plätze auf. Während sich das Publikum setzt, ist die Bühne offen einsehbar – und ihrerseits beleuchtet. Der schmucklose Bühnenraum, der keine Kulissen, Aufbauten oder ähnliches aufweist und den Blick auf den Schnürboden und die mattschwarz gestrichene Hinterbühne zulässt, ist leer bis auf allerlei Gegenstände, die an die Bühnenwände geschoben eine unordentlich wirkende Randzone bilden. Der leere Boden in der Mitte der Bühne wird direkt von der Beleuchtung
7
Diese und alle weiteren Abbildungen in der vorliegenden Arbeit wurden von der Autorin
8
Wie in Kapitel I. erwähnt, sind in der vorliegenden Arbeit Beschreibungen des Auffüh-
erstellt. rungsgeschehens durchgehend eingerückt, um sie von analytischen Besprechungen des Beschrieben differenzierbar zu halten.
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angestrahlt, während der Rand der Bühne im Schatten liegt. In der linken vorderen Ecke dieses dunkleren Bühnenrandes sind zwei Männer zu sehen, die auf den Beginn der Aufführung zu warten scheinen und das Publikum während des Einlasses bei der Suche nach Plätzen betrachten. Beide sind in ärmliche Spaßmacher-Anzüge gekleidet und tragen unsauberes Clowns-Makeup. Der Einlass dauert – wie dies gewöhnlich der Fall ist – relativ lange. (Auf dem dieser Beschreibung zugrunde liegenden Videomitschnitt zu Bloody Mess etwa 14 Minuten).9 Die Clowns-Darsteller auf der Bühne bleiben unterdessen schauspielerisch präsent: z.B. schreiten sie in Momenten rastlos die Randzone der Bühne ab, oder sie sitzen in demonstrativ ungeduldiger Ruhe mit ausgestreckten Beinen auf den im Randbereich der Bühne vorhandenen Stühlen. Das Eintreten des Publikums in den Zuschauerraum wird also während der beschriebenen Einlasssituation in gewisser Weise mit einer schon existenten Aufführungssituation ›kontaminiert‹, nachdem schon Darsteller auf der Bühne zu sehen sind; allerdings kann die Zuschauerin nicht klar ausmachen, ob deren Agieren als Schauspiel wahrgenommen werden soll – verbleiben sie doch am Bühnenrand und scheinen abzuwarten; also könnte sich die Situation noch vor der Aufführung befinden. Genauso gut könnte die Aufführung aber mit Beginn des Einlasses schon angefangen haben. Darüber hinaus ist die typische Beobachtungssituation des Theaters, wie sie im klassischen Theaterraum schon vorstrukturiert ist, für die gesamte Dauer des Einlasses demonstrativ umgekehrt, und wird damit gewissermaßen problemati-
9
Um die reflexive Arbeit anhand der Aufführungs-Videos zu explizieren, sind die »Hilfsmedien« der Analyse bei der Autorin erhältlich, z.B finden sich unter www.stefaniehusel.de zwei Timelines, die ich im Verlauf meiner Untersuchung für beide Inszenierungen, Bloody Mess wie The World in Pictures, hergestellt habe. Auf diesen Timelines sind diejenigen Aufführungs-Ereignisse, die es mir als Zuschauerin ermöglichten, szenische Einheiten wahrzunehmen (z.B. Lichtwechsel, Musikeinspielungen etc.) auf einer minutengenauen Zeitleiste eingezeichnet. Die Timelines führten mir die Bedeutung von Gleichzeitigkeit bzw. Ungleichzeitigkeit bestimmter rahmender Darstellungs-Praktiken für meine Wahrnehmung des Bühnen-Geschehens vor Augen; als synchron zu erfassende Visualisierung der Aufführungen ermöglichten sie zudem, bestimmte markante Aufführungsereignisse in den Zusammenhang des gesamten Zeitverlaufs der Aufzeichnung zu stellen. Schließlich boten die Timelines eine Visualisierung des ›Hin und Hers‹ der untersuchten Aufführungen, zwischen Momenten, in denen sich dauernde Szenenwechsel zu vollziehen schienen (s.u.) und solchen, in denen sich über relativ lange Zeitspannen ein fokussiertes Geschehen ereignete. Außerdem finden sich unter Kapitel VII. Szenare beider Inszenierungen. Diese bieten einen Überblick über die Abfolge szenischer Sequenzen in den Aufführungen Bloody Mess und The World in Pictures sowie über die im Folgenden verwendeten Kurztitel derselben.
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siert bzw. ausgestellt: Die Darsteller sind zu Beobachtern geworden und das sich formierende Publikum wird während seiner Suche nach Sitzplätzen ausgiebig betrachtet. Nachdem das Publikum sitzt und die Türen zum Foyer geschlossen sind erlischt das Zuschauerlicht innerhalb weniger Sekunden. Aus dem Zuschauerraum antwortet diesem wohlbekannten Zeichen kollektives Schweigen. Die beiden Clowns-Darsteller auf der Bühne, die bis dorthin ihr geduldiges Warten gespielt haben, begeben sich in die Bühnenmitte und beginnen dort offenbar mit der ›eigentlichen‹ ersten Szene: Beide tragen unterschiedliche Stühle aus der unordentlich wirkenden Randzone auf die leere Mitte der Bühne, wobei einer der beiden eine Stuhlreihe am vorderen Bühnenrand, nahe der Rampe, aufzubauen beginnt, der andere sich offensichtlich bemüht, eine Stuhlreihe am hinteren Bühnenrand herzustellen. Nachdem anscheinend beide Clowns alle vorhandenen Stühle nutzen möchten, entbrennt ein schnell ins Groteske ausartender zäher Kampf zwischen den beiden, währenddessen letztlich sogar einige Stühle in Einzelteile zerbrechen und wieder zusammengefügt werden müssen. Diese recht lange und inhaltsarme Szene kommt nur zögerlich zu ihrem Ende. Zum einen scheinen die Clowns nach und nach ihres Wettkampfs um die Stühle überdrüssig zu werden und sich, wenn auch widerwillig, auf die vordere Stuhlreihe zu einigen; zum anderen tritt eine neue Darstellerin aus dem Off auf die Bühne und besetzt einen der vorderen Stühle. Ihr folgen sieben weitere Darsteller. Gleichzeitig mit deren Erscheinen geschieht auch ein sanfter, doch feststellbarer Lichtwechsel: Die Stuhlreihe wird nun hell angestrahlt, das Licht vom hinteren Teil der Bühne wird ausgeblendet. Offensichtlich hat jetzt eine neue Szene das ›Stuhl-Spiel‹ der Clowns abgelöst: Nun sitzt eine Reihe Darsteller auf Stühlen an der Rampe und blickt in den dunklen Zuschauerraum. Der Eindruck, dass die Clowns die Aufführung mit ihrem ›Stuhl-Spiel‹ begonnen hätten, verändert sich mit dem Auftritt der übrigen Darsteller, wird neu interpretierbar: Nun könnte das Aufbauen der Stuhlreihe durch die Clowns als eine – wenn auch sehr umständliche – Vorbereitung für die folgende Sequenz begriffen werden. Die Zuschauerin kann sich insofern erneut auf einen ›endgültigen‹ Anfang des Stückes gefasst machen; sie befindet sich dabei aber schon etwa in der neunzehnten Minute seit Beginn des kontaminierten Einlasses. Erst die nun folgende Sequenz bringt Sprache auf die Bühne; einer der Darsteller (der sich später als Richard vorstellt) macht, in ein Mikrophon sprechend, folgende Aussage: »Before we start... I think... some people wanted to say... some things.« Verstärkt durch das hin und her gereichte Mikrophon, teilt daraufhin ein Darsteller nach dem anderen dem Publikum mit, welche Wirkung er oder sie im Verlauf der Aufführung gerne auf die Zuschauer ausüben möchte.
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Das Ende der Sequenz bildet wieder eine Aussage Richards: »I think, this is a good note to end this bit off... And I think we gonna get started«. Buchstäblich im selben Moment erheben sich alle Darsteller; sie tragen die Stühle in den Randbereich der Bühne und nehmen offenbar gut einstudierte Positionen auf der Bühne ein. Das Licht verändert sich, und nach Sekunden dröhnt das Lied Born to Be Wild aus allen verfügbaren Lautsprechern. Schon die ersten Worte dieser angeblichen neuen Anfangsszene sagen aus, dass auch der nun folgende szenische Abschnitt sich noch vor Beginn der ›eigentlichen‹ Aufführung befinden soll. Dennoch lässt sich die Inszenierung auch mit dieser Sequenz Zeit: Die beschriebene ›Vorstellungsrunde‹, während derer die DarstellerFiguren ihre Wirkungswünsche kundtun, dauert etwa zwölf Minuten.10 Schenkt man den abschließenden Worten Richards Glauben, beginnt darauf endlich die ›eigentlich‹ erste Szene; allerdings scheinen jetzt einzelne Darsteller verschiedene Szenen zur eingespielten Musik darbieten zu wollen: Zwei schwarz gekleidete Figuren (Ben und Richard), tanzen im linken vorderen Bühnenbereich einen zum eingespielten Heavy-Metal passenden Tanz.11 Die beiden Darsteller-Figuren Cathy und Terry spielen eine Art melodramatischer Sterbeszene in der Mitte der Bühne. Rechts vorne legt Claire langsam ihre Kleider ab und schlüpft in ein ihren ganzen Körper bedeckendes Gorilla-Kostüm. Hinter ihr betätigt sich Figur Wendy mit kleinen Pompoms als Cheerleader. Alle vier parallel stattfindenden, unverbunden wirkenden Handlungen dauern bis zum Ende der etwa vierminütigen Musikeinspielung; die übrigen vier Darsteller sitzen unterdessen untätig im Randbereich der Bühne. Kaum ist das eingespielte Lied zu Ende gegangen, springt Darstellerin Cathy auf, die bis dorthin eine in der Bühnenmitte positionierte Tote gemimt hatte, und protestiert lauthals: Die Atmosphäre wäre gänzlich missraten, der »Sound« würde nicht stimmen, man möge etwas anderes auflegen. Die zuvor tanzenden Darsteller-Figuren, Richard und Ben, die eine Art Techniker- oder Roady-Funktion zu bekleiden scheinen, legen daraufhin mit Speed King ein Lied mit äußerst ähnlichem Charakter wie das zuvor gehörte auf; darauf läuft – wieder während des gesamten Songs – eine der ersten Choreographie sehr ähnliche Szene ab: Nur Cathy steht nun, die Hände in die Hüften gestützt, mitten im Geschehen und beobachtet das Treiben der 10 Ich nutze in meinen Beschreibungen teilweise Kurztitel wie ›Stuhl-Spiel‹ oder ›Vorstellungsrunde‹ für schon behandelte szenische Sequenzen, um lange Nebensätze zu vermeiden. Die unter Kapitel VII. eingefügten Szenare bieten einen Überblick über diese Titel. 11 Die in meinen Beschreibungen auftauchende Figur Ben wurde vom Schauspieler Ben Neale anstelle von Forced Entertainments Gründungsmitglied Robin Arthur gespielt; dieser konnte in der dokumentierten Aufführung in Leeds aus Krankheitsgründen nicht mitwirken. In anderen Aufführungen war entsprechend eine Figur Robin zugegen.
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Kollegen missmutig. Zum Ende dieser zweiten Choreographie schaltet sie sich erneut kritisierend ein – nun allerdings wird sie ihrerseits unterbrochen: Darstellerin Claire nimmt den Kopf des Gorillakostüms ab und spricht zum Publikum, indem sie noch einmal auf ihre Ankündigung aus der ›Vorstellungsrunde‹ zurückkommt; ihre Rede entwickelt sich zu einem etwa fünfminütigen Monolog. Selbst die auf die ›Vorstellungsrunde‹ folgende Born to Be Wild Sequenz, diese gar vierfache Anfangsszene der Aufführung, wird, kaum gespielt, wieder ihres Status beraubt: Denn offenbar wird sie nach der Kritik durch Darsteller-Figur Cathy ohne große Modifikation, lediglich mit neuer Musik-Einspielung wiederholt. Und auch nach dieser Wiederholung, die wirkt, als würde eine darstellerische Panne korrigiert, scheint das eigentliche Stück weiter mit Startschwierigkeiten zu kämpfen; denn die nun vorgeführte Publikumsansprache von Darstellerin Claire stellt sich als individueller Ausreißer dar. Anscheinend hält es eine Darstellerin für nötig, ihre Aussage aus der vorangegangenen ›Vorstellungsrunde‹ noch einmal aufzugreifen. Nach Claires Monolog befindet sich die Aufführungssituation, ab Beginn des Einlasses gerechnet, etwa in ihrer fünfundvierzigsten Minute. Bis hierhin wird die Zuschauerin in ihrer Wahrnehmung des Geschehens in einem ständigen leisen double bind gehalten: Anscheinend hat die Aufführung mit dem Betreten des Zuschauerraums immer schon begonnen, doch niemals ganz und gar. Erst nach Claires Monolog beginnt eine Phase der Aufführung, in der sich die Frage nach dem Beginn der ›eigentlichen‹ Aufführung nicht mehr dringend stellt; allerdings beginnt auch sie mit einer weiteren Thematisierung des Beginns: mit der Erzählung vom Anfang der Welt. Bloody Mess ›erspielt‹ in der geschilderten Anfangssequenz also eine Aufführungssituation, die sich nur langsam und zögerlich an eine ›eigentliche‹ Aufführung heranzupirschen scheint. Das ständige Neuansetzen erster Szenen, bzw. nach Außen klammernder Sequenzen, hält dabei die Aufmerksamkeit ihrer Zuschauer gefangen, da diese immer wieder neu auf das Aufführungsgeschehen eingeschworen werden. Im Folgenden möchte ich die Anfangssequenz während Aufführungen von The World in Pictures im Hinblick auf dort gebotene Anfangs-Klammern betrachten, die ähnliche Effekte bei leicht veränderten Mitteln produziert. Auf den ersten Blick scheint die Aufführung The World in Pictures ihrem Publikum ein stark vereinfacht anmutendes Willkommen zu bieten: Auch hier ist während des Einlasses die Bühne einsehbar, allerdings ist sie hier vollkommen leer, es befinden sich weder Kulissen noch Requisiten oder Darsteller innerhalb des Guckkastens. Nachdem sich das Publikum gesetzt hat, erfolgt ein schneller Lichtwechsel, das Zuschauerlicht erlischt, die Bühne wird beleuchtet. Der Beginn der Vorführung ist also zunächst noch klarer markiert, als es in Bloody Mess der Fall war.
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Auf die leere Bühne treten direkt nach dem Lichtwechsel zügig acht Darsteller, wobei sich ein junger Mann von der übrigen Gruppe separiert.12 Einer der weiteren Darsteller führt ein Mikrophon mit sich; verstärkt spricht er das Publikum an, in Richtung des einzeln stehenden Kollegen gestikulierend: »The beginning of a show is very important and... and we had some problems with ours lately... this is why we wanted to give some advice to Jerry, here, who’s actually gonna do it.«13 Diesen ersten Worten folgen ins Mikrophon gesprochene Ratschläge: Jeder einzelne der in der in der Gruppe Stehenden wendet sich dabei an den als »Jerry« adressierten Kollegen, und geht darauf in ein nicht einsehbares Off ab. Jerry lässt die Prozedur der teilweise neckend, zum Teil aber auch latent aggressiv anmutenden Ratschläge sichtlich stoisch über sich ergehen. Schließlich bleibt nur noch er auf der Bühne zurück. Kaum alleine, verändert sich sein Habitus: Er beginnt mit unvermutetem Selbstvertrauen seinerseits das Publikum anzusprechen, wobei er kein Mikrophon verwendet. Seine PublikumsAnsprache, die sich nach und nach als langer Monolog herausstellt, beginnt mit einer wegwerfenden Geste in Richtung Off und der Aussage: »I gonna ignore all these.« Ohne zu zögern fährt er dann fort: »I want you to imagine you travel to a city. Maybe not a city you know very well. But maybe a city you visited once or twice before.« Ohne jede weitere Überleitung zeigt die darauf folgende Erzählung eine vollkommen andere Logik als der zuvor abgelaufene szenische Abschnitt; auch wirkt Jerrys Monolog überhaupt nicht wie ein Auftakt zu etwas anderem oder wie eine Begrüßungsszene, wie die Zuschauerin aus den vorangegangenen ›Ratschlägen‹ hätte schließen können. Vielmehr verwickelt Jerrys Publikumsansprache die Fantasie seiner Zuschauer und Zuhörer in eine lange, zum Teil sogar langatmige, doch immer höchst suggestive Erzählung. Diese wirkt wie eine ganz eigenständige Aufführung: Jerry bittet die Zuschauer, sich selbst auf einem langen Spaziergang durch eine Stadt zu imaginieren. Während dieses Gangs stellen sich große philosophische Fragen, schließlich kulminiert die imaginierte Reise in einem tödlichen Sturz vom Dach eines Hochhauses. Der Monolog dauert im Ganzen gute fünfzehn Minuten.14
12 Eine Skizze zu dieser Szene befindet sich im Kapitel IV.4 der vorliegenden Arbeit. 13 Die im Folgenden zitierten Texte aus The World in Pictures wurden vom verwendeten Video, der von Forced Entertainment herausgegebenen DVD, transkribiert (vgl. Forced Entertainment 2006). 14 In der überwältigenden Mehrheit aller The World in Pictures Aufführungen, die ich gesehen habe (also etwa 15 bis 20 Aufführungen), verlief dieser – für Bühnenverhältnisse überaus lange – Monolog nichts desto weniger unter der gebannten Aufmerksamkeit des Publikums. In einem einzelnen Fall, der Premiere in Berlin, versuchten zwei Personen im Publikum, den langen Monolog durch forciertes Klatschen zu beenden. Ein strenger Blick
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Das Ende der Erzählung Jerrys erfolgt so abrupt wie ihr Beginn. Es folgt eine wiederum völlig unverbunden wirkende Szene, die die Zuschauerin zunächst ratlos hinterlässt: Die Erzählung befindet sich auf dem Höhepunkt ihrer Spannung; die Zuschauer werden von Jerry dazu angeleitet sich vorzustellen, wie sie vom Dach eines Hochhauses stürzen: »...and then you recognize... that you already committed yourself.... to falling.....and you see those pictures running through your mind... and you see the floor getting closer very very quickly. ...(3s) You know what? Even if it sounds ridiculous, but let’s... let’s just freeze this here for a while. I will come back to it. Or maybe... maybe I won’t come back to it. But I think it brought us into a really good mood for what we gonna do next.« (Vgl. Forced Entertainment 2006, 00:21:00) Gleichzeitig mit den zitierten Worten Jerrys kommen seine für die Zuschauerin fast schon vergessenen Darstellerkollegen zurück auf die Bühne geeilt. Sie tragen nun improvisiert wirkende Höhlenmenschenkostüme aus künstlichen Fellen und billigen Langhaarperücken. Die einzige Ausnahme bildet eine Darstellerin im langen braunen Kleid, die sich an den Rand der Bühne begibt. Ein Höhlenmenschen-Kostüm wird auch an Jerry gereicht, und er beginnt, sich mitten auf der Bühne umzuziehen.15 Einer der Darsteller im Höhlenmenschenkostüm nimmt nun wieder das auf der Bühne verbliebene Mikrophon an sich und kritisiert kurz Jerrys Monolog; dann wendet er sich sich mit showmasterlicher Geschäftigkeit Richtung Publikum und äußert eine Reihe seltsamer Höhlenmenschen-Laute: (»Uuugh uuugh....uk! Uk! Uk!«). Schmunzelnd fügt er hinzu, für »all jene, die noch nicht begriffen hätten«, dass die Gruppe nun die ›Volcano Scene‹ aus dem Film One Million Years BC zum Besten geben wolle. Tatsächlich erklingen im Anschluss an die zitierte Ankündigung filmisch wirkende Musik und Geräusche.16 Die auf der Bühne befindlichen ›Höhlenmenschen‹ beginnen nun, ohne gesprochenen Text, dafür mit übergroßen Gesten, eine im weitesten Sinne tänzerisch wirkende Szene zu spielen, die (unter Zugabe einiger Zuschauerphantasie) von verzweifelt vor der Lava eines Vulkanausbruchs flüchtenden Urmenschen handeln könnte. Die Dar-
der Figur Jerry, sowie anschließende tadelnde Blicke der Umsitzenden im Publikum stoppten dieses Unternehmen allerdings schon nach wenigen Sekunden, um den Zuschauerraum in der Folge in noch größere, gespannte Stille versinken zu lassen. Zur gegenseitigen Rückmeldung im Publikum vgl. Kapitel V.4. der vorliegenden Arbeit. 15 Vgl. zu Jerrys offenem Umziehen und anderen Kostüm-Verwendungen der Inszenierungen auch Kapitel IV.2. 16 Dabei handelt es sich – dies lässt sich aber nur durch spätere Nachforschung verifizieren und ist für die Zuschauerin in situ nicht erkennbar, tatsächlich um ein Stück des Soundtracks aus dem Film One Million Years BC (Vgl. Chaffey 1966).
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stellung zeigt dabei ein seltsames qualitatives Manko: Billige Kostüme, überdramatische Gesten und unbeholfen wirkende Tanzversuche, die sich ständig wiederholen, strapazieren die ästhetischen Sehgewohnheiten der Zuschauerin. So skurril und witzig das Bühnengeschehen in The World in Pictures sich bis hierhin darstellt, eine sinnvolle Einordnung der abgelaufenen Bühnenhandlung unter eine übergeordnete Dramaturgie bzw. Spielregel ist für die Zuschauerin nicht zu bewerkstelligen. Schien schon Jerrys Monolog nicht zur vorherigen Ankündigung eines stimmigen Auftaktes einer Show zu passen, zeigt nun die ›Volcano Scene‹ keine nachvollziehbare Verbindung zu allem ihr vorangegangenen.17 Insofern hinterlässt die Sequenz ein immer stärker irritiertes Publikum. Eine befriedigende Klammerung der ›eigentlichen‹ Aufführung kann bis jetzt noch nicht ausmacht werden, es bleibt also fraglich, was hier gespielt wird. Mit Abklingen der eingespielten filmischen Geräuschkulisse verharren die ›Höhlenmenschen‹ auf ihrer jeweils eingenommenen Position, doch wird sichtbar, dass sie sich nun lockern und tief durchatmen; offenbar ist also ihr Tanz vorbei. Nun scheinen sie darauf zu warten, eine neue Aufgabe erhalten. Zugleich betritt die Darstellerin im braunen Kleid das Zentrum der Bühne, die sich bislang am Rand der Bühne aufgehalten hatte. Sie führt ein Mikrophon, ein Stativ und eine Flasche Mineralwasser mit sich. Sie richtet sich mittig links auf der Rampe Mikrophon und Stativ ein und beginnt, zum Publikum zu sprechen: »Hello, Hi, my name is Terry and I’m... um... going to do the talking bit of tonight’s performance... I’ll be talking you through the story of mankind and... the rest of us... here, as you probably already gathered, the rest of us will be physically bringing the story to life.« Erst jetzt, nach einer knappen halben Stunde gemeinsam verbrachter Aufführungszeit, beginnt damit eine sinnvolle dramaturgische Integration des Bühnengeschehens für die Zuschauerin möglich zu werden. Zumindest die vorangegangenen ›Volcano Scene‹ wird nun erklärbar, als Teil einer pantomimisch bebilderten Erzählung der Menschheitsgeschichte, die Sprecherin Terry ankündigt. Insofern gelingt es dem Publikum erst zu diesem Zeitpunkt, sich gewissermaßen mit der Aufführungszeit zu synchronisieren. Spürbar wird damit in The World in Pictures, dass ein Gefühl des ›Sinn-Machens‹ und der Eindruck von Präsenz bzw. Gleichzeitigkeit ei-
17 Darüber hinaus können all jene Publikums-Teilnehmer, die den Film One Million Years BC nicht kennen, also vermutlich die allermeisten, da es sich dabei um ein nicht besonders bekanntes B-Movie aus den sechziger Jahren handelt, auch keine sinnvolle Beurteilung der ›mangelnden Qualität‹ der ›Volcano Scene‹ leisten: könnte diese doch sowohl einer unbeholfenen Darstellung durch Forced Entertainment wie der filmischen Vorlage zugeschrieben werden.
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nander wechselseitig bedingen: Während Jerrys fesselnder Erzählung kann das Publikum problemlos folgen, der Monolog macht (in sich) Sinn; während der schwer einzuordnenden ›Volcano Scene‹ hingegen scheint die Aufführung der Wahrnehmung ihres Publikums in manchen Momenten einen Schritt vorauszueilen, in anderen wirkt es, als hinke sie möglichen Erwartungen hinterher. Die Produktion von Sinn in der Aufführungssituation erweist sich insofern als eng mit der Produktion von Gleichzeitigkeit bzw. Präsenz verbunden. 18 Es lässt sich also resümieren, dass sowohl Bloody Mess als auch The World in Pictures das Setzen und die Wahrnehmung einer klaren Anfangs-Klammer für ihre Aufführungssituationen intensiv betonen. Der Lichtwechsel nach Einlass hätte in beiden Fällen theoretisch genügt, eine klare Abgrenzung des Aufführungsgeschehens herzustellen; doch die als übereifrig inszenierten Darsteller-Figuren liefern immer neue Anfangssignale – sie überdeterminieren die Anfangs-Klammer der Aufführungssituationen, die daher in ihrer klammernden Funktion gestört, und mit Redundanzen und Ambivalenzen versehen wird. Auf diese Weise wird das u.a. von Erving Goffman beschriebene mögliche Klammern-Paradox betont.19 Je intensiver beteuert wird, dass gleich ein Anfang gemacht würde, desto mehr wird dadurch die paradoxe Phase der Klammerung ausgeweitet, und umso ferner rückt ein ›tatsächlicher‹ Anfang. Jedes neue Ansetzen scheint ein weiteres nach sich zu ziehen, als wären die Aufführungen in sich verschachtelt; ihre Anfangs-Klammern werden auf diese Weise selbstreferenziell. Die soziale Praxis des Anfangens, des SzenenSetzen, die gemeinsame Anstrengung in der Herstellung einer Aufführung werden hervorgehoben und ästhetisch erlebbar. b) Geschichtete Fülle, große Stille (Bloody Mess) Die Aufführung Bloody Mess tritt mit der nach Claires Monolog einsetzenden Erzählung vom »beginning of the world« durch Clown John in eine Phase ein, die sich, wenn auch nur vage, von der Aneinanderreihung zögerlicher Anfänge abgrenzen lässt: Nun scheinen sich immer neue Szenen gleichzeitig darzubieten und zueinander parallel verlaufende Handlungsstränge herauszubilden. Der Eindruck eines organischen Sich-Ablösens und Auseinander-Hervorgehens immer neuer Phasen der Aufführung bleibt von diesem Moment bestehen, bis die Aufführung schließlich in eine Sequenz unwilligen Endens übergeht. Insgesamt scheinen nun, gleichsam in der Mitte der Aufführung, alternative szenische Einheiten zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten zu beginnen und zu enden, so dass die Zuschauerin keine klare Se18 Zum Begriff der Präsenz und ihrer Herstellung vgl. Gumbrecht 2005. 19 Klammernde Zeichen oder Markierungen gehören »weder zum eigentlichen Inhalt der Tätigkeit noch zur Welt außerhalb, sondern sowohl zum Innen wie zum Außen« (Goffman 1989: 279).
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quenz aus Szenen mehr wahrnehmen kann; die temporale Struktur wirkt nun wie dachziegelartig geschichtet, statt klarer szenischer Einheiten scheint die Aufführung eine Komposition sich abwechselnder Intensitäten und Atmosphären vorzuführen. Ich möchte im Folgenden drei exemplarische Darstellungs-Praktiken aufzeigen, die den Eindruck einer ›geschichteten Mitte‹ der Aufführungen zu Bloody Mess ermöglichen; sie sind mit den Schlagwörtern ›Freundliche Übernahmen‹, ›Lichtspiele‹ und ›Fallhöhen‹ betitelt. Freundliche Übernahmen Auch wenn es vielleicht so scheint, als würden in der Mitte von Bloody Mess ständig mehrere Handlungsstränge parallel ablaufen, ist doch jeweils eine klare Fokussierung auf ein zentrales Geschehen angelegt; auf diese Weise lassen sich weiterhin einzelne Sequenzen wahrnehmen, auch wenn diese mit weichen Übergängen auseinander hervorzugehen scheinen. Grundlage solch mäandernder, organisch wirkender Dramaturgie ist die vorgeführte gutwillige Konkurrenz der Darsteller-Figuren um die Aufmerksamkeit des Publikums. Immer wieder treten Figuren aus dem Geschehen hervor und ›übernehmen‹ die Szene, um darauf von den übrigen Figuren wieder in den Hintergrund gedrängt zu werden. Illustrieren lässt sich diese Beobachtung anhand des Übergangs von Clown Johns ›Beginning of the world‹ Erzählung zu Figur Cathys ›Crying 1x1‹ und der darauf folgenden Cry Baby Sequenz.20 Clown Johns »story of the beginning of the world« wird durch unterstützende Handlungen seiner Darstellerkollegen sukzessive okkupiert: Figur Terry versorgt den Erzähler ungefragt mit Wasser und Bier, zwei Roady-Figuren tragen technisches Equipment herbei, und bedienen ebenso begeistert wie unnötig eine Nebelmaschine, zwei weitere Darsteller illustrieren mit silbernen Pappsternen Johns Thematisierung des Weltalls, usw. Die Bühne wird gewissermaßen nach und nach ›gekapert‹, bis sich die Szene in einem wilden Gewirr aufzulösen beginnt; die Roady-Figuren legen schließlich laute Rockmusik auf (Hawkwinds Silver Machine), woraufhin die Szene in einen kollektiven Tanz übergeht. Sobald der Song zu Ende gegangen ist, ziehen sich die anscheinend vom Tanz ermüdeten Darsteller in den Randbereich der Bühne zurück. Auf diesen Moment scheint Figur Cathy gewartet zu haben, um nun ihrerseits eine Nummer darzubieten: Sie tritt in die Mitte der Bühne und erklärt dem Publikum zunächst die identifikatorische Wirkung einer zu folgenden Sterbeszene, die Ströme von Tränen produzieren soll. Dann legt sie sich zu Boden, um die angekündigte
20 Die unter Kapitel VII. beigefügten Szenare der Inszenierungen bieten einen Überblick über die gesamte szenische Abfolge, die in den Aufführungen gezeigt wird.
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Szene zu verwirklichen; auch hier schalten sich nach und nach die EnsembleKollegen ein und ›helfen mit‹; Cathy erklärt schließlich wütend, die Sterbeszene verpatzt zu haben, und verlässt das Zentrum der Bühne. Darauf übernimmt die als Cheerleader eingeführte Figur Wendy die Szene, indem sie ›spontan‹ einspringt: Sie beginnt einen Workshop zu Theatertränen abzuhalten; dieser muss, kaum begonnen, aber schon wieder den Fokus der Aufmerksamkeit abtreten, da unter den beiden Clowns eine Prügelei ausbricht, worauf sich Wendy kurzerhand von der Workshopleiterin in eine Ringkampf-Kommentatorin verwandelt. Nachdem sich in Bloody Mess ein ums andere Mal verschiedene Darsteller-Figuren ›in den Vordergrund spielen‹ entwickeln sich für die Zuschauer spielerisch emergierend unerwartete Szenen; der Sinn einer Szene verwandelt sich nach und nach in einen ganz anderen, ein neues Spiel wird etabliert usw. Die Aufführung wirkt daher wie ein zukunftsoffener Spielraum, sie ›erspielt‹ Präsenz. Dennoch macht die Darstellungspraxis Forced Entertainments zugleich immer deutlich, dass es sich bei der behaupteten Echtzeit, in der die Darsteller-Figuren um die Gunst des Publikums konkurrieren, um gut vorbereitete Inszenierung handelt: Zum Beispiel erlaubt gerade das so organisch wirkende ›Übernehmen‹ von Szenen das Vorführen gescheiterter Übernahmen, z.B. in Form kleiner Beschämungen und schnell wieder geretteter Rahmenbrüche. Die Inszenierung lenkt auf diese Weise die Aufmerksamkeit ihres Publikums auf die grundsätzlichen Spielregeln von Aufführungs-Praxis, z.B. auf die sozialen Grundbedingungen des Szenensetzens und erinnert auf diese Weise daran, dass gut funktionierende Abläufe sorgfältiger Inszenierung bedürfen. Die Darstellungs-Praxis der ›freundlichen Übernahmen‹ inszeniert insofern authentische Präsenz, theatrale Gleichzeitigkeit und verweist zugleich auf deren Produktionsbedingungen. Lichtspiele Die Fokussierung auf Präsenz und ihre Produktionsbedingungen wird in Bloody Mess’ Mitte darüber hinaus durch das Lichtkonzept der Inszenierung unterstützt: Während der oben beschriebenen Abfolge alternativer Anfangsszenen werden szenische Übergange jeweils mit sanften, doch eindeutigen Lichtwechseln begleitet. Ab der »story of the beginning of the world« geschehen hingegen um jeweilige neue Fokussierungen der Bühnenhandlung(en) herum jeweils mehrere Lichtwechsel in direkter Abfolge, zumeist äußerst auffälliger, stark farbiger Art: Während des Übergangs von der ›Beginning of the world‹ Sequenz zum nachfolgenden ›Crying 1x1‹ Szene fahren vier verschiedene Lichtstimmungen innerhalb von nur etwa fünf Minuten ein. Dies bewirkt ein deutliches farbiges Changieren, intensiv reflektiert von auf der Bühne verteilten weißen Nebelwolken, die vom tollkühnen Einsatz einer Nebelmaschine in der vorangegangenen
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Sequenz herrühren. Auf diese Weise justiert sich die auf der Bühne herrschenden Atmosphäre ständig neu: Dramatisches Rot wird langsam eingetauscht gegen kühles Blau, das sich wiederum mit dunkleren Rottönen in ein bedrohliches Violett wandelt. Schließlich fährt eine nur gemächlich sich aufbauende Lichtstimmung in zunächst heimeligem, dann grellem Orange ein. Das Spiel auf der Klaviatur der Theaterbeleuchtung wird in seiner optischen Bewegtheit gesteigert durch die Tatsache, dass sich der reflektierende Bühnennebel langsam nach oben in den Schnürboden verzieht; er füllt den Bühnenraum also in sekündlich wechselnder Dichte aus.21 Die Inszenierung nutzt also die dem Theater gebotene Lichttechnik im Mittelteil von Bloody Mess zum spielerischen Verwischen szenischer Übergänge: Neue Atmosphären wirken nicht mehr wie souverän gesetzt, sondern eher als würden sie organisch, wie zufällig entstehen. Stimmige Momente scheinen ›einfach so‹ zu passieren. Zur spielerisch komplexen Lichtdramaturgie tragen während der Aufführungen auch einige wenige Scheinwerfer bei, die direkt auf der Bühne manipuliert werden und deren Bedienung zumeist die Roady-Figuren übernehmen, wobei sie sich zum Teil slapstickhaft ungeschickt anstellen (z.B. wenn sie ein blitzendes Stroboskop ins Publikum halten). Auf diese Weise erinnern die ›Roadys‹ daran, dass der Einsatz von Lichttechnik im Theater normalerweise durch im verborgenen agierende Techniker ermöglicht wird, dass sicher aufgehängte Scheinwerfer und komplexe Computersteuerung, größte Genauigkeit im Ablauf und intensive Vorbereitung nötig sind. Zwar kann die Zuschauerin sich also auch im Zusammenhang mit der Lichtdramaturgie in Bloody Mess des überwältigenden Eindrucks einer träumerischen Authentizität und ›Liveness‹ der Aufführung kaum erwehren, doch bringt auch hier die Inszenierung im Agieren der Roady-Figuren zugleich die technischen Rahmenbedingungen solcher Präsenz-Produktion gewitzt vor Augen. Fallhöhen Als dritte Darstellungs-Praxis, die die Zeitstruktur in Bloody Mess’ Mitte mitbestimmt, möchte ich schließlich die Herstellung von Fallhöhen zwischen Phasen besonders dichter Bühnenhandlung und solchen der Stille und des minimalistischen Gestus nennen. Beispielhaft möchte ich weiter Cathys ›Crying 1x1‹ Szene sowie die darauf folgende Cry Baby Sequenz besprechen, wobei ich die Inhalte beider Sequenzen nun etwas detaillierter beschreibe. Die Bloody Mess Figuren haben die Geschichte vom Beginn der Welt mit einem wilden Tanz beendet. Nun ziehen sie sich, offenbar ermüdet, an den Rand der Bühne zurück und lassen sich dort nieder, während sich der zuvor verteilte dich21 Siehe zu diesem Thema ausführlicher Unterpunkt III.3.
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te Trockeneisnebel langsam verflüchtigt und sich die Bühne in abwechselnden Lichtstimmungen färbt. Nach einigen Momenten wird Darsteller-Figur Cathy in der Mitte der Bühne sichtbar, sie tritt förmlich aus dem Nebel hervor. Sie hat ein rotes Tuch wie eine Tunika um sich gewickelt und trägt dick aufgetragene rote Schminke auf Mund und Wangen. Cathy wendet sich an das Publikum und erklärt, dass ihr gleich folgender tragischer Bühnentod eine unvergessliche theatrale Erfahrung für alle Anwesenden werden würde. Während ihrer Ausführungen nimmt Cathy eine mittige, liegende Position ein. Wie zufällig stehen links und rechts von dieser Position zwei Lichtorgeln, die in der vorangegangenen Sequenz auf die Bühne gelangt sind. Im Liegen auf einen Ellenbogen gestützt, erklärt Cathy ihren Zuschauern ausführlich, dass diese sich mit ihrem, Cathys, Bühnentod identifizieren würden und darauf bis zum Ende aller Zeiten weinen müssten. Unterdessen scheinen jetzt einige der übrigen Darsteller die Chance zu wittern, in der sich anbahnenden Szene mitzuwirken: Darstellerin Terry beginnt im Hintergrund eine Art Choreographie aufzubauen, die Cathys Thematisierung des Weinens illustriert: Terry gießt sich Mineralwasser aus einer Flasche in die Hand, dann schlägt sie sich mit dieser Hand abwechselnd auf die rechte und die linke Wange. Nach einigen Minuten wird Cathys Monolog weiterhin durch die beiden Roady-Figuren am Musikpult mit süßlicher filmischer Musik unterlegt. Zwar sind aus dem Randbereich der Bühne mehrfach kleine ›Störungen‹ hörbar, z.B. eine Clownshupe, doch werden diese im Verlauf der Szene immer weniger. Auch das rhythmische Klatschen, das durch Terrys ›Mineralwasser-Choreographie‹ produziert wird, verstummt allmählich, nun führt Terry tonlos sanfte Tanzbewegungen vor. Schließlich gesellen sich die Figuren Davis und Jerry assistierend zu Terrys Tanz und schwenken silbern umwickelte Pappsterne. Den letzten Teil ihres Monologs kann Cathy in relativer Stille halten. Trotz der verschiedenen kleineren Handlungen neben Cathys Monolog bleibt die Szene, vor allem im Vergleich mit dem Geschehen der vorangegangenen ›Beginning of the World‹ Sequenz, relativ ruhig; Nebenhandlungen werden hier eher zurückgenommen als gesteigert. Mehr noch, die Szene erhält einen fesselnden und meditativen Charakter, sie bietet der Zuschauerin die Möglichkeit, für einige Momente ganz und gar auf den Monolog Cathys zu fokussieren. Motor dieser unerwarteten Konzentration des Geschehens sind mehrere repetitive Strukturen: Neben den die Szene aus dem Hintergrund untermalenden Musikeinspielungen produziert Terrys Mineralwasser-für-Tränen-Vergießen rhythmisch klatschende Geräusche. Cathys Monolog nutzt zudem immer wieder ähnliche Formulierungen (»You will cry when you leave the theatre, you will cry on your way home, you will cry all through the night...«). Auch auf diese Weise entsteht ein eingängiger Rhythmus, die
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Rede wird klanglich strukturiert.22 Schließlich ›kittet‹ die filmische Musikeinspielung die Szene, optisch spiegeln die beiden Lichtorgeln, die sich links und rechts von Cathy auf der Bühne befinden, die Rhythmisierung der Sequenz. Auch die später hinzukommenden Tanzbewegungen Terrys, Jerrys und Davis’ fügen sich in die meditative Strukturierung der Szene.23 Die ›Crying 1x1‹ Sequenz hat eine ruhevolle und nachdenkliche Stimmung aufgebaut, wenn Cathy sich schließlich ausstreckt, um nach langer Ankündigung ihren Bühnen-Tod zu spielen. Die im Hintergrund platzierten Roady-Figuren drehen die filmische Musik laut. Für einen Moment liegt Cathy still da, um plötzlich laut fluchend wieder aufzufahren und dem Publikum mitzuteilen, sie habe den großen Moment mit ihrem schlechten Timing ruiniert. Verlegen lachend, sich entschuldigend und abwinkend flüchtet Cathy an den Rand der Bühne. Cheerleader-Darstellerin Wendy scheint die Szene nach diesem ›plötzlichen Eklat‹ retten zu wollen: Sie eilt in die Mitte der Bühne und ruft, sie wolle dem Publikum einen kleinen Workshop anbieten, um endlich zu den versprochenen Tränen zu gelangen. Auch einige der übrigen Darsteller ›eilen zur Hilfe‹: Die beiden Roady-Figuren versorgen Wendy mit einem Mikrophon und legen eine neue CD auf. Die beiden Clowns beginnen unterdessen wieder, wie zum frühesten Anfang des Abends, um Stühle zu rangeln, während Terry, unterstützt durch die Star-Darsteller Jerry und Davis, die kleine Choreographie aus der vorangegangenen Szene zu einer Art Burlesque-Vorführung weiterentwickelt. Aus dem Spiel der Clowns um die Stühle ergibt sich ein wüster Ringkampf, Wendy geht darauf von ihrem Agieren als Workshop-Leiterin dazu über, diesen Kampf anzufeuern und zu kommentieren. Die Burlesque Terrys und der inzwischen nackten Darsteller Jerry und Davis gerät unterdessen zum absurd komischen Ballet, das den Ringkampf umtanzt. Die Roady-Figuren schließlich ›reagieren‹ auf diese Steigerung des energetischen Outputs, indem sie Janis Joplins Punksong Cry Baby einspielen. ›Der Gorilla‹ (Darstellerin Claire im Ganzkörperkostüm) beginnt nun, dem Publikum Kleenex und Bonbons zuzuwerfen, um sie schließlich sogar in einer Runde durch den Zuschauerraum zu verteilen. Das Ende der Jop-
22 Zu Aufzählungs-Strukturen in der Sprache der untersuchten Inszenierungen vgl. auch Unterpunkt IV.3. 23 Die Ankündigung der Figur Cathy hebt in der besprochenen Sequenz darüber hinaus nicht nur den angekündigten Traurigkeits-Effekt auf, sondern sie macht sich gleichzeitig auch noch über das impression management der Aufführung lustig, indem das antizipierte Publikum der Inszenierung bloßgelegt wird. Diese Darstellungstechnik wird der vorliegenden Arbeit dezidiert beschrieben im Kapitel V.3. Dramaturgie der ›negativen Erfahrung‹.
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lin-Einspielung fällt mit dem Ende des Ringkampfes der Clowns zusammen, die offenbar zu erschöpft sind, um weiterzumachen. Wendy zieht sich augenblicklich an den Rand der Bühne zurück, auch die Choreographie von Jerry, Terry und Davis kommt zu einem Ende, so dass plötzlich Stille eintritt.24 Die beschriebenen Versatzstücke, die nach der ›Crying 1x1‹ Szene auf die Bühne gelangen, und schließlich die Cry Baby Sequenz formen, scheinen zunächst alle für sich den Zweck zu verfolgen, die ›Show retten zu wollen‹. Sie fügen sich dann aber zu einer neuen, diesmal ereignisreichen, komplex wirkenden Szene mit äußerst energetischen Qualitäten zusammen, halb Schaukampf, halb Stripteasevorführung. Im Wechsel von der so kontemplativen ›Crying 1x1‹ Sequenz zur Cry Baby Szenerie verändert sich die Atmosphäre der Aufführung innerhalb kürzester Zeit förmlich in ihr Gegenteil. Dasselbe gilt auch im folgenden Verlauf der Aufführung Bloody Mess, z.B. für den Übergang von der energetischen Cry Baby Phase zu der darauf folgenden, viel ruhigeren ›Silences‹ Sequenz. Die so unterschiedlichen Atmosphären der Sequenzen erfahren in ihrer direkten Folge eine Gegenüberstellung; dabei unterstreicht die produzierte Fallhöhe die entstehende Differenz im Zeiterleben, das die einzelnen Sequenzen ihrer Zuschauerin ermöglichen. Der rhythmisch getaktete, kontemplativ aufgeräumte Zeitraum während der ›Crying 1x1‹ Phase lässt die chaotische Fülle während Cry Baby erst als solche auffällig werden und umgekehrt. ›Freundliche Übernahmen‹, ›Lichtspiele‹ und ›Fallhöhen‹ führen also dazu, dass die Mitte der Aufführung Bloody Mess für ihre Zuschauerin nicht wie eine Folge klar voneinander absetzbarer Szenen wirkt; vielmehr lassen sich die beschriebenen Sequenzen eher je nachträglich nach der Logik von Figur-Grund-Unterscheidungen differenzieren. Bis zu einem gewissen Grad ist die Inszeniertheit des AufführungsGeschehens damit dissimuliert, es entsteht der Eindruck einer organischen Entwicklung. Die Zeit in der Mitte von Bloody Mess behauptet sich insofern als eine zukunftsoffene Live-Gegenwart: Die Erzählszene ›Beginning of the world‹ scheint sich wirklich und begründet in allgemeiner Erschöpfung zu verlaufen, während sich aus ihr die darauf folgende ›Crying 1x1‹ Szene anscheinend ›einfach so ergibt‹, etc. Für das Zeitempfinden der Zuschauerin während der Aufführungen bedeutet dies, dass Gegenwart betont und verdichtet wird: wahrhafte Gegenwärtigkeit scheint
24 Zum Ende des Joplin-Songs wirkt der Bruch vom lauten, sich steigernden Geschehen zu dessen plötzlichen Ende so stark punktierend, dass endlich eine »ordentliche« szenische Klammerung erreicht scheint; dieser (im Kontext der bisherigen Aufführung gänzlich unverhofft strukturierende) Effekt wirkt in seiner perfekt orchestrierten ironischen Zufälligkeit so witzig, dass das Publikum in der durch mich dokumentierten Aufführung vom 29.02.2008 sich dazu veranlasst fühlte, einen intensiven Szenenapplaus zu vergeben.
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immer wieder gegeben. Zugleich lenkt die Inszenierung die Aufmerksamkeit ihres Publikums aber immer auch auf die Grundlagen solcher Präsenz-Produktion, entlarvt die eigene illusorische Praxis genüsslich. Der Zuschauerin wird also nicht nur ermöglicht, das eigene Bedürfnis nach Präsenzillusion zu befriedigen, sondern auch, dieselbe zu hinterfragen. c) Das musikalische Innen der World in Pictures Wie es schon in Bloody Mess zu beobachten war, reihen sich auch in The World in Pictures verschiedene Anfänge aneinander, auch dort schachteln sie sich wie die Hüllen einer russischen Puppe und umschließen einen Mittelteil, dessen innere Klammerung seltsam unscharf wirkt. Anders als bei Bloody Mess ist dieser weich strukturierte innere Kern der Aufführung allerdings gegenüber den äußeren Sequenzen der Aufführung klar abgrenzbar, da das ›Innere‹ in The World in Pictures durch die Erzählung der »history of mankind« begleitet wird, die einen erklärten Beginn (s.o.) und ein klares Ende besitzt; dieser Umstand wird für die Zuschauerin aber, wie oben beschrieben, erst ex post begreifbar gemacht. Die Erzählung der »history of mankind« liefert weiterhin innere Klammern für die Aufführung, indem sie inhaltlich von Epoche zu Epoche führt; z.B. wird zunächst die Frühzeit der Menschheit erzählt, später wird das Mittelalter thematisiert, noch später folgen eine Erzählung der frühen Neuzeit, des zwanzigsten und des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Bei dieser Tour de Force durch die Geschichte kommen zwei als disparat sich behauptende Zeichensysteme zu Einsatz: die sprachliche Erzählung Terrys (»the talking bit«) und die Pantomime des übrigen Ensembles. Die abwechselnde Konvergenz und Divergenz beider Ebenen der Darstellung strukturiert das ›Innere‹ der Aufführung The World in Pictures auf gleichsam musikalische Weise, welche ich im Folgenden kurz unter den Schlagwörtern ›Synkopen‹ und ›Crescendos‹ herausarbeiten möchte. Schließlich unterbricht ein zweiter Monolog der Figur Jerry die Erzählung der Menschheitsgeschichte und unterteilt diese, wie eine Pause im Konzert, in zwei Hälften. Synkopen Die einzelnen Darsteller-Figuren des Bebilderungsensembles, ebenso Erzählerin Terry, scheinen unterschiedliche Vorstellungen darüber mitgebracht zu haben, welche Momente in der großen Erzählung einer tiefergreifenden Darstellung bedürfen, welchen Stil die Darstellung bieten und in welchem Tempo sie ablaufen sollte. Dies führt zu zahlreichen Divergenzen zwischen der sprachlich vollführten Erzählung und ihren pantomimischen Bebilderungen.
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Wohl prägnantestes Beispiel einer solch ›eigensinnigen Ansicht bietet Darsteller Richard, der mit seinem penetranten Insistieren auf plumpe sexuelle Thematiken seine Kollegen genauso zu irritieren scheint wie das anwesende Publikum, z.B. wenn er die Fruchtbarkeitstänze, die seiner Meinung nach in der Steinzeit vorkamen, vorzeigt oder als viriler Frühmensch Darstellerin Claire hinterherjagt. Ein weiteres Beispiel kann die Figur der Darstellerin Wendy abgeben, die während der Erzählung der Frühen Neuzeit einen übermäßig intensiven Bühnentod spielt. Anscheinend erfreut über den Erfolg dieser Vorführung, exerziert Wendy in den darauf folgenden Minuten immer wieder neue Bühnentode, ungeachtet des ›störenden‹ Effektes, den sie damit auf den glatten Verlauf der Erzählung und Bebilderung der »history of mankind« ausübt. Wie die hier beispielhaft angeführten Figuren Richard und Wendy scheinen alle Mitglieder des Ensembles immer wieder die Bühne nach Aufmerksamkeit heischend zu übernehmen, und dabei gegen die Logik der Erzählung der Menschheitsgeschichte (sowie gegen die pantomimischen Darstellungen der übrigen Kollegen) zu konkurrieren. Sie entwickeln so immer wieder kleine, quasi parallel oder entgegengesetzt laufende Aufführungen, die die (angebliche) Haupthandlung stören. Sie wirken damit zunächst als Unterbrechungen im linearen Ablauf der Narration und entlarven dessen Linearität als brüchige Konstruktion. Andererseits aber zeigen die zahlreichen kleinen Eigenwilligkeiten und Nebenhandlungen immer wieder für kurze Momente das Potential, die Eigenzeit der Erzählung zu steigern, indem wie zufällig umso wirkungsvollere Bilder entstehen: Ein hochgradig stimmiges Bild entsteht zum Beispiel, wenn Sprecherin Terry nach ihrer Schilderung der Antike fragt, ob sie etwas vergessen habe. Der wie manisch nackt umher marodierende, mit Plastikfrüchten bekränzte Richard, der gerade noch dabei war, einen römischen Bacchus darzustellen, breitet stehend die Arme aus und lässt seinen Kopf auf die Schulter sinken. Plötzlich ruft er so, hervorragend erkennbar, das Bild des gekreuzigten Jesus in Erinnerung, blasphemisch und doch brüllend komisch. Mitten in der so improvisiert und brüchig wirkenden Erzählung wird auf diese Weise für die Zuschauerin der Reichtum eigenen Geschichtswissens aufgerufen, die Erzählung und ihre Bebilderung wirken für einen Moment unverhofft synchron und stimmig. Ähnliches geschieht in jeder szenischen Sequenz, in jeder erzählen Epoche, z.B. wenn während der Schilderung der Ausrottung der indigenen Bevölkerung Amerikas die zugleich im Hintergrund ausagierten Bühnentode Wendys eine Bebilderung produzieren, die zu unerwarteter Beklemmung und theatralem Schauder gereicht. Die abwechselnde Vorführung von Divergenz und Konvergenz der erzählten »history of mankind« und ihrer pantomimischen Illustration erlaubt also die Inszenie-
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rung von wie zufällig wirkenden Momenten des stimmigen Zusammentreffens. Es entstehen wie aus dem Nichts Momente ästhetischer Strahlkraft, während sich die Bühnenhandlung Sekunden später wieder im Chaos widersprüchlicher individueller Darstellungsversuche zu verlaufen scheint. Das durch die epochale Ordnung der Erzählung der »history of mankind« vorstrukturierte Innere der Aufführung The World in Pictures wirkt in diesem Hin und Her rhythmisch synkopiert. (De)Crescendos Neben solch synkopischem Hin und Her bietet die Inszenierung jeweils zum Schluss einer erzählten und bebilderten Epoche einen Moment darstellerischer Klimax. Im gesprochenen Text der Inszenierung werden solche Phasen meist explizit als »dance« adressiert, z.B. indem Sprecherin Terry das Agieren ihrer Kollegen als »dance of early men«, »dance of death« o.ä. bezeichnet; im Folgenden möchte ich ein Beispiel beschreiben: Sprecherin Terry scheint vom ausufernden pantomimischen Bühnengeschehen während ihrer Schilderung des Niedergangs des römischen Reiches genug zu haben und kündigt an, dass diese Sektion nun mit einem großen Crescendo geschlossen werde, dem »dance of early men«; einige der pantomimischen Kollegen kommen dieser Aufforderung nach, wobei eine immer aufs neue abgespielte pathetische Filmmusik den passenden Hintergrund für ihr nun exzessives theatralisches Gehabe liefert. Die als äußerst eifrig inszenierte Figur Bruno zappelt sich dabei regelrecht in Rage. Allerdings endet die Filmmusik zu einem Moment, in dem Brunos Tanz noch ungebremst energetisch vorgeführt wird; wie um einen peinlichen Moment unpassender Stille zu überbrücken, stößt Bruno einen energetischen Urschrei aus und kommt zu einem erschöpften Halt. Er erzielt damit, trotz offenbar schlechten Timings, einen punktierenden Effekt. Erzählerin Terry scheint von dieser Vorstellung beeindruckt und fordert: »Keep going Bruno... Give it to us one more time Bruno«, worauf sich tatsächlich Figur Bruno und einige Kollegen, nun ohne musikalische Untermalung, zu einer Wiederholung des Tanzes, inklusive Urschrei aufschwingen. Während des geschilderten ersten Crescendos der Bühnenhandlung scheinen zunächst alle Darsteller und die Erzählerin für Momente mitgerissen vom Bühnengeschehen und produzieren in ihrem Eifer – wie zufällig – einen punktierenden, klammernden Effekt; später scheinen die Darsteller, allen voran Erzählerin Terry, begeistert von der erzielten Wirkung, und beginnen auf ›ungeschickte‹ Weise die Produktion solcher Momente immer wieder aufs Neue anzustreben. Darstellerisches Scheitern wie auch Momente eines ›zufälligen‹ Glückens werden so immer wieder Thema der Aufführung; darstellerische Präsenz wird ›erspielt‹ und zugleich in ihrer Produktion entlarvt.
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Neben solch tänzerisch anmutender Überfrachtung von Szenenübergängen mit körperlichen und bewegungstechnischem Output, und der zugleich bewerkstelligten lautstarken Überbetonung klammernder Momente der Darstellung, lassen sich Decrescendos der Bühnenhandlung beschreiben, die meist durch das Sprechen von Erzählerin Terrys strukturiert werden; im Gegensatz zu den hoch energetischen tänzerischen Crescendos wirken solche Momente eher meditativ, wie lyrische Sprechgesänge. Terry ergeht sich im Verlauf ihrer Erzählung der »history of mankind« mehrfach in langen Aufzählungen, anscheinend getragen bzw. getrieben von der rhythmischen Eigengesetzlichkeit des verwendeten Sprachmaterials. In solchen Momenten wiederholt sie, in monotonem Duktus gleich oder ähnlich lautende Formulierungen. So heißt es in der Schilderung des frühen Mittelalters, der »dark ages« beispielsweise:25 »It’s the time of forgetting, its the dark ages, its things leaving the story, its languages leaving the story, its mythology leaving the story« usw. Terrys derart gleichbleibend strukturiertes sprachliches Decrescendo dauert etwa drei Minuten und wird begleitet von einem langsamen Herunterdimmen der Scheinwerfer, sowie von einem Rückzug der Darstellerkollegen an den Rand der Bühne, bis sich schließlich ein vollkommen düsterer, stiller Moment präsentiert. Während also Crescendos des Bühnengeschehens die Geschwindigkeit und Dichte der Aufführung in der Wahrnehmung ihrer Zuschauerin intensivieren, bremsen an anderer Stelle Decrescendos und produzieren meditativ-melancholische Stimmungen. Auf dieser Weise entsteht in The World in Pictures, ebenso wie es oben für Bloody Mess umschrieben werden konnte, ein Wechsel zwischen unterschiedlichen Intensitäten. Der zeitliche Ablauf der Aufführung wird so als sequenzielle Abfolge wahrnehmbar, da sich unterschiedliche Intensitäten aneinanderreihen. Da beide Darstellungsweisen sich aber durch ihre Prozessualität auszeichnen, also langsame Steigerung, bzw. sukzessives Entschleunigen zur Aufführung gelangen, entstehen dabei dennoch keine deutlich begrenzten Szenen; vielmehr scheint die Aufführung sich jeweils organisch fortzuentwickeln. Sowohl De- wie auch Crescendos des Bühnenoutputs bewerkstelligen zugleich eine Überfrachtung und damit eine intensive Betonung der Performativität der Darstellung, da beide Darstellungs-Praktiken das Bühnengeschehen in seiner spezifischen Materialität und in seiner sozialen Gesetztheit spürbar werden lassen, z.B. wenn die konkrete körperliche Anstrengung von Darstellern während der Tänze bemerkbar wird oder indem Terrys entschleunigendes Sprechen auf die rhythmische Eigendynamik von Sprachmaterial verweist. Die Mitte der World in Pictures präsentiert sich auf diese Weise als komplexes, or-
25 Vgl. Forced Entertainment 2006, etwa ab 00.48.
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ganisches Ganzes, Präsenz wird zugleich produziert und in ihrer Konstruktivität entlarvt. Pause Nach dem eben beschriebenen Decrescendo der ›Dark Ages‹ Sequenz entsteht ein sehr stiller und dunkler Moment auf der Bühne der World in Pictures: Einzige Lichtquellen sind nun ein TV-Bildschirm rechts auf der Bühne und einige Heizöfen links vorne. Die Darsteller-Figuren sitzen größtenteils ruhig am Bühnenrand. Einzig Figur Jerry steht hinter einigem technischen Equipment platziert, mittig auf der Bühne, ist allerdings ebenfalls optisch kaum auszumachen. Jerry bedient ein an den Fernseher angeschlossenes Laptop: Per Tastendruck lässt er immer wieder neue Fotos auf dem Fernsehschirm erscheinen, der dem Zuschauerraum zugewandt steht. Dies produziert jeweils ein enervierend quiekendes Computergeräusch. Die Bilder zeigen Landschaften, leere Räume und Gegenstände, die anscheinend keinen Zusammenhang miteinander aufweisen. Nach einigen dieser Bilderwechsel beginnt Jerry, die Fotos mit leiser Stimme zu kommentieren: »That is a room in a hotel you might have stayed in.... This is a summer afternoon.« Für einige Minuten geht dies so weiter, schließlich aber lautet Jerrys Kommentar nur noch »Don’t know what that is... don’t know... don’t know«, um letztlich ganz zu verstummen. Nun tritt Sprecherin Terry wieder zu ihrem Mikrophon und fragt: »Can we have some lights, please?... And can we have the music for the next bit, please?« Etwa acht Minuten nach ihrer Unterbrechung beginnt darauf erneut die Erzählung der »history of mankind«. Nach einigen Momenten der Verwunderung kann die Zuschauerin mit Beginn dieses zweiten ›Jerry-Monologs‹ interpretieren, dass nun »the history of mankind« pausiert und die Geschichte aus dem ersten Monolog Jerrys wieder aufgegriffen wird; hatte diese doch damit geendet, dass die Zuschauer darum gebeten waren sich vorzustellen, wie sie vom Dach eines Hochhauses stürzen, während zahlreiche Bilder vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen. Offenbar sind also, so zeigt sich nach guten fünfzig Minuten Aufführungszeit, in Forced Entertainments The World in Pictures zwei Erzählungen miteinander collagiert: die große Erzählung von der Geschichte der Menschheit und Jerrys suggestive Erzählung von der imaginären Reise der Zuschauer, ihrem Dachsturz und Tod. Auf diese Weise werden auch zwei Erzählzeiten wahrnehmbar: Die gewissermaßen in sich geschlossene Erzählung der Menschheitsgeschichte, deren Grundzüge die Zuschauer kennen, die insofern keinen Platz für Unerwartetes bietet – und die nicht absehbare, damit zukunftsoffene Erzählzeit der ›Jerry-Monologe‹, die zugleich inhaltlich an die Vergangenheit ihrer Zuhörer, an deren Erinnerungen appellieren. Die
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Kontrastierung beider Erzählungen und damit auch beider Zeitqualitäten betont und verstärkt deren Differenz. Sie beleuchtet zugleich die Produktion unterschiedlicher Erzählzeiten in ihren Möglichkeitsumständen. d) Die Endlichkeit des Miteinanders Der Beginn beider Aufführungen konnte als eine Abfolge von Anfangssequenzen beschrieben werden; die inszenierte Eigensinnigkeit einzelner Darsteller-Figuren und der behauptete Übereifer des ganzen Figuren-Ensembles führte jeweils dazu, dass die Aufführung immer wieder neu anzusetzen schien; zusätzlich sorgte in The World in Pictures die für ihre Zuschauer zunächst kaum einzuordnende ›Volcano Scene‹ für einen momentanen Verlust des gemeinsamen ›Schritts‹ von Aufführung und Publikumswahrnehmung. In beiden Inszenierungen also scheint sich die Anfangsphase langsam und zögerlich an eine ›eigentliche‹ Aufführung anzupirschen. Der Schluss beider Aufführungen zeigt ein entsprechendes, immer wieder ansetzendes, unwillig erscheinendes Enden: Nachdem die Aufführung Bloody Mess etwa siebzig Minuten lang eine gleichsam organische Aneinanderreihung bzw. Aufschichtung revueartiger Nummern gezeigt hat, wiederholt sich Clown Johns anfängliche Erzählung (»the beginning of the world«) strukturell: die Figur Clown John nimmt ein weiteres Mal die Position auf der Bühne ein, die die Zuschauerin schon aus der ersten Erzählung kennt, und intoniert nun eine »story of the end of the world«. Nachdem Clown Johns Story zuvor scheinbar die ›eigentlichen‹ Aufführung, bzw. eine mittlere Phase der Aufführung eingeleitet hatte, kann die Zuschauerin sich ausmalen, dass die Aufführung nun in ihre Schlussphase eintritt. Doch wie schon während der ersten Erzählung, wird die Sequenz auch jetzt durch das okkupierende Mitspielen der übrigen Darsteller vielfach übernommen und korrumpiert: Anstatt auf ein klares Ende hinzuführen, fasert die Handlung sich damit erneut in viele parallele Szenen auf: Einzelne Darsteller-Figuren bringen sich immer wieder aufs neue in die Erzählung ein und eröffnen damit Nebenschauplätze, die von Johns »story« ablenken. Die Zuschauerin, die – ebenso wie die Figuren – nach inzwischen schon etwa zweistündiger Dauer des Theaterabends erste Ermüdungserscheinungen verspürt, wird an dieser Stelle eventuell (mehr oder minder erschrocken) an die lange Phase zurückdenken, die zu Beginn der Aufführung der »story of the beginning of the world« voranging, und sich fragen, ob nun eine ähnlich lange Abschlussphase folgen wird. Die strukturelle Wiederholung lässt auf diese Weise die in der Aufführungssituation und mit den übrigen Teilnehmern verbrachte Zeit wahrnehmbar wer-
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den: Es wird deutlich, dass im Verlauf der Aufführung ›erspieltes‹ Vorwissen, ja, gemeinsame Erinnerungen der Zuschauer existieren. Wenn schließlich durch die Roady-Figuren ein neues Lied, diesmal jaulender Post-Punk der Whitestripes, eingespielt wird, wirkt dies wie der Versuch, die vielen parallelen Handlungen aller Akteure unter dem Deckmantel der Lautstärke zu einen – und tatsächlich kulminiert das Geschehen, wie schon des Öfteren im Verlauf der Aufführung, kurzzeitig in einem wilden Tanz aller DarstellerFiguren. Nach der Anstrengung dieses Tanzes scheint sich das Bühnengeschehen schlichtweg zu ›verlaufen‹. Dem möchte offenbar Cheerleader Wendy entgegenwirken: Mit lauten Zurufen fordert sie von Clown John in zunehmend aggressiver Weise, die Aufführung mit einem beherzten Schlussstrich zu beenden (»Finish it off, John!«). Es entspinnt sich ein wechselseitiges rhythmisches Sprech- und Streitspiel zwischen den beiden Figuren. Mehr als die kraftlosen Worte »Thank you, Leeds, and goodnight!« bringt Clown John dabei aber nicht hervor, schließlich verweigert er, leise schluchzend, jedes weitere Wort. Die Darstellerkollegen scheinen daher verzweifelt ein alternatives Ende zu suchen: Während Clown Bruno eine »impression of the ending of the world« zum Besten gibt, brandet ein weiteres Mal ein verzweifelt müder Tanz auf, nach dem sich die Bühne wiederum leert: Die Figuren vollziehen endgültig einen scheinbar resignierten Rückzug an den Bühnenrand. Währenddessen ›entwickelt sich‹ eine melancholische Interviewszene zwischen Clown John und Roady Richard, untermalt von leisen Gitarrenklängen. Wie mehrfach in den beschriebenen Aufführungen (sowohl in Bloody Mess wie The World in Pictures) zu beobachten, erweisen sich die Darsteller-Figuren als uneins darüber, was exakt geschehen soll. Während die einen die Aufführung offenbar für beendet halten, scheinen andere noch nicht zufrieden. Es entstehen alternative Abschlussszenen. Auch das Setzen eines Endes wird damit als eine kollektive Praxis, als konkrete, materiell verwirklichte Anstrengung aller Beteiligten betont. Während des ›Interviews‹ streicht einzig Darsteller-Figur Cathy auf der Bühne umher; die Lichtstimmung hat sich in kühles Weiß gewandelt, was eine Atmosphäre lebendig werden lässt, wie sie in einem Nachtclub nach dem Anschalten des Deckenlichts um sechs Uhr morgens herrschen könnte. Wenn sich schließlich auch Roady Richard und Clown John an den Bühnenrand zurückziehen, scheint die Aufführung endgültig zu ihrem Abschluss gebracht. Doch als hätte sie diesen allerletzten Moment abgewartet, tritt Cathy an die Rampe und reißt damit förmlich das Ende des Stückes an sich: In einem kurzen Monolog thematisiert sie das Erlöschen der Bühnenlichter, während diese tatsächlich nach und nach einzeln abgeschaltet werden. Erst nach diesem gewissermaßen verzögerten
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Black ist die Aufführung ›tatsächlich‹ sichtlich beendet, und der Applaus beginnt. Ein Lichtwechsel ins totale Black bietet, als zeitgenössische Version des Vorhangs, Zuschauern gewöhnlich ein klares Zeichen dafür, dass eine Theateraufführung beendet ist. Nachdem aber die Scheinwerfer zum Ende der Aufführung in Bloody Mess nicht alle zugleich gedimmt werden, sondern je einzeln erlöschen, wird das abschließende Black in gewisser Weise zu einer Aneinanderreihung kleiner Blacks verbreitert, diese wird gleichzeitig zum Thema in Cathys Schlussmonolog. Die Funktionalität des Blacks als abschließende Klammer wird damit zum einen ästhetisch übersteigert, zum anderen aber auch – bis zu einem gewissen Grad – in seiner Funktionalität gestört, denn die Thematisierung des klammernden Zeichens zieht dieses gewissermaßen in die Aufführung hinein. In The World in Pictures kommt, ebenfalls nach etwa siebzig Minuten, die Erzählung der »history of mankind« zu ihrem Ende, indem sie inhaltlich in der Gegenwart anlangt: Sprecherin Terry, und ihr Kollege, Figur Robin, der Terry im letzten szenischen Abschnitt durch die Einflüsterung zeitgeschichtlichen Wissens unterstützt hat, prosten dem Publikum erschöpft mit einem Glas Bier zu, nachdem Terry angemerkt hat, dass die Zuschauer durch die jüngsten geschichtlichen Ereignisse (zum Beispiel dem Anschlag auf das World Trade Center 2001) »sowieso gelebt habe«, eine Fortführung der Erzählung also unnötig wäre. Die Bühne hinter den beiden Figuren hat sich im Verlauf der pantomimischen Bemühungen des übrigen Ensembles in ein wüstes Durcheinander aus Requisiten, Möbeln, falschem Schnee u.v.a. verwandelt. Mitten aus diesem Chaos macht nun erneut Figur Jerry auf sich aufmerksam. Ohne weitere Überleitung beginnt Jerry, einen dritten Monolog an das Publikum zu richten. Er führt dabei, erneut in suggestivem Duktus, zurück zum Beginn der Abends: so bittet er die Zuhörer darum zu imaginieren, wie sie das Theater betreten hätten und wie sie zuvor angereist wären: So, wie schon jetzt nur noch wenige Erinnerung an die Umstände der Anreise vorhanden seien, wäre auch die eben erlebte Aufführung sicher bald vergessen, und in weiteren fünf Jahren wären vermutlich schon einige der jetzt im Publikum Sitzenden verstorben. Jerrys etwa sechsminütiger Monolog endet mit der Idee eines totalen Vakuums, das nach Ablauf einer Million Jahre vielleicht an Stelle des Theaters zu finden sein könnte. Mit diesen Worten scheint die Aufführung zu einem klaren, wenn auch deprimierendem Ende gelangt. Allerdings weist auch jetzt ein Kollege Jerry zurecht: Solch ein Schluss sei für das Stück nicht erwünscht. Während des ›großen Finales‹ (»Great Finale«) das nun folgen würde, habe Jerry Zeit, sich ein alternatives Ende auszudenken.
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Wie zu Beginn der Aufführung, als mit der ›Volcano‹ Szene eine für die Zuschauer nur schwerlich einzuordnende Sequenz dargeboten wurde, ist auch das ›Great Finale‹ eine Herausforderung an die Zuschauerwahrnehmung: Der Kollege, der Jerry zurechtgewiesen hat, fragt, vom Mikrophon verstärkt: »Can we have the music for the great finale?« worauf das Lied Harmonium von Stereolab ertönt.26 Dieses beginnt mit spektakulären elektronischen Klängen, um dann aber eine recht melancholische und ruhige Stimmung zu produzieren. Darsteller-Figur Wendy, immer noch im Höhlenmenschenkostüm, inzwischen aber mit einer großen Sonnenbrille, führt eine Playbacknummer zu dieser Einspielung auf. Sie ahmt stumm den vom Band laufenden Gesang nach, dessen Text wie auch dessen schmachtende Melodie die »köstliche« Melancholie eines langgezogenen Endens aufrufen.27 Während dieser Playbackaufführung räumen die übrigen Mitglieder des Ensembles schnell und routiniert die Bühne auf, einzig Jerry bleibt in der Mitte der Bühne stehen, offenbar verstockt abwartend. Jedes Bühnenelement, jedes Requisit, sogar die überall verstreuten Kunstschneeflocken verschwinden während der etwa sechs Minuten der Musikeinspielung. Mit Beendigung ihrer Tätigkeit verschwinden schließlich auch die Darsteller, einer nach dem anderen, im nicht einsehbaren Off. Zurück bleibt am Ende des Liedes einzig ein letzter Rest Schneeflocken zu Füßen Jerrys; Wendy umtanzt während der letzten Takte des Songs den Wartenden, wie lockend oder werbend, um schließlich, mit Beendigung der Playbacknummer, ihrerseits abzugehen. Der Ankündigung eines großen Finales und den spektakulären ersten Takten der Musikeinspielung zum Trotz wirkt also Wendys Playbacknummer eher wie eine Übergangsnummer, wie eine Überbrückung für die Aktivitäten des übrigen Ensembles beim Säubern der Bühne. Erst wenn Wendy, kurz bevor sie im Off verschwindet, letzte Worte der Unterstützung an den zurückbleibenden Jerry richtet, kann die Zuschauerin ›nachdatieren‹ dass die Playbackaufführung wohl tatsächlich schon das große Finale gewesen sei; wie schon nach der ›Volcano Scene‹ lassen sich auch hier erst ex post Zuschauerzeit und Aufführungszeit synchronisieren. Jerry wendet sich nun ein letztes Mal an das Publikum: Er habe seinen Ausführungen nichts hinzuzufügen, denn: »It is true – we all will be dead in 10.000 years time! There’s nothing I can do about that. But... if you WANT to put a positive spin on that, you could maybe say, that ... this means we should ...
26 Harmonium von Stereolab, Album Refried Ectoplasm, 1995. 27 »La fin des jours d'automne est pénétrante, ahhh/ pénétrante jusqu'à la douleur, sensation/ délicieuse et intense, la pointe accélérée de l'infini.« Vgl. z.B. http://www.mp3lyrics.org/ s/stereolab/harmonium/.
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make the best of the time that we do have. ... And I certainly enjoyed the last 2 hours or so... and I hope that you have to. So. Thank you very much for coming. And good night.« Darauf macht Jerry auf dem Absatz kehrt und verlässt zügig die Bühne, während das Bühnenlicht in ein abschließendes Black fährt. Während dieser, hier in voller Länge zitierten, Abschiedsworte Jerrys, die etwa zwanzig Sekunden dauern, ist die Zuschauerin noch damit beschäftigt, die zuvor erlebte, seltsam ambivalente ›Great Finale‹ Sequenz einzuordnen; kaum hat sie feststellt, dass es sich bei dieser Szene tatsächlich um das Finale gehandelt haben muss, ist die Aufführung auch schon beendet, und die Abschiedsworte Jerrys verklungen. Die Schlussphasen der Aufführungen beider untersuchten Inszenierungen hinterlassen auf diese Weise eine Zuschauerin, die während des Applauses wie aufwachend blinzelt, die fast benommen in die Welt außerhalb der Aufführungen zurückkehrt, da sie zwar deutlich das Setzen einer abschließenden Klammer wahrgenommen hat, dieser aber nicht mehr so recht glauben kann. e) Fazit: Aufführungs-Zeit Ich komme zum Schluss meiner Untersuchung von Praktiken der temporalen Klammerung in Aufführungen von Bloody Mess und The World in Pictures. In beiden Fällen konnten lange Phasen eines zögernden Beginns wie eines unwilligen Endens beschrieben werden: Die äußeren Klammern zu Beginn wie zum Ende beider Aufführungen führen langsam und in immer wieder betonter Weise in das Aufführungsgeschehen ein. Die Produktion alternativer, bzw. immer neuer Anfangsund Abschluss-»Zeremonien« (Goffman) halten dabei die Aufmerksamkeit und das Engagement der Zuschauerin gefangen, indem zahlreiche kleine Krisen bzw. Fragwürdigkeiten der genutzten Klammern entstehen. Die Goffman’sche Metapher der Klammer konnte also an dieser Stelle veranschaulichen, mithilfe welcher Darstellungs-Praktiken das ›Mitspielen‹ des Publikums bei der Produktion der Aufführungszeit von Bloody Mess und The World in Pictures auffällig gemacht, ästhetisiert wird. Dabei kann noch angemerkt werden, dass diese Ästhetisierung sich im Rahmen traditioneller Klammern räumlicher wie temporaler Art (Theaterarchitektur, Zuschauerlicht und Blacks) abspielt. Allerdings werden die verlässlichen konventionellen Klammern, die beide Aufführungssituationen nutzen, durch die darüber hinaus getätigten demonstrativen Setzungen alternativer Klammern heruntergespielt: sie funktionieren, werden aber nicht weiter auffällig; der klar definierbare Rahmen beider Aufführungen steht jeweils hinter seinen Doubles zurück. In ihrer ›Mitte‹ zeigen sich die Aufführungssituationen beider Inszenierungen zudem als eine Welt ständig neu emergierender, sich wie spontan voneinander absetzender Sequenzen, innere Klammern scheinen verwischt. Die Aufführungen wirken daher in beiden Fällen organisch; auf diese Weise wird zeitliche Unbestimmtheit simuliert,
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eine Form der Zukunftsoffenheit, wie sie eigentlich nur in konsequenzbehafteter Alltagswirklichkeit und in improvisatorischem Schauspiel, nicht aber in einer allabendlich wiederholten, durchkomponierten Inszenierung auffindbar ist. Aufführungen analytisch ›befremdend‹ nach ihren inneren Klammern zu befragen, erlaubt – wie sich hier zeigen konnte – die Reformierung der Wahrnehmungspraxis des Publikums. Dabei wird verständlich, auf welche Weise für die Zuschauerin die Faszination des Live-Erlebnisses wahrnehmbar wird, während zugleich dessen sorgfältige Konstruktion zum Thema gemacht wird. Präsenz im Sinne ›gegenwärtiger Gegenwärtigkeit‹, zeigt sich hier als Ergebnis sozialer Darstellungs- und Wahrnehmungspraktiken. Zusammenfassend kann also konstatiert werden, dass sowohl Bloody Mess als auch The World in Pictures mit der Notwendigkeit spielen, Klammern zu setzen um Aufführungszeit zu produzieren. Den sicheren Boden, auf dessen Basis solches Klammerungsspiel ablaufen kann, bieten die gut eingespielten TheaterKonventionen, deren wichtigste Akteure die Zuschauer selbst sind. Die Aufführungen der Inszenierungen Bloody Mess und The World in Pictures präsentieren ihrem Publikum also mithilfe verspielter Klammerungs-Praxis eine ästhetische Erhöhung und Verdichtung simulierter Theater-Gegenwart. 3. M ATERIALISIERUNGEN : Z EIT -R AUM
UND
R AUM -Z EIT
Bevor ich mich denjenigen Darstellungs- und Wahrnehmungs-Praktiken zuwende, die den Raum der Aufführung produzieren, seine Definition ermöglichen und seine innere Struktur klammern, sollen einige Aufführungspraktiken besprochen werden, die eine analytische Trennung in zeitliche und räumliche Klammern erschweren. Zunächst wird es dabei um räumlich-materielle Darstellungsmittel gehen, die das Verstreichen von Zeit in den Aufführungen Bloody Mess und The World in Pictures für die teilnehmenden Zuschauer räumlich-materiell wahrnehmbar werden lassen. Darauf sollen diejenigen Darstellungs-Praktiken thematisiert werden, die die Struktur des Bühnenraumes in der Zeit der Aufführung verändern, und auf diese Weise die Raumwahrnehmung für die zuschauenden Teilnehmer in die Zeit hinein verbreitern. a) Bühnenraum in Bewegung Weiter oben wurden unter dem Schlagwort ›Lichtspiele‹ Inszenierungstechniken beschrieben, die insbesondere in Bloody Mess zum Einsatz kommen: Das Lichtkonzept der Inszenierung lässt klare zeitliche Begrenzungen von Szenenübergängen durch häufige bunte Lichtwechsel unscharf werden. Inszenierte Unschärfe lässt sich sowohl in Bloody Mess wie auch in The World in Pictures für den Raum der Bühne (bzw. das ›Bühnen-Bild‹) nachweisen: Es kommen Materialien und Praktiken zum
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Einsatz, die einen gleichsam ›verwischenden‹ Effekt auf die wahrnehmbare Räumlichkeit der Bühne besitzen. Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang der in Bloody Mess häufig genutzte Bühnennebel. Beginnend mit der Sequenz ›Beginning of the world‹ und fortgesetzt in allen weiteren ereignisreichen Szenen, produzieren die Roady-Figuren, Ben und Richard immer wieder aufs Neue dicke Rauchwolken aus einer fahrbaren Nebelmaschine. Legitimiert wird diese Handlung jeweils im angebliche Versuch der Roadys, das szenische Geschehen zu bereichern, z.B. Clown Johns Erzählung vom Weltall nach dem Urknall zu illustrieren. Die Menge des ausgestoßenen Kunstnebels ist dabei zum Teil so groß, dass für Momente vom Zuschauerraum aus überhaupt nicht mehr sichtbar ist, was gerade auf der Bühne geschieht. Nachdem es in Bloody Mess keinerlei Bühnenaufbauten oder Kulissen gibt und die ›nackte‹ Bühne sich in ihrem funktionalen schwarzen Anstrich präsentiert, stellt der Bühnennebel einen starken Kontrast zu dieser Umgebung her. Das Mattschwarz von Bühnenboden und -Wänden verschwindet hinter den Schwaden des Nebels, der seinerseits entweder weiß wirkt oder die unterschiedlichen Farben der gerade verwendeten Lichtstimmungen reflektiert. Im Gegensatz zur optischen Statik der Bühne, die aufgrund ihres lichtschluckenden Anstrichs nicht in der Lage ist, die Farben der Lichtstimmungen anzunehmen, kommt mit dem Bühnennebel ein farbig changierendes flüchtiges Raumelement ins Spiel. Der Nebel bewegt sich, er ›wabert‹, er zieht in dicken Schwaden nach und nach Richtung Decke ab und verändert dabei sukzessive seine Dichte. Frisch aus der Nebelmaschine ausgestoßen, zeigt er sich als opake Wolke, verteilt er sich im Raum, bekommt er nach und nach die Qualität von schwebendem Rauch. Entsprechend der Dichte der vorhandenen Nebelschwaden oder -Schleier wird das Licht der Bühnenbeleuchtung entweder massiv zurückgeworfen oder als dezente atmosphärische Farbigkeit, kaum merklich, reflektiert – so liegt beispielsweise zu Beginn der ›Crying 1x1‹ Sequenz eine eine dicke tiefrote Wolke über der ganzen Bühne, aus der Cathy hervortritt, während am Ende derselben Sequenz nur mehr ein zart violetter Schleier über allem Bühnengeschehen schwebt. In The World in Pictures erfüllt eine Windmaschine in Kombination mit Bühnenschnee eine Funktion, die sich mit der des Nebels in Bloody Mess vergleichen lässt: Während der gesamten ›Mitte‹ der Aufführung wird Bühnenschnee von einer fahrbaren Leiter gestreut, manches Mal regelrecht geschüttet. Ab der zweiten Hälfte der Erzählung der »history of mankind« verwirbelt eine Windmaschine die Flocken im ganzen Bühnenraum. Auch hier dienen diese Darstellungsmittel vorgeblich der Illustration der Erzählung: Einmal stehen sie für die sich verbreitenden Keime einer Pestepidemie, ein andermal bebildern sie stürmische Zeiten im Umbruch zwischen zwei Epochen, usw. Szenographisch aber wirkt der vom
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künstlichen Wind verwirbelte Schnee als helles Flimmern, das vor die mattschwarzen Wände (der auch hier zunächst leeren) Bühne tritt. Das so erzeugte Flirren und Wirbeln lässt immer wieder kurzzeitig die Konturen der verschiedenen Einrichtungsgegenstände, die sich zu diesem Zeitpunkt schon auf der Bühne befinden, verschwimmen. Anders als der Bühnennebel in Bloody Mess, der nach oben abzieht und verschwindet, schweben die ›Schneeflocken‹ in The World in Pictures auf die Bühnenoberfläche herab; neben ihrem momentanen Effekt behalten sie damit dauerhaft einen Charakter des Konturenverwischens bei, indem sie nach und nach jede Oberfläche des Bühnenraums – seien es der Bühnenboden oder die Oberflächen der verschiedenen Einrichtungsgegenstände – bedecken. Darüber hinaus führt in The World in Pictures das exzessive Einrichten der Bühne mit unterschiedlichsten Gegenständen zu einem dauernd neu justierten Bühnenbild: Die Darsteller richten ab Beginn der Erzählung der »history of mankind« die Bühne mit unterschiedlichen, zum größten Teil unsinnig erscheinenden Gegenständen und Möbeln ein. Einige der verwendeten Einrichtungs-Gegenstände sind mit Rollen versehen, und werden immer wieder von einer Stelle der Bühne zur nächsten bewegt. Viele dieser Einrichtungsgegenstände sind äußerst raumgreifend und stehen in farbigem Kontrast zum schwarzen Bühnen-Hintergrund; z.B. gelangen schon während der ersten Hälfte der Erzählung eine fahrbare Kleiderstange, die mit glänzendem Slash behängt ist auf die Bühne,28 weiterhin eine fahrbare Leiter, (sie misst etwa fünf Meter in der Höhe und ist hellgelb lackiert), ein weißes Sofa, sowie mehrere überdimensioniert große, leere Kabelrollen aus hellem Holz. Besonders auffällig werden weiterhin einige elektrische Heizöfen, die auf der linken Seite der Bühne platziert rotglühend die Lagerfeuer der erzählten Urzeit veranschaulichen. Ebenfalls schon während der Erzählung der ›Frühzeit des Menschen‹ werden sechs, jeweils etwa zwei Quadratmeter große, flache hölzerne Elemente hereingebracht, deren Funktion für die Zuschauerin nicht klar wird. Sie wirken wie Paravents aus hellem Holz und werden an die Rückwand der Bühne gelehnt. Etwa während der zweiten Hälfte der »history of mankind«, während vom »Age of Reason« erzählt wird, werden diese Elemente umgedreht und von den Darstellern tänzerisch über die Bühne bewegt. Auf ihrer nun in Richtung Zuschauerraum weisenden (Vorder-)Seite zeigen sie fotographische Darstellungen eines braun-orangen Herbstwaldes. Etwa 28 Mit Slash sind sogenannte »Tinsel Curtains« gemeint (im Bühnentechnikerdeutsch »Glittervorhänge«); diese werden oft als Bühnenhintergrund für Musikshows verwendet; es handelt sich um eine Art überdimensionierten Lamettas. Ich konnte keine im Deutschen gebräuchliche, kurze Bezeichnung für dieses Material finden und verwende daher den Namen, den die Mitglieder Forced Entertainments in ihren Proben gebrauchten.
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in derselben Phase der Aufführung werden aufrecht stehende Leuchtstoffröhren zunächst auf die Bühne verbracht und dann eingeschaltet (»Enlightment«), um bis zum Schluss der Erzählung bläulichen Schimmer zu verbreiten. Die großen, meist farbenfrohen und/oder hellen Einrichtungsgegenstände und Leuchten, die die Darsteller der World in Pictures auf die Bühne tragen und im Verlauf ihres Illustrationsspiels mal hierhin, mal dorthin bewegen, führen also ihrerseits zu einem ständig in Bewegung befindlichen Bild der Bühne. Zum Eindruck der ständigen Bewegtheit trägt auch das Verhalten der Darsteller bei, die die Räume von Bloody Mess und The World in Pictures bevölkern. So werden in den Aufführungen beider Inszenierungen, wie oben beschrieben, immer wieder Sequenzen wilden szenischen Outputs vorgeführt. Die tänzerisch anmutenden Sequenzen, die sich in Bloody Mess mehrfach spontan durch das überbordende Engagement der Darsteller zu ergeben scheinen, ebenso die beschriebenen Crescendos in The World in Pictures, produzieren entsprechende szenographische Effekte. Die sich tänzerisch bewegenden Körper der Schauspieler tragen zur beständigen Veränderung im bewegten Bühnenbild bei. Die Choreographien der Körper werden dabei zusätzlich durch die Requisiten, die die Darsteller häufig im Tanzen mit sich führen, optisch in den Raum hinein verlängert: So schwingen die Darsteller in Bloody Mess große Pappsterne, Wolldecken, Büschel aus Slash oder Pompoms; in The World in Pictures dienen Holzstöcke (die ›Speere‹ der Urzeitmenschen), die Plastikschwerter der ›Kreuzritter‹ sowie die Jacketts des ›modernen Menschen‹ der Überzeichnung tänzerischer Körperbewegungen, (vgl. Abbildung 2).29 Abbildung 2: Überzeichnung von Körperbewegungen durch Requisiten
29 Die im Folgenden eingefügten Skizzen wurden basierend auf Videostills aus den verschiedenen Aufführungsmitschnitten erstellt; sie bebildern insofern den Erkenntnisprozess der Autorin, keine objektivierbaren Momente im Aufführungsgeschehen.
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Sowohl in Bloody Mess als auch in The World in Pictures zeigt sich also ein beständig in der Zeit verändertes Bewegtbild der Bühne; transitorische Darstellungselemente, wie Bühnennebel oder Schnee, außerdem der Einsatz von Requisiten und Einrichtungsgegenständen, schließlich der Körpereinsatz der Darsteller inszenieren in beiden Fällen einen Bühnenraum, der sich in seiner ganzen Materialität in Bewegung befindet. Die Räume, die sich in Bloody Mess und The World in Pictures auf diese Weise etablieren, bleiben also niemals über größere Zeitspannen dieselben, ihr Anblick verändert sich sekündlich. Um einen Begriff zu übernehmen, den Gilles Deleuze im Zusammenhang mit dem Kinofilm verwendete, ließen sich die Bühnenbilder der Aufführungen als nur schwer fassbare »Bewegungs-Bilder« bezeichnen: Sie lassen sich von ihren Zuschauern niemals ganz ›fest-stellen‹, entziehen sich jeder Gadamer’schen »Zusammenschau«, sie spielen unentwegt wie der Wind auf Blättern. Darüber hinaus erhalten die auf der Bühne zum Einsatz gelangenden Materialien durch ihre Bewegtheit »phänomenologische Wucht«: z.B. beweisen sie der Zuschauerin ihre Schwere und Dichte, wenn Darsteller sie umherschleudern oder zu Boden werfen. Trotz des Entzugs jeder ›Feststellbarkeit‹ präsentieren sich die Bühnenräume in den Aufführungssituationen Bloody Mess und The World in Pictures also in ganz und gar handfester materieller Konkretheit.30 Statt unkompliziert lesbaren Sinn zu produzieren (z.B. »Dieses Bühnenbild steht für ein bürgerliches Wohnzimmer«) wird der Zuschauerin in einem derart bewegten Bild der Bühne vor Augen geführt wie ›sinnvolle‹ Bilder und stimmige Atmosphären auch aus einem (angeblichen) Chaos vieler kleiner, zunächst unverbunden wirkender Praktiken emergieren. Die Aufführungssituationen erinnern dabei womöglich an die Praxis, die in der eigenen Zuschauer-Wahrnehmung steckt, sobald sie an solche Bewegung herantritt.31
30 Den Begriff der »phänomenologischen Wucht« im Zusammenhang mit der Bewegtheit von Material nutzte Lars Frers in seinem Vortrag »Materialitäten in Bewegung auf der Tagung »Materialitäten. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften« an der JGU Mainz, am 20.10.2011. Die Produktion von Sinn wurde in diesem Vortrag als das Abschreiten materieller Stationen oder Spuren beschrieben. Frers erinnerte dabei daran, dass der Begriff »Sinn« auch auf gerichtete Bewegung verweisen kann (z.B. beim Uhrzeiger-Sinn). 31 Visuelle Wahrnehmung ihrerseits, so zeigt z.B. Alva Noë als einer der zeitgenössischen Vertreter eines enactive approach lässt sich nur sinnvoll beschreiben, insofern sie in ihrem Zusammenspiel mit der Sensomotorik betrachtet wird. Vgl. Noë 2004. Die genuine Bewegtheit und Aktivität der Wahrnehmung auf Seiten der Zuschauer thematisiere ich unter Kapitel V.
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b) Einschreibung der Aufführungszeit in den Aufführungsraum Die bis hier beschriebenen Darstellungs-Praktiken lassen den Raum der Bühne zum Bewegungsbild werden, lösen die Statik des Raums in die Zeit hinein auf. Umgekehrt können in beiden Aufführungen Darstellungs-Praktiken beschrieben werden, die das Vergehen der Zeit in den Raum einschreiben und so Zeit in gewisser Weise ›verräumlichen‹. Beide Aufführungen beginnen, wie oben erwähnt, auf einer ›uneingerichteten‹ Bühne: Während des Beginns der Aufführung Bloody Mess befinden sich lediglich im Randbereich der Bühne die später zum Einsatz gelangenden Requisiten, in The World in Pictures ist die Bühne zu Aufführungsbeginn vollkommen leer. In beiden Fällen wird damit der ›gewöhnliche‹ Hintergrund einer Proszeniumsbühne, wie sie in städtischen Theaterräumen Standard ist, zum (ersten) Bühnenbild des Aufführungsabends; der Bühnenboden ist dabei mit so genanntem Tanzboden, einem mattschwarzen, stabilen Kunststoffbelag, ausgelegt. Schwarz gestrichen sind auch die Seiten und Rückwände der bis ganz hinten einsehbaren Bühnen, ebenso die dort vorhandenen Röhren, Steckdosen und Kabel. Während dieser Anstrich gewöhnlich dem Zurücktreten der Bühne hinter mögliche Dekorationen und Aufbauten dient, wird das matte, unspektakuläre Schwarz in den untersuchten Inszenierungen zum demonstrativen Bild der leeren Bühne.32 In den Aufführungen beider Inszenierungen werden die Bühnen in den hierauf folgenden Szenen zunächst sukzessive eingerichtet: In Bloody Mess verwenden die Darsteller, vom Beginn der ›Stuhl-Spiel‹ Sequenz bis zum Ende der Aufführung, Requisiten aus dem Randbereich der Bühne; diese Requisitennutzung wirkt meist wie spontan improvisiert: Requisiten werden gegriffen um der Unterstützung darstellerischer Handlungen zu dienen; manchmal werden die Gegenstände auch Mittelpunkt vorgeführter Spiele: So dreht sich im ›Stuhl-Spiel‹ der Clowns die gesamte Bühnenhandlung um die verwendeten Stühle, in Terrys kleinen Vorführungen des Wehklagens kommen große Mengen Mineralwassers zum Einsatz, die als Cheerleader agierende Wendy nutzt verschiedene auf der Bühne vorhandene Gegenstände, um sie als Pompom zu schwingen, etc. Dabei sind viele der verwendeten Requisiten in ihrer materiellen Beschaffenheit kleinteilig, manche gar flüssig (Papiertaschentücher, Bonbons, Slash, Popcorn, Wasser, Bier etc.) und hinterlassen so nach ihrer Verwendung Spuren auf dem Bühnenboden. Andere Gegenstände werden durch die Art ihrer Verwendung zerstört bzw. in ihre Einzelteile zerlegt (z.B. einige der in der ›Stuhl-Spiel‹ Szene eingesetzten Holzstühle) und tragen damit ebenfalls zu einer wachsenden ›Verschmutzung‹ des Bühnenbodens bei. Zur klein-
32 Vgl. dazu auch den folgenden Punkt III.4
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teiligen Beschaffenheit dieser Requisiten-Reste kommt ihre zum Teil reflektierende Qualität: Die Flüssigkeitspfützen, das verstreute Slash und das Bonbonpapier, die im Verlauf der Aufführung nach und nach den Boden bedecken, werfen glitzernd das bunte Licht der Bühnenbeleuchtung zurück. Der Boden verstärkt damit mit wachsender Dauer der Aufführung immer mehr die verschiedenen Lichtstimmungen in ihrer Farbigkeit, er irisiert optisch und funkelt geheimnisvoll. Die Überbleibsel auf dem Boden verweisen auf die verrinnende Zeit der Aufführung, machen sie sichtbar, anfassbar: es bleibt etwas zurück.33 Cathys letzter Monolog vom Verlöschen des Lichts findet auf einer Bühne statt, die bedeckt ist von einem Teppich kleinteilig zerstoßener Requisiten, glänzender Beweis für die gemeinsam verbrachte Bühnenzeit im gemeinsam besetzen Bühnenraum (vgl. Abbildung 3 zur Einschreibung von Aufführungszeit). In The World in Pictures gerät unterdessen das Herbeiholen von Requisiten aus einem unbestimmten Off von Anfang der »history of mankind« an zu einer scheinbar chaotischen, selbstreferenziellen Tätigkeit: Die zu Beginn vollkommen leere schwarze Bühne in The World in Pictures wird nach und nach, wie oben beschrieben, mit unterschiedlichen Einrichtungsgegenständen, technischem Equipment und karnevalesken Kostümen ausgestattet, bis sie schließlich – zum Ende der Erzählung der »history of mankind« – einen verwinkelten, unordentlichen und doch ästhetisch ansprechenden Zustand aufweist. Darüber hinaus ist die Bühne der World in Pictures, je weiter die Vorstellung voranschreitet, immer mehr durch den eingesetzten Bühnenschnee besprenkelt. Anders als in Bloody Mess aber ist das Anfüllen des Bühnenraums mit Überbleibseln des Bühnengeschehens auf ›das Innere‹ der World in Pictures beschränkt – also auf den Teil der Aufführung, währenddessen die »history of mankind« erzählt wird: Bis zum letzten Moment, bevor diese Erzählung beginnt, scheinen die Darsteller noch darauf zu achten, dass die Leere der Bühne erhalten bleibt; so wird z.B. die Kleidung, die Jerry nach seinem ersten Monolog abgelegt, säuberlich gefaltet und ins Off getragen; gleichzeitig mit der Erzählung der »history of mankind« aber beginnt ein ununterbrochenes Herbeiholen unterschiedlicher Gegenstände durch die Darsteller. Während des ›Great Finale‹ schließlich wird die gesamte wilde Bühnen-Einrichtung innerhalb von nur drei Minuten wieder komplett abgeräumt, sogar der Boden der Bühne wird mit großen Besen säuberlich gekehrt. 33 Diese ›Anfassbarkeit‹ ist verlockend! So betrat in der durch mich gefilmten Aufführung von Bloody Mess in Leeds am 29.02.2008 eine Zuschauerin während der ›5 minutes of silence‹ Sequenz leise die Bühne, griff sich einige Bonbons vom Boden und setzte sich wieder zurück auf ihren Sessel im Zuschauerraum. (Vgl. ca. 01.51.00 in der Aufnahme Husel 2008, erhältlich bei der Autorin).
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Abbildung 3: Einschreibung von Aufführungszeit
Szenographische Skizzen: links der noch leere Bühnenboden in Bloody Mess während des Einlasses, rechts während des ›Last Light‹ Monologs.
Während sich in Bloody Mess das Ansammeln materieller Beweise für eine gemeinsam verbrachte Aufführungszeit über die gesamte Dauer der Aufführung erstreckt (insofern die besprochenen Anfangs- und Endphasen szenographisch in die Aufführung hineingenommen werden), arbeitet The World in Pictures umgekehrt mit einer demonstrativen Beschränkung dieser sichtbar werdenden Aufführungszeit. Man könnte die Raumpraxis in The World in Pictures damit, ganz anders als in Bloody Mess, als melancholischen oder ironischen Verweis darauf verstehen, dass von der gemeinsam ›erspielten‹ Zeit der Aufführung kaum etwas zurückbleibt. Als Bild für den ›Rest der bleibt‹ dient dann das Häuflein Kunstschnee, das am Ende der Aufführung zu Jerrys Füßen liegt (vgl. Abbildung 4 zum Sichtbarwerden von Aufführungszeit in The World in Pictures) In beiden Inszenierungen wird also durch eine räumlich-materielle Einschreibung des Bühnengeschehens in den Bühnenraum die gemeinsam verbrachte Zeit der Aufführung gespiegelt; sie wird insofern zum konkret anfassbaren Motiv, das sich einer Betrachtung durch die Zuschauer anbietet; die Aufführungen präsentieren sich ihrem Publikum gewissermaßen als in sich spielende »Zeitskulpturen« (vgl. Lehmann 1997). c) Fazit: Materialisierungen In beiden Fällen, in Aufführungen von Bloody Mess wie The World in Pictures, basiert das sukzessive Verspielen zeitlicher wie räumlicher Qualitäten – das ›Verräumlichen‹ der Aufführungen in der Zeit, ebenso wie das ›Verzeitlichen‹ des Raums – auf den vielfältigen kleinteiligen Handlungen der Darsteller, ihren wie zufällig zusammentreffenden Tänzen, ihrem Handhaben von Requisiten, ihrem Einrichten und Wiederaufräumen der Bühne. Das ästhetische Resultat dieser jeweils als
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individuell, manchmal sogar als nebensächlich inszenierten Handlungen geht dabei weit über die jeweils vorgeführte Intentionen hinaus. Dem Publikum beweist sich auf diese Weise augenzwinkernd die sorgfältige ästhetische Planung der Aufführung, die hinter dem, auf den ersten Blick so spontan wirkenden, Handeln der Spielfiguren steckt. Zugleich beweist die Unfassbarkeit bewegter Bühnenbilder die praktische Anstrengung, die auch in der Wahrnehmung des Publikums, im Versuch kollektiven ›Sinn-Machens‹ liegt. Die Praxis, verspielte Bühnenzeit nach und nach demonstrativ zu verräumlichen und den Bühnenraum in die Zeit hinein verschwimmen zu lassen, kann damit als besonders prägnantes Beispiel für den geschickten Einsatz von Darstellungsmitteln stehen, die die Theatersituation vor Ort – in diesem Fall Zeit und Raum der Aufführung – ins Spiel bringen und ästhetisieren. Dabei konnte sich zeigen, dass auch und gerade Darstellungspraktiken, die Klammern zu verwischen scheinen, mithilfe des hier verwendeten Spiel- und Rahmenvokabulars anschaulich untersucht werden können; die Wahrnehmungspraxis in Aufführungen von Bloody Mess und The World in Pictures lässt sich als eng mit der Darstellungspraxis verwobener Prozess beschreiben: Zuschauer der Aufführungen werden in Aufführungspraktiken verstrickt, in denen Zeit räumlich-materiell sichtbar wird, ebenso in solche, die Raum in temporaler Veränderung zeigen. Abbildung 4: Sichtbarwerden von Aufführungszeit in The World in Pictures
Szenographische Skizzen im Uhrzeigersinn: während der ›Volcano Scene‹, während der 20ties Century Boy Einspielung, während des Abräumens im ›Great Finale‹ und kurz bevor Jerry seine abschließenden Worte an das Publikum richtet.
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4. A UFFÜHRUNGSRÄUME Es sollen nun die Räume untersucht werden, die in den Aufführungen Bloody Mess und The World in Pictures durch den Einsatz materieller Darstellungsmittel, also durch räumliche Klammerung, entstehen.34 Die leitende Frage wird dabei lauten: Wie wird der Raum der Aufführung als spezifischer Theateraufführungsraum hergestellt, als ein Raum, der sich in einen Bühnen- und einen Zuschauer-Bereich teilt? In den bis hierhin vorgenommenen Beschreibungen zu Bloody Mess und The World in Pictures wurde wiederholt von der Bühne oder vom Zuschauerraum gesprochen; es wurde z.B. davon berichtet, dass das Publikum während des Einlasses die ihm bestimmten Plätze im Zuschauerraum einnimmt. Die Beschreibung setzte dabei ganz selbstverständlich die Bekanntheit der konventionellen Struktur eines typischen, in Bühne und Zuschauerraum aufgeteilten Theaterraums beim Leser voraus. Genauso selbstverständlich verwendet das Publikum der betrachteten Aufführungen die vorgefundene Raumstruktur gemäß ihrer konventionellen Nutzung.35 Die räumliche Klammerung der betrachteten Aufführungen zeigt sich in beiden Inszenierungen also zunächst als äußerst klar gesetzt und traditionell. Allerdings fallen in beiden Aufführungen einige Besonderheiten an der speziellen Raumnutzung auf; diese sollen im Folgenden besprochen werden. Herausgearbeitet werden soll dabei, wie verschiedene Aufführungs-Praktiken den Theatersaal erst vom abstrakten »Ort« zum praktischen »Raum« werden lassen, indem sie ihn mit Aktivität füllen, wie im folgenden Zitat De Certeaus formuliert:36 »Ein Ort ist also eine momentane Konstellation von festen Punkten. Er enthält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität. Ein Raum entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. Er ist also ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen und ihn dahin bringen, als eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen und vertraglichen Übereinkünften zu funktionieren.« (De Certeau 1988: 218). 34 Die Aussetzung der analytischen Trennung spezifisch zeitlicher und räumlicher Qualitäten nehme ich dafür wieder zurück, möchte allerdings noch einmal darauf hinweisen, dass diese Trennung für die Teilnehmer der Aufführungssituation nur manchmal wirksam wird, z.B. dann, wenn es um die je subjektive Positionierung im Raum geht. 35 Vgl. zu diesem Thema auch Uri Rapps Aussage, beim Theaterraum handle es sich »um die architektonische Verfestigung eines soziologischen Verhältnisses« (Rapp 1981: 207). 36 Unter Bezugnahme auf den praxeologisch denkenden Soziologen Bruno Latour ließe sich auch davon sprechen, dass ich die »Lokalisierung« des Theaterraums während der Aufführungssituation betrachten möchte, um nachzuzeichnen, in welche Praktiken der ›Verräumlichung‹ Akteure dort jeweils begriffen sind (vgl. Latour 2007: 317).
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Zunächst soll dafür vom (anfänglich) leeren Bild der Bühne in beiden Aufführungen berichtet werden (a); darauf wird die Feinstrukturierung bzw. innere räumliche Klammerung in On- und Off-Bereiche der Bühne thematisiert (b), schließlich möchte ich die Inszenierung der Rampe, bzw. ›vierter Wände‹ in beiden Aufführungen näher betrachten (c). a) Das leere Bild der Bühne Die traditionell strukturierte Örtlichkeit des Theatersaals, die Zuschauer in Aufführungen von Bloody Mess und The World in Pictures vorfinden, erfährt eine erste praktische ›Verräumlichung‹ schon in dem Moment, wenn die ersten Zuschauer von ihren Sitzplätzen Besitz ergreifen und auf diese Weise die traditionelle Strukturierung bestätigen. Indem die Zuschauer sich ganz selbstverständlich setzen, verhalten sie sich dem Rahmen Theater gemäß, insofern als ein Rahmen mit Goffman als eine Art implizite Gebrauchsanweisung sozialer Situationen verstanden werden kann: »Ich gehe davon aus, dass wir gemäß gewissen Organisationsprinzipien für Ereignisse – zumindest für soziale – und für unsere persönliche Anteilnahme an ihnen Definitionen einer Situation aufstellen; diese Elemente, soweit mir ihre Herausarbeitung gelingt, nenne ich ›Rahmen‹«. (Goffman 1989: 19). Mit dem Hinsetzen im (damit seiner traditionellen Bestimmung zugeführten) Zuschauer-Raum ist eine Ausrichtung und Stillstellung der Zuschauer verbunden: Sie blicken nun, in ihrer Beweglichkeit weitreichend gehemmt, in Richtung der Guckkastenbühne.37 Wie oben beschrieben, erblicken sie dort, in den beiden von mir untersuchten Inszenierungen, eine vollkommen (The World in Pictures) oder weitestgehend (Bloody Mess) ›uneingerichtete‹ Bühne. In beiden Fällen wird diese unbedeckte Leere auffällig: Sie bleibt ihrem Publikum jede Andeutung schuldig, was während der Aufführung geschehen könnte; diese ›Schuldigkeit‹ selbst wird dabei in keiner Weise verborgen (wie es z.B. mithilfe eines interessanten Lichtspiels oder einschmeichelnder Musik machbar wäre); ebenso wenig dienen Vorhänge oder Dunkelheit dazu, die Leere der Bühne mit Beginn der Aufführung spektakulär als ästhetische Entscheidung zu enthüllen. In beiden Aufführungen liegt vielmehr die zwar schwach doch sichtbar beleuchtete Bühne leer und scheinbar uninszeniert vor Augen. Sie enttäuscht damit jede mögliche Erwartung auf eine spektakuläre Schau mit dem ersten Augenblick der Aufführung. Sie erinnert, gerade indem sie nichts preisgibt, an die Erwartungen, die bei jedem Theaterbesucher zwangsläufig auf das bevorstehende Ereignis existieren. Die leere Bühne wirft insofern zurück auf die Tätigkeit des eigenen erwartenden, wartenden Geistes – oder, unprätentiöser formuliert: Die lakonische Leere der offenen Anfangsbühne steigert
37 Vgl. zum Thema Raumordnung im Theater: Rodatz/Böhme 2010.
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umgekehrt die Konzentration des Publikums auf seine eigene Aktivität, die im Moment des Einlasses aus dem Finden und Einnehmen des Sitzplatzes, sowie im gespannten Abwarten besteht. In Bloody Mess wird diese spiegelnde Funktion der leeren Bühne durch die Anwesenheit der beiden (sitzenden, abwartenden) Clowns unmissverständlich übersteigert. Von Beginn des Einlasses an zeigen also beide Aufführungssituationen den architektonischen Rahmen des traditionellen Theaters gleichsam ›auf dem Präsentierteller‹. Auf diese Weise wird der Theatersaal zur Darstellung, wird zum »Raum« (mit De Certeau) und befindet sich vom Anfang der Aufführungen an sowohl auf dem Spiel, als auch im Spiel: In ihrer Leere auf die Situation des Einlasses und die Erwartungshaltung eines möglichen Publikums verweisend, überhöhen beide Aufführungssituationen räumlich die soziale Situation ›Theateraufführung‹ – sogar schon bevor diese offiziell begonnen hat. Das leere Bühnenbild wird so zum leeren Bild der Bühne. b) On/On, On/Off Im Randbereich der Bühne, aus dem die Clownsdarsteller in Bloody Mess anfangs den Einlass beobachten, stehen eng zusammengeschoben allerhand Requisiten, Möbel und andere Gegenstände bereit: Stühle, schmale Tische, auf denen Flaschen, Tüten u.a. abgestellt sind, ein Tonpult sowie technisches Equipment, z.B. tragbare Scheinwerfer und Lautsprecher-Boxen, ein Kleiderständer, der mit Slash und Kostümen behängt ist, Mineralwasser- und Bierkisten, etc. Durch diese Ordnung des Bühnenraumes, die auf den ersten Blick von unprätentiöser Pragmatik zu sprechen scheint, wird schon ganz zu Beginn der Aufführung sichtbar gemacht, dass in Bloody Mess zwei unterschiedliche Bereiche auf der Bühne existieren: eine Randzone, in der Requisiten lagern und in der Darsteller den Beginn der Aufführung abwarten können, und eine leere Bühnenmitte, die anscheinend einem ›eigentlichen‹ Bühnengeschehen vorbehalten ist. Mit Fortschreiten der Aufführung beweist sich die zunächst noch leere Bühnenmitte tatsächlich bald als der Ort des Geschehens: Hier nimmt das ›StuhlSpiel‹ der Clowns seinen Lauf, von hier aus stellen sich die Darsteller in einer nahe der Rampe aufgestellten Stuhlreihe ihrem Publikum vor, hier tanzen die Darsteller den Born to Be Wild Tanz, usw. Es handelt sich bei der Bühnenmitte insofern um den On-Bereich der Bühne – On/On gewissermaßen. Die Randzone der Bühne erhält neben ihrer Funktion als Requisitenlager und Wartebereich im Laufe der Aufführung zudem die Konnotation eines Ruhe- und Rückzugsraumes für die Darsteller. Nachdem mit der Begrüßungsszene alle Darsteller auf der Bühne angelangt sind, verlassen sie diese bis zum Ende der Vorstellung nicht mehr. Sie ziehen sich aber immer wieder in den Rand-Bereich
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der Bühne zurück, setzen sich und gönnen sich offenbar mehrfach Momente des ›Außenvorseins‹. Dass der Randbereich als eine Art Hinterbühne behandelt wird, ist dabei mit verschiedenen Praktiken des Müßiggangs unterstrichen: So spielen die Darsteller Jerry, Davis und Terry vor der ›Silences‹ Sequenz im rechten hinteren Randbereich der Bühne Karten, Figur Cathy liest in der ›5 Minutes of Silence‹ Sequenz links hinten in einer auf dem Fußboden ausgebreiteten Zeitung, auch dient der Rand der Bühne den Figuren wiederholt dazu, sich nach anstrengenden Aktivitäten in der Bühnenmitte zu erfrischen, z.B. indem dort gemütlich auf dem Boden sitzen und Bier trinken. Figur Cathy behauptet sogar, bevor sie sich nach ihrer ›Cathy hakt aus‹ Sequenz an den Rand begibt: »I gonna have a laydown and think«. Der Bühnenrand in Bloody Mess etabliert sich insofern als Off-Bereich auf der Bühne, als eine Art »On/Off«.38 Im Gegensatz zur Raumgestaltung in Bloody Mess ist die Bühne in The World in Pictures zu Beginn vollkommen leer: Erst während der Erzählung der »history of mankind« werden aus einem nicht weiter einsehbaren Hinterbühnenbereich in manischer Geschäftigkeit Gegenstände auf die Bühne geschafft, die auf diese Weise bald immer unordentlicher und unübersichtlicher wirkt; es wird eine regelrechte Möblierung der Bühne vorangetrieben. Dabei scheinen die herbeigebrachten Gegenstände kaum Zusammenhang mit der erzählten »history of mankind« zu besitzen, vielmehr wirkt es, als würden die Figuren schlicht alles hereinbringen, was die Hinterbühne zu bieten hat. Während der Erzählung der ›Steinzeit‹ erscheinen zum Beispiel ein Fernseher und ein tragbarer Computer im Szenenbild, es folgen, wie weiter oben erwähnt, eine Leiter, ein Sofa, Heizöfen, Kabelrollen, usw. Schon bald entstehen auf diese Weise mögliche Rückzugswinkel innerhalb des ›chaotischen‹ Bühnenbildes, Inseln und Ecken im On, die sich zum Rückzug eignen 38 Die Bezeichnungen On/On und On/Off stammen aus dem Feld: Forced Entertainment selbst benennen diese spezifische Raumordnung so. Die Etablierung von On/On und On/Off Bereichen auf der Bühne taucht in den meisten Inszenierungen der Kompanie auf und wird an verschiedenen Stellen als Handschrift der Gruppe betont. Zum Beispiel findet sich in Patricia Beneckes Aufsatz The Making of... From the Beginnings to Hidden J folgende Beschreibung: »In particular they focused on the relationship between those performers engaged in overtly theatrical activity and those still on-stage, but simply watching and moving between tasks. Terming these two modes of being on-stage being ›on‹ and being ›off‹, they started to explore the relation between the two. [...] Linked to ›on‹ and ›off‹ [...] was the idea of the ›performance arena‹, a part of the stage designated as the place where something is consciously ›shown‹, and the arena surrounding or backing it, which is still open and available to the publics gaze but in which performers are designated as off duty; human and vulnerable.« (Benecke 2004: 35).
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und die durch die Figuren entsprechend als Off-Bereiche genutzt werden. (vgl. Abbildung 5 zum On/Off in The World in Pictures). Die Figuren auf der Bühne der World in Pictures werden also dabei gezeigt, wie sie sich mit ihrer beständigen Einrichtungsaktivität eine Art On/Off generieren. Gerade während The World in Pictures befinden sich On/On und On/Off Bereiche zwar ihrerseits in ständiger Aushandlung, sie bleiben aber dennoch während der gesamten Erzählung der »history of mankind« genuiner Bestandteil des Bühnenraums. Abbildung 5: On/Off in The World in Pictures
Szenographische Skizze: Ein Darsteller im Skelettkostüm hat sich auf eine Couch zurückgezogen; dort bleibt er relativ untätig und beobachtet das Tun der übrigen Figuren.
Indem auf den Bühnen der Aufführungen Bloody Mess und The World in Pictures Off-Bereiche aufgebaut werden, ist die räumliche Klammerung eines Spiel-Raums zugleich betont und (paradox) ausgeweitet, ähnlich wie es schon im Zusammenhang mit der zeitlichen Eingrenzung der Aufführungen beschrieben werden konnte; ebenso wie dort alternative Anfangs- und Endmarkierungen auffielen, sich temporale Klammern also fragmentiert, gespiegelt und ins Spiel hineingezogen präsentierten, tauchen nun alternative Off-Bereiche auf, die neben einen tatsächlichen Off oder Hinterbühnen-Bereich treten. Und auch hier bietet die Überbetonung und Vermehrfachung klammernder bzw. rahmender Markierungen mannigfache Gelegen-
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heiten, weiter inszenatorisch genutzt und verspielt zu werden; On und Off präsentieren sich in beiden Inszenierungen als in ständiger Aushandlung befindlich: In Bloody Mess existiert nur zu Beginn der Aufführung die oben beschriebene, optisch klar wahrnehmbare Trennung in eine Spielfläche und deren ›Außen‹. Diese klare Trennung wird szenographisch nach und nach kontaminiert: Lässt sich die On/Off-Trennung zu Beginn des Abends noch sichtbar an der Verteilung der Gegenstände im Bühnenraum nachzeichnen, ist diese Ordnung des Raums zum Ende der Aufführung visuell aufgehoben, da die Requisiten und deren Überreste dann überall im On/On verteilt sind. In The World in Pictures präsentiert sich die Bühne zu Anfang lediglich als ›reine‹ Spielfläche; diese wird sodann von Außen (also aus einem tatsächlichen Off), wild eingerichtet. Möbliert bietet sie den Figuren zunehmend Rast- wie Spielplätze. Alle Einrichtung, und mit ihr die etablierte Trennung in mögliche On- und Off-Bereiche auf der Bühne verschwindet schließlich während des ›Great Finale‹. In beiden Inszenierungen wird insofern die Anstrengung der Darsteller-Figuren als Grundlage künstlerischer (Möglichkeits-)Räume gezeigt und zelebriert: Während Bloody Mess führt die einfache Vorgabe eines Spielfeldes und seiner unbestimmten Ränder zum ästhetischen Spiel um das Spiel, das nach und nach die zuvor gezogene Grenze zwischen Spielplatz und Außen kunstvoll (und doch materiell fassbar) verwischt. In The World in Pictures erfährt es die Setzung von On und Off selbst, also das Herstellen von Differenz, künstlerische Thematisierung. Sie wirdals Inhalt einer Aufführung sichtbar gemacht und verschwindet gemeinsam mit dieser Aufführung – und all ihren sichtbaren Überbleibseln – schließlich wieder in einem endgültigen Off. Die Etablierung von Spielräumen, bzw. On-Bereichen, wird auf diese Weise als soziale Praxis sichtbar; zudem bleibt es bis zum Ende der Aufführung fragwürdig, welchen weiteren Weg On und Off nehmen werden. Damit ist für die Zuschauerin auch die Bedingung der eigenen Positionierung im Zuschauerraum hinterfragbar: Denn wenn sich die räumlichen Grenzen des Bühnenspiels in Aushandlung und/oder Bewegung befinden, mag diese Bewegung sich auch auf das umfassende Setting des Theatersaals erstrecken. Aus diesem Grund möchte ich abschließend darauf fokussieren, wie konkrete Grenzziehung zwischen Zuschauerraum und Bühne in The World in Pictures und Bloody Mess bewerkstelligt wird, wie also die Rampe, bzw. die ›vierte Wand‹ in beiden Inszenierungen gestaltet sind.
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c) Vierte Wände Als ›vierte Wand‹ bezeichnet man für gewöhnlich die imaginäre Mauer, die den bürgerlichen Salon im Guckkastentheater abschließen würde, wären da nicht das Bühnenportal und der Zuschauerraum. Das Konzept ›Theater der vierten Wand‹ spricht insofern von einer (vor allem im europäischen Theater des 19. Jahrhunderts) gängigen Aufführungspraxis, die sich alle Mühe gibt, die Aufführungssituation zu dissimulieren und die Illusion eines von der Aufführungssituation unabhängigen Geschehens auf der Bühne zu erzeugen. Interessant an dieser per se utopistischen Vorstellung ist die Tatsache, dass die Darstellung größtmöglicher Natürlichkeit hinter einer imaginären vierten Wand einen besonders raffinierten Einsatz von Künstlichkeit benötigt – anhand eines ›Theaters der vierten Wand‹ lässt sich zeigen, dass Dissimulation harte Arbeit ist.39 Im Zusammenhang mit den Bühnen in Forced Entertainments Inszenierungen Bloody Mess und The World in Pictures scheint es allerdings zunächst unsinnig von einer vierten Wand zu sprechen. Schließlich kann hier kaum die Rede davon sein, dass in Aufführungen beider Inszenierungen eine Dissimulation der Live-Situation betrieben würde; vielmehr wird umgekehrt die Live-Situation immer wieder erinnert und gleichsam mitinszeniert. Tatsächlich ruft aber die in beiden Arbeiten genutzte Proszeniumsbühne, die ihre Struktur in vielerlei Hinsicht noch dem bürgerlichen Guckkasten verdankt, dazu auf sich über deren imaginierte vierte Wand, über diesen die Blicke dirigierenden Rahmen, den die Grundstruktur des städtischen Bühnenraums um das Bühnengeschehen legt, Gedanken zu machen: Wie gehen die untersuchten Inszenierungen mit dieser architektonischen Vorlage um? Sowohl in Bloody Mess als auch in The World in Pictures lassen sich drei höchst unterschiedliche Grundmuster in der Nutzung dieses »Schnittes durch den Raum« (vgl. Rodatz/Böhme 2011) aufzeigen. Ich möchte diese im Folgenden unter den Stichwörtern ›Zirkus, Arena, Terrarium‹, ›Konfrontation, Rampenblick‹ und ›Vervielfältigung‹ beschreiben. Zirkus, Arena, Terrarium In beiden betrachteten Aufführungen kehren regelmäßig Momente wieder, in denen sich die Figuren auf der Bühne in wilder Geschäftigkeit befinden. In Bloody Mess arten zum Beispiel angebliche Illustrationsversuche, die während der Erzählungen vom »beginning« und vom »end of the world« stattfinden, zu ekstatischen Tänzen 39 Den Begriff der Dissimulation verwende ich an dieser Stelle im Sinne Baudrillards (vgl. Baudrillard 1978: 6). Die harte Arbeit an ganz alltäglicher Simulation und Dissimulation ist der Gegenstand, den Goffman in der Rahmen-Analyse einer sozialwissenschaftlichen Untersuchung zugänglich machen wollte (vgl. oben, sowie Goffman 1989).
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aus, weiterhin werden Prügeleien oder andere manische Körperbetätigungen einzelner Figuren aufgeführt. In The World in Pictures geraten die vorgeblichen Illustrationsversuche der »history of mankind« ebenfalls scheinbar wiederholt außer Kontrolle oder werden zu Tänzen übersteigert. Die Nutzung des Raums während solcher Momente erfolgt in beiden Aufführungen gewissermaßen ›kopflos‹ und ›kreuz und quer‹; die Bewegungen der Figuren muten teilweise chaotisch und unkoordiniert an, zum Teil scheinen die Darsteller in ihren meist sehr körperbetonten Aktionen ganz und gar aufzugehen, und schließlich für Momente die Anwesenheit des Publikums zu vergessen. Der Blickkontakt der Figuren zum Publikum geht dann verloren, sie betrachten sich nur mehr untereinander, scheinen in die gemeinsame Tätigkeit vertieft. Sie wecken damit Eindrücke wie man sie von Zirkuslöwen, Boxern im Ring oder von Echsen im Terrarium kennt. Solche ›Arena-‹ oder ›Terrariums-Momente‹ der Aufführungen können als ironische Bestätigungen bzw. Überformung einer traditionellen vierten Wand betrachtet werden: Auf den Bühnen scheint sich ein Geschehen zu entwickeln, das unabhängig von der geteilten situativen Realität der Theateraufführung erscheint. Die Zuschauerin kann sich dann ganz einer voyeuristischen Schau hingeben. Als Antrieb, dem die Figuren in solchen Momenten der Aufführungen folgen, ist unkontrolliert erscheinender Furor der Bewegung, Lust am Tanz oder treibende Versagensangst inszeniert; diese vorgeführten Gefühlsintensitäten scheinen oft in ekstatischer Trance zu kulminieren. Es sind dies aber Emotionen, die die Zuschauerin der Aufführungssituationen nicht teilen kann. Aus diesem Grund prallt ihr Sinnsuchender Blick mehrfach an der errichteten vierten Wand ab; so lassen ›Zirkus-‹, bzw. ›Arena-‹ oder ›Terrariums-Momente‹ der Aufführungen ihre Zuschauer als Voyeure hinter sich. Konfrontation, Rampenblick In beiden Aufführungen sind Situationen eines konfrontativen Rampenblicks, eines kontrollierten Herausforderns der vierten Wand ebenso häufig wie die beschriebenen ›Arena-Situationen‹: In Bloody Mess platzieren sich die Darsteller während der ›Vorstellungsrunde‹ in einer Stuhlreihe an der Rampe, sie blicken ins Publikum und sprechen es – einer nach dem Anderen – verstärkt durch ein Mikrophon an; auch Clown John sitzt frontal zum Publikum, während er seine Geschichten vom Beginn und vom Ende der Welt erzählt, ebenso sprechen Figur Cathy und die ›Stars‹ während der langen ›Silences‹ Szene direkt zum Publikum, Figur Wendys ›TränenWorkshop‹ schließlich wird in frontaler Publikumsansprache zum besten gegeben. In einigen wenigen Fällen lassen sich auch ›konfrontierende Rampenblicke‹ während szenischer Einheiten finden, die sonst eher eine ›Arena-Situation‹ aufrufen: Figuren werfen dann während zirkusartiger Aktionen Blicke ins Publikum, die zu fragen scheinen: »Mache ich das gut?«
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Während The World in Pictures sind beide beschreibbaren Grundmuster eng miteinander verschränkt: Hier steht Terry während ihrer gesamten Erzählung der »history of mankind« frontal zum Publikum und spricht durch ein Mikrophon (ihre Darstellung wäre insofern einem konfrontierenden Publikumsblick zuzuordnen). Das pantomimische Bebilderungsensemble der »history of mankind« hingegen scheint meist im Sog der eigenen Vorführungen mitgerissen zu werden, produziert also eher eine zirkusartige Blickordnung. In beiden Inszenierungen wird die Konfrontation des Publikums mit direkten Publikumsansprachen und Blicken häufig durch eine entsprechend frontale körperliche Ausrichtung der Darsteller begleitet. Diese Ausrichtung übersteigert sich manchmal auch ins absurd Komische und wird zum Teil auch mit den pantomimischen Illustrationen verbunden (vgl. Abbildung 6) Abbildung 6: ›Front machen‹ in The World in Pictures
Szenographische Skizze zur körperliche Ausrichtung von Darstellern mit gleichzeitigem Blick in Publikum; die Figur im Vordergrund spielt ein ›Erschrecken vor dem tödlichen Lavastrom‹; das Publikum steht in diesem Moment offenbar für die gefährliche Lava
Konfrontierende Rampen-Blicke und die unterdessen vorgeführte körperliche Ausrichtung thematisieren also in beiden Inszenierungen die Anwesenheit des Publikums während der Aufführungen. Sie unterstreichen auf diese Weise eine vierte Wand, eine Grenze zwischen Publikum und Bühne. Umgekehrt penetrieren die herausfordernden Blicke der Darsteller von der Rampe herab diese ›Wand‹ und stellen eine zum Teil irritierend intim wirkende Verbindung zum Zuschauerraum her. In-
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nerhalb dieser Ambiguität baut sich eine Spannung auf, die fast greifbar im Raum steht und die Publikum und Bühne zugleich ganz nah und doch immer unerreichbar füreinander wirken lässt. Vervielfältigung und Fragmentierung der vierten Wand Schließlich möchte ich auf den Zusammenhang von Strukturen der vierten Wand mit der oben beschriebenen On/Off-Unterteilung der Bühne hinweisen: Eine vierte Wand lässt sich sowohl materiell verwirklichen – beispielsweise anhand architektonisch vorgegebener Strukturen wie der Unterteilung des Saales in Zuschauerraum und Guckkasten – eine vierte Wand kann aber ebenso als Folge von Blickordnungen entstehen, die erst in der Aufführungssituation ›erspielt‹ werden. Eine entsprechende Etablierung raumstrukturierender Blickordnungen geschieht sowohl in Bloody Mess als auch in The World in Pictures, wenn sich Figuren im On/Off befinden, ihre Blicke ins On/On richten und die Figuren, die dort gerade noch agieren, betrachten. Der vierten Wand zwischen Bühne und Zuschauerraum werden dann alternative vierte (bzw. fünfte, sechste, siebte) Wände beigestellt. In der Kombination mit den erörterten On- und Off-Strukturen der Aufführung verliert also die traditionelle Unterteilung in Zuschauerraum und Bühne ihre Exklusivität, die Grundstruktur des architektonisch festgeschriebenen Bühnenraums gerät ›ins Spiel‹; die traditionell bekannte vierte Wand wird ihrer Vormachtstellung enthoben, parallele Blickordnungen (bzw. ›fünfte, sechste oder siebte Wände‹), Spiegelungen und Kommentare zur architektonischen Grundsituation treten neben sie. d) Fazit: Aufführungs-Räume Fasst man die analysierten Aufführungspraktiken in Bloody Mess und The World in Pictures zusammen, die die Spiel-Räume der Aufführungen entstehen lassen, zeigt sich, dass der Theatersaal als vorgängig architektonisch gesetzter, traditioneller Ort herausgefordert und in Frage gestellt wird. Indem die leere Bühne zum Bühnenbild der Aufführungen wird, betonen zunächst beide Inszenierungen die traditionelle Architektur des Theatersaals, seine rahmengebende Funktionalität wie auch die Erwartungen, die dieses Setting wecken kann. In der Unterteilung der Bühnen in Onund Off-Bereiche wird darauf das Ins-Spiel-Treten von Figuren als vielfach kontingente Handlung betont; auf diese Weise, ebenso durch die heterogenen Spielweisen, mit denen die beschriebenen Aufführungssituationen vierte Wände adressieren und bearbeiten, wird für die Zuschauerin sowohl erlebbar wie auch reflektierbar gemacht, dass (Theater-)Raum immer erst in sozialer Aushandlung entsteht und nur in der Praxis Sinn zu machen in der Lage ist, selbst wenn so klare rahmende Strukturen wie die einer klassischen Theaterarchitektur vorgegeben sind. Die Begriffe
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›Spielraum‹ und ›Klammern‹ konnten dabei in der Beschreibung zum einen auf die die festen (z.B. architektonischen) Grenzen verweisen, die zum Schutzraum für das Spiel der Aufführung werden. Zum anderen konnten sie an das Moment der Aushandlung erinnern, dass im Verlauf des Spiels dessen Raum erst ›erspielt‹ (und manchmal auch ausweitet). Spürbar wird dabei, für die Zuschauerin in situ ebenso wie für die theaterwissenschaftliche Beobachterin: »An important aspect of world constitution is the opening of a space of places at which activities can intelligibly be performed.« (Schatzki 2003: 114f) Das Öffnen eines »space of places«, wird in der Raumpraxis sowohl in Aufführungen zu Bloody Mess wie auch zu The World in Pictures erlebbar gemacht. 40 Insofern wird die »Heterotopie« des Theaters in beiden Aufführungen vorgeführt als ein immer nur in momentaner und konkreter Aushandlung realisierbares Konstrukt.41 Der entsprechende Konstruktionsprozess wird dabei als eine Quelle immer neuer Wahrnehmungsspiele inszeniert. Das Erscheinenlassen von Raum ist hier mit einer Betonung all jener Praktiken verbunden, die dieses Erscheinenlassen bewerkstelligen. Neben der Produktion von Zeit und Raum ist auch die Definition der Situationsteilnehmer in Aufführungen von herausragender Bedeutung. Aus diesem Grund werden sich die beiden folgenden Kapitel mit den Praktiken auseinandersetzen, die die Teilnehmer der zentrierten Interaktionen Bloody Mess und The World in Pictures als solche entstehen lassen. Dabei wird analytisch die gleiche Trennung vollzogen, die auch in der Praxis exerziert wird, zwischen denjenigen, die während der Aufführung auf der Bühne sichtbar ihrer Arbeit nachgehen und denjenigen, die während der Aufführungen als zahlende Gäste das Publikum formen. Kapitel IV. wird sich zunächst Praktiken und Techniken der Schauspieler bzw. Darsteller widmen, die Frage nach dem situativen Entstehen eines Publikums wird in Kapitel V. behandelt.42
40 Zur Sozialität des Raumes vgl. auch Certeau 1988: 218. 41 Die Begriffe »Heterotopie« und »Heterochronie« führt Michel Foucault in seinem Aufsatz: Andere Räume ein, vgl. oben und Foucault 2002. 42 Nachdem in der Aufführungspraxis von Bloody Mess und The World in Pictures die Aktivität mancher Situationsteilnehmer, z.B. die der Lichttechniker, unsichtbar bleibt – bzw. nicht speziell sichtbar gemacht wird – bleibt sie auch in den folgenden Beschreibungen außen vor.
IV. Spielfiguren der Aufführungen Im Zusammenhang mit den Praktiken der Zeit- und Raumkonstitution der Aufführungssituationen Bloody Mess und The World in Pictures konnten darstellerische Strategien beschrieben werden, die Klammern in Frage stellen, herausfordern, bzw. verspielen. Zugleich zeigte sich, dass erst der wiederholte praktische Rekurs auf stabilisierende Strukturen (z.B. auf den traditionell bekannten Theaterraum) die Situation aufrecht zu erhalten hilft. Im Folgenden soll es um die Frage gehen, ob Analoges auch für die Personen der Aufführungen, zunächst für ihre Darsteller, beschrieben werden kann: Anhand welcher Phänomene bzw. Praktiken wird es den Teilnehmern der Aufführungen Bloody Mess und The World in Pictures möglich, einen Darsteller als solchen zu erkennen? Wie decouvriert sich weiterhin das spezifische Verhalten einmal identifizierter Darsteller als zur Darstellung gehörig? Und wann erscheinen Praktiken der Darstellung äußerlich und zufällig – und damit ästhetisch ignorierbar, als nicht der ästhetischen Situation, der Aufführungssituation zugehörig? Auf den ersten Blick erscheint die Beantwortung der Frage nach den Situationsteilnehmern und ihrer Zugehörigkeit in beiden Aufführungssituationen fast banal und durch die im vorigen Kapitel besprochene Raumstruktur vorgegeben: Als Darsteller fungieren in beiden Inszenierungen offensichtlich diejenigen Personen, die sich während der Aufführungen auf der Bühne befinden. Während der Aufführungen zu Bloody Mess verlässt zwar eine Schauspielerin in einem Gorillakostüm für wenige Augenblicke die Bühne, um sich durch den Zuschauerraum zu bewegen – während dieses Momentes sorgt allerdings das den ganzen Körper der Darstellerin bedeckende Plüschkostüm für die überdeutliche Markierung einer Grenze; das Kostüm wird damit für einen Moment zu einer portablen kleinen Bühne. Schon dieses Beispiel zeigt, dass die Inszenierungen nicht nur die architektonisch vorgegebenen Struktur des Bühnenraums nutzen, sondern dass sie darüber hinaus noch weitere Markierungen anbieten, die über den Teilnehmerstatus von Darstellern berichten: Aufführungsteilnehmer können z.B. nicht nur aufgrund räumlicher Verteilung Darsteller und Publikum unterscheiden, sondern sie können sich auch an der Kostümierung orientieren. Zudem erhalten Zuschauer in der nach und nach ›erspielten‹ On/Off-Strukturierung der Bühnen die Möglichkeit, eine Unterscheidung zwischen
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Darstellern im On/On und On/Off zu treffen; weiterhin zeigt auch das Verhalten von Personen auf der Bühne, ob diese gerade ›ihren Job tun‹, oder ob sie gerade nicht mitspielen, bzw. pausieren. Schließlich lässt sich in beiden Aufführungen auch eine zeitliche Kodierung solcher Zuordnung feststellen: Personen treten auf und kennzeichnen sich als ›im Moment noch‹ außerhalb der Darstellungssituation befindlich, z.B. indem in Bloody Mess behauptet wird, es müsse »before we start« noch einiges klargestellt werden, oder indem in The World in Pictures davon gesprochen wird, dass Jerry nun gleich den Anfang machen würde. In Aufführungssituationen beider Inszenierungen wird also die Idee eines Bereiches innerhalb der Spielebene und eines Bereichs außerhalb der Spielebene etabliert, dessen Grenzen bzw. Rahmen auf mannigfache Weise gezogen werden können: räumlich wie zeitlich, materiell wie virtuell, wobei multiple Grenzziehungen möglich werden, die paradoxe Zwischenbereiche ermöglichen. Bevor im Folgenden einige der auffälligsten rahmenden Praktiken diskutiert werden, die in Bloody Mess und The World in Pictures entsprechend Darsteller, Rollen und Figuren wahrnehmbar werden lassen und wieder in Frage stellen, sollen diese drei Begriffe zunächst kurz theatertheoretisch und praxeologisch eingeordnet werden. 1. B EGRIFFSKLÄRUNG : D ARSTELLER , R OLLEN
UND
F IGUREN
Um zu entscheiden, welches Verhalten einer Darstellungspraxis zuzuordnen ist, wird Vorwissen benötigt; das Publikum während der beobachteten Aufführungen besitzt vermutlich eine Vorstellung davon, wie sich schauspielerische Darstellung präsentiert, bzw. präsentieren sollte. Entsprechendes Allgemeinwissen über das Schauspielen ist breit vorauszusetzen, alleine aufgrund der Tatsache, dass Schauspielerei als fest im Alltag verankerte kulturelle Praxis spätestens seit der griechischen Antike belegt ist. Heute ist das Auftreten von Schauspielern vor Publikum eine selbstverständliche und aus der alltäglichen Kultur nicht wegzudenkende Praxis, sei dies im Zusammenhang mit Kleinkunstaufführungen, großen TV-Events, Opern, Kinofilmen oder ähnlichem. Kulturelle Möglichkeitsumstände ebenso wie Techniken des Schauspielens und Darstellens werden nicht nur im Kontext der Theaterwissenschaft, sondern auch in der Ethnologie und in der Kulturwissenschaft reflektiert.1 Die vorliegende Untersuchung interessiert sich in diesem Zusammenhang 1
Ein umfassender kulturgeschichtlicher Abriss über Schauspielerei in Europa und im neuzeitlichen Nordamerika findet sich beispielsweise in Eberts Der Schauspieler (Ebert 1991). Anthropologische Studien zum Schauspielen und zu verwandten Darstellungstechniken, wie zum Beispiel zu rituellen Tänzen, liegen u.a. in den Arbeiten Eugenio Barbas und Richard Schechners vor, z.B.: A Dictionary of Theatre Anthropology. (Barba/Savarese/Fowler 2004); oder: Performance Studies. An Introduction (Schechner 2006).
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vornehmlich für das praktische Wissen zum Schauspielen, das in Aufführungen wirksam wird; dabei soll zunächst lediglich davon ausgegangen werden, dass die untersuchten Inszenierungen, Bloody Mess und The World in Pictures, im Verlauf einer Aufführung zahlreiche sowohl implizite wie explizite Hinweise auf mögliches praktisches ›Allgemeinwissen‹ ihrer Zuschauer zum Theaterspiel geben, weiterhin, dass Zuschauer der Aufführungssituation sich darum bemühen, Klarheit darüber zu erlangen, was für sie bestimmt ist, bzw. was insgesamt gerade ›der Fall ist‹. Diese Wahrnehmungsarbeit wird zwar die entsprechenden kulturell vorhandenen Wissensschätze zur Anwendung bringen, sich dabei aber auch und vor allem in situ durch das inszenierte Bühnengeschehen informieren, und möglicherweise von demselben in der Deutung der Situation geleitet werden. Zum Beispiel, indem das Publikum schon anhand der Klammerung von Zeit und Raum Hinweise dazu erhält, wie die Personen auf der Bühne und deren Handlungen in einem jeweiligen Moment zu verstehen sind. In der oben untersuchten On/Off-Unterteilung der Bühnen scheinen beide Aufführungssituationen zunächst eine überdeutlich klare Unterscheidbarkeit von Darstellern und ihren ›Rollen‹ bzw. Aufgaben zu ermöglichen; allerdings zwingt die entstehende Überdeterminierung grenzziehender Zeichen und Handlungen die Zuschauerin zugleich dazu, immer wieder aufs Neue möglich werdende Deutungen zu hinterfragen; es entstehen ›grenzwertige‹ Figuren. Zum Begriff der Figur lässt sich im Metzler Lexikon der Theatertheorie nachlesen, dass... »[...]die F.[igur] auf der Bühne nicht als ontologische Einheit aufzufassen ist, sondern als Konstrukt, welches sich erst in einem je spezifischen Verhältnis von Rolle und individuellem Schauspieler konstituiert und durch die Wahrnehmung der Zuschauer vollzogen wird.« (Roselt 2005a: 105) Diesem in der Praxis zum Einsatz gelangenden und hier professionell formulierten Deutungsmodell der Figurenentstehung soll allerdings hinzugefügt werden, dass ›Rollen‹ und ›individuelle Schauspieler‹ ebenso wenig als ontologische Einheiten aufgefasst werden können wie die Figuren einer Aufführung. So konnte Günther Heeg überzeugend nachweisen, dass gerade in der Idee einer »natürlichen« (gewissermaßen inszenierungsfreien) Individualität ein typisch neuzeitliches Phantasma besteht (vgl. Heeg 2000).2 Es ist gerade dieser Rahmen des Aufführungsspiels, diese rudimentäre (und phantastische) Spielregel einer Polarität aus ›Darsteller‹ und ›Rolle‹, auf die abgezielt werden soll, wenn im Folgenden vom praktischen Wissen die Rede ist, das es Teilnehmern der Aufführungssituationen Bloody Mess und The
Auch in der Theatralitäts- und Ritualforschung wurden die Grundvoraussetzungen der Schauspielerei besprochen, vgl. z.B.: Im Rausch des Rituals (Köpping 2008). 2
Goffman analysierte schon 1959, in The Presentation of Self in Everyday Life, die Inszenierungsstrategien alltäglicher Individuen.
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World in Pictures ermöglicht, Figuren entstehen zu lassen.3 Meine Beschreibung wird im Folgenden, ausgehend von meiner Wahrnehmung als Publikums-Mitglied, zwar die Begriffe Darsteller und Rolle (bzw. etwas lapidarer ›Jobs‹) verwenden – diese Begriffe sollen allerdings für fiktive Extrempunkte im Spiel der während der Aufführung entstehenden Figuren stehen, nicht als ihnen vorgängige Möglichkeitsumstände; das zentrale Interesse gilt den Praktiken der Aufführungen, die Figuren wahrnehmbar werden lassen – seien dies Darsteller-artige oder typisierte RollenFiguren. Die hier verwendete Begrifflichkeit bezieht sich lose auf Michael Kirbys Arbeit A Formalist Theatre und die dort formulierte Matrix unterschiedlicher Schauspielstile, in der Stile aufgeführt sind, die sich zwischen den Extremen »Full Scale Acting« und »Not Acting« bewegen.4 Allerdings bleibt in Kirbys Matrix die Frage der Zuschreibbarkeit, die die vorliegende Studie für zentral erachtet, weitestgehend unbearbeitet: Aufgrund welcher Zeige-Praxis wird »Not-Acting« für das Publikum dennoch als Handlung im Rahmen der Aufführung erkennbar? Und mithilfe welcher Wahrnehmungs-Praxis gelingt es einem Publikum zu entscheiden, dass es, im Falle eines »Full Sacle Acting«, mit einer Rollen-Figur konfrontiert wird (und eben nicht mit einem echten, realen, ›psycho-logischen‹ Charakter)? Um solche Fragen zu adressieren, soll im Folgenden der Begriff der Spielfigur zentral stehen. Etymologisch geht der Begriff auf das Lateinische figura zurück, das »Gestalt«, »Aussehen«, »Bild« oder »Erscheinung« bedeuten kann (vgl. Roselt 2005a); eine erste Definition des Begriffs, wie er hier verwendet werden soll, findet sich in Goffmans Rahmen-Analyse (vgl. Goffman 1989: S. 560ff): Figuren sind »gestaltete Konfigurationen«, die zum Beispiel im Material eines Schauspielerkörpers entstehen können, doch ebenso gut mit Hilfe einer Socke und einer darin agierenden Hand oder im Medium des Comics, geformt aus Bild und Schrift. Die Ge3
Damit möchte ich längst nicht nur auf explizierbare Wissensschätze abzielen, wie sie sich z.B. in kulturgeschichtlichen Abhandlungen und Theaterlexika finden lassen. Vielmehr interessiere ich mich vor allem für das oftmals implizite Knowhow, das es ermöglicht, in der Theatersituation ›Sinn zu machen‹.
4
Alle diese Stile werden von Kirby im vollen Sinne als Schauspielstile begriffen, nicht etwa als mögliche Stile alltäglichen Verhaltens. »Not Acting« bezieht sich damit also nicht auf ›nicht inszeniertes Handeln‹, sondern auf ein Handeln auf der Bühne, das dennoch anscheinend nur um seiner selbst willen geschieht. »Received Acting«, ein weiterer Schritt in Kirbys Matrix, läge vor, wenn ein Effekt, der auf eine Eigenschaft der Rolle verweist, klar von außen an den Darsteller herangetragen wird (z.B. indem ein zur Rolle gehöriger Gehfehler durch einen am Bein des Darstellers befestigten Stock erzwungen wird). »Simple Acting«, wäre gegeben, wenn ein Darsteller eine sehr reduzierte, schematische Darstellung abliefert, wenn also die Arbeit des Darstellers an der Rolle sichtbar bleibt; unter »Complex Acting« schließlich versteht Kirby das Darstellen einer Figur in einem psychologisch-mimetischen Schauspielstil, usw (vgl. Kirby 1987: 10ff).
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staltung bzw. Formung von Figuren bedarf dabei immer der Wahrnehmung (z.B. durch ein Publikum), um überhaupt in Erscheinung zu treten. Im Hinblick auf das Spiel kennzeichnet der Begriff der Spielfigur weiterhin eine interessante Zwischenposition zwischen den ›Spielregeln‹, dem ›Spielzeug‹ und den ›Spielern‹: Zwar sind Spielfiguren gewöhnlich aktive Protagonisten in einer fiktiven Spielwelt, deren Regeln in Form von Rollen festliegen, dennoch gehorchen Figuren auch dem Willen ›ihrer‹ Spieler. Als in konkretem Material verwirklichtes Spielzeug sind Figuren weiterhin den Gesetzen der materiellen Welt unterworfen und zwingen diese umgekehrt der Spielwelt auf, sie regulieren insofern in ihrer Eigengesetzlichkeit den Spielverlauf. Die Ludologin Natascha Adamowsky betont in ihrer Arbeit Spielfiguren in virtuellen Welten diesen Zwischen-Charakter, der die Spielfigur flüchtig und unstet werden lässt; in Anlehnung an Adornos Rede vom Kunstwerk als Feuerwerksphänomen nennt Adamowsky Figuren »momentan aufleuchtende Erscheinungen«. Auch wenn Adamowsky keine Theaterfiguren, sondern Figuren im Kontext von Computerspielen untersucht, scheint ihre poetische Definition auch im Kontext der hier untersuchten Forced Entertainment Aufführungen passend: »Eine Spielfigur ist kristallin und Feuerwerk zugleich. Gemeint sind jene Gestalten, die aufleuchten, wenn sich die Spielenden auf der Freifläche des Spiels immer wieder neu erfinden. Sie ähneln darin jenem vollkommenen Kunstwerk, das in dem Moment, in dem es aufzischt, bereits verglüht und aus dessen Schein sich Impulse lösen, Licht und Farbe, die einladen zu neuen Rendezvous. Spielfiguren sind wahrnehmbare Form einer ludischen performance, die als expressives Spielerlebnis zu einer Totalität tausendfacher Perspektiven facettiert.« (Adamowsky 2000: 21)
Dass ein ›realer Darsteller‹ und eine von diesem klar unterscheidbare ›Rolle‹ auf einer Bühne sichtbar werden können (z.B. indem ein Darsteller seine Maske abnimmt) soll im Folgenden als das praktische und kontingente Vorwissen begriffen werden, in dessen Rahmen die Spielfiguren der Aufführungen möglich werden. Das rahmende Vorwissen zur Unterscheidbarkeit von ›Rolle‹ und ›Darsteller‹ wird zur Spielregel für das ›Erspielen‹ von Figuren. Die hier verwendete Begrifflichkeit schlägt insofern vor, dass zwischen den Extrempunkten ›Darsteller‹ und ›Rolle‹ aufleuchtende Spielfiguren auf flüchtige und unsichere Weise in Existenz gelangen. Um die mit dieser Regel agierende Praxis des ›Erspielens‹ von Figuren in Aufführungssituationen von Bloody Mess und The World in Pictures zu beschreiben, soll auf den folgenden Seiten gefragt werden: Mit Hilfe welcher Darstellungspraktiken wird der Zuschauerin nahegelegt, dass ihr gerade eine (reale) Darstellerin oder ein als er selbst agierender Schauspieler vor Augen steht? Wie entstehen vor Augen des Publikums Rollen, die von Dar-
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stellern verkörpert werden, um eine Spielfigur entstehen zu lassen? Und welche Bühnen-Praktiken stellen solche Möglichkeiten der Zuschreibung in Frage? Die Beispiele, die in Anbetracht des Umfangs der vorliegenden Arbeit zur systematischen Untersuchung ausgewählt wurden, können kein einzelnes, umfassendes Prinzip illustrieren, nach dem schlechthin alle wahrnehmbar werdenden Figuren der Aufführungssituationen entstehen. Allerdings wurden jeweils Beispiele darstellerischer Praktiken ausgewählt, die in ähnlicher Form in Aufführungen beider Inszenierungen wahrnehmbar werden. Das jeweilige ›Einzoomen‹ der folgenden Beschreibungen auf einzelne Darstellungsmittel wie Materialität und Leiblichkeit, Sprache und Ensemblespiel soll keine unterschiedlichen oder gar eigenständigen Zeichensysteme, Kommunikationskanäle o. ä. voraussetzen, vielmehr folgt die angewandte Unterteilung der Logik der untersuchten Empirie;5 denn in Bloody Mess und The World in Pictures werden besonders in der Kostüm-Nutzung und im vorgeführten körperlichen Engagement (2.), im sprachlichen Agieren (3.) sowie im Verhalten von Ensemblemitgliedern untereinander (4.) die Grenzen betont, die beide Inszenierungen immer wieder konstitutiv setzen und in Frage stellen. 2. A N
DEN LEIBLICHEN
G RENZEN
DER
F IGUREN
a) Praktiken der Kostümnutzung Des Grenzgebiet zwischen Darstellern und ihren Rollen wird in beiden Inszenierungen besonders auffällig, sobald das Anlegen und/oder der Gebrauch eines Kostüms vorgeführt wird. Weiterhin besteht im Kostümgebrauch eine Schnittstelle zwischen der materiellen Ausstattung des Aufführungs-Raumes und den Körpern der als Darsteller Agierenden.6 Kostüme, bzw. allgemeiner, jede Form der Theatermaske, können schließlich als Artefakte betrachtet werden, denen sowohl im Zusammenhang mit der Strukturierung der Aufführungszeit als auch in der Teilnehmerkonstitution von Aufführungen eine wichtige Funktion zukommt, z.B. indem das Anlegen einer Maske daraufhin weist, das nun die ›eigentliche‹ Aufführung beginnt, und/oder sich ein individueller Darsteller ins Spiel begibt. In Kostüm und Maskierung besteht also ein materialisiertes Moment des Bühnenspiels, das in jeder 5
Die Unterscheidung von Zeichensystemen ist z.B in einem dezidiert theatersemiotischen Kontext üblich; vgl. hierzu z.B. die Ausführungen in: Fischer-Lichte 2003a.
6
In manchen Theaterformen könnte sogar davon gesprochen werden, dass im Kostüm kleine, individuelle und bewegliche Bühnenbilder bestünden; diese Sichtweise schlagen z.B. Barba et al. für die Beschreibung bestimmter Darstellungs-Stile vor. »Proportions, colours, scintillating costumes, marks and other props transform the [oriental] performer into a ,miniature set‹ in constant movement on the stage, and presents an infinite succession of perspectives, dimensions and sensations.« (Barba et al. 2004: 219).
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Hinsicht Grenzen markiert. Darüber hinaus kommt das Kostüm Darstellern besonders nahe, es berührt buchstäblich ihre Leiblichkeit, indem es direkt auf ihrer Haut aufliegt. Friedemann Kreuder schreibt in Metzlers Theaterlexikon entsprechend zur Maske im Theater: »Die M.[aske] ist die Hypothese der Existenzform eines Anderen; sie impliziert auch die Accessoires dieses anderen ,Gesichts‹, das Kostüm, eine andere Haltung, ein anderes Gehabe, bis hin zur Annahme der Identität einer fremden Figur.« (Kreuder 2005: 193) Die Maske (als Oberbegriff für Kostümierung, Schminkmasken etc.) lässt sich damit als paradigmatisch für die schauspielerische Leistung begreifen: »Der Schauspieler soll sich etwas Fremdes aneignen und mit dem Fremden als Eigenes spielen.« (Kreuder 2005: 193) Beide Inszenierungen, Bloody Mess wie The World in Pictures, bedienen sich dieser beispielhaften Funktion, die man der Maske zuschreiben kann. So wurde in Abschnitt III.4 darauf hingewiesen, dass sowohl in Bloody Mess als auch in The World in Pictures die Verwendung von Requisiten und Kostümen dazu beiträgt, ein bewegtes Bild der Bühne zu produzieren (z.B. indem Darsteller ihre Jacketts durch die Luft schwingen, etc.). Diese Nutzungs-Praxis leistet aber noch mehr: Kostüme werden hierbei dezidiert als darstellerische Gebrauchs-Gegenstände sichtbar gemacht. Sie helfen also, den Bereich des On/On zu kennzeichnen. Die (sowieso nahe liegende) Interpretation der Zuschauerin, dass das Anlegen eines Kostüms gleichbedeutend sein könnte mit einem Eintritt ins Spiel, wird auf diese Weise demonstrativ unterstrichen. Die Kostümnutzung wird insofern in Aufführungssituationen beider Inszenierungen zum besonders betonten Instrument der Grenzziehung und damit, wie erwähnt, umgekehrt zu einer Quelle von Interferenz und Unschärfe – insbesondere, da die einzelnen Darsteller in beiden Aufführungssituationen die Verwendung ihrer Kostüme je unterschiedlich organisiert zu haben scheinen. Es ist gerade diese Heterogenität der Kostüm-Nutzung die ich nun für beide untersuchten Aufführungen genauer nachvollziehen möchte. In Bloody Mess tragen die Darsteller Kostüme, die nicht zueinander, bzw. nicht in ein und dieselbe Inszenierung zu passen scheinen. Zudem unterscheiden sich die Zeitpunkte, zu denen Darsteller ihre Kostüme an- oder ablegen; schließlich scheinen alle Darsteller unterschiedliche Ziele in der Nutzung ihrer Kostüme zu verfolgen: Die ersten Personen die während der Aufführung Bloody Mess auf der Bühne zu sehen sind, tragen ramponiert wirkende Anzüge; diese erinnern in Farbe und Form an Outfits typischer Clowns oder Spaßmacher: Karomuster auf auffällig hell gefärbtem Grund, sandfarben der eine, rot der andere, schlecht sitzend und ausgebeult. Allerdings lässt sich keiner dieser Anzüge einer spezifischen Clownerie-Tradition zuordnen, wie zum Beispiel der Darstellung eines ›dummen August‹ oder eines ›weißen Clowns‹. Die Anzüge wirken alt und ungewaschen,
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als stammten sie aus einem schlecht sortierten Kostümverleih. Beide Darsteller tragen unter der Jacke kein Oberhemd. Der rote Clown (der sich später als »John« vorstellen wird) hat ganz zu Beginn der ›Stuhl-Spiel‹ Szene sein – viel zu enges – Jackett mit einem Knopf geschlossen; in den folgenden, zum Teil sehr bewegungsreichen Szenen öffnet sich dieser und gibt den Blick auf Johns nackten Oberkörper frei, der weder besonders schlank noch jugendlich ist. Der sandfarbene Clown, »Bruno«, trägt seine Jacke, die ihm wiederum viel zu weit ist, von Anfang an offen und lässt einen hageren Oberkörper sehen.7 Beide Darsteller haben außerdem typisiertes Clowns-Make-up aufgetragen; auch dieses lässt sich keiner klassischen Schminkmaske zuordnen: Die Gesichter beider Darsteller sind weiß bemalt, die Münder mit roter Farbe augusthaft weit in die Wangen hinein überzeichnet, wobei die hochgezogenen Winkel ein Lachen andeuten; über die Augen verläuft jeweils eine vertikale schwarze Linie, ähnlich der Träne im Harlekin-Gesicht. In ihrer unspezifischen Gestaltung scheinen die Schminkmasken wenig sorgfältig, sie wirken laienhaft und lustlos ausgeführt. Darüber hinaus zeigt sich am fettigen Glanz und dem schnellen Verwischen des Make-ups, dass eine minderwertige Farbe verwendet wurde. Dass Outfit und Make-up der beiden Darsteller als Kostüm und nicht als Alltagskleidung zu betrachten sind, ergibt sich alleine schon aus der Tatsache, dass der ›Clown‹ als Typ, als Maske oder (im weitesten Sinne) als Rolle traditionell bekannt ist; über dieses Vorwissen verfügen mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht nur diejenigen Aufführungsteilnehmer, die häufig das Theater besuchen, sondern auch diejenigen, die vielleicht nur wenig Erfahrung mit der darstellenden Kunst besitzen. Andererseits stammt der Clown nicht aus einer Darstellungstradition, die man auf einer städtischen Theaterbühne erwarten würde, er verweist eher auf Kontexte der Comedy, des Zirkus oder des Karnevals; insofern werden die Clownskostüme von Beginn der Aufführung Bloody Mess an auffällig – man kann sie damit als vorgeführte Kostümierung verstehen. In diese erste interpretierende Beobachtung spielt auch meine Wahrnehmung der offensichtlich minderen Qualität der Kostüme hinein, die diese nicht nur unpassend, sondern im wahrsten Wortsinn prekär scheinen lässt.8
7
Meine Argumentation würde eigentlich nahelegen, Namen der Darsteller-Figuren immer in Anführungszeichen zu setzen. Ich verzichte darauf im Folgenden zu Gunsten des Schriftbildes.
8
Der Begriff ›prekär‹ leitet sich vom lateinischen precarium ab, das im Deutschland u.a. als Fremdwort für ›Bittleihe‹ stand, vgl. z.B. den Eintrag im Etymologischen Online Wörterbuch der Deutschen Rechtssprache. Es sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass Katharina Pewny in ihrem 2011 erschienen Buch Das Drama des Prekären eine Theorie der
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Etwa zehn Minuten nach Beginn der Aufführung betreten auch die übrigen Bloody Mess Darsteller die Bühne. Alle setzen sich auf die an der Rampe aufgereihten Stühle, was dazu einlädt, sie untereinander zu vergleichen. Die in den Clowns eingeführten möglichen Assoziationen – des Spaßmachertums, oder vielleicht des Zirkus – lassen sich beim Anblick der neu hinzugekommenen Personen allerdings nicht weiter verfolgen. Damit werden umgekehrt die Clowns in ihren ramponierten Anzügen, an deren Anblick sich die Zuschauerin zunächst gewöhnen konnte, ein weiteres Mal fragwürdig. Von den neu auf die Bühne gelangten Personen scheinen insgesamt nur zwei Frauen ebenfalls schon kostümiert zu sein, während die anderen eher ›alltäglich‹ oder ›privat‹ wirkende Kleidung tragen. Die Kleidung dieser beiden möglicherweise schon kostümierten Frauen, die sich später als Cathy und Terry vorstellen, verweist auf keine konkrete, traditionell bekannte Kostümierung; allerdings ist auch nicht als alltäglich zu beschreiben: Keiner der Aufmachungen würde man im heutigen Alltag auf der Straße begegnen. In beiden Fällen handelt es sich um Frauenkleider, deren Röcke zwar bis auf den Boden reichen, die dafür aber Arme und Dekolleté nur wenig bedecken – die Kleider wirken insofern recht unpraktisch. Cathys Kleid besteht aus einer Art Satin in hellem Rosé und scheint die Assoziation eines altmodischen Ballkleides wachrufen zu wollen, für ein ›tatsächliches‹ Ballkleid ist es aber bei weitem zu schmucklos.9 Terry trägt einen glänzenden Stretchstoff in kräftigem Pink, der bis zu ihren Hüften eng wie eine zweite Haut anliegt und sich im Rock schwer und lang nach unten zieht; außerdem trägt Terry klobige schwarze Lederstiefel. Diese Aufmachung scheint auf die Mode der 1990er Jahre und auf die Körperformen der darin steckenden Darstellerin verweisen zu wollen. Auch diese beiden Outfits erscheinen qualitativ minderwertig, möglicherweise sogar etwas schmuddelig. Auch die beschriebenen Frauenkleider wirken damit ›besonders‹, d.h. sie lassen sich von den Kleidern, die die übrigen Personen auf der Bühne tragen, klar differenzieren. Sie wirken darüber hinaus theatral, da ihr symbolischer, zeichenhafter Wert (weiblich gegendert, dabei ›altmodisch‹ das eine, ›modern und sexy‹ das andere) ihren pragmatischen Wert bei weitem übersteigt; auch Terrys und Cathys
zeitgenössischen Theaterästhetik ganz auf dem Begriff des Prekären aufbaut (vgl. Pewny 2011). 9
Theaterinsider erkennen in dem beschriebenen Kleid Cathys unschwer ein sogenanntes Probenkostüm, wie man sie in größeren Theaterhäusern nutzt, um das tatsächlichen, häufig teure und aufwändigen Kostüm während der Probenarbeit zu schonen, Schauspielern aber dennoch schon das ›originale‹ Tragegefühl zu vermitteln. Auch diese Assoziation fügt sich ins im Folgenden beschriebene Bild, wird aber an dieser Stelle nicht weiter behandelt, da sie nur einem Expertenblick zugänglich wird.
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Kostüme erscheinen insofern fragwürdig, ausgestellt und in ihrer Minderwertigkeit betont. Die übrigen Darsteller erscheinen – im Kontrast zu den prekären Clowns, Cathy und Terry – auffällig unkostümiert. In bequem sitzenden blauen oder schwarzen Jeanshosen und Röcken, und je unterschiedlichen einfachen T-Shirts bzw. Blusen und Turnschuhen scheinen Wendy, Ben, Jerry, Davis, Claire und Richard genauso gekleidet, wie sie es auch während ihres gewöhnlichen Alltags sein könnten.10 Nachdem die ersten Worte der Sequenz (im Szenar unter Kapitel VII: ›Vorstellungsrunde‹) lauten: »Before we start...«, erhält die Deutung, dass hier Darsteller in Privatkleidung präsentiert würden, zusätzliche Legitimation: Die Behauptung, die ›eigentliche‹ Aufführung habe noch nicht begonnen, lässt es nur vernünftig erscheinen, dass Darsteller noch unkostümiert zu sehen sind. Allerdings wirken damit die ›schon kostümierten Darsteller‹ nicht nur per se prekär, sondern auch noch im Kontext der Situation seltsam fehlplatziert. Schon während des Beginns der Aufführung Bloody Mess werden also bestimmte Kleidungsstücke zu auffälligen Kostümen gemacht. Im selben Spielzug werden andere Kleidungstücke im Kontrast als Alltagskleidung lesbar, obwohl sie auf einer Bühne getragen werden. Konnte die Zuschauerin in Bloody Mess eine klare Differenz aus ›Alltagskleidung‹ und ›Kostüm‹ während der Sequenz ›Vorstellungsrunde‹ wahrnehmen, da dort Darsteller nebeneinander saßen, von denen einige im Kostüm, andere in Alltagskleidung erschienen, wird diese Differenz in The World in Pictures hauptsächlich in der Figur Jerry sichtbar gemacht; daher möchte ich im Folgenden kurz die KostümPraxis dieser Figur betrachten: In der der ersten Szene der Aufführung, der ›Ratschläge an Jerry‹ Sequenz, treten alle Darsteller gemeinsam auf; sie alle tragen wenig spezifische, alltäglich wirkende Kleidung. Dass diese gewöhnlich wirkende Kleidung als alltäglich und evtl. auch privat begriffen werden kann, wird auch in The World in Pictures durch die Ankündigung der Darsteller legitimiert, man würde nur einige Ratschläge an Jerry richten, bevor die ›eigentliche‹ Aufführung begänne. Nachdem die Kollegen Jerrys den sichtbaren Bereich der Bühne wieder verlassen haben, erfolgt Jerrys erster Monolog; dabei trägt der Darsteller unverändert seine ›Alltagskleidung‹: eine hellblaue Jeans und ein sportliches violettes T-Shirt mit der Aufschrift »Superdry Phys. Ed.«. Dennoch wirkt Jerry während dieser zweiten Szene des Abends vollkommen anders als in der Anfangssequenz; diese Veränderung ist seiner Körperhaltung geschuldet, seinen Blicken und seinem Duk-
10 Die Kleidungsstücke zweier dieser ›alltäglich‹ wirkenden Darsteller sind ausschließlich in schwarz gehalten; dies wird allerdings erst auffällig, wenn diese beiden Figuren beginnen, sich als Veranstaltungstechniker zu verhalten, die zu allem Überfluss offenbar davon ausgehen, ein Rock‹n‹Roll Konzert zu betreuen.
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tus.11 Vom auf der Bühne ausgestellten, passiven Adressaten der teils aggressiven Ratschläge seiner Kollegen während der ›Ratschläge an Jerry‹ Sequenz hat sich Jerry zum selbstbewussten Sprecher verwandelt. Diese ›Verwandlung‹ kommt ohne jeden Kostümwechsel aus. Nach Jerrys Monolog treten seine ›Kollegen‹ erneut auf; nun tragen sie improvisiert wirkende Höhlenmenschenkostüme aus künstlichen Fellstücken, manche davon mit gewöhnlichen Schnallengürteln zusammengehalten. Einer der Darsteller trägt gut sichtbar eine Armbanduhr. Komplettiert wird diese halbherzig wirkende Urzeitkostümierung durch billige Langhaarperücken aus Plastikhaar, die zum Teil (in Farbe und Stil) ganz erheblich der Höhlenmenschenthematik widersprechen, z.B. indem sie eine wasserstoffblonde Ponyfrisur mimen, o.ä.. Auch in The World in Pictures werden die Kostüme durch ihre minderwertige Materialität und ihre ungeschickt und improvisiert erscheinende Machart sowohl fragwürdig als auch auffällig. Auch kommt nun eine mehrfache Kontrastwirkung zwischen ›Kostüm‹ und ›Alltagskleidung‹ zustande: Das Publikum kann sich an dieselben Darsteller, die nun in albernen Urzeit-Kostümen auftreten, auch noch in alltäglicher Aufmachung erinnern, vor allem aber befindet sich Jerry während des Auftritts seiner Kollegen noch in ›Privatkleidung‹ auf der Bühne. Jerry wechselt nun auf offener Bühne seine Kleidung; dieser Moment dauert nur relativ kurze Zeit, wird dafür aber umso mehr hervorgehoben und bedeutungsvoll gemacht; er soll daher dezidiert geschildert werden: Jerry befindet sich noch alleine auf der Bühne. Er hat seine lange monologische Erzählung auf einen spannenden Punkt zugespitzt: Der Protagonist seiner Erzählung hat sich vom Dach eines hohen Hauses gestürzt und erlebt in Zeitlupe das Näherkommen des Bodens. Doch plötzlich scheint Jerry es sich anders zu überlegen; sein bislang epischer Vortragsstil und seine ruhige Körperhaltung verändern sich; er beginnt hastig zu sprechen und dabei viel stärker zu gestikulieren: »Right. now. This may sound ridiculous... but I’m act’ gonna pause that there! uhm...« Inzwischen beginnen die aus der Anfangsszene bekannten Kollegen – kostümiert – auf die Bühne zu strömen; Darstellerin Terry reicht Jerry ein Stoffbündel; Jerry sagt zum Publikum: »...just gonna change into this costume.« Nun beginnt er sich umzuziehen, wobei er hastig und angeregt weiterspricht, als wolle er den Moment des Kostümwechsels überspielen. Die Kollegen warten unterdessen etwas ungeduldig. Während Jerry aus seiner Jeans klettert, dreht er sich, ein Bein noch in der Hose, nach hinten zu den Kollegen um und fragt: »Are we doing it with our pants on?« Kollege Robin antwortet, indem er seinen Fellschurz anhebt und eine ausgeleierte Unterhose sehen lässt. Jerry dreht sich 11 Zu Sprechweisen der Inszenierungen vgl. Kapitel IV. 3,. zu Jerrys Monolog als ›Youfiction‹ vgl. Kapitel V.2.
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zurück Richtung Publikum, dabei sagt er, etwas missmutig, wie zu sich selbst: »Yeah?! Okay.« Er legt seine Jeans komplett ab; wieder zum Publikum gewandt sagt er laut, in Showmastermanier: »Good! We are going to do it with our pants on, this evening!« Darauf vollzieht er den weiteren Wechsel in sein Fellkostüm zügig. Kaum umgezogen, verlässt er seine mittige Position auf der Bühne und reiht sich weiter hinten in die Gruppe seiner Kollegen ein. Der geschilderte Moment stellt in mehrerlei Hinsicht eine Übergangssequenz dar: Neben einem Szenenwechsel und einem Kostümwechsel ist hier ein bemerkenswerter Statuswechsel der Figur Jerry inszeniert. Während Jerry sich als Sprecher seines Monologs als aktiver Gestalter seines suggestiven Textes präsentiert, scheint seine Souveränität nach und nach verloren zu gehen. Während die Darstellerkollegen auf die Bühne drängen, wirkt Jerry gehetzt, auch gerät er anscheinend in logistische Schwierigkeiten, während er versucht, sein Kostüm möglichst souverän anzulegen; kurzzeitig ringt er sogar um stimmige und zusammenhängende Sätze. Seine ›peinliche Unwissenheit‹ über die Unterhosen-Frage führt zu einem zusätzlichen Stottern im Ablauf. Zudem herrscht offenbar keine Einigkeit im Ensemble der Kollegen was die Kostümnutzung anbelangt: Jerrys »Yeah?! Okay«, das er zur UnterhosenThematik verlauten lässt, kann sowohl als Erstaunen wie auch als leise Missbilligung verstanden werden. Die Handlung des Kostümwechsels – und damit die Differenz zwischen ›Kostüm‹ und ›Alltagskleidung‹ – wird hier also intensiv betont und dabei als Quelle möglicher Fehler und Peinlichkeiten gekennzeichnet – sie wird insofern vorgeführt im mehrfachen Sinne des Wortes. Neben der Vorführung der Kostümierung leistet die besprochene Szene eine Betonung der Individualität der auf der Bühne befindlichen Darsteller und ihrer (angeblichen) Einstellungen. Weiterhin handelt die Kostümpraxis der Figur Jerry der nahe liegenden Idee zuwider, ein Kostüm zu tragen würde bedeuten, in die ›eigentliche‹ Aufführung einzutreten; denn kaum hat Jerry sein Kostüm angelegt, ist er offenbar von seiner Aufgabe entbunden, zum Publikum zu sprechen: Solange Jerry im Fellkostüm und mit Langhaarperücke im Ensemble seiner Kollegen mitspielt, besteht seine Aufgabe offenbar im Agieren als Bühnentechniker. Erst zum Schluss der Aufführung taucht Jerry ›plötzlich‹ wieder in seiner vom Anfang bekannten ›Alltags-Kleidung‹ hinter dem Laptop auf, das er bis dorthin bedient hat – er hat sich während der letzten Phase der »history of mankind« unauffällig umgezogen. Jerrys Kostüm wird insofern zu seinem Rückzugsort, es wird gewissermaßen zum Versteck bzw. zum transportablen On/Off der Figur, aus dessen Schutz der Backstage-Tätigkeit des Aufführungstechnikers nachgegangen wird. Gerade die Person, in der die Differenz aus ›Alltagskleidung‹ und ›Kostümierung‹ während der Aufführung The World in Pictures besonders sichtbar gemacht wird, tritt also immer dann in den Hintergrund, wenn sie kostümiert ist, in ›Alltagskleidung‹ hingegen ist Jerry sogar mehr als präsent und wendet sich in Monologen an das Publikum. Die Bedeutung des Kostüms,
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bzw. der zugehörigen Rolle wird auf diese Weise in Jerrys Figur herunterspielt, das Heraustreten des (privaten) Darstellers aus dem Bühnen-Geschehen hingegen wird betont und ästhetisch erhöht. Wechsel von angeblicher Alltagskleidung in Kostüme oder zwischen verschiedenen Kostümvariationen zeigen Darsteller in den Aufführungssituationen beider Inszenierungen häufig. Dies schafft die Möglichkeitsumstände, Schwellenzustände wie Entblößungen oder fallende Masken zu thematisieren: In Bloody Mess zieht sich Figur Terry während des gesamten Verlaufs der Aufführung sehr oft im rechten hinteren On/Off Bereich der Bühne um: Sie wählt immer wieder neue Kleidungsstücke aus, die sich dort auf einem Kleiderständer befinden; sie alle sind sehr weiblich und körperbetont und rufen stilistisch. GoGo- und andere Showtanz-Assoziationen auf, z.B. sind die Kleider ein Mal mit glänzenden Pailletten besetzt, ein anderes Mal mit Fransen versehen, u.s.w. Terrys pinkfarbenes Kleid aus der ›Vorstellungsrunde‹ lässt sich für die Zuschauerin nachträglich ohne weiteres in die Riege dieser Kostüme einreihen. Während ihres wiederholten Umziehens behält Terry jeweils nur ihren Slip und ihre schwarzen Stiefel an; abgesehen davon ist sie immer wieder so gut wie nackt zu sehen. Terry scheint in ihrem Tun zunächst von der Idee getrieben, dass das richtige Kostüm viel zum Gelingen oder Misslingen ihrer Aufgabe im On/On beiträgt: sie zeigt sowohl beim Anlegen der unterschiedlichen Kleidungsstücke wie auch insgesamt in ihrem Tun auf der Bühne intensives Engagement. Nachdem Terrys Darstellungsarbeit (sie spielt eine in Tränen aufgelöste Wehklagende) außerdem damit einhergeht, dass sie sich Wasser ins Gesicht oder über den Kopf gießt, sind ihre Kleider häufig durchnässt – was als weitere schlüssige Erklärung für ihre häufigen Kostümwechsel dienen kann. Schon nach einigen Durchgängen ihres wiederkehrenden Umkleidens während der Born to Be Wild Sequenz scheint Terry langsam dazu überzugehen, den kurzen Moment ihrer Entblößung dafür zu nutzen, ihre Darstellung mit weiblichen Reizen anzureichern. So fingiert sie beispielsweise, Wasser aus ihrer Kleidung herauszuschütteln; dafür zieht sie, während sie am Ende der Speed King Sequenz mittig auf der Bühne kniet, den Ausschnitt ihres Schlauchkleides tief nach unten, und präsentiert dem Publikum mit herausforderndem Blick ihre nackte Brust. Die Darstellungsarbeit Terrys bleibt, trotz ihres intensiven Körpereinsatzes, zunächst ein Rätsel für die Zuschauerin; passend zur eingespielten Musik und zum Verhalten zweier weiterer Figuren als ›Rock’n’Roll-Roadys‹ könnte man vielleicht annehmen, dass Terry eine melodramatisches Rockshow zu mimen versucht; bald aber verändert sich anscheinend ihre ›Strategie‹: Schienen die Kostümwechsel zu Beginn der Born to Be Wild Sequenz noch Folge von Terrys seltsamen, recht nassen Klageszene, und ihre Nacktheit während des Kostümwechsels hingenommenes
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Übel zu sein, wird später das Entblößen ihrer weiblichen Reize zum Mittelpunkt der Bemühungen der Figur. Dabei bewirkt gerade der wiederholte Einsatz dieser Darstellungstechnik, dass Terrys Entblößung den (anscheinend) gewünschten Aufmerksamkeitseffekt nicht bieten kann: Die Zuschauerin hat sich schnell an Terrys Nacktheit gewöhnt. Einzig wenn Terrys Entblößung wie zufällig stimmige Verbindungen mit anderem Bühnengeschehen eingeht, entstehen unerwartet effektvolle Bilder. Auch in The World in Pictures zeigen die Darsteller im Bebilderungsensemble je unterschiedliche Darstellungsstrategien der körperlichen Entblößung (insbesondere Darsteller-Figur Richard, die im folgenden Punkt eingehender behandelt wird). In beiden untersuchten Aufführungssituationen werden dabei plump effektheischende Darstellungspraxen der Figuren ins Lächerliche gezogen. In der Vielfalt der Kostümnutzung betonen also beide Inszenierungen die sinnstiftenden Differenzen zwischen Kostüm und Alltagskleidung, zwischen Verhüllung und Nacktheit. Auf diese Weise werden im Verlauf der Aufführungen komplexe Grenzregionen etabliert, z.B. wenn sich Darsteller in ihren Kostümen zurückziehen (statt in ihnen auffällig zu werden, vgl. Jerry in The World in Pictures) oder indem eine effektheischende, inszenatorischen Nutzung von Nacktheit als dysfunktional vorgeführt wird. Die Figuren, die sich in solchen Grenzregionen präsentieren, scheinen ein intentionales Innenleben zu besitzen, auf das die Zuschauerin rückschließen kann, z.B. wollen die auf der Bühne agierenden ›Darsteller‹ offenbar Aufmerksamkeit erregen oder sich vor dem Trubel der Aufführung verstecken. Die Zuschauerin kann auf diese Weise ›dargestellte Darsteller‹ wahrnehmen. Als solche nutzen Forced Entertainments Figuren nicht nur Entblößungs-Strategien um sich interessant zu machen, sondern sie sind auch von ›ungewolltem‹ Kostüm-, ja sogar von GesichtsVerlusten bedroht; so werden durch die Redundanz, die sich in den EntblößungsStrategien mancher Figuren zeigt, diese beispielsweise lächerlich, ihr Gehabe wirkt ungeschickt und peinlich. Der enge Zusammenhang zwischen inszenatorisch angewandter Entblößung dargestellter Darsteller und der Gefahr eines ›tatsächlichen‹ Kostüm- oder GesichtsVerlusts dieser Figuren wird in Bloody Mess im Zusammenhang mit den ›Star‹Darstellern vorgeführt: Die Darsteller Jerry und Davis tragen während ihres ersten Auftritts im On/On schwarze Jacketts und bringen jeder einen etwa 60 cm messenden, mit Silberfolie umwickelten Pappstern mit. Beide versuchen nun augenscheinlich, die »story of the beginning of the world« mit einem ›Sternentanz‹ zu illustrieren, wobei dieser Tanz immer mehr zum Selbstzweck zu geschehen scheint. Mit Einsatz der Musikeinspielung Silvermachine legen Davis und Jerry, passend zum Text des Songs, silberne Jacketts an. Beide ›Star‹-Darsteller experimentieren fortan mit verschiedenen Outfits zur Ergänzung ihres Pappsterns, und ziehen sich
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schließlich, zu Beginn der Cry Baby Sequenz, vollkommen nackt aus. Sie tanzen nun mit den Pappsternen als ›Feigenblatt‹ vor ihrem Schritt. Im Zuge ihres Tanzes, der sich spontan mit der eingespielten Musik zu entwickeln scheint, schwingen sie die Sterne über ihre Köpfe und entblößen sich dabei komplett; hierauf ›entwickelt‹ sich der Tanz der ›Stars‹ immer mehr in Richtung einer augenscheinlich begeisterten Burlesque-Darbietung. Nacktheit und Entblößung zeichnen sich also auch im Kontext der ›Stars‹ durch eine für die Zuschauerin gut sichtbar gemachte Entwicklung aus: die beiden Darsteller-Figuren scheinen eine komplette Blöße zunächst nicht geplant zu haben, sich dann aber im Verlauf der Cry Baby Sequenz dazu ›hinreißen‹ zu lassen. Dies führt zunächst zu einem äußerst komischen Effekt, auf den das Publikum in jeder der von mir besuchten Aufführungen mit Gelächter reagierte; angesichts dieses gut wahrnehmbaren ›Darstellungserfolges‹ scheinen die Star-Darsteller darauf zu beschließen, den erzielten Effekt immer wieder herbeizuführen: sie lassen also das Sterne schwingende Entblößen ihres Intimbereichs zum Hauptbestandteil ihres Tanzes werden, und produzieren auf diese Weise ›peinliche‹ Redundanz. In einer späteren Szene schließlich muss Star Jerry sogar einen Gesichts (bzw. Kostüm-)Verlust überspielen: Während der auf die Cry Baby Szene folgende ›Silences‹-Sequenz sind Jerry und Davis immer noch nackt, und nutzen ihre Pappsterne als ›Feigenblatt‹. Sie führen narrativ durch eine Reihe möglicher stiller Momente; in der Mitte zwischen ihnen hat sich Roady Ben platziert, der den beiden abwechselnd ein Mikrophon vors Gesicht hält. Während Jerry einen besonders ernsten Moment der Stille schildert, die Stille, die auftaucht, wenn sich eine Familie ihrer toten Verwandten erinnert, scheint er, ganz in seiner konzentrierten Erzählung befangen, nicht zu bemerken, dass er seinen Pappstern ein wenig nach oben gehoben hat, und so den Blick auf seinen unter dem Stern hervorbaumelnden Penis freigibt. Roady Ben allerdings hat dies offensichtlich bemerkt; möglicherweise lenkt erst sein entgeisterter Blick auf Jerrys Blöße die Aufmerksamkeit der Zuschauerin in die entsprechende Richtung. Ben macht Jerry, der sich noch mitten in seiner ernsthaften Schilderung der Grabszene befindet, auf sein ›Versehen‹ aufmerksam: »uhm, uhm s..so.. sorry... uhm... it’s your costume; your costume! It’s ridden up....«12 Dieser Hinweis ist für das Publikum gut hörbar, da Ben ins Mikrophon gesprochen hat. Jerry senkt seinen Stern darauf, anscheinend entsetzt und peinlich berührt, mit einer plötzlichen Bewegung und erschrockenem Gesichtsausdruck wieder ab.
12 Im Aufführungsmitschnitt vom 29.02.2008 (Husel/Forced Entertainment 2008) ca. 01.35.
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Zwischen dem willentlichen Fallenlassen eines Kostüms und dem tatsächlichen Verlust von Maske (oder Gesicht) liegt offenbar nur eine zarte Grenze. Diese hat, so führt es die beschriebene Szene vor Augen, etwas mit dem Willen, mit der vorgeblichen Intentionalität der ›Darsteller‹ zu tun. Der Figur des Star-Darstellers wirkt so für einen kurzen Moment verletzbar. Jerry, ebenso seine Kollegen, zeigen sich in Szenen wie der beschriebenen in ihren oft ›gewagten Inszenierungsversuchen‹ als fehlbar und beschämbar: Ebenso wie die intendierte Entblößung bei zu häufiger Wiederholung anscheinend fehlschlagen und den Darstellern auf der Bühne zur Peinlichkeit gereichen kann, ist es offenbar möglich, dass eine Entblößung die offenbar ›versehentlich‹ geschieht, den vorgeführten Darstellern unangenehm ist. In Bloody Mess taucht schließlich eine Figur auf, in der die Praxis der fallenden Maske besonders auffällig inszeniert ist: Claire bzw. ›der Gorilla‹. In ihrem Fall ist das Fallenlassen der Maske allerdings nicht mit körperlicher Nacktheit verbunden; dies erscheint besonders bemerkenswert, da gerade Figur Claire von der ›Vorstellungsrunde‹ an intensiv Motive der Erotik und der Sexualität anspricht. Weiterhin ist gerade Claire als ›der Gorilla‹ mehrfach für Zwischenfälle verantwortlich, die mit dem Verlust von Kostümen anderer Darsteller-Figuren in Verbindung stehen (z.B. reißt der Gorilla den nackten ›Stars‹ die Pappsterne aus den Händen, etc.). Claire ist während der ›Vorstellungsrunde‹ in ›Alltagskleidung‹ zu sehen; dabei ist ihre Montur die eleganteste, sie trägt eine dezente dunkle Bluse zur Jeans. Claires Vorstellung ist dennoch vermutlich den meisten Zuschauern sehr gut in Erinnerung geblieben, denn ihr formulierter Wirkungsanspruch lautete schockierend explizit: »I’m the one (.) here (.) tonight, that you really (!) really... want to fuck!« Während der auf die ›Vorstellungsrunde‹ folgenden Born to Be Wild Sequenz betritt Claire in ihrer Alltagskleidung den On/On Bereich der Bühne, wo sie sich vorne rechts, dem Publikum zugewandt, platziert. Sie führt ein kleines schwarzes Bündel mit sich, und legt es zu ihren Füßen ab. Mit Beginn der Musik beginnt Claire sich auszuziehen. Sie legt ihre alltägliche Kleidung Stück für Stück ab, zuerst die Schuhe, dann die Jeans, dann ihre Bluse. Ihr Auskleiden geht langsam und sachlich vonstatten; nach etwa einer Minute ist sie bis auf die Unterwäsche, einem Set aus schwarzem Slip und BH, entkleidet. Claire greift, ohne innezuhalten oder sich in sonstiger Weise ihrer Blöße inszenatorisch zu bedienen, zum erwähnten schwarzen Bündel und zieht daraus etwas hervor, das sich als großes unförmiges Ganzkörper-Plüschkostüm erweist, in das sie nun zügig steigt. Ihr Gesicht zeigt dabei außer ruhiger Konzentration keine Regung. Zuletzt zieht sie die überdimensionierte Kopfmaske des Kostüms, das erst jetzt als Gorilla erkennbar wird, über. Nun steht ›der Gorilla‹ an Stelle Claires stumm und undurchschaubar auf der Bühne. Selbst Claires Augen sind nicht mehr sichtbar, vermutlich blickt sie durch die Nasenlöcher der Mas-
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ke. Wie die übrigen Kostüme der Aufführung besteht auch dieses Kostüm aus minderwertigem Material; der dünne Plüsch-Overall hängt sackartig von Claires schmalen Schultern herab. Der große Kopf lässt die Figur kindlich wirken, das hässliche, übergroße Gesicht sieht stumpf und ein wenig traurig drein. Erst ab der folgenden szenischen Sequenz (Speed King) beginnt der Gorilla in Aktion zu treten und seinen Charakter zu zeigen, der allem Logos fremd und chaotisch anmutet: Seine Handlungen scheinen wild und unberechenbar, manchmal gar (selbst-)zerstörerisch: Er rennt wie wahnsinnig über die Bühne und fällt dabei hin, reißt Darstellerkollegen Requisiten aus der Hand, dreht sich im Tanz solange um sich selbst, bis er umfällt, usw. Auch spricht er nicht: mehrfach halten die Roadys ihm vergeblich ein Mikrophon vor die Schnauze.13 Claire, Trägerin des Gorillakostüms, scheint ab dem Moment, in dem sie das Kostüm angelegt hat, förmlich verschwunden. Ihr Verschwinden wirkt abrupt, nachdem der Moment ihres Umziehens Aufmerksamkeit gerade auf ihre Person zieht: Claires Ankündigung aus der ›Vorstellungsrunde‹, während der Aufführung als besonders erotisches Lustobjekt fungieren zu wollen, wirkt zunächst als Folie um den Blick der Zuschauerin auf Claires Verwandlung zu lenken, die mitten im On/On stattfindet; nachdem zunächst nur Claires Auskleiden auffällig wird, und das zu ihren Füßen platzierte Gorillakostüm als solches nicht zu erkennen ist, erscheint Claires Tun als ein möglicher Schritt zur Einlösung ihrer Ankündigung: die Darstellerin scheint tatsächlich im Begriff, etwas Erotisches zu tun. Das betont langsame Ausziehen enthüllt unter Claires alltäglicher Kleidung einen durchaus wohlgeformten Frauenkörper, die Unterwäsche, die sie trägt, scheint schlicht, doch edel. Gesichtsausdruck und Gestus, die Claire während ihres Entkleidens zeigt, wirken keineswegs kokett, die Assoziation eines professionellen, showmäßigen Striptease bleibt also aus. Vielmehr lässt die Sachlichkeit, die Claire während ihres Ausziehens an den Tag legt, ihr Handeln bedeutungsschwer scheinen, tatsächlich scheint sich Erotik knisternd anzubahnen – um allerdings plötzlich ins grotesk Unverständliche überführt zu werden, wenn Claire sich unerwartet im Plüsch des Gorillakostüms verbirgt. Dessen ausgebeulte Form weckt die Assoziation eines hässlichen, doch niedlichen Stofftieres, ungeschickt und kindlich; Assoziationen also, die so weit wie nur irgend möglich von denen der Erotik entfernt sind (vgl. Abbildung 7: Kostümbgebrauch der Figur Claire).
13 Die ›Narrenfreiheit‹ die das Gorillakostüm anscheinend bietet, geht schließlich so weit, dass der Gorilla als einzige Figur in Bloody Mess die Bühne verlassen kann: Während der Cry Baby Sequenz verteilt er Papiertaschentücher im Zuschauerraum; das ›dickfellige‹ Kostüm ersetzt in diesem Fall für Momente die architektonische Raumaufteilung; vgl. oben.
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Abbildung 7: Kostümgebrauch der Figur Claire.
Von links nach rechts: Claire steigt in das Ganzkörperkostüm, Claire setzt den Gorilla-Kopf auf; der Gorilla während der Silver Machine Sequenz; Claire während ihres ersten Monologs.
Im weiteren Aufführungsverlauf spielt Darsteller-Figur Claire exzessiv die Rolle des Gorillas, der seinerseits als alogische und doch höchst präsente Figur das Bühnengeschehen bereichert. Allerdings entspricht ›der Gorilla‹ keinesfalls einer Rolle dramatischer Machart, eher bietet er einen Gegenentwurf zur psycho-logischen Sprechrolle: In seiner Stummheit und seiner anarchischen Wildheit weckt ›der Gorilla‹ am ehesten Assoziationen zu den Figuren aus Verwandlungsspielen unter Kindern. Noch zwei Mal taucht Claire im Verlauf der Aufführung aus dem Gorillakostüm auf und spricht zum Publikum: Während der Anfangsphase (nach der Speed King Sequenz), sowie während einer der alternativen Schlussszenen der Aufführung (nach der White-StripesEinspielung) nimmt ›der Gorilla‹, ohne jede Vorwarnung, den Kopf des Kostüms ab und verwandelt sich damit für einige Momente wieder in ›Claire‹ zurück. Das Abnehmen des Kostümkopfes geschieht jeweils in der Stille nach lauten Musikeinspielungen, nach Szenen, in denen alle Darsteller ihre Kräfte in wilden Tänzen verausgabt haben. Nach ihrer ersten Rückverwandlung schwankt und keucht Claire, nachdem sie sich als ›der Gorilla‹ kurz zuvor exzessiv um sich selbst gedreht hat; im Moment ihres zweiten Auftauchens ist ihre Stimme schwach und leise, anscheinend ist sie schon müde. In beiden Fällen wirkt Claire erhitzt, das Haar klebt verschwitzt an ihrer Stirn. Die Monologe, die sie nach ihrem Auftauchen hält, beziehen sich auf die in der ›Vorstellungsrunde‹ formulierten Wirkungswünsche: So beginnt Claires erster Monolog mit den (keuchend gesprochenen) Worten: »I hope... h. you’re still thinking. h. about your. naked. body next to... my naked body.« Der Anfang ihres zweiten Monologs lautet: »Sorry, just checking... if you were still thinking about... me fucking you... and you fucking me.« Kaum sind ihre Monologe jeweils zu Ende gesprochen, setzt Claire den Kopf ihres Kostüms wieder auf und verwandelt sich damit
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ebenso plötzlich zurück in ›den Gorilla‹, wie sie sich zuvor als ›Claire‹ enthüllt hatte. Die Plötzlichkeit von Claires Auftauchen unter der Gorillamaske, und die absurd komische Unsinnigkeit ihrer Behauptungen (bzw. erklärten Hoffnungen) wirken im ersten Moment extrem komisch und führen dazu, dass das Publikum begeistert lacht (wie es in jeder durch mich besuchten Aufführung der Fall war). Doch nur Sekunden nach ihrem ausgelassenen Beginn entwickeln beide Monologe Claires einen suggestiven Sog, sie erweisen sich als höchst poetisch, sprachlich klangvoll, im Vortrag gefeilt: Indem die Maske des Gorillas fällt, wird die Bühne freigemacht für die (›erotische Monologe‹ sprechende) Claire. Anders als im landläufigen FigurenModell angelegt, entsteht im Fall ›Claires/des Gorillas‹ also nicht eine Figur aus dem Spiel einer (tatsächlichen, realen) Darstellerin mit ihrer Rolle; es werden vielmehr zwei Figuren ›erspielt‹: Neben die Figur des rüpelhaft kindlichen Gorillas tritt die Figur Claire. Es entstehen gewissermaßen eine Rollen-Figur und eine Darsteller-Figur, die beide unfehlbar dem Bereich des Fiktiven zuzurechnen sind. Claire ist dabei – spätestens während ihrer Monologe – nicht mehr mit einer authentischen Darstellerin zu verwechseln, alleine da die Texte, die Claire spricht, in ihrer poetischen Brillanz und ihrem ausgefeilten Duktus eindeutig auf ihre der Aufführung vorgängige Abfassung verweisen.14 In der Kostümverwendung ›Claires/des Gorillas‹ wird insofern der Effekt der fallenden Maske als produktive Inszenierungsstrategie auffällig gemacht. Es ist keine ›authentische Claire‹ die sich demaskiert dem Publikum präsentiert; demaskiert wird vielmehr die Praxis der fallenden Maske. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, erspielen Claires Monologe eine intensiv erhöhte Gegenwart, die bodenlos mehrbödige Figur Claire wirkt geheimnisvoll und fast hyperreal präsent. Im Spiel mit der Kostümierung in den Aufführungssituationen der Inszenierungen Bloody Mess und The World in Pictures etablieren sich also für die Zuschauer ambivalente und widersprüchliche, zum Teil gar paradoxe Wirklichkeiten: Vorgeführt werden individuell agierende schauspielende Personen, die mit je eigenständigen Intentionen ihre Darstellung vorantreiben. Diese Personen erscheinen als fehlbar und beschämbar, sie scheinen insofern unter ihrer angestrengt gestalteten Oberfläche ein tiefreichendes Innenleben zu besitzen. Allerdings entlarven sich diese Darsteller gleichzeitig immer wieder als Figuren, und beweisen dass auch sie sorgfältig inszeniert sind. Das oft paradox anmutende Nebeneinander verschiedener Strategien der Entblößung verspielt dabei immer wieder aufs Neue jede Sicherheit der Betrachterin: die auf den ersten Blick so überdeutlichen Markierungen von On und
14 Zu den Sprechweisen der Aufführung vgl. IV.3.
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Off, von ›Kostüm‹ oder ›Alltagskleidung‹ werden angereichert durch alternative Differenzen und dadurch teilweise, manchmal vielleicht sogar gänzlich, verwischt. b) Inszenierungen von Leiblichkeit in Bloody Mess Auch das zu Beginn der Ausführungen zur Kostümpraxis erwähnte, fettig glänzende Make-up der Clowns in Bloody Mess verwischt im Verlauf der Aufführungen. Mit zunehmender Dauer der Vorstellung verändert sich daher das Aussehen der Clowns: die billige Schminke, die zu Anfang des Aufführungsabends ihre Gesichter noch dick und glänzend bedeckt, wird immer weiter abgetragen, bis die Haut der Clowns am Ende des Abends, müde und verschwitzt nur noch letzte Schlieren des Make-ups aufweist. Solche Affektion von Schauspielerkörpern birgt die Assoziation des Grenzwertigen: Reales Schwitzen, keuchender Atem, sichtliche Erschöpfung evtl. gar das wahrnehmbar Werden körperlicher Schmerzen überschreiten die unsichtbare Grenze des ›Als ob‹, die das Bühnenspiel aufrecht hält. Um diese Grenze, und um das komplexe Spiel, das in beiden Aufführungen eine Grauzone um diese Grenze entwickelt, soll es daher in den folgenden Punkten gehen. »Hier führt die Überlegung weiter, dass im postdramatischen Theater des Realen nicht die Behauptung des Realen an sich die Pointe darstellt (wie in den Sensationsprodukten der Pornoindustrie), sondern die Verunsicherung durch die Unentscheidbarkeit, ob man es mit Realität oder Fiktion zu tun hat.« (Lehmann 2001: 173) Körperliche Unversehrtheit der Teilnehmer einer Theateraufführungssituation, seien dies die Schauspieler oder die Zuschauer, ist unabdingbar für die Aufrechterhaltung dieser Situation; dies hat die Performance bzw. Live-Art in ihren mannigfachen experimentellen Settings seit den 50er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts vorzuführen gewusst.15 In Bloody Mess und The World in Pictures werden Situationsteilnehmer – seien es Zuschauer oder Darsteller – in keinem Moment körperlich verletzt oder auf gefährliche Weise beeinträchtigt. Dennoch wird auf die tatsächliche leibliche Anwesenheit und damit auch die faktische Verletzbarkeit der Darsteller immer wieder verwiesen. Allerdings geschieht dies auf eine Art und Weise, die sich immer wieder aufs Neue als inszeniert entlarvt: Verhalten, das eben noch als Hinweis auf die ›tatsächliche‹ Leiblichkeit eines auf der Bühne agierenden Darstellers begriffen werden konnte, erscheint der Zuschauerin im nächsten Moment als Teil einer intendierten Rollenfigur, und so weiter, ad infinitum. Wie im Zusammenhang mit der Kostümpraxis der Inszenierungen breit behandelt, entstehen in diesem Spiel mit der Differenz aus ›Darstellern‹ und ›Rollen‹ dargestellte DarstellerFiguren. Um mich diesen weiter anzunähern, wendet sich meine Beschreibung nun 15 Wie z.B. Chris Burdons Shoot, Franco B.s I miss you oder Marina Abramowichs Lips of Thomas. Einen breiten Überblick über Künstler und Arbeiten der Live-Art Szene bietet z.B. Heathfield 2004.
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solchen Darstellungs-Techniken während der Aufführungen zu, die die Zuschauerin wahrnehmen lassen, dass Schauspieler körperlich anwesend, angestrengt, herausgefordert, eventuell gar überfordert sind; zugleich sollen diejenigen Darstellungstechniken aufgezeigt werden, die die Zuschreibung von wahrgenommenem Verhalten auf ›echte Darsteller‹ (und ihre Körper) erschweren, vernebeln und damit schließlich opak ästhetisieren. Dabei soll weiter eng entlang der materiellen Korrelate der Differenz ›Darsteller/Rolle‹ gearbeitet und zunächst auf die direkt unter dem Kostüm befindliche Schicht einiger dieser hybriden Darsteller-Figuren hingewiesen werden: auf die erwähnte Haut der Clowns, wie sie in der Aufführung Bloody Mess wahrnehmbar wird: Die Clowns in Bloody Mess sind, wie oben beschrieben, schon zu Beginn der Aufführung kostümiert und dick geschminkt anwesend; noch bevor die übrigen Darsteller der Aufführung die Bühne betreten, befinden sie sich anscheinend schon ›bei der Arbeit‹. Da ihr anfängliches Ringen um die Stühle körperlich äußerst anstrengende Aktionen beinhaltet, schwitzen beide schon bald stark. Vermutlich trägt auch die Hitze der Scheinwerfer, die auf die Bühne gerichtet sind, dazu bei, die Clowns schon während der ersten zehn Minuten der Aufführung förmlich in Schweiß zu baden. Durch den Schweiß auf ihren Gesichtern verwischt das Make-up beider Schauspieler – schon während der auf den Wettkampf um die Stühle folgenden ›Vorstellungsrunde‹ hat es merklich eingebüßt. Darüber hinaus nehmen beide Clowns-Darsteller, die während dieser Szene ›prügelnd aneinandergeraten‹, ebenso wie später in der Cry Baby Sequenz, augenscheinlich keine Rücksicht auf ihre Kostüme und ihre Schminke; dies führt dazu, dass sich schon bald der größte Teil ihres verflüssigten Clowns-Make-ups jeweils auf dem Kostüm des Anderen verschmiert befindet. Die billige Schminke der beiden Clowns betont insofern sowohl deren körperliche Verausgabung wie ihr körperliches ›Aneinandergeraten‹. Als schmierige Spur wird das sich auflösende Make-up gut wahrnehmbare Markierung für die vorgeführte Körperlichkeit beider Darsteller. Das Abfärben der beiden Clownsdarsteller aufeinander kann als deutliche Betonung der leiblichen Berührungen beschrieben werden, die zwischen den beiden Darstellern geschehen – diese werden insofern vorgeführt in ihrer faktischen Berührbarkeit. Die Haptik im Spiel der Clowns erhält darüber hinaus einen sinnlich nachvollziehbaren, regelrecht mitfühlbaren Charakter: Vermutlich hat fast jeder der anwesenden Zuschauer selbst schon einmal Erfahrungen mit billigem Karnevals-Make-up gemacht, wie es die Clowns augenscheinlich tragen, und kann so bei der Betrachtung ihres Agierens förmlich das unangenehme Jucken ihrer Gesichtshaut unter dem Film aus Fettschminke und Schweiß nachspüren. Indem die Zuschauerin Zeugin solch offensichtlich unangenehmer Darstellungsarbeit wird, richtet sich ihre Aufmerksamkeit intensiv miterlebend auf die geschminkte Haut der Clowns-Darsteller – und damit auf eine der unhintergehbaren
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Grenzregionen zwischen einer Rolle – hier repräsentiert durch eine langsam verschwindende Schminkmaske, und den Trägern dieser Rolle – die sich mit schwitzender, vermutlich juckender Gesichtshaut präsentieren. Auch Darstellerin Cathy trägt im Verlauf der Aufführung zwei Mal Fettschminke auf ihr Gesicht auf: Zu Beginn der ›Crying 1x1‹ Sequenz tritt Cathy mit roten Kreisen auf ihren Wangen und einem übergroßen rot geschminkten Mund auf, der verwischt erscheint; für die ›This is the last light‹ Sequenz malt Cathy sich schwarze Streifen auf die Wangen; diese erinnern ein wenig an die Kriegs-Bemalung, die American Football Spieler tragen, Cathys schwarz geschminkte Lippen wiederum rufen die Assoziation eines traurigen Harlekin auf. Aufmerksame Zuschauer können Cathys Schminken und Abschminken im On/Off im Vorlauf beider Auftritte bemerken, auch wenn diese Handlung nicht gesondert herausgehoben wird. In Cathys Fall bleibt die Schminke während der Szenen, in denen die Darstellerin im On/On ihrer Darstellungs-Arbeit nachgeht, unversehrt, da sich Cathy nur wenig bewegt, nicht mit anderen Darstellern ›aneinandergerät‹ und anscheinend auch nicht schwitzt. Allerdings sind sowohl Cathys rotes als auch ihr schwarzes Make-up extrem grob ausgeführt: Beide Bemalungen zeigen deutlich, dass sie hektisch mit den Fingern aufgetragen wurden. Auch hier macht also die Schminke eine bestimmte Haptik für die Zuschauerin sichtbar: Cathys Finger haben Spuren auf ihrer Haut hinterlassen; die Haut der Darstellerin ist – offensichtlich durch sie selbst – sichtbar und nachspürbar manipuliert worden. Doch nicht nur die Haut als Oberfläche faktischer Darstellerkörper wird während Bloody Mess betont. Der ganze Körper der Darsteller befindet sich während der Aufführungssituation wiederholt mit Haut und Haar im Einsatz. So sind die Clowns im Verlauf der Aufführung wie erwähnt mehrfach in ›Prügeleien‹ miteinander verwickelt. Bei diesen Handlungssequenzen handelt es sich weder um virtuos ausgeführte Schaukämpfe (wie man sie aus Wrestlingshows kennt), noch um vollkommen abstrahierte clowneske Kämpfe, wie man sie zum Beispiel im Zirkus vorgeführt bekommt, wenn ein dummer August dem anderen mit einem großen Schaumstoffschuh ins ausgestopfte Hinterteil tritt. Die Kämpfe der Bloody Mess-Clowns erscheinen vielmehr schwierig einzuordnen, sie wirken teilweise grotesk, teilweise lustig, manches Mal aber auch gefährlich wagemutig: Während der ›Stuhl-Spiel‹ Sequenz entwickelt sich ein Kampf um die Platzierung einer Reihe Stühle. Der Clown, der sich später als Bruno vorstellen wird, scheint gewillt, eine Stuhlreihe an der Rampe aufzustellen, während der andere (John) im hinteren Bereich der Bühne Stühle aufreiht. Insgesamt befinden sich nur etwa ein Dutzend Stühle im On/Off-Bereich der Bühne, daher stehen sich,
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nachdem die Clowns nur kurze Zeit an ihren Reihen gebaut haben, zwei kurze Stuhlreihen gegenüber – woraufhin die beiden Clowns beginnen, dem jeweils Anderen Stühle aus seiner Reihe zu stibitzen, dann die Stühle, die ihnen der Andere genommen hat, wieder zurückzuholen usw. Bis zu diesem Punkt des Spiels könnte die Zuschauerin noch davon ausgehen, Zeugin einer ›herkömmlichen‹ Clownerie zu werden, die sich sogar recht sanft und bieder, ja langweilig darstellt. Allerdings beginnen beide Clowns nun, ihre Bemühungen um Vorherrschaft im Wettkampf um die Stuhlreihen immer mehr zu steigern; statt einzelne Stühle aus der Reihe des Konkurrenten herauszunehmen, reißen sie immer mehr davon an sich, sie werfen ergatterte Stühlen in die von Ihnen angestrebte Richtung, und behindern sich gegenseitig in ihren Bemühungen, indem sie einander umgestürzte Stühle grob vor die Füße kicken. Insgesamt steigert sich dabei die Geschwindigkeit und Intensität ihres seltsamen Kampfes, so dass nach und nach einige der Holzstühle in Einzelteile zerbrechen. Nachdem die Sequenz schließlich ohne zu einer Lösung zu gelangen zu Ende gegangen ist, beide Clowns sich anscheinend beruhigt und auf die vordere Stuhlreihen geeinigt haben, sprechen noch während der sich anschließenden ›Vorstellungsrunde‹ ihr enorm schweres Atmen und ihre schweißbedeckten Körper von den Anstrengungen ihres Spiels um die Stühle; besonders im Falle Clown Brunos, der nur keuchend und gepresst ins Mikrophon sprechen kann, während seine nackte Brust im Scheinwerferlicht vor Schweiß nass glänzt. Für die Zuschauerin erscheint das ›Stuhl-Spiel‹ der Clowns in seiner Hektik und seinem wenig pointierten, sich lediglich in der Energie steigernden Ablauf chaotisch; in einzelnen Momenten ist kaum mehr vorstellbar, dass noch eine klar choreographierte Nummer abläuft. Die beiden Darsteller scheinen vielmehr ›im Eifer des Gefechts‹ aufzugehen und dabei tatsächlich in Kauf zu nehmen, nicht nur die Bühneneinrichtung zu zertrümmern, sondern sogar sich selbst bzw. den je Anderen zu verletzen. Dabei besteht gerade in den besonders aberwitzigen und potentiell gefährlichen Verhaltensweisen, die beide Clowns im Verlauf des Kampfes zeigen, ein besonderer Reiz, den die inhaltsarme Szene ihren Zuschauern bietet. Im Gelächter über die teils drollig aussehenden Versuche der beiden Clowns, das immer wieder im Zuschauerraum anhebt, schwingt insofern von Anfang an eine Mischung aus voyeuristischer Begeisterung und ein wenig Sorge um die körperliche Unversehrtheit der Darsteller mit.16
16 Diese mitschwingende Besorgnis im Gelächter lässt sich nachvollziehen, lauscht man dem Mitschnitt der Publikumsäußerungen, den ich 2008 in Leeds hergestellt habe. Neben frohem Gelächter lassen sich hier während der ›Stuhl-Spiel‹ Sequenz Lautäußerungen heraushören, die als ›warnendes Zischen‹, ›besorgt-belustigte Ausrufe‹ oder ›kurze
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Neben den sichtbaren Spuren körperlicher Anstrengung (wie Schweiß und verschmierter Schminke) erinnern im Falle der beiden Clowns in Bloody Mess deren unkontrolliert wirkende, gefährlich unvorsichtig erscheinenden Handlungen während des ›Stuhl-Spiels‹ daran, dass zwei körperlich anwesende, verletzbare Darsteller in Clowns-Kostüme und die zugehörigen Rollen geschlüpft sind. Das Sich-inmögliche-Gefahr-Begeben beider Schauspieler erinnert daran, dass im Spiel auf einer Bühne immer eine gefährdete Situation besteht, die jederzeit beendet werden könnte, sollte sich einer der Schauspieler tatsächlich verletzen. Auch Figur Claire als ›der Gorilla‹ in Bloody Mess zeigt immer wieder massiven Körpereinsatz, der oftmals gefährlich weit geht: Der Gorilla bewegt sich im wilden Lauf über die Bühne und schlägt der Länge nach hin, oder dreht sich (während der Speed King Einspielung) so lange und intensiv um sich selbst, bis er sich nicht mehr auf den Beinen halten kann und unkoordiniert über die Bühne wankt. Allerdings scheint das dicke Fell des Gorillas die Zuschauerin in gewisser Weise daran zu hindern, sich um das drollige Trampeltier zu sorgen. Dafür wird später Claires körperlicher Zustand, sobald sie aus dem Gorillakostüm auftaucht, auf umso stärker mitfühlbare Weise wahrnehmbar: Claire ist verschwitzt, ihr Haar klebt (vgl. oben) nass an ihrer Stirn, ihre Wangen sind gerötet, sie keucht und schwankt in Folge des Derwischartigen Gorilla-Tanzes. Die Zuschauerin kann sich nun gut vorstellen, wie heiß es nach intensiver körperlicher Bewegung unter dem synthetischen Plüsch sein muss. Solange ›der Gorilla‹ noch im vollen Kostüm sichtbar ist, ist die körperliche Verausgabung der Figur, z.B. der Schwindel nach dem Drehtanz, lustig und drollig anzusehen; das Taumeln der Figur wirkt wie eine gelungene Darstellungsleistung – das Publikum lacht begeistert; kaum kommt aber Darsteller-Figur Claire zum Vorschein, verändert sich der Eindruck: denn auch ohne Maske schwankt die Darstellerin noch bedenklich – nun liegt die Interpretation nahe, dass eine ›tatsächliche‹ Darstellerin beeinträchtigt ist, nicht nur ihre gekonnt dargestellte Figur. Doch schon Momente nach Claires Auftauchen aus dem Gorillakostüm fungiert ihr körperlicher Zustand als passende Illustration des ›erotischen Monologs‹ – das leichte Schwanken, die Überhitzung und das schweißnasse Haar der Darsteller-Figur passen hervorragend zum thematisierten, besinnungslosen Sexualakt. Die Leiblichkeit der Darstellerin wird auf diese Weise zeitgleich auf zwei unterschiedlichen Ebenen wahrnehmbar – zum einen als ein nicht steuerbarer Effekt der Präsenz einer authentischen Darstellerin, zum anderen als gekonnt eingesetztes Inszenierungsmittel einer erotischen Erzählung. Schreckenslaute‹ gewertet werden können; im Kapitel V. der vorliegenden Arbeit befasse ich mich intensiv mit solchen Publikumsäußerungen.
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Die Körperpraxis der ›Darstellerin Claire‹ bzw. ›des Gorillas‹ baut auf diese Weise Unentscheidbarkeiten für die Zuschauerin auf: Ist zum Beispiel Claires Körper durch die zahlreichen Stürze des Gorillas gefährdet?17 Oder scheinen die halsbrecherischen Aktionen des Gorillas gefährlicher als sie sind? Kann das erhitzte Aussehen Claires während ihrer ›erotischen Monologe‹ als Illustration ihres Sprechens betrachtet werden, oder müsste es vielmehr ihrer konkreten Leiblichkeit zugerechnet werden? Solche Doppeldeutigkeit, die selbst in der zunächst ganz konkret und eindeutig erscheinenden Leiblichkeit der Bloody-Mess-Darsteller vorgeführt wird, lässt sich auch in der zweiten Kampfsequenz der Clowns nachvollziehen. Während dieser Vorführung scheinen sich beide Darsteller sichtlich darum zu bemühen, keine Blessuren davonzutragen: Nachdem Darsteller-Figur Cathy ihre ›Crying 1x1‹ Szene ›frustriert‹ abgebrochen hat, läuft Cheerleader-Figur Wendy hastig in den On/On Bereich, sie erhält von einem der Roadys ein Mikrophon und beginnt, das Publikum dazu aufzufordern, sich an einem Workshop zu beteiligen, um zu zu den erwünschten Tränen zu gelangen. Wendys Workshop wird massiv von anderen ›Unterhaltungsversuchen‹ weiterer Darsteller gestört; eine dieser Störungen besteht darin, dass die beiden Clowns das Gerangel um die Stühle, dass die Zuschauer vom Anfang der Aufführung kennen, wieder aufnehmen. Wendy ›nutzt‹ diese Störung zunächst, indem sie das Publikum auffordert, möglichst eine der beiden Clownsfiguren ohne Blinzeln anzustarren, um auf diese Weise rein physisch zur Tränenproduktion zu gelangen. Nachdem Wendy damit die Aufmerksamkeit des Publikums auf das Ringen der Clowns gelenkt hat, steigern diese ihre Anstrengungen und bemühen sich anscheinend, möglichst publikumswirksam miteinander zu ringen. Wendy wiederum scheint dadurch veranlasst, von ihrem ursprünglichen Vorhaben abzusehen und sich immer stärker in die Rolle einer massiv antreibenden Ringkampfkommentatorin zu begeben. Immer wieder zögert sie in ihren ans Publikum gerichteten Ausführungen zur Tränenproduktion, um den Clowns Vorschläge zu unterbreiten, wie die Kampftechnik verbessert werden könnte. Wendys Vorschläge muten dabei äußerst explizit, teilweise grotesk brutal an, wie etwa, wenn sie vorschlägt, einen riskanten Kopfstoß (»head butt« ) auszuführen: »Yeah... that’s it John... but why don’t you head butt him... use a
17 Während einiger Aufführungen trug Claire unter ihrem Gorillakostüm knieschonende Bandagen, dies wurde während ihres Umziehens zu Beginn der Born to Be Wild Sequenz sichtbar. Aufgrund meiner Anwesenheit während der Proben ist mir klar, dass diese Bandagen tatsächlich notwendiges Equipment darstellten, um die Knie der Schauspielerin zu schützen. Für ein Publikum ist diese Information aber nicht abrufbar; insofern konnten selbst die Kniebandagen gleichermaßen berechtigt als Teil der Inszenierung betrachtet werden wie als Einbruch der Realität.
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sudden head crack to his head... like they do in the cartoons... and you could shatter his skull into thousands of little pieces!«18 Wenn die Roadys wenig später den dynamisch treibenden Janis-Joplin-Song Cry Baby auflegen scheint Wendy kein Halten mehr zu kennen und verlegt sich gänzlich auf das Kommentieren und Anfeuern des Ringkampfs, dabei unerbittlich Brutalität und Härte fordernd. Die Clowns fügen sich unwillig in diese sowohl anstrengende wie auch körperlich riskante Nummer. Ihre angestrengten und zögernden, schwerfällig erscheinenden Bewegungen und der verzweifelte Ausdruck ihrer verschmierten Gesichter beweisen der Zuschauerin, dass sie sich darum bemühen, sich dabei keinesfalls tatsächlich zu verletzen. Die ›Nummer‹ endet damit, dass der Janis-Joplin-Song mit einem Tusch zu Ende geht und Wendy sich ins On/Off zurückzieht. Die Clowns bleiben mitten im On/On übereinander liegen, schwer atmend und stöhnend. Bruno, der über John liegt, hat sich während des Kampfes seines Jacketts entledigt, sein Oberkörper ist nackt, auch Johns Kostüm ist verrutscht und lässt viel Haut sehen. Durch das Ende der Musik und der Kampfhandlungen tritt plötzlich eine Stille ein, in der das Stöhnen und Keuchen beider Darsteller laut hörbar wird; die beiden verschwitzten, halbnackten Männerkörper übereinander wirken nun fast wie ein ertapptes Paar in erotischer Umarmung; dieses Publikumswirkung versprechende Moment wird Anlass für Roady Ben, das Stöhnen der Clowns mit dem Mikrophon zu verstärken. Während der beschriebenen Sequenz zeigen sich die Clowns-Darsteller als ihrer darstellerischen Aufgabe ergeben; da sie dabei aber ›vernünftig‹ vorgehen und vorsichtig auf sich achten, ›scheitern‹ sie in ihrer Darstellungsarbeit: den übermäßig grotesk-brutalen Aufforderungen Wendys können sie nicht nachkommen. Die Notwendigkeit zur körperlichen Unversehrtheit verhindert, dass ein fulminanter Showkampf »wie im Comic« geboten werden könnte. Die Aufmerksamkeit der Zuschauerin wird insofern auf die Verletzlichkeit, und damit auf die schauspielerische Unzulänglichkeit der Darsteller und ihrer Körper gelenkt. Dabei wird unter Umständen die Absurdität der eigenen zweifelhaften voyeuristischen Lust am Brutalen und Grotesken in Erinnerung gebracht. Der Verweis auf die leibliche Präsenz der Clownsdarsteller wird für Momente zu einem ethischen Memento.19 Doch auch dieses (potenziell moralisierende) Erlebnis ›tatsächlicher‹ Leiblichkeit der Darsteller, dieser Verweis auf eine reale Kopräsenz von Darstellern und Zuschauern in der Aufführung, wird in Bloody Mess schon Atemzüge später wieder aufgehoben, wenn
18 Zitiert nach dem von Forced Entertainment transkribierten und archivierten Text, vgl. Forced Entertainment 2004: Bloody Mess S. 20-21. 19 Man könnte auch davon sprechen, dass die Zuschauerin als Verantwortung tragende Zeugin der vorgeführten Situation angerufen wird. Zum Moment der Zeugenschaft in der Theatersituation vgl. z.B. Lehmann 2004: 40ff.
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Roady Ben die wahrnehmbar werdende körperliche Erschöpfung der Clowns, ihr Keuchen und Stöhnen, als bühnentaugliches Inszenierungsmittel entdeckt, und das Stöhnen per Mikrophon-Verstärkung zum pornographischen Hörspiel umformt. Auf diese Weise tritt die Assoziation der Pornographie in der Nähe aller Präsenzromantik, das Spiel um Realität, Leiblichkeit und Bühnendarstellung bleibt in Bewegung. Eine weitere Version auffällig gemachter Körper-Praxis lässt sich für die RoadyFiguren der Aufführung, Ben und Richard beschreiben, die in Bloody Mess als Bühnen-Techniker agieren - allerdings als Techniker, die sich offenbar im Rahmen eines Rock-Konzerts wähnen: Ganz in ihrer Rolle als Veranstaltungstechniker aufgehend, sind die Roadys Ben und Richard im Verlauf der Aufführung immer wieder damit beschäftigt, Mikrophone und anderes technisches Equipment über die Bühne zu tragen und ihren Kollegen anzureichen. Mehrfach verfolgen sie Darstellerkollegen, um ihnen während eines wirkungsvollen Moments ein Mikrophon vors Gesicht zu halten, anscheinend immer bestrebt, die interessantesten Effekte der Darstellung technisch zu verstärken. Nach und nach eigenen beide Roadys sich dabei eine gebückte, stark zurückgenommene Körperhaltung an: sie bewegen sich fort, indem sie in die Knie gehen, und sich dann in der Hocke vorwärts schieben. Dabei halten sie ihre Köpfe tief gesenkt, ziehen meist mit der Linken ein Kabel hinter sich her, während ihre Rechte das jeweilige Equipment (Mikrophon, Scheinwerfer o.ä.) in die Höhe reckt. Diese Haltung wirkt schon bald verkrampft und gezwungen, sie wird zur Figuration der beiden Rollenfiguren. Beide Roadys behalten ihre unnatürlich gebeugte Haltung stur bis zum Ende der Aufführung bei; einzige Ausnahme bilden die Momente, in denen beide in ihren Tänzen zum eingespielten Heavy Metal oder Punkrock aufgehen: hier wirken sie selbstvergessen und ganz dem Musikgenuss hingegeben. Schweißtreibende Verausgabung bis hin zur Erschöpfung, oder angestrengte Verkrampfung in unbequemer Figuration lassen die Zuschauerin in Bloody Mess niemals vergessen, dass körperlich anwesende Darsteller in schauspielerische Arbeit verstrickt sind. Doch die in der Leiblichkeit der auf der Bühne Anwesenden betonte Grenze zwischen ›tatsächlichem Darsteller‹ und ›dargestellter Rolle‹ erweist sich als nur schwer fassbar, als nicht festzuhalten, als beständig in Bewegung und im Spiel befindlich. Erscheint es eben noch vollkommen einsichtig, dass die Clowns erschöpft zusammengebrochen liegenbleiben, Helden der Verausgabung für ihr Publikum, beweisen sie sich im nächsten Moment als geschickte Schauspieler, die sich ihrer Leiblichkeit zum Erreichen von Authentizitätseffekten bedienen. Im Kontext solcher Erfahrung wird es für die Zuschauerin höchst fragwürdig, ob sich die als ›Heavy-Metal-Fans‹ vorgeführten Roadie-Figuren in den Momenten ihrer ausgelassenen Tänze ›tatsächlich‹ entspannen, ob sie nun also authentischer als ›sie
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selbst‹ agieren; vielmehr erscheint auch ihre offenbare Gelöstheit nun als ein Inszenierungsmittel unter anderen. Jeder Wirklichkeits- oder Präsenzeffekt, den die Praxis des Körper-Zeigens in Bloody Mess ›erspielt‹, wird also im Verlauf der Aufführung in seinem Entstehen sichtbar gemacht. Der Zuschauerin wird insofern nicht ermöglicht, ihre Wahrnehmung von Ko-Leiblichkeit und Präsenz als transzendierendes Moment zu erleben; stattdessen wird Ko-Leiblichkeit hier als Voraussetzung für die Herstellung einer immer schon konstruierten Präsenz wahrnehmbar gemacht. Die Inszenierung setzt insofern die letztliche Uneinholbarkeit theatraler Begegnung in Szene, sie verweist auf die Unmöglichkeit, als Zuschauer jemals ganz sicher zu sein, welcher Realitätsebene das auf der Bühne Wahrgenommene zuzuordnen ist. c) Sex und Tod in The World in Pictures Auch in The World in Pictures verausgaben sich die Darsteller immer wieder sichtlich, vor allem während der Sequenzen, die ich oben (wie auch in den Szenaren unter VII.) als Tänze bezeichnet habe (»dance of early men«, »dance of death« etc.). Dabei wird auch hier die Verausgabung der Darsteller betont und inszenatorisch genutzt, z.B. wenn Erzählerin Terry nach dem 20ties Century Boy Tanz wieder ins Mikrophon spricht und dabei hörbar außer Atem ist, sich nur keuchend artikulieren kann. Doch, während in Bloody Mess in erster Linie das grenzgängerisches Verausgaben in Tanz und anderes ›Auspowern‹ der dargestellten Figuren sichtbar wird, macht The World in Pictures das (offensichtlich zum Scheitern verurteilte) Vorführen leiblicher Zustände auffällig, die sich willentlicher Gestaltung normalerweise entziehen: Schauspieler Richard zeigt sich in The World in Pictures wiederholt besonders an sexuellen, erotischen, meist gar plump pornographischen Themen interessiert; er scheint das Bühnengeschehen immer wieder in entsprechende Richtungen lotsen zu wollen. Schon während der Erzählung der »Frühzeit des Menschen« entledigt er sich mit großer Geste der zu Beginn durch Jerry thematisierten Unterhose (vgl. oben) und ist fortan nackt unter seinem Uhrzeit-Kostüm, was er immer wieder sichtbar werden lässt, z.B. indem er sein Gesäß an den links vorn platzierten Heizöfen wärmt, oder indem er einen ›Fruchtbarkeitstanz‹ vorführt, bei welchem er dem Publikum seinen Unterleib in ekstatischen Hüftschwüngen präsentiert. Auch im weiteren Verlauf der Aufführung lässt Richard keine Gelegenheit ungenutzt, die Bebilderung des Geschehens mit Entblößungen zu würzen, dabei erscheint er oft ganz von diesem ihm eigentümlichen Tun gefangen. Für die Zuschauerin wird Richards ›Exhibitionismus‹ bald redundant und damit ignorierbar. Einzig wenn wie zufällig Bilder entstehen, die
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in der kollektiven Ikonologie fest eingeschrieben sind, produziert Richards Entblößung wirkungsvolle Effekte: z.B. wenn er sich mit einer Krone aus Plastikfrüchten auf dem Kopf für Sekunden in eine Christusfigur verwandelt, oder wenn er sich während der Erzählung der Renaissance mit unverkennbar ausgebreiteten Extremitäten als Leonardos vitruvianischer Mensch präsentiert. Neben zahlreichen Entblößungen flüstert Richard Sprecherin Terry wiederholt eindeutig pornographische Darstellungs-Ideen ins Ohr, die diese laut ins Mikrophon wiederholt, um sie darauf schroff zurückzuweisen. Richard würzt zudem seine Darstellungsarbeit im Bebilderungs-Ensemble mit sexualisierten Illustrationen: Während Terry zum Beispiel von der Dekadenz im römischen Reich erzählt, bebildert Richard diese Äußerung indem er sich auf dem vorne rechts auf der Bühne platzierten Sofa ausstreckt und unter seiner aus einem Laken hergestellten ›Toga‹ intensive Masturbations-Bewegungen zur Schau stellt. Während Terrys Erzählung von der Pestepidemie im Mittelalter ist Richard als Ritter verkleidet und hat sich auf einem Klappstuhl neben Terry platziert. Terry erwähnt in ihrer Erzählung die »seltsamen Schwellungen«, die die Pestkranken an sich entdecken – dies nimmt Richard augenscheinlich zum Anlass, mit Hilfe des Griffs seines Plastikschwertes eine Erektion zu simulieren, zugleich zerrt er an Terry und versucht, sie auf seinen Schoß zu ziehen. Während Richard von Beginn der Erzählung der »history of mankind« an als SexManiac dargestellt ist, entwickelt eine weitere Darsteller-Figur, Wendy, zwar nur für kurze Zeit, dafür aber auf sehr auffällige Weise ebenfalls eine Affinität zu einem ihr eigenen Darstellungs-Motiv: Wendy baut während der Erzählung der frühen Neuzeit immer wieder die Darstellung des ›Sterbens‹ in ihre Bebilderungsarbeit ein: Wendy kommt zum Ende des »dance of death«, punktgenau zum Ende der eingespielten Musik, ›tot‹ zu Füßen Terrys zu liegen. Obwohl darauf offenbar eine neue Sequenz beginnen soll, steht sie nicht wieder auf. Für Momente erhält sie darauf die Aufmerksamkeit des übrigen Ensembles, Sprecherfigur Terry scheint sich ernsthafte Sorgen um die Kollegin zu machen; das Spiel scheint dabei, zumindest für Terry, für Momente auf der Schwelle zur Ernsthaftigkeit zu stehen. Leise und flehend ruft sie: »Wendy... ? Wendy!« ins Mikrophon und versucht, die zu ihren Füßen liegende Kollegin zum Aufstehen zu bewegen. Wenn sich Wendy endlich aufrichtet, kommentiert Terry das Geschehen: »It’s okay! She was acting.« Die Erzählung Terrys beginnt nun von Neuem und auch die szenische Bebilderung nimmt wieder ihren Lauf. Allerdings scheint Wendy nun wie davon besessen, immer neue, besonders brutale Todesszenen darzustellen, zum Beispiel indem sie sich von der Kante der rechts vorn auf der Bühne platzierten Couch in eines der Plastikschwerter stürzt, oder indem sie im hinteren Bereich der Bühnenmitte eine Art Harakiri aufführt; die Art und Weise, wie Wendy dabei das
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Plastikschwert handhabt und Stürze simuliert, wirkt zunehmend gefährlich: Das Schwert, mit dem die Darstellerin hantiert, hat durchaus scharfe Kanten, das wiederholte Aufschlagen von Wendys Körper auf dem Bühnenboden erzeugt schmerzhaft laute Geräusche. Wenn Wendy schließlich versucht, sich selbst zu zu ›erstechen‹, scheint dies aufgrund des langen Schwerts und ihrer kurzen Arme zum Scheitern verurteilt; nun eilt Darsteller Richard zur Hilfe und spielt in einer gewalttätigen Mordszene mit (vgl. Abbildung 8). Dabei verbinden sich die Motive beider Darsteller, Wendys Sterbemotiv und Richards Sexualitätsmotiv, für einen Augenblick: Während Wendy auf dem Rücken liegend, konvulsiv zuckend, eine blutrünstige Todesszene spielt, kann in Richards genüsslichem ›Durchbohren‹ der vor ihm liegenden Wendy durchaus eine weitere Variation seiner sexualisierten Thematik erkannt werden. Abbildung 8: Richard durchbohrt Wendy mit dem Plastikschwert
Beide Motive, das pornographische Motiv Richards wie auch Darstellerin Wendys Thematisierung von Tod und Gewalt bzw. Lebensgefahr können im selben Zusammenhang betrachtet werden: Pornographie und Gewalt (bzw. augenscheinliche Gefährdungen für Leib und Leben) sind hochwirksame Aufmerksamkeitserzeuger; als Sex and Crime sind sie dafür bekannt, als verkaufssteigernde Themen bzw. Motive in jedweder Medienform zu dienen. Dies ist gewöhnlich der Tatsache geschuldet, dass weder ›echte‹ sexuelle Erregung noch tatsächliche Gefährdung leiblicher Unversehrtheit jemals gänzlich konsequenzbefreit simulierbar sind; verletzen sie doch
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die Grenzen des Subjekts, indem sie es seiner Souveränität berauben. Eine leibliche Verletzung ist, einmal geschehen, nicht mehr reversibel und bedroht die willentliche Steuerung des Individuums; und auch sexuelle Erregung unterliegt normalerweise nicht dem Willen dessen, dem sie geschieht. Harte Pornographie oder das (glaubhafte) Zeigen körperlicher Verletzung erreichen also größtmögliche Wirklichkeitseffekte, indem sie die tatsächliche Leiblichkeit eines Gegenübers realisieren, betonen, in ihrer Konsequenzbehaftetheit ausstellen. Das offensichtliche und plumpe Simulieren von Sexualität und Körperversehrung, wie sie im vorgespielten Masturbieren Richards, seiner falschen Erektion etc., ebenso in den Bühnentoden Wendys vorliegt, wirkt insofern als ein Entzug eben jener Wirklichkeitseffekte, für die die Darstellung von Sex und Gewalt normalerweise sorgt. Statt die materielle Präsenz konkreter Darsteller auszustellen, wird in The World in Pictures damit die konkrete Leiblichkeit der Darsteller in den Bereich des Ästhetischen und des Fiktiven überführt: Die Verletzlichkeit und die erotische Berührbarkeit der Darsteller Richard und Wendy wird als reine Potentialität ins Bühnenspiel hineingezogen und der Betrachtung durch das Publikum überlassen. Verletzbarkeit u.a. leibliche Affizierbarkeit werden so zu Bestandteilen der beiden dargestellten Darsteller-Figuren. Die Differenz aus ›Darstellern‹, die schauspielerische Aufgaben ausführen, und davon klar abgrenzbaren ›Rollen‹ oder Aufgaben beginnt im Bereich des Fiktiven undeutlich zu verschwimmen. In einer weiterhin funktionalen Theatersituation situiert, produziert die Aufführung auf diese Weise doch immer wieder für Augenblicke schwindelerregend grenzwertige Wahrnehmungen, in die die Zuschauerin auf mehrfache Weise involviert wird: Sie wird an ihren Voyeurismus erinnert, der sich von pornographischen o.ä. Wirklichkeitseffekten ansprechen lässt; existentielle Motive wie Sexualität und Gefahr gemahnen zudem an ihre eigene Leiblichkeit, als Körper unter Körpern im Zuschauerraum. Schließlich erhält sie kaum lösbare Zuschreibungs-Aufgaben, muss sich immer wieder aufs Neue fragen: Wer ist das, der da schwitzt? d) Fazit: Leibliche Grenzen der Figuren Ähnlich wie es schon für die zeitlichen und räumlichen Klammern der Aufführungen Bloody Mess und The World in Pictures beschrieben werden konnte, existieren also zugleich alternative Markierungen bzw. Zeichen oder Hinweise, die jeweils die Wahrnehmung von Figuren anleiten können: Alleine die Befindlichkeit auf der Bühne würde ausreichen, eine Person als ›Darsteller, der gerade seinen Job tut‹ und damit als Rollenfigur zu markieren; die gewissermaßen übereifrige Unterteilung der Bühne in einen weiteren, einen ›tatsächlichen‹ Bühnenbereich (On/On) führt nicht nur zum paradoxen Zwischenraum des On/Off sondern auch zur Figur des ›untätigen Darstellers‹, einer Figur also, die zwar auf der Bühne befindlich ist, aber an-
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scheinend gerade ›ihren Job nicht tut‹. Es lassen sich in beiden Aufführungssituationen zahlreiche Spielstrategien nachweisen, die Figuren entsprechend rahmen und ›entrahmen‹, wobei bis hier drei besonders auf die Leiblichkeit von Darstellern bezogene Strategien beschrieben wurden: Durch das Spiel, das in beiden Aufführungen mit dem An- und Ablegen von Kostümen vorgeführt wird, erweitert sich die Menge möglicher Zuschreibungsmöglichkeiten; Darsteller, die sich On/Off befinden und dennoch ein Kostüm tragen werden möglich, ebenso Rollenfiguren, deren Maske mitten im On/On zu fallen scheint. Es etablieren sich weiterhin eigenwillige Kostümnutzungen, zum Beispiel wenn Figur Jerry (in The World in Pictures) nur in ›Privatkleidung‹ zum Publikum spricht, sich in seinem Kostüm hingegen verbirgt. Auch entstehen Darsteller-Figuren, die augenscheinlich mit einem intentionalen Innenleben ausgestattet sind (z.B. Terry in Bloody Mess, die mit mit der Entblößung weiblicher Reize beeindrucken ›will‹). Zugleich aber wird die Produktion solch ›authentischer‹ Darsteller-Individuen immer wieder aufs Neue als Inszenierung vorgeführt, z.B. indem deutlich wird, dass nicht nur der Gorilla, sondern ebenso die Trägerin des Gorillakostüms, Claire, als sorgfältig gestaltete Konfigurationen zu werten sind. Entsprechende Strategien lassen sich auch für das Spiel mit körperlicher Verausgabung (Bloody Mess) und die Thematisierung leiblicher Extremsituationen in sexueller Erregung und Gefahr (The World in Pictures) beschreiben: Beide Darstellungsweisen erinnern zunächst an die für die Aufführung konstitutive Differenz von Spiel und Nicht-Spiel, von Realität und Fiktion, um darauf Unterscheidungsmöglichkeiten kunstvoll zu verspielen. Gefährden sich die Clowns (Bloody Mess) oder Figur Wendy (The World in Pictures) tatsächlich? Und als wie ›grenzwertig‹ sollten die sexualisierten Scherze der Darsteller-Figur Richard wahrgenommen werden? Die untersuchten körperlichen Darstellungs-Praktiken beider Aufführungen betonen insofern die Differenz aus ›Darstellern‹ und ihren ›Rollen‹ bzw. Aufgaben, ästhetisieren sie und stellen sie in Frage. Die Grenzbereiche dieser Differenz werden dabei zum bevorzugten Mittel der Darstellung wie auch zum ästhetisierten Gegenstand: wenn z.B. die Haut der Darsteller als deren leiblich konkrete Oberfläche betont wird, Schweiß, fettiges Make-up und kratzig heiße Kostüme auffällig werden, wenn Körper verausgabt oder gefährdet scheinen, kann die Zuschauerin mit den tatsächlich leiblich anwesenden Darstellern mitfühlen; zugleich aber treiben die Aufführungssituationen – weit entfernt vom Kitsch jeder Präsenzmetaphysik – Zweifel im Aufzeigen solcher Körperlichkeit hervor. Die Inszeniertheit von Präsenz und KoLeiblichkeit wird dekonstruiert, ein ums andere Mal wird der Sprung vom Sinnlichen zum Sinn (und umgekehrt) vor Augen geführt. Das oben erläuterte Konzept der Spielfigur, wie auch der breitere Kontext des hier genutzten Spielvokabulars erweisen sich in den Beschreibungen der körperlicher Darstellungspraktiken der Aufführungen als hilfreiches Instrument: Die zahlreichen sichtbar werdenden Versionen von Darstellern und ihren Rollen bzw. Jobs
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konnten als Extrempunkte im Figurenspiel der Aufführungen thematisiert werden, statt sie zu ontologischen Entitäten zu erklären. Auf diese Weise wurde verständlich, wie in den Aufführungssituationen Bloody Mess und The World in Pictures seltsam hybride Darsteller-Figuren etabliert werden können, die ihren Rezipienten keine einfach zu ziehende, sinnvolle Differenz mehr anbieten (z.B. im Sinne eines Brecht’schen Heraustretens des Darstellers aus der Rolle), sondern sich komplex aufschichten, zu bodenlos mehrbödigen Darsteller-Figuren werden. Im oben geschilderten Verhalten Richards (in The World in Pictures), in dessen ständigen eingeflüsterten Thematisierungen von Sexualität, ebenso in den erwähnten ›erotischen Monologen‹ der Figur Claire in Bloody Mess beginnt sich zu zeigen, wie wesentlich eine Untersuchung der darstellerischen Sprechpraxis ist, um das Herstellen von Spielfiguren in den Aufführungen nachzuvollziehen. Daher soll im nun folgenden Punkt das Sprechen als eine Praxis sowohl der Stimmnutzung wie des Bedeutens behandelt werden. Weiterhin konnte sich zeigen, dass das Verhalten einzelner Figuren auf der Bühne immer nur eingebettet in die Gesamtsituation ›Sinn macht‹, z.B. die ›Peinlichkeit‹ der sexuellen Obsession der Figur Richard in The World in Pictures. Der auf die Sprachanalyse folgende Part der Untersuchung wird daher das Ensemblespiel in Bloody Mess und The World in Pictures betrachten. 3. U M K OPF
UND
K RAGEN : S PRECHWEISEN
DER I NSZENIERUNGEN
Techniken des Sprechens und andere Verwendungen von Text zeigen sich in beiden untersuchten Inszenierungen wiederholt als Quellen des Spiels, erweisen sich als Gelegenheiten für das Herstellen von spielerischem ›Hin und Her‹ – zwischen Sinn und Sinnlichkeit, zwischen Sprechenden und Hörenden, zwischen Rollen (bzw. Aufgaben) und den anscheinend ›darunter‹ befindlichen Darstellern. Es nimmt nicht wunder, dass beide Inszenierungen gerade in der Praxis des Sprechens und der Textverwendung Raum für solche Spiele finden: Ist Sprechen doch, ob im Theaterspiel oder anderswo, sowohl als eine leiblich verankerte wie als eine in der Materialität der Zeichen befangene Praxis zu beschreiben, die dabei immer noch auf ein ›Anderes‹ verweist. Sprechpraxis ist insofern immer schon in einem Dazwischen angesiedelt. Sprache und Sprechen (ebenso wie anderes Handeln mit Text) lassen sich daher im Hinblick auf ihre Praxis problemlos in ein Modell des Spiels integrieren; sei es, indem auf ihre regelhafte und begrenzende, strukturierende Funktion aufmerksam gemacht wird, sei es, indem auf das Spiel (im Sinne des Spielraums) innerhalb der Sprache verwiesen wird, auf ihre Unschärfen, auf ihre nie fest zu stellende différance. Bei der Verwendung des Spielens als Modell und als Vokabular zur Beschreibungen von Sprech- und Textpraktiken in Bloody Mess und The World
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in Pictures soll im Folgenden keinem dieser beobachtbaren Pole von Sprache und ihrer Nutzung analytischer Vorzug gegeben werden: Weder soll mit »protestantischem Gestus« nach einem Sinn gesucht werden, der irgendwo ›hinter‹ der praktischen Realität des Sprechens läge, noch soll ausschließlich der performative Charakter des Sprechens betrachtet werden.20 Vielmehr möchte ich eng entlang der Aufführungspraxis beschreiben, wie Aspekte des Sprechens dort praktisch bedeutungsvoll gemacht werden. Texte interessieren also vornehmlich als Gebrauchsobjekte, als ›Spielzeug‹, in und durch dessen Handhabung Figuren wahrnehmbar werden.21 Als Werkzeug und Rohstoff zur Figurenherstellung sind Sprechweisen besonders produktiv, weil sie in der Lage sind, sogar ohne die Unterstützung weiterer Körper-, Raum- und Zeitpraktiken, Figuren wahrnehmbar werden zu lassen; man denke nur an erzählte Helden im Märchen, an Romanfiguren oder an schemenhaft in Texten sich abzeichnende Figuren, wie z.B. die Dark Lady in Shakespeares Sonetten.22 Sprechweisen und ihre Texte können Figuren dabei auf höchst unterschiedliche Art und Weise ins Leben rufen: Figuren können angesprochen werden, es kann über Figuren gesprochen werden, Figuren können sich äußern, Figuren können zitiert werden, usw. Begreift man Figuren, wie oben erläutert, als immer wieder neu gestaltbare »Konfigurationen«, kann eine einzelne (Bühnen-) Äußerung gleichzeitig zahlreiche Figuren implizieren: Sprecherpositionen können etabliert werden und dabei nicht nur die Sprecherfigur selbst verifizieren, sondern darüber hinaus noch einen abwesenden Urheber des Gesagten implizieren, Zuhörer ansprechen, etc. Texte und ihre Sprechweisen müssen also bei der Frage nach den Spielfiguren der Aufführungen äußerst sorgfältig untersucht werden, ist es doch denkbar, dass sich leiblich etablierte Figuren in den vorgeführten Sprechweisen vervielfältigen, dass sie im Sprechen wieder ausgelöscht werden, oder dass ausschließlich im Material der Sprache konfigurierte Figuren ins Spiel treten.
20 »Wir wollen diese weit verbreitete Einstellung, dass das, worauf es ankomme, ,hinter den sinnlich wahrnehmbaren Phänomenen liege‹, den ,protestantischen Gestus‹ in den Geistes- und Kulturwissenschaften nennen.« (Krämer 2004b: 325). 21 Gerade im Zusammenhang mit Text- und Sprechtechniken erscheint mir der Begriff des ›Spielzeugs‹ besonders stimmig – vereint doch das ›Zeug‹ im Deutschen etymologisch sowohl die Bedeutung des Rohstoffs wie des Werkzeugs mit sich. 22 In seinem Aufsatz Fiktionale Geschöpfe zeigt Peter van Inwangen den logischen Status solcher rein sprachlich ins Leben gerufener Figuren auf unterhaltsame Weise: Fiktionale Geschöpfe, so van Inwangen, existieren tatsächlich, sie haben allerdings nur »literarische Eigenschaften«, d.h. sie bestehen ausschließlich aus Zuschreibungen, wie z.B. »Mr Pickwick ist fettleibig« (vgl. van Inwangen 2007: 91).
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a) Inventarisierung und Begriffsklärung: ›discours‹ und ›histoire‹ In einem ersten Schritt soll inventarisierend beschrieben werden, welche Textsorten in den untersuchten Inszenierungen zur Anwendung kommen und welche Besonderheiten ihrer Verlautbarung bzw. Handhabung auffällig werden. Bloody Mess: Zu Beginn der Aufführung Bloody Mess wenden sich in der ›Vorstellungsrunde‹ alle Darsteller-Figuren je einzeln und verstärkt durch ein Mikrophon an das Publikum und erklären ihre angebliche Wirkungsabsicht. Jede der Figuren zeigt schon hier einen individuellen Duktus. Im weiteren Verlauf der Aufführung setzen die einzelnen Figuren immer wieder dazu an, kleine individuelle ›Nummern‹ sprachlich zu gestalten: Figur Cathy wendet sich direkt nach der Born to Be Wild Sequenz in einem spontan wirkenden ›Ausbruch‹ an die Zuschauer; sie entschuldigt sich dafür, dass die Aufführung vollkommen falsch angelaufen wäre. Zugleich greift sie ihre Kollegen verbal an und verlangt von Ihnen, die zuletzt dargebotene Szene zu wiederholen. In Cathys späterer ›Crying 1x1‹ Sequenz scheint sie sich erneut spontan an das Publikum zu wenden; dann aber verwandelt sich ihr Sprechen in einen längeren, wohlstrukturierten Monolog, der in seiner repetitiven Struktur fast lyrisch anmutet. Figur Claire spricht zum Publikum, indem sie im Verlauf der Aufführung zwei Mal den Kopf ihres Gorillakostüms abnimmt und in langen Monologen eine erotische Begegnung zwischen ihr selbst und einer Figur namens »You« beschreibt, durch die sich jedes Publikumsmitglied angesprochen fühlen kann. Clown John versucht in den Sequenzen ›Beginning of the world‹ und ›End of the world‹, das Publikum durch das Erzählen von »storys, based on hard scientific facts« zu fesseln. Beide durch John erzählte Geschichten werden häufig durch – meist unhörbare – Kommentare der Kollegen und deren (angebliche) Versuche, sich in den Vordergrund zu spielen, unterbrochen. Die beiden ›Stars‹, Davis und Jerry, möchten dem Publikum anscheinend einen gemeinsam verbrachten Moment in wunderschöner Stille – »beautiful silence« – schmackhaft machen und ergehen sich dafür in einer langen Aufzählung potentiell mit Stille assoziierbarer Momente. Die sportiv gezeichnete Figur Wendy bemüht sich während der Aufführung, möglichst oft Cheerleader-typische Sprachspiele einzuwerfen (»How do you spell it John?!« »Give us a Story John!«); außerdem wendet sie sich mit einem Workshop und als Kommentatorin eines Ringkampfes an das Publikum. Clown Bruno führt unterschiedliche Sprech- bzw. Stimmspiele (»Impressions«) auf, bei denen er zunächst Waffen und später Tierlaute stimmlich imitiert, um endlich, nachdem Johns zweite Story von einem drohenden Kometen-Einschlag erzählt hat, das »Ende der Welt« als Ton-Impression zum Besten zu geben. Die Roadys schließlich sind für die Song-Einspielungen während der Auffüh-
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rung verantwortlich – durch diese Einspielungen gelangen Texte auf die Bühne, die zwar keiner der anwesenden Figuren leiblich zugeordnet werden können, die aber – zumindest teilweise – als indirekte Äußerungen der Roadys verstanden werden können. Zudem äußern die Roady-Figuren sich häufig auf quasiparasitäre Art und Weise: Sie scheinen es als Teil ihrer technischen Aufgabe zu begreifen, ihre Kollegen mit Mikrophonen zu versorgen, sobald diese zu sprechen anheben; dabei beschränken sie sich aber nicht auf eine dezent unterstützende Rolle, sondern kommentieren die Aussagen ihrer Kollegen fleißig. Auch scheinen sie sich zwischenzeitlich eher für interessante Geräusche (Wassertropfen, lautes Atmen, etc.) als für das Sprechen ihrer Kollegen zu interessieren. Alle bis hier aufgezählten Äußerungsformen, die in Bloody Mess nebeneinander treten, funktionieren in erster Linie als direkte Publikumsansprachen. Sonst aber unterscheiden sich die dargebotenen Texte deutlich voneinander: So lassen sich unterschiedlich aufgebaute Prosaformen finden: Erzählungen in der dritten Person, wie z.B. Clown Johns Stories stehen neben »second person fiction«, wie in Claires ›erotischen Monologen‹.23 Die dargebotenen Textformen sind weiterhin unterschiedlich stark lyrisch geprägt, z.B. wenn in der ›Silences‹ Sequenz immer wieder gleichlautende Satzfragmente auftauchen oder wenn in Cathys ›Crying 1x1‹ dasselbe Wort rhythmisch wiederholt wird. Schließlich wird auch pure Geräuschlyrik geboten, z.B. in Clown Brunos »Impressions«. Neben derart heterogenen, nach außen gewandten Prosa- und Lyrikvorführungen, finden sich in Bloody Mess auch interne dialogische Äußerungen. Diese wirken allerdings oft, als wären sie nicht ›offiziell‹ gemeint, als gehörten sie nicht zum zentralen Bühnengeschehen, sondern als wären sie alleine für die Darstellerkollegen untereinander bestimmt.24 So scheinen die Darsteller-Figuren immer wieder miteinander zu tuscheln, sich also gut sichtbar doch unhörbar für das Publikum zu unterhalten. Werden intern adressierte Äußerungen doch hörbar, scheint dies manchmal
23 Zur in beiden Inszenierungen genutzten Form der »second person fiction« bzw. ›Youfiction‹ vgl. ausführlich in Kapitel V. 24 Das in Bloody Mess gebotene Spiel mit unterschiedlichen Adressen der Bühnentexte macht deutlich, dass dem Sprechen auf der Bühne immer auch verschiedene Formen des Hörens zugeordnet werden können, die in der Beschreibung mitzudenken sind: Offiziell nach außen gerichtete Kommunikationen sind anscheinend ›für die Ohren‹ der Zuschauer bestimmt, doch auch Bühnen-Figuren hören mit und scheinen sich ihren Teil zu denken. Umgekehrt werden angeblich interne Kommunikationen oftmals ganz explizit für das Publikum hörbar gemacht, andere schließlich existieren anscheinen nur für die DarstellerFiguren ohne laut zu werden, etc. Zum Hören von Figuren vgl. auch Unterpunkt 4 und Lehmann 2004. Das Adressiertwerden des Publikums wird ausführlich in Kapitel V. der vorliegenden Arbeit thematisiert.
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nur aufgrund der angeblichen Erregung der Äußernden zu geschehen, z.B. wenn Cathy ihren wütenden Ausbruch vorführt, oder wenn Darsteller sich anscheinend ›dazu hinreissen lassen‹ sich hörbar zu necken, zu diskreditieren etc. Damit differieren die in Aufführungen von Bloody Mess dargebotenen Sprechweisen auch in ihrer Intentionalität: Einige der vorgeführten Reden scheinen gut vorbereitet und zum Zweck der Publikumsunterhaltung reproduziert zu werden, andere scheinen eher ›versehentlich‹ auf die Bühne zu gelangen. Eine weitere Gruppe von Äußerungen erweist sich sowohl als ›offiziell nach außen gerichtet‹ wie auch als ›interne Kommunikation‹. In diesen Fällen werden nicht entweder Kollegen oder Publikum adressiert, sondern beide Gruppen gemeinsam angesprochen; bestes Beispiel hierfür ist Figur Wendys Agieren als Cheerleader: Ihre Redeweise spricht gleichermaßen das Publikum wie die anderen Figuren, einschließlich Wendy selbst an, indem von »uns« gesprochen wird: »Come on, John, give us a story«. Neben der Heterogenität von Form, Intention und Adresse lässt sich schließlich eine ambigue inszenierte Urheberschaft in den Sprechweisen der Inszenierung vorfinden; hierfür können die Roady-Figuren in ihren ›parasitären‹ Sprechweisen wie in ihrer Nutzung von Songtexten hervorragendes Beispiel werden; lassen diese Songtexte doch die Frage möglich werden: Wer ist das, der da spricht? Ähnliche Text- und Sprechpraktiken wie in Bloody Mess lassen sich bei näherer Betrachtung des Aufführungsgeschehens auch während The World in Pictures inventarisieren. Zudem kann dort die Aufführung in recht klar differenzierbare Phasen aufgeteilt werden, zu denen jeweils eine spezifische Sprechtechnik vorgeführt wird. Weiterhin scheinen hier nur zwei der Figuren den Auftrag zu haben, offiziell zum Publikum zu sprechen; insgesamt wirkt The World in Pictures also rigider strukturiert und weniger organisch als Bloody Mess: The World in Pictures beginnt mit einer kurzen Ansprache an das Publikum, während der sich alle Ensemblemitglieder auf der Bühne befinden: Ein namentlich nicht bekannter Darsteller erklärt dem Publikum, man habe Probleme mit dem Beginn der Aufführung und wolle daher einige Ratschläge an Jerry richten, der für diesen Beginn verantwortlich sei. In der sich anschließenden Sequenz wenden sich alle Darsteller nacheinander, verstärkt durch ein Mikrophon, an einen stumm in einiger Entfernung stehenden Kollegen, und bedenken ihn mit Ratschlägen zu seiner bevorstehenden schauspielerischen Arbeit; danach gehen sie jeweils ab. Alleine auf der Bühne zurückgeblieben, wendet sich Kollege Jerry – ohne Mikrophon – an das Publikum und erzählt in einem etwa fünfzehnminütigen Monolog vom Spaziergang durch eine fremde Stadt, von existenziellen Fragen und von einem (vermutlich tödlichen) Sturz; Hauptfigur seiner Erzählung ist »You«. Jerry beendet seinen Monolog sehr plötzlich; es folgt die (im Kapitel III aus-
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führlich beschriebene) ›Volcano Scene‹ Szene, in der keine Sprache zur Aufführung gelangt. Nach der ›Volcano Scene‹ spricht ausschließlich Figur Terry zum Publikum; die sich dem Publikum als diejenige vorstellt, die für »the talking bit« während der Aufführung verantwortlich sei. Terry erzählt die »history of mankind«, während die übrigen Kollegen dieselbe pantomimisch darstellen. Allerdings scheinen die Kollegen häufig Einwände und Ergänzungen zu Terrys Erzählung zu haben, die sie in deren Ohr flüstern. Terry wiederholt diese Kommentare dann laut ins Mikrophon. Umgekehrt kommentiert auch die Sprecherin die pantomimischen Anstrengungen des Ensembles, dies geschieht ebenfalls vom Mikrophon verstärkt. Schließlich scheint Terry manchmal nicht in ihrer Erzählung weiterzuwissen; ins Mikrophon flüsternd erfragt sie in diesen Momenten Hilfe von den Kollegen, die dann wiederum in ihr Ohr wispern. Unterbrochen nur von einem zweiten Monolog Jerrys (etwa sieben Minuten, während der ›Dark Ages‹ Sequenz) dauert die Erzählung der Menschheitsgeschichte sehr lange – Terry spricht insgesamt volle 70 Minuten. Inhaltlich umfasst sie dabei tatsächlich den »main thrust of history«. Die Aufführung schließt mit zwei weiteren Publikumsansprachen Jerrys. Schließlich gelangt durch Songeinspielungen weiterer Text auf die Bühne: Während Terrys Erzählung des zwanzigsten Jahrhunderts und während des ›Great Finale‹; in beiden Fällen werden die Songs von Mitgliedern des Bebilderungsensembles als Playbacknummern aufgeführt. Rückschauend auf die durchlebte Aufführung kann die Zuschauerin insofern nachvollziehen, dass sich während The World in Pictures zwei Erzählungen abwechseln, die beide ›nach außen‹ gerichtet, also direkt an das Publikum adressiert sind: Erzähler-Figur Terry lässt die große »history of mankind« verlauten, während ErzählerFigur Jerry am Anfang, in der Mitte und am Ende der Aufführung lose aufeinander aufbauende Monologe einstreut, die von einer (und zugleich zu einer) »You«-Figur sprechen. Neben diesen beiden großen Erzählungen finden auch während The World in Pictures zahlreiche, angeblich interne Kommunikationen statt. Ebenso wie für Bloody Mess beschrieben, scheinen solche Text- und Sprechpraktiken manches Mal zugleich für das Publikum bestimmt, z.B. in der ersten szenischen Sequenz des Abends, in der alle Kollegen Ratschläge an Jerry richten. Auch die zahlreichen Einwürfe von Darsteller-Figuren aus dem Bebilderungsensemble an Terry, wie umgekehrt Terrys Kommentare zum pantomimischen Spiel der Kollegen, sind zugleich als interne Kommunikationen wie auch als Versuche der Darsteller-Figuren inszeniert, sich auf verschiedene Art und Weise für ein Publikum in Szene zu setzen. Zusätzlich zur Adresse gerät auch in The World in Pictures die Urheberschaft von Äußerungen in Spiel, z.B. in den beiden Playbackaufführungen: Durch die ein-
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gespielten Songs gelangt Text auf die Bühne, der nicht live von einer der anwesenden Figuren gesprochen wird, auch wenn jeweils einer der Darsteller dem Lied seinen Köper leiht – die Hybridität der Urheberschaft ist durch die Wahl der Darstellungsform Playback hier sogar noch auffälliger ausgestellt als in Bloody Mess. Auch tritt der Zuschauerin deutlich die Hinterfragbarkeit von Urheberschaft vor Augen, da in der zweiten Hälfte der Aufführung große Strecken der von Terry gesprochenen »history of mankind« zuvor durch einen Kollegen eingeflüstert werden.25 Sowohl in Bloody Mess als auch in The World in Pictures finden sich also äußerst unterschiedliche Textformen und Sprechpraktiken: Erzählende wie lyrische Monologe präsentieren sich als ›offizielle‹ Äußerungsform für ein Publikum; interne dialogische Sprech- bzw. Textpraktiken, (wie sie in konventionell dramatischen Theaterformen das Gros des präsentierten Sprechens ausmachen würden), sind ebenfalls vorhanden, allerdings sind diese hier meist als ›inoffizielles Sprechen unter Kollegen‹ inszeniert. Die weiter oben schon mehrfach angesprochene Betonung des Grenzgebietes zwischen ›Darstellern‹ und ›ihren Rollen‹ (oder Aufgaben), findet sich also auch in der präsentierten Sprache wieder: Die Zuschauerin sieht sich Textdarbietungen gegenüber, die manchmal zur Rollenaufgabe eines Sprechers zu gehören scheinen, manchmal lauscht sie aber auch den angeblich inoffiziellen Gesprächen von Darstellern untereinander. Der schnelle Wechsel zwischen den äußerst unterschiedlichen Sprechweisen, ebenso das erzählerische Entstehenlassen ganz unterschiedlicher fiktiver Welten führen dabei vor, wie flüchtig Positionierungen und Festigungen subjekthafter Sprecherfiguren im Hier und Jetzt sein können. In den Aufführungssituationen beider Inszenierungen werden also in manchen Sprechweisen leiblich etablierte Spielfiguren auch sprachlich verifiziert, in anderen scheinen sie sich hingegen aufzulösen. Insofern lassen sich beide Inszenierungen differenziert danach befragen, auf welche Weise dieses sprachliche ›Hin und Her‹ bewerkstelligt wird: Welche Praktiken verankern Text und Aufführungssituation, Geäußertes und Äußerung, den äußernden Leib und das Gesagte? Welche Praktiken hingegen zeigen Bühnenfiguren in Auflösung? Mit diesem Interesse entfernt sich die Untersuchung von einer gängigen theatersemiotischen Frageweise und begibt sich, theoretisch wie methodisch, ins Feld der sogenannten »Diskurspragmatik«. 25 Insgesamt häufen sich in The World in Pictures Hybridformen des Sprechens bzw. der Textnutzung im Fortschreiten der Aufführung – zuvor aufgebaute polare Unterscheidungen werden eingerissen, miteinander verspielt und vermengt. Diese Tendenz zeigte sich auch schon in den nichtsprachlichen Aufführungspraktiken beider Inszenierungen: Differenzen werden aufgebaut, bestärkt und überzeichnet, um sie schließlich zum Kollaps zu führen und Hybridformen entstehen zu lassen.
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Die entsprechenden analytischen Fragen, die der Sprechpraxis der Aufführungen Bloody Mess und The World in Pictures im Folgenden gestellt werden sollen, wurden u.a. angeregt durch die Zusammenfassung diskurspragmatischer Analysemethoden, die sich in Johannes Angermüllers Buch Nach dem Strukturalismus finden (vgl. Angermüller 2007). Darüber hinaus lehne ich mich in meinem folgenden Vorgehen eng an ein Begriffsraster Émile Benvenistes an: Im fünften Kapitel seiner Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft entwickelt er die Unterscheidung zweier Äußerungsformen bzw. Äußerungs-Stile: discours und histoire (vgl. Benveniste 1974: 251ff).26 Von einem discours-Aussagestil spricht Benveniste dann, wenn Texte besonders eng an die Situation ihrer Äußerung geknüpft sind, z.B. indem sie Verweise auf ein ›Sprecher-Ich‹ und/oder auf ein innerhalb der Äußerungssituation angesiedeltes ›Adressaten-Du‹ enthalten (z.B: »Ich bitte Dich, Dir folgendes vorzustellen«). Auch indexikalische Hinweise auf den Ort und die Zeit der Äußerung verankern Aussagen in der Aussagesituation (z.B.: »Hier ist es aber dunkel heute Abend!«) und verweisen dabei indirekt auf die Personen »Ich« und »Du«, da diese als Subjekte der Wahrnehmung des zeiträumlichen Settings imaginiert sind.27 Bei Texten, die so weit wie möglich abgekoppelt von ihrer Äußerungssituation Sinn zu bilden in der Lage sind, spricht Benveniste hingegen von einem histoireAussagestil;28 er entwickelt diesen Begriff, indem er sich zunächst auf das französi26 Ich behalte hier die französischen Begriffe bei, da mir deren deutsche Übersetzung, »historische Aussageform« und »Diskurs«, missverständlich erscheint. Wenn ich im Folgenden Benvenistes Unterscheidung zitiere, beziehe ich mich dabei insbesondere auf seine Ausführungen zu den »Personenbeziehungen« sowie den »Tempusbeziehungen« im (französischen) Verb, sowie zu Pronomen und zur »Subjektivität in der Sprache«. Vgl. Benveniste 1974: 251-297. 27 Benveniste spricht im Zusammenhang mit solchen Indexikalitäten auch von »Leerstellen«, die die Sprache bereithielte, um mit einer Äußerungssituation gekoppelt zu werden (vgl. Benveniste 1974: 283). Einer solch pragmatischen Befragung von Text und Sprechen liegt implizit eine Sprachphilosophie des Spiels zugrunde, wie sie Wittgenstein formuliert (vgl. Kapitel II); denn erst die mannigfachen Unschärfen der Sprache – bei Benveniste »Leerstellen« – machen es überhaupt möglich, sie eingebettet in ihren Gebrauch vorzustellen; vgl. Wittgenstein, 2004: 298: »Die Frage ,Was ist eigentlich ein Wort?‹ ist analog der ,Was ist eine Schachfigur?‹« 28 Hier muss angemerkt werden, dass in einer konkreten Äußerungssituation nie alleine anhand der Textstruktur erklärt werden kann, ob geäußerte Texte eher als discours oder histoire wahrnehmbar werden. Dies wird deutlich, führt man sich manche Äußerungen vor Augen, die nur durch die Stimmlage ihrer Aussprache ironisch werden und sich dadurch weiter vom Sprecher distanzieren lassen, als ihre Struktur dies vermuten ließe. Dies sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich in der Struktur von Texten durchaus zahl-
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sche Aorist (present simple) bezieht, das ausschließlich als schriftliche Form existiert und auf vorzeitige Geschehnisse verweist, die über keinerlei Anbindung an die Äußerungssituation ihrer Beschreibung verfügen; im Französischen wird diese Form vor allem in der Geschichtsschreibung verwendet. Doch auch ohne das Vorhandensein solch spezieller, »historisierender« Tempi können Textformen angenommen werden, die ihre Äußerungssituation (inklusive Sprecher oder Autor) gewissermaßen dissimulieren: Geäußertes scheint dann als von der Äußerungssituation unabhängig und auf eine außersituative Wahrheit bezogen. Die für den histoireAussagestil typische grammatische Person ist die dritte, die Benveniste auch die »Nicht-Person« nennt, da sie in der Lage ist, das Subjekt eines Satzes zu bilden, ohne dabei überhaupt eine äußernde Person zu suggerieren (wie z.B. in »Es schneit!«). Als beispielhaft für den histoire-Aussagestil könnten in sich geschlossene Fiktionen (»Es war einmal ein König...«) genannt werden, wissenschaftliche Textformen (»Es ist erwiesen, dass...«) oder dogmatische und politische Texte (»Es steht geschrieben, dass...«, »Es ist klar, dass das Land strenge Einwanderungsgesetze benötigt«, etc.). Das in Benvenistes Ansatz implizierte Modell einer sprachlich bewerkstelligten, praktischen Verankerung von Äußerung und Äußerungssituation kann für die vorliegende Untersuchung äußerst hilfreich werden, da es eine spielerische Manipulierbarkeit solcher Verankerung beschreibbar werden lässt: Die bis hier grob umrissene Unterscheidung in discours und histoire kann dabei helfen, nach dem sprechpraktischen Produzieren und Vergehenlassen von ›Darstellern‹ und ihre ›Rollen/Aufgaben‹ in den Aufführungssituationen zu fahnden; im Folgenden soll daher untersucht werden, inwieweit der in den Aufführungssituationen Bloody Mess und The World in Pictures geäußerte Text als discours gestaltet ist, also nahelegt, dass subjektartige Figuren sich in der konkreten Situation äußern, und inwieweit andere Texte ›für sich‹ Sinn produzieren und so ihre Sprecherfiguren und die Äußerungssituation transzendieren. b) Discours: Leiblichkeit, Subjektivierung, Eigennamen Zunächst soll auf Sprechweisen fokussiert werden, die in Aufführungen beider Inszenierungen Äußerung und Äußerungssituation ineinander verankern. Beispielhaft soll dafür eine Transkription der Sequenz ›Stöhnende Clowns‹ aus Bloody Mess untersucht werden; die Sequenz schließt an den von Figur Wendy kommentierten
reiche Hinweise auf ihren möglichen Gebrauch finden, und dass diese Hinweise oder Spuren mit Nicht-Textuellem ins Spiel geraten können.
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Ringkampf der Figuren John und Bruno an; dieser Kampf hat etwa zehn Minuten gedauert, zuletzt begleitet vom Janis-Joplin Song Cry Baby. 29 Die Musikeinspielung Cry Baby endet mit einem Schlussakkord; die Clowns bleiben übereinander liegen und bewegen sich nicht mehr; John liegt unten, Bruno über ihm; leise hört man beide heftig atmen und stöhnen Beide Clowns: Ah... ahhh. ah... ahhh. ah... ahhh... Wendy: (sich ins On/Off begebend) Call that a fucking fight!? Beide Clowns: Ah... ohhh... aaaaah. Huh! Aaaah ah... ohhh... aaaaah. Huh! Aaaah ah... ohhh.... aaaaah. Huh! (ca. 15 Sekunden) Roady Robin eilt zu den Clowns und beginnt, deren Stöhnen mit einem Mikrophon zu verstärken; dafür hält er das Mikrophon zunächst vor Clown Johns Mund; anscheinend begeistert vom erzielten Effekt, blickt Robin triumphierend ins Publikum, dabei bekräftigend nickend. Clown John: (verstärkt) Ah... aaaaah. Huh! Aaaah ah ah... ah... aaaaah. Huh! Aaaah ah ah... Ah... aaaaah. Huh! Aaaah ah ah... ah... aaaaah. Huh... (ca. 20 Sekunden). Nun hält Robin das Mikrophon vor Clown Brunos Gesicht Clown Bruno: (verstärkt) Ah... ohhh.... aaaaah. Huh! Aaaah ah... ohhh... Aaaaah. Huh... (ca. 10 Sekunden). Roady Robin wechselt mit dem Mikrophon wieder zurück zu Clown John. Das verstärkte Stöhnen wird inzwischen anscheinend von den Clowns bewusst hervorgebracht; es klingt zunehmend wie der Soundtrack eines Pornofilms und passt damit ›wie zufällig‹ zum Bild der halbnackt und verschwitzt aufeinander liegenden Männer. Clown John: (verstärkt) Ah... aaaaah. Huh!. Aaaah ah ah... oh god, oh god... ah oh ah oh... oh goohod.. isth... huh?... ISTHAT YOU ROB!? Robin zuckt kurz zusammen; er scheint unangenehm überrascht, angesprochen zu werden.
29 Die Transkription beruht auf der DVD Forced Entertainment 2004, die Sequenz findet sich zwischen 01.08.50 und 01.10.54. Äußernde sind im Folgenden jeweils vor dem Geäußerten genannt, fett gedruckt und mit einem Doppelpunkt versehen. Um einen schriftlichen Eindruck von der massiven Präsenz nichtsprachlicher Laute in der Gesamtmenge der Äußerungen zu geben, wurden diese in Buchstaben ›übersetzt‹; erhöhte Lautstärke ist durch die Verwendung von Großbuchstaben gekennzeichnet. Weitere Handlungen an der Sequenz beteiligter Figuren sind als Beschreibungen wiedergegeben und kursiv gedruckt, sofern gleichzeitig mit Sprachäußerungen in Klammern, dasselbe gilt für nähere Beschreibungen des Geäußerten und Zeitangaben. Handlungen von Figuren, die sich zeitgleich mit dem verschriftlichten Geschehen im Hintergrund bzw. im On/Off aufhielten, sind nicht berücksichtigt.
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Clown John: (verstärkt, lauter) OOOOOH! OUHHHH... ROB... Roady Robin: (spricht – anscheinend widerwillig – selbst ins Mikrophon) Yeahyeahyeah it’s me John. Just carry on... doing... what you’re doing. It’s good! Robin hält wieder Clown John das Mikrophon vors Gesicht Clown John: (verstärkt; nun schluchzend) ooof... Iiih... I think I’m bleeeeding, Rob, hhh, i hhh I’hhh can’t... I’m bleeding... uuuuuh... John schluchzt herzerweichend, dreht sich ein wenig vom Mikrophon weg; Robin begutachtet John etwas genauer Roady Robin: (spricht weiter an John gewandt ins Mikrophon, jetzt in eher liebevollem Ton; Roady Richard eilt zugleich hinzu und bringt ein Handtuch): No! No, John! No, you’re not bleeding! (nun an Richard gewandt, doch weiter ins Mikrophon, leicht genervt) No, he’s not bleeding. He is not bleeding! John hat kurz aufgehört zu schluchzen. Richard zieht sich zurück. Robin hält das Mikrophon wieder vor Johns Gesicht, worauf dieser wieder anfängt, mit weinerlicher Stimme zu sprechen. Clown John: (verstärkt) I’ve thehe taste of blooohod in my mouth!!! Hhh... the taste of blood! Huhhh... I think I’ve lost one of my crowns! Robin scheint erneut verunsichert; Richard stößt ein weiteres Mal zu dem Grüppchen. Clown John: (verstärkt) Ah ah ah huhhhh hhh ahhhaa ahhhhaaa... I’m bleeding... Richard hat eine kleine Taschenlampe aus der Tasche gezogen; beide Roadys beginnen nun, mithilfe der Taschenlampe, Johns Mund zu untersuchen: Robin leuchtet in Johns Mund hinein, während Richard das Haar von Robins Perücke zurück hält. Auch der immer noch über John kauernde Clown Bruno stützt sich nun auf einem Arm ab und scheint besorgt den unter ihm liegenden Kollegen zu betrachten. Clown John: (verstärkt) Haaa aaaaa....hhhh... Robin hat sich offenbar davon überzeugt, dass in Johns Mund alles in Ordnung ist. Er spricht wieder selbst ins Mikrophon, zu John gewandt; nun in bestimmten Ton: Roady Robin: (verstärkt; etwas genervt) No, you’re fine John! Your teeth are really okay, yeah? Insbesondere drei Sprech- bzw. Sprachstrategien werden in der Aufführung der Sequenz auffällig und lassen sich auch im Transkript nachweisen: Erstens der lautliche Verweis auf subjektive Leiblichkeit, zweitens das inhaltliche Thematisieren von Körperlichkeit und situativer Anwesenheit sowie drittens die Nutzung (tatsächlicher) Vornamen (»John«, »Robin«). Diese drei Strategien möchte ich im Folgenden kurz erörtern.
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Unter Punkt IV.2 wurde auf die Konsequenzen hingewiesen, die Verweise auf körperliche Anwesenheit und authentische Verletzbarkeit der Darsteller für die Wahrnehmung der Aufführung haben: Eine Betonung der realen sozialen Situation, des tatsächlichen Hier und Jetzt der Aufführung findet statt, wenn Figuren schwer atmen, keuchen und stöhnen und auf diese Weise ihre Stimme als etwas genuin Leibliches hörbar machen. Zu entsprechenden Darstellungsformen schrieb Hans-Thies Lehmann treffend: »Die Stimme scheint [...] direkt von der ›Seele‹ herzukommen. Sie wird empfunden als gleichsam ungefilterte seelisch-geistige Ausstrahlung der ,Person‹. Die sprechende Person ist die anwesende Person par excellence, Metapher des ,Anderen‹ (im Sinne Emmanuel Levinas), der an eine Ver-antwortung des Zuschauers appelliert, nicht an eine Hermeneutik. Der Zuschauer findet sich der sinnfreien Anwesenheit des Sprechenden als einer Frage an ihn, an seinen Blick auf ihn als Körperwesen ausgesetzt.« (Lehmann 2001: 275)
In Forced Entertainments Darstellungspraxis allerdings wird zugleich immer auf den inszenatorischen Effekt hingewiesen, den solche Präsenz- und AuthentizitätsDarstellungen besitzen können: Figuren scheinen sich binnen weniger Momente bewusst zu werden, dass sich ihnen eine Chance zur Darstellung bietet, die sie dann flink nutzen. Auf diese Weise wird der zunächst produzierte Authentizitätseffekt ad absurdum geführt. So geschieht es auch in der transkribierten Sequenz. Hier scheint aus körperlichen Erschöpfungssymptomen nicht nur eine neue Szene spontan zu entstehen, sondern auch ein angebliches Gespräch, das seinerseits neue Präsenzeffekte produziert, um diese ebenfalls gleich darauf als Inszenierung zu entlarven, usw. Im ersten Moment nach dem Ringkampf der Clowns scheint deren Stöhnen rein zufällig in der Stille nach der Musikeinspielung laut hörbar zu werden, wie ein Gespräch im öffentlichen Raum, das bei plötzlicher Stille ungewollt in der Vordergrund der Aufmerksamkeit gerät. Für die Zuschauerin scheint damit ein unerwarteter Blick auf eine authentische Körperlichkeit der erschöpften Clowns-Darsteller möglich zu werden. Allerdings zeigt sich auch die Figur Roady Robin durch diesen ›zufälligen‹ Präsenzeffekt beeindruckt und macht sich auf, denselben theatralisch zu nutzen: Robin nähert sich den Clowns mit dem Mikrophon. Von einer offensichtlich inszenierten Bühnenfigur wie Roady Robin ausgeführt, bricht diese Handlung auf witzige Weise schon ein erstes Mal die aufkeimende Illusion von ›Zufälligkeit‹ und ›Authentizität‹. Dennoch scheint weiter die Chance zu bestehen, Authentizität wahrzunehmen, da die Clowns offenbar im ersten Moment noch nicht bemerken, dass ihr Stöhnen die Aufmerksamkeit Robins (und die der Zuschauerin) erregt hat. Doch schon nach einigen wenigen Augenblicken werden die Clowns gewahr, dass sie per Mikrophon verstärkt werden; nun strengen sie sich anscheinend besonders an, herzerweichende Laute zu produzieren. Damit ist eine durch Rückkoppelung entstehende Unschärfe in der Darstellung von Authentizität sichtbar gemacht: Das
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Näherrücken der Aufmerksamkeit, hier materiell repräsentiert vom gezückten Mikrophon in Roady Robins Hand, treibt augenscheinlich jede ›authentische‹ Äußerung vor sich her. Eine analoge inszenatorische Nutzung von Mikrophonen lässt sich in beiden Inszenierungen häufig beobachten: Darsteller-Figuren nutzen Mikrophone immer wieder, um bestimmte – leibliche Kopräsenz betonende – Lautäußerungen überhaupt erst hörbar zu machen. Es wird also immer wieder mit Hilfe der Mikrophone Körperlichkeit auffällig gemacht, der Zuschauerwahrnehmung wird eine intensive Annäherung an das körperlich-materielle, konkrete Bühnengeschehen ermöglicht. Zugleich, sozusagen im selben Spielzug, inszeniert der Mikrophongebrauch aber die Unerreichbarkeit absoluter Präsenz: Das immer sichtbare und manchmal Störgeräusche produzierende Mikrophon bleibt seinerseits auffällig.30 In der exzessiv genutzten Technik der Verstärkung von Sprache und anderen Lautäußerungen mit Mikrophonen ist somit nicht nur eine Annäherung an die Materialität und Leiblichkeit der Aufführungssituationen angelegt, zugleich bewerkstelligt diese Technik immer auch eine Überschreitung dieser Präsenzeffekte; die Aufmerksamkeit der Zuschauerin wird vom Konkreten wieder zurück in die übergreifende Situation gelenkt, hier: von der konkreten Präsenz der stöhnenden Clowns in die umfassende Situation der Aufführung. In der transkribierten Sequenz scheinen es die Figuren allerdings noch weiter darauf anzulegen, der zurückweichenden Authentizität nachzujagen; so wirkt das übertrieben laute Stöhnen der Clowns in Kombination mit dem Bild ihrer übereinander liegenden verschwitzten Körper wie eine derb-witzige Reminiszenz an pornographische Darstellungen; ein Effekt, über den Roady Robin sich zunächst zu freuen scheint, die aber auch dazu führt, dass er ›peinlich berührt‹ zusammenzuckt, wenn Clown John ihn anspricht. Doch nicht nur Figur Robin, auch die Zuschauerin wird durch die Assoziation der Pornographie an die Voyeurhaftigkeit ihres möglicherweise erregten Wunsches nach immer größerer Annäherung an eine authentische Körperlichkeit der Darsteller erinnert. Dennoch ›zoomt‹ die Sequenz immer näher auf Clown John ein: kaum hat dieser ›realisiert‹, dass ein Kollege mit Mikrophon zugegen ist, scheint er um jeden Preis die Chance nutzen zu wollen, sich wirkungsvoll zu präsentieren. Er beginnt, auch inhaltlich auf seinen Körper zu verweisen, sogar auf dessen Innenleben; er äußert: »I can taste blood in my mouth«. Dabei wird nicht nur die Innenseite von Johns Körper (Mund) und dessen Inhalt (Blut) 30 Es erscheint nur konsequent, dass in beiden Inszenierungen gerade diejenigen Sprechsequenzen, die für einige Momente das Gefühl einer ungestörten Annäherung der Zuschauerin erlauben, ohne Verstärkung durch Mikrophone ablaufen, z.B. wenn in The World in Pictures Jerry zum Publikum spricht oder wenn Figur Claire in Bloody Mess ihre ›erotischen Monologe‹ hält (zur ›Youfiction‹ dieser beiden Figuren vgl. Kapitel V.2).
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thematisiert, das Sprechen nutzt darüber hinaus zahlreiche äußerst starke Verweise auf eine angebliche Subjektivität der Figur John – z.B. indem auf subjektive Empfindungen (das Schmecken) und Überzeugungen (John meint er habe eine Krone verloren) aufgerufen werden.31 Auch die Roadys folgen der immer weiter auf – und sogar in – John einzoomenden szenischen Aufmerksamkeit und beginnen, mit einer Taschenlampe in Johns Mund hineinzuleuchten. Dorthin allerdings kann die Zuschauerin nicht mehr folgen; sie ist darauf angewiesen, der konsternierten Versicherung Robins Glauben zu schenken: »No, you’re fine John!« Das Eindringen in die Leiblichkeit und die angebliche Subjektivität der Bühnenfigur John, ebenso die darin bewerkstelligte Übersteigerung von Authentizitäts- und Präsenzeffekten, sind nun ganz klar an einer Grenze angelangt. Wenn Clown Bruno sich während der ›Zahnuntersuchung‹ an John langsam zu regen beginnt, wird der Zuschauerin eventuell bewusst, wie sehr ihre Aufmerksamkeit im eifrigen ›Zoom‹ auf Johns Person fast gänzlich diese zweite Figur ausgeblendet hat, obwohl sich Bruno während der ganzen Sequenz in durchaus auffälliger Lage direkt über John befindet. Sprachliche und sprechpraktische Techniken sind also, in enger Kombination mit allen übrigen Handlungen der Schauspieler-Körper in den untersuchten Aufführungen, intensiv am Aufbau der szenischen Wirklichkeiten beteiligt: Sie blenden auf bestimmte Brennpunkte des szenischen Geschehens ein und sind am Herstellen wie am Wiederauflösen authentischer Präsenzen beteiligt. In ungewohnter Übersteigerung eingesetzt, verweisen sie dabei immer auch auf die Grenzen inszenatorischer Praxis – und verspielen diese nicht selten. Als beständig im Spiel mit Sprache und Körpern mitgeführtes und dabei grenzgängerisch sehr ergiebiges Moment erweist sich die Subjektivität der Darsteller-Figuren (im Sinne einer suggerierten authentischen Innerlichkeit). Die Verheißung, eventuell einen Blick auf ein authentisches Selbst der Darsteller zu erhaschen, das hinter jeder Verstellung, hinter jeder Rolle verborgen scheint, funktioniert immer wieder aufs Neue: Die Aufmerksamkeit der Zuschauerin zentriert sich gespannt, sobald sprachlich Masken zu fallen scheinen, immer dann also, wenn glaubhafte Subjektivierungen sich abzuzeichnen beginnen.32 Wenn Johns erste verständliche Worte in der transkribierten Szene beispielsweise lauten »Is that you Rob...?« lenken diese Worte den Fokus der Betrachterin auf den Angesprochenen, »Rob«, und damit auf dessen angebliche subjektive Intention (das Vorführen des Stöhnens als pornographisch interessantes Klanger31 Von einem spezifisch ›subjektiv‹ gefärbten, discours-artigen Sprachstil schreibe ich an dieser Stelle in Anlehnung an Angermüllers Besprechung zu »Aussagenanalyse«; namentlich Angermüllers Zusammenfassung von Kerbrat-Orecchionis Inventarisierung speziell subjektiv gefärbter Worte (z.B. affektive und bewertende Worte) hat mich hier inspiriert, vgl. Angermüller 2007: 142ff. 32 Von »Praktiken der Subjektivierung« berichtet z.B. Andreas Reckwitz, er allerdings untersucht alltägliche Wirklichkeiten, vgl. Reckwitz 2006a und ders. 2008:159ff.
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eignis). Roady Robin antwortet John nur unwillig, offenbar bestrebt, diesen Umschwung in der szenischen Fokussierung zu verhindern, was sich als kontraproduktiv erweist: Gerade die ›Unwilligkeit‹ Robins (die wiederum durch das Mikrophon hörbar gemacht und verstärkt ins Publikum getragen wird) fungiert als weiterer starker Hinweis auf Robs angebliche Subjektivität. Die Sequenz zeigt insofern, dass Subjekt-Darstellung Wechselseitigkeit benötigt, dass das ›Subjektivieren‹ nicht alleine in der Hand des Subjekts liegt. Subjektivieren beweist sich damit hier spielerisch als eine interaktive soziale Praxis des Zurechnens. In beiden Inszenierungen – Bloody Mess wie The World in Pictures – lassen sich häufig solche als ›unwillig‹ inszenierte subjektive Rückbindungen an die Szene nachweisen, wie die oben geschilderte anscheinend ›unerwünschte‹ Anrufung Robins durch John; die Sprache der Figuren scheint dann förmlich an der Aufführungssituation und ihren Sprechern zu kleben, Robin subjektiviert sich gerade im Versuch, Aufmerksamkeit wieder zu John zurückzuspielen. Die Figuren in Forced Entertainments Aufführungssituationen sprechen sich also nicht nur ›willentlich‹ selbst, sondern werden gesprochen (bzw. an-gesprochen) – durch die Sprache selbst, ebenso wie durch die ›unkontrollierbaren Intentionen‹ der Darstellerkollegen.33 Betont körperliche und discours-artige Sprechtechniken produzieren also im untersuchten Beispiel Subjektivität – es werden Figuren wie Roady Robin und Clown John mit einem jeweiligen Eigenleben vorstellbar; diese Sprechweisen bewirken eine Fokussierung der Situation, eine Rückbindung von Gesprochenem und seiner Äußerung. Es entstehen kleine abgeschlossene Fiktionen, auf die die Zuschauerin ›einzoomen‹ kann; bis zu einem gewissen Grad wird ihr dabei ermöglicht, zurückgelehnt eine genüsslich beobachtende Haltung gegenüber den entstehenden subjektivierten Figuren einzunehmen. Zugleich aber setzt das körperbetonte und discours33 Das Ansprechen des jeweils anderen mit dem Personalpronomen in der zweiten Person, »You«, das die Figuren in der untersuchten Sequenz betreiben (»Is this you, Rob?«) ist in dieselbe Richtung zu interpretieren, darüber hinaus mag es aber an die interessante Doppelfunktion erinnern, die das »You« in der Bühnensituation erhalten kann: Auch wenn im besprochenen Fall eindeutig der körperlich nahe und namentlich angerufene Robin angesprochen ist, birgt die Struktur des Personalpronomens in der zweiten Person in einer Aufführungssituation immer auch die Möglichkeit, dass das Publikum sich angesprochen fühlt, (besonders im Englischen das in der zweiten Person nicht zwischen Singular und Plural unterscheidet). So könnte Clown Johns Frage »Is this you?« nicht nur durch Robin, sondern auch durch die Zuschauerin beantwortet werden: »Ja, das bin ich«. Die Zuschauerin wird so ihrerseits eng in die Aussagesituation eingebunden. Eine solche Ausweitung in der Indexikalität des »You« zumindest in Betracht zu ziehen, liegt im untersuchten Fall nicht allzu fern, bedenkt man, dass beide Inszenierungen intensiv mit Publikumsansprachen arbeiten; auf diese spezifische Form des Sprechens gehe ich im Kapitel V. dezidiert ein.
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artige Sprechen im untersuchten Fall immer auch seine eigenen Grenzfälle in Szene: Der übertriebene Zoom auf Johns körperliche Präsenz lässt die Beobachtung der Szene an eine nicht zu überschreitende Grenze gelangen. Das Subjektivieren der Figuren ist als problematisch und unkontrollierbar dargestellt, als immer im Entstehen begriffen und hochgradig kontingent. Eine weitere Sprechpraxis, die ganz besonders auf die Fragwürdigkeit und das Prekäre der vorgeführten Äußerungssituationen verweist, bleibt noch zu besprechen: die Verwendung der tatsächlichen Vornamen der Schauspieler für die Figuren der dargestellten Darsteller. Sowohl in Bloody Mess als auch in The World in Pictures tragen die auftretenden Darsteller-Figuren die Vornamen, die die Schauspieler Forced Entertainments auch im alltäglichen sozialen Leben nutzen. Auch diejenigen Zuschauer, die nicht aufgrund längerer Erfahrung mit dem Theater Forced Entertainments von vornherein wissen, wie die auf der Bühne Auftretenden tatsächlich heißen, können diese Information jederzeit abrufen, da vor jeder Aufführung ganz traditionell Programmzettel verteilt werden. In psychoanalytischen Denktraditionen wird der Name als Siegel der Identität verstanden, als Zeichen einer Welt-Ordnung die, auf Subjekten aufbauend, diese erst ins Leben ruft. Benannt zu werden bedeutet in diesem Kontext den Eintritt in die symbolische Ordnung: »Die Abhängigkeit des Subjekts ist durch die Präexistenz der Sprache gegeben. [...] In diese Vorgängigkeit der Sprache schreibt sich das besondere Moment ein, dass die Bildung einer [...] Identität mit dem Eintritt in die ›symbolische Ordnung‹ verknüpft ist [Herv. i. Org.]. Für jedes Subjekt ist dieser Eintritt verbunden mit dem Namen. [...] Andererseits konstituiert ›Le nom du père‹ [...] die sozialen Relationen, formt die Gesellschaftlichkeit des Subjekts und strukturiert sie für das Subjekt als Vor-Bild aller späteren Ordnungserfahrung.« (Lehmann 1991: 134f )
Insofern kann das ›Benannt-werden‹ bzw. das ›Sich-selbst-benennen‹ als endgültigste und autoritärste Form des Subjektivierens begriffen werden. Namentliche Nennung ermöglicht Zuschreibungen von Handlung und Verantwortlichkeit auf die benannten Subjekte. Im Kontext von Theateraufführungen kommt der Nennung von Namen darüber hinaus eine wichtige situationskonstitutive Funktion zu, denn sie kann der Zuschauerin helfen zu unterscheiden, ob sie gerade der Rede einer dramatischen Figur lauscht (und wenn ja, welcher der Figuren eines Dramas) oder ob sie z.B. Zeugin einer Äußerung eines aus der Rolle hervortretenden Darstellers wird
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(wie z.B. im Brecht’schen epischen Theater). Die Nennung des Namens wird dann zum Siegel der zu interpretierenden Wirklichkeitsebene.34 In Forced Entertainments Inszenierungen aber sprechen Darsteller-Figuren sich ausnahmslos mit den Vornamen an, die die Schauspieler auch außerhalb des Bühnenspiels tragen. Gerade in Johns »Is that you Rob?« aus dem obigen Beispiel wird deutlich, welch komplexe Ambiguität durch diese Praxis auf der Bühne produziert wird. Denn mit dieser Sprechtechnik verweisen die Inszenierungen nicht nur ein weiteres Mal auf das paradoxe Moment der Darstellung authentischer Präsenz im Bühnenspiel, vielmehr fiktionalisieren sie darüber hinaus die genutzten, alltäglichfunktionalen Namen: Wenn Roady Robin mit seiner seltsamen Karnevalsperücke ins Mikrophon wispert »Yeahyeahyeah, its me« stellt sich für die Zuschauerin keineswegs die Illusion ein, der ›echte Robin‹, Schauspieler Robin Arthur also, würde auf der Bühne sichtbar; vielmehr wird dessen ›echter‹ Name zum gespielten Namen umkodiert.35 Auf diese Weise wird die Roady-Figur auf denselben Namen getauft, den auch der Schauspieler trägt; die Figur übernimmt hier den Namen des Schauspielers – nicht umgekehrt. So verweisen Forced Entertainments Inszenierungen auf den spielerischwillkürlichen Charakter allen Benennens. Eine entsprechende Position formuliert Plessner in seinem Essay zur Anthropologie des Schauspielers, in dem er den Namen in die Nähe von Staffagen wie Ornat oder Kostüm rückt, von Materialitäten also, die Figuren quasi ›von außen‹ entstehen lassen: »Zur Figur gehören das Kleid, der Schmuck, die Insignien der Macht und Würde, alle künstlichen Zusätze und Korrekturen, alle Epitheta und sicher nicht in letzter Linie der Name.« (Plessner 34 Nicht umsonst enthalten traditionelle Dramentexte häufig Formulierungen, in denen die Namen der handelnden Figuren explizit genannt und betont werden, auf eine Weise wie es im Alltagsleben meist gar nicht nötig wird; dann entstehen z.B. Texte wie dieser: »Awake! what ho, Brabantio!« (79) .... »Do you know my voice?«.... »Not I, what are you?«.... »My name is Roderigo.« (aus Shakespeares Othello Akt 1, Szene 1; vgl. z.B. Shakespeare 2008: 12). 35 Die These von der Fiktionalisierung der Eigennamen der tatsächlichen ForcedEntertainment Mitglieder lässt sich auf beeindruckende, wenn auch unorthodoxe Weise bestätigen, wirft man einen Blick auf die Homepage von Schauspieler Ben Neale, der im Jahr 2008 Forced Entertainments Gründungsmitglied Robin Arthur in Aufführungen von Bloody Mess vertrat und dabei entsprechend als Figur ›Ben‹ agierte, (vgl. einige der hier verwendeten Transkriptionen). Im Verzeichnis seiner Rollen, das Neale im Rahmen seines Lebenslaufs auf der Homepage zur Verfügung stellt, ist seine Rolle in Bloody Mess allerdings mit ›Robin‹ betitelt: Neale hat in den Aufführungen eine fiktive Rolle gespielt, die normalerweise von Robin Arthur besetzt war, und entsprechend ursprünglich dessen Namen trug. Vgl. http://www.castingcallpro.com/uk/view.php?uid=312722 (zuletzt geprüft am 01.04.2014).
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1982: 413) Indem die Inszenierungen Bloody Mess und The World in Pictures ihre Figuren mit denselben Namen auftreten lassen, die die Schauspieler auch im Alltag nutzen, wird die Zuschauerin also gerade dann, wenn sie am Kern der betrachteten Subjektivität der Figuren angelangt scheint, in eine entgegengesetzte Richtung verwiesen: von der engen Bindung an die Aufführungssituation hinaus, in die Weiten des arbiträren Zeichensystems und seines Sprachspiels. c) Histoire: Lyrisches, Listen, dritte Personen Neben den bis hier beschriebenen Sprechweisen, die auf situatives Hier und Jetzt und auf die dort vorhandenen Subjekte fokussieren, kommen in beiden Inszenierungen auch zahlreiche Sprechweisen zum Einsatz, die Geäußertes ganz explizit als über die Äußerungssituation hinausgehend präsentieren, z.B. indem Narrationen zur Menschheitsgeschichte, oder zur Naturgeschichte des Planeten Erde u.ä. dargeboten werden. Im Folgenden sollen solche Sprechweisen und Textsorten im Hinblick auf die dabei entstehenden und wieder vergehenden Figuren näher betrachtet werden. Dabei zeichnen sich in den beiden untersuchten Inszenierungen zwei unterscheidbare Arten des Verweisens auf ›andere Welten‹, bzw. auf ein ›Außerhalb der Situation‹ ab: In eher lyrisch anmutenden Textformen wird die Materialität der Sprache und damit auch ihr Charakter als ephemeres System betont. Im Fall eher erzählerischer Äußerungsformen steht der Verweis auf eine bestimmte Inhalte, z.B. eine allseits bekannte Erzählung im Vordergrund. In beiden Fällen ist der Text als kunstvoll hergestelltes Konstrukt eigener Wirkmacht betont, das Sprecherfiguren überschreitet, gewissermaßen hinter sich lässt. Anhand der im Folgenden eingefügten Transkription, die ich zu einer Sequenz aus The World in Pictures erstellt habe, möchte ich diese in beiden Inszenierungen auftauchende histoire-artige Sprechweise exemplarisch untersuchen. Die folgende monologische Sequenz stammt aus der (ausschließlich durch Figur Terry verlautbarten) »history of mankind«. Terry befindet sich während des Monologs vorne links am Mikrophon, neben ihr ist ein Kollege platziert, der – in ihr Ohr wispernd – bei der Erzählung hilft. Im Hintergrund läuft ein Filmmusik-artiger Klangteppich, der ruhig, doch auch leise bedrohlich klingt. Auf der Bühne hinter Terry hat sich eine allgemeine Pausenstimmung ausgebreitet, z.B. haben in der Mitte der Bühne zwei Darsteller Liegestühle aufgebaut und ›sonnen‹ sich im warmen Scheinwerferlicht.36 36 Die Transkription basiert auf der DVD Forced Entertainment 2006; die entsprechende Sequenz findet sich dort zwischen 01.17.00h und 01.22.23h; es wurden nur diejenigen szenischen Geschehnisse, die zum Verständnis der Sequenz beitragen, als kursive Beschreibung in Klammern wiedergegeben, um den von Figur Terry flüssig gesprochenen Text auch optisch als Fließtext darzustellen. Verstärkte Lautstärke und Emphase ist durch
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Terry: ...It’s relatively calm... (Einflüsterung durch den Kollegen) It’s a few wars... there’s the Crimean War (Einflüsterung)... and the Franco-Prussian War... (Einflüsterung)... But basically we’re headed towards that bit of the story, at the end of the 19th century, that they call... ›the long peace‹... It’s the long peace... It’s the long HOT summer afternoon at the end of the 19th century. It’s that long... crimson sunset at the end of the 19th century. It’s the long peace (geflüstert:) I t ’ s t h e t w i l i g h t ! (Terry dreht sich um und spricht – wenn auch weiter ins Mikrophon – das Bebilderungsensemble an) Everybody! we need a... dance, for the long peace! We need a dance! (Sie dreht sich wieder zurück Richtung Publikum:) We need the dance of the long peace! Its the dance for a long summer at the end of the 19th century... (Der einflüsternde Kollege verlässt seine Position neben Terry und reiht sich ins Ensemble ein)... It’s the dance of the long hot summer afternoon... a beautiful crimson sunset... at the end of the 19th century. (Terry blickt über die Schulter zu den Kollegen; einige führen zaghafte Tanzbewegungen aus, die anderen scheinen weiter zu pausieren. Terry dreht sich wieder zum Publikum) This bit really gets me. It gets me every time. It gets me, yeah! It gets me. It’s really moving, because... they’re lost! (Sie weist mit dem Arm hinter sich, auf die Kollegen) They’re lost in their dance. Lost in their dance at the end of the 19th century. They don’t know what’s coming. They don’t know what’s breathing down their necks. They don’t know what’s waiting for them. They don’t know they’re (geflüstert) l o s t , l o s t i n t h e i r d a n c e ... They don’t know about the First World War, they don’t know about Verdun, they don’t know about the Somme, they don’t know about the... senseless, senseless loss of life, they don’t know about the young soldiers, the sixteen year old, seventeen year old boys, they don’t know the lost generation of sweethearts, they don’t know about Europe, as a bloody muddy battlefield, they’re lost... (leiser, traurig) t h e y ’ r e l o s t i n t h e i r d a n c e , t h e y a r e l o s t i n their... long, hot summer afternoon at the end of the 19th c e n t u r y . (Terry beobachtet noch einmal kurz die Kollegen, dreht sich dann wieder nach vorne) They don’t know, that after the first world war, there will be this tiny... (Geste)... tiny historical pause. A tiny historical pause, and then there’ll be the Second World War. They don’t know that’s waiting for them. They don’t know that’s just around the corner, they don’t know that there’ll be more fighting in Europe, there’ll be more casualties ... but it won’t be soldiers this time, it will be civilians, it will be... cities going up in flames, it will be cities raised to the ground, it will be peoples dispossessed, peoples shifted from one part of Europe to the other, it will be peoples... systematically destroyed. They... they don’t know about this... they don’t know about the bombs, the Großbuchstaben, wispernde Sprechweise durch gesperrt gesetzte Buchstaben verdeutlicht.
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bombs across Europe... the bombs in Japan. They don’t know about the second world war, they don’t know that that is coming, they are lost... lost in their brief, ephemeral, transient dance... They’re lost in their illusory dance of the long peace... They’re lost in the dance of the long peace... They don’t know that after the second world war there’ll be cities in Europe trying to rebuild in anger and shame, they don’t know about the long... long... cold... cold... bitter cold war... They don’t know about the bitter long cold war and the cycles of competitive fear, the entrenchment of capitalism and communism, they don’t know about the deprivation and the hardship that that would bring. They don’t know that that’s waiting for them... (Terry schaut wieder über die Schulter zu den Kollegen) They’re lost. They’re lost in their... beautiful, ignorant dance, they’re lost in their blissfully ignorant dance, they’re lost in their dance... (der zuvor einflüsternde Kollege bewegt sich langsam auf Terry zu, nimmt seine Position neben ihr wieder ein)... the long peace... (Terry schaut den Kollegen an; dieser flüstert wieder in ihr Ohr)... They don’t know about the Korean War in the early 1950ies... (Einflüsterung)... They don’t know about the Great Leap Forward in 1958... (Einflüsterung)... Spezifisch auffällig wird an Terrys Text zunächst die formelhafte Wiederholung einzelner Phrasen, die sich durch die gesamte transkribierte Sequenz erstreckt; namentlich »they don’t know« und »they’re lost«. Andere Phrasen, z.B. »dance of peace«, »long peace« und »long hot summer afternoon« werden etwas weniger häufig, aber dennoch ungewöhnlich oft ausgesprochen, einige schließlich werden jeweils über einige Sätze mehrmals hintereinander ausgesprochen (z.B. »crimson sunset« »it will be cities...« »it will be peoples...«, »long, cold war«, etc.) Es fällt auch auf, dass in all diesen immer wieder eingestreuten Worten der Vokal »o« besonders häufig auftaucht, meist zusammen mit säuselnden oder zischenden Konsonanten. Die Sequenz wirkt insofern lyrisch strukturiert, wie ein Prosagedicht mit mehreren Strophen. Eine eigenwillige klangliche Qualität legt sich dabei über alle inhaltliche Aussage der Sequenz, die Häufung von »o«s und Zischlauten erinnert eventuell an das abwechselnde Dröhnen und Wispern von anhaltendem Wind. Dieser Eindruck wird unterstützt durch die musikalische Untermalung der Szene sowie durch die Rhythmisierung, die durch die vielen Wiederholungen im Text entsteht und an das Auf- und Ab einer ständigen Wellenbewegung erinnert. Die Schilderung der wohlbekannten Katastrophen des frühen 20. Jahrhunderts erinnert insofern klanglich an die unausweichliche Urgewalt von Naturphänomenen. Unabhängig von solch subjektiv wahrnehmbar werdenden Qualitäten kann konstatiert werden, das die auffällig lyrische Gestaltung der Sequenz auf die Materialität der genutzten Sprache verweist: Klangqualität, Melodiösität und Rhythmik des Sprechens werden auffällig. Dabei scheint, im selben Moment, in dem die Sprache und ihre musikalische Wirksamkeit in den Fokus der Aufmerksamkeit treten, Terry
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als Subjekt der Äußerung hinter ihnen zurückzustehen; der Text wirkt, als würde er durch Terry hindurchtönen, die erzählende Stimme scheint ihre Sprecherin zu transzendieren: ›Es spricht‹. Die häufigen Wiederholungen können weiterhin nicht nur in ihrer lyrischen Wirkung betrachtet werden, sie erzielen auch inhaltlich Wirkung, da das Aneinanderreihen gleichartiger sprachlicher Versatzstücke nach der Logik einer Liste funktioniert. Listenartige Sprech- und Sprachspiele finden sich in den allermeisten Inszenierungen Forced Entertainments in unterschiedlichen Anteilen wieder; die Gruppe nennt diese Sprechweise Catalogues. In der Sprache beider Inszenierungen, Bloody Mess und The World in Pictures, lassen sich zahlreiche solcher Catalogues wiederfinden:37 In The World in Pictures sind in der »history of mankind« mehrfach lange Aufzählungen eingebaut, und auch Jerrys Monologe enthalten Listen, z.B. besteht sein zweiter Monolog ausschließlich aus einer Aneinanderreihung von Bildbeschreibungen. In Bloody Mess wird besonders die ›Silences‹ Sequenz als Aufzählung auffällig. Betrachtet man die Catalogue-Logik genauer, fällt zunächst auf, dass sie die schiere Dauer von Äußerungen betont; in langen Aufzählungen scheint die Zeit gewissermaßen stillzustehen, nachdem sich dort so gut wie keine neue Information für die Zuschauerin mitteilt; schon nach der Nennung weniger Elemente einer Aufzählung ist ihr klar, dass es sich bei dem vorgetragenen Text um eine Liste mehr oder minder gleichwertiger Elemente handelt, dass also kein Beitrag zu einer Narration, zu einer Handlung oder ähnlichem geboten wird. Insofern ist eine Liste schon nach einigen wenigen Momenten der Rezitation im wahrsten Wortsinn ›langweilig‹. Terrys Agieren als Sprecherin für die Erzählung der gesamten Menschheitsgeschichte in The World in Pictures zeigt das Erzählen insgesamt als Praxis, die dauert und anstrengt; indem ihr Erzählen darüber hinaus mit langen Listen, wie der transkribierten gespickt ist, fällt diese Dauer besonders auf, die Erzählung präsentiert sich als widerspenstige, zähe Masse, deren Bändigung Zeit benötigt.38 CatalogueSprechweisen betonen zudem ihre Eigenlogik als Sprachspiele: Es wird schnell klar, dass eine Spielregel die vorgeführte Sprechweise strukturiert (und nicht etwa 37 Einige Inszenierungen Forced Entertainments bestehen sogar ausschließlich aus live improvisierten Catalogue-Spielen bzw. Listen (z.B. Quizoola oder Speak Bitterness). Das Spielen streng strukturierter Spiele mit sich immer wiederholenden »listenartigen« Sprech-Abläufen ist zudem eine Probenpraxis, die die Gruppe exzessiv betreibt. Zum Zusammenhang von Probentechniken und Aufführungssituationen vgl. Kapitel VI. 38 Zum Darstellungsmittel der Dauer berichtet Hans-Thies Lehmann im Kontext einer Aufführung der Gruppe TheaterAngelusNovus: »[D]ie schiere Dauer der ›Ilias‹-Lesung (22 Stunden) [brachte es mit sich], dass nach einer gewissen Zeit die sinnliche und stimmliche Klangwelt des Sprechens sich abzulösen schien von der (vorlesenden) Person. [Herv. i. Org.]«. (Lehmann 2001: 271).
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der Wille des sprechenden Darsteller-Subjekts). Wie ein auswendig gelerntes Gedicht macht die Liste den Sprecher zum Instrument, intensiver noch als andere Techniken der Betonung sprachlicher Materialität es vermögen; Sprache löst sich in langen Catalogues vom Sprecher ab, wird wahrnehmbar als ein sinnstiftender Kode mit eigener Gesetzlichkeit; sie ist hier nicht mehr, wie im Alltagsgebrauch oder in einer naturalistischen Dramentradition üblich, Mittel zur Kommunikation von Sinnzusammenhängen (und damit zugleich Mittel zur Konstruktion eines Subjekts, vgl. oben), sie ist vielmehr ausgestellt, ästhetisiert. In einer listenartigen Aneinanderreihung von Begriffen werden also deren Möglichkeitsumstände – der Kode dem sie entstammen wie auch die Konventionen ihres Gebrauchs – auffällig, die einzelnen Elemente rezitierter Listen werden dabei aus anderen sinnstiftendem Zusammenhängen herausgelöst.39 Tim Etchells beschreibt die Arbeit mit Catalogues (bzw. Listen) auf der CD-Rom Imaginary Evidence: »Items in a list are temporary rendered equivalent. The list itemises, catalogues and, essentially stores data. Items in a simple list are presented ,value free‹, without comment or opinion. [...] Lists are blank or ,spacious‹ since the job of guessing the constituency or listed items and of unpacking their individual meaning is left to the viewer.«40 Im zitierten Beispiel erweist sich also zum einen der lyrisch auffällig gemachte Klang als eine sich von der Äußerungssituation und von der sich Äußernden Sprecherin ›ablösende‹ Materialität. Zum anderen wird die Erzählung selbst als eine von der Äußerungssituation entkoppelte, eigenwillige Größe wahrnehmbar: auch inhaltlich erweist das Erzählte sich als widerspenstig, als zu lang und zu umfassend für seine Bewältigung, als eine Größe mit eigener innerer Gesetzmäßigkeit. Dabei ist schließlich auch die Leistung betont, die die Zuhörerin in die vernommene Erzählung und Aufzählung steckt, stecken muss. Sprecherfigur Terry erscheint in der transkribierten Sequenz ganz dem Text verfallen, wie fremdgesteuert; es scheint, als würde die Sprache sich ihrer Leiblichkeit bedienen – nicht umgekehrt. Benötigt die Sprecherin vor und nach der transkribierten Sequenz jeweils Unterstützung von ihrem einflüsternden Kollegen, ist dies während der ›dance of peace‹ Sequenz nicht notwendig: Die Erzählung selbst hat offenbar das Ruder übernommen. Figur Terry bringt dies in einem Moment des Monologs sogar zur Sprache, indem sie äußert: »This bit really gets me«. 39 Die einzelnen Teile solcher Listen werden insofern, im Sinne Jan Mukarovskýs, mit einer »ästhetischen Funktion« belegt, vgl. Mukarovský 1970: 12f. 40 Vgl. CD-Rom Imaginary Evidence, (Forced Entertainment/Etchells 2003), Annotate 83; Die Zuhörerin kann dabei gedanklich in das präsentierte Catalogue-Game einsteigen, kann sich möglicherweise nicht einmal dagegen wehren, in die Logik der Rede ›eingespielt‹, hineingezogen zu werden: Welches grausige geschichtliche Detail kommt ihr noch in den Sinn, um sich in die Auflistung einzureihen? Vgl. dazu auch die Beschreibung der Games Forced Entertainments in Kapitel VI.
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Die Sprache als eigenwillige Materialität und die Erzählung in ihrer Eigendynamik transzendieren im transkribierten Beispiel also die Sprecher-Figur. In ihrer Übersteigerung (z.B. durch die besprochene Catalogue-Sprechweisen) wird diese Abspaltung aber in letzter Konsequenz wieder brüchig: Figuren, wie hier Sprecherin Terry, scheinen sich ganz und gar ihrem Sprechen, der Sprache hinzugeben; danach aber tauchen sie nach Phasen totaler Verausgabung als Erschöpfte, von der Wucht der Sprache förmlich überfahrene, Sprechersubjekte wieder ›unter der Sprache‹ auf und setzen so neue Subjektivierungen in Gang. Weiterhin fällt auf, dass die Hauptfiguren der transkribierten Erzählung mit dem äußerst unpersönlichen Personalpronomen in der dritten Person, »they«, benannt werden. Gemeint sind mit diesem in die Weiten der »history of mankind« verweisenden Pronomen, dies ergibt sich aus dem Kontext, die Menschen des 19. Jahrhunderts – also schon längst vergangene, nur mehr fiktiv aufrufbare Figuren. Allerdings wird mit dem »they« an dieser Stelle zudem eine Brücke zur Situation aufgebaut, indem, in einem plötzlichen Griff zu discours-artigem Sprechen, Figur Terry zu Wort kommt. Sie äußert: »This bit really gets me... because (...auf die Kollegen weisend) they are lost...« Der Zuschauerin wird also nahegelegt, die anwesenden Darsteller und deren Performance spielerisch als Illustration der erzählten Figuren »they« anzusehen. Dabei scheint Terrys Schilderung der Selbstvergessenheit des 19. Jahrhunderts eng an der Bühnensituation inspiriert (z.B. wird Terrys Rede vom »summer afternoon« offenbar durch die Darsteller angeregt, die sich On/Off im Scheinwerferlicht ›sonnen‹). Nachdem die Menschheitsgeschichte inhaltlich bei den Gräueln des zwanzigsten Jahrhunderts anlangt – Grabenkrieg, Giftgas, Konzentrationslager – scheinen die derart aktualisierten Spielfiguren bedroht: die armen Figuren wissen nicht, was ihnen blüht. Anhand dieses äußerst einfachen erzählerischdarstellerischen Spielzugs werden die erzählten ebenso wie die auf der Bühne sichtbaren Figuren als bemitleidenswert gekennzeichnet, sie werden parallelisiert in ihrer Eigenschaft als ahnungslose, gesichtslose Marionetten eines übermächtigen Schicksals, auf das aus wissender Entfernung von außen geblickt wird. Nicht die illustrierende Bühnenhandlung des Bebilderungsensembles, sondern die gesamte Aufführungssituation fungiert nun als Darstellung der traurigen Erzählung; der Blick der Zuschauerin spielt in dieser Darstellung mit, denn vorstellbar (und mit leisem poetischen Grausen gefüllt) wird die erzählte Sequenz szenisch nur durch ihre imaginative Mitarbeit. Die Mitglieder des Bebilderungsensembles erweisen sich unterdessen als beliebige Platzhalter. Ebenso wenig wie Sprecher-Figur Terry benötigt die Zuschauerin an dieser Stelle Hilfe bei der Imagination der nur indirekt erzählten und illustrierten geschichtlichen Gräuel, eine Einflüsterung weiterer Fakten ist unnötig. Das Wissen über die Grausamkeiten des zwanzigsten Jahrhunderts sitzt gut verfügbar im kollektiven Gedächtnis, passende Bilder können problemlos aufgefüllt werden. Spürbar wird so, wie in gemeinsamer Imagination eine Bühnenfiktion ent-
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steht: Das Erzählen wird wahrnehmbar als eine Praxis die in der Lage ist, Figuren aus dem Raum einer kollektiven Imagination auf die Bühne zu rufen, locker, schemenhaft und spielerisch ungefestigt. d) Fazit: Sprechweisen Ich möchte meine Untersuchung zur Sprache der Inszenierungen Bloody Mess und The World in Pictures zusammenfassen: Discours-artige Sprechweisen produzieren Präsenzeffekte und subjektivieren Darsteller-Figuren, z.B. wenn die Clowns in Bloody Mess sprachlich auf ihre körperlichen Empfindungen, ihre Gedanken und Wünsche verweisen. Dabei gelangen auch Lautäußerungen zum Einsatz, die direkt vom Körper der Darsteller zu stammen scheinen (Stöhnen, Atmen, Schluchzen, etc.), die diesen Körper als subjektiven Leib in Szene setzen. In der Nutzung der tatsächlichen Namen der Forced-Entertainment-Schauspieler für die auf den Bühnen agierenden Figuren treibt solch ›authentisch‹ wirkende Subjektivierung auf eine vorläufige Spitze. Ähnlich wie es schon für körperliche Darstellungsstrategien beschrieben werden konnte, können aber auch die discours-artigen Sprechweisen der Aufführungen immer zugleich in ihrer Inszeniertheit entlarvt werden: Sie werden dem Publikum jeweils, manchmal sogar im selben Atemzug, in ihrer Konstruiertheit und Intentionalität vorgeführt. Histoire-artige Textnutzungen der Aufführungen hingegen betonen die je eigene Materialität auf der Bühne gesprochener Texte sowie die fiktiven Welten, die Texte aufzurufen in der Lage sind. Sie verweisen dabei auf (Spiel-)Welten die jenseits der konkreten Aufführungsrealität stattfinden, z.B. auf kollektiv vorhandene Wissensschätze, Ikonographien, u.ä.. In beiden Inszenierungen, The World in Pictures wie Bloody Mess, sind es zwei der »großen Erzählungen« unser aller alltäglicher Gegenwart, die thematisch/inhaltlich für solch spielerische Erschließung herhalten:41 in Bloody Mess die Erzählung von der Entstehung des Universums, in The World in Pictures die Menschheitsgeschichte. Gerade aufgrund ihrer umfassenden Bekanntheit eigenen beide sich besonders gut als Steinbruch einer kollektiv geteilten Bilderwelt. Die behauptete Hybris, die ›ganze Geschichte der Welt‹ (ob physikalisch oder historisch) auf die Bühne bringen zu wollen, betont darüber hinaus, in ihrem zwingenden krisenhaften Scheitern, die Möglichkeitsumstände von Aufführung und Inszenierung.42 Sprecher solcher Texte werden dabei betont als austauschbare
41 Den Begriff der »großen Erzählungen« verwende ich hier im Sinne Jean-François Lyotards; vgl. Lyotard 2004: 51. 42 Indem die (Re)produktion großer Geschichten ästhetisiert wird, treffen die Inszenierungen selbstverständlich auch eine über die Bühnensituation hinausgehende Aussage; das Erschaffen ›großer Panoramen‹ (wie z.B. »die Menschheitsgeschichte«, die »Erdge-
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Sprachrohre, bzw. als Platzhalter für andere Figuren; weiterhin werden schemenhaft zahlreiche weitere Figuren aufgerufen. Das Wechselspiel discours- und histoire-artiger Sprechweisen und Textnutzungen, das beide Aufführungen präsentieren, lässt körperlich anwesende Schauspieler sich abwechselnd als mehr oder minder privat agierende Darsteller, als offizielle Sprecher oder als Verkörperungen fiktiver Wesen präsentieren. Schließlich übersteigt die Anzahl wahrnehmbar werdender Figuren die der leiblich auf der Bühne anwesenden Menschen um ein Vielfaches. In einigen Fällen schienen leiblich anwesende Figuren sich mit sprachlich aufgerufenen zu decken und sich auf diese Weise subjektiv zu verdichten, bis ein Effekt authentischer Präsenz erreicht wird. Andere Figuren hingegen erscheinen nur als gespensterhafte Schemen, die kurz angedeutet werden, um darauf schnell wieder zu verschwinden. In allen Fällen wird dabei das Entstehenlassen von Figuren als praktischer sozialer Prozess ästhetisiert. ›Spiel‹ und ›Ernst‹, ›Realität‹ und ›Fiktion‹ nähern sich in den betrachteten Praktiken des Sprechens und der Textnutzung beider Aufführungssituationen einander an: Wahrnehmbar wird für die Zuschauerin ein ganz realer und gegenwärtige Prozess des Subjektivierens (und Entsubjektivierens) von Figuren, der als kreative soziale Praxis abläuft. Das sprachliche ›Erspielen‹ und Verspielen situativer Figuren konnte mit Rückgriff auf Benvenistes Sprechpragmatische Konzepte discours und histoire-artiger Stile als eine Praxis der Sprachnutzung beschrieben werden. Die sprachlichtextuellen Sinn-Angebote der Aufführungssituationen konnten dabei unter Einbezug der Gesamtsituation behandelt, Sprache und Text in ihrem Gebrauch betrachtet werden. Situativer Sinn wurde insofern als Praxis des ›Sinn-Machens‹ beschrieben; entsprechend half das verwendete pragmatische Spielvokabular dabei, Aufführungshandeln mit Sprache und Text jenseits »protestantischer« Gesten (Krämer) zu fassen. »Keeping in mind that understanding is expressed in doings as well as sayings helps hold at bay an overlinguistified conception of intelligibility. Further warding off this widespread but baneful conception is the realization that understanding is acquired through exposure to and the performance of nonverbal as well as verbal behaviors. [...] Understanding is expressed and acquired in a tightly interwoven nexus of doings and sayings in which neither the doings nor the sayings have priority.« (Schatzki 2003 : 111)
Betrachtet man das Figurenspiel in den Aufführungen der Inszenierungen Bloody Mess und The World in Pictures, sei es in den vorgeführten Körper-, den Sprechschichte«) wird ironisiert; vgl. dazu Kapitel V der vorliegenden Arbeit und Latour 2007: S.316ff.
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oder den Text-Praktiken, lässt sich feststellen, dass dessen ›Hin und Her‹ wesentlich vorangetrieben wird im Miteinander der Figuren. So entsteht in der weiter oben besprochenen Szene der stöhnenden Clowns Sinn erst im wechselseitigen Bezug der Figuren aufeinander, z.B. wenn es plötzlich so scheint, als würden die Clowns ihr Stöhnen willentlich steigern, weil Roady-Figur Robin sich mit dem Mikrophon nähert. Im nun folgenden Punkt soll daher abschließend gefragt werden: Wie präsentiert sich das Miteinander der Figuren der Aufführungen, ihr Verhalten zueinander? 4. F IGUREN
IM
E NSEMBLESPIEL
a) Participation frameworks – Begriffsklärung zum Ensemblespiel Interaktion innerhalb eines ›Ensembles‹ als Informationsquelle über die miteinander agierenden Personen zu betrachten, ist der Zuschauerin aus ihrer Interpretation der alltäglichen Welt bestens vertraut. Denn auch dort werden Handelnde füreinander, ja sogar für sich selbst, erst intelligibel durch Interaktionen in einer sozialen Umwelt. So beschreibt George Herbert Mead, dass der Einzelne sich selbst gegenüber die Haltung eines generalized other einnehmen muss, um überhaupt Subjekt zu werden und in ein »logisches Universum« einzutreten (vgl. Mead 2010: 180 u. 196). Neben solch genereller Perspektiv-Übernahme lässt sich auch das situative Entstehen alltäglicher Handlungsträger (bzw. Subjekte) in Interaktionen zeigen; dies führt Erving Goffman beispielsweise in seinem Aufsatz Footing vor, in dem er beschreibt, wie in alltäglicher Face-to-Face Kommunikation Handlungsträger situativ hergestellt werden (vgl. Goffman 1981: 137ff). Betritt man zum Beispiel ein Bekleidungsgeschäft, in dem zwei gut angezogene Personen anwesend sind, wird erst das interagierende Verhalten dieser beiden zueinander oder zum Neuankömmling klären, welche von beiden der Verkäufer, welche der Kunde ist. Situationsteilnehmer erhalten also grundlegende Informationen zu ihrer eigenen Positionierung und zu den übrigen Teilnehmern der Situation zu großen Anteilen in situ, im Prozess der sozialen Interaktion. Um solche situativ emergierenden Spielregeln zu umschreiben, formuliert Goffman im genannten Aufsatz zwei miteinander wechselwirkende Seiten jeder Kommunikation: Das production format gibt an, wie sich eine Interaktionsposition gewissermaßen ›von innen‹ formt (z.B. welche Abstufungen von Subjektivität in Äußerungen aktiviert werden, wie Sprecher sich präsentieren, etc.). Das participation framework hingegen umschreibt, welche Weisen der Teilnahme in einer (Kommunikations-) Situation angelegt sind.43 Treffend formuliert Goffman an anderer Stelle die theoretische Stoßrichtung hinter diesen Begriffen: Es geht in dieser Betrachtungsweise nicht mehr um Situationen, die von Menschen ge43 Wird nur ein einzelner Sprecher oder Situationsteilnehmer untersucht, spricht Goffman, auch vom participation status, vgl. Goffman 1981: 137f.
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schaffen werden, sondern umgekehrt »um Situationen und ihre Menschen« (Goffman 2010: 8).44 Kann diese Sichtweise alltägliches Leben treffend beschreiben, so wird sie im Zusammenhang mit Spielen und Theateraufführungen erst recht auffällig: Gerade in der zumeist kurzen Zeitspanne spielerischer »zentrierter Interaktionen« wird es für die Zuschauerin notwendig, anhand dessen, wie Personen miteinander interagieren auf ihren Status als Akteure im (Bühnen-)Spiel rückzuschließen.45 Die bisher besprochenen Praktiken der Figurenproduktion in Bloody Mess und The World in Pictures gingen von Leiblichkeit und Sprache einzelner Figuren aus, insofern wurde bisher – mit Goffman gesprochen – das (dargestellte) production format der Aufführungssituationen behandelt. Nun soll berücksichtigt werden, dass der Zuschauerin zusätzlich auch Informationen durch das Ensemblespiel zugänglich werden, die dazu verhelfen, Figuren entstehen zu sehen – es soll also das Ensemblespiel im Hinblick auf das (dargestellte) participation framework untersucht werden, indem gefragt wird: Wie gehen die Figuren der Aufführungen miteinander um? Ein Moment im participation framework zwischen Bühnenfiguren, das der Zuschauerin wichtige Informationen vermittelt, besteht in deren gegenseitigem ›Hören-Können‹; denn auf Theater-Bühnen ist denkbar und durchaus gängig, was im Alltag eher selten passiert: Figuren können sich dort auf verschiedenen Wirklichkeitsebenen befinden. So besuchen in manchen Stücken zeitreisende Figuren Szenen, für deren übrige Mitwirkende sie unsichtbar und unhörbar bleiben (wie z.B. Ebenezer Scrooge aus Dickens’ A Christmas Carol, der u.a. seine eigene Zukunft bereist).46 Können sich Figuren auf einer Bühne hingegen, ganz wie Menschen im alltäglichen Gespräch, gegenseitig wahrnehmen, verweist dies gewöhnlich auf die Illusion einer ›realistisch‹ gestalteten Situation, wie sie in dramatischen Theater-
44 Dabei bestehen in alltäglichen kollektiven Zuschreibungen und anderem Ensembleverhalten ebenso wirksame ›Subjektivierungspraktiken‹ wie in anderen subjektivierenden Techniken (z.B. solchen der Selbst-Thematisierung); zum Begriff »Subjektivierungspraktiken« vgl. Reckwitz 2006a. Wie im Alltag innerhalb situativer Teilnehmerensembles bestimmte Tatsachen über Einzelne hergestellt und zugeschrieben werden, zeigt die ethnomethodologische Studie K. ist geisteskrank (Smith 1976) auf beeindruckende Weise. 45 Dabei wird zu berücksichtigen sein, dass schauspielerisches Herstellen von Figuren zwar an ein »role taking«, wie es im Alltagsleben geschieht, erinnert, sich allerdings noch ungleich komplexer aufbaut. Darauf wies schon Mead hin, als er den Begriff des »role taking« einführte: »(D)iese letzte Formulierung [»das Übernehmen der Rolle des Anderen« – SH] ist nicht ganz glücklich, da sie auf die Haltung eines Schauspielers hindeutet, die in Wirklichkeit komplizierter ist als die in unserer eigenen Erfahrung gegebene.« (Mead 2010: 203). 46 Vgl. z.B. in der Reclam Ausgabe, Dickens 1983.
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formen vorherrscht.47 In der oben beschriebenen Sequenz ›Stöhnende Clowns‹ aus Bloody Mess zeigt sich die Benennung mit ›echten‹ Vornamen beispielsweise nur deshalb als funktionale subjektivierende Praxis, weil die Figuren sich (zu)hören: Clown John und Roady Robin befinden sich während dieses Moments offenbar auf derselben Wirklichkeitsebene. Allerdings zeigt sich Roady Robin, wie oben beschrieben, für einen Moment unwillig, sich als Hörender zu erkennen zu geben (»Is that you Rob...?«). Als habe er zunächst gehofft, seinerseits unbemerkt den ›Mikrophon-Halter‹ für das Spektakel der stöhnenden Clowns abzugeben, vollzieht er den Wechsel von einem participation status zum anderen nur zögerlich und macht diesen Wechsel für die Zuschauerin auf diese Weise erst sichtbar. In zahlreichen anderen Momenten während der Aufführungssituationen Bloody Mess und The World in Pictures bleibt es für die Zuschauerin unklar, ob und inwieweit die Figuren Forced Entertainments sich hören. Sie erweisen sich dann in ihrem participation status niemals nur auf einer Wirklichkeitsebene, vielmehr etablieren sie nach und nach einen Grenzraum zwischen einem sich immer wieder realisierenden ›Hier und Jetzt‹ und einem fiktionalen Anderswo. Im Folgenden soll daher an einigen prägnanten Beispielen untersucht werden, welche Zuschreibe-Vorschläge sich in The World in Pictures und in Bloody Mess durch den Umgang der Darsteller-Figuren untereinander für das Publikum ergeben: Welche Informationen erhält die Zuschauerin über den Wirklichkeitsstatus von Figuren durch das Zusammenspiel der Auftretenden als Ensemble?48 Und inwieweit wird diese Form der Informationsvergabe ihrerseits auffällig gemacht? Zunächst sollen zwei Beispiele aus The World in Pictures besprochen werden, die illustrieren, wie im Ensemblespiel Einzelfiguren entstehen (a); darauf nutze ich Beispiele aus Bloody Mess um zu verdeutlichen, wie ein Ensemble aufgrund gemeinsamer Praxis als eigenständige Entität wahrnehmbar wird (b). Alle Beispiele wurden dabei unter dem Gesichtspunkt ausgewählt, Praktiken aufzuzeigen, die sich in Aufführungssituationen beider Inszenierungen wiederfinden. 47 Mit Hans-Thies Lehmann gesprochen, läutet der Auftritt »hörender Figuren« in der attischen Tragödie im 5 Jahrhundert v. Chr. sogar die dramatische Form der Menschendarstellung auf dem Theater ein, indem dort erstmalig Menschenfiguren aus der »Ordnung des Mythos« hervortreten: »Die Tragödie verlässt das Stadium des kultischen Chorliedes damit, dass in einem Spiel von Stimmen der Protagonist auf der Bühne in die Lage kommt, die Stimme des anderen hören zu müssen, die ihm sein Schicksal verkündet.« (Lehmann 1991: 46). 48 Es geht also an dieser Stelle zunächst um den dargestellten participation status auf den Bühnen der untersuchten Aufführungen. Erst unter Kapitel V. soll auch die umfassende Situation betrachtet und resümiert werden, was auf die Gesamtsituation der Aufführung bezogen als production format gelten kann und welcher entsprechende participation status dort für das Publikum angelegt ist bzw. in situ entsteht.
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b) Vereinzelte im Ensemblespiel In The World in Pictures treten zwei Figuren buchstäblich aus dem Ensemble hervor. Jerry und Terry erfüllen offenbar die Aufgabe, zum Publikum zu sprechen, während die übrigen Figuren sich nur in Ausnahmefällen explizit an das Publikum wenden. Die beiden Sprecher-Figuren heben sich in der Erfüllung ihrer besondern Aufgabe auch szenographisch vom Ensemble ihrer Kollegen ab, indem sie, zum Publikum sprechend, immer wieder denselben Platz auf der Bühne einnehmen, während der Rest der Darsteller keine individuellen Positionierungen besitzt. Es wechseln sich im Verlauf der Aufführung also zwei Gegenüberstellungen von Ensemble und einzelner Sprecher-Figur ab; Jerrys Monologe klammern und unterbrechen dabei Terrys Erzählung der »history of mankind«.49 Um nachzuvollziehen, wie die Zuschauerin diese Sprecher-Figuren kennenlernt, werden im Folgenden zunächst die ersten Momente beschrieben, in denen Jerry auf der Bühne zu sehen ist. 50 Die Aufführung The World in Pictures beginnt damit, dass alle Darsteller zügig auf die Bühne treten. Schon während dieses ersten Auftritts separiert sich ein Darsteller deutlich vom Rest der Kollegen – bzw. er wird separiert, indem die übrigen Kollegen sich als Gruppe ihm gegenüber aufbauen (vgl. unten, Abbildung 9). Einer der Darsteller aus der Gruppe blickt Richtung Publikum, tritt einen Schritt aus der Gruppe hervor und bückt sich nach einem Mikrophon, das an der Rampe bereit liegt; dann spricht er zum Publikum, wobei seine Stimme anfangs leise und zurückgenommen klingt:51 Darsteller: »Uhm.. Hello. Good evening, welcome to the show. h. uhm. (Blick ins Publikum) Obviously, the beginning of every performance is very important, aaand, uhm, we've been having some . difficulties (!) with ours.... soo, tonight (Er kommt in Bewegung, macht einen Schritt zurück in die Gruppe und wendet sich in Richtung des separierten Kollegen) we decided to come all out and offer a few words of advice and support to Jerry, here... (Alle Ensemblekollegen blicken in Richtung des separierten Kollegen, der Sprechende weist zusätzlich mit ausgestrecktem Arm auf ihn) hhh... who’s actually gonna be doing it... (Der Sprecher blickt zu Boden und scheint sich kurz zu sammeln, während im Publikum erste Lacher laut werden.) Ts. h um... I... I just, uhm I just want to kick off
49 Zur Gesamtstruktur der Aufführungen vgl. Kapitel I sowie die Szenare unter Kapitel VII. 50 Mit Fokus auf die sichtbar werdenden Kostüme wurde diese Szene oben schon kurz beschrieben, vgl. IV.2. 51 Im Folgenden wurde gesprochener Text transkribiert, ausgehend von der DVD Forced Entertainment 2006; dabei wurden Laute wie hörbares Ausatmen (»h«) oder Zugenschnalzen (»ts«) mit wiedergegeben. Handlungen, die in Klammern und kursiv wiedergegeben sind, passieren, während zugleich gesprochen wird.
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by saying... I, I really like, what you are doing, Jerry. (Er blickt in Richtung Jerry und macht dabei eine beschwichtigende Geste mit der Hand) ...I just sometimes feel that you are not really givvin’ it one hundred percent, if you know what I mean... uhm. Perhaps you are trying to save yourself.... for laaater on in the show...? I... I suppose what I’m trying to say is: If YOU can get US through this... beginning, then we can probably carry you through the rest of the show, so... you know... (Das Publikum lacht über die leise doch hörbar eingeführte Drohung.)... Give it all you got, will you? (Der Darsteller dreht sich weg und gibt das Mikrophon weiter an eine Kollegin, geht dann ins Off ab.) Jedes Mitglied aus dem Ensemble, das dem nun namentlich bekannten Jerry gegenübersteht, erhält in der Folge einmal das Mikrophon, richtet einen Ratschlag an Jerry, und geht dann wieder ab. Alle Ratschläge betreffen Jerrys bevorstehende schauspielerische Aufgabe. Jerry unterdessen steht mit nur mittelmäßiger Körperspannung da, die Hände in den Hosentaschen. Mal blickt er den zu ihm sprechenden Kollegen ins Gesicht, mal zu Boden, mal sieht er ins Publikum. Nachdem schließlich auch der letzte Kollege abgegangen ist, bleibt Jerry alleine auf der Bühne zurück. Plötzlich scheint Bewegung in ihn zu kommen und er wendet sich lebhaft an das Publikum. Er verwendet kein Mikrophon sondern spricht unverstärkt, dabei aber klar und deutlich verständlich. Mit wegwerfender Geste sagt er »I gonna ignore all these«, dann macht er sich daran, einen direkt an das Publikum gerichteten Monolog zu halten. Jerrys Sprechen wirkt zugleich wohlgesetzt und souverän, ein wenig wie die Sprache eines gut trainierten Entertainers, der anhebt, eine Anekdote oder einen Witz zu erzählen. Während des gesamten folgenden, etwa fünfzehnminütigen Monologs nimmt Jerry keinerlei Bezug auf die vorangegangene Sequenz. Bis zu dem Moment, in dem Jerry selbst zu sprechen beginnt, sind etwa fünf Minuten vergangen; in dieser Zeitspanne erfährt die Zuschauerin eine Menge über Jerry; so geht aus den ›Ratschlägen‹ der Kollegen hervor, dass Jerry in letzter Zeit angeblich öfter fürs Fernsehen als für das Theater gearbeitet habe, dass er eine schlampige Körperhaltung hätte, manchmal zu leise zu spreche usw. Auf diese Weise wird die ›Jerry‹ in der Wahrnehmung der Zuschauerin schon zu einer eigenständigen und charakteristischen Figur. Es werden vorangegangene Geschehnisse denkbar, ja eine ganze Geschichte zeichnet sich ab, vom erfolgreichen Jerry, dessen Kollegen nun neidisch auf ihn sind, und der – vermutlich aufgrund seines Erfolgs – inzwischen ein wenig zur Schlamperei neigt und deshalb von seinen Kollegen genüsslich vorgeführt wird, usw. Erst in Kombination mit dieser Vielzahl von Informationen kann die Zuschauerin Jerrys Körperhaltung und Mimik, die für sich genommen wenig ausdrucksvoll sind, spielerisch mit Bedeutungen ver-sehen: Jerrys indifferentes Stehen mit den Händen in den Hosentaschen erscheint als Reaktion auf die vorgebrachten Zuschreibungen und Kritiken, wirkt wie eine Mischung aus Ignoranz und
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Scham, scheint ›verstockt‹. Gleichzeitig wirkt die Figur jungenhaft und sympathisch, vermutlich aufgrund des unwillkürlichen Mitleids, das die Zuschauerin für den Ausgeschlossenen empfindet. Jerry selbst tut für diese anfängliche Subjektivierung buchstäblich überhaupt nichts: Er spricht nicht, er bewegt sich kaum, es lassen sich keine Reaktionen auf das, was in der Szene ausgesprochen wird, direkt ›an ihm‹ ablesen. Abbildung 9: Gegenüberstellung von Ensemble und Figur
Genau genommen zeigt erst Jerrys plötzlicher Wandel zum Sprecher, der mit einem »I gonna ignore all these« beginnt, letztlich explizit dass Jerry seine Kollegen überhaupt gehört hat, sich also nicht in einer anderen Spielrealität als die Sprechenden befunden hat. Allerdings vertieft sich dieser Eindruck, dass eine gemeinsame Spielebene bestünde, darauf zunächst nicht weiter. Vielmehr etabliert sich in Jerrys folgendem Monolog innerhalb kürzester Zeit eine völlig andere, nicht mehr auf die Kollegen und ihre Zuschreibungen bezogene Szene: Schon nach wenigen Momenten wirkt Jerry ganz von seiner Geschichte gefangen, sein Erzählen scheint ihn zu übersteigen. Fast übergangslos hat sich Jerry zur ›Person‹ gemausert, im vollen Wortsinn: durch seine wohlgesetzte, unproblematische Körperlichkeit strömt – ganz ›natürlich‹ wirkend – die erzählte Geschichte. Wie weiter oben, im Zusammenhang den histoire-Sprechweisen der Inszenierungen aufgezeigt, scheint die Erzählung den Sprecher nun förmlich zu transzendieren.
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Während in der bis hier beschriebenen Gegenüberstellung von Ensemble und Figur aus der Gruppe heraus gesprochen wird und der Vereinzelte als stummer Empfänger dient, nimmt Sprecherfigur Terry, Erzäherlin der »history of mankind«, eine regelrecht gegenteilig strukturierte Position ein; dies beginnt damit, dass sie sich selbst vorstellt und sich als diejenige präsentiert, die »the talking bit« der Aufführung übernehmen würde. Während Terry dann die »history of mankind« erzählt, und dieselbe hinter ihr und um sie herum von den übrigen Darstellerkollegen visuell-pantomimisch abgewickelt wird, kommentiert sie immer wieder deren Illustrations-Versuche – ohne jemals eine Antwort zu erhalten. Terry spart dabei nicht mit Kritik; sie bemängelt den Schauspielstil oder ironisiert die Bemühungen ihrer Kollegen. Auf diese Weise etablieren sich zwischen ihr und den einzelnen Mitgliedern des Ensembles nach und nach viele kleine ›inoffizielle‹ Nebenschauplätze – meist kleine, indirekte, doch für die Zuschauerin klar wahrnehmbare Kämpfe um Macht und Aufmerksamkeit. Der Zuschauerin wird es so möglich, nach und nach auf angebliche Beziehungen der (dargestellten) Darsteller untereinander rückzuschließen. Als Beispiel für das Offensichtlichwerden solcher angeblicher Beziehungen möchte ich die Transkription einer Sequenz einfügen, in der ›Kollege Bruno‹ von Terry zu seinem Schauspielstil angesprochen wird; im Verlauf der Aufführungen passiert dies mehrfach, meistens wird Bruno dabei durch Terry gemaßregelt: Ein namentlich noch nicht bekannter Darsteller spielt, laut grunzend, einen Urzeitmenschen, wobei er sich vor einem eben auf der Bühne aufgefahrenen Fernseher wie vor einer Gottheit verneigt.52 Terry: (an diesen Darsteller gewandt, doch weiter ins Mikrophon sprechend): Bruno!... Bruno! Bruno: hört sie offensichtlich, er scheint aber nicht reagieren zu wollen; er friert in seiner Pose ein. Terry: Bruno! Don’t pretend you can’t hear me! Bruno: wendet sich unwillig in Richtung Terry. Terry: Listen! It’s your acting! It’s way to intense. Bruno: steht defensiv da, schüttelt langsam den Kopf; inzwischen starren die übrigen Ensemblemitglieder ihn an. Terry: It’s to intense, okay?
52 Anmerkung zur Transkription: Um die Dialogizität des gesprochenen Textes der Figur Terry und der stummen Handlungen der Figur Bruno zu verdeutlichen, wurde der gesprochener Text Terrys (jeweils nach Nennung der Sprecherin in fett) und die Beschreibung der Handlung Brunos (kursiv, ebenfalls nach Nennung des Namens in fett) in je neuen Zeilen wiedergegeben; in Klammern gesetzte kursive Beschreibungen schildern Handlungen, die parallel stattfanden.
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Bruno: macht eine abwiegelnde Geste mit den Händen und will sich anscheinend wieder Richtung Fernsehgerät umwenden, doch Terry fährt fort. Terry: Just have a look around you and see what everybody else is doing! Bruno: tut dies gutwillig: Die meisten Ensemblemitglieder stehen untätig herum, eine Kollegin benutzt gerade absurderweise einen Garderobenständer als Roller; allgemeines Gelächter aus dem Zuschauerraum; Bruno schaut entnervt ins Publikum; erneut will er sich wieder seinem Spiel mit dem Fernseher zuwenden. Terry: Now! Listen! Bruno: dreht sich wieder um Terry: You have to think of this performance as a kind of marathon! We’ve got a long way to go so just... Bruno: dreht sich wieder weg, erneut abwinkend. Terry: I HAVEN’T FINISHED YET! Bruno: dreht sich wieder zu ihr, entnervt aber defensiv dreinschauend. Terry: Start a bit lower, okay? Start lower! Bruno: dreht sich zum Fernseher. Terry scheint nun zufrieden. Terry: (zum Publikum) So, uhm, where was I? Yes, the men were strong... uh.. Bruno: beginnt sein überzogenes Spiel mit dem Fernsehgerät von vorn. Sprecherin Terry unterbricht also den Fluss ihrer Erzählung, ebenso die pantomimische Tätigkeit des Ensembles um – äußerst erfolglos – das Schauspiel eines Kollegen zu kritisieren. Dadurch werden für die Zuschauerin nicht nur (wie im oben besprochenen Fall Jerrys) subjektivierende Effekte am angesprochenen Bruno ablesbar, sondern auch und besonders Terrys Status im Ensemble wird auffällig und fragwürdig: Die Kollegen hören sie augenscheinlich, hören aber nicht auf sie, wie Terry es offenbar erwartet. Auf diese Weise wird Terry in ihrem Versuch, eine dominante Rolle im Ensemble zu spielen vorgeführt und Figur Bruno im Versuch, sich dieser Dominanz zu widersetzen. Zugleich wird eine Ironisierung möglicher Erwartungen an einen dramatischen Schauspielstil bewerkstelligt (»Don’t pretend you can’t hear me«).53 Die Gegenüberstellung von Einzelfiguren und Ensemble, wie sie in The World in Pictures an den Figuren Terry und Jerry durchexerziert ist, wird besonders auffällig, da Einzelne(r) und Ensemble in ihrem jeweiligen production format und participation framework nie ganz zur Deckung gelangen. Inwieweit Ensemble und Einzelfiguren überhaupt füreinander hörbar werden, und weshalb ihre Kommunikationen so oft nicht glücken, bleibt für die Zuschauerin unklar. In der entstehenden Grauzone kann sie aber zahlreiche Zuschreibungen und Interpretationen vollziehen – dabei entspinnen sich ganze Geschichten: So scheint es, als würden die verschie53 Krisensituationen, wie die hier durch »reflexiven Rahmenbruch« entstehende, werden in Kapitel V ausführlich als ›Dramaturgie der negativen Wahrnehmung‹ besprochen.
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denen Mitglieder des Ensembles von The World in Pictures die Darstellungsaufgabe der Aufführung jeweils ein wenig anders begreifen. Auf diese Weise erfahren die einzelnen Figuren eine Anreicherung ihres subjektiven Innenlebens, sie werden z.B. wahrnehmbar als ›Bruno der gutmütige Darsteller, der zu Übertreibung neigt, und der die Spielebene der pantomimischen Darstellung nicht verlassen möchte‹ u.s.w. Indem viele kleine Szenen wie die hier zitierte sich im Verlauf der Aufführung ansammeln, produziert die Zuschauerin zahlreiche Informationen zur angeblichen Beziehung der beteiligten Darsteller-Figuren untereinander, so dass sie schließlich problemlos individuelle Charaktere der Darsteller sowie ein ganzes Gefüge von Ensemble-internen Beziehungen unterstellen kann. Doch nicht nur die vereinzelten Personen auf den Bühnen der Inszenierungen The World in Pictures und Bloody Mess wirken als überreal präsentierte und zugleich in Frage stehende Darsteller-Figuren. Auch das Ensemble als Gruppe präsentiert sich in beiden Aufführungssituationen: als wilder Mob im einen Moment, als geschlossen agierende Entität im nächsten, oft als eigenständiges Agens, immer aber augenzwinkernd dekonstruiert. In einem nächsten Schritt soll daher beispielhaft an der Aufführungssituation Bloody Mess aufgezeigt werden, aufgrund welcher Darstellungs-Praktiken die Zuschauerin das Ensemble als fragwürdige, grenzwertige Gruppe wahrnehmen kann. c) Das Entstehen eines Ensembles Bloody Mess präsentiert sich von Beginn der Aufführung an als eine SpielSituation, deren Spielregeln sich in Aushandlung befinden; während sich The World in Pictures als wohlgeordnetes ›Hin und Her‹ aus Erzählungen und pantomimischen Illustrationen präsentiert, muten die ›Spielregeln‹ in Bloody Mess chaotischer und zugleich einfacher, also fast wie improvisiert an.54 Im Folgenden möchte ich zu-
54 Zwar findet sich auch in Bloody Mess in einigen Sequenzen eine entsprechende Aufteilung in Erzählung und pantomimische Illustration (während der Erzählungen vom »beginning of the world« und dem »end of the world«), allerdings scheinen die Erzähl- und Illustrations-Spiele in Bloody Mess zufällig zu entstehen während sie in The World in Pictures, explizit (durch Erzählerin Terry) zum Hauptgeschehen erklärt werden. Die Korrespondenz zwischen beiden Inszenierungen verwundert nicht weiter, sofern man weiß, dass Forced Entertainment öfter Momente aus einer Inszenierung, die sie für ›verwendbar‹ erachten, in der nachfolgenden Inszenierung weiterverarbeiten: Die intensive Beschäftigung mit der Aufteilung in erzählendes und illustrierendes Bühnengeschehen, wie es The World in Pictures vorführt, greift also ein Thema auf, auf das die Gruppe in ihrer Arbeit an Bloody Mess gestoßen war. In Kapitel V. setze ich mich mit den Produktionstechniken der Gruppe auseinander.
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sammenfassend beschreiben, welche Informationen die Zuschauerin zum Teilnehmerstatus der Akteure während der Aufführung erhält: Die Besetzung der Aufführung Bloody Mess präsentiert sich im Verlauf der ersten Hälfte des Abends als Zusammenstellung dreier männlicher Darstellerpaare und vier einzeln agierender Frauen: Es treten zwei ›Clowns‹ (John und Bruno), zwei ›Roadys‹ (Richard und Ben) sowie zwei Tänzer mit Pappsternen auf, die ›Stars‹ (Jerry und Davis). Die Darstellerinnen präsentieren sich mit folgenden individuellen Rollen bzw. Aufgaben: Claire agiert als ›der Gorilla‹, Wendy als Cheerleader, Terry als eine melodramatisch Weh-Klagende in Sexy GoGoMontur und Cathy als tragische Tote. Bei den beiden zuletzt genannten Darstellerinnen, Cathy und Terry, könnte eine rudimentäre Paarstruktur angenommen werden, da beide zu Beginn der Born to Be Wild Sequenz zunächst eine gemeinsame Szene spielen – die sich allerdings schon zum Ende dieser kurzen Anfangssequenz auflöst; danach agieren auch sie jeweils als Einzelne. Auch im Fall der männlichen Zweierkonstellationen funktioniert die anscheinend vorhandene geschlechtsspezifische ›Besetzungsregel‹ nicht zu hundert Prozent, nachdem das Clowns-Pärchen sich in Auflösung befindet und anscheinend zu keiner Einigkeit über eine gemeinsame Aufgabe finden kann. Auch die Roadys erspielen sich im Verlauf der Aufführung immer individuellere Charakterzüge, nur die ›Stars‹ arbeiten die ganze Aufführung über konkurrenzlos und friedlich zusammen. Im weiteren Verlauf der Aufführung finden darüber hinaus unterschiedliche Um- und Rekombinationen der aufgezählten Einzelkämpfer- und Paarstrukturen statt. Paarstrukturen differenzieren sich in individuelle Aufgaben der beiden Partner, Einzelkämpferinnen koalieren mit Paaren und bilden kleine temporäre Untergruppen mit den Kollegen, etc. So findet sich die wehklagende Terry im Verlauf der ›Crying 1x1‹ Sequenz mit den ›Stars‹ zu einem Dreiergrüppchen zusammen, zu dritt entwickeln sie ›spontan‹ eine kleine Tanznummer; auch Wendys Agieren als Ringkampfkommentatorin beim Kampf der Clowns lässt eine Dreierkonstellation entstehen, während der ›Silences‹ Sequenz koaliert ein Roady mit den ›Stars‹. In der Interviewszene zum Ende der Aufführung schließlich bildet sich aus Roady Richard und Clown John ein neues Paar. Alle Darsteller – ob sie nun vornehmlich kooperierend oder kompromittierend mit ihren Ensemblekollegen umgehen – scheinen dabei vor allem darum bemüht, Aufmerksamkeit auf sich als Person und ihre darstellerischen ›Einfälle‹ zu lenken und so besonders stimmige, Theater- oder Show-taugliche Momente zu generieren. Die Zuschauerin findet sich damit einer angeblich live emergierenden, spielerischen Versuchsanordnung gegenüber, in deren Rahmen Darsteller – teils alleine, teils paarweise antretend – ein eklektisches Ensemble bilden.
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Die einzelnen Darsteller-Figuren sind dabei anscheinend unterschiedlichen Aufführungs-Dispositiven zuzuordnen: Sie scheinen entweder aus der Zirkus-Clownerie zu stammen oder aus einem karnevalesken Kindertheater; auch Revue, Rock’n’rollKonzert, Burlesque, ernstes Drama und Sportveranstaltungs-Rahmenprogramm sind hier in Erinnerung gerufen und personifiziert auf einer Bühne versammelt. Nichts desto weniger präsentieren sich die Darsteller-Figuren, als gäbe es keinerlei Grund, ihre wilde Zusammenkunft zu hinterfragen. Sie scheinen vielmehr von einer übergreifende Spielregel auszugehen, die sie alle eint: Offenbar wollen sie alle miteinander eine Aufführung entstehen lassen, die ihr Publikum fesselt. Das Ensemble in Bloody Mess präsentiert sich insofern als eine Spiel-Gemeinschaft, die Aufführung als ein Spiel – ein Spiel mit unterschiedlichen Ideen von Theater (und ähnlichen Darstellungsformen); die Aufführung, die sich in diesem, seinerseits nur allmählich für die Zuschauerin deutlich werdenden Rahmen nach und nach entwickelt, resultiert anscheinend aus den sich beständig abwechselnden und sich zum Teil widersprechenden, sich manchmal auch gegenseitig behindernden ›spontanen Einfällen‹ sowie den sich immer wieder neu kombinierenden ›Spielideen‹ der Ensemblemitglieder. Das in der gemeinsam vorangetriebenen Praxis sich formierende Ensemble führt der Zuschauerin damit auf unterhaltsame Weise vor, was der Praxistheoretiker Schatzki zur Sozialität aller Praktiken konstatierte: »[P]articipants lifes hang together through sameness and difference.« (Schatzki 2003: 188) Die Gruppe als eigenständiges Agens, als vielköpfiges ›Über-Wesen‹ zeigt sich in der Ausübung einer gemeinsamen Praxis; insoweit funktioniert die Wahrnehmung des DarstellerEnsembles der Inszenierungen analog zur Wahrnehmung jeder alltäglichen Gruppe, denn: »[A]ny practice opens a dense field of coexistence embracing its participants.« (Schatzki 2003: 186) Allerdings kann die gemeinsame Praxis – und damit auch die entstehende Gruppe, das Ensemble – im Bühnenspiel der Inszenierung Bloody Mess immer wieder aufs Neue in Frage gestellt werden. Dabei wird die (angebliche) Dauerkrise genutzt, um die Praxis des theatralen Darstellens auffällig zu machen, zu ästhetisieren: Der Blick der Zuschauerin wird auf die Sozialität und die Sinn stiftenden Effekte dieser gemeinsam ausgeführter Praktiken gelenkt. d) Fazit: Ensemblespiel Ich möchte die Ensemble-Techniken der Figurenproduktion zusammenfassen, die bis hier beispielhaft herausgearbeitet wurden: Indem Figuren sich gegenseitig ansprechen, sich Eigenschaften zuschreiben, einander kritisieren, miteinander scherzen, etc. scheint sich der Zuschauerin ein komplexes soziales Gefüge zu offenbaren, das im vorgeführten Ensemble herrscht. Dabei werden einzelne Figuren dezidiert als Charaktere gezeichnet (z.B. der jungenhaft-sympathische Sprecher Jerry in The
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World in Pictures, der anscheinend recht erfolgreich ist, auf den einige Kollegen ein wenig neidisch sind, der dennoch souverän zum Publikum spricht, usw.). Auf diese Weise entsteht intensive Nähe zum Ensemble, ganz als würde die Zuschauerin die dargestellten Darsteller nach und nach kennenlernen. Zugleich aber bleibt diese Zuschreibungsarbeit als solche auffällig, ästhetisiert und fragwürdig, z.B. weil sie in The World in Pictures ihre Grundlage in der befremdlich ausschließlichen Gegenüberstellung von Einzelfigur und Ensemble findet, die betont künstlich wirkt. Darüber hinaus beziehen sich dort alle Kommunikationen von Einzelfiguren und Ensemble inhaltlich ausnahmslos auf die Schauspielerei: Der jeweils angesprochene Kollege wird beschuldigt, diese Praxis schlecht auszuführen. Im Zuge solcher Behauptungen wird das ›Schauspielen‹ als schwierige und anstrengende Praxis betont, das Scheitern in der Herstellung illusionistischer Präsenz und Authentizität wird einzelnen Darsteller-Figuren ›in die Schuhe geschoben‹ – während die Zuschauerin zugleich erkannt hat, wie viel sie selbst in ihrem interpretierenden und zuschreibendem Mitspielen zum Entstehen und Vergehen der Figuren beiträgt. Weiterhin präsentieren beide Inszenierungen ihre Darsteller-Ensembles demonstrativ bei dem Versuch, in gemeinsamer Anstrengung eine vergnügliche Aufführung zu produzieren. Auf diese Weise wird auf das Handeln der Figuren als Gruppe aufmerksam gemacht. Im selben Zug wird das Moment betont, das diese Gruppe als solche erst hervorbringt: Das Aufführen von Theater wird als soziale Praxis ästhetisiert. Wie in umfassenden »Krisenexperimente« entstehen in den vorgeführten Ensembles beispielsweise aufgrund einer seltsamen Aufführungsidee, wie z.B. die Erzählung der gesamten Menschheitsgeschichte zu bewerkstelligen, vgl. The World in Pictures, oder auf Grund einer absurden Zusammensetzung der Gruppe, wie sie sich in Bloody Mess zeigt, vielfältigen Konflikte innerhalb des dargestellten Darstellerensembles.55 Das ›was gerade gespielt wird‹, die Aufführungssituationen selbst, stehen damit anscheinend ständig zur Disposition. Auf diese Weise werden zugleich der Rahmen der Aufführungssituationen und ihre genuin soziale Verfasstheit auffällig. Das in der Beschreibung genutzte Spiel-Vokabular konnte also, auch in Hinblick auf sich entwickelnde participation frameworks, verdeutlichen, auf welche Weise in beiden Aufführungssituationen Figuren- und Ensemblevariationen ›erspielt‹ werden und dabei doch immer in Frage zu stehen scheinen. Es konnte sich zeigen, dass sowohl die Darsteller-Ensembles der Aufführungssituationen Bloody Mess und The World in Pictures, wie auch deren subjektivierte Figuren sich in einer auf jede nur 55 Mit »Krisenexperiment« ist hier eine ethnomethodologische Forschungspraxis gemeint: Verborgene ›Spielregeln‹ des Sozialen sollten in »Krisenexperimenten«, wie sie beispielsweise Harold Garfinkel mit seinen Studenten ausführte, aufgestöbert werden: Vgl. dazu Garfinkel/Sacks 1976, oder Garfinkel 1990.
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denkbare Art ästhetisierten, vorgeführten Praxis des Aufführens entwickeln. In beiden Inszenierungen wird dafür zunächst die Illusion eines in Echtzeit ablaufenden improvisierenden Spielens vielschichtiger Darsteller-Figuren aufgebaut – um dann in all seinen Spielregeln ›vorgeführt‹ zu werden (im doppelten Sinne des Begriffs). Der kollektiv, in einem Ensembleverband ablaufende Prozess spielerischen Handelns, ausgeführt durch subjekthafte Schau-Spieler, wird wahrnehmbar als in Echtzeit sozial konstruiert – und als ebenso einfach und schnell wieder dekonstruierbar, ›verspielbar‹. Subjekthafte Figuren und Ensemble-Variationen etablieren sich in den untersuchten Aufführungssituationen insofern als etwas, mit dem man spielen kann, als veränderliches Spielzeug. So kann die Zuschauerin schließlich die Aufführungssituation selbst, die Begegnung eines ›Stückes‹ mit seinem Publikum, als Spielsituation ausmachen. Sie selbst wird in diesem Spiel unüberhörbar als Mitspielerin angerufen. Darum möchte ich mich im folgenden Kapitel den Zuschauern als den ›tatsächlichen Spielern‹ in den Aufführungssituationen zu Bloody Mess und The World in Pictures zuwenden.
V. Spieler – Das Publikum der Aufführungen »Doch wie steht es mit jemandem aus dem ,Theaterpublikum‹? Welche Seiten weist er auf? Eine ist die Rolle des Theaterbesuchers. Dieser bestellt und bezahlt Eintrittskarten [...] er muss richtiges Geld ausgeben und richtige Zeit aufwenden – ganz wie der Darsteller richtiges Geld verdient [...Doch] jeder Theaterbesucher ist auch etwas anderes. Er macht bei dem Unwirklichen auf der Bühne mit. Er nimmt mitfühlend und sich identifizierend an der unwirklichen Welt teil, die durch die dramatischen Verwicklungen zwischen den Gestalten des Stückes entstehen. [...] Man könnte hier von der Zuschauerrolle sprechen[.]« (Goffman 1989: 149)
Nachdem in den beiden vorangegangenen Kapiteln Zeit, Raum und Figuren der Aufführungssituationen von Bloody Mess und The World in Pictures in ihrem Entstehen beschrieben wurden, war das Publikum auch dort immer schon Thema; denn Zeit und Raum der Aufführungen entstehen im Erleben eines Publikums, Figuren präsentieren sich ihren Zuschauern. Entsprechend formuliert die Theaterwissenschaftlerin Marie-Madeleine Mervant-Roux zum Theaterzuschauer: »It is through him, and through him alone, that theatre will be able to produce effects in the short term and, most importantly in the long term, long after the actors have moved on and left the city.« (Mervant-Roux 2010: 232) Die Aufführungssituationen Bloody Mess und The World in Pictures, so konnte sich bis hier schon zeigen, lenken Aufmerksamkeit auf das Publikum und dessen Aktivität, ja sie scheinen ein besonders intensives Mitspielen von ihrem Publikum zu verlangen. Im Folgenden soll daher thematisiert werden, wie diese ›Aktivierung‹ der Zuschauer zu expliziten Mitspielern bewerkstelligt wird. Dafür soll gefragt werden, was Aufführungs-Teilnehmer in den betrachteten Aufführungssituationen aktiv tun müssen, um zum Publikum zu werden.1
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Um ein Konzept aus der Ethnomethodologie zu verwenden, ließe sich auch formulieren: Worin besteht das »doing being an audience«, das Zuschauer in Bloody Mess und The World in Pictures betreiben? Die gewollt umständliche Formulierung »Doing being... something« wird in der Ethnomethodologie verwendet, um auf das aktive Erarbeiten ganz selbstverständlich erscheinender sozialer Wirklichkeiten zu verweisen; z.B. spricht man
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Das in der vorliegenden Arbeit auch in der Frage nach den Spielräumen und Figuren der Aufführungen behandelte implizite ›Mitspielen‹ der Zuschauerperspektive wurde bislang zu verdeutlichen gesucht, indem wiederholt auf das Erleben »der Zuschauerin« verwiesen wurde. »Die Zuschauerin« fungierte dabei als Platzhalter für eine allgemeine Beobachterperspektive, allerdings nicht im Sinne eine Leerstelle. Vielmehr sollte gerade die auffällig werdende Nutzung der weiblichen Form daran erinnern, dass es immer meine eigene Zuschauposition ist, auf die ich mich als Autorin dieser Studie einzig mit einiger Deutungssicherheit beziehen kann. Alle verdichteten Beschreibungen des Bühnenspiels Forced Entertainments haben bis hierhin mit dem Material gearbeitet, das ich meinen eigenen Erfahrungen mit den Inszenierungen Bloody Mess und The World in Pictures bzw. deren Aufführungen abgewinnen konnte. Der Bericht sprach damit vom Standpunkt einer zwar idealisierten, dennoch aber erlebten Zuschauerposition, es wurde gewissermaßen ›aus dem Zuschauerraum‹ heraus phänomenologisch erzählt. Um die Herstellung der Zuschauerposition ihrerseits zu untersuchen, wird im folgenden Kapitel dieser privilegierte Fokus, zumindest zwischenzeitlich, aufgeben; das Entstehen des Publikums in Bloody Mess und The World in Pictures soll aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. Zunächst indem untersucht wird, wie das in Theatersituationen relativ ›passiv‹ anmutende Verhalten von Zuschauern überhaupt als MitspielPraxis konzipiert werden kann. Da zur ›Rolle‹ der Zuschauer in Theateraufführungen durchaus kontroverse Reflexionen existieren, sollen dafür zunächst einige theoretische Ansätze angesprochen werden (1). Im darauf folgenden Punkt werden explizite Publikumsadressen untersucht, die die Aufführungssituationen anbieten (2), darauf wird die Gesamtstruktur der Aufführungen im Hinblick auf die Produktion von Zuschauerpositionen diskutiert (3), schließlich berichte ich von einem Versuch auditiver Erforschung eines konkreten Publikums (4). 1. B EGRIFFSKLÄRUNG : Z USCHAUER
ALS
S PIELER
Aufführungen anhand eines Spielmodells zu beschreiben bringt, wie in Kapitel II. der vorliegenden Arbeit erörtert, eine Fokussierung auf deren Prozessualität und Sozialität, sowie auf ihre Materialität mit sich; kurz, die konkrete Situativität von Aufführungen rückt in den Mittelpunkt des forschenden Interesses. Eine entsprechende Schwerpunktsetzung findet sich bei den meisten ästhetischen Theoretikern, die mit dem Spielbegriff operieren. Unterschiede zeigen sich dabei unter anderem in der ›Rolle‹, die dem Publikum (Zuschauern, Rezipienten, etc.) im ästhetischen Spiel zugerechnet wird. Ich möchte im Folgenden einige wenige Konzeptionen von ›Zuschauer-Rollen‹ besprechen: Anhand der Rezeptionsmodelle Hans-Georg vom »doing being a man/a women« (vgl. Coulter 1990) oder vom »doing being ordinary« (vgl. Sacks 1994).
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Gadamers, Uri Rapps und Wolfgang Isers soll herausgearbeitet werden, dass in vielen Diskursen eine paradoxe, ja unsichere Sichtweise auf den Zuschauer und dessen wahrnehmende Aktivität vorherrscht. Jaques Rancière analysiert diese in seinem Essay Der emanzipierte Zuschauer und formuliert Vorschläge zur Lösung des Zuschauer-Paradoxes. Davon ausgehend, erläutere ich meinen Blick auf das Publikum, bzw. auf die Zuschauer als Mitspieler in der Aufführungssituation. a) Konzeptionen der Zuschauer-Rolle In Hans Georg Gadamers ästhetischer Spiel-Metaphorik tritt, wie unter II.2 besprochen, der Zuschauer/Rezipient an die Stelle des Spielers: »Es ist die totale Wende die dem Spiel als Spiel geschieht, wenn es Schauspiel wird. Sie bringt den Zuschauer an die Stelle des Spielers. [...] indem das Spiel für ihn ist, wird anschaulich, dass es einen Sinngehalt in sich trägt, der verstanden werden soll[.]« (Gadamer 1990: 115) Diese »totale Wende« vom Spiel zum Schauspiel feiert Gadamer als die »eigentliche Vollendung« des ästhetischen Spiels (Gadamer 1990: 116). Erst der Zuschauer kann bei Gadamer das zweckfreie Hin- und Her-Oszillieren des ästhetischen Spiels als ein Ganzes in den Blick nehmen und ihm damit Sinn verleihen. Insofern stattet Gadamer den Zuschauer/Rezipienten mit einer herausragenden Rolle aus. Allerdings muss Gadamers »Vollendung« durchaus im Sinne eines Endens begriffen werden: Die Bewegtheit des Spiels, die Gadamer zuvor so eingängig herleitet, ›gerinnt‹ durch Beigabe des Zuschauerblicks gewissermaßen. Insofern spricht dieses Modell dem Zuschauer auch ein gewisses Spielverderbertum zu: Der Zuschauer beendet das Spiel und lässt stattdessen ein »Gebilde«, lässt Sinn entstehen, spielerische Bewegtheit erstarrt in seinem synthetisierenden Blick.2 Der Theater-Theoretiker Uri Rapp, der seine Methode selbst als »TheaterSoziologie« begreift, geht in seiner Positionierung des Zuschauers zwar ein wenig anders vor als Gadamer, beruft sich dabei allerdings ebenfalls positiv auf dessen Idee einer »synthetisierenden Zusammenschau«. In seinem Buch Handeln und Zuschauen konzipiert Rapp die Aufführung als eine soziale Situation, die nur unter Bezugnahme auf das Vorhandensein eines Publikums sinnvoll besprochen werden kann: »Alles, was auf der Bühne vor sich geht, auch das Miteinandersprechen der Figuren, ist zugleich Metakommunikation zum Publikum hin.« (Rapp 1981: 198) Um eine Situation also überhaupt als Theatersituation definieren zu können, ist ein Publikum notwendig. Dem Publikum wird dabei eine – regelgeleitete – Aktivität zugesprochen; entsprechend bezeichnet Rapp im Kapitel »Prolegomena zu einer 2
Der Umschwung in Gadamers Modell – von der spielerischen Bewegtheit zur Statik des Gebildes – wurde unter Kapitel II der vorliegenden Arbeit besprochen; im Original lässt er sich z.B. unter Gadamer 1990: 115f nachlesen.
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Theorie der Aufführung« den Zuschauer explizit als »Rolle«: »Zuschauersein ist eine Rolle, und ein ,Publikum‹ ist eine den Schauspielern komplementäre Rollengruppe mit eigener Struktur und spezifischen Verhaltensnormen.« (Rapp 1981: 229) Insofern avanciert der Zuschauer hier durchaus zu einem Mitspieler im Theaterspiel. Seine »Rolle« besteht dabei, wie Rapp weiter ausführt, in drei Tätigkeiten: Zum einen halte die traditionelle Form der Theateraufführung einige wenige Möglichkeiten zur emotionalen Rückmeldung für das Publikum bereit. Weiterhin nennt Rapp die Tätigkeit einer Gadamer’schen »Zusammenschau« (Rapp 1981: 232f ); vor allem aber trage der Zuschauer zur Definition der Aufführungssituation bei, indem er Erwartungen mitbringe: »Die zentrale Eigenschaft der Zuschauerrolle ist die Erwartung [...] Sie ist die Kategorie, mittels derer die Zuschauer die Situation definieren. [...] In ihr ist die Aktivität wie die Passivität der Zuschauer enthalten.« (Rapp 1981: 231f ) Eine weiter reichende Erklärung, wie genau die mitgebrachten ZuschauerErwartungen in der Aufführungspraxis zur Situationsdefinition wirksam werden, liefert Rapp allerdings nicht. Zudem ist es hier das Spiel, dem die Überhand über den Zuschauer-Spieler zugesprochen wird: der Zuschauer kann sich emporziehen lassen vom und zum (paradigmatischen) Theatergeschehen.3 Uri Rapp ist sich der Widersprüchlichkeit seines Modells bewusst, das einerseits den Zuschauer – rein definitorisch – zum wichtigsten ›Spieler‹ im Theater erklärt, ihn aber andererseits einer Position zuordnet, die der eines aktiv Handelnden diametral gegenübersteht. Daher konzipiert er, wie im obigen Zitat deutlich wird, den Zuschauer in paradoxer Weise als zugleich aktiv und passiv.4 Die spielerische Freiheit des angeleiteten Zuschauer-Spielers ist dabei bei Rapp als eine ›Freiheit zu‹ modelliert: der Zuschauer lässt sich freiwillig vom Theater-Spiel ver- oder an-leiten, vom »Gesamtkomplex der Darstellungsmittel« und von dessen »rhetorischem Impression Management« (Rapp 1981: 199). Eine entsprechend in Werken eingearbeitete Führung der Zuschauer-Wahrnehmung untersuchte der Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser, dessen emphatisch einge3
Als aktive Tätigkeit für den Zuschauer bleibt in Rapps – paradigmenhafter – Theatersituation nur übrig, in romantischer Überhebung seiner ureigenen Möglichkeitsumstände als soziales Subjekt ansichtig zu werden: »Wenn das Theater als Sinnbereich die Conditio Humana symbolisiert, so das Theater als Enklave (Aufführung) die Situatio Humana. [...] Der Mensch ist jeweils Definitor wie Definient der Situation. Dies könnte kaum klarer als in der Theateraufführung dargestellt werden.« (Rapp 1981: 168f).
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Auch ganz aktuelle Reflexion auf die ›Rolle‹ des Zuschauers in der Theateraufführung bleiben in diesem »Paradox des Zuschauers« förmlich gefangen; vgl. z.B. Mervant-Roux’ Aufsatz The great resonator, wo sie dem Zuschauer »a lively inactivity« zuspricht; vgl. Mervant-Roux 2010: 226.
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setzter Spielbegriff dem Uri Rapps ähnelt.5 Iser behandelt allerdings keine Theateraufführungen, sondern interessiert sich für Texte und ihre Rezeption, bzw. für den »Akt des Lesens«. Die Struktur des literarischen Werks liefert bei Iser die Spielregeln, nach denen der spielerische Leseakt funktioniert; auf diese Weise wird der Leser/Rezipient zum Spieler. Iser betont in seinen Ausführungen zur Romananalyse, dass Texte sich immer erst in der Wahrnehmung ihrer Rezipienten, im Leseakt, verwirklichen: »Da ein literarischer Text seine Wirkung erst dann zu entfalten vermag, wenn er gelesen wird, fällt eine Beschreibung dieser Wirkung weitgehend mit einer Analyse des Lesevorgangs zusammen.« (Iser 1994: 7) Auch Iser fragt darauf, welche ›Rollen‹ Texte für ihre Rezipienten bereithalten; die Leser-Rolle nennt er dabei den »impliziten Leser«.6 »[W]enn [...] vom Leser die Rede ist, so ist damit die den Texten eingezeichnete Struktur des impliziten Lesers gemeint. [...] der implizite Leser [besitzt – SH] keine reale Existenz; denn er verkörpert die Gesamtheit der Vororientierungen, die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet. Folglich ist der implizite Leser nicht in einem empirischen Substrat verankert, sondern in der Struktur der Texte selbst fundiert.« (Iser 1994: 60)
An anderer Stelle behandelt Iser diese »Fundierung in der Struktur der Texte« auch als »Appellstruktur« der Texte (vgl. Iser 1974). In seinem frühen gleichnamigen Essay entwickelt er ein auf Roman Ingardens »Unbestimmtheitsstellen« aufbauendes Modell. Dort konzipiert er all jene Momente in einem literarischen Text, die den Leser dazu anregen, sie mit Bedeutung aufzufüllen, als das eigentliche Interface literarischer Textnutzung.7 5
Isers Orientierung am ›Spiel‹ wird erst in seiner späten Arbeit Das Fiktive und das Imaginäre explizit ausgearbeitet; doch auch schon in seinen früheren Schriften ist die später als Spiel beschriebene situative Bewegung des Leseakts modelliert, v.a. in Die Appellstruktur der Texte und in Der Akt des Lesens (vgl. Iser 2001, ders. 1994 und ders. 1974).
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Uri Rapp nutzt einen ähnlichen Begriff: Er stellt dem konkreten Besuchern einer Aufführung ein »virtuelles Publikum« gegenüber: »Das Phänomen der Regelhaftigkeit impliziert, dass ein virtuelles Publikum das aktuelle Publikum der Aufführung umgreift, abgrenzt und ihm seine Erlebnisweise absteckt. Die Aufführung ist zwar je und je eine einmalige, mit einem gegenwärtigen Publikum verbunden; jedoch sogar wenn sie sich ein einziges Mal nur an ein einziges Publikum wendet, steht dahinter ein virtuelles, längere Zeiträume überdauerndes und nicht durch einmalige Zufälligkeiten bestimmtes Publikum.« (Rapp 1981: 212f).
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Um Isers Argumentation genauer wiederzugeben: Die »Leser-Rolle«, bzw. der »implizite Leser« setzt sich aus zwei Bestandteilen zusammen, der »Textstruktur« und der »Aktstruktur« – wobei erstere in einer durch den »Autor entworfenen perspektivische Hinsicht
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Obwohl sie aus einem textanalytischen Kontext stammen, scheinen zwei der von Iser geprägten Begriffe – sowohl der der »Appellstruktur« wie der des »impliziten Lesers« (der sich zum impliziten Rezipienten oder Zuschauer weiterdenken lässt), brauchbar für die Beschreibung von Rezeptions-Situationen. Denn beide Begriffe verweisen, zumindest implizit, auf Tätigkeiten und helfen somit, auf praktisches situatives Geschehen zu fokussieren; gehen sie doch davon aus, dass künstlerische Arbeiten immer erst im Akt ihrer Rezeption durch ein Publikum in sinnvolle Existenz gelangen, dass also die Praxis des Kunst- (hier: Literatur-) Gebrauchs zentral sei und dass dabei bestimmte Anteile der Rezeptions-Praxis einer Art ›Gebrauchsanweisung‹ folgen, die in der Rezeptionssituation intelligibel wird. Auch der Begriff der »Negation«, wie Iser ihn verwendet, kann pragmatisch fruchtbar werden: Von »Negationen« spricht Iser dann, wenn ein Text seinem Leser zwar ein bestimmtes Set von »Perspektivierungen« anbietet, diese aber gleichzeitig als (thematisch) wenig attraktiv gestaltet, oder aber wenn Texte ihren Lesern eine Entscheidung für eine Perspektive formal unmöglich machen.8 Pragmatisch anwendbar wird der Begriff der Negation, sobald man ihn im Zusammenhang mit Erwartungen betrachtet, die Iser, ebenso wie Uri Rapp, für äußerst wichtig erachtet; allerdings bemerkt Iser, anders als Rapp, dass Erwartungen nicht nur von außen an eine Rezeptionssituation herangetragen werden, sondern dass sie ebendort geweckt werden können. So betont er, dass Unbestimmtheit innerhalb der »Appellstruktur« von Texten »ständig bestimmte Erwartungen« entstehen ließe (Iser 1974: 18). Der Leser/Rezipient besitzt also (theoretisch) eine herausragende Position in Isers Modell des Textes bzw. des Leseakts. In der »Negation« ist zudem ein Begriff formuliert, der erklären kann, wie Erwartungen von Rezipienten in situ justiert werden. Dennoch scheint ein Bezug auf konkrete Rezeptions-Situationen auch mit Hilauf die Welt« besteht, während die »Aktstruktur« die beständigen Modifikationen umschreibt, die in der Rezeption durch den Leser vorgenommen werden müssen, damit der Text verfolgt werden kann (vgl. Iser 1994: 61ff). Kurz: »Textstruktur und Aktstruktur verhalten sich zueinander wie Intention und Erfüllung. Im Konzept des impliziten Lesers sind sie zusammengeschlossen.« (Iser 1994: 63). In seiner späteren Schrift Das Fiktive und das Imaginäre entwickelt Iser diese beiden Strukturen weiter: Dort entspricht »das Imaginäre« in etwa der menschlichen Einbildungskraft; Iser stellt nun »das Imaginäre« als ein Spiel dar, das sich innerhalb der (als Spielrahmen fungierenden) »Fiktion« bewegt: »Die Akte des Fingierens [...] bringen durch ihre Intentionalität Imaginäres im Text zu kontrollierter Entfaltung.« (Iser 2001: 401). 8
Thematische Negationen bezeichnet Iser dabei als »primär«, Negationen, die vornehmlich formal funktionieren, nennt er »sekundär«. Auch durch Isers Konzept der Negation läuft also eine Kluft, die der oben beschriebenen in Textstruktur und Aktstruktur analog ist, nachdem »primäre« Negationen eher der vom Text geschaffenen Welt zuzugehören scheinen und »sekundäre« offenbar den Leseakt selbst betreffen.
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fe von Isers Modell nur schwer möglich: Die Textfokussierung des Literaturwissenschaftlers Iser, und damit sein häufiges Rekurrieren auf die Idee einer Struktur (»Textstruktur«, »AktStruktur«) suggeriert die Existenz einer festen Größe, auf die die Untersuchung sich beziehen kann und soll; die Struktur wird dabei – trotz allem Beschwörens der Situativität – als offenbar auch außerhalb eines konkreten Leseakts für eine Untersuchung zur Verfügung stehend konzipiert.9 b) Paradox des Zuschauens? Alle bis hier besprochenen mit der Spiel-Metapher operierenden Modelle der (Kunst- Theater- oder Literatur-) Rezeption nehmen also sowohl deren Situativität als auch die Rolle von Rezipienten/Zuschauern ernst. Dennoch scheint sich durch alle eine ungelöste Problematik zu ziehen: wie so oft im Kontext von Spielvokabular zeichnet sich eine paradoxe Verfasstheit ab, diesmal des Zuschauers/Rezipienten (bzw. seiner ›Rolle‹): Einerseits wird er als ›der eigentliche Spieler‹ mit einer aktiven und dem Künstler gleichberechtigten Position bedacht, andererseits scheint eine Besprechung dieser Aktivität nur möglich zu werden, indem sie als eine freiwillige Entscheidung zur Passivität betrachtet wird, oder indem sie als »passive Aktivität«, also als ganz und gar von einer im Kunstwerk vorgegebenen »Appellstruktur« angeleitete Aktivität modelliert wird. Ebendieser Paradoxie widmet sich Jacques Rancière in seinem Essay Der emanzipierte Zuschauer (Rancière 2009). Er beschreibt dort, dass ein problematisches Bild des Publikums für abendländische Ästhetikdiskurse virulent sei. Folgt man Rancière, beginnt sich eine paradoxale Verfasstheit der ›Zuschauer-Rolle‹ schon seit dem Wirken Platons abzuzeichnen, die sich bis heute in keiner Weise produktiv aufgelöst hat.10 Vielmehr zeige sich auch weiterhin, und gerade in (post-) modernen Kunst- und Theaterdiskursen, ein paradoxal-problematisches Verhältnis zum Zuschauer: Denn meist propagierten zeitgenössische Theaterästhetiken eine (wie auch immer vorgestellte) Emanzipierung des Zuschauers aus seiner »passiven« Haltung; sie gingen damit gewissermaßen gegen ihre eigenen Möglichkeitsumstände vor. Rancière macht sich im erwähnten Aufsatz daran, die Vorannahmen, die dem entsprechenden »Rationalitätsmodell« im Denken des Theaters bis heute zugrundeliegen, zu de- bzw. rekon9
Iser selbst verweist jede »Rezeptions-Ästhetik« ins Reich historisch konkreter Fallstudien und begreift seine eigene Arbeit als »Wirkungsästhetik«. Als solche interessiert sie sich für »im Text« vorgefasste Ermöglichungen des (späteren) Leseakts. Letzten Endes scheint also bei Iser der Bezug auf empirisch-konkrete Rezeptionen und ihre Rezipienten unnötig, wenn nicht gar unmöglich (vgl. Iser 1994: 8).
10 Rancière betrachtet dabei »alle Formen des Spektakels, welche Körper vor ein versammeltes Publikum bringen« als Theateraufführung. Die Theateraufführung wird hier also Paradigma auch für andere Aufführungssituationen (Rancière 2009: 12).
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struieren (Rancière 2009: 12); dabei gelangt er zu einer Re-Modellierung der Theatersituation, die auch für die vorliegende Untersuchung hilfreich werden kann: Die abendländische Philosophie begreife das Zuschauen als ein Sehen von Erscheinungen, und damit als das Gegenteil von wahrem Erkennen. Erkenntnis hingegen sei als aktive, freiheitliche, autonome Bewegung (zumindest des Geistes) konzipiert; daher erscheinen Zuschauer – obgleich ihr Beitrag absolut notwendig ist zur Definition jedes Aufführungsereignisses – als passiv, scheinen sich unterzuordnen (z.B. unter den Künstler oder das ›Werk‹) und nicht selbst zu handeln. Zum Paradox gerate dieses Modell des passiven Zuschauers dann, wenn es von Freunden eines emanzipatorischen Theaters geteilt wird: Dort resultiere eine Ästhetik, die Rancière als »Ja-Aber« Theater bezeichnet, das entweder radikalerneuert oder wieder zu einem (angeblich besseren) Ursprung zurückgebracht werden soll.11 Emanzipatorisches Theater versteht sich laut Rancière also als eine Vermittlung, die auf ihre eigene Aufhebung ausgerichtet ist und erinnert daher an das Paradox der pädagogischen Vermittlung: Genau wie diese reproduziere auch das emanzipatorische Theater den Graben, den es zu überwinden trachte (Rancière 2009: 18). In Rückgriff auf die demokratische (Anti-) Pädagogik Jean Joseph Jacotots bietet Rancière darauf einen Vorschlag, um die seiner Meinung nach ins Zuschauerparadox verbissenen Theaterdiskurse in einer Anerkennung der »Gleichheit der Intelligenzen« (und damit auch der Gleichheit der Aktivitäten) aufzulösen. Zunächst sei dafür ein neues Bild des Zuschauers zu entwerfen. Der Zuschauer müsste nicht mehr als per se passiv (bzw. »unwissend«) sondern als immer schon als ebenso aktiv, als ein neugierig Erforschender gedacht werden, wie der/die Künstler. Rancière nennt die reformulierte Aktivität des Zuschauers eine »poetische Arbeit des Übersetzens« (Rancière 2009: 21). Um diese Gleichheit im re-formulierten Vermittlungs- und Theatermodell garantieren zu können, existiert in Rancières Theatermodell (ebenso wie in Jacotos Lehrsituation), neben Zuschauern und Künstlern eine »dritte Sache«, »die sowohl dem einen als auch dem anderen fremd ist, und auf die sie sich beziehen können.« (Rancière 2009: 25) Rancière fährt fort: »[...die] Aufführung [...] ist nicht die Übermittlung des Wissens oder des Atems vom Künstler zum Zuschauer. Sie ist eine dritte Sache, die niemand besitzt, und deren Sinn niemand besitzt, die sich zwischen ihnen hält[.]« (Rancière 2009: 25) Das Theatermodell des »emanzipierten Zuschauers« lässt also aktiv und explorierend wahrnehmende Zuschauer und Theatermacher in einer (konkreten) Auffüh11 Das neue und/oder wahre Theater wird laut Rancière als ein Theater mit aktiven Zuschauer-Teilnehmern konzipiert, als eine selbstgegenwärtige Gemeinschaft; oftmals sei es ein Theater der »Vereinigung«, ein Theater des überwundenen Grabens zwischen Bühne und Zuschauerraum. Demgegenüber würde das Negativbild des »Spektakels« aufgezogen, einer Show mit passiv »verdummenden« Zuschauern.
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rungssituation zusammentreffen. Die praktische Situation ihrer Begegnung wird dabei zum »Dritten«, das alle Situationsteilnehmer »erforschen«. c) Zuschauen als praktische Aktivität: Mitverstehen Nun stellt Rancières Rekurs auf die Aktivität des Zuschauens keine vollkommen neue Errungenschaft im ästhetischen Diskurs dar. Gerade in der seit der Moderne sich abspielenden (Wieder-) Entdeckung des Körpers, seiner konkreten Materialität und Prozesshaftigkeit, die sich beispielhaft in der auf Merleau-Pontys zurückgreifenden Phänomenologie zeigt, wurde die Idee einer aktiven Erschließung der Welt untermauert: »[I]n der Tat kann man sich nicht vorstellen, wie ein Geist malen könnte. Indem der Maler der Welt seinen Leib leiht, verwandelt er die Welt in Malerei. Um diese Verwandlungen (transsubstantiations) zu verstehen, muss man den fungierenden und gegenwärtigen Leib wiederfinden, ihn, der nicht ein Stück des Raums, ein Bündel von Funktionen ist, sondern ein Geflecht aus Sehen und Bewegung.« (Merleau-Ponty 2003: 278)
Im Gegensatz zur Descartes’schen Trennung in einen aktiv bewegten, doch immateriellen Geist und einen Körper, der wie eine Marionette oder Maschine keine eigene Aktivität besitzt, begreifen ästhetische Ansätze seit Merleau-Ponty den Menschen als genuin leiblich; als materiell in der Welt verankert und gerade deshalb in ständigem aktivem Austausch mit dieser Welt befindlich. Auf dieser phänomenologischen Grundlage entstehen Modelle, die symmetrische Verhältnisse zwischen Rezeption und Rezipiertem vorschlagen, z.B. wenn Hans Belting eine neu justierte Bildwissenschaft präsentiert, in der von einer genuinen Aktivität des Blickens ausgegangen wird: »Blicke [...] sind so aktiv, wie es das blickende Subjekt selbst ist. Wir sind gewohnt, Blick und Bild voneinander zu trennen und also von Blicken auf ein Bild zu sprechen, doch geht es im Folgenden um den Gedanken, dass Bilder im Blick entstehen.« (Belting 2007: 49) Auch im Bereich der Theater- und Tanzwissenschaft entstanden in jüngster Zeit zahlreiche Forschungsarbeiten, die sich mit dem Zuschauen als einer aktiven, vor allem leiblichen Praxis auseinandersetzen, wie z.B. Susanne Foellmers Am Rand der Körper oder Adam Czieracks Partizipation der Blicke.12 Schließlich trägt inzwischen der psychologisch und neurowissenschaftlich untermauerte Diskurs der »Philosophy of Mind« zu einem entsprechenden enactive approach in der Theoretisierung von Wahrnehmungsaktivität im allgemeinen und von Kunstrezeption im Besonderen bei. Beispielhaft sei hier auf Alva Noë verwie-
12 Vgl. Foellmer 2009 und Czirak 2012.
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sen, der Wahrnehmen als ein aktives Explorieren der Welt auffasst (anstatt als passives Repräsentieren): »We think of perceptual experiences as temporally extended patterns of engagement with the world, not as things that happen in us. We enact perceptual experience, it doesn’t happen to us. Perceptual experiences, then, should not be thought of as representations, as internal states that are about a scene. Rather, they are episodes of contact with a scene.« (Noë 2006: 47f )
Neben der Konzeption von Wahrnehmung als einer Aktivität, enthält Rancières Remodellierung der Zuschauer-Rolle noch einen weiteren, nicht weiter ausgearbeiteten Vorschlag, der im hier anvisierten Spielmodell der Theateraufführung weiter verfolgt werden soll: Die Aufführung selbst müsse als das »Dritte« gedacht werden, auf das sich Zuschauer wie Theatermacher beziehen können. In seiner 2009 erschienenen Arbeit Postspektakuläres Theater befasst sich André Eiermann mit der »Alterität der Aufführung« (vgl. Eiermann 2009). Auch diese zeige sich als Drittes, bzw. als »Auftritt eines Dritten« (bei Eiermann »der Dritte«). Wahrnehmbar wird dieser »Dritte« laut Eiermann immer dann, wenn »seine Einflüsterungen« hörbar gemacht würden, zum Beispiel durch Entzug darstellerischer Handlung: »Denn in solchen Fällen bleibt der Dritte – der ,geheime Souffleur‹ – gewissermaßen übrig. Seine Einflüsterungen werden auf der leeren Bühne ›hörbar‹. Sie machen sich bemerkbar in Form der Erwartungen, welche die Zuschauer aufgrund der ihnen geläufigen Konventionen an die Aufführung richten, sowie in Form der Vorstellungen, die sie aufgrund dieser Erwartungen in die Leere der Bühne hineinprojizieren.« (Eiermann 2009: 21)
Es ist also die Menge aller Erwartungen, Konventionen oder Normen, die sonst als unsichtbare Selbstverständlichkeiten in die Aufführung eingelassen sind, die als ›der/das Dritte‹ konzipierbar werden. Diesen Gedanken weiterführend, kann ›das Dritte‹ als Gesamtheit dessen begriffen werden, was Erving Goffman als Rahmen umschrieb, bzw. als das, was durch Theodore Schatzki als teleoaffective structures erfasst wurde. Um eine etwas breitere begriffliche Untermauerung dieses »Dritten« zu konzipieren, bietet sich daher ein Rekurs auf die Modelle dieser beiden Theoretiker an. Wie unter IV.4. kurz ausgeführt, nutzt Goffman in seinem Aufsatz Footing das Konzept des participation framework zur Beschreibung der ›Rollen‹, die eine Kommunikationssituation für ihre Teilnehmer, und entsprechend Aufführungssituation für ihre Zuschauer bereithalten. Er unterscheidet dabei unterschiedliche Formen des Zuschauens, die als Vorlage, bzw. als Rahmen oder framework verfügbar
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sind.13 Nachdem im Sinne Goffmans immer vorausgesetzt wird, dass situative Rahmungen erst in der Situation entstehen, ließe sich paraphrasieren, dass Aufführungssituationen ihrem Publikum Mitspiel-Angebote machen können, ihren Zuschauern in situ unterschiedliche participation frameworks offerieren.14 Nach Theodore Schatzki ist weiterhin jede Praxis mit einem unscharfen Set aus Vorwissen/Knowhow verbunden.15 Betrachtet man das Zuschauen im Theater insofern als soziale Praxis, würden Erwartungen an Zeit und Raum der Aufführung sowie zur Art und Weise der Aufführung, außerdem Vorannahmen zu participation frameworks in der Aufführungssituation das entsprechende, untrennbar mit der Praxis verwobene Knowhow formen. Dabei ist zwar anzunehmen, dass spezifische Sets aus Zielen oder Gelingenserwartungen kollektiv vorhanden sind, Deckungsgleichheit kann dabei aber nicht postuliert werden (z.B. möchten einige Zuschauer in Aufführungssituationen vermutlich unterhalten werden, andere wünschen sich Konfrontation, andere wiederum möchten sich bilden oder sie praktizieren gesellschaftliches Sehen- und Gesehenwerden, etc.) Die Menge möglicher Erwartungshaltungen aber lässt sich durchaus beschreiben; auf solche losen Sets möglicher Erwartungen, Ziele etc. bezieht sich Schatzki in seinem Modell mit dem Begriff teleoaffective structures (Schatzki 2003: 89). Darüber hinaus entsteht im gemeinsamen Ausführen von Praktiken, so Schatzki, eine Teilnehmergruppe: »Being one of us [...] can be redefined as participating in our practices, where ,we‹ are the people that participate in a particular set of [...] practices[.]«( Schatzki 2003: 116)16 Auf die Theatersituation gemünzt bedeutet dies,
13 Z.B. adressiert er im erwähnten Aufsatz so unterschiedliche Publikumsformen wie das Publikum eines Podiumstalks, das Publikum einer TV-Ausstrahlung, u.v.a. Sind medial weit vom Aufführungsgeschehen entfernte Publikumsformen im Spiel – wie es z.B. bei einer TV-Aufzeichnung der Fall ist, spricht Goffman davon, dass die Vorführenden mit »imagined recipients« arbeiten müssten; dieser Begriff bietet sich m.E. als eine pragmatisch geerdete Version des Iser’schen »impliziten Zuschauers« an. 14 Für Goffmans Überlegungen zum participation framework spricht zudem, dass dieser Begriff zum einen auf den etwas allgemeineren Begriff des Rahmens verweist, zugleich aber daran erinnert, dass mehrere traditionell bekannte frames zu einem ganzen »framework«, einem Regelwerk ausgeformt, also auch kunstvoll gestaltet werden können. 15 Schatzki, vgl. Kapitel I der vorliegenden Arbeit, definiert in seiner Theory of Practices soziale Praxis als »a temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings.« (Schatzki 2003: 89). 16 Schatzki betont in seiner Theorie sozialer Praktiken immer wieder die Über-Individualität seines Praxis- und Knowhow-Konzepts: »[P]ractices are not sets of individual action. [...] A practice is a manifold of doings and sayings. [...] But a set of doings and sayings constitutes a practice only if its members express an array of understandings, rules, and struc-
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dass Situationsteilnehmer, die gemeinsam die Praxis des Theaterschauens vollziehen – wenn auch jeder auf seine spezifische Weise – zur gemeinsam ansprechbaren Teilnehmergruppe werden.17 Zwar sind die Grenzen des im Verlauf der Theateraufführung entstehenden ›Wir‹, ebenso wie Teilnehmerschaften anderer Praktiken, unscharf – »the boundaries of a we are unstable, shifting and contingent« – doch kann davon ausgegangen werden, dass ein solches, sich prozessual justierendes ›Wir‹ existiert (Schatzki 2003: 116). Möglicherweise können individuelle Zuschauer überhaupt erst im Prozess eines kollektiven Verstehens das, was in einer Aufführung vor sich geht, mit Sinn versehen, wie Mervant-Roux vorschlägt: »The fact that the spectator is able to ,follow‹ the actor in his fictions is not to be taken primarily from the perspective of the individual, but on the level of the collective.« (MervantRoux 2010: 232) Schließlich bringt die Sozialität von Praktiken die Notwendigkeit mit sich, dass individuelle Teilnehmer einer Praxis das Verständnis über ihr Tun zum Ausdruck bringen – und sei dies nur implizit, z.B. indem bestimmte Handlungen aufrechterhalten werden; erst eine in jede Praxis eingelassene Performativität ermöglicht es in konkreten Situationen, die große Menge möglicher Erwartungen anzugleichen und gemeinsam zu Handeln. Beispielsweise halten Publikumsmitglieder eine (traditionelle) Aufführungssituation aufrecht, indem sie sich ruhig (bzw. ›passiv‹) verhalten und das Geschehen auf der Bühne verfolgen, kurz: Sie ›spielen mit‹. Zeigen Praktiken, die durch die Teilnehmer der Aufführungssituation ausgeführt werden, umgekehrt ein anderes Verständnis der Aufführung, kann dies Krisen in der gemeinsam durchgeführten Praxis evozieren; es steht, in Goffmans Worten, ein »Rahmenbruch« auf dem Spiel (wie z.B. in der ersten Durchführung von Marina Abramovichs häufig zitierter Performance Lips of Thomas geschehen).18 Es ist also anzunehmen, dass im Verlauf jeder Theateraufführung die erwähnte Masse möglicher Erwartungen an die Aufführungssituation in irgendeiner Art und Weise aktualisiert und verwirklicht wird, z.B. indem sie erfüllt, ausgefüllt, materialisiert oder ture. (Schatzki 2003: 106) Umgekehrt entstehen sowohl Subjekte als auch bestimmte Gruppierungen immer nur im Zuge sozialer Praktiken. 17 Ebenso werden die oben beschriebenen dargestellten Darsteller Forced Entertainments zum Ensemble, indem sie die gemeinsame Anstrengung zeigen, eine Aufführung zu gestalten, vgl. Ausführungen unter IV.4. 18 Damals trugen Zuschauer die aufgrund ihrer Handlungen während der Performance ohnmächtig gewordene Abramovich aus dem Raum, um sie ärztlicher Behandlung zuzuführen. Die Aufführungssituation wurde auf diese Weise verändert, der Rahmen der künstlerischen Aufführung gebrochen, eine ›ernsthafte‹ Situation etablierte sich. In ihrer Praxis zeigten die Zuschauer sich gegenseitig, dass sie ein neues Verständnis der Situation für angebracht hielten; vgl. z.B. Fischer-Lichte 2007: 9ff.
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enttäuscht, thematisiert oder in Frage gestellt, bestätigt oder beleidigt wird. Aufführungsbesucher, die sich zuvor in der Regel gar nicht kannten, werden so im Verlauf situativer Aktualisierungen für die Zeit einer Theateraufführung zu einem Publikum, das gemeinsam die Praxis des Theaterschauens ausführt, und dabei in gegenseitiger Rückmeldung immer wieder neuen situativen Sinn produziert; gerade dieses Moment des Miteinander, dieses »Mitverstehen« als eine »ko-präsente Pluralität wirklich oder virtuell streitender Wahrnehmungen und Verstehensleistungen«, so führt Hans-Thies Lehmann in seinem Essay Versuch über das Verstehen aus, müsste eine Wissenschaft vom Theater besonders interessieren (Lehmann 2011: 39). e) Fazit: Zuschauer als Spieler Ich möchte die bis hier geschilderten Überlegungen zur Positionierung der Zuschauer im ›Spiel‹ der Aufführungssituation zusammenführen: Der Frage nach der »Appellstruktur« von Inszenierungen kann praxistheoretisch informiert nachgegangen werden, indem das Spiel mit »dem Dritten« beschrieben wird, das sich dem Publikum in Aufführungssituation präsentiert. Es bietet sich dabei an, »das Dritte« der Aufführungssituation als die in situ zu entdeckende und auszuhandelnde situative Teilnehmerschaft von Zuschauern zu begreifen. Die Grundlagen solcher Aushandlung bestünde dabei in den teleoaffective structures (Schatzki 2003), die mit der Praxis des Theaterschauens verbunden sind. Man kann, wendet man den PraxisBegriff einer soziologischen Praxeologie auf die Tätigkeit des Theaterschauens an, sicherlich nicht davon ausgehen, dass alle Theatergäste jeweils mit denselben Erwartungen und Zielen Aufführungen besuchen. Allerdings kann man durchaus annehmen, dass individuelle Erwartungen und Ziele sowie – zumindest ein diffuses und/oder eingekörpertes – Wissen über die Menge der in Theateraufführungen eventuell möglichen Erwartungshaltungen und Zielvorstellungen bei jedem Teilnehmer vorhanden sind. Die Aktivität der Zuschauer lässt sich entsprechend als ein »Erspielen« praktisch-situativen Sinns betrachten; dabei müsste nachvollziehbar werden, wie diese Aktivität als Praxis des »Mit-Verstehens« ein ›Wir‹ produziert, ein Publikum als prozedurale, in Aushandlung befindliche Größe. In den folgenden Punkten soll daher gefragt werden, auf welche Weise Zuschaueraktivität im Fortgang der untersuchten Aufführungen Bloody Mess und The World in Pictures involviert wird. Zunächst wird dafür untersucht, inwieweit mögliche Zuschauererwartungen (im Sinne von Goffmans Rahmen oder Schatzkis teleoaffective structures) schon als »Appellstrukturen« in die untersuchten Inszenierungen und ihre Aufführungspraxis eingelassen sind. Dafür richte ich mein Augenmerk zuerst auf explizites Angesprochenwerden des Publikums in beiden Aufführungssituationen, da diese Praxis dort besonders intensiv zum Einsatz kommt. Enttäuschungen möglicher Erwartungen an die Aufführungssituation, bis hin zur Evozie-
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rung von »Negativität« (Iser) »negativer Erfahrungen« (Goffman) konnte sich sowohl in Bloody Mess wie auch in The World in Pictures als wichtiges Darstellungsmittel erweisen; daher behandelt Punkt 3 dieses Thema. Schließlich möchte ich die Frage stellen, ob »negative Erfahrungen« der Zuschauer in der konkreten Aufführungssituation wahrnehmbar werden, bzw. inwieweit sie für eine weiterführende Untersuchung wahrnehmbar gemacht werden können. 2. A PPELLSTRUKTUR ( EN )? Aufführungssituationen halten die Möglichkeit bereit, eine besonders offenherzige Form des ›Appells‹ zu gebrauchen – Zuschauer können in direkter Publikumsansprache adressiert werden. Im Rahmen von Theateraufführungen allerdings wird diese Art der Zuschauer-Adressierung bis heute auffällig, da sie nicht zur Gänze dem Klischee einer typischen Theatersituation entspricht. Goffman z.B. beschreibt in seinem Aufsatz Footing ein traditionelles Theaterpublikum, also das Theaterpublikum ›gewöhnlicher‹, illusionistischer Dramenaufführungen, als etwa in der Mitte zwischen dem Publikum eines Podiumstalks und dem einer Fernsehsendung angesiedelt und macht diese Unterscheidung gerade an der Art und Weise fest, wie Zuschauer angesprochen werden: Ein Theaterpublikum im (dramatischen) Theater wird, so beobachtet Goffman, nicht so direkt und unverblümt als solches angesprochen wie beispielsweise die Zuhörerschaft eines Podiumstalks; es ist gewissermaßen als weiter entfernt vom Bühnengeschehen konzipiert. Das ›Fernhalten‹ des dramatischen Theaterpublikums wird im Beispiel Goffmans durch traditionelle Theaterkonventionen erreicht – z.B. durch die Geschlossenheit der vorgeführten Welt, durch ›vierte Wände‹, Fabeln, Vorhänge, durch offensichtliches ›Als-ObVerhalten‹ von Darstellern etc. Zu Goffmans grober Unterteilung lässt sich anmerken, dass auch aus vielen anderen, eventuell weniger hochkulturellen, dennoch aber traditionell bekannten Theaterformen (wie dem Kasperltheater und dem Volkstheater), zudem aus älteren Theaterformen (wie der Comedia dell’arte) oder auch aus Darstellungsformen wie der Revue oder dem Zirkus zahlreiche weitere Abstufungen einer virtuellen Entfernung zwischen Publikum und Bühne gesellschaftlich etabliert sind. Entsprechend lässt sich leicht eine ganze Anzahl von Beispielen ausdenken, wie Aufführungszuschauer direkt als solche angesprochen werden können: »Sehr verehrte Damen und Herren!« »Ladies and Gentlemen, Messieurs, Dames...!« »Hallo Kinder! Seid ihr alle da?« usw. Dennoch besteht im ästhetisch entfernten Publikum illusionistischen Dramentheaters sicherlich bis heute eine funktionale Vorlage für die in Aufführungen zu erwartende ›Publikums-Rolle‹. Postdramatische Theatermacher spielen häufig offensiv mit dieser Folie und bringen auf diese Weise man-
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nigfache Versionen direkter Publikumsansprache auf zeitgenössische Bühnen.19 In diesen Kontext lassen sich auch die hier untersuchten Inszenierungen Forced Entertainments einordnen: Wie schon in meiner obigen Untersuchung von Sprechpraktiken der Inszenierungen angemerkt, formen in Bloody Mess und in The World in Pictures fast ausschließlich Äußerungen den Text der Aufführungen, die als direkte Publikumsansprachen inszeniert sind: Die Zuschauer erhalten Entschuldigungen, wenn Szenen angeblich nicht besonders gut geklappt haben, oder werden über den geplanten Fortgang des Abends in Kenntnis gesetzt, auch werden dem Publikum in direkter Adressierung die Geschichten vom Entstehen und Vergehen des Planeten Erde (Bloody Mess) bzw. gar die gesamte Menschheitsgeschichte (The World in Pictures) erzählt, schließlich nehmen in beiden Stücken breit erzählte Fiktionen, in denen »You« die Hauptfigur darstellt, ihr Publikum auf virtuelle Reisen mit. Dabei lassen sich, wie im vorangegangenen Kapitel eingeführt, sprachliche Äußerungen mit Émile Benveniste immer im Hinblick auf ihre unterschiedlich intensiv gestaltete Rückbindung an die Äußerungssituation betrachten. Dies gilt auch für die ›Publikumsansprachen‹ in Bloody Mess und The World in Pictures: Sie lassen sich danach befragen, ob sie sich an das konkret in der Situation anwesende Publikum wenden, oder ob sie vielmehr jemand ganz anderen zu adressieren scheinen. Insofern können die Publikumsansprachen der Aufführungen als unterschiedlich nutzbare Teilnahmeangebote oder Participation Formats an/für die Zuschauer der Aufführungssituationen betrachtet werden. Dementsprechend sollen im Folgenden direkte Publikumsansprachen, diese äußerst explizite, sich gewissermaßen selbst anzeigende Form des »Appellstruktur«, die in beiden Inszenierungen so ausgiebig zum Einsatz kommt, untersucht werden.20
19 Die ästhetisch-politische Grundlage dieses postdramatischen Spiels mit der Entfernung des Publikums ist in der Ablehnung zu suchen, die postdramatische Theatermacher oftmals der ästhetischen Distanz des dramatischen Theaterdispositivs entgegenbringen; die in der ästhetischen Entfernung gesicherte »Geborgenheit des Zuschauers« im Zuschauerraum soll gestört werden (vgl. Lehmann 2001: 187). Zu einer postdramatischen Ästhetik vgl. auch Kapitel I. und VI. der vorliegenden Arbeit. 20 Die Auswahl dieser Beispiele soll keinesfalls suggerieren, dass die einzige Art und Weise, wie Aufführungen ihr Publikum adressieren, in der Sprache bestünde. Die beiden hier untersuchten Inszenierungen arbeiten allerdings so exzessiv mit feinabgestuften sprachlichen ›Anrufungen‹, dass diese bevorzugt besprochen werden sollen; dabei berücksichtige ich aber zugleich immer auch das ›Mitsprechen‹ der Körper der Sprecher-Figuren und die Informationen, die sich aus dem Ensemblespiel der Darsteller-Figuren ergeben, zudem den im Verlauf der Aufführungen ›erspielten‹ Kontext.
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a) Kunden und Komplizen der Aufführung Bis hierhin konnte mehrfach gezeigt werden, dass sich Darsteller-Figuren der Inszenierungen Bloody Mess und The World in Pictures von der Bühne direkt an ihr Publikum wenden; die Figuren sparen dabei nicht mit rahmenbrecherischen MetaAussagen (wie z.B. Figur Cathy in der ›Crying 1x1‹ Sequenz in Bloody Mess u.v.a.). Die Darsteller-Figuren scheinen in ihrem Sprechen zum Publikum beständig bestrebt, die Zuschauer über den Fortgang des Geschehens, inklusive aller Rahmungsaktivitäten, auf dem Laufenden zu halten. Zunächst könnte man daher konstatieren, dass die Zuschauer in beiden Inszenierungen von Anfang an als ›ansprechbar‹ kodiert werden, als in jeder Hinsicht adressierbar. Sie werden damit zu mehr als ›bloßem Theaterpublikum‹, sie werden gewissermaßen zu Komplizen der Darsteller erklärt und erhalten von Anfang an und ganz explizit die ›Rolle‹ aktiv mitdenkender (und damit mitgestaltender) Situationsteilnehmer. Allerdings erweist sich der Realitätsstatus der Darsteller, bzw. der Darsteller-Figuren, die sich an ihr Publikum wenden, im Verlauf der Aufführungen immer wieder als äußerst unsicher (vgl. Kapitl IV). Es lässt sich daher vermuten, dass sich auch der participation status der durch diese Figuren angesprochenen Zuschauer in irgendeiner Form im Verlauf der Aufführungen verändert – je nachdem, von welcher gerade etablierten ›Realitätsebene‹ Ansprachen ausgehen. Um eine Reihe solcher Anpassungen des participation status innerhalb einer einzigen Publikumsansprache nachzuvollziehen, habe ich aus der breiten Masse möglicher Beispiele eine kurze Sequenz ausgewählt, die relativ zu Beginn der Aufführung Bloody Mess, im Rahmen der Sequenz ›Vorstellungsrunde‹ stattfindet.21 Die Sequenz spielt sich noch während der Phase ab, in der die äußeren Klammern der Aufführung als noch in Verhandlung befindlich inszeniert sind: Die Darsteller haben sich in einer Stuhlreihe an der Rampe der Bühne niedergelassen und blicken ins Publikum. Ein Mikrophon hin- und herreichend, stellen sie sich jeweils nacheinander mit Vornamen vor und erklären, welche Wirkungsabsicht sie in der angeblich erst noch zu folgenden Aufführung verfolgen. Die letzte dieser Absichtserklärungen, abgegeben durch eine Dame in Pink, habe ich im Folgenden transkribiert.22 21 Eine Analyse dieser Sequenz findet sich auch in meinem Aufsatz Sich selber spielen, vgl. Husel 2012b. 22 Grundlage zu meiner an dieser Stelle verwendeten Transkription ist die von der Gruppe herausgegebene DVD, weil die kurze Sequenz, für die ich mich hier interessiere, dort in gut auflösender Nahaufnahme sowie klarer Tonqualität wiedergegeben ist, (vgl. (Forced Entertainment 2004: 00.19.07-00.20.57) Nichtsprachliche Handlungen sind im Folgenden kursiv gesetzt. Handlungen, die in Klammern wiedergegeben werden, vollziehen sich parallel zum vorher transkribierten Sprechtext; sehr kurze Sprechpausen sind als (.) gekennzeichnet, längere Pausen sind durch Zeitangaben wiedergegeben – eine dreisekündige Sprechpause beispielsweise wird durch (3s) ausgedrückt). Pfeile () zeigen das Anheben
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Die Darstellerin in Pink streckt die Hand nach dem Mikrophon aus, das der Clown zwei Sitze links von ihr in der Hand hält. Der Clown schwenkt das Mikrophon darauf neckend, während sie eine Handbewegung macht, die »Gib schon her!« bedeuten könnte. Nun klemmt sich der Clown das Mikrophon zwischen seine Oberschenkel und reckt es der Darstellerin entgegen. Diese wendet kurz den Kopf ab und blickt entnervt und entschuldigend zu ihren Kollegen und ins Publikum. Dann wendet sie sich zurück an den Clown, streckt ihre Hand aus und macht mehrfach winkende und unsicher greifende Bewegung in Richtung des Mikrophons. Der Clown reagiert, indem er es noch fordernder zwischen seinen Schenkeln hervorragen lässt, dabei sieht er die Darstellerin fragend an und lässt seine rechte Hand offen nach unten hängen, als wollte er sagen »Wieso stellst Du dich so an?« Schließlich greift sie, anscheinend gewillt, die Belästigung zu überspielen, nach dem Mikrophon und zieht es zu sich herüber; während die Darstellerin das Mikrophon an den Mund führt, wird das Mikrophonkabel weiter zwischen den Oberschenkeln des Clowns hindurch gezogen. Dem keine Beachtung schenkend, wendet die Darstellerin sich nun endlich dem Publikum zu und beginnt zu sprechen. Dame in Pink: Hello. Uhm. I’m Terry. (3s) (Sie blickt – halb belustigt, halb enerviert wirkend – noch einmal zum Clown, der das Mikrophon-Kabel mit anzüglicher Geste weiter durch seinen Schritt zieht) ...hhh... (5s) (Der Clown legt das Kabel auf Terrys Schoß ab, was sie mit angehobenen Armen zulässt; anscheinend vermeidet sie dabei jeden Körperkontakt) Hum. Going to ignore that. Uhm. Hh. (4s) (Terry blickt ins Publikum und scheint sich zu sammeln) I don’t know what to say (7s) (Terry verharrt mit leerem Blick und dem Mikrophon am Mund, wie eingefroren. Nach ca. fünf Sekunden beginnt das Publikum zu lachen und die rechts sitzenden Darstellerkollegen blicken Terry fragend an. Schließlich lächelt sie und setzt wieder an zu sprechen) I hope when you (.) look at me you think I look like a real person (6s) (Auch während dieser Pause bleibt Terry körperlich ausdruckslos; sie beißt sich lediglich kurz auf die Lippen, und blickt schräg nach oben) Doing (.) real things (5s) (Zum Ende dieser Pause, während der Terry wieder ruhig ins Publikum blickt, sendet sie einen sehr kurzen Kontrollblick in Richtung Clown; spricht dann in wohlmodulierter Betonung flüssig weiter) I hope you think: (2s) »No one’s written HER lines for her. (3s) (Sie lächelt freundlich und verheißungsvoll ins Publikum) No one’s told HER (.) how to act. (6s) (Sie lässt während der Pause ihren Blick selbstsicher über das Publikum schweifen; die neben Terry sitzenden Kollegen scheinen interessiert zuzuhören, sie blicken in ihre Richtung, manche wohlwollend andere skeptisch) I know! (.) I hope when you look at me you think »SHE’s not a oder Absenken der Stimme an. Großbuchstaben stehen für Emphase auf dem Gesagten, der Buchstabe »h« für vernehmbares Ausatmen.
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professional! (2s) (In der Sprechpause beginnt das Publikum zu lachen. Terrys Kollegen wirken kurzzeitig alarmiert. Terry spricht mit leichtem Lächeln weiter) She’s certainly not doing it for the money! (2s) (weitere, nun laute Lacher im Publikum) She’d be doing it even if the money was (.) (Terry lächelt nun breit und verschwörerisch, sie neigt, ironisch abwägend, ihren Kopf zu beiden Seiten) A LITTLE BIT less (2s) (Das Publikum lacht zufrieden. Nun spricht Terry souverän weiter, zügig, mit intensivem Blick ins Publikum, das daraufhin sofort still ist. Auch die Darsteller neben Terry schenken ihr anscheinend wieder ihre ganze Aufmerksamkeit) or-even if there was no money at-all, even if there was nobody watching at-all, she would still be doing it because she IS what she IS (2s) (Pause in völliger Stille; Terry blickt ins Publikum.) She is really (.) really (.) living-it. Terry behält das Mikrophon noch 2 Sekunden an ihrem leicht geöffneten Mund, blickt weiter stumm und ernst ins Publikum, dann lässt sie langsam die Hand mit dem Mikrophon sinken ohne den Blick abzuwenden. Ein Kollege ist aufgesprungen und kommt auf Terry zu; sie gibt ihm das Mikrophon und beendet den Blickkontakt mit dem Publikum. Der Kollege kehrt mit dem Mikrophon zu seinem Stuhl zurück. Terry trocknet beide Hände an ihrem Kleid ab. Bevor ich die sprachlich vollführte Publikumsansprache betrachte, soll reflektiert werden, was sich den Zuschauern in dieser kurzen Sequenz direkter Ansprache möglicherweise zeigt, ohne dabei explizit gesagt zu werden. Wenn man annimmt, dass das Publikum der szenischen Behauptung zunächst in spielerischer Vorläufigkeit Glauben schenkt, so könnte man hierfür die ›private Erklärung von Wirkungsabsichten‹ als den Hauptschauplatz der Sequenz begreifen: Die Darsteller scheinen in diesem Moment als ›noch vor der eigentlichen Aufführung befindlich‹, sie gewähren ihren Zuschauern anscheinend einen Blick auf eine ›Hinterbühne‹ ihrer Darstellung.23 Auch Terry zeigt sich hier also als eine Schauspielerin, die als ›sie selbst‹ auftritt, um etwas über ihre Wirkungsabsichten zu erzählen. Allerdings wird der Zuschauerblick zugleich auf einige Nebenschauplätze verwiesen, die sogar ›noch privater‹ scheinen: Der Körper der Darstellerin und ihre Interaktion mit den Kollegen geben anscheinend einige zusätzliche Informationen preis. Das ›primitve‹ Spielchen des Clowns mit dem Mikrophon führt dazu, dass Terry um ihre Redezeit, ihre Hörbarkeit und sogar um ihre Würde kämpfen muss. Zu-
23 Die Metapher von »Hinterbühnen« und »Nebenschauplätzen« nutzt Erving Goffman in The Presentation of Self in Everyday Life, um zu analysieren, wie gesellschaftsfähige Subjekte situativ hergestellt werden. Mir scheint sie an dieser Stelle funktional, um zu besprechen wie Forced Entertainment ihre Darsteller-Figuren mit subjekthaften Zügen ausstatten.
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nächst, ganz technisch gesprochen und auf den zeitlichen Ablauf der Sequenz bezogen, wird die Vorstellung der Darstellerin als ›Terry mit der-und-derWirkungsabsicht‹ durch die Interaktion mit dem Clown gestört und verzögert. Noch bevor Terry überhaupt zu sprechen begonnen hat, wird sie auf diese Weise vorgeführt als Person, die noch nicht in die Rolle einer Sprecherin vor Publikum geschlüpft ist, sondern die noch mit der Vorbereitung dieses Sprechens beschäftigt ist. Das ›Sich-Vorstellen‹ wird damit erkennbar als kleine eigenständige Inszenierungsarbeit. Der Blick der Zuschauer scheint aber sogar noch tiefer dringen zu können: In Anbetracht der sexualisierten Belästigungen Terrys durch den Clown verwundert es nicht, dass die Darstellerin kurz zögert, bevor sie das als ›Penis‹ umkodierte Mikrophon an sich bringt. Auch scheint Terry jede körperliche Berührung mit dem Clown und dem Mikrophonkabel zu scheuen. Dennoch spricht sie souverän zum Publikum und erklärt »all dies« ignorieren zu wollen. Anscheinend überspielt Terry also die ›ihr angetane Belästigung‹; das Überspielen verweist seinerseits auf eine Version Terrys, bzw. eine Wirklichkeitsebene ihrer sich aufschichtenden Subjektivität, die noch ›innerlicher‹ wirkt als die beiden zuvor beschriebenen. Hier könnte man den Eindruck erhalten, einen Blick auf einen Schauplatz zu erhaschen, auf dem Terry Ekel oder Scham empfindet. Ein zusätzliches Niveau solcher sichtbar gemachter ›Privatheit‹ könnten Zuschauer zu sehen meinen, wenn Terry ihre Handflächen gut sichtbar an ihrem Kleid trocken reibt, und damit auf die konkrete Anwesenheit ihres Körpers in einer unangenehmen Situation und in der Scheinwerfer-Hitze verweist. Werden die Zuschauer dieser kurzen Sequenz also insgesamt schon aufgefordert, einer angeblich privaten Äußerung von Darstellern über deren Wirkungsabsichten zu lauschen, erhalten sie darüber hinaus zahlreiche Informationen zu einem angeblichen subjektiven Innenleben der Darstellerin Terry. Der Zuschauerblick kann hier, so scheint es, ungehindert vordringen, er schraubt sich tiefer und tiefer in Terrys Privatestes, blickt auf die Anstrengungen ihrer Selbst-Inszenierung, auf ihre Beschämbarkeit, auf das Schwitzen ihrer Handflächen. So etabliert sich nicht nur eine Bühne-auf-der-Bühne Situation, sondern es scheinen zahlreiche Realitätsebenen übereinander geschichtet. Ich möchte nun auf das fokussieren, was Terry sagt; dafür gebe ich die sprachlichen Äußerungen der Sequenz, um ihrer Leserlichkeit willen, noch einmal ohne szenische Beschreibung, dafür mit einigen typographischen Markierungen wieder: 1 2 3 4 5 6
Hello. Uhm. I’m Terry. (3s) ...hhh... (5s) Hum. going to ignore that. uhm. hh (4s) I don’t know what to say (7s) I hope when you (.) look at me you think I look like a real person (6s) Doing (.) real things (5s)
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I hope you think (2s) no one’s written HER lines for her ... (3s) No one’s told HER (.) how to act.(6s) I know! (.) I hope when you look at me you think: SHE’s not a professional! (2 s) She’s certainly not doing it for the money! (2s) She’d be doing it even if the money was (.) a little bit less (2s) or-even if there was no money at-all, even if there was nobody watching at-all, she would still be doing it because she IS what she IS (2s) She is really (.) really (.) living-it.
Durchsucht man Terrys Äußerung, nach linguistischen ›Ankern‹, die das Gesagte an die Äußerungssituation binden, fallen dabei zunächst die Personalpronomen in der ersten Person singular (also das »I« und das »me«) sowie deren grammatische Entsprechungen im Verb auf.24 Offensichtlich spricht hier ein »Ich« von sich, es werden Informationen zu einem zugehörigen ›Selbst‹ gegeben. Ausgedrückt werden Wünsche bzw. Hoffnungen dieses »Ich«, die von einem nicht einsehbaren Innenleben eines Subjekts sprechen, das sich intentional mitteilt (vgl. Zeilen 1-7 und 9); diese discours-artige Sprechweise entspricht insofern ganz dem oben besprochenen ›Hauptschauplatz des Geschehens‹ – die situativ anwesende Sprecherin äußert sich zu ihren Wirkungsabsichten. Hat der Zuschauer schon durch die beschriebenen Körper- und Interaktionspraktiken Terrys einen tiefen Einblick in ihre angebliche Subjektivität erhalten, wird dieser mögliche Eindruck hier noch weiter bestätigt, Terry ebnet offenbar auch in ihrer Äußerung den Weg in ihr Inneres. Darüber hinaus fällt aber auf, dass es noch eine zweite, völlig anders strukturierte Art und Weise gibt, wie in Terrys Äußerung auf das ›Selbst‹ der Sprecherin verwiesen wird: Denn Terrys angekündigte Darstellungsarbeit soll nicht etwa in einer von ihr unterscheidbaren Rollenfigur kulminieren, vielmehr will sie eine besonders ›wirkliche‹ Version ihrer Selbst spielen. Diese zweite ›Selbst-Figur‹ Terrys ist grammatisch in der dritten Person artikuliert (z.B. »She is what she is«, Zeile 16. Entsprechende Textstellen wurden im obigen Transkript kursiv markiert). In Terrys kurzem Vorstellungstext tritt also neben das aktuelle, sprechende Subjekt, das sich selbst mit »ich« bezeichnet, noch ein zweites, zukünftiges, derzeit noch virtuelles ›Selbst‹. Dabei lässt sich im sprachlichen Aufruf beider Selbst-Versionen Terrys ein klarer zeitlicher Verlauf nachzeichnen, der im obigen Transkript visuell nachvollziehbar ist: Während in den Zeilen 1 bis 9 ausschließlich das von sich in der ersten
24 Also nach den Momenten der Äußerung, die auf die Äußerungssituation verweisen; vgl. die Besprechung zu Emile Benvenistes diskurs-pragmatischen Äußerungs-Stilen discours und histoire unter IV.3.
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Person sprechende Selbst präsent ist, kommt in den Zeilen 9 bis 17 nur noch das potentielle, in der dritten Person behandelte Selbst zur Sprache, es wird eine – rein sprachliche – Verwandlung vom momentan sprechenden Selbst in das zukünftige Selbst vorgeführt. Konnte die Aufmerksamkeit der Zuschauer sich zunächst tief in Terry hineinversenken, und dabei eine ihrerseits schon ganz ›wirklich wirkende‹ Subjektivierung wahrnehmen, wird nun auf eine zukünftige Situation verwiesen, auf eine noch nicht verwirklichte ›Terry‹, die aber noch größere Wirklichkeitseffekte verspricht. Damit spricht Terrys Ansprache an ihr Publikum genau das aus, was die Sequenz zugleich erlebbar macht: Denn es werden Wirklichkeitseffekte vorgeführt, die es Zuschauern ermöglichen zu denken »She is really really living it!« – z.B. indem, wie beschrieben, auf den konkreten Leib der Darstellerin verwiesen wird. Das ›Hin und Her‹ der hier inszenierten Aufmerksamkeits-Bewegungen, das Spiel, auf das Zuschauer sich hier einlassen können, gewinnt insofern eine fast erotische Intensität. Dabei widerspricht allerdings die sprachlich vorgeführte Theaterverwandlung allgemein bekannten Ideen zur Verwandlung auf dem Theater, sie wirkt sogar paradox. Die angekündigte Rolle, die Terry in der Aufführung spielen möchte besteht in einer ›wirklicheren‹ Version ihrer selbst – was umgekehrt bedeutet, dass die momentan sprechenden Version Terrys als ›unwirklich‹ bzw. unwirklicher gekennzeichnet wird. Die angekündigte (und schon halb erlebte) wundersame Theaterverwandlung wird also, kaum aufgerufen, schon wieder zum Scheitern verurteilt, der erotisch animierte Zuschauerblick wird abgewiesen, die Situation lässt ihn verstrickt ins Paradox hinter sich zurück. Während die Sequenz zunächst ein immer intensiveres Eindringen zuschauender Aufmerksamkeit in Terrys Innenleben möglich machte, führt paradoxe Verstrickung nun zu einem ›Stolpern‹ und damit zum Auffälligwerden der zugehörigen Zuschaueraktivität: Terrys Sprechen führt den zugleich erst geweckten Appetit nach Authentizität vor. Schien das Zuschauerinteresse zunächst mit Leichtigkeit in die tiefsten Schichten einer subjekthaften Terry vorzudringen, wirkt diese Figur nun immer unergründlicher, verschlossen, opak. Was zunächst als Freizügigkeit mit Informationen zu einem ›Innersten‹ erschien, erweist sich bald als Verwirrspiel, der Zuschauer wird ins Paradox geführt wie in ein Spiegelkabinett, das nicht mehr zur Ein-Sicht sondern nurmehr zu verwirrenden Reflexionen führt. Besonders deutlich wird dieses Moment des paradoxen Stolperns in der Doppeldeutigkeit, die in Terrys Rede von der »Professionellen« (Zeile 10) entsteht: Terry erzählt uns, wir wären bald so begeistert und überzeugt von ihrer Darstellung, dass wir denken würden »She is not a professional« – eine Ausdrucksweise, die im Englischen ebenso wie im Deutschen die Assoziation zur Prostitution weckt. Diese Doppeldeutigkeit ruft ein Klischee zur moralischen Anrüchigkeit des Schauspiels in Erinnerung: »Das Sich-Exponieren, die öffentliche Dienstleistung mit dem eigenen Körper, die erotische [...] Atmosphäre des Theaters über-
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haupt [...] werden nicht nur abfällig bewertet, sondern vom Publikum noch unterstützt und verstärkt durch seine Bewunderung[.]« (Rapp 1981: 226) Die hochkonzentrierte Steigerung möglicher Innerlichkeit, das schrittweise Enthüllen immer neuer Schichten angeblicher Subjektivität Terrys und das plötzliche Scheitern weiterer Annäherung im Paradox expliziert also, dass das Zuschauen in die vorgeführte Szene immer schon eingerechnet war. Die Suche nach authentischer Darstellung, nach Wirklichkeitseffekten, die Lust auf einen Blick ›hinter die Kulissen‹ ins Innenleben eines ›wirklichen‹ Subjekts wird schließlich – in der Assoziation der Theaterdienstleistung mit der Prostitution – als konsumistischer Voyeurismus reflektierbar. Es lässt sich also zusammenfassen, dass Zuschauer in der kurzen Sequenz von Terrys Vorstellung auf zwei höchst unterschiedliche Weisen angesprochen werden; zunächst bietet die Sequenz die Möglichkeit, sich in eine voyeuristische Haltung versetzen zu lassen, neugierig auf die Hinterbühnen von Terrys Selbstdarstellung zu blicken und interessiert Wirklichkeitseffekte zu erleben. Gleich darauf aber wird diese konsumorientierte Aktivität entlarvt, sogar zurückgewiesen: die Lust an authentischer Begegnung wird vorgeführt. Schließlich aber lässt sich noch ein dritter Aspekt in Terrys Ansprache an die Zuschauer herausarbeiten, der in eine vollkommen andere Richtung weist: Denn neben den beiden Selbstversionen Terrys taucht in der Text-Sequenz noch eine dritte Figur auf: »You«. In der Aufführungssituation wird diese Figur ohne weitere Deutungsprobleme mit den Zuhörern identifiziert. Es versteht sich ›ganz von selbst‹, dass mit »You« das Publikum gemeint ist; »You« steht also gewissermaßen im Vokativ. Diese unproblematische Identifikation sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Figur »You« im Text eine eigene Rolle zugesprochen wird: Die Figur »You« spricht, bzw. denkt laut: »You« ist es, der/die über Terry denkt/denken: »She is what she is!... She is really living it!« (Zeilen 16 und 17) »You« wird also in Terrys Aussage zu weit mehr als einem baren Konsumenten erklärt; »You« erscheint vielmehr als gleichberechtigter Komplize im gesprochenen (und versprochenen) Spiel, denn »You« ist ganz augenscheinlich das Gegenüber, das die Aufführung erst entstehen lässt. Doch ist ist »You« dabei tatsächlich noch als Publikumsansprache, als Vokativ zu verstehen? Irene Kacandes beschreibt in ihrem Aufsatz Are You in the Text? die Effekte von »Second Person Fiction« – von Texten also, die sich nicht nur an ein »You« richten sondern dieses »You« auch als Protagonist nutzen. Kacandes entwickelt dabei das Konzept des literary performative: »Furthermore, were the reader to peruse the words ,you are reading this story‹ or ,you are proceeding through this sentence nicely‹, the narrator would be delivering a message that is applicable in fact to the current reader of these words, as well as to the narratee or whatever
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encoded reader one posits. Such statements in narrative fiction can be related to the type of utterance J.L. Austin designates ,performative‹.« (Kacandes 1993: 140)
Austins Formel vom performativen Äußern wird durch Kacandes also zum performativen Rezipieren umgebaut. Während bei Austins performativem Sprechen der Sprecher etwas Neues in die Welt hineinspricht, etwas setzt, dabei also äußerst aktiv ist, wird der Rezipient im Falle »literarischer Performative« zum Objekt der Erzählung; der Spieß wird gewissermaßen umgedreht: nicht mehr der Leser liest den Text, sondern der Text schreibt den Leser. Übersetzt vom literarischen Beispiel auf Figur Terrys Äußerung in der Aufführungssituation, würde dies bedeuten, dass die so komplizenhaft aktive Figur »You« eine fiktive Größe darstellt, herbeigesprochen wird, ohne mit den anwesenden Zuschauern zur Deckung zu gelangen. Möglicherweise, so könnten diese Zuschauer nun denken, bezieht sich auch das erotische Spiel von Annäherung und Zurückweisung gar nicht auf die anwesenden Zuschauer, sondern auf die fiktive »You«-Figur, die in Terrys Text konstruiert wird. Diese Interpretation könnte umso näher liegen, zieht man in Betracht, dass Terrys Äußerung die letzte in einer Reihe von insgesamt zehn Vorstellungen ist, die alle in ähnlichem Duktus gesprochen wurden; das Publikum hat zu diesem Zeitpunkt also schon eine ganze Reihe von »You«-Versionen hinter sich gebracht. Es ist insofern nicht gesagt, dass »You« überhaupt noch als Vokativ wahrgenommen wird – und nicht vielmehr als Aufruf immer neuer Spielfiguren, im Sinne von Versionen unterschiedlicher Zuschauerrollen. Terrys Selbstversionen zeigen sich in der beschriebenen Sequenz also gleichsam in einem Kaleidoskop alternativer Interpretationsmöglichkeiten und deren Negationen befangen. Terrys unterschiedliche Subjektivierungsstrategien werden während der analysierten Vorstellungssequenz im vollen Wortsinn vorgeführt, dasselbe geschieht mit dem Rezipienten, der sich durch sie verführen lässt. In der Produktion einer zugleich vokativen wie fiktiven Figur »You« bietet die untersuchte Sequenz aber noch weitere Möglichkeiten an, wie Zuschauer sich zum vorgeführten Geschehen positionieren können. Die zum Einsatz gelangenden »literarische Performative« betonen eine Passivität des Gegenübers »You«, indem sich das »You« als durch den Text gesprochene, in Existenz gerufene Figur erweist. Derart verwirklicht und radikalisiert wird die Idee von der Passivität der Rezipienten-Figur im Modell der Kunstrezeption jedoch wieder ad absurdum geführt, bleibt es doch dem tatsächlichen Rezipienten in der Theatersituation anheimgestellt, ob er sich die von Terry gesprochene Rolle, oder eine der vielen übrigen sich anbietenden, aneignen möchte. Die Involvierung als Gegenüber der Vorstellung präsentiert sich also ihrerseits als spielerisch-fiktive Position, die durch konkrete Zuschauer angenommen oder auf Distanz gehalten werden kann. Die beschriebene Konstellation könnte somit als eine Gegenüberstellung bodenlos mehrbödiger Subjektfiguren beschrieben werden:
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Die flimmernde Ambiguität der Subjektivität, die in Figuren wie Terry vorgeführt wird, erhält identifikatorische Relevanz für diejenigen, die sich vom Pronomen »You« angesprochen fühlen. b) Panoramen-Publikum: Zum Entstehen einer Zuschauergruppe Wie erwähnt tauchen in beiden Inszenierungen lange Erzählungen auf: Dem Publikum wird in Bloody Mess zuerst die »story of the beginning of the world« und später die Geschichte vom Ende der Welt erzählt, in The World in Pictures gar die ganze »history of mankind«. Wie sich diese Äußerungsform auf die Genese von Erzähler-Figuren auswirkt, wurde unter IV.3 behandelt, Beispiel wurde dabei eine Sequenz aus der »history of mankind« in The World in Pictures.25 An dieser Stelle möchte ich die »großen Erzählungen« der Inszenierungen nach der Zuhörerschaft befragen, die sie ansprechen, benötigen und vielleicht sogar erst produzieren. Zu diesem Zweck möchte ich beide »Storys« kurz beschreibend in Erinnerung rufen, möchte also zusammenfassen, welche Inhalte zur Erzählung gelangen, und wie Darsteller-Figuren ihr Erzählen einführen und aufrechterhalten: Während Bloody Mess erzählt Clown John dem Publikum die Storys vom Beginn und vom Ende der Welt; die Story vom Anfang der Welt versieht er dabei mit folgender Einleitung: »It’s not actually a story. It is based on hard scientific facts.« Auf die angebliche Wissenschaftlichkeit seiner Erzählungen verweist er auch einige Sätze später, wenn er sagt: »In the beginning there was something, scientists, friends of mine, have explained to me as ›potentiality‹«. Während beider Erzählphasen werden Johns Storys aber nicht nur narrativ ins Leben gerufen, sie werden bebildert (und ›gekapert‹) durch zahlreiche angebliche Illustrations-Anstrengungen der Darstellerkollegen Johns. Beide Erzählungen finden kein Ende, bzw. enden in ›wüstem Durcheinander‹, Tänzen und lauten Musikeinspielungen. Im Falle seiner ersten Erzählung versucht John, offenbar trotzig, seine Nummer zu retten und beginnt damit, die Geschichte noch einmal mit den selben Worten von vorne zu erzählen. Dieser angebliche Rettungsversuch geht in einer lauten Musikeinspielung unter, schließlich zieht John sich zurück. Die zweite Erzählung versucht John, anscheinend unter Aufbietung allerletzter Kraft, in einer Verabschiedung des Publikums kulminieren zu lassen, was allerdings seine Darstellerkollegen nicht befriedigt, die wiederum die Szene ›übernehmen‹. Inhaltlich thematisieren beide Geschichten jeweils einen ›großen Knall‹ – die erste spricht vom Urknall, der plötzlichen Existenz des Alls und der Erde; sehr viel weiter gelangt die Erzählung, aufgrund der geschilderten Störun-
25 Eine ausführliche Analyse der Erzählungen in The World in Pictures findet sich auch in meinem Aufsatz The World in Pictures – Wissen im Spiel (Husel 2012a).
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gen allerdings nicht. Die zweite Story erzählt relativ detailliert vom Zusammentreffen des Planeten Erde mit einem gigantischen Kometen, vom Zerfall der Erde und der Zerstörung allen Lebens – und gibt so Raum für allerlei getanzte und zerstörungswütige Bebilderungsarbeit. Während The World in Pictures wird dem Publikum die »history of mankind« erzählt – in voller Länge, »from cave to shopping mall.«26 Die erste Darstellung urmenschlichen Lebens im Stück besteht in einer pantomimischen Szene mit fellgekleideten Höhlenmenschen – einer nachgespielten Filmszene, was zuvor explizit erwähnt wird; Grundlage ist das B-Movie One Million Years BC27. Erst danach stellt Erzählerin Terry das Vorhaben der Aufführung vor: »Hello, Hi, my name is Terry and... um... I’m gonna be doing the... the talking bit’ tonight. I’m going to be talking you through the story of mankind... and,... um... everybody else here, as you probably already gathered – everybody else here is going to be physically bringing the story to life...(!) Bringing the story to life before your very... eyes.« Dem folgt tatsächlich die angekündigte Erzählung, die von den pantomimischen Bemühungen neun weiterer Darsteller-Figuren in lebende Bilder gegossen wird. Auch hier verselbständigt sich die szenische Illustration zunehmend: Die als ›Höhlenmenschen‹ verkleideten Darsteller-Figuren versorgen sich dafür aus dem Off mit immer neuen Requisiten und stellen klischeehafte Szenen menschlichen Lebens der verschiedenen Epochen pantomimisch dar. Diese Darstellungen geraten jedoch immer wieder ins Hintertreffen und machen exzessiv dargestellten Rivalitäten Platz, oder sie weichen der Beschäftigung mit plötzlich ins Spiel getragenen Gegenständen. Die erzählte »history« und ihre Illustration divergieren unterdessen zunehmend. Die Erzählung der »history of mankind« endet nach kurzer Hetze durch das einundzwanzigste Jahrhundert (»People lived thru this stuff didn’t they? We can afford to go quickly«) recht unspektakulär, indem Erzählerin Terry und ein Kollege dem Publikum, sichtlich erschöpft, mit einem Glas Bier zuprosten. In beiden Inszenierungen entwickelt sich also von Anfang an zwischen den verbalisierten Geschichten und deren spielerischen Illustrationen eine breite Kluft. Auf
26 Aus der Beschreibung der Inszenierung auf der Homepage der Gruppe, vgl. http://www.forcedentertainment.com/page/144/The-World-in-Pictures/102 (zuletzt geprüft am 01.04.2014). 27 In diesem Film kämpfen ›eine Millionen Jahre vor unserer Zeit‹ animalisch unartikulierte Blondinen in Fell-Bikinis gegen Dinosaurier; diese ›Urzeitmonster‹ werden von vergrößerten Hausschildkröten, Eidechsen und ähnlichem Getier dargestellt. Die Auswahl des Films
und
die
so
unbeholfene
erscheinende
Darstellungsweise
des
Forced-
Entertainment’schen Bebilderungsensembles passen also sehr gut zusammen (vgl. Chaffey 1966).
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diese Weise wirken die »großen Erzählungen« der Natur- und Menschheitsgeschichte in vielerlei Hinsicht ironisiert: Den Mittelpunkt der Bühne, den größten Teil der Aufführungszeit und damit die meiste Aufmerksamkeit besetzen in beiden Fällen all jene Darstellungs-Aktivitäten, die im Falle einer ›ernst gemeinten‹ geschichtlichen (oder naturwissenschaftlichen) Erzählung hinter der Oberfläche zurücktreten müssten. Ich möchte Forced Entertainments »große Erzählungen« entsprechend als ironische Panoramen der großen natur- und weltgeschichtlichen Erzählungen beschreiben.28 Ich beziehe mich dabei in meiner Begriffswahl nicht nur auf die »großen Erzählungen« Lyotards sondern vor allem auf den Begriff des Panoramas, wie ihn Bruno Latour in Paris ville invisible einführt und in Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft weiter entwickelte (vgl. Latour 2006 und 2007). Latour erinnert an den Ursprung des Kunstwortes »Panorama« als einem Begriff für zylindrisch in einen Raum projizierte oder tapezierte Abbildungen z.B. von Stadtoder Bergumgebungen, wie sie im 19. Jahrhundert als Jahrmarktsbelustigung beliebt waren. Sie sollten, zum Teil ergänzt mit dreidimensionalen Objekten im Vordergrund, größtmögliche Naturtreue bei maximalem Erleben für ihr Publikum herstellen. Mit der Metapher vom begehbaren Panorama warnt Latour, ähnlich wie Lyotard in seiner Rede von den »großen Erzählungen, vor der Verführungskraft großer Zusammenhänge, die kohärent, offensichtlich und folgerichtig erscheinen: »Wie die Etymologie nahe legt, sehen Panoramen [...] alles. Doch sie sehen auch nichts, denn sie zeigen bloß ein Bild, das auf die dünne Wand eines Raums gemalt (oder projiziert) wurde, der nach außen hin völlig abgeschottet ist.« (Latour 2007: 323) Die Metapher vom Panorama erinnert, mehr noch als die der »großen Erzählungen«, an die reelle soziale und materielle Verfasstheit aller Darstellungen von Weltwissen, und sie erlaubt, den Zusammenhang zwischen der Darstellung des ›großen Ganzen‹ und den zugehörigen betrachtenden Standpunkten als wechselseitig reaktiv zu beschreiben; denn panoramische Darstellung verlangt von ihrem Rezipienten, einen Standpunkt im Innern des Panoramas einzunehmen: »[I]f we can see everything from all sides it’s because we’re inside a room in which the illusion
28 Lyotard nutzt das Konzept der »großen Erzählungen« um Darstellungen zeit- und naturgeschichtlichen Weltwissens zu relativieren bzw. zu kritisieren; er betont z.B., dass Geschichtsschreibung als ein Zwitterwesen zwischen wissenschaftlicher Weltauslegung und Narration gelten könne, im selben Kontext nennt er die (natur-) wissenschaftliche Erzählung der Kosmogenese: »Die Erzählung des Historikers ist ungefähr den gleichen Regeln der Etablierung von Wirklichkeit unterworfen wie die des Physikers. Aber ,die Geschichte‹ ist eine Erzählung, die darüber hinaus beansprucht, Wissenschaft zu sein und nicht bloß ein Roman. Demgegenüber tritt die wissenschaftliche Theorie im Prinzip nicht mit dem Anspruch auf, narrativ zu sein (wenngleich die zeitgenössische Astrophysik gerne die Geschichte des Kosmos seit dem Big Bang erzählt).« (Lyotard 2004: 51).
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is mastered« (Latour/Hermant 2006: 4).29 Panoramen liefern also, so Latour, eingängige und gefällige Konstruktion von Offensichtlichkeit, Folgerichtigkeit und Geschlossenheit eines zeitgenössischen Wissens um den Aufbau der Welt. Betrachtet man nun die ›Panoramen‹ die Forced Entertainment in ihren ›großen Erzählungen‹ während Bloody Mess und The World in Pictures abliefern, so fällt zunächst auf, dass in diesen gerade ihre Brüchigkeit zelebriert wird, es gelangen die Inkohärenzen, und der konstruierte, eklektizistische Status der illustrierten Naturgeschichte und der »history of mankind« auf die Bühne. Während ›ernsthafte‹ Panoramen die eigene Darstellungsarbeit und ihre zugehörige Materialität zu Gunsten einer glatten Oberfläche, einer kohärenten, lückenlosen Darstellung dissimulieren, verweisen die Darstellungspraktiken Forced Entertainments vehement auf die Möglichkeitsumstände ihrer »Panoramen«, sie legen – bildlich gesprochen – deren Hinterbühnen, ihre Sperrholz- und Papp-Gerüste frei. Dennoch fällt es der Zuschauerin erstaunlich leicht, den »Storys« zu folgen: Obwohl in beiden Inszenierungen so viel illustrierende Arbeit daneben zu gehen scheint, und obgleich die Erzählerfiguren, John in Bloody Mess und Terry in The World in Pictures, mit zahlreichen Wissenslücken und Ungenauigkeiten und zudem mit den Zumutungen ihrer Kollegen kämpfen müssen, erschließt sich der Inhalt der erzählten »Storys« doch ohne jede Verständnisproblematik. Dieser Umstand verweist auf die Tatsache, dass die aufgerufenen »großen Erzählungen« offenbar nur allzu gut bekannt sind: Die Zuschauer und Zuhörer kennen ihre Inhalte in- und auswendig, so das selbst die albernsten Darstellungsmittel, die krudesten und ärmlichsten Verweise dieses Weltwissen abzurufen vermögen: die Geschichte vom Big Bang ist ebenso Allgemeingut wie der in The World in Pictures aufgeführte »main thrust of history« (vgl. Forced Entertainment 2006: 01.31.35).30 29 Die Seitenangabe bezieht sich auf die englische Übersetzung des Textes; dieser ist u.a. auf der Homepage des Autors frei verfügbar. Vgl.: http://www.bruno-latour.fr/ virtual/PARIS-INVISIBLE-GB.pdf (zuletzt geprüft am 01.04.2014). 30 Anders als der Erzählungen der Menschheitsgeschichte in The World in Pictures steht der Geschichte des Urknalls in Bloody Mess eine Story vom Weltende gegenüber: Nachdem es sich bei dieser um ein Zukunftsszenario (und damit nicht um »hard scientific facts«) handelt, kann hier auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Erzählung auf im Publikum geteiltes Faktenwissen rekurriert wird. Allerdings sind die Details zum Meteoriteneinschlag, der in dieser Geschichte geschildert wird, eng an Katastrophenszenarien angelehnt, wie sie in zahlreichen Filmen, z.B. in Deep Impact (1998) gezeigt werden; insofern verweist diese Erzählung auf einen ebenfalls kollektiv geteilten Schatz von DarstellungsWissen: Die »story of the end of the world« erinnert daran, dass es nicht nur geschichtliche und naturwissenschaftliche Fakten sind, die Wahrnehmungsgemeinschaften verbinden.
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Forced Entertainments ironische »Panoramen« produzieren auf diese Weise eine Publikumsposition, die sich durch zweierlei reflexive Perspektiven auszeichnet: Zum einen lassen sie für ihr Publikum erlebbar werden, wie viel praktische Arbeit in die Darstellung kohärenter Zusammenhänge fließen muss, wie viel Dissimulation also in den ›ernsthaften‹ panoramenhaften Darstellungen von Weltwissen, die uns tagtäglich begegnen, am Werk ist. Zum anderen fällt Zuschauern aber eventuell auch auf, wie viel ›Panoramen-Wissen‹ in ihr eigenes Denken integriert ist, mit welcher Selbstverständlichkeit alltäglich verbreitete Darstellungen ins eigene Imaginieren diffundiert sind. Das gemeinsame Lachen über wie zufällig entstehende Bilder (Richard mit einer Krone aus Plastikfrüchten wird für Sekunden zum Gekreuzigten) erzählt den Publikumsmitgliedern dabei Moment für Moment, dass auch in den Köpfen der anderen Zuschauer das gleiche – oder zumindest sehr ähnliches – Weltwissen vorhanden ist.31 Auf diese Weise wird auf die wechselseitige Abhängigkeit von »Panorama« und Publikum verwiesen: Ein Panorama benötigt ein Publikum, an das es sich richten kann, ein Publikum, das ›mitspielt‹. Das Mitspielen des Publikums, sein Einbringen kollektiven Vorwissens, erfährt in Forced Entertainments brüchigen Panoramen eine deutliche Betonung, es wird ästhetisiert: Statt eines Blicks auf das ›Wissen unserer Zeit‹, wie es die Panoramen des 19. Jahrhunderts boten, erlauben die Panoramen in Forced Entertainments Inszenierungen ihrem Publikum also die ästhetische Erfahrung eines viel elementareren, praktischen Wissens: eines Wissens um die materielle wie soziale Konstruktion allgemeiner Wissensschätze. c) Youfiction Abschließend möchte ich eine Form der Publikumsansprache untersuchen, die sowohl in Bloody Mess als auch in The World in Pictures gehäuft auftritt: lange, erzählerische Monologe, in denen »You« nicht nur Adressat, sondern zugleich auch Hauptfigur der Erzählung ist. Verglichen mit anderen Formen der Publikumsansprache in Theatersituationen wirkt diese Redeweise, die ich hier ›Youfiction‹ nennen möchte, ungewöhnlich narrativ;32 doch auch im Horizont anderer erzählerischer Formen nimmt sie eine Sonderstellung ein, wie im Kontext der Publikumsansprache Terrys in Bloody Mess schon kurz angesprochen wurde. Anhand zweier Beispiele möchte ich besprechen, inwiefern Monologe in ›Youfiction‹ die ›PublikumsRolle(n)‹ der Aufführungssituation verändern (bzw. herausfordern). Erstes Beispiel sollen die ›erotischen Monologe‹ Claires werden, die in Bloody Mess relativ zu Be31 Zu Gelächter im Publikum und der damit verbundenen gegenseitigen Rückmeldung siehe ausführlich Unterpunkt 4. 32 Der narratologische Fachbegriff für diese Erzählform lautet »second person fiction« oder »second person narration« (vgl. z.B. Kacandes 1993 und Fludernik 1993).
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ginn und zum Ende der Aufführung stattfinden, und dabei jeweils spiegelbildlich mit den Erzählungen vom Beginn und vom Ende der Welt korrespondieren.33 Ich füge im Folgenden eine Transkription des ersten Monologs ein; soweit für das Verständnis nötig, wurden weitere Bühnenhandlungen kursiv wiedergegeben. Eine laute Musikeinspielung, Speedking, geht zu Ende; die Darsteller-Figuren beenden ihre Tänze; Figur Cathy beginnt, wie schon einige Minuten zuvor, sich lautstark über die eben gezeigte Szene zu mokieren; ›der Gorilla‹, der sich während Speedking exzessiv um sich selbst gedreht hat, schwankt und tappst unterdessen schwindelig über die Bühne – was das Publikum mit lautem Gelächter honoriert. Cathy versucht weiterhin, sich Gehör zu verschaffen, wird aber endgültig unterbrochen, wenn ›der Gorilla‹ sich plötzlich in Claire verwandelt, indem diese, weiter schankend, den Kopf des Kostüms abnimmt. Claire: (stark außer Atem): Cathy... Cathy... CATHY!!... can I jus’ in... hhh interrupt you... hhh... for one minute... PLEASE! (Claire streicht sich die feuchten Haare aus der Stirn; immer noch außer Atem wendet sie ich zum Publikum.) I hope you’re... hh... I hope you’re all thinking about your... hhh... naked body... next to my naked body... hh... (Großes Gelächter aus dem Publikum. Claire bleibt ernst.)... and... hh... the pulse of my blood and... my skin... and the heat of me... hh... (Das Publikum hat sich beruhigt und lauscht nun offenbar interessiert; Claires keuchendes Sprechen passt gut zum Thema.) I hope you are thinking about my... hh... mouth looking for your mouth, my mouth... hh, my mouth on your mouth, my lips on your neck, my... hh... teeth just... grazing your shoulder... hhh... I hope you’re thinking about that. I hope you can imagine my... my arms round your neck... my hands on your back, the small of your back, my hand between your legs... hh... hh... I hope you can imagine what it might be like to feel my... h... breast... in your mouth... hhh... to feel my breast, filling your mouth... I hope you’re thinking about that. (Wenige vereinzelte Lacher im Publikum) I hope you are thinking about you fucking me... and me, fucking you. I hope you’re thinking about (Aus dem Hintergrund tönt ein lautes Hupen, anscheinend ›versehentlich‹ von Clown Bruno ausgelöst) Bruno: »Sorry!« (intensives Gelächter im Publikum; Claire spricht unbeieindruckt weiter, dabei so ernst, dass sie fast traurig wirkt. Dem folgt erneut Stille im Publikum ) I hope you can imagine what it might be like to feel my... my hair... my hair falling across your face... or to feel my hair on your stomach... what it might be like to have your hands on my waist... my hips... my hips pushing towards you. I hope you’re thinking about... your cheek on the inside of my thigh... where the skin
33 In der ersten Hälfte der Aufführung wird Claires Monolog formal zur Einleitung von Clown Johns Erzählung vom Anfang, in der zweiten Hälfte folgt er auf dessen Story vom Ende der Welt. Zur Gesamtstruktur der Aufführung vgl. Kapitel III.
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is... It’s really... soft. (Roady Richard schleicht sich von hinten mit einem Mikrophon an Claire an; aber das Kabel ist zu kurz, bzw. zu sorgfältig am Boden verklebt.) I hope you’re thinking about your hands... (Das Publikum lacht über Richard, ohne Claire zu übertönen) on my legs... and my tongue all over you... my tongue finding places on you that make you... shiver! And you’re hands pushing my legs further and further and further apart. And what it’s like, down there... it’s... hot... and wet... and red (Die Roadys zerren hektisch an verschiedenen Kabeln unter dem Pult; einzelne unterdrückte Lacher im Publikum.) and your fingers, just dipping into me... and the light noise that this makes... (Richard reißt eine größere Strecke Gafferband vom Boden ab, um das Mikrophonkabel freizulegen; er produziert ein schmatzendes Geräusch. Das Publikum lacht laut auf.) I hope you think about the taste of me... and the smell of me... (Richard streckt das Mikrophon in Richtung Claire, das Kabel reicht noch immer nicht; Richard macht eine markige Geste Richtung Technikpult.) I hope you are thinking about you, fucking me, and me, fucking you, you fucking me and me fucking you. Just fucking. (Jetzt hat Richard das Kabel losgerissen, er robbt die letzten Zentimeter auf Knien Richtung Claire.) I hope you are thinking about that. (Claire setzt den Gorillakopf wieder auf; genau in diesem Moment reckt Richard triumphierend das Mikrophon, erreicht aber nur noch das Gorillagesicht; enormes Gelächter aus dem Zuschauerraum.) Die Doppelfigur ›Claire/Gorilla‹ wurde in ihrer Kostümpraxis weiter oben ausführlich beschrieben; dabei wurde auch erwähnt, dass Claire sich in der ›Vorstellungsrunde‹ als diejenige präsentiert, der alle erotische Sehnsucht der Zuschauer gebühren solle – um sich dann in einen unförmigen Plüschgorilla zu verkleiden und sich als ebensolcher zu verhalten. Es lässt sich also leicht erklären, warum das Publikum zunächst äußerst amüsiert reagiert, wenn aus dem gerade noch tollpatschig über die Bühne taumelnden Felltier die Darsteller-Figur Claire auftaucht und ›ihrer‹ Hoffnung Ausdruck verleiht, das Publikum würde immer noch an eine erotische Begegnung mit ihr denken. Doch schon Sekunden nach Beginn des folgenden Monologs ist der Witz ausgereizt, statt der Fallhöhe vom Gorilla zu Sprecherin tritt die explizite Schilderung von Erotik in den Fokus der Aufmerksamkeit. Während der allerersten Momente des Monologs lässt sich also noch eine enge Verankerung des Geäußerten in der Äußerungssituation feststellen, im Verlauf der Narration aber geschieht eine fiktionalisierende, ästhetisierende Ablösung der Schilderung aus der Situation: So finden sich im geäußerten Text zwar zahlreiche Verweise auf die sich äußernde Sprecherin (»I«), diese geschehen aber in bei gleichzeitiger Betonung der Fiktionalität des Erzählten: Die immer wieder geäußerte, fast formelhafte Phrase »I hope that you are thinking...« oder »I hope you can imagine...« weist der erzählten erotischen Szene fiktionale Entfernung nicht nur gegenüber der Erzählerin (»I«) zu, sondern produziert auch Entfernung gegenüber
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dem/n Adressaten (»You«); ihnen gegenüber erhält das Erzählte den Status einer Imagination. Insofern entstehen dennoch auch hier »literarische Performative«, denn es ist sehr gut möglich, dass Zuschauer im Zuge der Schilderung eine sexuelle Begegnung zu imaginieren beginnen – und damit genau das tun, was Claires Erzählung vorschlägt. Diese trotz entfernendem Duktus verwirklichte Verwicklung in die Narration wird vermittelt durch das appellative Pronomen »You«, denn »You« ist hier zugleich Adressat und Hauptfigur der Schilderung und kann sich der aufgerufenen Imagination so nur schwer entziehen, wie Irene Kascandes in ihrer Arbeit zu postmoderner Fiktion feststellt: »Use of the second person invites [...] identificatory response – even if it turns out to be an infelicity – because of its appellative power (Kacandes 1993: 141).34 Zuhörer werden also auf äußerst suggestive Weise eingesponnen in eine sinnliche Imagination: Sie spielen, im vollen Wortsinn, die Rolle des Sexualpartners in der Geschichte. Dass eine relativ intensive Involvierung der Zuhörer in die Szene geschieht, dass Publikumsmitglieder sich tatsächlich in inniger sexueller Begegnung mit Claire imaginieren, könnte ablesbar sein an den einzelnen, leicht beschämten Lachern, die in der betrachteten Aufführung gerade von weiblichen Publikumsmitgliedern ausgestoßen wurden, in dem Moment, in dem die geschilderte Begegnung unwiederbringlich und explizit zur Sexszene wird, indem Claire von ihrer Brust im Mund von »You« berichtet (vgl. ausführlich unter Punkt V.4). Dennoch bietet die Inszenierung auch jetzt zahlreiche relativierende Effekte, die die Sequenz mit reflexiven (und hochkomischen) Qualitäten ausstatten. Das Spiel der Roadys mit dem Mikrophon, das sich buchstäblich langsam in den Vordergrund pirscht, inszeniert aufs Neue die Unerreichbarkeit leibhaftiger Vereinigung von Sein und Schein: Das Mikrophon, in beiden untersuchten Inszenierungen Zeichen der Inszeniertheit schlechthin, kommt erst im Vordergrund an, wenn Claires Erzählung beendet ist, ja Claire gar nicht mehr vorhanden ist, vielmehr ein stummer Gorilla an ihrer Stelle steht. So schnell Claire aus dem Plüschanzug aufgetaucht ist verschwindet sie auch wieder und hinterlässt vermutlich nicht nur Roady Richard verzweifelt vor Sehnsucht. In der geschilderten Sequenz (wie schon an anderer Stelle) wird das Mikrophon zudem derb-witzig als Phallus kodiert, hier wird damit die Unerreichbarkeit wahrer Authentizität als erfolgloser Sexualakt lesbarauf diese Weise und ironisiert. Claires zweiter Monolog allerdings schlägt vor, dass ihre Ver34 Kacandes argumentiert dort weiterhin, dass »literarische Performative« in second person fiction sich eigentlich bei genauerem Hinsehen immer als trügerisch erweisen; sie könnten immer nur partiell funktional werden, nachdem das Erzählte und die tatsächliche Handlung des Rezipienten doch nie gänzlich zur Deckung gelangen würden. Dem möchte ich hinzufügen, dass gerade solch teilfunktionale Performative ästhetisch äußerst produktiv werden können, da sie ein Hin- und Herpendeln der Rezeption zwischen Deckung und Widerspruch anregen.
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einigung mit der imaginierten Figur »You« möglicherweise doch erfolgreich war; wie im Folgenden kurz zusammengefasst werden soll: 35 Claire bleibt bis nach Johns »story of the end of the world« verschwunden, statt ihrer marodiert der Gorilla über die Bühne. Bei ihrem zweiten (und letzten) Hervortreten aus dem Kostüm erklärt Claire die sexuelle Begegnung mit »You« für beendet; doch auch jetzt leitet sie, in intensiv-involvierender Narration, eine imaginäre Reise an, die »I« und »You«, diesmal zusammengefasst als »We«, durch die Nacht, durch die Stadt antreten, über die gemeinsam verbrachte Zeit resümierend: »And we would talk about how nobody else knew about this time that we had spent together. No one else knows what we’ve seen, what we’ve ... nobody else knows about this time between us... it’s a secret.« Zu einer imaginären Reise verführt auch der als ›Youfiction‹ abgefasste Monolog Jerrys, der während The World in Pictures ganz zu Beginn der Aufführung zum Einsatz kommt. Figur Jerry wendet sich dabei mit einer weitschweifigen Erzählung an das Publikum. Eine Viertelstunde lang werden die Zuschauer dabei zu Zuhörern gemacht, insofern als während Jerrys Ansprache keinerlei weitere Bühnenhandlung geboten ist. Da Jerrys erster Monolog, ebenso wie die beiden weiteren Hervortritte der Figur, im Verlauf der Inszenierung große Mengen Text auf die Bühne bringen, sollen im Folgenden nur Auszüge aus Jerrys erster Erzählung transkribiert wiedergegeben werden, während der größere Teil der Erzählung zusammengefasst wird. In der dem Monolog vorangehenden Sequenz (vgl. auch IV.2 und IV.4) erteilen die Darstellerkollegen Jerry Ratschläge zu seiner Aufgabe als der Schauspieler; Jerry lässt diese lange Reihe zumeist versteckt aggressiver Zusprüche schweigend über sich ergehen, die Hände in den Hosentaschen. Dennoch wird er für die Zuschauerin als vielschichtiges Darstellersubjekt lesbar. Erst nachdem der letzte Kollege abgegangen und Jerry alleine auf der Bühne zurückgeblieben ist, kommt Bewegung in ihn: Jerry fährt sich durchs Haar, löst die Hände aus den Taschen und zupft an seiner Jeans. Er läuft einige wenige Schritte und nimmt eine Positionierung etwas weiter vorne ein; unterdessen spricht er laut und lebhaft zum Publikum, ohne ein Mikrophon zu nutzen.36 Jerry: »I... I just gonna ignore all that (er macht eine abwinkende Geste in Richtung links hinten, wo die Kollegen abgegangen sind)... Uhm. I would like you to imagine though, if you could (Jetzt hat er anscheinend eine bequeme Sprecher-Position gefunden; locker weitersprechend bleibt er ruhig stehen.) that you’re in... a city. Uhm. It’s not a city that you know very well. Maybe
35 Sprechtext transkribiert nach Forced Entertainment 2004: 02.00.00-02.00.17. 36 Vgl. Forced Entertainment 2006.
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you’ve been there... uhm, like... three or four times before. And you’re uhm, in the centre of the city... and you’re just wandering around... uhm. Let’s say you’re... (Er reibt sein Kinn, scheint kurz nachzudenken.) by, by the station! And uhm, tell’ you what! Let’s.... Let’s say, yeah! Let’s say you just arrived by train! And you’ve got a meeting, in, uhm, about three hours time. Aaand, you decide, that what you gonna do, to kill the time is you just gonna have a little wander’round the city. Yeah? If you can imagine where you are then, you just come out the station. Aand, uhm, the first thing you decide to do is, you want to go to the main shopping street... this, this uhm... is the part of the city you’ve been to before. You know this particular street. So what you gonna do is, go there, to get your bearings. Jerrys Sprechweise ist von Beginn der Erzählung an sehr lebhaft, er begleitet seinen Monolog mit vielen sprechenden Gesten, sein Blick fixiert den Zuschauerraum. Manchmal stottert er ein wenig oder scheint kurz nach passenden Worten zu suchen. Dies lässt die Erzählung, so flüssig sie sich abwickelt, doch immer auch spontan, improvisiert, vielleicht sogar ›authentisch‹ wirken. Insgesamt wirkt Jerry, als würde er einem guten Freund eine lebhafte Anekdote schildern – oder wie ein guter Entertainer, der es schafft, einen solch lebhaften Eindruck zu erwecken. Dennoch wird den Zuschauern vermutlich recht bald klar, dass Jerrys Erzählung viel zu weitschweifig mäandert, um als Anekdote gelten zu können: Während des transkribierten Beginns der Erzählung scheint zunächst noch eine plötzliche Pointe möglich, diese Erwartung wird aber bald schon durch den Fortgang der Erzählung enttäuscht. Denn die geschilderte Reise der Figur »You« führt ohne Höhepunkte weiter und immer weiter, wie im Folgenden zusammengefasst:37 »You« läuft an zahlreichen Details der imaginären Stadt vorbei, die dabei jeweils wirken, als könnten sie in Kürze bedeutsam werden: Von der oben zitierten »main shopping street« führt der Weg zu kleinen Straßen mit netten Cafés; »You« überlegt, dort später einen Kaffee zu trinken (00.08.42), um dann aber weiter zu spazieren und in ruhigere Teile der Stadt zu gelangen. »You« läuft durch Gegenden mit Büros, an Bauarbeiten vorbei, bis in eine Wohngegend mit alten Arbeiterblocks. Inzwischen sind schon mehr als fünf Minuten vergangen, ohne dass etwas Interessantes passiert wäre. (00.10.35). Die Zuschauer (bzw. Zuhörer) konnten sich also inzwischen daran gewöhnen, dass in dieser Geschichte keine schnelle Pointe zu erwarten ist. Dass es dennoch still bleibt im Zuschauerraum, dass das Publikum offenbar äußerst gespannt zuhört, liegt
37 Es wurden im Folgenden Zeitangaben eingefügt, um eine Orientierung über die lange Dauer des Monologs hinweg zu ermöglichen; alle Zeitangaben beziehen sich auf die DVD Forced Entertainment 2006.
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möglicherweise an der suggestiven Kraft, die die hier gebotene ›Youfiction‹ nach und nach erlangt, gesteigert durch die kaum merkliche Vagheit der Erzählung: Die sehr allgemein gehaltenen und doch zahlreichen Details (»shopping street«, »nice cafes« etc.) ermöglichen es jedem einzelnen Zuhörer, seine je eigene Reise imaginativ zu bebildern; schließlich bewegt sich die Erzählung aber doch auf einen Höhepunkt zu, sogar im vollen Wortsinn: In der »Gegend mit den Arbeiter-Wohnblocks« begibt sich »You« schließlich aus purer Neugier in einen Hinterhof und durch eine offen stehende Tür in eines der Häuser hinein, steigt ein hohes Treppenhaus hinauf, nach oben bis auf das Dach (00.12.08). Dort angelangt bemerkt »You« den schönen Ausblick über die Stadt und tritt zur Dachkante, die mit einer niedrigen Mauer abschließt. »You« blickt hinab.38 Jerry: »And while you’re looking down there, you just start to imagine, what... what YOU would look like, down there... if you fell. And you picture yourself, lying there with.... may..maybe a leg at a, a funny angle. And... and as you look down there you begin to..... just really really really try’n to imagine what actually w o u l d happen to your... you know (Er streicht über seinen Bauch und blickt an sich hinab.) body, when you fell down there. And uhm...... you, you seen video footage, of guys dropping melons, and pumpkins and things, of tall buildings. And you know that they, pretty much, just.... uh, um... shatter! Aand, you wonder if that’s what you do?........... (Jerrys Ton wird nachdenklicher, er macht längere Pausen.) And... you think about your limbs... and you wonder.... would they come off?...... And what about your insides? Would your insides.. come out?....... And, you think about the clothes, that you are wearing, and you wonder, what kind of job they would do... in keeping your insides... in. (Etwas leises Lachen aus dem Publikum)... or wether they’d too, just kind of... split... And what that might look like? And you picture yourself lying there, with maybe a pool of blood, spreading beneath you. And... you look to where your head would be, and you know that somehow your brains are supposed to be... grey, so... you imagine them... on the, on the pavement........ And, the m.. m..more you try to imagine what would happen to your body if you fell, the more you then start to wonder what would happen to... you!.... Y-y’know, your ... mind, your consciousness, your... soul!... whatever....... And it strikes you that, yes! You haven’t thought about that kind of things for... for quite some time. When you
38 Sprechtext transkribiert nach Forced Entertainment 2006: 00.14.19-00.19.00. Um einen visuellen Eindruck von Sprechpausen zu vermitteln wurde diese Sekundengenau mit Punkten wiedergegeben, eine Pause von 3 Sekunden beispielsweise mit drei Punkten (...). Beschreibungen von Handlungen die zeitgleich mit dem transkribierten Text stattfanden, sind kursiv und in Klammern wiedergegeben.
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were a student or whatever, you used to talk late into the night about these, these big mysteries, the possibility of... you know, life after death... or: is there a god...! Aaand.......... you realize you haven’t really thought about those kind of things for a while. And then, then it really occurs to you, that you being up here, on this roof, is like the fantastic opportunity, really, to get to the bottom of those big mysteries, once and for all! (Einige wenige schüchterne Lacher aus dem Publikum) And... and that’s really exiting! And, and you think: What’s stopping you?... uhm, don’t know? (skeptisch) Is it your meeting??? And you realize that, that actually, the only thing that iiis stopping you, at this point, is... fear!..... And that really bothers you! Because you don’t like to think of yourself as someone who has lived their life constrained by fear, in that way..... And you look down, and you got all these thoughts going through your head, .... and at a certain point you realise that you’ve already committed yourself... physically, to falling.« Jerrys Stimme ist im Verlauf dieses letzten Teils der Schilderung ruhiger geworden, sie tritt als solche nicht mehr in den Vordergrund der Wahrnehmung, sondern begleitet nur mehr sanft die Imagination. Im weitren Verlauf der Erzählung stürzt »You« in Zeitlupe und unter Todesangst vom Dach, sieht in Erwartung des letzten Augenblicks den Boden näher kommen; da aber verändert sich plötzlich und unerwartet die Sprechweise Jerrys: Nach einem kurzen Zögern, das zunächst wie eine spannungssteigernde Pause wirkt, wendet sich Jerry beschwingt und wieder ganz und gar Entertainer an das Publikum, indem er äußert: »This may sound ridiculous but I’m gonna pause this here«. Gleichzeitig mit dieser Veränderung in Jerrys Duktus und dem unerwarteten Ende der Narration betreten die übrigen Darsteller wieder die Bühne, und Jerry schlüpft, angestrengt Phrasen dreschend, in das Kostüm, das die Kollegen ihm mitbringen (vgl. Kapitel IV.2). Bildhaft gesprochen, hört Jerry also sehr plötzlich damit auf, die Geschichte ›durch sich hindurch fließen‹zu lassen, stattdessen tritt er nun wieder wahrnehmbar hervor als ›Jerry, der Entertainer‹ der sich an ein Theaterpublikum wendet. Jerrys Verschwinden hinter der Erzählung wie auch sein plötzliches Wiederauftauchen zeigt sich auch grammatisch im Text: Zwischen der Aussage ganz zu Beginn seines Monologs: »I gonna ignore all that. I want you to imagine...« und dem geschilderten Moment des veränderten Duktus, »I gonna pause this here«, ist während des gesamten etwa fünfzehnminütigen Monologs nicht ein einziges Mal das Wörtchen »ich« gefallen; die Person des Erzählers hat sich also scheinbar ganz aus dem Monolog ausgeklinkt, sie ist höchstens noch als Verbform oder in einem vagen »wir« vorhanden (z.B. »Tell’ you what!« oder »Let’s say you’re by the station.«). Statt seiner ist »You« in der Erzählung äußerst präsent. Dabei ist der Beginn der geschilderten Reise – ähnlich wie es oben für die erotische Begegnung in Claires ›Youfiction‹ beschrieben werden konnte – als Imagination betont; diese Betonung kommt bei-
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spielsweise zustande, indem Jerry den Anfang der Imagination zwei Mal neu ansetzt. Im Verlauf der Erzählung allerdings tritt die detaillierte Schilderung der Reise der Figur »You« in den Vordergrund; nun werden keine Hinweise mehr auf die Tätigkeit des Imaginierens gegeben. Auf dem Dach angelangt schließlich, wird wieder das Imaginieren »Yous« aufgerufen – nun aber als Imagination in der Imagination: die drastischen Bilder vom zerschmetterten Körper entstehen in der Vorstellung der auf dem Dach stehenden Figur »You«, die ihrerseits als Imagination aufgebaut wurde. Wenn es schließlich heißt: »You realise that you’ve already committed yourself« und der nicht mehr rückgängig zu machende Sturz folgt, realisieren die Zuhörer eventuell, dass auch ihr situatives Eingebunden-Sein in diese Narration nicht mehr rückgängig zu machen ist. Sie haben sich in ihrem Imaginieren von der gebotenen ›Youfiction‹ leiten lassen, als hätte Sprecher Jerry die Figur »You« – und damit die imaginierten Stellvertreter der Zuschauer – gesteuert wie eine Figur in einem Computerspiel. Es lohnt sich, an dieser Stelle einen kurzen Seitenblick auf andere Äußerungsformen zu werfen, die mit einer Hauptperson in der zweiten Person agieren: Neben Kochrezepten und anderen Anleitungen für bestimmte Praktiken (Möbelaufbau, Wegbeschreibung usw.), in denen »Du« bzw. »You« (im Englischen mehr noch als im Deutschen) – äquivalent zu one/man genutzt wird, also auf eine unpersönliche Stellvertreterfigur verweist, sind hier tatsächlich vor allem die Sprechweisen und Textformen zu nennen, die in als adventures angelegten Computerspielen oder Live-Rollenspielen (im Englischen auch LARP, für live action role play) sowie in pen and paper role play games wie Dungeons and Dragons u.ä. zum Einsatz kommen; auch die freien Als-ob Spiele, die viele Kinder sehr mögen, kennen Sprechweisen, die als ›Youfiction‹ funktionieren (»Du bist jetzt der Froschkönig und kommst aus dem Brunnen gehüpft«).39 All diese Sprechweisen oder Textformen leben davon, dass Spieler sich in eine Rolle begeben und den durch diese Rolle mehr oder minder strikt vorgegebenen Handlungsweisen folgen, manchmal rein imaginär, manchmal 39 In gängiger Literatur hingegen ist »Second Person Fiction« ein äußerst seltenes Phänomen, das erst im Zuge postmoderner, experimentierfreudiger Schreibweisen eine gewisse Blüte entwickelt hat (z.B. Italo Calvinos: Wenn ein Reisender in einer Winternacht, vgl. Calvino 2007). Daher finden sich fast ausschließlich in diesem Kontext Analysen zur Ästhetik von ›Youfiction‹, (wie z.B. die erwähnten Aufsätze von Kacandes und Fludernik, beide 1993). Auch von Forced Entertainments Gründungsmiglied Tim Etchells existiert ein Roman, der über weite Strecken in ›Youfiction‹ abgefasst ist, The Broken World: Ein Ich-Erzähler schreibt dort einen »run-through«, eine Gebrauchsanweisung, bzw. einen Führer durch ein imaginäres Computer-Adventure, wobei sich die in ›Youfiction‹ erzählte Spielwelt und die Welt des Icherzählers nach und nach immer mehr durchdringen (vgl. Etchells 2008).
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durch körperliches Ausagieren begleitet. Es entstehen Spielfiguren – flüchtige Konfigurationen, z.B. im Material der Sprache oder des eigenen Körpers (vgl. ausführlich unter Kapitel IV.1 der vorliegenden Arbeit). Computer-Adventures u.ä. nutzen noch eine weitere Möglichkeit, Rollenfiguren zu verwirklichen: Sie machen diese graphisch sichtbar; z.B. können Spieler dann Stellvertreter wie Super Mario durch einen Parcours schicken, oder sich, maskiert als fantastische Figur, in Umgebungen wie Second Life mit anderen Figuren unterhalten. Solche besonders deutlich wahrnehmbaren und längerfristig stabilen Spielfiguren werden im Kontext von Computerspielen auch ›Avatare‹ genannt. Ebenso wie andere Spielfiguren handeln diese stellvertretend für ihre Besitzer, agieren im virtuellen Spielraum und konfrontieren sich dort mit Widrigkeiten und Abenteuern. Im Schutz seines Avatars, relativ konsequenzbefreit, kann der Besitzer sich im ›Alsob-Modus‹ ausprobieren. Insofern ließen sich auch die in ›Youfiction‹ entworfene Figuren Forced Entertainments als ›Avatare‹ bezeichnen – als gut abgrenzbare, längerfristig stabile Spielfiguren, die von ihren Nutzern durch virtuelle Welten gesteuert werden. Vergleicht man das Theater-Spiel mit Rollenspielen und deren computerisierten Vettern, den Adventure-Games, scheinen es zunächst die Darsteller zu sein, die in Rollen schlüpfen um darauf in Konsequenzbefreiung zu handeln; im Zwischenraum von ›Darsteller‹ und ›Rolle‹ entstehen offenbar Figuren, als deren Besitzer – in diesem Modell – zunächst die Darsteller erscheinen. Dies sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die entstehenden Figuren ebenso gut als ›Avatare‹ der Zuschauer beschrieben werden können: Steht es Zuschauern doch frei, Theater-Figuren als Stellvertreter zu nutzen, indem sie sich mit ihnen identifizieren. Aus sicherer Entfernung können diese ›Avatare‹ bei ihren Abenteuern beobachtet werden – ohne dabei durch eigene Leiblichkeit verkörpert werden zu müssen. Im Gegensatz zur Avatar-Nutzung im Computerspiel aber zeichnet sich Identifikation mit Theaterfiguren durch noch intensivere Distanzierung – und damit Konsequenzbefreiung – aus: Denn auch für den Fortgang der Handlung müssen Zuschauer im Theater normalerweise nicht sorgen, nachdem dieser gewöhnlich ebenfalls der Inszenierung überlassen ist. Verglichen mit dem Rollenspieler bezahlt der Theaterzuschauer Konsequenzbefreiung und Distanzierung insofern mit Kontrollverlust: Theaterfiguren tun, was die Inszenierung will. Die Dienstleistung, die Theater traditionell leistet, so könnte im Kontext eines Spiel-Modells der Theateraufführung paraphrasiert werden, besteht im Aufbau von Stellvertretern, die ihrem Publikum erlauben, das eigene Mitspielen der Inszenierung und ihrer Aufführung zu überantworten; mehr noch: Schau-Spieler stellen ihre Körper für diesen Dienst zur Verfügung. Von diesem Umstand spricht Uri Rapp wenn er zur Aufgabe des Schauspielers schreibt: »[D]as Verbotene, Ersehnte, nicht Erlebbare wird auf ihn [den Schauspieler] projiziert und von ihm vikariös entnommen. Er ist Held und Sündenbock zugleich.« (Rapp 1981: 227)
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Bei näherer Betrachtung der in The World in Pictures und Bloody Mess verwendeten ›Youfiction‹ und unter Einbezug anderer Spiel- und Äußerungsformen, die ›Youfiction‹ nutzen, zeigt sich also, dass gerade das beschriebene Stellvertretertum, das Theaterfiguren gewöhnlich besitzen, ihre Fähigkeit zu ›Avataren‹ der Zuschauer zu werden, reflektiert und kunstvoll gebrochen wird. So wird Figur Jerry zunächst in der ›Ratschläge an Jerry‹ Sequenz, die vor dem zitierten Monolog stattfindet, als typischer Schauspieler vorgeführt – als Held und Sündenbock. Während der imaginären Reise der Figur »You« aber dreht sich der Spieß langsam und zunächst unmerklich um: Anstatt sich selbst als Avatar bzw. Identifikationsfigur zur Verfügung zu stellen verführt Jerrys Figur mit ihrem Monolog eine im Material der Sprache geformte Figur »You« zu einem Gang im virtuellen Raum, der für diese Stellvertreterfigur tödlich endet. Ebenso stellt in Bloody Mess nicht Darstellerin Claire ihren Körper für eine erotische Schau zur Verfügung, sondern der von DarstellerFigur Claire vorgetragene Monolog lässt die sprachlich geformte Zuschauer-Figur »You« eine wild-pornographische Liebesbegegnung durchleben.40 Die für das Theater gängige Zuschaupraxis wird auf diese Weise gebrochen, auffällig und in ihrer ganzen Konsequenz wahrnehmbar gemacht. Zuschauer können durch die Erzählung von der Liebesbegegnung wie durch die Geschichte vom Dachsturz in situ erleben, dass das virtuelle Überantworten von Spielfiguren an die Inszenierung in letzter Konsequenz zum totalen Kontrollverlust führen kann, sei dieser lustvoll oder schrecklich: »You realise... you already committed yourself«. d) Fazit: Appellstruktur(en) Grundsätzlich stellt das Angesprochenwerden als zahlender Kunde oder als Komplize der Inszenierung die Anwesenheit von Zuschauern in der Aufführungssituation in den Fokus der Aufmerksamkeit: Sowohl in Bloody Mess als auch in The World in Pictures sehen sich Zuschauer von Beginn der Aufführungen an mit ihrer konkreten Anwesenheit, mit ihren Erwartungen und ihrer eigenen situationsdefinierenden Aktivität konfrontiert. Diese Reflexion kann aber noch weiter reichen: Bühnenfiguren generieren sich in Echtzeit als Subjekte und erlauben so einen Blick auf die Hinterbühne von Subjektivierungen. Sind Zuschauer zugleich als vereinzelte Adressaten konzipiert, stehen auf diese Weise nicht nur die situationsspezifische Zuschauerrolle und ihre Genese unter Beobachtung, sondern es wird sogar das Ent-
40 Während Figur Jerry in der Erzählung vom Dachsturz als Akteur gänzlich aussen vor bleibt, spielt in der Bloody Mess ›Youficiton‹ von der Liebesbegegnung auch Claire eine Rolle: Sie ist in der Geschichte die Partnerin des Zuschauer-Avatars »You«. Man könnte hier insofern davon sprechen, dass Bloody Mess die Theateraufführung spielerisch als Liebesbegegnung zwischen Zuschauern und Darstellern inszeniert.
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stehen persönlicher Subjektivität zum möglichen Thema; solche Momente könnte man auch als ›Subjekt-Gegenüberstellungen‹ bezeichnen.41 Werden Zuschauer in anderen Momenten der untersuchten Aufführungen als Publikum für brüchige Panoramen angespielt, erinnert diese weitere ›ZuschauerRolle‹ sie möglicherweise an das sozial distribuierte Wissen über große Zusammenhänge und an die kollektive Arbeit, die im Aufrechterhalten solch »großer Erzählungen« stattfinden muss; im selben Moment kann das Publikum einem Darsteller-Ensemble zusehen, dessen Darstellungsarbeit auf vielerlei Weise akzentuiert ist – es findet also gewissermaßen auch eine ›Ensemble-Gegenüberstellung‹ statt. In beiden untersuchten Inszenierungen wird schließlich die Zuschauerpraxis einer überantwortenden Identifikation auffällig gemacht, entlarvt und gebrochen. Dabei gelangt als weitere mögliche ›Zuschauer-Rolle‹ (neben denen der Situationsteilnahme als Einzelner und als Teil einer Gruppe) eine fiktionale Teilnahme ins Spiel: »You« erweist sich nicht mehr nur als in der Situation wurzelndes konkretes Gegenüber, sondern als weitere Figur, als ein Avatar im fiktiven Raum, den das Spiel der Aufführung entstehen lässt, der abwechselnd durch seine Erzähler und durch die sich Identifizierenden navigiert wird.42 Insofern verweisen die Inszenierungen ihr Publikum nicht nur auf das Hier und Jetzt der Aufführungssituation, sondern auch auf den Raum des Fiktionalen, auf all jene phantastischen Welten, die kollektiv ebenso wie in Eigenregie produziert werden können, immer aber auf Phantasien basieren, die weder ganz subjektiv noch objektiv normiert existieren, sich vielmehr in ständigem Spiel befinden. Zuschauen und Zuhören als aktive Teilnahme, als Mitspielen in Aufführungssituationen zu fassen, und entsprechende Spielangebote der Inszenierungen in ihren »Appellstrukturen« zu konzipieren, konnte also dabei helfen, die unterschiedlichen Teilnahmeformen, die in Aufführungen von Bloody Mess und The World in Pictures durch explizite Publikums-Adressen möglich werden, zu verbalisieren. Dabei konnte sich schließlich zeigen, dass in der abwechselnden Aneinanderreihung der 41 Die Möglichkeit von Theateraufführungen, das Herausbilden von Subjekten zu thematisieren, sah schon Herbert Blau im Rahmen des Theaters angelegt; er konstatiert: »That remains the thing which is most moving in performance: it’s essential aloneness [...] For what we think of as stage presence is related to the aloneness, the nature of the performer who [...] is born on the site of the Other.« (Blau 1990: 268). 42 Auch diese zwischen aktiv und passive changierende Publikumshaltung wird von Tim Etchells als ästhetische Strategie Forced Entertainments im Aufsatz »Not part of the bargain« geschildert: »Fictionalise the audience. Address them (1) as if they were other audiences and (2) as if they were other fictional persons. The audience is assumed to be those present at a strip-club or at a children’s performance, or at an economic think tank. They are addressed as lovers, murderers, potential collaborators in a bank raid, a very long lost friend.« (Etchells 2001: 122)
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beschriebenen Teilnahme-Formen ein ›Hin und Her‹ zwischen Subjekt- und Ensemble-Gegenüberstellungen, sowie überantwortenden Mispielweisen entsteht. Neben den expliziten Thematisierungen des Zuschauens in den beschriebenen Adressierungen zeigte sich bis hierhin zudem immer wieder das situative, sich beständig verändernde Setting der Aufführung als beobachtenswert. Offenbar ist eine die Zuschauer ansprechende wie auch thematisierende »Appellstruktur« nicht nur sprachlich, sondern auch und vor allem in der Gesamtheit aller Darstellungspraktiken zu suchen. Daher sollen im Folgenden die in den Kapiteln III., IV. und V. zusammengestellten Beschreibungen zu Darstellungspraktiken der situativen Reflexion in ihrem Zusammenspiel betrachtet werden: Wie funktioniert das bis hierhin jeweils ›kleinskalig‹ beschriebene Spiel zwischen Verbergen und Entlarven, zwischen Produzieren und Einstürzenlassen von Aufführungs-Rahmen, und welche Zuschauer-Rolle bzw. Publikums-Positionierung ›erspielt‹ es? Schließlich lässt sich darauf fragen, inwieweit das Mitspielen von Zuschauern im Rahmen-Spiel der untersuchten Aufführungssituationen in situ beobachtbar wird. 3. D RAMATURGIE
DER NEGATIVEN
E RFAHRUNG
In allen bis hier untersuchten Aspekten der Aufführungssituationen zeigt sich, dass Bloody Mess und The World in Pictures ein beständiges Entlarven der Aufführungssituation betreiben, dass sie die Aufführungen und deren Möglichkeitsumstände gewissermaßen vorführen. Die oben untersuchten expliziten PublikumsAnsprachen erweisen sich bei dieser Sichtweise nur als die explizite Spitze einer »Appellstruktur«, deren weitaus größerer Teil, subtil eingelassen in die Aufführungspraxis, im beständigen Aufrufen und Brechen von Rahmen besteht. Bringt doch jeder neue ›Aufruf‹ eines Rahmens es mit sich, dass mögliche Erwartungen, Wünsche oder Sehgewohnheiten der (konkret anwesenden) Zuschauer thematisiert, angesprochen oder aktiviert werden; diese subtilere Form der »Appellstruktur« wurde in den vergangenen Kapiteln jeweils in einzelnen Aspekten detailliert beschrieben; ich möchte an dieser Stelle einen kurzen Überblick über die in den Kapiteln III., IV. und V. beschriebenen Strategien des Rahmenbruchs geben, um die Ästhetik Forced Entertainments als verspielte Zeigepraxis, als eine Dramaturgie der »negativen Erfahrung« zu kennzeichnen, die multiple und changierende Zuschauerhaltungen anbietet. a) Im ›Hin und Her‹ der Aufführungen In Kapitel III (»Spielräume«) zeigte sich zunächst, dass beide Inszenierungen alternative Anfangs- und Schlusssequenzen vorführen und auf diese Weise die Notwen-
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digkeit einer temporalen Einklammerung des Aufführungsereignisses ästhetisieren. Zuschauer der Aufführungen werden hierdurch auf die gemeinsam geleistete Arbeit aufmerksam, die im Setzen von Anfangs- und Schlussmarkierungen einer Aufführung besteht, bzw. in Goffmans Worten, einer »zentrierten Interaktion« (vgl. Goffman 1973: 7). Die innere zeitliche Strukturierung beider Aufführungen erwies sich weiterhin in beiden untersuchten Fällen als komplexe Aufschichtung zeitlicher Qualitäten, paralleler Handlungsstränge, unterschiedlicher Rhythmen und Intensitäten. Gemeinsam verbrachte Aufführungszeit wird bewusst bzw. präsent gemacht: Die Zuschauerin sieht sich einer als ereignisreich und zukunftsoffen inszenierten Spielzeit gegenüber. Doch neben solch geschickte Nutzung theatraler Mittel, die die Zeiträume des Spiels präsent und unmittelbar erscheinen lassen, tritt in beiden Inszenierungen immer auch eine gezielte Entlarvung der ›Theaterhaftigkeit‹ produzierter Zeitlichkeiten. Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass beide Aufführungen im Hinblick auf die Zeitlichkeit ihrer Aufführung ein ›Hin und Her‹ zwischen Erleben und Reflexion für ihr Publikum produzieren. Man könnte mit Ulrich Gumbrecht auch formulieren, dass die Herstellungspraxis von Präsenz in beiden Inszenierungen erlebbar gemacht würde, ohne dass dabei das Erleben von Präsenz zu kurz käme (vgl. auch Gumbrecht 2005: 33f).43 Unter Punkt III.3 konnten Darstellungspraktiken beschrieben werden, die in beiden Inszenierungen Raum ›verzeitlichen‹, die das Bühnenbild in ein beständig in der Zeit sich veränderndes, bewegtes Bild der Bühne überführen, umgekehrt findet eine ›Verräumlichung‹ der Aufführungszeit statt: Die gemeinsam verbrachte SpielZeit wird in die Materialität des Bühnenraumes eingeschrieben, wird konkret sichtbar gemacht. Auch in diesem Spiel mit Bewegtheit und Materialität der Aufführungen produzieren Bloody Mess und The World in Pictures eine Pendelbewegung für die Wahrnehmung ihres Publikums, zwischen dem Erleben einer allumfassenden Bewegtheit und deren materieller Abbildung. Im Zusammenhang mit den Räumen der Aufführungen zeigte sich, dass in der anfänglichen Leere der Bühnen, sowohl während Bloody Mess wie in The World in Pictures, zunächst ein demonstrativer Entzug von Darstellung besteht: Zuschauer werden konfrontiert mit einer ›nackten‹ Bühne, ohne jede Kulisse, und werden auf diese Weise auf ihre Erwartungshaltung verwiesen. Die im Verlauf der Aufführungen ›erspielte‹ Unterteilung des Bühnenraums in On/On und On/Off-Bereiche überdeterminiert daraufhin den vorgeführten traditionellen Raum mit seiner Unterscheidung von Bereichen des ›Schauens‹ und anderen des ›Machens‹ bzw. des ›Zeigens‹. Auf diese Weise produziert die Raumpraxis der Inszenierungen die Möglichkeit zu Mehrfachkodierungen und Paradoxa. Auch der Ort des Geschehens gerät also in Bloody Mess wie in The World in Pictures als eine der vielen das Spiel ermög43 Gumbrecht fasst Präsenz hier als ein »Erscheinen-Lassen im Raum«; ich würde diese Definition noch auf das Erscheinen-Lassen von Raum erweitern, vgl. Kapitel III.
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lichenden Regeln mit ins Spiel. Die Grenze dieser Reflexion wird dabei ebenfalls zum Thema, zum Beispiel im fast tragischen Schlussmonolog der Figur Cathy in Bloody Mess, der die Unmöglichkeit behandelt, die ›vierte Wand‹ jemals ganz zu durchdringen. Damit lässt sich wiederum ein ›Hin und Her‹ konstatieren, das in den Inszenierungen für die Wahrnehmung der Zuschauer angeboten wird: In der Zeit verspielter Raum und ein Bild der Bühne, das sich beständig in Bewegung befindet, lassen die Zuschauerin die »phänomenologische Wucht« (Lars Frers) der Materialität in der Theatersituation empfinden. Die Produktion von Zeit und Raum der Aufführungen geschieht also in vielfach ästhetisierter Weise. Dem Publikum können dabei die Praktiken von Darstellung und Wahrnehmung bewusst werden, die ein gemeinsames Hier und Jetzt herstellen. Als Zuschauerin mitzuspielen bedeutet daher, bewusst im Moment und im Raum der Aufführungen situiert zu sein. Entsprechend funktionierende Darstellungspraktiken, die ein ›Hin und Her‹ aus Erlebnis und Reflexion anbieten, finden sich auch im Zusammenhang mit den (Spiel)Figuren der Aufführungen, wie im Kapitel IV. behandelt. Dort konnte nachvollzogen werden, dass sowohl Bloody Mess wie The World in Pictures alleine schon durch die präsentierte Kostümnutzung in einer Art und Weise mit ihren (und um ihre) Figuren spielen, die Paradoxien entstehen lässt: Zunächst suggeriert der Kostümgebrauch die gleichzeitige Sichtbarkeit von Darstellern in Alltagskleidung und Darstellern im Kostüm und damit eine klare Unterscheidbarkeit zweier Wirklichkeitsebenen. Im Verlauf der Aufführungen werden dann aber immer mehr Unklarheiten über den Wirklichkeitsstatus bestimmter darstellerischer Handlungen ›erspielt‹; für die Zuschauer wird auf diese Weise Deutungssicherheit als ein Desiderat der Publikumswahrnehmung bemerkbar gemacht, doch nie eingelöst. Ähnliche Strategien konnten im selben Unterpunkt im Bezug auf darstellerische Körpertechniken beschrieben werden. Sprechweisen, die in den untersuchten Inszenierungen auffällig wurden, weisen in dieselbe Richtung: Beide Inszenierungen ›erspielen‹ im Verlauf ihrer Aufführungen Praktiken mit Text, die einer Schließung und endgültigen Sinngebung entgegenwirken, zuvor aber ein Bedürfnis nach Schließung und Sinngebung in Erinnerung rufen. Beide Inszenierungen machen also auch in ihrer Sprachnutzung das, was Günther Heeg mit Helga Finter die »Rhetorik der Expressivität« nennt, erlebbar (vgl. Heeg 2000: 126f). Vor den Augen der Zuschauer entstehen immer wieder ›ganz natürlich‹ wirkende Gestalten, die zu ihrem Publikum als ›sie selbst‹ sprechen, um kurz darauf (oder gar gleichzeitig) die Inszeniertheit ihrer Subjektwerdung zu entlarven. Die beständige Verunsicherung über den momentanen Teilnehmer-Status von Darstellern in Bloody Mess und The World in Pictures verstrickt die Zuschauerin der Aufführungen in intensive Zuschreibungsarbeit. Darüber hinaus ›erspielt‹ der grenzgängerische Umgang der Inszenierungen mit Körper-Praktiken (z.B. im Spiel mit Kostümen und Masken), Nähe zu einem (Pra-
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xis-) Wissen, über das wohl jeder Zuschauer verfügt: So sind Beschämbarkeit und die Gefahr der Entblößung Teil jeder Erfahrung des ›Selbst‹.44 Jedes Publikumsmitglied verfügt über praktisches Wissen zur Entblößung als einem Inszenierungsmittel für Erotik, jede(r) weiß, dass Nacktheit Verletzlichkeit und Schutzlosigkeit denotiert. Indem also das Publikum beider Inszenierungen mit den unterschiedlichsten Modulationen im Entstehen subjekthafter Figuren konfrontiert wird, produzieren die Aufführungen Bewusstheit gegenüber dem alltäglichen Spiel von Subjektivierungspraktiken und gegenüber den in diesem Spiel erreichten Authentizitätseffekten. Obwohl sie dabei die eigenen Techniken wiederholt vorführen, ins Paradoxe überspitzen oder gar ›kurzschließen‹, reichern beide Aufführungen dennoch, mit Hilfe eben derselben vorgeführten Methoden, Realitäts- und Authentizitätseffekte ihrer Figuren an; so verbreitet die erhitzte Claire (Bloody Mess) trotz GorillaPlüschanzug für Momente knisternde Erotik, Jerry in The World in Pictures wirkt beschämbar und verletzlich, während er separiert von den Kollegen auf der Bühne steht, usw. Dabei gerät der Blick der Zuschauerin ins beständige Oszillieren, er bewegt sich hin und her zwischen den ins Spiel geratenden Spielregeln der Situation und der Infragestellung dieser Regeln, er umkreist die handelnden Personen auf der Bühne, die sich nach und nach immer mehr als bodenlos mehrbödige DarstellerFiguren erweisen. Implizit wird so auch auf die Arbeit, die Anstrengung und den kreativen Beitrag verwiesen, den die Zuschauer interpretierend zum Bühnenspiel beitragen. Beide Inszenierungen lassen auch hier »Produktion« und »Produkt« ihres Wirkens zeitgleich wahrnehmbar werden.45 Die Inszenierung von Ensemblearbeit ebenso wie die Zeichnung einzelner Figuren als aus dem Ensemble Heraustretende, verweist unterdessen, wie unter Punkt IV.4 besprochen, auf die wechselseitigen Bedingtheit einer Wahrnehmung von Gruppe/Ensemble und Einzelnen. Die untersuchten Aufführungssituationen bieten ihrem Publikum insofern nicht nur eine reflexive Haltung zum Hier und Jetzt der Aufführungen an, sie ermöglichen darüber hinaus einen dekonstruierenden Blick auf die Darsteller als Teilnehmer dieser Situation wie auf deren ›Jobs‹. Wahrnehmbar wird dabei, dass nicht nur Bühnenfiguren, sondern auch deren angebliche Träger sozial und situativ hergestellt werden. Publikumsmitgliedern kann hierbei die eigene Aktivität im Spiel um die
44 Helmuth Plessner beschrieb das Selbstverhältnis, das sich unter anderem im Kontext von Kleidung und Ornat ausdrückt, als conditio humana schlechthin: Die Subjektwerdung des Menschen zeichnet er als Folge einer Darstellungsarbeit am Selbst; alltägliche Kleidung, wie auch die Ornate von Würdenträgern, vergleicht Plessner mit Theaterkostümen. Vgl. z.B. : Die Frage nach der Conditio humana (Plessner 1976) und Zur Anthropologie des Schauspielers (Plessner 1982). Ähnliche Positionen und Vergleiche verwendet auch Goffman in The presentation of self in everyday life (Goffman 1959). 45 Zum Spiel von »Produktion« und »Produkt« vgl. Sonderegger 2000: 129.
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Personen der Aufführungssituationen deutlich werden; Zuschauen wird auf diese Weise als verantwortungsvolle Praxis, als Zeugenschaft wahrnehmbar. In den expliziten Publikums-Adressen, die im vorliegenden Kapitel untersucht wurden, bieten die Aufführungen von Bloody Mess und The World in Pictures ihren Zuschauern diverse weitere Rollen bzw. Zuschau-Haltungen an; auch diese haben eines gemeinsam: Sie treiben eine Reflexion der Aufführungssituation hervor. Zuschauer werden in ihrer Anwesenheit als Einzelne, als distanziert reflektierende Subjekte gegenwärtig gemacht, ebenso aber auch in ihrem Agieren als Gruppe. Darüber hinaus wird die theatertypische Überantwortung spielerischen Handelns Thema. Den Zuschauern und Zuhörern bieten sich also Vexierspiele der SelbstWahrnehmung in ihrer ›Publikums-Rolle‹ an. Forced Entertainment haben in den untersuchten Inszenierungen insofern das ästhetische Konzept verfolgt, das Tim Etchells im Jahr 2001 in seinem Essay Not part of the bargain formulierte: »Build the audience. Draw them in. Mass them. Make them feel at home. Make them part of ›it‹. Make them part of the crowd. Call them ›human beings‹. Give them the taste of laughing together. [...] Split the audience. Make a problem of them. Disrupt the comfort and anonymity of the darkness. Make them feel the differences present in the room and outside of it [...]. Give them the taste of laughing alone. The feel of a body that laughs in public and then, embarrassed, has to pull it back.« (Etchells 2001: 122)
Mitzuspielen im Spiel der Aufführungen Bloody Mess und The World in Pictures bedeutet insofern, sich immer wieder neue Zuschauer-»Rollen« zuweisen zu lassen und diese – zumindest probeweise, spielerisch – auszufüllen. Das ›Hin und Her‹ der untersuchten Aufführungssituationen lässt sich also treffend als komplexes Spiel mit dem Theaterspiel kennzeichnen, als situations-reflexive und damit höchst gegenwärtige, ästhetisierte soziale Praxis. In der Kombination der beschriebenen Praktiken, die Spielräume, Spielfiguren und Spieler entstehen lassen, sind diese Aufführungen aber auch in der Lage, über das ästhetische aufgeladene Hier und Jetzt hinauszuweisen. Beispiel können hierfür die Subjekt- und Ensemble-Gegenüberstellungen werden, in denen Zuschauern abwechselnde Identifikationsmöglichkeiten mit den auf der Bühne auftretenden Spielfiguren geschaffen werden. Denn nicht nur Zuschauern wird abwechselnd nahegelegt, sich als vereinzelte oder als Teil einer Gruppe wahrzunehmen, auch die Bühnenfiguren in Bloody Mess und The World in Pictures sind einmal als Einzelne und dann wieder als Ensemble akzentuiert. Dabei ist besonders das Moment des Hervortretens des Einzelnen, des Subjekts aus der Gruppe problematisiert und ästhetisiert. Dabei lassen sich Verbindungen ziehen zwischen der Zeichnung heraustretender Einzelfiguren, dem Ensemblespiel und den Narrationen, die während der Aufführungen zu Gehör gebracht werden. Als besonders prägnantes Beispiel können die
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beiden gegeneinander collagierten Erzählungen in The World in Pictures dienen: Ihre Erzähler-Figuren Jerry und Terry sind jeweils äußerst unterschiedlich dargestellt, v.a. was ihre Souveränität anbelangt. Die große historische Erzählung Terrys scheint kaum Kraft zu besitzen, um Erzähltes und Erzählsituation einzubinden, das Brüchige im ›großen Panorama‹ der verbalisierten Weltgeschichte ist anscheinend untrennbar mit dem Stottern und der Schutzlosigkeit der im Vordergrund stehenden, oftmals überfordert wirkenden Figur Terry verbunden, die sich als fehleranfällig und hilfsbedürftig erweist. Die existenzielle Themen aufgreifende ›Youfiction‹ der Erzählerfigur Jerry hingegen schafft die Rahmenbedingung dafür, dass Jerry zur ›Person‹ transzendieren kann, zu einem idealen Medium, durch das hindurch eine mächtige Stimme erklingt, die ihre Zuhörer mit sich trägt, die Erzählsituation und Erzähltes einbindet, sogar bis hin zum virtuellen Todessturz des Zuschauer-Avatars »You«. Statt der »history of mankind« erweist sich in The World in Pictures also die von Jerry erzählte ›Youfiction‹ als für das Theater funktional und damit als erzählens- bzw. hörenswert. Die Aufführungssituation kommentiert insofern die angebotenen Zuschauhaltungen und Identifikationsangebote, zumindest implizit; sie verwickeln ihr Publikum, sofern es mitspielt, auf diese Weise in Diskurse, die weit über die situative Begegnung hinausweisen. Das Heraustreten ambivalenter, krisengeschüttelter Erzählerfiguren aus einem Ensemble erinnert dabei an die Interpretation, die Hans-Thies Lehmann zum Heraustreten und Stimme-ergreifen des Einzelnen in der attischen Tragödie anstellte: Für Lehmann spricht das Hervortreten der Figur aus dem Ensemble im attischen Theater von einem zögernden ersten Auftritt des abendländischen Subjekts, das sich hier noch im Entstehen befindet und tastend seine ersten Schritte auf die Bühne unternimmt. 46 Wenn in Forced Entertainments Inszenierungen Figuren aus dem Ensemble vor die erzählten ›Mythen‹ bzw. großen Panoramen treten, sind dies sichtbar konstruierte, subjekthafte Erzähler-Figuren, die große Geschichten erklingen lassen und bebildern, die ebenfalls brüchig erscheinen und in ihrer Konstruiertheit entlarvt werden. Zum Thema werden bei Forced Entertainment also nicht nur die momentane situative Begegnung von Theatermachern und Zuschauern; indem die ›großen Panoramen‹ sich als nicht mehr hörenswert erweisen, die privat erscheinenden und doch existenziellen Erzählungen dafür umso präsenter werden, erlauben Forced En46 »Indem die in die episch-mythische Überlieferung buchstäblich eingewebte Figur heraustritt, und der schutzlose Körper, isoliert und preisgegeben, auf der Bühne zur Schau gestellt wird, gewinnt die Stimme als Indiz einer aus dem mythischen Kosmos sich isolierenden menschlichen Identität neues Gewicht. Sie rückt emotional die Aufmerksamkeit auf diesen einen Körper des Menschen und wird zum Signal für ein rudimentäres Bewusstsein oder Gefühl, das die ausgelieferte Physis einer Beachtung und Wertschätzung würdig ist: nicht als heldenhafte Kraft (wie im Mythos), sondern als leidendes Sensorium.« (Lehmann 1991: 40).
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tertainments Darsteller-Figuren ihrem Publikum nicht nur »doppelte Identifikation«, wie Hans-Thies Lehmann sie für die attische Tragödie beschreibt, sondern eine wie im Spiegelkabinett vermehrfachte bzw. fragmentierte Reflexion der Theatersituation per se wie auch ihrer typischen Narrationen. Brachte Lehmann das Heraustreten des Einzelnen in der attischen Tragödie mit einem ersten unwilligen Auftreten des abendländischen Subjekts in Verbindung, könnte im Kontext der heraustretenden Figuren Forced Entertainments von einem tastenden Verabschieden gesprochen werden.47 b) Unerbittliche Spielfreude: Rahmenbrüche als Spielstrategie Der Aufbau situativer Rahmen in den Aufführungssituationen Bloody Mess und The World in Pictures greift jeweils auf traditionell bekannte ›Minimalstandards‹ westlich-neuzeitlicher Bühnenkonventionen zurück, namentlich auf die Grundstruktur eines demonstrativen Handelns, das einem ungestörten Zuschauen gegenübergestellt wird. Diese Grundstruktur ist in Bloody Mess wie in The World in Pictures immer schon vor den Aufführungen vorhanden, da sie schon in der Architektur des Theaterraums sedimentiert und materialisiert ist. Auch die Wahrnehmungspraktiken der an den Aufführungssituation beteiligten Zuschauer-Körper, die dieser architektonischen Zurichtung der Theatersituation entsprechen, können als praktisches Wissen vorausgesetzt werden. Doch über solches Zurückgreifen auf geteiltes Knowhow hinaus, produzieren beide Aufführungssituationen eine subtile doch wirkmächtige Spielvorlage, eine Fiktion von der ausgehend immer neue Rahmenbrüche und Neukodierungen der Aufführungssituationen Bloody Mess und The World in Pictures geschehen können. Grundlage für alle vorgeführten Brüche wird die in beiden Aufführungssituationen nach und nach ›erspielte‹ theatrale ›Erzählung‹, ein DarstellerEnsemble würde sich bemühen, einen vergnüglichen Theaterabend zu gestalten. Zwar mag es der Fall sein, dass Forced Entertainment sich in den beschriebenen Aufführungen tatsächlich um die Unterhaltung ihres Publikums bemühen, doch werden, vom ersten Beginn beider Aufführungen an, über diese Anfangsbehauptung zahlreiche Schichten ästhetisierter fiktionalisierter Darsteller- und Ensembleversionen gelegt, ebenso tauchen mannigfache Varianten angeblich intendierter Adressaten auf. Die Aufführungssituationen Bloody Mess und The World in Pictures nutzen insofern zunächst einfache, ja banal anmutende ›Gebrauchsanweisungen‹ oder ›Spielre47 »Die attische Tragödie bezieht sich als erste Kunstform explizit auf ihr Publikum, und dieser Umstand lässt sich hier so verstehen, dass der Zuschauer – eine Umwälzung gegenüber dem Epos – sich zugleich mit dem Sprechenden bzw. dem Gesagten und mit dem Hörenden auf der Bühne identifiziert.« (Lehmann 1991: 47).
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geln‹ für die laufenden Aufführungssituationen, indem sie mögliche AufführungsKlischees aufrufen und bestätigen; darauf aber lassen sie ununterbrochen deren Doubles entstehen. Das Vorführen von Rahmungsbedingungen, das Fallenlassen von Masken erweist sich damit auch und vor allem im Zusammenhang mit dem Entstehen eines Publikums, bzw. für die Produktion von ›Zuschauer-Rollen‹ in den Aufführungssituationen Bloody Mess und The World in Pictures als konstitutiv, da auf diese Weise zugleich immer eine Entlarvung derZPraxis von zuschauerwahrnehmung stattfindet. Die »Einflüsterungen des Dritten« (André Eiermann) werden hörbar, oder praxis-theoretisch formuliert: teleoaffective structures, wie Schatzki sie beschreibt, werden für die zuschauenden Situationsteilnehmer reflektierbar, indem Rahmen der Aufführungssituation beständig de- und wieder rekonstruiert werden: Die Aufführungssituationen Bloody Mess und The World in Pictures präsentieren eine Dramaturgie des spielerischen Rahmenbruchs. In ihren immer wieder aufs Neue produzierten Krisen der Situationsdefinition (Befinden wir uns innerhalb oder außerhalb der Aufführung? Welche Verortung gilt als On, welche als Off? Wer ist das, der da schwitzt? Wer ist das, der da spricht? usw.) bieten die Aufführungssituationen ihrem Publikum mannigfache Gelegenheiten zur »negativen Erfahrung« (i.S.v. Goffman 1989: 409ff). Die Theateraufführungen werden hier also als Situationen der Bespiegelung aufgebaut, um dem Bespiegelten darauf immer neue Spiegel gegenüberstellen – ein immer komplexeres Spiel entsteht, in welchem für Zuschauer der Aufführungen auch die eigene Vorhersagbarkeit wahrnehmbar wird, indem immer wieder der lustvolle Panikmoment entsteht, in der eigenen voyeuristischen Zuschaupraxis ertappt zu werden. Situativer Sinn wird hier ›im Spiel gehalten‹, auf eine Weise, die an das erinnert was Jean-Luc Nancy in seinem gleichnamigen Essay als making sense beschreibt: »The sense of the world is not at all guaranteed, nor lost in advance: it is wholly at play in the common relay that is in some way proposed to us. [...] It is at play so that beings [...] put into circulation the possibility of an opening, of breathing, of an address that is properly the beingworld of the world. It only comes into being by calling into question, bringing into play, and causing crisis [.]« (Nancy 2011b: 219)
Neben gesteigertem Commitment und Momenten der »panique volupteuse« zeigt sich dabei in den beschriebenen vorgeführten Aufführungssituationen, dass in ihren Krisen immer neue ›Sichtbarkeiten‹ hergestellt werden: Der anscheinend bröckelnde Rahmen der Situation zwingt Teilnehmer zur Konzentration auf dessen Wiederherstellung oder Reformulierung und damit zur Fokussierung von Aufmerksamkeit auf die entsprechende Rahmungspraxis.48 Die gezielte Produktion von Krisen, von 48 Zur Verwandtschaft »negativer Erfahrung« mit der »panique volupteuse« des Spiels und ästhetischer »Liminoidität« vgl. Kapitel 1.3.
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Möglichkeiten zur »negativen Erfahrung«, die sich in den besprochenen Aufführungssituationen zeigt, kann also als eine ästhetische Strategie, als eine Technik des enthüllenden Zeigens beschrieben werden: Situative Aufmerksamkeit wird auf die Umstände der (immer aufs Neue produzierten) Krisen gelenkt, es entstehen auf diese Weise neue, anders perspektivierte ›Wahrnehmbarkeiten‹. Die Produktion negativer Erfahrung, wie sie in den beschriebenen Aufführungssituationen Bloody Mess und The World in Pictures geschieht, kann insofern in Worten des Semiotikers Mukarovský als eine »aktive Qualifikation zur ästhetischen Funktion« beschrieben werden – oder, etwas trockener im praxeologischen Duktus, als Zeigepraxis.49 Das Herstellen von Krisen, insbesondere reflexiver Krisen als dramaturgisches Grundprinzip der in ihren Aufführungssituationen untersuchten Inszenierungen vereint dabei widersprüchlich anmutende Funktionen in sich, ohne deshalb im Paradox zu erstarren: So können die inszenierten Rahmenbrüche im Hinblick auf die Produktion von Unsicherheiten und Negativität betrachtet werden, also als eine Herausforderung der Aufführungssituation, als Gefahr und Destabilisierung für situative Rahmung. Als Evokationen negativer und/oder ästhetischer Erfahrung, die Teilnehmer zu aktivieren vermag und sie auf die Suche nach ungewohnten Deutungen oder ›Reparaturmöglichkeiten‹ schickt, können Krisen aber auch als Wege der Commitment- bzw. der Engagement-Steigerung beschrieben werden; unter Umständen sind Krisen/Rahmenbrüche dann sogar dazu in der Lage, Aufführungssituationen zu stabilisieren (z.B. indem sie Langeweile verhindern). Diese beiden widersprüchlichen Momente rahmenbrecherischer Dramaturgien lassen sich gemeinsam unter dem Aspekt ihrer ästhetischen oder ›Zeige-Funktion‹ beschreiben, denn unabhängig vom jeweils gewählten Ausweg aus der Krise sind Rahmenbrüche dazu in der Lage, die Aufmerksamkeit von Situationsteilnehmern zu bündeln.50 So viel Abschied und Melancholie sich in den situationsreflexiven wie verspieltnarrativen »Appellstrukturen« beider Inszenierungen verbergen, so viel Freude am Spiel und Begeisterung für den Augenblick ist dort zugleich in Szene gesetzt: So produziert beispielsweise in Bloody Mess die zeitliche Nähe von Claires erotischer 49 »Aber die aktive Qualifikation zur ästhetischen Funktion ist keine reale Eigenschaft des Gegenstandes, selbst wenn er absichtlich auf die ästhetische Funktion hinzielt, sondern sie tritt nur unter bestimmten Umständen, nämlich in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext zutage[.]« (Mukarovský 1970: 13). 50 Nicht nur Theatermacher wie Forced Entertainment haben Rahmenbrüche in ihrer »zeigenden« Funktion für sich entdeckt; auch Sozialwissenschaftler nutzen Krisen als Instrument des ›Sichtbarmachens‹; so nutzten beispielsweise die Ethnomethodologen um Harold Garfinkel »Krisenexperimente«, um etwas über die Metabene sozialen Handelns zu erfahren, also darüber »how social structures are ordinarily and routinely being maintained.« (Garfinkel 1990: 187).
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›Youfiction‹ und Clown Johns Geschichten vom Anfang und vom Ende der Welt zunächst eine Assoziierbarkeit beider Themenkreise. Der erotische Begegnung der Figur »You« mit Figur Claire führt zum Schöpfungsakt schlechthin und das Ende der Welt kulminiert im melancholischen Abschied der Liebenden. Beide Erzählungen können dabei als höchst poetische Verweise auf die Aufführung verstanden werden, wobei die Aufführungssituation zur ›Welt‹, Theatermacher und Zuschauer zu ›Liebenden‹ erklärt werden: Durch die Begegnung von Darstellern und Zuschauern, so legen die untersuchten Aufführungssituationen nahe, wird die Aufführung ins Leben gerufen, existiert als eine eigene Welt im Rahmen der Bühne, bevor sie in einem fulminanten Finale zerstört wird und sich die für kurze Zeit eng verbundenen Liebhaber – Zuschauer und Theatermacher – glücklich doch melancholisch wieder voneinander trennen, um ein gemeinsames Geheimnis reicher. Diese melancholische und doch feierliche Haltung, gewürzt mit einem Verweis auf die Erotik der Theaterbegegnung, kommt deutlich zum Ausdruck, betrachtet man die letzten Worte, die in Bloody Mess an das Publikum gerichtet werden:51 Die Aufführung scheint langsam ›verebbt‹ zu sein; Figur Cathy tritt, schwarz gekleidet und geschminkt an die Rampe; sie spricht während die Scheinwerfer, einer nach dem anderen, verlöschen. Cathy: This is the last thing that you see....... You see me... standing... in the light. (Cathy schüttelt den Kopf, zuckt mit den Schultern).... You’re looking at me.... You can see my face, you can see my lips, you can see my eyes... hhhh. (leichtes Schulterzucken) You can see that I am thinking..... But my eyes don’t give anything away. My face is a complete blank. It says nothing and it says everything at the same time.... It’s the last thing you see....... You don’t know me. Ooor, you THINK that you know me. It doesn’t matter.... What matters is... that you see my breathing. You see the... (gedehnt) r i s e a n d f a l l of my breathing...... And maybe... maybe you hear noise from outside. Like, the sound of rain on the roof of the theatre (jemand hustet im Zuschauerraum) or a door slams, or footsteps or someone coughs here, inside the auditorium. Or a chair creeks. Or maybe you hear nothing.... it’s just quiet. Just quiet.... It’s not important. What’s important is that you are looking at me. And the lights are going out, and soon, perhaps much sooner then you expect, I vanish, I disappear, I’m gone forever and I’m never coming back..... This is the final moment.... This is the last light. (Der letzte Scheinwerfer erlischt, totales Black.) Die Inszenierung scheint sich hier noch einmal kurz, ganz explizit, an ihr Publikum zu wenden und durch den Mund der Figur Cathy verlauten zu lassen, wie wesent51 Hinweis zur Transkription: Punkte geben sekundengenau Sprechpausen wieder; Handlungen die zeitgleich mit Gesprochenem stattfanden wurden in Klammern und kursiv wiedergegeben.
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lich die Magie der Begegnung für das Theaterereignis ist; doch selbst dies geschieht nicht, ohne spielerisches Augenzwinkern: Wurde doch Cathy im Verlauf der Inszenierung als unheilbare Theateridealistin gezeichnet, die immer wieder an den eigenen Ansprüchen scheitert. Hinzu kommt, dass Figur Cathy in ihrer Ansprache eine ins absurde gesteigerte »literarische Performativität« vorführt: Cathys Thematisierung der Unleserlichkeit ihres Gesichtes wird mit den seltsamen schwarzen Striemen, die in dieser Szene ihr Makeup formen, zugleich performt: Die Striemen könnten für einen American Football Spieler stehen, oder für andere Sorten der Kriegsbemalung – wird hier dem Publikum den Kampf ansagt? In Kombination mit Cathys Kostüm, einem schwarzen Tutu, könnte aber auch eine traurige Harlekina gemeint sein, eine Figur ganz durchtränkt von tragischer Ironie, schließlich könnte das Makeup an die tarnende Bemalungen erinnern, die elektronische Gesichtserkennung verhindern. Weiterhin okkupiert Cathy parasitär den »last moment« der Aufführung, um einen pathetisch übersteigerten Monolog über die Metaphysik der Präsenz zum Besten zu geben. Die Figur wirkt dadurch nicht nur pathetisch und ein wenig lächerlich, sondern auch höchst verletzlich und wahrhaftig. Wie schon so oft im Verlauf der Aufführung, bestätigt sich also auch hier der Zauber der TheaterPräsenz und wird im selben Moment verneint. Selbst im letzten Augenblick hat die Aufführungssituation damit Eindeutigkeit verspielt und Spielräume der Deutbarkeit für ihr Publikum gewahrt. Nimmt die Zuschauerin die unterschiedlichen Mitspielangebote wahr, die die Aufführungen Bloody Mess und The World in Pictures anbieten, erlebt sie möglicherweise eine kathartische Wende, denn der Verweis auf die Konstruiertheit und die Inszeniertheit der sozialen Situation ›Theateraufführung‹ sowie auf die Unerreichbarkeit totaler Präsenz wird in beiden untersuchten Inszenierungen umgedeutet. Vom Verlust großer Geschichten und Gewissheiten ausgehend, zeigen sie während ihrer bunten Aufführungen in situ auf die schiere Menge möglicher Perspektiven und auf deren manchmal melancholischen, manchmal auch brüllend komischen Reichtum gemeinsam ›erspielten‹ Sinns. Insofern betreiben die untersuchten Inszenierungen ein praktisches Zeigen auf die bittersüßen Paradoxien der Wahrnehmung von Präsenz, die Jean-Luc Nancy wie folgt beschreibt: »I see this green tree shining in the sunlight, I am in it, I pass into it, I merge with it – to the point where this confusion forestalls itself because it resounds in me as an approach to an unimaginable intimacy. [...] the space of the resonance, of relay which brings me back to myself by way or the other, in the other and as other at the same time as this other – here the green, the precise green of this precise tree, the precise gleam of this moment of sunshine comes back to itself in such a way that it becomes precisely ›this‹ green, this nuance, this meaning or this aspect, which furthermore is at the same time a touch and also vaguely some part of a smell, a sound, or a taste.« (Nancy 2011b: 215f )
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c) Fazit: Die Produktion negativer Erfahrung als ästhetische Strategie Betrachtet man die bis hier untersuchten Aufführungsrahmungen in ihrer Kombination, ihrer Abfolge, ihren angebotenen Publikumspositionen sowie in den entstehenden Fallhöhen, lassen sich einige Aussagen zur Ästhetik der Inszenierungen treffen, die ich im Folgenden zusammenfassen möchte. Beide Inszenierungen machen Inszeniertheit und damit auch situative Konstruktivität im weitesten Sinne sichtbar; sie verdeutlichen das soziale und praktische ›Gemacht-Werden‹ von Subjekten, Gruppen und großen Erzählungen. Dass gerade im klassischen Theaterkontext die Spielregel der ›Überantwortung‹ gilt, zeigt sich ebenfalls im Verlauf der Aufführungen – nur allzu deutlich, wenn ›Avatare‹ der Zuschauer wilde Erotik erleben oder vom Dach stürzen. Dabei verabschieden sich die Inszenierungen Bloody Mess und The World in Pictures nicht nur von souveränen Sprechersubjekten und von vormals Identität stiftenden, großen Erzählungen, sondern sie betreiben auch ein Abschiednehmen von jeder Präsenzmetaphysik der Theateraufführung.52 Das ›Mitspielen‹, das die Aufführungssituationen Bloody Mess und The World in Pictures ihrem Publikum anbieten, lässt sich dabei als ästhetisierte Zuschaupraxis beschreiben: Die Produktion multipler Teilnehmerschaft wird auffällig im ›Hin und Her‹ zwischen Produkt und Produktion, Sinnlichkeit und Sinn. Angereichert werden diese spielerische Präsenzproduktion und Situationsreflexion mit Kommentaren, die die Aufführungssituationen über die angebotenen Narrationen liefern; ›mitspielende‹ Zuschauer können sich an philosophische Diskurse, z.B. zur postmodernen Verfasstheit des Subjekts, erinnert fühlen. Zentrales Thema in Forced Entertainments Aufführungssituationen aber wird die Feier theatraler Begegnung in all ihren Ambivalenzen und Unwägbarkeiten. Der Wechsel zwischen angebotenen Zuschaupositionierungen, wie ihn die Aufführungen anregen, lässt sich dabei gewinnbringend als ein Angebot zum ›Mitspielen‹ beschreiben. Im hier verwendeten Spielvokabular konnte verdeutlicht werden, auf welche Weise das Wechselspiel aus Distanzierung und Involvierung praktisch möglich wird. Die Konzeption des Publikums als aktiv ›mitspielend‹ kann begreiflich machen, wie teleoaffective structures, z.B. in Form von Zuschauererwartungen, ins Spiel gelangen: In ihrer Dramaturgie eines dauernden Rahmenbruchs bzw. der »negativen Erfahrung« zeigen beide untersuchten Aufführungssituationen sich als Möglichkeitsräume aufmerksamer Reflexion von Inszeniertheit, ohne dabei als Absage an Inszenierung zu wirken. Vielmehr präsentieren sich auf den ›Hinterbühnen‹ der jeweils entlarvten Inszenierungen, bildlich gesprochen zwischen den einzelnen 52 Mit André Eiermann gesprochen wären Forced Entertainments Arbeiten also »postspektakulär« zu nennen; vgl. Eiermann 2009, S. 17f.
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Schichten vorgeführter Subjektivierungen, inmitten des Gestänges und der Pappmaché-Kulissen ihrer ›großen Panoramen‹, ebenso im Wagnis theatraler Überantwortung vorher ungekannte Winkel und Verstecke, geheimnisvolle Räume voller Möglichkeiten zum ausufernden Spiel. Um immer wieder aufs Neue solche komplexen Spiele entstehen zu lassen, bedienen sich die Inszenierungen in ihren Aufführungssituationen wiederholt der bis hier in zahlreichen Einzelbeispielen beschriebenen, wirksamen Spielstrategie: Mögliche Rahmungen der Aufführungssituation werden aufgerufen bzw. evoziert, werden verstärkt, um schließlich zum Einsturz gebracht zu werden. Vorgeführt wird den Teilnehmern der Aufführungssituationen Bloody Mess und The World in Pictures also eine immer wieder neu ansetzende ›Kodierung‹ von Spielregeln und -Rollen – eine Art des unerbittlichen Spielens, die Erwachsene vermutlich oft schon verlernt haben, die es sich aber möglicherweise wieder zu entdecken lohnt. Andrew Quick beschreibt eine entsprechende Form ausufernden Kinderspiels in seinem Beitrag Play zu Forced Entertainments Marathon Lexikon: »We’re playing ,Three Little Pigs‹ and I, of course am the big bad wolf. I blow the house down and another is quickly and hysterically rebuilt, resurrected in an atmosphere infused with a mixture of glee and fear. The game goes on too long, I’ve lost count how many times the house has been blown down and I am becoming bored with story’s repetitive structure. I wish to bring it to an end. Admitting failure as the wolf, I become an earthquake and then a storm, hoping to destroy the house for good, hoping that this will finish off this environment that seems impervious to all the disasters that I attempt to throw at it. But I’m ordered to stop. ›It’s hot now, it’s summer – let’s have a picnic‹. The game has morphed, a different space is quickly established and I’m sucked into a new narrative and a new set of inventions, my attempt at bringing any sense of ending is artfully thwarted.« (Quick 2003: 145)
Die Aufführungspraxis von Bloody Mess und The World in Pictures lässt sich also als komplexes, immer neu ansetzendes, in Krisen versetzendes und sich dabei selbst entlarvendes Spiel nachvollziehen, dessen Regelwerk gleichsam ›weich‹ und in Verhandlung befindlich erscheint. Praktiken des entlarvenden Vorführens und Zeigens erweisen sich dabei als die typische Geste dieses Spiels. Im folgenden Punkt soll untersucht werden, inwieweit auch die Zuschauer der Aufführungen Zeigepraktiken ausführen, ihr ›Mitspielen‹ aktiv wahrnehmbar machen.
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4. E MPIRISCHE P UBLIKUMSFORSCHUNG Soziale Praktiken, in der praxeologischen Konzeptionalisierung, der sich diese Arbeit anschließt, verfügen immer über eine grundlegende Expressivität, sie machen sich ihren Teilnehmern begreiflich. Robert Schmidt beschreibt dieses Moment sozialer Praxis als ihre »Öffentlichkeit«:53 »Für die Praxeologie sind die wahrnehmbaren Körperbewegungen und Objekte ein sinnhaftes Verhalten, das für die Teilnehmer von Praktiken unmittelbar verständlich ist. Eine Praktik zu lernen, heißt immer auch, die jeweilige praktische Intelligibilität zu erwerben, die die öffentlichen Praktiken sinnhaft strukturiert. Diese Bedingung der Wahrnehmung ist selbst nicht unmittelbar wahrnehmbar. Sie wird in Form von körperlichen Dispositionen und inkorporierten Wahrnehmungsschemata (›implizites Wissen‹) in die Praktiken hineingetragen. Die durch Praktiken aufgespannte Öffentlichkeit ist somit immer an einen Hintergrund praktisch erworbener Fähigkeiten und Wahrnehmungsweisen geknüpft.« (Schmidt 2011: 25)
Herkömmliche Theaterpraxis, im Sinne eines professionalisierten Vorführens, nutzt immer schon elaborierte Zeigepraxis, um Aufführungen entstehen zu lassen und steigert dafür die Wahrnehmbarkeit (bzw. mit Schmidt »Öffentlichkeit«) der Praktiken, die sie vorführt – z.B. indem Schauspieler besonders gut hörbar und deutlich sprechen, überdeutliche Gesten nutzen, etc. Die in den Inszenierungen Bloody Mess und The World in Pictures genutzten Darstellungspraktiken führen allerdings weit über jede implizite Öffentlichkeit und auch über jede theaterspezifische Performativität hinaus, indem ein dauerndes Spiel des Zeigens und der Explikation der entsprechenden Zeigepraktiken vorgeführt wird: Denn Bloody Mess und The World in Pictures legen auf spielerische Weise immer wieder den von Schmidt angesprochenen »Hintergrund praktisch erworbener Fähigkeiten und Wahrnehmungsweisen« offen, an dessen Existenz theatrales Zeigen geknüpft ist. In vielen kleinen Schritten bewegen sich die untersuchten Aufführungssituationen Bloody Mess und The World in Pictures dabei auf ihre Zuschauer zu, spielen sie zeigend an, halten ihre Aufmerksamkeit sanft umsponnen, um darauf in immer neuen Enthüllungsgesten den Blick auf die wahrnehmende Aktivität, auf die Wahrnehmungspraxis selbst zu lenken. Nun fragt sich, inwieweit sich die so intensiv angespielte und eingespielte Wahrnehmungspraxis der Zuschauer, das Mitspielen des Publikums, bemerkbar macht; denn konzipiert man das Zuschauen im Theater seinerseits als eine soziale Praxis, müsste es in irgendeiner Form »öffentlich« werden (im zitierten Sinne Robert Schmidts).
53 Vgl. Kapitel I.2 der vorliegenden Arbeit.
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a) Das Publikum als Performer? Um mich dieser Praxis wahrnehmenden ›Mitspielens‹ von Zuschauern anzunähern, habe ich im Verlauf meiner Studie mehrfach meine auf die Bühne blickende Position im Zuschauerraum aufgegeben; zunächst habe ich mit denjenigen gesprochen, die jede Aufführung der Inszenierungen Bloody Mess und The World in Pictures miterlebt haben – also mit den Mitgliedern Forced Entertainments. Dabei schilderte Tim Etchells den Eindruck, den Forced Entertainment von der Bühne aus von ihren Zuschauern erhalten. Er konzipiert dabei zwei Extreme: Ein zufriedenes, entspanntes Publikum stellt er einem angespannten, besorgten Publikum gegenüber:54 Tim Etchells: »Well, I suppose... our experience is probably not so unusual, in that we talk about confident audiences; audiences that are relaxed and that are prepared to laugh, are prepared to go with you if you go in a strange direction or make something difficult... And they are prepared to be teased, provoked or pushed but they don’t take that very personally, because they don’t mind, because everything’s okay. And then I think we talk about the opposite of that, which might be an audience that lacks confidence, is tense in some way... I mean you can find that, perhaps in places where the kind of work that we do hasn’t been presented so much... or when it’s our first visit to somewhere... and you get an audience which in a way DOESN’t know what to expect AND is deeply worried about it rather than relaxed about it. [...] You know, the worried ones tend to be offended if you say something contentious or playfully confrontational.. but a confident audience will likely take something like that as a joke. I guess the unconfident or worried audiences are reluctant to laugh too – or they try too hard to laugh, like ›humhumhum‹ [mimics a forced laughter]. So like that I would say audiences for us are somewhere on a scale between confident and closed, worried. Confident being open and generous and ready for what comes... perhaps not trying to direct it too much. That’s talking about two very black and white situations. More often you get an unstable mix, you get a sense that some people are really with you and laughing and going with it very generously, and the sense that other people are more... sitting back in their seats, not really into it, bit bored, or, miserable, I don’t know...«
Zunächst zeigt sich, dass die Art und Weise, wie Tim Etchells über das Publikum Forced Entertainments spricht, sich gut mit dem Modell von Aufführungssituationen als ›Spielen‹ verbinden lässt, da hier mit der Idee eines bereitwillig ›mitspielen54 Seit dem Jahr 2004 habe ich Tim Etchells, Gründungsmitglied Forced Entertainments, häufig interviewt und ihn unter anderem zu den wahrnehmbar werdenden Praktiken des Publikums der Kompanie befragt, vgl. den Anhang dieser Arbeit; der hier zitierte Ausschnitt stammt aus dem Live-Interview vom 28.03.2008. Auslassungen sind mit [...] gekennzeichnet. ›Einfache Anführungszeichen‹ in der Transkription beziehen sich auf ironische oder zitierende Redeweise.
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den‹ bzw. eines widerständigen, unwilligen Publikums operiert wird. Inwieweit ein Publikum mehr oder weniger ›spielfreudig‹ ist, zeigt sich dabei offenbar an der Art des hörbar werdenden Gelächters. Daher fragte ich im selben Interview, auf welche Weise genau das Publikum durch die Künstler wahrgenommen würde; ob man beispielsweise von der Bühne aus evtl. am ehesten einen räumlichen Eindruck erlangen würde: Tim Etchells: »You sense it spatially [...] You can say that there are some ones over there who were always laughing, and then just over there it felt more like, yah... [makes a face] not so good.« Stefanie Husel: »And... did you have the situation to talk about special kinds of laughter or other utterances... I mean: do you have a vocabulary, talking between each other, for audience utterances? – not whole audiences but, maybe, a special kind of laughter, special kind of shouting...?« TE: »I think we know that there is this laughter through which certain people try to prove that they know what this is; I mean, there is a kind of performance of the audience-members to other ones, to say: ›Yes, ha ha ha!! I know this is all good!‹ which is always a bit of a worrying sign, beause it tends to put other people off. So we don’t necessarily like to hear that one... Or of course you get some laughter, that is like testing the water, to see if it’s okay to laugh. Concerning shouting, well, people rarely do that in the performances! But on the very rare occasions when they do it feels like a performance for the rest of the audience, really.«
Tim Etchells flicht also in unserem Interview verschiedene Begründungen dafür ein, warum Publikumsmitglieder möglicherweise bestimmte Lautäußerungen zeigen; insofern erzählt das Interview auch von der ›Teilnehmertheorie‹ Tim Etchells, also von der Art und Weise, wie Etchells als Akteur seines beruflichen Feldes eigene Wahrnehmungen einordnet, intellektualisiert und ggf. weiterverarbeitet. 55 Im äußerst reflexiven und diskursiv aktiven Feld postdramatischen Theaters ist das Resümieren über die Theaterpraxis absolut nichts Ungewöhnliches; so nutzt Tim Etchells Anekdoten über besonders intensive Publikumsreaktionen, von Momenten, in denen Publikumsmitglieder ihrerseits Rahmenbrüche provozieren, nicht nur im zitierten Interview, sondern auch in einigen seiner Veröffentlichungen zur Arbeit Forced Entertainments. Beispielsweise findet sich im Text A six-thousandand-forty-seven-word manifesto on liveness in three parts with three interludes die E-Mail eines aufgebrachten Besuchers einer Aufführung von Forced Entertainments 55 Zu ›Teilnehmertheorien‹, die sowohl aus der Praxis stammen als auch über die Praxis resümieren, merkt Schatzki an: »People, it is important to note, are almost always [...] aware of and also have words for the integrative practices in which they participate. [...] This means that a significant clue to which practices constitute people’s lives is the vocabulary they use to classify their activities.« (Schatzki 2003: 104).
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Inszenierung First Night: »Dear Forced Ent, Last night it was me that walked out of your show and yelled ,CRAP‹. It’s beyond me why you need to put the audience in an uncomfortable position [...] I can’t respect a group like you that plays games with the audience.« (Etchells 2004 : 214) Etchells verwendet den zitierten ärgerlichen Brief, um anhand seiner öffentliche Antwort das ästhetische Konzept Forced Entertainment vorzustellen.56 Auch im zitierten Interview kam eine ähnlich intensive, aus dem Rahmen fallende Äußerung einiger Zuschauer zur Sprache:57 SH: »Do you have more anecdotes like this, which come immediately towards you... about audience-reactions?« TE: »The one I just mentioned IS my favourite really.. It came from a First Night performance in Brighton, where in the middle of Terry’s long monologue one audience member shouted ›boring‹ or ›bollocks‹ or something like that. There was just a beat and then another audience member stood up and directed himself across the auditorium to the person that had spoken, shouting ›Shut the fuck up‹. So it was a great moment, feeling that the audience would now fight and we’d be left on the stage [SH laughs] to do whatever/ SH: [still laughing] To become the audience! / TE: Yeah! Exactly!« [laughs]
Schilderungen von Publikumsreaktionen, die den Rahmen der Aufführung – zumindest für Momente – sprengen, werden also offenbar gerne dazu genutzt, um zu beschreiben wie Inszenierungen der Kompanie sich verstehen und welche Intention sie verfolgen.58 Anhand der ausgewählten und ihrerseits illustrativ geschilderten 56 »Dear X, [...] We certainly do feel an obligation to be true, to be challenging, to raise questions about performance and about the culture we live in. We do also try hard to be entertaining but not, I think, in the precise way, that you’re asking for.« Die öffentliche Antwort auf das Schreiben endet mit einer kleinen Entschuldigung: »Anyway X, this has been a bit of a ramble I’m afraid. Maybe it’ll shed some light on what we think we’re up to. I hope so. In a certain way of course I am sorry that you didn’t like the show. Maybe the next one will speak to you better. Thanks again for your mail.« (Etchells 2004: 215f). 57 Überlappende Sprecherwechsel, Einwürfe u.ä. plötzliches Tuntaking wurden in der Transkription dargestellt, indem in derselben Zeile ein Slash »/« sowie die Initialen des übernehmenden Sprechers angegeben wurden. 58 Goffman merkt in Kapitel 11. der Rahmen-Analyse an, dass Rahmenbrüche nicht nur live die Chance zur Bündelung von Aufmerksamkeit besitzen, sondern dass sie insbesondere in »modulierter« (also z.B. »erzählter« oder »vorgespielter« Form) ihre aufmerksamkeitssteuernde Wirkung entfalten können (vgl. auch Kapitel II. der vorliegenden Arbeit). Diesen Effekt begründet Goffman mit dem Schutzraum, den Fiktionen bieten: Die erzählte bzw. nachgespielte Begebenheit besitzt nun einen schützenden Rahmen (den des Schauspiels oder der Erzählung); auf das hier verwendete Beispiel angewendet: Die von Etchells zitierten Zuschauer werden im Moment der Erzählung keiner Aufführung mehr ge-
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Anekdoten wird dargestellt, dass die Gruppe daran Interesse hat, Aufführungssituation experimentell anzulegen, herausfordernd und mit forschendem Interesse, doch auch, dass die Gruppe dabei nicht beabsichtigt, ihr potentielles Publikum vor den Kopf zu stoßen.59 Unabhängig von solcher (notwendigerweise) im Diskurs der Theatermacher hindurchschimmernder Apologetik, erscheint es im Hinblick auf meine Frage nach der Wahrnehmbarkeit von Publikumspraxis interessant, dass Publikumsmitglieder sich offenbar fortwährend und vernehmlich äußern und sich auf diese Weise ihrerseits performativ betätigen – sei es auf rahmenbrecherische Weise, wie in den genannten Anekdoten von ›angespannten‹ und schließlich ›aushakenden‹ Zuschauern, sei es auf eine ›entspannte‹ Weise – in einem Mitspielen also, das sich, wie Tim Etchells im ersten zitierten Interview formuliert, offen für Neues zeigt. Auch Hans-Thies Lehmann reflektiert über das wahrnehmbar werden von Publikums-Äußerungen, er spricht dabei von »Antworten« auf die Anrufe des Theaters: »Theater verlangt seinen Formgegebenheiten nach im Grunde von den Rezipienten einen Dialog, eine Antwort [...]. Als Fragmente der im wesentlichen potenziell bleibenden respondierenden Beziehung zwischen Bühne und Publikum könnte man das gemeinsame Gelächter, [...] Beifall oder Zwischenrufe, auch die Kundgebungen des Missfallens interpretieren.« (Lehmann 2004: 50)
Lehmann beschreibt die Antworten des Publikums in diesem aus dem Jahr 2004 stammenden Aufsatz, Prädramatische und postdramatische Theaterstimmen, als »im Potenziellen verharrend«; die Möglichkeiten der Zuschauer, auf Theater zu antworten, scheinen hier nur rudimentär vorhanden, scheinen in der (traditionellen) Zuschauposition nur in reduzierter, beschnittener Weise vorzukommen. Im Essay Versuch zum Verstehen aus dem Jahr 2011 allerdings revidiert Lehmann diese Einschätzung der Zuschauerantwort; denn hier fasst er das Rezipieren bzw. »Verste-
fährlich; auf diese Weise kann der aufmerksamkeitserzeugende Effekt ihres (neu gerahmten bzw. modulierten) Rahmenbruchs nun anderweitig verwendet werden. 59 Dieser Grenzgang, intellektuell anspruchsvolle Mehrbödigkeit, Vergnüglichkeit und dennoch zugleich eine beständige Erinnerung an die Fragilität jeder Aufführungssituation miteinander zu verbinden, gelingt in Aufführungssituation Forced Entertainment zumeist sehr gut: Die Aufführungssituationen bleiben trotz ihres Grenzgängertums ›stabil‹, sie enden nicht im Skandal, sie können sogar meist über lange Zeiträume auf Tournee gehen und immer wieder aufs Neue ein kooperativ ›mitspielendes‹ Publikum finden. Auch deshalb kann die wütende E-Mail Grundlage einer Besprechung des Theaterkonzepts Forced Entertainments werden: Die dort zitierte Zuschauerreaktion stellt die Ausnahme der Regel dar, kann damit, statt als Bedrohung zu wirken, als Darstellungsmittel in einem theoretischen Text verwendet werden.
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hen« des Zuschauers emphatisch als ein Tun, als eine Geste, schließlich als eine eigene Szene auf: »Fortschreitendes Verstehen erfasst vielmehr, wenn es glückt, in der Aussage etwas anderes, nennen wir es, sehr vorläufig, eine Geste, ein Gestikulieren, einen Ruf und Anruf, ein Tun mithin, das sich, intentional oder nicht, an den Verstehenden richtet. Auf ein Tun aber kann Verstehen, insofern selber als Tun verfasst, antworten gerade nicht als Erklärung, Kommentar, Hermeneutik, sondern immer nur als mehr: selbst als ein Tun, vorläufig als Zuwendung, Antworten, Aufmerken zu denken, als Öffnung für einen notwendigen Rest des Ungesagten im Sagen. Verstehen vollzieht sich immer als (und in einer) Szene.« (Lehmann 2011: 29)
Bezogen auf die Aufführungssituationen Bloody Mess und The World in Pictures lässt sich an diesem Punkt also die Frage stellen, ob – und gegebenenfalls wie – es möglich sein könnte, dieser »Szene des Verstehens«, dieser mitspielenden Praxis des Publikums konkret nahe zu kommen, auch wenn diese Praxis keine – aufmerksamkeitsbündelnden – Rahmenbrüche produziert. Lässt sich die Praxis eines »entspannten« Publikums in ihrer vielleicht dezenten doch vermutlich wahrnehmbaren »Öffentlichkeit« konkret beobachten, bzw. anderweitig wahrnehmbar machen? In den folgenden Unterpunkten der Untersuchung soll ein Ausflug in die Empirie konkreter situativer Zuschaupraxis geschildert werden, der u.a. dieser Frage nachging. b) ›Aisthetoskopie‹ des Zuschauerraums Als teilnehmende Beobachterin so vieler Aufführungssituationen der Inszenierungen Bloody Mess und The World in Pictures war mir aus eigener ZuschauErfahrung sehr oft spürbar geworden, wie intensiv die »Antworten« meiner MitZuschauer meine eigene Aufführungserfahrung mitbestimmten. So lauerte ich als Zuschauerin häufig gespannt darauf, ob umsitzende Zuschauer/innen dieselben Momente lustig oder melancholisch finden würde wie ich, fühlte mich darauf in manchen schmerzlich ausgeschlossen, meistens aber in ein gemeinsam ›Sinnmachendes‹ Kollektiv eingewoben. Diese so eng an Live-Situationen gebundene Erfahrung der Sozialität von Zuschaupraxis wird in den reflexiven und komplexenspielerischen Aufführungssituationen Bloody Mess und The World in Pictures besonders intensiv erlebbar, erweist sich aber als mit herkömmlichen analytischen Werkzeugen nur schwer fassbar: Das live spürbar werdende Miteinander lässt sich, wie unter I. erörtert, beim Ansehen eines Videos nicht reproduzieren und selbst ein Erinnern, das sich nur auf Videoaufzeichnungen stützen kann, fällt schwer. Das räumliche und dabei genuin soziale Fühlen eines einzelnen Körpers unter Körpern, in all seiner Konsequenzbehaftetheit (z.B. Scham, sollte die Einzelne einmal zu laut
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gelacht haben u.a.) erweist sich als kaum reproduzierbar. Dennoch kann und muss davon ausgegangen werden, dass es grundsätzlich möglich ist, in die Praktiken eines konkreten Publikums zu blicken bzw. hineinzulauschen, denn in der Situation machen sie sich ja offenbar auf vielfältige Weise und äußerst deutlich füreinander bemerkbar. Die bis hierhin immer wieder ›aisthetoskopisch‹ genutzten Aufführungsvideos erwiesen sich bei der Suche nach der Performance des Publikums allerdings als wenig ergiebig, da sie eine Frontalansicht der Bühne und/oder Zooms auf das Bühnengeschehen zeigen, doch keine Mitzuschauer;60 selbst die akustische Präsenz des Publikums ist auf Mitschnitten zugunsten der Hörbarkeit des Klanggeschehens von der Bühne minimiert – je professioneller der Mitschnitt, umso mehr. Ausgehend von diesen Überlegungen und Zugangsschwierigkeiten zur Praxis des Publikums, unterbreitete ich Forced Entertainment in den Jahren 2007 und 2008 mehrere Vorschläge, meine Studie auf die Empirie des Zuschauens auszuweiten. Dabei gelangte ich schließlich gemeinsam mit der Gruppe zu einem Versuch auditiver PublikumsForschung. Die Entscheidung für eine auditive Erhebung von ›Publikums-Daten‹ wurde dabei zunächst im Ausschlussverfahren getroffen: Andere, ebenfalls denkbare Erhebungsformen schieden aus ethischen und ästhetischen Bedenken aus.61 Zudem schien eine rein auditive ›Beforschung‹ des Publikums den praktischen Gegebenheiten der Aufführungssituation zu entsprechen: Denn die theatertypische Raumsituation, die auch in Bloody Mess und The World in Pictures gegeben ist, besetzt den ›visuellen Kanal‹ der Zuschauer auf eine Art und Weise, die es Publi60 Zur ›aisthetoskopischen‹ Nutzung von Aufführungsmitschnitten vgl. ausführlich unter Kapitel III.1. 61 Von meiner Seite schienen verschiedene Frage- und Forschungsrichtungen machbar, die ich Forced Entertainment vorschlug. Über die Reaktionen der Gruppe war ich zunächst erstaunt, da dort vor allem Ressentiments gegenüber jeder Form der offenen Publikumsbefragung existierten. Bei genauerem Hinsehen aber begriff ich den Grund für diese Abneigung schnell, u.a. da die Erklärung, die ich von Tim Etchells per E-Mail erhielt, klar formuliert war: »I guess we think that even if this is done subtly it intervenes in what we are doing and might upset/twist the experience of coming to the show.« Offenbar war hier die Reflexivität meiner Forschung zu nahe an die Reflexivität der ästhetischen Forschung Forced Entertainments geraten: Das künstlerische Selbstverständnis der Kompanie besteht gerade im Gestus der Forschung und des Experiments. Eine zweite forschende Stimme, die explizit auf Zuschauer zuträte, würde in dieses künstlerische Selbstverständnis intervenieren, würde das ästhetische Erlebnis, das die Gruppe ihrem Publikum ermöglichen möchte, eventuell sogar (zer-) stören. Das Filmen von Publikumsmitgliedern war aus ähnlichem Grund nicht machbar: Ein offensichtliches und angekündigtes Filmen würde ähnlich einer Befragung in die Aufführungssituation intervenieren; ein verdecktes Filmen verbot sich rechtlich und ethisch.
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kumsmitgliedern kaum ermöglicht, untereinander visuell zu interagieren: In fixierten Sesseln sind sie nach vorne ausgerichtet um auf die Bühne zu sehen, und eben nicht um sich gegenseitig anzusehen. Ein ›Sich-Umsehen-im-Zuschauerraum‹ ist entsprechend im Verlauf einer klassischen Theateraufführung nur schwer möglich. Wird es dennoch betrieben, fällt es als kleines Moment des ›Aus-dem-RahmenFallens‹ auf und wird entsprechend verstohlen bewerkstelligt. Auch die Lichtsituation im gewöhnlichen Theatersaal entspricht dieser Ausrichtung aller visuellen Wahrnehmung in Richtung Bühne: Selbst wenn eine Zuschauerin wollte, könnte sie ihre Mitzuschauer doch nur schemenhaft im Dunkeln wahrnehmen. Wollte sie sich umgekehrt selbst visuell bemerkbar machen, wäre dies mit relativ viel Aufwand verbunden und würde wiederum den Rahmen der Aufführungssituation – zumindest punktuell – brechen.62 All dies gilt aber nicht im selben Maße für den ›auditiven Kanal‹, der im Gegensatz zum visuellen gewissermaßen noch Kapazitäten für Performances des Publikums frei hält:63 Hörbar machen können sich Publikumsmitglieder füreinander, ebenso wie für die Theater-Mitarbeiter auf und hinter der Bühne – und dies, auch ohne den Rahmen der Situation zu gefährden oder gar zu sprengen. Zuschauer hören nicht nur ihrerseits rezipierend dem Bühnengeschehen zu, sie 62 Um im Verlauf einer Theateraufführung visuell wahrnehmbar zu werden, müsste eine Zuschauerin etwa mit körperlichen Bewegungen auf sich aufmerksam machen, z.B. durch heftiges Aufspringen. Insofern kommt es in einer klassischen Theateraufführungssituation einem Rahmenbruch gleich, wenn Publikumsmitglieder während der Aufführung selbst visuell wahrnehmbar werden; Sichtbarkeit von Publikumsmitglieder erzählt insofern nur ex negativo etwas über das praktische Tun von ›mitspielenden‹ Publikumsmitgliedern – wie z.B. weiter oben, in Etchells Beispielen der aufspringenden Publikumsmitglieder in First Night. Während der für die vorliegende Studien dokumentieren Aufführung in Leeds wird tatsächlich so ein Rahmenbruch sichtbar: In der ›5 Minutes of Silence‹ Sequenz betrat eine Zuschauerin die Bühne, nahm sich einige Bonbons vom Boden und setzte sich dann wieder zurück auf ihren Platz (vgl. Husel/Forced Entertainment 2008: 01.51.00). 63 Außer in den Momenten, in denen übermäßig laute Musik eingespielt wird, wie in Bloody Mess mehrfach der Fall; damit lässt sich eine weitere Aussage über die Gesamtstruktur dieser Aufführungssituation treffen (vgl. Kapitel III): Die immer wieder äußerst laut eingespielten Songs (Born to Be Wild, Silvermachine, u.a.) besetzen den ,Audiokanal‹ so vollständig, dass weder das Publikum unterdessen sein eigenes Wort (bzw. Gelächter) hören kann, noch die Ethnografin. Man könnte die extrem lauten Phasen der Aufführung insofern auch als Inszenierungsmittel beschreiben, mit Hilfe dessen das Aufführungsgeschehen für Momente gar keine Rückmeldung mehr innerhalb des Publikums erlaubt, damit auch kollektives ›Sinn machen‹ weitgehend unterbindet. Insofern vermitteln die Musikeinspielungen auf einer äußerst basalen Ebene das Gefühl, dass eine Szene im Chaos untergeht, in totaler »bloody mess«.
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hören sich auch gegenseitig und können, z.B. durch ihr Gelächter, Rückmeldungen geben; diese besitzen häufig performativen Charakter. In einem intensiven, technisch unterstützten ›Hineinlauschen‹ in die Tonlandschaft einer Aufführung scheint daher also die geeignete ›Aisthetoskopie‹ für die Suche nach Zuschaupraktiken zu bestehen. Zu diesem Schluss gelangt auch Madeleine Mervant-Roux: »My research concerns ,the sound of theatre‹ and the way audiences listen. The purely auditory recordings, undertaken systematically from the beginning to the end of the run of the production, foreground the entire theatre event, including the audiences, and enable one to consider the ,performance‹ as a living organism that evolves over a period of time. This research into the phenomenon of sound, applied to other objects, is opening new perspectives on the function of the spectator in contemporary performance practice.« (Mervant-Roux 2010: 224)
Im Jahr 2008 erstellte ich daher während einer Aufführung der Inszenierung Bloody Mess in Leeds, UK einen Tonmitschnitt, der Lautäußerungen des Publikums während einer Aufführung wiedergibt.64 Die Aufnahme gibt relativ erlebnisgetreu wieder, was eine Zuschauerin während dieser Aufführungssituation tatsächlich hören konnte. Um im Nachhinein überprüfen zu können, was jeweils gleichzeitig auf der Bühne zu sehen war, wurde während derselben Aufführung eine Videoaufnahme des Bühnengeschehens erstellt (Husel 2008).65 Der Umfang und die finanziellen Mittel der vorliegenden Studie erlaubten nur ein einmaliges Durchführen dieser recht aufwändigen Form der Audioforschung. Daher verharrt die Besprechung ihrer Ergebnisse auf dem Stand eines einmaligen ›Hineinlauschens‹ und einer ›impressionistischen‹ Besprechung des Gehörten. Doch schon dieser erste Versuch konnte einige Erkenntnisse erzielen, die im Folgenden besprochen werden sollen, und die möglicherweise einen Weg zu weiterer auditiver Erforschung von Zuschaupraxis
64 Ich platzierte hierfür ein Aufnahmegerät mit vier über Kreuz ausgerichteten Mikrophonen auf einer Traverse, die sich mittig über dem Zuschauerraum in etwa sieben Metern Höhe befand. Das Gerät nahm auf diese Weise einen sehr räumlich wirkende Geräuschkulisse auf, ohne dabei von den Lautäußerungen einzelner Zuschauer dominiert zu werden; die vom Bühnengeschehen ausgehenden Geräusche sind ebenfalls gut vernehmlich – so sie nicht durch die vom Publikum hervorgebrachten Geräusche übertönt werden. In voller Länge ist der Mitschnitt bei der Autorin erhältlich, die im folgenden behandelten Ausschnitte finden sich auch online unter www.stefanie-husel.de. 65 Die Kamera war hierzu in der Lichtkabine, hinter dem Publikum platziert. Die Aufnahme (Husel/Forced Entertainment 2008) ist bei der Autorin erhältlich.
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ebnen (vgl. auch Husel 2013); mit Konversations-Analytikerin Gail Jefferson gesprochen, ließe sich also formulieren:66 »The following exercise may be seen as a demonstration of some of foregoing points: that is, that the detailed study of small phenomena can be useful and informative, that the results may be orderly, that without ,close looking at the world‹ one might not know such phenomena exist, and that the absence of a range of phenomena from the data base upon which theories of the social world are built can be consequential.« (Jefferson 1998: 27)
c) A detailed order! Beim Versuch mich blind lauschend in die genannte Aufnahme einzufinden, fiel mir zuerst die schiere Menge vernehmlicher Publikumspraxis auf, namentlich verschiedenste Formen des Gelächters, das so gut wie niemals verstummte. Eigentlich lachte das Bloody Mess-Publikum in Leeds, mit Ausnahme einiger weniger, auf diese Weise besonders auffällig werdender Momente, ununterbrochen, ohne dabei Pausen von mehr als einigen wenigen Sekunden einzulegen. Besonders bemerkenswert an diesem ersten Eindruck war, dass diese übermäßige Präsenz performativer Publikumsäußerung beim Zuschalten des Videobildes für meine Wahrnehmung wieder in den Hintergrund trat. Anscheinend war die Anwesenheit – zum Teil auch sehr lautstarken – Gelächters so selbstverständlich, schien sich in der Aufführungssituation von Bloody Mess so ›natürlich‹ zu ergeben, dass ich sie bislang überhört bzw. nicht weiter beachtet hatte.67 Bei genauerem Hinhören fiel zudem auf, dass das Bühnengeschehen trotz des ständigen, und oft kräftigen Lachens des Publikums dennoch gut hörbar blieb; die allermeisten auf der Bühne gesprochenen Äußerungen bleiben auf dem Mitschnitt sehr gut vernehmlich; das ›ständige‹ Gelächter scheint dort exakt in die, zum Teil nur Bruchteile von Sekunden dauernden, Pausen zwischen einzelnen Bühnenäußerungen eingefügt; diese exakte Einpassung, so lässt sich anhand der Aufzeichnun66 In der Besprechung meiner Eindrücke orientiere ich mich an ethnomethodologischem und konversationsanalytischem Vorgehen, das in einiger Hinsicht als Vorreiter praxeologischen Forschens gelten kann, vgl. Reckwitz 2003: 283. 67 Wenn ich mich an meine Anwesenheit als Publikumsmitglied in der Aufführung in Leeds zurückerinnerte, war mir auch dort nicht aufgefallen, wie intensiv und ausdauernd das Publikum (und mit dem Publikum vermutlich auch ich selbst) gelacht hatte. Es hatte sich um eine ›ganz gewöhnliche‹ Aufführung gehandelt. Dies ließ den Umkehrschluss zu, dass auch in anderen Aufführungen von Bloody Mess enorm viel Gelächter durch das Publikum performt wurde, ohne dass dies für mich bisher besonders auffällig geworden wäre.
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gen gut nachvollziehen, ist dabei nicht nur als Leistung der Darsteller Forced Entertainments zu beschreiben – auch wenn diese sicherlich daran beteiligt waren, ihr Sprechen auf seine Hörbarkeit hin am Gelächter des Publikums vorbei zu ›zielen‹.68 Vielmehr erweist sich die so perfekte Einpassung des Lachens auch und vor allem als eine Leistung des Publikums, das sich bei genauem Hinhören wie die fein abgestimmten Musiker bei einer Jam-Session im Jazz ausnimmt: Denn offenbar folgte das Publikum dem Bühnengeschehen mit höchst konzentrierter Aufmerksamkeit und ließ sein Gelächter sofort verebben, wenn eine Bühnenfigur zu sprechen anhob; die performative Aktivität des Publikumsgelächters zeigte sich also nicht als chaotisches oder unkoordiniertes ›Hevorplatzen‹ sondern eher als eine »detailed order«.69 Abbildung 10: Transcription »Romantic Hero«
Um der Schilderung dieses Eindrucks ein Beispiel hinzuzufügen, zeigt Abbildung 10: Transkription »Romantic Hero« eine (zwangsläufig grobe) Transkription der
68 Schon Erving Goffman hebt in seiner Rahmen-Analyse in ›befremdetem‹ (i.S.v. künstlich naiv gestelltem) Duktus hervor, wie erstaunlich es erscheint, dass in illusionistischen Dramenaufführungen das Abwarten von Figuren, bis Gelächter oder Szenenapplaus abebben, der Illusion scheinbar keinen Abbruch tut; diese Beobachtung bezieht er auf das Funktionieren von alltäglichen Situationen zurück, also solchen, die nicht künstlerisch gestaltet sind. Damit weist er auf die sublime soziale Ordnung hin, die Dramenaufführungen, wie allen anderen sozialen Situationen, zugrunde liegt und die soziale Wirklichkeit erst entstehen lässt. 69 Wie Gail Jefferson aus einer nicht veröffentlichten Vorlesung Harvey Sacks’ zitiert: »[W]hatever humans do can be examined to discover some way they do it« und »wherever one happens to attack the phenomenon one is going to find detailed order.« (Jefferson 1998: 25f).
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ersten sprachlichen Äußerungen während der mitgeschnittenen Aufführung von Bloody Mess. Vielstimmiges Publikums-Gelächter ist dort, jeweils in eigenen Zeilen, an der Stelle eingefügt, an der es, überlappend mit dem in der vorangegangenen Zeile transkribierten Text, auftauchte.70 Lediglich nach Erwähnen des »romantic hero« wartet Sprecher Richard ab, bis das Publikumsgelächter verebbt, bevor er weiterspricht; an den übrigen Stellen scheint sich das Publikum jeweils selbst wieder zum Schweigen zu bringen: Lacher verebben schnell, der auf der Bühne gesprochene Text bleibt tadellos hörbar; nur bei Sprecherwechseln, die an dieser Stelle der Aufführung aufgrund einer umständlichen Mikrophon-Weitergabe relativ langsam ablaufen, gestattet sich das Publikum länger gezogene ›Lachphasen‹. Den hochgradig »geordneten« und kommunikativen Gehalt von Gelächter in alltäglicher Konversation beschreibt Gail Jefferson in ihrem Buchbeitrag An Exercise in the Transcription and Analysis of Laughter. Sie macht deutlich, wie sehr der kommunikative Beitrag von Gelächter in der Konversationsanalyse häufig unterschätzt wird. Jefferson bespricht beispielsweise ein Gespräch, während dessen ein Sprecher eine harmlose Geschichte erzählt; es geht um einen abwesenden Freund, der sich in seiner Freizeit mit Orchideen beschäftigt, und von dem berichtet wird: »He was going to play with his orchids«; während dieser Erzählung performt einer der Zuhörer, sich zu Gunsten eines obszönen Gehalts der Erzählung verhört zu haben (»...play with his organ«). Seine Darstellungsleistung gelingt dem Gesprächsteilnehmer, indem er nachfragend einwirft »With iz what?« und anschließend verschmitzt lacht. Tatsächlich expliziert wird der Inhalt des möglichen Verhörers aber erst durch eine dritte Gesprächsteilnehmerin; diese legt ihrerseits »blubberndes« Gelächter über ihr Aussprechen der Obszönität (»heh huh ’hh PLAYN(h)W(h)IZ O(h)R’N ya:h I thought the same.«) Die durch das Gelächter bewerkstelligte Entstellung des Gesagten, so schließt Jefferson, »may specifically require, rely upon, and refer its recipients to their own guilty knowledge in order to analyze out of the distorted utterance what is being said.« (Jefferson 1998: 31) Jefferson stellt also fest, dass Lachen (das in der Konversationsanalyse all zu oft als ganz »natürlich hervorsprudelnde« Äußerung begriffen worden sei), in den von ihr näher untersuchten Situationen eine äußerst feine soziale Koordination ausdrückt bzw. erst bewerkstelligt: Lachend ermöglichen sich Gesprächsteilnehmer das bemäntelte Aussprechen ›unanständiger‹ Wörter, und verständigen sich gegenseitig über ihren Wissensstand, bzw. über die Wirklichkeitsebene, auf der sie in ihrem gemeinsamen ›Sinn-Machen‹ gerade operieren. In der alltäglichen Konversation besteht also im wie zufällig hervorgebrachten Gelächter ein wirkungsvolles Instrument gegenseiti70 Sofern hörbar, wurde dabei die Anzahl gelachter Silben in der Transkription exakt wiedergegeben, die jeweilige Klangfarbe des Gelächters wurde versucht, mit den entsprechenden Vokalen zu transkribieren.
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ger Information und sozialer Koordination. Es scheint insofern lohnend, rückgreifend auf Jeffersons Studie auch das intensiv lachende Engagement, dass die Zuschauer in der mitgeschnittenen Aufführung von Bloody Mess in Leeds zeigten, genauer unter die Lupe zu nehmen: im Hinblick auf die Informationen, die es möglicherweise enthält und mit Hilfe derer Publikumsmitglieder sich gegenseitig über ihren Stand in der Praxis des situativen ›Sinn-Machens‹ rückversichern.71 Betrachtet man die oben eingefügten Transkription im Hinblick auf die Inhalte des auf der Bühne Geäußerten, scheinen die Momente, zu denen Publikumsgelächter einsetzt, jeweils etwas Neues zu etablieren, etwas, das zum Vorangegangenen bzw. zum möglicherweise Erwarteten eine gewisse Fallhöhe besitzt; so setzt das erste kurze Gelächter im Beispiel ein, wenn aus dem, was Richard sagt, klar wird, worin die »Dinge«, die vor dem Beginn der eigentlichen Show gesagt werden sollen, bestehen: Dass die Bloody-Mess-Darsteller nun offenbar vorhaben, detaillierte Wirkungswünsche, wie zum Beispiel »romantic hero of the piece« zu äußern; dies war zuvor nicht absehbar oder erwartbar, scheint im Zusammenhang mit gängigen Theaterklischees (und in diesem Sinne auch: mit möglichen teleoaffective structures) sogar halsbrecherisch. Das kurz darauf folgende Gelächter quittiert Richards Sinneswandel bzw. Selbstkorrektur in der Aufzählung seiner Eigenschaften als »romantic hero«; an dieser Stelle geschieht ein Bruch in der gerade erst etablierten Spielregel der Aufzählung: Zu den zuvor genannten, sanften Eigenschaften tritt plötzlich der Wunsch, auch sehr »männlich«, ja »viril« zu wirken, usw. Hinterfragt man zunächst lediglich die mitteilende Funktion des transkribierten Publikums-Lachens, scheinen Zuschauer sich hier gegenseitig darüber zu verständigen, dass die jeweiligen Feinjustierungen des Bühnengeschehens begriffen wurden, dass sie ›Sinn machen‹ – witzigen Sinn sogar. Man könnte solch kurzes, bestätigend kollektives Gelächter insofern mit anderen nicht lexikalischen Hörersignalen vergleichen, wie sie in alltäglichen Konversationen häufig abgegeben werden (z.B. »mhm«, »aha«, »hm!«). Ebenso wie diese, scheinen auch die kurzen kollektiven Lacher während der Aufführung kommunikativ zu wirken, ohne dabei gezielt oder gänzlich bewusst zum Einsatz gebracht zu werden. Dass es gerade Gelächter ist, mit dem Situationsteilnehmer sich hier verständigen, spricht zudem von einem überwältigenden Konsens darüber, dass die auf der Bühne zu Gehör gebrachten Positionen nicht ganz ernst zu nehmen sind: Schon von Beginn der Aufführung wird durch das Publikum performt, dass Äußerungen der Darsteller-Figuren mit Humor genommen werden. Insofern könnte das so gut wie 71 Um von sozialer Feinabstimmung auszugehen, ist dabei nicht nötig, eine bewusste oder subjektiv wissentlich gesteuerte Rückmeldung anzunehmen. Vielmehr gehe ich hier von Kommunikationen aus, die als soziale Praxis verkörpert, eingekörpert und gewöhnlich nicht reflektiert sind.
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während der gesamten Aufführung immer und immer wieder aufbrandende Gelächter auch als eine Rückmeldung zu der so oft implizierten Frage der Aufführung – »Ist das noch ein Spiel?« – verstanden werden: Publikumsteilnehmer versichern sich gegenseitig über den Stand des Spiels mit der Aufführung: »Ja, es bewegt sich noch im Rahmen.« Schließlich könnte das so intensiv sich rückmeldende Gelächter des Publikum sogar als eine Aussage über die schon während dieser frühen Phase der Aufführung etablierte Gewilltheit zum ›Mitspielen‹ verstanden werden: So lässt sich das Gelächter, das Richards »You gonna be able to make up your own minds!« folgt, am besten als eine Mischung zwischen Lachen und Ausrufen wiedergeben, als ein kollektiv gelachtes »Yeahaha!« Neben solch umfassenden Rückmeldungen, in denen das Publikum sich offenbar Einigkeit im ›Sinn-Machen‹ demonstriert, finden sich noch einige andere, ebenfalls Lautäußerungen auf dem Tonmitschnitt, bei denen einzelne ZuschauerInnen lachend ihren Stand ›im Spiel‹, bzw. die Art und Weise ihrer Rezeption mitteilen, der von dem der größeren Masse abweicht; als Beispiel soll hier ein transkribierter Moment aus dem ersten ›erotischen Monolog‹ der Figur Claire dienen (vgl. Abbildung 11). Abbildung 11: Transkription ›erotischer Monolog‹
Claire wird hier erst hörbar, nachdem das in diesem Moment sehr laute kollektive Gelächter verstummt, das ›dem Gorilla‹ (also Claires Doppelfigur) galt, der nach
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einer Musikeinspielung, offenbar schwindelig nach einem Derwischartigen Drehtanz, über die Bühne torkelt. 72 Kollektives, vielstimmiges Gelächter findet sich hier nur an einigen wenigen Stellen: Zunächst kommentiert es das Taumeln ›des Gorillas‹, darauf das (reichlich absurde) Wiederaufgreifen der Thematik ›erotische Begegnung mit Claire‹ durch die aus dem Gorillakostüm Auftauchende; in beiden Fällen verstummt das Gelächter jeweils wieder sehr schnell, und die an dieser Stelle sehr leise sprechende Claire wird wieder hörbar. Erst wenn sich zeigt, dass in Claires Monolog äußerst explizit Erotisches thematisiert wird (»feel my breast fill your mouth«) taucht für Sekunden weiteres kollektives Lachen auf, ebenso in dem Moment der (angeblich) versehentlichen Störung durch Clown Brunos Hupe. Wie oben schon beschrieben scheint kollektives Gelächter hier Fallhöhen zu kommentieren, scheint also zu signalisieren, dass der Großteil des Publikums dem Witz des Geschehens folgt. Die hier zusätzlich sichtbar gemachten, ›vereinzelten‹ Gelächter stammen von einzelnen Personen bzw. kleineren Grüppchen und brechen hörbar aus dem Gros des Publikums hervor, werden als eigenständige Äußerungen wahrnehmbar. Im transkribierten Beispiel stammten diese ›vereinzelten‹ Gelächter bis auf eine einzige Ausnahme von weiblichen Publikumsmitgliedern und wirkten – verglichen mit dem kollektivem Gelächter, seltsam laut und forciert, zum Teil fragend, ausrufend, manchmal sogar klagend. In zwei Momenten der transkribierten Sequenz hängen sich diese vereinzelten Gelächter gewissermaßen an kollektives Gelächter an: Einzelne Publikumsteilnehmer lachen also lauter und länger als die übrigen (vgl. jeweils nach »...naked body« und nach »...feel my breast fill your mouth«). In drei Fällen schließen vereinzelte Gelächter aneinander an, als würde der/die jeweils zuerst Lachende Anderen gewissermaßen den Weg bahnen, ihrerseits zu lachen (vgl. bei »...in your ear«, »...bracing your shoulder« und »...feel my breast fill your mouth«). Es entsteht also bei sorgfältigem Hinhören der Eindruck, dass einzelne Zuhörer/-innen Claires ›Youfiction‹ auf unwillige Weise kommentieren, bzw. den angestrengten Versuch machen, diese Erzählung an Stellen mit Gelächter zu unterfüttern, bzw. sie auch in Momenten ›lächerlich‹ zu machen, an denen gar keine gewitzten Fallhöhen geboten sind. Offenbar zeigen sich hier einige wenige Zuschauer/-innen als grenzwertig berührt: Sie haben anscheinend kein Interesse daran, zur Hauptfigur »You« in Claires Erzählung zu werden, sie zeigen in ihrem unwilligen Gelächter, dass sie bei diesem Spiel nur ungern ›mitspielen‹ – allerdings steigen sie dabei nicht zur Gänze aus dem Spiel der Aufführung aus.
72 Gelächter, an dem viele Personen beteiligt ist in feineren Zeichen dargestellt, Lacher einzelner Personen oder sehr kleiner Gruppen ist gefettet wiedergeben. Momente, in denen Claire zwar spricht, aber aufgrund des Gelächters nicht hörbar ist, sind durch »- - -« symbolisiert, »...« steht für Sprechpausen Claires.
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Publikumsgelächter performt also im Verlauf der Aufführungen den ›Stand des Spiels‹, die Praxis des ›Sinn-Machens‹ im Publikum; dabei wird hörbar, dass witzige Fallhöhen, die Neues (z.B. neue Lesbarkeiten, unerwartete Zusammenhänge, etc.) zeigen, besonders honoriert werden; am ›beliebtesten‹ (im Sinne von: mit dem lautesten Gelächter kommentiert) sind offenkundig all jene Sinnmomente, in denen zuvor ›erspielte‹ Information in wieder neuem Zusammenhang zum Einsatz gelangt. Beispiel hierfür kann die nach und nach immer intensiver sich zeigende, angebliche Konkurrenz zwischen den Roady-Figuren Richard und Ben im ersten Beispiel sein, die sich endgültig bestätigt, wenn Richard das Mikrophon an sich bringt, um zum zweiten Mal zu sprechen; oder aber Claires Auftauchen aus dem Gorillakostüm und ihr – in diesem Moment unerwartetes – Wiederaufgreifen ihrer in der Sequenz ›Vorstellungsrunde‹ angesprochenen erotischen Thematik. Das Publikum als Gruppe konstituiert sich dabei im Gelächter in jedem Moment neu, in situativer Bestätigung einzelner ›Spielstände‹. Ähnliches stellt Jens Roselt in seiner Phänomenologie des Theaters fest: mit Sartre sei zu konstatieren, dass »das Lachen nicht lediglich die Kundgabe einer Gemeinschaft ist, sondern diese erst im Lachen performativ konstituiert wird.« (Roselt 2008: 336) d) Das gut eingespielte Publikum Das oben erwähnte, offenbar besonders lustvolle Moment des Wiedererkennens und Neukodierens soll im folgenden noch etwas genauer beschrieben werden; als Beispiel dienen zwei Momente des ›Aushakens‹ der Figur Cathy: Nach der Born to Be Wild Sequenz springt Cathy auf und beklagt sich über die vorangegangene Szene, insbesondere über den Sound. Nach ihrem ›Ausbruch‹ legt Roady-Figur Richard einen neuen Song auf, der äußerst ähnlich klingt wie der vorausgegangene. Es nimmt also, in der Logik dieses Bühnenspiels, kaum Wunder, dass Cathy auch nachdem dier zweite Song abgespielt ist, erneut beginnt sich zu beklagen, ›auszuhaken‹. Im Folgenden sollen beide Momente im Hinblick auf das Verhalten des Publikums miteinander verglichen werden. Dafür habe ich ein Transkript zu Cathys erstem ›Aushaken‹ hergestellt (vgl. Abbildung 12) sowie zwei Abbildungen der Waveformen beider Momente eingefügt (vgl. Abbildungen 13 und 14). Während Cathys ersten ›Aushakens‹ ist der Text der Figur bis auf einen kurzen Moment sehr gut zu verstehen, Publikumsgelächter und Bühnengeschehen scheinen sich auch hier sauber orchestriert abzuwechseln. Allerdings scheint Cathy zum Ende ihrer Szene immer angestrengter über den Geräuschpegel des Publikums hinweg schreien zu müssen, da das Publikum immer ausgelassener lacht, je weiter sich die Szene etabliert. Während der ersten Sekunden dieser kurzen Sequenz wird Cathys Ausbruch also von den Zuschauern offenbar noch konzentriert beäugt, das Publi-
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kum scheint darauf zu achten, kein Wort in Cathys Vorführung zu überhören; doch schon schon kurz darauf beginnt sich das Publikum offenbar amüsiert zu entspannen; anscheinend ist zu diesem Zeitpunkt klar etabliert, dass Cathys ›Wüten‹ nicht allzu ernst zu nehmen ist. Abbildung 12: Transkription ›Cathy hakt aus‹
Sowohl die feine Orchestrierung der Sequenz, wie auch die Tendenz des Publikums, sich nach und nach mehr Raum zu ›erlachen‹, lässt sich sogar in der Waveform der Sequenz – also in einer maschinell erstellten Visualisierung des Geräuschpegels – zeigen: Die scharfen Spitzen in der Graphik basieren abwechselnd auf den Geräuschen, die die Bühnendarstellung produziert (schwarz) und dem Gelächter des Publikums (grau). Abbildung 13: Waveform ›Cathy hakt aus‹
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Nach dem Enden des zweiten Songs ›hakt‹ Figur Cathy erneut aus; doch diesmal findet sie kein Gehör – weder bei den Kollegen noch bei den Zuschauern: Nachdem ›der Gorilla‹ (bzw. Claire im Gorillakostüm) sich während des Songs wie ein Derwisch im Kreis gedreht hat, schwankt er/sie nun, nach dem Ende des Liedes, tollpatschig über die Bühne, fällt dabei sogar mehrmals um. Die Aufmerksamkeit des Publikums – und mit ihr intensives Gelächter – gelten nun diesem unerwarteten und drolligen Bild. Cathys wütendes Geschrei hingegen geht im lauten Gelächter vollkommen unter – so vollständig, dass es nicht möglich wurde, Text aus dieser kurzen Sequenz zu transkribieren. Daher soll dieser Moment nur mit Hilfe einer Waveform, abgebildet werden, die auf dieselbe Weise wie die obige eingefärbt wurde (Publikumsäußerungen grau, Bühnengeräusche schwarz). Abbildung 14: Waveform ›Cathy hakt erneut aus‹ / Beginn ›erotischer Monolog‹
Die intensivsten Ausschläge der Waveform (ganz links) stammen vom Geräuschpegel des endenden Songs Silvermachine; die folgenden zwei Drittel der Graphik, in denen sich intensive Ausschläge zeigen, basieren gänzlich auf äußerst lautem und ausgelassenem Publikumsgelächter (hier: grau). Erst im letzten Drittel der Visualisierung ist hörbares Bühnengeschehen abgebildet (schwarz): Claire hebt an zu sprechen, sie hält ihren ersten ›erotischen Monolog‹ (vgl. auch V.2). Der letzte, größere Ausschlag im Bild (grau) gibt das Gelächter wieder, das erfolgt, wenn das Publikum begreift, dass Claire, obgleich bis zum Hals im Gorillafell steckend, doch wieder auf ihr erotisches Thema rekurriert. Erst in dem Moment, in dem Claire den Gorillakopf abnimmt und zu sprechen anhebt, beruhigt sich also das ausgelassene Publikum, und dies sogar augenblicklich: Hier wird Neues etabliert und entsprechend Aufmerksamkeit zentriert. Cathys ›Aushaken‹ higegen geht – im wahrsten Sinne des Wortes – unter. Die Dramaturgie negativer Erfahrung der Aufführung produziert also zwar im Falle von Figur Cathys erstem ›Aushaken‹ intensivierte Aufmerksamkeit, in ihrer Wiederholung ist die kleine Szene allerdings gänzlich ignorierbar geworden und bietet dem Publikum damit umgekehrt den Freiraum, seine Aufmerksamkeit auf anderes zu richten. Auf diese Weise beginnt das Publikum, das nach und nach immer besser über die spezifischen ›Spielregeln‹ der Aufführung Bescheid weiß, immer mehr in Forced Entertainments Spiel mit der Aufführung mitzuwirken: Nun scheint
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die Figur ›wütende Cathy‹ nicht mehr nur gegen den ›Blödsinn‹ ihrer Ensemblekollegen anzuschreien, sondern auch und vor allem gegen das ausgelassene Publikum. Die Zuschauer sind nun ganz und gar ›eingespielt‹ in das Bühnengeschehen, sie machen aktiv »bei dem Unwirklichen auf der Bühne mit« (Goffman 1989: 149), sie spielen Theaterspielen. e) Ernsthaftes Mitspielen Hört man der Audioaufnahme der Aufführung aus Leeds sensibilisiert für all diejenigen Momente zu, in denen das Publikum sein Mitspielen performt, erweist sich das Dokument als reichhaltige (und zudem oft sehr unterhaltsame) Quelle für die Untersuchung der Praktiken, die das Publikum der Aufführung formen. Es werden dabei neben dem bisher beschriebenen kollektiven und vereinzelten Gelächter auch noch einige andere Publikumsäußerungen hörbar. Zunächst wäre der (abschließende) Applaus zu nennen, in dem, wie Madeleine Mervant-Roux anmerkt, »the only codified moment of direct expression by the audience« besteht (Mervant-Roux 2010: 226). Mervant-Roux verglich die Performances von Schlussapplausen zahlreicher Aufführungen und und konnte dabei feststellen, dass diese sich als »almost infinite variations of a rhythmical schema« darstellen, dass damit jedem Publikum möglich ist, eine immer wieder neue, unverwechselbare Performance an den Schluss der Aufführungssituation zu setzen (Mervant-Roux 2010: 226). Das Bloody Mess Publikum in Leeds nutzte Applaus allerdings nicht nur in seiner abschließenden Funktion als selbstdarstellerische Danksagung, es ließ auch mehrmals Szenenapplaus hören. So klatscht das Publikum zum Beispiel zum Ende der Cry Baby Sequenz, die sich, wie unter III. beschrieben, in einem unerwartet stimmigen Finale auflöst: Die laute Einspielung von Janis Joplins Cry Baby endet in einem Schlussakkord; zugleich ist der Ringkampf, den die Clowns während der letzten Minuten ausgeführt haben, beendet, ebenso das ›Ballett‹ der nackten ›Stars‹. In der plötzlichen Stille hört man lediglich Wendy, die noch in ihrer Rolle als Ringrichterin, den erschöpften Clowns ein markiges »Call that a fucking fight?« zuwirft, bevor auch sie sich ins On/Off zurückzieht. Wenn das Publikum nun klatscht, scheint es sich zum einen für die gewitzte Stimmigkeit des Momentes zu bedanken. Doch mehr noch scheint es, als wollten die Zuschauer sich, ihrerseits spielerisch, in der Rolle des Varietépublikums (bzw. Zirkus- und/oder Ringkampfpublikums) bestätigen, als das sie in der genannten Sequenz angespielt wurden, bestätigt doch das Abschließen einer Sequenz mit Applaus das Ende einer Nummer. Man kann also annehmen, dass die die Zuschauer in ihrem Szenenapplaus die varitéartige Nummernstruktur, die während Bloody Mess nach und nach etabliert wird, aufgreifen und ihr eigenes Handeln dieser ›Spielregel‹ entsprechend gestalten – und das sie
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noch darüber hinaus den von Wendy ›diskreditierten‹ Clowns applaudierend spielerisch ein wenig Beistand bezeugen. Diese beiden lezten Deutungen lassen sich auch und besonders in Bezug auf die jeweils nur angedeuteten Momente szenischen Applauses abgeben, die das LeedsPublikum während Figur Brunos »Impressions of Weapons« spendete: In einer absurden Persiflage auf Comedyvorstellungen, in denen Tierstimmen u.a. imitiert werden, lässt Clown Bruno, der im Verlauf der Aufführung als äußerst beflissener, dafür aber umso weniger witziger Clown vorgeführt wurde, Imitationen verschiedener Waffen hören, bis hin zur Atombombe (»that’s the climax«). Die Figur scheint sich der Absurdität ihres Unterfangens nicht bewusst zu sein; pflichtbewusst und etwas eitel lässt Bruno seine Waffengeräusche hören. Wenn das Publikum in diesem Zusammenhang, wie es in Leeds der Fall war, jeweils kurz angedeuteten Szenenapplaus gibt, scheint es dabei der Illusion, der die Figur Bruno aufsitzt, (nämlich, nun endlich zum Mittelpunkt der Comedy zu werden), für Momente spielerisch beizupflichten; der angespannte Fleiß Brunos wird – in ironischer Andeutung – durch kurze Applauseinsprengsel honoriert. Einzig die erschreckend beängstigende Imitation der Atombombe zieht keinen Szenenapplaus, kein Gelächter nach sich – nun zeigt sich das Publikum schweigend als von der unweigerlich ernsthaften Thematik berührt. Hier scheint also das Spiel ernst zu werden. Nicht indem der Rahmen des Spiels gebrochen würde, sondern viel eher in der Art und Weise, in der Kinder, aufgehend in ihrem Spiel, das Spielgeschehen äußerst ernst nehmen können. Clown Brunos Imitation der Atombombe kann nicht spielerisch als absurde Nummer honoriert werden sondern hinterlässt Betroffenheit bei seinen Mitspielern im Publikum. Nachdem das Publikum, wie oben erwähnt, sich während der gesamten Aufführung in Leeds so gut wie immerfort lachend äußert, erhalten solch seltene Momente tiefer Stille eine ›ernste‹, manchmal fast feierliche Konnotation. Besonders deutlich wird dies in der Sequenz, in der Figur Cathy vom Einmaleins der Identifikation und vom Weinen über den Theatertod spricht (›Crying 1x1‹ Sequenz); ebenso in Cathys Abschlussmonolog, wenn das Publikum in vollkommener Stille den Worten »This is the final moment. This is the last light« lauscht. Daher kann, im Zusammenhang mit Forced Entertainments Bloody Mess Aufführung in Leeds, durchaus auch die zwischenzeitliche Stille des Publikums als eine Form des Ausdrucks, als Publikums-Performance betrachtet werden, die zeitweise den Charakter eines ›Mitspielens‹ annimmt. Dass das ›Stillhalten‹ des Publikums manchmal sogar als demonstrativ mitspielendes Verhalten, als Performance mit eigenem Recht gewertet werden kann, zeigt sich wenn Clown John, in der Sequenz in der das Stöhnen der abgekämpften Clowns durch Roady Ben per Mikrophon verstärkt wird, fragt: »The people are still laughing at me?«, worauf Ben ins Publikum blickt und lauscht. Hier scheinen die Zuschauer sich mühsam zurückzuhalten, leise unterdrückte Lacher
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werden hörbar. Erst wenn Ben antwortet: »I think they’re just having a break« antwortet der Saal wieder mit lautem Gelächter. Im Folgenden soll abschließend ein Ausschnitt aus der Audioaufnahme besprochen werden, anhand dessen sich sowohl die passgenaue ›Einspielung‹ des Publikums, wie auch die stille Ernsthaftigkeit dieses Mitspielens deutlich zeigen lassen (vgl. Abbildung 15). Der Ausschnitt stammt aus der ›Silences‹ Sequenz: Die beiden ›Stars‹, Jerry und Davis, sprechen hier zum Publikum. Beide wurden im Verlauf der Aufführung als menschliche Dekoration eingeführt, als Figuren, deren Aufgabe darin besteht, Pappsterne schwenkend das Bühnengeschehen tänzerisch zu untermalen und zu kommentieren. Anscheinend einer momentanen Eingebung folgend, treten diese Beiden in die Mitte der Bühne, wo Roady Ben alleine mit dem Mikrophon in der Hand zurückgelassen steht. Abbildung 15: Transkription ›Beautiful Silence – Life Support Machine‹
Die aufgetretenen ›Stars‹ kündigen einen gemeinsamen Moment der Stille an und ergehen sich im Folgenden in einer gut zehnminütigen Aufzählung möglicher »beautiful silences«. Die dabei zu Gehör gebrachten Miniaturnarrationen verlaufen
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jedes Mal nach dem gleichen Schema: Einer der ›Stars‹ erzählt einen möglichen Moment der Stille, indem er beginnt mit: »We could do the silence that...«. Wenn seine Erzählung beendet ist, antwortet der zweite der ›Stars‹ mit »Yes. That’s beautiful« um dann seinerseits eine Geschichte anzubieten, usw. Nur manchmal schaltet sich Roady Ben ›störend‹ in das Sprachspiel ein. Das eingefügte Transkript (Abbildung 15) gibt die letzte »beautiful silence« der Sequenz wieder.73 Während der Anfangsformel in Davis Text (»What if we do the kind of silence...«) herrscht leise Unruhe im Zuschauerraum, die schlagartig zur gespannten Stille wird, wenn die kleine Narration anhebt. Mit dem kurz darauf folgenden brüllenden Gelächter, in das sich sogar kleinere Ausrufe mischen (»ohNOo!« etc.) reagiert das Publikum auf die Nennung des Themas der Erzählung: Es geht um eine Familie im Krankenhaus, die beschließt, die lebenserhaltenden Maßnahmen eines Familienmitgliedes abzustellen. In Anbetracht der den Zuschauern zu diesem Zeitpunkt schon bestens vertrauten grundlegenden ›Spielregel‹ der Sequenz, dass es in der Aufzählung um ›schöne Momente der Stille‹ geht, wobei sich die Konnotation des Schönen im Verlauf des ›Silences‹ Sprachspiels schon mehrfach als recht eigenwillig erwiesen hat (z.B. indem die Stille nach einer Bombenexplosion beschworen wurde), stellt das Publikum mit diesem lauten Lachen sein Wissen um diese ›Spielregel‹ und seine diesem Wissen geschuldete Erwartungshaltung dar; es scheint lustvoll spielerisch zu sagen: »Ach Du liebe Zeit, wir können uns gut vorstellen, dass jetzt schwarzer Humor folgt«. Figur Davis wartet einen Moment mit dem Weitersprechen, beginnt aber schon während des lauten Gelächter mit dem folgenden Satz (»they are all gathered...«), worauf das Gelächter der Zuschauer in seiner Lautstärke wieder schlagartig ›heruntergedimmt‹ wird; dennoch hält das Lachen weiter leise an, und schwillt während der folgenden Sekunden jeweils zu größerer Lautstärke, wenn die Erzählung Elemente anhäuft, die der genannten Erwartung des schwarzen Humors entsprechen: Es ist die Mutter der Familie, die dort im Koma liegt. Die Kinder weinen leise. Bei Nennung von Vaters »new girlfriend« schließlich ist das erzählte Setting komplettiert, die kleine Geschichte scheint prädestiniert für zynische Fallhöhen. Das Publikum kommentiert diesen ›Spielstand‹ im Sprach- und Erzählspiel der ›Silences‹ mit begeistertem Gelächter, in das sogar ein Szenenapplaus eingebettet ist – auch wenn bis jetzt noch nicht klar ist, worin die »beautiful silence« letzten Endes bestehen soll, und ob es überhaupt eine schwarzhumorige Pointe geben wird. Kaum ist diese, durch Inszenierung und Publikum gemeinsam hergestellte Klimax erreicht, schreitet Figur Davis’ Erzählung schnell und unerbittlich voran, ebenso wie es die erzählten Akteure in der Narration tun: Der frisch verliebte Vater bestätigt, dass nun zur Euthanasie an der komatösen Mutter geschritten werden soll, 73 Leises Publikumsgelächter wurde im Transkript grau wiedergegeben, brüllend lautes Gelächter wurde gefettet dargestellt.
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der Arzt führt sie aus. Dieses Moment der Erzählung wird von Davis sehr sinnlich geschildert, indem er das Geschehen fast ausschließlich in Lautmalereien vergegenwärtigt (»h h h h h h h h h...«): Das Sterben der imaginären Mutter wird narrativ als ein leises Aushauchen inszeniert. Das zuvor so animierte Publikum reagiert mit betroffener Stille, es lässt sich offenbar ganz und gar auf das tieftraurige Ende der kleinen Geschichte ein, es wirkt dabei wie ernüchtert. Aus zynischem Spaß wird hier in Sekunden kollektiv empfundener Ernst, der sich in plötzlicher Stille ausdrückt. Lediglich vereinzelte, sehr leise und unwillige Lacher sprechen davon, dass manche Zuschauer dieser Wendung nicht folgen mögen. In dem Moment aber, wenn Figur Jerry sich mit fragendem Blick ans Publikum wendet und sich damit in der Zwickmühle präsentiert, die Narration der ›Silences‹ Spielregel entsprechend mit der Antwort »That’s beautiful!« beschließen zu müssen, lacht das Publikum wieder: Nun zeigt es sich wie befreit, als tauche es gerade aus der Welt der bedrückenden Euthanasieerzählung auf; dabei scheint es zugleich Jerry zu ermutigen: »Ja, es ist in schon Ordnung, Du darfst die Abschlussformel sprechen – That’s beautiful!« f)
Fazit: Empirische Publikumsforschung
Ich möchte die Ergebnisse meines Ausfluges in die Empirie der Publikumspraxis zusammenfassen: Grundlage wurde die Vorüberlegung, dass sich jede soziale Praxis (mit Robert Schmidt gesprochen), eine gewisse »Öffentlichkeit« schafft, indem sie für ihre Teilnehmer performativ intelligibel wird. Nach der »Öffentlichkeit« ihre Publikums befragt, konzeptionalisiert Tim Etchells, Sprecher der Kompanie Forced Entertainment, die Publikumspraxis die während Aufführungssituationen wahrnehmbar wird als »somewhere between confident and closed«; Zuschauer scheinen also je unterschiedliche Bereitschaft zum ›Mitspielen‹ zu zeigen; die entsprechenden Rückmeldungen ihres Publikums nehme die Kompanie räumlich bzw. akustisch wahr. Entsprechend wurde für die Untersuchung von Publikums-Performances während einer konkreten Aufführung eine rein akustische Form der ›Datenerhebung‹ genutzt. Beim ›Hineinlauschen‹ in die Audioaufnahme, die aus einem Mitschnitt einer Bloody Mess Aufführung in Leeds resultierte, fiel zunächst die schiere Menge hörbar werdender Publikumsaktivität auf, insbesondere das ständige laute Gelächter; weiterhin wurde die äußerst klare Orchestrierung der Lautäußerungen der Zuschauer auffällig: Das Publikum scheint sich lachend den (je individuellen) Stand im Prozess des ›Sinn-Machens‹ zu demonstrieren, ähnlich wie es die Konversationsanalyse für nicht-lexikalische Hörersignale (»hmhm« u.ä.) beschreibt. Lautlich konstituiert sich dabei eine gemeinsam sinnhaft handelnde Gruppe. Vergleicht man weiterhin szenische Sequenzen der Aufführung miteinander, die hintereinander stattfanden und ähnlich abliefen, wird aufgrund der äußerst unter-
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schiedlichen Publikumsreaktionen hörbar, dass Zuschauer in die Dramaturgie der negativen Erfahrung, die die Inszenierung nutzt, eingespielt werden: Offenbar wissen die Zuschauer immer besser über die ›Spielregeln‹ der Aufführungssituation Bescheid und zeigen dieses situativ erworbene Wissen in ihren Lautäußerungen. Schließlich lässt sich das aktive Mitspielen des ›belauschten‹ Publikums konstatieren: Zuschauer spielen in der Theaterfiktion mit, die die Aufführung anbietet, z.B. indem revuehafte Nummernstrukturen mit Szenenapplaus bestätigt werden. Eine solch intensive, ebenso aber auch ursprünglich wirkende Form der ›Einspielung‹ von Zuschauern in die Theateraufführung kennt die typische mitteleuropäische Theatergängerin sonst höchstens aus den Kasperltheater-Aufführungen ihrer Kindheit. Auch in Momenten tiefer Stille ließ sich, je nach situativem Zusammenhang, ein ›ernsthaftes Mitspielen‹ hören; dabei erwies sich das Publikum in Leeds sowohl als ›ernsthaft‹ in seiner Feinabstimmung auf erzählte Inhalte, wie im Bewusstsein um den eigenen Anteil am situativen Spiel der Aufführung (z.B. wenn, wie im Zusammenhang mit der ›Silences‹ Sequenz beschrieben, das Publikum mit kollektiver Stille auf die Narration einer traurigen Szene antwortet, um kurz darauf der Figur Jerry aufmunternd zuzulachen).74 Die Audioaufnahme konnte also eine Art des Aufführens und des gemeinschaftlichen ›Sinn-Machens‹ dokumentieren, die tatsächlich viel näher an das ›Spiel‹ als an die pure ›Schau‹ im ›Schau-Spiels‹ rührt. Nicht nur für die Darstellungspraxis Forced Entertainments gilt also, was Andrew Quick in seinem Artikel Bloody Play beschreibt, sondern mindestens ebenso sehr für die Praxis der zugehörigen Publikumsmitglieder: Sie spielen, im vollen Sinn des Wortes, wobei gelten kann: »Play points to the future, to the making of a new rule: one that might be more just, one that will, of course, be broken as a result of an encounter in another game.« (Quick 2004: 165) Trotz nur einmaliger Ausführung, und damit nur ›impressionistischem‹, bzw. experimentellem Vorgehens, konnte das ›Hineinlauschen‹ in die AufführungsEmpirie beweisen, dass das inszenierte Geschehen in Bloody Mess seine Zuschauer in immer neue Grenzbereiche des Witzigen und Aberwitzigen führt, während das 74 Was es im Zusammenhang mit zeitgenössischem Theater bedeuten könnte, »Ernsthaftigkeit« zu produzieren, reflektiert Hans-Thies Lehmann in seinem Artikel The Importance Of Being Earnest: »Theater wird ernst darin, dass es sich selbst in Frage stellt, sich in Frage stellt – nicht nur die anderen, die Verhältnisse die Gesellschaft, die Mächtigen. Unernst ist, was einfach funktioniert [...] Ernst zeigt sich, wenn die Fragerichtung umgedreht wird. Wenn Theater die Art befragt, wie es selber erzeugt, präsentiert, serviert, rezipiert wird. Wenn es nicht automatisch funktioniert. Sondern ausstellt, wie es selber mitspielt bei dem, was es kritisiert. Ernst heißt in diesem Sinne Reflexion. [...] Gegenstand der Reflexion kann gerade das sein, was im Theater in jedem Moment schon stattfindet – oder vielmehr stattfinden sollte – und doch am Ende immer nur versprochen bleibt: zusammen sein.« (Lehmann 2012: 47).
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Publikum jeweils aktiv und performativ entscheidet, bis zu welchem Punkt und auf welche Art und Weise es bei den auf der Bühne gebotenen Darstellungen ›mitzuspielen‹ bereit ist. Praktiken, die das Publikum einer Aufführung leistet, diese im Allgemeinen nur schwer einsehbaren Aktivitäten der Interpretation, der Wahrnehmung und des sozial rücksichtsvollen Zuschauens (das ja meist verlangt, still und unauffällig im Zuschauerraum zu verschwinden) konnten mit Hilfe der mitgeschnittenen Bloody Mess Aufführung aus Leeds wahrnehmbar sowie diskutierbar gemacht werden. Inwieweit diese Art der publikumsorientierten Aufführungsforschung ausschließlich im Kontext eines Theaterstils möglich wird, der emphatisch die Aufführungssituation betont und mitinszeniert, könnte Inhalt weiterer Studien werden; an dieser Stelle lässt sich aber schon festhalten, dass im Verlauf der untersuchten Bloody Mess Aufführung Publikumspraktiken ästhetisch relevant gemacht, sozusagen ›auf die Vorderbühne‹ gehoben wurden, da die Darstellungspraxis Forced Entertainments, einer Dramaturgie der »negativen Erfahrung« folgend, beständig auf ›Spielstände‹ rekurriert, die erst im Verlauf der Aufführungssituation entstehen. Schritt für Schritt können Zuschauer sich so weiter ins Spiel der Aufführung einlassen, um schließlich mit ihrer eigenen Aufmerksamkeitspraxis Teil der Aufführung zu werden. Auf diese Weise wird Zuschaupraxis, das gemeinsame ›Sinn-Machen‹, seinerseits reflektierbar, »das Dritte« der Aufführungen tritt auf die Bühne. Das Erleben und »Mit-Verstehen«, das Mitspielen und ›Sinn-Machen‹ der Zuschauer Forced Entertainments lässt sich also im Sinne von Jean-Luc Nancys Konzeption des making sense als ein relationales, praktisches und soziales Geschehen beschreiben. »Sense only consists in the relay of one or several to one or several. From oneself to oneself, as well, on condition that this ,self‹ presents him/herself to him/herself as an other – which is the condition of the body.« (Nancy 2011b: 215.)75 Bevor ich mich im folgenden Kapitel synopsierend mit den ›Souvenirs‹ befasse, die meine Heimatdisziplinen aus meiner ›Reise‹ in die Aufführungspraxis der Forced Entertainment-Inszenierungen Bloody Mess und The World in Pictures erhalten können, soll ausblickend gefragt werden, auf welche Weise Inszenierungen, in de75 Selbst das Fühlen, z.B. von Atmosphären, fasst Nancy dabei als genuin soziale Praxis: »This [sensation – SH] does not happen ,for me’, subjectively, since this also happens for and through all sorts of other innumerable ,perceptions’(.)« Nancy begründet die Sozialität solch ›innerlicher‹ Phänomene darin, dass auch die Subjektivität der Wahrnehmenden erst in kollektiver Praxis hervorgebracht wird: »All this, some will say, only takes place for and through your subjectivity. This is to forget that my ›subjectivity‹ is itself firstly a body among others, sensing the others and sensed by those others. [...] there is a universal communication and participation of beings, that is to say of bodies in the world.« (Nancy 2011b: 216).
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ren Aufführungen die eigenen Spielregeln in situ produziert werden, überhaupt erstmalig entstehen.
VI. Coming home Das ›Hineinlauschen‹ in die Bloody Mess Aufführung in Leeds enthüllte, wie oben beschrieben, eine von Beginn an vorherrschende »detailed order« in der PublikumsPraxis des ›Sinn-Machens‹. Auf dem Videomitschnitt desselben Aufführungsabends, also ohne die ›Befremdung‹ durch das Fehlen visueller Informationen, wirkt das lautstarke ›Sinn-Machen‹ des Publikums vollkommen selbstverständlich, in ihrer Audioversion belauscht aber beweisen sich die Zuschauer aber gewissermaßen als weiteres Ensemble, das gemeinsam mit dem Darsteller-Ensemble spielt und performt – spontan abgestimmt und ohne dieses ›Mitspielen‹ jemals geprobt zu haben. Rückblickend auf meine Erfahrungen als teilnehmende Beobachterin bei den Proben Forced Entertainments (vgl. Kapitel I) stellte sich von Beginn der Untersuchung an die Frage nach der Leichtigkeit, mit der Zuschauer die ›Spielregeln‹ der betrachteten Forced Entertainment Aufführungen erkennen und nutzen; denn verglichen mit meinem ersten Erleben als Probenbesucherin wirkt das störungsfreie Spiel der Aufführungen höchst bemerkenswert. Um zu verstehen, was während der Proben ›gespielt‹ wurde, hatte ich hingegen zuerst zum Insider werden müssen. In Forced Entertainments Proben besteht eine Praxis, die die Mitglieder der Kompanie in ihrer langjährigen Zusammenarbeit miteinander entwickelt haben und die mir als Außenseiterin erst nach einer Einübungsphase zugänglich wurde, da ich mich zuerst an die entsprechenden Zusammenhänge und Bedeutungen, an die spezifische Probensprache und das Selbstverständnis des Probengeschehens gewöhnen musste.1 Ganz anders präsentieren sich die Aufführungen Forced Entertainments: Sie scheinen nur Wahrnehmungspraktiken von den Zuschauern zu verlangen, die diesen schon bekannt sind oder die sich in situ erschließen. In ethnographisch inspirierten Worten: während Proben Forced Entertainments benötigte die teilnehmende Beobachterin einige Zeit für ihr going native, in Aufführungen der Gruppe wird Zu-
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Theodore Schatzki merkt zur häufig zu beobachtenden anfänglichen Unzugänglichkeit von Praktiken an: »Comprehensions and access become more difficult, [...] to the extent that practices, and thus certain conditions and understandings, are unique to the people involved.« (Schatzki 2003: 108).
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schauern hingegen ein äußerst schnelles Einleben möglich. Die in die Aufführungen eingebaute ›implizite Gebrauchsanweisung‹ der Aufführungssituationen, die in Kapitel V. als Dramaturgie des Rahmenbruchs bzw. der »negativen Erfahrung« beschrieben wurde, funktioniert offenbar als ›Spielanleitung‹ für das AufführungsPublikum. Aus diesem Grund soll in einem letzten analytischen Schritt, der über den Rahmen der Aufführungsanalyse hinausweist, gefragt werden, wie Angebote für ein Mitspielen des Publikums in die Inszenierungen Forced Entertainments ›hineinkommen‹. Dafür wende ich mich der Probenpraxis der Gruppe zu.2 Denn nicht nur die Mitglieder der Gruppe üben dort die verschiedenen Abläufe ihrer Inszenierungen ein – in der Probenpraxis besteht auch der Ort, wo die ›Spielanleitung‹ der Aufführungen erstmalig entsteht; insofern wird dort auch das Publikum ›eingeübt‹. 1. P ROBEN -F ORSCHUNG
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Die Erfahrungen, die ich persönlich mit Forced Entertainments Probenpraxis machen konnte, mündeten (nach den in Kapitel I. beschriebenen StarsSchwierigkeiten) in äußerst intensivem going native.3 Um das praktische Wissen, das ich auf diese Weise erwerben konnte, schreibend ›nach Hause‹ zu bringen, soll zunächst literarische Distanz aufgebaut werden, indem unter a) die Art und Weise, wie Forced Entertainment ihre Probenarbeit verstehen und bewerten, in den Zusammenhang ästhe2
Der Rahmen der vorliegenden Arbeit erlaubt keine wirklich detaillierte Besprechung der äußerst vielschichtigen Probenpraxis Forced Entertainments, die sich in bald dreißig Jahren der künstlerischen Zusammenarbeit entwickelt hat. Ich fokussiere daher ausblickend nur auf diejenigen Praktiken, die meiner Meinung nach der besonders intensiven ›Einspielung‹ zugrunde liegen, die Aufführungen Forced Entertainments ihrem Publikum anbieten.
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Als teilnehmende Beobachterin im Probenprozess zu Bloody Mess war ich im Jahr 2003 zugegen; auch während Endproben der Inszenierung The World in Pictures im Jahr 2006 konnte ich hospitieren, weiterhin habe ich in den Jahren 2004 bis 2008 wiederholt Probenarbeit beider Inszenierungen besucht, die nach der Premiere, während der Tournee der Stücke stattfanden. Solche Proben im laufenden Tourneebetrieb konnte ich auch im Jahr 2009 zu Forced Entertainments Inszenierung Spectacular und im Jahr 2010 zu The Thrill of it all besuchen. Während all dieser Probenbesuche entstanden zahlreiche ›Feldnotizen‹. Bei Proben, die vor der Bloody Mess Aufführung in Leeds im Jahr 2008 stattfanden, war es mir möglich zu filmen; während Proben zu The Thrill of it All entstanden die Skizzen des Probengeschehens, die im Folgenden eingefügt sind. Zudem habe ich, sowohl live als auch per E-Mail, Interviews mit Forced Entertainments Gründungsmitglied Tim Etchells geführt, eine Auswahl dieser Gespräche findet sich im Appendix dieser Arbeit (VII Kontexte).
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tischer Diskurse zum postdramatischen Theater und zum devised theatre gestellt wird. Unter b) und c) werden darauf zwei Praktikenkomplexe beschrieben, die ich während meiner Probenbesuche zu unterscheiden lernte: das ›improvisierende Spiel‹ und das ›Perspektivieren‹. Beide gemeinsam formen Forced Entertainments spielerische Probenpraxis, die unter d) als ›Displaying‹ thematisiert und als Grundlage der intensiv involvierenden Aufführungspraxis Forced Entertainments identifiziert werden soll. a) Forced Entertainments devised theatre als postdramatische Probenpraxis Dem ästhetischen Diskurs des postdramatischen Theaters, den Hans-Thies Lehmann in seinem gleichnamigen Buch 1999 identifizierte und beschrieb, entspricht eine zumeist kollaborative Produktionsweise, in der nicht mehr die vorgängige Autorität eines Textes den Produktionsprozess reguliert. Alison Oddey nutzte schon im Jahr 1994 den Begriff devised theatre, um das Dispositiv solcher Arbeitsweisen zu beschreiben; Oddey verwendet – unter anderen – die Produktionspraktiken Forced Entertainments als Beispiel für devised theatre, welches auf der ersten Seite ihres Buches wie folgt definiert wird: »Devised theatre can start from anything. It is determined and defined by a group of people who set up an initial framework or structure to explore and experiment with ideas, images, concepts, themes or specific stimuli that might include music, text, objects, paintings, or movement. A devised theatrical performance originates with the group while making the performance rather then starting from a play text that someone else has written to be interpreted. A devised theatre product is work that has emerged from and been generated by a group of people working in collaboration.« (Oddey 2003: 1)
Neben der Emanzipation vom Text betont der praxisbezogene Diskurs um Arbeitsweisen des devised theatre also auch das Überschreiten vormaliger Gattungsgrenzen; besonders aber wird die Bedeutung der Gruppe und ihrer gemeinschaftlichen Produktionsweise hervorgehoben, wie auch von Patrick Primavesi festgehalten: Es existiert eine deutliche »Tendenz, Theaterarbeit explizit als kollektiven Prozess zu verstehen« (Primavesi 2011: 290). Inszenierungen und ihre Dramaturgien entstehen, und dies wird im Feld eines postdramatischen devised theatre immer wieder hervorgehoben, zur Gänze »im Proben – im konzeptionellen Entwerfen und improvisierenden Hervorbringen« (Matzke 2011: 144). Nicht zuletzt aus diesem Grund
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wird Probenpraktiken wird in jüngster Zeit ein vormals ungekanntes Interesse entgegengebracht.4 Nachdem Forced Entertainment schon in Oddeys inzwischen viel beachteter Arbeit Beispiel wurde, entstanden zahlreiche weitere Bücher und Artikel, die sich mit der Arbeitsweise der Kompanie befassen und diese in den Diskurs um ein neues, nicht mehr dramatisches, kollaboratives und gattungsübergreifendes Theater einordnen. So kommt beispielsweise in Nick Kayes erstmals 1996 erschienener Arbeit Art into Theatre (insbesondere der bildnerische Anteil von) Forced Entertainments Probenarbeit zur Sprache, und mit Not even a Game anymore widmet sich ein ganzer Theater- und Performance-theoretischer Sammelband nicht nur den Aufführungen und Inszenierungen, sondern auch der Produktionsweise der Gruppe (vgl. Kaye 1998 und Malzacher/Helmers/Benecke et al 2004). Die besonders enge Anbindung von Forced Entertainments praktischer Theaterarbeit an ästhetische, oft auch universitäre Diskurse kommt nicht zuletzt dadurch zustande, dass die Mitglieder der Kompanie selbst akademisch ausgebildet sind und ihrerseits universitär unterrichten und veröffentlichen.5 In zahlreichen Schriften äußern sie sich über das eigene Schaffen, allen voran Tim Etchells, der als Sprecher, Texter und Regisseur der Gruppe agiert. So erschien zum Beispiel zum Jubiläum der zehnjährigen Zusammenarbeit Forced Entertainments im Jahr 1994 der Band Certain Fragments, der lose theoretische Fragmente, Texte aus einigen Inszenierungen sowie konkrete Daten zu Forced Entertainments in den ersten zehn Jahren erarbeiteten Stücken enthält (vgl. Etchells 1999); auch der oben genannte Sammelband Not even a game anymore enthält einen Aufsatz Tim Etchells, im von Adrian Heathfield herausgegebenen Bildband Live: Art and Performance aus dem Jahr 2004 sind mehrere Schriften von Etchells bzw. von Forced Entertainment vorhanden, usw. – die Liste ließe sich noch lange fortführen (vgl. Heathfield 2004). Zusätzlich zu Reflexionen auf die ästhetische Verortung von Arbeitsweise, Inszenierungen und Aufführungen in Form solcher akademischer Textformate äußert und reflektiert die Gruppe sich auf der selbstverlegten DVD Making Performance sowie der CD-Rom Imaginary Evidence, ebenso auf ihrer gut gepflegten Homepage, über die auch umfassende Informationsmaterialien bestellt werden können. Das Weblog der Gruppe, das schon seit mehreren Jahren, in seiner jetzigen Form seit März 2010, den Arbeitsalltag Forced 4
Von diesem – internationalen – Interesse sprechen beispielsweise das Erscheinen des Buches Making contemporary theatre. International rehearsal processes (Harvie 2010) oder des aus einer Tagung hervorgegangen Sammelbande Chaos und Konzept. Proben und Probieren im Theater (vgl. Hinz/Roselt/Merz 2011), aus dem auch die hier zitierten Texte von Matzke und Primavesi stammen.
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Fünf der bis heute aktiven sechs Mitglieder der Gruppe graduierten im selben Jahrgang an der Universität von Exeter, UK, in den Fächern Drama und English; selbst unterrichten sie bis heute an zahlreichen Universitäten und Akademien.
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Entertainments kommentiert und Einblicke in die Probenarbeit der Gruppe gewährt, bietet darüber hinaus eine sehr persönlich anmutende Informationsquelle, dasselbe gilt für den Facebook-Account der Gruppe, usw. 6 Die Kompanie Forced Entertainment besitzt also eine feldspezifische, darüber hinaus in den inzwischen bald dreißig Jahren ihrer Zusammenarbeit auch gruppenspezifisch gewachsene Theorie über die eigene Arbeitsweise, die zudem fortwährend reflektiert und diskutiert, be- und umschrieben wird. Es ließe sich insofern problemlos eine »Poetik« bzw. eine »Dramaturgie« der Probenpraxis Forced Entertainments ausschließlich aus Selbstaussagen der Gruppe herauslesen und besprechen.7 Auf den folgenden Seiten soll dennoch ethnographisch gearbeitet und weiter auf meine persönlichen Erfahrungen als teilnehmende Beobachterin zurückgegriffen werden. Dies geschieht aus der Überlegung heraus, dass in Selbstthematisierungen Forced Entertainments punktuelle Blindheiten anzunehmen sind. Beispielsweise wäre denkbar, dass manche Elemente der Probenpraxis es nie in Selbstbeschreibungen schaffen, weil sie als ganz selbstverständlich und als ästhetisch nicht relevant wahrgenommen werden; zudem muss damit gerechnet werden, dass Schilderungen der Arbeitsweise eines Feldes, die aus diesem Feld selbst stammen, mit bestimmten Intentionalitäten gefärbt sind (dass sie z.B. dem Bedürfnis entsprechen, ein ästhetisches Programm zu bedienen). Schließlich kann angenommen werden, dass selbst in einem so hoch-reflexiven Feld wie dem des Theaters Forced Entertainments Knowhow in der Praxis verharrt und nicht zur Sprache findet, z.B. als eingekörpertes bzw. verkörpertes Wissen. Wie sich aus den obigen Zitaten zur Arbeitsweise eines devised theatre ablesen lässt, trifft die Besucherin in Forced Entertainments Probenpraxis zunächst auf eine Situation, die sich als ein kollaboratives Suchen und Finden darstellt, als das ›Herumexperimentieren‹ einer Künstlergruppe mit unterschiedlichem ›Spielmaterial‹ und anschließenden Diskussionen. Dieser erste Eindruck der Probensituation erinnert an das, was Richard Schechner, Gründer der amerikanischen Performance Stu-
6
Entertainment
(o.J.),
Forced
www.forcedentertainment.com
Vgl
Forced
sowie
http://notebook.forcedentertainment.com
Entertainment
2003
und
http:// und
https://www.facebook.com/pages/Forced-Entertainment/247617408590375 (zuletzt geprüft am 01.04.2014). 7
Von einer »Poetik des Probens« sprechen Melanie Hinz und Jens Roselt im Vorwort ihres Sammelbandes Chaos und Konzept, der sich in zahlreichen Beiträgen mit unterschiedlichen Probentechniken auseinandersetzt (vgl. Hinz/Roselt et al. 2011: 8). Den Begriff »Dramaturgie des Probens« nutzt Mira Sack in ihrer ebenfalls neu erschienenen, äußerst lesenswerten Arbeit Spielend Denken; Sack erschließt dort »theaterpädagogische Zugänge zur Dramaturgie des Probens« (Sack 2011: 16).
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dies, Ende der neunzehnhundertsiebziger Jahre als anthropologische Grundlage jeder Probenpraxis (egal welcher ästhetischen Provenienz) beschreibt: »This process of collecting and discarding of selecting, organizing and showing, is what rehearsals are all about. And it’s not such a rational, logical-linear process as writing about it makes it seem. It’s not so much a thought-out system of trial and error as it is a playing around with themes, actions, gestures, fantasies, words: whatever’s being worked on. From all the doings, some things are done again and again; they are perceived in retrospect as ›working‹ and they are ›kept‹.« (Schechner 1985: 120)
Auch in den Proben Forced Entertainments fand ich als teilnehmende Beobachterin ein Zusammenspiel aus Praktiken des »playing around« und des »perceiving in retrospect« vor; während der von mir besuchten Proben vollzogen sich beide Praktikenkomplexe in folgenden beiden, sich immer wieder abwechselnden Settings: Setting A: Fünf der sechs ständigen Mitglieder Forced Entertainments (Robin Arthur, Richard Lowdon, Claire Marshall, Cathy Naden und Terry O’Connor) befinden sich, ggf. zusammen mit mitwirkenden Gastdarstellern auf der Bühne;8 solange die Proben noch in einem provisorischen Probenraum stattfinden, befinden sie sich in dem Teil des Probenraumes, der zur Bühne erklärt worden ist. Neben den Menschen befinden sich dort zahlreiche Gegenstände, die als Spielzeuge dienen, darunter immer eine große Menge schäbiger Kostüme, z.B. Second-Hand-Kleidung unterschiedlichster Stilrichtung, Tierkostüme, Karnevalsperücken etc. Die Personen auf der Bühne spielen bzw. improvisieren: Dies beinhaltet zum Beispiel das Herumalbern mit Requisiten, das Vortragen kurzer Texte bzw. Erzählungen, das Durchführen bestimmter Sprachspiele und anderer wiederkehrender Aufgaben. Diese können auch sportlich anmuten, z.B. indem die Improvisierenden sich jagen oder tanzen. Manchmal sitzen einzelne der ›Spieler‹ abwartend auf dem Boden und beobachten die Aktionen ihrer Kollegen. Tim Etchells, sowie zeitweise Gäste wie ich selbst oder Mitarbeiter aus dem Management Forced Entertainments sitzen unterdessen im Zuschauerraum (bzw. am Rand des zur Bühne bestimmten Bereiches). Sie sehen dem improvisierten Spiel zu und machen Notizen, auf Papier oder im mitgebrachten Laptop. Im Zuschauerraum und an den Rändern der Bühne (ob provisorisch oder schon konkret) befinden sich zugleich eine oder mehrere Videokameras, die das Probengeschehen auf der Bühne aufzeichnen. Setting B: Alle am Probenprozess Beteiligten (sowohl die zuvor Improvisierenden wie die ›Proben-Zuschauer‹), kommen zusammen und besprechen sich. 8
Gastdarsteller in The World in Pictures waren beispielsweise Davis Freeman, Wendy Houston, Jerry Killick und Bruno Roubicek; in Bloody Mess dieselben und John Rowley.
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Dies kann ohne größere Ortsveränderung geschehen, indem sich alle auf der (Probe)Bühne zusammensetzen, oder die ganze Gruppe sucht einen anderen Raum auf. Bei diesen Besprechungen werden meistens Videoaufzeichnungen des gerade vergangenen Improvisationsgeschehens, manchmal auch ältere Mitschnitte, als gemeinsame Referenz genutzt, z.B. indem Aufgenommenes im kleinen Display der Kamera(s) betrachtet wird, indem Kameras an einen Laptop angeschlossen werden, oder indem größere Bildschirme in Verbindung mit der/den Kamera(s) genutzt werden. Explizierend und paraphrasierend versuchen die Proben-Teilnehmer dabei, sich die Eindrücke, die die vorangegangenen Improvisationen bei ihnen hinterlassen haben, gegenseitig zugänglich werden zu lassen. Manchmal beinhaltet ›Setting B‹ auch ein gemeinschaftliches Benennen und Aufschreiben identifizierter ›interessanter‹ Momente. Schließlich wird in manchen Fällen auf erneute Arbeitsteilung zurückgegriffen und Tim Etchells zieht sich, alleine oder mit einem einzelnen Gesprächspartner, zurück um weitere Explikationen herzustellen, z.B. in Form von Verschriftlichungen. Es lassen sich in Forced Entertainments Probenpraxis also zwei Grundtendenzen unterscheiden, die ich im Folgenden unter den Stichworten ›improvisierendes Spielen‹ (Unterpunkt b.) und ›distanzierendes Perspektivieren‹ (Unterpunkt c.) behandeln möchte. Auch an anderer Stelle wurde Probenpraxis im devised theatre unter dem Aspekt solcher oder ähnlicher Bipole besprochen;9 denn ein ständiger Wechsel zwischen Improvisationen, die Spieler mit ihrem ganzen Körper involvieren und Reflexionen, in denen Distanz zum zuvor Improvisierten erarbeitet wird, formt die Praxis vieler postdramatisch arbeitender Kompanien. Annemarie Matzke, Gründungsmitglied der erfolgreichen (postdramatisch arbeitenden, devised theatre produzierenden) Kompanie She She Pop und Professorin für angewandte Theaterwissenschaft, unterscheidet beispielsweise (naturwissenschaftliche Metaphorik nutzend), zwischen Probenpraktiken des »Experimentierens« und solchen des »Testens«: »Während mit dem Begriff Experiment gemeinhin ein Versuch gefasst wird, dessen Ergebnis als offen behauptet wird, soll im Testen eine Sicherheit darüber gewonnen werden, ob ein Vorgang oder ein Apparat innerhalb bestimmter Rahmenbedingungen funktioniert: Testen als Überprüfen und Standardisieren von Wissen.« (Matzke 2011: 138)
Wie die Wortwahl Matzkes zeigt, zielt ihre Beschreibung darauf, Probenpraktiken »als Prozesse der Generierung, Sicherung und Verfügbarmachung von Wissen [zu] untersuchen.« (Matzke 2011: 133) Den Begriff des Wissens begreift Matzke dabei
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Vgl. den Titel sowie die verschiedenen Beiträge des Sammelbandes Chaos und Konzept (Hinz/Roselt et al. 2011).
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praxeologisch inspiriert als ein an den Körper gebundenes, zunächst implizites Wissen, das im Verlauf der Proben nach und nach expliziert wird. Allerdings wird dabei eine feldspezifische Wertung vorgenommen: Während die Idee des »Experimentierens«, im Sinne eines ungebremst kreativen Produzierens verstanden und favorisiert wird, erscheint jede Objektivierungsanstrengung als eine Geste autoritärer Beherrschung, durch die in der experimentellen Probensituation angelegte Erkenntnismöglichkeiten wieder beschnitten werden.10 So konstatiert Matzke: »Jeder Vesuchsaufbau, jede Testreihe zielt auch auf die Objektivierung der Erkenntnisse – wie fragwürdig diese auch ist.« (Matzke 2011: 145 ) und »Die Prüfung testet Eigenschaften, die sie als konstant und kontinuierlich unterstellt.« (Matzke 2011: 148) Im Folgenden soll zwar ebenfalls davon ausgegangen werden, dass im Proben Praxiswissen generiert wird, um darauf (teilweise) explizier- und wiederholbar gemacht zu werden; ein Vergleich von Probenarbeit und naturwissenschaftlicher Wissensproduktion soll aber vermieden werden, auch sollen beide Praktikenkomplexe, die sich in Forced Entertainments Proben nachvollziehen lassen, nicht als Gegensätze behandelt werden. b) Improvisierendes Spiel Forced Entertainments improvisierendes Spielen wird in Selbstaussagen der Gruppe als ungeordnet und ungezwungen, ja als unplanbar beschrieben. In ihrem Video How We Work, das im Rahmen der DVD Making Performance sowie auf der Homepage Forced Entertainments veröffentlicht ist, wird der Beginn solch spielerischer Arbeit wie folgt reflektiert:11
10 Den zugrundeliegenden, in der Ästhetik verbreiteten Bias, zwischen ›aktivem Schaffen‹ und ›passiver Schau‹ zu unterscheiden, behandelt Rancière in seinem Aufsatz »Der Emanzipierte Zuschauer«; vgl. Rancière 2009 und Kapitel V.1. der vorliegenden Arbeit. 11 Dieses Video ist eine höchst interessante Quelle zur Selbstdarstellung der Gruppe Forced Entertainment, die dort, sorgfältig und wirkungsvoll inszeniert, über die eigene künstlerische Arbeit berichtet. Man sieht jeweils für einige Sekunden das Gesicht eines der sechs ständigen (künstlerischen) Mitglieder Forced Entertainments in extremer Nahaufnahme; er oder sie spricht kurz, dann erfolgt ein scharfer Schnitt zum Close-up eines weiteren Gruppenmitglieds. Dabei entsteht der Eindruck, die Sprechenden wären jeweils mitten im Satz aufgenommen worden. Die Collagetechnik ist durch die rauen Übergänge im Video unterstrichen. Auf diese Weise sind die einzelnen Mitglieder als hervorragend harmonierende und dennoch individuell besetzte Kompanie in Szene gesetzt, vgl. Forced Entertainment o.J. und http://www.youtube.com/watch?v=jw2RbmuvuW0 (zuletzt geprüft am 01.04.2014).
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Richard: »We often start by building a space to work in.« Robin: »We sometimes start with a fragment of text. (1s)« Claire: »A costume or.. a piece of music ooor.. a scene from a film.« Tim: »We don’t really have any rules about what we start from – it could be anything (2s)« Richard: »A feather boa, a stocking mask and a big fake bomb!« Cathy: »A skeleton costume, something from a second hand shop, and a cowboy hat!«
Die zitierten Aussagen der Gruppe fassen (auf gewitzte Weise und ästhetisch aufgearbeitet) einige der basalen Praktiken eines Improvisationsbeginns zusammen, die auch ich als beobachtende Teilnehmerin in den Proben Forced Entertainments vorfand; zwei wichtige Infrastrukturen des Spielens werden dabei benannt: Zur spielerischen Improvisation sind offenbar erstens ein Spielraum (s.o.: »a space to work in«) sowie zweitens Spielzeug notwendig, das aus Gegenständen ebenso wie aus Texten oder szenischen Ideen bestehen kann. Beide Momente möchte ich kurz näher behandeln, indem ich Erfahrungen aus meinen Probenbesuchen zusammenfassend beschreibe. Das Aufbauen bzw. Definieren eines Spielraums bestand während der von mir besuchten Proben Forced Entertainments jeweils im zunächst sehr schlicht anmutenden Einrichten des verwendeten Probenraumes.12 In typisierten Schritten geschildert, lief dies folgendermaßen ab: Ein Bereich wird vom Rest des zur Verfügung stehenden Raumes abgeteilt; dies geschieht auf eine ›lockere‹, wenig genaue oder rigide Weise (z.B. werden dabei keine exakten Abmessungen auf dem Boden markiert, wie es beispielsweise im – stark arbeitsteiligen – Stadttheater üblich ist). Der Spielraum entsteht vielmehr pragmatisch und prozesshaft aus der Situation des probenden Agierens und Zuschauens heraus: In einem Bereich des Raumes wird gespielt bzw. improvisiert, in einem weiteren Bereich sitzen Probenzuschauer. Der Spielbereich erhält dabei in etwa die Größe der erwarteten Bühnen der Aufführungen. Es wird darauf geachtet, dass der Spielbereich frei einsehbar und gut durch eine Person zu überblicken ist. Als ProbenZuschauerraum dienen einige Stühle, manchmal auch Tische u. andere Ablagen. Dort wird auch eine (bzw. werden mehrere) Mini-DV-Kamera(s) eingerichtet. Nach hinten und an den Seiten ist der als Spielraum definierte Bereich darüber hinaus durch die bereitliegenden Requisiten bzw. ›Spielzeuge‹ locker begrenzt,
12 In sehr vielen Theaterformen beginnen die Proben einer Inszenierung in einem provisorischen Probenraum. Erst wenn eine Inszenierung zum ersten Mal vor Publikum gezeigt wird, oder kurz zuvor, zieht sie gewöhnlich auf eine ›richtige‹ Bühne um; dieses Vorgehen entspringt dem ganz pragmatischen Umstand, dass ›richtige‹ Bühnen für Proben meist nicht zur Verfügung stehen, weil ihr Unterhalt zu teuer für eine Probennutzung ist, oder weil sie mit dem Bühnenbild aktueller Inszenierungen verbaut sind, etc.
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ebenso durch diverse Möbel (falls solche im Probenraum vorhanden sind); diese dienen entweder ihrerseits als flexibel eingesetzte Spielzeuge, oder als Ablage für verwendeten Requisiten und/oder als Sitzgelegenheit für pausierende Darsteller. Immer dabei und fest im Gepäck der tourenden Kompanie befinden sich einige Sitzmöbel, Tische, rollbare Kleiderständer und Kisten, außerdem einige altbewährte ›Spielzeuge‹ (z.B. bestimmte Kostüme). Hinzu kommen die für eine Produktion neu ›zusammengesuchten‹ Materialien. Die eingefügte, aus meiner Erinnerung angefertigte Skizze zeigt den Aufbau im etwa 15 mal 20 Meter großen Probenraum des Münchner Akademietheaters, in dem die Endproben zu Bloody Mess stattfanden (vgl. Abbildung 16). Der in Forced Entertainments Proben für die Improvisationen entstehende Spielraum erinnert also weniger an eine bürgerliche Guckkasten-Theaterbühne (mit einer strengen Unterteilung in Zuschauer- und Spielerbereiche) sondern wirkt eher wie eine Arena; es entsteht eine kreisartige Grundform aus Sitzgelegenheiten und Spielmaterial, in deren Mitte agiert wird, während vom Rand zugeschaut werden kann. Abbildung 16: Skizze einer typischen Probebühne Forced Entertainments
Zwar besteht durchaus von Anfang an eine basale Ausrichtung dieser improvisierten, arenaartigen Probebühne auf die Zuschauposition Tim Etchells’ (sowie ggf. auf weiteres Probenpublikum) und auf die genutzten Kameras, dennoch erlaubt es der räumliche Aufbau auch den Spielern bzw. Improvisierenden, sich ihrerseits jeder-
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zeit an den ›Rand des Geschehens‹ zurückziehen und zwischenzeitlich zu Zuschauern zu werden. Es existieren insofern fließende räumliche Übergänge zwischen Bereichen, die Praktiken des Zuschauens und solchen, die dem improvisierenden Spielen zugewiesen sind. Insofern kann umgekehrt auch Tim Etchells, der wie beschrieben eine Sonderposition während der Improvisationen einnimmt, als einer der Mitspieler im Kontinuum der spielerischen Improvisationen betrachtet werden.13 Der wie beschrieben eingerichtete Spielraum vereint damit zwei Eigenschaften, die das improvisierende Spiel in Forced Entertainments Probenpraxis konstitutiv mitbestimmen: Spieler besitzen einerseits die Möglichkeit zum ›Aussteigen‹ aus der ›Arena‹ (und damit auch zum Aussteigen aus dem Spiel); sie bleiben auf diese Weise selbstbestimmt, erfahren Schutz und eine gewisse Konsequenzbefreiung – die Probebühne spiegelt und ermöglicht in ihrem Aufbau, dass Improvisationen jederzeit problemlos verlassen werden können. Andererseits ist die entstehende Raumordnung, begreift man sie als eine Blickordnung, durchaus rigoros und zwingend und setzt Spielteilnehmer unter Druck: Wie ›Boxer im Ring‹ stehen Improvisierende nicht nur unter der Beobachtung Tim Etchells (und ggf. weiteren Probenpublikums), sie agieren auch und vor allem unter den Blicken der jeweils gerade am Rand des Spielfelds pausierenden Spielerkollegen. Die ›Verortung‹ improvisierenden Spiels in Forced Entertainments Proben produziert für die Improvisierenden also ein höchst ambivalentes betwixt and between. Neben dem Spielraum fungieren als weitere notwendige Grundlage des Improvisierens, wie oben erwähnt, diverse ›Spielzeuge‹, wie z.B. die im Video How We Work aufgezählten möglichen Ausgangsmaterialien: »a fragment of text«, »a piece of music« »a scene from a film«, »a feather boa, a stocking mask and a big fake bomb«, u.s.w. Die Spielmaterialien werden schon im Vorlauf einer Probenphase zu einer neuen Produktion gesammelt, in den Probenraum mitgebracht und bereitgelegt. Manchmal werden besonders ›geeignete‹ Spielzeuge aus vorangegangenen Probenphasen übernommen oder gehen in den ständigen Spielzeugfundus der Kompanie über. Während das im Video von Tim Etchells lakonisch eingeworfene »It could be anything« unterstreicht, dass die Gruppe ihre Ausgangsmaterialien aus unterschiedlichsten Quellen, Genres oder Fundgruben bezieht, spricht die Aufzählung dennoch 13 Aus diesem Grund möchte ich Tim Etchells Tätigkeit während der Proben im Folgenden auch nicht als ›Regieführen‹ bezeichnen. Etchells spricht in Reflexionen der Arbeitsweise Forced Entertainments durchaus von »directing«, auch in der Presse wird er meist als der Regisseur der Gruppe genannt. Nachdem der Begriff des Regisseurs im Theaterkontext die legitimierende Rolle spielt, die anderenorts dem Autor zugerechnet wird, ist es ›im Feld‹ durchaus sinnvoll, sich diesen Begriff anzueignen; im Zusammenhang mit meiner ethnografischen Beobachtung von Probenpraxis erscheint mir die Rede vom ›Regieführen‹ aber nicht sinnvoll.
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von bestimmten Qualitäten, die die gewählten Materialien gemeinsam haben und die sie offenbar zu besonders gut geeigneten ›Spielzeugen‹ werden lassen. Dabei stechen zwei Eigenschaften hervor, durch die sich Forced Entertainments ›Spielzeuge‹, auch in den durch mich besuchten Proben, so gut wie immer auszeichneten: ihre Fragmenthaftigkeit, sowie ihr Second-Hand Charakter, der mit Erving Goffman auch als Modulation beschrieben werden kann: »Darunter [unter Modul (Org.: »key«)] verstehe ich das System von Konventionen, wodurch eine bestimmte Tätigkeit, die bereits im Rahmen eines primären Rahmens sinnvoll ist, in etwas transformiert wird, das dieser Tätigkeit nachgebildet ist, von den Beteiligten aber als etwas ganz anderes gesehen wird. Den entsprechenden Vorgang nennen wir Modulation. Eine gewisse Analogie zur Musik ist beabsichtigt.« (Goffman 1989: 55)
Als besonders ›spielfähig‹ und ›spielfördernd‹ erweisen sich also offenbar all jene Materialien, die schon eine eigene Geschichte besitzen, bzw. bestimmte Atmosphären oder allgemein bekannte Bilder mit in die Improvisation bringen, Materialien also, mit einer gewissen Eigengesetzlichkeit. In den Probenprozessen der Inszenierungen Bloody Mess wie The World in Pictures konnte ich die Nutzung zahlreicher solcher, durch ihre »Modulation« spielfördernder Materialien beobachten, einige möchte ich im Folgenden kurz aufzählen: Im Probenprozess von Bloody Mess wurden von Beginn an bestimmte Figuren bzw. Menschentypen, wie sie aus anderen Formen der Aufführung und der Alltagsperformance bekannt sind, mit entsprechenden Kostümen angedeutet und im Spielen der Improvisierenden animiert: beispielsweise ein Cheerleader, Clowns oder Heavy-Metal-Fans.14 Auch wurde die Erzählung der Erdgeschichte, in einer vereinfachten, pseudo-naturwissenschaftlichen Form, wie man sie in Schulbüchern und Naturdokumentationen finden kann, als Ausgangsmaterial zur Improvisation genutzt. Weiterhin gerieten ein Ringkampf, ein CoachingWorkshop, ein Backstage-Interview und viele weitere in anderem Rahmen sinnvolle Tätigkeiten und Artefakte während der Proben zu Bloody Mess ins improvisierende Spiel der Gruppe. Während der Proben zu The World in Pictures wurden neben der (auch in den Aufführungen noch prominent hervorstechenden) Nacherzählung historischen Schulwissens verschiedene schäbige Karnevalskostüme und Second-Hand Klei-
14 Die ›Urszene‹, aus deren Improvisation sich die Inszenierung Bloody Mess entwickelte, bestand, wie mir Tim Etchells im Interview schilderte, aus einem zunächst unverbundenen Miteinander dreier Positionen auf der Bühne: zwei tanzende Heavy Metal-Fans, zwei Schauspielerinnen beim Spielen einer melodramatischen Schnulze und einem Gorilla, wie aus dem Karneval oder aus Kindertheater, vgl. E-Mail-Interview, 17.05.2004.
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dungstücke, antiquarische Schundromane und anderer gebrauchter Trödel zum Spielzeug. Die immer wiederkehrenden, äußerst pompös klingenden Musikeinspielungen, mit denen die Gruppe während der Proben spielte und die es auch in die Aufführungen schafften, stammen aus den Soundtracks der Filme KingKong (von 1933), Bram Stoker’s Dracula sowie aus dem B-Movie One Million Years BC. Aus dem letztgenannten wurde außerdem eine pantomimische Szene wichtiger Teil der Improvisationen: In Fell gekleidete Höhlenmenschen, die vor der glühenden Lava eines Vulkanausbruchs fliehen. Sofern es sich bei dem, was ich hier als ›Spielzeug‹ bespreche, um virtuelle Spielideen handelt, z.B. um die Idee, eine bestimmte Filmszene nachzuspielen, werden diese Ideen auch ›geistig‹ bereitgehalten, sie werden gewissermaßen von den Spielern ›im Kopf‹ in den Spielraum mitgebracht. Doch auch dies funktioniert offenbar besser, indem materielle Entsprechungen der Ideen, irgendwelches ›Zeug‹, die Spielideen konkret im Spielraum verankert.15 So wurde das Nachspielen der Vulkanszene aus One Million Years BC während der Proben zu The World in Pictures nicht nur ›in den Köpfen‹ der Spieler sondern v.a. auch materiell im Spiel gehalten, indem künstliche Felle bereitlagen, mit denen die Spieler sich als One Million Years BC Darsteller verkleiden konnten. Die (im mehrfachen Wortsinn) ›gebrauchten‹ oder schon ›vor-modulierten‹ Materialien, mit denen Forced Entertainment das improvisierende Spiel beginnen, ›schleppen‹ zahlreiche Assoziationen mit sich, tragen eine Fülle möglicher Spielimpulse in die Improvisationssituation der Kompanie hinein; sie geben aufgrund ihrer beschriebenen Eigendynamik immer neue Anstöße zum Spiel, fast wie es die im alltäglichen Spiel von Menschen und Tieren als Spielzeuge so prädestinierten Bälle tun.16 Allerdings werden die vielen gebrauchten Materialien meist nur in fragmentierter Form eingesetzt; z.B. wird in The World in Pictures nur die Vulkan-Szene aus One Million Years BC und der Soundtrack zum Spielmaterial, nicht der ganze Film. Dies verhilft Forced Entertainments Improvisationen dazu, in experimentierender Rekombination zu immer neuen Szenen, Bildern oder ›Spielereien‹ zu gelangen, ohne dabei von einem einzelnen Ausgangsmaterial wie von einem übergeordneten Skript dominiert zu werden. Im improvisierend-rekombinierenden Spiel mit den mitgebrachten Spielzeugen entstehen bald immer neue, oft ganz flüchtige und nur für Momente realisierte Spielfiguren, z.B. indem Spieler mit Hilfe einer Perücke oder einer karierten Jacke (sowie ihrem ebenfalls immer schon mit in
15 Die Etymologie des Begriffes ›Zeug‹ wurde schon unter I und IV angesprochen. Ich favorisiere den Begriff, weil er sowohl den Prozess des Erzeugens wie auch das Ausgangsmaterial eines Erzeugungsprozesses anspricht. 16 »Bälle und Ballons« sind, ganz mechanisch, in der Lage »einen Anfangsimpuls in der Bewegung fort[zu]setzen, als wären sie ständig gesteuert.« (Goffman 1989: 55).
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die Improvisation als Spielmaterial mitgebrachten Körper) den ›Heavy-Metal-Fan‹ oder den ›Clown‹ mimen.17 Zur frei werdenden schöpferischen Kraft der Rekombination fragmentarischer Spielmaterialien äußert sich Tim Etchells, in der Beschreibung eines seiner (Zuschau-)Erlebnisse, während Improvisationen in Proben zu 12am: Awake and Looking down.18 »In the studio I would watch 12am as a kind of endless coincidence machine – I would watch it for hours – unable to stop it somehow – always eager to see what it ,threw up‹ next, what they did next, what they thought of next... I was always gripped by the process of them playing – watching them think, watching them stuck, watching them try, watching them find... the world is constant invention, constant flux ... And there were times when I would look at it and think this is terrible – this is just the empty fragments of 2000 stupid stories colliding with each other – there’s no meaning in it, just the noise left in the machine of culture... and then FRANK (DRUNK) would take a curious look at BANQUO’s GHOST and meaning would happen, like electricity between two lovers who are kissing goodnight, car alarms ringing, and there’d be nothing I could do to stop that... Between the meaningless and the very highly charged.«
Ebenso wie der Bau eines Spielraums Improvisations-Spiele fördert, indem er ein ambivalentes betwixt and between aus Befreiung von Konsequenzen und zwingender Schau, aus Involvierung im Spiel und Distanznahme produziert, unterstützen also auch die verschiedenen zum Einsatz gelangenden ›Spielzeuge‹ die Improvisationen Forced Entertainments, indem sie ein ›Dazwischen‹ ermöglichen: Eng eingebunden in schon vorgefertigte Geschichten, Bilder und Atmosphären können sich die Spieler doch frei bewegen und immer neue ›Spielzüge‹ ausprobieren – dank der Fragmentierung des Materials.19 17 Zum Begriff der Spielfigur und seiner theaterspezifischen Ansiedlung zwischen ›Darsteller‹ und ›Rolle‹ vgl. auch Kapitel IV.1. 18 Die Inszenierung 12am... stammt aus dem Jahr 1993 und wurde wieder aufgeführt im Zuge der Feierlichkeiten zum 30-jährigen Jubiläum Forced Entertainments; geboten ist dort eine durational performance, deren Aufführungen zwischen sechs und elf Stunden dauern; Zuschauer können den Zuschauerraum jederzeit betreten oder verlassen. Auf der Bühne spielen fünf Darsteller schweigend mit Second-Hand-Kleidung und Pappschildern, auf denen die Namen zahlreicher seltsamer Charaktere geschrieben stehen, z.B. ELVIS PRESLEY (THE DEAD SINGER) oder THE MAN WHO WENT TOO FAR. Die Spieler kleideten sich immer wieder um, und benannten ihre neu entstehende Figur mit Hilfe eines der Schilder. 19 ›Spielzeug‹ ist zudem in der Lage, eine Verbindung von einer Produktion zur nächsten aufzubauen und damit, gleichsam als Nebenprodukt, für ästhetische Konstanz im Schaffen der Gruppe zu sorgen: Die Materialien, die aus dem Probenprozess eines Projekts
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Wie aber funktioniert das improvisierende Spielen per se? Was genau tun die Mitglieder Forced Entertainments (und ggf. die mitwirkenden Gastdarsteller), wenn sie improvisieren? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten, ebenso wenig die eng verwandte Frage, worin die Gelingenskriterien im Improvisationsspiel bestehen; dieser Schwierigkeit sieht sich offenbar auch die Kompanie selbst gegenüber. Im oben zitierten Video How We Work formuliert Robin Arthur diesen Umstand so: Robin: (sehr breit lächelnd) »Hmmm. What makes’a good improv() is a difficult question. (3s; Robins Gesicht wird ernst) I think, you have to be very attentive (!) to what other people are doing (2s) And for the moost part, you have to try’nd (1s) go along with what other people are doing and SOMEtimes, you need to know when to do something that cuts ACROSS what other people are doing. (Nun wirkt das Gesicht fragend) Bt’you have to be careful about that. (...3s) P’haps its not so much question of what’s a good improviser but.. what makes a good improvising team.«
Zunächst lässt sich konstatieren, dass Improvisieren beinhaltet, im zuvor aufgebauten Spielraum zu agieren; oft geht dabei schon das Aufbauen fließend in die Improvisation über, indem der Raum spielerisch immer stärker ›eingerichtet‹, oder schlicht in Chaos verwandelt wird. Zum Zweiten besteht das Improvisationsspiel damit also – grob gesprochen – im (Be-) Nutzen des mitgebrachtem ›Spielzeugs‹: Dies kann entweder bedeuten, dass Spielmaterial in einem naheliegenden, buchstäblichen Sinne ›benutzt‹ wird, z.B. indem Kleidung an- und wieder ausgezogen wird, Sitzmöbel zum Sitzen und eingespielte Lieder zum Tanzen verwendet werden; dabei werden unterschiedliche Nutzungen derselben Materialien ausprobiert: Wasser wird getrunken oder vergossen, Popcorn gegessen oder geworfen, etc. Zum anderen ›übrig geblieben‹ sind, aus denen beispielsweise noch nicht alles ›herausgeholt‹ wurde, oder die sich als besonders Spiel-fördernd erwiesen haben, werden in Folgeproduktionen wieder aufgegriffen und gewissermaßen ›recycelt‹. So besteht beispielsweise eine thematische/motivische Verbindung zwischen der Inszenierung Bloody Mess und The World in Pictures im Spiel mit Erzählung und gleichzeitiger pantomimischer Illustration; dieses Spiel entwickelte sich in den Proben zu Bloody Mess aus Clown Johns Erzählungen (»story of the beginning of the world«, »story of the end of the world«) und wurde im improvisierenden Spiel während der Proben zu The World in Pictures wieder aufgenommen und dort in aller Konsequenz zur umfassenden Erzählung der »history of mankind« umgearbeitet. Sich durch das weiter Verwerten von Spielmaterial ein ästhetisches Profil zu schaffen, ist auch für andere Gruppen, die devised theatre produzieren, attraktiv, und wird zum Teil noch intensiver betrieben als bei Forced Entertainment. Die französische Kompanie Vivarium Studio um Phillipe Quesne hat beispielsweise zur Strategie ihres Produzierens erhoben, dass das Schlussbild, das eine Inszenierung in ihren Aufführungen zeigt, immer zugleich das Anfangsbild der nächsten Inszenierung formt.
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(und ohne dass hier eine klare Differenzierung vorgenommen werden könnte) kann das (Be-) Nutzen mitgebrachten Spielzeugs in einem (umfassenderen) Verwirklichen oder Materialisieren bestehen, das zugleich auch als ein Mimen oder Nachahmen beschrieben werden könnte: Spielzeuge werden dann in einer Art und Weise verwendet, die ganze Filmsequenzen nachstellen, bestimmte Archetypen imitieren, oder bekannte Geschichten (nach)erzählen. Die Anwesenheit modulierten Materials mündet also im modulierenden Nachahmen ganzer szenischer Einheiten, z.B. wenn die mitgebrachten Felle in The World in Pictures zum Einsatz kommen, um die schon erwähnte Vulkanszene nachzustellen. All diese Praktiken des (Be)Nutzens von vorhandenen Infrastrukturen des Spiels (Spielraum, Spielzeug) werden in der Gruppe und in ständigem Bezug auf die Gruppenmitglieder und deren Wahrnehmung ausagiert: Man spielt miteinander. Auf diese Weise entstehen von Anfang an nur im Spiel geltende Beziehungen, z.B. weil nachgespielte Filmszenen einzelne Akteure mit einer fiktiven Beziehung versehen, oder indem Improvisierende untereinander spielerisch um bestimmte Spielzeuge konkurrieren oder sich unernste Wettkämpfe entwickeln (z.B.: Welche der beiden Heavy-Metal-Fan-Figuren tanzt exzessiver? Welcher der Erzähler erzählt die makaberste Geschichte? usw.). Jeder Spieler entwickelt in solchem ›Herumspielen‹ mit möglichen Rollen einige, oft nur rudimentär fixierte, Spielfiguren, die er/sie immer wieder zum Einsatz bringt und die höchst unterschiedlich gerahmt sein können; denn ein Herausbilden von Figuren geschieht immer im Bezug auf mögliche Zuschauer dieses Role-taking Spiels.20 Nachdem im geschilderten Probenraum unterschiedlich positionierte Zuschauertypen vorhanden sind, entwickeln sich also auch unterschiedliche, diesen Typen entsprechende Figurensorten: Zum einen fungiert Tim Etchells, zuschauend und schweigend, als Außenblick der Probenarbeit, unterstützt ggf. von weiteren Probenzuschauern und Kamera(s). Diese Position lässt sich allerdings, wie im Zusammenhang mit dem Raumaufbau schon thematisiert, am ehesten als eine Akzentuierung oder Überformung desjenigen Zuschauens beschreiben, das pausierende Spieler am Rand des Spielfeldes praktizieren. Schließlich müssen auch aktive Spieler innerhalb der Gruppe der Improvisierenden füreinander Zuschauer werden, um zu begreifen, was der je andere gerade tut wie im obigen Zitat Robin Arthurs betont: Zur ›gelingenden‹ Improvisation gehört ein sorgfältiges Achtgeben von Spielern aufeinander. Durch die Anwesenheit so unterschiedlicher Zuschauertypen im und um das improvisierende Spiel werden Metaebenen komplexen Spiels produziert; z.B. indem Improvisierende, die an den Rand des Spielraums treten, dort weiterhin nicht ganz als ›sie selbst‹, sondern als eine weitere Figur agieren, eine fiktiv angereicherte Version ihrer selbst verkörpern: 20 Das Konzept des »taking the role of the other« wird in G.H. Meads Geist, Identität und Gesellschaft prominent verwendet, vgl. Mead 2010: 182ff.
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Sie spielen dann z.B. den überkritischen Kollegen, oder jemanden, der sich aufdringlich ins Spiel anderer einmischt, usw. Goffmans Beobachtung zu moduliertem bzw. »nachgeschaffenem Material«, das »Arten des Teilnehmerstatus« schafft, »die über diejenigen bei der wirklichen Tätigkeit hinausgehen«, ist in der Improvisationspraxis Forced Entertainments en detail nachzuvollziehen und wird dort fruchtbar gemacht, wirkt als Produktionsort, als Maschine für immer neues Spielmaterial (vgl. Goffman 1989: 256): Es entstehen mannigfache (Blick-) Beziehungen und vielfach gespiegelte/fragmentierte Spielrahmen (z.B.: Das Probenpublikum betrachtet einen Spieler, der den missgünstigen Kollegen mimt, und der vom Rand des Spielfeldes einen anderen beobachtet, der im Spielfeld als ungeschickter Clown agiert, etc.) Die spielerische Improvisation in Proben Forced Entertainments lässt sich insofern als komplexes und vielfach perspektivierendes Spiel beschreiben. Nun lässt sich gut verstehen, warum für ›erfolgreiche‹ Improvisationsspiele das Team, das Robin Arthur beschwört, so wichtig wird: Die immense Multiplikation des ›So tun als ob‹, die in solcher Improvisation entsteht, das schnelle Wechseln von Perspektiven oder Wirklichkeitsebenen (ich spreche gerade als ich selbst, als Version meiner selbst, als jemand ganz anderes, etc.), die zahlreichen möglichen Arten des Teilnehmerstatus verlangen eine äußerst feine soziale Abstimmung, um nicht ununterbrochen handfeste Krisen des Spielrahmens zu produzieren und damit letztlich das Spiel in Ernst umschlagen zu lassen. Das improvisierende Spielen Forced Entertainments, in seiner durch mich beobachteten komplexen Form, wird also in vielerlei Hinsicht erst durch die Spielroutine der Kompanie ermöglicht, die als ein »tragfähiges, flexibles Netz« eine gewisse »Krisenfestigkeit« schafft.21 Die Spielroutine, die Forced Entertainment (und einige ihrer immer wiederkehrenden Gastdarsteller) über die lange Zeit ihrer Zusammenarbeit hinweg gemeinsam erworben haben, ist gleichsam organisch gewachsen und in Fleisch und Blut der Spieler übergegangen; sie äußert sich zum Beispiel in den sehr feinen Antennen, die die Improvisierenden für die spielerischen Intentionen ihrer Spielpartner besitzen; Improvisierende scheinen schlicht zu ›spüren‹, in welcher Art und Weise ihr(e) Gegenüber das Spiel weitertreiben werden. Als Improvisations-Ensemble sind Forced Entertainment auf unnachahmliche Weise ›eingespielt‹, und gleichen in diesem Zusammenhang einer lange zusammenspielenden Jazzband.22 21 Ich folge hier in meiner Wortwahl der Theaterpädagogin Mira Sack: Ein tragfähiges flexibles Netz zu schaffen, ist in ihrer Abhandlung die Aufgabe des Theaterpädagogen, der so Krisenfestigkeit für seine Spieler produziert (vgl. Sack 2011: 31). 22 Zur Praxis der Improvisation in zeitgenössischen technoid-musikalischen »Share« Communities sowie im musikalischen Dispositiv des Jazz vgl. Liegl 2010: 126ff und 200ff. Im vorliegenden Fall wird die Spielroutine der Gruppe für mich als teilnehmende Be-
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Neben der schwer zu verbalisierenden, über Jahrzehnte gewachsenen Abstimmung oder Einspielung der Gruppe existiert in der improvisierenden Spielpraxis Forced Entertainments noch eine einfache Technik, die schnell und unkompliziert eine gemeinsame ›Gangart‹ und einen kollektiv kompatiblen Blickwinkel im Improvisieren herstellen kann: Die Gruppe formuliert Games, kleine Regelwerke, die den Improvisierenden nur einige wenige, sehr einfach ›Spielzüge‹ erlauben; Beispiel für ein solches Game können kleine Wettkämpfe werden, wenn Spieler versuchen, mit einer einfachen Aufgabe gegeneinander anzutreten (z.B. wer zuerst eine Reihe aus Stühlen gebaut hat); oder es werden Listen bzw. Catalogues erstellt: Spieler zählen nach einer bestimmten Regel zusammenpassende Dinge auf.23 Games fußen thematisch in Spielen, die in Improvisationen spontan entstehen; sie werden später, im Verlauf perspektivierender und distanzierender Besprechungen aus dem Improvisationsgeschehen herausgelöst. Darüber hinaus zählen bestimmte Games, die sich bewährt haben, zum festen Probenrepertoire der Gruppe, ähnlich wie bestimmte, besonders spielfähige Materialien, die es über die Jahre in den Fundus geschafft haben.24 Zusammenfassend lässt sich also konstatieren, dass Praktiken des improvisierenden Spielens in Forced Entertainments Proben ihre »Spielmotoren« gerade in den zahlreichen Begrenzungen finden, die um die improvisierende Praxis herum errichtet werden und die immer auch Distanzierungsmöglichkeiten zum involvierenden Spiel bieten:25 Eingehegt und konsequenzbefreit agieren die Spieler in einem Spielraum; genährt, doch auch eingeschlossen durch viele Schichten gebrauchten Materials, muss das improvisierende Spiel sich eigene Sinnhaftigkeit erst erkämpfen. Im Verlauf des Improvisierens entstehen zahlreiche Perspektiven und Blickbeziehungen, in deren Mitte immer neue Figuren produziert werden; und erst durch die enge Einobachterin zwar in ihrem Erfolg, also in der Abwesenheit ständiger Krisen, wahrnehmbar. Weiter explizieren aber lässt sie sich durch mich aber nicht, da ich selbst keine Erfahrung als improvisierende Mitspielerin sammeln konnte. 23 Das Sprachspiel (bzw. Game) des Herstellens von Listen oder Catalogues läuft in etwa so ab, wie die ›Silences‹ Sequenz, die man in Aufführungen zu Bloody Mess sehen kann; vgl. zu den ›Silences‹ Kapitel V.4. 24 Besonders häufig kommen dabei bestimmte Sprachspiele, wie z.B. ausdauerndes Fragen, zum Einsatz. Manche der resultierenden Inszenierungen Forced Entertainments bestehen ausschließlich aus einer einzigen solchen (sprachlichen) Game-Struktur, namentlich einige der durational performances: In Quizoola beispielsweise spielen zwei seltsame Clownsfiguren ein immer gleich bleibendes Sprachspiel, das irgendwo zwischen Quiz und Verhör angesiedelt ist, und in Speak Bitterness verlesen die Mitglieder der Kompanie über Stunden erfundene Geständnisse. 25 Nach »Spielmotoren« im Probengeschehen sucht Mira Sack; vgl. Sack 2011: 22.
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bindung in ein Korsett über Jahre gepflegter Spielroutine und freundschaftlicher Beziehungen untereinander kann die Gruppe immer wieder Momente ›wilden‹ Experimentierens erarbeiten. Im Folgenden möchte ich mich dem zweiten ›Setting‹ in Forced Entertainments Proben zuwenden und Praktiken des ›distanzierenden Perspektivierens‹ beschreiben, mit deren Hilfe die Kompanie zuvor ›Erspieltes‹ reflektiert und weiter verarbeitet. c) Distanzierendes Perspektivieren Irgendwann im Verlauf der Proben Forced Entertainments löst ›Setting B‹, also Besprechungen in der Gruppe, das improvisierende Spiel (›Setting A‹) ab. Wann genau der ›richtige‹ Zeitpunkt für so einen Wechsel gekommen ist, lässt sich nicht klar angeben, sondern dies wird von Fall zu Fall, dem Empfinden der Kompanie entsprechend entschieden. Manchmal ist ein zuvor vereinbarter Zeitraum des Improvisierens abgelaufen, manchmal werden Improvisationen auch langweilig, z.B. weil nur noch redundante Spielszenen bzw. Spielzüge entstehen, und/oder weil das improvisierende Spiel ›ausfranst‹, also sich in die Aktivitäten kleiner Grüppchen aufspaltet, und so nicht mehr die Aufmerksamkeit aller Beteiligten zu bündeln vermag. Die Mitglieder der Kompanie bezeichnen die frustrierendsten dieser Momente im Video How We Work als ein ›Steckenbleiben‹, und betonen, dass dies sehr häufig vorkommt, dass es zudem für den Probenprozess notwendig sei: Cathy: »We ALWAYS get stuck.« [...] Robin: »We never made a show where we HAVEN’t come to a complete hold« Richard: »It’s good when you get stuck because you have to ask difficult questions of the material you have made.«
Auch ›Setting B‹ verlangt, dass eine Raumordnung gestaltet wird. Während das spielerische Improvisieren, wie oben beschrieben, die Einrichtung eines Spielraums benötigt, wird es nun notwendig, eine Infrastruktur für gemeinsame Bezugnahme herzustellen. Zwei grundlegende Praktiken müssen dabei möglich werden, die man kurzfassen könnte als Visualisierung und Explikation: Teilnehmer müssen in die Lage kommen, einander zu zeigen und einander zu sagen, was Ihnen in Bezug auf die vorangegangene spielerische Improvisationspraxis bedeutsam erscheint.26 Zu26 In meiner Wortwahl lehne ich mich hier lose an das Vokabular an, das Soziologe Robert Mitchell in seinem Aufsatz Im Panopticon der Bewegung entwickelt: Mitchell befasst sich ethnografisch mit Balletproben und beschreibt die dort ausgeführten Praktiken als »Visualisierungen« und »Explikationen«. Dabei zeigt er, dass in Proben des klassischen Balletts Praktiken des Sichtbar- und das Sagbarmachens zu einer totalen Beherrschung
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nächst wird dafür die Trennung in improvisierende Probenteilnehmer, pausierende Spieler und reine Probenzuschauer (wie z.B. Tim Etchells u.a.) aufgelöst, die ganze Gruppe kommt zusammen und gestaltet typischerweise einen Ort, bzw. bewegt sich an einen Ort, der genug Bequemlichkeit bietet, um dort in Ruhe miteinander sprechen zu können. Außerdem wird ein Bildschirm nötig, auf dem zuvor hergestellte Videomitschnitte betrachtet werden können. Inhaltliche Bezugspunkte für die folgenden ›Perspektivierungen‹ werden die gerade vorangegangene Improvisation, manchmal auch frühere Improvisationen und die Frage, wie es weitergehen soll, was also in der folgenden Improvisationsphase geschehen könnte. Während eines Probenbesuchs bei der Forced-Entertainment-Produktion The Thrill of it All hatte ich die Gelegenheit einen Wechsel der ›Settings‹, der in verschiedenen Phasen ablief (und meiner Erfahrung nach sehr typisch gestaltet war), in Schnappschüssen zu dokumentieren, auf denen die folgenden Skizzen basieren. Den Skizzen folgt jeweils eine Beschreibung des jeweiligen skizzierten Vorgangs. 27 Abbildung 17: Skizzen zum ›Settingwechsel‹
Skizze links: Improvisationsstopp und Abmontieren der Kamera; Skizze rechts: Zusammnerücken um das Kameradisplay.
Der Wechsel der ›Settings‹ startet mit einer gewissen Frustration auf Seiten der Improvisierenden wie der Probenzuschauer. Das spielerische Improvisationsgeschehen, das in diesem Fall in der Re- und Neuproduktion eines kollektiven Tanzes besteht, wirft ein nicht näher beschreibbares Problem auf: Der Tanz ›klappt nicht‹. Um herauszufinden, zu welchem Zeitpunkt im geprobten Ablauf
des Körpers und des praktischen Körperwissens von Tänzern eingesetzt werden (vgl. Mitchell 2012). 27 Mein Besuch fand zu einem relativ späten Zeitpunkt der Produktion statt, schon nach der Premiere des Stückes, zwischen mehreren Aufführungen auf Tour. Deshalb probte die Gruppe auf einer ›richtigen‹ Bühne, im großen Saal des choreographischen Zentrums auf PACT Zollverein.
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das Problem beginnt, erfolgen nun mehrere ›Perspektivierungen‹, die zugleich zu sukzessiven Wechseln im Setting und zu mehreren Medienwechseln führen: Die Mini-DV-Kamera, die das Probengeschehen bis hier von schräg links vorne filmte, wird gestoppt und abgebaut. Die Mitglieder des Probenpublikums kommen mit der Kamera auf die Bühne und sehen sich gemeinsam mit den am Tanz mitwirkenden Spielern die Aufzeichnung der vorangegangenen Improvisation an; dafür nutzt die Kompanie das kleine Display der Kamera. Alle müssen eng zusammenrücken (zu beiden Schritten vgl. oben, Abbildung 17). Abbildungen 18: Skizzen zum ›Settingwechsel‹
Skizze links: Markieren einer in Frage stehenden Sequenz, Skizze rechts: Betrachten eines älteren Probenvideos auf einem Laptopbildschirm.
Es folgt eine Phase, in der alle Beteiligten sich bemühen, einen schnellen Zugriff auf ihr Gedächtnis zu aktivieren. Was genau haben sie in den Momenten, auf die sie sich nun mit Hilfe des Videomaterials beziehen, gedacht, gefühlt, wahrgenommen, getan, kurz: In welche Praxis waren sie jeweils involviert. Dieser Versuch das eigene Gedächtnis ›anzuzapfen‹ wird von Improvisierenden ebenso wie von den zuvor als Probenpublikum Agierenden praktiziert. Dabei werden einzelne Momente im Spielgeschehen identifiziert, die für bedeutsam erachtet werden. Diese werden einander gezeigt und dafür teilweise auch körperlich ausagiert. Die Idee kommt auf, das eben Gesehene mit Aufzeichnungen des vorangegangenen Probentages zu vergleichen. Tim Etchells bringt sein Laptop auf die Bühne; die ganze Gruppe schaut sich nun, auf dem Boden sitzend, ein Video vom Vortag auf dem Laptop-Bildschirm an (vgl. oben, Abbildung 18) Doch auch diese Perspektivierung des Geschehens führt nicht zu klaren Ergebnissen, das Problem kann nicht identifiziert oder gelöst werden. Auf der Bühne wird es langsam unbequem, die Gruppe ist zudem der Meinung, dass die Bildschirme von Kamera und Laptop eventuell zu klein sein könnten, also nicht in der Lage sind zu zeigen, was gesucht wird. Daraufhin distanziert sich die Gruppe – buchstäblich – vom Probenraum und wechselt in einen anderen Raum, der
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(in diesem Fall) mit Stühlen, Tisch und Fernseher ausgestattet ist. Dort wird das Videomaterial weiter begutachtet und diskutiert, erneut kommen zahlreiche Praktiken der Visualisierung und der Explikation, des Zeigens wie des Sagens, schließlich auch der Verschriftlichung zum Einsatz (vgl. Abbildunge 19). Abbildung 19: Skizzen zum ›Settingwechsel‹
Skizze links: Videobesprechung in Raum mit Fernseher, Skizze rechts: Flipchart mit einer Notation der möglichen szenischen Abfolge für die folgende Improvisation.
Beim bis hier beschriebene Verlauf handelt es sich um einen umfassenden Wechsel der ›Settings‹. In anderen Fällen gelangt die Gruppe schon nach einem kürzeren Intermezzo des Perspektivierens wieder ins improvisierende Spiel zurück; in so einem Fall vollzieht sich ein Umbau bzw. Wechsel der Räumlichkeit nur für kurze Zeit und weniger umfassend; z.B. kommt die Kompanie nur für eine Weile auf der Probenbühne zusammen und hebt so die Aufteilung in Zuschauer und Spieler auf, wechselt aber nicht in einen anderen Raum. Unabhängig von Dauer und Intensität, wird während jeder ›Perspektivierungs‹Phase versucht, auf Erfahrungen aus den vorangegangenen Improvisationen zurückzugreifen und zuvor an einzelne Spieler und Zuschauer gebundenes, praktisches Wissen für die ganze Gruppe zugänglich werden zu lassen. Typischerweise verläuft diese Praxis in einem Wechsel zwischen schweigendem Betrachten von Videoaufnahmen und anschließenden, abwechselnd von einzelnen Teilnehmern ausgeführten, Praktiken des Visualisierens, Zeigens und Explizierens; diese erlauben es dem Rest der Gruppe, Aufmerksamkeit zu fokussieren. Zwei Beispiele für Zeigepraktiken aus dem oben beschrieben Verlauf möchte ich kurz ansprechen:
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Beispiel 1: Nachdem die ganze Gruppe auf das Kameradisplay geblickt hat (vgl. Abbildung 17), beginnen zwei der Teilnehmer, die in der vorangegangenen Improvisation als Spieler agiert hatten, einige Schritte aus dem aufgezeichneten Tanz in angedeuteter Weise vorzuführen. Sie versuchen, sich auf diese Weise mit den Proben-Zuschauern (in diesem Fall Tim Etchells, Choreographin Kate McIntosh, Assistentin Hester Chillingworth) zu verständigen; z.B. fragen sie, eine Arm-Bewegung ausführend: »Meintet ihr auch diese Bewegung?« (vgl. Abbildung 18). Solch nachahmendes Vorzeigen kann treffend mit dem mehrdeutigen Begriff ›markieren‹ gefasst werden: Bewegungen werden andeutungsweise ausgeführt, und dabei für die Teilnehmer hervorgehoben und bedeutsam gemacht. Beispiel 2: Die Gruppe hat sich vor den Fernsehbildschirm begeben und das Video des improvisierten Tanzes eine Weile betrachtet hat; nun wendet sich Tim Etchells, der in der Nähe des Fernsehers stehen geblieben ist, den Kollegen zu. Er expliziert eine Erinnerung aus seiner Zuschauerfahrung während der vorangegangenen Improvisation und führt zugleich mit den Fingern Zeigegesten auf dem Fernsehbildschirm aus (vgl. Abbildung 19), zum Beispiel indem er sagt: »Immer wenn ihr nach vorne kamt... (folgt mit dem Finger einer Bewegung auf dem Bildschirm) hier in diesem Moment....nahm ich das als Fokus-Verlust wahr.« Beim ›Visualisieren‹ und/oder Zeigen handelt es sich, dies lässt sich anhand dieser beiden Beispiele gut nachvollziehen, um körperliche ausgeführte, mimetische Praktiken. Um in der Gruppe über Erfahrungen und/oder Praxiswissen aus der vorangegangenen Spielsituation zu sprechen, müssen sich Teilnehmer gegenseitig über ihre Erfahrungen während der Improvisationsphasen verständigen, also über vornehmlich körperlich eingeschriebenes, ›erspieltes‹ Knowhow. Zu diesem Zweck müssen Bewegungsabfolgen – zumindest andeutungsweise – nachgeahmt werden. Die Zuschausituation, die während der Improvisationen herrschte, wird damit für Momente reproduziert, sie wird gewissermaßen nachgespielt, und zwar sowohl von zuvor als Spielern, als auch von zuvor als Probenpublikum agierenden Teilnehmern. Die in der Zeigepraxis vollzogenen Medienwechsel (z.B. vom Kameradisplay – zum körperlichen Nachahmen – zum Fernsehbildschirm, etc.) unterstützen dabei die Etablierung immer neuer Perspektiven, indem sie in ihrer spezifischen Materialität zu ständigen Justierung der Schau- und Zeigepraxis drängen; diesen die Perspektivierung unterstützenden Effekt von Medienwechseln beobachtet auch Annemarie Matzke und stellt fest: »Für den Probenprozess selbst ist der Wechsel von einem Medium in ein anderes von besonderem Interesse.« (Matzke 2011: 142) Mithilfe von Zeigepraktiken, in die Medienwechsel integriert sind, nehmen die Mitglieder Forced Entertainments Distanz zu ihrer zuvor ausgeführten improvisierenden Praxis. Auf diese Weise erst wird Beobachtbarkeit zuvor erprobter Improvisationspra-
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xis hergestellt; wie der Soziologe Robert Schmidt konstatiert: »Beobachtbarkeit muss erst mittels kontrollierter Verfahren errungen werden und richtet sich dabei gegen eine zu große Nähe, die den Beobachter völlig in die Teilnehmerposition auflöst.« (Schmidt 2011: 35) Das Explizieren und Benennen, das in den perspektivierenden Besprechungen der Gruppe im Folgenden ebenso wichtig wird wie das bis hier beschriebene Visualisieren, vollzieht zunächst eine dem Zeigen ähnliche und mit ihm verbundene Praktik, eröffnet darauf aber nach und nach die Möglichkeit, sich von der Konkretheit des schon geprobten und ›vorzeigbaren‹ Materials noch weiter zu distanzieren: Zunächst beherrschen indexikalische Ausdrücke die Besprechungen Forced Entertainments, und begleiten die beschriebenen Zeigepraktiken. Teilnehmer sprechen dann von »dieser Bewegung«, »dieser Stelle« etc., indem sie zugleich Markieren oder andere Zeigegesten ausführen. Die Soziologin Larissa Schindler beschreibt solch »sprachliches Zeigen« im Zusammenhang mit Kampfkunsttrainings im Ninjutsu, wobei sie betont, dass »der Text des Gesprochenen allein« in solchen Momenten indexikalischen Bezugs auf praktisches Wissen »weder den Sinn der Bewegung darstellen« könne, noch als Instruktion für weitere Abläufe brauchbar werden kann (Schindler 2011: 103) Während die von Schindler beschriebene Kampfkunst ihr Praxiswissen vor allem non-verbal anschlussfähig für Teilnehmer macht, verändert sich die Art und Weise im Explizieren Forced Entertainments sukzessive: Die Gruppe beginnt, kurze Benennungen zu erfinden, gewissermaßen Titel für bestimmte Sequenzen der Improvisation, die von einer Mehrzahl der Probenteilnehmer als wichtig oder interessant erachtet werden.28 Auf diese Weise entstehen bleibende Namen für szenische Versatzstücke. So benannte die Gruppe während der Proben zu Bloody Mess, die ich im Jahr 2003 besuchte, das Spiel um die Platzierung zweier Stuhlreihen mit »the Chairs«, einen Tanz während der Einspielung eines BachViolinkonzerts mit »the Bach«, usw. Diese Benennung geprobter Versatzstücke, die der Gruppe ›irgendwie interessant‹, ›irgendwie problematisch‹ oder auf sonstige Weise hervorhebenswert erscheinen, ermöglicht es, Improvisiertes nach und nach in abstrahierter Form zu adressieren. Auf diese Weise wird es den Probenteilnehmern möglich, auch ohne gleichzeitige Zeigegeste Sinn zu schaffen: statt von ›dieser Bewegungsabfolge‹ kann nun beispielsweise von ›the Chairs‹ gesprochen werden;
28 In der Ethnomethodologie spricht man in ähnlichen Zusammenhängen davon, dass Teilnehmer »accountability« herstellen: Zuvor nur praktisch Gewusstes bzw. Gekonntes oder ›Geahntes‹ wird zurechenbar, beobachtbar und ›erzählbar‹ (vgl. z.B. Garfinkel/Sacks 1976).
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so werden auch Äußerungen möglich wie: »Ich glaube, dass ›the Bach‹ direkt nach ›the Chairs‹ nicht passt.«29 Derart explizierte und mit Namen versehene Momente des vorangegangenen Spiels werden darüber hinaus notierbar, und können damit, unter Praktizierung weiterer Medienwechsel, zu größeren Mustern oder Strukturen zusammengefasst werden (wie z.B. die schriftliche Struktur auf dem Flipchart, vgl. Abbildung 19). Mit Hilfe von Praktiken des Explizierens und Benennens können also Versatzstücke spielerischer Improvisation von individuellen Erfahrungen, und nur Einzelnen zugänglichem praktischen Knowhow, zu der ganzen Gruppe zugänglichem Material umgearbeitet werden. Ausgangsmaterial, neues ›Spielzeug‹ für weitere Improvisationen entsteht, z.B. indem die Gruppe beschließt, in der folgenden Improvisation noch einmal »the Chairs« zu spielen. Auf diese Weise entwickeln sich die oben angesprochenen Games und versehen den Probenprozess mit einer Art ›Rückkopplung‹: Erst im Verlauf der Improvisation entstanden, strukturieren Games später deren weiteren Verlauf. In der Notation begegnen sich schließlich Praktiken der Visualisierung und der Explikation: Strukturen und ›Mind-Maps‹ können nun auf Papier gebannt werden, zu sprachlichen oder schriftlichen Kürzeln abstrahiertes Material kann collagiert und rekombiniert werden. Innerhalb des ›Perspektivierungs-Settings‹ werden damit ähnliche Praktiken möglich wie während der Improvisationen. Auch innerhalb des Perspektivierens können sich daher nun eigenständige Games entwickeln – z.B. entstehen bestimmte Sprachspiele, die die Mitglieder Forced Entertainments miteinander ausführen. Auch hier können die bei der Kompanie beliebten Listen Beispiel werden, wie Tim Etchells im Video How We Work aus- und zugleich vorführt: »After we’ve been, uhm, been working on a thing for a while we, we often get into a phase where we make a lot of lists. Uhm. Lists of things we like, lists of things that go together, lists of things that would be good at the start. Lists of possible endings, lists of things we’re not very sure about, lists of things that we’ll try one day, but haven’t gotten round to, yet. uhm. So, a whole bunch of lists.«
Wenn in den, bis hierhin von allen Teilnehmern ausgeführten, Perspektivierungspraktiken dennoch kein ›Weiterkommen‹ produziert werden kann, ein Gefühl des »being stuck« anhält, wird manchmal eine weitere Perspektivierungspraxis genutzt, die die Arbeitsteilung der Improvisationsspiele nicht mehr nur nachahmt, sondern sie überformt bzw. sogar umkehrt: Tim Etchells zieht sich dann alleine zurück (sel29 Außenseiter, die den Prozess der Namensentwicklung nicht miterlebt haben, können aus diesem Verweis keinen ›Sinn machen‹; für die Gruppe aber ist klar, was »the Bach« adressiert, vgl. Kapitel I der vorliegenden Arbeit.
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tener auch im Verbund mit weiteren Mitgliedern des jeweiligen Probenpublikums); das Probenpublikum trennt sich also von den Spielern der Kompanie und beschäftigt sich, meist schreibend, mit dem bis dort ›erspielten‹ und explizierten Material. Etchells Reflexionen seiner Schreibpraxis, die sich z.B. in der Veröffentlichung Certain Fragments finden, legen nahe, dass auch dort weitere distanzierende Perspektivierungen zum Einsatz kommen, z.B. ›befremdet‹ er schreibend die Probenpraxis der Gruppe: »Perhaps the most useful discovery was in the writing I did describing our work at a distance – referring always to ,they‹, writing as if Forced Entertainment were some distant, semi-fictional group of people in a country far away. The distance was useful – a fictionalising manoeuvre that nodded to the versional nature of all history.« (Etchells 1999 : 16) Doch auch mimetische Praktiken werden Grundlage in Etchells Schreiben für die Kompanie: »And when I try to write all this down I find that I do it by ,doing‹ all the people. So sometimes, while I’m typing at the keyboard, I’m shifting my weight and trying little moves (the minutes of echoes – a desktop version of a lifesize sequence) and I’m moving my lips too, on the edge of speech[.]« (Etchells 1999: 73f ) Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass die Gruppe Forced Entertainment in Improvisationen ›erspielte‹ Erfahrungen, bzw. individuell erworbenes Praxiswissen der Spieler und des Probenpublikums, in Praktiken des Perspektivierens für die ganze Gruppe zugänglich macht, sie zu Material umarbeitet. Hierfür distanziert die Gruppe sich vom Setting der Improvisation, indem sie dessen Raumordnung auflöst und/oder einen anderen Raum aufsucht. In immer neuen Schritten der Distanzierung und Abstraktion werden die ganz individuellen, leiblich eingeschriebenen Erfahrungen einzelner Gruppenmitglieder zu Material, auf das alle Gruppenmitglieder zugreifen können. Bezugnehmend auf die praxeologische Konzeption der »Öffentlichkeit« des Soziologen Robert Schmidt könnte hier also auch von einer sukzessiven »Veröffentlichung« der Spielpraktiken der Kompanie gesprochen werden.30 Bei genauerer Betrachtung der dabei zum Einsatz kommenden Praktiken des Visualisierens und des Explizierens (in Wort oder Schrift) zeigt sich, dass auch im Praktikenkomplex des Perspektivierens (körperliche) Mimesis, experimentelles Collagieren und Rekombinieren verwendet und eigenständige Games entwickelt werden, die die Mitglieder der Kompanie zwar in Distanz zum Improvisationsgeschehen bringen, sie aber auf neue spielerische Weise involvieren. Insofern könnte hier von einem spielerischen Perspektivieren gesprochen werden. Beide ›Settings‹, 30 »Öffentlichkeit ist demnach als eine gemeinsam geteilte, in sich plurale Aufmerksamkeit zu verstehen, die nicht auf die unmittelbare Begegnung beschränkt bleibt, sondern sich über Symbole, Artefakte und Medien auch über Raum und Zeit hinweg konstituiert.« (Schmidt 2011: 29).
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die sich in Forced Entertainments Probenarbeit ausmachen lassen, die Improvisationsspiele wie die distanzierenden Perspektivierungen, funktionieren also nach durchaus ähnlichen Prinzipien und sind eng aufeinander bezogen. Aufgrund welcher der bis hier beschriebenen Praktiken aber entstehen in Forced Entertainments Probenpraxis Inszenierungen, die, statt in Insiderjargon zu verharren, in ihren Aufführungen so ›mitspielfähig‹ werden, wie in Punkt V. der vorliegenden Arbeit gezeigt werden konnte? Dieser Frage möchte ich mich in einem abschließenden, synopsierenden Punkt widmen. d) Vom gaming zum dis-playing In Forced Entertainments Arbeitsweise ist der Übergang zwischen noch geprobten und schon aufgeführten Stücken, anders als in den meisten traditionellen Theaterformen, oft fließend: Schon während der Proben besucht Probenpublikum die Produktion, und auch nach der Premiere wird oft noch an Inszenierungen weiter probiert. Trotz solch unscharfer Begrenzung, führt die bis hier als Wechsel aus zwei Settings beschriebene Probenpraxis der Kompanie als fortschreitender Weg vom Sammeln ersten Spielmaterials hin zu einer ›aufführbaren‹ Inszenierung. Nach meiner ersten Begegnung mit Forced Entertainment während der Proben zu Bloody Mess im Oktober 2003 besuchte ich im folgenden halben Jahr mehrfach Vorstellungen des Stückes und konnte dort fortschreitende Veränderungen der Inszenierung feststellen: Das Stück wirkte nun viel ›fertiger‹ und ›runder‹. Auf der Suche nach einer adäquaten Beschreibung des zugrundeliegenden Prozesses, fragte ich in einer E-Mail-Konversation Tim Etchells nach dem Weg, den die Inszenierung während ihrer letzten Proben und ersten Aufführungen genommen hatte; darauf antwortete er: »Mostly the differences come about because of the time that’s elapsed since Munich and the fact that re-rehearsing the piece, working on it again, inevitably meant watching the tapes a lot and somehow ,re-creating‹ what we found there. Back in Munich all the information was lodged in people’s bodies – and was very complex. Approaching the piece in this second block most of that detail has been forgotten – so what gets done now is probably simpler, cleaner, more articulated. It’s more like what can be observed or remembered than the complex incommunicable stuff that had built up in each individual performer over the actual making process.«31
Etchells beschreibt hier sehr anschaulich die Wanderung ›erspielten‹ PraxisWissens einer Inszenierung: Ausgehend von eingekörperten, praktischen Erfahrungen hin zu beobachtbaren und gemeinsam ›erinnerbaren‹ Strukturen, die die Gruppe 31 Vgl. VII. Kontexte, E-Mail-Interview, 17.05.2004.
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zwangsläufig ›freilegen‹ muss, um mit einem Stück auf Tournee gehen zu können. Dieser Prozess des Freilegens bzw. Explizierens, so wird in Etchells zitierter Überlegung angeregt, macht das produzierte Material oder ›Stück‹ nicht nur für Gruppenmitglieder lesbar und erinnerbar, sondern führt zugleich dazu, dass auch Außenstehende mit dem Material ›Sinn machen‹ können. Auch im Ninjutsu-Training existieren, wie Larissa Schindler (vgl. oben) beschreibt, Freilegungsprozesse praktischen Wissens, sowie Praktiken, die Wissen von einer Situation in die nächste transferieren.32 Um solche Transferpraktiken, die praktisches Wissens von einer Trainingsphase in die nächste (und damit letztlich auch von einem Körper in den nächsten) transportieren, begreiflich zu machen wird es laut Schindler nötig »transsequentielle« Anschlüsse zu untersuchen.33 Fokussiert man auf die Frage, wie in Forced Entertainments Probenpraxis »transsequentielle« Anschlüsse bewerkstelligt werden, fällt ein Praktikenkomplex auf, der beide beschriebenen ›Probe-Settings‹ überschreitet und verbindet: die oben mehrfach angesprochene Produktion und Nutzung von Games. ›Erspieltes‹ wird dabei zu neuem Spielmaterial umgeformt. Die Gruppe befragt ›erspielte‹ Praktiken nach ihrer ›Brauchbarkeit‹ und trifft eine entsprechende Auswahl. Manches erscheint dann als ›interessant‹, anderes als ›problematisch‹; Tim Etchells beschrieb im Interview die Grundlagen dieses Entscheidungsprozesses: »[T]here are many different reasons why you include or exclude things.... Like: there might be two possible jokes at one point, but one of them is funnier... Or: there are two possible routes that one could go in a particular structure here, but this way is clearer, which means: It helps the journey better, or articulates better what we’re trying to talk about or do. You could say, yes, at some point something is funny to us, but won’t be funny to other people those things tend to get thrown out. We also know sometimes we find things we think are very good or moving, interesting –– but we know they’ll prove to be hard to repeat. In this way there can be great discoveries in the rehearsal process, which are very important, but which don’t make it to a final performance, because they just can’t be done again.«34
32 Vgl. Schindler 2011: 150ff; Im Ninjutsu-Trainings existiert zum Zweck sukzessiver Wissensproduktion und Explikation eine Zweiteilung der Settings, die der ähnelt, die ich für Forced Entertainments Probenpraxis beschrieben habe: Trainer und Schüler verwickeln sich abwechselnd in Phasen der »Demonstration« (in denen der Trainer bestimmte Bewegungen vorführt) und in Phasen des »Übens« (während derer Schüler sich bemühen, die zuvor gesehenen Bewegungen auszuführen). 33 Schindler bezieht sich dabei u.a. auf Thomas Scheffers Ausführungen zur »transsequentiellen Analyse«, vgl. Scheffer 2008. 34 Vgl. VII Kontexte, Interview 28.03.2008.
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Die elementarste Eigenschaft, über die erarbeitetes Material offenbar verfügen muss, um weiter im Spiel zu bleiben, besteht also in dessen Wiederholbarkeit. Diese wird, vgl. oben, in mehreren Schritten herzustellen versucht: ›Erspieltes‹ Erfahrungswissen muss zunächst ›vorzeigbar‹ werden, etwa indem es in Zeigepraktiken verkörpert wird. Darauf muss es sich als explizierbar erweisen; dies geschieht, indem kurze Titel für bestimmte, aus den Improvisationen extrahierte Momente gefunden werden. Zugleich wird versucht, Games zu formulieren; das heißt, dass das nun vorzeigbare und explizierte Knowhow zu einfachen Sets aus ›Spielregeln‹ umformuliert werden muss, um auf diese Weise für weitere Improvisationen zur Verfügung zu stehen. Erst nach diesem dritten Schritt ist ›erspieltes‹ Material endgültig wiederholbar geworden. Wieder ›im Spiel‹, also während der folgenden Improvisationen, wird die Wiederholbarkeit entstandener Games weiter ausprobiert und in nachfolgenden Perspektivierungen verfeinert, um schließlich, zum Ende einer Produktion, als fixierter Ablauf für Aufführungen vor Publikum zur Verfügung zu stehen.35 In seiner gleichsam ›rückgekoppelten‹ Veröffentlichung theatralen Praxiswissens entwickelt jeder Probenprozess Forced Entertainments auf diese Weise einen typischen und einzigartigen Verlauf. Praxiswissen wird in Forced Entertainments Game-Praxis also sukzessive ›erspielt‹, darauf ›veröffentlicht‹ und schließlich wieder verspielt; auf diese Weise wird praktisches Wissen zunächst für die Mitglieder der Kompanie expliziert und wiederholbar gemacht. Es erfährt damit zwangsläufig Abstraktion und Klärung, und wird so schließlich auch für Außenseiter mitvollziehbar, es wird als Spielregel sinnvoll. Aus Gespieltem wird auf diese Weise ›Vorgeführtes‹ – aus dem gaming der Kompanie entsteht sukzessive involvierendes ›dis-playing‹.36
35 Wiederholbarkeit wird auch von Robert Mitchell als wichtiges Telos in Ballettproben aufgezeigt; dort allerdings errichten Praktiken des Explizierens und der Visualisierung Wiederholbarkeit und Kontrollierbarkeit auf Kosten der Tänzerkörper, die, wie Mitchell beschreibt, »rabiat« zugerichtet werden (vgl. Mitchell 2012). Annemarie Matzke beschreibt die Herstellung von Wiederholbarkeit unter der Überschrift des »Testens« und betont ebenfalls die objektivierenden und »zurichtenden« Momente entsprechender Praktiken, (vgl. Matzke 2011). 36 Der Begriff scheint mir hier passend, da sich in ihm das Wort »playing« zu verstecken scheint, obwohl »display« (von lat. dis-plicare, entfalten) und »play« (vgl. Kapitel II., von Anglo-Sax. plegan bewegen, bzw. »umhertollen«) keine gemeinsame etymologische Herkunft besitzen. Insofern spricht der Begriff bei näherem Hinsehen davon, dass Praktiken des Zeigens und der forschenden Schau und solche des Spielens, trotz ihrer auffälligen Überschneidungen und Familienähnlichkeiten, doch nie ganz zur Deckung gebracht werden können.
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Betrachtet man die Produktion und Durchführung von Games als Herzstück von Forced Entertainments Probenpraxis, stellt sich weiterhin die Frage, was genau bestimmte Momente aus der Improvisation erstmalig ›interessant‹ erscheinen lässt, welche Kriterien einmal ausgeführte Spielhandlungen also aufweisen müssen, um überhaupt auf ihre Wiederholbarkeit hin überprüft zu werden. Tim Etchells erklärte mir diesen Entscheidungsprozess aus seiner Sicht wie folgt: »[I] think initially, I’m watching. And if I am fascinated or amused or bored, then I take those as a sign that other people might be amused or bored or fascinated... I suppose then I make some calculations – I mean, we discuss things and we make some calculations like: I can watch 20 minutes very difficult, very slow, nothing happening and quite enjoy it in the studio but I can also think, yeah, when we play in Leeds, there will be some unhappy school children... Or, I might laugh a lot and then think, yeah, but it’s probably not sooo funny. You try to develop a sense of how to translate your own first watchings, to imagine how they might play to and with a different audience[.]«37
Etchells beschreibt also zunächst das roletaking, das er als spezialisierter Probenzuschauer während der Improvisationen vollzieht: Er versetzt sich in die zu erwartende Perspektive uninformierter Zuschauer. Er betrachtet das spielerische Improvisieren seiner Kollegen also nicht nur als ›er selbst‹, sondern immer auch aus dem Blickwinkel imaginierter, anderer Besucher. Etchells Sonderposition ist dabei im Theaterkontext nicht ungewöhnlich, ja, seine Praxis des Beobachtens und roletakings stellt den Normalfall des Regieführens dar. In den allermeisten Theaterproben, auch traditioneller Machart, mimt der Regisseur gewissermaßen das spätere Publikum – in dieser Hinsicht sind also alle Theaterproben von Anfang an Aufführungen. Allerdings taucht die (typische, traditionell etablierte) TheaterBlickordnung in Forced Entertainments Probensettings auch innerhalb der Improvisationsspiele auf, in denen, wie oben beschrieben, auf der Bühne, doch auch um die Bühne herum zahlreiche Zuschauperspektiven generiert werden (z.B. indem Spieler sich an den Rand des Geschehens zurückziehen und ihre Kollegen betrachten). Tim Etchells’ Zuschauerblick, seinerseits zwischen unterschiedlichen Zuschauerrollen changierend, wird insofern im spielerischen Improvisationsgeschehen gespiegelt, vermehrfacht und/oder gebrochen. Wechselt die Probenpraxis der Kompanie später zum Setting des ›Perspektivierens‹, wird die theatertypische Raumordnung aufgelöst; dann werden nicht nur die Spielerfahrungen der Improvisierenden, sondern auch und vor allem Etchells’ Blickerfahrung in der Gruppe diskutiert, und dabei, wie oben geschildert, nachahmend gezeigt, expliziert, etc. Auch jetzt wird die spezifische Blickerfahrung Tim Etchells, sein während der Improvisationen erworbenes Praxiswissen, mit der Erfahrung der 37 Vgl. VII Kontexte, Interview 28.03.2008.
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Kompaniekollegen kontextualisiert und fließt schließlich, umgearbeitet zu neuem Spielmaterial, in weitere Improvisationen ein. Insofern nimmt Tim Etchells während der Perspektivierungspraktiken nicht zur Gänze die Rolle eines traditionellen (autoritären) Regieführenden ein; vielmehr steht seine Erfahrung aus dem Improvisationssetting ebenso unter Beobachtung, wie die der improvisierenden Spieler. In den Proben Forced Entertainments wird insofern ein Kontinuum des Zuschauens und der Perspektivnahme praktiziert; in diesem Kontinuum stellt Etchells Zuschaupraxis, wie oben, im Zusammenhang mit der Raumsituation schon angemerkt, lediglich einen Extrempunkt dar.38 Es lässt sich also zusammenfassen, dass in der Probenpraxis Forced Entertainments ein ganzes Netzwerk der Rollenübernahmen und des Perspektivwechsels aufgespannt wird; die traditionelle Grundstruktur des Theaters, von Uri Rapp als »Handeln und Zuschauen« zusammengefasst, ist dort vielfach fragmentiert und gespiegelt bzw. »moduliert«.39 Man kann also die Blicksituation der Theateraufführung, diese traditionell bekannte Praxis des Beobachtens und der spielenden Rollenübernahme, als ein wichtiges, wenn nicht sogar als das wichtigste Spielmaterial begreifen, mit dem die Gruppe sich improvisierend und perspektivierend beschäftigt. Auf diese Weise betrachtet, erweisen sich auch die vielen anderen ›Spielzeuge‹ der Kompanie, die oben beschriebenen Textfragmente, gebrauchten Kostüme und nachgeahmten Typen, als Materialien aus dem Themenkreis theatraler Schau. Die Erfahrung, bzw. das Knowhow, das die Gruppe in spielerischen Improvisationen sammelt, sukzessive expliziert und wieder aufs Neue verspielt, ist also immer auch und vor allem ein Praxiswissen über die traditionelle Theatersituation und die ihr eingeschriebene Blickordnung. Die spielerischen Improvisationen Forced Entertainments sind insofern nicht nur von Beginn an immer schon wie Theateraufführungen strukturiert, sondern sie erforschen diese traditionell bekannte Situation, praktisch und auf spielerische Weise. In diesem Sinne lässt sich Annemarie Matzkes Beschreibung von Probentechniken zeitgenössischen, postdramatischen Theaters beipflichten: »Das Wissen um die Inszenierung wird so im Prozess hervorgebracht: im Wechselspiel von Außenblick und Konzeption, in dem Vollzug der kör-
38 In Pressebesprechungen der Arbeit Forced Entertainments findet oft eine Umwidmung der Sonderfunktion Tim Etchells statt, die dann als ›Leitungsfunktion‹ interpretiert wird; z.B. wird in solchen Fällen von Etchells als dem »Mastermind« der Gruppe gesprochen. Tim Etchells selbst erklärte mir in einem Interview 2010, dass er solche Deutungen für eine Notwendigkeit des Theatermarkts bzw. des Kulturjournalismus betrachte; vgl. unter VII. Kontexte, Interview 19.05.2010. 39 Vgl. Titel Handeln und Zuschauen (Rapp: 1981), zum Begriff der »Modulation« siehe oben und Goffman 1989: 55.
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perlichen Bewegungen auf der Bühne sowie dem Erinnern und Wiederholen des einmal Gefundenen.« (Matzke 2011: 145) Der bis hier beschriebene Prozess der (praktischen) Wissensproduktion in Forced Entertainments Probenpraxis weist damit, wie unter Kapitel I angedeutet, Parallelen zur (sozial- und kulturwissenschaftlichen) Methode der Ethnographie auf: Die Kompanie involviert sich intensiv in eine Aufführungssituation (betreibt also eine Art going native in dieser Situation) und expliziert daraufhin dort erfahrenes Praxiswissen im Kollegenkreis (ähnlich dem coming home der Ethnographin).40 Doch während Ethnographen sich zunächst meist in (schon existenten) Feldern akkulturieren, deren Praktiken und Spielregeln ihnen noch fremd sind, produzieren Forced Entertainment ihr ›Forschungsfeld‹ zu großen Teilen selbst: Die Materialsammlung, die spielerischen Improvisations-Praktiken, das entsprechende PraxisWissen, wie auch dessen Explikationen entstehen anscheinend as they go along. Dennoch äußern sich Mitglieder der Gruppe immer wieder zur Eigengesetzlichkeit dieses Prozesses, darüber also, dass es sich für die Gruppe nicht so anfühlt, als würde sie die Gesetzmäßigkeiten ihres Produktionsprozesses selbst bestimmen. So zum Beispiel Tim Etchells, der im Interview danach gefragt wurde, welches ›erspielte‹ Material die Gruppe auf ihrem Weg von der Inszenierung zur Aufführung als wichtig für das Publikum erachtet: »You can think of this in terms of ,what’s important for us?‹ and ,what’s important for the audience?‹ But another way to think about that is: ,what does the piece need?‹ In the rehearsals, we generate a lot of material, scenes or text, could be stories or other things, from improvising, from messing around [...]. And of the things that we generate, only some things are, let’s say, felt to be essential to making this hour and a half, or two hours of time as a machine that unfolds from 8 o’clock until 10 o’clock. And other things are felt to be not essential to that machinery. WHY you decide some things are in and some things are out, is to do with trying to make that machine function very well – in public, of course. And, you know, there are many different reasons why you include or exclude things.... Like: there might be two possible jokes at one point, but one of them is funnier... Or: there are two possible routes that one could go in a particular structure here, but this way is clearer, which means: It helps the journey better, or articulates better what we’re trying to talk about or do.«41
Etchells betont also, dass im Verlauf von Probenprozessen Forced Entertainments eine Dynamik entsteht, die sich für die Mitglieder der Gruppe wie ein eigenständiges ›Wollen‹ oder ›Fordern‹ anfühlt: »What does the piece need«. Auch Forced40 Zur »Befremdung« vgl. Hirschauer/Amann 1997:12; Zur Methode der Ethnografie, wie sie an dieser Stelle verstanden und beschrieben wird, vgl. außerdem Kapitel I der vorliegenden Arbeit. 41 Vgl. VII. Kontexte, Interview 28.03.2008.
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Entertainment Darstellerin Claire Marshall beschreibt im Video How We Work Probenarbeit als nicht teleologisch von der Gruppe gesteuert: »[I]t feels like, when you’re trying to order all the little bits that you’ve created that in some ways [...] that order actually exists deep down, nd’you just have to keep digging till you found it[.]« Beide hier zitierten Statements können zwar als Stimmen aus dem Feld postdramatischer Theaterästhetik betrachtet werden, die schlicht verdeutlichen möchten, dass ihre Arbeitsweise sich von den (als auktorial und hierarchisch begriffenen) Techniken traditioneller Theatermacher unterscheidet. Nimmt man jedoch die in beiden Fällen formulierte Erfahrung der Eigendynamik und Fremdsteuerung ernst, scheint sich die Kompanie in ihrer spielerischen Probenarbeit mit einem »Dritten« zu beschäftigen, und dabei Alterität hervorzutreiben. Die »verborgene Ordnung«, der wahrgenommene »Wille des Stückes« könnte dann als Manifestation des Theater-Dispositivs und seiner Spielregeln verstanden werden, bzw. als Äußerung dessen, was Jaques Rancière als »ästhetisches Regime« beschreibt: »[A] mode of articulation between ways of doing and making, their corresponding forms of visibility, and possible ways of thinking about their relationships[.]« (Rancière 2006: 10) Lässt man sich auf diese Überlegung ein, kann abschließend konstatiert werden, dass Forced Entertainment in ihrer Probenpraxis eine ›angewandte Praxeologie‹ des Theaters betreiben. e) Fazit: Proben-Forschung Ich möchte die Ergebnisse meiner Probenforschung zusammenfassen: Zunächst konnte herausgearbeitet werden, dass in (Selbst-) Beschreibungen des Feldes postdramatischer bzw. von devised theatre Produktionen besonders der kollaborative wie der forschende Impetus betont werden. Insgesamt erwies sich dieses Feld als theoretisch intensiv erschlossen. Gerade aus diesem Grund wurde weiter ethnographisch berichtet, Grundlage wurden meine in teilnehmender Beobachtung gesammelten Erfahrungen. Forced Entertainments Probenarbeit spielt sich in zwei einander abwechselnden Settings ab. Zunächst wird in improvisierenden Spielen Material generiert, das schon zahlreiche Perspektivierungen enthält, z.B. wenn dort die Figur des untätigen Darstellers entsteht, der seine Kollegen missmutig aus dem Off beobachtet. Darauf wird ›erspieltes‹ Material in Distanznahme und Diskussion perspektiviert – wobei in vielerlei Hinsicht wiederum spielerisch vorgegangen wird, z.B. indem Sprachspiele wie die bei der Gruppe beliebten Listen (Catalogues) zum Einsatz gelangen. Insofern sind die beiden ›Settings‹ nicht als einander entgegengesetzt zu beschreiben, sondern formen eine eng aufeinander bezogene Spiel- und Perspektivierungspraxis; diesen Praktikenkomplex habe ich abschließend als ›dis-playing‹ bezeichnet.
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Sukzessive wird dort praktisches Wissen zum Theaterspiel expliziert und in Games übersetzt. Die ethnographische Beobachtung dieser Probenpraxis fand sich damit einer Form der praktischen Theaterforschung gegenüber, die einige Parallelen zum ethnographischen Vorgehen aufweist. Dabei konnte verständlich werden, wie die in den Kapiteln III. bis V. beschriebene ›Spielanleitung‹, und deren involvierender Effekt erstmalig entstehen können: Denn durch die beschriebene Probenpraxis der Gruppe ist der Blick möglicher Zuschauer immer schon in alle Spiel- bzw. Darstellungspraxis eingelassen. Aus einer verspielten und immer wieder neu perspektivierten Aufführungssituation entstanden, präsentieren Forced Entertainments Inszenierungen ihr Publikum mit Dramaturgien, die die Kompanie selbst zu Beginn ihres Probenprozesses noch nicht kennt, die der Blickordnung des Theaters nach und nach abgerungen und ›veröffentlicht‹ werden. Die Wahrnehmungspraxis des Publikums, wie auch deren Möglichkeitsumstände sind in den so erarbeiteten Stücken in intensiver und komplexer Weise vorweggenommen und im Vorhinein eingeübt; Zuschauer können sich in den resultierenden Aufführungen, die eine äußerst klare, gewissermaßen selbsterklärende ›Spielanleitung‹ enthalten, intensiv involvieren;42 insofern gibt die Kompanie die eigene ›Forschungsarbeit‹ an ihr Publikum weiter.43 Das Dispositiv des Theaters und dessen Spielregeln präsentieren sich dabei als verspielbar as we go along, als eine Theaterspielpraxis, die sich ihren MitspielerZuschauern mitteilt, und so keinen Endpunkt finden kann – noch finden soll: »A show is never finished. uhm (..2s) It’s only that you have to perform it on a certain day at a certain time.«44
42 Die Theaterwissenschaftlerin Maaike Bleeker bezeichnet diesen Effekt als »implied spectators« und als »visual involvement« (vgl. Bleeker 2008). 43 Alva Noë, Vertreter der philosophy of mind sowie eines enactive approach, beschreibt ein ähnliches Moment der Weitergabe im Hinblick auf die Choreographin Lisa Nelson und deren Tuning Scores, eine tänzerische Übungs- und Performance-Praxis, die Forced Entertainments Games ähneln: »Wie Wittgensteins Sprachspiele sind Lisa Nelsons Tuning Scores eine Methode. Wie eine Grammatikübung bietet ein Tuning Score die Gelegenheit, die Fähigkeiten zu erwerben, die für den Zugang zur Welt erforderlich sind [...] Es handelt sich um eine Tätigkeit, bei der man sich auf das einstellt, was um einen herum geschieht. [...] Nelson und Wittgenstein geben uns Hilfsmittel an die Hand, mit denen wir Kontakt zur Wahrnehmung herstellen können. [...] Auf diese Weise leistet diese praktische Technik zur Herausarbeitung tänzerischer Möglichkeiten einen theoretischen Beitrag zu unserem Verstehen des Wahrnehmungsbewusstseins, genau wie Wittgensteins Sprachminiaturen es uns ermöglichen, das Wesen der Sprache und des sprachlichen Verstehens neu zu überdenken.« (Noë 2007: 132). 44 Richard Lowdon im Video How We Work (Forced Entertainment o.J.).
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2. S OUVENIRS Mein ›Reisebericht‹ ist nun an seinem Ende angelangt. Vier Grenzgänge in und um Aufführungssituationen von Bloody Mess und The World in Pictures wurden geschildert und analysiert, wobei das in Kapitel II. entwickelte Spielvokabular zum Einsatz kam. In Kapitel III. konnte nachvollzogen werden, wie die ›Spielräume‹ der Aufführungssituationen etabliert und ästhetisiert werden. Unter IV. wurde das ›Erspielen‹ und Verspielen von Spielfiguren der Aufführungen detailliert beschrieben. In Kapitel V. wurden die Zuschauer als die eigentlichen Spieler der Situationen umkreist, zuerst indem von den Spielangeboten berichtet wurde, die Zuschauer in den Aufführungen erhalten, und zuletzt, indem das Mitspielen eines Publikums während einer konkreten Bloody Mess Aufführung belauscht wurde. Der Ausflug in die Probenpraxis Forced Entertainments konnte im vorliegenden Kapitel VI. schließlich klären, auf welche Weise die impliziten ›Spielanleitungen‹ der Aufführungssituationen erstmalig entstehen. Forced Entertainments Aufführungspraxis, so lässt sich resümieren, ermöglicht komplexe Spiele mit der Situation der Aufführung, in denen Zuschauer ›ernsthaft mitspielen‹ können. Möglich wird dies durch eine Dramaturgie der »negativen Erfahrung«: Erst das in der Aufführungssituation nach und nach etablierte praktische Wissen des Publikums um die dauernd neu justierten ›Spielregeln‹ der Aufführung ermöglicht die differenzierte ›Einspielung‹, das umfassende Mitspielen der Zuschauer. Dabei wird zugleich wiederholt der Blick freigemacht auf die Möglichkeitsumstände dieses Spiels, auf die Spielregeln jeder Darstellung und Wahrnehmung und die zugrundeliegende, kollektive Rahmungsaktivität. Ein Besuch von Forced Entertainments Bloody Mess oder The World in Pictures lässt spürbar werden, dass so universelle Praktiken wie die der gemeinschaftlichen Schau, des Blicks und der Perspektivierung untrennbar mit der Herausbildung einer Gruppe, eines ›Wir‹ verbunden sind. Die ursprüngliche Frage, die sich mir schon bei meinen ersten Begegnungen mit Aufführungen Forced Entertainments gestellt hatte, auf welche Weise es dort möglich werden konnte, mich als Zuschauerin nicht nur mit einer postdramatischen Reflexion der Aufführungssituation konfrontiert zu sehen, sondern zugleich intensiv eingespielt, praktisch eingebunden und angesprochen zu werden, konnte beschreibend beantwortet werden: Erwartungen an die Aufführungssituation, teleoaffective structures, werden in den untersuchten Aufführungen nicht nur aus dem traditionellen Theaterrahmen bezogen, sondern auch und vor allem nach und nach ›erspielt‹, sie werden geweckt, um darauf wieder ad absurdum geführt, und auf diese Weise bewusst gemacht zu werden. Vorwissen und Neuerfahren können auf diese Weise für die (mitspielende) Zuschauerin ineinandergreifen und eine involvierende Reflexivität entwickeln, die eben nicht in einer einseitigen
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Fallhöhe aus zwei Wissensständen besteht, sondern in einem Spiel, das sich als gemeinsam erlebtes und kollektiv vollzogenes ›Sinn-Machen‹ darstellt. Abschließend sollen kurz die ›Souvenirs‹ angesprochen werden, die meine Heimatdisziplinen von meiner ›Reise‹ zurückbehalten können: In Inszenierungen postdramatischer Machart liegt das ästhetische Hauptinteresse oftmals darin, die Arbeit des Zuschauers an und mit der eigenen Wahrnehmung sichtbar zu machen, sie zum ästhetischen Thema werden zu lassen: »[D]ie bewusste Wahrnehmung des Kunstvorgangs selbst, die Faszination am materiellen Prozess des Spiels, der Inszenierung, an Raum- und Zeitorganisation nicht eines fiktiven Universums, sondern der Aufführung [tritt – SH] in den Vordergrund.« (Lehmann 2001: 193) Dieses reflexive Interesse postdramatischer Ästhetik an der Aufführungssituation verlangt nach einer Analyse der entsprechenden Praktiken, der Darstellung wie der Rezeption: Wie wird es überhaupt möglich, eine Aufführungssituation aufrecht zu erhalten, wenn innerhalb dieser Situation anscheinend mannigfache Ununterscheidbarkeiten produziert werden? Wie geraten gewohnte Praktiken der Zuschreibung und ihre situativen Herausforderungen jeweils konkret miteinander ins Spiel? Um solche ›Grenzwerte im Spiel‹ zu untersuchen, wird es notwendig, auf eine Weise an die Aufführungssituation heranzutreten, die sich eng an deren Empirie anschmiegt, enger als dies bislang in vielen theaterwissenschaftlichen Arbeiten geschieht. Die in der vorliegenden Arbeit gewählte Methode einer praxeologisch informierten Ethnographie erwies sich dabei als wegweisend. Zwar sind die ›Grenzgänge‹ der vorliegenden Arbeit nicht zur Gänze wiederverwertbar, sie können aber als Beispiel für eine ethnographische Aufführungsbesprechung dienen. Sie rücken damit theatertheoretische Reflexion in die Nähe einer Praxeologie des Theaters, wie sie Forced Entertainment (und andere postdramatische Theatermacher) von praktischer Seite schon längst betreiben (vgl. Wirth 1998: 317). Insbesondere die in Kapitel V. präsentierte auditive Publikumsforschung, sowie die beobachteten Vergleichbarkeiten der Probenpraxis eines devised theatre mit der ethnographischen Forschungsmethode, verstehen sich dabei als sondierende Schritte auf dem Weg zu weiteren ethnographischen ›Expeditionen‹ in zeitgenössische Theaterpraxis. Die mit Spielbegriffen angepasste rahmenanalytische Vorgehensweise konnte dabei helfen, auf Praktiken des Darstellens und des Wahrnehmens (anstatt auf Zeichen und/oder subjektive Empfindungen) zu fokussieren; auch sie bietet sich insofern als ›Souvenir‹ für die Theaterwissenschaft an. Zwar lässt sich mit Natascha Adamowsky konstatieren, dass verspielte Aufführungen (»ludische performances«) in einem gegensätzlichen Verhältnis zur alltäglichen Darstellungspraxis des »Goffman-Performers« stehen, nachdem diese gerade nicht auf die Verminderung von
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Komplexität und Kontingenz, sondern auf ihre Steigerung zielen. 45 Da aber Goffmans rahmenanalytisches Vokabular, wie unter Kapitel II. beschrieben, sich auf die Suche nach situativen ›Spielen‹ macht, die in jeder Alltagspraxis vermutet werden, indem es auf soziale Aushandlungsprozesse von Darstellung und Wahrnehmung jeder Wirklichkeit fokussiert, eignet es sich auch, um über postdramatisches Theater und dessen Aufführungssituationen zu reflektieren. Während rahmenanalytische Untersuchung ›alltäglicher‹ Wirklichkeiten hinterfragen muss, wie diese sich lokalisieren, naturalisieren, und ihre Konstruiertheit dissimulieren, lässt sich bei der Betrachtung verspielter Aufführungen fragen, wie es dort gelingt, Spielräume zu erhalten, Grauzonen zu etablieren, grenzwertig zu agieren. Meiner soziologisch-praxeologischen Heimatdisziplin hoffe ich, einige bislang ungewohnte Blickwinkel eröffnet zu haben: auf postdramatische AufführungsPraktiken, die ganz offensiv reflexiv, im Sinne Robert Schmidts »veröffentlicht« zur Verfügung stehen, sowie auf die Produktionsprozesse, in denen sie entstehen. Aufführungs- wie Probenpraktiken vieler zeitgenössischer Theatermacher arbeiten professionalisiert an der Wiederholbarkeit von Praktiken und erschließen dabei die Widerständigkeit der Praxis als Quelle des Neuen, Ungekannten; sie machen sich also Performativität auf eine Weise zu Nutze, wie es Judith Butler für die Subversion von Geschlechter-Performances vorschwebte.46 Auch experimentieren sie, wie sich in der vorliegenden Arbeit immer wieder zeigen konnte, praktisch mit Zugehörigkeiten, z.B. zu einem »We«, oder einem »You«, die in situ justiert werden. Wie Hans-Thies Lehmann in seinem Aufsatz The importance of being earnest anmerkt: »Theater hat da seine Spezialität, seine Expertise. Es hat die Möglichkeit, Grundfragen des Miteinander-Seins zu artikulieren.« (Lehmann 2012: 47) Weitere interessierte Blicke auf die oder teilnehmende Beobachtungen im Feld postdramatischer Theaterpraxis könnten also auch für soziologisch Interessierte zentrale praxeologische Fragestellungen beleuchten, z.B. die Frage nach praktischen Vergemeinschaftungen, oder nach dem Neuentstehen von Praktiken, wie sie Theodore Schatzki als Forschungsdesiderate formulierte.47 45 »Jede [ludische – SH] performance impliziert und aktualisiert ein Pastiche ineinanderlaufender Bedeutungsspuren.« (Adamowsky 2000: 66). 46 »Als Strategie um die Körperkategorien zu denaturalisieren und zu resignifizieren werde ich eine Reihe von parodistischen Praktiken beschreiben und vorschlagen, die auf einer performativen Theorie der Geschlechter-Akte (gender acts) beruhen.« (Butler 2011: 12). 47 »A [...] task facing a more complete practice ontologie is analyses of a phenomenon that is largely ignored in the current work, social change.« (Schatzki 2003: 205) Und: »A sixth and final problem facing a social ontology based on the picture of the social field as a weave of practices is analysis of a phenomenon twice broached earlier: being one of us.« (Schatzki 2003: 208).
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Schließlich kann die beschriebene ›dis-playing‹ Praxis Forced Entertainments für nachfolgende Arbeiten, sowohl soziologischer wie theaterwissenschaftlicher Provenienz, auf den produktiven und kreativen Aspekt des Wiederholens verweisen. Dieser wird zwar in ästhetischen Reflexionen ebenso wie in der soziologischen Theorie als interessant gewürdigt, aber möglicherweise noch nicht ausschöpfend in seiner Praxis erforscht: Wiederholung treibt Neues hervor, nutzt die Widerständigkeit vorhandenen Materials, ist damit höchst generativ. Darüber hinaus ist das Wiederholen Grundlage jeder Einübung, sei dies in ganz neue oder in altbekannte Praktiken. Deshalb möchte ich abschließend und ausblickend Walter Benjamin zitieren, der seinerseits darauf hoffte, diesem »großen Gesetz« des Spiels forschend nachzugehen: »Endlich hätte eine solche Studie [eine Spieltheorie wie sie Benjamin vorschwebt – SH] dem großen Gesetz nachzugehen, das über allen einzelnen Regeln und Rhythmen die ganze Welt der Spiele regiert: dem Gesetze der Wiederholung. Wir wissen, dass sie dem Kind die Seele des Spiels ist; dass nichts es mehr beglückt, als ,noch einmal‹. Der dunkle Drang nach Wiederholung ist hier im Spiel kaum minder gewaltig, kaum minder durchtrieben am Werke als in der Liebe der Geschlechtstrieb. Vielleicht ist hier die tiefste Wurzel für den Doppelsinn in deutschen ,Spielen‹: Dasselbe wiederholen wäre das eigentlich Gemeinsame. Nicht ein ,Sotun-als-ob‹, ein ,Immer-wieder-tun‹, Verwandlung der erschütterndsten Erfahrungen in Gewohnheit, das ist das Wesen des Spielens.« (Benjamin 1972b: 131f )
VII. Kontexte 1. E-M AIL I NTERVIEWS , 2004-2006 Im Oktober 2003 assistierte ich bei Endproben der Inszenierung Bloody Mess; nachdem ich das Stück darauf mehrfach als Zuschauerin im Verlauf seiner Tournee besucht hatte, führte ich per E-Mail folgende Interviews mit Tim Etchells.1 Die Interviews wurden 2014 durch mich und Tim Etchells überarbeitet. E-Mail-Interview, 17.05.2004 Stefanie Husel: As I told you, there are some questions about Bloody Mess I’ve been wondering about: Since Munich, the structure stayed more or less the same; but what has changed (to me) is that the whole work looks quite a lot more ›finished‹ – more stable in itself; I’ve got the feeling that its rhythm has become much more organic; as if the music has now become much more of a matrix than before, when it was more like, one part beside the others. And that the figures as well became ›finished‹, more like real people, with relationships between them...? Tim Etchells: I think this is probably true. Mostly the differences come about because of the time that’s elapsed since Munich and the fact that re-rehearsing the piece, working on it again, inevitably meant watching the tapes a lot and somehow ,re-creating‹ what we found there. Back in Munich all the information was lodged in people’s bodies – and was very complex. Approaching the piece in this second block most of that detail has been forgotten – so what gets done now is probably simpler, cleaner, more articulated. It’s more like what can be observed or remembered than the complex incommunicable stuff that had built up in each individual
1
Fragen und Antworten, die sich manchmal über mehrere E-Mail-Wechsel verteilten, wurden als Fließtext zusammengefügt und mit Sprecherangaben versehen. Die Interviews aus den Jahren 2004 und 2005 wurden in Rohform schon im Rahmen meiner Magisterarbeit The Parts of the Bargain veröffentlicht, die sich mit Forced Entertainments Inszenierungen First Night und Bloody Mess befasste (vgl. Husel 2005).
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performer over the actual making process. Another way to say all this would be to say that we dealt with the surface a lot more since Munich – people are doing less ,what they feel like‹ and more what ,looks/reads‹ well. You could say that back in Munich we were still flying on luck and intuition. Now we (have to) try to make it more like a machine – it has to work every time, we have to know what we are doing. There can be some space for play. But Munich is long-gone. So, yes, everything becomes more placed... more sculpted, more pointed... Which is good in some ways... Though we try to hide it! SH: You told me once (in Munich) that the show developed mostly from a kind of ›soap-theatre‹ scene (the one of Terry crying about the death of Cathy) with the roadies and the gorilla in it – do you associate any other – maybe theoretical as well – ideas with that beginning that you could tell me? TE: The ›central‹ scene of Bloody Mess (Born to Be Wild plays: Cathy as though dead on the floor, Terry weeping, the boys dance, Claire stood still as the gorilla) arrived ›whole‹ one day during early rehearsals. We had been talking for a couple of weeks – discussing ideas for the new piece, about how we would like it to be. One thing I had been pushing quite heavily was the idea that things in the piece would be ›disconnected‹ from each other. So that rather than one ›world‹, or one shared understanding of the performance situation we might have many... So that people/events/images might co-exist in the space without reference to each other. This was a rather theoretical position/interest for me... In a sense it was just a way to provoke us into something different... I didn’t really know for sure – or even really believe – that it was possible for us to make something so disconnected... But I kept dragging the discussion that way just to see what would happen. Another on-going discussion was about music. We have been reluctant to use music in recent years. We’ve tended to prefer silence! So there was a discussion about music – mapping the kinds of ways in which we’d used it in the past, thinking about what it means to use it... would we ever really use it strongly again? At some point there was the idea that Rich and Rob should dance to Born to Be Wild. My suggestion was that they come on, with their ›record player‹ and put the record on; that while they danced ›other things‹ would happen, all of them disconnected. To try this I set up the scene which is now the central set-up of the show. (Born to Be Wild plays: Cathy on the floor, Terry weeping, the boys dance, Claire stood still as the gorilla.) Right from the start I loved this scene... Because when I looked from one element of it to another I simply could not, in any way, ›resolve‹ or ›narrativise‹ what I saw; I couldn’t make sense of it, and yet each thing had such a strength of its own. Each fragment on the stage creating its own little bubble of intensity. So this was a major clue for the project. And in the end everything grew out of this scene, or, if it was ›new‹, had to find its place in relation to the dynam-
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ics/principles we found there. At a later point in rehearsals we added Wendy doing her cheerleader dance in this same section. We also tried many other things, including the stars dancing in it, and the clowns doing various other things; but the simplicity of the set-up – Rich/Rob, Cathy/Terry, Claire, Wendy – was very important. And ›it‹ didn’t work when we added too many other things of layers... The scene had to be complex but absolutely simple. In effect Rich and Robs ›characters‹ for the piece, as roadies ›grew out of‹ this dancing scene too: We joked that these guys doing the dancing were the techies... And within a few days Richard and Robin were starting to fool around with the microphones and lights and so on. This is pretty typical of how we work in the early days – one thing leads to another. Just out of interest: There were some days where we tried different kinds of music. Some rave music for example and Rich/Rob would dance to that also... Or Davis and Jerry danced to it. But we didn’t like the combination of musics. It was like we were commenting on ›genres of youth culture‹... So, we stuck to Heavy Metal – which became more or less an acoustic coherence. Side note. Thomas Pynchon’s book Gravity’s Rainbow is quite influential for us, at least in a background kind of way. Pynchon talks about the dissolution of society, and how birds, in his analogy, no longer flock to roost together in one tree... He says (something like), »Now each bird has its own tree«. We’ve talked about this often and even, jokingly, refer to some of our shows as operating on the principle of EBIOT – Every Bird Its Own Tree (Bloody Mess, Hidden J, Disco Relax) – it's to do with a kind of extreme separation of the figures and their understanding of the (stage) world. The central figure of Gravity’s Rainbow, Slothrop, more or less disappears two thirds of the way through the book – I was definitely thinking of this as we were working on the show and it became clear that Cathy would have such an on/off presence in the piece... Like she is the middle that does not really want to be there. SH: I’m still thinking about the doubled figures (clowns, roadies, stars); it looks like something about the concept of identity dwells in it...? TE: Yes... I guess so. One thing perhaps is that each of these pairs allows the individual in there some comfort, some support. The individual can find shelter in his/her double... even if it’s a constant fight with ones double. At least the pair is some kind of society/social formation in which one belongs. There is a person with whom there is something in common. These pairs are self-affirming. In any pair its members are mutually supportive. You could say that the pairs confirm the validity of a certain position. They confirm it as a position rather than as a maverick, entirely individual role. What’s interesting to me is that all the men onstage are in these pairs. And none of the women are. All the men have this social shelter/camouflage
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of belonging. All of them pin their identity to social function whereas the women are all isolated, maverick, acting alone or in a distant relation to other figures on the stage. The women function without this kind of authority that the pairing lends. (Terry and Cathy are ›almost‹ a pair, but the misunderstanding between them is much more fundamental than that between John and Bruno). I think this, in some ways, is typical of the way that gender operates in the work. The men tend to have these central/authoritative/official roles whilst the women exist in the cracks of the discourse, subverting, playing outside the rules of the situation. Think about Cathy as the paradigm deceased heroine/enigma. She wants to be ALL absence... ALL blankness. It’s Ophelia eat your heart out... E-Mail-Interview, 24.05.2004 Stefanie Husel: There was one more thing I thought about after Brussels; after I saw this more ready and settled version of B.M. – looking at those ›monads‹ of people pushing out their energy on stage (I liked how you wrote about your principle of EBIOT) – But I felt that there was a quite important junction, which made the figures on stage stick together. You wrote that they’re disconnected and they are; this is something you normally would not see on stage, ’cause one big task of stages is to bring people together, to refer to the sense of mass (not mess...) every human being has got; to build for the two hours of the show the illusion that there really is a connection. Bloody Mess of course doesn’t give you this kind of service. On the other hand, all these people in Bloody Mess are from stage-traditions, where the task of ›connecting‹ is more important than anything else (i.e. like intellectual discourses). They are the ones who’re using music, laughter, cry or cheers... I think this ›constraint of pushing out‹ is what brings the persons of B.M. together, and disconnects them again in the same moment. Could this be the rope of their ›boxing-ring‹? Tim Etchells: Yeah... I think a couple of things in respect of this. First that the entertainment- or stage-traditions is common ground between them – so everyone shares at least some perception that they are in public and involved in some sort of performance. So that’s the ground they share, or, as you say, the rope to their boxing ring. This is pretty typical for us. That almost all of the figures we’ve used in the pieces in I’d say the last ten years at least have this knowledge of the publicness of what they do. They might be strange or weird, or they are ›mistaken‹ about the context of their performance, or mistaken about the nature of the audience... But they all know they’re doing a performance (however distorted or wrong-headed it might be). There’s no one so crazy as to think that they’re ›in private‹ or that
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they’re in the living room of a large house in Moscow... That would be too much for us. The second thing is to remind myself (and you) that one can take this conception of the piece as ›everyone separate‹ too far. I mean – it’s true at one level, as one way to understand or think of the piece. But one should also remember the ways in which the figures do link to each other, the way that the different worlds brush against, influence, speak to each other. If there was NO connection then the piece would be altogether more formal/stylised. I can’t imagine it that way. And I’m sure I would hate it. I guess what’s important to us is that the starting point/basic world for many of the figures is different. But that they do see each other, they do in some strange way inhabit the same space, pay attention to each other, react on what the other does. At times in creating the work (I mean over the last twenty years) we talked about the figures onstage as ghosts... Creatures that don’t fully exist, but which brush past each other in different ways. Perhaps BM has something of that in it. But the connections/meetings/dialogues between these worlds are as important as the absolute disconnections. E-Mail-Interview, 12.11.2004 Stefanie Husel: I think that First Night and Bloody Mess have something in common – there was an article on the Forced Entertainment website which said something like First Night was concerning the audience, while Bloody Mess was concerning the performers. My idea was a bit the same (both works concerning the situation of theatre itself but differently focused). Did you (and the group) see the two works as connected? Tim Etchells: I think the pieces are connected in that they both, in different ways, address the performance situation, the ›rules‹ of it, the expectations. In First Night we use vaudeville as a basic form, in Bloody Mess it’s a range of forms – the ›rock gig‹, circus/clowning, the pantomime (Claire), the melodrama/amateur theatrical (Cathy) etc. I guess it’s easy to think of Bloody Mess as being more about the performers than First Night and less about the audience; from the line-up at the start onwards Bloody Mess is so full of unique ego assertion – everyone for themselves. And we don’t talk much in the show about the audience, at least not compared to First Night. We never talked about the two shows Bloody Mess and First Night as two halves of the same thing though; so if that’s true it’s quite unconscious. Personally I’d say Bloody Mess is just as much about the audience as First Night. Just less explicitly so.
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SH: In Bloody Mess, to me Cathy has now become a very focused person on stage. Could you tell me something about her in Bloody Mess, maybe about the process she – or her character – had during the rehearsing process? TE: We had Cathy’s ›this is crap/the atmosphere is wrong‹ text and her role as the person that wants to be dead in the middle very early, from when we made that first scene (Cathy dead, Terry weeping, boys dancing, Claire as gorilla). To me Cathy had this amazing binary thing: She lies down and DOES NOTHING, then she has this huge opinion about what has happened and how/why it didn’t work. Wanting to be the centre of attention but also wanting to be blank, unknowable – the dead heroine – the perfect enigma – the void – Ophelia – the pure object of speculation. Total contradiction. So she’s working this dynamic thing between minimum effort and a desire/demand for maximum effect. She does more or less the same in her ›crying section‹ later in the piece only there she tells you what she wants to achieve, how moved you’re going to be by her performanc etc., and then she just lies down and plays dead again. But she alternates doing her ›dead body thing‹ with talking about it, because the image isn’t enough for her, she always wants to explain. I love the text she does about crying, esp. the stuff from the floor, in which she explains how you are going to see yourself in her – identification 101. My hope is that this identification doesn’t work (i.e. it’s funny) but that in the end somehow it does work, too. That you do cry here. Or later. That by the end there is identification with Cathy, for the latter part of the crying or the final speech, where again she insists on explaining her own desired status as enigma, as blank unknowable canvas. We like these things where the performers explain theatre and how it works – which kind of wrecks theatre – but secretly I think we’re often trying to get it to work again underneath; see Showtime. There’s lots of that in there. The worry, dramaturgically speaking, with Cathy was that she quickly becomes a persona with such a strong opinion about the Born to Be Wild scene, that she could easily have turned into a motor/tyrant that would want to run the whole show. Which would have brought it much closer to our earlier piece Club Of No Regrets, in which Terry drives the whole thing along with her crazy opinions about everything that everyone does and her demands to do things again and again. For Bloody Mess we wanted the engine of the piece to be something more plural, more diverse, more relational. Not driven along by a single figure. Cathy’s strong hold/strong frame on the piece needed to be loosened, so we created this device of her ›walking off‹ – kind of a joke on the diva that needs to go and lie down because she is so distraught from her performance (Cathy even says that she’s drained... And needs to rest). I really love that Cathy takes these long breaks at the sides. Reading the newspaper and stuff. It gives that figure time to cool off. But she always pops back in to have another go; tries another costume and comes to lie down in that. Comes in in the middle/end of something else and tries to ride its energy to get her to the place she wants to be. She’s really a parasite on the
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show, just looking for her opportunities to do her big death scene. In that context it seems exactly right to me that Cathy comes in and effectively steals the end. I always say that she is goal-hanging. (From football where players just hang around near their opponents goal in the hope they can score). Cathy is a total goal hanger. I love her pacing while Rich and John do their final dialogue. Like she’s thinking: »You lot can do whatever you like – I’ll get the end... I’ll close it down. I’ll be the last thing the audience get to see and hear.« She’s just waiting, biding her time. Dramaturgically I think she’s a certain kind of centre to the piece. Literally of course in that she occupies centre stage – the place of the dead heroine. But also in her texts – she comes to us very directly. And talks about what is happening in a very straightforward way, more so than anyone else I think. (I just repeat what I said before: She’s the centre but we didn’t want her too powerful... So she’s constantly abandoning her throne...) SH: In some moments I had the idea that Terry was kind of incorporating very decently the sexy monologues of Claire when I saw Bloody Mess the last time. I liked that a lot; it shows me – beside the fun – sort of that on stage, people are not addicted to their texts or ›roles‹ or ›identities‹ etc., and that there can be a story which finds it’s bodies and it’s moments independently... A kind of freedom that is very delightful to me. TE: I think quite overtly on-stage in Bloody Mess you watch people ›try to find something to do‹ – there’s a real delight in watching that. You have this sense that they listen to or look what’s happening and try to find a way to join in. Often this is comedic stuff – the gorilla would like to join in the story of the creation of the world and so gets close to John. When John talks about ›a deep immense blackness‹the big black gorilla is meanwhile coming closer and closer to him. Or when John says that rocks and other things are ›fusing together‹Jerry and Davis instantly make their stars collide and then move together for a few moments... It’s this very restless, very immediate struggle for people to be part of ›it‹, to be illustrating something, to be linked to something. In a certain sense you can say Rich and Rob do that too of course – I mean, noone asks for a microphone – they see that people are talking and for their own reasons decide that bringing a microphone would be a good way to join in! In a sense everyone is parasiting onto everyone else’s project – ruining and also augmenting it. Compositionally what I like is that everywhere you look on the stage you can see this. But you should always have the pleasure of ›discovering‹ the performers making these connections; so they’re not hugely announced and it maybe takes a while to see that there are these constant riffings-off each other going on (like jazz). It’s anarchic. But somehow also working cumulatively.
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SH: I often read about the ›structuring-chaos‹ issue concerning Bloody Mess (and wrote something like this myself). If one thinks about that issue, and tries to put it together with the concept of ›play‹, what comes out? TE: Mm. I think that’s somehow connected to the previous answer. I do think play is at the heart of the piece. Play that produces something, play that destroys something, play that produces something in the act of destroying something, play that destroys something in the act of producing something else. Also what’s important to me is that the overall picture (my/our structuring chaos) is in fact produced by all of these micro-decisions, all made by individuals. The big picture is produced by all these little ›private‹ pieces of foolishness, messing around – all these individual decisions that don’t connect but do occupy the same time and space and (again, repeating myself), work cumulatively (...also interests me that someone’s serious project is always the occasion for someone else’s idiotic intervention. Constant play between these things). The piece constantly conflates death and birth anyhow – creating and destroying always together – that gross comedy of John born out of Bruno’s arse as they fight over the microphone, John emerging as Bruno makes a terrible farting sound into the microphone, a sound that also represents his impression of the nuclear destruction of the world. or Jerry’s sad moment at the graveside in the section of silences which he and Davis describe during which his cock is always appearing ›by accident‹ underneath his star costume etc. etc. E-Mail-Interview, 14.01.2005 Stefanie Husel: Today I read a lot of Michael Kirby, including a text called Acting and Not-acting. Maybe you know it, he there introduces a distinction between different grades of acting, like »non matrixed performance«, »received« and »simple acting« and so on. I was wondering before (and I still am) about the performing of games. Games of rules, games of language, other games... a kind of performance one can see very often in the work of Forced Entertainment. I think that these games are a special kind of acting, of performance, which one can’t mix into Kirby’s schemes. Playing a game in front of an audience is not like Kirby’s acting, it’s not not-acting neither. It’s something special. Would you like to write me some lines about this ...? Tim Etchells: I know the Kirby book. I like it in fact, the way it tries to break down the kinds of activities/actings that we might see on-stage. But to your question, I think it’s pretty simple in a way – you’re playing a game, and you’re aware that the game is being watched. So you alter the way you play in a relation to both the other players and the moves they make and in relation to those watching. (Think of how
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tennis players, footballers etc. are at the same time playing the game and, sometimes at least, performing to the crowd – how they develop their on and offpitch/court personalities/images/persona-to-appear/appeal to the crowd more clearly). Perhaps one can go further than this in relation to the performance work though: In a performance situation (say Quizoola!, Thousandth Night... or even, at a push, things like First Night and Bloody Mess) you’re involved in an emerging game (performance itself) whose essence (dynamics, rules, relations, ›scoring‹) is very much bound up with this fact of being watched. Getting laughs from the crowd, or getting their attention or their sympathy are a big actual part of the ›game‹ of theatre. So the game of theatre/performance we could say only proceeds through and in the fact of being watched. Does that make sense? (I’m thinking aloud here!) E-Mail-Interview, 29.12.2006 Das folgende Interview führte ich mit Tim Etchells, auch dieses Mal per E-Mail, nachdem ich zunächst die Inszenierung The World in Pictures in Proben besucht und sie darauf während einiger ihrer ersten Aufführungen gesehen hatte. Stefanie Husel: I’ve got questions/thoughts again – concerning The World in Pictures. My impression is very much that – like Bloody Mess – the performance deals with the possibilities of a theatre situation itself. Whilst I found figures of different (highly out-pushing) stage and show traditions in Bloody Mess, trying to cooperate, I find people trying to tell a story – THE story, history – in the new piece. And they try to ›tell‹ it with theatrical pictures. That’s something that already happened similarly in Bloody Mess in the two History-of-the-World scenes. When you were rehearsing TWIP, there must have been something that thrilled you about stretching that issue out. Want to tell me a bit about that process you made there? Tim Etchells: [...] I guess in one sense we really thought that we missed something out in Bloody Mess, which only talks about the beginning and the end of the world, in geological terms... And which makes no mention of human beings or ›history‹ at all. So, almost as a joke we started to say that we would go back and complete the task we started in BM. Of course those are the kinds of jokes that get you started on something and which also lead you into trouble! We also had for a very long time a record, made for the World’s Fair in New York. I wrote about it in the programme note, which I’m sure you have. The record is a rather pompous, very Americanised 9 minute pseudo-history of the world – a lot melodrama about the Struggle of Man, the Birth of Civilisation and Progress, ending with the Space Race I think. In addition to the Bloody Mess connection, this
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record was another inspiration to get started with the ›story of mankind‹. One of the first things we did in the rehearsal process, was to play this record and meanwhile to make the caveman costumes - the performers were cutting the fake fur, gathering near the electric fires (it was cold in the studio) and generally starting to fool around as cavemen as the commentary went along. Pretty soon we started to experiment with other costumes too – we made a trip to the local theatre and borrowed some stuff from their historical costumes but to be honest we didn’t like this stuff as much; and for a long while we basically rejected all the costumes except the cavemen ones which we liked the most. We also moved away from the record and began to experiment with our own ways to tell this rather grandiose, hopeless and ahistorical ›story of mankind‹. It was very unclear in the beginning and until quite late in the process if the ›story of mankind‹ was one discrete section in the performance or if it was a larger project that spanned the whole thing. I think we liked to imagine that it was just one part (rather like how it functions in Bloody Mess). But as the months wore on it got harder and harder to avoid the fact that we had to somehow tell ›the whole thing‹ from the cavemen to the present day - we spent such a lot of time in the rehearsal process trying to avoid that! But in the end we could not. In a formal sense I think we were interested to pursue and extend the system we developed in Bloody Mess where many of the performers on-stage echo or react to or enact things in relation to what John tells about the formation of the universe and the end of the world. So you can really see the ›story of man‹ sections in TWIP as a kind of further exploration of this system or strategy. The early parts of the show we call March of Time One (MOT 1), which in ‹historical terms’ runs from cavemen to the fall of Rome. The phrase ‹The March of Time’ comes from the text of the record and in this section of the performance we liked that it wasn’t clear if the performers were enacting what Terry says as she narrates or if they were just bringing stuff on to the stage, or if they are just fooling around... A lot of the action in this first part hovers in-between these things. In the second big narration plus ‹re-enactment’ section – Story-of-Man or March of Time 2 (MOT 2) – the performers are more definitely and explicitly acting-stuff-out, since the game of bringing things on to the stage is largely completed and since by this point the piece has confirmed that it’s going to ›tell‹ the story... SH: The other big thing that happens to me in The World in Pictures is that I get the feeling of traveling very much. … a travel between inner and outer space, between individual and inter-individual. (In Bloody Mess it was maybe more the feeling of dancing) Very important vehicle to that travel is Jerry’s story in the beginning. Would you like to tell me the ›story of that story‹ – and maybe something about your decision to place it as the beginning of the show?
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TE: Jerry’s story came from an idea I had well before rehearsals began. This is what I wrote in my notebook (actually a document on the computer): »I want you to imagine that you’re walking the streets of a beautiful city. (the wind, smells etc.) You see a certain building. You enter and start to climb the stairs. (to suicide) (or increasingly bizarre sexual things)(abuse of the investment...)« I asked Jerry to improvise this during early rehearsals. It was great from the start. He’s very good at that sort of thing. As you can see from the note I was interested to work with language to really build something in the minds of the audience, with their full imaginative cooperation and then, having got in there, having got into their minds, to abuse the privilege in some extreme way. You can compare this to things we do in the performance Dirty Work, and to the whole of Starfucker monologue/video work of mine – I’m fascinated with this way that because of the way that language works to establish a kind of imaginative co-authorship with the reader/listener, you can make people complicit in seeing things that they don’t want to see. The Jerry monologue was always going to be the start of the show. But in rehearsals we had a tremendous problem following it with anything. It seemed basically impossible for anyone to walk on to the stage once he had done the text, despite the fact that it is obviously a pre-amble of some kind. The one thing we did manage to ›follow‹ Jerry with, during the first rehearsals for the piece was an extended appearance by Bruno, dressed as a skeleton. In the work-in-progress we showed in Gent in September 2005 Jerry started the show and, at the end of the monologue more or less, at point that he tries to get the audience to ›forget‹ that he has just killed them, Bruno would walk on in the skeleton outfit. There was then an extended double act between them in which Bruno would make comments on Jerry’s performance and how it was going (incl. telling the audience that it was better the night before!) and Jerry would embark on a series of imaginative scenarios like (but different to) the one where he asks you to imagine walking in a city (he asks you to imagine that you are driving on a road at night, or that you are reading a book etc.). In that very early version of the show each of these scenarios ended unpleasantly, again abusing the trust/imaginative investment spectators have placed in him. Bruno continued to be a nuisance throughout each of these narratives too – adding more comments about the performance and how it might be better or different, or how it was better on previous occasions, distracting Jerry. This version was great and one day I guess we may make the double act show out of it. [Maybe as footnote – a much later performance Spectacular, 2008, does try to do something related if almost inverse. Robin is dressed as a skeleton. Claire is dying. Robin speaks to the audience and Claire provides distraction.] Anyway. It the Jerry/Bruno material we made for TWIP lasted about 23-30 minutes after which point it was very very hard to bring the rest of the company onstage to do anything else. We tried everything. But it was completely insular. So we showed this version
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with Jerry and Bruno at the TWIP work in progress and promised ourselves that we’d forget about it when we started work again! That’s what we did in fact – we forgot about it and tried to move on. And it was only much later in the process on TWIP, once the whole ›story of mankind‹ thing was up and running, that we went back to Jerry’s monologue text, cutting Bruno out, and leaving just the first long part of the text in place. We also added the advice to Jerry section, another idea of mine from before rehearsals started, in which before Jerry speaks, the other performers give him advice on how to present himself. This at least allowed the audience to see everyone on the stage before Jerry starts, allows them all to say »hello« and lets you know that this is going to be a performance with more than one person! It’s funny how big a block something like this can seem to be. Formally it seemed to us that the contrast/dynamic in TWIP is very much about the switching from ›big history‹ to ›personal experience‹ and back again, from clumsy high-speed spectacle to intimacy and back again. The structures of the piece is basically: Jerry – Story of Mankind 1 – Jerry – Story of Mankind 2 – Jerry. So we sandwich it all in this intimate frame. SH: My last impression I wanted to tell you: whilst Bloody Mess for me was experimenting in a sphere that was very much related to dance, to movement and music (not only, of course, but focused like that), I found that in TWIP it’s much more the world of the spoken word and of the pictures that is explored. I know that this is quite an ancient distinction. Nevertheless, what do you think about that? TE: I think we were drawn into this language that’s quite theatrical – the one of ›pictures that illustrate words‹ – but we do it very trashy, very ironic. Sometimes you get these quite beautiful images that are really very stupid and mostly nothing much to do with the text. Or you get these very literal reactions to the text... Which highlight the process of the performers ›trying to find something to do‹. So, when Terry says that ‹the Roman Empire stretches and falls’ you see Wendy in the background doing just that, stretching and falling, stretching and falling as she runs across the stage. All through the process I was thinking about the stage as a continuously bubbling picture – something happening everywhere and all the performers finding their own way to relate to/inhabit/illustrate the text... No wonder some people complain that they don’t know where to look! 2. L IVE I NTERVIEWS 2008-2010 Im Folgenden sind Transkriptionen der Interviews eingefügt, die ich live mit Tim Etchells führte. Längere Auslassungen wurden mit [...] gekennzeichnet. Neue Zeilen in den Transkriptionen signalisieren, dass Sprecher neu ansetzen, Überlappungen
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von Gesagtem oder Einwürfe der Gesprächspartner sind in derselben Zeile wiedergegeben und mit einem Slash / gekennzeichnet. Die Interviews wurden 2014 durch mich und Tim Etchells überarbeitet. Interview 28.03.2008 Stefanie Husel: All the questions I wrote down are issued around the topic ›what is an audience doing?‹ [...] When I now talk to you about the view of the artist, it’s quite simple questions I thought about, for example: When you are working as a group, as Forced Entertainment, when you are rehearsing a new work, is there kind of an implicit, or a simulated audience, that you already have whilst you are working? And if so: How do you achieve such a ›simulated audience‹? What are YOU doing? Tim Etchells: I think initially, I’m watching. And if I am fascinated or amused or bored, then I take those as a sign that other people might be amused or bored or fascinated... I suppose then I make some calculations – I mean, we discuss things and we make some calculations like: I can watch 20 minutes very difficult, very slow, nothing happening and quite enjoy it in the studio but I can also think, yeah, when we play in Leeds, there will be some unhappy school children... Or, I might laugh a lot and then think, yeah, but it’s probably not sooo funny. You try to develop a sense of how to translate your own first watchings, to imagine how they might play to and with a different audience, to a more general audience, I suppose. SH: My next question is still about ,what happens during the rehearsing?‹. I had the opportunity to be in with Bloody Mess when it was done the first time in front of an audience – and I came to the idea that there is something like two kinds of ›knowledge‹ that you, as a group, develop whilst rehearsing; [...] or maybe the word ,knowledge‹ is too broad... I think of those little anecdotes from rehearsing a piece, things that happen between you and the rest of the group ...After a while of rehearsing, you have to think about: Which funny thing was only funny for us, which will be funny for others... and so on. How does this process work? TE: You can think of this in terms of ›what’s important for us?‹ and ›what’s important for the audience?‹ But another way to think about that is: ›what does the piece need?‹ In the rehearsals, we generate a lot of material, scenes or text, could be stories or other things, from improvising, from messing around... [...]. And of the things that we generate, only some things are, let’s say, felt to be essential to making this hour and a half, or two hours of time as a machine that unfolds from 8 o’clock until 10
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o’clock. And other things are felt to be not essential to that machinery. WHY you decide some things are in and some things are out, is to do with trying to make that machine function very well – in public, of course. And, you know, there are many different reasons why you include or exclude things.... Like: there might be two possible jokes at one point, but one of them is funnier... Or: there are two possible routes that one could go in a particular structure here, but this way is clearer, which means: It helps the journey better, or articulates better what we’re trying to talk about or do. You could say, yes, at some point something is funny to us, but won’t be funny to other people those things tend to get thrown out. We also know sometimes we find things we think are very good or moving, interesting –– but we know they’ll prove to be hard to repeat. In this way there can be great discoveries in the rehearsal process, which are very important, but which don’t make it to a final performance, because they just can’t be done again. I think what we tend to think about is not so much the audience but more about the machine, the architecture of the performance – what does it need? And we leave things in if they serve that. And we take them away if they don’t serve it. SH: Which is in fact kind of an ,implicit audience‹, but one that is much more mingled into the structure? ...more the feeling about rhythm, about how the whole architecture works...? TE: Yeah! Because everything you do in minute one is a setup for something in minute 20 or in minute 50 or, you know, in minute 120! So, in a way, you can LIKE this or that or the other, but unless it plays a part in this unfolding time architecture, there is not really any use to it. I mean, otherwise it’s just good BITS. There are lots of performances with ›some good bits‹, but where as spectators we don’t feel this journey or emerging argument. SH: Well, I’m searching for those techniques which help you to make this ,machine‹ work or to find your journey. And one of these techniques is, as it occurs to me, that YOU play the audience whilst rehearsing; and I saw that you also sometimes had people in, in the end of the rehearsing time... TE: Yeah, I think: I watch, that’s the first audience, and then the rest of the group, the performers, will watch on video. Well, they’re already watching while they’re doing – so also for them it’s the second time through, only now they are watching it on video with me, then there will be people in the rehearsal room, students, or people from the office, or whoever. Sometimes we’ll do an official work in progress too. You know, all of those are ways of testing, looking for those moments and judging reactions. Sometimes I look across during a certain scene and everybody is laughing. Or you see only two people laughing and look across and anyone else is
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like »What is this?« You don’t necessarily give up on a piece of material if it gets that reaction, but you do admit that it’s not sooo clear as you might have thought! I guess we try to learn from things. [...] Or of course it happens the other way round: You do things in rehearsal that people think are very funny and I just think: Hm, yeah-yeah, but it’s not really good enough, it’s not really interesting... SH: I want to jump now, from the rehearsing to the performances. I thought: Well. After you performed a show several times, you will have had different audience reactions, naturally. And I asked myself, over the long time that you’ve been working together, did you develop some kind of unofficial vocabulary to talk about different kinds of audiences? TE: Well, I suppose... our experience is probably not so unusual, in that we talk about confident audiences; audiences that are relaxed and that are prepared to laugh, are prepared to go with you if you go in a strange direction or make something difficult... And they are prepared to be teased, provoked or pushed but they don’t take that very personally, because they don’t mind, because everything’s okay. And then I think we talk about the opposite of that, which might be an audience that lacks confidence, is tense in some way... I mean you can find that, perhaps in places where the kind of work that we do hasn’t been presented so much... or when it’s our first visit to somewhere... and you get an audience which in a way DOESN’t know what to expect AND is deeply worried about it rather than relaxed about it. [...] You know, the worried ones tend to be offended if you say something contentious or playfully confrontational.. but a confident audience will likely take something like that as a joke. I guess the unconfident or worried audiences are reluctant to laugh too – or they try too hard to laugh, like ›humhumhum‹ [mimics a forced laughter]. So like that I would say audiencces for us are somewhere on a scale between confident and closed, worried. Confident being open and generous and ready for what comes... perhaps not trying to direct it too much. That’s talking about two very black and white situations. More often you get an unstable mix, you get a sense that some people are really with you and laughing and going with it very generously, and the sense that other people are more... sitting back in their seats, not really into it, bit bored, or, miserable, I don’t know... SH: Yes. I know this moment, that after a show you say: The ones in the right back, they were the happy ones... ’cause from the stage, you often don’t have really the feeling who it was, but you feel, like... places... / TE: You sense it spatially, yeah, yeah. You can say that there are some ones over there who were always laughing, and then just over there it felt more like, yah... [makes a face] not so good / SH: And... did you have the situation to talk about special kinds of laughter or other utterances... I mean: do you have a vocabulary, talking between each other, for audi-
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ence utterances? – not whole audiences but, maybe, a special kind of laughter, special kind of shouting...? TE: I think we know that there is this laughter through which certain people try to prove that they know what this is; I mean, there is a kind of performance of the audience-members to other ones, to say: ›Yes, ha ha ha!! I know this is all good!‹ which is always a bit of a worrying sign, beause it tends to put other people off. So we don’t necessarily like to hear that one... Or of course you get some laughter, that is like testing the water, to see if it’s okay to laugh. Concerning shouting, well, people rarely do that in the performances! But on the very rare occasions when they do it feels like a performance for the rest of the audience, really. To say: ›I can say something now!‹... Yeah... NORMALLY it’s aggressive; I mean, occasionally you get nice things spoken out from the audience, but mostly it’s aggressive... / SH: ’cause it’s ABSOLUTELY not part of the bargain, and so it HAS to be in a way – just from its structure – to be aggressive, to shout in? / TE: Yeah. We’ve had, a few times, audience members shouting at each other, like one says ›Rubbish!‹ and another says to that one ›Shut up!‹... SH: Do you have more anecdotes like this, which come immediately towards you... about audience-reactions? TE: The one I just mentioned IS my favourite really.. It came from a First Night performance in Brighton, where in the middle of Terry’s long monologue one audience member shouted ›boring‹ or ›bollocks‹ or something like that. There was just a beat and then another audience member stood up and directed himself across the auditorium to the person that had spoken, shouting ›Shut the fuck up‹. So it was a great moment, feeling that the audience would now fight and we’d be left on the stage [SH laughs] to do whatever/... / SH: [still laughing] To become the audience! / TE: Yeah! Exactly! [laughs] Occasionally in The Kings (proper title is And on the Thousandth Night…), you get somebody from the audience trying to join in... They’ll use the same formula we use in the piece - ›Once upon a time.....‹ - and they’ll tell a story. The first time that happened, I was quite mean to the person and stopped them quite quickly and told a story about somebody who didn’t understand the rules…. But other times, since then, we’ve been more relaxed and let it go at least a bit. Because it feels more like a kind of generous saying good night than anything else; ... people who have to go home and want to join in for a moment before they go. / SH: This is also an interesting notion... I mean, do these ›strong‹ audience reactions come normally in the end of a show, close to the applause... when it is in a way okay, and not so much ›out of the bargain‹...? / TE: Well, this is not at the end of our show, but more at the point when somebody in the audience has to leave... you know, it’s one o’clock in the morning and they’re going, so, as their departing
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gift they join slightly in The Kings piece. Otherwise, in Quizoola, I certainly remember performances where audience members have offered to take over for somebody, if they needed to go to the toilet, or, if the questioning was becoming particularly oppressive. Those durational shows, are looser; they don’t wear the theatre structure quite so heavily, so they have a slightly more porous state in relation to audience and speaking Perhaps only slightly so, but people can speak out in those without being such a technical disruption to the performers as it would be in Bloody Mess or First Night. SH: So, what comes out, for me, is that audience-members do quite a lot. They are not just passively sitting around; even if they don’t say anything, they are really quite, um, occupied with their ... kind of work they are doing; even it is just relaxing and having fun. And on the other hand, what occurs to me now: In the beginning, when you talked about the rehearsing process, that there is really not only one ›order of views‹, like from ,here‹ to ,there‹, but those views are always going ...›zickzack‹ [gestures] through the whole room; I mean, the performers have to look at each other, and they have to look into the audience, or hear and feel into the audience, AND the other way around. This is quite interesting to me, because it’s not so... flat, it’s not like: ›The one here – the other one there‹...? TE: All of the structures that we’ve made are only meaningful if you put them in public. And they’re always about a certain kind of negotiation and opening and testing of this conversation and place that is being in public. I’m not really so interested in these rare occasions when people shout or create these kind of melodramas but in live work I think we are really interested in working with the audience’s laughter and their attention and their silence and their... you know, working with the fact of them being THERE in all those ways. [...] In one sense perhaps there is a show separate to that interaction, technically – I mean the show as a closed object. But if you think about it, every rehearsal and every improvisation, every performance is always a kind of passing backwards and forwards, a set of two way exchanges between the space of doing and the space of watching... you know what I mean; in that sense there really is NO OTHER thing. And the work has no place or meaning outside of that economy of... translation, or transmission or transformation, and passing backwards and forwards. THAT IS the work actually. Interview 19.05.2010 Am 19.05.2010 proben Forced Entertainment an ihrer neuen Inszenierung The Thrill of it All, die zuvor in Brüssel Premiere gehabt hatte. In einer für denselben Abend geplanten Aufführung soll eine neu geprobte Sequenz zum ersten Mal mit-
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aufgeführt werden soll. Ich bin bei der überraschend angesetzten Probe anwesend; während einer Pause am Nachmittag, zwischen Proben Diskussionen und einem letzten run-through, finde ich Zeit für ein Interview mit Tim Etchells. Fragen die ich in das Gespräch einstreue, habe ich am Vortag, zum Teil auch während der Proben am Vormittag in Stichpunkten notiert. Stefanie Husel: I just saw that you fitted a bunch of stuff into the performance; can you tell me why you did this today? Tim Etchells: We premiered in Brussels, last week and we are generally happy. In Brussels we made some small changes – but we were aware that there was a ...problem in what we think of as the ›third quarter‹ of the piece. We liked the material in the rehearsals but when we added it into the structure, it had a lot of issues! It seemed unnecessarily complicated and repetitive of things you’d seen before; it was dense, it introduced information that you didn’t really know what to do with... It’s a part of the show we’ve struggled with; over the last months, we were always staring at this section and saying: What should it be? What could it be? So yesterday, we decided that we’d [...] take out the whole section and replace it with something else. We went back to a text that we worked on maybe three months ago and explored it in a new physical set-up or combination. [...] So what we did in the rehearsal onstage which you saw was to make a kind of pretty crude collision of two different things. The general feeling, based on the first improvisation this afternoon, was that it was interesting and probably worth trying in the performance tonight. And I guess [...] text-wise it’s less dense... it’s more chaotic but in a way it’s drawing more on an energy that’s coming from the rest of the performance. So, we are curious, really, now, to see how the new version plays [...] SH: Yeah. I’m looking forward to it, too! What I saw today I really liked. And, today I had the very good opportunity to see you rehearsing again, which was very nice, because I didn’t see you rehearsing for quite a long time now. And I recognised many things I knew from earlier occasions. So I wondered: Did your technique of rehearsing change during the last years...? Or is it mostly like the same techniques, the same games you play, the same rituals you do to rehearse? [...] TE: It’s quite similar I think, really. I mean the basis [consists] of improvising, based on not very concrete or quite concrete instructions; performers knowing all the different strands of materials that you have, so that they themselves are making choices to mix from one thing to another – or sensing opportunities to go to material that’s been established, you know. This kind of free improv’ and then like: Watching back the tapes, maybe transcribing or making maps of the structure and then saying: Try it again, but try to push it more in this direction or that direction – these
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are all things that we are doing for a long time. And they rely mostly on the video camera. Everything has to have been recorded – so that we can, really watch back the first time. Because usually the first time is when people are making real-life decisions and sensing what to do next. And this is the most interesting usually for us. So... almost every time we go to the videotape-pics because we’re going to the first time that something happened. Occasionally you say: The third time, there was an interesting new spin or a new clarity! – But mostly, its number one, you know. The history of the tapes is the history of the first one of every single thing. [...] SH: I read something about working with the video camera; I think it was in Certain Fragments, so it was from quite long time ago. And there you said that in the beginning, the video also made it to stage. And now it is not going onto stage anymore but forms such an important part of rehearsing. Since quite a very(!) long time. TE: Yeah. Yeah. It’s super influential - the level of control and detail you can do, when you’ve recorded everything, is greater. [...] I really rely on the camera to let me know the detail of where people were and when they moved and what they said... I can’t write all that stuff down and I don’t tend to remember. I tend to be swept away rather with what they are doing... / SH: I like this very, very close working on the video, because this is similar to what I do as a sociologist, if I do ethnography. [...] Sometimes it’s very much the same: being very, very close with the empirical data, and then emancipating from it again / TE: Yeah! Absolutely! I mean basically in that original time, the timing of things and people’s reactions to events is... genuine. After that it’s compromised by all sorts of expectations or by our desire to make it more like this or more like that, whereas, in the moment of the thing happening for the first time there is usually a really beautiful, absolute, set of consequentialities that you can’t really argue with. [...] SH: I never saw you working with Kate before. Did you work together often or is it a first try-out? TE: I did some work with her on a project of hers, recently, called Dark Matter. And then on another project of hers Loose Promise, a while ago, I gave some text, so we have been in working situations together before, mostly where I was contributing to projects of hers. And then with this one The Thrill of it All, because I knew that we would work on dance in a certain way, more substantially than we normally do, I thought it’d be nice to ask her to come and be part of the work on the movement.
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SH: I see. And do you think that the kind of work you do changes because of having a choreographer with you? TE: Not particularly. We worked a lot on the movement before Kate arrived, and we already had the music, we’d already been moving to the music for quite some time. What she did do was help identify ways that we could move that forward in different ways. She’s very sharp and attuned to shapes, and details, to strucures and energy in movement. She’s also very sensitive to the kind of performance energy, and performance dynamics of what we are doing, so it’s not like she’s dropping choreography in here that we’re then, STUCK with in some way. […] SH: I didn’t write down many questions, […] but there is one very concrete one I still want to ask: I saw an article in a German magazine, Der Spiegel. Did you read it? It was about Forced Entertainment’s work, lately on Spiegel online. .They wrote that there WILL be performances here; a journalist who saw the performance in Brussels I guess. And they wrote: »Tim Etchells, who is the mastermind of Forced Entertainment...« or something like that. I quite often read words like those concerning YOUR work with the group; calling you »the mastermind«, »the director«, »the speaker« of Forced Entertainment, etc. How do you feel about being called in the press: »the mastermind« of Forced Entertainment...? TE: Well I have kind of mixed feelings about it, I suppose. I mean on the one hand, I DO have a specific function in the group. However collaborative and however SOCIAL the process is, my function is to sit on the outside and to be a kind of filter. I AM in every rehearsal, and if there is somebody leaping onto the stage, saying: »Go this way« or »Go that way«, or »Stop!«, or »shift the tone« or »say this«...... it’s me, there’s nobody else doing that. ON the stage, performers are always making decisions for themselves, and of course as they do so they are forcing the performance this way or that way... but, from this outside position, where you really have a different view, that’s what I do in fact.. So in this sense, I find it fair enough, I guess. What I DON’T like about it though, are two things: first, that this term ‹mastermind’ makes it feel as if the work is somehow all in somebody’s head, which it’s really not. If I have a special function, it’s a special function in relation to the dynamic energy and conversation of the group - I’m listening as much as I am saying, and I’m watching others as much, if not more than, I am suggesting things. ‹Mastermind’ speaks a bit to the press, to the German press, to art press in general they want to feel like there is somebody in whose head all of this lives. And fundamentally they are uncomfortable with the idea of collectivity.. I mean, they just don’t really know what to do with that.. You can sell ‹individual genius’! But group process is hard to sell. / SH: Sure! Because then you wouldn’t have an author, and the author is the one who should get the flowers... / TE: Absolutely. / SH: So you
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already answered my last question, which would have been: Why do you think they need this kind of person... / TE: It’s capital, cultural capital. 5. S ZENARE Auf den folgenden beiden Seiten sind Szenare zu Bloody Mess und The World in Pictures eingefügt, die in tablellarischen Darstellungen zweier konkreter Aufführungen bestehen; das Szenar zu Bloody Mess basiert auf der Aufführung vom 29.02.2008 in Leeds, die ich selbst mitgeschnitten habe, das Szenar zu The World in Pictures wurde mit Hilfe der DVD erstellt, die Forced Entertainment zu dieser Inszenierung vertreiben (vgl. Forced Entertainment 2006). Die Szenare ermöglichen es Lesern, im Verlauf meiner Untersuchung angesprochene Sequenzen bei Interesse schnell in den Gesamtzusammenhang der Aufführungen einzuordnen; sie enthalten Zeitangaben, Kurztitel für szenische Sequenzen und einige wenige beschreibende Hinweise. Szenar Bloody Mess (vgl. Husel/Forced Entertainment 2008) Zeit auf dem Video
Name und Kurzbeschreibung der szenischen Sequenz
00.00 - 00.13
›Kontaminierter Einlass‹: Die Zuschauer finden ihre Plätze; sie werden dabei von zwei Clowns beobachtet, die sich im On/Off- Bereich der Bühne befinden.
00.14 - 00.22
›Stuhl-Spiel‹: Die beiden Clowns konkurrieren darum, eine Stuhlreihe aufzubauen. Das Spiel kommt zum Ende, wenn acht weitere Darsteller auftreten.
00.23 - 00.33
›Vorstellungsrunde‹: Alle zehn Darsteller sitzen aufgereiht an der Rampe; sie stellen sich dem Publikum einer nach dem anderen mit Vornamen und Wirkungsabsicht vor.
00.34 - 00.36
›Born to be Wild‹ läuft; links vorn tanzen die ›Roadys‹, (Ben und Richard), in der Mitte spielen Terry und Cathy eine melodramatische Sterbeszene, rechts vorn zieht Claire sich ein Gorillakostüm an, rechts hinten agiert Wendy als Cheerleader; die Clowns, Jerry und Davis sitzen im On/Off.
00.37 - 00.39
›Cathy hakt aus‹: Kaum ist die Musik zu Ende, springt Figur Cathy auf. Sie erklärt, die vorangegangene Szene wäre komplett mißlungen und verlangt, neue Musik aufzulegen.
00.40 - 00.43
›Speed King‹ wird aufgelegt; Ben, Richard, Terry, Wendy und der Gorilla machen weiter wie bisher, nur wilder; Cathy steht abwartend in der Mitte, die Clowns, Davis und Jerry sitzen weiter On/Off.
00.44 - 00.48
›Claires erotischer Monolog‹: Claire nimmt den Gorilla Kopf ab und erzählt von einer erotischen Begegnung zwischen ihr und einer Figur »You«.
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00.49 - 01.01
›Beginning of the World‹: Clown John tritt nach vorne und erzählt die Geschichte vom Anfang der Welt. Nach und nach beginnen alle Kollegen dabei zu ›helfen‹ (bzw. zu stören).
01.02 - 01.05
›Silvermachine‹: Das entstandene ›Chaos‹ mündet in einen wilden Tanz zum Song Silvermachine, Clown John zieht sich ›beleidigt‹ ins On/Off zurück.
01.06 - 01.15
›Crying 1x1‹: Cathy tritt nach vorne und kündigt eine sehr traurige Szene an; darauf erklärt sie dem Publikum, warum die Szene traurig wird, um schließlich einen Bühnentod zu sterben. doch nach nur zehn Sekunden springt sie, angeblich enttäuscht von der eigenen Darstellung, wieder auf, geht dann unter Entschuldigungen ab ins On/Off.
01.16 - 01.23
›Cry Baby‹: Wendy springt ›rettend‹ ein und kündigt einen Workshop an, um doch noch die angekündigten Tränen zu erreichen; nach Kurzem wird sie dabei durch eine Prügelei zwischen den Clowns abgelenkt. Nun betätigt sich als aggressive Ringrichterin. Die Roadys legen unterdessen Janis Joplins Cry Baby auf; dazu tanzen Terry, Jerry und Davis einen skurrilen zwischen Burlesque und Ballett angesiedelten Tanz. Der Gorilla verteilt unterdessen Bonbons und Papiertücher, zunächst auf der Bühne dann im Zuschauerraum.
01.24 - 01.32
›Stöhnende Clowns‹: Nach dem Kampf liegen die Clowns stöhnend übereinander, von Roady Ben wirkungsvoll mit dem Mikrophon verstärkt. Darauf gibt Clown Bruno eine Serie »Impressions of Weapons« zum besten, die schließlich in Tierstimmen-Imitationen übergehen.
01.33 - 01.45
›Silences‹: Die ›Stars‹ (Jerry und Davis), treten in die Mitte der Bühne und kündigen 5 Minuten »schöner Stille« an; zunächst aber zählen sie in einem lange andauernden Sprachspiel in Form einer Liste mögliche stille Momente auf.
01.46 - 01.58
›5 Minutes of Silence‹: Die Darsteller ›bemühen sich‹, fünf Minuten Stille durchzuhalten; zu Beginn und zum Ende dieser Phase entspinnen sich langatmige Diskussionen, zwischendurch ereignen sich zahlreiche Störungen.
01.59 - 02.06
›End of the World‹: Clown John erzählt vom Ende der Welt, wieder assistiert und unterbrochen von den ›eifrigen‹ Kollegen.
02.06. - 02.07
›White Stripes‹: Das Geschehen kulminiert in einem wilden Tanz.
02.08 - 02.11
›Claires erotischer Monolog 2‹: Claire nimmt noch einmal den Gorillakopf ab und spricht zum Publikum, dieses Mal schildert sie die Melancholie nach der erotischen Begegnung zwischen ihr und »You«.
02.12 - 02.18
›Old Dixie‹ / ›Impression of the End of the World‹: Wendy fordert Clown John zunehmend aggressiv auf, das Stück zu beenden, auf diese Weise entsteht ein Rededuell; unterdessen spielt der Song The night they drove old Dixie down. Schließlich gibt Clown Bruno eine »Impression of the End of the World« zum Besten.
02.19 - 02.23
›Backstage-Interview‹ zwischen Clown John und Roady Richard.
02.24 - 02.26
›This is the last light‹: Cathy ›stiehlt‹ den letzten Moment und hält einen Monolog.
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Szenar The World in Pictures (vgl. Forced Entertainment 2006) Zeit auf dem Video
Name und Kurzbeschreibung der szenischen Sequenz
00.00 - 00.06
›Ratschläge an Jerry‹: Neun Darsteller treten auf; einer separiert sich vom Rest der Gruppe. Die Übrigen stellen ihn als Jerry vor und erteilen ihm Ratschläge für den Beginn der Show.
00.07 - 00.21
›Jerry Monolog 1‹: Jerry erzählt dem Publikum eine lange Geschichte die von einem Protagonisten »You«handelt; die Zuschauer werden auf diese Art imaginativ durch eine Stadt geführt und stürzen schließlich von einem Dach.
00.21 - 00.35
›Volcano Scene‹: Als Höhlenmenschen verkleidete Darsteller kommen auf die Bühne und spielen eine pantomimische Szene aus dem Film 1Mio Years BC nach.
00.36 - 00.47
›History of Mankind‹ (erster Teil): Frühgeschichte und Antike werden durch Figur Terry erzählt und unterdessen vom restlichen Ensemble pantomimisch illustriert; die Szene kulminiert in einem »Dance of Early Men«.
00.47 - 00.58
›Dark Ages‹: Terry erzählt von den mittelalterlichen »Dark Ages«, dabei wird es wird dunkel auf der Bühne, worauf die Erzählerin sich an den Bühnenrand zurückzieht; im Dunkeln hält Jerry Monolog 2, während dessen er Bilder kommentiert, die auf einem Fernsehbildschirm angezeigt werden.
00.59 - 01.18
›History of Mankind‹ (zweiter Teil): Es wird wieder hell. Terry erzählt vom »Black Death« (unterdessen »Dance of Death«) und vom »Age of Reason«; nun assistiert ihr meist ein Kollege beim Erzählen. Die übrigen Darsteller illustrieren weiter pantomimisch die Erzählung.
01.19 - 01.24
›Dance of Peace‹: Terry zählt lyrisch die Gräuel der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auf, während die übrigen Darsteller tanzend die Phase des »long peace« im 19. Jahrhundert bebildern.
01.25 - 01.28
›20ties Century Boy‹: Die Erzählung der zweiten Hälfte des 20ten Jahrhunderts wird von einem Darsteller im Höhlenmenschenkostüm eingeleitet, durch eine Playbackaufführung des Songs 20ties Century Boy,
01.29 - 01.33
›90ties & 21. Century‹: Mit Blick auf die Uhr erklären Terry und ihr Kollege die Geschichte für beendet, weil sie sowieso in der allseits bekannten Gegenwart angekommen sei.
01.34 - 01.40
›Jerry Monolog 3‹: Jerry hält einen abschließenden melancholischen Monolog über das Verschwinden alles Gegenwärtigen.
01.41 - 01.50
›Grande Finale‹: Jerrys Monolog wird kritisiert und ein großes Finale wird angekündigt; darauf folgt eine Playbackaufführung des StereolabSongs Harmonium, vorgeführt durch eine Darstellerin im Höhlenmenschenkostüm. Jerry bleibt abwartend in der Mitte der Bühne stehen. die übrigen Darsteller räumen die Bühne um ihn herum leer und kehren sie sauber, gehen dann ab.
01.51 - 01.51
›Verabschiedung‹: Mit wenigen, lakonischen Worten erklärt Jerry den Abend für beendet.
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Gudrun Rath(Hg.)
Zombies Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2014
Mai 2014, 120 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2689-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Wenn die Toten zum Leben erwachen: Die Figur des Zombie ist nach wie vor populär. Aber was genau ist ein Zombie und woher rührt seine Faszinationskraft? Das aktuelle Heft der ZfK geht dem auf den Grund. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 15 Ausgaben vor. Die ZfK kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 25,00 € (international 30,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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Theater Nina Birkner, Andrea Geier, Urte Helduser (Hg.) Spielräume des Anderen Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater Juni 2014, 244 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-1839-6
Natalie Driemeyer, Jan Deck (Hg.) »Odyssee: Heimat« Identität, Migration und Globalisierung im Blick der Darstellenden Künste Oktober 2014, ca. 202 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2012-2
Andreas Englhart Das Theater des Anderen Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute Oktober 2014, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2400-7
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3) ANZ2745.p 370626297436
Theater Annemarie Matzke, Ulf Otto, Jens Roselt (Hg.) Auftritte Strategien des In-Erscheinung-Tretens in Künsten und Medien Oktober 2014, ca. 270 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2392-5
Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen Oktober 2014, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1408-4
Wolfgang Schneider (Hg.) Theater entwickeln und planen Kulturpolitische Konzeptionen zur Reform der Darstellenden Künste 2013, 320 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2572-1
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2014-07-01 12-07-19 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 03c1370626297428|(S.
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3) ANZ2745.p 370626297436
Theater Daniele Daude Oper als Aufführung Neue Perspektiven auf Opernanalyse August 2014, 286 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2493-9
Andreas Englhart, Artur Pelka (Hg.) Junge Stücke Theatertexte junger Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater Juni 2014, 416 Seiten, kart., 35,99 €, ISBN 978-3-8376-1734-4
Denis Hänzi Die Ordnung des Theaters Eine Soziologie der Regie
Eckhard Mittelstädt, Alexander Pinto (Hg.) Die Freien Darstellenden Künste in Deutschland Diskurse – Entwicklungen – Perspektiven 2013, 234 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1853-2
Ulf Otto Internetauftritte Eine Theatergeschichte der neuen Medien 2013, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2013-9
Camilla Schlie, Sascha Willenbacher (Hg.) »Eure Zwecke sind nicht Melanie Hinz unsre Zwecke.« Das Theater der Prostitution Zur Kooperationspraxis zwischen Über die Ökonomie des Begehrens Theater und Schule im Berliner im Theater um 1900 und der Gegenwart Modellprojekt »JUMP & RUN« 2013, 454 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2342-0
April 2014, 264 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2467-0
Joy Kristin Kalu Ästhetik der Wiederholung Die US-amerikanische Neo-Avantgarde und ihre Performances
Oktober 2014, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2738-1
Beatrice Schuchardt, Urs Urban (Hg.) Handel, Handlung, Verhandlung Theater und Ökonomie in der Frühen Neuzeit in Spanien
2013, 298 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2288-1
August 2014, ca. 310 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2840-1
Denis Leifeld Performances zur Sprache bringen Zur Aufführungsanalyse von Performern in Theater und Kunst
Nina Tecklenburg Performing Stories Erzählen in Theater und Performance
Januar 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2805-0
April 2014, 348 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2431-1
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2014-07-01 12-07-19 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 03c1370626297428|(S.
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3) ANZ2745.p 370626297436