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German Pages 770 Year 2014
Carola S. Rudnick Die andere Hälfte der Erinnerung
Histoire | Band 25
Carola S. Rudnick (Dr. phil.), Kulturwissenschaftlerin, hat an der Leuphana Universität Lüneburg promoviert und leitet seit 2009 das Pädagogische Zentrum der Gedenkstätte Bergen-Belsen.
Carola S. Rudnick
Die andere Hälfte der Erinnerung Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989
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Inhalt Danksagungen/Widmungen | 9 Abkürzungen | 11 Einführung | 17
DISKURSE IN DER BUNDESPOLITISCHEN AUFARBEITUNG DER SBZ/DDR-V ERGANGENHEIT 1.
Die Erinnerungs- und Geschichtspolitik des Bundes 1990-1992 | 33
1.1 Vergangenheitspolitik | 33 1.2 Erinnerungs- und Geschichtspolitik | 35 2.
Die Auseinandersetzung der Parteien im Deutschen Bundestag 1992-1998 | 41
2.1 Die Beteiligung des Bundes an einzelnen Gedenkstätten bis 1994 | 41 2.2 Die Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages | 47 2.2.1 Die Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« | 48 2.2.2 Die Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit« | 63
Folgen der Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages | 75 3.1 Die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur 1998 | 75 3.2 Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes 1999 | 82 3.
Erinnerungs- und Geschichtspolitik des Bundes 2000-2008 | 91 4.1 CDU-Gedenkstättenpolitik 2000-2004 | 91 4.2 Gedenkstättenpolitik 2005-2008 | 96 4.
5.
Zusammenfassung | 103
DIE UMWANDLUNG EHEMALIGER HAFTANSTALTEN IN GEDENKSTÄTTEN 1. 2.
Einführung | 109 DDR-Haftanstalten – Historischer Abriss | 111
3.
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8
Die Gedenkstätte Bautzen | 131
Das Ende des DDR-Strafvollzugs in Bautzen | 131 Der Umgang mit der Bautzener Gefängnisgeschichte ab 1991 | 150 Sächsische Gedenkstättenpolitik 1992-1994 | 162 Eine Gedenkstätte Bautzen II und die Gräberstätte nach 1994 | 177 Professionalisierung und Konsolidierung nach 1995 | 195 Eine Gedenkanlage auf dem Karnickelberg 1996-2000 | 210 Die Gedenkstätte Bautzen seit 2000 | 213 Zusammenfassung: Die Gedenkstätte Bautzen 1989-2009 | 223
4.
Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen | 227 4.1 Gedenken an die Opfer des Stalinismus und Kommunismus 1988-1990 | 227 4.2 »DDR-Museum« oder »Plötzensee II« 1991-1993 | 234 4.3 »Topographie der zweiten deutschen Diktatur« | 246 4.4 Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen 1996-1997 | 262 4.5 Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen und die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur 1997-1999 | 278 4.6 Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Stiftungsgründung 1999-2000 | 287 4.7 Re-Politisierung und »Zentrale Gedenkstätte für die Opfer der SED-Diktatur« | 291 4.8 Flierl, Sabrow und Neumann: Gedenkstättenpolitik 2006-2008 | 309 4.9 Zusammenfassung: Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen 1989-2009 | 327
DER STREIT UM DAS ERBE DER STASI: »RUNDE E CKE« UND »HAUS I« 1.
Einführung | 335
2.
Die DDR-Staatssicherheit – Historischer Abriss | 337
3.
Die Gedenkstätte Museum in der »Runden Ecke« Leipzig | 345
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 4.
Besetzung der »Runden Ecke« am 04. Dezember 1989 | 345 Frühphase der Aufarbeitung der DDR-Staatssicherheit | 350 Vom Museum zur Gedenkstätte 1995-1999 | 388 Gedenkstättenpolitik der »Runden Ecke« 2000-2005 | 405 Die »Runde Ecke« und die neue Gedenkstättenkonzeption | 423 Zusammenfassung: Die »Runde Ecke« 1989-2009 | 428
Die Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße | 433 4.1 Das Ende der Zentrale und Gedenkstättenpläne bis April 1990 | 433 4.2 Die FOGE nach der Märzwahl 1990 | 453 4.3 ASTAK und FOGE bis zum 03. Oktober 1990 | 460
4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 4.9 4.10 4.11 4.12
Die FOGE bis 1993 | 473 Die ASTAK und der Übernahmeversuch des BStU 1993 | 481 »Topographie der Repression« | 491 Zweiter Übernahmeversuch des BStU 1996 | 494 Die ASTAK und die Enquete-Kommissionen | 498 Die ASTAK und die Gedenkstättenkonzeption des Bundes 1999 | 500 Das Haus I als zentraler Ort der »Anatomie der SED-Diktatur« | 504 Das Haus I und die Sabrow-Kommission | 518 Zusammenfassung: Die FOGE im Haus I 1989-2009 | 524
KONFLIKTE UM GEDENKSTÄTTEN ZUR DEUTSCHEN TEILUNG: DIE BERLINER MAUER UND M ARIENBORN 1.
Einführung | 533
2.
Die deutsche Teilung – Historischer Abriss | 535
3.
Die Gedenkstätte »Berliner Mauer« | 547 Die Rettung der Berliner Mauer in der Bernauer Straße | 547 Der Beschluss über eine Erinnerungsstätte Berliner Mauer | 558 Der Wettbewerb für eine Mauergedenkstätte | 577 Die Konzeption der Mauergedenkstätte | 598 Der Paradigmawechsel am Ende der 90er Jahre | 604 Der Streit um Widmung und Inschrift | 614 Das Dokumentationszentrum Berliner Mauer 1999-2004 | 623 Das Gesamtkonzept zum Mauergedenken | 631 Zusammenfassung: Die Gedenkstätte Berliner Mauer 1989-2009 | 651
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9 4.
Die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn (GDT) mit dem Grenzdenkmal Hötensleben (GDH) | 655
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 4.9
Rettungsversuche in Marienborn und Hötensleben | 655 Konzeptionen der Grenzgedenkstätten GDH und GDT | 659 Das Ringen um gesamtstaatliche Anerkennung | 679 Das Scheitern der Aufnahme in die institutionelle Bundesförderung | 688 Kurswechsel und Neukonzeption der GDT 1995-1996 | 693 GDT und GDH und die zweite Enquete-Kommission | 700 Das »Aufbauprogramm« und die GDT | 708 Die GDT und die neue Gedenkstättenkonzeption | 720 Zusammenfassung: Die GDT und das GDH 1989-2009 | 727
Resümee | 731 Quellen | 743 Literatur | 755
Danksagungen/Widmungen
Die Autorin widmet dieses Buch ihrer Familie Christoph, Henrike und Julius sowie Klaus v. Sichart († 2008) Dank geht an alle Personen und Einrichtungen, die die vorliegende Arbeit unterstützt haben, hierzu zählen insbesondere die Mitarbeiter der untersuchten Gedenkstätten Bautzen, Berlin-Hohenschönhausen, Berliner Mauer, Deutsche Teilung Marienborn mit dem Grenzdenkmal Hötensleben, Normannenstraße und »Runde Ecke« Leipzig mit dem Museumsbunker Machern sowie einzelne Mitglieder der Vereine Antistalinistische Aktion e.V., Bautzenkomitee e.V., Bürgerkomitee Leipzig e.V., Grenzdenkmalverein Hötensleben e.V. Des Weiteren gebührt Dank dem Archiv der Bürgerbewegung Leipzig, der JVA Bautzen, dem Landesbeauftragten für die Unterlagen der ehemaligen Staatssicherheit der DDR Berlin, dem Innenministerium des Landes Sachsen-Anhalt, der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur Berlin, der Stiftung Sächsische Gedenkstätten und der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Die Dissertation entstand an der Leuphana Universität Lüneburg. Sie wurde von Prof. Dr. Klaus Wernecke (Leuphana Universität Lüneburg), Prof. Dr. Bernd Faulenbach (Ruhr Universität Bochum) und Prof. Dr. Wolfgang Benz (Technische Universität Berlin) begutachtet sowie von der Friedrich-Ebert-Stiftung gefördert. Den Gutachtern und der Friedrich-Ebert-Stiftung gebührt ebenfalls Dank.
Abkürzungen
ABL ADN AfNS AFüSt AG AL Anm. ArASTAK ArBK ArBKL ArGBM ArGBZ ArGDH ArGDT ArJVA BZ ArLStU ArRHG ArMI LSA ArStkLSA ArStSG ASTAK ATO BÄfNS BDP BDVP BF BK BKB BKL BKM BMF BMI
Archiv der Bürgerbewegung Leipzig Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst Amt für Nationale Sicherheit der DDR (ehem. MfS seit dem 14.11.1989) Ausweichführungsstelle Arbeitsgemeinschaft Abteilungsleiter Anmerkung Archiv Antistalinistische Aktion (e.V.) Archiv des Bautzen Komitee (e.V.) Archiv Bürgerkomitee Leipzig (e.V.) Archiv Gedenkstätte Berliner Mauer Archiv Gedenkstätte Bautzen Archiv Grenzdenkmal Hötensleben (e.V.) Archiv Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn Archiv der Justizvollzugsanstalt Bautzen Archiv des Landesbeauftragten für die Unterlagen der ehemaligen Staatssicherheit der DDR Berlin Archiv Robert Havemann-Gesellschaft Archiv des Ministerium des Innern Sachsen-Anhalt Archiv der Staatskanzlei Sachsen-Anhalt Archiv der Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Stiftung) Antistalinistische Aktion (e.V.) Außerhalb der Tagesordnung Bezirksämter für Nationale Sicherheit der DDR Bezirksbehörde der Deutschen Polizei Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Abteilung Bildung und Forschung des BStU Bautzen-Komitee (e.V.) Bürgerkomitee Berlin Bürgerkomitee Leipzig (e.V.) Bundesbeauftragter für Kultur und Medien Bundesministerium der Finanzen Bundesministerium des Innern
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| DIE ANDERE H ÄLFTE DER E RINNERUNG
BMJ BMV BStU BSV BV BVA BVM BVSt BZ DA DDR DHM DRK Dt. BT Durchst. i.O. DVP DZ e.V. FAZ FES FOGE FR GBM GDH GDT GfN GMS GPU GSTW GULag GÜSt GVBl. HA HAIT HdG HdZ HELP e.V. Herv. i.O. Hg. HSH
Bundesministerium der Justiz Bundesministerium für Verteidigung Bundesbeauftragte(r) für die Unterlagen der ehemaligen Staatssicherheit der DDR Bund Stalinistisch Verfolgter Bezirksversammlung Bundesverwaltungsamt Bundesverkehrsministerium Bezirksverwaltung der Staatssicherheit der DDR Bautzen Demokratischer Aufbruch Deutsche Demokratische Republik Deutsches Historisches Museum (GmbH) Deutsches Rotes Kreuz Deutscher Bundestag Durchstreichung im Original Deutsche Volkspolizei Dokumentationszentrum eingetragener Verein Frankfurter Allgemeine Zeitung Friedrich-Ebert-Stiftung Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße Frankfurter Rundschau Gedenkstätte Berliner Mauer Grenzdenkmal Hötensleben (e.V.) Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn Gesellschaft für (Autobahn-)Nebenbetriebe Gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit der Staatssicherheit der DDR Staatliche politische Verwaltung (Geheimpolizei der Sowjetunion, Vorläufer des NKWD) Gefangenensammeltransportwaggon der Deutschen Reichsbahn »Hauptverwaltung der Lager« – Arbeits- und Straflager sowie Sondersiedlungsgebiete der sowjetisches Geheimpolizei Grenzübergangsstelle Gesetzesverordnungsblatt Hauptausschuss Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung Haus der Geschichte Bonn Haus der Zukunft (e.V.) Hilfsorganisation für die Opfer politischer Gewaltherrschaft in Europa Hervorhebung im Original Herausgeber (Stiftung) Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen
A BKÜRZUNGEN
IM IVVdN JVA KA KÄfNS KgU KMK KSK KVSt/KfNS LPD LfD LSA LfD Nds. LfPB Lpz. LSA LStU MdB MdI MdL MfAuV MfDG MfIA MfK MfS MGB MI LSA MK LSA MTL MWTV LSA MP MR ND NF NKWD NLfD OBM o.D. OFB e.V. OFD
Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit der DDR Interessengemeinschaft Verfolgter des Nationalsozialismus Justizvollzugsanstalt Ausschuss für Kulturelle Angelegenheiten (und Medienpolitik) Kreisämter für nationale Sicherheit der DDR Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit Kultusministerkonferenz der Bundesländer Kurt-Schumacher-Kreis e.V. Kreisverwaltung der Staatssicherheit der DDR/Kreisamt für Nationale Sicherheit der DDR Landespressedienst Landesamt für Denkmalpflege Sachsen-Anhalt Landesamt für Denkmalpflege Niedersachsen Landeszentrale für politische Bildung Leipzig Land Sachsen-Anhalt Landesbeauftragte für die Unterlagen der ehemaligen Staatssicherheit der DDR Mitglied des Deutschen Bundestages Ministerium des Innern der DDR Mitglied des Landtages Ministerium für Abrüstung und Verteidigung/Minister für Abrüstung und Verteidigung Museum für Deutsche Geschichte Ost-Berlin Ministerium für Innere Angelegenheiten der DDR Ministerium für Kultur der DDR Ministerium für Staatssicherheit der DDR Ministerium für Sicherheit der Sowjetunion (Ministerstvo gosudarstevennoj bezopasnosti) Ministerium des Innern Land Sachsen-Anhalt Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt Muldentalkreis (Freistaat Sachsen) Ministerium für Wirtschaft, Technologie und Verkehr Land Sachsen-Anhalt Ministerpräsident Ministerrat der DDR Neues Deutschland Neues Forum Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (Narodnyj kommissariat vnutrenych del) Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege Oberbürgermeister Ohne Datum Opfer- Förder- und Dokumentationsverein Bautzen e.V. Obere Finanzdirektion
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| DIE ANDERE H ÄLFTE DER E RINNERUNG
OibE o.T. OPK o.V. OV p.a. PA Berlin PA Dt. BT PA LtLSA PASächsLt PrBvH PrEM PrGM PrWH RSHA RT RTBL RTSL SächsStAL SBZ SDP SenBau SenFin SenJustiz SenKult SenStadtUm SenVuB Sign. SK SMF SMI SMin SMJ SMT SMWK SN StAL Stasi StAufarb StAV StGLSA StHA Stk StkLSA StS StSG
Offizier in besonderem Einsatz (MfS) Ohne Titel Operative Personenkontrolle Ohne Verfasser Operativer Vorgang per annum (pro Jahr) Parlamentsarchiv des Abgeordnetenhauses von Berlin Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages Parlamentsarchiv des Landtages Sachsen-Anhalt Parlamentsarchiv des Sächsischen Landtages Privatbesitz Benno von Heynitz Privatbesitz Eberhard Mundra Privatbesitz Günter Mühle Privatbesitz Winfried H. [der Name wurde anonymisiert] Reichssicherheitshauptamt Runder Tisch Runder Tisch des Bezirkes Leipzig Runder Tisch der Stadt Leipzig Sächsisches Staatsarchiv Leipzig Sowjetische Besatzungszone Sozialdemokratische Partei in der DDR Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen Berlin Senatsverwaltung für Finanzen Berlin Senatsverwaltung für Justiz Berlin Senatsverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten Berlin Senatsveraltung für Stadtentwicklung und Umwelt Berlin Senatsverwaltung für Verkehr und Betriebe Berlin Signatur Staatliches Komitee zur Auflösung des AfNS Sächsisches Staatsministerium der Finanzen Sächsisches Staatsministerium des Innern Staatsminister Sächsisches Staatsministerium der Justiz Sowjetisches Militärtribunal Sächsisches Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst Sächsische Nachrichten Stadtarchiv Leipzig DDR-Staatssicherheit Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur Staatliche Archivverwaltung des MfIA der DDR Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt Staatshochbauamt Staatskanzlei Staatskanzlei Land Sachsen-Anhalt Staatssekretär Stiftung Sächsische Gedenkstätten
A BKÜRZUNGEN
StSGG StUG
StVE SVV SWFKB SZ TDM UA UHA UOKG WP VDK VOS VP VS ZRT ZFL
Sächsisches Gedenkstättenstiftungsgesetz Stasi-Unterlagen-Gesetz/Gesetz über den Umgang mit den Unterlagen der ehemaligen Staatssicherheit der DDR Strafvollzugseinrichtung Stadtverordnetenversammlung Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur Berlin Sächsische Zeitung Tausend Deutsche Mark Untersuchungsausschuss Untersuchungshaftanstalt Union Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft Wahlperiode Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge Vereinigung der Opfer des Stalinismus Volkspolizei der DDR Verschlusssache Zentraler Runde Tisch in Berlin Zeitgeschichtliches Forum Leipzig (Zweigstelle der Stiftung HdG Bonn)
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Einführung
Innerhalb des Gedenkjahres 2009 kommt – neben der Staatsgründung und gefeierten »nationalen Erfolgsgeschichten« der BRD – dem öffentlichen Erinnern an die Ereignisse 1989 politik- und medienübergreifend erstmals eine zentrale Rolle zu. Das Gedenken an den 20. Jahrestag des Berliner Mauerfalls steht während des gesamten Jahres kontinuierlich im Zentrum der Öffentlichkeit. Neben zahlreichen Veranstaltungen und Fernsehbeiträgen gibt es eine Flut an Publikationen, die das öffentliche Erinnern an die »Friedliche Revolution« und an das Ende des »Eisernen Vorhangs« ergänzen. Nie zuvor gab es so viele Gesamtdarstellungen zur Deutschen Einheit und zu 1989/1990 wie in diesem Erinnerungsjahr 2009, vor allem auch von Protagonisten der »Friedlichen Revolution«.1 Sie werden eingerahmt von Monographien über den Herbst 1989/1990 und die Berliner Mauer, die zusätzlichen Stoff für die DDRErinnerung liefern und die »Revolutionsliteratur« anlässlich des Gedenkjahres 2009 vervollständigen. Die Beurteilung, dass die DDR eine »zweite deutsche Diktatur« und dass die »Friedliche Revolution 1989« die bisher einzige gelungene deutsche Revolution »von unten« war, scheint dort durchgängig zur historischen Faktizität geworden zu sein.2 Sogar ehemalige DDR-Kader zweifeln nicht mehr an diesen Geschichtsnarrativen.3 Die hieraus resultierende Pflicht, diese andere Hälfte der deutschen Geschichte gebührend erinnern und ihrer Opfer öffentlich gedenken zu müssen, ist 2009 – im Unterschied zu vor 10 Jahren – inzwischen selbstverständlich. Auf diese Weise entsteht der eigentümliche Eindruck, dass es in Fragen der DDR-Geschichte und ihrer Erinnerung zwischen 1989 und 2009 immer schon 1
2
3
Neubert, Ehrhard: Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/1990, München 2009; Dalos, György: Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa, München 2009; Führer, Christian: Und wir sind dabei gewesen, Berlin 2009; Brummer, Arnd (Hrsg.): Vom Gebet zur Demo, Frankfurt a.M. 2009; Huber, Wolfgang: Die Mauer ist weg, Frankfurt a.M. 2009; Schönfelder, Jan (Hrsg.): Das Wunder der Friedlichen Revolution, Leipzig 2009. Rödder, Andreas: Deutschland einig Vaterland, München 2009; Richter, Michael: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen, Göttingen 2009; Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009; Wolfrum, Edgar: Die Mauer. Geschichte einer Teilung, München 2009. Schabowski, Günter: Wir haben fast alles falsch gemacht. Die letzten Tage der DDR, Berlin 2009.
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überwiegend Einigkeit, ja es in den vergangenen 20 Jahren zu keiner Zeit Definitions- und Legitimationsprobleme gegeben habe. Es wird der Anschein erweckt, dass die seit 1989 vorzufindende postkommunistische Diktaturaufarbeitung und DDRErinnerung innerhalb des gesellschaftlichen Transformationsprozesses nach 1989 kohärent erfolgt sei und diesbezüglich seit jeher geschichts- und erinnerungspolitischer Konsens vorgeherrscht habe. Doch gab es diesen Konsens tatsächlich von Anfang an? Waren die Geschichtsbilder und -narrative über die DDR und über den Herbst 1989 immer schon so eindeutig? Entsprechen sie in dieser Form einer historischen »Wirklichkeit«? Die Autorin bezweifelt dies und begibt sich auf die Suche nach Erinnerungskonstruktionen und historischen Meistererzählungen, die das kulturelle Gedächtnis in Bezug auf die SBZ/DDR-Vergangenheiten sowie in Bezug auf den Herbst 1989 prägten. Sie rekonstruiert in der vorliegenden Arbeit maßgeblich dokumentengestützt, wann, was, auf welche Weise und durch welche Akteure an Geschichtsaufarbeitung und SBZ/DDR-Erinnerung im Zuge des Transformationsprozesses nach 1989 stattfand. Und sie findet Antworten auf die übergeordneten Fragen: Wer definiert die Vergangenheit der DDR wie? Mit welchen Motiven und Folgen? Was wurde zum Gegenstand des SBZ/DDR-Geschichte und der Geschichtserinnerung? Was geriet in Vergessenheit? Wo weicht die Erinnerung von der rekonstruierbaren Vergangenheit ab? Welche Geschichtsbilder und Narrative etablierten sich? Welche Mythen halten sich beharrlich? Die 20-jährigen Entstehungsgeschichten zur SBZ/DDR-Erinnerungskultur verknüpft die Autorin mit einer wissenschaftlichen Untersuchung der geschichts- und erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen um die SBZ/DDR-Vergangenheit. Besonders die politische Relevanz und Instrumentalisierung des Diktaturenvergleichs der konkurrierenden Vergangenheiten Nationalsozialismus (NS) und Kommunismus/Staatssozialismus werden in den Blick genommen. Diesbezügliche Deutungskämpfe, Opferdiskurse und der politische Disput um spezifische zeithistorische Orte bzw. Erinnerungssymbole sind Gegenstand ihrer systematischen, quellenkritischen Analyse. Dem Konnex von politischer Auseinandersetzung, Regierungshandeln und zivilgesellschaftlicher Erinnerungsarbeit geht die Verfasserin grundlegend nach und gibt Antworten auf die Fragen: Welche politischen Debatten, Kontroversen und Maßnahmen gingen mit der SBZ/DDR-Aufarbeitung einher? Auf welche Weise beeinflussten diese politische Auseinandersetzung und Handlungen die SBZ/DDR-Gedenkkultur und ihre Geschichtsbilder/-narrative? Wie wirkte sich die Erinnerungs- und Geschichtspolitik konkret auf zeithistorische Orte bzw. Gedenkstätten aus? Kann seit 1989/1990 von einem Paradigmenwechsel in der deutschen Erinnerungs- und Geschichtspolitik gesprochen werden? Mit der interdisziplinären Forschungsarbeit, die zwischen 2006 und 2009 an der Leuphana Universität Lüneburg im Fach Angewandte Kulturwissenschaften und gefördert von der Friedrich-Ebert-Stiftung als Dissertation entstand, erfolgt eine erste systematische, auf Quellen basierte Diskursanalyse zu 20 Jahre öffentliches Erinnern an die SBZ und DDR und dem Gedenken ihrer Opfer. Das komplexe Forschungsvorhaben kann nicht die gesamte Entwicklung und Struktur der Aufarbeitung der SBZ/DDR-Vergangenheit berücksichtigen. Eine Eingrenzung auf zwei Untersuchungsfelder wurde vorgenommen.
E INFÜHRUNG
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Das erste Untersuchungsfeld bildet die Analyse der erinnerungs- und geschichtspolitischen Auseinandersetzungen auf bundespolitischer Ebene. Im Mittelpunkt stehen parteipolitische Auseinandersetzungen zur Gedenkstättenfrage im Deutschen Bundestag, inner- und außerhalb der Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages »Aufarbeitung der Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« (1992-1994) und »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit« (1995-1998). Auch den Schwierigkeiten um das Errichten der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur wird ein eigenes Kapitel gewidmet. Des Weiteren werden die verschiedenen Auseinandersetzungen um die Bundesgedenkstättenförderung bis 1994 und um die Gedenkstättenkonzeptionen des Bundes von 1999 und 2008 analysiert sowie der Versuch des Bundes untersucht, jenseits der Gedenkstättenkonzeptionen des Bundes einen »Geschichtsverbund SED-Diktatur« zu schaffen. Im zweiten Untersuchungsfeld werden einzelne Gedenkstätten analysiert. Rekonstruiert werden die Entstehungszusammenhänge und die einhergehenden geschichts-, erinnerungs- und gedenkstättenpolitischen Auseinandersetzungen um die Gedenkstätten Bautzen, Berlin-Hohenschönhausen, »Runde Ecke« Leipzig, Normannenstraße, Deutsche Teilung Marienborn und Berliner Mauer. Mit diesem Untersuchungsspektrum konzentriert sich die Forschungsarbeit ausschließlich auf historische Orte, die nach dem Herbst 1989 auf ostdeutschem Gebiet zu Gedenkstätten wurden und die schwerpunktmäßig für die Zeit 1945-1949/1956 und 1949/1956-1989 stehen. Lediglich bei der Gedenkstätte Bautzen liegt eine dreifache Vergangenheit vor, war das Gefängnis Bautzen I auch zwischen 1933-1945 ein politischer Haftort. Die ehemaligen Haftorte Berlin-Hohenschönhausen und Bautzen I und II sind von unterschiedlichen Vergangenheitsschichten gekennzeichnet. Stand bei der Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen die Aufarbeitung der Speziallagerzeit und die Zeit als Zentrale Untersuchungshaftanstalt des Staatssicherheitsdienstes im Vordergrund, wurde in Bautzen I und II eine dreifache Vergangenheit (Nationalsozialismus, SBZ und DDR) Dreh- und Angelpunkt der Aufarbeitungsproblematik. Von besonderem Erkenntnisinteresse ist daher, wie diese Orte (bis 1992/1993 in der Zuständigkeit der Justizverwaltungen, z.T. mit Haftbetrieb) ab 1993 zu Gedenkstätten werden konnten. Insbesondere die Initiativen ehemaliger Häftlinge, der Verwaltungen und politischen Instanzen sind nachzuzeichnen, v.a. vor dem Hintergrund divergierender Häftlingsgruppen und der zeitlichen Nähe der Vergangenheit. Bei der Gedenkstätte Museum »Runde Ecke« in Leipzig und der Forschungsund Gedenkstätte Normannenstraße ist forschungsrelevant, wie im Zuge der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit an diesen »Orten der Täter« bereits im Sommer 1990 Gedenkstätten entstehen konnten. Hierbei wird untersucht, ob beide Gedenkstätten »Kinder« der »Friedlichen Revolution« waren und inwiefern sie in dieser Tradition Erinnerungsarbeit leisten. Beide Orte sind eng verknüpft mit der Aufarbeitung der Staatssicherheit, der Öffnung der Akten und der Einrichtung der Behörde des Sonderbeauftragten (später Bundesbeauftragten) für die Unterlagen der Staatssicherheit. Die Delegitimation des Herrschaftsapparates, die erinnerungs- und geschichtspolitische Rolle der Bürgerrechtler sowie der Umgang mit dem Erbe der
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| DIE ANDERE H ÄLFTE DER E RINNERUNG
Stasi stehen im Zentrum dieser erinnerungs- und geschichtspolitischen Auseinandersetzungen, die es zu untersuchen gilt. Schließlich werden die Orte der deutschen Teilung Untersuchungsgegenstand der geschichts-, erinnerungs- und gedenkstättenpolitischen Auseinandersetzungen um die SBZ/DDR-Vergangenheit. Hierzu gehören die Gedenkstätte Marienborn mit dem Grenzdenkmal Hötensleben sowie die Gedenkstätte und das Dokumentationszentrum Berliner Mauer. 1989/1990 standen die innerdeutschen Grenzanlagen insgesamt dem Ruf nach »Reisefreiheit«, nach »deutscher Einheit« und dem politischen Wunsch nach »innerer Einheit« entgegen. Von besonderer Bedeutung ist es daher herauszufinden, wie es gelingen konnte, diese Orte entgegen des Zeitgeistes in Gedenkstätten umzuwandeln. Zusammenhänge bundespolitischer Auseinandersetzungen auf bundes- sowie auf landespolitischer Ebene und konkreter Gedenkstättenpolitik werden bei allen Analysen durch eine enge Verknüpfung der beiden Untersuchungsfelder »Bund« und »Gedenkstätten« herausgearbeitet. Gleichzeitig wird die Entwicklung der Erinnerungsorte nicht abschließend behandelt, sondern werden die historischen Orte als Manifestationspunkte eines andauernden, unabgeschlossenen Erinnerungsdiskurses betrachtet. Im Unterschied zur Ursprungsfassung und Zugunsten einer ausführlichen Darstellung der Analysen wird in vorliegender Publikation auf eine umfassende Beschreibung der Methode und des Forschungsverlaufes verzichtet. Auch setzt die Verfasserin die Bekanntheit der Begriffe »Erinnerungskultur«, »Geschichts- und Erinnerungspolitik«, »Kollektives Gedächtnis« und »Kulturelles Gedächtnis« sowie »Totalitarismustheorie« voraus. Die vorliegende Untersuchung schließt vielmehr nahtlos an diesbezügliche Theorien und Erkenntnisse an und weist über bisherige Forschungsarbeiten hinaus, die sich wie folgt daher lediglich überblicksartig zusammenfassen lassen: »Vergangenheitsbewältigung«, in der Literatur oft auch als »Vergangenheitspolitik« bezeichnet, deckt bisweilen das Spektrum justizieller, personeller und materieller Aufarbeitung ab, insbesondere die Strafverfolgung von Gewalt- und Unrechtstaten, den Austausch von Funktionsträgern in entsprechenden Positionen, die Entschädigung von Opfern, sowie aber auch deren Widerpart in Form der Amnestie-Regelungen.4 Erinnerung besitzt bei den Formen von Vergangenheitsbewältigung keinen Selbstzweck, sondern dient v.a. der »Beweisführung«. Erinnerung ist hier identisch mit der Rekonstruktion von Unrecht. Amnestie-Forderungen werden mit dem Wunsch nach Vergessen gleichgesetzt. Als Standardwerk der Vergangenheitspolitik ist das Werk von Norbert Frei mit gleichnamigem Titel an erster Stelle anzuführen.5
4
5
König, Helmut: Vergangenheitsbewältigung (1998); Reichel, Peter: Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, München 2001. Frei, Norbert: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NSVergangenheit, München 1999.
E INFÜHRUNG
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Theorien um das »kulturelle Gedächtnis« hingegen versuchen Geschichtserinnerung und Erinnerungsarbeit prioritär als eine Identität stiftende Notwendigkeit von Gemeinschaften zu erklären. Das kulturelle Gedächtnis wird als ein überindividuelles und intergenerationelles Gedächtnis einer Nation oder eines Kulturkreises vorgestellt, das die Funktion trägt, Gruppenidentität zu schaffen und zu stabilisieren. Soziologische, gesellschaftspsychologische, anthropologische und kulturwissenschaftliche Theorien zum kulturellen Gedächtnis bilden die Ausgangsbasis für Untersuchungen, die sich bisher geschichtskonstruktivistisch mit der deutschen Erinnerungslandschaft befassten.6 Innerhalb des wissenschaftlichen und theoretischen Diskurses um Erinnerungskultur im Allgemeinen7 sind meistens Erinnerungs- bzw. Gedenkzeichen (Denkmäler, Museen, Gedenktage etc.) im Mittelpunkt der Betrachtung und werden vielfach eigene »Erinnerungskulturtheorien« entwickelt. Im Vordergrund stehen dabei vorwiegend entwicklungstheoretische, psychoanalytische, metahistorische und ästhetische Fragestellungen.8 Diskurse um die »Geschichts-
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Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006; dies.: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; dies./Harth, Dietrich (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a.M. 1991; Assmann, Aleida/Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit den deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999; Assmann, Jan: »Die Katastrophe des Vergessens. Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik«, in: Assmann, Aleida/Harth, Dietrich (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a.M. 1999; Assmann, Jan: »Erinnern, um dazuzugehören. Kulturelles Gedächtnis, Zugehörigkeitsstruktur und normative Vergangenheit«, in: Platt, Kristin/Dabag, Mihan (Hg.): Generation und Gedächtnis. Erinnerung und kollektive Identitäten, Opladen 1995; ders.: »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, in: Assmann, Jan/Hölscher, Tonio: Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1988; ders.: »Kollektives und kulturelles Gedächtnis. Zur Phänomenologie und Funktion von Gegen-Erinnerung«, in: Borsdorf, Ulrich/Grütter, Heinrich Theodor (Hg.): Orte der Erinnerung. Denkmal, Gedenkstätte, Museum, Frankfurt a.M./New York 1999; Burke, Peter: »Geschichte als soziales Gedächtnis«, in: Assmann, Aleida/Harth, Dietrich (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a.M. 1991; Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a.M. 1985; Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990; Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart 2005; Platt, Kristin/Dabag, Mihan (Hg.): Generation und Gedächtnis. Erinnerung und kollektive Identitäten, Opladen 1995; Pethes, Nicolas/Ruchatz, Jens (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung, Reinbek 2001; Rüsen, Jörn: »Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art über Geschichte nachzudenken«, in: Füßmann, Klaus/Grütter, Heinrich Theodor/ders.: Historische Faszination. Geschichtskultur heute, Köln 1994 Beispielhaft hierfür u.a.: Loewy, Hanno: Holocaust; Burgauer, Erica: Zwischen Erinnerung und Verdrängung; Diner, Dan: Kreisläufe; Young, James E.: Formen des Erinnerns. Brumlik, Micha: »Im Niemandsland des Verstehens. Was kann heißen sich der Shoah zu erinnern und ihre Opfer zu betrauern«, in: Eschenhagen, Wieland (Hg.): Die neue
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erinnerung« und die »Geschichte von Geschichtserinnerung« bilden mittlerweile einen eigenen Forschungszweig der Geschichts- und Kulturwissenschaften. In Forschungen zur »Vergangenheitsbewältigung«, »Gedächtnistheorie« und »Erinnerungskultur« überwiegt dabei insgesamt die Zeit des Nationalsozialismus bzw. der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Nach 1989/1990 hat es bezüglich der »Vergangenheitsbewältigung der DDR« (d.h. der justiziellen, personellen und materiellen Auseinandersetzung) mit der »zweiten deutschen Diktatur« zunächst einen erheblichen Forschungsauftrieb gegeben, bei dem komparatistische Ansätze dominierten.9 Dies hing unmittelbar zusammen mit der Öffnung der Akten des Staatssicherheitsdienstes der DDR sowie den notwendigen justiziellen Maßnahmen zur Ahndung des SED-Unrechts. Die Rede von der »doppelten Vergangenheitsbewältigung« und einer »zweiten deutschen Diktatur« ist kennzeichnend für diese Diskurse, in denen die DDR immer auch im gleichen Atemzug mit dem Nationalsozialismus genannt wurde. Im Zuge der beiden Enquete-Kommissionen zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit ist diese Betrachtung dahingehend abgemildert worden, dass NS- und DDR-Vergangenheit vergleichbar seien, ohne gleichgesetzt werden zu können. Neuere Untersuchungen zur Vergangenheitsbewältigung berücksichtigen diesen Grundsatz.10 Seit Ende der
Deutsche Ideologie. Einsprüche gegen die Vergangenheit, Darmstadt 1988; Young, James E.: »Die Textur der Erinnerung. Holocaust-Gedenkstätten«, in: Loewy, Hanno: Holocaust, S. 213-231; Diner, Dan: Kreisläufe (1995); Young, James E.: Formen des Erinnerns (1997). 9 Kleßmann, Christoph: »Das Problem der doppelten Vergangenheitsbewältigung«, in: Die neue Gesellschaft, Nr. 38, 1991, S. 1099-1105; Battis, Ulrich/Jakobs, Günter/Jesse, Eckhard: Vergangenheitsbewältigung durch Recht. Drei Abhandlungen zu einem deutschen Problem, Berlin 1992; Hoffmann, Christa: Stunden Null? Vergangenheitsbewältigung in Deutschland 1945 und 1989, Bonn 1992; Ammer, Thomas: »Es ist nicht alles Recht, was Gesetz ist«, in: Deutschland Archiv 2 (1992), S. 118-120; Fricke, Karl-Wilhelm: »StasiErbe und Vergangenheitsbewältigung«, in: Deutschland Archiv 2 (1992), S. 113-114; Henke, Klaus-Dieter (Hg.): Wann bricht schon mal ein Staat zusammen! Die Debatte über die Stasi-Akten und die DDR-Geschichte auf dem 39. Historikertag 1992, München 1993; Weidenfeld, Werner (Hg.): Deutschland. Eine Nation – doppelte Geschichte, Köln 1993; Strotmann, Michael: »Die Last der Vergangenheit. Zum Umgang mit den Stasi-Akten«, in: Deutschland Archiv 12 (1993), S. 1372-1388; Sühl, Klaus (Hg.): Vergangenheitsbewältigung 1945 und 1989. Ein unmöglicher Vergleich?, Berlin 1994; Hacker, Jens: Deutsche Irrtümer. Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen, Frankfurt a.M./Berlin 1994; Wielenga, Frieso: »Schatten deutscher Geschichte. Der Umgang mit der Nazi- und DDR-Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland«, in: Deutschland Archiv 10 (1994), S. 1058-1073; Henke, Klaus-Dieter/Engelmann, Roger (Hg.): Aktenlage. Die Bedeutung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes für die Zeitgeschichtsforschung, Berlin 1995; Jesse, Eckhard: Vergangenheitsbewältigung, Berlin 1997. 10 U.a. Bock, Petra/Wolfrum, Edgar (Hg.): Umkämpfte Vergangenheit, Göttingen 1999; Schweizer, Katja: Täter und Opfer in der DDR. Vergangenheitsbewältigung nach der zweiten deutschen Diktatur, Münster 1999.
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90er Jahre, insbesondere initiiert von angloamerikanischen Historikern, existieren Arbeiten, die unterschiedliche Formen der Vergangenheitsbewältigung in den osteuropäischen postkommunistischen Staaten miteinander vergleichend untersuchen.11 Diese Arbeiten sind jedoch noch die Ausnahme. Bisher tat sich die Forschung schwer mit der Übertragung von Theorien zum »kulturellen Gedächtnis« und zur »Erinnerungskultur« auf den Umgang mit der DDR-Geschichte. Über »die Stasi« hinausgehende Forschungsarbeiten und Aufsatzsammlungen zur »Erinnerung an die DDR-Geschichte« sind rar. Arbeiten über die Erinnerungslandschaft zur SBZ/DDR-Vergangenheit existieren in Ansätzen, dies zumeist in Form von Essays in Fachzeitschriften12 sowie vereinzelten Aufsatzsammlungen und Dokumentationen von Tagungen.13 Erste systematische Untersuchungen legen den Schwerpunkt auf psychoanalytische und geschichtsdidaktische Gesichtspunkte; insbesondere existieren hier Arbeiten zur politischen Erwachsenenbildung und aus dem Bereich der Oral history.14 Gezielt werden in diesen Untersuchungen Fragen nach einer deutsch-deutschen Geschichtskultur und einem »geteilten« Geschichtsbewusstsein behandelt. Sie beziehen sich in erster Linie auf lebensgeschichtliche Erinnerungsarbeit, d.h. sie betonen die subjektive Erlebnisund Zeitzeugenperspektive. Mit Ausnahme der Publikation von Heidi BehrensCobet und Andreas Wagner sowie des 2004 erschienenen »Lexikons« der Erinnerungsorte, herausgegeben von Annette Kaminsky, ist die öffentliche Erinnerungskultur zur SBZ/DDR nach 1990 – insbesondere die Gedenkstättenlandschaft – insgesamt im Hinblick auf den Wandel des kollektiven Gedächtnisses im Zuge des Transformationsprozesses nach 1989 noch nicht weit reichend systematisch erforscht.15 Eine umfassende Untersuchung der Erinnerungsorte der SBZ/DDR-
11 Insbesondere Ash, Timothy Garton: »Diktatur und Wahrheit. Die Suche nach Gerechtigkeit und die Politik der Erinnerung«, in: Lettre International 40 (1998), S. 10-16. 12 U.a. Reichling, Norbert: »Erinnerungsorte der SBZ- und DDR-Geschichte«, in: Deutschland Archiv 5 (2002). 13 Z.B. Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Erinnern, Aufarbeiten, Gedenken. 1946-1996. 50 Jahre kommunistische Machtergreifung in Ostdeutschland. Widerstand und Verfolgung. Mahnung gegen das Vergessen. Dokumentation 7, Leipzig 1996; Faulenbach, Bernd/Jelich, Franz-Josef (Hg.): »Asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte?« (2005); Knigge, Volkhard/Mählert, Ulrich (Hg.): Der Kommunismus im Museum, Köln/Weimar/Wien 2005; März, Peter/Veen, Hans-Joachim (Hg.): Woran erinnern? Der Kommunismus in der deutschen Erinnerungskultur, Köln/Weimar/Wien 2006; Faulenbach, Bernd/Jelich, Franz-Josef (Hg.): »Transformationen« (2006). 14 Rauschenbach, Brigitte: Politik der Erinnerung, in: Rüsen, Jörn/Straub, Jürgen (Hg.): Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewusstsein, Frankfurt a.M. 1998, S. 354-374; Boll, Friedhelm: Sprechen als Last und Befreiung. Holocaust-Überlebende und politisch Verfolgte zweier Diktaturen. Ein Beitrag zur deutschdeutschen Erinnerungskultur, Bonn 2003; Behrens, Heidi/Wagner, Andreas: Deutsche Teilung, Repression und Alltagsleben. Erinnerungsorte der DDR-Geschichte, Leipzig 2004. 15 Kaminsky, Annette (Hg.): Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR, Leipzig 2004; Auf diesen Umstand weist u.a. Tho-
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Geschichte in Bezug auf das »kollektive Gedächtnis« liegt noch nicht vor. Die Dissertation von Maren Ullrich, die vordergründig ästhetischen, bau- und wahrnehmungsgeschichtlichen Fragen in Bezug auf die innerdeutsche Grenze und ihres erinnerungskulturellen Umgangs vor und nach 1989 nachgeht, ist eine Pionierarbeit in diese Richtung.16 Es bestehen jedoch noch zahlreiche Forschungslücken in Bezug auf den Querschnitt der SBZ/DDR-Erinnerungskultur. Bernd Faulenbach, Norbert Haase, KlausDietmar Henke, Christoph Kleßmann, Dietrich Mühlberg und Norbert Reichling und Martin Sabrow sind durch ihre wissenschaftlichen Aufsätze, in denen erste globale Periodisierungen und Charakterisierungen der Erinnerungskultur zur SBZ/ DDR-Geschichte gewagt werden, zum jetzigen Zeitpunkt wohl als die »Wegbereiter« einer solchen Lückenschließung zu nennen.17 Dass jeder öffentlichen Erinnerungskultur wissenschaftliche Diskurse sowie aber auch politische Debatten und Motive zugrunde liegen, wird bei nahezu allen bisherigen systematischen Untersuchungen zur Erinnerungskultur der DDRVergangenheit vernachlässigt oder nur als Randphänomen thematisiert. Hier besteht offenbar das größte Forschungsdefizit. Fast alle vorliegenden eigenständigen Forschungsarbeiten zur Erinnerungs- und Geschichtspolitik ist gemeinsam, dass sie sich auf die Zeit vor 1989/1990 beziehen,18 oder die Aufarbeitung der SBZ/DDR-
mas Großbölting in seinem jüngst erschienenen Aufsatz hin, vgl. Großbölting, Thomas: »Die DDR im vereinten Deutschland«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 25-26 (2010), S. 37. 16 Ullrich, Maren: Geteilte Ansichten. Erinnerungslandschaft deutsch-deutsche Grenze, Berlin 2006. 17 Faulenbach, Bernd: »Diktaturerfahrung und demokratische Erinnerungskultur in Deutschland«, in: Kaminsky, Annette (Hg.): Orte des Erinnerns (2004); Kleßmann, Christoph: »Die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR – Erfolg- contra Misserfolgsgeschichte?«, in: Faulenbach, Bernd/Jelich, Franz-Josef (Hg.): »Asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte?« (2005), S.15-31; Haase, Norbert: »Gedenkstätten in den neuen Bundesländern nach der deutschen Einheit«, in: Stiftung Topographie des Terrors (Hg.): Gedenkstättenrundbrief 96 (2000), S. 3-13; Henke, Klaus-Dietmar: »Zur Konkurrenz von nationalsozialistischer und staatssozialistischer Vergangenheit im öffentlichen Bewusstsein«, in: Faulenbach, Bernd/Jelich, Franz-Josef (Hg.): »Asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte?«(2005), S. 111-121; Mühlberg, Dietrich: »Vom langsamen Wandel der Erinnerung an die DDR. Über allgemeine Bedingungen ostdeutschen Erinnerns«, in: Jarausch, Konrad H./Sabrow, Martin (Hg.): Verletztes Gedächtnis (2002), S. 217-251; Reichling, Norbert: »Erinnerungsorte«, in: Deutschland Archiv (2002), S. 851-854; Sabrow, Martin: »Wem gehört ›1989‹?«, in: ders.: Bewältigte Diktaturvergangenheit? 20 Jahre DDR-Aufarbeitung, Leipzig 2010, S. 9-20. 18 Z.B. Danyel, Jürgen (Hg.): Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten, Berlin 1995; Wolfrum, Edgar: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948-1990, Darmstadt 1999.
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Vergangenheit aussparen,19 oder sich ausschließlich auf den Umgang mit dem Erbe der Staatssicherheit der DDR und auf die Handhabung der Stasi-Akten spezialisieren.20 Eine umfassende quellenkritische, diskursanalytische Untersuchung der Erinnerungs- und Geschichtspolitik nach 1989 in Bezug auf den Umgang mit der DDRVergangenheit existiert nicht. Zwar wird vereinzelt auf erinnerungs- und geschichtspolitische Debatten und Kontroversen in den 90er Jahren hingewiesen21 und gewinnt diese Frage seit Mitte der 90er Jahre auf Tagungen und Konferenzen sowie innerhalb der Gedenkstättenarbeit zunehmend an Bedeutung,22 eine systematische Analyse ist noch nicht erfolgt. Eine von der Autorin 2004 vorlegte Magisterarbeit, die erstmals die Geschichts- und Erinnerungspolitik des Bundes sowie die Auseinandersetzungen um die Gedenkstätten Berlin-Hohenschönhausen und Normannenstraße zwischen 1989 und 2003 nachzeichnete,23 blieb unveröffentlicht. Der darin erfolgte Überblick über verschiedene, allgemein gehaltene Bewertungen der Erinnerungs- und Geschichtspolitik zwischen 1989 und 1999 ist überholt. Die dort fixierten, unterschiedlichen Hypothesen über eine Zunahme oder Abschwächung oder über einen allmählichen Wandel der deutschen Erinnerungs- und Geschichtspolitik nach 1989 sind inzwischen selbst zu Geschichte geworden.24 Eine 2007 erschienene Dissertation ging, da sie sich bezüglich der dortigen SBZ/DDR-Gedenkstättenanalysen nahezu vollständig auf die bezeichnete Magisterarbeit stützte, über deren Forschungsstand von 2004 nur unwesentlich hinaus.25
19 Z.B. Reichel, Peter: Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, Frankfurt a.M.1999; Brumlik, Micha/Funke, Hajo: Umkämpftes Vergessen: Walser-Debatte, Holocaust-Mahnmal und neuere deutsche Geschichtspolitik, Berlin 2000; Kirsch, Jan-Holger: »Wir haben aus der Geschichte gelernt«. Der 8. Mai als politischer Gedenktag in Deutschland, Köln 1999. 20 Schönhoven, Klaus: Geschichtspolitik: Über den öffentlichen Umgang mit Geschichte und Erinnerung, Bonn 2003. 21 Zuletzt die Herausgeberin Annette Kaminsky im Vorwort zu Orte des Erinnerns sowie Rainer Eppelmann, Thomas Krüger und Markus Meckel im Geleitwort der gleichnamigen Publikation. 22 Z.B. auf der Tagung »1989/1990: Auflösung der DDR-Staatssicherheit« in der Gedenkstätte Museum in der »Runden Ecke« Leipzig vom 3.-5. Dezember 2004 sowie bei der Konferenz »Instrumentalisierung, Verdrängung, Aufarbeitung. Die sowjetischen Speziallager in der gesellschaftlichen Wahrnehmung 1945 bis heute« in der Gedenkstätte Buchenwald vom 22.-24. Juni 2005. Siehe aber auch Jarausch, Konrad H./Sabrow, Martin (Hg.): Verletztes Gedächtnis (2002); Faulenbach, Bernd/Jelich, Franz-Josef (Hg.): »Asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte?« (2005); Faulenbach, Bernd/Jelich, Franz-Josef (Hg.): »Transformationen« (2006). 23 Hinrichsen, Carola: Geschichts- und Erinnerungspolitik mit der Vergangenheit der DDR. Die Geschichts- und Erinnerungspolitik des Bundes und das Beispiel der Berliner Gedenkstätten. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Lüneburg 2004. 24 Ebd., S. 63f. 25 König, Frank: Die Gestaltung der Vergangenheit. Zeithistorische Orte und Geschichtspolitik im vereinten Deutschland, Marburg 2007. Dem Verfasser wurde aufgrund seines
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In Bezug auf die Erinnerungs- und Geschichtspolitik auf bundespolitischer Ebene liegen wenige und stark divergierende »Bewertungen« der Erinnerungs- und Geschichtspolitik des Deutschen Bundestages bezüglich der Vergangenheit der DDR (hauptsächlich als Erfahrungsberichte und Kommentare) vor.26 Keiner dieser Beiträge basiert auf einer breiten wissenschaftlichen, insbesondere quellenbasierten Untersuchung. Die einzige Ausnahme bildet eine 2006 veröffentlichte Dissertation von Jens Schraten, die überwiegend anhand der Materialiensammlungen der beiden Enquete-Kommissionen des deutschen Bundestages die vollständige Delegitimierung der sozialistischen DDR-Vergangenheit innerhalb der beiden EnqueteKommissionen »Aufarbeitung der Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« und »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit« nachzeichnet. Eine darüber hinausgehende Einbettung in den erinnerungs- und geschichtspolitischen Diskurs erfolgte bei Schraten jedoch nicht.27 Schließlich gibt es noch eine von Klaus Schönhoven verfasste Abhandlung, die vornehmlich die geschichtspolitische Auseinandersetzung um die Akten der Staatssicherheit der DDR thematisiert, und in der daher der Schwerpunkt auf Vergangenheits- statt auf Erinnerungspolitik gelegt wird.28 Die Aufarbeitung der DDRVergangenheit und die damit verbundene Geschichts-, Erinnerungs- und Gedenkstättenpolitik des Deutschen Bundestages, sowie die Einrichtungen der Länder und des Bundes (Stiftungen, die Gedenkstättenkonzeption des Bundes sowie ihre erinnerungskulturelle Wirkung) sind bisher noch nicht Bestandteil einer systematischen Analyse gewesen. Ebenso wenig sind bisher die Erinnerungs- und Geschichtspolitik der Kommunen sowie die »Gegenpolitik« der Akteure (ehemalige Häftlinge, Opferinitiativen-
wissenschaftlichen Fehlverhaltens vom Rektor der Universität Erlangen im Sommer 2009 eine offizielle Rüge ausgesprochen, mit der Begründung, dass in der Arbeit in größerem Umfang Materialien verwendet worden waren, die aus der Magisterarbeit der Verf. stammen »[…] als dies durch Nachweise belegt ist«, vgl. Universität Erlangen-Nürnberg: Meldung: Rektor spricht Rüge wegen unzulässiger Zitierweise aus. Doktorand der Uni getadelt vom 29.06.2009, http://www.blogs.uni-erlangen.de/News/stories/3468/ 26 U.a. Drechsler, Ingrun/Faulenbach, Bernd/Gutzeit, Martin/Meckel, Markus/Weber, Hermann: Getrennte Vergangenheit, gemeinsame Zukunft (=Das SED-Regime in vergleichender Perspektive und die Bedeutung seiner Aufarbeitung, Band 4), München 1997; Schneider, Ulrich: »Rolle rückwärts – vom politischen Gebrauch der Geschichte«, in: Klotz, Johannes/ders. (Hg.): Die selbstbewusste Nation und ihr Geschichtsbild. Geschichtslegenden der Neuen Rechten – Faschismus. Holocaust. Wehrmacht, Köln 1997; Wilke, Manfred: »Die deutsche Einheit und die Geschichtspolitik des Deutschen Bundestages«, in: Deutschland Archiv 4 (1997), S. 607-613; Elm, Ludwig: Das verordnete Feindbild. Neue Geschichtsideologie und »antitotalitärer Konsens«, Köln 2001. 27 Schraten, Jürgen: Die kollektive Erinnerung von Staatsverbrechen. Eine qualitative Diskursanalyse über die parlamentarische Bewertung der SED-Diktatur, Baden-Baden 2007. 28 Heinrich, Horst-Alfred: »Geschichtspolitische Akteure im Umgang mit der Stasi. Eine Einleitung«, in: Fröhlich, Claudia/Heinrich, Horst-Alfred (Hg.): Geschichtspolitik. Wer sind die Akteure, wer die Rezipienten, Stuttgart 2004, S. 9-32.
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und -verbände, Mitglieder der Bürgerkomitees, ehemalige Bürgerrechtler, etc.) in Bezug auf den Umgang mit den jeweiligen zeithistorischen Orten und Gedenkzeichen untersucht worden. Gerade bezüglich der Gedenkstätten zur ausschließlich SBZ/DDR-bezogenen Vergangenheit existiert hier ein weitgehend unbeackertes Feld. Zwar existiert eine politikwissenschaftliche Forschungsarbeit von Jörg Siegmund, die Geschichte, Struktur, Arbeit sowie das politische Wirken der Aufarbeitungsinitiativen und Opferverbände der SBZ/DDR fundiert untersucht. Im Vordergrund steht jedoch die politische Partizipation jenseits von Erinnerungs- und Geschichtskultur, so v.a. bezüglich des SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes.29 Dieses vorzufindende Forschungsvakuum verwundert umso mehr als es zwischen 1990 und 2009 zahlreiche Auseinandersetzungen um die Frage »Wer schreibt die Geschichte der DDR?« gegeben hat.30 Wenn überhaupt sind die ehemaligen nationalen Gedenkstätten der DDR Buchenwald und Sachsenhausen aufgrund heftiger Opferkonflikte nach 1989 zum Gegenstand von Forschungsarbeiten geworden. Zu Kontroversen um diese Gedenkstätten »zweifacher Vergangenheit« liegen daher einige Beiträge vor.31 Besonders vorzuheben ist die Dissertation von Petra Haustein, die in einer Konfliktanalyse der Opfer-Diskurse um die Gedenkstätte Sachsenhausen in Verbindung mit dem Neugestaltungsprozess der Gedenkstätte besteht.32 Eine breite, quellenkritische systematische Untersuchung der anderen Hälfte der Erinnerung als Teil des gesellschaftlichen Transformationsprozesses nach 1989, anhand konkreter Beispiele aus der mittlerweile entstandenen Erinnerungslandschaft zur SBZ/DDR-Vergangenheit und jenseits der bereits vor 1989 bestehenden Gedenkstätten in Ostdeutschland, ist die Forschung noch schuldig geblieben. Sie soll in dieser Arbeit geleistet werden. Die Verfasserin schließt somit eine Forschungslücke – im Bewusstsein, dass die Beantwortung aufgeworfener Fragen sensible Bereiche der politischen (Geschichts-) Kultur berührt. So neigt die Kernfrage nach dem Konstruktionscharakter des SBZ/DDR-Erinnerungsmodus und seiner Geschichtsbilder/-narrative sowie nach den divergierenden Erinnerungsimperativen (NS- und SBZ/DDR-Erinnerung) dazu, politisch missverstanden zu werden. Wer Mythen in der SBZ/DDR-Erinnerungs-
29 Siegmund, Jörg: Opfer ohne Lobby? Ziele, Strukturen und Arbeitsweise der Verbände der Opfer des DDR-Unrechts, Berlin 2002 30 Berg, Stefan: »Was bleibt von der Geschichtswissenschaft der DDR?«, in: Zeitschrift für Geschichte 11 (2002), S. 1016-1034; Weber, Hermann: »Historische DDR-Forschung vor und nach der deutschen Einheit«, in: Deutschland Archiv 6 (2002), S. 937-943. 31 U.a. Zimmer, Hasko/Flesser, Katja/Volmer, Julia: Der Buchenwald-Konflikt. Zum Streit um Geschichte und Erinnerung im Kontext der deutschen Vereinigung, Münster 1999; Faulenbach, Bernd: »Acht Jahre deutsch-deutsche Vergangenheitsdebatte. Aspekte einer kritischen Bilanz«, in: Kleßmann, Christoph/Misselwitz, Hans/Wichert, Günter (Hg.): Deutsche Vergangenheiten – eine gemeinsame Herausforderung. Der schwierige Umgang mit der doppelten Nachkriegsgeschichte, Berlin 1999. 32 Haustein, Petra: Geschichte im Dissens. Die Auseinandersetzungen um die Gedenkstätte Sachsenhausen nach dem Ende der DDR, Leipzig 2006.
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kultur offenlegt und auf Unterschiede zwischen SBZ/DDR und NS verweist, gerät insbesondere bei ehemaligen SBZ/DDR-Opfern und Regimegegnern unter Verdacht, die stalinistische Ära, den ostdeutschen Staatssozialismus und den Umsturz 1989 verklären und verharmlosen zu wollen. Die wissenschaftlich-kritische Betrachtung der öffentlichen Darstellung der Ereignisse des Herbstes 1989 und des totalitären Charakters der DDR läuft also Gefahr, politisch auf gleicher Ebene zu rangieren wie die Marginalisierungsversuche der einstigen DDR-Kader, die ihrerseits spätestens seit ihrem Aufmarsch in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen im Frühjahr 2006 punktuell versuchen, öffentlich Gehör zu finden. Jeder, der den grobschlächtigen Diktaturenvergleich und dahingehende totalitarismustheoretische Deutungen mit Blick auf die unterschiedlichen Dimensionen und historischen Kontexte von SBZ, DDR und NS hinterfragt, sorgt – gewollt oder ungewollt – für das Vorurteil, die SBZ/DDR auf diese Weise entstalinisieren, entkriminalisieren und den SBZ/DDR-Opfern ihr Leid absprechen zu wollen.33 Stefan Troebst beschreibt dieses Grundproblem wie folgt: »Der ›Westen‹, der sich auf den Holocaust als ›Gründungsmythos Europas‹ bezieht, argwöhnt, dass im ›Osten‹ dieser Grundkonsens nicht geteilt wird, und der ›Osten‹ hält den ›westlichen‹ Erinnerungsprimat bezüglich des Nationalsozialismus für patronisierend, okzidentralisierend und mit Blick auf den Kommunismus relativierend.«34 In Bezug auf den erinnerungskulturellen Umgang mit historischen Orten hat dieses gegenseitige Missverständnis der unterschiedlichen geschichtspolitischen Lager die Fehleinschätzung zur Folge, ein kritisches Hinterfragen stelle die historische Bedeutung der Orte von SBZ/DDRVerbrechen in Frage und spreche ihnen die Legitimation als Erinnerungssymbol ab.
33 Nach dem Ende der DDR erfuhr die Totalitarismustheorie eine Konjunktur innerhalb der historisch-wissenschaftlichen Auseinandersetzung über die SBZ/DDR. Insbesondere unter dem Schlagwort der „doppelten Vergangenheitsbewältigung“ wurde nicht selten eine unkritische Analogisierung von Nationalsozialismus und DDR vorgenommen, gerade so, als handle es sich um zwei Seiten ein und derselben Medaille, siehe u.a. Jesse, Eckhard: War die DDR totalitär?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 40 (1994), S. 12-23. Punktuell wurde die DDR aufgrund ihrer stärkeren Herrschaftsdurchdringung der Gesellschaft und aufgrund ihrer längeren Dauer sogar als das totalitärere Regime gegenüber dem Hitler-Staat dargestellt. Wie bereits Mitte der 80er Jahre kam es dadurch zu einer Abschwächung der Singularitätsthese in Bezug auf den Nationalsozialismus und brachen die alten Gräben des „Historikerstreits“ wieder auf. Eine kritische Auseinandersetzung über diese „doppelte Vergangenheitsbewältigung“ findet sich bei Rudnick, Carola: Doppelte Vergangenheitsbewältigung, in: Fischer, Torben/Lorenz, Matthias (Hrsg.): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2007, S. 275-279. Seither ist in der Forschung umstritten, ob der Totalitarismus-Begriff etwa auf SBZ/DDR angewendet werden kann oder nicht und erweist er sich seit 1989 als neuralgischer Punkt der erinnerungs- und geschichtspolitischen Deutungskämpfe, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. 34 Troebst, Stefan: »Jalta versus Stalingrad, GULag versus Holocaust. Konfligierende Erinnerungskulturen im größeren Europa«, in: Faulenbach, Bernd/Jelich, Franz-Josef (Hg.): »Transformationen« der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989, Essen 2006, S. 37.
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Zweitens, waren und sind Wissenschaftler, die sich kritisch mit der deutschen SBZ/DDR-Erinnerungskultur und mit der diesbezüglichen Erinnerungs- und Geschichtspolitik befassen, von Beginn an oder mittlerweile selbst in der SBZ/DDRAufarbeitung involviert. Sie sind im Zuge des Umschwungs in der DDR und im Zuge des Transformationsprozesses selbst »Geschichts- und Erinnerungspolitiker« geworden und sind als Sachverständige, Mitarbeiter von Gedenkstätten, Museen und Forschungseinrichtungen, Mitglieder von Fachgremien und Ausschüssen an den fortwährenden Deutungskämpfen unmittelbar beteiligt und besetzen im Erinnerungsdiskurs strategische Positionen. Ein distanzierter, retrospektiver Blick auf die eigene Aufarbeitungsleistung und die eigene Erinnerungs- und Geschichtspolitik erscheint fast unmöglich, die kritische Nabelschau stößt an ihre Grenze. Bernd Faulenbachs, Annette Kaminskys und Klaus Dietmar Henkes selbstreflektierten Deutungsversuche sind wertvolle, endogene Stimmen im Erinnerungskanon, die jedoch erinnerungs- und geschichtspolitische Imperative – die eigenen eingeschlossen – nur aus der Binnenperspektive behandeln (können).35 Sie sind selbst zu Zeitzeugen der Geschichtsaufarbeitung geworden, zu Meistererzählern des Geschichtsnarrativs. Aufgrund der Erfahrungsbedingtheit ist Distanzierung unmöglich. Diejenigen, die entgegen des geschichtspolitischen mainstreams und über das facheigene Publikum hinaus dennoch diskurskritisch an die Öffentlichkeit gehen, riskieren überdies die »Solidarität« der Erinnerungsgemeinschaft. Sie geraten in Deutungskonflikte zwischen Zeitzeugen und Zeitgeschichte.36 Die 2006 u.a. vom Historiker Martin Sabrow aufgeworfene Frage Wohin treibt die DDR-Erinnerung? mündete in einer entsprechenden Debatte.37 Sabrows Charakterisierung der DDR als »Konsensdiktatur« und Konrad Jarauschs vorgeschlagener Begriff »Fürsorgediktatur« setzten sich nicht durch. Sie wurden als zu wenig opportun und zu stark re-legitimierend abgelehnt. Ihr Beitrag zu einer Historisierung wurde als geschichtspolitischer Verharmlosungsversuch und Schlussstrichforderung umgedeutet.38
35 Faulenbach, Bernd: »Erinnerungskulturen in Mittel und Osteuropa als wissenschaftliches und geschichtspolitisches Thema. Überlegungen zu Thema und Fragestellungen«, in: Ders./Jelich, Franz-Josef (Hg.): »Transformationen« (2006), S. 11-21; Kaminsky, Anne: »Gedenkstätten für die Opfer des Stalinismus als ›Stiefkinder‹ der deutschen Erinnerungskultur?«, in: Faulenbach, Bernd/Jelich, Franz-Josef (Hg.): »Asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte?«, Essen 2005, S. 93-110; Henke, Klaus-Dietmar: »Zur Konkurrenz von nationalsozialistischer und staatssozialistischer Vergangenheit im öffentlichen Bewusstsein«, in: ebd., S. 111-121. 36 Hockerts, Hans Günter: »Zugänge zur Zeitgeschichte. Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft«, in: Jarausch, Konrad/Sabrow, Martin (Hg.): Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt/New York 2002, S. 49. 37 Ebd.; Sabrow, Martin/Eckert, Rainer (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, Göttingen 2007. 38 Jarausch problematisiert das gespannte Verhältnis von Geschichtspolitik und Zeitgeschichte anschaulich in: Jarausch, Konrad: »Zeitgeschichte und Erinnerung«, in: Ders./ Sabrow, Martin (Hg.): Verletztes Gedächtnis (2002), S. 33.
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Drittens, ist jeder Versuch, die erinnerungs- und geschichtspolitischen Auseinandersetzungen während der inzwischen 20jährigen DDR-Erinnerungskultur zu rekonstruieren und einer kritischen Betrachtung zu unterziehen, mit erheblichen methodischen Schwierigkeiten verbunden. Da nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen über die DDR-Erinnerungskultur existieren – insbesondere im Vergleich zu Veröffentlichungen über das Erinnern von NS-Verbrechen – besteht die Notwendigkeit die erinnerungs- und geschichtspolitischen Deutungskämpfe und Diskurse maßgeblich anhand von Dokumenten zu analysieren. Die Recherche ist ein unbequemer und mühsamer Weg durch ein Dickicht an Materialien an einer Vielzahl von Orten. In über 25 verschiedenen Archiven, Einrichtungen bzw. Privatsammlungen wurde forschungsrelevantes Dokumentenmaterial aufgespürt. Zu den Fundstellen zählen öffentliche Parlamentsdokumentationen, Staats-, Landes- und Kommunalarchive, Archive der LStU ebenso wie interne Geschäftsablagen verschiedener Opferverbände und Gedenkstätten, Innenministerien und Kulturverwaltungen, sowie Unterlagen aus Privatbesitz. Insgesamt wurden mehr als 500 Bestände, Vorgänge bzw. Sammlungen gesichtet und rund 3200 Einzeldokumente zusammengetragen. Etwa 2600 flossen in die Analyse ein. Zu den ausgewerteten Quellen zählten neben regionalen und überregionalen Zeitungen und Zeitschriften v.a. Materialiensammlungen der Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« und »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit«, Selbstdarstellungen und dokumentarische Publikationen (Jahresberichte, Dokumentationen, Kataloge, Materialiensammlungen), Vereinspresse und Publizistik der Gedenkstätten, (Gedenkstätten-)Konzepte und Gutachten, Schriftverkehr zwischen Institutionen und Personen, Drucksachen unterschiedlicher politischer Gremien (Kommunalparlamente bis Bundestag), Protokolle, Gesetzestexte, Verträge, Vermerke. Da die Geschichte noch »qualmt« und die Auseinandersetzungen anhalten, verlangten Recherchen, Analysen und Darstellungen ein achtsames Vorgehen, Abwägen und historisches Einordnen. Die Verfasserin fühlte sich daher in besonderer Weise verpflichtet, nicht zu urteilen und Äquidistanz zu bewahren. Sie stellt ihrer Untersuchung daher voran:
»Urteil und Strafe sind Sache des Richters; der Kampf des Vergessens und für eine wahrhaftige Erinnerung ist Sache des Bürgers; dem Historiker bleibt es vorbehalten, zu verstehen oh39 ne zu verurteilen und ohne zu entschuldigen.«
39 Ricoeur, Paul: L’ écriture de l’histoire et la représentation du passé, in: Annales Histoire, Science Soziales 55, 2000, z.n.: Faulenbach, Bernd/Jelich, Franz-Josef (Hrsg.): »Transformationen« (2006).
Diskurse in der bundespolitischen Aufarbeitung der SBZ/DDR-Vergangenheit
1. Die Erinnerungs- und Geschichtspolitik des Bundes 1990-1992
Im Anschluss an die unerwarteten Umstürze und mit dem Ende der DDR befassten sich eine ganze Reihe politischer Maßnahmen mit der Aufarbeitung der DDRVergangenheit. Die Bedingungen hierfür waren 1989 ungleich günstiger als nach 1945. Die Infrastruktur war nicht durch einen Krieg zerstört, Protagonisten der Bürgerbewegungen und Opfer des SED-Regimes brachten die Forderung nach radikalen Reformen ein, schließlich richtete sich die Aufarbeitung an die ausführenden Regierungsorgane und die politische Elite und weniger – wie nach 1945 – an die gesamte Bevölkerung.
1.1 V ERGANGENHEITSPOLITIK Zu den vergangenheitspolitischen Maßnahmen gehörten u.a. die strafrechtliche Verfolgung von Regierungskriminalität (VP-Verfahren, Mauerschützenprozesse, Wahlfälschverfahren, etc.), die Klärung von Wiedergutmachungen und Entschädigungsforderungen, die Disqualifizierung von Personen im Öffentlichen Dienst der DDR (insbesondere diejenigen mit Stasi-Kontakten), die Öffnung der Stasi-Akten, Rehabilitierungsmaßnahmen sowie die Schaffung des Gesetzes zum Umgang mit den Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (StUG)1 und damit einhergehend die Einrichtung der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (Gauck-Behörde bzw. BStU), um hier nur einiges Wesentliche zu nennen. Diese vergangenheitspolitischen Maßnahmen wurden, anders als vielfach angenommen, bereits unmittelbar nach Öffnung der Grenzen und dem Sturz Erich Honeckers, noch im November 1989 von der DDR-Regierung eingeleitet und im Laufe des Jahres 1990 unter den Regierungen von Hans Modrow und Lothar de Maiziére sowie dem »Runden Tisch«2 bis zur Vereinigung am 03. Oktober 1990 angescho-
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Das Gesetz zum Umgang mit den Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (StUG) wurde im Dezember 1991 verabschiedet und trat am 01. Januar 1992 in Kraft. Der »Runde Tisch« wurde im Dezember 1989 eingerichtet und trug wesentlich zur Überwindung der realsozialistischen Strukturen in der DDR bei. Im »Runde Tisch«
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ben.3 Insbesondere Petra Bock sowie die Autorinnen Peschel-Gutzeit und Geigle weisen darauf hin, dass in diesem Zusammenhang in keinem Fall von einer »Siegerjustiz« der Alt-BRD gegenüber der DDR und Ex-DDR gesprochen werden könne, der Aufklärungsdruck sei von Ostdeutschen ausgegangen, die Urteile und Regelungen seien vergleichsweise milde ausgefallen4 und die BRD habe anfangs kaum Interesse daran gezeigt, »Köpfe rollen« zu sehen. Im Gegenteil, die Regierung der BRD habe einerseits eine voreilige »Systementlastung« des Unrechtssystems der DDR auf Kosten von wenigen »Opferlämmern« und zweitens das »Überlaufen« von Informanten der Staatssicherheit u.a. zum KGB befürchtet. Vergangenheitspolitisch habe die BRD unmittelbar nach der Wende die Ziele verfolgt, durch Amnestie-Regelungen, der Regelung »Rückgabe vor Entschädigung«, die Anwendung der »Radbruch’schen Formel«5 sowie die Inkaufnahme von Stasi-Überläufern, den Einigungsprozess zu befördern, Sieger- oder gar Lynchjustiz entgegenzuwirken und Diskreditierungen auch der Alt-BRD aus realpolitischem Kalkül zu verhindern. Bock kommt zu dem Resultat, dass in der Anfangsphase der Aufarbeitung pragmatische Überlegungen in den meisten Bereichen der Vergangenheitspolitik Oberhand
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waren – auch außerparlamentarische – Opposition und Regierung in Form eines demokratischen Forums vertreten. Alle Teilnehmer konnten gleichberechtigt zusammenarbeiten, um demokratische Strukturen zu entwickeln, d.h. eine Demokratisierung der DDR zu fördern. Er befasste sich unmittelbar mit tagespolitischen Lösungen für den Umgang mit dem DDR-Erbe. Gespräche an »Runden Tischen« fanden 1989 auch in Polen, in Ungarn, der Tschechoslowakei, Rumänien und Bulgarien statt. Die »Runden Tische« waren daher Gremien, die regierungsberatende und regierungsvorbereitende Funktionen erfüllten, und die wesentlich zum Ende der kommunistischen und sozialistischen Regierungen in Europa – sowie in Deutschland zur Vereinigung von BRD und DDR – beigetragen haben. Peschel-Gutzeit, Lore-Maria/Geigle, Birgit: »Die Bedeutung des Nürnberger Juristenprozesses für die justizielle Bearbeitung der DDR-Vergangenheit«, in: König, Helmut/ Kohlstruck, Michael/Wöll, Andreas (Hg.): Vergangenheitsbewältigung (1998), S. 120ff; Smolar, Aleksander: »Vergangenheitspolitik nach 1989. Eine vergleichende Zwischenbilanz«, in: Transit. Europäische Revue 18 (1999), S. 81ff; Bock, Petra: »Vergangenheitspolitik in der Revolution von 1989«, in: dies./Wolfrum, Edgar (Hg.): Umkämpfte Vergangenheit (1999), S. 89ff. Siehe hierzu u.a. der kritische Kommentar von Thomas Ammer zum ersten Mauerschützenprozess bzgl. der Ermordung von Chris Gueffroy am 6. Februar 1989: Ammer, Thomas: »Es ist nicht alles Recht«, in: Deutschland Archiv 2 (1992), S. 118ff. Die »Radbruch’sche Formel« besagt die ausschließliche Anwendung des DDR-Rechts für Unrechtstaten, die in der DDR geschahen. Sie wird juristisch häufig als »Rückwirkungsverbot« angeführt. Auf die Problematik der Anwendung des Rückwirkungsverbotes, gerade im Bezug auf Menschenrechtsverletzungen, kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Da der Einigungsvertrag keine eindeutige Regelung für diese Fälle vorsieht, obliegt es der Justiz, in Fällen extremen staatlichen Unrechts und offenkundigen Menschenrechtsverletzungen, dieses Rückwirkungsgebot zu lockern.
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gewonnen und Wiedergutmachungsregelungen und Rehabilitierungslösungen nur zu einen geringen politischen Gewinn geführt hätten.6
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Die Erinnerungs- und Geschichtspolitik des Bundes bis 1992 war gekennzeichnet durch geschichtspolitische Sofortmaßnahmen und die frühe Suche nach »Gründungsmythen«, durch den Fokus auf Ostdeutschland und ein überwiegendes Desinteresse der politischen Elite (insbesondere der westdeutschen) an der Ausbildung einer Forschungs- und Erinnerungskultur zur SBZ/DDR-Vergangenheit. Ein politisches Bewusstsein für die Notwendigkeit einer umfassenden Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit bestand regierungsseitig zunächst nicht. Vielmehr überwog die Meinung, jegliche Politik mit der Geschichte, die sich vom Kalten Krieg genährt hatte, könne nach dem Ende des Kalten Krieges langfristig ad acta gelegt werden. Mit den geschichtspolitischen Sofortmaßnahmen, wie die Demontage von Denkmälern und Symbolen des Sozialismus, die Umbenennung von Straßen und der zügige Abriss der Berliner Mauer, die Einführung des 03. Oktobers als »Tag der deutschen Einheit«, die Abschaffung von »DDR-Gedenktagen« (so der »Tag der Erinnerung« am zweiten Septembersonntag), die weitgehende Entlassung von DDR-Historikern, etc. schienen bis 1992 die geschichtspolitische Demontage des DDR-Regimes seitens der Bundesregierung beendet.7 Im Sinne der konservativen Regierung wurde dieser »Kahlschlag sozialistischer Geschichtssymbole« begleitet von einer Suche nach neuen »Gründungsmythen« zur »deutschen Einheit«. Zu diesen Gründungsmythen gehörte die Uminterpretation des 17. Juni 1953 zu einem Vorboten des 09. November 1989,8 die einseitige Bewertung des deutschen Herbs-
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Bock, Petra: »Vergangenheitspolitik«, in: Bock, Petra/Wolfrum, Edgar (Hg.): Umkämpfte Vergangenheit (1999), S. 98. Sie kommt mit ihrer Einschätzung zu einem gegenteiligen Urteil als das von Timothy Garton Ash. Er zieht einen Vergleich zwischen Deutschlands Vergangenheitsaufarbeitung und der anderer postsozialistischer und postkommunistischer Systeme in Europa. Der Vergleich läuft darauf hinaus, dass Deutschland das einzige Land sei, das alle vier möglichen Wege der Vergangenheitsaufarbeitung konsequent beschritten habe. Diese Wege der Aufarbeitung seien a) strafrechtliche Verfolgung, b) personelle Säuberung (Lustration), c) die Einsetzung von Wahrheitskommissionen sowie d) wissenschaftliche, publizistische und individuelle Aufarbeitung (durch Aktenöffnung). Deutschland habe somit eine vorbildliche Vorreiterrolle eingenommen; vgl.: Ash, Timothy Garton: »Vier Wege zur Wahrheit«, in: Die Zeit vom 2.10.1997. Siehe hierzu insbesondere Eckert, Rainer: »Straßenumbenennungen. Revolutionsforderung oder Ausdruck westlicher Kolonisierung«, in: Striefler, Christian/Templin, Wolfgang (Hg.): Von der Wiederkehr des Sozialismus. Die andere Seite der Wiedervereinigung, Berlin 1996, S. 215ff. Vgl. Wolfrum, Edgar: Geschichtspolitik (1999), S. 356.
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tes 1989 (als eine »Abstimmung mit den Füßen« mit dem Ziel »deutsche Einheit«)9 sowie die Mythen um die ruhmreiche Bürgerbewegung und die Oppositionsgruppen,10 um hier nur einige zu nennen. Diese Sofortmaßnahmen bis 1992 und die Pflege der frühen »Gründungsmythen« entsprachen dem Regierungswunsch einer schnellst möglichen Bundesrepublikanisierung der Ostdeutschen, unter Preisgabe aller Bezüge zur DDR-Vergangenheit und ihrer Geschichtsbilder. Weniger harmonisch und generalstabsmäßig verlief hingegen die Geschichtsaufarbeitung an der Basis. So hatte es bereits 1990 ein regelrechtes Feuer der Aufklärung und Erinnerungsarbeit der bis 1989 zwangsverstummten Opfer der SBZ/DDR gegeben, unterstützt von unterschiedlichen Bürgerbewegungen und Opferverbänden. Spätestens ab 1992 jedoch drohte dieses Feuer aus Mangel an finanzieller Unterstützung, durch Fixierungen auf den Staatsterror, die Staatssicherheit und stalinistische Verbrechen sowie durch die alltäglichen Probleme der Bürger der neuen Bundesländer vollends zu erlöschen.11 Standen bis 1992 regierungsseitig vor allem vergangenheitspolitische Aspekte im Mittelpunkt des politischen Interesses, rückten nach 1992 erinnerungs- und geschichtspolitische Aspekte verstärkt in den Vordergrund, um einerseits vergangenheitspolitische Regelungen zu untermauern, andererseits einer »Katerstimmung« (z.B. durch eine beginnende DDR-NostalgieWelle,12 eine zunehmende Positivierung der DDR-Geschichte und eine anwachsende Enttäuschung über die Folgen der Vereinigung) nach 1992 entgegenzuwirken.13
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Oftmals wird das Ende der DDR in diesen Urteilen als zwangsläufig dargestellt und die Geschichte der DDR von ihrem Ende her interpretiert. Diese Einschätzungen ignorieren die Tatsache, dass die deutsche Einheit ursprünglich nicht das Ziel der DDRReformforderungen im Herbst 1989 war, sondern erst eine Folge gescheiterter interner Reformen, vgl. Ash, Timothy Garton: »Zehn Jahre danach«, in: Transit. Europäische Revue 18 (1999), S. 5ff sowie Spreen, Dirk: »Schamkultur und Bußgemeinschaft. Die deutsche Erinnerungskultur ist nicht zeitgemäß«, in: Frankfurter Hefte 12 (2001), S. 720ff. 10 Pollack, Detlef: »Was ist aus den Bürgerbewegungen und Oppositionsgruppen der DDR geworden?«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 40-41 (1995), S. 34ff. 11 Boll, Friedhelm: »Thesen zur Wahrnehmung der politischen Repression in der SBZ/DDR seit der Wende«, in: ders./Bouvier, Beatrix/Mühlen, Patrik von zur: Politische Repression in der SBZ/DDR und ihre Wahrnehmung in der Bundesrepublik, Bonn 1999, S. 24. Boll spricht von einem »Erinnerungsschock«, der 1990-1992 zu einem starken Anstieg der Häftlingsaktivitäten und dem Wunsch nach politischer Auseinandersetzung mit der DDRVergangenheit geführt habe, dann zunehmend im Krisenjahr 1993 abgelöst worden sei von Schlussstrich-Forderungen von Seiten der ostdeutschen Regierungsparteien CDU, SPD und insbesondere der PDS. 12 Vgl. u.a. Broder, Henryk M.: »Wir lieben die Heimat«, in: Der Spiegel 27 (1995), S. 54ff; Schröder, Richard: »Hilfe, wir verosten!«, in: Die Zeit vom 29.03.1996; Berg, Stefan: »Löffeln auf Ostdeutsch«, in: Der Spiegel 36 (1999), S. 70f; kritische Kommentare zu diesen Tendenzen finden sich auch bei Striefler, Christian/Templin (Hg.): Von der Wiederkehr des Sozialismus (1996); Pergande, Frank: »Der Sozialismus siegt. Chronik eines Kulturkampfes mitten in Deutschland«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 05.10.2001, S. 11; Mühlberg, Dietrich: »Vom langsamen Wandel der Erinnerung an die
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Insbesondere der »Fall Stolpe« wird in der Literatur häufig als Wendepunkt in der bundespolitischen Auseinandersetzung mit der SBZ/DDR-Vergangenheit bezeichnet. Die gezielte Verharmlosung der Stasi-Aktivitäten Manfred Stolpes und die Niederschlagung des Verdachts auf seine Tätigkeit als inoffizieller Mitarbeiter (IM) der DDR-Staatssicherheit, löste einerseits Kritik an den Medien aus, die inquisitionsgleich eine ernsthafte Auseinandersetzung verhindert und zu einer Spaltung der West- und Ostdeutschen beigetragen hätten, andererseits wurde eine wirksame justizielle Auseinandersetzung nach dem Stolpe-Fall stark angezweifelt.14 Der »Fall Stolpe« trug dazu bei, dass die Glaubwürdigkeit der DDR-Aufarbeitung zunehmend schwand und sogar der Ruf nach einem Schlussstrich parteiübergreifend wie außerparlamentarisch lauter wurde.15 Für Frieso Wielenga sind noch zwei weitere Faktoren ausschlaggebend gewesen für die »Ermüdungserscheinungen« in der Vergangenheitsaufarbeitung. Er weist darauf hin, dass vor allem die (nicht zu Unrecht) hochgradig moralisierenden und emotional intensiven Formen der Auseinandersetzung kurz nach 1990 (forciert insbesondere durch ehemalige SBZ/DDR-Häftlinge und DDR-Oppositionelle) sowie die vorhandene Allgegenwärtigkeit von Enthüllungen und Schwarz-Weiß-Bildern der DDR-Vergangenheit in den Medien ursächlich gewesen seien: »Was sich nach 1945 im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in Phasen nacheinander vollzog, spielte sich nun alles zugleich und in großer emotionaler Heftigkeit ab.«16 Schließlich wurde – gewissermaßen als Reaktion auf Verharmlosungstendenzen und im Einklang mit der Fixiertheit auf die DDR-Staatssicherheit und den Herrschaftsapparat – das bestehende Aufarbeitungsvakuum politisch stark einseitig gefüllt von konservativen Wissenschaftlern und Politikern, die in der Forcierung wiederauflebender totalitarismustheoretischer Forschungsansätze und in der Gründung eines diesbezüglichen Forschungsinstituts ihrerseits die Richtung der SBZ/DDRAufarbeitung festlegen wollten. Bereits ab Sommer 1991 plante die Sächsische
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DDR«, in: Jarausch, Konrad H./Sabrow, Martin (Hg.): Verletztes Gedächtnis (2002), S. 222ff. Bock, Petra: »Vergangenheitspolitik«, in: Bock, Petra/Wolfrum, Edgar (Hg.): Umkämpfte Vergangenheit (1999), S. 83, 87. Zum »Fall Stolpe« siehe auch Nooke, Günter: »Aufklärung und Verklärung«, in: Striefler, Christian/Templin (Hg.): Von der Wiederkehr des Sozialismus (1996), S. 80ff. Mit Schlussstrich-Forderungen ist gemeinhin die Forderung nach einem Ende der justiziellen, personellen und der öffentlichen Geschichtsaufarbeitung gemeint. Schlussstrichforderungen gehen einher mit dem Wunsch der Rückkehr zu einer Normalität, um zur Tagesordnung übergehen zu können (»normaler Staat«) indem ein Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen wird. Aufarbeitung wird als ein Hindernis für die Gegenwartsund Zukunftsgestaltung verstanden. Siehe zu Schlussstrichforderungen bzgl. der DDRAufarbeitung auch u.a. Fricke, Karl-Wilhelm: »Stasi-Erbe und Vergangenheitsbewältigung«, in: Deutschland Archiv 2 (1992), S. 113-114; Wielenga, Frieso: »Schatten der deutschen Geschichte«, in: Deutschland Archiv 10 (1994), S. 1071ff. Ebd., S. 1064.
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CDU ein »Institut für Totalitarismusforschung« in Sachsen aufzubauen, das die SBZ/DDR-Geschichtsaufarbeitung aufs Engste mit der Totalitarismusforschung zu verzahnen vorsah.17 Schon im April 1991 hatte der Sächsische Landtag über eine Gründung eines »Instituts zur Erforschung des Widerstands gegen Diktatur und Gewaltherrschaft 1918 bis 1990 in Sachsen« positiv entschieden, dieses sollte nunmehr im Totalitarismusforschungszentrum aufgehen, das nun den Schwerpunkt auf einen generellen Systemvergleich (Nationalsozialismus und Kommunismus) ausweitete. Dies sorgte für Diskussionsstoff und löste erhebliche Kritik aus, wurden doch auf diese Weise vorschnell Analogien zur NS-Diktatur und Kontinuitäten zwischen NS und SBZ/DDR in den Vordergrund gerückt bzw. konstruiert und zu leitenden Prämissen der Aufarbeitung der SBZ/DDR-Vergangenheit erklärt. Als Verharmlosungs-, Nivellierungs- und Relativierungsstrategie lehnten linke Wissenschaftler und insbesondere NS-Opfer-Vertreter die totalitarismustheoretische Dominanz in der SBZ/DDR-Geschichtsaufarbeitung ab.18 Trotz aller Vorbehalte nahm das Institut im März 1992 seine Arbeit auf.19 Dies war insofern ein Politikum, als das unterdessen die ehemaligen zentralen Mahn- und Gedenkstätten und die zahlreichen zwischen Herbst 1989 und Beitritt 1990 gegründeten Bürgerinitiativen zur Aufarbeitung verschiedenster Bereiche der DDR-Vergangenheit existenziell bedroht waren und es insbesondere den Gedenkstätten an Kapazitäten, Personal und finanziellen Mitteln mangelte, um die Bildungs- und Ausstellungsarbeit nach wissenschaftlichen Standards grundlegend überarbeiten und die ehemaligen DDR-Gedenkstätten modernisieren und neu gestalten zu können. Zudem drängte sich inzwischen die Notwendigkeit auf, neben den bestehenden anerkannten historischen Orten und Denkmalen, auch den Umgang mit den hinzugekommenen SBZ/DDR-bezogenen historischen Orten grundlegend klären zu müssen. Hierzu zählten die Orte, an denen es »Speziallager« nach 1945 gegeben hatte, ehemalige Haftanstalten, Orte der deutschen Teilung und ehemalige Machtzentren wie das Haus I der Zentrale der DDR-Staatssicherheit in der Berliner Normannenstraße. Um in diesem Klima einem Schlussstrich einerseits und Nivellierungstendenzen (gerade im konservativen Lager) andererseits entgegenzuwirken, drängte sich eine verstärkte Erinnerungs- und Geschichtspolitik des Bundes als Interventionsmittel auf, zum einen als Gegengewicht zum Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (HAIT) und weitere Säule wissenschaftlicher und politischer Auseinandersetzung zur Aufdeckung historischer Tatsachen des kollabierten DDR-Systems,
17 CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages: Pressemitteilung vom 08.07.1991, StAufarb, Bestand: Markus Meckel, Nr. 121; Sächsischer Landtag, Drs. 1/961 vom 21.11.1991. 18 Wallbaum, Klaus: »Wissenschaftler streiten über die Erforschung der SED-Diktatur«, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 30.09.1991; o.V.: »Unsere Geschichte wird uns viel Geld kosten«, in: Dresdner Neueste Nachrichten vom 30.09.1991; Leyrer, Katja: »Nicht unsere Sache«, in: Konkret, Nr. 12, 1992; ArGBZ, Bestand: Historische Pressesammlung, 1991-2002 [HP, 1991-2002]. 19 Bäumel, Matthias: »Diktaturen erzeugen seit jeher Anpassung und Widerstand«, in: Dresdner Neueste Nachrichten vom 19.03.1992.
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zum anderen zur Legimitation des Nachfolge-Status quo der vereinigten BRD, schließlich, drittens zur Sicherstellung der ehemaligen Nationalen Gedenkstätten der DDR und der Aufarbeitungsinitiativen an historischen Orten von gesamtstaatlicher Bedeutung in Ostdeutschland. Im Anschluss an die Klärung vergangenheitspolitischer Aspekte, gefördert durch ein Aufflackern von Schlussstrich-Forderungen und dem Ruf nach Vergessen20 sowie einer neuen Konjunktur totalitarismustheoretischer Deutungsansätze, rückten also Fragen nach der wissenschaftlichen und politischen Beurteilung des DDR-Systems, dem neuen Selbstverständnis der Deutschen, der Neuorientierung Gesamtdeutschlands als Staat (von einem postnationalen Dasein zu einer Nationalstaatlichkeit mit europäischer Provinienz) und Fragen nach dem öffentlichen Umgang mit der dreifachen Zeitgeschichte21 ins Zentrum der Betrachtung.22 Was sollte in welcher Form öffentlich erinnert werden? Welche Gedenk-Einrichtungen und Initiativen sollten durch welche politischen Maßnahmen auf sichere Standbeine gestellt werden? Wie sollte mit den Gedenkstätten der ehemaligen DDR verfahren werden? Wie sollte die öffentliche Erinnerung an die DDR und ihre Opfer insgesamt aussehen? Diese Fragen standen für den Klärungsbedarf, welche Traditionen und Symbole wiederzubeleben seien und zum Bestandteil einer kollektiven Identität werden sollten, und wie mit dem Erbe der DDR langfristig umzugehen sei.23 Mit 1992 begann folglich auf Bundesebene der »endlose Kampf um die Interpretation von 1989«24 und die debattenreichen Auseinandersetzungen um die Deutung der DDR-Vergangenheit sowie der Formen ihrer Erinnerung.25 Erinnerungsund geschichtspolitische Instrumente und Debatten nach 1992 brachten daher aufs
20 Gegen den Ruf nach einem Schlussstrich und gegen das Ende der Vergangenheitsaufarbeitung erhob insbesondere der damalige sächsische Umweltminister Arnold Vaatz öffentlich die Stimme; vgl.: Vaatz, Arnold: »Die unzureichende Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.07.1993, S. 4, o.V.: »Vaatz kritisiert westdeutsche Politiker. Ostdeutsche Appelle gegen ein Ende der Vergangenheitsaufarbeitung«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.10.1994, S. 7 21 Bernd Faulenbach meint mit der dreifachen Zeitgeschichte erstens, die des Nationalsozialismus, zweitens, die der DDR und drittens, die der Alt-BRD. Laut Faulenbach zwinge die Wende zu einer historisch-wissenschaftlichen, einer geschichtskulturellen und erinnerungs- und geschichtspolitischen Auseinandersetzung mit diesen drei Vergangenheiten; vgl.: Faulenbach, Bernd: »Die doppelte ›Vergangenheitsbewältigung‹. Nationalsozialismus und Stalinismus als Herausforderungen zeithistorischer Forschungen und politischer Kultur«, in: Danyel, Jürgen (Hg.): Die geteilte Vergangenheit (1995), S. 107. 22 Ebd. 23 Probst, Lothar: »Deutsche Vergangenheiten – Deutschlands Zukunft. Eine Diagnose intellektueller Kontroversen nach der Wiedervereinigung«, in: Deutschland Archiv 2 (1994), S. 174. 24 Ash, Timothy Garton: »Zehn Jahre danach«, in: Transit. Europäische Revue 18 (1999), S. 10; siehe hierzu auch Hacker, Jens: Deutsche Irrtümer (1994). 25 Kleßmann, Christoph/Misselwitz, Hans/Wichert, Günter (Hg.): Deutsche Vergangenheiten (1999), S. 10ff.
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Ganze gesehen eine neue Qualität in die Auseinandersetzung um die Vergangenheit der DDR. Sie sollten weg von der »Enthüllungshistorie« sowie mediendominierter Skandale und Moralisierung, weg von einer rein totalitarismustheoretischen Deutung der SBZ/DDR-Vergangenheit hin zu einem tieferen Verständnis, zu einer breiteren Thematisierung der DDR-Geschichte führen und ein mittel- bis langfristiges Fundament zur Geschichtsaufarbeitung schaffen. Dabei ging es auch um das Gewährleisten und das zukünftige Sicherstellen. Zu diesem Zweck bediente sich die Regierung nach 1992 einem Quintett »geschichtspolitischer Instrumente«: zwei Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages (1992-1994, 1995-1998), die Einrichtung einer Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (1998), das Schaffen eines »Geschichtsverbundes SEDDiktatur«, das Errichten von Denkmälern und Regelung der Bundesbeteiligungen an Gedenkstätten in Form der Gedenkstättenkonzeptionen des Bundes (1994, 1999, 2008). Diese »Instrumente« erfüllten dabei eine Doppelfunktion: sie wurden zum einen Orte geschichtspolitischer Auseinandersetzungen über die Deutung und den Umgang mit der DDR-Vergangenheit, und zum anderen wurden sie benutzt, um geschichtspolitische Interessen durchzusetzen und dauerhaft zu verankern. Der Prozess der sich im Wandel begriffenen Erinnerungs- und Geschichtspolitik nach 1992 soll im Folgenden genauer betrachtet werden. Die Debatten um Denkmalsetzungen werden dabei außen vor gelassen und nur die bundespolitischen Auseinandersetzungen zu konkreten gedenkstättenpolitischen Maßnahmen untersucht.
2. Die Auseinandersetzung der Parteien im Deutschen Bundestag 1992-1998
2.1 D IE B ETEILIGUNG DES B UNDES AN EINZELNEN G EDENKSTÄTTEN
BIS
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Bereits Mitte der 80er Jahre hatte die SPD für eine gesamtstaatliche Verantwortung für Gedenkstätten durch den Bundestag plädiert, die Chance 1990 im Einigungsvertrag hierfür eine Regelung zu finden, wurde jedoch verpasst. Kulturpolitisch übertrug der Einigungsvertrag in Artikel 35 die Kulturhoheit auf die Länder, damit wurde am föderalistischen Prinzip festgehalten. Das Ziel war, den DDR-Zentralismus durch diesen Föderalismus kulturpolitisch zu überwinden und damit das Prinzip der Alt-BRD in Gesamtdeutschland durchzusetzen.1 Wegen der Unklarheit über die Zukunft der übrigen ehemaligen zentralen DDRGedenkstätten und der dringlichen Notwendigkeit ihrer inhaltlichen Überarbeitung, aber auch aufgrund der chronischen Unterausstattung der NS-Gedenkstätten in Westdeutschland und der ebenfalls existenziellen Bedrohung vieler kleinerer Aufarbeitungsinitiativen in Ostdeutschland, war es vor allem die SPD, die als treibende Kraft früh dafür plädierte, Kriterien für eine Bundesförderung zu entwickeln und diese auszubauen, schienen alte wie neue Länder doch mit dieser hoheitlichen Aufgabe finanziell zusehends überfordert. Ihr ging es dabei nicht nur um eine Bundesförderung der Gedenkstätten der fünf neuen Bundesländer, sondern prinzipiell auch um die Ausstattung der Gedenkstätten in den alten Bundesländern. Sie strebte eine gesamtdeutsche Lösung durch den Bund an, in Form einer umfassenden Beteiligung des Bundes an den Gedenkstätten in Deutschland. Bereits September 1991 brachte die Bundestagsfraktion der SPD einen ersten entsprechenden Antrag über eine einheitliche Bundesregelung zu Mahn- und Gedenkstätten in der BRD ein, der die Bundesregierung dazu aufforderte, eine Gesamtkonzeption zur Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten zu erarbeiten und vorzulegen.2 Die Forderungen, dieses Konzept solle besonders die Orte berücksich-
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Vergin, Siegfried: »Wende durch die ›Wende‹. Der lange kurze Weg zur Gedenkstättenkonzeption des Bundes«, in: Stiftung Topographie des Terrors (Hg.): Gedenkstättenrundbrief 100 (2001), S. 91-92. MI LSA: Vermerk vom 06.10.1992, ArMI LSA, Bestand: 11331-10, Band 1.
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tigen, die sowohl der Opfer des Nationalsozialismus als auch der Opfer des Stalinismus gedachten, und die verschiedene Opfergruppen berücksichtigen ohne dabei einseitige Hervorhebungen vorzunehmen.3 Mit einem zweiten, umfassenderen Antrag im August 1992 weitete die SPDFraktion ihre Forderung nach einer bundespolitischen Lösung der Gedenkstättensituation auf das Gebiet der gesamten Bundesrepublik aus und ergänzte sie den Antrag aus dem Vorjahr um eine Bundesbeteiligung an den NS-Gedenkstätten in Westdeutschland sowie um mögliche Förderkriterien bzw. -bedingungen für alle Mahn- und Gedenkstätten in der BRD. Zugleich hielt die SPD geschichtspolitisch den Konservativen entgegen, dass sich eine Gleichsetzung von NS-Diktatur und SED-Herrschaft aufgrund ihrer Verschiedenheit verbiete und ideologische Instrumentalisierungen in Gedenkstätten vielmehr generell zu überwinden seien. Das Gebot: »Die NS-Verbrechen dürfen weder durch die Verbrechen des Stalinismus relativiert noch die Verbrechen des Stalinismus mit Hinweis auf die NSVerbrechen bagatellisiert werden«, schlug sich nicht nur wortwörtlich im Antrag nieder.4 So empfahl der Antrag, dass vormalige autoritäre, doktrinäre Formen der jeweiligen Gedenkstättenarbeit bei den einzelnen Neukonzeptionen thematisch berücksichtigt werden sollten und besonders die Orte zu fördern seien, an denen es politisch Verfolgte aufeinanderfolgendes Unrechts gegeben habe.5 Letztere Empfehlung wurde wohl v.a.a. mit Blick auf zahlreiche Sozialdemokraten ausgesprochen, die sowohl zwischen 1933 und 1945 als auch ab 1946 Opfer politischer Verfolgung wurden. Neben diesem gedenkstättenpolitischen Forderungen legte die SPD parallel einen dritten Antrag vor, der die Zuständigkeit des Bundes nicht nur hinsichtlich der Gedenkstätten innerhalb der deutschen Grenzen einforderte, sondern zusätzlich eine Beteiligung des Bundes an den Gedenkstätten Auschwitz-Birkenau und Theresienstadt verlangte. Für die Gedenkstätte Auschwitz wurde eine finanzielle Unterstützung gefordert, für die Gedenkstätte Theresienstadt eine dauerhafte Beteiligung an der damals in Planung befindlichen Trägerstiftung. Damit wurde die Bundesverantwortung in Gänze nicht nur ausgeweitet auf Gedenkstätten von gesamtstaatlicher sondern insbesondere auch auf Gedenkstätten von internationaler Bedeutung im osteuropäischen Ausland.6 Die CDU/CSU/FDP-Regierungsfraktion hielt dagegen prinzipiell am Fokus auf die ostdeutschen Bundesländer fest und lehnte Bundesbeteiligungen mit Verweis auf die Zuständigkeit von Ländern und Kommunen generell ab. Zunächst sah die Bundesregierung ihre Pflicht ausschließlich durch das Errichten einer zentralen Gedenkstätte zum Gedenken aller Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft in der Neue Wache Berlin erfüllt. Die Kultusministerkonferenz und das BMI pflichteten der schwarzgelben Regierungsfraktion bei. Den Aufbau von Gedenkstätten für die Op-
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Deutscher Bundestag (Dt. BT), Drs. 12/1189 vom 25.09.1991, PA Dt. BT. Dt. BT, Drs. 12/3179 vom 21.08.1992, PA Dt. BT. Ebd. Dt. BT, Drs. 12/3178 vom 21.08.1992, PA Dt. BT.
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fer des Stalinismus und zur Erinnerung der deutschen Teilung befürworteten sie ausnahmslos in der Kompetenz der Bundesländer.7 Bei ihrem Votum bezogen sich CDU und FDP v.a. auf frühe Stellungnahmen des Instituts für Zeitgeschichte und des DHM, die – ausgelöst von den Überlegungen im Haushaltsausschuss im Herbst 19908 – bereits bis Anfang des 1991 eingeholt worden waren und in denen eine Ausweitung der Bundesbeteiligung als »wissenschaftlich befriedigend nicht zu begründen« abgelehnt wurde.9 So argumentierte insbesondere das Institut für Zeitgeschichte: »Der demokratische Meinungsstreit und die offene politische Auseinandersetzung auch über den Umgang mit der NS-Vergangenheit und die Formen des Gedenkens ihrer Opfer ist jedoch kein Schwachpunkt, sondern ein Zeichen der Stärke der pluralistischen Gesellschaftsordnung. Nur in einer demokratisch verfassten Gesellschaft, die ohne ein ›offizielles Geschichtsbild‹ auskommt, kann der Entstehung von historischen Legenden und Tabus nachhaltig entgegengewirkt werden. Daraus ergibt sich, dass auch im Hinblick auf eine gesamtstaatliche Unterstützung oder Initiierung (zeit-)geschichtlicher Erinnerungsstätten besondere Zurückhaltung angezeigt ist.«10
Bei dieser Einschätzung ging das Institut für Zeitgeschichte von offenkundig nur von Westdeutschland aus, das eine gewachsene Landschaft an Aufarbeitungsvereinen, Geschichtswerkstätten usw. in Bezug auf die NS-Diktatur vorwies. Es riet daher zur Projektförderung und Unterstützung von Initiativen und Arbeitskreisen. Da es in Ostdeutschland eine solche, mit den 68er-Bewegung geborene, bürgerschaftlich organisierte Aufarbeitungslandschaft, die als Empfängerin von solch empfohlener Projektförderung profitierte, insbesondere in Bezug auf den Zeitraum 1945-1989 nicht gab, blieb in der Empfehlung des Instituts unberücksichtigt. Das DHM, das aufgrund seiner eigenen »Staatlichkeit« und seiner eigenen starken Eingebundenheit in verschiedene Gedenkstätten- und Denkmalvorhaben in Ostberlin eine weniger rigide Position vertrat, schlug zumindest eine konkrete Einzelfallprüfung im Falle der Gedenkstätten Buchenwald, Sachsenhausen, Bergen-Belsen, Ravensbrück, Neuengamme, Mittelbau-Dora, Bernburg, sowie in Bezug auf die Orte von gesamtstaatlicher Bedeutung in Berlin und Umgebung bzw. Brandenburg vor.11
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Kultusministerkonferenz (KMK): Empfehlung vom 09.10.1992, StAufarb, Bestand: Enquete-Kommission (13. WP), SED 65; MI LSA: Vermerk vom 06.10.1992, ArMI LSA, Bestand: 11331-10, Band 1. 8 Zwischen BMI und dem Institut für Zeitgeschichte hatte es schon im Dezember 1990 ein Treffen hierzu gegeben, vgl. Institut für Zeitgeschichte: Stellungnahme vom 15.01.1991, ArMI LSA, 11331-10, Band 1. 9 BMI: Gesamtkonzeption zur Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland, Stand: 02.05.1992, S. 2, ArMI LSA, 11331-10, Band 1. 10 Institut für Zeitgeschichte: Stellungnahme vom 15.01.1991, S. 3, ArMI LSA, 11331-10, Band 1. 11 DHM: Stellungnahme, o.D., ArMI LSA, 11331-10, Band 1.
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Die am 05. Mai 1992 vom BMI als erste Fassung vorgelegte »Gesamtkonzeption zur Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland« formulierte zwar nun konkrete Grundsätze für Bundesbeteiligungen an Gedenkstätten,12 hielt aber – dem DHM folgend – an der Einzelfall-Regelung fest, die zudem auf 10 Jahre befristet wurde. Für 1993 wurden nur sieben Millionen DM für Gedenkstätten in den Bundeshaushalt vorgesehen.13 Damit schien zumindest eine vorläufige Regelung gefunden, die ein knappes dreiviertel Jahr später abgelöst wurde von einer zweiten Fassung, die sich nicht wesentlich von der ersten unterschied, außer dass sie jetzt direkt als Kabinetts- bzw. Beschlussvorlage diente.14 Am 24. März 1993 stimmte der Haushaltsausschuss ihr zu, mit der Maßgabe, dass die finanzielle Beteiligung auf die neuen Bundesländer beschränkt bleibe.15 Im Hintergrund begannen daraufhin zähe Verhandlungen und wurden unter Hinzuziehung von Sachverständigen erste Einzelfallentscheidungen getroffen. Dies betraf jedoch nur die ehemaligen Mahn- und Gedenkstätten Buchenwald und Sachsenhausen sowie die Berliner NS-Gedenkstätten Haus der Wannseekonferenz, »Topographie des Terrors« und die Gedenkstätte Deutscher Widerstand im Bendlerblock. Für die beiden letzten Gedenkstätten wurde bereits im Juni 1993 eine institutionelle Bundesförderung befürwortet.16 Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas und die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, inklusive der Gedenkstätte Mittelbau-Dora folgten im November 1993.17 Im Bereich der SBZ/DDR-Aufarbeitung wurde bei gleicher Gelegenheit den Gedenkstätten Berlin-Hohenschönhausen, Bautzen und Mödlareuth eine institutionelle Förderung und der Gedenkstätte Torgau Projektmittel in Aussicht gestellt, unter der Voraussetzung, dass Sachsen und Berlin Konzepte vorlegten und landesseitig gegenfinanzierten. Zudem wurde empfohlen, dass der Bund die Errichtungskosten für Gedenkstätte Berliner Mauer übernimmt. Die bundesseitige Förderung einer Gedenkstätte in Marienborn und Waldheim wurde allerdings abgelehnt. Gleiches traf auch NS-Euthanasie-Gedenkstätte Bernburg zu. Die westdeutschen Gedenkstätten Bergen-Belsen, Neuengamme, Dachau usw. tauchten in den Papieren schon gar nicht mehr auf.18 Einen Tag nach Vorliegen der Kabinettsvorlage brachte die Regierungskoalition nachträglich einen eigenen Antrag in den Bundestag ein, der nun ebenfalls die Gedenkstättenfrage zum Gegenstand erhob.19 Er stand in offenkundigem Zusammen-
12 Z.B. die Notwendigkeit einer gesamtstaatlichen, herausgehobenen Bedeutung, das Stehen für einen exemplarischen Verfolgungskomplex, das Bestehen außenpolitischer Bezüge, Forschung und Dokumentation und eines positiven fachwissenschaftlichen Gutachtens. 13 BMI: Gesamtkonzeption zur Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland, Stand: 02.05.1992, S. 3, ArMI LSA, 11331-10, Band 1. 14 BMI: Gesamtkonzeption zur Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland, Stand: 02.02.1993 15 Dt. BT, Drs. 13/8486 vom 05.09.1997, PA Dt. BT. 16 BMI: Ergebnisvermerk vom 09.11.1993, S. 2, ArMI LSA, 11331-10, Band 1. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 3-5. 19 Dt. BT, Drs. 12/6111 vom 10.11.1993, PA Berlin.
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hang mit den bereits im Vorwege getroffenen »Entscheidungen« innerhalb des BMI und der Sachverständigen und zielte darauf ab, ihre Förderempfehlungen nun auch politisch abzusegnen. Die Blöße, hierfür die Anträge der Opposition zugrunde zulegen, gaben sich CDU und FDP also nicht. Auch verzichteten sie auf einen überfraktionellen Antrag zusammen mit der SPD, den Bündnisgrünen und der PDS, was in der späteren Parlamentsdebatte in der Opposition auf harsche Kritik stieß. Die beklagte, dass der Alleingang der Regierung suggeriere, dass es angeblich keinen vorhandenen parlamentarischen und politischen Konsens in der Gedenkstättenfrage gäbe. Dies sei de facto aber nicht so.20 Die grundsätzliche Notwendigkeit, bundesseitig Strukturen zu schaffen für ein dauerhaftes Erinnern und Gedenken beider deutscher Diktaturen stellte – dies wird an anderer Stelle noch genauer analysiert – ja tatsächlich nicht einmal die PDS/Linke in Frage.21 Die Bündnisgrünen attestierten der Regierung sogar pure Augenwischerei, verstecke sich hinter »schwammige[n] Formulierungen« schließlich sogar ein vorgesehenen Einstampfen der Dauerförderung von Gedenkstätten ab 1995.22 Aufgrund der inzwischen fortgeschrittenen Verhandlungslage, bestätigte der Antrag inhaltlich die geplante Neue Wache, die Beteiligung an den Gedenkstätten Buchenwald und Haus der Wannseekonferenz, die Beteiligungen an der Errichtung des Denkmals für die ermordeten Juden und an der Gedenkstätte Berliner Mauer sowie die Prüfungen auf Beteiligung in Bezug auf die Gedenkstätten »Topographie des Terrors«, Sachsenhausen und Ravensbrück. In Bezug auf die Entideologisierung der ehemaligen Mahn- und Gedenkstätten der DDR und die Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten in Osteuropa folgte der CDU-Antrag den Forderungen der SPD-Anträge. Auch die Fördergrundsätze und Kriterien wurden uneingeschränkt und unverändert übernommen. Die CDU hatte sich die SPD-Forderungen vollständig angeeignet.23 Im Unterschied jedoch zu den SPD-Anträgen wurde die CDU/FDP-Fraktion hinsichtlich der Unterstützung einzelner SBZ/DDR-Gedenkstätten allerdings konkreter als die SPD-Entwürfe und empfahl sie die ehemaligen Speziallager, Haftstätten und MfS-Orte stärker bei Bundesbeteiligungen zu berücksichtigen, bei gleichzeitigem weitgehenden Verzicht auf eine Beteiligung an westdeutschen NSGedenkstätten. Die Gesamtkonzeption sollte jetzt nur für ostdeutsche Einrichtungen gelten. Auch gewichtete und differenzierte der Antrag nicht zwischen NS und SBZ/DDR, sondern sprach von »nationalsozialistischer und kommunistischer Herrschaft« sowie von »Ideologien des Nationalsozialismus und des Marxismus« in einem Atemzug.24 Dies weckte die Assoziation, es handle sich bei NS und SBZ/DDR um zwei Seiten ein und derselben Medaille, und erregte gerade deshalb bei den Linken Unmut.25 Die Forderung nach einer Darstellung der Wiedergutma-
20 21 22 23 24 25
Dt. BT: Plenarprotokoll Nr. 12/205 vom 20.01.1994, S. 17723. Ebd., S. 17726. Ebd., S. 17724. Dt. BT, Drs. 12/6111 vom 10.11.1993, S. 2-3 u. S. 5, PA Berlin. Ebd., S. 4. Dt. BT: Plenarprotokoll Nr. 12/205 vom 20.01.1994, S. 17726.
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chungspolitik der Bundesrepublik Deutschland für Opfer des Nationalsozialismus und des Kommunismus, entlarvte die Vorstellungen der Regierungskoalition überdies als grobschlächtiges geschichtspolitisches Instrument des nation buildings auf Basis der Delegitimation zweier Unrechtsregime.26 Dieses war der CDU/FDPKoalition allerdings dann auch nur »Projektmittel« Wert, und damit von reinem »Übergangscharakter«. Von einer bundesweit einheitlichen Regelung frei von Partei- und Geschichtspolitik war die CDU/FDP-Vorstellung einer »Gesamtkonzeption für Gedenkstätten in der BRD« also weit entfernt. Um im Interesse der ostdeutschen Bürgerinitiativen und der SBZ/DDR-Gedenkstätten das Verfahren zusätzlich zu beschleunigen, schaltete sich im Herbst 1993 flankierend die inzwischen eingesetzte Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« ein und strebte sie doch eine gemeinsame Anhörung an, in denen die SBZ/DDR-Gedenkstätten und Aufarbeitungsinitiativen ebenfalls Gehör bekommen sollten.27 Zudem erreichte die Kommission, eigene Sachverständige benennen und an den Fragenkatalog für die Sachverständigen mit gestalten zu dürfen.28 Dieses Ziel wurde im Frühjahr 1994 erreicht. Die Anhörung fand im März unter Hinzuziehung von zahlreichen Beteiligten aus der ostdeutschen Aufarbeitungs- und Gedenkstättenlandschaft statt.29 Ein halbherziger Kompromiss wurde mit der Beschlussempfehlung zur Beteiligung des Bundes an den Gedenkstätten von gesamtstaatlicher Bedeutung parallel zum Ende der ersten Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« geschlossen. Den Sachverständigen wurde darin nicht in allen Punkten gefolgt, sondern stattdessen dem Vorschlag des Innenausschusses. Als kleinsten Nenner bot er an eine Beteiligung des Bundes an der Errichtung des Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin sowie eine Beteiligung am Errichten von Einrichtungen in Berlin zum Gedenken der deutschen Teilung sowie von Gedenkstätten in Haftstätten, die zunächst von der Sowjetunion und in Folge von der DDR genutzt wurden. Für die Gedenkstätte Berliner Mauer bedeutete dies eine Übernahme der Bau- und Investitionskosten bzw. eine Anschubfinanzierung, für die Gedenkstätten Bautzen und Berlin-Hohenschönhausen wurde dies
26 Dt. BT, Drs. 12/6111 vom 10.11.1993, S. 4, PA Berlin. 27 Schreiben des Deutschen Bundestages Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur« Rainer Eppelmann an das BMI Hans Gottfried Bernrath vom 05.10.1993, StAufarb, Enquete-Komission (13. WP), SED 146. 28 Schreiben des Dt. BT Innenausschuss Hans Gottfried Bernrath an die EnqueteKommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur« Rainer Eppelmann vom 14.12.1993, StAufarb, Enquete-Kommission (13. WP), SED 146; EnqueteKommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur« Berichterstattergruppe »Gedenkstätten«: Vermerk vom 21.01.1994, StAufarb, Enquete-Kommission (13. WP), SED 146. 29 Dt. BT, Drs. 12/67 Innenausschuss vom 22.02.1994, StAufarb, Enquete-Kommission (13. WP), SED 146; Lenz, Susanne: »Bonn soll seiner Verantwortung gerecht werden«, in: Berliner Zeitung vom 08.03.1994; o.V.: »Den Opfern«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.03.1994.
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ebenso in Aussicht gestellt. Des Weiteren wurde eine Gesamtkonzeption für die ostdeutsche Gedenkstättenlandschaft empfohlen, so wie es der CDU-Antrag zugrunde legte. Die NS-Gedenkstätten auf dem Gebiet der ehemaligen DDR sollten zudem einer wissenschaftlichen Prüfung und Neugestaltung unterzogen werden. Ferner wurde eine Förderung der Gedenkstätten Auschwitz-Birkenau und Theresienstadt befürwortet.30 Die Beschlussempfehlung erklärte die SPD-Anträge damit für erledigt bzw. empfahl ihre Ablehnung, an ihrer Stelle sollte dem CDU-Antrag stattgegeben werden.31 Sie wurde mit Gegenstimmen der SPD, der Bündnisgrünen und unter Abwesenheit der PDS/Linken Liste angenommen. Die Bundesregierung folgte dieser Empfehlung und förderte bis zur Überarbeitung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes 1999 die Stiftungen Gedenkstätte Buchenwald (ohne Mittelbau-Dora) und Brandenburgische Gedenkstätten (Sachenhausen und Ravensbrück, ohne Zuchthaus Brandenburg). Außerdem einigte sich die Bundesregierung darauf, die großen NS-Gedenkstätten in Berlin in die Bundesförderung aufzunehmen. Hier ging es speziell um die Gedenkstätte Deutscher Widerstand, die Stiftung Topographie des Terrors sowie das Haus der Wannseekonferenz.32 Drittens wurden vier SBZ/DDR-Gedenkstätten in die Bundesförderung aufgenommen, zu ihnen zählte das Deutsch-deutsche Museum Mödlareuth, die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen sowie die beiden sächsischen Einrichtungen Bautzen und Torgau.33 D.h., die Regierungsparteien setzten sich durch. Gefördert wurden in einem festgelegten Zeitraum von 10 Jahren und vornehmlich investiv ausschließlich die Gedenkstätten der neuen Bundesländer und des Landes Berlin von herausragender, gesamtstaatlicher Bedeutung. An den Fördergrundsätzen und -kriterien von 1992 wurde dabei unverändert festgehalten. Wie sich diese Regierungshandeln und die Verhandlungen um Bundesbeteiligung aus der Perspektive der einzelnen Orte darstellte wird an anderer Stelle bei den Einzelfallanalysen näher betrachtet.
2.2 D IE E NQUETE -K OMMISSIONEN DES D EUTSCHEN B UNDESTAGES Zur politischen »Typologie der Aussöhnung« gehören »Wahrheitskommissionen«.34 Sie dienen dem übergeordneten Ziel, Gerechtigkeit walten zu lassen. In ihnen wird das verbrecherische System auf politischer Ebene untersucht und die jeweiligen Mechanismen publik gemacht. Sie bieten zudem häufig ein Forum für Op-
30 Dt. BT, Drs. 12/7884 vom 15.06.1994, PA Dt. BT. 31 Ebd., S. 4. 32 Vergin, Siegfried: »Wende durch die ›Wende‹«, in: Stiftung Topographie des Terrors (Hg.): Gedenkstättenrundbrief 100 (2001), S. 92. 33 Dt. BT, Drs. 13/8486 vom 05.09.1997, PA Dt. BT. 34 Ursprünglich in Lateinamerika erstmals eingesetzt, dienten sie der Aufarbeitung diktatorischer Vorgängersysteme. Vgl. Ash, Timothy Garton: »Diktatur und Wahrheit«, in: Lettre International 40 (1998), S. 14.
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fer und Zeitzeugen, die in diesen Wahrheitskommissionen meistens zum ersten Mal öffentlich zur Sprache kommen.35 Den Weg, Wahrheitskommissionen einzurichten, ist Deutschland nach dem Zusammenbruch der kommunistischen und sozialistischen Staaten in Europa als einziges Land gegangen.36 In Deutschland gab es diese Wahrheitskommissionen in Form zweier Enquete-Kommissionen zwischen 19921998.37 Die erste Enquete-Kommission (1992-1994), mit dem Titel »EnqueteKommission im Deutschen Bundestag zur Aufarbeitung der Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland«, ist im Zusammenhang mit Fragen nach der Geschichtspolitik in den 90er Jahren bedeutend. Die zweite Enquete-Kommission (1995-1998), »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit«, ist für die Belange der Erinnerungspolitik zentral. 2.2.1 Die Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« Bereits 1990 herrschte allgemeiner Konsens in der Bundesrepublik, dass die Geschichte der DDR aufgearbeitet werden müsse, unklar war jedoch, wer die Legitimation besitze, dies öffentlich und stellvertretend zu tun: »Nicht geschichtspolitische Deutungen der DDR standen dabei im Vordergrund. Es ging vielmehr um die Frage, wer in einer Demokratie die Legitimation besitze, in wessen Namen und auf welche Weise öffentlich die DDR-Vergangenheit zu thematisieren und politisch zu beurteilen.«38 Es ging also um die Frage, wie es zu einem politischen Tribunal – jenseits justizieller Aufarbeitung – kommen solle und wer dabei über die Vergangenheit der DDR aufklären könne und wolle. Der Einigung auf eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages seien, so Petra Bock, unterschiedlichste Forderungen insbesondere von Ostdeutschen im Laufe des Jahres 1991 vorausgegangen.39 Friedrich Schorlemmer (ehemaliger Bürgerrechtler) habe (in Anlehnung an Joachim Gaucks Vorschläge vor der letzten DDR-Volkskammer) bei der Anhörung des Innenausschusses zum
35 Maier, Charles S.: »Zu einer politischen Typologie der Aussöhnung«, in: Transit. Europäische Revue 18 (1999), S. 103. 36 Ash, Timothy Garton: »Diktatur und Wahrheit«, in: Lettre International 40 (1998), S. 10. 37 Enquete-Kommissionen sind Untersuchungskommissionen, die aus den Reihen des Bundestages und der Bundesregierung gebildet werden. Dem Ursprung nach haben sie die Aufgabe, umfangreiche Untersuchungen vorzunehmen in Vorbereitung zu Gesetzesentwürfen. Ihre Arbeit geht über die herkömmliche Untersuchungsausschuss-Arbeit hinaus, durch die Teilnahme von einer möglichst großen Zahl an externen Fachleuten (Sachverständigen) und Beteiligter. Berichte von Enquete-Kommissionen haben keinerlei Gesetz bindende Wirkung, d.h. haben sie verfügen über kein Initiativrecht. Sie dienen in erster Linie der unverbindlichen Empfehlung bzw. der Vorbereitung von Gesetzesinitiativen. 38 Bock, Petra: »Von der Tribunal-Idee zur Enquete-Kommission des Bundestages ›Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland‹«, in: Deutschland Archiv 11 (1995), S. 1171. 39 Probst, Lothar: »Deutsche Vergangenheiten«, in: Deutschland Archiv 2 (1994), S. 179.
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StUG, ein gesamtgesellschaftliches Tribunal nach realsozialistischem Vorbild gefordert.40 Nach Schorlemmers Vorstellung habe es ein Tribunal sein sollen, das – unter Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen und unter Missachtung jeglicher Gewaltenteilung – das übergeordnete Ziel verfolge, zu integrieren und zu versöhnen.41 Schorlemmers Vorstellung wurde schnell überschattet von Wolfgang Thierses Vorstoß. Thierse, zum damaligen Zeitpunkt stellvertretender SPDVorsitzender, vertrat die Vorstellung eines rein ostdeutschen Tribunals, unter der Führung ostdeutscher Bürgerrechtler. Diese Vorstellung beinhaltete eine Art »Selbstauseinandersetzung« der Ostdeutschen mit dem Ziel, die gesellschaftliche Integration der Ostdeutschen zu stimulieren.42 Wolfgang Ullmann, damals Abgeordneter der Bündnisgrünen und ebenfalls ehemaliger Bürgerrechtler, brachte eine weitere Tribunal-Idee ein. Weder gesamtdeutsch, noch ostdeutsch, sondern international sollte das Tribunal sein und den Schwerpunkt auf die justizielle Ahndung von Staatskriminalität legen.43 Seiner Auffassung nach hatte dieses Tribunal ein vergangenheitspolitisches Instrument zu sein.44 Mit Richard von Weizäcker, der sich in seiner Rede am 13. Dezember 1991 bei der Verleihung des Heinrich-Heine-Preises gegen eine »Tribunal-Idee« aussprach, starb die Idee von einem Tribunal schließlich. Weizäcker entgegnete ihren Verfechtern, allein die Justiz habe das Recht zu richten und nicht die Politik.45 Weitere Gegner der Tribunal-Idee hatten bereits einen Monat vor der Weizäcker-Rede Alternativen entwickelt. Richard Schröder, ehemaliger Bürgerrechtler, prägte den Begriff eines »Forums«.46 Dieses sollte den Volkszorn nicht schüren, sondern versachlichend und dialogisch wirken.47 Die Forum-Idee konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Martin Gutzeit wiederum gibt Auskunft darüber, dass er als Mitglied der Bundestagsfraktion der SPD zusammen mit einem Parteikollegen zum damaligen Zeitpunkt die Ursprungsidee zu einer Enquete-Kommission gefasst habe. Es habe nach Möglichkeit ein Tribunal verhindert werden sollen, da noch ungewiss gewesen sei, welche Enthüllungen aufgrund des StUG erwartet werden mussten. Gutzeit macht geltend, er habe die Freundschaft zu Rainer Eppelmann (MdB der
40 Bock, Petra: »Von der Tribunal-Idee«, in: Deutschland Archiv 11 (1995), S. 1172. 41 Frieso Wielenga spricht in diesem Zusammenhang von einem »Versöhnungsdiskurs«, der noch bis 1993 dominiert habe; vgl. Wielenga, Frieso: »Schatten der deutschen Geschichte«, in: Deutschland Archiv 10 (1994), S. 1068. 42 Bruyn, Günther de, o.T., in: Frankfurter Hefte 2 (1992), S. 170; Bock, Petra: »Von der Tribunal-Idee«, in: Deutschland Archiv 11 (1995), S. 1173. 43 Vergleichbar mit den Prozessen vor dem Internationalen Gerichtshof der UN in DenHaag heute. 44 Probst, Lothar: »Deutsche Vergangenheiten«, in: Deutschland Archiv 2 (1994), S. 178. Probst verweist auf einen gemeinsamen Aufruf von Ullmann, Thierse, Schorlemmer zusammen mit Gerd und Ulrich Poppe unter dem Titel »Tribunal als Forum der Aufklärung«, in: Deutschland Archiv 2 (1992), S. 222-224. 45 Bock, Petra: »Von der Tribunal-Idee«, in: Deutschland Archiv 11 (1995), S. 1175. 46 Ebd., S. 1174; Bruyn, Günther de, o.T., in: Frankfurter Hefte 2 (1992), S. 170 . 47 Schröder, Richard: »Gesinnungsjustiz ist Unrecht«, in: Die Zeit vom 06.12.1991.
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CDU) und Markus Meckel (MdB der SPD) genutzt, um über persönliche Kontakte zu diesen ehemaligen Bürgerrechtlern überfraktionell und auf politischer Ebene den Plan einer Enquete-Kommission zu positionieren und abzusichern.48 So ist es zu erklären, dass Angelika Barbe, Mitbegründerin der SPD in Ostdeutschland und Bürgerrechtlerin, sowie Markus Meckel anlässlich der parlamentarischen Beratungen zum StUG die Einrichtung einer Enquete-Kommission statt eines Tribunals forderten. Meckel, letzter Außenminister der DDR, Mitbegründer der ostdeutschen SPD und Bürgerrechtler, machte als einer der ersten öffentlich den Vorschlag, dass einer Verengung auf die Stasi-Problematik nur zu entgehen sei, wenn ein Gremium mit entsprechenden Kapazitäten und Kompetenzen die gesamte DDR-Vergangenheit zum Untersuchungsthema mache. Dies sei nur in Form einer parlamentarischen Enquete-Kommission leistbar. Allein der Bundestag, mit seinen politisch gewählten Abgeordneten, sei als höchstes politisches Organ in der Lage, die Aufarbeitung der DDR-Geschichte zu bewerkstelligen. In einem AbgeordnetenRundbrief vom 28. November 1991 heißt es: »Der Deutsche Bundestag, als höchstes gewähltes Gremium mit Abgeordneten aus ganz Deutschland, trägt besondere Verantwortung für die Aufarbeitung dieser Geschichte. […] In den letzten Monaten ist in diesem Zusammenhang mehrfach ein Tribunal gefordert worden. Unklar blieb, wer da eigentlich in wessen Namen agieren sollte. Genau diese Frage ist aber von zentraler Bedeutung, wenn verhindert werden soll, dass es eine selbsternannte Quasijustiz wird oder ein umstrittener Club von Moralisten, die glauben, für alle sprechen zu können.«49
Ging es Angelika Barbe in erster Linie um ein Manöver gegen die PDS, die öffentlich immer wieder einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung ziehen wollte und DDR-verklärende Geschichtsbilder vertrat,50 schwebten Meckel und Gutzeit bei der Vorstellung einer Enquete-Kommission zum einen ein gesamtgesellschaftlicher Aufklärungsprozess vor und zum anderen sollten konkrete politische Vorbereitungen für gesetzgeberische Maßnahmen getroffen werden, um eine Aufarbeitung der DDR, auch über die Enquete-Kommission hinaus, zukünftig und langfristig sicherzustellen.51 In der Pressekonferenz im November 1991 werden Meckels Beweggründe deutlich:
48 Martin Gutzeit, Interview vom 12.5.2004. 49 Z.n. Bock, Petra: Bock, Petra: »Von der Tribunal-Idee«, in: Deutschland Archiv 11 (1995), S. 1176. 50 Barbe, Angelika: »Schlussstrich oder Auseinandersetzung«, in: Faulenbach, Bernd/ Meckel, Markus/Weber, Herrmann (Hg.): Die Partei hatte immer Recht – Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur, Augsburg 1994, S. 129. 51 Meckel, Markus: »Demokratische Selbstbestimmung als Prozess. Die Aufgabe der Politik bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit«, in: ebd., S. 259; Helwig, Gisela: »Aufarbeitung ist Zukunftsgestaltung. Enquete-Kommissionen und Bundesstiftung«, in: Deutschland Archiv 5 (1998), S. 705.
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»Die unbearbeitete Geschichte lastet auf uns, treibt viele Menschen um und lässt uns in Deutschland nicht zur Ruhe kommen. […] Die Erfahrungen von Unrecht und Unterdrückung sind noch lebendig. Verletzungen können nicht einfach weggewischt werden. Und das nicht nur aus moralischen Gründen, sondern auch, um das Vertrauen in gerade erst gewonnenem Recht und Rechtstaatlichkeit zu festigen […] Es ist eine weithin unbekannte Geschichte, Mythen machen sich breit, […].«52
Meckel machte den Vorschlag einer Enquete-Kommission öffentlich, die dem Wunsch und Willen vieler Bürgerrechtler zu dem Zeitpunkt entsprach und ihre Position innerhalb des Bundestages stärkte. Es ging diesen Fürsprechern, neben dem gesamtgesellschaftlichen Auftrag, daher auch um das Ansehen und die Stellung der Bürgerrechtler und der Bürgerbewegung selbst. Die Mythen um eine Stasiunterwanderung sollten aufgedeckt werden und das Vertrauen in die ostdeutsche Politik nach November 1989 wieder hergestellt werden. Es ging den ostdeutschen Bürgerbewegten um nichts Geringeres als um eine Verteidigung der Verfügungsgewalt über die DDR-Geschichte, die sie, errungen 1989, weder an die PDS noch an den Westen abgeben wollten. »Die Bürgerbewegung wollte selbst zu Ende führen, was sie begonnen hatte.«53 Es »[…] bestand mit einer Enquete-Kommission die Chance, innerhalb des Bundestages einen konstruktiven Umgang mit den direkten und indirekten Verstrickungen in die DDRGeschichte zu ermöglichen und gleichzeitig die Handlungs- und Entscheidungskompetenz in Sachen öffentlicher politischer Aufarbeitung wieder an das Parlament zu binden«.54
Etwa zeitgleich mit Meckel und Barbe kamen auch aus den Reihen der CDU Forderungen nach einer Enquete-Kommission auf. Eppelmann gibt in einem Interview darüber Auskunft.55 Aus den Reihen der CDU sei es neben ihm auch Johannes Gerster gewesen, der einen Untersuchungsausschuss, ähnlich einer EnqueteKommission, einforderte. Jürgen Elsässer kommentiert diese Mischung aus dem Interesse der ehemaligen ostdeutschen Bürgerbewegten und der konservativen Partei: »In der Stasi-Debatte kam die Neubewertung der Nationalgeschichte zu einem vorläufigen Höhepunkt. Das eigentlich berechtigte Anliegen der ehemaligen Bürgerrechtler, die Repres-
52 Meckel, Markus: »Demokratische Selbstbestimmung als Prozess«, in: Faulenbach, Bernd/Meckel, Markus/Weber, Herrmann (Hg.): Die Partei hatte immer Recht (1994), S. 258. 53 Wielenga, Frieso: »Schatten der deutschen Geschichte«, in: Deutschland Archiv 10 (1994), S. 1071. 54 Bock, Petra: »Von der Tribunal-Idee«, in: Deutschland Archiv 11 (1995), S. 1176/ 1177. 55 Vgl. Maser, Peter: »Interview mit Eppelmann. Wirklichkeit und Wahn des ›Realen Sozialismus‹. Zur Aufarbeitung der SED-Diktatur durch eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages«, in: CDU/CSU-Bundestagsfraktion (Hg.): Zeitthemen 3 (1993).
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sionsgeschichte der DDR aufzuarbeiten, ging eine unheimliche Allianz mit der deutschnationalen Entschuldungsstrategie einher.«56
Bereits eine Woche nach Weizäckers Rede, am 20. Dezember 1991 kündigten Rolf Schwanitz (SPD) und Jürgen Rüttgers (CDU) die Einrichtung einer EnqueteKommission an. Die Idee der Einsetzung einer Enquete-Kommission wurde zügig umgesetzt, da mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden konnten. Es bestand die Möglichkeit, die revisionistische Geschichtspolitik der PDS zu demontieren, gleichzeitig die Position der Bürgerrechtler im Deutschen Bundestag zu stärken. Der unangenehmen Akten-Öffnung mit dem StUG57 konnte die Politik ein mustergültiges Beispiel der »Sonnenseite des Parlamentarismus« entgegen stellen, die Parteien konnten fraktionsübergreifende Image-Pflege beitreiben und ihr Profil gegenüber den Stasi-Enthüllungen aufpolieren. Der Glaube an die Politik mit und über Ostdeutschland habe wieder gewonnen werden können, der politische Wille – »innere Einheit« trotz »schonungsloser Aufarbeitung« – habe auch im Sinne der Konservativen (CDU/CSU) platziert werden können, konstatiert Manfred Wilke 1997. Die Anträge der einzelnen Parteien trugen dementsprechend die Handschriften der ostdeutschen Bürgerbewegung. Sie lesen sich wie »Nachrufe auf die politischen Auseinandersetzungen unter Bürgerrechtlern während des Zusammenbruchs der DDR«, resümiert Petra Bock58. Die Parteien hätten sich kaum in ihren Begrifflichkeiten unterschieden, mit Ausnahme der PDS. Bei genauerem Hinsehen tauchen jedoch Unterschiede auf, die deutlich machen, wie interessegeleitet die Parteien und vor welcher geschichtspolitischen Folie sie argumentierten. Der Antrag der SPD bezeichnete die DDR – wie auch alle weiteren Anträge der CDU/CSU/FDP und der Bündnisgrünen – als ein Unrechtssystem, dessen Wirken nur durch den Bundestag selbst aufgearbeitet werden könne. Inhaltlich sollte die Arbeit der Enquete-Kommission schwerpunktmäßig eine politische Aufarbeitung von Unterdrückung und Machtstrukturen in der SBZ und DDR sein. »Repressives Leben in der DDR« stand im Zentrum.59 Der CDU/CSU/FDP-Antrag verfolgte zudem das Ziel einer Integrationswirkung zwischen Ost- und Westdeutschland (»innere Einheit«), die von der Enquete-Kommission ausgehen könne. Die Aufgabe der Enquete-Kommission, im Umgang mit der Vergangenheit des Unrechtssystems Maßstäbe zu erarbeiten sowie die inhaltlichen Schwerpunkte »Macht« und »Repression« bildeten, wie auch beim SPD-Antrag den Mittelpunkt, jedoch ergänzt um die Themen Kirche, Medien, Kultur, Sport und Lebenswirklichkeit. Die geschichts-
56 Elsässer, Jürgen: »Die Wiedervereinigung mit der Vergangenheit«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 1 (1993), S. 18, z.n. Probst, Lothar: »Deutsche Vergangenheiten«, in: Deutschland Archiv 2 (1994), S. 178. 57 Wilke weist daraufhin, dass die Enquete-Kommission von vornherein ein Instrument war, der »Stasi-« zu entgegnen. Sie sei direkte Folge des StUG gewesen, um eine befürchteten Legendenbildung und Denunziationswelle zu vermeiden, vgl. Wilke, Manfred: »Die deutsche Einheit« (1997), S. 608. 58 Bock, Petra: »Von der Tribunal-Idee«, in: Deutschland Archiv 11 (1995), S. 1178. 59 Elm, Ludwig: Das verordnete Feindbild (2001), S. 13.
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politische Spitze, bestehend aus einer kritischen Thematisierung der Entspannungspolitik der SPD sowie die Verwendung Totalitarismustheorie verwandter Formulierungen, ließ dieser Antrag nicht fehlen.60 Die Bündnisgrünen stellten einen basisdemokratischen Antrag, im dem betont wurde, dass die Aufarbeitung auch außerparlamentarisch, durch die Unterstützung von Aufarbeitungsinitiativen, zu fördern sei und die Betrachtung der DDR-Vergangenheit nicht in einer Gleichsetzung von SED und DDR bestehen könne. Die Selbstbefreiung der DDR 1989/1990 sollte nicht vergessen werden.61 Ansonsten entsprach der Antrag inhaltlich dem der SPD. Der Antrag der PDS hob sich von denen der anderen Bundestagsparteien ab. Er verfolgte nämlich eine Doppelstrategie. Einerseits versuchte die PDS durch eine Beteiligung an der Aufarbeitung in der Enquete-Kommission positive Anerkennung zu bekommen und befürwortete daher grundsätzlich eine Aufarbeitung (auch um sich in das parlamentarische System zu integrieren), andererseits zielte der Antrag der PDS darauf ab, eine Aufarbeitung nach der Vorstellung der SPD und CDU/CSU/FDP nicht kritiklos zu akzeptieren.62 Der Antrag forderte daher inhaltlich nicht nur eine politische Aufarbeitung der DDR, sondern auch eine Aufarbeitung der BRD und der internationalen Zusammenhänge beider deutscher Staaten nach 1945, um die DDR durch Vergleiche differenzierter beurteilen zu können. 63 Gleichzeitig fragte die PDS (als einzige Partei) nach der Bedeutung der DDR für die gesamtdeutsche Zukunft. Hier ging es darum, positive Aspekte der DDR als gegenwarts- und zukunftstauglich darzustellen und einen DDR-Entlastungsdiskurs zu verfolgen.64 Bereits an den Antragsstellungen wird deutlich, dass »ausnahmslos alle Parteien versuchten, mit der Geschichte Politik zu machen; während die einen jedoch auf eine Stabilisierung der gegenwärtigen Verhältnisse abzielten, stellte die PDS diese in Frage«.65 Ging es den Parteien SPD, CDU/CSU und FDP um eine vollständige Delegitimierung und Diskreditierung der DDR, verfolgte die PDS die Strategie der Abschwächung der Delegitimierung der DDR durch einen differenzierten Blick auf die Vergangenheit beider deutschen Staaten vor 1989. Die Bündnisgrünen forderten sowohl einen differenzierten Blick auf die DDR und ihr Ende, als auch eine Delegitimierung der DDR und bewegten sich somit »zwischen« beiden Anträgen. Bevor auch nur ein Antrag im Plenum debattiert wurde, brach schon der erste Streit vom Zaun. Die CDU/CSU/FDP-Fraktion lehnte nämlich eine Beteiligung von PDS und Bündnisgrünen an der Enquete-Kommission ab. Nur die Parteien sollten laut Regierungsantrag Politiker und Sachverständige entsenden können, die über einen Fraktionsstatus verfügten. Es ging der Regierungskoalition CDU/CSU/FDP
60 Ebd., S. 13; Wilke, Manfred: »Die deutsche Einheit« (1997), S. 610. Deutlich wird bei diesem Antrag, wie explizit die CDU ihr konservatives Profil einbrachte. 61 Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung der Geschichte und Folgen der SED-Diktatur«, Band 1, Baden-Baden 1995; Bock, Petra: »Von der Tribunal-Idee«, in: Deutschland Archiv 11 (1995), S. 1178/1179. 62 Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (1995). 63 Elm, Ludwig: Das verordnete Feindbild (2001), S. 13. 64 Wilke, Manfred: »Die deutsche Einheit« (1997), S. 610. 65 Bock, Petra: »Von der Tribunal-Idee«, in: Deutschland Archiv 11 (1995), S. 1178/ 1179.
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dabei in erster Linie um einen Ausschluss der unerwünschten PDS, die zu diesem Zeitpunkt keine Fraktion im Bundestag bildete. Man wollte die »Erben der SED« von der Aufarbeitung der DDR durch die Fraktionsklausel gezielt ausschließen. Diese Regelung hätte aber auch den zwangsläufigen Ausschluss von den Bündnisgrünen bedeutet, die sich in der gleichen Lage befanden, da sie im Parlament nur Gruppenstatus besaßen. Die SPD, der viel an der Beteiligung von Bündnisgrünen lag (befanden sich in ihren Reihen doch viele ehemalige Oppositionelle und Bürgerrechtler der DDR), konnte das Gegenteil erwirken. Die CDU/CSU/FDP rang sich durch, den Fraktionsstatus nicht bindend zu machen. Die Bündnisgrünen konnten nach diesem neuen Konsens einen stimmberechtigten Abgeordneten und einen Sachverständigen entsenden. Dies bedeutete für die PDS, dass sie die gleichen Rechte hatte.66 Als Kompromiss einigten sich SPD und die Regierungsparteien CDU/CSU und FDP auf einen gemeinsamen Antrag einen Tag vor der angesetzten Plenardebatte am 12. März 1992. In den einzelnen Aussprachen im Bundestag zur Einsetzung der Enquete-Kommission wurde das Ziel der Aufarbeitung von den einzelnen Rednern deutlich umrissen. Damit begann der »offizielle Auftakt« der geschichtspolitischen Debatten. Rainer Eppelmann (CDU) betonte, dass die Aufarbeitung eine gesamtdeutsche Aufgabe sein sowie »innere Einheit« stiften solle und der Durchsetzung des nationalen, antitotalitären Konsenses durch die Ablehnung der SED-Diktatur diene. Willy Brandt, der bei dieser Aussprache seine letzte amtliche Rede hielt, mahnte vor Inquisition und Moralapostelei. Er rechtfertigte die Deutschlandpolitik (Entspannungspolitik) der SPD und konstatierte, dass die Kohlregierung nach 1982 in die Fußstapfen der SPD getreten sei. »Was [für Willy Brandt] als Versuch gelten sollte, die Deutschlandpolitik als geschichtspolitische Hypothek beider großen Parteien und der FDP durch Konsens aus den Auseinandersetzungen zwischen ihnen zu verbannen, wurde von der Regierung als Angriff verstanden.«67 Er löste einen Eklat aus.68 Insgesamt wurde bei dieser ersten Aussprache deutlich, dass die Enquete-Kommission sensible Gebiete der bundesrepublikanischen Parteipolitik berühren und es allen Parteien in der Enquete-Kommission darum gehen würde, Kritik an den eigenen Reihen abzublocken, also »die eigene Haut zu retten« und nachträglich die eigene Politik der »Vorwendezeit« geschichtspolitisch zu untermauern.69 Diese mit der Plenardebatte beginnenden, geschichtspolitischen Kämpfe um die Deutung der Deutschlandpolitik, insbesondere zwischen SPD und CDU, verdeckten allerdings den geschichtspolitischen Grundkonsens aller Parteien: den Integrationswillen, das Streben nach innerer Einheit und die hohe Bedeutung jeglicher Geschichtsaufarbeitung.70 Dieser parteiübergreifende Konsens beinhaltete auch die Hauptanliegen, ers-
66 Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (1995). 67 Bock, Petra: »Von der Tribunal-Idee«, in: Deutschland Archiv 11 (1995), S. 1181. 68 Eine gezielte Analyse dieses Eklats führt an dieser Stelle zu weit, es wird auf eine genauere Darstellung verzichtet. 69 Wilke, Manfred: »Die deutsche Einheit« (1997), S. 609. 70 Bock, Petra: Bock, Petra: »Von der Tribunal-Idee«, in: Deutschland Archiv 11 (1995), S. 1182.
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tens, der Öffentlichkeit beispielhaft die Aufarbeitung der DDR-Geschichte vorzuführen und, zweitens, Grundlagenforschung für die Wissenschaft zu betreiben.71 Im Anschluss an die Plenardebatte wurde der Antrag der CDU/CSU/FDP und der SPD am 20. März 1992 angenommen, mit vier Gegenstimmen der PDS und Linken Liste sowie zwei Enthaltungen.72 Bis zum 20. Mai 1992 sollte der Auftrag für die Enquete-Kommission ausgearbeitet sein.73 Dietmar Keller (PDS) zeigte sich, trotz heftiger Kritik aus den Reihen seiner Partei, konsensfähig, so dass es zu einem Einsetzungsbeschluss kommen konnte. Am 20. Mai 1992 verabschiedete der Deutsche Bundestag, mit einer Gegenstimme der PDS, den Arbeitsauftrag der EnqueteKommission, die unter dem Vorsitz von Rainer Eppelmann ihre Arbeit aufnahm.74 Die Zusammensetzung umfasste 16 Bundestagsabgeordnete (sieben von der CDU/ CSU, fünf von der SPD, zwei von der FDP, einer von den Bündnisgrünen, einer von der PDS/Linke Liste) und ihre jeweiligen Stellvertreter sowie elf parteinahe Sachverständige.75 Der Arbeitauftrag definierte klare praktische und politische Ziele sowie sechs Themenfelder. Zu den praktischen Zielen gehörten, bezüglich der Opfer der SBZ und DDR, erstens, die politische und moralische Rehabilitierung, zweitens, Möglichkeiten der Überwindungen von Benachteiligungen in Bildung und Beruf zu finden und, drittens, die Klärung der Regierungskriminalität. Zu den weiteren praktischen Zielen gehörten auch die Erhaltung, Sicherung und Öffnung von Archiven, die Verbesserung der wissenschaftlichen Arbeit sowie die Erarbeitung von Hinweisen bezüglich pädagogischer und psychologischer Verarbeitung der DDR-Vergangenheit. Das übergeordnete politische Ziel lautete, Handlungsempfehlungen an den Deutschen Bundestag zu geben bezüglich gesetzgeberischer Maßnahmen und des Umgangs mit politischen Initiativen.76 Es sollte offiziell keine »amtliche Geschichtsschreibung« betrieben werden, sondern zu einer Klärung der Verantwort-
71 Wilke, Manfred: Die deutsche Einheit und die Geschichtspolitik des Bundestages, in: Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat 21 (1996), z.n. Schweizer, Katja: Täter und Opfer in der DDR (1999), S. 232. 72 Bock, Petra: Bock, Petra: »Von der Tribunal-Idee«, in: Deutschland Archiv 11 (1995), S. 1182; Elm, Ludwig: Das verordnete Feindbild (2001), S. 14. 73 Die Sitzungsprotokolle sind aus rechtlichen Gründen nicht zitierfähig. Insgesamt haben fünf Sitzungen hinter verschlossenen Türen stattgefunden. Wortführer waren (nach wie vor) vorwiegend ostdeutsche Oppositionelle und Bürgerrechtler: Rainer Eppelmann (CDU), Markus Meckel (SPD), Gerd Poppe (Bündnisgrüne), Martin Gutzeit, Manfred Wilke, Karl Wilhelm Fricke. 74 Meckel, Markus: »Demokratische Selbstbestimmung als Prozess«, in: Faulenbach, Bernd/Meckel, Markus/Weber, Herrmann (Hg.): Die Partei hatte immer Recht (1994), S. 259. 75 Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (1995); Drechsler, Ingrun/Faulenbach, Bernd/ Gutzeit, Martin/Meckel, Markus/Weber, Herrmann: Getrennte Vergangenheit (1997), S. 7. 76 Meckel, Markus: »Demokratische Selbstbestimmung als Prozess«, in: Faulenbach, Bernd/Meckel, Markus/Weber, Herrmann (Hg.): Die Partei hatte immer Recht (1994), S. 259f.
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lichkeiten des SED-Regimes kommen, ein Beitrag zur politisch-historischen Bewertung geleistet und der Dialog mit der Öffentlichkeit angekurbelt werden.77 Inhaltlich sollten eine ganze Palette an Themen erarbeitet werden. Die Themenfelder wurden betitelt: 1.) Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat und die Frage nach der Verantwortung, 2.) Rolle und Bedeutung der Ideologie, integrativer Faktoren und disziplinierender Praktiken in Staat und Gesellschaft der DDR, 3.) Recht, Justiz und Polizei im SED-Staat, 4.) Innerdeutsche Beziehungen und internationale Rahmenbedingungen, 5.) Rolle und Selbstverständnis der Kirchen in den verschiedenen Phasen der SED-Diktatur und 6.) Möglichkeiten und Formen abweichenden Verhaltens und oppositionellen Handelns, die friedliche Revolution im Herbst 1989, Vereinigung Deutschlands und Fortwirken von Strukturen und Mechanismen der Diktatur.78 Geschichtspolitisch wurde mit diesen Themen der Fokus auf das Repressionssystem, Opposition und Widerstand sowie die deutsch-deutsche Politik gelegt, die gesellschaftlichen Bereiche Kultur, Soziales und Wirtschaft wurden gezielt ausgespart und damit als nachrangig eingeschätzt. 79 Bereits diese Themenwahl deutete darauf hin, dass es geschichtspolitisch zunächst darum ging, die DDR als ein Unrechtssystem zu delegitimieren, die Deutschlandpolitik der SPD vorzuführen sowie Opposition und Widerstand zu rehabilitieren. Inhaltlich drückte sich diese geschichtspolitische Stoßrichtung u.a. im Deutungskampf um die Definition der DDR aus. Bei der Definitionsfrage spielte die »erste deutsche Diktatur«, die NS-Diktatur als Vergleichsgröße eine zentrale Rolle. Die Deutung der »ersten Vergangenheit« wurde zur Deutung der »zweiten Vergangenheit« herangezogen. Die Konservativen nutzten den Vergleich beider Diktaturen, um die DDR als die wesentlich totalitärere Diktatur darzustellen und den Nationalsozialismus somit in seinem Ausmaß stellenweise zu relativieren. Die DDR wurde besonders von konservativen Abgeordneten und Sachverständigen innerhalb der Enquete-Kommission (insbesondere Horst Möller, Manfred Kittel, Eckhard Jesse) ausschließlich als der totalitärere Staat definiert. Beispiele hierfür waren die Gleichsetzungen von Speziallagern der SBZ und KZs sowie von Stasi und Gestapo durch Horst Möller, die in der Diskussion zeitweilig zu einer gezielten Amalgamisierung von Kommunismus und Nationalsozialismus führten. Auch die Gleichsetzung von SED und PDS in Analogie zur NSDAP und SRP durch Manfred Kittel tendierte in Richtung eines Geschichtsrelativismus. Eckhard Jesse unterschied dabei auch die jeweiligen Geschichtsaufarbeitungen von NS-Staat und DDR
77 Drechsler, Ingrun/Faulenbach, Bernd/Gutzeit, Martin/Meckel, Markus/Weber, Herrmann: Getrennte Vergangenheit (1997), S. 8. 78 Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (1995); Meckel, Markus: »Demokratische Selbstbestimmung als Prozess«, in: Faulenbach, Bernd/Meckel, Markus/Weber, Herrmann (Hg.): Die Partei hatte immer Recht (1994), S. 260. 79 Die sechs Themenbereiche wurden in 44 ganztätigen Anhörungen, 186 Aussprachen von Zeitzeugen und Wissenschaftlern und 148 Expertisen der Sachverständigen in knapp zwei Jahren bis zum Ende der Kommissionsarbeit im Juni 1994 erarbeitet, vgl. Drechsler, Ingrun/Faulenbach, Bernd/Gutzeit, Martin/Meckel, Markus/Weber, Herrmann: Getrennte Vergangenheit (1997), S. 9.
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nicht und stufte die als gleich bedeutsam und von gleich notwendigem Umfang nötig ein: »Was nach 1945 bei allen Schwächen insgesamt erfolgreich geleistet wurde, steht heute wieder an: Die Delegitimation der früheren Diktatur.«80 Sie knüpfen dabei an antikommunistische und totalitarismustheoretische Traditionen der 50er und 80er Jahre an, die im Kommunismus den Auslöser des Nationalsozialismus sahen und den Kommunismus als »größeres Übel« interpretierten. Totalitarismustheorien erfuhren in der Enquete-Kommission insgesamt wieder eine Konjunktur, was auf eine eher konservative und antikommunistische Ausrichtung der kommunismuskritischen Geschichtspolitik in der Kommission hindeutet. Die linken und SPD nahen Sachverständigen (Bernd Faulenbach, Jürgen Kocka, Hans Misselwitz, Rainer Lepsius) versuchten, dieser totalitarismustheoretischen Interpretation der DDR durch differenziertere Sichtweisen und abmildernde Analysen entgegenzuwirken. Zum Beispiel übte Hans Misselwitz vehement Kritik am in der Enquete-Kommission praktizierten Antikommunismus aus den Rängen der CDU/CSU. Rainer Lepsius kritisierte darüber hinaus die monokausale Erklärungsweise des Endes der DDR (»Sturz durch die Bürgerbewegung«) durch die CDU/CSU-Abgeordneten und Sachverständigen. Schließlich versuchten Jürgen Kocka und Bernd Faulenbach durch eine dezidierte Unterscheidung von DDR und NS-Staat in allen bedeutenden gesellschaftlichen Sektoren, den totalitarismustheoretischen Interpretationen der Konservativen entgegenzuwirken.81 Unterstützt wurden sie von den Vertretern der PDS, die gegen die Gleichmacherei von NS-Staat und DDR und der vollständigen Diskreditierung der DDR durch die Konservativen Einspruch erhoben. Besonders deutlich wird dies in den Veröffentlichungen von Ludwig Elm (PDS), der als Einziger in publizistischer Form radikal mit der konservativen Geschichtspolitik abrechnete.82 Geschichtspolitisch standen sich daher zwei geschichtsideologische Sichtweisen in der Definition der DDR und der Beurteilung ihrer Geschichte gegenüber: antikommunistische, anti-antifaschistische, totalitarismustheoretische Deutungen durch die CDU/CSU und posttotalitäre, liberale, kom-
80 Eckhart Jesse z.n. Faulenbach, Bernd: »Das SED-System in vergleichender Perspektive und die Bedeutung seiner Aufarbeitung«, in: Drechsler, Ingrun/ders./Gutzeit, Martin/Meckel, Markus/Weber, Herrmann: Getrennte Vergangenheit (1997), S. 83; Vgl. Elm, Ludwig: »›Zwei Diktaturen‹ – ›Zwei totalitäre Regimes‹? Die Enquete-Kommissionen des deutschen Bundestages und der konservative Geschichtsrevisionismus der neunziger Jahre«, in: Klotz, Johannes/Schneider, Ulrich (Hg.): Die selbstbewusste Nation (1997), S. 208ff; vgl. Elm, Ludwig: »DDR und ›Drittes Reich‹ im Vergleich. Kritische Anmerkungen zur Instrumentalisierung des Totalitarismustheorems«, in: Butterwegge, Christoph (Hg.): NS-Vergangenheit, Antisemitismus und Nationalismus in Deutschland. Beiträge zur politischen Kultur der Bundesrepublik und zur politischen Bildung, BadenBaden 1997, S. 55ff. 81 Elm, Ludwig: »›Zwei Diktaturen‹ – ›Zwei totalitäre Regimes‹?«, in: Klotz, Johannes/Schneider, Ulrich (Hg.): Die selbstbewusste Nation (1997), S. 207ff. 82 Ebd.
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munismuskritische bis hin zu anti-antikommunistische Interpretationen der DDR insbesondere durch die SPD und die PDS. Retrospektiv liegen eine ganze Reihe kritischer Beurteilungen der Arbeit der Enquete-Kommission vor, insbesondere seit der Veröffentlichung der 15.378 Seiten umfassenden Materialiensammlung 1995.83 Die Kritiken kommen vor allem von Links und aus dem liberalen Spektrum. So haben Bernd Faulenbach, Markus Meckel, Martin Gutzeit, Ingrun Drechsler, Herrmann Weber, Ludwig Elm und Ulrich Schneider kritische »Gegendarstellungen« veröffentlicht, denen allen gemeinsam ist, dass sie sich gegen die konservative Geschichtspolitik der CDU/CSU innerhalb der ersten Enquete-Kommission richten. Diese »Gegendarstellungen« selbst zeugen von einer geschichtspolitischen »Gegenpolitik« von Seiten der Wissenschaft und aus den parlamentarischen Reihen. Die wesentlichen Aussagen sollen im Folgenden kurz zusammengefasst werden, um eine Gesamtbeurteilung zu ermöglichen. Manfred Wilke, einziger Kommentator aus dem konservativen Lager der Enquete-Kommission, diagnostiziert, dass die Enquete-Kommission in erster Linie Instrument konservativer Geschichtspolitik gewesen sei.84 Das Hauptinteresse habe darin gelegen eine Zustimmung zur BRD zu forcieren und die Überlegenheit des freiheitlich-demokratischen Rechtstaates herauszustellen. Die DDR habe, wie bereits vor 1989, als negative Vergleichsgesellschaft gedient. Die DDR sei weiterhin als Verlierer, die BRD als Nachkriegsgewinner eingestuft worden. Die DDR sei zu diesem Zweck erst einmal vollständig diskreditiert und als totalitäres Regime dem NS-Staat in zentralen Punkten gleichgesetzt worden, d.h. sie sei zunächst als ausschließlich »totalitäre Diktatur« gedeutet worden. Der von den Konservativen angestrebte antitotalitäre Konsens habe dementsprechend – in Abgrenzung zur ausnahmslos als totalitär diagnostizierten DDR – zum Grundsatz der demokratischen Kultur Gesamtdeutschlands werden sollen. Die Regierungskoalition habe damit deutlich »Geschichte von oben« betrieben und zu einer offiziellen Reduktion der DDR auf den SED-Staat beigetragen. Sie habe zugleich die BRD als antitotalitäres System positiv der DDR gegenüber abgegrenzt und aufgewertet.85 Leitideologie dieser konservativen Geschichtspolitik sei durchweg der Antikommunismus gewesen. Zu ähnlichen Einschätzungen kommt der linksorientierte Ulrich Schneider. Die »Abwicklung« der DDR in der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages habe deutlich zur Entwicklung und Durchsetzung konservativer Geschichtsbilder und Grundsätze beigetragen. Diese geschichtspolitischen Grundsätze seien die »Abwicklung« des Antifaschismus-Begriffs – durch die Diffamierung jeglichen antifaschistischen Ansatzes (in Forschung und Politik) – und die vom Antikommunismus getragene Durchsetzung des »antitotalitären Konsenses« gewesen. Beide zentralen Anliegen der Enquete-Kommission hätten sich dabei weniger gegen die DDR und die Ostdeutschen, sondern vornehmlich gegen die westdeutschen Linken gerichtet. Die Konservativen hätten die Enquete-Kommission genutzt, um die SPD – aufgrund ihrer Politik zur DDR und SED und aufgrund ihres Festhaltens am Anti-
83 Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (1995). 84 Wilke, Manfred: »Die deutsche Einheit« (1997), S. 611ff. 85 Ebd., S. 611ff.
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faschismusbegriff – politisch zu schwächen.86 Ludwig Elm, damals Abgeordneter der PDS, kommt in seinen Veröffentlichungen87 zu dem Schluss, dass die Grundhaltung in der Enquete-Kommission geschichtspolitisch ein »[…] rabiater Antikommunismus war. […] Die geschichtsideologische Konstruktion von den ›zwei Diktaturen in Deutschland‹ erfüllt in ihren vorherrschenden rigoros antikommunistischen Spielarten vorrangig die Funktion der unkritischen Selbstdarstellung und der bedingungslosen Legitimation der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. […] Ihr übergeordnetes Ziel ist die nachhaltige Diskriminierung antikapitalistischer, emanzipatorischer und alternativer Leitbilder und daran orientierter Bewegungen.«88
Insbesondere die fortgeschrittene totalitarismustheoretische Gleichsetzung von DDR und NS-Staat – innerhalb der Auseinandersetzungen um die Bewertung der DDR – habe dabei »im Dienst des traditionsreichen Antikommunismus extrem rechter Tendenz als dominierende Komponente bundesdeutscher Herrschaftsideologie der neunziger Jahre« gestanden.89 Elms Kritik richtet sich damit vehement gegen die konservative Geschichtspolitik und deren Leitgrundsatz des »antitotalitären Konsenses« (der eine Parallelisierung von DDR und NS-Staat zugrunde lege, die Entstehungshintergründe der DDR ignoriere) sowie gegen das Konzept: »BRD als besseres Deutschland«. Er wendet sich somit (wie sollte er es als PDSAbgeordneter anders tun) grundsätzlich gegen jegliche Fundamentalkritik an der DDR als »Hort des Bösen« und ihre »Dämonisierung«.90 Zu den gemäßigten Kommentatoren gehören u.a. Markus Meckel, Bernd Faulenbach, Herrmann Weber und Martin Gutzeit. Sie sind Repräsentanten der sozialdemokratischen »Gegenkritik« zur Enquete-Kommission, die sich bereits in den Sondervoten der SPD innerhalb der Enquete-Kommission ausdrückte. Ihre Kritik richtet sich sowohl gegen die konservative Geschichtspolitik der CDU/CSU (Möller, Kittel, Jesse), mit ihren totalitarismustheoretischen Gleichsetzungen, als auch gegen einen linken Geschichtsrevisionismus der PDS/Linken Liste (Elm). Ihre Kritik bezieht sich insgesamt auf die »Überpolitisierung« und richtet sich gegen jegliche politische Instrumentalisierung der Kommissionsarbeit und ihre moralische Aufladung von Seiten der Teilnehmer. Sie kommen in ihren veröffentlichten Stel-
86 Schneider, Ulrich: »Rolle rückwärts«, in: Klotz, Johannes/Schneider, Ulrich (Hg.): Die selbstbewusste Nation (1997), S. 17ff. 87 Elm, Ludwig: »›Zwei Diktaturen‹ – ›Zwei totalitäre Regimes‹?«, in: ebd., S. 204ff; Elm, Ludwig: »DDR und ›Drittes Reich‹«, in: Butterwegge, Christoph (Hg.): NS-Vergangenheit (1997), S. 50ff; Elm, Ludwig: Das verordnete Feindbild (2001). 88 Elm, Ludwig: »›Zwei Diktaturen‹ – ›Zwei totalitäre Regimes‹?«, in: Klotz, Johannes/Schneider, Ulrich (Hg.): Die selbstbewusste Nation (1997), S. 219. 89 Elm, Ludwig: »Zwei Diktaturen«, in: Klotz, Johannes/Schneider, Ulrich (Hg.): Die selbstbewusste Nation (1997), S. 214; vgl. Elm, Ludwig: »DDR und ›Drittes Reich‹«, in: Butterwegge, Christoph (Hg.): NS-Vergangenheit (1997), S. 55ff; vgl. auch Elm, Ludwig: Das verordnete Feindbild (2001), S. 43ff. 90 Ebd., S. 22ff.
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lungnahmen zur Arbeit der ersten Enquete-Kommission zu dem Urteil, es sei eine politische »Schlammschlacht« gewesen, der so manches zum Opfer gefallen sei: die sachliche Diskussion, die Entwicklung von konkreten Handlungsempfehlungen sowie die objektive Forschung.91 Die »Erfolgsbilanz« der Kommissionsarbeit seitens Markus Meckels fällt daher kritisch aus: die negativen Aspekte (Verlust an Seriosität, Vernachlässigung der Handlungsempfehlungen, Verhinderung von objektiver Forschung, das Scheitern der Zusammenarbeit mit Aufarbeitungsinitiativen, die vehemente Geschichtspolitik – insbesondere durch CDU/CSU und PDS) hätten gegenüber den positiven Aspekten (Publicity für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte und eine umfangreiche Materialsammlung als »Steinbruch für die Forschung«) überwogen.92 Faulenbach kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Er resümiert, dass die Kommission aufgrund ihres Umfangs, der Arbeitsweise und des Desinteresses bzw. reinen Parteiinteresses einiger Politiker habe scheitern müssen.93 Sei es den Bürgerrechtlern, Konservativen und Rechten um eine Betrachtung der Geschichte der DDR von ihrem Ende her sowie um eine rigorose, antitotalitäre Abrechung mit der DDR und der linken Ideologie insgesamt gegangen, hätten Linke und Liberale die Geschichte vor dem entsprechenden Zeithorizont interpretiert, dabei zwar am antitotalitären Grundkonsens festhaltend, jedoch ohne vielseitige Diskreditierungen.94 Faulenbach kommt zu dem Ergebnis, dass eine Historisierung der Aufarbeitung vorerst, aufgrund der zeitlichen Nähe, der politischen und moralischen Aufgeladenheit und der Involviertheit Betroffener nicht möglich sei.95 Weniger »pessimistisch« kommentiert Jürgen Kocka die Arbeit der Enquete-Kommission. Den Erfolg sehe er allein in der Beschäftigung mit der schwierigen Thematik: »Die Vergangenheitsbewältigung der Jahre vor 1989/1990 erscheint mir intensiver, offener und vorbehaltloser als die nach 1945 […]. Dass der […] Prozess nicht ohne schmerzhafte Konvulsionen und neue Ungerechtigkeiten verläuft, gehört wohl zu den Kosten, aber ist wohl nicht ganz zu vermeiden.«96 Diesen Preis habe es kosten müssen. Anders als von Ludwig Elm und Ulrich Schneider praktiziert, geht es dieser gemäßigten Gruppe nicht um eine Gegenprovokation, sondern um die Rückkehr zu einer seriöseren Form der Aufklärung und Bewertung der DDR-Vergangenheit. Es geht der Gruppe auch darum, die Einbeziehung der Opfer zu fördern und die Auf-
91 Faulenbach, Bernd/Meckel, Markus/Weber, Herrmann (Hg.): Die Partei hatte immer Recht (1994); Drechsler, Ingrun/Faulenbach, Bernd/Gutzeit, Martin/Meckel, Markus/ Weber, Herrmann: Getrennte Vergangenheit (1997). 92 Meckel, Markus: »Demokratische Selbstbestimmung als Prozess«, in: Faulenbach, Bernd/Meckel, Markus/Weber, Herrmann (Hg.): Die Partei hatte immer Recht (1994), S. 260ff. 93 Faulenbach, Bernd: »Bewahrung der Erinnerung. Bedeutung und Probleme der ›Aufarbeitung‹ von Vergangenheit heute«, in: ebd., S. 10. 94 Ebd., S. 21. 95 Ebd., S. 23. 96 Kocka, Jürgen: Chance als Herausforderung. Aufgaben der Zeitgeschichte beim Umgang mit der DDR-Vergangenheit, in: Faulenbach, Bernd/Meckel, Markus/Weber, Herrmann (Hg.): Die Partei hatte immer Recht (1994), S. 242.
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arbeitung als gesamtdeutsche Angelegenheit einzufordern, bei der diese weder eine Spielwiese der ostdeutschen Linken (PDS) noch ein »Gerichtssaal« der westdeutschen Konservativen (CDU/CSU) sein sollte. Diese Haltung wird im Sondervotum zum Schlussbericht besonders deutlich.97 Im Wesentlichen beinhaltete das Sondervotum der SPD eine starke Kritik an der Lückenhaftigkeit der Kommissionsarbeit und ihrem vorzeitigem Arbeitsabbruch. Die Themen »Opposition 80er Jahre«, »Bedeutung der Stasi«, »Spannung zwischen Opposition und Ausreisenden«, »innere Konflikte der Opposition« seien gezielt ausgespart worden. Ursprünglich wäre die Kommission bis zu den Kanzlerwahlen im September angesetzt gewesen, auf Drängen der CDU/CSU habe der Abschlussbericht jedoch bereits drei Monate vorher im Juni 1994 vorliegen müssen, um ihn aus dem Wahlkampf herauszuhalten.98 Durch diese Fristverkürzung habe man Unzulänglichkeiten im Abschlussbericht nicht mehr glätten können und sei es aufgrund von »Zeitmangel« versäumt worden, Handlungsempfehlungen zu formulieren (was ja ursprünglich die Arbeitsaufgabe der Enquete-Kommission gewesen war). Im Sondervotum versuchte die SPD dieses Versäumnis nachzuholen. Das Votum empfahl, die Aufarbeitung weiterzuführen und zu intensivieren, die Förderung und Intensivierung von Forschung zu betreiben, die Förderung von politischer Bildungsarbeit aufzubauen, Erinnerung durch die Einrichtung von Gedenkstätten und die Begehung von Gedenktagen, unter besonderer Berücksichtigung von Opposition und Widerstand, zu fördern, und sprach sich dafür aus, für »Opfer in Not« einen Sonderfonds einzurichten und »innere Einheit« weiterhin auf breiter Basis zu fördern. Der Schlussbericht wurde am 17. Juni 1994 (bei vier Gegenstimmen von der SPD, begründet mit den Inhalten des Sondervotums) angenommen. 99
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Sondervotum SPD, Faulenbach, Gutzeit, Weber, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (1995), S. 746-754; siehe auch Drechsler, Ingrun/Faulenbach, Bernd/Gutzeit, Martin/Meckel, Markus/Weber, Herrmann: Getrennte Vergangenheit (1997), S. 134ff; Faulenbach, Bernd/Meckel, Markus/Weber, Herrmann (Hg.): Die Partei hatte immer Recht (1994), S. 282ff. Neben den SPD-Sondervoten zum Abschlussbericht brachte auch die PDS zahlreiche Voten ein. Diese umfassten weitgehend Elms zentrale Kritikpunkte. Stock, Wolfgang: »Sachverstand und Sorgfalt. Die Enquete-Kommission des Bundestages zur DDR-Geschichte bereitet ihren Abschlussbericht vor«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.02.1994, S. 14. Stock berichtet, dass es den Parteien CDU und SPD nicht vollständig gelungen sei, den Abschlussbericht aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Hartmut Koschyk (CDU-Abgeordneter der Enquete-Kommission) kommentierte diese Vorgehensweise der SPD: »Die SPD wollte vermutlich verhindern, dass im Bundestag über Teile der Deutschlandpolitik debattiert werde, die der SPD unangenehm seien«, Hansen (FDP-Abgeordneter der Enquete-Kommission) kommentiert in gleicher Stoßrichtung: »Der SPD wäre ein ›im Sande verlaufen‹ der Enquete-Kommission-Arbeit am liebsten […]«, z.n. Stock, Wolfgang: »Die SPD will keine Aufklärung. Scharmützel in der Enquete-Kommission zur DDR-Vergangenheit«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.05.1994, S. 4. Koschyk und Hansen spielen mit diesen Aussagen auf den »Fall Stolpe« und die SPD-Wahlkampfunterstützungen durch die SED vor 1989 an. Tatsächlich ging es der SPD um andere »Missstände«.
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Die vollständige Materialiensammlung der ersten Enquete-Kommission erschien schließlich in 18 Bänden im Jahr darauf.100 Anhand der Debatten während der Kommissionsarbeit und unmittelbar im Anschluss daran (durch die Veröffentlichung von Gegendarstellungen) wird deutlich, dass Geschichtspolitik mit der Einsetzung der Enquete-Kommission nicht endete, sondern weiterging. Geschichtspolitik wurde zunächst massiv von Seiten der CDU und der PDS betrieben. Die anderen Parteien versuchten »gegenzusteuern«. In ihren Sondervoten und Publikationen betrieben sie dabei nicht weniger Geschichtspolitik, wenn auch unter einem anderem Vorzeichen und mit unterschiedlichen Zielsetzungen. Ging es den SPD-Angehörigen (Meckel, Faulenbach, Weber u.a.) um eine Versachlichung der Diskussion, ohne Preisgabe der grundsätzlichen Delegimierung der DDR und Durchsetzung des antitotalitären Konsenses, stellten PDS-Angehörige (hier vertreten durch Ludwig Elm) diese Zielsetzungen von Beginn an vollständig in Frage. Das Festhalten am antitotalitären Konsens durch CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnisgrüne, stellte sich dabei als »Legitimationsbruchstelle« heraus. Stefan Bergs Feststellung ist zuzustimmen, »[…] dass sich das Bemühen um einen antitotalitären Konsens im wiedervereinten Deutschland als kontraproduktiv erwies, da man damit gerade diejenigen in der PDS und der DDR vor den Kopf stieß, die bereit waren, sich vom Kommunismus totalitärer Prägung zu verabschieden«.101 Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass alle beteiligten Parteien in der ersten Enquete-Kommission um das Interpretationsmonopol der DDR-Geschichte kämpften. Die DDR-Vergangenheit wurde innerhalb der Enquete-Kommission durch die Konservativen und die PDS, und außerhalb der Enquete-Kommission durch die SPD und die PDS geschichtspolitisch instrumentalisiert.102 Die erste Enquete-Kommission war der Auftakt zur parlamentarischen »Politisierung« der Vergangenheitsdebatte zur DDR, dies ist offenkundig.
100 Die Materialiensammlung wurde kritisch rezensiert. Als einen »Steinbruch für die Forschung« bezeichnet Bernhard Wördehoff diese Sammlung, in der deutlich werde, vorauf die Enquete-Kommission abzielte. Der deutliche Seitenüberhang zu den Machtstrukturen im SED-Staat und ein völliges Vermissen der Planwirtschaft seien hierfür beispielhaft; vgl. Wördehoff, Bernhard: »Ein Steinbruch für die Forschung«, in: Die Zeit vom 29.12.1995. Jürgen Fuchs weist in seiner Rezension auf die alarmierende Bedeutung der Sondervoten hin. Diese seien Hinweise auf den eigentlichen »Grabenkampf«, der von Seiten der Politik innerhalb der Enquete-Kommission stattgefunden habe. Es seien Flecken auf der weißen Weste der Materialien, die mit Ausnahme dieser Voten von »Glätte und obrigkeitsbezogener Unantastbarkeit« strotzten; vgl. Fuchs, Jürgen: »Missliche Wahrheiten. Jürgen Fuchs über die Protokolle der Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur«, in: Der Spiegel 5 (1996), S. 50-59. 101 Berg, Stefan: »Was bleibt von der Geschichtswissenschaft der DDR?«, in: Zeitschrift für Geschichte 11 (2002), S. 1032 102 Wolfrum, Edgar: »Das Erbe der SED-Diktatur«, in: Taz vom 6.12.1994, S. 12; Schröder, Klaus: »Fröhliche Parteiwissenschaft«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.07.1995.
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2.2.2 Die Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit« Die Gründe für die zweite Enquete-Kommission waren anders gelagert als die, der ersten Enquete-Kommission. Diente die erste Enquete-Kommission einer Stärkung der Position der ostdeutschen Bürgerrechtler im Zuge der Stasi-Enthüllungen, dem Kampf gegen die Schlussstrichforderungen (insbesondere der PDS), einer vollständigen Delegitimierung der DDR sowie einer parlamentarischen, breiten Untermauerung des StUG, entstand das Bedürfnis nach einer zweiten Enquete-Kommission aus der desillusionierten Lage der Ostdeutschen und linken Aufarbeiter Mitte 90er Jahre. »Charakteristisch für die Veränderung des Klimas im Lauf der 90er Jahre sind die anwachsenden Klagen dieser ›Szene‹, ihre Arbeit werde gesamtgesellschaftlich nicht hinreichend gewürdigt und politisch nicht ausreichend gefördert.«103 Die Notwendigkeit einer weiteren Etappe politischer Aufarbeitung resultierte, schließlich auch aus einer zunehmend notwendig werdenden finanziellen Absicherung der Aufarbeitungsinitiativen und erinnerungskulturellen Einrichtungen, die zu dem Zeitpunkt kurz vor dem Aus standen.104 Mit der zweiten Enquete-Kommission (1995-1998), »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit« verlagerte sich die Aufarbeitung in Richtung Erinnerung. Dies zeigen schon die Themen der zweiten EnqueteKommission, die sich – im Gegensatz zur ersten – nur noch am Rande mit der Klärung des Unrechtscharakters der DDR befasste, indessen den Schwerpunkt legte auf mentalitäts-, alltags-, sozial- und kulturgeschichtlichen Aspekte der DDR-Vergangenheit sowie vor allem auf den erinnerungskulturellen Umgang mit der DDRVergangenheit nach 1989.105 Bereits in den Sondervoten des Abschlussberichts der ersten EnqueteKommission hatte sich diese inhaltliche Neuausrichtung angedeutet. So forderte die SPD in einem ihrer Sondervoten »[…] eine Aufarbeitung, die die Realitäten aufdeckt, die Verantwortlichkeiten benennt und so den Erfahrungen der Menschen gerecht wird […] für eine demokratische politische Kultur in Deutschland. Wenn die Politik den Rang dieser Aufgabe zur Geltung bringen will, sollte sie sich aus der Erinnerungsarbeit nicht zurückziehen«.106
103 Faulenbach, Bernd: »Acht Jahre deutsch-deutsche Vergangenheitsdebatte«, in: Kleßmann, Christoph/Misselwitz, Hans/Wichert, Günter (Hg.): Deutsche Vergangenheiten (1999), S. 21. 104 Vgl. Helwig, Gisela: »Aufarbeitung ist Zukunftsgestaltung«, in: Deutschland Archiv 5 (1998), S. 706. 105 Faulenbach, Bernd: »Acht Jahre deutsch-deutsche Vergangenheitsdebatte«, in: Kleßmann, Christoph/Misselwitz, Hans/Wichert, Günter (Hg.): Deutsche Vergangenheiten (1999), S. 17ff. 106 Sondervotum SPD, Faulenbach, Gutzeit, Weber, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (1995), S. 740f; siehe auch Drechsler, Ingrun/Faulenbach, Bernd/Gutzeit, Martin/Meckel, Markus/Weber, Herrmann: Getrennte Vergangenheit (1997), S. 138.
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Zudem verlangte sie: »Die Erinnerung an die Erfahrungen der SED-Diktatur, an ihre Opfer und an den Prozess ihrer Ablösung 1989 ist im öffentlichen Bewusstsein, in der Geschichtskultur des Landes besonders zu fördern […] Es gilt Gedenkstätten für die Opfer einzurichten (z.B. Hohenschönhausen, Bautzen und Torgau), Gedenkstätten von nationaler Bedeutung sind vom Bund zu fördern. […] Gedenktage, die an Ereignisse der DDR-Geschichte erinnern, sollten ihren festen Platz in der öffentlichen politischen Kultur haben; zu denken ist etwa an den 17. Juni 1953 oder an den 9. Oktober 1989.«107
Die Aufarbeitung musste weitergehen und nicht mangels Handlungsempfehlungen mit einer Generalabrechnung der ersten Enquete-Kommission und vielen offenen Fragen enden. Trotz heftiger Parteiendispute über Besetzungen und mögliche Themen im Vorwege, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen wird,108 einigten sich die Parteien am 22. Mai 1995 auf das Einsetzen der zweiten Enquete-Kommission gemäß dem überfraktionellen Antrag der CDU/CSU/FDP und Bündnisgrünen.109 Inhaltlich orientierte sich die zweite Enquete-Kommission an den Erkenntnissen und Prämissen der ersten. Zu diesen gehörte das Festhalten am antitotalitären Konsens, die Definition der DDR als ein Unrechtsregime bzw. eine Diktatur, das Streben nach »innerer Einheit« sowie die Absage an jedwede Form totalitärer Ideologien, Programme, Parteien und Bewegungen, was auch die vollständige Delegitimierung des DDR-Antifaschismus beinhaltete. Erkenntnisse, die aus der ersten EnqueteKommission in die zweite übernommen wurden, waren die Prämissen, dass die Hauptverantwortung für das Unrecht in der DDR bei der SED gelegen habe, dass eine Mitverantwortung der Blockparteien anzuerkennen und dass die Aufarbeitung eine gesamtdeutsche Aufgabe sei, es also zu keiner Pauschalverurteilung der ehemaligen DDR-Bevölkerung kommen dürfe und eine Gleichsetzung von NS-Staat und DDR bzw. eine gegenseitige Aufrechnung der jeweiligen Geschichte dem Problem nicht gerecht werde.110 Der konkrete Arbeitsauftrag der zweiten EnqueteKommission lautete, Beiträge zu einer politisch-historischen Analyse und einer politisch-moralischen Bewertung der SED-Diktatur zu liefern, den gesamtgesell-
107 Ebd.; vgl. auch Faulenbach, Bernd/Meckel, Markus/Weber, Herrmann (Hg.): Die Partei hatte immer Recht (1994), S. 288. 108 Siehe v.a. Hinrichsen, Carola: Geschichts- und Erinnerungspolitik (2004), S. 90-92. 109 Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit«, Band 1, Baden-Baden 1999, S. 151; o.V.: »Enquete-Kommission zur SED-Diktatur eingesetzt«, in: Süddeutsche Zeitung vom 23.06.1995; o.V.: »Bundestag setzt Enquete-Kommission ein«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.06.1995. 110 Vergin, Siegfried: »Auftrag und Arbeit der Enquete-Kommission ›Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit‹ für den Gedenkstättenbereich«, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Erinnern, Aufarbeiten, Gedenken, S. 134; Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 1, 1999), S. 152.
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schaftlichen Aufarbeitungsprozess zu fördern, die Festigung eines demokratischen Selbstbewusstseins, des freiheitlichen Rechtsempfindens und des antitotalitären Konsenses in Deutschland, ferner, allen Tendenzen der Verharmlosung und Rechtfertigung von Diktaturen entgegenzuwirken, einen Beitrag zur Versöhnung der Gesellschaft und Würdigung der Opfer zu leisten, Fragen der Wiedergutmachung zu klären und eine Chancengleichheit zwischen Ost und West sowie Opfern und Nicht-Opfern wieder herzustellen. Durch die Förderung erinnerungskultureller Maßnahmen sollte dieser umfangreiche Arbeitsauftrag erfüllt werden. »Dafür ist die Entwicklung gesamtdeutscher Formen der Erinnerung an die beiden deutschen Diktaturen und deren Opfer wichtig. […] Die Erinnerung an die Opfer von Unrecht und Gewalt, an Widerstand und Mut in den Diktaturen sowie den Prozess der Ablösung der SEDHerrschaft 1989 soll für das öffentliche Bewusstsein und die nationale Kultur wach gehalten werden.«111
Zu diesem Zweck sollten konkrete Handlungsempfehlungen formuliert werden. Grundlage hierfür sollte die umfassende Bearbeitung folgender Themenfelder sein: 1.) Bildung, Wissenschaft, Forschung, 2.) Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik, 3.) das geteilte Deutschland im geteilten Europa, 4.) rechtstaatliche Aufarbeitung/Opfer der SED-Diktatur/aktuelle Fragen und Gesetzesvorhaben, 5.) Archive, 6.) Gedenkstätten, 7.) Internationale Zusammenarbeit, 8.) Weiterführung des Prozesses der Aufarbeitung und 9.) Leben in der DDR.112 Diese Einzelthemen sollten mittels Expertisen, Vorträgen und Anhörungen erarbeitet werden. Zu jedem einzelnen Thema wurde eine Berichterstattergruppe gebildet. 160 Gutachten, 292 Personenanhörungen in 53 Sitzungen sollten bis zum Ende der Arbeit der Kommission im Juni 1998 folgen, um dieses Pensum zu bewältigen. Inhaltlich ging es vordergründig um eine Weiterführung der Aufarbeitung der ersten Enquete-Kommission, diesmal jedoch mit dem realpolitischen Ziel der Entwicklung gesamtdeutscher Formen der Erinnerung. Vergleichbar mit der ersten Enquete-Kommission, war auch die zweite weiterhin Schauplatz parteipolitischer Debatten. Diese kreisten allerdings jetzt stärker um Fragen des »richtigen« Erinnerns und Gedenkens sowie um Fragen nach der Zukunft der weitgehend bürgerschaftlich organisierten Aufarbeitungslandschaft. Zwar waren diesen Fragen grundsätzlich auch immer geschichtspolitische Belange inhärent, diesbezügliche Deutungskämpfe rückten dennoch in den Hintergrund. Vorrangig fanden vielmehr nun konkrete erinnerungs- und gedenkstättenpolitische Auseinandersetzungen statt. Dies ergab sich vor allem aus dem themenübergreifenden Anspruch, Leitlinien für gesamtdeutsche Formen der Erinnerung zu entwickeln. Auf diese erinnerungspolitischen Debatten soll im Folgenden eingegangen werden. Obwohl sich die zweite Enquete-Kommission inhaltlich eigentlich vornehmlich mit der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit befassen sollte, bedeutete der An-
111 Ebd., S. 153. 112 Ebd., S. 160f.
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spruch, sich mit gesamtdeutschen Formen der Erinnerung zu beschäftigen, auch eine Auseinandersetzung mit der Erinnerungskultur hinsichtlich des Nationalsozialismus. Die Leitlinien, die für den Umgang mit der DDR-Vergangenheit erarbeitet werden sollten, konnten den Umgang mit der NS-Erinnerungskultur nicht ignorieren, sondern mussten ebenfalls für diese gelten. Dieser Umstand führte dazu, dass weiterhin Gleichsetzungen der Systeme NS-Staat und DDR stattfanden und an totalitarismustheoretische Argumente der ersten Enquete-Kommission von konservativer Seite angeknüpft wurde, was von Seiten der SPD aber auch von Opfergruppen (vor allem der NS-Opfer) stark abgelehnt wurde. Die Debatten um die Erinnerungspolitik der zweiten Enquete-Kommission drehten sich daher – in geschichtspolitischer Kontinuität zur ersten Enquete-Kommission – vordergründig um die Parallelisierung des Gedenkens an die Opfer, weiterhin aber auch um die Gleichsetzung von NS-Staat und DDR sowie um die Bewertung der Erinnerungspolitik der DDR und Alt-BRD. Manfred Wilke, Sachverständiger der CDU/CSU, kommentiert das Vorgehen innerhalb der zweiten Enquete-Kommission. Er beschreibt, dass der angestrebte antitotalitäre Konsens (als anti-antifaschistischer Konsens) darauf abgezielt habe, eine Aufwertung der Opfer der SBZ/DDR durch eine Gleichsetzung mit den Opfern des NS-Staates vorzunehmen, um die DDR auch bezüglich des Opferstatus zu delegitimieren. Die Opfer der SBZ/DDR seien von konservativer Seite den NS-Opfern gleichgestellt worden, um die DDR als Diktatur und Unrechtssystem endgültig zu brandmarken. Gleichzeitig habe die Erinnerung an Unrecht und Gewalt sowie an Opposition und Widerstand gestärkt werden sollen, um eine »nationale Kultur« zu befördern. Die Konservativen hätten daher vor allem für Erinnerungsorte votiert, an denen allen Opfergruppen gedacht werden könne, und sich für eine Ergänzung der »Topographie des Terrors« um die Dimension einer »Topographie der zweiten deutschen Diktatur« ausgesprochen.113 Während Opfergruppen der SBZ/DDR und einige Vertreter der CDU/CSU sich für ein gemeinsames Gedenken an zentralen Orten aussprachen,114 auch um ein »nach geordnetes Gedenken« zu verhindern und es nicht zu »Opfern zweiter Klasse« kommen zu lassen, sprachen sich PDSAbgeordnete und SPD-nahe Sachverständige wie Rainer Rürup, Bernd Faulenbach, Hans Mommsen sowie einige Vertreter der NS-Opferverbände gegen diese Gleichsetzung der Opfer und ihrer Geschichten aus. Ludwig Elm, als PDS-Abgeordneter auch an der zweiten Enquete-Kommission beteiligt, kritisierte die Allianz, die SBZ/DDR-Opfer mit den Konservativen eingegangen seien. Den Opfern sei es primär darum gegangen in der öffentlichen Erinnerungskultur ihre Stellung gerade bezüglich der Opfergruppen des NS-Staates zu stärken und eine größere Anerkennung zu bekommen. Den Konservativen (geleitet von dem Vorsatz, mit der Aufarbeitung auch die linke Ideologie generell zu diskreditieren und den undifferenzierten »antitotalitären Konsens« durchzusetzen) sei diese Gleichsetzung der Opfer entgegen gekommen. Eine Gleichsetzung beider Opfergruppen im öffentlichen Gedenken habe der vollständigen Diskreditierung des DDR-Systems und der linken Ideologie im Sinne der Konservativen Vorschub ge-
113 Manfred Wilke z.n. Elm, Ludwig: Das verordnete Feindbild (2001), S. 135; 140. 114 Z.B. Kurt-Schumacher-Kreis, HELP e.V.; vgl. ebd., S. 125, 127.
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leistet.115 Gleichzeitig hätten die Konservativen mit der antifaschistischen Erinnerungskultur der DDR bis 1949 abgerechnet, um die öffentliche Erinnerungspraxis der Alt-BRD zu glorifizieren.116 Als Beispiel führt Elm u.a. den Fragenkatalog der Kommission zur Anhörung »Gedenkstättenarbeit für Nachgeborene« vom 14. Oktober 1996 an, der vorab den Gedenkstätten, Opferverbänden und Experten zugegangen war, um bzgl. zukünftiger Gestaltungsmöglichkeiten der öffentlichen Erinnerungskultur Daten zu erheben. Dieser Fragenkatalog habe das Ende der antifaschistischen Gedenkkultur vorweggenommen und sei, auf einer direkten Gleichsetzung der Opfer und des Gedenkens basierend, direkter Ausdruck einer BRD-Siegermentalität gewesen.117 »Gesamtdeutsche Formen der Erinnerung« als Zielvorgabe der zweiten Enquete-Kommission, habe zudem (laut Elm) das Ziel verfolgt »[…] die Gleichschaltung von Erinnern und Gedenken in Ostdeutschland nach altbundesrepublikanischen Vorgaben und die Absicht, das antikommunistische Potential des Gedenkens an die beiden deutschen Diktaturen und deren Opfer bundesweit zu erschließen«.118 In der zweiten Enquete-Kommission habe daher, unter Federführung der CDU/CSU, »[…] eine im Interesse der Täter und Mitläufer des Dritten Reiches liegende Orientierung der Geschichtsschreibung und der Gedenkkultur« dominiert, urteilt Ludwig Elm nicht weniger drastisch.119 Trotz dieser Einschätzungen und Beurteilungen von Ludwig Elm nahm die Radikalitat der PDS in ihren Argumenten gegen die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit ab. Die PDS näherte sich in der zweiten Enquete-Kommission in ihren Sondervoten stellenweise sogar der Einstellung der SPD an. So akzeptierte die PDS die grundsätzliche Notwendigkeit von Erinnern und Gedenken, anerkannte das Unrecht der DDR und übte vornehmlich nur noch Kritik an den Gleichsetzungen von NS-Staat und DDR sowie der unkritischen einseitigen Darstellung der DDR- und Alt-BRD-Erinnerungskultur vor 1989. Es ging der PDS nicht mehr um das Verhindern von Aufarbeitung und um ein Schönfärben der DDR, sondern inzwischen versuchte sie vielmehr ein modifiziertes und weniger polarisierendes Konzept von Erinnerung und Gedenken durchzusetzen.120 Die DDR wurde sogar von Seiten der PDS als ein System des »avancierten Totalitarismus« eingestanden.121 SPD-nahe Sachverständige und Experten sowie NS-Opferverbände kritisierten gleichermaßen wie die PDS die Gleichsetzung von NS- und SBZ/DDR-Opfern und die einseitige Darstellung der Erinnerungskulturen vor 1989 in DDR und BRD. Das Auschwitz-Komitee wie auch der Interessenverband ehemaliger Teilnehmer am antifaschistischen Widerstand, Verfolgter des Naziregimes und Hinterbliebener (IVVdN) befürchteten eine Verharmlosung der NS-Verbrechen. Insbesondere jüdische Interessenvertretungen sprachen sich gegen eine Banalisierung der NS-Verbrechen durch
115 116 117 118 119 120 121
Ebd., S. 123ff. Ebd. Ebd., S. 121. Ebd., S. 136. Ebd., S. 141. Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 1, 1999), S. 627. Ebd.
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eine Gleichsetzung der Opfergruppen aus. Sie forderten stattdessen eine differenzierte Betrachtungsweise. Statt Erinnerungsorte zu schaffen, die »totalitäre Gewaltherrschaften« in toto gedachten, sollten die Unterschiede von NS-, SBZ- und DDR-Unrecht berücksichtigt werden. Die SPD sprach sich daher für ein getrenntes Gedenken aus (d.h. auch ein Gedenken an unterschiedlichen Orten), was eine Trennung der Ausstellungen (z.B. an Orten doppelter Vergangenheit) implementierte.122 Bernd Faulenbach, Rainer Rürup, Hans Mommsen, Peter Reichel, Klaus v. Dohnanyi vertraten diese Auffassung aus Sachverständigensicht. Eine Gleichsetzung im Gedenken, durch ein Nennen der Opfer des NS-Staats und der Opfer stalinistischer Verbrechen in einem Atemzug, vernachlässige und relativiere die Spezifika und Unterschiede, hoben sie hervor. Zudem lehnten sie ein gegenseitiges Ausspielen der Opfer und die von den Konservativen forcierte »Opferkonkurrenz« vehement ab: »Eine antitotalitäre Wertorientierung der Gedenkstätten bedeutet nicht, dass die Totalitarismustheorie die Folie für die Ausstellungsgestaltung abgeben müsste oder könnte.«123 Auch votierte sie im Namen der SPD-Fraktion für eine kritischere Betrachtung der Alt-BRD-Erinnerungskultur. Diese Haltung kommt in den Sondervoten zu einzelnen Bereichen des Schlussberichtes zum Ausdruck. Als Beispiel sei hier das Sondervotum der SPD sowie der Sachverständigen Burrichter, Faulenbach, Gutzeit und Weber zur DDRErinnerungskultur vor 1989 genannt. Es richtete sich gegen die einseitige Darstellung der antifaschistischen Erinnerungskultur der DDR durch die Konservativen. Die DDR-Erinnerungskultur sei auch eine Antwort gewesen auf die Alt-BRD im Zuge des Kalten Krieges. Auch dürften die Fehlentwicklungen der Alt-BRD nicht vernachlässigt werden, sei die Auseinandersetzung dort doch ebenfalls verzerrt und einseitig gewesen, noch dazu im Vergleich zur DDR finanziell und personell vollständig mangelhaft ausgestattet.124 Es standen sich – anders als bei der ersten Enquete-Kommission – nur noch zwei Positionen bezüglich der Bewertung und des Umgangs mit der DDRVergangenheit gegenüber. Diese Tendenz wird im Schlussbericht deutlich. Die PDS passte sich in den Debatten den wesentlichen Punkten der moderateren kritischen Haltung der SPD an, auch wenn sie sich beim einstimmigen Beschluss des Schlussberichts am 03. Juni 1998 als einzige Partei enthielt.125 Die erinnerungspolitischen Ergebnisse, im Schlussbericht unter dem Titel »Gesamtdeutsche Formen der Erinnerung an die beiden deutschen Diktaturen« aufgeführt, seien an dieser Stelle überblicksartig dargestellt, um zu einer Gesamteinschätzung der Erinnerungspolitik der zweiten Enquete-Kommission zu kommen. Die Ergebnisse und Empfehlungen tragen die deutliche Handschrift der SPD, die dieses Kapitel der Aufarbeitung, wie im Folgenden deutlich werden wird, erfolgreich für sich verbuchen konnte und in
122 Auf die Debatten um die Gedenkstätten »doppelter Vergangenheit« und hier insbesondere die Gedenkstätten Sachsenhausen und Buchenwald wird nicht näher eingegangen. Es soll an dieser Stelle nur ein allgemeiner Überblick der Auseinandersetzungen um die unterschiedlichen Opfergruppen gegeben werden. 123 Bernd Faulenbach z.n. Elm, Ludwig: Das verordnete Feindbild (2001), S. 135. 124 Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 1, 1999), S. 600. 125 Ebd., S. 167.
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nahezu allen wesentlichen Punkten ihre Ziele der zweiten Enquete-Kommission durchsetzte. Grundsätzlich sprach sich die Enquete-Kommission in ihrem Schlussbericht für die hohe Bedeutung von Erinnerung und Gedenken für das »nationale und demokratische Selbstverständnis der Deutschen« aus.126 Hierzu formulierte die Kommission grundsätzliche Aufgaben der Gedenkstätten in der demokratischen Erinnerungskultur. Erwartungen und Voraussetzungen wurden erarbeitet. Das Ziel, konkrete Handlungsempfehlungen an den Bund zu geben, zur Sicherstellung der Gedenkstättenlandschaft und Erinnerungskultur, wurde erfüllt.127 Es wurde im Schlussbericht an der besonderen Bedeutung der Orte doppelter Vergangenheit festgehalten, da diese für die Legitimation des Status quo von zentraler Bedeutung seien: »Sie stellen ein unersetzliches Zeugnis der Erinnerung an Terror, Unterdrückung und Widerstand dar. Sie sind Zeichen der Anerkennung und moralischen Rehabilitierung für die Opfer der Diktaturen durch den demokratischen Staat.«128 »Die doppelte Diktaturerfahrung in Deutschland, die zweifache Erfahrung der, wenn auch unterschiedlichen begründeten, Feindschaft zur offenen Gesellschaft und der parlamentarischen, freiheitlichen Demokratie, stärkt das Bekenntnis der Deutschen zu den unveräußerlichen und unverletzlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft […] Dies ist der Kern des antitotalitären Konsenses und der demokratischen Erinnerungskultur in Deutschland.«129
Der antitotalitäre Konsens wurde demnach nicht mehr undifferenziert totalitarismustheoretisch interpretiert, sondern als Bekenntnis zu den Menschenrechten in einen allgemeinen Zusammenhang gebracht. Die zweite Enquete-Kommission hielt am Diktatur-Begriff für die DDR fest, legte jedoch Wert darauf, dass er nicht homogen sei, sondern es in Deutschland verschiedene Diktaturen gegeben habe. Entsprechend einigte man sich auf die Empfehlung, dass die Geschichte der Diktaturen in dem jeweiligen Zusammenhang darzustellen sei, d.h. durch dezentrale Ausstellungsabschnitte und getrennte Einzelausstellungen, um einer Gleichsetzung von NS und DDR/SBZ entgegenzuwirken. Man berücksichtigte somit die Position insbesondere der NS-Opferverbände, die ein gemeinsames Gedenken ablehnten. Man gab die Empfehlung, dass es bei dem Gedenken zu keiner Relativierung der NS-Verbrechen, durch die Verbrechen des Stalinismus, und zu keiner Bagatellisierung der stalinistischen Verbrechen, durch Verweis auf NS-Verbrechen, kommen dürfe.130 Der Schlussbericht setzte somit einen Schlussstrich unter die Tendenzen der Parallelisierung und Nivellierung der Opfer wie die Konservativen es anstrebten.
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Ebd., S. 587. Ebd. Ebd., S. 588. Ebd., S. 615. Ebd., S. 614ff.
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Didaktisch sollte der Schwerpunkt auf biographischen Zugängen liegen, wobei insbesondere auf Opfer beider Diktaturen (d.h. Verfolgte des NS-Staats, die später in der SBZ und DDR weiterverfolgt wurden) hingewiesen werden sollte und ihre Erfahrungen besondere Berücksichtigung finden sollten. Hierbei sollte es nicht zu einer Gleichsetzung ihrer Erfahrungen der Verfolgung kommen, sondern gerade die Irrationalität beider Verfolgungssysteme transparent dargestellt werden. Von der politischen Bildungsarbeit erhoffte sich die Enquete-Kommission generell eine enge Zusammenarbeit mit allen Opfergruppen, wobei auf Gefühle und Befindlichkeiten geachtet werden sollte.131 Unter dem Titel »Demokratische Erinnerungskultur«132 wurden allgemeine Richtlinien der gesamtdeutschen Erinnerungskultur zusammengefasst. Diese umfassten eine ganze Reihe von Kriterien, die beim öffentlichen Gedenken und Erinnern berücksichtigt werden sollten. Die Ergebnisse lesen sich wie ein »Gesetzbuch« des Gedenkens und Erinnerns in Deutschland. Dieses umfasst in den wesentlichen Punkten die folgenden Maßgaben: Die Erinnerungskultur solle eine klare, normative Orientierung haben (da Völkermord und Unmenschlichkeit keinen neutralen Umgang ermöglichen würden). Es sei dennoch kein einheitliches Geschichtsbild, sondern ein pluralistisches Geschichtsbild zu vermitteln (im Sinne des demokratischen Prinzips). Das Schaffen von Grabstätten solle Vorrang haben gegenüber der Errichtung von Denkmälern, insbesondere aufgrund der vorrangigen Totenehrung. Es dürfe zu keiner Hierarchisierung von Opfergruppen kommen, und Opfer dürften für politische oder ideologische Zwecke nicht instrumentalisiert werden. Zeitzeugen und Opfer seien in die Erinnerungsarbeit (z.B. in Form von Gedenkstätten-Beiräten) einzubeziehen, die Erinnerung ihrer Vergangenheit und ihre Zeugnisse hätten den Mittelpunkt jeder Gedenkstättenarbeit zu bilden. Dokumentation und Forschung seien im Zuge der Professionalisierung der Erinnerungsarbeit fester Bestandteil jeder Gedenkstättenarbeit, eine Spurensicherung der authentischen Orte und ihre Einordnung in den historischen Gesamtzusammenhang seien dabei grundlegend. An den Erinnerungsorten solle es jeweils eine kritische Dokumentation des Umgangs mit den authentischen Orten seit 1945 geben, sodass eine Reflexion der Erinnerungsweise an die Geschichte gefördert werden könne, d.h. auch eine kritische Reflexion der BRD sowie der antifaschistischen Gedenkkultur der DDR. Der Bildung- und Aufklärungsauftrag an Gedenkstätten solle zudem, gemäß dem gewünschten biographischen Zugang, beim persönlichen Schicksal einzelner Menschen ansetzen und diese spezifischen historischen Erfahrungen seien zu verbinden mit dem spezifischen authentischen Ort, wobei diese Notwendigkeit der Individualisierung der Erinnerungsarbeit eine Einbettung in den historischen Gesamtzusammenhang bedinge. Insbesondere Jugendliche sollten durch diese individualisierte Arbeitsweise der Gedenkstätten und politischen Bildungsarbeit die Möglichkeit haben, Zeitzeugen zu begegnen. Durch empathische Begegnungen mit Zeitzeugen und Opfern seien Lerneffekte möglich, die durch entsprechende Vor- und Nachbereitung des Gedenkstättenaufenthaltes zu intensivieren seien.
131 Ebd., S. 615. 132 Ebd., S. 616ff.
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Gleichzeitig empfahl die Kommission, bei Gedenkstätten auch die internationale Dimension sicherzustellen, mit dem Ziel der Völkerverständigung und der Konstruktion eines positiven Außenbildes Deutschlands. »Die Glaubwürdigkeit der Politik des vereinten Deutschlands wird nicht zuletzt am Umgang mit diesen Gedenkstätten und ihren Friedhöfen gemessen.«133 Erinnern und Gedenken solle demnach zu einer positiven Repräsentation des vereinten Deutschland und »[…] zur Überwindung kommunistischer Geschichtsbilder in Gesamteuropa« beitragen.134 Von herausragender Bedeutung sei daher die Erinnerung an den 17. Juni 1953, an Opposition und Widerstand sowie an die 34.000 sowjetischen Opfer in den Lagern der SBZ (Speziallager) nach 1945.135 Mit der »Demokratischen Erinnerungskultur« verband die Enquete-Kommission auch den Anspruch, dass die kollektive Erinnerung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sei, getragen von bürgerschaftlichem Engagement, vom jeweiligen Land und letztlich vom Bund. Sie solle kein »verordnetes Gedenken« sein. Heterogenität, Pluralität und Dezentralität der Erinnerung seien stattdessen zu festigen und weiterzuentwickeln. Die Vielfalt der Zuständigkeiten, Trägerschaften, Formen der Erinnerung, Geschichtsbilder und Inhalte sehe die Enquete-Kommission nur gewährleistet durch die Beteiligung von Vertretern des Staates, der Opfer, der Wissenschaft und der Bürgerinitiativen und durch die Kooperation von Gedenkstätten, Museen, Forschungseinrichtungen und Universitäten.136 Die Enquete-Kommission lieferte mit ihren umfassenden Empfehlungen zum Umgang mit der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit die grundlegende Definition einer in einer Demokratie wünschenswerten Erinnerungskultur. Dies stellte ein Novum dar. Erstmals befasste sich eine demokratische Regierung mit der Frage, nach welchen Grundsätzen öffentlich erinnert und gedacht werden sollte und betrieb, wenn auch unter demokratischem Vorzeichen, offensiv Erinnerungspolitik. Dies nicht nur bezüglich eines spezifischen interessegeleiteten Gedenkens, sondern unspezifisch, im Allgemeinen. Nicht das erinnerte Ereignis wurde zum Zentrum (anders als in der ersten Enquete-Kommission, wurde nur noch am Rande über historische Deutungsfragen gestritten), sondern die Erinnerungskultur selbst wurde Objekt der diskursiven, erinnerungspolitischen Auseinandersetzung. Auf die Ergebnisse des Schlussberichtes zum historischen Diskurs um die deutsch-deutsche Nachkriegserinnerungslandschaft wurde bereits im Zusammenhang der starken Kritik von Seiten der SPD und der PDS hingewiesen. Die Erinnerungskultur der Alt-BRD und DDR wurde letztendlich im Schlussbericht nicht ganz so schwarz-weiß dargestellt, wie die Sondervoten zunächst vermuten lassen. Bei der Darstellung der BRD-Erinnerungskultur vor 1989 schlug der Versuch der Regierungsparteien, die BRD zu glorifizieren, letztendlich fehl. Lediglich die Diskreditierung des DDR-Antifaschismus wurde im Schlussbericht konsequent weiterverfolgt. So kam die Enquete-Kommission zu dem Schluss, dass in der Alt-BRD noch bis in
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Ebd., S. 621. Ebd. Ebd., S. 622. Ebd., S. 625.
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die 70er Jahre hinein große Defizite des Erinnerns und Gedenkens herrschten und – aufgrund des antitotalitären Konsenses zur damaligen Zeit – eine Würdigung des kommunistischen Widerstands verhindert worden sei.137 Erst in den 80er Jahren habe es einen Erinnerungs- und Geschichtsboom gegeben, woraufhin sich bisherige Fixierungen auf den bürgerlichen Widerstand, den 17. Juni 1953 und das Gedenken der gefallenen Soldaten aufgeweicht hätten und zunehmend eine breitere Form von Gedenken und Erinnern sich etabliert habe.138 Die DDR-Erinnerungskultur vor 1989 wurde kritischer dargestellt. Sie sei gekennzeichnet gewesen von einer Instrumentalisierung des Antifaschismus und habe sich ausschließlich auf die politischen Opfer des Faschismus fokussiert. Dabei habe gegolten: »Wer Antifaschist ist, bestimmten die Kommunisten.«139 Es sei in der DDR zu einer Ausblendung des historischen Gesamtzusammenhangs gekommen. Die DDR habe sich auf den kommunistischen Widerstand fixiert und somit andere Opfergruppen weitgehend ausgespart, sodass es erst Mitte der 80er Jahre zu einer Öffnung des Opferbegriffes gekommen sei und die DDR folgerichtig auch Juden als Opfer anerkannt habe. Im Vordergrund habe in der DDR bis zuletzt, im Hinblick auf die antifaschistische Ideologisierung des Erinnerns, das Heldengedenken, die Überformung der authentischen Orte und geschichtspropagandistische Inszenierungen gestanden.140 »Die Gedenkstätten in der DDR waren als Elemente des kommunistischen Antifaschismus zutiefst diskreditiert.«141 Der DDR-Antifaschismus wurde also von der zweiten Enquete-Kommission restlos delegitimiert. Ausführlich befasste sich der Schlussbericht mit der Formulierung konkreter Maßnahmen, die das Gedenken an die Opfer der SBZ und DDR betrafen. Die Enquete-Kommission sprach sich im Schlussbericht deutlich für eine notwendige Erinnerungskultur zu diesem Kapitel deutscher Geschichte aus. Sie konstatierte, dass Öffentlichkeit und Politik den Ruf der Opfer der SBZ und DDR erkannt habe, »[…] an den Orten von Verfolgung und Widerstand über die Herrschaftsmechanismen einer Diktatur, Unterdrückung und Missachtung von Menschenrechten aufklären zu können, um so demokratisches Bewusstsein entwickeln und festigen zu können«.142 Die Kommission forderte eindringlich die Einrichtung von Gedenkstätten an Orten von Inhaftierung, Verfolgung und Widerstand (Opferorten) sowie an Orten der Planung der politischen Verfolgung (Täterorten). Diese Erinnerungsorte wurden im Schlussbericht in vier Gruppen eingeteilt, die in der Erinnerungskultur zur SBZ/DDR-Vergangenheit berücksichtigt werden sollten: Speziallager (v.a. Sachsenhausen, Buchenwald), Haftanstalten (Hohenschönhausen, Torgau, Bautzen), Erinnerungsorte zum Gedenken von Opposition und Widerstand (»Runde Ecke« in Leipzig und die Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße) sowie Flucht- und Teilungsorte (Deutsch-deutsches Museum Mödlareuth,
137 138 139 140 141 142
Ebd., S. 590. Ebd. Ebd., S. 593. Ebd., S. 594ff. Ebd., S. 595. Ebd., S. 603.
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Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn, Notaufnahmelager Marienfelde, Berliner Mauer-Gedenkstätte).143 Insgesamt forderte diese zweite Enquete-Kommission eine umfassende Förderung und Sicherstellung dieser Erinnerungsorte sowie die Einrichtung von Gedenkorten, wo dies noch nicht der Fall war. Die Bedeutung dieser Orte wurde klar umrissen: sie seien Kristallisationspunkte der Herausbildung demokratischen und bundesrepublikanischen Bewusstseins. In dieser Form sollten sie den NS-Gedenkstätten in nichts nachstehen. Dass die genuinen NS-Gedenkstätten – zumal die in den alten Bundesländern – in den Empfehlungen zur »demokratischen Erinnerungskultur« eine »Nebenrolle« spielten, resultierte dabei allein aus dem Umstand, dass die Enquete-Kommission aufgrund ihres Untersuchungsgegenstandes den Schwerpunkt auf SBZ/DDR-Gedenkstätten zu legen hatte. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass in der zweiten Enquete-Kommission ein geringeres Ausmaß an Geschichtspolitik und ein Höchstmaß an Erinnerungspolitik betrieben wurde. Dies wird anhand der voran gegangenen Ausführungen deutlich. Insgesamt konnte sich die konservative Haltung geschichtspolitisch nicht durchsetzen. Vielmehr setzten sich die Linken mit ihren Appellen nach einer differenzierteren Betrachtungsweise durch. Diese Versachlichung der Aufarbeitungsfrage ging einher mit einer »Politisierung« der Erinnerungsfrage. Erinnerungspolitisch wurden in der zweiten Enquete-Kommission die Weichen der Erinnerungskultur in Gesamtdeutschland gestellt. Dies stellte ein beispielloses Novum in der bundesrepublikanischen Geschichte dar. Erinnerung wurde nicht nur inhaltlich, bezogen auf spezifische historische Ereignisse und ihr Gedenken politisiert, sondern Erinnerungskultur im Allgemeinen wurde zum Politikum. Dabei ging es nicht nur um die Durchsetzung des antitotalitären Konsenses, sondern insbesondere um eine »Bundesrepublikanisierung« der Erinnerung insgesamt. »Gesamtdeutsche Formen der Erinnerung« meinte nichts anderes, als eine »Bundesrepublikanisierung« bzw. »Nationalisierung« der Memorialkultur, evoziert durch das Ende der DDR.
143 Ebd., S. 604ff.
3. Folgen der Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages
3.1 D IE S TIFTUNG ZUR AUFARBEITUNG DER SED-D IKTATUR 1998 Bereits nach der ersten Enquete-Kommission war die Fortführung der Aufarbeitung in einer zweiten Enquete-Kommission begründet worden mit der Notwendigkeit, Maßstäbe für »gesamtdeutsche Formen der Erinnerung« entwickeln zu müssen sowie mit der Notwendigkeit einer dauerhaften Sicherstellung der Aufarbeitung. Die Aufarbeitungsinitiativen befanden sich Mitte der 90er Jahre erst in der Anfangsphase und waren zudem existenziell – mangels finanzieller Sicherheit – akut bedroht.1 Von vornherein war offensichtlich, dass die Enquete-Kommissionen die dauerhaften Aufgaben der Sicherstellung, Förderung und Fortführung von Aufarbeitung nicht erfüllen konnten und langfristige Alternativen geschaffen werden mussten. Die SPD hatte bereits in der ersten Enquete-Kommission – in ihrem damaligen Sondervotum – auf das Gründen einer Stiftung gedrängt, die diese Aufgaben zu erfüllen habe. In ihrem Sondervotum hieß es dazu: »Zu prüfen ist, ob nicht eine Bundesstiftung gegründet werden sollte, die den Aufarbeitungsprozess fördert und die Deutschen im Westen und Osten politisch-kulturell zusammenführen hilft.« 2 Ebenfalls forderte die SPD bereits innerhalb der ersten Enquete-Kommission die verstärkte Förderung von Forschung, Dokumentationseinrichtungen, Archiven und Bürgerinitiativen mittels einer solchen Bundesstiftung. Zugleich sollte es bildungspolitisch zu einer Kompetenzsteigerung der Landes- und Bundeszentrale(n) für Politische Bildung kommen und ein Notfallfonds für Opfer und Initiativen in prekären Lagen eingerichtet werden.3 Zum damaligen Zeitpunkt konnte sich die Enquete-
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Stiftung Aufarbeitung (Hg.): Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Tätigkeitsbericht 1998-2001, Berlin 2002, S. 7 Sondervotum der SPD-Fraktion, in: Faulenbach, Bernd/Meckel, Markus/Weber Herrmann (Hg.): Die Partei hatte immer Recht (1994), S. 284. Ebd., S. 285ff; Drechsler, Ingrun: »Erfahrungen, Erkenntnisse und Empfehlungen der Enquete-Kommission«, in: Drechsler, Ingrun/Faulenbach, Bernd/Gutzeit, Martin/Meckel, Markus/Weber, Herrmann: Getrennte Vergangenheit (1997), S. 138ff; 148ff; Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (1995), S. 746ff.
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Kommission jedoch nicht zu diesen, von der SPD vorgebrachten Maßnahmen entschließen, stand noch die Klärung grundlegender Beurteilungen der DDR-Vergangenheit im Vordergrund. Aufgrund dieser existenziellen Dringlichkeiten wollten Bündnisgrüne und SPD mit der Einrichtung einer Bundesstiftung nicht auf das Ende der zweiten EnqueteKommission warten und brachten bereits vorzeitig 1996 einen Antrag ein, die Gründung einer Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur anzustreben.4 Der Antrag »Sicherstellung und Fortführung des gesellschaftlichen Aufarbeitungsprozesses durch Einrichtung einer öffentlich-rechtlichen Stiftung« durch die Bündnisgrünen basierte auf der Vorstellung, eine Bundesstiftung einzurichten, wie sie bereits durch die SPD 1994 im Zuge der ersten Enquete-Kommission anvisiert wurde. Alle Fraktionen sowie die PDS schlossen sich diesem Antrag auf Einrichtung einer Bundesstiftung an, vorgebracht durch die Berichterstattergruppe der zweiten Enquete-Kommission »Weiterführung des Prozesses der Aufarbeitung der SEDDiktatur«.5 Zwar behauptet Ludwig Elm, die PDS habe sich gegen diesen Antrag gestellt, da eine Festschreibung und Institutionalisierung der Geschichtspolitik befürchtet wurde,6 insgesamt jedoch stimmte auch die PDS dem Vorhaben, Verbände, Initiativen, Archive und Opferarbeit durch eine Einrichtung zu fördern, grundsätzlich zu – als einen Akt der Wiedergutmachung.7 Es konnte somit erstmals parteiübergreifend ein Antrag auf Gründung einer Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur vorgebracht werden. Dies geschah in Form des Zwischenberichtes der zweiten Enquete-Kommission 1997.8 Die sechs zentralen Aufgabengebiete dieser Stiftung sollten diesem Antrag/ Zwischenbericht gemäß folgendes Spektrum umfassen: Erstens, die Arbeit von Aufarbeitungsinitiativen und Opfer-Verbänden der SED-Diktatur sei zu unterstützen. Dies umfasste die Förderung von Zeitzeugenarbeit, die projektbezogene Förderung erinnerungskultureller Einrichtungen, die Unterstützung und Beratung bei der inhaltlichen Arbeit, eine Förderung der Öffentlichkeitswirksamkeit und Kooperationen zu Wissenschaft, Trägern politischer Bildungsarbeit und anderen Einrichtungen sowie die Veröffentlichung von Adressen-, Veranstaltungs-, Publikations- und Projektlisten. Zweitens, die Stiftung sollte die Beratung und Betreuung von Opfern gewährleisten, d.h. ein Informationsangebot liefern, Ansprechpartner sein sowie bei der Vermittlung von Beratung bzw. Betreuung unterstützend wirken. Die Aufklärung der Öffentlichkeit über die Situation der Opfer und das Mitwirken an Fortbil-
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6 7 8
Dt. BT Drs. 13/4353 vom April 1996. Stiftung Aufarbeitung (Hg.): Tätigkeitsbericht (2002), S. 8; Lölhöffel, Helmut: »Aufarbeiter suchen Geldquelle. Stiftung soll DDR-Geschichte unter die Lupe nehmen«, in: Frankfurter Rundschau vom 22.03.1997. Elm, Ludwig: Das verordnete Feindbild (2001), S. 33 Ebd., S. 34. Der innere Widerspruch in den Schilderungen Elms zur Haltung der PDS und seiner persönlichen wird an diesem Punkt deutlich. Deutscher Bundestag (Hg.): Zwischenbericht der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit«, Bonn 1997, (Dt. BT Drs. 13/8700 vom 08.10.1997).
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dungsveranstaltungen sollte ebenfalls zu diesem Aufgabengebiet gehören. Drittens, die Stiftung sollte selbst politisch-historische Aufklärung über die SED-Diktatur leisten. Dazu gehörte, das Engagement gegen totalitäre Tendenzen zu wecken, Nostalgie und Legendenbildung entgegenzuwirken und eine breite Förderung der politischen Bildungsarbeit. Viertens, die Stiftung sollte Forschungsförderung durch Projektförderungen betreiben, Stipendien vergeben, Publikationen fördern sowie Forschungsprogramme initiieren durch eine weit reichende Dokumentation aktueller Forschungsergebnisse, Quellen und Materialien. Als fünftes Aufgabengebiet wurden die Archivierung der Materialien von Opposition und Widerstand sowie die Sicherstellung der Zeugnisse von Zeitzeugen/Opfern benannt. Die Erschließung, Erhaltung und Sicherung gefährdeten Materials standen hierbei im Vordergrund. Ziel sollte es sein, zum einen eine Konzentration der Archivmaterialien in einem eigenen Stiftungsarchiv, zum anderen eine Professionalisierung der pluralistischen Archivlandschaft voranzubringen. Hierzu wurde eine Datenvernetzung angestrebt. Schließlich befasste sich das sechste Aufgabengebiet mit der gezielten Förderung von Erinnern und Gedenken der Opfer der DDR.9 Die Stiftung sollte die Etablierung der Erinnerungskultur zur DDR-Vergangenheit unterstützen. Erinnerungskulturelle Einrichtungen sollten an Stellenwert gewinnen: »Die Erinnerung an die deutsche Teilung mit all ihren Folgen und auch das Gedenken an die Opfer nehmen im vereinten Deutschland noch nicht ihren gebührenden Platz ein.«10 Zudem ergab sich aus der Arbeit der Enquete-Kommission, »[…] dass die Aufarbeitungsinitiativen und Opferverbände ihre wichtige Aufgabe aufgrund fehlender finanzieller Mittel und unzulänglicher organisatorischer Bedingungen schon in naher Zukunft nicht mehr in dem wünschenswerten Umfang fortsetzen können«.11 Die monetäre Förderung von erinnerungskulturellen Einrichtungen, die inhaltliche und die formelle Ausgestaltung der Memorialkultur (z.B. Gedenktage) gehörten dementsprechend zum dringlichsten Anliegen der Bundesstiftung. Die geschichts- und erinnerungspolitische Ausrichtung der Stiftung dürfte anhand des hier zusammengefassten Aufgabenspektrums deutlich geworden sein. Tatsächlich handelte es sich bei der Bundesstiftung um ein Instrument gesamtstaatlicher nationaler Geschichts- und Erinnerungspolitik. Die Bundesstiftung war angelegt als eine weitere (staatliche) Instanz der DDR-Aufarbeitung, neben dem Bundesbeauftragten für die Staatssicherheitsunterlagen der ehemaligen DDR (BStU) und den LStU. Es ging hierbei jedoch nicht um geschichtspropagandistische Zielsetzungen, sondern vor allem um Bestandssicherung, standen die Aufarbeitungsinitiativen, Opferverbände und erinnerungskulturellen Einrichtungen kurz vor dem Aus. Es gab in Ermangelung einer bürgerschaftlich verfassten, gewachsenen Aufarbeitungsstruktur – wie in Westdeutschland in Bezug auf den NS seit den 80er Jahren – kaum Alternativen. Das o.g. Aufgabenspektrum dem BStU zu übergeben hätte ein Kollaps der Aufarbeitung provoziert, die Kapazitäten des BStU waren bereits mit behördeneigenen Aufgaben ausgeschöpft. Zudem hätten lange Verwaltungswege den Prozess der Aufarbeitung nicht
9 Ebd., S. 3ff. 10 Ebd., S. 9. 11 Ebd.
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beschleunigt und gefördert, sondern vermutlich lahm gelegt. Auch die finanziellen und personellen Kapazitäten der Landesbeauftragten für die Staatssicherheitsunterlagen der ehemaligen DDR (LStU) waren aufgrund der Verschuldung der Länder und Kommunen nicht ausreichend ausstaffiert, sie hätten nur punktuell hinzufördern können, und nicht flächendeckend. Vordringlichste Aufgabe der Bundes- und Landesbeauftragten war die Aufarbeitung der Staatssicherheit der DDR, d.h. die Auseinandersetzung mit dem Repressionsapparat. Die Aufarbeitung von Opposition und Widerstand sowie der deutschen Teilung gehörten nicht zu ihren behördeneigenen Aufgaben. Ein Verzicht auf die Einrichtung einer Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hätte daher in gewisser Weise einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung bzw. ihr Versiechen provoziert. Angesichts dieser Umstände schien die Einrichtung einer bundeseigenen Stiftung als das »kleinere Übel«, bedeutete eine Fortführung der Aufarbeitung doch auch einen Fortgang der staatlich institutionalisierter Geschichts- und Erinnerungspolitik. Diese Gefahr erkannte Wolfgang Thierse, der in der Stiftung eine »regierungsamtliche Oberbehörde für Aufarbeitung« witterte.12 Thierse lief in diesem Punkt mit der PDS konform, die sich unter einer Wiedergutmachung nicht eine Bundesstiftung dieses Ausmaßes vorstellte. Die PDS bezweifelte in der Bundestagsaussprache vom 13. November 1997 nicht die hehreren Ziele dieser Stiftung, hieß diese sogar gut, befürchtete jedoch, die Stiftung würde an der geschichtspolitischen Praxis scheitern. Zudem lehnte die PDS die Vorwegnahme von Ergebnissen und Urteilen zukünftiger Forschung zur DDR durch eine Bundesstiftung ab.13 Nichtsdestotrotz wurde am 11. Februar 1998 der Gesetzesentwurf zur Stiftungsgründung von den Parteien CDU/CSU, FDP, Bündnisgrünen und SPD in den Bundestag eingebracht.14 Dieser Gesetzesentwurf sah vor, dass die Stiftungsratsmitglieder aus den jeweiligen Fraktionen des Bundestages entsandt werden sollten. Weil die Parteien im Zuge der Bundestagswahl 1998 mit einem absehbaren Fraktionsstatus der PDS rechneten, wurde der Gesetzesentwurf vom 11. Februar nochmals überarbeitet. Im Änderungsantrag von CDU/CSU, FDP, Bündnisgrünen und SPD lautete es nach der Überarbeitung: »Der Deutsche Bundestag wählt nach der zum Zeitpunkt der Wahl bestehenden Zahl seiner Fraktionen Mitglieder in den Stiftungsrat, wobei jede Fraktion im Deutschen Bundestag ein Mitglied vorschlagen kann.«15 D.h., das Wahlergebnis sollte keine Auswirkung auf die Entsendung der Mitglieder an die Stiftung haben, sondern die Konstellation vor der Septemberwahl. Damit sollte die PDS, die unter Umständen nach der Septemberwahl Fraktionsstatus erhalten hätte, von vornherein und bis auf weiteres ausgeschlossen werden.
12 O.V.: »Versorgung stiften«, in: Der Spiegel vom 13.04.1998, S. 47. 13 Elm, Ludwig: Das verordnete Feindbild (2001), S. 33. 14 Dt. BT, Drs. 13/9870, PA Dt. BT; Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 1, 1999), S. 92, 166. 15 Ebd., S. 107.
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Die PDS wollte dieses Ergebnis nicht hinnehmen und beantragte in ihrem Änderungsantrag vom 02. April 1998, dass neben Fraktionen auch Gruppen (d.h. Parteien mit einer geringeren Zahl als 34 Abgeordneten im Bundestag) entsendungsberechtigt zu sein haben.16 Zwar begrüßte die PDS in ihrem Antrag die Einrichtung einer Stiftung zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit weiterhin und erkannte sie die Opfer-Arbeit und die Auseinandersetzung mit dem Repressionssystem der DDR erstmals öffentlich an, eine unmittelbare Beteiligung bei der Aufarbeitung wollten die anderen Fraktionen dennoch nicht riskieren, sie befürchteten eine parteipolitische Funktionalisierung und Einbußen bezüglich einer versachlichten und wissenschaftlichen Aufarbeitung. Der Änderungsantrag der PDS wurde folglich von allen Fraktionen abgelehnt.17 Der Gesetzesentwurf der CDU/CSU, FDP, Bündnisgrünen stieß aber kurz darauf auch bei der SPD auf Kritik. Diese bezog sich auf den Passus der Finanzierung der Stiftung, der noch kurz vor der Abstimmung des Gesetzes von den Regierungsparteien geändert wurde. Diese Änderung brachte das gesamte Vorhaben in Gefahr zu einer »Null-Nummer« zu werden. Die Finanzierung einer solchen Stiftung war von Anfang an unklar, das SED-Vermögen und die Kapitalien der alten Blockparteien waren bereits verbraucht und Einkünfte aus dem Mauergrundstücksfonds konnten nicht direkt in einer Stiftung gebunden werden. Eine Erstausstattung von vier Millionen DM für das Jahr 1998 wurde zunächst anvisiert, bis zum Jahr 2000 sollte der Bundesetat ca. zehn Millionen DM p.a. vorsehen.18 Kurz vor der Verabschiedung des Gesetzes machte die CDU/CSU einen Rückzieher. Sie wollte sich nunmehr auf keine finanziellen Verpflichtungen von Seiten des Bundes einlassen. Die im Gesetz ursprünglich geplante Anschubfinanzierung von vier Millionen DM und eine Folgefinanzierung von zehn Millionen DM wurden daher von der CDU/CSU gestrichen.19 Die CDU spekulierte stattdessen auf eine Anschubfinanzierung durch den Deutschen Beamtenbund. Dieser liebäugelte mit dem zukünftigen Sitz der Stiftung, das »Haus der Demokratie« in der Friedrichstraße in Berlin.20 Sofern die Stiftung auf einen Einzug in das »Haus der Demokratie« verzichtete, sollte die Anschubfinanzierung vom Beamtenbund kommen.21 Dieser »Kuhhandel« wurde von der SPD als bedenkliches Signal gewertet. Schließlich wurde die finanzielle Ausstattung der Stiftung aus wahltaktischen Gründen auf einen Zeitpunkt nach der Septemberwahl verschoben22 und das Gesetz zur Einrichtung einer Stiftung gemäß
16 Dt. BT Drs. 13/10326. 17 Tatsächlich erhielten die Abgeordneten der PDS nach der Bundestagswahl am 27. September 1998 Fraktionsstatus. 18 Denkler, Thorsten: Stiftung zur SED-Diktatur kommt in diesem Jahr, in: Taz vom 13.02.1998. 19 O.V.: »Versorgung stiften«, in: Der Spiegel vom 13.04.1998. 20 Denkler, Thorsten: Stiftung zur SED-Diktatur kommt in diesem Jahr, in: Taz vom 13.02.1998. 21 O.V.: »Versorgung stiften«, in: Der Spiegel vom 13.04.1998. 22 Küpper, Mechthild: »Kalkulierte Eile. Streit um einen Versorgungsfall in der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur«, in: Süddeutsche Zeitung vom 11.09.1998. Tatsächlich
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Änderungsantrag der CDU/CSU23 und unter Einlenken der SPD, am 12. Juni 1998 einstimmig (bei Enthaltung der PDS) beschlossen.24 Die Stiftung wurde als bundesunmittelbare Stiftung des öffentlichen Rechts durch das Bundesinnenministerium (Manfred Kanther), den Bundeskanzler (Helmut Kohl) und den Bundespräsidenten (Roman Herzog) mit der Gesetzesverabschiedung gegründet.25 Das Gesetz über die Einrichtung der Stiftung übernahm dabei nahezu den Wortlaut der Anträge zu den Enquete-Kommissionen sowie des Zwischenberichtes der Enquete-Kommission. Zum Stiftungszweck heißt es unter §2: »Zweck der Stiftung ist es, in Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen auf dem Gebiet der Aufarbeitung der SED-Diktatur, Beiträge zur umfassenden Aufarbeitung von Ursachen, Geschichte und Folgen der Diktatur in der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland und in der DDR zu leisten und zu unterstützen, die Erinnerung an das geschehene Unrecht und die Opfer wach zuhalten sowie den antitotalitären Konsens in der Gesellschaft, die Demokratie und die innere Einheit Deutschlands zu fördern und zu festigen.«26
Damit stand die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in der direkten Tradition der erinnerungs- und geschichtspolitischen Ausrichtung beider EnqueteKommissionen. Die Stiftung verkörperte institutionell die gesamtstaatliche bzw. nationale Geschichts- und Erinnerungspolitik zur SBZ/DDR. Erinnerungspolitisch wurde der Schwerpunkt der Arbeit auf die Aufarbeitung von Unrecht, Opposition und Widerstand 1945-1989 sowie auf die deutsche Teilung und ihre Folgen gelegt. Anders jedoch als von der SPD (insbesondere Wolfgang Thierse) befürchtet, wurde die Stiftung dennoch keine »staatliche Aufarbeitungsbehörde«. Sie verfolgte im Stiftungsalltag vor allem das Ziel, eine multiperspektivische, pluralistische und heterogenen Erinnerungskultur bezüglich der DDR-Vergangenheit zu gewährleisten, ohne dabei in Konkurrenz mit der Basis zu treten, d.h. mit bestehenden Bürgerinitiativen, Opferverbänden und Archiven. Im Gegenteil, sie versuchte diese Basis durch finanzielle, ideelle und konzeptionelle Unterstützung und Projektförderung am Leben zu halten, deren Arbeit ohne diese Zuwendungen und Dienstleistungen wohlmöglich zum Erliegen gekommen wäre. Am 24. Juni 1998 konstituierte sich der Stiftungsrat. Markus Meckel (SPD) übernahm den Stiftungsratvorsitz, sein Vertreter wurde Gerald Häfner, Rainer Eppelmann (CDU) übernahm den Vorstandsvorsitz, Bernd Faulenbach (SPD) wurde zu seinem Stellvertreter benannt. Gemäß dem Änderungsantrag der CDU/CSU,
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kamen die Zuwendungen nach Stiftungsgründung vom Bund. Die Anschubfinanzierung in Höhe von 1,9 Millionen DM 1998 wurde bis 2001 auf einen Gesamtjahresetat von 6,48 Millionen DM ausgebaut; vgl. Stiftung Aufarbeitung (Hg.): Tätigkeitsbericht (2002), S. 17. Dt. BT Drs. 13/20876; Dt. BT Drs. 13/20884. Bundesgesetzblatt: Gesetz über die Einrichtung einer Stiftung zur Aufarbeitung der SEDDiktatur vom 05.06.1998, Teil I, Nr. 33 (1998), S. 1226-1228. Stiftung Aufarbeitung (Hg.): Tätigkeitsbericht (2002), S. 8. Bundesgesetzblatt: Gesetz über die Einrichtung einer Stiftung zur Aufarbeitung der SEDDiktatur vom 05.06.1998, Teil I, Nr. 33 (1998), S. 1226.
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FDP, Bündnisgrünen und der SPD vom 02. April 1998 blieb die PDS als einzige Partei von den 13 Posten des Stiftungsrates und 5 Posten des Vorstandes ausgeschlossen. Mitglieder kamen aus den Fraktionen CDU/CSU, FDP, Bündnisgrünen und SPD, so u.a. Ehrhart Neubert und Gerd Poppe. Damit stand die Stiftung auch personell in der Tradition der beiden Enquete-Kommissionen. Ehemalige Sachverständige, ehemalige ostdeutsche Bürgerrechtler und Abgeordnete des Bundestages übernahmen die leitenden Gremien. Die Besetzung von Gremien solcher staatlichen Einrichtungen mit Abgeordneten ist durchaus übliche Praxis. In diesem Fall bestand jedoch auch auf fachlicher Seite eine ungewöhnliche Personalkontinuität zu den vorangegangenen Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages. Der Wunsch der CDU, einen CSU-Mann zum Geschäftsführer zu berufen, wurde jedoch – insbesondere von Markus Meckel – abgewendet, die SPD plädierte für einen unparteilichen Geschäftsführer.27 Mit der Berufung von Wolfgang Kusior (bis dato beim LStU von Berlin), setzte sich Markus Meckel durch. Ingesamt betrachtet entsprach die Stiftung in ihrem Arbeitsauftrag überwiegend den erinnerungs- und geschichtspolitischen Vorstellungen der SPD und der Bündnisgrünen. Die bis zur Mitte der 90er Jahre dominierende konservative Kommunismuskritik wurde abgemildert. Ein differenzierter und sachlicher Blick auf die DDR-Vergangenheit sowie eine multiperspektivische und wissenschaftliche Geschichtsaufarbeitung etabliert. Der Fokus blieb dabei zwar auf das Unrechtssystem der DDR gerichtet, jedoch wurde die Aufarbeitung von Opposition und Widerstand sowie der deutschen Teilung gegenüber den Anfangsjahren zunehmend, wohl auch unter dem Einfluss der SPD, intensiviert. Grundsätzlich führte die Gründung der Stiftung insgesamt zur Sicherstellung einer Versachlichung, Professionalisierung und Ausdifferenzierung der Aufarbeitungsfrage, unter staatlicher Schirmherrschaft. Die Stiftung sollte »im Dienst« der »demokratischen Erinnerungskultur« stehen und nicht »regierungsamtliche Aufarbeitung« und Geschichtspolitik »von oben« betreiben, dies wurde mittels der Projektförderung sichergestellt.28 Diese löste zwar gerade in den Anfangsjahren Proteste von Seiten der zu fördernden Einrichtungen aus, empfanden sie die Vergabepraxis der Stiftung zunächst als »Geschichtspolitik mit monetären Mitteln«.29 Letztendlich jedoch war das Förderspektrum von Anfang an unumstritten hoch und es wurden nicht nur einer konservativen Politik konforme Projekte gefördert, sondern gerade bei dieser Projektmittelvergabe das demokrati-
27 Küpper, Mechthild: »Kalkulierte Eile. Streit um einen Versorgungsfall in der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur«, in: Süddeutsche Zeitung vom 11.09.1998, S. 10. 28 Allein 1998 wurden 57 Projekte unterstützt, 1999 bereits 71. Der Jahresbericht der Stiftung gibt Aufschluss über den riesigen Umfang der einzelnen geförderten Projekte, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann; vgl. Stiftung Aufarbeitung (Hg.): Tätigkeitsbericht (2002), S. 82-114; Meier, Mario: »180 Tage gegen das Vergessen«, in: Süddeutsche Zeitung vom 16.06.1999. 29 Schneider, Ulrich: Rolle rückwärts (1997), S. 21; o.V.: »Bundesstiftung unter Beschuss«, in: Der Spiegel, Nr. 47, 1999, S. 18; Kowitz, Dorit: »Wut und Gegenwut. Ehemalige Bürgerrechtler erheben Vorwürfe gegen die ›Stiftung zur Aufarbeitung der SEDDiktatur‹«, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.02.2000.
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sche Prinzip eingehalten, d.h. unterschiedlichste Projekte mit vielfältigen Geschichtsbildern unterstützt. Gerade in der Stiftungspraxis wurde damit die dezentral angelegte und multiperspektivische Erinnerungskultur zur DDR-Vergangenheit sichergestellt. Erinnerungspolitik im Sinne einer »demokratischen Erinnerungskultur« ersetzte daher – institutionell in Form der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur – die konservative Geschichtspolitik der Anfangsjahre der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit in den Enquete-Kommissionen des Bundestages. Mit der Arbeit der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur fand zugleich eine politische Institutionalisierung der Erinnerungsfrage statt, erstmals übernahm der Bund institutionell und zentral (in Form der Stiftung) kulturpolitische Hoheitsaufgaben der Länder. Mit der Einrichtung der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur war daher eine Instanz ohne Beispiel geschaffen, die länderübergreifend zentrale Aufgaben der Kulturpolitik übernahm, durch die Förderung und Sicherstellung dezentral angelegter, erinnerungskultureller Einrichtungen zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, nämlich Gedenkstätten, Forschungen, Archive und Aufarbeitungsinitiativen.
3.2 D IE G EDENKSTÄTTENKONZEPTION
DES
B UNDES 1999
Neben der Einrichtung der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur schlug sich die Arbeit der Enquete-Kommissionen auch in der Verwirklichung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes nieder, die 1999 vom Bundestag unter der SPD/Bündnisgrünen-Regierungskoalition beschlossen wurde. Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes versuchte, gesamtdeutsche Formen der Erinnerung beider Vergangenheiten (d.h. an die NS-Zeit und an die SBZ/DDR) in Ost- wie nun auch in Westdeutschland mittel- bis langfristig durch gezielte institutionelle und projektbezogene Förderung abzusichern. Aus der Notlage der ost- wie seit jeher westdeutschen Gedenkstätten sowie den geschichts- und erinnerungspolitischen Debatten und Kontroversen um eine »demokratische Erinnerungskultur« und »gesamtdeutsche Formen der Erinnerung« innerhalb der beiden Enquete-Kommissionen, entstand – im Vergleich zur den uneinheitlich geregelten Bundesbeteiligungen von 1994 – erstmals in der Geschichte der BRD eine umfassende gesamtstaatliche Lösung zum Umgang mit den Erinnerungsorten unterschiedlichster Vergangenheitsschichten. Erinnerungspolitisch stellte die Gedenkstättenkonzeption daher in ihrem Ausmaß ein weiteres Novum dar, die Politik hatte in ihrer bisherigen Erinnerungspolitik weitgehend auf ein solches Instrument verzichtet. Bereits die erste Enquete-Kommission hatte empfohlen, Gedenkstätten von gesamtstaatlicher Bedeutung durch den Bund zu fördern, lediglich die Anschubfinanzierung einzelner SBZ/DDR-Gedenkorte (z.B. die Gedenkstätten Berliner Mauer, Berlin-Hohenschönhausen, Bautzen, Mödlareuth) gelang parallel.30 In der zweiten Enquete-Kommission wurde die Empfehlung nach einer Gedenkstättenkonzeption des Bundes aufgenommen und ein konkreter und umfassender Arbeitsauftrag er-
30 Vgl. Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (1995), S. 647.
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teilt.31 Vergin resümiert: »Erstmals wurde klar der Blick auf die gewachsene, dezentrale, demokratische Erinnerungskultur und Gedenkstättenlandschaft gerichtet.«32 Dies erfolgte ausführlich, das gesamte Kapitel VI des Schlussberichtes befasste sich mit der Feststellung des Status quo an Erinnerungskultur und der Formulierung von Handlungsempfehlungen bezüglich einer möglichen Gedenkstättenkonzeption.33 Grundsätzliche Aufgaben der Gedenkstätten, Erwartungen und Voraussetzungen für eine Bundesförderung wurden – an die Empfehlungen von Rürup aus dem Jahre 1992 anknüpfend – weiterentwickelt. Die daraus resultierenden Handlungsempfehlungen für die gesamtdeutschen Formen der Erinnerung bildeten das Fundament der späteren Gedenkstättenkonzeption des Bundes.34 Sie seien an dieser Stelle nochmals kurz zusammengefasst. Erstens, empfahl die Kommission, Angebote von Gedenktagen zu fördern und auszubauen, gerade weil einer Verengung auf den 17. Juni und den 03. Oktober entgegengewirkt und der Blick auf viele Ereignisse der deutschen Geschichte, die in freiheitlicher, demokratischer Tradition standen, erweitert werden sollte. Dies umfasste die Gedenktage 03. Oktober 1990, 17. Juni 1953, 27. Januar, 18. März 1848/ 1990, 08. Mai 1945, 23. Mai 1949, 20. Juli 1944, 13. August 1961, 09. Oktober 1989 und den 09. November 1989. Zweitens empfahl die Kommission die vermehrte Übernahme sämtlicher Gedenkstätten von gesamtstaatlicher Bedeutung durch den Bund. Die Bundesförderung solle Projekt- und Institutionsförderung sowie zeitlich befristete regionale und lokale Förderung beinhalten. Diese Förderungen legten die Erfüllung folgender Kriterien zugrunde: es hätten Orte von herausragender historischer Bedeutung zu sein, die exemplarisch für bestimmte Verfolgungskomplexe seien, die Orte müssten über ein spezifisches, unverwechselbares Profil verfügen, wissenschaftliche, museologische und gedenkstättenpädagogische Konzepte und inhaltliches Engagement von Opfer- und Betroffenenverbänden seien zugrunde zu legen und das Sitzland müsse sich mit 50% an der Finanzierung beteiligen. Dieser Kriterienkatalog war bereits 1994 von Reinhard Rürup im Zuge der ersten Enquete-Kommission vorgestellt worden.35 Als Zugeständnis räumte die zweite Enquete-Kommission ein, dass nicht jedes dieser Kriterien bei Förderungsbeginn erfüllt sein müsse. Für ein Beibehalten und eine Neuaufnahme in die zehnjährige Bundesförderung aufgrund herausragender gesamtstaatlicher Bedeutung, empfahl die zweite EnqueteKommission Orte, an denen es Speziallager gab, Haftanstalten der ehemaligen DDR, Orte, die für Opposition und Widerstand in der ehemaligen DDR stehen (Gedenkstätte Münchner Platz in Dresden, die Forschungs- und Gedenkstätte Norman-
31 Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 1, 1999), S. 587. 32 Vergin, Siegfried: »Wende durch die ›Wende‹«, in: Stiftung Topographie des Terrors (Hg.): Gedenkstättenrundbrief 100 (2001), S. 94. 33 Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 1, 1999), S. 585ff, S. 602ff. 34 Ebd., S. 631ff. 35 Morsch, Günter: »Die Bedeutung kleinerer Gedenkstätten für die Erinnerungskultur in der Bundesrepublik Deutschland«, in: Gause, Detlev/Schomaker, Heino (Hg.): Das Gedächtnis des Landes. Engagement von BürgerInnen für eine Kultur des Erinnerns, Hamburg 2001, S. 14.
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nenstraße), Flucht- und Teilungsorte (Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn, Erinnerungsstätte Marienfelde) sowie Orte »doppelter Vergangenheit« (Buchenwald, Sachsenhausen). Zudem empfahl die Kommission, die Stadt Berlin – aufgrund seiner prononcierten Stellung in der deutsch-deutschen Geschichte – insgesamt in die Bundesförderung aufzunehmen. Die Kommission appellierte diesbezüglich an die Hauptstadtverpflichtungen des Bundes. Für Berlin empfahl man daher eine Einigung innerhalb des Hauptstadtkulturvertrags. Über die Zehnjahresförderung des Bundes hinaus empfahl die Kommission weiterhin Orte doppelter Vergangenheit (Sachsenhausen, Buchenwald, Ravensbrück), Täterorte (Haus der Wannseekonferenz, Stiftung Topographie des Terrors), die Haftorte Bautzen, Torgau und Hohenschönhausen sowie den Teilungsort Deutschdeutsches Museum Mödlareuth dauerhaft institutionell zu fördern. Dies entsprach dem Status quo. Die Förderung sollte zudem auf die Gedenkstätten und Einrichtungen Lager Mühlberg, Brandenburg-Görden, Seelower Höhen, Museum Peenemünde, Museum »Runde Ecke« in Leipzig, Moritzplatz Magdeburg, »Roter Ochse« in Halle u.a. ausgedehnt werden. Damit ging die Kommission weit über die Vorgängerpolitik der CDU/FDP hinaus.36 Aber auch die ursprünglichen Vorstellungen der SPD und der Bündnisgrünen wurden in diesem Katalog von der Enquete-Kommission übertroffen.37 Auf Basis dieser Handlungsempfehlungen brachten die Bundestagsfraktionen im Frühjahr 1999 Anträge über eine Fortschreibung der Bundesbeteiligungen in den Bundestag ein – die CDU gefolgt von der SPD.38 Die SPD erklärte die Angelegenheit schon allein aufgrund des beim Bundeskanzleramt angesiedelten BKM Naumann zur Chefsache und übernahm die Federführung. Schon am 27. Juli 1999 legte sie den Gesetzesentwurf zur Beteiligung des Bundes an den Gedenkstätten von gesamtstaatlicher Bedeutung vor. Vergleichbar mit der Gründung der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur floss die Arbeit der Kommission in die Beschlussfassung des Gesetzes »Konzeption der künftigen Gedenkstättenförderung des Bundes« ein.39 Mit dem Gedenkstättenkonzept des Bundes verband sich, neben der finanziellen Aufstockung um nahezu 50% und der Entfristung der Bundesförderung, vor allem die Festschreibung des mit der Enquete-Kommission vorbereiteten erinnerungsund geschichtspolitischen Paradigmenwechsels.40 So wurden erstmals explizit wissenschaftlich fundierte Anträge und ihre sachliche Prüfung durch ein Expertengremium für eine politische Befürwortung einer Bundesbeteiligung zugrunde gelegt.
36 Vergin, Siegfried: »Auftrag und Arbeit der Enquete-Kommission«, in: Friedrich-EbertStiftung (Hg.): Erinnern. Aufarbeiten. Gedenken (1996), S. 139. 37 Vergin, Siegfried: »Wende durch die ›Wende‹«, in: Stiftung Topographie des Terrors (Hg.): Gedenkstättenrundbrief 100 (2001), S. 94. 38 Dt. BT, Drs. 14/656 vom 23.03.1999, PA Dt. BT; Dt. BT, Drs. 14/127 vom 31.03.1999. 39 Dt. BT, Drs. 14/1569. 40 Meister, Martina: »Gedenkstätten erhalten mehr Geld«, in: Frankfurter Rundschau vom 24.07.1999; Meier, Mario: »Bundesregierung gibt deutlich mehr Geld für Gedenkstätten«, in: Süddeutsche Zeitung vom 24.07.1999.
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D.h., die Förderung sollte – neben der Unverwechselbarkeit des historischen Ortes und der herausragenden, exemplarischen Bedeutung – nicht mehr von politischen Verhandlungen abhängig gemacht werden, sondern maßgeblich vom fachwissenschaftlichen Votum. »In diesem Sinne wird die Bundesregierung die Unabhängigkeit der Gedenkstätten von politischen Weisungen respektieren«, legte das Gedenkstättenkonzept fest.41 »Die inhaltliche Gedenkstättenarbeit ist allein Angelegenheit der Gedenkstätten und deren Sachverständigengremien«, betonte der BKM insbesondere in Richtung der PDS.42 Zudem wurde die Bundesförderung, die 1994 von der CDU/FDP-Regierung auf Berlin und die neuen Bundesländer begrenzt worden war, auf die alten Bundesländer ausgedehnt, sodass nun u.a.a. die KZ-Gedenkstätten Dachau, Neuengamme und die Gedenkstätte Bergen-Belsen erstmals die Möglichkeit hatten, Fördermittel vom Bund zu beantragen. Für diese drei galt dies – vorbehaltlich der Haushaltslage von Bund und Ländern sowie eines positiven Sachverständigengutachtens – sogar in Bezug auf institutionelle Mittel, für die anderen NS-Einrichtungen immerhin noch in Bezug auf Projektmittel. Dies war in mehrfacher Hinsicht von großer Bedeutung. Ersten gab es für die NS-Gedenkstätten keine Bundesstiftung vergleichbar mit der seit 1998 bestehenden Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur für die SBZ/DDR-Gedenkstätten, über die sie je Projektzuschüsse hätten beantragen können. Die bislang einseitige Versorgung der SBZ/DDR-Gedenkstätten in den neuen Bundesländern und Berlin über die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und die Gedenkstättenförderung des Bundes von 1994 wurde also zumindest hälftig aufgewogen. Zweitens wurde auf diese Weise auch die über Jahrzehnte gewachsene und allein aus bürgerschaftlichem Engagement getragene NS-Erinnerungskultur in Westdeutschland der jungen SBZ/DDR-Erinnerungskultur in Ostdeutschland förderrechtlich gleichgestellt und erhielten sie indirekt »späte Anerkennung«. Es wurde ein Zeichen gesetzt »[…] in Bezug auf die prinzipielle Gleichrangigkeit der Gedenkstättenarbeit in Ost und West«.43 Siegfried Vergin (SPD) und Knut Nevermann (SPD) bewerten diese Entwicklung deshalb als einen Erfolg für die SPD, sei dem Anschein nach doch ein Großteil ihrer Forderungen von 1992 umgesetzt worden.44 Bei näherer Betrachtung der Gedenkstättenförderung des Bundes, fällt dieser Erfolg für einzelne Gedenkstätten, die auf eine Aufnahme in die institutionelle Förderung gehofft hatten, jedoch geringer aus. So wurde der Empfehlung der EnqueteKommission, eine ganze Reihe von Gedenkstätten in die institutionelle Förderung neu
41 Dt. BT, Drs. 14/1569 vom 27.07.1999, S. 4, PA Dt. BT; Dt. BT: Bericht der Bundesregierung über Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland, 27.07.1999, S. 6. 42 Dt. BT, Drs. 14/1833 vom 25.10.1999, PA Dt. BT. 43 Dt. BT, Drs. 14/1569 vom 27.07.1999, S. 4, PA Dt. BT. 44 Vergin, Siegfried: »Wende durch die ›Wende‹«, in: Stiftung Topographie des Terrors (Hg.): Gedenkstättenrundbrief 100 (2001), S. 94; Nevermann, Knut: »HolocaustMahnmal und Gedenkstätten als Kristallisationspunkte für die Erinnerungskultur in Deutschland«, in: Stiftung Topographie des Terrors (Hg.): Gedenkstättenrundbrief 96 (2000), S. 7ff.
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aufzunehmen, dann am Ende doch nicht gefolgt und wich die Konzeption von den Kommissionsempfehlungen entscheidend ab: »Der Bund stellt seine Mittel ausschließlich im Weg der Projektförderung zur Verfügung; neue institutionelle Förderungen werden nicht aufgenommen.«45 Dies galt u.a. für die Gedenkstätten Deutsche Teilung Marienborn, »Runde Ecke« Leipzig und die Normannenstraße, denen somit keine Chance auf eine institutionelle Förderung eingeräumt wurde.46 Neben den bereits bis 1994 in die Bundesförderung übernommenen Gedenkstätten (Sachenhausen und Buchenwald, Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Haus der Wannseekonferenz, Hohenschönhausen), kamen zunächst also keine weiteren Gedenkstätten in die institutionelle Bundesförderung.47 Des Weiteren wurden die Projektförderungen vornehmlich für Anschubfinanzierungen sowie Qualität sichernde Maßnahmen zur Verfügung gestellt. Der Löwenanteil, nämlich die Kosten für den laufenden Betrieb (Personalkosten, Miete usw.), blieb gerade an kleineren Einrichtungen hängen. Auch wurde der Empfehlung, Jugendbegegnungsstätten zu fördern, wie es der Schlussbericht der zweiten Enquete-Kommission vorsah, nicht gefolgt: »Ebenso ist die Förderung von Jugendbegegnungsstätten grundsätzlich nicht möglich.«48 Gemäß dem Subsidiaritätsprinzip wurde an der 50prozenzigen Gegenfinanzierung durch die jeweiligen Sitzländer der Gedenkstätten festgehalten, auch um die kulturpolitische Länderhoheit nicht vollständig auszuhebeln. Gleichzeitig wurde jedoch der Förderetat des Bundes erhöht auf beispielsweise 28 Millionen DM für das Jahr 2000, bis 2003 wurde eine Erhöhung auf 50 Millionen DM anvisiert. Eine flächendeckende Förderung konnte dieser Etat trotzdem nicht abdecken, dafür war er wiederum zu gering.49 Die 50%ige Gegenfinanzierung der Länder führte darüber hinaus dazu, dass zahlreiche Gedenkstätten nicht gefördert wurden, nur weil die jeweiligen Sitzländer die Gegenfinanzierung – aufgrund knapper Haushaltslage – nicht übernehmen wollten, respektive konnten, obwohl dringender Bedarf gegeben war.50 Ebenfalls führte diese Regelung dazu, dass eine Konzentration der Förderung auf »große Einrichtungen« zu Lasten Kleinerer nicht ausblieb.
45 Bundesbeauftragter für Kultur und Medien: »Kriterien der Gedenkstättenförderung«, in: Stiftung Topographie des Terrors (Hg.): Gedenkstättenrundbrief 96 (2000), S. 40. 46 Dt. BT, Drs. 14/1569 vom 27.07.1999, S. 5, PA Dt. BT. 47 Neben diesen Gedenkstätten wurde die institutionelle Förderung zentraler Museen festgeschrieben, zu diesen zählte das Haus der Geschichte in Bonn, das Zeitgeschichtliche Forum in Leipzig, die großen Berliner Museen: das Deutsche Historische Museum, das Alliierte Museum und das Deutsch-Russische Museum Karlshorst; vgl. Nevermann, Knut: »Holocaust-Mahnmal«, in: Stiftung Topographie des Terrors (Hg.): Gedenkstättenrundbrief 96 (2000), S. 9. 48 Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 1, 1999), S. 642; Bundesbeauftragter für Kultur und Medien: »Kriterien«, in: Stiftung Topographie des Terrors (Hg.): Gedenkstättenrundbrief 96, (2000), S. 40. 49 Allerdings erhoffte man sich für die Folgejahre eine weitere Etatausweitung bis 2003 um ca. 15-20 Millionen DM; vgl. Nevermann, Knut: »Holocaust-Mahnmal«, in: Stiftung Topographie des Terrors (Hg.): Gedenkstättenrundbrief 96 (2000), S. 8. 50 Als Beispiel sei hier das Dokumentationszentrum Berliner Mauer genannt.
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Bereits im Februar 1999, fünf Monate vor der Vorlage der Gedenkstättenkonzeption, veröffentlichten Werner Boldt, Habbo Knoch und Ursula Gerecht eine kritische Stellungnahme zur Benachteilung kleinerer Gedenkstätten. 51 Die Autoren sahen die Gefahr einer Konzentration auf die »Leuchttürme«, unter Preisgabe der dezentral gewachsenen »Erinnerungslandschaft«.52 Die Beschränkung auf exklusive Einrichtungen und die Geschlossenheit der Liste waren die wesentlichen Kritikpunkte. Auch befürchteten sie einen Eingriff in die Autonomie der Gedenkstätten, sollten diese nur dann gefördert werden, wenn sie vom Profil her den Vorstellungen des Bundes entsprachen. Da die Basis der Gedenkstättenarbeit auf ein bürgerschaftliches Engagement beruhe, wiesen sie darauf hin, dass ein »roll back« bevorstünde, werde dieses Engagement von Historikerkommissionen und direkten staatlichen Einflüssen ausgebremst und ersetzt. Sie machten damit auf die »Schattenseiten« der Gedenkstättenkonzeption aufmerksam, die tatsächlich darin bestand, dass die großen Einrichtungen auf Kosten der Kleineren gefördert wurden, zumindest was die institutionelle Förderung anbelangte. Günter Morsch, seit 1993 Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen, weist darauf hin, dass es gerade für die ostdeutschen Gedenkstätten jedoch keine Alternative gab, seien Vereine und Initiativen doch mit der Übernahme der großen Einrichtungen überfordert gewesen und habe es an bürgerschaftlichem Engagement, das in der BRD seine Wurzeln in den 68ern habe, gemangelt.53 Zudem, so sein Einwand, stellte die Projektförderung ein Instrument dar, gerade auch die kleineren Gedenkstätten von der Förderung nicht auszuschließen. Diese Projektförderung habe gerade der Erhaltung der dezentral gewachsenen Gedenkstättenlandschaft gedient, indem sich der Bund erstmals an der Erhaltung regionaler und lokaler Einrichtungen beteiligte, was vorher ausschließlich Ländersache gewesen sei. Die Konzeption habe somit durch die institutionelle Förderung zentrale Einrichtungen bewahrt und durch die Projektförderung auch die dezentrale Gedenkstättenlandschaft in der Bewahrung und Erhaltung berücksichtigt. Bei den westdeutschen NS-Gedenkstätten blieb jedoch ein schaler Geschmack, kämpften sie z.T. seit Jahrzehnten um politische Anerkennung, Förderung und Gelder. Von den Empfehlungen der zweiten Enquete-Kommission blieben in der Gedenkstättenkonzeption also hauptsächlich die Förderkriterien bzw. Anforderungen an die Gedenkstätten übrig, nach denen eine Einrichtung als herausragend und von gesamtstaatlicher Bedeutung eingeschätzt wurde. Diese Kriterien entsprachen weitestgehend noch Reinhard Rürups Definition aus der ersten Enquete-Kommission und verfolgten das Ziel einer zunehmenden Musealisierung und Professionalisierung der Gedenkstättenarbeit sowie einer Ausweitung der Förderung auf das gesamte Bundesgebiet. Auch gegen diese Förderkriterien erhoben regionale und lokale Gedenkstätten Kritik. Einerseits wurde es als erfreulich betrachtet, dass die Förde-
51 Stellungnahme: »Keine demokratische Erinnerungskultur ohne lokale und regionale Einrichtungen«, vgl. Morsch, Günter: »Die Bedeutung«, in: Gause, Detlev/Schomaker, Heino (Hg.): »Das Gedächtnis« (2001), S. 14. 52 Ebd., S. 26. 53 Ebd., S. 23ff.
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rung sich nun nicht mehr auf Berlin und die neuen Bundesländern beschränke, sondern auch westdeutsche Einrichtungen einbezogen wurden. Andererseits betrachteten gerade die »kleineren« Einrichtungen den Kriterienkatalog als Hohn – entweder erfüllten sie ihn und wurden dennoch nicht gefördert, oder sie konnten die Kriterien aufgrund begrenzter Mittel erst gar nicht erfüllen. In der Praxis, so ihr Einwand, habe man regionale und lokale Einrichtungen – trotz erfüllter Anforderungen – benachteiligt, und habe sich die Förderung doch v.a. auf Berlin und Ostdeutschland fokussiert.54 So war die Bundesbeteiligung tatsächlich selbst bei größeren westdeutschen NS-Gedenkstätten wie Dachau, Neuengamme und Bergen-Belsen auf dem Niveau einer Projektförderung verblieben. Vergleichbar mit der Gründung der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur stellte die Gedenkstättenkonzeption erinnerungs- und kulturpolitisch dennoch ein Novum dar, übernahm der Bund – durch die gesetzmäßige Regelung der Förderung von Gedenkstätten – erstmals direkt deutschlandübergreifende kulturpolitische Aufgaben, die bis dato Länderhoheit waren. So war die Gedenkstättenarbeit erstmals auf Bundesebene gesetzlich verankert. Diese Verankerung ging jedoch nicht einher mit einer staatlichen Festlegung von Geschichtsbildern und Dogmen, sondern gegenteilig mit einer ausdrücklichen Absage an einem Gebrauch von »Geschichte als Waffe« und der Forderung nach politischer Unabhängigkeit bei höchstmöglicher wissenschaftlicher Professionalität. Geschichts- und Erinnerungspolitisch wurde damit einer neuer Akzent gesetzt. Es wurde der einmalige Versuch unternommen, eine Erinnerungs- und Geschichtspolitik jenseits von parteipolitischer bzw. staatlicher Instrumentalisierung zu etablieren. Knut Nevermann, Vertreter des Bundesbeauftragten für Kultur und Medien im Bundeskanzleramt, kam zu dem Ergebnis: »Beide Entscheidungen [die Gedenkstättenkonzeption und die Einrichtung einer Bundesstiftung] stärken sicher die Erinnerungskultur und die vielfältige Gedenkstättenlandschaft in der Bundesrepublik Deutschland im Übergang zum kulturellen Gedächtnis. Das Fundament der Erinnerungskultur bleibt aber die Bereitschaft aller Deutschen, sich der Erinnerung an beide Diktaturen in Deutschland – NS-Terrorherrschaft wie SED-Diktatur – zu stellen.«55
Daneben trat tatsächlich der ganz seltene Fall ein, dass ein in den neuen Bundesländern entwickeltes »Modell« auf die alten Bundesländer übertragen wurde.56 Die Gedenkstättenpolitik in Bezug auf die ostdeutschen Einrichtungen brachte nämlich zwangsläufig auch eine Neuregelung der westdeutschen Gedenkstättenpolitik mit sich. Dies hatte zum Ergebnis, dass die NS-Gedenkstätten in den alten Bundeslän-
54 Krause-Vilmar, Dietfried: Zu den Aufgaben lokaler und regionaler Gedenkstätten. Beiträge für die Gegenwart und Zukunft. Statement auf der Fachtagung zur Standortbestimmung der Gedenkstättenarbeit am 12. und 13. Juni 1999, Weimar 1999. 55 Nevermann, Knut: »Holocaust-Mahnmal«, in: Stiftung Topographie des Terrors (Hg.): Gedenkstättenrundbrief 96 (2000), S. 9. 56 Morsch, Günter: »Die Bedeutung«, in: Gause, Detlev/Schomaker, Heino (Hg.): »Das Gedächtnis« (2001), S. 26.
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dern erstmalig in den Genuss einer staatlichen Unterstützung durch den Bund kommen konnten. Die politische Legitimationskrise von Gedenkstätten in Deutschland schien somit insgesamt überwunden, wenngleich weithin »Erinnerungskonkurrenzen« zwischen West- und Ostdeutschland bzw. zwischen NS- und SBZ/DDRErinnerungskultur fortbestanden. Die Auseinandersetzungen über den Umgang mit der DDR-Vergangenheit und ihren Erinnerungsorten führten zwar im Allgemeinen zu einem Paradigmenwechsel bezüglich der Erinnerungsfrage, hörten damit aber noch lange nicht auf, gab es – gerade in Bezug auf die Relation zu NS-Gedenkstätten – in der Folgezeit weiterhin Versuche, die Erinnerungsfrage zu re-politisieren.
4. Erinnerungs- und Geschichtspolitik des Bundes 2000-2008
4.1 CDU-G EDENKSTÄTTENPOLITIK 2000-2004 Nachdem mit der Gedenkstättenkonzeption des Bundes die (partei-)politische Unabhängigkeit neben dem »antitotalitären Konsens« zum Herzstück der »demokratischen Erinnerungskultur« in Deutschland erklärt wurde, und nach jahrelanger Debatte insgesamt – so schien es – eine fachlich gestützte, ausgewogene Lösung für die verschiedenen erinnerungskulturellen Interessenlagen gefunden worden war, fingen bereits kurz danach die Konservativen an, die Gedenkstättenkonzeption der Regierungsparteien wieder in Frage zu stellen. Zwischen 2000 und 2004 brachte der kulturpolitische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion mehrere Anträge in den Bundestag ein, die immer wieder eine Verbesserung der Lage der SBZ/DDRGedenkstätten gegenüber der getroffenen Regelung einforderten. Verfolgte die CDU damit vordergründig das berechtigte Interesse, die SBZ/DDR-Gedenkstätten ungebrochen stärker fördern zu wollen, tendierte sie unterschwellig jedoch aufgrund der gewählten Art und Weise dazu, der Nivellierung der verschiedenen Opfergruppen und Verbrechenskomplexe sowie einer Re-Nationalisierung bzw. ReVerstaatlichung des Erinnerns und Gedenkens Tür und Tor zu öffnen. Dies führte nicht nur in den Feuilletons fast schon zu einer Neuauflage des Historikerstreits, weshalb auch dieses wichtige Kapitel im Folgenden näher darzustellen sein wird. Bereits kurz nach Inkrafttreten der Bundesgedenkstättenkonzeption nutzte die CDU-Fraktion den Wechsel an der BKM-Spitze von Naumann zu Nida-Rümelin, um am 14. November 2000 einen ersten Antrag über eine Gesamtkonzeption für Berliner Gedenkstätten für die Opfer der SED-Diktatur in den Bundestag einzubringen, der – trotz der noch jungen Gedenkstättenkonzeption – ein stärkeres haushaltspolitisches Engagement für die SBZ/DDR-Gedenkstätten in Berlin forderte, insbesondere auch für die FOGE in der Normannenstraße.1 Die CDU-Vertreter erwarteten eine finanzielle Lösung für die Gedenkstätten Berliner Mauer, BerlinHohenschönhausen und Normannenstraße, die Vergleiche mit den Berliner NSGedenkstätten standhielt und setzte damit auf eine Sonderregelung für SBZ/DDRGedenkstätten jenseits der Gedenkstättenkonzeption des Bundes von 1999. Gleich-
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zeitig schreckte die CDU nicht davor zurück, SBZ/DDR-Gedenkstätten und NSGedenkstätten – entgegen der unlängst getroffenen Regeln – miteinander aufzurechnen und zu dem Schluss zu kommen, es bestehe für die Berliner SBZ/DDRGedenkstätten deutlicher Aufholbedarf.2 Während die FDP und die PDS diesen Antrag zunächst unterstützten, die PDS sogar die Gründung einer diesbezüglichen weiteren Bundesstiftung vorschlug, wiesen die Regierungsparteien SPD und Bündnisgrüne den Antrag der Opposition zurück. Mit der Gedenkstättenkonzeption des Bundes war ihrerseits der Auftrag der beiden Enquete-Kommissionen, eine sachgerechte Lösung für SBZ/DDR- und für NS-Gedenkstätten zu schaffen, erfüllt worden. Eine Ergänzung der Gedenkstättenkonzeption um eine Sonderregelung für SBZ/DDR-Gedenkstätten in Berlin lehnten SPD und Bündnisgrün ab, betrachteten sie das bisherige Engagement des Bundes zudem für ausreichend. Ein Mehr an staatlicher Intervention widerspreche zudem dem Gebot der Wahrung der Unabhängigkeit der einzelnen Einrichtungen, argumentierten SPD und Bündnisgrüne gegen den CDU-Antrag. Die FDP schloss sich diesem Votum später an.3 Einen erneuten Versuch, für Berlin eine Sonderregelung zu erstreiten, startete die CDU-Bundestagsfraktion im Laufe des Jahres 2003. So nahm die CDU im Frühjahr 2003 die PDS-Idee auf, die großen bundesweiten Gedenkstätten in eine weitere Bundesstiftung zusammen zu fassen, mit der Begründung, man plane auf diese Weise den »[…] antitotalitären Konsens im kollektiven Gedächtnis zu verankern«.4 Eine erstzunehmende Reaktion auf diesen Vorschlag folgte nicht. Und auch als die CDU-Fraktion pünktlich zum Jahrestag des Mauerbaus ankündigte, ein neues »nationales Gedenkstättenkonzept« vorzulegen, damit zukünftig »[…] in angemessener Weise auch an das SED-Unrechtsregime erinnert« werde, schlugen die Wellen noch nicht hoch.5 Obwohl die CDU damit deutlich machte, dass sie den in der Gedenkstättenkonzeption geregelten Status quo für ungerechtfertigt hielt und überdies anfing, NS-Erinnern und SBZ/DDR-Erinnern gegeneinander aufzurechnen, meldeten sich kaum Kritik. Der Satz: »Wir brauchen keine 25 Millionen Euro fürs Holocaust-Mahnmal, aber wenn sich der Bund nur mit 300.000 Euro an den Gedenkstätten Berlin-Hohenschönhausen oder Normannenstraße beteiligt, ist das nicht angemessen«, entfachte noch keine monatelang andauernde Debatte über einen »roll back« in der Gedenkstättenpolitik.6 Erst im Herbst 2003, als ein Streit über das Errichtungsgesetz der Stiftung Sächsische Gedenkstätten längst die Gräben zwischen den verschiedenen Opfervertretern von NS und SBZ/DDR wieder aufgerissen hatte, griff der sächsische Stiftungsstreit auch auf die Bundesgedenkstättenpolitik über.
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Ebd. Dt. BT, Plenarprotokoll Nr. 14/143 vom 18.01.2001, S. 14060-14063, PA Dt. BT; Dt. BT, Drs. 14/7014 vom 02.10.2001. O.V.: »Diktaturenstiftung«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.04.2003. O.V.: »Union will Gesetzentwurf für ein nationales Konzept vorlegen«, in: Die Welt vom 13.08.2003. Ebd.
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Am 04. November 2003 legte die CDU-Bundestagsfraktion ihren Antrag über ein neues »Gedenkstättenkonzept für ein würdiges Gedenken aller Opfer der beiden deutschen Diktaturen« vor. Darin forderte sie ein Gedenkkonzept, das beide »totalitäre Diktaturen des 20. Jahrhunderts: Nationalsozialismus und Kommunismus« besser berücksichtige.7 Es sollte erstens, zentrale Orte der Repression und des Widerstands der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft sowie Stätten von Opposition und Widerstand gegen die NS-Diktatur, zweitens, Orte »doppelter Diktaturerfahrung«, drittens, Orte der Repression und des Widerstands in der SED-Diktatur sowie Stätten von Opposition und Widerstand, Flucht und Vertreibung, und viertens, Orte der deutschen Teilung »als Bestandteile der Nationalgeschichte« umfassen.8 Des Weiteren empfahl der Antrag ein Zentrum gegen Vertreibung, ein Mahnmal für die Bombenopfer des alliierten Luftkrieges und ein Denkmal für Freiheit und Einheit an prononcierten Stellen in Berlin zu errichten.9 Begründet wurden diese Vorschläge damit, dass die DDR, Opposition und Widerstand, Flucht und Vertreibung gegenüber dem Nationalsozialismus stärker ins nationale Bewusstsein und in den Fokus nationaler Gedenkkultur zu rücken seien und fatale Fehleinschätzungen über deutsche Geschichte damit korrigiert würden.10 Der Antrag schlug ein wie eine Bombe, kündigte er nämlich generell jede sensible, politisch untendenziöse Lösung im Hinblick auf die verschiedenen Vergangenheitsschichten in Deutschland und in Bezug auf den Umgang mit unterschiedlichen Opfergruppen auf, die bis dahin gefunden worden war, und kehrte er zu undifferenzierten totalitarismustheoretischen Argumentationsmustern zurück – nämlich den NS und die SBZ/DDR als zwei Seiten ein und derselben Medaille darzustellen, eine angebliche Verharmlosung der letzteren anzuprangern und die SBZ/DDR als das erinnerungswürdigere Unrechtsregime und größere Übel dem NS gegenüberzustellen. Der Verweis auf die Singularität des Holocausts und die Beschwörung, die CDU wolle SBZ/DDR und NS nicht gleichsetzten, täuschte über diese antikommunistische, nationalistische Stoßrichtung nicht hinweg.11 Aber nicht nur aufgrund dieser geschichtsrevisionistischen Tendenzen stieß der Antrag überwiegend auf Ablehnung. So stellte er auch einen unmittelbaren Bezug her zum heftig umstrittenen Errichtungsgesetz der Stiftung Sächsische Gedenkstätten (StSG), das bei den Vertretern der NS-Opfer (insbesondere dem Zentralrat der Juden) aufgrund der dort vollzogenen Gleichbehandlung bzw. Vermischung von NS- und SBZ/DDR-Gedenkstätten für kollektive Amtsniederlegungen im Stiftungsrat und öffentlichen Protest gesorgt hatte. Der CDU-Antrag blies durch Wiederholung ins gleiche Rohr. Mehr noch. Durch die Forderung nach zentralen Mahnmalen zur Erinnerung der Opfer von Flucht und Vertreibung und zum Gedenken der zivilen Bombenopfer, erweckte er sogar den Anschein, die gesamte deutsche Geschichte neu bewerten und einen nationalistisch angehauchten neuen deutschen Opferkult frönen zu wol-
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Dt. BT, Drs. 15/1874 vom 04.11.2003, PA Dt. BT. Ebd., S. 2-3. Ebd., S. 6. Ebd., S. 5. Vgl. u.a.a. o.V.: »Terror und Gedenken«, in: Süddeutsche Zeitung vom 29.01.2004.
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len. Was als Abbau eines vermeintlich »[…] deutlichen Ungleichgewichts bei der Förderung von Gedenkstätten zur NS-Diktatur im Vergleich zu denen zur Diktatur in SBZ und DDR […]« intendiert war, mündete in einer mit Entschuldigungsrhetorik gepaarten Forderung nach einem Mehr an »Nationalismus« und »Antikommunismus« in der Gedenkstättenfrage.12 Zwar legte die CDU ihren Antrag wegen des Sächsischen Stiftungsstreits und der harschen Kritik vorübergehend auf Eis, vollständig kassiert wurde er jedoch nicht.13 Wohl im Glauben, dass sich die Wogen in Gedenkstättenfragen geglättet hätten, reichte die CDU ihn in nur leicht abgewandelter Form im Sommer 2004 wieder ein. Diesmal verzichtete der Antrag auf die verfängliche Formulierung »doppelte Vergangenheit« und vermied Bezüge zum Sächsischen Stiftungsgesetz, das neben den einheimischen NS-Opferverbänden inzwischen sogar vom International Commitee for Memorial Museums for the Remembrance of Victims of Public Crimes scharf abgelehnt wurde. Die Singularität der NS-Verbrechen wurde jetzt ebenfalls besonders hervorgehoben und ein diesbezüglich begründetes »spezielles Gedenken« betont. Bis auf diese kosmetischen Korrekturen änderte sich aber am Inhalt nichts, sodass aufs Ganze gesehen die relativierende Richtung und die Probleme der Re-Nationalisierung, Re-Politisierung und Aufkündigung der Grundsätze der »demokratischen Erinnerungskultur« bestehen blieben.14 Insbesondere die Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland fasst die Kernkritikpunkte an diesem weiteren Versuch der CDU, die Empfehlungen der Enquete-Kommission sowie die Gedenkstättenkonzeption des Bundes von 1999 auszuhebeln, treffend zusammen. Sie seien – da die gesamte öffentliche Debatte hier nicht in Gänze ausgebreitet werden kann – an dieser Stelle wiederholt: 1. Die Vorlage habe ohne ersichtlichen Grund die Grundlagen der »demokratischen Erinnerungskultur« einseitig zugunsten der SBZ/DDR-Gedenkstätten aufgekündigt. 2. Der dort getroffene Befund, die SBZ/ DDR-Gedenkstätten kämen aufgrund der überproportionalen Förderung der NS-Gedenkstätten zu kurz, sei unzutreffend. Es gäbe keine Privilegierung der NS-Gedenkstätten. 3. Die Beurteilung von Förderanträgen orientiere sich nach hohen Standards und nicht nach parteiischer Erinnerungspolitik. 4. Die Annahme, die Liste der institutionell zu fördernden Einrichtungen sei geschlossen, sei falsch. 5. Der Antrag nivelliere quantitativ und qualitativ die Unterschiede zwischen NS-Verfolgung und Ausrottung und politischer Verfolgung in SBZ und DDR. NS-Völkermord und NS-Verbrechen würden auf diese Weise gewollt oder ungewollt verharmlost. 6. Der Antrag interpretiere fälschlicherweise räumliche Kontinuität als Beweis der Gleichheit von politischen und gesellschaftlichen Systemen. Dies träfe dann
12 Arbeitsgemeinschaft Gedenkstätten zur Diktatur in SBZ und DDR: Protokoll vom 18.09.2003, ArGDT, Bestand: Geschäftsablage o. Sign. 13 Eine für den 30.01.2004 angesetzte Bundestagsdebatte wurde kurzfristig abgesagt, vgl. Arbeitsgemeinschaft Gedenkstätten zur Diktatur in SBZ und DDR: Presseerklärung vom 29.01.2004, ArLStU, Bestand: Deutscher Bundestag Enquete-Kommission, 15. Sitzung Berichterstattergruppe »Gedenkstätten« [Enquete-Kommission]. 14 Dt. BT, Drs. 15/3048 vom 04.05.2004, PA Dt. BT.
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auch auf die anderen Alliierten zu, die KZ als Internierungslager nach 1945 weiternutzten. 7. Die Entkonkretisierung und Entdifferenzierung führe zur nationalen Engführung und sei eine Renationalisierung der Erinnerungskultur. 8. Es werde der neue deutsche Opferkult wiederbelebt. 9. Die historische Forschung und geschichtswissenschaftliche Debatte als Grundlage der demokratischen Erinnerungskultur werde marginalisiert, spreche der Antrag nur noch von einer angemessenen Beteiligung der Fachwissenschaft und bevorzuge er die Politik als entscheidende Regelungsinstanz, 10. Der Antrag beschreibe eine ungleiche Mitfinanzierung einzelner Bundesländer, die nicht nur auf die SBZ/DDR-Gedenkstätten zutreffe, sondern für alle Gedenkstätten – je nach Standort – gelten würden. 11. Der Antrag fördere Konkurrenzdenken und Ressentiments und vernachlässige die vielseitigen Errungenschaften der 90er Jahre in Bezug auf die SBZ/DDR-Aufarbeitung (BStU, Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Forschungsinstitute usw.), die in Bezug auf den NS in der Form keinen Vergleich haben.15 Die Gegenrede schloss: »Nicht die Politisierung der Erinnerungskultur steht auf der Tagesordnung sondern deren Versachlichung und Professionalisierung. Hierzu leistet die Beschlussvorlage in ihrer rückwärtsgewandten Unkenntnis bzw. verzerrten Darstellung der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur sowie ihrer einzelgängerischen Aufkündigung des mit großer Anstrengung erarbeiteten parteiübergreifenden Enquetekommissionskonsenses keinen Beitrag.«16
In der Ausschussdebatte am 17. Juni 2004 wurde der Antrag entsprechend scharf attackiert und abgelehnt. Die BKM Christina Weiss (SPD) wies die Unterstellung, die Bundesregierung vergebe die Fördermittel nach Gutdünken, entschieden zurück. Mit gleicher Verve lehnte sie auch den von der CDU gewollt oder ungewollt vorgeschlagenen Paradigmenwechsel in der Geschichtsaufarbeitung bzw. -politik ab: »Es darf und es wird kein regierungsamtliches Geschichtsbild geben. […] Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Das darf nicht sein; auf diesem Niveau können wir nicht arbeiten.«17 Die Bündnisgrünen entrüsteten sich über die Geschichtspolitik der CDU in toto und interpretierten sie als Fortführung der umstrittenen Thesen von Nolte, die Mitte der Achtziger Jahre zum Historikerstreit führten.18 Die fraktionslose Abgeordnete Lötzsch spitzte sogar zu: »Es geht Ihnen nicht um die Opfer in der DDR, sondern es geht darum, mit der DDRGeschichte die NS-Geschichte reinzuwaschen. […] Ihr Antrag, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ist unglaubwürdig und reiner Ablasshandel. Sie sind bereit Gedenkstätten zu bauen. Doch Sie sind nicht wirklich bereit, Ihr Denken zu ändern. […] Ich habe mich in Baden-Württemberg erkundigt. Es wurde bisher noch kein Widerstandskämpfer gegen den Faschismus durch die dortige CDU für die Wahl eines Bundespräsidenten nominiert, dafür aber
15 Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland: Stellungnahme zum Antrag Drs. 15/3038, o.D., S. 1-4, ArGDT, Geschäftsablage o. Sign. 16 Ebd., S. 4. 17 Dt. BT: Ausschussprotokoll vom 17.06.2004, S. 5-6, ArGDT, Geschäftsablage o. Sign. 18 Ebd., S. 9.
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sieben Mal Hitlers Marinerichter Filbinger, der auch noch Ehrenvorsitzender der CDU in Baden-Württemberg ist.«19
Selbst die FDP, die in Gedenkstättenfragen weitgehend mit den Konservativen mitging, legte der CDU nahe, ihr missverständliches »integrales Konzept« zurückzuziehen.20 Die CDU begab sich daraufhin auf den Rückzug und verzichtete darauf, den bereits im Ausschuss auf vollständige Ablehnung gestoßenen Antrag noch einmal ins große Plenum einzubringen. Im Herbst 2004 legte die CDU ihn vorläufig ad acta.21
4.2 G EDENKSTÄTTENPOLITIK 2005-2008 Die parlamentarische Debatte um den Antrag des kulturpolitischen Sprechers der CDU, täuschte jedoch darüber hinweg, dass es auch seitens des BKM parallel Überlegungen gab, insbesondere die Struktur der Berliner Gedenkstätten zur SBZ/DDRVergangenheit weiter zu entwickeln und sie – alternativ zu einer Aufnahme in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes – stärker in vorhandene Einrichtungen des Bundes einzubeziehen. Da die Regierungsfraktion der SPD/Bündnisgrünen eine Veränderung der Beteiligungen des Bundes an Gedenkstätten von gesamtstaatlicher Bedeutung ablehnte und am Status quo der Gedenkstättenförderungen festhielt, gleichwohl die Situation der Gedenkstätten Berlin-Hohenschönhausen und vor allem die der Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße so einschätzte, dass hier in der Tat politischer Handlungsbedarf bestand, schien als eine mögliche Lösung die Anbindung beider Gedenkstätten entweder an die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur oder an die BStU. Beide Varianten setzten jedoch eine Ressortverlagerung der Einrichtungen vom BMI zum BKM voraus. Verhandlungen hierüber starteten noch bevor die CDU ihren umstrittenen Antrag wiedervorlegte, nämlich bereits im März 2004.22 Umgesetzt wurde die neue Zuordnung des BStU und der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur per Erlass des Bundeskanzleramtes unter Umgehung des Parlamentes schon zum 01. Januar 2005. Damit wurde die Auseinandersetzung mit der SBZ/DDR-Vergangenheit auf eine neue Grundlage gestellt und die Voraussetzung für eine institutionelle Einbindung der Berliner SBZ/DDR-Gedenkstätten in die Birthler-Behörde oder in die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur geschaffen.23 Knut Nevermann vom BKM ließ bereits am 01. Dezember 2004 ein entsprechendes erinnerungspolitisches Konzept in die Öffentlichkeit durchsickern. Es sah für die Gedenkstätte in der Normannenstraße vor, dass die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur die Weiterent-
19 Ebd., S.10-11. 20 Ebd., S. 7; Zerki, Sonja: »Schaden für die Republik«, in: Süddeutsche Zeitung vom 19.06.2004. 21 Krause, Andreas: »Auf dem Rückzug«, in: Berliner Zeitung vom 18.10.2004. 22 SenKult: Vermerk vom 17.03.2004, SWFKB, Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, I-Planung 2004, 2005, 2006, 2007 [2004-2007]. 23 Bundesregierung: Pressemitteilung Nr. 631 vom 03.12.2004, PA Dt. BT.
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wicklung des Gedenkortes zu betreiben habe. Und auch die Interessen der Gedenkstätten Berlin-Hohenschönhausen, Marienfelde, Bernauer Straße und des Museums am Checkpoint Charly sollten von der Bundesstiftung wahrgenommen werden. Die Behörde der BStU wiederum sollte bis 2010 ins Bundesarchiv und ihre Abteilung Bildung und Forschung ebenfalls in die Stiftung zur Aufarbeitung integriert werden.24 Diese Neuzuordnung des BStU und der Stiftung zur Aufarbeitung der SEDDiktatur sorgte aufgrund des Endes der Birthler-Behörde sowie aufgrund der Aufblähung der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur für eine riesige Protestwelle innerhalb der Aufarbeitungsszene. Was als Rettungs- und Professionalisierungsversuch der SBZ/DDR-Gedenkstätten jenseits der Gedenkstättenkonzeption des Bundes von SPD und Bündnisgrün geplant war, wurde eher als Bedrohung und Akt der Zwangsverstaatlichung wahrgenommen.25 Die BStU selbst nahm die Planungen des BKM »mit Befremden zur Kenntnis« und wies eine mittelfristige Auflösung ihrer Behörde weit von sich.26 Schließlich ruderte auch die BKM zurück und erklärte sie das Nevermann-Papier in Bezug auf die BStU für gegenstandslos. »Die ›Birthler-Behörde‹ wird nicht angetastet«, versprach Weiss.27 In Bezug auf die mit der Ressortverlagerung angeblich notwendig gewordene Neuordnung der SBZ/DDRGedenkstättenlandschaft jedoch hielt sie an ihrem Kurs fest und erklärte sie, dass sich diesbezüglich ein »Geschichtsverbund SED-Diktatur« in Planung befände, der eine Lösung für die Berliner SBZ/DDR-Gedenkstätten jenseits der Gedenkstättenkonzeption des Bundes anbieten werde.28 Zu diesem Zweck nahm im Mai 2005 eine vom BKM und der BStU eingesetzte Expertenkommission unter dem Vorsitz des Potsdamer Historikers Martin Sabrow seine Arbeit auf. Die Kommission hatte von Beginn an jedoch kaum Rückhalt in der Aufarbeitungsszene, nahm doch die Gedenkstätten- und Aufarbeitungsszene die Distanzierung von Birthler und Weiss zum Nevermann-Konzept nicht ernst und bevorzugte sie eher die von der CDU geforderte Neufassung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes mit direkter Bundesförderung. Dabei verfolgte die Kommission mit dem »Geschichtsverbund« ursprünglich tatsächlich nicht das Ziel, die vorhandene dezentral gewachsene Erinnerungslandschaft zu verstaatlichen bzw. zu zentralisieren, gar die freien Gedenkstättenbetreiber zu enteignen, sondern galt es – gerade unter Berücksichtigung der dezentralen Struktur und der Grundsätze der »demokratischen Erinnerungskultur« – auf Basis einer Bestandsaufnahme vor allem mögliche Kooperationen vorzuschlagen sowie
24 BKM Nevermann, Knut: Erinnerungspolitisches Konzept zu den Gedenkstätten der SEDDiktatur in Berlin vom 01.12.2004, ArRHG. 25 BKL e.V.: Presseerklärung vom 03.12.2004, ArRHG; BKL e.V./ASTAK e.V.: Presseerklärung vom 10.12.2004, ArRHG; Schreiben der UOKG an das BKM Staatsministerin Weiss vom 14.12.2004, ArRHG; Beleites, Michael: »Stasiakten in Bundes- und Landesarchive?«, in: Deutschland Archiv 1 (2005), S. 102ff. 26 BStU: Pressemitteilung vom 10.12.2004, ArRHG. 27 BKM: Statement von Staatsministerin Weiss vom 10.12.2004, ArRHG. 28 Ebd.
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Konturen einzelner Einrichtungen und ihre jeweiligen Aufarbeitungsschwerpunkte zu schärfen.29 In diese Richtung hatte die Staatsministerin Weiss der SabrowKommission den Auftrag erteilt, ein Konzept für die SBZ/DDR-Gedenkstättenlandschaft zu erarbeiten. Die Planungen zu einem »Geschichtsverbund SED-Diktatur« und die hierfür notwendige Ressortverlagerung der BStU und der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur vom BMI zum BKM war also die Regierungsalternative zu den CDU-Anträgen von 2003/2004. Im Kern, nämlich in Bezug auf die Notwendigkeit einer auf Dauer angelegten institutionellen Lösung für einzelne SBZ/DDRGedenkstätten, stimmten SPD und Bündnisgrüne dem CDU-Antrag demnach zu. Da sie hierfür eine Neufassung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes jedoch aus erinnerungs- und geschichtspolitischen Erwägungen heraus ablehnten, kam nur das Schaffen eines »Geschichtsverbundes SED-Diktatur« unter stärkerer Einbeziehung der BStU und der Stiftung zur Aufarbeitung in Frage. Die CDU durchschaute diese Strategie sofort und setzt ihrerseits nun wieder ihren Antrag über eine Neufassung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes vom 17. Juni 2004 auf die Tagesordnung. Sie begründete dies mit der den neuen Sachverhalten, die sich durch die Überführung von BStU und Bundesstiftung ergeben hatten.30 Auf Veranlassung der CDU-Fraktion fand am 16. Februar 2005 eine öffentliche Anhörung statt, bei der die Bedürfnisse, Problemlagen und Erwartungen der SBZ/DDR-Gedenkstätten offenbar wurden.31 Erwartungsgemäß wurde die BKM Weiss und ihre Anweisung, für den »Geschichtsverbund SED-Diktatur« eine weitgehend »kostenneutrale« Lösung zu finden, vom CDU-Vertreter Bernd Neumann scharf attackiert.32 Der Sachverständige der SPD, der Bochumer Historiker Bernd Faulenbach, der bereits in den Enquete-Kommissionen als Sachverständiger der SPD in Erscheinung getreten und zudem stellvertretender Vorsitzender der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur war, blieb hingegen bei der Auffassung, dass es keine Nachordnung der SBZ/DDR-Gedenkstätten gäbe und der unterschiedliche Entwicklungsstand zwischen NS- und SBZ/DDR-Erinnerungskultur allein auf das späte Entstehen – nämlich erst nach 1990 – zurückzuführen sei. 33 Im Detail kann an dieser Stelle auf die einzelnen Positionen der Gedenkstätten und ihrer Vertreter zum »Geschichtsverbund SED-Diktatur« nicht eingegangen werden. Dies erfolgt in ausführlicher Form in den einzelnen Gedenkstättenanalysen in den anschließenden Kapiteln. Zusammenfassend kann jedoch vorweg genommen werden, dass die Ergebnisse der Anhörung zwar in die Empfehlungen der SabrowKommission einflossen, insgesamt jedoch am Kurs der BKM – nämlich eine Neufassung der Gedenkstättenkonzeption zu umgehen – festgehalten wurde. So legte
29 Sabrow, Martin/Eckert, Rainer (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? (2007), S. 9. 30 Schreiben des kultur- und medienpolitischen Sprechers der CDU/CSU-Fraktion an den LStU Berlin vom 04.02.2005, ArLStU, Geschäftsablage o. Sign. 31 Dt. BT Ausschussdrs. 15(21)153-15(21)159, ArLStU, Enquete-Kommission; Dt. BT: Wortprotokoll 15/50 vom 16.02.2005, PA Dt. BT. 32 Ebd., S. 15. 33 Ebd., S. 6.
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die Sabrow-Kommission im Frühjahr 2006 ein Papier vor, dass von Neuaufnahmen in die projektmittelbezogene und institutionelle Förderung des Bundes absah und stattdessen eine Einbindung der Gedenkstätten Berlin-Hohenschönhausen und Normannstraße in die Behörde der BStU, den Ausbau von Kooperationen/Vernetzungen untereinander und das Bilden von Aufarbeitungsschwerpunkten innerhalb der Gedenkstättenlandschaft setzte.34 Zu diesen sollten gehören die Themen »Herrschaft – Gesellschaft – Widerstand«, »Überwachung und Verfolgung« und »Teilung und Grenze«.35 Zudem empfahl die Kommission eine neue Einrichtung, ein »Forum Aufarbeitung« durch das Haus der Geschichte (HdG) in Bonn, zusammen mit dem Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig und der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur zentral in Berlin aufzubauen, in dem die Themen »Widerstand und Opposition«, »Ideologie«, »Alltag in der durchherrschten Gesellschaft« und »Mechanismen der Machtausübung« behandelt werden sollten.36 Für die Zukunft der BStU wurde demgegenüber eine »gleitende Neuausrichtung« empfohlen. Die Akten des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes sollten – nach einer Intensivierung der Erschließung – langfristig an das Bundesarchiv abgegeben werden und die Abteilung Bildung und Forschung gestärkt werden zum Leuchtturm des Aufarbeitungsschwerpunktes »Diktatur und Geheimpolizei«.37 Die Veröffentlichung, die spätere Anhörung und die Behandlung des SabrowPapiers durch die neue Bundesregierung lösten eine derartige Flut an Presse, Pamphleten, Stellungnahmen usw. aus, dass die Kommission ein Jahr später eine über 430 Seiten umfassende Dokumentation über diese Debatte herausgeben konnte.38 Diese war schließlich am Ende auch nahezu das einzige, was von der ambitionierten Arbeit der Sabrow-Kommission übrig geblieben war, eine unmittelbare Umsetzung der Empfehlungen erfolgte nicht, hatte doch inzwischen Bernd Neumann (CDU) im Zuge der Bundestagswahl im September 2005 das Amt des BKM übernommen und Weiss (SPD) abgelöst. Er verfolgte ungebrochen das CDU-Ziel, die Gedenkstättenkonzeption des Bundes von 1999 im Sinne der CDU-Gedenkstättenpolitik 2000-2004 neu zu fassen. Die Empfehlungen der Sabrow-Kommission nahm er deshalb mit größter Zurückhaltung entgegen. Die Neufassung der Gedenkstättenbeteiligungen des Bundes mit dem Titel »Verantwortung wahrnehmen, Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen. Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes«, die Bernd Neumann am 18. Juni 2008 der Öffentlichkeit vorstellte, entsprach im Ergebnis daher deutlich den jahrelangen Forderungen der SBZ/DDR-Gedenkstätten und der CDU-Fraktion.39 Die Position der SPD, an der stärkeren Betonung der NS-Verbrechen gegenüber
34 Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes »Aufarbeitung der SEDDiktatur«: Empfehlungen vom 15.05.2006 [Original in Besitz d. Verf.]. 35 Ebd., S. 14, 17, 20. 36 Ebd., S. 14. 37 Ebd., S. 8-10. 38 Sabrow, Martin/Eckert, Rainer (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? (2007). 39 BKM: Verantwortung wahrnehmen, Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen. Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes vom 18.06.2008.
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den SBZ/DDR-Verbrechen innerhalb der »demokratischen Erinnerungskultur« festzuhalten, fand sich in dem Papier nicht wieder. So war die Neumann-Konzeption der größte gedenkstättenpolitische Kompromiss, auf den sich die SPD innerhalb der Koalition einließ. Die Vorstellungen der CDU-Anträge von 2003/2004 und die Anregungen der konservativen Vertreter aus den Anhörungen 2004/2006 überwogen. Und nicht einmal in Bezug auf das Schaffen eines »Geschichtsverbundes SEDDiktatur« – auf dessen Berücksichtigung vor allem die SPD innerhalb der neuen Gedenkstättenkonzeption weiterhin Wert legte – folgte das Papier den Empfehlungen der Sabrow-Kommission.40 Das Ergebnis dieses erinnerungs- und geschichtspolitischen Spagats sah entsprechend ambivalent aus: Die Aufhebung der Befristung der Bundesbeteiligung, die Ausdehnung der Förderung auf alle deutschen Bundesländer und das Zugrundelegen eines fundierten Konzeptes, eines positiven fachwissenschaftlichen Votums sowie einer 50%igen Beteiligung des Sitzlandes wurden beibehalten.41 Im Unterschied zum Gedenkstättenkonzept von 1999 wurden Kooperationen mit anderen Einrichtungen (national/international) nun ebenfalls für verbindlich erklärt.42 Im Gegenzug zur extremen Aufwertung und deutlich stärkeren Berücksichtigung der SBZ/DDR-Gedenkstätten und Archive mit SBZ/DDR-Bezug wurden die drei westdeutschen NS-Gedenkstätten Bergen-Belsen, Dachau und Neuengamme nun ebenfalls pro forma in die institutionelle Förderung des Bundes aufgenommen.43 Damit löste das Neumann-Konzept jedoch eigentlich nur ein, was diesen drei NS-Gedenkstätten schon 1999 in Aussicht gestellt worden war. Des Weiteren richtete das Neumann-Papier eine »ständige Konferenz« der NS-Gedenkstättenleiter in Berlin und Brandenburg ein, äquivalent zur Arbeitsgemeinschaft der SBZ/DDR-Gedenkstätten in Berlin. Aber auch diese Konstruktion konnte nicht darüber hinweg täuschen, dass die Regelungen zu SBZ/DDR-Gedenkstätten und Archiven mit SBZ/ DDR-Bezug im neuen Gedenkstättenkonzept gegenüber den NS-Gedenkstätten und Archiven mit NS-Bezug bei weitem überwogen. So wurden die NS-Gedenkstätten auf drei Seiten abgewickelt und jenseits der bereits 1999 angekündigten, keine weiteren Bundesbeteiligungen ausgesprochen. Die Festlegungen zum »Geschichtsverbund SED-Diktatur« hingegen umfassten das Dreifache an Seiten und trugen jetzt dem vielfach von konservativer Seite monierten Nachholbedarf bewusst Rechnung.44 Zugleich war kaum noch etwas von den Empfehlungen der Sabrow-Kommission erkennbar. So wurden die Gedenkstätten Marienfelde und Marienborn neu in die institutionelle Bundesförderung aufgenommen.45 Für die Grenzlandmuseen wurde Projektmittel in Aussicht gestellt und im »Tränenpalast« am Bahnhof Friedrichstraße empfahl das Konzept das Einrichten einer Ausstellung zum Thema »Teilung und Grenze im Alltag der Deutschen« durch
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Ebd., S. 5. Ebd., S. 4, 6. Ebd., S.6. Ebd., S. 8. Ebd., S. 15. Ebd., S. 16.
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das HdG.46 Bereits am 09. November 2007 hatte die Bundesregierung das Errichten eines »Freiheits- und Einheitsdenkmals« beschlossen, dies fand im Konzept wiederholt Würdigung. Auch stellte der BKM die Sanierung des Haus I auf Bundeskosten in Aussicht.47 Zudem sollte neben dem ehemaligen KGB-Gefängnis in der Potsdamer Leistikowstraße auch eine institutionelle Förderung des Jugendwerkhofes Torgau geprüft werden.48 Für die Kulturbrauerei Prenzlauer Berg wurden ebenfalls Projektmittel in Aussicht gestellt.49 Dieser Ausschnitt von Festlegungen zur SBZ/DDR-Erinnerungskultur verdeutlicht die klare erinnerungspolitische Richtung, die das neue Gedenkstättenkonzept einschlug, nämlich die SBZ/DDR-Aufarbeitungslandschaft insgesamt stärker in den Blick zu nehmen und sie gedenkstättenpolitisch der NS-Erinnerungskultur überzuordnen. Eine förderpolitische Gleichstellung von NS und SBZ/ DDR ließ die Neumann-Konzeption nicht mehr erkennen. Zwar wurde vordergründig auf ein Nivellieren der NS-Diktatur mit der SBZ/DDR verzichtet und die Singularität des NS explizit hervorgehoben, dennoch überwog die Förderung einer nivellierenden Memorialkultur deutlich und setzte sich nun die Definition der SBZ und DDR auch begrifflich als eine »kommunistische Diktatur« jenseits bisheriger wissenschaftlicher Differenzierungen durch. Der Zeitraum 1945-1990 wurde nicht mehr historisch differenziert betrachtet und zwischen verschiedenen Herrschaftsperioden in Ostdeutschland unterschieden.50 Die Thesen von einer stalinistischen Ära, die von einer poststalinistisches Phase abgelöst wurde, Fragen nach einem avancierten Staatssozialismus sowie die Thesen von einer autoritären Partei- und Konsensdiktatur wurden mit der Pauschalisierung »kommunistische Terrorherrschaft« für ungültig erklärt. Im Grunde genommen hatte sich damit die undifferenzierte totalitarismustheoretische Stoßrichtung, die alle gesellschaftlichen komplexen Strukturen und Entwicklungen in Ost- und Ostmitteleuropa als Kommunismus deklarierte und die den NS unterordnete erneut durchgesetzt. Zwar referierte das Papier die seit 1992 geflügelte Regel, dass die nationalsozialistischen Verbrechen nicht relativiert und dass das Unrecht in der SBZ/DDR nicht bagatellisiert werden dürften, die empfohlenen Maßnahmen zu den verschiedenen Verfolgungsperioden und ihrer jeweiligen Erinnerungskultur ließen diesen Grundsatz jedoch vermissen.51 Bezüglich der NS-Erinnerungskultur wurden lediglich alte Versprechen eingelöst. Die Pläne zur SBZ/DDR-Erinnerungskultur hingegen fielen vielfältiger und umfangreicher aus, sie dominierten geradezu die neue Gedenkstättenkonzeption. Der Vorwurf, die SBZ/DDR-Gedenkstätten bekämen nur die »Krümel« die vom reich gedeckten Tisch von den NS-Gedenkstätten runter fielen, und dies sei eine Verharmlosung der SBZ/DDR-Verbrechen, dieser Vorwurf traf nicht zu. Im Gegenteil. Nun saßen – um bei diesem Bild zu bleiben – die SBZ/DDRGedenkstätten am Tisch und zahlreiche NS-Gedenkstätten immer noch drunter. Das
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Ebd. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18. Ebd., S. 19. Ebd., S. 3. Ebd., S. 4.
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»Nachziehen« der SBZ/DDR-Gedenkstätten, ihre gedenkstättenpolitische Gleichbehandlung lief also mit der geschichtspolitisch konservativen Neugewichtung der SBZ/DDR-Vergangenheit konform. Angesichts des Übergewichtes der SBZ/DDRAufarbeitung und aufgrund des Verzichts auf begriffliche Differenzierungen zwischen dem Nationalsozialismus und der SBZ/DDR, fiel das Konzept daher v.a. geschichtspolitisch hinter den Ergebnissen der zweiten Enquete-Kommission zurück und vollzog sich offenkundig ein konservativer »Rechtsruck« in der Gedenkstättenpolitik des Bundes, getragen aber von der Großen Koalition.
5. Zusammenfassung
Die Erinnerungs- und Geschichtspolitik des Bundes nach 1990 konnte insgesamt als ein uneinheitlicher, debattenreicher und andauernder Prozess nachgezeichnet werden: »Die Aufarbeitung der DDR lernt von der Aufarbeitung des Nationalsozialismus, dass diese ein zeitintensiver Prozess ist.«1 Diesem Prozess lag ein sukzessiver Wandel der Erinnerungs- und Geschichtspolitik zugrunde, der durch verschiedene Entwicklungsphasen gekennzeichnet war. Trotz allmählicher überfraktioneller und interparteilicher Einigung in Bezug auf bestimmte Begrifflichkeiten, Definitionen, Geschichtsbilder bzw. -narrative und Grundsätze des Erinnerns und Gedenkens, hinterließen dabei die jeweiligen Deutungseliten ihre Spuren. In der ersten Phase von 1990 bis 1992 war Erinnerungs- und Geschichtspolitik zunächst nachrangig. Das Ende des Systemkonfliktes führte vorübergehend zu einer Abmilderung von Erinnerungs- und Geschichtspolitik, Sofortmaßnahmen und Vergangenheitspolitik standen auf der Tagesordnung. Die Sofortmaßnahmen waren 1992 weitestgehend abgeschlossen, grundlegende und langfristige Weichenstellungen in der Erinnerungs- und Geschichtspolitik gewannen an Bedeutung, angesichts einer ansteigenden Unzufriedenheit in der Gesamtbevölkerung, einer verstärkten »Katerstimmung«, einer IM-Enthüllungswelle und eines Wiederauflebens der tot geglaubten Totalitarismustheorie. Die SPD erkannte zusammen mit parteiübergreifend engagierten ehemaligen Bürgerrechtlern daher auf parlamentarischer Ebene schon bald die Notwendigkeit, unter Beteiligung von ost- und westdeutschen Politikern und Sachverständigen die DDR-Vergangenheit durch eine breit aufgestelltes politisches Gremium aufzuarbeiten. Die zweite Phase 1992-1997 war deshalb gekennzeichnet durch eine Konjunktur erinnerungs- und geschichtspolitischer Auseinandersetzungen und eine zunehmende Beschäftigung mit der gesamtdeutschen Bewertung des DDR-Erbes. Aufgrund der desolaten Lage der Aufarbeitungsinitiativen und Gedenkstätten kam es zudem erinnerungspolitisch erstmals in der Geschichte der BRD zu einer Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten, die die SPD vorantrieb und die die CDU weitgehend einzuschränken versuchte. Geschichtspolitisch war es vor allem die »heiße Phase«. Bis zum Ende der 90er Jahre, dies haben die Analysen der beiden EnqueteKommissionen gezeigt, dominierte eine konservative Sicht der SBZ/DDR-Ver1
Faulenbach, Bernd: »Die doppelte ›Vergangenheitsbewältigung‹«, in: Danyel, Jürgen (Hg.): Die geteilte Vergangenheit (1995), S. 123.
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gangenheit, die eher antikommunistischen Interpretationen den Vorzug gab und sich durch geringe staatliche Intervention auszeichnete. Die Debatten im Zuge der ersten Enquete-Kommission wiesen dabei starke Kontinuitäten zu den 80er Jahren auf. Dies galt sowohl für die geschichtspolitische Stoßrichtung der Konservativen als auch für die Haltung der Linken. Ging es den Konservativen (CDU/CSU) um eine schonungslose Delegitimierung der DDR und linker Ideologien, zum Teil unter Anführung rechtskonservativer, geschichtsrevisionistischer und antikommunistischer Argumente, versuchte die PDS dieser Delegitimierung mit linkem Geschichtsrevisionismus entgegenzuwirken. Vor allem die SPD bemühte sich, die Kontroverse abzumildern durch einen moderateren, versachlichenden und differenzierteren kommunismuskritischen Zugang. Der Delegimitierung der DDR und einer Legitimierung der BRD tat dieses Bemühen keinen Abbruch. Die dritte Phase begann 1997 und war einerseits bestimmt durch eine staatliche Institutionalisierung sowie die Sicherstellung der DDR-Aufarbeitung bzw. des DDR-Gedenkens, andererseits durch das Ende der konservativen Geschichtspolitik und den Anfang einer »neuen Geschichtspolitik«, die eine zunehmende Demokratisierung, aber auch eine zunehmende institutionalisierte Verstaatlichung der Erinnerungsfrage beinhaltete. Zum Ende des Jahrzehntes, mit dem sich abzeichnenden Regierungswechsel zu Rot-Grün, wurde also die konservative Sicht abgelöst von einer Geschichts- und Erinnerungspolitik, die einerseits stärker auf staatliches Engagement setzte, damit aber andererseits Forderungen nach Differenzierung, Pluralität und Multiperspektivität verband, um einseitigen Geschichtsauslegungen und dem Nivellieren verschiedener Verbrechenskomplexe einen Riegel vorzuschieben. Der konservativen Geschichtspolitik wurde der »Wind aus den Segeln« genommen, und es setzte sich vorübergehend ein überparteilicher Konsens durch – gerade auch in Hinblick auf erinnerungskulturelle Fragen. Da er die deutliche Handschrift der rotgrünen Regierung trug, wurde er sogar von Hardlinern der PDS akzeptiert. Konservative Geschichtsbilder, die noch bis in die zweite Enquete-Kommission Bestand hatten, wurden somit durch einen pluralistischen, integrativen und multiperspektivischen Blick auf die Geschichte entschärft. Mit dieser »neuen Geschichtspolitik« verlagerte sich der Schwerpunkt zudem auf erinnerungs- und gedenkstättenpolitische Themen. Institutionalisierungen wie die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und die Gedenkstättenkonzeption des Bundes von 1999 verkörperten diese Hinwendung der Bundesregierung. Dies kam einer Sensation gleich, lag die Hoheit von erinnerungskulturellen und kulturpolitischen Fragen bis dahin doch ausnahmslos bei den Ländern. Ohne die zweite Enquete-Kommission und die starken Einflüsse von SPD und den Bündnisgrünen wäre dieses Novum in der Geschichte der BRD nicht möglich gewesen. »Für die Gedenkstättenpolitik war die Beschäftigung mit der SED-Diktatur eine zentrale Wegmarke. Erst über diesen Umweg […] war es möglich, sich auch mit den Gedenkstätten zur NS-Diktatur im Bundestag zu beschäftigen.«2 Alle erinnerungskulturellen Einrichtungen und bürgerschaftlichen Aufarbeitungsinitiativen (sowohl bzgl. der NS- als auch bzgl. der DDR-Vergangenheit) erfuhren hierdurch eine »spä-
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te Anerkennung«3 ihrer Arbeit und wurden erstmals gesetzlich staatlich gefördert. Der erinnerungs- und gedenkstättenpolitische Konsens zum Ende der 90er Jahre, so konnte gezeigt werden, hatte dementsprechend nichts gemein mit einer »Gedenkstätten- und Erinnerungspolitik von oben«, wie sie in der DDR diktiert wurde – und auch nichts mehr gemein mit der Gedenkstätten- und Erinnerungspolitik der AltBRD. Diese neue Form von Erinnerungspolitik war eine den demokratischen Grundsätzen und einer dezentralen Erinnerungslandschaft verpflichtete Erinnerungs- und Gedenkstättenpolitik. Sie folgte dem Anspruch, mit einer Weisung »von oben« grundsätzlich eine demokratische Erinnerungskultur als »Geschichte von unten« zu ermöglichen. Mit der Regierungsneubildung und der Großen Koalition ab 2005 rückte diese »neue Erinnerungs- und Geschichtspolitik« vorläufig wieder stärker ins konservative Lager. Das Erinnern und Gedenken der SBZ/DDR-Vergangenheit wurde gegenüber dem Erinnern und Gedenken der NS-Vergangenheit erneut aufgewertet und stärker berücksichtigt. Bei aller Unterschiedlichkeit wurde die Erinnerung an beide deutsche Diktaturen als gleichwertig und gleich bedeutsam eingestuft. Auch kehrten undifferenzierte totalitarismustheoretische Geschichtsbilder punktuell wieder zurück in den Diskurs. Vor allem aber wurde unter der Großen Koalition – im Unterschied zur bisherigen Devise »so wenig Staat wie möglich« – erstmals das Errichten neuer Nationalsymbole durchgesetzt. War das Errichten eines »Einheitsdenkmals« an prononcierter Stelle in der Hauptstadt Berlin bis dahin maßgeblich von den Konservativen politisch forciert worden, fanden sich nun auch genug Sozialdemokraten für ein solches nationales Prestigeprojekt. Die Entwicklung der Erinnerungskulturen und die damit verbundene Erinnerungs- und Geschichtspolitik erwies sich einmal mehr als ein andauernder Prozess. Insgesamt konnte deutlich aufgezeigt werden, dass Erinnerungs- und Geschichtspolitik auf Bundesebene mit dem Beitritt der DDR zur BRD nicht endete, sondern weiterging. Nie gab es so viele öffentliche, geschichts- und erinnerungspolitische parlamentarische Debatten über deutsche Geschichte wie nach 1990, und ein Ende scheint – wer würde es wollen und wie sollte dies auch gehen – nicht in Sicht. Wie und ob sich diese geschichts-, erinnerungs- und gedenkstättenpolitischen Entwicklungen und Paradigmenwechsel im Allgemeinen nun auf die Geschichtskultur im Besonderen auswirkten, soll Untersuchungsgegenstand der folgenden Kapitel sein. Dass Deutungseliten dem Erinnern und Gedenken eine bestimmte Richtung vorgeben, ist eine Sache, inwieweit die Erinnerungskultur dieser Richtung folgt, ist eine andere. So setzen sich die folgenden Kapitel mit Erinnern und Gedenken konkret an authentischen Erinnerungsorten auseinander. Bei der Analyse der Gedenkstätten soll sowohl gezeigt werden, wo und wie sich erinnerungs- und geschichtspolitische Maßgaben durchsetzten und in die unmittelbare Gedenkstättenarbeit und ihre Konzeptionen einflossen, als auch wo und wie Gegenbewegungen, Widerstände, Abweichungen, Kurskorrekturen und Eigendynamiken die bundespolitischen Grundsätze aushebelten. Welche Geschichtsbilder und Narrative ent-
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Morsch, Günter: »Die Bedeutung«, in: Gause, Detlev/Schomaker, Heino (Hg.): »Das Gedächtnis« (2001), S. 20
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standen und setzen sich an den authentischen Orten durch? Welche erinnerungs-, geschichts- und gedenkstättenpolitischen Debatten begleiteten sie? Welchen Einfluss hatte die Bundespolitik auf die Gedenkstätten? Im Mittelpunkt stehen daher Fragen nach dem Grad der jeweiligen gedenkstättenspezifischen, erinnerungs- und geschichtspolitischen Autonomie von Erinnern, Gedenken und Geschichtsaufarbeitung.
Die Umwandlung ehemaliger Haftanstalten in Gedenkstätten
1. Einführung
Dieser Abschnitt umfasst die Rekonstruktion und Analyse erinnerungs- und geschichtspolitischer Diskurse um »Orte der Repression«. Untersuchungsgegenstände sind die Gedenkstätte Bautzen in der ehemaligen DDR-Strafvollzugseinrichtung (StVE) »Bautzen II« und die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen in der ehemaligen zentralen Untersuchungshaftanstalt des MfS in Berlin-Hohenschönhausen. Bei der Analyse der Haftanstalten Berlin-Hohenschönhausen und Bautzen werden drei Gesichtspunkte besonders berücksichtigt werden: die geschichtspolitische Auseinandersetzung um die »zweifache Diktatur-Vergangenheit« bzw. das problematische Verhältnis zwischen den SBZ/DDR-Opfern und den NS-Opfern, die Wiederkehr der Totalitarismustheorie in der SBZ/DDR-Aufarbeitung und die Bedeutung der Opfer-Perspektive im öffentlichen Erinnern und Gedenken. Bevor die Initiativen der ehemaligen Häftlinge, der Verwaltungen, der politischen Instanzen und schließlich der Fachwissenschaft, in Bezug auf die historische Aufarbeitung der ehemaligen Haftorte Berlin-Hohenschönhausen und Bautzen nachgezeichnet werden erfolgt ein kurzer historischer Abriss über beide Haftorte. Die historische Einbettung bzw. Kontextualisierung des betrachteten Ortes dient ausdrücklich der Standortbestimmung. Sie wird bei den nachfolgenden Analysen ebenfalls vorgenommen.
2. DDR-Haftanstalten – Historischer Abriss
Speziallager und MfS-Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen Das Gelände der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) entlang der Genslerstraße in Berlin-Hohenschönhausen zeugt von einer 44-jährigen Vergangenheit politischer Verfolgung in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR. Die Geschichte der Untersuchungshaftanstalt gliedert sich in drei Zeitabschnitte. Der erste umfasst den Zeitraum 1938-1946, als das Gelände zunächst von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) und dann unmittelbar Kriegsende von der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) als »Speziallager Nr. 3« genutzt wurde. Im zweiten Zeitabschnitt 19461951 fand eine Umnutzung des Lagers statt. Das NKWD, das Ministerium für Innere Angelegenheiten der UdSSR) bzw. der NKGB/MGB (der Sowjetische Geheimdienst bzw. das Sowjetische Ministerium für Sicherheit) nutzte das ehemalige Speziallager in diesem Zeitraum als zentrales Untersuchungsgefängnis der sowjetischen Besatzungsmacht für politische Häftlinge.1 Der dritte Zeitabschnitt 1951-1990 markiert die Nutzung des Areals als Zentrale Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit. Diese drei Geschichtsabschnitte der Haftanstalt werden im Folgenden in Grundzügen darstellt, um die historische Bedeutung des Ortes zu erfassen. In den 20er Jahren war die Genslerstraße ein holpriger Steindamm. Sie trug den Namen eines ortsansässigen Gärtners. Stück für Stück wurde die Umgebung vom Fabrikanten Richard Heike industriell erschlossen. Heike betrieb eine Fleischmaschinenfabrik und eine Kesselschmiede. 1938 verkaufte er das Gelände an die NSV, die dort eine Großküche als nationalsozialistischen Musterbetrieb erbauen ließ. Hier wurden auf industrielle Weise bis zu 30.000 Essen pro Tag produziert. Bereits 1940 gab es die ersten Gefangenen in Hohenschönhausen. Der Fabrikant Heike rüstete einige Schuppen in Lager um, in denen fortan vorwiegend Kriegsgefangene und
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Der sowjetische Geheimdienst MGB in Deutschland nutzte das Lager im Zeitraum zwischen 1947-1951; vgl.: Erler, Peter: »Die ›deutsche Lubjanka‹ in Hohenschönhausen. Das zentrale Untersuchungsgefängnis des MGB in Berlin – Ein Exkurs über Insassen, Hafträume und Verhörmethoden«, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat (2004), S. 93.
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Zwangsarbeiter untergebracht wurden. Diese arbeiteten in einem Rüstungsbetrieb und einem Impfstoffwerk in unmittelbarer Nachbarschaft.2 Diese Nutzung als Großküche, untergebracht im Haupthaus der späteren Haftanstalt, endete erst mit der sowjetischen Besetzung von Hohenschönhausen 1945. Die Heike-Fabriken und die Großküche wurden demontiert und gingen als Reparationsleistungen in die Sowjetunion. Das Areal wurde umzäunt, Wachttürme aufgestellt, Überwachungsscheinwerfer installiert: das sowjetische Internierungslager, das »Speziallager Nr. 3« entstand als eines von zehn Sonderlagern in der SBZ. Es diente zudem als Sammelstelle und Durchgangslager für politische Gefangene. Ca. 122.000 Internierte gingen zwischen 1945 und 1950 durch sowjetische Lager und Haftanstalten.3 Potenzielle NS-Verbrecher oder »feindliche Elemente« wurden in diesen Lagern inhaftiert. Die SMAD berief sich dabei auf Beschlüsse der Alliierten (Jalta-Konferenz im Februar 1945) sowie auf Befehle des sowjetischen Volkskommissars Lawrentij P. Berija (vom 11. Januar 1945, 22. Februar 1945 und 18. April 1945), die vor dem endgültigen Sieg über Deutschland die Internierung der Anhänger des NS und antisowjetisch gesinnter Personen anordneten.4 »Personen, die nachweislich terroristische und Diversionshandlungen begangen haben, sind an Ort und Stelle zu liquidieren«, hieß es zudem im NKWD-Befehl Nr. 00315, Kollaborateure aus den eigenen Reihen einbezogen.5 Definiertes Ziel war, das von der Roten Armee besetzte Gebiet von »feindlichen Elementen [zu] säubern«, sodass nationalsozialistische Funktionsträger verhaftet, das Gebiet militärisch gesichert und die Besatzungsverwaltung selbst geschützt wurde.6 Auf der Potsdamer Konferenz wurde die Vorgehensweise des SMAD durch das Abkommen vom 02. August 1945 legitimiert: »Kriegsverbrecher und alle diejenigen, die an der Planung oder Verwirklichung nazistischer Maßnahmen, die Gräuel oder Kriegsverbrechen nach sich zogen oder als Ergebnis hatten, teilgenommen haben, sind zu verhaften und dem Gericht zu übergeben. Nazistische Parteiführer, einflussreiche Nazianhänger und die Leiter nazistischer Ämter und Organisationen und alle anderen Personen, die für die Besetzung und ihre Ziele gefährlich sind, sind zu
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Ide, Robert: »Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen«, in: Die neuen Architekturführer 43 (2003), S. 4. Suckut, Siegfried/Wilke, Manfred/Wolle, Stefan: Abschlussbericht der Fachkommission zur Erarbeitung einer Konzeption für die Errichtung einer Gedenkstätte auf dem Gelände der ehemaligen Haftanstalt Hohenschönhausen vom 23.01.1995, S. 14, ArLStU, Bestand: BStU Gauck ab 01.01.1999 [BStU 1999]. Camphausen, Gabriele: »Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Geschichte des Geländes«, in: Gedenkstätte Hohenschönhausen (Hg.): Informationen zur Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Die ehemalige MfS-Untersuchungshaftanstalt, Berlin 1998, S. 4; Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Geschichte des Speziallagers Bautzen. 1945-1956. Katalog zur Ausstellung, Dresden 2004, S. 39. Ebd. Morré, Jörg: »Das Speziallager Bautzen als Instrument sowjetischer Herrschaftssicherung«, in: Behring, Rainer/Schmeitzner, Mike (Hg.): Diktaturdurchsetzung in Sachsen. Studien zur Genese der kommunistischen Herrschaft 1945-1952, Köln 2003, S. 82.
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verhaften und zu internieren«.7 Dieses Abkommen ermöglichte nicht nur eine Internierung der ehemaligen Nazi-Anhänger und -Funktionäre sondern auch die Inhaftierung von Gegnern der Besatzer, insbesondere weil detaillierte Richtlinien vom Alliierten Kontrollrat erst im Januar bzw. im Oktober 1946 erlassen wurden, so die Kontrallrat-Direktive Nr. 24 und Nr. 38. Diese Internierung wurde in der SBZ insbesondere ab Sommer 1946 oft als Freibrief missbraucht und auch als politische Waffe angewendet. So wurden neben zu entnazifizierenden Deutschen und Kriegsverbrechern auch Gegner der »Sowjetisierung« bzw. der Gesellschafts- und Staatsordnung in der SBZ interniert. Zu Opfern dieser Willkür wurden viele, die sich keineswegs eines Kriegsverbrechens schuldig gemacht hatten oder sich den Nazi-Aktivisten zurechnen ließen. In das Lager kamen mehr und mehr Zivilisten, die von der Sowjetischen Besatzungsmacht als Spione, Diversanten und Terroristen, d.h. als »feindliche Elemente« betrachtet wurden.8 Zu diesen Inhaftierten gehörten vielfach auch Menschen, die durch eine Denunziation auffällig und verhaftet wurden, sowie Jugendliche, die unter »Werwolfverdacht« standen, Polen und Russen, die sich mit den Deutschen »arrangierten«, Kritiker des kommunistischen Systems und Angehörige der SPD.9 In den Speziallagern fehlten Einzelfallprüfungen und rechtstaatliche Verfahren. Viele der Internierten waren jahrelang inhaftiert ohne nachgewiesene Gründe, ohne offizielle Anklage und ohne einen richterlichen Urteilsspruch.10 Die Abmachungen der Alliierten wurden somit zur Scheinlegitimation für die Verfolgung politisch missliebiger Personen. Zudem wurden die Speziallager auch als Lager für Verurteilte der Sowjetischen Militärtribunale (SMT) benutzt, womit der Funktionsrahmen eines Internierungslagers weit überschritten wurde.11 In Hohenschönhausen waren von Mai 1945 bis Oktober 1946 insgesamt ca. 20.000 Menschen inhaftiert, teilweise jedoch nur für einen kürzeren Zeitraum, da von Hohenschönhausen als Durchgangslager Weitertransporte zu anderen Lagern ausgingen. Das Speziallager war für die Aufnahme von 2500 Menschen vorgesehen, die Belegung umfasste zeitweise jedoch nahezu die doppelte Zahl (ca. 4200),
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Z.n. Suckut, Siegfried/Wilke, Manfred/Wolle, Stefan: Abschlussbericht vom 23.01.1995, S. 15, ArLStU, BStU 1999. 8 Knabe, Hubertus: »Das Haus des Terrors. Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen«, in: ders.: Stätten der DDR-Diktatur, Berlin 2004, S. 6. 9 Werwolf wurde eine von der NSDAP 1944 initiierte Untergrund- und Partisanenbewegung bezeichnet, die Mitglieder der Hitler-Jugend paramilitärisch ausbilden sollte, um deutsche Kollaborateure von innen zu bekämpfen. Tatsächlich hatte der Werwolf zu keiner Zeit eine Bedeutung, auch wenn der NKWD viele Mitglieder der Hitler-Jugend verdächtigte, dieser Partisanengruppe anzugehören, vgl. Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Geschichte des Speziallagers Bautzen 1945-1956. Katalog zur Ausstellung, Dresden 2004, S. 42. 10 Suckut, Siegfried/Wilke, Manfred/Wolle, Stefan: Abschlussbericht vom 23.01.995, S. 16, ArLStU, BStU 1999. 11 Camphausen, Gabriele: »Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen«, in: Gedenkstätte Hohenschönhausen (Hg.): Informationen (1998), S. 5.
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so dass die Lebensbedingungen in jeder Hinsicht katastrophal waren. Die offiziell verfügbare Anzahl derjenigen, die die Internierung in diesem Zeitraum nicht überlebten, beläuft sich auf ca. 900.12 Im Oktober 1946 wurde das Speziallager aufgelöst und die letzten Insassen nach Sachsenhausen überführt. Nach der Auflösung wurde das Fabrikgebäude zum zentralen Untersuchungsgefängnis des sowjetischen Geheimdienstes MGB umfunktioniert und Sitz des Hauptuntersuchungsgefängnisses der »Berliner Operativen Abteilung«.13 Generalleutnant Nikolai K. Kowaltschuk (Chef des sowjetischen Sicherheitsapparates in der SBZ) veranlasste die Umgestaltung der ehemaligen Großküche zu einem Zentralgefängnis. Dieses Vorhaben gehörte zur logistischen Absicherung der Verlegung des MGB-Hauptquartiers nach Berlin-Karlshorst. Die Untersuchungshaftanstalt wurde spätestens im Sommer 1947 in Betrieb genommen.14 Das Gelände stand damit weithin unter der sowjetischen Führung und diente, bis zur Übergabe des Geländes 1951 an die Behörden der DDR, als MGB-Haftanstalt für politische Häftlinge.15 Zu diesem Zweck wurden im Kellergeschoss, unterhalb der ehemaligen Großküche, mehr als 60 fensterlose, bis 1949 unbeheizbare Zellen eingebaut, die über keinerlei sanitäre Einrichtungen verfügten. Dieser Gefängnistrakt entsprach nur primitivsten Anforderungen – Holzpritsche, eingemauerte Bänke oder Liegegestell zum Schlafen, ein Holzkübel für die Notdurft – und wurde unter der Bezeichnung »U-Boot« bekannt.16 Das »U-Boot« umfasste überdies »Spezialzellen«, in denen die Häftlinge vermutlich auf unterschiedlichste Weise drangsaliert wurden. Einige Zellen sind rekonstruiert, in denen Häftlinge in Holzgestellen ausharren oder über Tage in Wasser stehen mussten, z.T. in Kombination mit extremer Kältezufuhr.17 Sogenannte »Steh- und Hockzellen« sind an baulichen Spuren nachweisbar. Dieser Zellengewahrsam ging meist einher mit den Foltermethoden: Schlafentzug, Hitze, Kälte, Dunkelarrest, Essensentzug und massive körperliche Gewalt durch Schläge mit Gummiknüppel, Lederpeitschen, Eisenstangen, Stahllineale, Kabelenden und
12 Ebd., S. 4. 13 Erler, Peter: »Die ›deutsche Lubjanka‹«, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SEDStaat (2004), S. 94. 14 Ebd., S. 93. 15 Ebd. 16 Ide, Robert: »Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen«, in: Die neuen Architekturführer 43 (2003), S. 8; Erler, Peter: »Die ›deutsche Lubjanka‹«, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat (2004), S. 99. Erler schreibt, dass eine Belüftung der Zellen mit Frischluft erst ab 1948/1949 durch die Installation entsprechender Vorrichtungen stattfand. Ab 1949 wurde eine Zentralheizungsanlage eingebaut, so dass eine Beheizung der Zellen möglich wurde. 17 Inwieweit es tatsächlich die rekonstruierte »Wasserzelle« geben hat, in der eine Dauerberieselung mit Wasser vorgenommen wurde, und eine Holzvorrichtung als Foltergestell ist umstritten. Beide Rekonstruktionen sind nur durch eine Zeitzeugenaussage belegt. Über die Existenz und Nutzungsvorrichtungen liegen daher nur vage Informationen vor. Vgl. ebd., S. 103, 104.
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lederne Handsäckchen. Mindestens ebenso schwer wie diese rekonstruierten Foltermethoden, wog allein die Androhung von Folter, Erschießung, Sippenhaft oder Misshandlung des Ehepartners.18 Über die Belegung gibt es unterschiedliche Auskünfte. Im Gutachten von Wilke, Suckut und Wolle heißt es, die Häftlinge hätten mehrere Monate in völliger Isolation verbracht. Einzige Kontaktperson sei der Dienst habende Offizier gewesen, »[…] der in den nächtlichen, zumeist mehrstündigen Verhören mit psychischer Folter, Androhung von Sippenhaft oder auch dem Versprechen von Zusatzverpflegungen, Geständnisse zu erzwingen versuchte«.19 Ide führt an, dass die Überbelegung der winzigen Zellen im U-Boot eine weitere Zermürbungsmethode war. Zeitweise hätten sich 10-12 Verhaftete auf wenigen Quadratmetern in diesen Zellen gedrängt.20 Erler gibt darüber Auskunft, dass es sowohl Einzel- und Doppel- als auch Gemeinschaftszellen gegeben habe.21 Auch existierten - neben dem »U-Boot« - im Erdgeschoss und in der ersten Etage des Haupthauses weitere Hafträume. Diese entsprachen einem höheren Standard und waren möbliert. Die Häftlinge, die in diesen Zellen untergebracht waren, hatten einen privilegierten Status, sie erhielten eine bessere Verpflegung und sonstige Extrabehandlungen (Freigänge, frische Wäsche, Buchlektüre, etc.).22 Die Insassen zwischen 1946-1951 lassen sich in drei Gruppen gliedern. Zur ersten Gruppe gehörten Männer und Frauen, die beschuldigt wurden, »konterrevolutionäre Verbrechen« begangen zu haben. Hierzu gehörten Mitarbeiter, Kuriere und Informanten der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) und des Ostbüros der SPD, vermutete und wirkliche Agenten westlicher Geheimdienste, Angehörige studentischer Oppositionskreise, Mitglieder der Parteien LDPD und CDU sowie Mitglieder der SED und KPD, die unter dem Vorwurf »Trotzkismus«, »Titoismus« und »Sozialdemokratismus« verhaftet wurden. Die zweite Gruppe der Gefangenen bildeten weiterhin »Nazi- und Kriegsverbrecher«. Die dritte Gruppe bestand aus sowjetischen Gefangenen, z.B. ehemalige Soldaten der »Wlassow-Armee« und russische Emigranten, die nach der Oktoberrevolution 1917 in Berlin ansässig wurden.23 Die Verweildauer dieser Häftlinge war uneinheitlich. Manche verbrachten nur mehrere Wochen in Untersuchungshaft, andere – wie beispielsweise Rudolf Jordan – mehr als zwei Jahre.24 Ungeachtet der Geständniswilligkeit der Inhaftierten, erfolgten Verurteilungen durch Militärtribunale oder Fernurteile aus der Sowjetunion, ohne dass den Ange-
18 Ebd., S. 102ff. 19 Suckut, Siegfried/Wilke, Manfred/Wolle, Stefan: Abschlussbericht vom 23.01.1995, S. 16, ArLStU, BStU 1999. 20 Ide, Robert: »Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen«, in: Die neuen Architekturführer 43 (2003), S. 8. 21 Erler, Peter: »Die ›deutsche Lubjanka‹«, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SEDStaat (2004), S. 98. 22 Ebd., S. 100. 23 Ebd., S. 96. 24 Ebd., S. 97.
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klagten die Möglichkeit einer rechtstaatlichen Verteidigung gegeben war. Oftmals wussten die Inhaftierten nichts über das Vergehen, das sie begangen haben sollten. Das Strafmaß dieser Verurteilungen entsprach keiner nachvollziehbaren Relation. So wurde ein Großteil der aus politischen Gründen Inhaftierten zu Höchstgefängnisstrafen (10-25 Jahre) oder langjährigem Aufenthalt in Arbeitslagern (z.B. nach Workuta) verurteilt. Sogar Todesstrafen, nach Verschleppungen in die Sowjetunion, wurden verhängt. Die formaljuristische Begründung für diese Urteilsprüche lieferte das Gesetz Nr. 10 und die Direktive Nr. 38 des Alliierten Kontrollrates. Insgesamt wird die Haftanstalt Hohenschönhausen für den Zeitraum 1946-1951 gerne als »deutsche Lubjanka« charakterisiert. Sie wurde nach dem Vorbild des zentralen NKWD-Gefängnisses in Moskau (»Lubjanka«) aufgebaut. Erst mit der Gründung der DDR im Oktober 1949 begann der Abbau des sowjetischen Machtapparates in Hohenschönhausen. Einrichtungen der Besatzung wurden allmählich an die Verwaltungsbehörden der DDR übergeben, hierzu gehörte 1951 auch die sogenannte »deutsche Lubjanka«.25 Die Übergabe der MGB-Untersuchungshaftanstalt erfolgte 1951 zunächst an das Ministerium des Inneren der DDR.26 Andere Quellen dokumentieren, dass die Haftanstalt im März 1951 von der Sowjetischen Kontrollkommission (SKK) dem »Wirtschaftunternehmen Wohnbauten der Regierung der DDR« übergeben wurde.27 Wenig später erfolgte die Übernahme durch das Ministerium für Staatssicherheit. Das MfS führte die zentrale Untersuchungshaftanstalt bis Januar 1990. Bis 1961 wurde der Haftbetrieb im Haupthaus mit dem U-Boot aufrecht gehalten, die offensiven Martermethoden wurden mit dem Jahr 1951 weitgehend eingestellt.28 Erst ab 1961 fand der Umzug in einen neu gebauten Gebäudekomplex statt. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde auch das Arbeitslager X betrieben, in dem 1200-2000 Häftlinge in Werkstätten des MfS arbeiten mussten. »Sie führten dort Reparaturen an Fahrzeugen der Partei- und Staatsführung aus und fertigten Anlagen für die Stasi an, etwa zum unauffälligen Öffnen der Post.«29 Robert Ide schreibt, dass das Arbeitslager X sogar bis 1974 in Betrieb gewesen sei und bis zu diesem Zeitpunkt ca. 8000 Menschen beschäftigt habe.30 Die Haftbedingungen und Zermürbungsmethoden wandelten sich im Zuge der 40 Jahre MfS-Haftanstalt. Physische Gewalt wich ab den 50er Jahren zunehmend
25 Camphausen, Gabriele: »Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen«, in: Gedenkstätte Hohenschönhausen (Hg.): Informationen (1998), S. 6; Suckut, Siegfried/Wilke, Manfred/Wolle, Stefan: Abschlussbericht vom 23.01.1995, S. 18, ArLStU, BStU 1999. 26 Ebd., S. 18. 27 Vgl. u.a. Camphausen, Gabriele: »Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen«, in: Gedenkstätte Hohenschönhausen (Hg.): Informationen (1998), S. 6. 28 Erler, Peter: »Die ›deutsche Lubjanka‹«, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SEDStaat (2004), S. 105. 29 Suckut, Siegfried/Wilke, Manfred/Wolle, Stefan: Abschlussbericht vom 23.01.1995, S. 18, ArLStU, BStU 1999. 30 Ide, Robert: »Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen«, in: Die neuen Architekturführer 43 (2003), S. 11.
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zeitgemäßen, psychologischen Formen der Gewaltausübung während der Inhaftierung. Zu diesen Methoden gehörten die sukzessive seelische Zermürbung der Persönlichkeit durch das Provozieren einer gezielten Orientierungslosigkeit der Inhaftierten, ihre vollständige Isolation von der Außenwelt, nächtliche Verhörpraktiken und Bespitzelungen aus eigenen Reihen. Die Denunzierten und Verdächtigten wurden in einem Transporter eingeliefert, ohne Kenntnis ihres Aufenthaltsortes, hatten keinerlei Möglichkeit, Kontakt zu einem Anwalt aufzunehmen, konnten auch keine Verbindung zu Angehörigen herstellen und blieben während monatelanger Untersuchungshaft in Unkenntnis über ihren Verhaftungsgrund und ihren Aufenthaltsort. Durch ein Warnsystem aus Ampelanlagen und Bodenmarkierungen wurde die Begegnung der Häftlinge untereinander auf den Fluren außerhalb der Zellen verhindert. Um die Isolation zu verstärken, wurden die Flure mit Teppichen ausgelegt. Auf diese Weise war nicht zu hören, ob sich auf dem Flur Wächter auf dem Kontrollgang oder auch andere Häftlinge befanden.31 Später wurden Abhöranlagen und Kameras in die Zellen und auf den Fluren montiert. Entlang der Flurwände wurden Elektrokabel gespannt, mit denen der Wärter durch eine einfache Berührung Alarm auslösen konnte. Die Unterkunftszellen boten darüber hinaus keinerlei Ausblicksmöglichkeiten, da Tageslicht ausschließlich durch Glasbausteine in die Zellen fiel.32 Den Häftlingen wurde zuweilen monatelang jeglicher Kleidungswechsel untersagt. Der Freigang war allein in »Käfigen« sporadisch gestattet. Diese Freigang-Käfige waren maximal 1,20m x 5m groß. Für »renitente« Häftlinge befanden sich im Kellergeschoss Dunkelgummizellen ohne jegliches Mobiliar. Diese psychologische Zermürbungspraxis im Haftalltag drückte sich auch in dem Verhältnis der Häftlingszahlen zu denen des Personals und in der Ausstattung der Haftanstalt aus. Auf 102 Haftzellen für maximal 200 Häftlinge kamen 120 Vernehmerzellen. Neben 300 Haftangestellten der Abteilung XIV (U-Haft-Vollzugsabteilung) kamen ab 1972 bis 1989 ca. 500 Mitarbeiter der Hauptabteilung IX des MfS hinzu, die vornehmlich für die Abhörzentrale des MfS zuständig waren, d.h. bis 1989 waren insgesamt ca. 800 Staatsangestellte in Hohenschönhausen tätig.33 Trotz dieser Personalstärke waren die Vernehmer des MfS für die Häftlinge die einzigen Kontaktpersonen. Die formale Begründung der politischen Verfolgung mit Haftfolge lieferte bis 1990 das »Gesetz zum Schutze des Friedens« gemäß Art. 6 der Verfassung der DDR. Dieses Gesetz ermöglichte die Verhaftung derjenigen, die Verdachtsmomente im Hinblick auf »feindliche Elemente« und »Konspiration« aufkommen ließen. Das Strafgesetzbuch der DDR von 1968 umfasste einen ganzen Katalog möglicher Anschuldigungen, allen voran Spionage §97 sowie Sammeln von Nachrichten zum Nachteil der DDR §98, Sabotage §104, staatsfeindliche Hetze §106, aber auch un-
31 Ebd., S. 10. 32 Suckut, Siegfried/Wilke, Manfred/Wolle, Stefan: Abschlussbericht vom 23.01.1995, S. 18, ArLStU, BStU 1999. 33 Ide, Robert: »Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen«, in: Die neuen Architekturführer 43 (2003), S. 18; Camphausen, Gabriele: »Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen«, in: Gedenkstätte Hohenschönhausen (Hg.): Informationen (1998), S. 7.
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gesetzlicher Grenzübertritt §213 und Beeinträchtigung der staatlichen Tätigkeit §214.34 Aufgrund dieser strafrechtlichen Bestimmungen konnte fast jede Tat oder freie Meinungsäußerung als staatsgefährdende und kriminelle Handlung interpretiert werden. Dass während der Untersuchungshaft bestimmungsgemäß lediglich die Feststellung des Straftatbestandes vorgenommen werden sollte, blieb in Hohenschönhausen eine Nebensache. Die Strafverteidiger wurden i.d.R. vom MfS gestellt und gingen zunächst von der jeweiligen, zum Großteil willkürlich zur Last gelegten Schuld aus. Das gesamte Ermittlungsverfahren wurde zudem durch repressive Verhörmethoden und vorgefertigte Geständnisprotokolle ad absurdum geführt. Das Spektrum der politisch Inhaftierten in diesem 40-jährigen Zeitraum umfasste nicht linientreue KPD-Mitglieder aus dem Westen (Kurt Müller, Leo Bauer), SED-Mitglieder (Paul Merker als ehemaliges Mitglied des Politbüros sowie Außenminister der DDR Georg Dertinger), Aufständische des 17. Juni 1953 (7663 Festnahmen), Reformkommunisten nach dem Ungarnaufstand 1956 (Wolfgang Harich, Walter Janka), SPD-Angehörige (Hans-Joachim Helwig-Wilson, Hermann Kreutzer), Kontaktleute der westdeutschen Ost-Büros der bürgerlichen Parteien, Zeugen Jehovas, Angehörige jugendlicher Widerstandsgruppen, westdeutsche Systemkritiker, die in die DDR verschleppt wurden (Walter Linse, Karl Wilhelm Fricke), ostdeutsche Oppositionelle (Jürgen Fuchs, Bärbel Bohley, Rudolph Bahro, Ulrike Poppe), Republikflüchtlinge (von 1961 bis 1989 die größte Gruppe mit ca. 72.000 Verhaftungen) und, seit Mitte der 70er Jahre, »hartnäckige Ausreiseantragssteller«.35 Erst nach Auflösung des MfS ging die Kontrolle der Haftanstalt wieder auf das Innenministerium der DDR über und im Zuge der deutschen Einheit endete schließlich der Haftbetrieb. »Gelbes Elend« bzw. Speziallager Bautzen und MfS-Sonderhaftanstalt Bautzen II Mit der Eröffnung der Landesstrafanstalt »Bautzen I« am Fuße des Karnickelberges 1904 –aufgrund der hellen Klinkersteine auch »Gelbes Elend« genannt – und mit dem Errichten einer Haftanstalt »Bautzen II« als Gerichtsgefängnis des Bautzener Landgerichtes zwischen 1902 und 1906, erhielt die sorbische Stadt Bautzen früh das Attribut, vornehmlich Gefängnisstadt zu sein.36 Zwischen 1904 und 1932 war das »Gelbe Elend« eine der drei größten Einrichtungen des Sächsischen Strafvollzugs. Dort wurde der gesamte sächsische Jugendstrafvollzug für männliche Häftlinge über einen Monat Strafe vollzogen. Das Gefängnis war für 1092 Häftlinge ausgelegt.37 Das Gerichtsgefängnis wiederum bot für rund 150 Häftlinge Platz. Mit
34 Ebd., S. 6. 35 Knabe, Hubertus: »Die deutsche Lubjanka. Ein altes Stasi-Gefängnis als Prüfstein der neuen Berliner Regierung«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.01.2002. 36 Fricke, Karl-Wilhelm/Klewin, Silke: Bautzen II. Sonderhaftanstalt unter MfS-Kontrolle 1956-1989. Bericht und Dokumentation, Leipzig 2001, S. 30. 37 JVA Bautzen (Hg.): 100 Jahre Justizvollzugsanstalt Bautzen 1904-2004. Zur Entstehung des Rufs der Justizvollzugsanstalt Bautzen (früher Bautzen I). Festschrift (2004), ArJVA BZ, lose Blattsammlung.
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dem Zusammenschluss der beiden Bautzener Gefängnisse zu den »Vereinigten Gefangenenanstalten« durch das Sächsische Innenministerium 1923, gehörten diese spätestens ab den 30er Jahren zu den drei größten Einrichtungen Deutschlands.38 Zu diesem Zeitpunkt konnten etwa 1250 Häftlinge in »Bautzen I« und »Bautzen II« zeitgleich untergebracht werden. Bis 1932 standen reformerische Ideen eines modernen, humanen Strafvollzuges im Vordergrund, beide Gefängnisse entsprachen daher den damaligen Standards.39 Erst ab 1933 begann in Bautzen der vornehmlich politisch-ideologisch motivierte Strafvollzug und wurde Bautzen zum zentralen Haftort für die Opfer politischer Verfolgung, insbesondere der Nachkriegszeit. Heute wird in drei Perioden politischer Haft und Verfolgung in Bautzen unterschieden: 1933-1945, 1945-1956 und 1956-1989.40 Zwischen 1933-1945 wurden in beiden Bautzener Gefängnissen politische Gegner des NS-Regimes inhaftiert. Hierzu zählten anfangs vorwiegend Kommunisten und Sozialdemokraten. Später dann folgten auch Häftlinge, die aus religiösen, rassischen und völkischen Gründen verfolgt und eingesperrt wurden, hierzu zählten auch Zeugen Jehovas. »Mit dem Ausbau des Systems der Konzentrationslager verlor der Strafvollzug als Instrument politischer Verfolgung an Bedeutung, blieb aber Teil des Unterdrückungssystems«, fasst die Besucherinformation zusammen.41 Die Reformansätze der Weimarer Republik wurden weitgehend zurückgenommen: »Militärische Umgangsformen, Drill und harte Arreststrafen bestimmten nun den Alltag der Häftlinge.«42 Zu den Prominentesten gehörte der KPD-Führer Ernst Thälmann, der aufgrund seiner politischen Gegnerschaft ein knappes Jahr zwischen dem 11. August 1943 und dem 17. August 1944 im »Gelben Elend« einsaß.43 Er wurde ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht und dort am 18. August 1944 ermordet. Ihm zum Gedenken wurde seine Haftzelle in »Bautzen I« in der DDRZeit zu einer Erinnerungsstätte umgewandelt.44 Zwischen Mai 1945 und Februar 1950 betrieb der sowjetische Geheimdienst NKWD unter der Leitung von Oberstleutnant Sergej Iustinowitsch Kazakov in
38 Ebd.; Gedenkstätte Bautzen/Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Besucherinformation (2005) [Faltblatt]. 39 Ebd. 40 Kaminsky, Annette (Hg.): Orte des Erinnerns, S. 290. 41 Gedenkstätte Bautzen/Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Besucherinformation (2005) [Faltblatt]. 42 Ebd. 43 JVA Bautzen (Hg.): 100 Jahre Justizvollzugsanstalt (2004), ArJVA BZ, lose Blattsammlung. 44 Vgl. auch Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Geschichte des Speziallagers Bautzen (2004), S. 6. Dort findet Thälmann ausschließlich als Symbol des DDR-Antifaschismus Erwähnung, dem nur bis zum Ende der DDR in Bautzen I erinnert worden sei. Tatsächlich wurde die »Thälmann-Gedenkstätte« in Bautzen I von der JVA Bautzen bis heute erhalten. Eine Besichtigung der Haftzelle durch auswärtige Besucher ist i.d.R. nicht möglich. Der Verf. war es 2006 ausnahmsweise im Zuge dieser Forschungsarbeit möglich, die Thälmann-Zelle in Begleitung des JVA-Leiters zu begehen.
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»Bautzen I« das »Speziallager Nr. 4 (3)« zur Isolierung und Internierung von tatsächlichen und vermeintlichen Funktionsträgern des NS-Regimes und Mitgliedern der NSDAP.45 Die Internierung begann mit etwa 3000 Häftlingen.46 Im ersten Nachkriegsjahr durchliefen 16.000 Internierte das Speziallager Bautzen, von denen rund 10.000 in andere Lager verlegt wurden.47 Ähnlich wie auch im Speziallager Berlin-Hohenschönhausen und in den weiteren deutschlandweiten Speziallagern, entwickelte sich das »Speziallager Bautzen« zügig von einem Entnazifizierungs- zu einem Willkürinstrument zur Isolation und Repression politisch unliebsamer Personen, insbesondere solcher, die die sowjetische Besatzungspolitik ablehnten, aber auch solcher, denen zunehmend »antisowjetische Propaganda«, »illegale Gruppenbildung« und »Spionage« vorgeworfen wurden.48 In den Anfangsmonaten nach Kriegsende wurden also zunächst NSDAPParteimitglieder, z.T. auch schwer belastete NS-Täter sowie mittlere und kleinere Funktionäre der NSDAP und ihr angeschlossener Organisationen (SA, SS, Hitlerjugend usf.) bzw. Angehörige der Wehrmacht interniert, doch spätestens zum Ende des Jahres 1946 wandelte sich »Bautzen I« zügig zu einem Lager, in dem vermeintliche politische Gegner bald die Hälfte der Inhaftierten stellten, hierzu zählten u.a. Vertreter bzw. Mitglieder demokratischer Parteien, Gegner der Zwangsvereinigung von KPD und SPD sowie Jugendliche unter Werwolf-Verdacht.49 Angehörige der Roten Armee selbst, die in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren, also SMT-Verurteilte sowjetischer Staatsbürgerschaft gab es – anders als in anderen Lagern – in Bautzen nur bis November 1946. Sie wurden, etwa 190 an der Zahl, nach Torgau überführt.50 Im Gegenzug wurden 2100 deutsche SMTVerurteilte von Torgau nach Bautzen verlegt. Von da an war Bautzen ausschließlich
45 Ebd., S. 9. 46 Lipinsky, Jan: »Akten aus deutschen und sowjetrussischen Archiven – neue Erkenntnisse über die sowjetischen Speziallager in Deutschland: Beispiel Bautzen«, in: FriedrichEbert-Stiftung (Hg.): Die Akten der kommunistischen Gewaltherrschaft – Schlussstrich oder Aufarbeitung?. Dokumentation 5. Bautzen-Forum, Leipzig 1994, S. 85. 47 Morré, Jörg: »Das Speziallager«, in: Behring, Rainer/Schmeitzner, Mike (Hg.): Diktaturdurchsetzung (2003), S. 84. 48 Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Geschichte des Speziallagers Bautzen (2004), S. 55. 49 Eine einheitliche Grundlage hierfür bildete die erst im Januar 1946 in allen vier Besatzungszonen geltende Kontrollrats-Direktive Nr. 24, vgl. Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Geschichte des Speziallagers Bautzen (2004), S. 36. »Eine Überprüfung der fortlaufend als vermeintliche NS- und Kriegsverbrecher Internierten erfolgte nicht bzw. wenn sie erfolgte, hatte sie keinerlei Konsequenzen«, resümiert Morré, vgl. Morré, Jörg: »Das Speziallager«, in: Behring, Rainer/Schmeitzner, Mike (Hg.): Diktaturdurchsetzung (2003), S. 84, 89; Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Hunger – Kälte – Isolation. Erlebnisberichte und Forschungsergebnisse zum sowjetischen Speziallager Bautzen 1945-1950, Dresden 1997, S. 9, 57 50 Ebd.; Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Geschichte des Speziallagers Bautzen (2004), S. 58.
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Lager für deutsche SMT-Verurteilte, die eine Haftstrafe über 15 Jahre zu erwarten oder zu verbüßen hatten. Der Einweisung ins Speziallager gingen ab November 1946 nun auch qualvolle Verhöre und erpresste Geständnisse vorweg, die zur Grundlage für Verurteilung durch das SMT wurden. In Bautzen fanden diese im Rahmen der Untersuchungshaft in »Bautzen II« statt. »Bautzen II« diente zu diesem Zweck bis 1949 als NKWD-Untersuchungsgefängnis.51 Die Verhafteten wurden vom SMT auf Basis des §58 des sowjetischen Strafgesetzbuches wegen »konterrevolutionäre Tätigkeiten« oder auf Basis des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 und des »Ukaz 43« wegen »Kriegsverbrechen«, »bewaffneten Aufstand«, »Sabotage« und »terroristischen Handlungen« zu langjährigen Haftstrafen oder zu Tode verurteilt und kamen aus der NKWD-Untersuchungshaft bzw. aus den GPU-Kellern zur Urteilsvollstreckung ins Speziallager in »Bautzen I«.52 Zwischen 1949-52 gab es in Bautzen die meisten SMT-Verurteilten in Haft, während dieses Zeitraumes durchschnittlich 5800.53 Nur in seltenen Fällen, wurden tatsächliche Kriegsverbrecher vom SMT verurteilt.54 Etwa ein Drittel war bei Kriegsende 18 und jünger gewesen, sodass eine NSVerstrickung kaum vorgelegen haben konnte.55 Eine große Gruppe der meistens wegen »antisowjetischer Agitation« Verurteilten bildeten ab 1948 Mitglieder der SPD (rund 29%), die durch die Zwangsvereinigung von SPD und KPD inzwischen Mitglieder der SED waren und die Transformation der SED zur »Partei neuen Typs« ablehnten, sowie Mitglieder der bürgerlichen Parteien LDPD (5%) und CDU (3%).56 Begnadigungen bedeuteten i.d.R. die Umwandlung der Todesstrafe in 1025-jährige Haft bzw. Zwangsarbeit.57 Etwa 27.300 Menschen waren unter sowjetischer Verwaltung zwischen Mai 1945 und Februar 1950 insgesamt in »Bautzen I« inhaftiert. Rund 11.000 in Bautzen Internierte wurden in die Lager Mühlberg, Tost und Jamlitz »verlegt«.58 3200 SMT-Verurteilte wurden aufgrund kürzerer Haftstrafe ins Speziallager Sachsenhausen überführt. Rund 830 Häftlinge brachte das NKWD unabhängig davon, ob es sich um SMT-Verurteilte handelte oder um Internierte, in einer einmaligen Aktion
51 Ebd., S. 25; Kaminsky, Annette (Hg.): Orte des Erinnerns, S. 291. 52 GPU steht für eine frühe Bezeichnung des NKWD. GPU-Keller wurden die provisorischen Hafträume (nämlich meistens Keller) der NKWD-Kommandatur bezeichnet, in denen die Verhafteten bis zu ihrer Überführung ins Speziallager verharrten, vgl. Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Geschichte des Speziallagers Bautzen (2004), S. 26, 56, 58. 53 Ebd., S. 10-11, 60. 54 Ebd., S. 76. 55 Morré, Jörg: »Das Speziallager«, in: Behring, Rainer/Schmeitzner, Mike (Hg.): Diktaturdurchsetzung (2003), S. 92. 56 Ebd., S. 94-95. 57 Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Geschichte des Speziallagers Bautzen (2004), S. 62. 58 Haritonow, Alexandr: »Zur Geschichte des Speziallagers Nr. 4 (3) in Bautzen«, in: Plato, Alexander von/Niethammer, Lutz (Hg.): Sowjetische Speziallager in Deutschland 19451950, Berlin 1998, S. 333.
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im Februar 1947 in die Sowjetunion zum Arbeitseinsatz.59 Aufgrund der Häftlingsbewegungen waren in »Bautzen I« zwischen Sommer 1945 und Februar 1950 durchschnittlich 6500 Menschen gleichzeitig in Haft.60 Dies entsprach einer kontinuierlichen fünffachen Überbelegung. »In die Haftsäle wurden bis zu 400 Personen gezwängt und auch die Einzelzellen waren mit durchschnittlich drei bis vier Gefangenen permanent überbelegt«, beschreibt das Bautzener Totenbuch die Haftbedingungen bis Februar 1950.61 Ein Kontakt zur Außenwelt bestand kaum, die Häftlinge blieben weitgehend isoliert, die Angehörigen waren jahrelang im Unwissen über Haft und Haftort. Erst ab Frühjahr 1949 gab es eine Erlaubnis zum Briefwechsel mit Verwandten. Mitgeteilt werden durfte jedoch nur der Grund der Anklage bzw. Verurteilung und der eigene Gesundheitszustand, und gefragt werden durfte lediglich nach dem wirtschaftlichen Zustand und der Gesundheit der Angehörigen. Alle weiteren Erkundigungen und Äußerungen waren verboten bzw. wurden zensiert.62 Ab 1946 gab es Werkstätten, in denen die Häftlinge Reparaturen durchführen und auf Bestellung der Lagerleitung Arbeiten ausführen konnten. Hierzu zählten auch eine Buchbinde- und eine Kunstschnitzwerkstatt.63 Die Versorgung mit Lebensmitteln und die Hygiene blieben dabei allerdings für den gesamten Zeitraum 1945-1950 katastrophal, sodass es in dieser Zeit zu vielen Todesopfern kam. Widersprüchliche Angaben für die Speziallagerzeit in Bautzen finden sich insbesondere bezüglich dieser Opferzahlen in zeitgenössischen Quellen. So benennt der Bericht der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SOPADE-Bericht) von 1955, in dem erstmals gebündelt und breit gestreut Informationen über das Speziallager Bautzen in die Öffentlichkeit gelangten, mindestens 16.700 Tote zwischen 1945-1949 in Bautzen.64 Gerhard Finn, ehemaliger Speziallagerhäftling in Buchenwald, kalkulierte 1958 rund 4100 Tote.65 Karl
59 Morré, Jörg/Liebold, Cornelia: Totenbuch. Speziallager Bautzen. 1945-1956, Bautzen 2004, S. 5; Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Geschichte des Speziallagers Bautzen (2004), S. 79; Morré, Jörg: »Das Speziallager«, in: Behring, Rainer/Schmeitzner, Mike (Hg.): Diktaturdurchsetzung (2003), S. 85; Haritonow, Alexandr: »Zur Geschichte des Speziallagers«, in: Plato, Alexander von/Niethammer, Lutz (Hg.): Sowjetische Speziallager (1998), S. 335. 60 Lipinsky, Jan: »Akten«, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): »Die Akten der kommunistischen« (1994), S. 84. 61 Gedenkstätte Bautzen/Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Besucherinformation (Faltblatt), 2005. 62 Haritonow, Alexandr: »Zur Geschichte des Speziallagers«, in: Plato, Alexander von/Niethammer, Lutz (Hg.): Sowjetische Speziallager (1998), S. 341. 63 Ebd., S. 343. 64 Vorstand der SPD (Hg.): SOPADE Denkschriften 2/55: Die Straflager und Zuchthäuser der Sowjetzone. Gesundheitszustand und Lebensbedingungen der politischen Gefangenen, Bonn 1955, S. 5. 65 Finn, Gerhard: Die politischen Häftlinge der Sowjetzone 1945-1958, Berlin 1958, S. 41; vgl. Morré, Jörg: Übersicht o.T., o.D., ArGBZ, Bestand: Speziallager Totenbuch [Totenbuch].
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Wilhelm Fricke, u.a. politischer Häftling in Berlin-Hohenschönhausen und in »Bautzen II«, errechnete 1979 etwa 12.000 Speziallagertote.66 Hingegen geben VP-Angehörige zu Protokoll, dass 1950 über den Zeitraum 1945-1950 keinerlei Nachweisdokumente über die Gefangenenbewegungen in die VP übernommen wurden und bei Tiefbauarbeiten auf dem Karnickelberg keinerlei Skelette aus gleichem Zeitraum gefunden wurden.67 Diese stark voneinander abweichenden zeitgenössischen Angaben wurden insgesamt inzwischen wissenschaftlich überholt. Jan Lipinsky bezifferte bereits 1994 anhand der vorgefundenen Akten aus russischen Archiven 2714 Tote für den Zeitraum 1945-1950. Die höchste Todesrate mit 65 Verstorbenen in 14 Tagen gab es seinen Untersuchungen zu Folge im April 1947.68 Für den gleichen Zeitraum zählt das Totenbuch der Gedenkstätte Bautzen 2004, das sich u.a. auf das Lagerjournal und auf Verwaltungsakten der SMAD stützt, heute insgesamt 3132 Tote bis 1956.69 80% der Bautzener Speziallagertoten gab es bis 1948.70 Insbesondere ältere und besonders junge Häftlinge gehörten aufgrund der unmenschlichen Haftbedingungen und ihrer schlechteren körperlichen Kondition zu den Todesopfern.71 Während in einem Bericht in Die Union noch 1991 behauptet wird, es seien in Bautzen 15.000 Gefangene erschossen worden, gibt das Totenbuch auch hinsichtlich der Vollstreckung der Todesstrafe in Bautzen andere Auskunft, dort werden über 73 Hinrichtungen zwischen November 1945 und Dezember 1946 angeführt.72 Schließlich weist das Totenbuch auf eine unbestimmte Zahl an Selbstmorden im Speziallager Bautzen hin.73 Häufigste Todesursache war die »Dystrophie«, d.h. ein aufgrund von Unterund Mangelernährung auftretendes Organversagen. Des Weiteren sorgten Tuberkulose, Typhus und Ruhr für erhöhte Sterberaten, hinzu kamen Lungenentzündungen in den Wintermonaten. Sowohl die Epidemien als auch die Dystrophien waren zu-
66 Fricke, Karl-Wilhelm: Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945-1968, Köln 1979/1990, S. 73, vgl. Morré, Jörg: Übersicht o.T., o.D., ArGBZ, Totenbuch. 67 Protokoll zu geführten Ermittlungen durch die Kriminalpolizei über Darlegungen aus der Denkschrift des Jahres 1955 vom 02.03.1990, gez. Hartmann, S. 2, PrBvH, Gründungsphase III; Gedächtnisprotokoll des Herrn Oberstleutnant Starke vom 02.03.1990, S. 4, PrBvH, Gründungsphase III. 68 Lipinsky, Jan: »Akten«, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): »Die Akten der kommunistischen« (1994), S. 84, 86. 69 Morré, Jörg/Liebold, Cornelia: Totenbuch (2004); Morré Jörg/Liebold, Cornelia: Totenbuch. Speziallager Bautzen 1945-1956, Bautzen 2005. In 2004 zählt Morré 2.823 Opfer bis 1950 sowie 263 Opfer zwischen 1950 und 1956. 2005 korrigierte Morré seine Angaben und nahm 8 Namenstreichungen aufgrund anderer Todesorte bzw. Doppelnennungen vor, und ergänzte 54 Namen, die in der Erstausgabe noch fehlten. 70 Morré, Jörg/Liebold, Cornelia: Totenbuch (2004), S. 7. 71 Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Hunger – Kälte – Isolation (1997), S. 10. 72 Rasch, Johannes: »Kastaniensammeln im Gefängnishof«, in: Die Union vom 17.10.1991. 73 Morré, Jörg/Liebold, Cornelia: Totenbuch (2004), S. 7.
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rückzuführen auf die Mangelsituation in der SBZ insgesamt und die extremen schlechten hygienischen Verhältnisse aufgrund von Überbelegung und fehlender Reinigungsmöglichkeiten. Ältere und die jüngsten Häftlinge wurden durch die Mangelsituation besonders von den Krankheiten getroffen.74 So bestand die Ernährung vorwiegend aus einer Wassersuppe und Brot, Zucker und Salz wurde nur sporadisch ausgegeben.75 Zudem fehlte es an jahreszeitengerechter Kleidung und Ausstattung, an Waschmöglichkeiten und Reinigungsutensilien sowie an Medikamenten und Behandlungsmöglichkeiten für die Speziallagerhäftlinge.76 Nach dem offiziellen Ende der Entnazifizierung und der Auflösung der Speziallager in der SBZ 1948 bestanden die Lager in Bautzen, Buchenwald und Sachsenhausen, als Bestandteile des sowjetischen GULag-Systems weiter.77 Lediglich etwa die Hälfte aller Internierten wurde – auf Veranlassung Stalins und gegen den Willen sowie ohne Beteiligung der SED-Führung – 1948 entlassen. Unter den Entlassenen fanden sich zwar »aktive Mitglieder der NSDAP« und »Führer faschistischer Jugendverbände«, jedoch nicht »Betreiber illegaler Funkstationen«, Zeitungsredakteure oder Autoren »antisowjetischer Veröffentlichungen«. Stalin wiederum lehnte eine von der SED befürwortete Deportation aller verbliebenen Speziallagerhäftlinge in die Sowjetunion ab und übergab die vollständige juristische Verantwortung der DDR-Spitze. 78 Obwohl die drei letzten Speziallager im März 1950 in Folge der DDRStaatsgründung und auf ausdrücklichen Wunsch der Sowjetunion hin an das Ministerium des Innern der DDR übergeben wurden, ging für die meisten politischen Häftlinge in Bautzen die Gefangenschaft ununterbrochen weiter und blieb ein Großteil der Häftlinge hinter Gittern.79 Zum Zeitpunkt der Übergabe des Speziallagers an die DDR-Behörden zählte das »Gelbe Elend« 5900 SMT-Verurteilte und rund 1000 Internierte.80 Lediglich 120 SMT-Verurteilte und 690 Internierte wurden in Freiheit
74 Ebd., S. 6, 7. 75 Ebd., S. 6; Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Geschichte des Speziallagers Bautzen (2004), S. 93. 76 Ebd., S. 96; Morré, Jörg/Liebold, Cornelia: Totenbuch (2004), S. 7 77 Ebd., S. 20. Das Speziallager Bautzen wurde ab 01. Januar 1949 nicht mehr als Speziallager Nr. 4, sondern als Speziallager Nr. 3 geführt. Mit Befehl Nr. 00959 wurden die drei deutschen Speziallager dem GULag des Ministerium des Innern der UdSSR unterstellt und als ein sowjetisches Straflager geführt, vgl. Haritonow, Alexandr: »Zur Geschichte des Speziallagers«, in: Plato, Alexander von/Niethammer, Lutz (Hg.): Sowjetische Speziallager (1998), S. 331-332, 338. 78 Morré, Jörg: »Das Speziallager«, in: Behring, Rainer/Schmeitzner, Mike (Hg.): Diktaturdurchsetzung (2003), S. 87, 97. 79 Haritonow weist darauf hin, dass das Speziallager nicht einmal kostenlos übergeben wurde, sondern die DDR für das Inventar rund 500.000 Mark bezahlte, vgl. Haritonow, Alexandr: »Zur Geschichte des Speziallagers«, in: Plato, Alexander von/Niethammer, Lutz (Hg.): Sowjetische Speziallager (1998), S. 347; Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Geschichte des Speziallagers Bautzen (2004), S. 11. 80 Morré gibt darüber Aufschluss, dass in Bautzen nur etwa 1.150 Internierte in Freiheit kamen und kaum ein SMT-Verurteilter. Die Begründung für die Fortdauer der Haft laute-
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entlassen, 160 SMT-Verurteilte und 80 Internierte wurden der Sowjetischen Kontrollkommission übergeben und vermutlich deportiert in die Sowjetunion, 300 Internierte wurden der DDR übergeben und in die Strafvollzugseinrichtung Waldheim gebracht.81 Letztere wiederum wurden im Zuge der Waldheimer Prozesse verurteilt.82 Da die Haft für viele ungebrochen war und sich auch aufgrund der hoch bleibenden Haftzahlen an den katastrophalen Haftbedingungen kaum etwas änderte, kam es im März 1950 in »Bautzen I« zu einem Hungerstreik und zu lautem Protest.83 Der Aufstand wurde nur durch Anwendung von Gewalt seitens der Strafvollzugsangestellten niedergeworfen, und wurde so »[…] zum Fanal, durch das der Westen auf die politischen Häftlinge in der DDR aufmerksam wurde«.84 Diese öffentliche Wahrnehmung verhinderte zahlreiche Neueinweisungen in den Jahren 1951-1954 nicht. So gab es bereits vor dem Aufstand vom 17. Juni 1953 allein in Bautzen noch 4800 SMT-Verurteilte. Diese Zahl erhöhte sich nochmals nach den Ereignissen vom 17. Juni.85 Erst ab 1954, d.h. nach Stalins Tod und im Zuge der Auflösung des stalinistischen GULag-Systems, erhielt der überwiegende Teil der Bautzener SMT-Verurteilten in einer ersten Amnestiewelle die Freiheit zurück.86 Mit der Aufhebung des Besatzungsstatus 1955, solange waren die Militärtribunale in der DDR tätig, folgte die zweite Amnestiewelle.87 Ein weiterer großer Teil der SMT-Verurteilten wurden erst drei Jahre nach Stalins Tod aus »Bautzen I«
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te »Gutsbesitzer«, »Spionage« oder »antisowjetische Propaganda«, vgl. Morré, Jörg: »Das Speziallager«, in: Behring, Rainer/Schmeitzner, Mike (Hg.): Diktaturdurchsetzung (2003), S. 88, 98. Insgesamt gab es DDR-weit 1950 etwa 10.500 SMT-Verurteilte in Haft, vgl. Morré, Jörg/Liebold, Cornelia: Totenbuch (2004), S. 6. Morré, Jörg: »Das Speziallager«, in: Behring, Rainer/Schmeitzner, Mike (Hg.): Diktaturdurchsetzung (2003), S. 98. Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Geschichte des Speziallagers Bautzen (2004), S. 139. Etwa 600 ehemalige Internierte und Waldheim-Verurteilte kommen auf diese Weise nach dem offiziellen Ende der Internierung ins Speziallager Bautzen. Siehe hierzu auch Vorstand der SPD (Hg.): SOPADE Denkschriften 2/55 (1955), S. 1819. Eine Verschlechterung der Versorgung durch die Übernahme des Lagers in die Obhut von DDR-Behörden wurde dort als Hauptgrund für die Häftlingsrevolte im SOPADEBericht angegeben. Es habe sich dabei vor allem um eine Kritik am Ausbleiben einer deutlichen Verbesserung der Versorgung gehandelt, die sich die Häftlinge mit dem Zuständigkeitswechsel erhofft hatten, vgl. Gedächtnisprotokoll des Herrn Oberstleutnant Starke vom 02.03.1990, PrBvH, Bestand: Unterlagen über die Gründungsphase, III. Anlagen [Gründungsphase III]. Morré, Jörg/Liebold, Cornelia: Totenbuch (2004), S. 6. Morré, Jörg: »Das Speziallager«, in: Behring, Rainer/Schmeitzner, Mike (Hg.): Diktaturdurchsetzung (2003), S. 99; Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Geschichte des Speziallagers Bautzen (2004), S. 195, 206. Ebd., S. 205. Morré, Jörg: »Das Speziallager«, in: Behring, Rainer/Schmeitzner, Mike (Hg.): Diktaturdurchsetzung (2003), S. 99.
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entlassen.88 Die politische Haft als Bestandteil der sowjetischen Besatzungspolitik reichte in Bautzen daher weit in die DDR hinein. Während die Speziallagerhaft in »Bautzen I« im Sommer 1956 endete, nahm nur wenige Kilometer entfernt, nämlich in »Bautzen II« die Geschichte des Gefängnisses als Sonderhaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) ihren Anfang. Die ersten 124 Sondergefangenen, unter ihnen der DDRAußenminister Georg Dertinger, wurden am 09. August 1956 eingeliefert.89 Zwischen 1956 und 1989/90 zählten zu den Gefangenen prominente Regimekritiker (z.B. Schriftsteller, Redakteure, Künstler, SED-Kulturfunktionäre wie Wolfgang Harich, Walter Janka, Erich Loest), »Grenzverletzter«, Spione westlicher Geheimdienste sowie Ausländer verschiedenster Nationen, die während ihres DDRAufenthaltes bei der Nutzung der Transitstrecke in Konflikte mit dem DDR-Staat gekommen waren, Fluchthelfer, Mitarbeiter der Ost-Büros der westdeutschen bürgerlichen Parteien bzw. westdeutsche Funktionäre, Mitglieder der ostdeutschen bürgerlichen Parteien und straffällig gewordene Armee-, MfS-und SED-Angehörige/Funktionäre, die als »innere Feinde« und »Träger von Herrschaftswissen« nicht in den normalen DDR-Strafvollzug kamen.90 Als einzige Strafvollzugseinrichtung der DDR war »Bautzen II« (inoffiziell) direkt dem MfS unterstellt, d.h. von der Verhaftung über die Ermittlung bis hin zur Verurteilung und zum Strafvollzug liefen alle Procedere unter der Regie des MfS.91 Auch wenn es in der DDR offiziell eigentlich keine »politischen Gefangenen« gab, waren von 1956 bis 1989 in »Bautzen II« 2350 Häftlinge zu 80% aus politischen Gründen in Bautzen vom MfS inhaftiert.92 Parallel gab es auch nach 1956 noch in »Bautzen I« Häftlinge, die aufgrund politischer Motive dort hinter Gittern waren.93 Bautzen blieb also ein Ort politischer Justiz und Haft.94 Die Haft erfolgte in den 50er Jahren zu 77% aufgrund von Boykotthetze, zu 14% aufgrund von Kriminaldelikten, zu 5% wegen Sittlichkeitsverbrechen und zu 4% aufgrund von Wirtschaftsspionage.95 1979 waren 29% der Häftlinge wegen
88 Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Geschichte des Speziallagers Bautzen (2004), S. 205. Rund 500 SMT-Verurteilte blieben jedoch in den DDR-Gefängnissen insgesamt inhaftiert, 60 von ihnen noch 1961, vgl. ebd., S. 207. 89 Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Stasi-Gefängnis Bautzen II. 1956-1989. Katalog zur Ausstellung, Dresden 2008, S. 9, 31, 49. 90 Ebd., S.11, 30, 49. 91 Ebd., S. 9-10. 92 Gedenkstätte Bautzen/Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Besucherinformation (Faltblatt), 2005; Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Stasi-Gefängnis Bautzen II (2008), S. 41. 93 JVA Bautzen (Hg.): 100 Jahre Justizvollzugsanstalt (2004), ArJVA BZ, lose Blattsammlung. 94 Gedenkstätte Bautzen/Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Besucherinformation (Faltblatt), 2005; Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Stasi-Gefängnis Bautzen II (2008), S. 27. 95 Ebd., S. 46.
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Fluchthilfe und 36% wegen Spionage, jeweils 5% wegen Terror und Sabotage, 2% aufgrund staatsfeindlicher Verbindungsaufnahme und nahezu unveränderte 16% aufgrund von Kriminaldelikten in »Bautzen II«.96 Hinter den »Kriminaldelikten« verbargen sich in erster Linie Amts- und Funktionsträger der SED, der Wirtschaft und des Militärs.97 Hinzu kamen in der Statistik von 1979 Häftlinge, die aufgrund von Kriegsverbrechen einsaßen. Sie bildeten mit 7% die viertgrößte Gruppe.98 Die Zahl der prominenten Regimekritiker war nach dem Mauerbau aufgrund der Abschiebemöglichkeit in den Westen und durch Häftlingsfreikäufe (ab 1963) – mit Ausnahme Rudolph Bahros – nahezu auf Null gesunken.99 Die fünfgeschossige Haftanstalt »Bautzen II«, die sich in einen Haupttrakt und jeweils in einen Ost- und Westflügel gliederte, umfasste 145 Einzelzellen mit einer Grundfläche von 12m² sowie 23 Dreimannzellen mit einer Grundfläche von 12,6m². Sie bot 203 Haftplätze.100 Der Höchststand wurde 1962 mit 260 Häftlingen erreicht, die Höchstbelegung wurde erst zu Beginn der achtziger Jahre auf 218 festgesetzt. Der tiefste Stand lag bei 42 Gefangenen im Dezember 1972. Durchschnittlich waren 150 Personen in Haft.101 Jeder Häftling hatte offiziell nur 4,3m² Haftraum zur Verfügung.102 Im Norden lagen der Verwaltungstrakt und die Zellenflure, zur nördlichen Hofseite hin lagen auch die gesicherten Freiganghöfe.103 Bis 1963 wurde »Bautzen II« von der Haftanstalt »Bautzen I« mitverwaltet. Erst ab dann wurde »Bautzen II« unabhängig und »endgültig zum sorgfältig abgeschirmten Sonderprojekt der Stasi«.104 Entsprechend waren fortan die MfS-Hauptabteilungen Untersuchung und Abwehr (für die DDR einmalig) dauerhaft vertreten und wurde der Personalstand im Vergleich zu anderen Strafvollzugseinrichtungen der DDR erheblich aufgestockt.105 Des Weiteren fanden in den 60er Jahren gravierende bauliche Veränderungen im Außengelände und im Inneren des Gebäudes statt, vornehmlich aus »sicherheitspolitischen« Motiven. Hierzu zählten zunächst Einfriedungen, das Errichten von Sicherheitszäunen und Hundezwingern in den 60er Jahren, der Bau eines zweigeschossigen Wachgebäudes, die Installation von Schleusen, Wachhäuschen und Umwehrungsmauer im Außenbereich in den 70er Jahren. Auch wurden Produktions- und Überwachungsbereiche im Innenbereich des Gefängnisses eingerichtet, hierzu gehörten vier Meter hoch ummauerte Einzelhöfe
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Ebd., S. 47. Ebd., S. 54. Ebd., S. 47. Ebd., S. 49, 87. Fricke, Karl-Wilhelm/Klewin, Silke: Bautzen II (2001), S. 39. Gedenkstätte Bautzen/Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Besucherinformation (Faltblatt), 2005; Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Stasi-Gefängnis Bautzen II. 1956-1989 (2008), S. 41. Fricke, Karl-Wilhelm/Klewin, Silke: Bautzen II (2001), S. 39. Ebd., S. 30, 39. Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Stasi-Gefängnis Bautzen II. 1956-1989 (2008), S. 31. Durchschnittlich kamen auf einen Bediensteten zwei Gefangene, vgl. ebd., S. 36, 60.
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nebst Hundelaufzonen, aufwendige elektrische Sicherheits- und Überwachungstechnik, Gebäudeaufstockungen für Produktionsstätten sowie Anbauten/Garagen für die Verwaltung.106 Bis zum Ende der 70er Jahre war aus dem spätgotischem Gerichtsgefängnis so eine vollständig von der Umgebung abgeschottete Festung geworden. Schikanöse Regeln, Isolation, Dauerüberwachungen, Vernehmungen und Bespitzelungen prägten wie auch in Berlin-Hohenschönhausen den Haftalltag. Dabei kam es auch zu willkürlichen Fesselungen bzw. zu anderweitigen Misshandlungen und Demütigungen.107 Folter im eigentlichen Sinne gab es in Bautzen – im Unterschied zu den Berichten über die Untersuchungshaft in Berlin-Hohenschönhausen – jedoch nicht, es dominierte eher subtile psychische Gewalt.108 Ab Mitte der 70er Jahre bemühte sich die DDR-Regierung um Besserung, sodass Strafvollzugsbediensteten fortan mehr und mehr in der Kritik standen und versetzt wurden, wenn sie ihren Aufgaben nicht gerecht wurden.109 An den, nach rechtstaatlichen Kriterien gemessen, rigiden Methoden der Haft änderte sich jedoch bis zum Ende der DDR kaum etwas, Kontroll- und Überwachungsmethoden wurden vielmehr ausgeweitet und perfektioniert.110 So waren 1984 sogar 20 Häftlinge vom MfS verpflichtet worden, ihre Mithäftlinge zu bespitzeln. Zudem hörte das MfS das eigene Personal, die Gefangenen und Besucher (Angehörige, Anwälte und Diplomaten) mit Wanzen und versteckter Kameratechnik ab.111 So gab es seit den 80er Jahren mindestens neun Abhörzellen in »Bautzen II«.112 Auch bei anderweitigen Außenkontakten (z.B. bei Briefverkehr) gab es umfassende Kontrollen, u.a. durch Themenvorschriften, Zensur usw.113 Mitunter kam es auch zur dauerhaften vollständigen Isolation einzelner Häftlinge. Der Isolationstrakt, der eigens für Rudolf Bahro eingerichtet und nach seiner Entlassung weitergenutzt wurde, widersprach DDR-Gesetz. Die Gefängnisleitung hielt mit der Begründung, er verhindere die Selbsttötung und körperliche Angriffe auf Strafvollzugsbedienstete, dennoch an ihm fest.114 Neben der Isolation wurde auch Arrest verhängt. Bis 1977 bedeutete dies – neben der »Sicherungsverwahrung« in einer Arrestzelle für maximal drei Wochen am Stück und neben dem Verzicht auf Post, Besuch und jeglichen Kontakt zu Mitgefangenen – zusätzlich ein Verzicht auf eine Decke, reduzierte Essensrationen und teilweise das regelmäßige
106 Fricke, Karl-Wilhelm/Klewin, Silke: Bautzen II (2001), S. 32-35. 107 Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Stasi-Gefängnis Bautzen II. 1956-1989 (2008), S. 31. Erst ab dann wurden auch Frauen inhaftiert, sie waren jedoch in der Unterzahl (90 Frauen zwischen 1956-1989), vgl. ebd., S. 66f, 71, 75. 108 Ebd., S. 24. 109 Fricke, Karl-Wilhelm/Klewin, Silke: Bautzen II (2001), S. 50. 110 Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Stasi-Gefängnis Bautzen II. 1956-1989 (2008), S. 86. 111 Ebd., S. 138. 112 Ebd., S. 145. 113 Ebd., S. 160f. 114 Ebd., S. 150.
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Tragen von Handschellen. Eine Gittertür verhinderte den freien Zugang zur Toilette, sodass Häftlinge häufig zum Einkoten und Einnässen gebracht und auf diese Weise zusätzlich gedemütigt wurden.115 Wer nicht in Isolation oder Arrest war, musste in Arbeitskommandos aufgeteilt seiner Arbeitspflicht nachkommen und unter schlechten Bedingungen im Keller des Hafthauses Elektromotoren, Schaltschütze und Relais für den volkseigenen Betrieb »Schaltelektronik Oppach« produzieren.116 Für Isolationshäftlinge gab es Einzelarbeitsplätze.117 Ein Großteil des Lohns wurde einbehalten, nur ein Bruchteil wurde in Form von Wertgutscheinen ausgezahlt, die die Häftlinge im Gefängnisladen eintauschen konnten.118 Ab den 70er Jahren wurde jenseits des Arbeitsdienstes zudem auf »staatbürgerliche Erziehung« Wert gelegt. So wurden Zeitungen und Zeitschriften, Rundfunk, Fernsehen und Filme sowie ausgewählte Literatur bzw. Lektüre aus der eigenen Gefängnisbibliothek erlaubt bzw. gehörten sie zum »pädagogischen« Pflichtprogramm. Sportmöglichkeiten im Freihof gab es hingegen seit den 60er Jahren.119 Die letzte Einweisung von Häftlingen in »Bautzen II« erfolgte am 20. November 1989, also schon nachdem die DDR-Grenze bereits offen war und der Staat bröckelte.120 Wie es bald danach zum Ende des politischen Strafvollzugs in Bautzen kam und von welchen Erwartungen, politischen Vorstellungen und Geschichtsbildern die Anfänge der historischen Aufarbeitung der politischen Haft in Bautzen geprägt waren, wird nun im Folgenden näher untersucht.
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Ebd., S. 152. Ebd., S. 170f. Ebd., S. 186. Ebd., S. 172. Ebd., S. 181f. Ebd., S. 31.
3. Die Gedenkstätte Bautzen
3.1 D AS E NDE
DES
DDR-S TRAFVOLLZUGS
IN
B AUTZEN
Die Aufarbeitung der Geschichte des »Gelben Elends« und der politischer Verfolgung in Bautzen spielte beim Ende des DDR-Strafvollzuges in Bautzen zunächst keinerlei Rolle. Vielmehr ging es bei den Herbstprotesten innerhalb und außerhalb der Gefängnismauern in Bautzen zunächst um konkrete Reformen der Haftbedingungen und eine grundlegende »Demokratisierung des Strafvollzugswesens«. Als ab dem 27. November 1989 Insassen der Haftanstalt »Bautzen I« in den Arbeitsund Hungerstreik gingen, um im Zuge der DDR-weiten politischen Umwälzungen Hafterleichterung zu erhalten, saßen in Bautzen nicht weniger als 1878 Häftlinge in der Strafvollzugseinrichtung (StVE) I und 122 Häftlinge in der StVE II ein. Hierzu gehörte auch ein Teil der 615 Inhaftierten, die im Zuge der Oktober-Demonstrationen in Dresden zwischen dem 04. und 10. Oktober 1989 aus politischen Gründen wegen »Zusammenrottung« und meist ohne Haftbefehl (nur gegen 262 lag ein solcher vor) von der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BDVP) festgenommen wurden. Aus Platzmangel waren sie vorübergehend in der Anstaltskirche untergebracht worden.1 Nur ein Teil von ihnen war in einer ersten Amnestie vom 27. Oktober 1989 entlassen worden. Dies galt auch für 23 Verurteilte aus »Bautzen II«, die aufgrund von »Republikflucht« in den Bautzener Gefängnissen eingesessen hatten und die deshalb zu der kleinen Gruppe gehörten, auf die die erste Amnestieregelung ebenfalls zutraf.2 Die streikenden Häftlinge forderten allerdings eine Generalamnestie (außer für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Wirtschaftsverbrechen und Mord), die Löschung aller Vorstrafen und die Abänderung des Strafgesetzbuches (StGB) der DDR. Darüber hinaus verlangten sie den sofortigen Wegfall solcher Bestimmungen, die die Würde des Menschen in Frage stellten, und erwarteten eine grundle1
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Ein Drittel (234 Personen) waren bis Ende November wieder entlassen worden. 23 waren in die UHA Dresden verlegt worden, vgl. Sternberg, Dieter: »Oktobertage im Bautzener Knast«, in: Sächsische Neueste Nachrichten vom 25./26.11.1989, ArJVA BZ, Bestand: lose Blattsammlung; o.V.: »16.000 Menschen namenlos wie Hunde verscharrt«, in: Die Union vom 09.10.1990, PrBvH, Bestand: Unterlagen über die Gründungsphase des BK 1990, II. Juli-Dezember 1990 [Gründungsphase II]. Fricke, Karl-Wilhelm/Klewin, Silke: Bautzen II (2001), S. 127.
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gende Verbesserung der Haftbedingungen bzw. eine Humanisierung des Haftalltags.3 Damit ging es den Streikenden nicht nur um Freilassungen derjenigen, die aus politischen Motiven einsaßen oder die unverhältnismäßige Haftzeiten absitzen mussten, sondern es ging daneben um einen menschenwürdigen Strafvollzug und das Einführen rechtstaatlicher Prinzipien. Um den Streik koordinieren und um mit Regierungsvertretern diese Forderungen besser verhandeln zu können, formierte sich am 01. Dezember 1989 hierfür ein »Streikkomitee«.4 Es bestand zwischenzeitlich aus 35 Häftlingen der StVE I.5 Bereits zum Abend des 01. Dezembers verweigerten ca. 1400 Häftlinge Arbeit und Nahrung. Am Nachmittag des Folgetages, am 02. Dezember, kamen auf Wunsch der Streikenden zwei Gefängnisseelsorger (Pfarrer W.6 und Pfarrer K.) sowie der Weihbischof aus Dresden und der Landeskirchenrat in Begleitung von Journalisten des Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes (ADN), der Sächsischen Zeitung (SZ) und der Sächsischen Nachrichten (SN) in die StVE I.7 Durch die Einbeziehung von Kirchenvertretern sowie durch die Anwesenheit von West-Presse (u.a. RTL Plus), erhofften sich die Streikenden öffentliche Aufklärung über die Bautzener Verhältnisse in der StVE I und II sowie breite Unterstützung aus der Bevölkerung.8 Bei der ersten Begehung der StVE I wurden die Vertreter der Öffentlichkeit u.a.a. durch das Hafthaus 2 der StVE I geführt und dort mit menschenunwürdigen Arrestzellen,
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O.V.: Bautzen: »Häftlinge streiken für Wende«, in: Der Spiegel vom 04.12.1989, ArGBZ, Bestand: Historische Pressesammlung, Band 2 1956-1990 [HP, Band 2]; o.V.: »Drüben dicke Luft«, in: Taz vom 04.12.1989; o.V.: »Kurzbericht über meinen Besuch in der Strafvollzugsanstalt Bautzen I (sogen. ›Gelbes Elend‹) am 02.12.1989«, in: Gehrke, Bernd/Wittich, Bernd: Arbeitsmappe. Bautzener Bürger 1989/1990 erklären sich zu den Bautzener Gefängnissen, o.D., ArJVA BZ, lose Blattsammlung; Geyer, Christian: »Bautzen oder wenn im ›gelben Elend‹ die Lichter angehen«, in: Die Welt vom 11.12.1989, ArGBZ, HP, Band 2. O.V.: Chronik über den Arbeits- und Hungerstreik in der StVE Bautzen I, o .D., S. 1, ArJVA BZ, lose Blattsammlung. O.V.: Simultandom und Gelbes Elend. Herbst 1989 und Frühjahr 1990 in Bautzen, S. 11, ArJVA BZ, lose Blattsammlung. Alle Namen von Personen, die kein politisches oder öffentliches, leitendes Amt inne haben oder um eine Nichtnennung gebeten haben, wurden durch eine Abkürzung ihres Namens anonymisiert. Ferner waren Anonymisierungen gemäß dem Sächsischen Archivgesetz erforderlich. Nicht anonymisiert wurden Personen in politischen und öffentlichen, leitenden Ämtern, Personen, deren Namen in dargestellten Zusammenhängen bereits veröffentlicht wurden bzw. die in dargestelltem Zusammenhang bereits öffentlich aufgetreten sind, Personen, die in öffentliche Gremien/Kommissionen berufen und mit einem öffentlichem Auftrag beauftragt wurden, sowie Personen, die ihre Unterlagen für eine Veröffentlichung zur Verfügung gestellt haben. O.V.: »Kurzbericht«, in: Gehrke, Bernd/Wittich, Bernd: Arbeitsmappe, ArJVA BZ, lose Blattsammlung. O.V.: Simultandom, S. 11, ArJVA BZ, lose Blattsammlung; o.V.: Chronik, S. 2, ArJVA BZ, lose Blattsammlung.
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Prügel- und Verwahrräumen konfrontiert. In einem Bericht hierzu heißt es: »Was wir dort sahen, war schlimm: Zellen ohne Betten, Wundmerkmale Einzelinhaftierter, Berichte von zwei Mördern, die als Schläger angestellt seien.«9 Von Kirchenseite wurde die sofortige Beseitigung dieser unmenschlichen Zustände verlangt, zudem wurde vorgeschlagen sofort einen Brief an den Justizminister zu schreiben und darin verantwortbare Maßnahmen für eine Amnestie und für eine Humanisierung des Strafvollzugs zu verlangen.10 Bereits am Folgetag wurde das Haus 2 entsprechend geräumt und Häftlinge verlegt. Der verschärfte Arrest wurde teilweise amnestiert, sodass der Auftakt zur Haft-Reform gemacht schien.11 Als am 04. Dezember die Kirchenvertreter in Begleitung von zwei Rechtanwälten in die StVE I zurückkehrten, hatte sich auf diese Weise bereits eine Forderung der Streikenden erfüllt.12 Auch ein Teil der Strafvollzugsbediensteten, angeführt von einem Oberst W., setzte sich nun für die Belange der dort Streikenden ein. Schließlich stellte sich sogar der Leiter der StVE I, Oberstleutnant St., und sein Stellvertreter, Hauptmann Frank H., mangels Alternativen grundsätzlich hinter die Forderungen der Streikenden.13 Parallel traten auch die Häftlinge in der StVE II, die zum größten Teil wegen »Spionage«, »unerlaubten Grenzübertritt« und »Menschenhandel« (Fluchthilfe), d.h. aus politischen Gründen dort einsaßen, in den Arbeits- und Hungerstreik. Insbesondere westdeutsche Häftlinge schlossen sich ab dem 04. Dezember 1989 den Forderungen nach Generalamnestie und verbesserten Haftbedingungen der Mitgefangenen der StVE I an. Zudem erwarteten sie das Einsetzen einer unabhängigen Untersuchungskommission, die die Rechtmäßigkeit der Strafverfahren, der Strafmaße und der jeweiligen Haftbedingungen überprüfen sollte. Zeitgleich unterstützte auch die Bautzener Bevölkerung am Rande der Montagsdemonstration die Streikenden mit Kerzen vor den Anstaltstoren.14 Bereits am Folgetag beteiligten sich alle 112 Häftlinge der StVE II am Protest15 und wurde ein »Gefan-
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O.V.: »Kurzbericht«, in: Gehrke, Bernd/Wittich, Bernd: Arbeitsmappe, ArJVA BZ, lose Blattsammlung. O.V.: Chronik, S. 2, ArJVA BZ, lose Blattsammlung; o.V.: Simultandom, S. 11, ArJVA BZ, lose Blattsammlung; o.V.: »Kurzbericht«, in: Gehrke, Bernd/Wittich, Bernd: Arbeitsmappe, ArJVA BZ, lose Blattsammlung. O.V.: Simultandom, S. 12, ArJVA BZ, lose Blattsammlung. Queißer, Gerda/Suchy, Andreas: »Streik im Strafvollzug«, in: Sächsische Zeitung vom 05.12.1989, ArGBZ, HP, Band 2. O.V.: Chronik, S. 4, ArJVA BZ, lose Blattsammlung; o.V.: »Kurzbericht«, in: Gehrke, Bernd/Wittich, Bernd: Arbeitsmappe, ArJVA BZ, lose Blattsammlung. O.V.: Chronik, S. 5, ArJVA BZ, lose Blattsammlung; Siegl, Madeleine: »Wieder gingen Tausende Bautzener auf die Straße«, in: Sächsische Zeitung vom 06.12.1989, ArGBZ, HP, Band 2; Fricke, Karl-Wilhelm/Klewin, Silke: Bautzen II (2001), S. 129. Uwe H.: »Neues Forum informiert zu den Besichtigungen im Strafvollzug 2«, in: Sächsische Zeitung vom 9./10.12.1989, ArGBZ, HP, Band 2; Schulze, Ulrich: »Von jetzt an sind sie von der Bildfläche verschwunden«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26.01.1990.
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genenrat« gegründet, der (vergleichbar zum Streikkomitee der StVE I) die Interessen der Häftlinge der StVE II öffentlich vertrat. Des Weiteren wurde mit dem Leiter der StVE II, Oberstleutnant Horst A., eine »Sicherheitspartnerschaft« vereinbart,16 um eine Eskalation von Gewalt zu vermeiden und einen »kulturvollen Umgang der Menschen in Bautzen II [zu] garantieren«.17 »Die Isolationsbereiche der Anstalt wurden geöffnet. […] als Reaktion auf diese Ereignisse wurde die Verbindungstür zur [benachbarten] Kreisdienststelle des MfS zugeschweißt«, beschreibt Fricke die Ereignisse des 04. Dezember in »Bautzen II«.18 Erst zwei Tage später, am 06. Dezember 1989 betraten erstmals Vertreter der Öffentlichkeit (Kirchenvertreter, Vertreter der Presse, Mitglieder des Neuen Forums (NF) sowie der CDU-Volkskammerabgeordnete Böhm) die StVE II, um sich ein Bild von »Mielkes Privatknast« zu machen und um die dort Streikenden in ihrem Protest auch dort zu unterstützen.19 Die Begehung endete mit einer Pressekonferenz, sodass die Medien in den Folgetagen berichteten.20 Da der Staatsrat der DDR im Laufe des 06. Dezembers jedoch nur eine Teilamnestie einräumte, die in erster Linie die zwischen dem 04. und 10. Oktober Verhafteten betraf und Hafterleichterung zunächst nur für ehemalige »DDR-Eliten« vorsah,21 eskalierte der Hungerstreik in der StVE I noch am selben Tag. Nun verweigerten sogar Diabetikern das Essen und wurde von nun an jegliche medizinische Versorgung zurückgewiesen. Auf Druck der Kirchenvertreter erlaubte die Anstaltsleitung schließlich, dass eine Streikabordnung von vier Häftlingen in Begleitung zweiter Rechtsanwälte und des gemäßigten Oberst W. am 07. Dezember 1989 nach Berlin reisen könne, um die Belange der Bautzen-Häftlinge dem Ministerium des Innern der DDR direkt vorzutragen.22 Die Verhandlungen in Berlin gingen zugunsten der Bautzener Häftlinge aus. Mit der Generalstaatsanwaltschaft, dem Sprecher des Justizministeriums und der Leiterin für Fragen des Strafvollzugswesens verhandelte die Abordnung, dass bereits am gleichen Tag erste Entlassungen vorgenommen werden konnten. Des Weiteren signalisierte die Staatsanwaltschaft der DDR Bereitschaft, Fälle, die von der
16 O.V.: »Streik in Bautzen«, in: Sächsische Zeitung vom 07.12.1989, ArGBZ, HP, Band 2. 17 Richter, Andreas: »Im Schweigelager Bautzen II. Die Sonderhaftanstalt des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit und ihre Insassen«, in: Die Union vom 13.12.1989, ArGBZ, HP, Band 2. 18 Fricke, Karl-Wilhelm/Klewin, Silke: Bautzen II (2001), S. 129. 19 Auf Antrag des Anwaltes Gregor Gysi, vgl. Richter, Andreas: »Im Schweigelager«, in: Die Union vom 13.12.1989, ArGBZ, HP, Band 2. Unter ihnen u.a. Uwe H., der sich später für die Gründung eines Bautzen-Komitees und die historische Aufarbeitung der Bautzener Gefängnisgeschichte einsetzte. 20 U.a. Richter, Andreas: »Im Schweigelager«, in: Die Union vom 13.12.1989, ArGBZ, HP, Band 2; Häckel, Hartmut: »Gespräch im Schweigelager«, in: Der Sonntag. Gemeindeblatt der ev.-luth. Landeskirche Sachsen vom 07.01.1990, ArGBZ, HP, Band 2. 21 Häckel, Hartmut: »Gespräch im Schweigelager«, in: Der Sonntag. Gemeindeblatt der ev.luth. Landeskirche Sachsen vom 07.01.1990, ArGBZ, HP, Band 2. 22 O.V.: Chronik, S. 7, ArJVA BZ, lose Blattsammlung.
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Amnestieregelung vom 06. Dezember 1989 nicht erfasst waren, auf Aussetzung der Strafe hin zu überprüfen.23 Damit wurde zumindest ein weiterer Teil der Häftlingsforderungen erfüllt. Mit der Überprüfung von Haftentlassungen in den StVE Bautzen wurde sofort begonnen.24 Noch am 07. Dezember wurde der Rechtsanwalt Christian W. vom Rechtsanwaltskollegium der DDR, stellvertretend für Gregor Gysi mit der Vertretung der Häftlingsinteressen beauftragt.25 Und noch im Laufe des Dezembers wurden ca. 100 Häftlinge, d.h. ein Großteil der politischen Gefangenen aus der StVE II entlassen.26 »Allen Schwierigkeiten zum Trotz verließen am 22. Dezember 1989 die letzten politischen Häftlinge Bautzen II mit einem Kleinbus in Richtung Berlin. Drei Wochen, nachdem sich die Tore des Gefängnisses zum ersten Mal geöffnet hatten, war das Ende von Bautzen II als Sonderhaftanstalt unter MfS-Kontrolle besiegelt«,
beschreibt Fricke das Ende der StVE II. 27 In der StVE I entließ die BDVP schubweise: 377 Häftlinge noch vor Ablauf des Jahres 1989, 973 Häftlinge im Laufe des Januars und 5 Häftlinge im Februar 1990.28 Damit wurden in einem ersten Anlauf bereits über 70% der Häftlinge in der StVE I und nahezu 90% der Insassen in der StVE II frei gesprochen. Für die verbleibenden rund 12 Häftlinge in der StVE II und 523 Häftlinge in der StVE I setzte der Gefangenenrat in der Verhandlung mit den Anstaltsleitern grundlegende Reformen für den Haftalltag durch.29 Die restriktiven Haftbedingungen endeten. Die Kirche und das NF setzten sich über den Runden Tisch des Kreises Bautzen auch in den Folgewochen parallel für eine umfassende Reform des Haftbetriebes in den Bautzener Gefängnissen ein.30 Unter der Leitung des späteren Bürgermeisters der Stadt Bautzen, Christian Schramm, und legitimiert durch den Gefangenenrat der StVE II und durch das Streikkomitee der StVE I, gründete sich innerhalb des Rates der Stadt Bautzen ein Arbeitsausschuss »Strafvollzug Bautzen«. Er beschäftigte
23 O.V.: »Aussetzung von Strafen werden geprüft«, in: Sächsische Zeitung vom 09./10.12.1989, ArGBZ, HP, Band 2; Kubach, Hans: »Bautzen und kein Ende«, in: Sächsische Zeitung vom 14.12.1989, ArGBZ, HP, Band 2. 24 O.V.: Chronik, S. 9, ArJVA BZ, lose Blattsammlung. 25 Fricke, Karl-Wilhelm/Klewin, Silke: Bautzen II (2001), S. 132. 26 O.V.: Simultandom, S. 17, ArJVA BZ, lose Blattsammlung; Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Stasi-Gefängnis Bautzen II. 1956-1989 (2008), S. 108. 27 Fricke, Karl-Wilhelm/Klewin, Silke: Bautzen II (2001), S. 133. 28 Die Zahlen basieren auf Aussagen des Leiters der JVA Bautzen Burghard J. 29 Im Juni 1991 waren noch 16 Häftlinge in der ehemaligen StVE II, vgl. Schreiben des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz Minister Heitmann an den Sächsischen Landtag, o.D., ArBK, PGA SVV BZ. Ob es zwischen Februar 1990 und Juni 1991 vier »Zugänge« gegeben hat, ist fraglich (siehe hierzu Kapitel 1.2.2). 30 Richter, Siegfried: »Bautzens Runder Tisch tagte zum zweiten Mal«, in: Sächsische Zeitung vom 16.01.1990, ArGBZ, HP, Band 2; Richter, Siegfried: »Aus dem Strafvollzug entlassen – was nun?«, in: Sächsische Zeitung vom 30.01.1990, ArGBZ, HP, Band 2.
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sich ausschließlich mit der Zukunft der beiden Haftanstalten in Bautzen.31 Der Arbeitsausschuss schloss dabei die Möglichkeit zunächst vollkommen aus – angesichts der massenhaften Entlassungen und der niedrigen Belegungszahl – den Strafvollzug in der StVE II gänzlich einstellen zu können. Auch gab es keinerlei Gespür für die historische Bedeutung der Bautzener Gefängnis-Geschichte und mangelte es daher zunächst auch an grundsätzlichem Interesse, diesen leidvollen Teil Bautzens aufzuarbeiten. Die Mitglieder des Arbeitsausschusses waren vielmehr damit beschäftigt, Pläne darüber zu entwickeln, wie diese düstere Seite durch eine Modernisierung des Strafvollzugs getilgt werden könne. Als die Stadtverordnetenversammlung (SVV) Bautzen am 25. Januar 1990 zur Verbesserung des Ansehens der Stadt und wegen zu hoher Vorhaltungskosten beschloss, die StVE II vollständig zu schließen,32 widersprach der Arbeitsauschuss »Strafvollzug« des Stadtrates sogar: »Wenngleich wir eine Verbesserung des Rufes der Stadt sehr begrüßen, so halten wir doch eine mögliche Auflösung der StVE »Bautzen II« für einen schweren Rückschlag für alle Versuche einer Humanisierung des Strafvollzuges, die hier gemacht worden sind.«33 Statt das Ende des Strafvollzugs in »Bautzen II« zu fordern, regte der Ausschuss an, Modellfall für DDR-Haftanstalten zu werden und schlug er vor, den Neubaukomplex zukünftig als ein »Zentrum der Wiedereingliederung« und den Zellentrakt als eine Untersuchungshaftanstalt weiter zu nutzen. Und obwohl bereits längst bekannt war, dass ein Teil des Personals aus ehemaligen MfS-Angehörigen stammte, empfahl der Arbeitsausschuss personalpolitisch: »Nachdem wir das Personal […] eingetaktet haben, wäre auch eine generelle personelle Veränderung nicht in unserem Sinne.«34 Es überwog die Überzeugung, dass eine grundlegende Erneuerung der Haftbetriebe in der StVE I und II, d.h. eine »Demokratisierung des Strafvollzugswesens« ohne einen personellen Wechsel, sowie durch Reduzieren der Belegungszahlen und Modernisieren nach westdeutschem Vorbild möglich sei. Entsprechend hielt der Arbeitsausschuss des Stadtrates an der Überprüfung der Strafmaße der verbliebenen Häftlinge fest und wurde diese Maßnahmen zur Grundlage einer Fortführung der Bautzener Gefängnisse »in neuem Gewand« erhoben. Die ab Frühjahr 1990 durchgeführten ersten Überprüfungen einzelner Strafmaße und Urteile durch eine unabhängige Untersuchungskommission der Generalstaats-
31 Schramm, Christian: »Information über die Arbeitsgruppe ›Strafvollzug Bautzen‹ vom 14.02.1990«, in: Gehrke, Bernd/Wittich, Bernd: Arbeitsmappe, ArJVA BZ, lose Blattsammlung; Wagner, Hans: »Zur Auflösung des Strafvollzuges 2«, in: Sächsische Zeitung vom 02.02.1990, ArGBZ, HP, Band 2 32 Mickisch, Jürgen: »Bürgermeister-Amt ist frei«, in: Sächsische Zeitung vom 26.01.1990, ArGBZ, HP, Band 2. 33 Schreiben des Gefangenenrates StVE Bautzen, des Leiters der StVE Bautzen II und der Arbeitsgruppe Strafvollzug an die SVV Bautzen und den RT Bautzen vom 07.02.1990, in: Gehrke, Bernd/Wittich, Bernd: Arbeitsmappe, ArJVA BZ, lose Blattsammlung. 34 Schramm, Christian: »Information«, in: Gehrke, Bernd/Wittich, Bernd: Arbeitsmappe, ArJVA BZ, lose Blattsammlung.
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anwaltschaft im Auftrag des Ministeriums der Justiz liefen allerdings für die Betroffenen derart unbefriedigend, dass es in den DDR-weiten Haftanstalten – so auch in Bautzen – abermals zu Protesten kam.35 In Bautzen spitzte sich die Lage schließlich in der letzten Septemberwoche 1990 in Form eines weiteren mehrtägigen Hungerstreiks zu. Gleichzeitig wandten sich die in Bautzen verbliebenen Häftlinge, die wiederholt Straferlasse sowie das Einsetzen einer parlamentarischen Untersuchungskommission forderten, jetzt sogar direkt an die DDR-Regierung. 36 Unterstützt wurden sie hierin u.a.a. von der Bautzener SVV, dem stellvertretenden Bezirksstaatsanwalt und das Landeskirchenamt, die sich mit unabhängigen Gesuchen direkt an den Ministerpräsidenten Lothar de Maiziére wandten.37 Eine Entschärfung gelang erst, als den Häftlingen zugesichert wurde, dass auch nach dem Betritt der DDR zur BRD, die Überprüfungen weitergingen. Am 29. September 1990 wurde der zweite Hungerstreik beendet.38 Während die Bautzener Häftlinge also um bessere Haftbedingungen und die Anerkennung unrechtmäßiger Strafen kämpften, und während die Kommunalpolitik zunächst ausschließlich mit der Modernisierung und Humanisierung des Strafvollzugs, d.h. mit der Verbesserung der aktuellen Lage der Häftlinge befasst war, waren es in erster Linie organisierte ehemalige Speziallager-Häftlinge aus der BRD, die ihre Chance ergriffen, erstmals ihre Bautzener Gefängnisgeschichte aufarbeiten zu können. Sie erkannten als einzige die sich bietende Gelegenheit, mit dem Ende des DDR-Strafvollzuges im »Gelben Elend« erstmals an ihre Leidensstätte fahren zu können, um Vorort Nachforschungen zur eigenen HaftVergangenheit und zu verstorbenen Haftkameraden vornehmen und die Bautzener Gefängnis-Geschichte neu aufrollen zu können. Zudem erkannten sie die Möglichkeit, jetzt auch dort ihrer toten Mitgefangenen nunmehr ungehindert öffent-
35 Neben Bautzen erfasste die zweite Streikwelle auch die Haftanstalten in Brandenburg, Ost-Berlin, Magdeburg, Halle und Stollberg. 36 Näheres hierzu siehe u.a. o.V.: »Häftlingsrevolte drastisch ausgeweitet«, in: Taz vom 24.09.1990; Kubach, Hans: »Rechtskräftig verurteilt. Aber noch rechtmäßig drin?«, in: Sächsische Zeitung vom 20./21.01.1990, ArGBZ, HP, Band 2; o.V.: »›Wir warten auf den Freitag!‹«, in: Gehrke, Bernd/Wittich, Bernd: Arbeitsmappe, ArJVA BZ, lose Blattsammlung; Bürgerinitiative Strafvollzug Bautzen StVE I: Ruf aus Bautzen an die Volkskammer der DDR, an den Ministerpräsidenten der DDR, an das MdJ, an das MdI, an die Verwaltung Strafvollzug Berlin, an den Generalstaatsanwalt der DDR, an das oberste Gericht der DDR vom April/Mai 1990, in: ebd.; Schreiben der StVE Bautzen II Gefangenenrat an den Ministerrat der DDR Lothar de Maiziére vom 24.09.1990, in: ebd.; Stadt Bautzen SVV: Beschlussvorlage 29/09/90 vom 26.09.1990, in: ebd.; o.V.: »Häftlinge und Leitung fühlen sich hingehalten«, in: Sächsische Zeitung vom 29./30.09.1990, ArGBZ, HP, Band 2. 37 O.V.: »›Wir warten auf den Freitag!‹«, in: Gehrke, Bernd/Wittich, Bernd: Arbeitsmappe, ArJVA BZ, lose Blattsammlung. 38 Kuba, Claudia: »Zum Glück brannte im Gefängnis nur die Luft – Warnstreik Bautzener Strafgefangener friedlich beendet«, ADN-Meldung vom 29.03.1990, ArGBZ, Bestand: Historische Pressesammlung, Anhang I Bautzen in den Medien 2000 [HP, Anhang I].
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lich gedenken zu können, musste doch in der umgestürzten DDR über die Speziallager nicht weiter geschwiegen werden. D.h., die ersten Initiativen zur historischen Aufarbeitung der Geschichte der Bautzener Gefängnisse gingen in erster Linie von denjenigen aus, die in der BRD innerhalb der Opferverbände bereits gut organisiert waren und sich schon weit vor 1989 der Aufarbeitung des Unrechtes nach 1945 gewidmet hatten. So wandte sich bereits am 01. Januar 1990 der ehemalige Speziallager-Häftling Benno von Heynitz aus Weilburg (BRD) als Mitglied des SPD-Arbeitskreises ehemaliger politischer Häftlinge der SBZ/DDR an die Ev.-luth. Kirche in Dresden, Leipzig und Bautzen sowie an die SPD-Vertreter des Runden Tisches Bautzen. Er regte frühzeitig an, die Gräber der Speziallagertoten in Bautzen, Buchenwald und Sachsenhausen festzustellen und die Grabstellen zu sichern.39 Gleichzeitig kündigte er an, dass die in der BRD organisierten ehemaligen politischen Häftlinge der Zeit 1945-1950 planten, noch im Frühjahr 1990 unter Beisein der Medien an den Ort ihrer Leiden, d.h. auch nach Bautzen zu reisen.40 Uwe H. (SPD), der sich bereits als Mitglied des NF Anfang Dezember für das Offenlegen der Bautzener HaftVerhältnisse eingesetzt hatte, brachte die Ideen von Benno v. Heynitz am Runden Tisch Bautzen vor. Der Runde Tisch nahm v. Heynitz Anregungen zur historischen Aufarbeitung der Bautzener Gefängnis-Geschichte nur wenige Wochen später auf und beschloss bereits am 09. Februar 1990 zu diesem Zweck die Gründung einer »Gesellschaft zur Untersuchung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Gelben Elend und Bautzen II«.41 Bezüglich des Gründungsrahmens, folgte der Runde Tisch den Vorschlägen von Benno v. Heynitz. So wurde seine Empfehlung angenommen, das Gründungsdatum auf den 31. März 1990, d.h. auf den 40. Jahrestag des Bautzener Häftlingsaufstandes zu legen. Auch nahm der Runde Tisch den Vorschlag von v. Heynitz an, die Gründung der »Gesellschaft zur Untersuchung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Gelben Elend und Bautzen II« mit einer feierlichen Begehung des »Karnickelberges« sowie mit einem Besuch der StVE I »abzurunden«.42 Weder das Gründungsdatum noch die Vermutung, beim Karnickelberg handle es sich wohlmöglich um eines der größten Massengräber der Nachkriegszeit, wurden näher hinterfragt, gleiches galt für die bis dato vermutete Anzahl der Speziallageropfer, die von Betroffenenseite zu diesem Zeitpunkt auf 12.000-16.000 ge-
39 Der SPD-Arbeitskreis ehemaliger politischer Häftlinge der SBZ/DDR beim Parteivorstand der SPD wurde 1976 gegründet. Er berät den Gesetzgeber und setzt sich für die Errichtung und Unterhaltung von Gedenkorten zur Erinnerung der politischen Opfer in ehemaligen Haftanstalten ein. 40 Schreiben Benno von Heynitz an die Ev.-luth. Landeskirche Dresden, an die Ev.-luth. Kirche Leipzig und Bautzen vom 01.01.1990, PrBvH, Bestand: Unterlagen über die Gründungsphase des BK 1990, I. Januar-Juni 1990 [Gründungsphase I]. 41 Mickisch, Jürgen: Briefe aus dem Strafvollzug, in: Sächsische Zeitung vom 13.02.1990, ArGBZ, HP, Band 2; Schreiben von Uwe H. an Benno von Heynitz vom 11.02.1990, PrBvH, Gründungsphase I. 42 Ebd.
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schätzt wurde.43 Stattdessen wurden der Karnickelberg und der Häftlingsaufstand erstmals als Symbole für politische Haft in Bautzen akzeptiert. Wenig später konkretisierte Benno v. Heynitz die Vorstellungen des SPDArbeitskreises zur »Gesellschaft zur Untersuchung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Gelben Elend und in Bautzen II«. In Anlehnung an das internationale »Auschwitz-Komitee« und das internationale »Dachau-Komitee« schlug er vor, die geplante Vereinigung in »Bautzen-Komitee« umzubenennen.44 Aufgabe des »Bautzen-Komitees« (BK) sollte fortan sein, die Mitwirkung bei der Untersuchung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in »Bautzen I« und »Bautzen II«, die Mitwirkung bei der Fest- und Sicherstellung von Massengräbern »mit den namenlos verscharrten Opfern des Stalinismus« sowie eine Beteiligung bei der Erforschung der Totenlisten in den Archiven der UdSSR.45 Zusammensetzen sollte sich das BK aus Mitgliedern des Runden Tisches in Bautzen, aus Kirchenvertretern, Vertretern organisierter ehemaliger politischer Häftlinge (u.a. Mitglieder des SPD-Arbeitskreis und der Vereinigung der Opfer des Stalinismus, VOS) und nicht in Verbänden organisierte Betroffene.46 Damit verband sich der Anspruch, öffentlich auf gleicher Ebene wie das Dachau- bzw. das Auschwitz-Komitee wahrgenommen zu werden. In Analogie zu den Konzentrations- und Vernichtungslagern des Nationalsozialismus, sollte auch das ehemalige (Spezial-) »Lager Bautzen« auf diese Weise eine eigene Interessenvertretung ehemaliger Lageropfer erhalten.47 Diese Anregungen griff der Runde Tisch Bautzen auf und lud im Namen einer Initiativgruppe des BK zum 31. März 1990 zur ersten Gedenkfeier für die Opfer des »Gelben Elends« auf dem Karnickelberg und zur anschließenden Gründung des BK ein.48 Obwohl die verbliebenen Häftlinge in »Bautzen I« unterdessen weiterhin für bessere Haftbedingungen und Generalamnestie kämpften und zu diesem Zweck inzwischen sogar mit Brandanschlägen drohten, genehmigte das MdI die von Benno v. Heynitz und von Uwe H. vorbereitete Veranstaltung.49 Am 31. März 1990 trafen sich rund 150 ehemalige Häftlinge aus der BRD und der DDR, um der Haftkameraden aus dem Speziallager Bautzen zu gedenken. Neben einer Kranzniederlegung auf dem Karnickelberg konnte sogar die StVE I bzw. das ehemalige »Gelbe Elend«
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Schreiben Benno von Heynitz an Uwe H. vom 15.03.1990, PrBvH, Gründungsphase I. Schreiben Benno von Heynitz an Uwe H. vom 20.02.1990, PrBvH, Gründungsphase I. Ebd. Ebd., S. 2 Ebd. Schreiben Uwe H. an das MdI vom 20.03.1990, ArBK, Bestand: Vorgründungsdokumente; Schreiben von Uwe H. (Entwurf) Einladung vom 20.03.1990, ArBK, Bestand: DEMAG. 49 Kuba, Claudia: »Zum Glück«, ADN-Meldung vom 29.03.1990, ArGBZ, HP, Anhang I; o.V.: »Lage entschärft«, in: Sächsische Zeitung vom 30.03.1990, ArGBZ, HP, Band 2; o.V.: »Bautzener Strafgefangene verbarrikadieren sich«, in: Neues Deutschland vom 30.03.1990, ArJVA BZ, lose Blattsammlung; o.V.: »Glücklicherweise brannte im Gefängnis nur die Luft«, in: Sächsische Zeitung vom 30.03.1990, ArJVA BZ, lose Blattsammlung
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besichtigt werden.50 Im Anschluss an die Gedenkfeier trafen sich die Initiativmitglieder des BK im Kolpinghaus am Dom, um dort die Gründungskommission für ein BK zu berufen.51 Gleichzeitig nahmen die Initiativmitglieder des BK den ersten offiziellen und öffentlichen Gedenktag in Bautzen zum Anlass, über die Presse die Information zu verbreiten, in Bautzen gäbe es das bundesweit größte Massengrab der deutschen Nachkriegsgeschichte mit noch mehr Toten als in Buchenwald und Sachsenhausen, und man werde deshalb an Ort und Stelle eine Gedenkstätte errichten. Zahlreiche überregionale Zeitungen, ja sogar die Bild-Zeitung berichteten Anfang April darüber.52 Der Auftakt zu einem öffentlichen Diskurs über die Bewertung und Einordnung der politischen Verfolgung und der Speziallagergeschichte in Bautzen war damit gemacht. Insgesamt sollte Bautzen, neben Sachsenhausen und Buchenwald, fortan zu den öffentlich und fachlich anerkannten historischen Orten gehören, an denen Menschheitsverbrechen nach 1945 stattgefunden hatten.53 Die politische Haft in der stalinistischen Zeit (1945-1956) im »Gelbe Elend« wurde hierzu überwiegend mit den beiden NS-Konzentrationslagern Sachsenhausen und Buchenwald verglichen, die ihrerseits über eine eigene Speziallagergeschichte verfügten. Es wurde bereits so früh die These vertreten, dass die Verbrechen nach 1945 in Bautzen sogar die überwogen hätten, die es in Buchenwald und Sachsenhausen zu gleicher Zeit gegeben habe. Hierbei bedienten sich die ehemaligen Speziallager-Häftlinge einer Symbolsprache, die vornehmlich aus der NS-Aufarbeitung stammte, und benutzten sie Chiffren, die bis dahin nur in Verbindung gebracht wurden mit dem Holocaust. So wurde konstatiert, dass die ehemaligen Häftlinge des »Gelben Elends« ebenfalls in einem Güterwaggon deportiert worden seien und wurde das Speziallager als KZ bezeichnet.54 In ähnliche Richtung weisend prangerten ehemalige Bautzen-Opfer zugleich an, dass es sich beim Spezial-
50 Hanke, Dieter: »In Bautzen größte stalinistische Massengräber der Nachkriegszeit«, in: Sächsische Zeitung vom 02.04.1990, PrBvH, Gründungsphase I. 51 O.V.: Gedenkfeier in Bautzen, in: Die Brücke vom 15.04.1990, PrBvH, Bestand: Mitgliederinformation des BK 2001-1990, II. 1993-1990 [Mitgliederinformation II]. 52 Kuba, Claudia: »Überlebende sprechen nach 40 Jahren – unvorstellbare Menschenverachtung in Bautzener Gefängnis«, ADN-Meldung vom 31.03.1990, ArGBZ, HP, Band 2; o.V.: »Massengrab jetzt auch in Bautzen?«, in: Frankfurter Neue Presse vom 02.04.1990, PrBvH, Gründungsphase I; o.V.: »Größtes Massengrab der Nachkriegszeit in Bautzen?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 02.04.1990, PrBvH, Gründungsphase I; o.V.: »Liegt größtes Massengrab in Bautzen?, in: Die Welt vom 02.04.1990, Gründungsphase I; o.V.: »Größtes Massengrab in Bautzen vermutet«, in: Süddeutsche Zeitung vom 02.04.1990, PrBvH, Gründungsphase I; o.V.: »Weitere Massengräber in Sachsen vermutet«, in: Die Tageszeitung vom 03.04.1990, PrBvH, Gründungsphase I; o.V.: »Hört uns, helft uns! Wir verrecken wie Vieh«, in: Bild vom 02.04.1990, PrBvH, Gründungsphase I. 53 Langen, Claus-Einar: »Auch nach dem Abzug der Sowjets erwarteten viele in Bautzen vergebens die Freiheit. Sozialdemokraten gedenken der Opfer des stalinistischen Terrors«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 02.04.1990, ArGBZ, HP, Band 2. 54 Ebd.
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lager Bautzen vergleichbar mit den NS-Konzentrationslagern, um eine geplante und zielgerichtete Massenvernichtung gehandelt habe, die Ähnlichkeiten zur industriellen Vernichtung von Millionen in den NS-KZ gehabt habe: »In den genannten Lagern wurden massenhaft Menschen in einer Form beseitigt, wie sie radikaler kaum möglich ist. Zehntausende verschwanden ohne ein Lebenszeichen unter unmenschlichen Haftbedingungen, Zehntausende wurden namenlos irgendwo verscharrt, Zehntausende sind heute noch spurlos verschwunden. Die zielgerichtete Vernichtung durch unmenschliche Arbeits- oder Haftbedingungen ist als Methode zielgerichteter Massenvernichtung aus der Zeit der NS-Konzentrationslager bekannt […].«55
Deutsche Kommunisten und mit diesen die sowjetische Besatzungsmacht hätten so das nationalsozialistische Gestapo-Regime auf ihre Weise fortgesetzt, kommentierte die Presse.56 Durch die hergestellten Analogien zu Auschwitz und Dachau suggerierten die ehemaligen Häftlinge des »Gelben Elends«, es sei ihnen nach 1945 mindestens genauso schlecht ergangen, wie den Holocaust-Opfern. Neben diesen Analogieschlüssen wurde begrifflich wie auch symbolpolitisch zwischen Stalinismus, Kommunismus und Staatssozialismus nicht stärker differenziert. Alle Bautzener Verbrechen zwischen 1945 und 1989 wurden nun als »kommunistischen Verbrechen« zusammengefasst; die unter Stalin genauso wie die in der späten DDR unter Honecker. So lautete ein Kommentar des Sprechers des SPDArbeitskreises: »Noch heute ist Bautzen gleichsam Synonym für die an Deutschen begangenen Verbrechen der Kommunisten.«57 Damit wurde die stalinistische Ära im Grunde genommen auf die Zeit bis 1989 ausgedehnt bzw. zwischen verschiedenen Verfolgungsperioden in Bautzen zunächst (noch) nicht weiter unterschieden. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hieß es daher: »Denn bis zum Sturz jenes stalinistischen SED-Regimes, das in der Zeit jener Verbrechen begründet wurde, wäre jeder, der an die vielen zigtausend Opfer der Gewaltherrschaft zu erinnern gewagt hätte, schnell selbst deren Opfer geworden.«58 Weniger antikommunistische Stimmen, die darauf aufmerksam machten, dass Stalins Rote Armee nicht ohne Grund nach Deutschland kam, sondern weil die Deutschen die Sowjetunion überfallen und dort Millionen von Menschen getötet hatten, und gemäßigte Stimmen, die sich – bei aller Notwendigkeit über Menschenunrecht
55 Bautzen-Komitee: Bautzen-Komitee widerspricht sowjetischem Experten vom 26.07.1990, PrBvH, Mitgliederinformation II; Uwe H./Heynitz, Benno von: »Widerspruch!«, in: Sächsische Neueste Nachrichten vom 31.07.1990, PrBvH, Gründungsphase II. 56 Langen, Claus-Einar: »Auch nach dem Abzug«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 02.04.1990, ArGBZ, HP, Band 2. 57 Dieter R. z.n. o.V.: »Gedenkfeier in Bautzen«, in: Die Brücke vom 15.04.1990, PrBvH, Mitgliederinformation II. 58 Zimmermann, Monika: »Die Toten in den Massengräbern wecken verdrängte Erinnerung«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 04.04.1990, ArBK, Vorgründungsdokumente.
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aufklären und seiner Opfer gedenken zu müssen – gegen eine einseitige Interpretation von Geschichte erhoben, blieben vereinzelt.59 So tauchten auch Hinweise, dass es klare Unterschiede zum NS-Lagerwesen gab (wie z.B. keine systematischen Ermordungen, keine Menschenversuche, keine öffentlichen Folterungen, keine willkürlichen Massenerschießungen usw.) und dass die Verpflegung auch außerhalb der Lager 1945-1947 katastrophal gewesen sei, wenig in der öffentlichen Rezeption der Bautzener Veranstaltung auf.60 Es dominierte stattdessen der Tenor, Tausende von aufrechten Demokraten seien von den Schergen des Diktators Stalin liquidiert worden, an diesem System habe sich auch bis 1989 nichts geändert.61 Auf der Bautzener Gedenkveranstaltung stand neben dem Gedenken der im »Gelben Elend« verstorbenen Haftkameraden und dem »Lüften des Mantels des Schweigens« also vor allem auch das Anprangern des als »kommunistisches Unrecht« definierten gesamten Nachkriegsgeschehens in der SBZ und in der DDR im Vordergrund, das aus Gründen der eigenen »Staatsräson« und aus Rücksichtnahme auf den »großen Bruder« Sowjetunion seitens der DDR sowie aufgrund der neuen Ostpolitik bzw. Entspannungspolitik auch in der BRD noch bis 1989 aus dem öffentlichen Gedächtnis getilgt worden sei.62 Zwischen verschiedenen rechten und linken antidemokratischen Systemen und Bewegungen sowie zwischen unterschiedlichen Epochen politischer Verfolgung wurde »im Eifer des Gedenkens« nicht mehr näher differenziert, sondern stattdessen eher ein breit gefasster Opferbegriff gepflegt.63 Gewissermaßen war es also auch der bis 1989 aufgestaute »Vergessens-
59 So kommentierte lediglich die Sächsische Zeitung die Gedenkveranstaltung kritisch mit den Worten: »jede Einseitigkeit erzeugt neues Unrecht«, vgl. Hanke, Dieter: »Die ganze Wahrheit. Internierungslager – Jahrzehnte ein Tabuthema«, in: Sächsische Zeitung vom 02.04.1990, PrBvH, Gründungsphase I. 60 Lediglich ein Presseartikel, der diese Aspekten zusätzlich erwähnte, erschien in der linksgerichteten Presse, vgl. Süß, Walter: »Die sowjetischen Internierungslager in der DDR. Verdrängte Geschichte ans Tageslicht geholt«, in: Taz vom 31.03.1990. 61 Siehe u.a.a. Bautzen-Komitee: Bautzen-Komitee widerspricht sowjetischem Experten vom 26.07.1990, PrBvH, Mitgliederinformation II. 62 »Sowjetmacht und SED befanden, es würde ihnen die Herrschaft über ein Stück Deutschland schwieriger machen, wenn auf dem Gemälde der neuen, humanistischen sozialistischen Ordnung Blutflecken zu sehen wären«, kommentierte die Frankfurter Allgemeine dieses Phänomen zugespitzt. Aber auch in der BRD habe es bis 1989 ein »Mäntelchen des Schweigens« gegeben, habe gerade die »linksgeneigte Intelligenz« im Zuge der neuen Ostpolitik bzw. Entspannungspolitik »kategorisch bestimmt, womit deutsche Vergangenheitsbewältigung sich zu befassen habe […]«, hob die FAZ auch gegen die BRD-SPD an, vgl. Reißmüller, Johannes Georg: »An den Massengräbern«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.04.1990, ArBK, Vorgründungsdokumente. 63 Venohr, Wolfgang: »Internierungslager in Deutschland«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.04.1990, ArBK, Vorgründungsdokumente. Hier wurde sogar soweit gegangen, die Nachkriegs- bzw. Internierungspolitik aller Besatzungsmächte als Unrecht und Terror zu verunglimpfen und alle Internierten als am Krieg und am Nationalsozialismus unbeteiligt darzustellen.
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druck«, der sich in Bautzen durch die dort angebotene Veranstaltung wie durch ein Ventil entlud, und war es diese Dynamik, durch die rechtskonservative Auslegungen der Totalitarismustheorie in Bautzen ihre Renaissance erlebten und es dort im Zuge des Opfergedenkens zu einer Wiederbelebung antikommunistischer Traditionen sowie eines »neuen deutschen Opferkultes« kam. Nur wenige Tage nach der ersten öffentlichen Gedenkfeier in Bautzen und der Konstituierung einer Initiativgruppe BK wurde die Gründung des BK als gemeinnütziger Verein in Angriff genommen.64 Eine Gründungsversammlung wurde für den 12. Juni 1990 anberaumt, bei der Benno v. Heynitz, Uwe H. und der Dompfarrer K. als Vorsitzende des Vereins gewählt werden sollten.65 Zahlreiche Beteiligte und Vermittler beim Gefängnisstreik gehörten zu den ersten BK-Mitgliedern, so u.a. Mitglieder der städtischen Arbeitsgruppe »Strafvollzug«. Die offizielle Registrierung erfolgte beim Kreisgericht Bautzen am 20. Juni 1990.66 Die als Vereinsgrundlage eingereichte Satzung folgte dabei den Koordinaten, die bereits die erste Gedenkveranstaltung bestimmt hatten. Der Vereinszweck lautete: »[…] die Mitwirkung bei der Aufklärung, Aufarbeitung und Bewältigung der stalinistischen Verbrechen in den Bautzener Gefängnissen«.67 Zu den Aufgaben wurde neben der historischen Aufarbeitung gleich an zweiter Stelle ebenso die Mitwirkung bei der Errichtung von »[…] würdigen Stätten der Mahnung und des Gedenkens« festgelegt. 68 Dies sollte durch eine baldige Denkmalsetzung auf dem Karnickelberg erfolgen.69 Über bisherige Vorstellungen hinaus und angeregt von der Volkskammerinitiative der Liberalen, wurde nun zudem die Unterstützung der Opfer bei Fragen der Rehabilitierung und Wiedergutmachung in das Aufgabenspektrum aufgenommen.70 Die Mitwirkung bei der Aufklärung der Geschichte um »Mielkes Privatknast Bautzen II« hingegen rückte an letzte Stelle.71 Gemäß den eigenen Arbeitsschwerpunkten und unmittelbar nach seiner Gründung wandte sich das BK mit der Forderung an den Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maiziére, an das DRK und an die Öffentlichkeit, beim Amt des Minister-
64 Schreiben von Benno von Heynitz an Uwe H. vom 09.04.1990, PrBvH, Gründungsphase I. 65 Einladungsschreiben von Uwe H. vom 30.05.1990, PrBvH, Gründungsphase I; o.V.: »›Bautzen-Komitee‹ gegründet«, in: Die Brücke vom 15.07.1990, PrBvH, Mitgliederinformation II. 66 Registrierungsurkunde des Bautzen-Komitee e.V. vom 20.06.1990, PrBvH, Gründungsphase I. 67 Bautzen-Komitee: Entwurf Vereinssatzung, o.D., ArBK, DEMAG; Bautzen-Komitee: Vereinssatzung vom 12.06.1990, ArBK, lose Blattsammlung. 68 Bautzen-Komitee: Presseinformation vom 12.06.1990, PrBvH, Gründungsphase I. 69 Moschke, Bernd: »Ein Denkmal für die Toten«, in: Sächsische Neueste Nachrichten vom 14.06.1990, PrBvH, Gründungsphase I. 70 Volkskammer der DDR: Drs. Nr. 27a vom 07.06.1990, ArLStU, Bestand: BArch DA 1 17477; BArch DA 1/17476. 71 Bautzen-Komitee: Presseinformation vom 12.06.1990, PrBvH, Gründungsphase I; Moschke, Bernd: »Der Wahrheit auf der Spur«, in: Sächsische Neueste Nachrichten vom 16.06.1990, PrBvH, Gründungsphase I.
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präsidenten sei eine »zentrale Stelle für Vorermittlungen zur Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen nach dem 08. Mai 1945« (vergleichbar mit der Ludwigsburger Adresse bezüglich des Nationalsozialismus) einzurichten.72 Zudem beschloss das BK systematische Grabungen auf dem Karnickelberg einzusetzen und verlangte es hierfür die breite Unterstützung der zuständigen Behörden bei einer angestrebten Querschnittsgrabung.73 Des Weiteren forderte das BK das Deutsche Rote Kreuz dazu auf, sich verstärkt um die Recherche nach Personaldaten der in Bautzen verstorbenen Häftlinge in den sowjetischen Archiven zu bemühen.74 Parallel initiierte das BK die ersten Grabungen nach Leichen auf dem Karnickelberg, blieb doch die Vermutung, es gäbe dort das größte Massengrab der Nachkriegsgeschichte, noch einen Beweis schuldig.75 Entsprechend führte die Bundeswehr sieben Probegrabungen durch und suchte sie mit Radargeräten den Verlauf der ehemaligen Schützengräben am Karnickelberg ab. Dabei stieß der Suchtrupp zwischen dem 07. und 08. Juni 1990 erstmals auf sterbliche Überreste von sieben Leichen, die zur weiteren Identifizierung in die Gerichtsmedizin nach Dresden überstellt wurden.76 Da es sich um weniger Skelette handelte als erwartet, vermuteten die BK-Mitglieder, dass die meisten Leichen wohl in unmittelbarer Nachbarschaft zum Karnickelberg auf dem Grund eines mittlerweile angestauten Sees (»Bautzener Meer«) liegen. Als weiteren Grund für die wenigen Leichenfunde zogen sie in Erwägung, dass sich die Skelette aufgrund der Einwirkung von Chlorkalk, mit dem die Leichen bestäubt worden seien, zersetzte haben könnten. Schließlich zogen sie in Betracht, dass die Leichen eventuell exhumiert und an unbekannte Stelle umgelagert oder die ehemaligen Massengräber verfüllt
72 Bautzen-Komitee: Beschluss über Zentrale Stelle für Vorermittlungen gefordert vom 12.06.1990, PrBvH, Gründungsphase I; Schreiben des Bautzen-Komitees an den Ministerpräsidenten der DDR Lothar de Maiziére vom 13.06.1990, PrBvH, Gründungsphase I; Schreiben des Bautzen-Komitees an das DRK der DDR Generalsekretariat vom 13.06.1990, PrBvH, Gründungsphase I; Mickisch, Jürgen: »Bautzen alias Gelbes Elend? «, in: Sächsische Zeitung vom 14.06.1990, PrBvH, Gründungsphase I. 73 Bautzen-Komitee: Beschluss über Systematische Grabungen auf dem Karnickelberg in Bautzen vom 12.06.1990, PrBvH, Gründungsphase I. 74 Bautzen-Komitee: Beschluss über DRK der DDR soll nach Totenlisten forschen vom 12.06.1990, PrBvH, Gründungsphase I. 75 Dvoracek, Rolf: »Geheimnis des Karnickelberges«, in: Sächsische Zeitung vom 10.04.1990, ArBK, Vorgründungsdokumente. 76 Volkspolizei Bautzen: »Wer kann Hinweise geben«, in: Sächsische Zeitung vom 11.04.1990, ArGBZ, HP, Band 2; o.V.: »Verdacht in Bautzen erhärtet«, in: Frankfurter Rundschau vom 21.04.1990, PrBvH, Gründungsphase I; o.V.: »Knochenfunde bestätigen den Verdacht auf Massengräber«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.04.1990, PrBvH, Gründungsphase I; o.V.: »Doch Funde am Karnickelberg«, in: Sächsische Zeitung vom 08.06.1990; ArGBZ, HP, Band 2; Winkler, W.: »Massengrab in Bautzen«, in: Dresdner Morgenpost vom 12.06.1990, PrBvH, Gründungsphase I; o.V.: »Zum Skelettfund«, in: Dresdner Neueste Nachrichten vom 12.06.1990, PrBvH, Gründungsphase I; o.V.: »Skelettfunde in Bautzen«, in: Taz vom 20.06.1990.
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bzw. durch Neubauten verdeckt worden seien.77 Die wenigen Skelettfunde waren für die ehemaligen Häftlinge eine herbe Enttäuschung, hatte es doch nur wenige Wochen zuvor gegenteilige Bekanntmachungen gegeben. Bereits im August 1990 nahm das BK den Vorschlag des Friedrich-EbertStiftung (FES) angelehnten »Vereins für Politische Bildung und Soziale Demokratie e.V.« auf, gemeinsam ein »Forum« zu veranstalten, das die historische Aufklärung fördern und eine Begegnung von Zeitzeugen ermöglichen sollte.78 Das Forum sollte dazu beitragen, »[…] dass wahre Geschichte geschrieben, Unrecht wieder gut gemacht und die junge Generation über das Unrecht im Namen des real existierenden Sozialismus informiert wird«.79 So jedenfalls klang das erste ambitionierte Veranstaltungskonzept. Der Arbeitstitel hieß: »Stalinismus im Spannungsfeld zwischen Betroffenheit und historischer Analyse« und brachte damit das eigentliche Dilemma – wohl eher ungewollt – zur Sprache.80 Es war nämlich von den ehemaligen Speziallager-Häftlingen kaum zu erwarten, dass sie sich objektiv-wissenschaftlich und weitgehend emotionslos mit der eigenen Geschichte befassten und sich zudem selbstkritisch der eigenen Befangenheit stellten. Um diese Problematik abzufedern wurde deshalb der Titel noch einmal leicht verändert in »Stalinismus – Analyse und persönliche Betroffenheit«.81 Die Perspektive der Betroffenen wurde auf diese Weise nicht mehr in Frage gestellt bzw. nicht mehr als Antipode zur wissenschaftlichen Aufarbeitung dargestellt. Und um insgesamt zur Entpolitisierung der Veranstaltung beizutragen und ein »Wahlspektakel« von vornherein auszuschließen – lag doch alleine organisatorisch unvermeidlich eine Nähe zur SPD vor – unterbreitete das BK den Vorschlag, das Forum u.a. im Hinblick auf die Redner ausschließlich unter antikommunistischem Vorzeichen durchzuführen, eine Teilnahme beispielsweise von Walter Janka wurde daher bereits im Vorwege ausgeschlossen.82 Darüber hinaus sollte es im Rahmen des »Bautzen-Forums« zur gewünschten Denkmalsetzung auf dem Karnickelberg kommen, um dort auch künftig den Stalinismusopfern mit Kranzniederlegungen und stillem Gebet gedenken zu können.83
77 Uwe H./Mertha, Hans-Jürgen: »Zu den Massengräbern«, in: Sächsische Zeitung vom 25.07.1990, PrBvH, Mitgliederinformation II; Uwe H./Mertha, Hans-Jürgen: »Bilanz des Schreckens«, in: Neueste Sächsische Nachrichten vom 30.07.1990, ArGBZ, Bestand: Grabungsbericht Karnickelberg Dokumentation [GKD]. 78 Schreiben des Vereins für Politische Bildung und Soziale Demokratie e.V. an das Bautzen-Komitee e.V. vom 10.08.1990, PrBvH, Gründungsphase II. 79 Verein für Politische Bildung und soziale Demokratie e.V.: Einladung (Entwurf) zum 1. Bautzener Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung, o.D., PrBvH, Gründungsphase II. 80 Ebd. 81 Später, vgl. Schreiben der Friedrich-Ebert-Stiftung an Benno von Heynitz vom 05.10.1990, PrBvH, Gründungsphase II. 82 Schreiben des Bautzen-Komitees an den Verein für Politische Bildung und Soziale Demokratie e.V. vom 27.08.1990, PrBvH, Gründungsphase II. 83 O.V.: »16.000 Menschen namenlos wie Hunde verscharrt«, in: Die Union vom 09.10.1990, PrBvH, Gründungsphase II; Moschke, Bernd: »Stasi-Protokoll vom Gottesdienst«, in: Dresdner Neueste Nachrichten vom 11.10.1990, PrBvH, Gründungsphase II.
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Bei einer diesbezüglichen Begehung des Karnickelberges, entwickelte der Vorstand nun erstmals auch die Idee, den dortigen Hundezwinger in ein Dokumentationszentrum umzuwandeln, das zudem Raum böte für den Vereinssitz des BK.84 Diese Idee wurde allerdings nicht weiter verfolgt. Hauptaugenmerk blieb zunächst erst einmal ein Gedenkstein, den es zeitnah zu errichten galt. Mit den Worten: »Angesichts der besonderen Zusammenhänge von Bautzen mit dem politischen Nachkriegsgeschehen in Deutschland und unter Berücksichtigung der Einsparungen beim Häftlingsfreikauf«, beantragte das BK bereits am 12. September 1990 einen Zuschuss in Höhe von 15.000 DM für die erste Denkmalsetzung auf dem Karnickelberg beim Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen.85 Christian Schramm, der mittlerweile Bürgermeister der Stadt Bautzen geworden war, sowie Landrat Volker Ebemann signalisierten hierfür grundsätzlich Bereitschaft das Vorhaben immerhin ideell zu unterstützen.86 Schon einen Tag nach dem Beitritt der DDR zur BRD teilte das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen dem BK mit: »Sobald im kommenden Haushaltsjahr Finanzmittel für die an den Orten ehemaliger Speziallager notwendigen Arbeiten bereitstehen, wird das Fachreferat meines Hauses das Gespräch über konkrete Maßnahmen mit den einschlägigen Gruppen und Komitees aufnehmen.«87 Als das Bundesministerium auf telefonische Nachfrage hin präzisierte, dass es die Zuständigkeit eher beim Land Sachsen sähe und kaum mehr Mittel zur Verfügung stünden, wandte sich das BK daraufhin erneut an die FES und bat es um Kostenübernahme, war doch eine Gedenkstein-Enthüllung mittlerweile fester Programmpunkt des 1. »Bautzen-Forums« geworden.88 Der Bitte wurde entsprochen. Die FES sagte zu, sofern das Bundesministerium definitiv ablehnte.89 Da das BK immer noch um parteipolitische Neutralität bemüht war, und daher eine Finanzierung durch die öffentliche Hand lieber sah, wandte sich das BK schließlich abermals an den Landrat, um doch noch eine Unterstützung von dieser Seite für den Gedenkstein zu erhalten.90 Der
84 Kilank, Rudolf: »Gedenkstätte für die Stalinismus-Opfer«, in: Sächsische Zeitung vom 04.09.1990, PrBvH, Gründungsphase II. 85 Schreiben des Bautzen-Komitees an das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen vom 12.09.1990, PrBvH, Gründungsphase II. 86 Ebd. 87 Schreiben des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen an das BautzenKomitee vom 04.10.1990, PrBvH, Gründungsphase II. 88 Schreiben des Bautzen-Komitees an die Friedrich-Ebert-Stiftung vom 15.10.1990, PrBvH, Gründungsphase II; Friedrich-Ebert-Stiftung: Pressemitteilung Gedenken für Opfer des Stalinismus in Bautzen – 1. Bautzener Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung vom 22.10.1990, PrBvH, Gründungsphase II. 89 Schreiben der Friedrich-Ebert-Stiftung an das Bautzen-Komitee vom 23.10.1990, PrBvH, Gründungsphase II. 90 Schreiben des Bautzen-Komitees an den Landkreis Bautzen Landrat Ebermann vom 27.10.1990, PrBvH, Gründungsphase II; Bautzen-Komitee: Protokoll der Vorstandssitzung am 27.10.1990 vom 02.11.1990, PrBvH, Gründungsphase II.
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Landkreis Bautzen übernahm daraufhin die vollen Errichtungskosten in Höhe von 9557,60 DM.91 Wurde anfangs noch von einer »Stele der Opfer der stalinistischen Gewaltherrschaft« gesprochen, legte sich der Vorstand wenige Tage vor Beginn des »BautzenForums« darauf fest, dass mit dem Denkmal nicht alleine der Stalinismusopfer gedacht werden könne, sondern auch derjenigen, die nach 1956 und bis 1989 zu Unrecht bzw. unter menschenunwürdigen Bedingungen in den Bautzener Gefängnissen eingesessen hatten.92 Als Oberbegriff für diese verschiedenen Opfergruppen fand das BK die Beschreibung »Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft« geeignet. Die Inschrift wurde entsprechend geändert in »Den Opfern der kommunistischen Gewaltherrschaft in den Bautzener Gefängnissen zum Gedenken – den Lebenden zur Mahnung«. Die nebenbei erfolgte Vermischung von Stalinismus, Kommunismus und Staatssozialismus sowie das geschichtspolitisch brisante Bild eines gewaltherrschaftlichen Kontinuums zwischen 1945-1989 wurden auf diese Weise aufrecht gehalten und nun sogar »in Stein gefasst«. Das Denkmal auf dem Karnickelberg war damit nicht nur ein Ort des stillen Erinnerns und Gedenkens, sondern lief auf diese Weise nebenbei auch Gefahr, vor allem eine antikommunistische Geste zu werden. Diese Tendenz der Vermengung verschiedener Verfolgungskomplexe und unterschiedlicher linkspolitischer Systeme beim Versuch, auch den Opfern nach 1956 gerecht zu werden, schlug sich auch in der Vereinssatzung nieder. So beschloss der Vorstand im Herbst 1990, den Zweck des Vereins insgesamt auszuweiten. Fortan sollten nicht mehr nur die stalinistischen Verbrechen Vereinsgegenstand sein, sondern machte es sich das BK nun zur Aufgabe, die »kommunistische Gewaltherrschaft« im Allgemeinen aufzuarbeiten, aufzuklären und zu bewältigen.93 Schließlich seien die Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch nach Stalin fortgeführt worden, begründete der Vorstand des BK diesen Schritt. Und obwohl der Vorstand im gleichen Zuge erklärte, dass hier keinesfalls die Idee des Kommunismus als solche angegriffen werde, untermauerte die Satzungsänderung damit im Grunde genommen die eindeutig antikommunistische Stoßrichtung.94 Vergleichbar mit der ersten Gedenkfeier am 31. März 1990 wurde auch das 1. »Bautzen-Forum«, das zwischen dem 08. und 11. November 1990 veranstaltet wurde, zum Anlass genommen, diverse politische Forderungen im Interesse der Opfer und ihrer Hinterbliebenen öffentlich vorzubringen. Abermals wurde die Errichtung einer »staatsanwaltlichen Zentralstelle« verlangt und bezog das BK Stellung zur
91 Bautzen-Komitee: Protokoll der Jahreshauptversammlung am 15.12.1990, ArBK, DEMAG. 92 Vgl. Schreiben des Bautzen-Komitees an den Bürgermeister der Stadt Landshut vom 15.10.1990, PrBvH, Gründungsphase II; Bautzen-Komitee: Einladung zum 1. »BautzenForum« vom 26.10.1990, PrBvH, Gründungsphase II. 93 Bautzen-Komitee: Protokoll der Vorstandssitzung am 27.10.1990 vom 02.11.1990, PrBvH, Gründungsphase II. 94 Bautzen-Komitee: Protokoll der Jahreshauptversammlung am 15.12.1990, ArBK, DEMAG.
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»Verfassungswidrigkeit des Restitutionsanspruches bei politischen Terrorurteilen von sowjetischen Militärtribunalen«.95 Darüber hinaus appellierte das BK an den Bundestag, er möge das SED-Parteivermögen für Wiedergutmachungen des SEDUnrechtes verwenden.96 Neben diesen politischen Forderungen nutzte das BK ebenfalls das »Bautzen-Forum« als Rahmen, um erstmals detaillierte Informationen über die Haft in der StVE II zu publizieren und legte somit einen bis dahin unikalen Beitrag zur Aufklärung dieser Gefängnisepisode vor.97 Die Resonanzen auf das 1. »Bautzen-Forum« waren einhellig. Kritische Stimmen gab es kaum gegen das vorherrschende Übergewicht an persönlicher Betroffenheit und politischem Antikommunismus sowie gegen den Mangel an objektivierter, fachwissenschaftlich differenzierter Geschichtsdarstellung und Kommunismuskritik. Das Ausbleiben der im Veranstaltungstitel angekündigten historischen Analyse wurde kaum als Makel empfunden. Sogar der inzwischen zum Leiter der JVA »Bautzen I« aufgestiegene, ehemalige stellvertretende Leiter der StVE I, Frank H., bot – mitgerissen vom emotional aufgeladenen Aufarbeitungssog – plötzlich eine enge Zusammenarbeit mit dem BK an.98 Die Presse stützte aus diesem Grunde überwiegend die These, die Veranstaltung sei ein Musterbeispiel par excellence dafür wie »Demokratie gelernt« werden könne, zumindest der Anfang hierfür sei mit dem »Bautzen-Forum« gemacht.99 Zwar warnten einige wenige, politisch vor allem eher linke Kommentatoren, man dürfe Stalinismus und Kommunismus nicht gleichsetzen, hätten doch schließlich auch einige Kommunisten zu den Bautzener Opfern gehört, und merkten diese wenigen Kritiker an, es könnten die Verantwortlichen der 80er Jahre doch nicht für das Erlebte in den 40er Jahren angeklagt werden, vielmehr sei eine unvoreingenommene Geschichtsanalyse nötig,100 insgesamt allerdings er-
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Bautzen-Komitee: Pressemitteilung über Errichtung einer staatsanwaltlichen Zentralstelle vom 09.11.1990, PrBvH, Mitgliederinformation II; Bautzen-Komitee: Pressemitteilung über Stellungnahme des Bautzen-Komitees zur Verfassungswidrigkeit des Restitutionsanspruches bei politischen Terrorurteilen von sowjetischen Militärtribunalen vom 09.11.1990, PrBvH, Mitgliederinformation II. 96 Bautzen-Komitee: Pressemitteilung vom 09.11.1990, PrBvH, Mitgliederinformation II. 97 Bautzen-Komitee: Presseerklärung zu den Wirkungsmechanismen des Ministeriums für Staatssicherheit in der Strafvollzugseinrichtung Bautzen II vom 10.11.1990, ArBK, DEMAG. 98 Schreiben der JVA Bautzen I Leiter Frank H. an das Bautzen-Komitee vom 12.11.1990, PrBvH, Gründungsphase II. 99 Reinsch, Ingolf: »Aufarbeiten statt Verdrängen«, in: Sächsische Zeitung vom 13.11.1990, PrBvH, Gründungsphase III; Mickisch, Jürgen: »Der Anfang ist gemacht«, in: Sächsische Zeitung vom 12.11.1990, PrBvH, Gründungsphase III. 100 Reinsch, Ingolf: »Stalinismus-Analyse verlangt unvoreingenommenes Herangehen«, in: Sächsische Zeitung vom 12.11.1990, ArGBZ, HP, Band 2; Kohl, Hans-Helmut: »Bautzen oder: Die beharrliche suche nach der Wahrheit«, in: Frankfurter Rundschau vom 12.11.1990, ArGBZ, HP, Band 2; Tok, Uta: »Opfer warten auf Rehabilitierung«, in: Leipziger Volkszeitung vom 12.11.1990, PrBvH, Gründungsphase III; o.V.: Renger: »Recht nicht Rache«, in: Die Welt vom 10.11.1990, PrBvH, Gründungsphase III; Enke,
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fuhr die Arbeit des BK das politische Spektrum abdeckend breite Anerkennung und wurde die dort konstruierten Geschichtsbilder anstandslos akzeptiert.101 Die Frankfurter Allgemeine spitze zu, dem offen ausbrechenden Antikommunismus verschlage hier nichts, und appellierte mit den Worten Joachim Gaucks an die deutsche Linke, Antikommunismus sei ja schließlich auch eine Form von Humanität.102 Damit stand das Erinnern und Gedenken in Bautzen bereits bis Ablauf des Jahres 1990 in seiner Grundstruktur fest: Die Federführung hatten ehemalige Überlebende des Speziallagers in Bautzen übernommen. Diese hatten sich innerhalb weniger Wochen in Form eines Vereins organisiert und institutionalisiert, wobei das BK sich zunehmend auch für die poststalinistische Zeit nach 1956 bis 1989 zuständig sah. Hierfür wurden Stalinismus und Staatssozialismus unter dem politischen Oberbegriff »kommunistische Gewaltherrschaft« spätestens ab Herbst 1990 vom BK zusammengefasst. Parallel wurde durch Recherchen und Grabungen die historische Aufarbeitung der Gefängnisgeschichte begonnen.103 Unter geschichtspolitisch antikommunistischem Vorzeichen war auf dem Karnickelberg zudem ein Denkmal errichtet worden. Auch das »Bautzen-Forum«, das sich ab 1991 als wiederkehrende Veranstaltung etablieren sollte, fand bereits vor Ablauf des Jahres erstmals statt.104 Gleichzeitig wurde auch die Errichtung eines Dokumentationszentrums als Erweiterung der Gedenkstätte zumindest in Erwägung gezogen und erste Kontakte diesbezüglich zum zuständigen Bundesministerium geknüpft. Damit waren bereits wenige Wochen nach dem Ende der DDR die Grundlagen geschaffen für eine erinnerungskulturelle Aufarbeitung der verschiedenen Vergangenheitsschichten der Bautzener Gefängnisse zwischen 1945 und 1989.
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Thomas: »Betroffenheit und Analyse«, in: Junge Welt vom 28.11.1990, PrBvH, Gründungsphase III. O.V.: »Eine Gewissenspflicht von uns allen«, in: Sächsische Zeitung vom 12.11.1990, ArGBZ, HP, Band 2; o.V.: »Sie werden nicht vergessen«, in: Dresdner Neueste Nachrichten vom 12.11.1990, PrBvH, Gründungsphase III; Nöldechen, Peter: »Bitterer Triumph der Überlebenden des ›Gelben Elends‹«, in: Westfälische Rundschau vom 12.11.1990, PrBvH, Gründungsphase III; o.V.: »Gedenken an Opfer des Stalinismus«, in: Die Union vom 12.11.1990, PrBvH, Gründungsphase III; Moschke, Bernd: »Recht, nicht Rache!, in: Dresdner Neueste Nachrichten vom 13.11.1990, PrBvH, Gründungsphase III; Reiff, Klaus: »Opfer des Kommunismus fordern Recht und Aufklärung«, in: Das Parlament vom 30.11.1990, PrBvH, Gründungsphase III. Speicher, Stephan: »Das gelbe Elend«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.11.1990, ArGBZ, HP, Band 2. Eine erste ausführliche Dokumentation zur Haft in der StVE Bautzen I lieferte zudem die Serie mit dem Titel »Die Kette der Willkür« in der Zeitung Die Welt, vgl. Guratzsch, Dankwart: »Die Kette der Willkür Teil I-IV«, in: Die Welt vom 03.01.10.01.1991, ArJVA BZ, lose Blattsammlung. Dass das »Bautzen-Forum« bereits früh zur Tradition werden sollte, wird bestätigt durch ein Schreiben des Bautzen-Komitees an die Friedrich-Ebert-Stiftung, vgl. Schreiben des Bautzen-Komitees an die Friedrich-Ebert-Stiftung vom 30.12.1990, PrBvH, Gründungsphase II.
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3.2 D ER U MGANG MIT DER B AUTZENER G EFÄNGNISGESCHICHTE AB 1991 Während sich das BK intensiv mit dem Aufdecken der Speziallagerzeit und ihrer Opfer befasste und sich erinnerungskulturell maßgeblich auf den Karnickelberg und eine dortige Denkmal- und Gedenkstättenerrichtung konzentrierte, wurden ab Frühjahr 1991 von Seiten des SMJ inzwischen vielfältige Überlegungen zur Nachnutzung der ehemaligen StVE II (seit 03. Oktober 1990 Justizvollzugsanstalt JVA »Bautzen II«) angestellt, war doch mit einer Entlassung bzw. Verlegung der verbliebenen Häftlinge zu rechnen und kam durch Personalüberprüfungen hinzu, dass zwei Haftanstalten in Bautzen kaum mehr aufrecht zu halten waren.105 So waren von den insgesamt 475 Mitarbeitern der ehemaligen StVE I und II, die es noch am Abend des Beitritts der DDR gegeben hatte, durch Überprüfungen durch den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss der SVV Bautzen und der Staatsanwaltschaft bis zum 05. Juni 1991 nur noch 292 Mitarbeiter übrig.106 Von den ehemals 78 Mitarbeitern der ehemaligen StVE II waren 56 Mitarbeiter geblieben.107 Die Belegungszahl war bis zum gleichen Zeitpunkt weiter gesunken auf 65 Häftlinge in der JVA »Bautzen I« und 16 Häftlinge in der JVA »Bautzen II«.108 Im Juli 1991 sank die Zahl weiter auf 51 in »Bautzen I« und 12 in »Bautzen II«.109 Am 01. März 1991 ordnete das Sächsische Staatsministerium der Justiz (SMJ) die JVA »Bautzen II« daher der JVA »Bautzen I« als »Außen-
105 Moschke, Bernd: »Ein Denkmal für die Toten«, in: Sächsische Neueste Nachrichten vom 14.06.1990, PrBvH, Gründungsphase I; Fromme, Karl: »Gefängnisse bringen Bautzen in Verruf«, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 02.05.1990, ArGBZ, HP, Band 2. 106 Schreiben des Sächsischen Staatsministerium der Justiz Minister Heitmann an den Sächsischen Landtag, o.D., S. 2, ArBK, PGA SVV BZ. 107 Etwa 40 Mitarbeiter konnten aufgrund der Ergebnisse der Personalüberprüfungen in Bautzen I nicht weiterbeschäftigt werden. Ein weiterer Teil der Mitarbeiter schied aufgrund Alters, Vorruhestand, Schwangerschaft und Krankheit aus. Polizeiliche Voruntersuchungen wurden gegen 18 Bedienstete und staatsanwaltliche Ermittlungen wegen Körperverletzung, Nötigung und Beleidigung gegen weitere 8 Bedienstete der StVE eingeleitet. Hierzu zählte auch ein ehemaliger Verbindungsmann der StVE II zum MfS. Vgl. Parlamentarischer Ausschuss für die Belange der JVA der Stadt Bautzen: Protokoll über die Beratung des Ausschusses am 06.02.1991 vom 15.02.1991, ArBK, Bestand: Parlamentarischer Gefängnisausschuss der SVV Bautzen [PGA SVV BZ]; o.V.: »Ein Ort des Leids für Tausende«, in: Amtsblatt der Stadt Bautzen vom 22.03.1991, ArGBZ, HP, 1991-2002. 108 Schreiben des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz Minister Heitmann an den Sächsischen Landtag, o.D., ArBK, PGA SVV BZ; o.V.: »Zurzeit keine Neuzugänge in Bautzen«, in: Thüringer Tageblatt vom 26.06.1991; ArGBZ, HP, 1991-2002, JVA Bautzen: Informationsfaltblatt, o.D., ArJVA BZ, lose Blattsammlung. 109 O.V.: »Abgeordnete besuchten Justizvollzugsanstalt«, in: Wochenspiegel vom 17.07.1991, ArGBZ, HP, 1991-2002.
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stelle« unter.110 Für den Frank H. und Oberstleutnant Horst A., die beide in Folge von Amtsüberprüfungen als Leiter der JVA Bautzen nicht bestätigt werden konnten, kam ab dem 01. Mai 1991 der Bielefelder Oberregierungsrat Burghard J., der jetzt für beide ehemaligen StVE zuständig wurde.111 Mittelfristig, so ließ sich aus diesen strukturellen und personellen Veränderungen ableiten, sollte die JVA »Bautzen II« aufgelöst bzw. einem neuen Zweck zugeführt werden. Die Zukunftspläne der Stadt Bautzen für »Bautzen II« knüpften dabei an den ursprünglichen Überlegungen des Städtischen Ausschusses »Strafvollzug« an. So wurde weiterhin an eine grundlegende Modernisierung des Gefängnisses gedacht und an eine Nachnutzung als Untersuchungshaftanstalt in Erwägung gezogen, lag doch »Bautzen II« hierfür logistisch in optimaler Nähe zum Gericht.112 In ähnliche Richtung gingen auch die Pläne des SMJ. Darüber hinaus sah es vor, in einem separaten Flügel der JVA »Bautzen II« den Strafvollzug für männliche Erwachsene mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren im Regelvollzug fortzuführen.113 Dies ging aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag hervor, die im Mai 1991 diesbezüglich gestellt wurde.114 Das BK fokussierte sich erinnerungskulturell unterdessen weiter auf den Karnickelberg und das 2. »Bautzen-Forum«, in dessen Rahmen Ende April 1991 sowohl die Beisetzung der ein Jahr zuvor exhumierten sieben Leichen auf dem Karnickelberg stattfand als auch eine weitere Bautzener Protesterklärung von den Opfern veröffentlicht wurde.115 In dieser forderte das BK erneut die rechtliche Gleichstellung der »Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft« und ihrer Hinterbliebenen mit den NS-Opfern sowie deren vollständige Rehabilitierung. Zudem verlangten sie abermals Wiedergutmachung bzw. Entschädigungen für ihr erlittenes Leid.116 Für
110 JVA Bautzen: Informationsfaltblatt, o.D., ArJVA BZ, lose Blattsammlung. 111 Schreiben des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz Minister Heitmann an den Sächsischen Landtag, o.D., ArBK, PGA SVV BZ. 112 Parlamentarischer Ausschuss für die Belange der JVA der Stadt Bautzen: Protokoll über die Beratung des Ausschusses am 06.02.1991 vom 15.02.1991, ArBK, PGA SVV BZ; Schreiben des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz Minister Heitmann an den Sächsischen Landtag, o.D., ArBK, PGA SVV BZ. 113 Ebd. 114 Sächsischer Landtag, Drs. 1/407 vom 21.05.1991, PASächsLt; o.V.: »Was wird aus den Bautzener Gefängnissen?«, in: Sächsische Zeitung vom 27.06.1991, ArGBZ, HP, 19912002. 115 Bautzen-Komitee: Pressemitteilung vom 12.04.1991, PrBvH, Mitgliederinformation II. 116 Bautzen-Komitee: Bautzener Erklärung Gerechtigkeit den Opfern kommunistischer Diktatur vom 27.04.1991, PrBvH, Mitgliederinformation II. Siehe zum 2. BautzenForum auch Schade, Thomas: »Damit Bautzen den Makel des Gelben Elends verliert«, in: Sächsische Zeitung vom 26.04.1991, ArGBZ, HP, 1991-2002; Leber, Carmen: »Im Gedenken an alle Opfer«, in: Sächsische Zeitung vom 29.04.1991, ArGBZ, HP, 19912002; Schade, Thomas: »Noch einmal am Ort ihres Leidens«, in: Sächsische Zeitung vom 29.04.1991, ArGBZ, HP, 1991-2002; Krüger, Thomas: »Das ›Gelbe Elend‹ von Bautzen – ein Alptraum«, in: Allgemeine Zeitung vom 30.04.1991, ArGBZ, HP, 1991-
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die Fortentwicklung des Vereins erreichte das BK, dass die Stadt und der Landkreis die Kosten für eine halbe Bürokraft übernahmen.117 Auf diese Weise konnte das BK am 01. Juni 1991 seine Geschäftsstelle in Bautzen eröffnen.118 Als Ort für ein Dokumentationszentrum mit Museumsbetrieb wurde die Idee, den ehemaligen Hundezwinger auf dem Karnickelberg dafür räumlich zu nutzen, wiederaufgenommen und entsprechend Nutzungsbedarf bei der Stadt angemeldet.119 Grundsätzliche Unterstützung für das Schaffen einer solchen Einrichtung erhielt das BK dabei von der sächsischen CDU-Landtagsfraktion, die sich dieses Themas noch vor der Sommerpause 1991 im Rahmen einer Besichtigung des Denkmals auf dem Karnickelberg am 08. Juli 1991 annahm. Öffentlich erklärte die CDU-Fraktion, sie sei prinzipiell für eine Gedenkstätte bzw. ein Dokumentationszentrum für die »Opfer des Kommunismus« in Bautzen.120 »Es liegt mir sehr am Herzen, durch diese Gedenkstätte einen Beitrag zur Aufarbeitung der in Bautzen geschehenen Verbrechen und damit auch der Rehabilitierung der Opfer leisten zu können,« untermauerte der CDU-Wahlkreisabgeordnete Marko Schiemann diesen CDU-Vorstoß.121 Abweichend allerdings von den BK-Plänen, zog die CDU-Fraktion in Anwesenheit des Landtagspräsidenten Erich Iltgen und Justizministers Steffen Heitmann hierfür jedoch nicht den Hundezwinger, sondern nunmehr die Gebäude von »Bautzen II« in Betracht. Der CDU-Vorschlag, den Schiemann anlässlich des Bautzen-Besuches erstmals unterbreitete, sah vor, dass ein Teil der JVA »Bautzen II« in seinem ursprünglichen Zustand erhalten bleiben könne, um die Haftbedingungen bis 1989 zu dokumentieren, der verbleibende Teil von »Bautzen II« sei dann zu einem modernen Museum auszubauen mit Archiv und Tagungsräumen.122 Ein Bereich der Gedenkstätte, so Schiemann, könne zudem als »Dokumentencenter« bzw. als Rehabilitierungshilfe für Opfer sowie als Pool für die wissenschaftliche Aufarbeitung genutzt werden.123 D.h., Schiemann schlug Heitmann vor, auf eine Weiternutzung als wie auch immer geartete Haftanstalt (U-Haft oder Strafvollzug) gänzlich zu verzichten und forderte, dort ausschließlich eine Gedenkstätte einzurichten.
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2002; Krüger, Peter Thomas: »Tiefe Spuren sind geblieben«, in: Das Parlament vom 10.05.1991, ArGBZ, HP, 1991-2002. Parlamentarischer Untersuchungsausschuss für die Einrichtungen des Strafvollzuges: Protokoll über die Ausschusssitzung am 05.06.1991 vom 11.06.1991, ArBK, PGA SVV BZ. Bautzen-Komitee: Chronik des Bautzen-Komitees, August 1991, PrBvH, Mitgliederinformation II. Parlamentarischer Untersuchungsausschuss für die Einrichtungen des Strafvollzuges: Protokoll über die Ausschusssitzung am 05.06.1991 vom 11.06.1991, ArBK, PGA SVV BZ; Schmitt, Eberhard: »Licht in stalinistische Verbrechen«, in: Sächsische Zeitung vom 09.08.1991, ArGBZ, HP, 1991-2002. O.V.: »Wider den rosa Schleier«, in: Taz vom 10.07.1991; o.V.: »Abgeordnete besuchten Justizvollzugsanstalt«, in: Wochenspiegel vom 17.07.1991. Marko Schiemann z.n. ebd. Ebd. Lehmann-Wicaz, A.: »Mehr Licht hinter die Gitter«, in: Lausitzer Rundschau vom 24.07.1991, ArJVA BZ, lose Blattsammlung.
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Ein entsprechend lautender CDU-Antrag wurde im Anschluss in den Sächsischen Landtag eingebracht: »Der Landtag wolle beschließen, die Staatsregierung zu ersuchen, in der JVA Bautzen eine Gedenkstätte für die Opfer des Kommunismus und Sozialismus einzurichten. Sie soll sowohl als Ort des Gedenkens als auch als Museum und Begegnungsstätte dienen.«124 Der Antrag appellierte an die Abgeordneten, es bestehe höchste Dringlichkeit der zwischen 1945-1949 getöteten 16.700 Menschen und der Haftopfer, die bis 1989 unter menschenunwürdigen, Folter gleichen Umständen eingesessen hätten, erinnern zu müssen: »Die Leiden der Opfer und die Verbrecher dürfen nicht vergessen werden!«125 Zum Gedenkort präzisierte er, man solle verschiedene Räume von »Bautzen II« in den Ursprungszustand zurückversetzen, »[…] um so ein ungeschöntes Abbild der damaligen Wirklichkeit des Grauens zu geben«.126 Andere Räume wiederum seien museal entsprechend aufzubereiten, damit Schüler und Studenten, Einzelbesucher und Gruppen aus der Vergangenheit lernen könnten. Die Archive der Gefängnisse sollten zur wissenschaftlichen Aufarbeitung geöffnet und Tagungsräume hergerichtet werden, um in »Bautzen II« in eine »Stätte des Gedenkens, der Erforschung, des Lernens und der Verhinderung von weiteren Menschenrechtsverletzungen« umzuwandeln. Hierdurch sollte »[…] ein kleiner Schritt zur Rehabilitation der Opfer Bautzens unternommen werden«, schloss der CDU-Antrag ambitioniert.127 Die Reaktion des SMJ folgte prompt. Statt in »Bautzen II« ausschließlich eine groß angelegte Gedenkstätte mit Archiv- und Museumsbetrieb zu errichten und von jeglicher Haft-Nutzung abzusehen, schlug das SMJ zunächst einen Kompromiss vor. Einer Ausstellung in einem Seitentrakt der Gefängnisses zulasten der dort geplanten »Regelhaft« stimmte das SMJ zu, baulich und organisatorisch jedoch getrennt von einem Museum müsse diese Außenstelle künftig als Untersuchungshaftanstalt weiterverwendet werden, lautete daher die vorläufige Antwort des SMJ.128 D.h., es war in einem ersten Anlauf bereit, auf die »Regelhaft bis zu zwei Jahre« zu Gunsten einer Gedenkstätte zu verzichten. Solches sei bereits unlängst in die Gesamtausbauplanung eingeflossen, erinnerte das SMJ den Sächsischen Landtag.129 Nur wenige Wochen später veranlasste das SMJ schließlich sogar eine Prüfung, ob gänzlich auf »Bautzen II« verzichtet werden könne. Im Zuge dessen forderte das SMJ im Oktober 1991 auch den Leiter der JVA auf, eine eigene Stellungnahme abzugeben.130 Ohne schon zu viele Federn lassen zu müssen, bestand also seitens des
124 Sächsischer Landtag, Drs. 1/727 vom 12.07.1991/06.08.1991, ArStSG, Bestand: 5.1 Schriftverkehr Bautzen II 1991-1995 [BZ II 1991-1995]. 125 Ebd. 126 Ebd. 127 Ebd. 128 Schreiben des SMJ an den Sächsischen Landtag, Az 1025I-IV.2-1119/91 vom 01.08.1991, ArStSG, BZ II 1991-1995. 129 Ebd. 130 Schreiben des SMJ an die JVA Bautzen, Az. 4400-IV.4325/91 vom 21.10.1991, ArJVA BZ, Bestand: Sonderband Bautzen II/Außenstelle 530 E-50 [BZ II 530 E-50].
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SMJ allmählich mehr und mehr eine Aufgeschlossenheit gegenüber einem solchen Projekt.131 Das BK wiederum nahm den CDU-Vorschlag positiv auf, statt im Hundezwinger auf dem Karnickelberg in der JVA »Bautzen II« eine Gedenkstätte zu errichten. Ab Ende des Jahres 1991 plante das BK daher anstelle eines Dokumentationszentrums eine kleine Kapelle mit einer Gräberanlage zu errichten. Im Einvernehmen mit den Vorschlägen der CDU sollte sich dieses Ensemble auf dem Karnickelberg dann aber nur noch auf die Zeit 1945-1956 und auf das »Gelbe Elend« beschränken und sich so von einer Gedenkstätte in der JVA »Bautzen II« abgrenzen.132 Das BK schloss somit eine Entweder-oder-Lösung aus, und zog mittlerweile eher eine Sowohl-als-auch-Lösung in Betracht. Das Erinnern, Gedenken und Aufarbeiten sollte nicht entweder nur auf dem Karnickelberg oder nur in der JVA »Bautzen II«, sondern sowohl auf dem Karnickelberg also auch in der JVA »Bautzen II« stattfinden. Diesen Vorstellungen verlieh das BK auch bei einem Besuch des Bundeskanzlers Helmut Kohl am 21. Februar 1992 in Bautzen Ausdruck. Während der Leiter der JVA Bautzen in seiner Rede dem Bundeskanzler gegenüber den offenen Strafvollzug pries und für eine »Bewältigung« der Bautzener Gefängnisgeschichte, d.h. für einen Neuanfang und für die Rehabilitierung seiner Bediensteten warb, nutzte das BK die Gelegenheit, dem Bundeskanzler seine prinzipielle Hilfe beim Bau einer Gedenkanlage auf dem Karnickelberg abzuringen.133 Der Kanzler versprach sein Engagement für den Bau einer Kapelle an dortiger Stelle.134 »Gegenüber dem Bautzen-Komitee […] sagte der Bundeskanzler seine Unterstützung zu, an diesem Ort, wo eines der größten Massengräber der deutschen Nachkriegsgeschichte vermutet wird, eine nationale Gedenkstätte zu errichten«, berichtete tags drauf die Sächsische Zeitung.135 Im Unterschied zum SMJ und zum BK lehnte der Leiter der JVA die Umwandlung seiner Außenstelle in eine Gedenkstätte grundlegend ab. Er empfahl stattdessen:
131 Rasch, Johannes: »Kastaniensammeln im Gefängnishof«, in: Die Union vom 17.10.1991, ArJVA BZ, lose Blattsammlung. 132 Bautzen-Komitee: Protokoll der Jahreshauptversammlung am 30.11.1991, PrBvH, Mitgliederinformation II. 133 JVA Bautzen: Besuch des Bundeskanzlers am 21.02.1992 in der Justizvollzugsanstalt Bautzen – Ansprache des Leiters der JVA Bautzen, ArJVA BZ, lose Blattsammlung; Zum Besuch des Kanzlers und weiterer Forderungen des BK siehe u.a.a. o.V.: »Der Kanzler in Bautzen«, in: Sächsische Zeitung vom 21.02.1992, ArGBZ, HP, 1991-2002; Moschke, Bernd: »Bundeskanzler besucht Haftanstalt in Bautzen«, in: Dresdner Neueste Nachrichten vom 22./23.02.1992, ArJVA BZ, lose Blattsammlung, Moschke, Bernd: »Helmut Kohl zeigte sich erschüttert«, in: Dresdner Neueste Nachrichten vom 22./23.02.1992, ArJVA BZ, lose Blattsammlung. 134 Bautzen-Komitee: Schreiben an die Mitglieder vom 22.04.1992, PrBvH, Mitgliederinformation II. 135 Uwe H. z.n. Schade, Thomas: »Kohl: Bautzen ist Symbol für SED-Unrecht«, in: Sächsische Zeitung vom 22./23.02.1992, ArJVA BZ, lose Blattsammlung.
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»Als künftige Nutzung schlage ich den offenen Strafvollzug für erwachsene männliche Gefangene vor. Dazu sollten alle Baulichkeiten außer dem Haupthaus abgerissen werden. […] Der gesamte Komplex […] würde den Eindruck einer aufgeschlossenen, dem Menschen zugewandten und bürgernahen Justiz vermitteln. […] Der Gedanke einer Nutzung der Außenstelle als Gedenkstätte ist zwar grundsätzlich zu begrüßen. Die in diesem Zusammenhang erforderlichen Räumlichkeiten sind jedoch derzeit nicht vorhanden und können auch nur schwerlich geschaffen werden.«136
Eine Gedenkstätte in »Bautzen II« schloss er also gänzlich aus, stand diese Idee doch seinen eigenen Plänen über einen modernen offenen Strafvollzug in »Bautzen II« entgegen. Und um hierfür Tatsachen zu schaffen, beauftragte der Leiter Burkhard J. gleich zu Beginn des Jahres 1992 seine Mitarbeiter der JVA mit der »Entrümpelung der Anstalt« und der Übernahme von Beständen der Außenstelle ins Haupthaus »Bautzen I«.137 Eine Dienstanweisung durch das SMJ lag hierfür nicht vor, entschied das SMJ doch erst Ende März über die Zukunft der JVA »Bautzen II« und hielt sie sich bis dahin alle Optionen offen.138 Von Januar 1992 an wurde die Außenstelle also allein im Auftrag des JVALeiters geräumt und Stück für Stück in einen »besenreinen« Zustand versetzt. Den Plänen der CDU und den Vorstellungen des SMJ zum Trotz, kündigte der Leiter der JVA dem Staatsminister Heitmann nur vier Tage nach dem Besuch des Bundeskanzlers schließlich die abschließende Räumung der Außenstelle JVA »Bautzen II« an: »Ich beabsichtige, vorbehaltlich einer gegenteiligen Weisung, erforderliches und geeignetes Mobiliar in den nächsten Wochen in die Hauptanstalt umzulagern. Des Weiteren habe ich vor, die sicherheitsrelevanten Einrichtungen im erforderlichen Umfang zu demontieren […].«139 Die hierfür vom Dienst freigestellten Mitarbeiter der JVA konnten eigenständig entscheiden, welche der Bestände von der JVA Bautzen übernommen und welche innerhalb von 24 Stunden zur Deponie abtransportiert werden sollten.140 JVA-intern rief der Verwaltungsdienstleiter die Mitarbeiter zudem dazu auf, geeignete Entrümpelungs- und Weiterverwendungsvorschläge zu unterbreiten.141
136 Schreiben der JVA Bautzen an das SMJ vom 08.11.1991, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50. 137 JVA Bautzen: Maßnahmeplan zur Absicherung des Kesselhauses der Außenstelle vom 02.01.1992, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50; JVA Bautzen: Maßnahmeplan zur Übernahme der Bibliothek vom 03.01.1992, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50. 138 Ballon, Falko: »Noch herrscht in Bautzen noch die Ruhe vor dem Sturm«, in: Berliner Zeitung vom 04.02.1992, ArGBZ, HP, 1991-2002, Ballon, Falko: »Der Bautzener Strafvollzug braucht keine Etagenkellner«, in: Leipziger Volkszeitung vom 04.02.1992, ArGBZ, HP, 1991-2002. 139 Schreiben der JVA Bautzen an das SMJ Staatsminister Heitmann vom 25.02.1992, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50. 140 JVA Bautzen: Maßnahmeplan zur ordnungsgemäßen Beräumung der Außenstelle vom 15.01.1992, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50. 141 Schreiben des JVA Bautzen Verwaltungsdienstleiter vom 28.04.1992, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50.
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Ob bei der Entrümpelung das Kriterium »für Museumszwecke erhaltenswert« eine Rolle spielte, oder vielmehr nur das eingelagert wurde, was für einen späteren Gebrauch der JVA »Bautzen I« von Nutzen sein konnte, kann anhand der Quellenlage nicht abschließend beurteilt werden. Realistisch erscheint aber, dass die mit der Räumung beauftragten Mitarbeiter der JVA damit grundsätzlich überfordert gewesen wären, darüber zu entscheiden, was für eine Gedenkstätte bewahrenswert gewesen wäre oder nicht. Auch wurden in Frage kommende Sachverständige bzw. Mitglieder des BK nicht vorab von der Entrümpelungsaktion unterrichtet oder gar hinzugezogen. Das Spektrum der Bestände, die entweder in der JVA »Bautzen I« eingelagert oder vernichtet wurden, reichte daher von Sport- und Freizeitgeräten bis hin zu Nachrichten- und Fernmeldetechnik. Eine Einlagerung zum Zwecke einer späteren Gedenkstättennutzung ist nach Quellenlage eher nicht der Fall gewesen. Und als das SMJ im März 1992 im Sinne eines dort einzurichtenden Museums die Entscheidung traf, nun doch von einer Weiternutzung von Teilen der Außenstelle als U-Haft oder ähnliches vollends abzusehen, unterrichtete der Leiter der JVA Bautzen das Staatliche Liegenschaftsamt: »Alle Einrichtungsgegenstände und Sicherungsanlagen, die für unsere Zwecke noch einsetzbar sind, werden in absehbarer Zeit in die Hauptanstalt übernommen.«142 Die Demontage durch Mitarbeiter der JVA war unverzüglich und gründlich beendet worden. Unterdessen nahmen die Aufarbeitungsbemühungen des BK auf dem Karnickelberg neue Formen an. Motiviert vom Kanzlerbesuch wurde ab April 1992 nun eine systematische Grabung am Karnickelberg, mit Unterstützung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge (VDK), in Angriff genommen.143 Eine erste Einschätzung des VDK bestätigte, dass die Massengräber wenn, dann auf dem Gebiet auf dem Karnickelberg zu finden seien. Eine Bergung der noch vorhandenen Leichen wurde als möglich eingestuft.144 Die Kostenübernahme hierfür in Höhe von 50.000 DM wurde vom Sächsischen Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit zugesagt.145 Von der Bundeswehr wurde abermals das Gerät bereitgestellt.146 Am 15. September 1992 begann die groß angelegte Grabung.147 »Wenn wir
142 Schreiben der JVA Bautzen an das Staatliche Liegenschaftsamt Dresden vom 26.03.1992, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50. 143 Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge: Bericht über Beratung und Hilfeleistungen für die Suchgrabungen nach Gräbern im Bereich der ehemaligen Haftanstalt Bautzen vom 05.04.1992, ArGBZ, GKD. 144 Ebd., S. 4. 145 Ebd., S. 6; Bautzen-Komitee: Schreiben an die Mitglieder vom 22.04.1992, PrBvH, Mitgliederinformation II. 146 Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge: Bericht über Beratung und Hilfeleistungen vom 05.04.1992, ArGBZ, GKD, S. 5; Mickisch, Jürgen: »Tausende Tote spurlos weg?«, in: Sächsische Zeitung vom 14.08.1992, ArGBZ, HP, 1991-2002; o.V.: »In Bautzen beginnt die Suchen nach Massengräbern«, in: Freie Presse vom 18.08.1992, ArGBZ, HP, 1991-2002. 147 Mickisch, Jürgen: »Die ersten Funde am Karnickelberg«, in: Sächsische Zeitung vom 16.09.1992, ArGBZ, HP, 1991-2002/ArJVA BZ, Bestand: 127 E 68-134, Band 2 [127 E].
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sie nicht suchen und finden, wäre das Verrat an unseren toten Kameraden«, kommentierten BK-Mitglieder den Grabungsauftakt.148 Dass es – nach den wenigen Leichenfunden im Juni 1990 – hierbei aber auch um Legitimationsfragen ging, nämlich um Antworten auf die Fragen, wer hier wo, wem, auf welche Weise und vor allem auf welcher Grundlage erinnern »darf«, stellte weiterhin eine wichtige Motivation für das BK und die ehemaligen Häftlinge des Speziallagers dar. So handelte es sich im Grunde genommen um das »Beweisen« der kommunistischen Unrechtstaten, um das Untermauern von erlebter Geschichte und um das Ausräumen letzter Zweifel an den Erinnerungen der Zeitzeugen.149 Entsprechend wurde der Fund weiterer Skelette, bei allem Respekt vor den Toten, als späte Vergewisserung der eigenen Geschichte und als stichhaltiger Beweis für die Richtigkeit der eigenen Geschichtsbilder und -narrative betrachtet. Am 24. September 1992 stießen Bundeswehrsoldaten auf weitere sieben Skelette sowie auf ein Schützengraben-System, in dem im Verlauf der Grabung bis zum 30. September insgesamt 50 Leichen geborgen werden konnten.150 Der Staatsministers für Soziales, Gesundheit und Familie, Hans Geisler, genehmigte nach seinem Besuch der Grabungsstätte am 02. Oktober 1992 daraufhin das Fortführen der Grabungen sowie weitere 50.000 DM.151 Bis zum 22. Oktober konnten so insgesamt 176 Skelette aufgespürt und in der Kapelle St. Marien-Friedhof in Bautzen umgebettet werden, bis zur Errichtung einer würdigen Gräberstätte auf dem Karnickelberg.152 Anhand der Funde ließ sich rekonstruieren, dass die meisten Toten zum Todeszeitpunkt wohl größtenteils fortgeschrittenen Alters gewesen waren und sie nicht durch äußere Gewalteinwirkung, sondern ausschließlich durch Mangel- und Unterernährung sowie Krankheiten zwischen 1945 und 1950 gestorben sein mussten.153
148 Ebd. 149 Siehe zu dieser Problematik auch Wallbaum, Klaus: »Die Grabungen decken Bautzens Geheimnis auf«, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 19.09.1992, ArGBZ, HP, 1991-2002; Schmitt, Eberhard: »Bebaute Flächen erschweren die suche nach Massengräbern«, in: Sächsische Zeitung vom 19./20.09.1992, ArJVA BZ, 127 E; o.V.: »Fünf Menschen, die ihre Vergangenheit suchen«, in: Bild am Sonntag vom 20.09.1992, ArJVA Bz, 127 E. 150 Mickisch, Jürgen: »Erste Funde im ehemaligen NKWD-Lager Bautzen«, in: Sächsische Zeitung vom 25.09.1992, ArJVA Bz, 127 E; o.V.: »Erstes Massengrab bei Bautzen wurde entdeckt«, in: Sächsische Zeitung vom 30.09.1992, ArJVA Bz, 127 E; Schmitt, Eberhard: »Betroffenheit auf dem Karnickelberg«, in: Bautzener Bote vom 02.10.1992, ArGBZ, HP, Anhang I; Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge: Grabungsbericht Suchgrabungen Bautzen Bundeswehr – Einsatz Bautzen 14.09.-30.10.1992 vom 04.12.1992, ArGBZ, GKD. 151 Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge: Vermerk vom 05.10.1992, ArGBZ, GKD; Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge: Grabungsbericht vom 04.12.1992, S. 3, ArGBZ, GKD. 152 Ebd. 153 Ebd., S. 5.
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Zur Errichtung und Unterhaltung einer Kapelle, einer Gräberanlage und eines Dokumentationszentrums bzw. einer Gedenkstätte schlug das BK dem Freistaat Sachsen parallel zu den Aprilgrabungen vor, eine Landesstiftung zu gründen. Eine solche Stiftung, so die Idee des BK, sollte neben der Trägerschaft einer geplanten, nationalen Gedenkstätte auf dem Karnickelberg bzw. in »Bautzen II« auch andere, landesweite Gedenkstätten gestalten und unterhalten, ähnlich der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten.154 Eine »Sächsische Gedenkstättenstiftung« sollte ins Leben gerufen werden, um vor allem für die Bautzener Einrichtungen eine langfristige Trägerstruktur zu bieten. Als Hauptsitz der Gedenkstättenstiftung des Freistaates Sachsen wurde »Bautzen II« vorgeschlagen.155 Daneben schlug das Bautzen Komitee dem Freistaat Sachsen auch die Errichtung eines Forschungsinstitutes zur Untersuchung totalitärer Strukturen an der Universität Dresden vor, das ebenfalls eine Außenstelle in »Bautzen II« erhalten sollte.156 Damit waren erstmals und in engstem Zusammenhang mit der Schaffung eines Gedenkortes zur Erinnerung der Opfer des »Gelben Elends« und zur Planung eines Museums in »Bautzen II« sowohl die Idee einer Stiftung Sächsische Gedenkstätten (StSG) als auch die Idee einer Anbindung Bautzens an ein Forschungsinstitut (wie das spätere HAIT) geboren. An den Sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf schrieb der Vorsitzende des BK daher: »In diesem Zusammenhang erlauben wir uns, die Anregung zu geben, in Sachsen eine Gesamtregelung für die Einrichtung von Gedenkstätten für die Opfer politischer Gewaltherrschaft sowie von entsprechenden Dokumentationszentren zu schaffen. […] Aus Sicht des Bautzen-Komitees ist […] einer Stiftungsregelung der Vorzug zu geben, […] sie würde auch eine Beteiligung des Bundes und anderer Institutionen als Rechtsträger ermöglichen. Die grundsätzliche Bereitschaft des Bundes zur finanziellen Unterstützung der Errichtung einer Gedenkkapelle auf dem Karnickelberg hat der Bundeskanzler bei seinem Besuch in Bautzen zum Ausdruck gebracht.«157
Durchschriften dieses Schreibens gingen an den Staatsminister der Justiz, Heitmann, an den Staatsminister für Wissenschaft und Kunst, Hans-Joachim Meyer, sowie an den Staatsminister für Soziales, Gesundheit und Familie, Geisler. Bei einem Erinnerungsschreiben im Juli 1992 an Meyer insistierte das BK darüber hinaus, man möge doch aufgrund der Haushaltsverhandlungen des Bundes für 1993 unverzüglich Gespräche aufnehmen mit dem Bundesinnenministerium, um vorsorg-
154 Bautzen-Komitee: Schreiben an die Mitglieder vom 22.04.1992, PrBvH, Mitgliederinformation II. 155 Schreiben des Bautzen-Komitees Benno von Heynitz an den Freistaat Sachsen Ministerpräsident Kurt Biedenkopf vom 29.04.1992, ArGBZ, HP, Anhang I. 156 Bautzen-Komitee: Protokoll der Jahreshauptversammlung am 10.10.1992, ArBK, Veranstaltungen II. 157 Schreiben des Bautzen-Komitees Benno von Heynitz an den Freistaat Sachsen Ministerpräsident Kurt Biedenkopf vom 29.04.1992, ArGBZ, HP, Anhang I.
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lich Anlaufmittel für das Vorhaben einstellen zu können, habe doch sogar der Bundeskanzler auf eine baldige Realisierung des Projektes bestanden.158 Die sächsische Staatskanzlei nahm diese Anregungen des BK auf und beauftragte in seiner Sitzung vom 09. Juni 1992 das Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst (SMWK) mit der Gründung eines landesweit zuständigen »Sächsischen Komitees für nationale Gedenkstätten«. Inhaltlich und begrifflich orientierte sich die Staatskanzlei dabei vollständig an den Vorstellungen des BK. So sollte laut Schreiben des Ministerpräsidenten Biedenkopf eine Erarbeitung eins Gesamtkonzeptes für die auf dem Boden des Freistaates Sachsen befindlichen oder einzurichtenden nationalen Gedenkstätten Gegenstand eines solchen »Komitees« sein.159 Auch wurde das SMWK gebeten zu prüfen, inwiefern in »Bautzen II« hierfür Räume zur Verfügung gestellt werden könnten.160 Des Weiteren sollten in dieses »Sächsische Komitee für nationale Gedenkstätten« Vertreter des Staatsministeriums des Innern, für Soziales, Gesundheit und Familie, Vertreter des SMWK sowie Vertreter der Landeszentrale für politische Bildung und freie Träger berufen werden.161 »Sollten Sie konkrete Vorstellungen zur personellen Besetzung des Komitees haben, wäre ich sehr dankbar, wenn Sie diese gegenüber Herrn Staatsminister Prof. Dr. Meyer äußern würden«, schloss das Antwortschreiben des Ministerpräsidenten an den Vorsitzenden des BK.162 Da die Bundeszusage nur über den Bau einer Gedenkkapelle mit Gräberstätte gewiss schien, und die ehemalige StVE II als Außenstelle der JVA Bautzen definitiv ab Frühjahr 1992 nicht mehr vom SMJ genutzt wurde, forcierte das BK jetzt den Gedanken, statt auf dem Karnickelberg, nun ausschließlich an dieser Stelle ein geeignetes Dokumentationszentrum unterzubringen.163 Aus den Reihen der BKMitglieder bildete sich (unter der Federführung von Ehrhard G.) eine Sachverständigengruppe, deren Aufgabe es war, ein Konzept für eine Gedenkstätte bzw. ein Dokumentationszentrum in »Bautzen II« zu erstellen. Der Gruppe gehörten vor allem ehemalige Bautzen-II-Häftlinge an, die »durch einen mutigen Schritt […] ihr aktives Mitwirken an der Vergangenheitsbewältigung und zu einem NEUEN BAUTZEN-Bild [Herv. i.O.]«, bekundeten wollten.164
158 Schreiben des Bautzen-Komitees an das SMWK Staatsminister Meyer vom 17.07.1992, ArStSG, BZ II 1991-1995. 159 Schreiben des Freistaates Sachsen Ministerpräsident Kurt Biedenkopf an das BautzenKomitee vom 17.07.1992, ArStSG, BZ II 1991-1995. 160 Schreiben der Sächsischen Staatskanzlei an das SMWK vom 17.07.1992, ArStSG, BZ II 1991-1995. 161 Schreiben der Sächsischen Staatskanzlei an das Staatsministerium für Soziales, Gesundheit und Familie vom 17.07.1992, ArStSG, BZ II 1991-1995. 162 Schreiben des Freistaates Sachsen Ministerpräsident Kurt Biedenkopf an das BautzenKomitee vom 17.07.1992, ArStSG, BZ II 1991-1995. 163 Bautzen-Komitee: Die Stellung des Bautzen-Komitee e.V. zum aktiven Justizvollzug vom 03.06.1992, ArBK, Bestand: Veranstaltungen II 1992. 164 Bautzen-Komitee: Ehemalige Sonderhaftanstalt des MfS Bautzen wird Menschenrechtsmuseum vom 30.10.1992, S. 1, ArStSG, BZ II 1991-1995.
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Im Sommer 1992 legte die Sachverständigengruppe ein erstes Gedenkstättenkonzept vor. Es wurde am 13. August 1992 dem SMJ übergeben. Das SMJ stand dieser Konzeption, lag sie doch inzwischen auch auf eigener Linie, grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber.165 Die Verfasser der Museumskonzeption, Ehrhard G., Horst Sch. und Hossein Y. empfahlen darin eine Umwandlung der MfS-Haftanstalt »Bautzen II« in ein Menschenrechtsmuseum. Alle Um- und Neubauten des MfS sollten hierzu bis auf die innerste ursprüngliche Mauer abgerissen werden und die Freifläche als Parkanlage für die Bautzener Bevölkerung nutzbar gemacht werden. Lediglich das Haupthaus sollte stehen bleiben. Hier sollten auf 1-3 Etagen Zellen entsprechend der unterschiedlichen Belegungsperioden nachgebildet werden, die Isolations- und Arrestzellen im Westflügel des Gebäudes sollten im Original erhalten werden.166 Die übrigen Räume bzw. Etagen wurden zur Weiternutzung anderer Organisationen, der Stadtverwaltung, der Landesregierung usw. z.B. für Archive oder Verwaltung vorgeschlagen.167 Neben der Darstellung der Haftbedingungen in Bautzen zwischen 19451989, sollten aber auch andere Sächsische Haftanstalten in »Bautzen II« dokumentiert werden, wie z.B. Görlitz, Waldheim, Hoheneck. »Bautzen II« sollte stellvertretend für politische Haft zwischen 1945-1989 stehen.168 Daneben sah das Museumskonzept eine Ausstellung über »einen künftig vorbildlichen Strafvollzug in Bautzen« vor.169 D.h., der in der BRD nach 1990 praktizierte bzw. aktuelle Strafvollzug sollte ebenfalls Bestandteil des Museums werden. »Bautzen II sollte Typisches im Museum zeigen, denn nicht jede Hafteinrichtung kann Museum werden«, hieß es hierzu bei der BKJahreshauptversammlung.170 Dass es aber bei dieser Gegenüberstellung auch darum ging, den DDR-Strafvollzug als besonders menschenunwürdig gegenüber dem modernen Strafvollzug im wiedervereinten Deutschland darzustellen, lag nahe. Ein Finanzierungs- und Stellenplan wurde im Oktober 1992 nachgereicht. Der Finanzierungsplan rechnete mit Errichtungskosten in Höhe von bis zu 329.000 DM, von denen ca. 84.000 DM durch Eigenmittel des BK bestritten werden sollten.171 Das BK ersuchte daher das SMJ um Übernahme der verbleibenden Kosten in Höhe von ca. 245.000 DM als Anschubfinanzierung, ggf. sogar um Berücksichtigung beim Stellenplan des SMJ, gab das Konzept alternativ nur den Rückgriff auf ABM-Stellen her.172 Eine personalpolitische Anbindung der Gedenkstätte an das SMJ wies es zurück und bot es stattdessen an, für das Museum nötige Einrichtungsgegenstände in
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Schreiben des SMJ an JVA Bautzen vom 19.08.1992, ArStSG, BZ II 1991-1995. Ebd., S. 2. Ebd., S. 3. Ebd., S. 2; Moschke, Bernd: »Menschenrechtsmuseum im ›Elend‹«, in: Dresdner Neueste Nachrichten vom 14.08.1992, ArStSG, BZ II 1991-1995. Bautzen-Komitee: Ehemalige Sonderhaftanstalt vom 30.10.1992, S. 2, ArStSG, BZ II 1991-1995. Bautzen-Komitee: Protokoll der Jahreshauptversammlung am 10.10.1992, ArBK, Veranstaltungen II. Bautzen-Komitee: Ehemalige Sonderhaftanstalt vom 30.10.1992, S. A1, ArStSG, BZ II 1991-1995. Ebd., S. A2.
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den gefängniseigenen Betrieben anfertigen zu lassen, »[…]. Das SMJ sagte bei der Umsetzung des Vorhabens seine Hilfe zu, soweit ihm eine solche möglich sei«, unterrichtete das SMJ die JVA »Bautzen I«.173 In gewisser Weise schlug das SMJ also vor, zumindest für die Schäden und Verluste aufzukommen, die aufgrund der Räumung wenige Monate zuvor entstanden waren. Obwohl auf Regierungsseite inzwischen weitgehender Konsens darüber bestand, dass in »Bautzen II« eine Erinnerungsstätte entstehen müsse, tauchte Mitte Oktober 1992 das Gerücht auf, die ehemalige Haftanstalt werde unter Federführung des Liegenschaftsamtes in ein modernes Großraumbüro umgewandelt, hierfür stünden sogar zehn Millionen DM bereit. Das BK protestierte umgehend und bat Meyer und Biedenkopf, dieses Vorhaben sofort zu verhindern. »Der beabsichtigte Umbau käme einer Verhöhnung der Stasi-Opfer gleich. Eine offizielle Beseitigung von Stasi Stätten des Grauens und jahrzehntelanger Verletzung der Menschenrechte darf es nicht geben«, appellierte es an die Meyer und Biedenkopf.174 Beide wurden aufgefordert, sich aufgrund der Großraum-Büro-Planung jetzt erst Recht für die Errichtung eines Menschenrechtsmuseum einzusetzen.175 Parallel erzeugte die »Sachverständigengruppe Bautzen II« des BK zur Abwendung der Büro-Pläne über eine Pressekampagne für öffentlichen Gegendruck. So berichterstatteten anlässlich des 09. November-Jahrestages diverse landesweite Zeitungen über den »Großraum-Büro-Skandal«.176 Auf diese Weise kam erstmals eine breite öffentliche Debatte über die sächsische Gedenkstättensituation in Gang, die am Ende nicht nur den Regierungsbeschluss zur Museumserrichtung in »Bautzen II« zur Folge hatte, sondern auch die Gründung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten per Kabinettsdekret, d.h. »von ganz oben«. Welche erinnerungs- politische Ereigniskette die öffentlichkeitswirksame Pressekampagne des BK nach sich zog und wie der gedenkstättenpolitische Diskurs in den Folgemonaten genau verlief, wird im nächsten Kapitel genauer nachgezeichnet.
173 Schreiben des SMJ an JVA Bautzen vom 19.08.1992, ArStSG, BZ II 1991-1995. 174 Schreiben des Bautzen-Komitees an das SMWK Staatsminister Meyer vom 30.10.1992, ArStSG, BZ II 1991-1995; o.V.: »Stasi-Knast wird Büro«, in: Taz vom 10.11.1992. 175 Schreiben des Bautzen-Komitees an das SMWK Staatsminister Meyer vom 30.10.1992, ArStSG, BZ II 1991-1995. 176 Wagner, Steffen: »Von ›Mielkes Privatknast‹ zum modernen Großraumbüro«, in: Sächsische Zeitung vom 11.11.1992, ArJVA BZ, 127 E; Schütze, Wolfgang: »Ex-StasiKnast als Großraumbüro«, in: Sächsische Zeitung vom 12.11.1992, ArJVA BZ, 127 E; Schütze, Wolfgang: »Kleine Zelle, großes Büro?«, in: Sächsische Zeitung vom 12.11.1992, ArJVA BZ, 127 E; Tausch, Frank: »Entwürdigendes Tauziehen um Gedenkstätten und Bürosessel«, in: Sächsische Zeitung vom 19.11.1992, ArGBZ, HP, Anhang I.
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3.3 S ÄCHSISCHE G EDENKSTÄTTENPOLITIK 1992-1994 Alarmiert von der Presse machten sich nun die Fraktionen der Bündnisgrünen und der SPD des Sächsischen Landtages für eine konkrete Museumslösung auf politischem Wege stark. Bereits am 12. November 1992 brachten die Bündnisgrünen hierzu einen Antrag ins Parlament ein, der die staatliche Errichtung einer Gedenkstätte für die Opfer politischer Justiz in Bautzen einforderte und das Kabinett dazu aufrief, alternative Ideen ad acta zu legen: »Die Staatsregierung wird ersucht, die ehemalige Sonderhaftanstalt des MfS ›Bautzen II‹ in eine Mahn- und Gedenkstätte umzuwandeln. […] Die Staatsregierung wird ersucht, die Pläne des Staatlichen Liegenschaftsamtes, das Gelände in ein Bürohaus umzuwandeln, sofort rückgängig zu machen.«177 Zudem bat die Bündnisgrünen-Fraktion darum, bei der Realisierung der Mahn- und Gedenkstätte auch das BK mit einzubeziehen.178 Analog dem Antrag der Bündnisgrünen brachte auch die SPD-Fraktion einen Antrag in den Sächsischen Landtag ein, der die Staatsregierung aufforderte, den Ausbau der JVA in eine »Gedenkstätte für die Opfer des Stalinismus und der DDRDiktatur« als Museum, als Begegnungsstätte und als Forschungszentrum umzusetzen.179 Die SPD-Fraktion appellierte an die Regierung, sie solle endlich detaillierte Vorschläge erarbeiten, sei das Vorhaben durch den CDU-Antrag 1/727 bereits längst entschieden und gäbe es Befürchtungen, die MfS-Sonderhaftanstalt werde zu einem »Bürohaus« umgebaut.180 Der kulturpolitische Sprecher D. resümierte, die Alternativnutzungskonzepte zur JVA »Bautzen II« seien wohl in erster Linie ein politischer Skandal.181 Wenige Tage später begegnete der Staatsminister der Finanzen, Georg Milbradt den Vorwürfen, etwaige Überlegungen, in Teilen von »Bautzen II« Verwaltungen bzw. Büros des Oberlandesgerichtes unterzubringen, seien schon längst wieder verworfen worden und die Befürchtungen des BK seien daher völlig unbegründet.182 Tatsächlich aber wurden die Büropläne erst bei einer Besprechung mit dem SMJ Anfang Dezember in Vorbereitung auf die Beantwortung der beiden Fraktionsanträge begraben und wurde an einer Umnutzung der Räumlichkeiten als Gerichtsarchiv weiter festgehalten, stand dies doch nicht im Widerspruch zum MenschenrechtsmuseumsKonzept, das eine solche Parallelnutzung prinzipiell einschloss.183 Entsprechend antwortete der Staatsminister auf den Antrag der Bündnisgrünen:
177 Schreiben der Fraktion der Bündnisgrünen an das Bautzen-Komitee vom 26.11.1992, ArGBZ, HP, Anhang I; Sächsischer Landtag, Drs. 1/2503 vom 12.11.1992, PASächsLt. 178 Ebd. 179 Sächsischer Landtag, Drs. 1/2511 vom 11.11.1992, PASächsLt. 180 Ebd. 181 Schütze, Wolfgang: »Kleine Zelle, großes Büro?«, in: Sächsische Zeitung vom 12.11.1992, ArJVA BZ, 127 E. 182 Tausch, Frank: »Entwürdigendes Tauziehen«, in: Sächsische Zeitung vom 19.11.1992, ArGBZ, HP, Anhang I. 183 Sächsisches Staatsministerium der Justiz: Vermerk vom 07.12.1992, ArStSG, BZ II 1991-1995.
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»Anders lautende Presseberichte, die besagen, die Liegenschaftsverwaltung wolle die früheren Hafträume im Gefängnistrakt vollständig in Büroräume umwandeln, entbehren einer sachlichen Grundlage und sind unzutreffend. […] Das Sächsische Staatsministerium der Finanzen steht der Absicht, in dem ehemaligen Gefängnistrakt in ›Bautzen II‹ eine Gedenkstätte sowie ein Museum und Tagungsräume einzurichten, positiv gegenüber. Das Gebäude mit dem ehemaligen Gefängnistrakt bleibt im erforderlichen Umfang für diese Zwecke reserviert. Die Trägerschaft einer solchen Gedenkstätte sollte bei einem geeigneten Verein liegen. Demnächst werden erste Gespräche mit dem BK e.V. über die Realisierung eines solchen Konzeptes stattfinden. Ferner wird der Staatsminister für Wissenschaft und Kunst ein Kuratorium […] bilden, welches dann entsprechende Vorschläge für eine Kabinettsentscheidung unterbreiten wird.«184
Damit war nicht nur entschieden, dass eine Gedenkstätte kommen würde, sondern es wurde auch empfohlen, auf welche Weise dies zu geschehen habe, nämlich per Kabinettserlass und ohne parlamentarische Partizipation, d.h., auf direkte Regierungsweisung hin. Zwar erging durch den Verfassungs- und Rechtsausschuss des Sächsischen Landtages noch die Beschlussempfehlung, die Staatsregierung möge unter der Federführung des SMWK eine Arbeitsgruppe für die Konzeption einer »Gedenkstätte Bautzen II«, eine ABM-Stelle für einen Historiker vor Ort sowie eine Kommission für die Erarbeitung von Empfehlungen für eine Sächsische Gedenkstättenstiftung einberufen, tatsächlich hatten diese Beschlussempfehlungen jedoch nur geringe Wirkung.185 Es folgte kein parlamentarisches Abstimmungsverfahren im eigentlichen Sinne. Auch wurde die geforderte Arbeitsgruppe nie einberufen. Die CDUFraktion erreichte – vor allem gegen den Willen der SPD-Fraktion und der Bündnisgrünen –, dass es sich bei der Gedenkstätte nicht um eine »Gedenkstätte der Opfer politischer Justiz«, sondern vielmehr um eine Gedenkstätte der »Opfer kommunistischer und sozialistischer Diktatur und politischer Justiz« handeln solle.186 Tatsächlich hatte diese rein ausschussinterne geschichtspolitische Feinjustierung, die erst im Juli 1993 mit dem CDU-Vorschlag »Gedenkstätte Bautzen II« endete, nur geringen Einfluss auf den tatsächlichen erinnerungspolitischen Gang der Dinge.187
184 Schreiben des Sächsischen Staatsministeriums der Finanzen Staatsminister Milbradt an den Sächsischen Landtag vom 04.12.1992, ArStSG, BZ II 1991-1995; Siegl-Mickisch, Madeleine: »Für das Museum in Bautzen II ein Kuratorium bilden«, in: Sächsische Zeitung vom 07.01.1993, ArGBZ, HP, Anhang I. 185 Sächsischer Landtag, Drs. 1/3480 vom 03.02.1993, ArStSG, Bestand: Landtagsdrucksachen 1991-2004 [LtDrs.]. 186 Sächsischer Landtag: Drs. 1/2943 vom 15.03.1993, ArStSG, LtDrs.; Sächsischer Landtag: Bericht des Verfassungs- und Rechtsausschusses zur Drs. 1/2503 vom 05.05.1993, ArStSG, LtDrs.; Sächsischer Landtag, Drs. 1/3624 vom 16.07.1993, PASächsLt. 187 Sächsischer Landtag, Drs. 1/3642 vom 20.07.1993, PASächsLt; Husemann, Ralf: »Das ›gelbe Elend‹ soll Gedenkstätte werden – aber für was? Parteien streiten, ob an Opfer der Gewalt allgemein oder des DDR-Sozialismus im Besonderen erinnert werden soll«, in: Süddeutsche Zeitung vom 28.09.1993.
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Vielmehr ist aus der Schlussbemerkung des FDP-Berichterstatters für den Verfassungs- und Rechtsausschuss, »[…] So ist Buchenwald ein Symbol der Verbrechen des Nationalsozialismus – Bautzen II eine Gedenkstätte für kommunistische Verbrechen in Sachsen«, ableitbar, dass gerade weil CDU und FDP den historischen Ort »Bautzen II« geschichtspolitisch analog zu Buchenwald setzten, und ihn inzwischen als Symbol einer verfehlten linken Politik betrachteten, ihm auch staatspolitisch entsprechendes Regierungshandeln »von oben« zu Teil wurde.188 Haushaltspolitisch setzte die Sächsische Landesregierung nun konsequent auf das vom BK eingebrachte Trägermodell »Landesstiftung«, dass den Bund von vornherein in die Mitverantwortung für die Gedenkstätte Bautzen nahm. Durch eine Aufnahme in die Gesamtkonzeption zur Beteiligung des Bundes an den Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland, an welcher das Bundesinnenministerium zum gleichen Zeitpunkt feilte, sollte die zukünftige Gedenkstätte in der ehemaligen Haftanstalt »Bautzen II« alsbald als möglich finanziell abgesichert werden.189 Über den Weg einer frühzeitigen Stiftungsgründung des Freistaates Sachsen schien es am wahrscheinlichsten, die sich im Aufbau befindlichen Gedenkstätten in die Bundesförderung zu bekommen. Die Gründung einer Landesstiftung Sächsische Gedenkstätten geschah also von Anfang an zum einen, um ein Trägermodell für eine Gedenkstätte in Bautzen zu haben, und zum anderen, um hierfür Bundesmitteln akquirieren zu können. Entsprechend legten ranghohe Vertreter der Ministerien bei einer Ortsbegehung in »Bautzen II« noch vor Ablauf des Jahres 1992 fest, welche Bereiche von »Bautzen II« zur Gedenkstätte und welche ggf. nur zu Archivzwecken genutzt werden sollten. Auch wurden vorsorglich 50.000 DM in den SMWK-Haushalt eingestellt.190 Bei einer zweiten VorOrt-Besprechung Ende Januar 1993 wurden auch Vertreter des BK in diese Raumnutzungsplanung des SMWK und des SMJ einbezogen und entsprechende Festlegungen für die künftige Gedenkstätte getroffen.191 Ein erster Gesetzesentwurf hierzu wurde zur Beratung und Stellungnahme noch im Frühjahr 1993 vorgelegt.192 Demzufolge entwickelte die Sächsische Regierung, in Anlehnung an die
188 Sächsischer Landtag: Bericht des Verfassungs- und Rechtsausschusses zur Drs. 1/2503 vom 05.05.1993. 189 Bautzen-Komitee: Mitteilungen des Bautzen-Komitees Nr. 1/1993 vom 25.02.1993, S. 2, PrBvH, Mitgliederinformation II; Bundesministerium des Innern: Gesamtkonzeption zur Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland, Anlage zur BMF-Vorlage Nr. 173/92 vom 03.02.1993, ArStSG, Bestand: 2. Grundsätzliches Verträge, 2.1-2.2. 190 Schreiben des SMWK an das Bautzen-Komitee vom 14.12.1992, ArStSG, BZ II 19911995; Schreiben des SMJ an das Bautzen-Komitee vom 29.12.1992, ArStSG, BZ II 1991-1995. 191 O.V.: »Einigung über Bau einer Gedenkstätte in Bautzen«, in: Sächsische Zeitung vom 30.01.1993, ArGBZ, HP, Anhang I; Mayer, Thomas: »Ein Museum im Stasi-Zuchthaus«, in: Leipziger Volkszeitung vom 09.03.1993, ArGBZ, HP, Anhang I. 192 Bautzen-Komitee: Mitteilungen des Bautzen-Komitees Nr. 2/1993 vom 25.01.1993, S. 2, PrBvH, Mitgliederinformation II.
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Forderungen des BK sowie infolgedessen eine Kabinettsvorlage zur Gründung einer Landesgedenkstättenstiftung. Während sich auf höchsten Regierungsebenen die Planungen verdichteten, sah sich das BK in Bautzen grundsätzlicheren Problemen ausgeliefert. So lief die einzige ABM-Stelle Ende Mai 1993 aus und war es zwischenzeitlich zu erheblichen Gebäude- und Bestandsschäden in »Bautzen II« gekommen, für die das BK die JVA Bautzen, insbesondere seinen Leiter verantwortlich machte.193 Im März 1993 fand das BK die Haftanstalt in desolatestem Zustand vor. Räume waren unter Wasser gesetzt, Türen aufgebrochen, technische Anlagen und Leitungen (Relaisschränke, Verstärker, Lautsprecher, Wechselsprechanlagen, Bedientische usw.) aus den Wänden gerissen bzw. zerstört oder demontiert und abtransportiert.194 Die Schäden wurden als »StasiHinterlassenschaft« und bewusste »Spurenvernichtung« scharf kritisiert.195 Der Leiter der JVA Bautzen dementierte hingegen diese Vorwürfe des BK und erklärte, vermutlich habe ein Besucher beim »Tag der offenen Tür« im September 1992 einen Wasserhahn geöffnet und sei so der Wasserschaden entstanden. Die Türen wiederum seien bei Heizungsmontagen aufgebrochen und technische Anlagen von musealer Relevanz seien bereits 1989 durch MfS-Mitarbeiter entfernt worden.196 Obwohl diese Erklärungen unwahrscheinlich waren, lag z.B. der »Tag der offenen Tür« schon ein halbes Jahr zurück und hatte es zwischenzeitlich Begehungen gegeben, bei denen entsprechende Schäden und Demontagen nicht vorgefunden wurden, erhielt der Leiter der JVA Rückendeckung vom SMJ. »Es seien keinerlei Einrichtungsgegenstände entfernt worden, die typisch für eine Stasi-Haftanstalt gewesen seien«, versuchte Staatsminister Heitmann die Vorwürfe zurückzuweisen.197 Der Zustand jedoch, in dem die Anstalt sich inzwischen befand, ließ allerdings ein Tilgen und Schleifen des historischen Ortes nicht ausschließen. Der Vorstand des BK wandte sich daraufhin an politische Vertreter mit der Forderung, das SMJ müsse den ursprünglichen Zustand umgehend wiederherstellen, ansonsten drohe das BK mit den Nachrichten an eine breitere Öffentlichkeit zu gehen.198 Es lud den Rechts- und Verfassungsausschuss des Sächsischen Landtages ein, von dem es politische Unterstützung bei der Behebung der Schäden erwartete. Einzelne Abgeordnete der SPD und Bündnisgrünen-Fraktionen erfüllten die Erwartungen des BK im Rahmen eines Besuches. Öffentlichkeitswirksam verlangten sie eine offizielle Stellungnahme der Regierung zum vorgefundenen »politischen und
193 Bautzen-Komitee: Protokoll der Sitzung des Bautzen-Komitees am 13.03.1993, ArBK, Bestand: Veranstaltungen 1993 1994 194 Schreiben des Bautzen-Komitee an das MdL H. vom 15.03.1993, ArStSG, BZ II 19911995. 195 Löbbers, Heinrich: »Das alte Personal wird seine Vergangenheit nicht mehr los«, in: Sächsische Zeitung, o.D. [Frühjahr 1993], ArJVA BZ, lose Blattsammlung. 196 Schreiben der JVA Bautzen an das SMJ vom 15.03.1993, ArStSG, BZ II 1991-1995. 197 Löbbers, Heinrich: »Das alte Personal«, in: Sächsische Zeitung, o.D. [Frühjahr 1993], ArJVA BZ, lose Blattsammlung. 198 Schreiben des Bautzen-Komitee an das MdL H. vom 15.03.1993, ArStSG, BZ II 19911995, S. 2.
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historischen Vandalismus« durch »Stasi-Erfüllungsgehilfen«. Zudem forderten sie den amtierenden Justizminister auf, dem Leiter der JVA Bautzen gänzlich die Verantwortung für den Komplex »Bautzen II« zu entziehen.199 Gleichzeitig nutzten die Abgeordneten die Gelegenheit, abermals für eine Gedenkstättenlösung zu werben, denn »auch der Bundeskanzler will das so«, gab der SPD-Sprecher des Rechtsausschusses des Sächsischen Landtages preis.200 Die Anfrage der SPD-Fraktion an die Staatsregierung lautete demgemäß: »Welche konkreten Vorstellungen zur Umwandlung eines Teiles der ehemaligen MfSSonderhaftanstalt in eine Gedenkstätte für die Opfer des Stalinismus und der DDR-Diktatur hat die Sächsische Staatsregierung auf der Grundlage ihrer Bescheide auf die entsprechenden Anträge der Fraktionen von CDU, SPD und B’90/Grüne bisher entwickelt? Sind diese Vorstellungen mit der Vernichtung wesentlicher Zeugnisse der unmenschlichen Zustände im MfS-Gefängnis Bautzen II vereinbar?«201
Wenngleich auch die Antwort dieser parlamentarischen Anfrage gleichlautend war mit den Erklärungen des Leiters der JVA Bautzen, so war dennoch eine schnelle Übergabe von »Bautzen II« an das Staatliche Liegenschaftsamt und an das SMWK Ergebnis dieses Eklats.202 Um nicht für die entstandenen Schäden haften zu müssen, stieß das SMJ den Komplex schon am 19. April 1993 kurzfristig ab.203 Die Verwaltung wurde treuhändlerisch dem BK übergeben.204 Die JVA Bautzen wurde zudem angewiesen: »Gegenstände, die aus der Anstalt II im Zuge der Räumung ausgebaut wurden und noch in der Anstalt I verwahrt werden, sind dem BK auf Verlangen auszuhändigen.«205 Dies galt auch für zurückgehaltene Schlüssel.206 Mit dieser Herauslösung des Gebäudes endete schließlich und endgültig die Zuständigkeit des SMJ. Damit war die zwischenzeitlich vom SMJ, von der JVA »Bautzen I« und von der Stadt Bautzen angestrebte Weiternutzung als Untersuchungshaftanstalt, als Regelstrafvollzug oder gar offener Strafvollzug unwiderruflich gescheitert. Dennoch
199 Honnigfort, Bernhard: »Mielkes Knast ›dem Altstoffhandel zugeführt‹«, in: Frankfurter Rundschau vom 05.04.1993, ArGBZ, HP, Anhang I; o.V.: »Wichtige Zeugnisse des Stalinismus jetzt beseitigt«, in: Sächsische Zeitung vom 06.04.1993, ArGBZ, HP, Anhang I; Löbbers, Heinrich: »Schimmelpilze modern an den Spuren der Unmenschlichkeit«, in: Sächsische Zeitung vom 08.04.1993, ArGBZ, HP, Anhang I; Hübner, Ralf: »Nur leere weiße Zimmer blieben. Im Zuchthaus Bautzen II wurde aus unerklärlichen Gründen Geschichte entsorgt«, in: Neue Zeit vom 06.04.1993, PrBvH, Mitgliederinformation II. 200 Benedikt D. z.n. ebd. 201 Sächsischer Landtag, Drs. 1/3127 vom 07.04.1992, PASächsLt. 202 Schreiben des SMJ Staatsminister Heitmann an den Sächsischen Landtag vom 12.05.1993, PASächsLt. 203 JVA Bautzen: Übergabeprotokoll vom 19.04.1993, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50. 204 Schreiben der JVA Bautzen an das SMJ vom 20.04.1993, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50. 205 Schreiben des SMJ an die JVA Bautzen vom 23.04.1993, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50. 206 Schreiben der JVA Bautzen an das SMJ vom 26.04.1993, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50.
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herrschte bzgl. der tatsächlichen neuen Zweckbestimmung der Außenstelle Bautzen weiterhin Unklarheit. An Inventar, das dem Komitee zu Museumszwecken überlassen wurde, war nur wenig übrig geblieben. Es handelte sich lediglich um die Anstaltsküche mit Speiseausgabe, Mobiliar medizinischer Behandlungsräume, eine Beschallungsanlage, ein Schaltschrank einer Telefonanlage, die Zellenausstattung der Station 3, ein Notstromaggregat sowie ein Klavier auf dem Dachboden. Ansonsten war »Bautzen II«, wie bereits beschrieben, besenrein.207 Erst zu späteren Zeitpunkten wurde dem BK nachträglich noch diverses Überwachungs-, Büro- und Freizeitgerät übergeben, das die JVA Bautzen eingelagert bzw. weitergenutzt hatte und das von der »Sachverständigengruppe Bautzen II« des BK in den Folgemonaten für einen Museumsbetrieb wiederbeschafft wurde.208 Hierzu gehörten u.a. eine Kinoanlage, Kamerazubehör, Schreibmaschinen, ein Filmprojektor usw.209 Während das BK sich ab April 1993 treuhändlerisch um »Bautzen II« kümmerte, nach zukünftigen Museumsbeständen recherchierte sowie erste Sammlungen aufbaute und in diesen Zusammenhängen auch die eigene Konzeption weiterentwickelte,210 empfahl das SMWK die zukünftige Gedenkstättenstiftung und die Gedenkstätte in Bautzen an das frisch gegründete Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (HAIT) anzubinden.211 Demzufolge beauftragte das SMWK im Rahmen einer Beratung am 23. Juni 1993 das HAIT eine vom BK weitgehend unabhängige Nutzungs- bzw. Gedenkstättenkonzeption für die Gedenkstätte Bautzen zu erarbeiten, die fortan Grundlage weiterer politischer Entscheidungen sein sollte. Bisherige Vorarbeiten des BK sollten einer wissenschaftlichen Überprüfung und Weiterentwicklung unterzogen werden.212 Des Weiteren wurde das HAIT damit be-
207 Staatliches Liegenschaftsamt Dresden: Protokoll über die Übernahme der Justizvollzugsanstalt Bautzen II vom 23.04.1993, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50; JVA Bautzen: Vermerk vom 04.05.1993, ArStSG, BZ II 1991-1995. 208 JVA Bautzen: Übergabe von Gegenständen an das Bautzen-Komitee vom 14.05.1993, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50; Schreiben des SMJ an das Bautzen-Komitee vom 27.10.1993, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50; JVA Bautzen: Übergabeprotokoll vom 09.11.1993, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50; JVA Bautzen: Übergabeprotokoll vom 15.11.1993, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50; Schreiben der JVA Bautzen an das SMJ vom 07.04.1994, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50. 209 Siehe u.a.a. JVA Bautzen: Übergabeprotokoll vom 09.11.1993, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50. 210 Bautzen-Komitee: Konkretisierte Konzeption Menschenrechtsmuseum vom Juni 1993, ArStSG, BZ II 1991-1995. Das weiterentwickelte Konzept enthielt u.a.a. präzise Raumnutzungs- und Rekonstruktionsvorschläge. Auch ging deutlich aus der Überarbeitung hervor, dass das BK auf die Geschosse IV-VI weiterhin keinen Nutzungsanspruch erhob (vgl. ebd. S. 7) und den kompletten Abriss der Garagen in Kauf nahm, um dort nunmehr Besucher-Parkplätze zu schaffen (vgl. ebd. S. 8). 211 HAIT: Aktennotiz vom 23.06.1993, ArStSG, BZ II 1991-1995. 212 SMWK: Vermerk vom 15.07.1993, ArStSG, BZ II 1991-1995; Schreiben des SMWK an das HAIT vom 14.07.1993, S. 3, ArStSG, BZ II 1991-1995.
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traut, im Laufe des Sommers 1993 aus dem Budget von 50.000 DM erste Bau- und Sanierungsmaßnahmen in Höhe von 30.000 DM durchzuführen.213 Dies entsprach der Maßgabe des Sächsischen Landtages, der dem HAIT für die wissenschaftliche Begleitung von Konzepten, Empfehlungen und Bauplanungen von allen sächsischen Gedenkstätten bis zu 250.000 DM in 1993 bereitstellte.214 Das vom SMWK nun also in Auftrag gegebene neue Konzept, das fachlich mehr Bestand haben sollte als das Papier, legte Karl Wilhelm Fricke dem SMWK Ende Juli 1993 im Namen des HAIT vor.215 Nach eigener Aussage orientierte er sich vor allem an der Leipziger Ausstellung »Stasi – Macht und Banalität« in der ehemaligen Bezirksverwaltung der Staatssicherheit in der »Runden Ecke« und an der Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße.216 Insbesondere der »Stasi«Bezug rechtfertigte wohl diese Auswahl. Bezüglich der grundsätzlichen Zweckbestimmung folgte Fricke weitgehend den Anregungen des BK. Wie das BK legte auch Fricke die Prämisse zugrunde, die in Bautzen zu schaffende Einrichtung solle »[…] sich nicht darin erschöpfen, Stätte der Erinnerung und des Gedenkens zu sein. Sie soll darüber hinaus der Begegnung und dem Dialog mit ehemaligen politischen Häftlingen der Bautzener Gefängnisse dienen, um so zur Aufarbeitung der Vergangenheit in Bautzen beizutragen«.217 Und gleich dem Ehrhard G.-Papier empfahl auch Fricke den Gegenstand des Museums auf den allgemeinen Strafvollzug auszuweiten. »Die Räumlichkeiten bieten geradezu an, […] eine ständige Ausstellung zur Geschichte der Bautzener Gefängnisse einzurichten, die im Laufe der Zeit zu einem Strafvollzugsmuseum ausgebaut werden kann.«218 Auch wurden, analog zum BK-Konzept, überblicksartige Ausstellungselemente zu anderen Haftanstalten in der DDR empfohlen. In Abgrenzung zum Konzept des BK schloss Fricke allerdings eine Gegenüberstellung von Haftbetrieb in der BRD nach demokratisch-rechtstaatlichen Prinzipien und Gefangenenalltag und politische Haft im DDR-Regime aus. Eine vergleichende Perspektive »BRD heute« gegenüber »DDR damals«, wie sie das Ehrhard G.-Papier nahe legte, wurde nicht empfohlen. Vergleiche unterschiedlicher Haftperioden sollten wenn, dann untereinander erfolgen. Eine Nivellierung bzw. Vermengung unterschiedlicher historischer Phasen politischer Verfolgung und Haft in Bautzen sollte dabei gerade vermieden werden. Auch unterschied sich das Fricke-Konzept hinsichtlich des Darstellungszeitraumes. So wurde der in Betracht zu ziehende Zeitraum der Gefäng-
213 Schreiben des SMWK an den Sächsischen Landtag vom 30.09.1993, ArStSG, LtDrs. Das BK fühlte diesbezüglich jedoch »über den Tisch gezogen«, hatte es gehofft, das SMWK investiere das Geld in eine erste Ausstellung und in die Öffentlichkeitsarbeit, vgl. Schreiben des Bautzen-Komitees an das SMF vom 26.10.1993, ArStSG, BZ II 1991-1995. 214 SMWK: Vermerk vom 15.07.1993, S. 2, ArStSG, BZ II 1991-1995. 215 Fricke, Karl Wilhelm: Konzeption zur Errichtung einer »Begegnungs- und Gedenkstätte Bautzen II« vom 31.07.1993, ArStSG, 6.6 Kabinettsangelegenheiten 6.5 Landtag 19951996 [Kabinett]. 216 Ebd., S. 2. 217 Ebd. 218 Ebd., S. 6.
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nisgeschichte auf die Zeit 1906-1933 und 1933-1945 ausgeweitet. Das Museum sollte demzufolge nicht erst mit der Zäsur 1945 beginnen, sondern berücksichtigte auch die politische Verfolgung in der nationalsozialistischen Ära der Haftanstalten im Unterschied zum Ehrhard G.-Konzept. »Am Beispiel Bautzen könnten der politische Strafvollzug der DDR und generell die Verfolgung politisch Andersdenkender herausgearbeitet werden«, hieß es in Abgrenzung zum Ehrhard G.-Papier.219 Schließlich legte das Konzept eine enge institutionelle und wissenschaftliche Zusammenarbeit mir dem HAIT nahe. Während das BK-Konzept hauptsächlich die Rehabilitierung der Opfer und die subjektiv geprägte Gedenkstättenarbeit in den Vordergrund stellte, betonte Fricke die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Erforschung, d.h. eine objektivierende Gedenkstättenarbeit.220 Zwar sollte bei der Gestaltung der Gedenkstätte auch das BK zusammen mit einer noch zu gründenden Gedenkstättenstiftung (die auch die Rechtsträgerschaft übernehmen sollte) einbezogen werden, allerdings sollte dies eher formaler als inhaltlicher Natur sein.221 Nachdem das Grobkonzept von Fricke vorlag, wurde das HAIT durch das SMWK bis auf weiteres in den Rang einer Koordinierungsstelle für »Bautzen II« und für andere Gedenkstätten in Sachsen gehoben. Auf diese Weise mit neuen Kompetenzen ausgestattet, veranlasste das HAIT auf Basis des Fricke-Konzeptes die Entwicklung konkreter Gestaltungsvorschläge zur Gedenkstätte Bautzen II und beauftragte Ende September 1993 dafür einen Frankfurter Historiker. 222 Gleichzeitig erarbeitete das SMWK zusammen mit dem Liegenschaftsamt und dem BK Vorschläge für die museal nicht benötigten Räume.223 Einige wurden daraufhin Ende 1993 dem BK zur kostenlosen Nutzung überlassen.224 Das BK nutzte die Gelegenheit nebst Büro dort zwei provisorische Ausstellungsräume zum »Gelben Elend« und zur »MfS-Sonderhaftanstalt« sowie einen Vortrags- und Archivraum einrichteten.225 Im Grunde genommen war dies der Auftakt der eigentlichen Gedenkstätte mit angeschlossenem Museumsbetrieb. Parallel konzentrierte sich das BK in den Folgemonaten auf das Beschaffen von geeigneten Ausstellungsexponaten.226 Besonders das SMJ bemühte sich äußerst
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Ebd., S. 7. Ebd. Ebd., S. 8-9. Schreiben des SMWK Staatsminister Hans-Joachim Meyer an den Sächsischen Landtag vom 30.09.1993, S. 2, ArStSG, LtDrs. Ebd. Schreiben des SMWK an das SMF vom 01.10.1993, ArStSG, BZ II 1991-1995; Schreiben des SMF an das Staatliche Liegenschaftsamt Dresden vom 11.10.1993, ArStSG, BZ II 1991-1995. Schreiben des Bautzen-Komitees an das SMWK vom 21.01.1994, ArStSG, BZ II 19911995; Bautzen-Komitee: Mitteilungen des Bautzen-Komitees Nr. 1/1994 vom 11.02.1994, S. 5, PrBvH, Bestand: Mitgliederinformation des BK 2001-1990, I. 20011994 [Mitgliederinformation I]. Mayer, Thomas: »Eine Gedenkstätte ohne Besitzer – und ohne Besucher«, in: Leipziger Volkszeitung vom 12.03.1994, ArGBZ, HP, Anhang I.
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akribisch darum, aus den ehemaligen StVE der DDR für das BK originale Gefängnisausstattungen zu organisieren.227 Insbesondere aus der JVA Görlitz wurden zahlreiche Bestände übernommen, bis hin zu einem Gefangenentransportwagen B 1000.228 Auch Bestände der JVA Bautzen wurden durch fachliche Hilfe der Mitarbeiter der JVA Bautzen reinstalliert bzw. an das BK zurück gegeben.229 Weitere potenzielle Ausstellungsstücke wurden aus Mühlhausen, Chemnitz, Dresden, Leipzig, Stollberg, Hoheneck, Waldheim, Zeithain, Zwickau (aus Sachsen) sowie Gräfentonna und Ichtershausen (aus Thüringen) überlassen.230 Zur gleichen Zeit gingen die Planungen zur Anlage einer Gräberstätte auf dem Karnickelberg nur schleppend voran. Bezüglich einer Gräberstätte auf dem Karnickelberg gestaltete sich das Projekt komplizierter als geplant. Der Abriss des Hundezwingers und das Anlegen einer würdigen Grabanlage samt Gedenkkapelle stießen im Laufe des Jahres 1993 und 1994 immer wieder auf bürokratische Hindernisse. Obwohl das Staatsministerium für Soziales Gesundheit und Familie bereits 1992 eine Anschubfinanzierung zugesagt hatte, fehlte monatelang die Abriss- und Baugenehmigung.231 Die bewilligten Mittel schlossen nämlich eine Verwendung für Abrissarbeiten aus und standen nur für die Gräberstätte als solche zur Verfügung. Da das Gelände auf dem Karnickelberg – bis auf den Hundezwinger – zudem nicht einmal im städti-
227 Schreiben des SMJ an das Bautzen-Komitee vom 27.10.1993, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50; Schreiben der JVA Bautzen an das SMJ vom 07.04.1994, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50; Schreiben des SMJ an das Bautzen-Komitee vom 26.04.1994, ArStSG, BZ II 1991-1995; Schreiben des SMJ an alle JVA und die Justizvollzugsschule und das Justizvollzugskrankenhaus vom 26.04.1994, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50; Schreiben des SMJ an das Bautzen-Komitee vom 15.05.1994, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50; Schreiben des SMJ an das Bautzen-Komitee vom 18.07.1994, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50. 228 Schreiben des Bautzen-Komitees an das SMWK vom 21.01.1994, ArStSG, BZ II 19911995. 229 Schreiben des SMJ an das Bautzen-Komitee vom 18.07.1994, ArJVA BZ, BZ II 530 E50; JVA Bautzen: Übergabeprotokoll vom 28.07.1994, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50. Hierzu gehörten ein ODH-Bedienpult, eine Gedenktafel zu Julius Fucik, 50 Bettdecken und -bezüge sowie eine Garnitur Gefangenenkleidung. 230 Leber, Carmen: »Bautzen-Komitee erhielt Unterstützung aus Thüringen«, in: Sächsische Zeitung vom 27.04.1994, ArGBZ, HP, Anhang I; Timm, Frank Berno: »Ex-StasiGefängnis hat seine Überwachungsanlagen wieder«, in: Sächsische Zeitung vom 08.04.1994, ArGBZ, HP, Anhang I; Schreiben des SMJ an das Bautzen-Komitee vom 15.05.1994, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50; Schreiben des SMJ, an die JVA Bautzen vom 30.06.1994, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50. Eine Übersicht der einzelnen Bestände enthält vor allem das Schreiben des SMJ an das Bautzen-Komitee vom 24.05.1994, ArJVA BZ, BZ II 530 E-50. 231 Bautzen-Komitee: Mitteilungen des Bautzen-Komitees Nr. 2/1993 vom 25.01.1993, S. 2, PrBvH, Mitgliederinformation II; Schreiben der Stadt Bautzen an das Staatliche Liegenschaftsamt vom 10.11.1993, ArBK, Bestand: Grabpflege Karnickelberg
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schen Zuständigkeitsbereich lag, hatte auch die Kommune keine Handhabe.232 Da halfen auch keine scharfen Vorwürfe des BK in Richtung Stadt Bautzen, sie sei untätig und würde Bundesmittel allein zur Verschönerung der Stadt einsetzen.233 Schließlich wandte sich Bürgermeister Schramm persönlich an das Staatliche Liegenschaftsamt und an den Ministerpräsidenten Biedenkopf, um endlich die Beseitigung des Hundezwingers und die Bereitstellung des Geländes auf diese Weise zu erwirken und um nicht weiter den Vorwürfen des BK ausgeliefert zu sein.234 »In Anbetracht der Tatsache, dass die Errichtung der Grabanlage von einem großen öffentlichen Interesse begleitet wird, können wir das Schweigen Ihrer Behörde überhaupt nicht verstehen«, beklagte sich Bautzens Bürgermeister beim Staatlichen Liegenschaftsamt, nachdem dies monatelang nicht einmal den Posteingang quittiert hatte.235 Und an den Ministerpräsidenten richtete er die Worte: »Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, ich möchte mich in einer für die Stadt Bautzen und – wie ich meine – den Freistaat wichtige Angelegenheit an Sie wenden, da ich auf anderen Wegen bisher keine Erfolge erzielen konnte. […] Die Stadt Bautzen und der Freistaat stehen in der Kritik des Bautzen-Komitees und der Öffentlichkeit. Es wird Ihnen Verzögerung und Untätigkeit vorgeworfen. Dies steht uns nicht gut zu Gesicht […] und bitte Sie um baldige konkrete Unterstützung.«236
Des Weiteren unterbreitete Schramm dem BK das Angebot, zusätzlich eine gemeinsame Erklärung direkt an die Sächsische Landesregierung abzugeben.237 Die Landesregierung und das SMWK wiederum konzentrierten sich unterdessen voll und ganz auf das zügige Errichten einer Landesstiftung nach brandenburgischem Vorbild. Das HAIT, das bereits als Interimslösung die sächsischen Gedenk-
232 Schreiben der Stadt Bautzen an das Bautzen-Komitee vom 21.10.1993, ArBK, Grabpflege Karnickelberg. 233 Schreiben des Bautzen-Komitees an die Stadt Bautzen vom 19.07.1993, ArBK, Grabpflege Karnickelberg; Schreiben des Bautzen-Komitees an die Stadt Bautzen vom 15.10.1993, ArBK, Grabpflege Karnickelberg. Am 29.03.1994 erstattete das Bautzen-Komitee gegen die Stadt Bautzen sogar Strafanzeige wegen Verstoß gegen §168 (Störung der Totenruhe), vgl. Schreiben des Bautzen-Komitee an die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Bautzen vom 29.03.1994, ArBK, Grabpflege Karnickelberg; Bautzen-Komitee: Information für die Presse vom 29.03.1994, ArBK Grabpflege Karnickelberg. 234 Schreiben der Stadt Bautzen an das Staatliche Liegenschaftsamt vom 10.11.1993, ArBK, Bestand: Grabpflege Karnickelberg; Bautzen-Komitee: Protokoll der Mitgliederversammlung vom 13.11.1993, S. 3, PrBvH, Mitgliederinformation II. 235 Schreiben der Stadt Bautzen Bürgermeister Schramm an das Staatliche Liegenschaftsamt Dresden vom 02.02.1994, ArBK, Grabpflege Karnickelberg. 236 Schreiben der Stadt Bautzen Bürgermeister Schramm an die Sächsische Staatskanzlei Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf vom 04.02.1994, ArBK, Grabpflege Karnickelberg. 237 Bautzen-Komitee: Protokoll der Mitgliederversammlung vom 13.11.1993, S. 3, PrBvH, Mitgliederinformation II.
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stättenprojekte im Auftrag der Staatsregierung betreute, und das SMWK wurden mit dem Entwurf einer Satzung betraut. Sie wurde am 15. Februar 1994 einfach per Regierungsdekret beschlossen. Ohne parlamentarische Debatte und ohne einen Landtagsbeschluss, d.h. jenseits der Anträge und Anfragen des Frühjahres 1993 und am Sächsischen Landtag vorbei wurde so die »Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft« (StSG) per Kabinettserlass ins Leben gerufen. Ein Gesetzesentwurf zur Stiftungsgründung, den die SPDLandtagsfraktion noch kurz vor der entscheidenden Kabinettssitzung einbrachte, blieb unberücksichtigt.238 Auch die via Antrag lancierten Änderungsvorschläge der SPD-Fraktion zum Satzungsentwurf wurden nicht einbezogen. Allgemein wurde der Stiftungszweck mit dem Erinnern, Gedenken, Aufarbeiten, Erforschen und Vermitteln politischer Gewaltverbrechen von überregionaler Tragweite umschrieben.239 Des Weiteren war festgelegt, dass die Landesstiftung Museen, Gedenkstätten und Dokumentationen der Verbrechen der Opfer in den jeweiligen Stätten politischer Gewaltherrschaft der nationalsozialistischen Diktatur, während der Besatzungszeit und der SED-Herrschaft in der DDR zu errichten bzw. zu betreiben habe und dass, wie bei Landesstiftungen üblich, innerhalb der Stiftung die politische »Dominanz der Staatsregierung im Stiftungsrat« sicherzustellen sei.240 Die NS-Diktatur, die Besatzungspolitik in der SBZ und die SEDHerrschaft wurden also – ohne vorsichtiger zu gewichten oder gänzlich wertfrei zu bleiben – als »politisch Gewaltherrschaft« zusammengefasst und die OpferErinnerung ins Zentrum der Stiftungsarbeit gerückt. Zwar legte eine dem Beschluss beigefügte Vorschlagsliste nahe, dass die neue und zum 01. März 1994 rechtsfähige Stiftung die historischen Orte Pirna-Sonnenstein (zugleich Stiftungssitz), Münchner Platz Dresden, Zeithain, Torgau, Waldheim und Bautzen II umfassen werde,241 auf Wunsch des Ministerpräsidenten und um zu vermeiden, »[…] dass es zwei Klassen von Gedenkstätten gibt«, verzichtete der Erlass jedoch am Ende gänzlich auf die konkrete Nennung von einzelnen Einrichtungen.242 Bewusst sollten die SBZ/DDR-Gedenkstätten nicht den NS-Gedenkstätten nachgeordnet werden und wurde eine Gleichbehandlung bevorzugt. Geschichtspolitisch folgte die Satzung damit vollständig den überwiegend Positionen und den Erwar-
238 Sächsischer Landtag, Drs. 1/4265 vom 17.01.1994, ArStSG, LtDrs. 239 SMWK: »Satzung der Stiftung ›Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft‹ vom 15.02.1994«, in: Sächsisches Amtsblatt vom 17.03.1994, S. 453, ArStSG, Kabinettsvorlage. 240 Sächsische Staatskanzlei: Beschluss Nr. 01/0597 zur 139. Kabinettssitzung vom 15.02.1994, ArStSG, 2. Grundsätzliches Verträge, 2.1-2.2; SMWK: »Satzung der Stiftung«, in: Sächsisches Amtsblatt vom 17.03.1994, S. 453, ArStSG, Kabinettsvorlage; Sächsische Staatskanzlei: Presseinformation vom 20.01.1994, ArStSG, Bestand: 9. Presseveröffentlichungen 1992-1995 [Presse]. 241 Sächsische Staatskanzlei: Vorschlagskatalog aufzunehmender staatlicher und zu fördernder Gedenkstätten, o.D., ArStSG, 2. Grundsätzliches Verträge, 2.1-2.2. 242 Sächsische Staatskanzlei: Protokoll der 139. Kabinettssitzung vom 15.02.1994, S. 5, ArStSG, 2. Grundsätzliches Verträge, 2.1-2.2.
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tungen der Opfervertreter der SBZ/DDR, die zwischen der stalinistischen Zeit und der poststalinistischen DDR kaum differenzierten und überdies dazu neigten, die an ihnen verübten Verbrechen mit denen des NS zu analogisieren. Zudem versprach der Name der Stiftung eine stärkere gesellschaftliche Anerkennung der Opferleiden und ihrer historischen Rolle, stellte der Name doch in gewisser Weise auch eine Widmung dar. Die geforderte politische Dominanz wurde erreicht, indem die Ämter des Stiftungsrates verteilt wurden auf den Staatsminister für Wissenschaft und Kunst, den Staatsminister der Justiz, den Staatsminister für Soziales, Gesundheit und Familie, den Parlamentarischen Staatssekretär für Gleichstellung und auf den Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Auch ein Mitglied des Bundes sowie ein Angehöriger aus dem Bereich der kommunalen Gebietskörperschaften sollten im Stiftungsrat vertreten sein, genauso wie der Direktor des HAIT. Lediglich drei Ratssitze sollten an die Sächsischen Verbände der Opfer politischer Gewaltherrschaft und zwei weitere an Angehörige der Kirchen und Glaubengemeinschaften gehen.243 Des Weiteren wurde per Satzung verfügt, dass auch die Leitungsposition dem unmittelbaren politischen Einfluss unterliegen sollte. Während bei anderen Gedenkstättenstiftungen (wie in Thüringen oder in Brandenburg) ein von der Legislaturperiode unabhängiger Direktor berufen wurde, behielt sich Sachsen vor, turnusmäßig alle fünf Jahre per Regierungsbeschluss die Leitungsposition eines Geschäftsführers neu zu besetzen.244 Die Parlamentsfraktion der SPD wies den Erlass über die Stiftungssatzung bei der ersten Parlamentsdebatte zum eigenen und vom Kabinett ignorierten Stiftungsgesetzesentwurf als eine von oben diktierte Geschichtsaufarbeitung zurück: »Wir lehnen die Pläne des Ministerpräsidenten zu einer künftigen Stiftung ab, durch die die Minister von oben herab ihre Gelder nach Wohlgefallen verteilen und so der Gefahr ausgesetzt sind, Geschichte machtpolitisch zu diktieren.«245 Besonders kritisierte die SPD-Fraktion zudem, dass das Parlament am Entscheidungsprozess außen vor geblieben war und auch Opferverbände sowie Aufarbeitungsinitiativen innerhalb der Stiftungsgremien im Regierungsentwurf unterrepräsentiert bzw. nicht ausreichend berücksichtigt seien.246 In diesem Sinne verurteilte die SPD vor allem das Übermaß an erinnerungspolitischer Einflussnahme der konservativen Regierungspolitik. Aber auch die Fraktionen der Bündnisgrünen und der FDP sowie die Vertreter einzelner Interessenverbände aus dem Bereich Diktaturaufarbeitung übten offen Kritik am Alleingang der Sächsischen Landesregierung. Der Sprecher der Bündnisgrünen monierte, dass dem Ausschuss für Kultur und Medien in dieser Angelegenheit doch noch am 31. Januar 1994 die Federführung übertragen worden sei. Dieser sei auch durch den Haushaltsausschuss nur fünf Tage vor dem Kabinettsbeschluss,
243 SMWK: »Satzung der Stiftung«, in: Sächsisches Amtsblatt vom 17.03.1994, S. 454, ArStSG, Kabinettsvorlage. 244 Ebd., S. 455. 245 Sächsischer Landtag, Plenarprotokoll 1/85 vom 27.01.1994, S. 6034, PASächsLt. 246 Ebd.
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nämlich am 10. Februar 1994 bestätigt worden.247 Dann habe die CDU-Fraktion, um den Alleingang der CDU-Regierung wissend, einen Beschluss über den Gesetzesentwurf der SPD gezielt vertagt, damit der ausstehende Kabinettsbeschluss nicht gefährdet werde. Auch die angesetzte Plenardebatte bei der 38. Ausschusssitzung am 10. März 1994 sei mit Verweis auf den mittlerweile existierenden Kabinettsbeschluss von der CDU verweigert worden, sodass die SPD-Fraktion geschlossen und unter Protest die Sitzung verlassen habe. Bündnisgrüne fühlten sich von der CDU gezielt hinters Licht geführt.248 Zudem entstand mit dem gleichzeitigen Vorliegen eines Gesetzesentwurfes (der SPD-Fraktion) und eines Kabinettsbeschlusses nun die kuriose Situation, dass das Parlament ein Gesetz, was es selbst eigentlich bevorzugte, dennoch ablehnen musste, da auf Regierungsebene bereits ein Satzungsbeschluss getroffen worden war, der im Kern dem Gesetz entsprach und nur stellenweise diesem zuwiderlief.249 Entsprechend brachte die Fraktion der Bündnisgrünen den Antrag ein: »Die Landtag wolle beschließen, den Gesetzesentwurf der SPDFraktion abzulehnen mit der Begründung, dass eine gleich geartete Stiftung durch Kabinettsbeschluss […] bereits errichtet worden ist.«250 Dies wollten die Fraktionen der SPD und FDP nicht akzeptieren und schlugen ihrerseits vor, die durch die Regierung schon beschlossene Satzung nun als Gesetzesentwurf auf parlamentarischer Ebene »nach zu verhandeln«.251 Die FDPFraktion brachte via Entschließungsantrag den Vorschlag ein, die per Kabinettsbeschluss beschlossene Satzung durch das Parlament nachträglich als Gesetz absegnen lassen, um auf diese Weise für parlamentarische Partizipation zu sorgen.252 Darüber hinaus forderte sie, dass im Stiftungsrat auch Mitglieder des Sächsischen Landtages vertreten sein sollten.253 Die SPD ergänzte diesen FDP-Vorstoß, indem Sie darum bat, die verabschiedete Satzung als Gesetzentwurf in den Ausschuss für Kultur und Medien zu überweisen.254 Bei einer diesbezüglichen Plenardebatte Ende April 1994 ließ insbesondere der Sprecher der SPD-Fraktion keinen Verbal-Angriff auf die CDU-Regierungsbank aus: »Anstatt den Opfern nationalsozialistischer und stalinistischer Gewaltherrschaft zu helfen, anstatt Weichen für eine freimütige Aufarbeitung von Geschichte im Einvernehmen mit den Opferverbänden von Gewaltherrschaft zu stellen, schaut das Biedenkopf-Kabinett zu, wie auf
247 Sächsischer Landtag, Haushalts- und Finanzausschuss: Stellungnahme zum »Gesetz über die Errichtung einer ›Stiftung Sächsische Gedenkstätten für die Opfer politischer Gewaltherrschaft‹«, Drs. 1/4265 vom 10.02.1994, ArStSG, LtDrs. 248 Sächsischer Landtag, Drs. 1/4570 vom 23.03.1994, ArStSG, LtDrs.; Sächsischer Landtag, Plenarprotokoll 1/94 vom 27.04.1994, S. 6545-6546, PASächsLt. 249 Sächsischer Landtag, Plenarprotokoll 1/94 vom 27.04.1994, S. 6542, PASächsLt. 250 Sächsischer Landtag, Drs. 1/4570 vom 23.03.1994, ArStSG, LtDrs. 251 Sächsischer Landtag, Drs. 1/4720 vom 27.04.1994, PASächsLt; Sächsischer Landtag, Drs. 1/4731 vom 27.04.1994, PASächsLt. 252 Sächsischer Landtag, Drs. 1/4720 vom 27.04.1994, PASächsLt. 253 Ebd. 254 Ebd.
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Weisung des Anstaltsleiters […] sämtliche Überwachungssysteme […] entfernt werden. Es ist für mich und für viele eine zweite Verhöhnung der Opfer von KGB und Stasi, wenn sich Sachsens Justizminister Heitmann mit einem Wasserschaden herausredet […]. Im Kontext dieser Politik ist es geradezu logisch, dass der SPD-Gesetzesentwurf […] in einer Art und Weise abgeschmettert worden ist, die eigentlich niemand mehr versteht.«255
Als nachbesserungswürdig wurde daher vor allem die stärkere Einbeziehung der Opferverbände und ihrer Vertreter in den Stiftungsgremien hervorgehoben, damit »[…] Geschichte nicht wieder von einer Regierung, einer Partei oder einem Parteienblock aus machtpolitischem Kalkül heraus geschrieben und verordnet wird […]«.256 Die Bündnisgrünen stützten die SPD-Kritik im Zuge der Debatte abermals, indem sie daraufhin wiesen, dass angesichts der homogenen Verbandsstruktur drei Opfervertreter im Stiftungsrat zu wenig seien und der bisherige Errichtungsprozess insgesamt einer nicht zu tolerierenden Bevormundung des Parlaments gleichkäme.257 Die Linke Liste/PDS-Fraktion wehrte sich hingegen besonders gegen die »Gleichheitszeichen«, die in der Satzung zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus gezogen worden seien, d.h. sie beschwerte sich über eine mangelnde Differenzierung zwischen den Unrechtssystemen und die pauschale Subsummierung des Sozialismus unter den Begriff »politische Terrorherrschaft«. Der im Dekret zum Ausdruck kommenden konservativen Regierungspolitik wurde widersprochen, zudem verlangte sie eine stärkere Berücksichtigung der Opfer des Faschismus innerhalb des Errichtungsprozesses.258 Damit vertraten die Linke bzw. die PDS eine Position, die an antifaschistische Traditionen anknüpfte und die konservative Geschichtspolitik als eine anti-links gerichtete, antikommunistische Politik zu entlarven versuchte. Staatsminister Meyer dementierte die Vorwürfe von SPD, Bündnisgrün, FDP und PDS. Nicht nur habe die Regierung kein Geheimnis aus der Kabinettsbeschlussvorlage gemacht, sondern sie habe sogar diverse Beteiligte vorab um Stellungnahme gebeten, konterte er im Rahmen der Plenardebatte. Dem Kabinettsbeschluss sei also der herkömmliche Vorlauf vorangegangen und er wäre daher alles andere als ein Produkt einer »Nacht und Nebel-Aktion«. Schließlich betonte er, der Beschluss sei erheblich flexibler und zweckmäßiger als ein Gesetz, dass ein langwieriges Verfahren implementiert hätte.259 D.h., damit es überhaupt zügig zu einer Lösung der sächsischen Gedenkstättenfragen komme, sei unbürokratisches Regierungshandeln vonnöten gewesen, argumentierte Meyer. Allen Anträgen und Einwänden zum Trotz, wurden der Gesetzesentwurf der SPD-Fraktion und seine Überweisung in den Ausschuss für Kultur und Medien mehrheitlich vom Sächsischen Landtag abgelehnt. Dies hatte vor allem formale Gründe, musste einer Parallelgründung einer zweiten Sächsischen Gedenkstätten-
255 256 257 258 259
Sächsischer Landtag, Plenarprotokoll 1/94 vom 27.04.1994, S. 6543, PASächsLt. Ebd. Ebd., S. 6544. Ebd. Ebd., S. 6545.
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stiftung vorgebeugt werden. Inhaltlich folgte das Parlament der CDU-Regierung hingegen nicht.260 So haftete der StSG von vornherein der Makel an, dass sie sachlich eigentlich nur dem Willen der Regierung entsprach und inhaltlich zu keiner Zeit ganz dem Willen des politischen Souveräns. Aber auch der Bund der Verfolgten des Stalinismus (BSV) beschwerte sich im Namen sämtlicher Opferverbände beim Ministerpräsidenten Biedenkopf, sie seien nicht nur vom Verfahren her ungenügend einbezogen worden, sondern würden auch innerhalb der Verantwortungsstruktur der zukünftigen Stiftung eine vollkommen untergeordnete Rolle spielen.261 »Die Opferverbände und -komitees werden in dem Entwurf nur dort erwähnt, wo es sich um Pflichten, jedoch nicht um Rechte handelt«, nahm der BSV kritisch Stellung und forderte, dass den Betroffenenverbänden in der zu schaffenden Institution mehr als 50% an Einfluss einzuräumen sei, die Gedenkstätten und Museen selbständig zu bleiben hätten und jegliche Anbindung an eine konkrete Institution, insbesondere an das HAIT, zu unterbinden sei.262 Zudem appellierte der BSV, müsse die Stiftung viel stärker für den aktiven Kampf gegen Diktatur und für Demokratie, d.h. für Opposition und Widerstand und gegen Stalinismus und Kommunismus stehen: »Demzufolge sind viele, derer wir zu gedenken haben, nicht schlechthin ›Opfer‹ gewesen, sondern Aufbegehrende und Kämpfende […] Und für solch unsensible, inkompetente und schlampige Arbeit brauchte das SMWK […] fast drei Jahre!«263 Dem BSV war der Regierungserlass also noch zu wenig geschichtspolitisch antikommunistisch. Auf die Gedenkstätte Bautzen hatte der Kabinettsbeschluss zunächst kaum Auswirkung. Zwar wurde dem BK mit der Stiftungsgründung eine landespolitische Übernahme der Trägerschaft in Aussicht gestellt, solange die Stiftung jedoch nur auf dem Papier existierte, hatte das BK weiterhin – wenn auch zunehmend ungewollt – die alleinige Verantwortung für den aufzubauenden Gedenkstättenbetrieb.264 Da das SMWK in der Zwischenzeit das BK dafür weder finanziell noch vertraglich genügend entlastete, entschied das BK kurzerhand die Gedenkstätte ab Mitte März 1994 wieder zu schließen.265 Auch die zeitgleich vom Sächsischen Staatsministerium der Finanzen (SMF) über das SMWK zur Verfügung gestellten Baumittel in
260 Ebd., S. 6546-6549. 261 Schreiben des BSV an die Sächsische Staatskanzlei Ministerpräsident Kurt Biedenkopf vom 28.01.1994, ArStSG, 2. Grundsätzliches Verträge, 2.1-2.2. 262 BSV: Stellungnahme zum Entwurf der Satzung »Stiftung Sächsischer Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft« vom 28.01.1994, ArStSG, 2. Grundsätzliches Verträge, 2.1-2.2. 263 Ebd. 264 Mayer, Thomas: »Eine Gedenkstätte ohne Besitzer«, in: Leipziger Volkszeitung vom 12.03.1994, ArGBZ, HP, Anhang I; Moschke, Bernd: »Gedenkstätte im Stasi-Knast bleibt zu«, in: Dresdner Neueste Nachrichten vom 12./13.03.1994, ArStSG, Presse. 265 Ebd.; Schreiben des Bautzen-Komitee an das SMWK vom 10.03.1994, ArStSG, BZ II 1991-1995; Berger, Tilo: »Hickhack um Ex-Stasi-Gefängnis«, in: Sächsische Zeitung vom 12./13.03.1994, ArStSG, Presse.
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Höhe von 200.000 DM konnten diesen Schritt nicht verhindern, war der Ausstellungsbetrieb weiterhin unterversorgt.266 Erst als das SMWK dem Sächsischen Parlament gegenüber offiziell erklärte, dass es die Gedenkstätte Bautzen II in die Trägerschaft der StSG überführen werde und beabsichtige Fricke (als Vertreter der HAIT) und Ehrhard G. (als Vertreter des BK) mit der weiteren musealen Ausgestaltung zu beauftragen, erst als es zudem einen moderaten Nutzungsvertrag mit dem BK in Aussicht stellte und die Stadt Bautzen die Räumung des Hundezwingers auf dem Karnickelberg zusagte, und schließlich erst als dem BK signalisiert wurde, dass es nicht nur in den Stiftungsbeirat, sondern auch in den Stiftungsrat der StSG ein Mitglied entsenden könne, beruhigten sich die Gemüter der bisherigen Gedenkstättenmacher. 267 Mit der amtlichen Übertragung des Gebäudes vom Staatlichen Liegenschaftsamt an das SMWK Ende März 1994 war dann endlich auch rechtlich die Zuständig- und Handlungsfähigkeit des SMWK dem BK gegenüber erstmals hergestellt.268
3.4 E INE G EDENKSTÄTTE B AUTZEN II UND DIE G RÄBERSTÄTTE NACH 1994 Während die künftige Gedenkstätte Bautzen II unter dem Dach der gegründeten StSG gesichert schien, legten sich die Auseinandersetzungen bezüglich des Karnickelberges hingegen kaum. Bei einer Vorort-Besprechung am 27. April 1994 wurden Abriss- und Bauplanungen zwischen SMWK, SMJ, Liegenschaftsamt und BK daher konkretisiert.269 Uneinigkeit herrschte darüber, welches Ministerium überhaupt für die Errichtung einer Grab- und Gedenkstätte auf dem Berg zuständig sei.270 Auch signalisierten inzwischen die Vertreter des Bundes, dass bereitgestellte Mittel ausschließlich für das Anlegen einer Gräberstätte, nicht aber für etwaige andere Maßnahmen (z.B. für Abrisse und für einen Kapellenbau) zur Verfügung stünden.271 Von den Besprechungsteilnehmern wurde daher beschlossen, dass das SMWK auch hierfür die Federführung übernehmen und zusammen mit der Stadt Bautzen und dem BK diesbezüglich eine Gesamtkonzeption erstellen werde.272
266 SMWK: Vermerk vom 15.03.1994, ArStSG, BZ II 1991-1995. 267 Schreiben des SMWK an Sächsischen Landtag vom 21.03.1994, ArStSG, LtDrs.; Haferkorn, Ralf: »Rathaus gibt der Forderung des Bautzen-Komitees nach«, in: Sächsische Zeitung vom 02./03.04.1994, ArGBZ, HP, Anhang I; SMWK: Vermerk vom 16.03.1994, ArStSG, Bestand: 3. Gremien 1996, 3.1-3.3 [Gremien]. 268 Schreiben des Staatlichen Liegenschaftsamtes an das SMWK vom 30.03.1994, ArStSG, BZ II 1991-1995. 269 SMJ: Niederschrift über die Beratung am 27.04.1994, ArStSG, BZ II 1991-1995. 270 Ebd., S. 2. 271 SMWK: Protokoll zur Besprechung vom 27.04.1994 im Bereich der Gedenkstätte Bautzen II, S. 2, ArStSG, BZ II 1991-1995. 272 SMJ: Niederschrift über die Beratung am 27.04.1994, S. 3, ArStSG, BZ II 1991-1995.
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Das BK wiederum erwartete den bodenmäßigen Abtrag des Karnickelberges im Bereich des ehemaligen Hundezwingers, um die geborgenen Leichen an dieser Stelle in natürlicher Erde bestatten zu können: »Eine Beisetzung in dem dort von den DDR-Behörden angefahrenen Schutt halten wir nicht für angemessen und vertretbar.«273 Dagegen sperrte sich jedoch nicht zuletzt das Sächsische Landesamt für Familie und Soziales, das die Wiederherstellung des Geländeprofils von 1945 und das diesbezügliche Bewegen riesiger Erdmassen als nicht der Aufgabe des Gräbergesetzes entsprechend ausschloss: »Herr Staatsminister Geisler hat in einem Schreiben […] abschließend festgestellt, dass von weiteren Suchgrabungen Abstand zu nehmen ist. Sie fordern dagegen erneut, Erdreich nach Gebeinen von Opfern zu durchsuchen. Der Standpunkt des Ministers […] drückt nicht zuletzt auch aus, dass irgendwann Aufwand und Nutzen in keinem vernünftigen Verhältnis mehr zu einander stehen. Es ist eine unrealistische Vorstellung, auch den letzten Toten noch finden zu können. […] Verständnis haben wir für das Anliegen, die Gebeine in natürlichem Erdreich beizusetzen. Dieser Wunsch hätte erfüllt werden können, wenn das Bautzen-Komitee einer Beisetzung auf einem bereits vorhandenen Friedhof zugestimmt hätte. Im Beharren auf den Standort ›Karnickelberg‹ müssen jedoch die dortigen Geländebedingungen akzeptiert werden. Eine Durchsetzung maximaler Wunschvorstellungen ist hier nicht möglich.«274
Eine Feststellung weiterer Grabanlagen durch einen sachverständigen Umbetter wurde daher nicht bewilligt und unterblieb.275 Die Erstellung der Anlage wurde erst im November 1994 mit der Bestattung der 176 Gebeine fortgesetzt. 276 Aber auch die Absicherung der Gedenkstätte Bautzen II vollzog sich nur langsam. So lief die einzige ABM-Stelle des BK, die den bisherigen Gedenkstättenbetrieb aufrecht gehalten hatte, Ende Mai 1994 ersatzlos aus. Erst nachdem die Bündnisgrünen diese personelle Problematik in den Sächsischen Landtag einbrachten, garantierte das SMWK die vorübergehende Übernahme der Personalstelle, bis die StSG die Mitarbeiterin mit einer begrenzten Stundenzahl weiterbeschäftigen könne. Im Herbst 1994 wurden für 1995 über die ABS Robur GmbH schließlich 6 ABMStellen für »Bautzen II« bereit gestellt, u.a. für Aufräumarbeiten, Inventarisierung, Ausstellungserstellung sowie zur Instandsetzung und Pflege der Außenanlagen.277 Die Übernahme der Miet- und Betriebskosten für das gesamte Gebäude »Bautzen
273 Schreiben des Bautzen-Komitees an die Stadt Bautzen Stadtgarten- und Betriebsamt vom 08.08.1994, ArBK, Grabpflege Karnickelberg; Bautzen-Komitee: Mitteilungen des Bautzen-Komitees Nr. 2/94 vom 30.08.1994, PrBvH, Mitgliederinformation I. 274 Schreiben des Sächsischen Landesamtes für Familie und Soziales an das BautzenKomitee vom 16.09.1994, S. 2, ArBK, Grabpflege Karnickelberg. 275 Schreiben des VDK an das Bautzen-Komitee vom 06.10.1994, S. 2, ArBK, Grabpflege Karnickelberg. 276 Bautzen-Komitee: Mitteilungen des Bautzen-Komitees Nr. 3/94 vom 12.12.1994, S. 4, PrBvH, Mitgliederinformation I. 277 Sächsischer Landtag, Drs. 1/4922 vom 24.06.1994, PASächsLt; Schreiben der ABS Robur GmbH am die StSG vom 13.10.1994, ArStSG, BZ II 1991-1995.
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II« (bis auf die vom BK genutzten Räume) wurde Mitte August 1994 durch das Staatliche Liegenschaftsamt zugesichert, zum 01. August 1994 war die Gedenkstätte Bautzen II offiziell in die Trägerschaft der StSG gewechselt.278 Eine Mitfinanzierung durch den Bund ab 1995 sowie eine Sicherstellung des laufenden Gedenkstättenbetriebes über das Jahr 1994 hinaus wurde erst zum Ende des Jahres 1994 vom SMWK in Aussicht gestellt.279 Als der Stiftungsbeirat fast eineinhalb Jahre nach dem StSG-Gründungsbeschluss am 08. Juni 1994 erstmals zusammentraf, kam erneut Bewegung in die sächsische Erinnerungspolitik und in die Bautzener Gedenkstättensituation. So wurde unter anderem Ehrhard G. vom BK als Vorsitzender des Stiftungsbeirates vorgeschlagen und er zudem – neben jeweils einem Vertreter des BSV und der Interessengemeinschaft Verfolgter des Nationalsozialismus (IVVdN) – zu einem der drei Stellvertreter der Opferverbände im Stiftungsrat bestimmt.280 Mit der Berufung von Ehrhard G., der keinen Hehl aus seiner rechtskonservativen Beurteilung der Bautzener Haftgeschichten machte, brachen nun auch Konflikte zwischen den verschiedenen Opfervertretern aus. Im Gegensatz zum BK, das die StSG durchweg unterstützte und die geschichtspolitische Ausrichtung der Satzung teilte, lehnte der BSV die Stiftung nämlich weiterhin grundlegend ab. Der Verband begründete seine ungebrochen kritische Haltung damit, dass »infolge einer totalitarismustheoretischen Grundkonzeption […] die Opfer eine Wertung erfahren, die für viele eine Diskriminierung darstellen muss«.281 Zudem beanstandete er, es handle sich bei der StSG im Grunde genommen um eine »unwichtige CDU-Initiative«, die ausschließlich auf Kosten der Gedenkstätten erfolge und schon aufgrund des lächerlichen Budgets geradezu einer Missachtung des Sächsischen Gedenkstättenproblems gleichkomme.282 Auch forderte der BSV, die Landesregierung solle den vorliegenden Kabinettsbeschluss aufheben und die Satzung gründlich überarbeiten, um endlich würdige Gedenkstätten und Museen zur »Ehrung der Kämpfer gegen Diktatur und Gewaltherrschaft – der Kämpfer für Demokratie« zu schaffen. Es wurde abermals ein vermehrte personelle Beteiligung ehemaliger Bautzen-Häftlinge eingefordert.283
278 SMWK: Aktennotiz über ein Gespräch mit dem Liegenschaftsamt am 17.08.1994, o.D., ArStSG, BZ II 1991-1995; Bautzen-Komitee: Mitteilungen des Bautzen-Komitees Nr. 3/94 vom 12.12.1994, PrBvH, Mitgliederinformation I. 279 SMWK: Protokoll der zweiten Sitzung des Stiftungsbeirates der Stiftung »Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft« am 23.08.1994, S. 5, ArStSG, Sitzungen; SMWK: Presseinformation 100/1994 vom 06.12.1994, ArStSG, Sitzungen. 280 SMWK: Protokoll vom 11.07.1994, S. 3, ArStSG, Bestand: 4. Sitzungen 1994-1995, 4.1-4.3 [Sitzungen]. 281 BSV: Anmerkungen des Bundes der Verfolgten des Stalinismus e.V. zur Satzung der Stiftung »Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft« vom 28.07.1994, S. 2, ArStSG, 2. Grundsätzliches Verträge, 2.1-2.2. 282 Ebd., S. 3, 4. 283 Ebd., S. 8.
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Zur erhofften Konstituierung des Stiftungsrates kam es aufgrund dieser inhaltlichen Dissonanzen zwischen den einzelnen Opfervertretern untereinander sowie zwischen den Opferverbänden und den politischen Vertretern bei der ersten Zusammenkunft nicht. Es musste eine zweite konstituierende Sitzung einberufen werden, die schließlich am 23. August 1994 stattfand, damit der Stiftungsrat gewählt werden konnte. Die Personalvorschläge wurden schließlich nur deshalb anerkannt, weil der Staatsminister Meyer den Verbänden glaubhaft machte, dass eine Änderung der Stiftungssatzung, d.h. eine Veränderung der Gremienbesetzung grundsätzlich jederzeit möglich sei.284 Daraufhin billigte der frisch konstituierte Stiftungsbeirat die Vorschlagsliste des SMWK über die von der StSG zu fördernden Gedenkstätten, die als Beschlussempfehlung an den Stiftungsrat, der erstmals am 30. August tagte, weitergereicht wurde.285 Die Beschlussempfehlung sah für die Gedenkstätte Bautzen inhaltlich vor, stellvertretend für die »stalinistische Terrorjustiz« und besonders für »Rechtsbeugung durch die Staatssicherheit« zu stehen.286 Politische Verfolgung und Haft zwischen 1933-1945 blieben also weiterhin unberücksichtigt, die bisher vom BK praktizierte Fokussierung auf die Zeit 1945-1956 wurde aufgeweicht indem der Stiftungsbeirat nunmehr der politischen Verfolgung und Haft zwischen 1956-1989 das höchste Gewicht beimaß. Zur Realisierung der Gedenkstätte Bautzen II wurden für 1994 Baumaßnahmen im Zellenhaupthaus, Vorbereitungen für Baumaßnahmen in 1995 sowie das Bereitstellen von Arbeitsräumen für die zukünftigen Gedenkstättenmitarbeiter vorgeschlagen. 1995 sollten der Dachbereich und die Zugangtore instandgesetzt werden.287 Bezüglich dem Erinnern und Gedenken auf dem Karnickelberg wurden keinerlei Festlegungen getroffen. Der Beschlussempfehlung des Stiftungsbeirates wurde ohne Einschränkungen im Stiftungsrat gefolgt,288 sodass im September 1994 diesbezüglich erste Absprachen mit dem Landesdenkmalamt erfolgen konnten.289 Schließlich wurde elf Monate nach dem Regierungsbeschluss die Stelle des Geschäftsführers der StSG besetzt. Der Stiftungsrat berief mit Zustimmung der Staatsregierung den Historiker Norbert Haase zum Geschäftsführer der StSG, verfügte er doch über zahlreiche gedenkstättenspezifische Kenntnisse aus diversen Projekten bei der Gedenk-
284 SMWK: Protokoll der zweiten Sitzung des Stiftungsbeirates der Stiftung »Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft« am 23.08.1994, ArStSG, Sitzungen; Schreiben des SMWK an die Sächsische Staatskanzlei vom 31.08.1994, S. 3, ArStSG, Gremien. 285 SMWK: Tischvorlage zu TOP 3 der Stiftungsratssitzung am 30.08.1994. Beschlussempfehlung zur Übernahme von Gedenkstätten vom 29.08.1994, ArStSG, Sitzungen. 286 Ebd. 287 SMWK: Tischvorlage vom 29.08.1994, ArStSG, Sitzungen; Bautzen-Komitee: Mitteilungen des Bautzen-Komitees Nr. 3/94 vom 12.12.1994, S. 2, PrBvH, Mitgliederinformation I. 288 SMWK: Protokoll vom 25.11.1994, ArStSG, Sitzungen. 289 Es empfahl eine Wiederherstellung des Zellenhauses in den Zustand der 40er-60er Jahre, vgl. Aufbaugruppe Sächsische Gedenkstättenstiftung: Aktennotiz vom 26.09.1994, ArStSG, BZ II 1991-1995.
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stätte Deutscher Widerstand in Berlin und beim Dokumentations- und Informationszentrum Torgau. Zudem hatte er über die Verfolgung von Nichtanpassung, Verweigerung und Widerstand in der deutschen Wehrmacht 1939-1945 promoviert.290 Zum 08. März 1995 trat Haase seine neue Position an. Damit endete die Verantwortung des HAIT für die sächsischen Gedenkstättenprojekte und für die ein Jahr zuvor errichtete StSG und begann der personelle und strukturelle Aufbau der StSG.291 Die Konflikte um die StSG jedoch gingen weiter. Besonders bezüglich der konkreten Gedenkstättenarbeit vor Ort entfachte im Laufe des Jahres 1995 abermals Streit. So übte besonders der frisch ernannte Stiftungsbeiratsvorsitzende Ehrhard G., der bisher zu den Befürwortern der StSG und ihrer politischen Grundlagen gehörte, öffentlich zunehmend scharfe Kritik an der Landesregierung, an der neu geschaffenen StSG und an ihrem Geschäftsführer, dauerten ihm die Planungsprozesse viel zu lange und ließen sichtbare Ergebnisse in der zu errichtenden Gedenkstätte Bautzen zumindest oberflächlich weiterhin auf sich warten. Er bemängelte, dass es für die Gedenkstätte bis auf das Fricke-Papier immer noch kein tragfähiges Konzept gäbe, stattdessen sei vielmehr ein »Einbetonieren und Verschwinden der ehemaligen Sonderhaftanstalt des MfS Bautzen II« seitens des SMJ vorgesehen.292 Hierbei bezog er sich auf Pläne des SMJ, das Gedenkstättengelände mit einer Mauer oder Umzäunung vom unmittelbar angrenzenden Gerichtsareal optisch abzutrennen. Zwar hatte das BK einer äußeren Abgrenzung der Gedenkstätte Bautzen durch das SMJ prinzipiell zugestimmt, von dieser Zustimmung nahm es ein Dreivierteljahr später jedoch wieder Abstand.293 Mit Unterstützung des SMWK und der Mehrheit des Stiftungsrates gelang so der Verzicht des SMJ auf die Umbauten, damit es zu keinerlei baulicher Verfremdung in »Bautzen II« komme. 294 »[…] Herr SMin Prof. Dr. Meyer mahnt Respekt vor der Geschichte an. Wo es möglich ist, müsste die Authentizität der Geschichte erhalten werden. Auch der SMin Heitmann vertritt die Auffassung, dass die Sichtbarkeit des historischen Ortes erhalten bleiben und im Interesse der Gedenkstätte entschieden werden müsse«,
gaben beide Staatsminister zu Protokoll.295
290 SMWK: Pressemitteilung vom 31.01.1995, ArStSG, Gremien. 291 StSG: Protokoll zur 3. Sitzung (1/95) des Stiftungsbeirates der Stiftung »Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft« am 14.02.1995, S. 3, ArStSG, Sitzungen. 292 Ebd., S. 5; StSG Stiftungsbeirat: Pressemeldung vom 15.02.1995, ArStSG, Gremien; Schreiben des Stiftungsbeirates StSG am das SMWK Staatsminister Meyer vom 31.03.1995, ArStSG, Sitzungen. 293 Sächsisches Staatsministerium der Justiz: Tischvorlage vom 10.04.1995, ArStSG, Sitzungen. 294 StSG: Protokoll der 4. Sitzung des Stiftungsrates der Stiftung »Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft« am 24.04.1995, S. 4, ArStSG, Sitzungen. 295 Ebd., S. 6.
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Aber auch die ca. 715.000 DM, die das Land allein für die Dachsanierung in 1995 zur Verfügung stellte,296 wurde durch den Stiftungsbeiratsvorsitzenden als eine reine »Absichtserklärung«, und die haushaltsrechtlich geschuldete Auszahlungsverzögerung als »Spartaktik« umgedeutet: »Im September nützt uns das Geld nichts mehr«, ließ Ehrhard G. über die Presse verkünden.297 Zudem monierte er, dass noch immer keine Fachkommission eingesetzt sei und die personalpolitische Situation, in Ermangelung einer Zuwendungsvereinbarung zwischen StSG und BK, zu einer vorübergehenden Schließung der Gedenkstätte zwinge.298 Die einzige Gedenkstättenmitarbeiterin war seit Sommer 1994 befristet für nur ein Jahr über das HAIT für die Gedenkstätte Bautzen angestellt. Da eine Verlängerung des Arbeitsvertrages aus arbeitsrechtlichen Gründen nicht mehr möglich war,299 wurde das BK angehalten, die Mitarbeiterin über den Verein weiterzubeschäftigen. Dies sah zumindest das dezentral angelegte Personalkonzept der StSG vor, das der Stiftungsrat am 08. März 1995 beschlossen hatte.300 Es regelte, dass alle bisherigen Gedenkstättenmitarbeiter über die vor Ort ansässigen Vereine/Verbände zu beschäftigen seien und deren Kosten von der StSG erstattet werden sollten. Allein für 1995 waren bereits 100.000 DM hierfür sowie für Sachmittel in den StSG-Haushalt eingestellt.301 Die Kritik von Ehrhard G. traf also nicht zu. Tatsächlich war es nämlich das BK, das monatelang einen Arbeitsvertrag zwischen Verein und Mitarbeiterin verweigerte. Es bevorzugte lieber eine konsequente Trennung von StSG und Verein, befürchtete es »durch diese vermeidliche Hintertür« wieder die Trägerschaft der Gedenkstätte zu übernehmen.302 Dies war absurd, da die Gedenkstätte bereits
296 Sächsischer Landtag, Drs. 02/0581 vom 02.03.1995, PASächsLt.; Schreiben des SMWK Staatsminister Meyer an den Sächsischen Landtag vom 20.03.1995, PASächsLt. 297 O.V.: »Gedenkstätte Bautzen wartet auf 750.000 Mark vom Land«, in: Dresdner Neueste Nachrichten vom 16.02.1995, ArStSG, Presse. 298 Moschke, Bernd: »Machen sächsische Gedenkstätten dicht?«, in: Dresdner Neueste Nachrichten vom 18.05.1995, ArStSG, Presse; StSG: Vermerk vom 01.08.1995, S. 2, ArStSG, BZ II 1991-1995. 299 StSG Stiftungsbeirat: Protokoll über die 4. Sitzung (2/95) des Stiftungsbeirates der Stiftung »»Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft« am 16.05.1995, S. 4, ArStSG, Sitzungen. 300 StSG: Protokoll der 3. Sitzung des Stiftungsrates der Stiftung »Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft« am 08.03.1995, S. 5, ArStSG, Sitzungen; Schreiben des SMWK Staatsminister Meyer an den Sächsischen Landtag vom 07.06.1995, PASächsLt. 301 Schreiben des SMWK Staatsminister Meyer an den Sächsischen Landtag vom 20.03.1995, PASächsLt. Durch einen Bundeszuschuss in Höhe von 50.000 DM wurde dieser Betrag im Laufe des Jahres sogar auf 185.000 DM erhöht und somit fast verdoppelt, vgl. StSG: Vermerk vom 01.08.1995, S. 3, ArStSG, BZ II 1991-1995. 302 Schreiben des Bautzen-Komitees an die StSG vom 17.05.1995, ArStSG, BZ II 19911995; Schreiben der StSG an das Bautzen-Komitee vom 23.05.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995; StSG: Protokoll der 3. Sitzung des Stiftungsrates der Stiftung »Sächsische
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längst in fester Trägerschaft der StSG war und sich die Zuwendungsvereinbarung – wie dargestellt – ausschließlich auf ein dezentral angelegtes Personalkonzept der StSG stützte. Statt als Träger sollte das BK also als reiner Zuwendungsempfänger für die Personal- und Sachgelder auftreten, die über die StSG an die Gedenkstätten direkt ausgeschüttet werden sollten. Dies kam öffentlich kaum zur Sprache.303 Stattdessen gab das BK bekannt, dass die Staatsregierung sich in »absoluter Untätigkeit« übe304 und die StSG in großen Stil Steuergelder für Geschichtsklitterung auf Kosten der SED-Opfer veruntreue: »Für einen Großteil der Restsumme will man z. Zt. brotlose Wissenschaftler beschäftigen, um unsere Erlebnisse mit dem Stasi-Regime zu verwässern und zu verfälschen […]. Der offene Wille mit und für die Opfer ist nicht erkennbar. […]«. Und mit kämpferischer Rhetorik machte er gegen die StSG mobil: »Zweifel sind erlaubt, warum wir unser Leben für ein freies und demokratisches Deutschland geopfert haben, wenn heute wieder von Menschen über und gegen uns Opfer entschieden wird. […] Noch haben wir Kraft zum Widerstand, welcher wenigstens auch teilweise Erfolge bringt.«305
Anlässlich des Bautzen-Treffens Anfang Juni 1995 wurde diesen Vorwürfen zusätzliches öffentliches Gewicht verliehen. So übergab das Komitee der Presse die eigenen Forderungen:
Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft« am 08.03.1995, S. 5, ArStSG, Sitzungen; StSG: Stellungnahme vom 03.09.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995. 303 StSG: Protokoll der 3. Sitzung des Stiftungsrates der Stiftung »Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft« am 08.03.1995, S. 2, ArStSG, Sitzungen; StSG: Beratungsvorlage für die Stiftungsratsitzung der »Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft« am 08.03.1995, S. 2-3 u. 6, ArStSG, Sitzungen. So war die einzige hauptamtliche Gedenkstättenkraft zwar seit dem 01.08.1994 bis zum 30.06.1995 beim HAIT im Rahmen eines Projektvertrages angestellt, ihr sollte jedoch ein Anschlussvertrag beim Bautzen-Komitee ab dem 01.07.1995 folgen, der geldlich vollständig über Zuschüsse der StSG gedeckt werden sollte. Daneben übernahm das SMWK weiterhin die Personalkosten für 6 ABM-Stellen von ABS-Brücke für die Gedenkstätte Bautzen, vgl. HAIT: Tischvorlage zu TOP III »Berichte« für die Sitzung des Gedenkstättenrates am 30.01.1995, ArStSG, Sitzungen; Sächsischer Landtag, Drs. 02/0634 vom 16.03.1995, PASächsLt.; SMWK: Stellungnahme zur Sitzung des Sächsischen Landtages am 22./23.03.1995, ArStSG, Kabinett; SMWK: Antwort zur LtDrs. 2/0634 10. Sitzung des Sächsischen Landtages am 24.03.1995, S. 2, ArStSG, Kabinett. 304 Moschke, Bernd: »Machen sächsische Gedenkstätten dicht?«, in: Dresdner Neueste Nachrichten vom 18.05.1995, ArStSG, Presse. 305 Ehrhard G.: »Bautzen II als Gedenk- und Begegnungsstätte«, in: Bautzen-Komitee: Mitteilungen 1/95 vom 26.04.1995, S. 2, ArStSG, Presse.
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»1.) Unverzügliche Einsetzung der […] Fachkommission. 2.) Erstellung einer tragfähigen, fachlich abgesicherten Konzeption für die Einrichtung und den Betrieb der Gedenkstätte Bautzen II, und zwar rechtzeitig vor den Haushaltsberatungen 1996. 3.) Einbeziehung der nach der fachlichen Konzeption notwendigen personellen und finanziellen Ausstattung in die Haushaltsberatungen für 1996.«306
»Mit der planungsmäßigen Ausführung der Arbeiten vor Einbruch des nächsten Winters kann gerechnet werden, wenn die Mittel nach Bestätigung des Wirtschaftsplanes rechtzeitig freigegeben werden«, verbreitete die Regierung unterdessen Zuversicht hinsichtlich der Bauplanungen.307 Das SMWK und die StSG wiederum wiesen die Vorwürfe des stellvertretenden BK-Vorsitzenden als »unsinnige Panikmache« zurück.308 Für die Verzögerungen bei der Besetzung der Fachkommission erklärten sie vor allem die Opfervertreter für verantwortlich, entsprächen deren Vorstellungen nicht den gebotenen Standards an fachlicher Kompetenz. Der Vorschlagsliste des BK wurde demzufolge widersprochen mit dem Argument, sie sei zu einseitig mit Opfern besetzt und es mangele vollständig an fachlicher Repräsentanz. 309 Statt des Übergewichtes an Opferperspektive drangen das SMWK, der Stiftungsrat und der Geschäftsführer der StSG vielmehr darauf, dass die Fachkommissionen für die sächsischen Gedenkstätten per Geschäftsordnung der StSG – wie bei Gedenkstätten prinzipiell üblich – vor allem mit Fachwissenschaftlern bzw. ausgewiesenen Gedenkstättenexperten, Vertretern der Liegenschaftsverwaltungen bzw. Sitzkommunen, Vertretern des Bundes (aufgrund der in Aussicht gestellter Bundesförderung) und erst zuletzt mit Opfervertretern zu besetzen seien.310 Die Berücksichtigung von zu vielen Opfervertretern in der Fachkommission wurde eher als hinderlich einge-
306 Bautzen-Komitee: Entwurf Einführungsrede zum Bautzen-Treffen 95 vom 31.05.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995. 307 Sächsischer Landtag, Drs. 02/0439 vom 24.02.1995, PASächsLt., Schreiben des SMWK Staatsminister Meyer an den Sächsischen Landtag vom 22.02.1995, ArStSG, LtDrs. 308 O.V.: »Kunstminister Meyer: Gedenkstätten bleiben weiterhin öffentlich«, in: Dresdner Neueste Nachrichten vom 19.05.1995, ArStSG, Presse. 309 StSG: Protokoll zur 3. Sitzung (1/95) des Stiftungsbeirates der Stiftung »Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft« am 14.02.1995, S. 4, ArStSG, Sitzungen; Schreiben der StSG Stiftungsbeirat an die StSG Geschäftsstelle vom 20.04.1995, ArStSG, Sitzungen. 310 SMWK: SMWK-Entwurf einer Geschäftsordnung der »Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft« vom 23.02.1995, S. 4, ArStSG, 2. Grundsätzliches Verträge, 2.1-2.2 [Grundsätzliches]; SMWK: Beratungsvorlage für die Stiftungsratssitzung der »Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft« am 08.05.1995, S. 4, ArStSG, Sitzungen; StSG: Protokoll der 4. Sitzung des Stiftungsrates der Stiftung »Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft« am 24.04.1995, S. 9, ArStSG, Sitzungen.
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stuft.311 Um in die Bundesförderung zu gelangen sowie gemessen am Niveau anderer Landesgedenkstättenstiftungen erhoben sie zudem ausschließlich sachliche und fachliche Kriterien (Drehbuch, fachliches Gutachten/Sachbericht/Konzept, Kosten- und Finanzierungsplan sowie Stellungnahme des Stiftungsbeirates) zur Fördergrundlage.312 Besonders im Fall Bautzen lag eine grundsätzliche Zusage für eine Bundeszuwendung ja bereits seit Jahresbeginn 1995 offiziell vor und mangelte es lediglich am Erfüllen eben dieser erforderlichen Kriterien.313 Neben der Forderung nach Professionalisierung und Versachlichung der Gedenkstättenarbeit gingen SMWK, Stiftungsrat sowie der Geschäftsführer der StSG im gleichen Zuge gegen einen eigenmächtigen Ankauf und das Aufstellen eines Gefangenensammeltransportwaggons der Deutschen Reichbahn (GSTW) vor, den das BK anlässlich des Besuches des Ministerpräsidenten Roman Herzog und dann auf Dauer im Innenhof der Gedenkstätte Bautzen geplant hatte. An diesem Ort habe es weder eine Gleisanbindung noch Waggontransporte gegeben, lautete die Begründung von SMWK und StSG.314 Hinzu kam, dass der Waggon ursprünglich von ehemaligen Häftlingen bzw. dem Verband »Hilferufe von drüben« privat erworben worden war und gegenüber der StSG nicht einmal ein offizieller Antrag über eine Anschaffung und Kostenübernahme vorlag.315 Der Waggon war also Privatbesitz und nicht Eigentum der StSG bzw. der Gedenkstätte. »Durch Hilfe von jahrelang bekannten und aktiven Sponsoren wurde mit einer Blitzüberweisung der Folterwaggon erst einmal aufgekauft um diesen Waggon vor einem opferfeindlichen Dresdner Zugriff zu retten«, stellte es das BK seinen Mitgliedern dar.316 Als der Bundespräsident Herzog am 21. März 1995 die Bautzener Gefängnisse besuchte, hatte das BK im Hofbereich von »Bautzen II« bereits ein Schotterbett mit Gleis angelegt.317
311 StSG: Einsetzung der Fachkommission gemäß §7 Abs. 6 der Satzung und § VIII der Geschäftsordnung vom 12.04.1995, ArStSG, Sitzungen. 312 SMWK: SMWK-Entwurf einer Geschäftsordnung der »Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft« vom 23.02.1995, S. 3, ArStSG, Grundsätzliches. 313 StSG: Protokoll der 3. Sitzung des Stiftungsrates der Stiftung »Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft« am 08.03.1995, S. 4, ArStSG, Sitzungen. 314 Schreiben des Bautzen-Komitees an das SMWK vom 12.03.1995, ArStSG, BZ II 19911995; Moschke, Bernd: »Der Grote-Wohl-Express auf der letzten Fahrt in den Knast«, in: Dresdner Neueste Nachrichten vom 18./19.02.1995, ArStSG, Presse. 315 StSG: Stellungnahme vom 03.09.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995; Ehrhard G.: »Bautzen II. Umfeld und Öffentlichkeit«, in: Bautzen-Komitee: Mitteilungen 2/95, August 1995, S. 4, PrBvH; Mitgliederinformation I. 316 Ebd. 317 Moschke, Bern: »Herzog tief Betroffen von Unmenschlichkeit und beeindruckt von Neuem in Bautzen«, in: Dresdner Neueste Nachrichten vom 22.03.1995, ArStSG, Presse; Moschke, Bernd: »Bundespräsident im Stasi-Knast: Vom ersten bis zum letzten unmenschlich«, in: Leipziger Volkszeitung vom 22.03.1995, ArStSG, Presse; Schade,
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Um ein Aufstellen in Bautzen abzuwenden und um für den GSTW einen adäquaten Standort zu finden, wurde er im Einvernehmen mit dem Stiftungsbeiratsvorsitzenden schließlich vorübergehend im Dresdner Verkehrsmuseum untergestellt und übernahmen SMWK und StSG sogar die Anschaffungs- und Überführungskosten. Sie bezahlten der Deutschen Bahn die Rechnung, damit eine geeignete Lösung gefunden werde.318 Der Stiftungsbeiratsvorsitzende akzeptierte diese Entscheidung jedoch im Nachhinein nicht und machte den Geschäftsführer nachträglich persönlich für ein »vorläufiges Verschwinden« des GSTW verantwortlich und unterstellte ihm »bewusste Verzögerung oder Verhinderung der Angelegenheit«.319 Die StSG wolle das »DDR-Folterfahrzeug« als »Beweismittel vernichten«, hatte er von Beginn an, den Verdacht gegen die StSG gehegt.320 Der Vertreter des Zentralrates der Juden im Stiftungsrat der StSG hingegen begründete den Stiftungsratsbeschluss, die Aufstellung des Waggons »[…] sei eine Inszenierung von Geschichte, missverständlich und irritierend. Grundsätzlich sollten bei der Anschaffung von Sachzeugen die inhaltlichen Schwerpunkte einer Gedenkstätte beachtet werden, es könnten sonst verfälschte Geschichtsbilder entstehen«.321 D.h., nicht nur aufgrund der fehlenden lokalen Bezüge verhinderten SMWK und StSG ein Aufstellen des GSTW, sondern nun auch um eine Vermischung der Erinnerungszeichen zu vermeiden. Der »Güterwaggon« sollte als signifikantes Symbol für den Holocaust durch die vom BK geplante Dekontexutalisierung nicht »aufgeweicht« bzw. relativiert, einer symbolpolischen Nivellierung der Verbrechen stattdessen vorgebeugt werden. Aus ähnlichen Motiven heraus kritisierte der Geschäftsführer der StSG neben dem GSTW auch die kommentarlose Dokumentation eines Häftlingsschicksals der Zeit nach 1945 in »Bautzen II«. Sie war vom BK installiert worden und ließ unerwähnt, dass der Häftling sich vor 1945 nationalsozialistischer Verbrechen schuldig gemacht hatte. SMWK, StSG und Stiftungsrat drängten angesichts dieser Feststellungen und durch den GSTW-Streit nun auf eine grundlegende Überarbeitung der bisherigen Ausstellungsinhalte in »Bautzen II«.322 Während sich der Stiftungsrat und die Geschäftsführung der StSG im Frühjahr 1995 um objektive Geschichtsaufarbeitung und geschichtspolitische Neutralität bemühten, stritten die politischen Fraktionen im Sächsischen Landtag unterdessen weiter über die verschiedenen geschichtspolitischen Gewichtungen der Gedenkstät-
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Thomas: »Die Grenzen zum Osten müssen ›niedriger‹ werden«, in: Sächsische Zeitung vom 22.03.1995, ArStSG, Presse. StSG: Beratungsvorlage vom 12.04.1995, ArStSG, Sitzungen; StSG: Protokoll der 4. Sitzung des Stiftungsrates der Stiftung »Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft« am 24.04.1995, S. 7-8, ArStSG, Sitzungen Schreiben von Ehrhard G. an den Geschäftsführer der StSG vom 14.06.1995, S. 2, ArStSG, BZ II 1991-1995. Schreiben des Bautzen-Komitees an das SMWK vom 14.03.1995, ArStSG, BZ II 19911995. Ebd., S. 7. Ebd.
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te Bautzen. Während die CDU das Projekt Gedenkstätte Bautzen als notwendigen Beitrag zur Erinnerung der »Opfer des Kommunismus und Sozialismus« für sich reklamierte, beklagte die PDS-Fraktion diese antikommunistische und antisozialistische Ausrichtung der Gedenkstätte und forderte eine stärkere Berücksichtigung der politischen Verfolgung vor 1945.323 So beschwerte sich der Fraktionssprecher der PDS z.B. über den Text einer Informationsbroschüre: »Bei Bautzen II […] ist es gar so, dass der Zeit des Faschismus 2,5 Zeilen und der Zeit 1945 bis 1989 allein 40 Zeilen zuerkannt werden. Ist das nur verkannte Historie? […]« und forderte apologetisch »[…] nur in der Ausgewogenheit in der Betrachtung all dessen was Gewalt vermochte, wie sie entstand, wird es möglich sein, in Bautzen eine wirkliche Gedenkstätte, auch als Begegnungsstätte mit Historie, zu betreiben […] Gedenkstätte in Bautzen, ja, doch in Betrachtung all dessen, was in Bautzen geschah, nicht selektiv, eigenartig herausgegriffen, sondern ganzheitliche Geschichtsbetrachtung, auf dass wir aus der Geschichte für die Zukunft lernen […].«324
Zudem beschwerte sich die PDS-Fraktion auf parlamentarischem Wege über pauschalisierte öffentliche Verurteilungen ehemaliger StVE-Bediensteter durch das BK und die Friedrich-Ebert-Stiftung bei gemeinsamen Veranstaltungen, gemeint war wohl das jährliche »Bautzen-Forum«.325 Und um einer »einseitigen und populistischen Sichtweise« auf das ehemalige Gefängnis »Bautzen II« entgegenzutreten, scheute sich die PDS-Fraktion schließlich nicht, eine eigene Projektgruppe »Sonderhaftanstalt Bautzen II« ins Leben zu rufen, die alternativ zum BK die Gefängnisgeschichte aufarbeiten wollte.326 Ihr sollten ehemalige Vollzugsbeamte, Strafgefangene, MfS-Mitarbeiter sowie Historiker angehören, um zu einer historischen Neubewertung der Haftanstalt auch im Sinne einer parteiinternen »Erneuerung« zu gelangen.327 Das BK bewertete diese Initiativen der PDS sogleich als eine »Verharmlosungskampagne« und als »Großangriff der PDS«, um »auf allen Wegen« zu versuchen, »Bautzen II als ganz normale DDR-Strafvollzugsanstalt hinzustellen und die Sonderrolle von Bautzen II durch das MfS zu leugnen und abzustreiten«.328 Keiner parteipolitischen Gewichtung, sondern vielmehr einer fachwissenschaftlichen Fundierung den Vorrang gebend, trat die SPD-Fraktion unterdessen von ihren bisherigen geschichtspolitischen Erwartungen an die Gedenkstätte Bautzen II
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Sächsischer Landtag, Plenarprotokoll 2/95 vom 24.03.1995, S. 668, PASächsLt. Ebd., S. 669. Sächsischer Landtag, Drs. 02/0858 vom 04.04.1995, ArStSG, LtDrs. Michael F. z.n. Braumann, Marcel: »Wurde Bautzen II bisher ›fehlbewertet‹?«, in: Neues Deutschland vom 08.06.1995, ArStSG, Presse. 327 Ebd.; o.V.: »Projektgruppe Sonderhaftanstalt«, in: Sächsische Zeitung vom 12.06.1995, ArStSG, Presse. 328 Ehrhard G.: »Bautzen II als Gedenk- und Begegnungsstätte«, in: Bautzen-Komitee: Mitteilungen 1/95 vom 26.04.1995, S. 3, ArStSG, Presse; Lesch, Markus: »Ringen um Fassung in Bautzen«, in: Die Welt vom 12.06.1995, ArStSG, Presse.
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zurück und verlangte vielmehr jetzt von der Regierung, sie möge endlich dafür sorgen, dass eine politisch neutrale Fachkommission ein Konzept erarbeitet, das die anteilige Bundesförderung für »Bautzen II« befördere: »Hier sind Sie – Minister Meyer, in besonderer Weise angesprochen – zum wiederholten Male. Legen Sie endlich ein solches Konzept vor, um auch an notwendige Bundesmittel zu kommen! Berufen Sie doch endlich eine Fachkommission ein! Die Opferverbände erwarten das längst, auch das Bautzen-Komitee […] Mit einer Fachkommission könne auch in Bautzen im sechsten Jahr nach der Wende endlich die Grundlage für eine maßgebende Aufarbeitung von politischer Gewaltherrschaft geschaffen werden.«329
Des Weiteren erwartete die SPD-Fraktion die Vorlage schlüssiger Gedenkstättenkonzepte inklusive Personalplanungen.330 Damit blies die SPD ins Horn der Opfervertreter, insbesondere des BK, das jedoch anders als die SPD damit eher die eigenen, subjektiv geprägten Geschichtsbilder durchsetzen wollte. Bezüglich der weiteren Entwicklung des Gedenkensembles auf dem Karnickelberg kam erst im März 1995 mit dem Besuch des Bundespräsidenten Roman Herzog vorübergehend wieder Bewegung in die Planung. So nutzte das BK am Rande der Kranzniederlegung an der Gedenkstele auf dem Karnickelberg die Gelegenheit, an die von Bundeskanzler Helmut Kohl Jahre zuvor »versprochene« Gedenkkapelle zu erinnern, die es im Sinne des BK und der Opfervertreter von »Bautzen I« bzw. des »Gelben Elends« noch zu errichten galt.331 »Im Anschluss an diese Zeremonie fragte der Bundespräsident, ob es denn hier nichts weiter gäbe, als diesen Stein. Hier gehöre doch irgendein Gebäude her. Wir erzählten ihm, dass im Februar 1992 der Bundeskanzler Kohl bereits die Zusage gegeben habe, hier müsse eine würdige Kapelle her. Dies griffen der Präsident und auch der sächsische Ministerpräsident sofort auf, und so kommt es, dass zurzeit von drei Seiten Zusagen für diese Kapelle bestehen. […]«,
berichtete der Vorstand des BK optimistisch seinen Mitgliedern.332 Ein an die StSG im April gerichteter Förderantrag wurde jedoch bis zum Sommer aufgrund eines für 1995 bereits abgeschlossenen Wirtschaftsplanes zunächst vernachlässigt.333 So ge-
329 Sächsischer Landtag, Plenarprotokoll 2/95 vom 24.03.1995, S. 669-670, PASächsLt. 330 Sächsischer Landtag, Drs. 02/1094 vom 18.05.1995, PASächsLt. 331 Hans C.: »Roman Herzog in den beiden Bautzener Gefängnissen«, in: BautzenKomitee: Mitteilungen 1/95 vom 26.04.1995, S. 2, ArStSG, Presse. 332 Ebd.; Endler, Hans-Joachim: Fortführung der Arbeiten an den Gräberstätten vom 12./18.04.1995, ArBK, Grabpflege Karnickelberg; Endler, Hans-Joachim: »Gräberstätten auf dem Karnickelberg in Bautzen und auf den Friedhöfen in Zittau und in Görlitz«, in: Bautzen-Komitee: Mitteilungen 1/95 vom 26.04.1995, S. 3, ArStSG, Presse. 333 Schreiben des Bautzen-Komitee an die StSG vom 11.04.1995, ArStSG, Sitzungen; StSG Stiftungsbeirat: Protokoll über die 4. Sitzung (2/95) des Stiftungsbeirates der Stif-
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schah, bis auf die feierliche Übergabe der Grabanlage an die Stadt Bautzen im Rahmen des »Bautzen-Forums«, monatelang abermals nichts.334 Erst bei der Stiftungsratssitzung am 23. Oktober 1995 wurde der Förderantrag des BK über das Errichten einer Kapelle auf dem Karnickelberg wohlwollend zur Kenntnis genommen.335 »Der Stiftungsrat stimmt der Aufnahme der Gedenkkapelle in den Förderkatalog grundsätzlich zu. Der Stiftungsrat bittet den Geschäftsführer in Abstimmung mit dem SMWK um die Klärung der haushaltsmäßigen Voraussetzungen für die Planung der Gedenkkapelle mit Wirkung ab dem Haushaltsjahr 1997«, sah der Beschlussvorschlag der StSG vor, der – wie auch das Projekt insgesamt – mehrheitlich Unterstützung im Stiftungsrat fand.336 Während bzgl. des Karnickelberges das Ringen um erinnerungspolitische Verwirklichung bis zum Stiftungsratsbeschluss im Herbst anhielt, erreichten die Konflikte zwischen BK und StSG parallel ihren Höhepunkt. Der Stiftungsbeiratsvorsitzende trat eine Kampagne gegen den Leiter der Stiftung los, die an Schärfe kaum überboten wurde. So unterstellte der Beiratsvorsitzende dem Stiftungsleiter persönlich, er würde aus reiner Profilierungssucht nur dann nach Bautzen kommen, wenn ranghohe Politiker zu Besuch seien und er würde die Aufarbeitung der Geschichte derart vorsätzlich behindern, dass eine Dienstaufsichtsbeschwerde unumgänglich sei.337 Zudem drohte der Beiratsvorsitzende dem Stiftungsleiter: »Einem Diktat ihrerseits, wie Sie dies seit Jahren in Torgau gegenüber den Opfern kommunistischer Gewaltherrschaft versuchen zu praktizieren, werden wir uns mit allen Mitteln widersetzen.«338 Da der Beiratsvorsitzende seine Beschwerde nicht nur an den Stiftungsgeschäftsführer direkt richtete, sondern sie anlässlich des Besuches des Kanzleramtsministers auch noch ins Bundeskanzleramt und der überregionalen Presse übergab, brachte er das Fass zum Überlaufen.339 Die Vorwürfe (»Schon seit Jahren hat sich Dr. Haase öffentlich in Torgau bekannt, dass es für ihn nur die Opfer vor 1945 gibt […]« und »In Bautzen II hintertreibt er den nötigen Ausbau der Gedenkstätte durch Auszahlungsverhinderung der genehmigten Finanzmittel […]«) sowie der Appell an das Bundeskanzleramt, der Bund solle ein »[…] Machtwort sprechen bzw. in
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tung »Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft« am 16.05.1995, S. 5, ArStSG, Sitzungen. Mickisch, Jürgen: »Grabstätte ist nun in der Obhut der Stadt«, in: Sächsische Zeitung vom 09.06.1995, ArGBZ, HP, Anhang I. Schreiben des Bautzen-Komitee an die StSG vom 11.04.1995, ArStSG, Sitzungen. StSG: Beschlussvorschlag vom 17.10.1995, ArStSG, Sitzungen; StSG: Protokoll der 5. Sitzung des Stiftungsrates der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft am 23.10.1995, S. 5-6, ArStSG, Sitzungen. Schreiben von Ehrhard G. an die StSG Norbert Haase vom 08.07.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995. Ebd. Vgl. u.a. Stock, Wolfgang: »Niemand kann sagen, wann Bautzen II endlich besichtigt werden kann«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.07.1995; Schreiben von Ehrhard G. an das Bundeskanzleramt vom 08.07.1995, S. 2-3.
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diesem Sinne auf die Sächsische Staatsregierung einwirken«, stießen bei allen Adressaten auf Befremden und Unverständnis.340 »Wir haben ein vitales politisches und zeitgeschichtliches Interesse daran, dass die Gedenkstätte möglichst bald der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Das sind nicht nur Sonntagsreden, das zu verwirklichen ist unser fester politischer Wille«, versuchte der Sekretär des Bundeskanzleramtes die Wogen zu glätten.341 »Die sächsische Bürokratie weist alle ›Unterstellungen‹ mit Nachdruck zurück […]« berichtete die überregionale Presse nüchterner.342 Aber damit war der Kampagne noch nicht Genüge getan. Nur zwei Wochen später griff der Beiratsvorsitzende zusammen mit einem weiteren BK-Mitglied den Geschäftsführer der StSG erneut an. Diesmal wurde ein Offener Brief, der von sechs weiteren Opfervertretern unterzeichnet war, an Biedenkopf gerichtet wurde. Darin forderten die Unterzeichner den Ministerpräsidenten auf, »[…] dass Sie und das Kabinett nach Prüfung der Angelegenheit Dr. Haase noch in dessen Probezeit (bis Ende August) durch einen von den Opferverbänden nach 1945 anerkannten kompetenten Fachmann ersetzt wird«.343 Sie verlangten also von Biedenkopf, den gerade erst im März eingesetzten Geschäftsführer der StSG wieder zu feuern, um ihn durch einen gewogenen Kandidaten zu ersetzten. Objektive und fachliche Gründe hierfür wurden nicht vorgebracht, fußte die Begründung hierfür weiterhin auf den zuvor bereits aufgeführten Unterstellungen.344 Unterschrieben war dieses zweite Pamphlet von Vertretern der VOS, des BSV, des Waldheim Kameradenkreises, des Torgauer Kameradenkreises »Fort Zinna«, des Frauenkreises der ehemaligen Hoheneckerinnen und des Verbandes der Politisch verfolgten Ausländer in der DDR.345 Bereits kurz nach der Veröffentlichung zogen die meisten Unterzeichner allerdings ihre Unterschrift wieder zurück. »Keiner der angeführten Punkte würde einem Wahrheitsbeweis standhalten – entweder handelt es sich um Unter- oder bewusste Entstellung«, begründete beispielsweise der BSV seinen Rückzug und wies zudem ungeschminkt daraufhin, »[…] dass die Stiftung nicht nur aus der Gedenk-
340 Ebd.; StSG: Vermerk vom 11.07.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995; Berger, Tilo: »›Ich habe diese Schönwetterreden satt‹«, in: Sächsische Zeitung vom 12.07.1995, ArStSG, Presse. 341 Friedrich Bohl z.n. Stock, Wolfgang: »Niemand kann sagen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.07.1995. 342 Ebd. 343 Offener Brief an die Sächsische Staatskanzlei Ministerpräsident Biedenkopf vom 03.08.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995. 344 O.V.: »Sachsens Opferverbände fordern Ablösung von Norbert Haase«, in: Sächsische Zeitung vom 18.08.1995, ArStSG, .1 BZ II 1991-1995; Löbbers, Heinrich: »›Jeder hat persönlich am meisten gelitten‹«, in: Sächsische Zeitung vom 25.08.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995. 345 Offener Brief an die Sächsische Staatskanzlei Ministerpräsident Biedenkopf vom 03.08.1995, S. 2, ArStSG, BZ II 1991-1995.
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stätte Bautzen II besteht«.346 Rückendeckung erhielt der StSG-Geschäftsführer aber auch und vor allem von den sächsischen NS-Gedenkstätten- bzw. Opfervertretern (u.a. Pirna-Sonnenstein, Torgau und Münchner Platz in Dresden), die mit eigenen offenen Briefen die Gedenkstättenpolitik der StSG verteidigten und den »Alleingang« der SBZ- und SED-Opfervertreter stark kritisierten.347 »Wir sind […] davon überzeugt, dass diese Verfahrensweise einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Stiftung bzw. deren Gremien und den Gedenkstätten sowie Opferverbänden nicht förderlich ist«, mahnten die Opfervertreter der Gedenkstätte Münchner-Platz.348 »In beschämender Weise werden […] die berechtigten Interessen derjenigen, die nach 1945 in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR schweres Unrecht erlitten haben, instrumentalisiert, um den Gedenkort Bautzen II gegen die übrigen sächsischen Gedenkstätten auszuspielen«, kommentierten die Vertreter von PirnaSonnenstein und Torgau.349 Der StSG-Geschäftsführer selbst konterte mit mildem Verständnis, es sei »[…] nicht immer leicht, die Sichtweise der Opfer und die historisch-wissenschaftliche Perspektive unter einen Hut zu bringen«.350 An den Ministerpräsidenten und an den Staatsminister des SMWK gab er entsprechend aufklärende, vermittelnde Stellungnahmen zu den einzelnen Vorwürfen ab, der sich die Regierungsseite und das SMWK öffentlich anschlossen.351 »Die subjektiv geprägte Erinnerungswelt der Betroffenen verträgt sich oft nur schwer mit der nüchternen historischen Analyse der Wissenschaftler«, bekannte schließlich auch die Presse.352 Der Streit zwischen der StSG und der Gedenkstätte Bautzen, bzw. zwischen BK und Haase endete erst, als Ende August 1995 plötzlich bekannt wurde, dass der Rädelsführer Ehrhard G. zwischen Februar 1954 und Mai 1959 selbst als Ge-
346 Schreiben des BSV an Xing-Hu Kuo vom 04.08.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995; Moschke, Bernd: »Opferverbände streiten sich um Chef der Gedenkstätten-Stiftung«, in: Dresdner Neueste Nachrichten vom 29.08.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995. 347 Schreiben des Münchner-Platz-Komitee e.V. an die Sächsische Zeitung vom 18.08.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995; Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein und der Gedenkstätte DIZ Torgau: Erklärung der Sächsischen Gedenkstätten vom 31.08.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995. 348 Schreiben des Münchner-Platz-Komitee e.V. an die Sächsische Zeitung vom 18.08.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995; Moschke, Bernd: »Opferverbände streiten sich um Chef der Gedenkstätten-Stiftung«, in: Dresdner Neueste Nachrichten vom 29.08.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995. 349 Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein und der Gedenkstätte DIZ Torgau: Erklärung vom 31.08.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995. 350 Norbert Haase z.n. o.V.: »Stiftungschef: Kritik haltlos«, in: Sächsische Zeitung vom 18.08.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995. 351 StSG: Vermerk vom 02.08.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995; StSG: Vermerk vom 21.08.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995; StSG: Stellungnahme vom 03.09.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995; SMWK: Presseinformation 74/1995 vom 01.09.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995. 352 Löbbers, Heinrich: »›Jeder hat persönlich am meisten gelitten‹«, in: Sächsische Zeitung vom 25.08.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995.
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heimer Informant (GI) für das MfS gearbeitet habe. Erst nach seiner MfS-Zeit sei er für den amerikanischen Geheimdienst tätig gewesen, aufgeflogen und schließlich wegen Spionage in »Bautzen II« gelandet, führte der Vorstand des BK gegenüber dem SMWK auf.353 In einem diesbezüglichen Informationsschreiben teilte das BK mit: »Es besteht […] die nicht unbegründete Vermutung, dass [er] zumindest bis etwa Mitte 1956 eine noch unbekannte Zahl oppositioneller Mitbürger der Stasi denunzierte. Am 19.2.1954 verpflichtete sich [er]›freiwillig aus progressiver politischer Überzeugung als GI mit dem Decknamen Karl Heinz mit dem MfS inoffiziell zusammen zu arbeiten‹ […].«354
Zudem gab das Schreiben Auskunft über den »kommunistischen Werdegang« (SED-Parteimitgliedschaft, FDJ-Funktionärswesen, Trägerschaft der Ernst-Thälmann-Medaille). Der Beiratsvorsitzenden stand also nun unter Verdacht nicht nur Opfer, sondern auch Täter gewesen zu sein. In einem Schritt entzog ihm der Vorstand umgehend alle Vollmachten und der Gründungsvater, Benno von Heynitz, übernahm trotz gesundheitlicher Handikaps wieder das Ruder.355 Des Weiteren nahm das BK die MfS-Verstrickung des Beiratsvorsitzenden zum Anlass, sich nun grundsätzlich gegen den bisherigen Konfrontationskurs zu stellen und sich wieder für eine bessere Zusammenarbeit mit der StSG einzusetzen.356 Die seit Juli 1995 beurlaubte Mitarbeiterin erhielt umgehend einen neuen Arbeitsvertrag, der ihre Weiterbeschäftigung absicherte.357 Dem Abschluss der Zuwendungsvereinbarung zwischen StSG und BK stand jetzt also nichts mehr im Wege, haushaltsmäßig und personalpolitisch waren alle offenen Fragen auf einen Schlag gelöst. Am 01. September 1995 öffnete die Gedenkstätte Bautzen wieder ihre Türen.358 Neben diesen ad hoc-Maßnahmen forderte der BK-Vorstand im Sinne einer vereinsinternen Aufklärung den Beiratsvorsitzenden auf, im Rahmen einer nächsten Sitzung zu diesen Vermutungen eine Stellungnahme abzugeben.359 Dieser Aufforderung entzog er sich durch Vereinsaustritt: »Mit sofortiger Wirkung erkläre ich
353 Schreiben des Bautzen-Komitees an das SMWK vom 21.08.1995, ArStSG, Gremien; StSG: Vermerk vom 21.08.1995, S. 1, ArStG, BZ II 1991-1995. 354 Schreiben des Bautzen-Komitees an das SMWK vom 21.08.1995, ArStSG, Gremien. 355 StSG: Vermerk vom 30.08.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995. 356 StSG: Vermerk vom 21.08.1995, S. 3, ArStSG, BZ II 1991-1995. 357 Arbeitsvertrag zwischen Bautzen-Komitee e.V. und Frau Richter vom 31.08.1995, ArStSG, 5.1 Gedenk- und Begegnungsstätte Bautzen II 1996 [BZ II 1996]; BautzenKomitee: Erklärung vom 31.08.1995, ArStSG, BZ II 1996. 358 StSG: Stellungnahme vom 03.09.1995, S. 3, ArStSG, BZ II 1991-1995; StSG: Vermerk vom 30.08.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995; StSG: Pressemitteilung vom 31.08.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995; Mickisch, Jürgen: »Ex-Knast ist wieder offen«, in: Sächsische Zeitung vom 04.09.1995, ArStSG, Presse. 359 StSG: Vermerk vom 30.08.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995.
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hiermit, am 06. Oktober 1995, meinen Austritt aus dem Bautzen-Komitee e.V360 Der Vorstand nahm diese Erklärung zur Kenntnis und entschied »[…] ihr nichts hinzuzufügen«.361 Aus seinen Ämtern im Stiftungsrat und -beirat wurde er nur wenig später durch Staatsminister Meyer persönlich enthoben: »Aus den benannten Gründen rufe ich Sie daher als Mitglied des Stiftungsbeirates ab. Automatisch erlischt Ihr Vorsitz […].«362 Obwohl der MfS-Verdacht weiterbestand und der ehemalige Beiratsvorsitzende daher innerhalb der Aufarbeitungs- und Opferverbandsszene überwiegend auf barsche Kritik stieß, gründete er zusammen mit wenigen, ihm loyalen BK-Mitgliedern in Berlin einen eigenen Verein, den Opfer-, Förder- und Dokumentationsverein Bautzen (OFB e.V.), der es sich zur Aufgabe machte, parallel zum BK hauptsächlich die Geschichte von »Bautzen II« aufzuarbeiten und zu dokumentieren.363 »Solange ich sowohl Vorsitzender des Bautzen-Komitees und damit gleichzeitig des Fördervereins für die Gedenkstätte Bautzen als auch des Beirates der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft bin, werde ich nicht dafür stimmen, dass diese Truppe in diesen Verbänden Fuß fasst. Auch in der UOKG werde ich ganz entschieden gegen eine Aufnahme dieser Clique stimmen«,
kommentierte der BK-Vorsitzende die Gründung des OFB e.V. und lehnte er jegliche Zusammenarbeit entschieden ab.364 Der OFB wiederum nahm diese ablehnende Haltung fortan zum Anlass öffentlich zu bekunden, das BK ignoriere den besonderen Charakter von »Mielkes Privatknast«, vernachlässige absichtlich die Interessen
360 Schreiben von Ehrhard G. an das Bautzen-Komitee vom 06.10.1995 z.n. Schreiben des Bautzen-Komitee an das SMWK vom 09.10.1995, ArStSG, Gremien; Löbbers, Heinrich: »Doppelagent im Opferverband«, in: Sächsische Zeitung vom 27.10.1995, ArStSG, Presse. 361 Schreiben von Ehrhard G. an das Bautzen-Komitee vom 06.10.1995 z.n. Schreiben des Bautzen-Komitees an das SMWK vom 09.10.1995, ArStSG, Gremien. 362 Schreiben des SMWK Staatsminister Meyer an Ehrhard G. vom 19.10.1995, ArStSG, Gremien. Ein Bericht erfolgte hierzu abschließend zur 5. Stiftungsratssitzung am 23.10.1995, vgl. StSG: Protokoll der 5. Sitzung des Stiftungsrates der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft am 23.10.1995, S. 2-3, ArStSG, Sitzungen. 363 Schreiben der StSG an das SMWK Staatsminister Meyer vom 27.11.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995; o.V.: »Neuer Verein der Häftlinge von Bautzen II«, in: Sächsische Zeitung vom 27.11.1995, ArStSG, Presse; o.V.: »Schwere Krise im Bautzen-Komitee«, in: Dresdner Neueste Nachrichten vom 28.10.1995, ArStSG, Presse. Der OFB e.V., der seinen Sitz sowohl in Berlin als auch in Bautzen hat, wird bei der weiteren Untersuchung nur am Rande berücksichtigt. Hauptgrund hierfür ist, dass die zu einer Zusammenarbeit bereiten Vertreter des OFB e.V. über kaum auswertbare Materialien aus dieser Vereinsfrühphase verfügten. 364 Bautzen-Komitee: Rundbrief. Stellungnahme des Bautzen-Komitees vom 26.11.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995.
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der nach 1956 dort Inhaftierten bzw. behindere gezielt deren Aufarbeitungsleistungen, entspreche so den »Interessen von PDS und Stasi-Seilschaften«.365 Das BK dementierte dies begründetermaßen.366 Der StSG warf der OFB weiterhin Verdrängung, Verharmlosung, Vandalismus, Kahlschlag und die Vernichtung von Spuren vor: »Alles, was in Bautzen II auf die Vergangenheit des MfS deutete ist verschwunden oder vernichtet! Die PDS-Forderungen […] wurden somit offiziell umgesetzt! Befindet sich Sachsen schon auf dem Weg vom Freistaat zur ›Volksrepublik‹?«367 Die von der StSG gepflegte Zeitzeugenarbeit wurde als »Vernehmung ehemaliger Opfer durch Wissenschaftler« umgedeutet.368 Als der OFB-Gründungsvater verschiedene Gegenstände aus der provisorischen Ausstellung in Bautzen zu Privateigentum erklärte und diese entsprechend selbst entfernte, und als das Staatliche Liegenschaftsamt eine Nutzung von Räumen durch den OFB e.V. durch Nichtzuständigkeit ausschloss, war der Bruch mit den BK und der Gedenkstätte auch räumlich-materiell endgültig vollzogen.369 Damit waren alle massiven geschichts-, und erinnerungs- und parteipolitischen Konflikte um das Gedenken und Erinnern in Bautzen plötzlich und vorerst beigelegt. Dies brachte auch der Vorstand unmissverständlich zum Ausdruck: »Eine schwere Krise im Bautzen-Komitee wünscht er [der ehemalige Beiratsvorsitzende] sich wohl herbei. Aber, genau besehen: eine solche ist durch seinen Austritt nach mehrjähriger Dauer praktisch beendet worden.«370 Das Ende seiner »Ära« markierte dabei auch das unverhoffte Ende der streitintensiven Anfangsphase der StSG. Mit dem Abtritt des Beiratsvorsitzenden endeten schlagartig alle Querelen um die Gedenkstätte Bautzen zwischen BK, StSG und SMWK. Alle drei fokussierten ihr Engagement nun verstärkt auf die inhaltliche Professionalisierung und Konsolidierung der sächsischen Gedenkstätten, insbesondere Bautzens. Die Weiterentwicklung der Gedenkstätte Bautzen rückte wieder ins Zentrum der Bemühungen und Initiativen, d.h. Fragen des Haushalts, die Besetzung der Fachkommission und eine konzeptionelle, personelle und ausstellungsspezifische Aufbau des Gedenkstättenbetriebes. Es liegt nahe, dass diese neue Phase weiterhin begleitet war von erinnerungs- und geschichtspolitischen Auseinandersetzungen, wenngleich – und dies wird zu belegen sein – die Schärfe dieser Auseinandersetzungen nie mehr das Ausmaß erreichte wie zuvor und sie eher geprägt waren von »gewohnheitsmäßigem Einspruch« bzw.
365 Ehrhard G.: »Neuer Verein für Bautzen zwei«, in: Die Freiheitsglocke 01 (1996), S. 2, ArStSG, Gremien. 366 Schreiben des Bautzen-Komitees an die StSG vom 03.04.1996, ArStSG, BZ II 1996; Bautzen-Komitee: Erklärung vom 10.04.1996, ArStSG, Gremien. 367 OFB e.V.: Öffentliche Erklärung zu Bautzen II: Stasi-Opfer werden erneut gedemütigt vom 17.06.1996, ArStSG, Kabinett. 368 OFB e.V.: Information zum Tag des offenen Denkmals 1996 vom 08.09.1996, ArStSG, Kabinett. 369 Bautzen-Komitee: Aktennotiz vom 21.02.1996, ArStSG, BZ II 1996; Schreiben des Staatlichen Liegenschaftsamtes an Ehrhard G. vom 20.03.1996, ArStSG, BZ II 1996. 370 Schreiben des Bautzen-Komitees an die Dresdener Neueste Nachrichten vom 01.11.1995, S. 2, ArStSG, BZ II 1991-1995.
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»habitueller Gegenrede«. Welche Diskursverläufe genau diese Phase der Professionalisierung und Konsolidierung der Gedenkstätte Bautzen mit sich brachten, wird nun aufgezeigt.
3.5 P ROFESSIONALISIERUNG NACH 1995
UND
K ONSOLIDIERUNG
Beim Bundesministerium des Innern (BMI) beantragte die StSG für den laufenden Gedenkstättenbetrieb (Personal, Verwaltung, Aufbau der Ausstellung, Forschung und Sammlung) für die Jahre 1996 und 1997 150.000 DM als Komplementärmittel zu den 150.000 DM, die der Freistaat Sachsen per Landtagsbeschluss über die StSG für die Gedenkstätte Bautzen II zur Verfügung stellte.371 Für die Gedenkstätte Bautzen wurde damit, wie auch in 1995, weiterhin der höchste Anteil des insgesamt 1,8 Millionen DM umfassenden Stiftungsetats per Kabinettsbeschluss vorgesehen.372 Das BMI bewilligte die beantragte Summe in voller Höhe als Projektmittel. Damit befand sich Bautzen erstmals in einer komplementären Bund/Land-Finanzierung über eine Gesamtsumme von insgesamt 300.000 DM für den reinen Gedenkstättenbetrieb/-unterhalt.373 Als Empfänger trat die »Abteilung Gedenkstätte« des BK auf, sodass es in den Rang eines Fördervereins gehoben wurde.374 Die monatelang vom Beiratsvorsitzenden geforderte Berufung einer Fachkommission für die Gedenkstätte Bautzen erfolgte per Stiftungsratsbeschluss am 23. Oktober 1995.375 Ihr sollten u.a. Karl Wilhelm Fricke, der bereits 1993 ein erstes Konzept vorlegt hatte, Brigitte Oleschinski, Historikerin bei der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und Expertin für Strafvollzug im 20. Jahrhundert, HansHerrmann Lochen, Ministerialrat im BMJ, Christian Ladwig, stellvertretender Leiter der Abteilung Bildung und Forschung beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen der ehemaligen Staatssicherheit der DDR (BStU) sowie ein Vertreter der Staatshochbau- bzw. Liegenschaftsämter angehören. Die Opferverbände sollten vertreten werden durch den neuen Vorsitzenden des BK Hans C., sowie durch Har-
371 StSG: Vermerk vom 06.12.1995, S. 2, ArStSG, BZ II 1991-1995. 372 Schreiben des SMWK an die Sächsische Staatskanzlei vom 14.09.1996, S. 13, ArStSG, Kabinett; SMWK: Bericht zur Vorkonferenz am 25.09.1995 vom 20.09.1995, ArStSG, Kabinett; Sächsische Staatskanzlei: Beschluss Nr. 02/0249 zur 39. Kabinettssitzung vom 26.09.1995, ArStSG, Kabinett; StSG: Presseinformation vom 23.01.1996, ArStSG, Presse. 373 Ebd.; SMWK: Positionspapier der Sächsischen Staatsregierung zu einer Gedenkstättenkonzeption für die Bundesrepublik Deutschland vom 29.04.1997, S. 7, StAufarb, Enquete-Kommission, 13. WP, SED 65. 374 Schreiben des StSG an das BMI vom 31.07.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995; BautzenKomitee: Mitteilungen Nr. 3/95, Dezember 1995, S. 1-2, PrBvH, Mitgliederinformation I. 375 StSG: Protokoll der 5. Sitzung des Stiftungsrates der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft am 23.10.1995, S. 5, ArStSG, Sitzungen.
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ry B., Mitglied des IVVdN.376 Durch diese Neubesetzung bildeten die Opfervertreter nicht mehr das Übergewicht der Experten.377 Die Berufungsvorschläge wurden einstimmig vom Stiftungsrat angenommen.378 Der Stiftungsbeirat, ebenfalls unter neuem Vorsitz von Hans C., schloss sich dem Votum des Stiftungsrates an.379 Zunächst befasste sich die frisch gewählte Fachkommission mit einer Bestandaufnahme der bisherigen Arbeiten und mit einer groben Zielplanung. Dabei folgte die Fachkommission nahtlos den Vorstellungen der StSG, die entsprechende Festlegungen bereits vor der ersten konstituierenden Fachkommissionssitzung getroffen hatte. Zwar gab die StSG zur ersten Fachkommissionssitzung einen offenen Fragenkatalog ein,380 tatsächlich waren grundsätzliche »Gedenkstättenstandards« bereits in Begehungen und Besprechungen Wochen vor der ersten Sitzung vorab festgelegt worden.381 Die Fachkommission erarbeitete daher keine vollkommen unabhängige Position, sondern beschränkte sich von Anfang an darauf, »Sprachrohr« der StSG zu sein bzw. die Vorschläge der StSG zu prüfen und zu ergänzen. So monierten die Fachvertreter, dass der bisherige Zustand nur die letzten Jahre des DDRGefängnisses darstelle und zwischen 1989 und 1993 erhebliche bauliche Veränderungen (z.B. an den Treppenaufgängen) vorgenommen worden waren, die nicht dem Authentizitätsanspruch der Gedenkstätte entsprachen. Auch wurde kritisiert, dass die Informationen, die bei Führungen an Besucher vermittelt wurden, allein auf mündlichen Berichten basierten und keiner wissenschaftlichen Überprüfung standhielten.382 Zudem wurde eingefordert, dass die zukünftige Gedenkstätte sowohl »Bautzen II« als auch »Bautzen I« bzw. das«Gelbe Elend« und ihre Unterschiedlichkeit zu vermitteln habe.383 Eine aller erste Empfehlung der Fachkommission, ebenfalls stark beeinflusst durch die Geschäftsstelle der StSG, sah die Entfernung wissenschaftlich bedenklicher »Installationen« vor, wie z.B. die MfS-Weltkarte im Eingangsbereich der sich
376 Benno v. Heynitz legte nur wenige Tage vor seiner Berufung in die Fachkommission aus gesundheitlichen Gründen sein Amt als Vorsitzender des Bautzen-Komitees nieder und übergab es an den Hannoveraner Hans C., vgl. ebd., S. 3; Timm, Berno: »›Unrecht aufarbeiten, damit es nicht mehr passiert‹«, in: Sächsische Zeitung vom 23.10.1995, ArStSG, Presse. 377 StSG: Berufungsvorschlag Fachkommission Gedenkstätte Bautzen, in: StSG: Beratungsvorlage vom 17.10.1995, ArStSG Sitzungen. 378 StSG: Protokoll der 5. Sitzung des Stiftungsrates der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft am 23.10.1995, S. 5, ArStSG, Sitzungen. 379 StSG Stiftungsbeirat: Protokoll der Stiftungsbeiratssitzung am 20.11.1995, S. 2-3, ArStSG, Sitzungen. 380 StSG: Fragenkatalog für die Fachkommission am 28.03.1996, ArStSG, Geschäftsablage o. Sign. 381 StSG: Protokoll vom 25.02.1996, ArStSG, Kabinett; StSG: Protokoll vom 05.03.1996, ArStSG, Kabinett 382 StSG: Protokoll vom 25.02.1996, ArStSG, Kabinett. 383 Ebd., S. 2; StSG: Ergebnisprotokoll vom 22.04.1996, ArStSG Kabinett.
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im Aufbau befindlichen Gedenkstätte und das Schotterbett samt Gleise im Innenhof des Gedenkstättenareals.384 Die dortige Aufstellung des GSTW wurde mittlerweile auch vom BK und seinem Vorsitzenden Hans C. nicht mehr unterstützt.385 Zudem erarbeitete die Fachkommission, welche Bereiche des Gedenkstättenareals konkret Besuchern zugänglich werden sollte und welche groben Anforderungen die von der Gedenkstätte genutzten Räume grundsätzlich zu erfüllen hatten.386 Für die Gedenkstätte wurde der Verwaltungstrakt, die 1. und 2. Etage (bzw. das Erdgeschoss und die 1. Oberetage), das 5. (bzw. 4.) Geschoss sowie das Außengelände (Freiganghöfe, Garagenbereich) vorgesehen.387 Bezüglich der auszustellenden Zellen wurde empfohlen, nur beispielhaft Zellen herzurichten, um einen »idyllischen Eindruck« bzw. »Überfrachtungen« zu verhindern.388 »Die Präsentation von Inventar, Kleidungsstücken (Häftlinge wie Uniformen) u. ä. kann einerseits Authentizität des Ortes sichtbar machen, darf aber nicht dazu führen, dass die Ausstellung den Charakter eines ›Heimatmuseums‹ annimmt«, insistierte die StSG.389 »Die Fachkommission empfiehlt, inszenatorische Elemente auf das unbedingt Notwendige, das heißt, die Ausstattung auf wenige exemplarische Zellen zu beschränken«, stimmten die berufenen Kommissionsmitglieder überein.390 Und auch im Stacheldraht warb der ehemalige Vorsitzende von Heynitz, es sollten diejenigen Vorgänge und Gegenstände besonders herausgestellt werden, die für die Repressalien und Drangsalierungen eines politisch motivierten Strafvollzugs typisch seien: »Die gleich neunfache Zurschaustellung von verhältnismäßig gut eingerichteten Zellen mit frischbezo-
384 StSG: Lagebericht – Gedenkstätten in Sachsen vom 23.02.1996, ArStSG, Gremien; StSG: Ergebnisprotokoll der konstituierenden Sitzung der Fachkommission Bautzen am 28.03.1996 vom 22.04.1996, S. 2-3, ArStSG Kabinett. 385 Ebd., S. 2. Der OFB reagierte prompt und machte als Gegenreaktion im April 1996 den GSTW auf dem Bautzener Bahnhofsgleis öffentlich zugänglich, vgl. u.a. Rutzk, Thomas: »Express in den Knast«, in: Focus vom 01.04.1996, ArGBZ, HP, Anhang I; Michel, Marina: »Horrorfahrt mit dem ›Grotewohlexpress‹«, in: Sächsische Zeitung vom 22.04.1996, ArGBZ, HP, Anhang I; Lesch, Markus: »Waggon auf dem Abstellgleis«, in: Die Welt vom 25.04.1996, ArGBZ, HP, Anhang I. Nachdem das SMWK dem Museum Haus der Geschichte Bonn (HdG) den Waggon für das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig anbot (vgl. Schreiben des SMWK Staatsminister Meyer an das HdG vom 15.05.1996, ArStSG, BZ II 1996), das HdG jedoch ablehnte (vgl. Schreiben des HdG an das SMWK Meyer vom 10.07.1996, ArStSG, BZ II 1996) und es auch dem Bürgerkomitee Leipzig (BKL) nicht gelang, den GSTW dauerhaft in Leipzig auszustellen, kam der GSTW schließlich über einen Umweg über Leipzig in die Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen nach Berlin. 386 StSG: Protokoll vom 25.02.1996, S. 2ff, ArStSG, Kabinett; StSG: Ergebnisprotokoll der konstituierenden Sitzung der Fachkommission Bautzen am 28.03.1996 vom 22.04.1996, S. 2, ArStSG Kabinett. 387 StSG: Protokoll vom 05.03.1996, ArStSG, Kabinett. 388 StSG: Protokoll vom 25.02.1996, S. 5, ArStSG, Kabinett. 389 Ebd., S. 7. 390 StSG: Ergebnisprotokoll vom 22.04.1996, S. 2, ArStSG Kabinett.
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genen Betten und blau kariertem Bettzeug wird einem solchen Anliegen nicht gerecht.«391 Schließlich befürwortete die Kommission auch die Änderung des Namens der Gedenkstätte. Die Bezeichnung »Gedenk- und Begegnungsstätte Bautzen II« wurde zugunsten der Kurzfassung »Gedenkstätte Bautzen« geändert, auch um einer inhaltlichen Öffnung der Gedenkstätte für die Aufarbeitung der Haftanstalt »Bautzen I« nicht entgegenzustehen.392 Zur Überarbeitung der bisherigen sowie zur Vorbereitung der geplanten ständigen Ausstellung in »Bautzen II« beauftragte das BK bereits im November 1995 zwei Nachwuchswissenschaftler. Sie wurden mit der Aufgabe betraut biographische Vorlagen zu Schicksalen von zwischen 1956-1989 Inhaftierten in »Bautzen II« (unter besonderer Berücksichtigung prominenter Häftlinge) und eine baugeschichtliche Chronik des Haftgebäudes zu erarbeiten.393 Die Erschließung des Baus als Dokument wurde rechtzeitig zum »Bautzen-Forum« abgeschlossen, hierzu gehörten auch die Erarbeitung eines unverbindlichen Gedenkstättenrundganges und das Aufstellen von Texttafeln.394 Die dienten als Instrumente, um den Besuchern eine »Gedenkstätte im Aufbau« bzw. den Beginn der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Geschichte der Bautzener Haftanstalten zu vermitteln. 395 Eine Absegnung dieser »Übergangslösung« bzw. »Werkausstellung« erfolgte ebenfalls durch die Fachkommission auf ihrer ersten Sitzung.396 Alle Empfehlungen der Fachkommission wurden vom Stiftungsrat der StSG am 22. April 1996 als Interimslösung angenommen und waren bereits bis Mitte Mai 1996 zügig umgesetzt.397 »Der bisherige völlig provisorische, zum Teil unwissenschaftliche Teil und gedenkstättenpädagogisch nicht vertretbare Zustand der Gedenkstätte wurde in ersten Schritten nun verändert. […] Die vom Bautzen-Komitee ausgestatteten Räume wurde als solche kenntlich gemacht, die Inszenierung von Zelleneinrichtungen wurde […] beschränkt, um die Wirkung solcher von vielen Besuchern als problematisch empfundenen ›Dekoration‹ nicht übermächtig werden zu lassen. Im Übrigen wurde im Innenhof der Gedenkstätte das eigenmächtig aufgeschüttete Gleisbett geräumt […]«,
391 Heynitz, Benno v.: »Gedenkstätte Bautzen. Grundsatzentscheidung durch Stiftung Sächsische Gedenkstätten«, in: Der Stacheldraht, Nr. 03/1996, S. 7, ArStSG, Kabinett. 392 Ebd., S. 3. 393 Bautzen-Komitee: Leistungsbeschreibung zum Werkvertrag über Vorarbeiten für die ständige Ausstellung in der Gedenk- und Begegnungsstätte Bautzen II vom 01.11.1995, ArStSG, BZ II 1996; StSG: Vermerk vom 06.12.1995, S. 2, ArStSG, BZ II 1991-1995. 394 StSG: Lagebericht – Gedenkstätten in Sachsen vom 23.02.1996, ArStSG, Gremien. 395 StSG: Protokoll vom 25.02.1996, S. 8, ArStSG, Kabinett. 396 StSG: Ergebnisprotokoll vom 22.04.1996, S. 3, ArStSG Kabinett. 397 StSG: Protokoll vom 26.06.1996, S. 5, ArStSG, Gremien; StSG: Presseerklärung vom 14.05.1996, ArStSG, Presse.
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berichtete die StSG.398 Darüber hinaus wurde eine Verlängerung der sechs ABMStellen der ABS Robur GmbH bis Ende Januar 1997 von der StSG weiter befürwortet.399 Zwar hatte das BK unter der Ägide des vormaligen Beiratsvorsitzenden eine »[…] beträchtliche Anzahl an Sachzeugen (Häftlings- und Wärterkleidung, Dinge des täglichen Bedarfs in DDR-Gefängnissen) […], eine biographische Sammlung zu Tätern und Opfern oder eine Sammlung grundlegender Erlasse, Gesetze und Befehle jedoch nicht […]« gesammelt, »Planungsreife Konzeptionen gibt es bisher nicht«, begründete die StSG diesen notwendigen, als überfällig betrachteten Schritt.400 Diese vorgefundene erstmalige Einigkeit zwischen BK, SMWK und StSG (beispielsweise auch in Fragen der parteipolitischen Instrumentalisierung der Gedenkstätte) täuschte jedoch nicht darüber hinweg, dass die Beauftragung des BK mit der Wahrnehmung bestimmter Aufgaben in der Gedenkstätte keine Dauerlösung darstellte und die weiterhin bestehenden Diskrepanz zwischen subjektiv geprägter Geschichtsaufarbeitung aus Opferperspektive auf der einen Seite, und nüchterner fachwissenschaftlicher, historischer Geschichtsaufarbeitung und -vermittlung auf der anderen Seite, zukünftige Kompetenzabgrenzungen erforderten.401 »Das Bautzen-Komitee kann – wie auch die jüngsten Auseinandersetzungen zeigen – nicht für alle Opfer, sondern nur für einen Teil der nach 1945 in den dortigen Haftanstalten Inhaftierten sprechen. Mit öffentlicher Kritik ehemaliger MfS-Häftlinge, aber auch seitens in- und ausländischer NS-Verfolgter, wird auch zukünftig zu rechnen sein […].[…] Im Zuge andauernder Polarisierungen innerhalb der Opferverbände oder zwischen Opferverbänden und politischer Öffentlichkeit ist eine unabhängige wissenschaftliche Aufarbeitung […] bei der gegenwärtigen Konstellation in ihrer praktischen Umsetzung gefährdet«,402
diagnostizierte die StSG weiterhin skeptisch. Als Lösung wurde die Gründung eines von den Opferverbänden und -vereinen unabhängigen Trägers vorgeschlagen, der mittel- bis langfristig das BK als Zuwendungsempfänger und Förderverein der Gedenkstätte Bautzen ablösen sollte.403
398 StSG: Vermerk vom 15.05.1996, ArStSG, BZ II 1996. 399 Schreiben der StSG an das Arbeitsamt Bautzen vom 23.11.1995, ArStSG, BZ II 19911995. 400 StSG: Vermerk vom 06.12.1995, ArStSG, BZ II 1991-1995. 401 Als die PDS-Fraktion einen Besuch zur Gedenkstätte Bautzen plante und das BK eine Besichtigung der Einrichtung verbot, solidarisierten sich sowohl die StSG als auch das SMWK mit der Abwehrhaltung des BK, vgl. Braumann, Marcel: »Bautzen-Komitee verbietet PDS-Besichtigung«, in: Neues Deutschland vom 07.11.1995, ArStSG, Presse. »Die Gedenkstättenarbeit in Sachsen ist mitnichten ein Objekt aktueller parteipolitischer Auseinandersetzungen«, erklärte der Geschäftsführer der StSG öffentlich, vgl. Haase, Norbert: »Parteiisch in Bezug auf die Opfer«, in: Neues Deutschland vom 17.11.1995, ArStSG, Presse. 402 StSG: Vermerk vom 06.12.1995, S. 3, ArStSG, BZ II 1991-1995. 403 Ebd., S. 4.
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Wie die weitere Entwicklung des Gedenkstättenbetriebes zeigt, kam es zu einer solchen Gründung in den Folgemonaten bis Ende 1997 jedoch bewusst nicht. Mit Blick auf die Steigerung der Bundesmittel und ihre Umwandlung von der Projektförderung in eine langfristig angelegte institutionelle Förderung ab 1998/1999, aber auch mit Blick auf personelle Kontinuität und zum besseren Gelingen eines wissenschaftlich fundierten, professionellen Gedenkstättenbetriebes (u.a.a. angesichts fortbestehender interner Querelen im Stiftungsbeirat zwischen einzelnen Opfergruppen), wurde zunehmend die personelle Neustrukturierung der StSG nötig, die auch eine bessere fachliche personelle Aufstellung der einzelnen Gedenkstätten beinhaltete. Dies meinte mittel- bis langfristig die Ablösung des 1994 zunächst dezentral angelegten Personal- und Organisationskonzeptes der StSG durch ein zentrales. Es sah nicht mehr vor, die Mitarbeiter über ortsansässige Vereine zu beschäftigen, sondern sorgte für eine Anstellung der Mitarbeiter bei der Stiftungszentrale, zumindest für die Gedenkstätten innerhalb der StSG, für die Bundesmittel in Aussicht standen. Einen entsprechenden Antrag brachte die SPD im Juni 1996 in den Sächsischen Landtag ein. Er legte der Staatsregierung auf, sich unabhängig von den ortsansässigen Vereinen um einen angemessenen Personalstand der durch die StSG betreuten Gedenkstätten zu kümmern.404 Als Übergangslösung zu einem tragfähigen Personalkonzept wurden drei Mitarbeiterinnen, darunter auch die zukünftige Gedenkstättenleiterin Silke Klewin, Ende September 1996 per Werkvertrag mit der weiteren konzeptionellen Ausgestaltung der Gedenkstätte beauftragt. Zwar liefen die Honorarverträge vorübergehend weiterhin über die Abteilung Gedenkstätte des BK, eine Kostendeckung erfolgte jedoch zu 100% bereits über die StSG.405 In einem Sachbericht an die Sächsische Regierung und den Stiftungsrat legte die StSG zunehmend das Augenmerk darauf, dass gerade für die Gedenkstätte Bautzen eine Trägerschaft innerhalb eines ehrenamtlich operierenden Vereins zunehmend unzumutbar werde und unvorhergesehene Probleme verursache.406 »Die geringe Handlungsfähigkeit des Bautzen-Komitees als organisatorischer Träger der Gedenkstättenarbeit vor Ort ist diesem nicht zum Vorwurf zu machen«, unterstrich der Geschäftsführer der StSG die gebotene Dringlichkeit, hier spätestens 1997 eine dauerhafte Lösung zu finden.407 Mit der vorübergehenden Beauftragung dreier Honorarkräfte hegte er die Hoffnung, dass so immerhin eine erste, über die bisherigen Papiere hinausgehende, wissenschaftlich fundierte Konzeption schon im Dezember 1996 der Fachkommission vorgelegt werde.408 Trotz offenkundiger Skepsis gegenüber diesem personalpolitischen Übergangsmodell und trotz anfänglicher Kooperationsschwierigkeiten zwischen dem BK und den Honorarkräften, erfüllte das Dreiergespann Klewin, Liebold und Wenzel diesen rasanten Zeitplan und legte es schon Ende Oktober 1996, nach nur vier-
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Sächsischer Landtag, Drs. 2/3393 vom 03.06.1996, PASächsLt. Schreiben der StSG an das Bautzen-Komitee vom 22.08.1996, ArStSG, BZ II 1996. StSG: Sachstandsbericht vom 23.10.1996, S. 4, ArStSG, Gremien. Ebd., S. 5. Schreiben der StSG an das Staatshochbauamt Bautzen vom 24.09.1996, ArStSG, BZ II 1996.
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wöchiger Arbeit einen ersten Grobentwurf vor.409 Im Dezember 1996 folgte ein erweitertes Gestaltungs- und Nutzungskonzept. Dort wurde die Gedenkstätte nun sowohl als ein würdiger Gedenkort für die Opfer als auch als ein Ort der kritischen Auseinandersetzung für die Nachgeborenen definiert.410 Neben einer ständigen Ausstellung, die die Verfolgungsperioden 1933-1945, 1945-1950 und 1950-1989 umfasste, sollte die Gedenkstätte darüber hinaus »Dokumentations- bzw. Quellenzentrum« (Archiv) und »offener Lernort« (Museum) der politischen Bildungsarbeit sein.411 Die Fokussierung auf die Zeit 1945-1956 wurde also aufgegeben, die Zeit 1933-1945 bewusst miteinbezogen und die unterschiedlichen Verfolgungsperioden in der Gedenkstättenarbeit thematisch als gleichwertig behandelt. So legten die Verfasserinnen, im Unterschied zu den bisherigen konzeptionellen Arbeiten des BK sowie anders als das Karl-Wilhelm Fricke-Papier vielmehr den Wert darauf, dass eine entdeckende, eigenverantwortliche Auseinandersetzung mit der facettenreichen differierenden Geschichte der Haftanstalten möglich werde: »Es ist […] nicht nur eine Frage der pädagogischen Ethik, dem Rezipienten die Möglichkeit zu geben , selbst zu denken und sich eine eigene Meinung zu bilden. Genau an dieser Stelle verläuft die Grenze zwischen politischer Bildung und politischer Indoktrination«.412 Sie folgten dem »Beutelsbacher Konsens«, der das Überwältigungsverbot, das Kontroversitätsgebot sowie das Gebot der Selbständigkeit und Toleranz beinhaltete.413 Eine reine ideologisch gefärbte, einseitige Gedenkstättenarbeit in apologetischer Form wurde entschieden abgelehnt. Gerade diese Forderung war bisher vollkommen vernachlässigt worden, stand sie doch in gewisser Weise im Widerspruch zur bisher praktizierten, moralisch und emotional aufgeladenen Aufarbeitungsleistung der Opfervertreter, die aus ihrer stark subjektiv geprägten Perspektive überwiegend politisch ideologisch aufgeladene Geschichtsbilder pflegten und damit kontroverse Meinungen bzw. Diskussionen, alternative Standpunkte und ideologiefreie Politikvermittlung unmöglich machten. Die offene und vor allem undogmatische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Phasen jüngster Geschichte, die z.B. die vor allem die Unterschiede zwischen den verschiedenen Verfolgungsperioden herausarbeitete und biographische Ansätze nicht nur allein auf die Opfer reduzierte, sondern bewusst auch Täter, Mitläufer, Systemkonforme und Funktionsträger berücksichtigte, oder beispielsweise kontroverse (wissenschaftliche) Diskussionen bzw. Forschungsergebnisse gezielt dokumentierte und zur Auseinandersetzung darüber anregte, stellte also für die Bautze-
409 StSG: Protokoll des Gesprächs zur Arbeit in der Gedenkstätte Bautzen am 24.09.1996, ArStSG, Kabinett; Klewin, Silke: Überlegungen zum Aufbau der Gedenkstätte Bautzen in der ehemaligen Haftanstalt Bautzen II vom 31.10.1996, ArGBZ, Bestand: Konzepte Bautzen [Konzepte]. 410 Gedenkstätte Bautzen: Nutzungs- und Gestaltungskonzept für die Gedenkstätte Bautzen in der ehemaligen Haftanstalt Bautzen II vom Dezember 1996, S. 1, ArGBZ, Konzepte. 411 Ebd., S. 2, 3. 412 Ebd., S. 1. 413 Wenzel, Kirsten: Politische Bildung in der Gedenkstätte Bautzen, Thesenpapier, Frühjahr 1998, S. 2, ArGBZ, Konzepte.
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ner Geschichtsaufarbeitung ein Novum dar. »Dass dies allerdings in einem oft schmerzlichen Spannungsverhältnis zu einem legitimen Anspruch der Opfer steht, in der Gedenkstätte einen würdigen Ort des Gedenkens zu erhalten«, war den Verfasserinnen bewusst.414 Auf dem Feld der politischen Bildung, »mag es auch für die Betroffenen oft schwer zu ertragen sein«, nahmen sie gewollt in Kauf. Für Bautzen sollte es diesbezüglich keine Alternative geben.415 Diese höchstmöglich wertfreie, offene Herangehensweise bedeutete in letzter Konsequenz auch die Abkehr von vorgefertigten Rundgängen. »Ein vorgegebener Weg suggeriert immer eine innere Logik, einen Anfang, ein Ende und einen ›roten Faden‹ dazwischen. Eine derartige künstliche Logik soll den Räumlichkeiten der ehemaligen Haftanstalt nicht übergestülpt werden. Es gibt nicht den inhaltlichen und chronologisch zwingenden bzw. begründbaren Weg durch die Gedenkstätte«,
erläuterten die Verfasserinnen.416 Der Besucher, so das Konzept, sollte sich die Thematik und den Ort vor allem selbst erschließen.417 Entsprechend sollte ein »Quellenzentrum« zur selbständigen Vertiefung angeboten werden.418 Die Rolle der Betroffenen wurde auf diese Weise vornehmlich auf die reine Zeugenschaft begrenzt. Subjektive Elemente bzw. Beiträge in der Ausstellung sollten als solche deutlich ausgewiesen werden. Nur auf besondere Anfrage hin sollten (im Unterschied zu beispielsweise Berlin-Hohenschönhausen) Zeitzeugenführungen stattfinden. Explizit als solche gekennzeichnete, individuelle Identifikationsangebote sollten innerhalb der Ausstellung zwar ermöglicht werden, z.B. durch die Darstellung einzelner Häftlingsschicksale, jedoch sollten diese durch eine gleichzeitige Berücksichtigung von »Täter-Lebensläufen« und durch begleitende Führungen von wissenschaftlich geschultem Personal nicht überstrapaziert werden.419 Auch regten Klewin, Liebold und Wenzel zweckpragmatisch eine frühzeitige Einbeziehung eines Gestaltungsbüros für die Ausstellungsgestaltung und das »Gedenkstättendesign« an, um eine Visualisierung der inhaltlichen Entwürfe zeitnah zu ermöglichen.420 Ein Angebot eines Gestaltungsbüros zur schrittweisen Realisierung eines adäquaten Museumsdesigns bzw. gestalterischen Gesamtrahmens lag bereits Anfang November 1996 vor.421
414 415 416 417 418 419 420 421
Ebd., S. 3. Ebd. Gedenkstätte Bautzen: Konzeption vom Februar 1997, S. 13, ArGBZ, Konzepte. Gedenkstätte Bautzen: Nutzungs- und Gestaltungskonzept für die Gedenkstätte Bautzen in der ehemaligen Haftanstalt Bautzen II vom Dezember 1996, S. 4, ArGBZ, Konzepte. Ebd., S. 5. Ebd., S. 12. Klewin, Silke: Überlegungen zum Aufbau der Gedenkstätte Bautzen in der ehemaligen Haftanstalt Bautzen II vom 31.10.1996, S. 5, ArGBZ, Konzepte. Schreiben der Firma gewerk an die Gedenkstätte Bautzen vom 04.11.1996, ArStSG, BZ II 1996; Schreiben der Gedenkstätte Bautzen an die StSG vom 05.11.1996, ArStSG, BZ II 1996.
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Februar 1997 legten Klewin, Liebold und Wenzel ihr Dezember-Konzept, in einer überarbeiteten Version schließlich der Fachkommission vor. Darin bezogen sie nun über das Dezember-Papier hinausgehend auch gezielt Stellung zu den räumlichen Gegebenheiten und lehnten eine Rekonstruktion von »Bautzen I« in »Bautzen II« sowie zu weitreichende Rekonstruktionen von Gebäude- und Raumzuständen bezüglich »Bautzen II« für den Zeitraum 1945-1989 generell ab.422 Nur die spezifischen Merkmale der Haftanstalt sollten Besuchern zugänglich sein, so beispielsweise die Vernehmerzelle, der Hauptzellen-, Isolations- und Frauentrakt, die »Tigerkäfige« sowie die Freiganghöfe. Die Gebäude und die Räume sollten das primäre Dokument bleiben. Im Falle von Rekonstruktionen legten die Verfasserinnen daher generell den Wert darauf, dass diese wenn vorhanden, dann zumindest als solche gekennzeichnet werden.423 Da Klewin, Liebold und Wenzel mit Protest von Betroffenen- und Opferseite her rechneten, erklärten sie im Februar-Entwurf zudem noch ausdrücklicher als in ihrem ersten Entwurf ihren Standpunkt zur inhaltlichen Gewichtung der Gedenkstättenarbeit: »Die spezifische und zeitweise sehr unterschiedliche Geschichte der beiden Häuser in den verschiedenen Verfolgungsperioden wird in der Ausstellung deutlich zum Ausdruck kommen. Jede der Verfolgungsperioden hat dabei ihren eigenen Stellenwert. Die Verbrechen des SED-Regimes werden nicht durch die Auseinandersetzung mit den Verbrechen der sowjetischen Besatzer relativiert, ebenso wie die NS-Verbrechen nicht mit denen der Nachkriegszeit ›verrechnet‹ werden.«424
Bezüglich der »Täter-Opfer-Problematik« machten sie von vornherein klar: »Das vereinfachte Täter-Opfer-Schema reicht nicht aus, um die spannweite menschlichen Verhaltens in Diktaturen zu beschreiben. Vorschnelle moralische Urteile werden den komplexen Zusammenhängen nicht gerecht. Nicht alle Funktionsträger eines Gewaltapparates können problemlos als Täter bezeichnet werden, ebenso wenig lassen sich alle ehemaligen Häftlinge unter die Kategorie Opfer fassen.«425
Auch sollte berücksichtigt werden, dass es innerhalb einer Biographie bei aufeinanderfolgenden Unrechtssystemen auch vorkam, dass Täter zu Opfer wurden und umgekehrt. Auf diese Weise nahmen Klewin, Liebold und Wenzel den Opfervertretern innerhalb der Fachkommission von vornherein den »Wind aus den Segeln« und schoben sie der interessengeleiteten Einflussnahme von dieser Seite einen Riegel vor. Ihre Rechnung ging auf. Zwar versuchten die Betroffenvertreter in der Fachkommission erwartungsgemäß davon zu überzeugen, dass ihre Interessen weiterhin
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Gedenkstätte Bautzen: Konzeption vom Februar 1997, S. 5, ArGBZ, Konzepte. Ebd., S. 11. Ebd., S. 7. Ebd.
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besonders zu berücksichtigen seien, dennoch wurde dem Februar-Konzept grundsätzlich zugestimmt. Neben wenigen Änderungswünschen empfahl die Fachkommission in ihrer zweiten Sitzung Anfang März 1997 die zügige Umsetzung des vorgelegten und präzisierten Gesamtkonzeptes in Zusammenarbeit mit dem Gestaltungsbüro.426 Noch im März 1997 lag ein entsprechendes Abschlusskonzept vor.427 Die Anregungen der Fachkommission wurden darin einbezogen.428 Das gestalterische, graphische und technische Konzept war konkretisiert worden.429 Eine öffentliche Vorstellung des Konzeptes erfolgte am 23. April 1997.430 Damit ging die Planungsphase über in die Umsetzung. Parallel zu diesem ersten vom BK weitgehend unabhängigen, fachwissenschaftlich fundiertem Gedenkstättengrundkonzept bemühten sich die StSG und das SMWK Ende 1996 und das ganze Jahr 1997 um eine Erhöhung der Bundesmittelunterstützung, die ab 1998 im Zuge einer grundlegenden Überarbeitung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes in Aussicht gestellt wurde. Am 18. Dezember 1996 »»wurden Vertreter des BMI und des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) in der Gedenkstätte zu diesem Zweck zu einer Stippvisite eingeladen.431 Als das SMWK aufgefordert wurde, seine Empfehlungen bezüglich der Gedenkstätten in Sachsen von gesamtstaatlicher Bedeutung an die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der Deutschen Einheit« abzugeben,432 und in diesem Zusammenhang eine Erhöhung der Bundesmittelförderung sowie eine Dauerhaftigkeit absehbar schien, nutzte Staatsminister Meyer die Gelegenheit, neben der Gedenkstätte Torgau vor allem die Gedenkstätte Bautzen aufgrund ihrer gesamtstaatlichen Bedeutung für eine institutionelle Förderung vorzuschlagen.433 Bis zum Jahr 2005 erwartete er einen Bundeszu-
426 StSG: Empfehlungen der Fachkommission Bautzen vom 05.03.1997, ArStSG, BZ II 1996. 427 Gedenkstätte Bautzen: Konzeption vom März 1997, ArStSG, Geschäftsablage o. Sign. 428 »Arbeitseinsatz«, »Widerstand und Opposition« sowie die regionalen Lager und der Bautzener Gefängnisverwaltung fanden sich nun im Konzept wieder, vgl. ebd., S. 1415, 17. Auch wurde das Schaffen eines Ortes zum stillen Gedenken bzw. die Einrichtung von Reflexionsräumen erwähnt, vgl. ebd., S. 18, 24. 429 Ebd., S. 23ff. 430 Mickisch, Jürgen: »Gegen Vergessen des Unrechts in Gefängnissen«, in: Sächsische Zeitung vom 24.04.1997, ArGBZ, HP, Anhang I; o.V.: »Konzepte für Bautzen und Torgau«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.04.1997; o.V.: »DDR-Gefängnisse sollen Gedenkstätten werden«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.04.1997; Honnigfort, Bernhard: »Endloser Streit um das richtige Gedenken«, in: Frankfurter Rundschau vom 30.04.1997. 431 Schreiben der StSG an das Bautzen-Komitee vom 26.11.1996, ArStSG, BZ II 1996. 432 Schreiben der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages an das SMWK Staatsminister Meyer vom 10.03.1997, StAufarb, Enquete-Kommission, 13. WP, SED 65. 433 Schreiben des SMWK Staatsminister Meyer an die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages vom 29.04.1997, StAufarb, Enquete-Kommission, 13. WP, SED 65.
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schuss von mindestens insgesamt 2500 TDM. Dies entsprach einem Jahresdurchschnitt von 312.500 DM.434 Aber auch institutionell bemühte sich die StSG um eine Anpassung der Strukturen an die vom Bund geforderten Auflagen, herrschten doch bezüglich der bisherigen Organisationsform der StSG nach wie vor diverse Unklarheiten. Beispielsweise verfügten die Gedenkstätten wegen ihres dezentralen Stellenplanes nur über einen zweifelhaften staatlichen Charakter.435 Da eine Aufnahme in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes, neben einem fundierten Konzept, auch zur Voraussetzung hatte, dass die institutionell zu fördernden Gedenkstätten staatlich verankert und auf Langfristigkeit angelegt sein mussten, wurde auch die Einführung des bereits 1996 avisierten zentralen Personalkonzeptes zur Vorbereitung einer langfristigen institutionellen Bundesförderung dringlicher denn je und bestand hier inzwischen akuter Handlungsbedarf. Am 14. April 1997 beschloss der Stiftungsrat endlich eine grundsätzliche Neujustierung der Organisationsstruktur der StSG, d.h. eine »zweite Aufbauphase«, und schuf damit die Basis für eine Neuorganisation auch auf politischem Wege.436 Drei Monate später beauftragte der Sächsische Landtag das SMWK mit dem Verfassen einer entscheidungsfähigen Kabinettvorlage bis zum Ende der Sommerpause. Gegenstand dieser Vorlage sollte u.a.a. ein ab 1999 geltendes Personalkonzept sein.437 »Die personellen Ressourcen in der Stiftung müssen aus zwei Gründen gestärkt werden: zum einen, um eine Anpassung an einen im Bundesmaßstab vergleichbaren Standard zu erreichen, und zum zweiten, um dadurch die Voraussetzungen für eine künftige institutionelle Bundesförderung zu erzielen«, lautete die parlamentarische Vorgabe.438 Von Bundesseite her wurde die Gedenkstätte Bautzen in die engere Auswahl der institutionell zu fördernden Einrichtungen gezogen. »Die umfassende Gedenkstättenkonzeption des Bundes, zu der die Enquete-Kommission Vorschläge unterbreiten soll, wird auch die Arbeit der Gedenkstätte Bautzen berücksichtigen«, signalisierte der stellvertretende Vorsitzende der Enquete-Kommission.439 Für den 05. August 1997 wurde ein zweiter Begehungstermin vereinbart, bei dem es ausschließlich darum ging, wie die Arbeit der Gedenkstätte finanziell auf eine dauerhafte solide Grundlage gestellt werden könne.440 Bei den Haushaltsverhandlungen im September 1997 veranschlagte das BMI für die Gedenkstätte Bautzen sogar eine Erhöhung des Zuschusses von 300.000 DM auf 450.000 DM für das Haushaltsjahr 1998.441 Das SMWK ging daher fortan von einer baldigen institutionellen Bundes-
434 Ebd. 435 Schreiben der StSG an das Sächsische Staatsministerium des Innern vom 26.02.1997, ArStSG, Grundsätzliches. 436 Sächsischer Landtag, Plenarprotokoll 2/60 vom 10.07.1997, S. 4369, PASächsLt. 437 Ebd., S. 4370. 438 Ebd. 439 Schreiben der Enquete-Kommission an das SMWK Staatsminister Meyer vom 01.07.1997, S. 2, StAufarb, Enquete-Kommission, 13. WP, SED 65. 440 Ebd. 441 StSG: Vermerk vom 26.02.1998, S. 2, ArStSG, Kabinett.
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förderung aus, für die der Freistaat lediglich die personalpolitischen Voraussetzungen schaffen musste.442 Jenseits des SMWK mahlten die Mühlen jedoch langsamer. Als nach der Sommerpause dem Parlament für ein neues Personalkonzept noch keine Kabinettsvorlage vorlag, erhöhte die CDU-Fraktion kurz vor der nächsten Kabinettssitzung, die für den 23. Oktober 1997 angesetzt war, den Druck auf die Regierung und brachte sie, dem Antrag der SPD vom Juni 1996 folgend, zwei Tage vorher einen weiteren Antrag zur konzeptionellen Anpassung der StSG ein.443 Das SMWK hielt ihrerseits sogar schon eine entsprechende Pressemitteilung bereit, in der der Beschluss zu einem neuen Organisations- und Personalkonzept der StSG vorweggenommen wurde.444 Zu einem Kabinettsbeschluss kam es trotz dieser ganzen Bemühungen des SMWK und des Parlamentes jedoch überraschenderweise nicht.445 So hatten das SMJ, das Sächsische Staatsministerium des Innern (SMI) und das SMF plötzlich erhebliche Bedenken bezüglich der zusätzlichen Stellen für die StSG (fünf für Torgau, fünf für Bautzen) und aufgrund der fehlenden liegenschaftsrechtlichen Verankerung der StSG.446 Das SMJ forderte, als Teil der neuen Organisationsstruktur müssten die Liegenschaften der von der StSG verwalteten Gedenkstätten an die StSG übergehen. Und das SMI bezweifelte gänzlich, dass ein überarbeitetes Personalkonzept Voraussetzung für eine BMI-Förderung sei, und lehnte es aus diesem Grunde ab. Das SMWK hielt beharrlich dagegen: »Diese institutionelle Förderung wird nur stattfinden, wenn die Absicht der Staatsregierung erkennbar wird, die Personal- und Organisationsstruktur der Stiftung entsprechend der nationalen überregionalen Bedeutung der beiden Gedenkstätten [Torgau und Bautzen, Anm d. Verf.] zu ändern. Wenn dies nicht der Fall sein sollte, wird es keine institutionelle Bundesförderung für beide Gedenkstätten geben.«447
Am monatelangen Widerstand des SMJ und des SMI änderte dieser Appell wenig, noch bis weit ins Frühjahr 1998 hinein blockierten die Staatsministerien den dringend benötigten Kabinettsbeschluss. Die Starre der Sächsischen Staatsregierung hatte unterdessen weitreichende Folgen. So teilte das BMI der StSG per Schreiben vom 04. März 1998 mit: »[…] die hier vorgelegten Unterlagen für die Aufnahme der institutionelle Förderung der Gedenkstätten Bautzen und Torgau im Haushaltsjahr 1999 wurden am 27. Februar 1998 verhandelt. Da eine definitive Aussage des Freistaates Sachsen über die Bereitstellung von Dauer-
442 Schreiben des SMWK an das BMI vom 02.03.1998, S. 2, ArStSG, Kabinett. 443 Sächsischer Landtag, Drs. 02/7180 vom 21.10.1997, PASächsLt. 444 SMWK: Presseinformation: Landesregierung verbessert Lage der Gedenkstätten vom 23.10.1997, (nicht veröffentlicht), ArStSG, Kabinett. 445 Schreiben des SMWK Staatsminister Meyer an den Sächsischen Landtag vom 13.11.1997, ArStSG, Kabinett 446 StSG: Vermerk vom 26.02.1998, S. 1, ArStSG, Kabinett. 447 SMWK-Erklärung z.n. ebd., S. 2.
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stellen für einen gesicherten Betrieb der beiden Einrichtungen nicht vorlag, konnte eine Beteiligung an einer institutionellen Förderung aus Bundessicht nicht in Betracht gezogen werden.«448
Für Bautzen und Torgau wurden weiterhin nur Projektmittel in Höhe von insgesamt einer Million DM vorgeschlagen.449 Der Freistaat Sachsen hatte seine Chance auf die begehrte, frühzeitige institutionelle Förderung verspielt, das »Kind« schien in den »Brunnen« gefallen zu sein. Dem SMWK blieb nichts anderes übrig, als auf Staatssekretärsebene das BMI dazu zu bewegen, seine für Bautzen fatale Entscheidung zu überdenken, wenn nicht gar rückgängig zu machen: »Ich bitte deshalb, an der mit den Vertretern der Stiftung und meines Hauses fest verabredeten institutionellen Bundesförderung der Gedenkstätten in Bautzen und Torgau ab dem Haushaltsjahr 1999 festzuhalten«, appellierte der Staatssekretär des SMWK persönlich an den Staatssekretär des BMI Eckart Werthebach und gestand, dass alles andere gedenkstättenpolitisch nicht zu vermitteln sei.450 Das BMI räumte daraufhin eine »Schonfrist« ein und forderte einen endgültigen Beschluss der Sächsischen Staatsregierung bei der nächsten Kabinettssitzung, die am 07. April 1998 stattfinden sollte. Erst als das SMWK dem SMF versprach, die »zweite Aufbauphase« der StSG nach Möglichkeit kostenneutral zu gestalten und deutlich wurde, dass die Alternative (»Trägerschaft über ortsansässige Vereine«) das Ende der StSG bedeutete und die Staatsregierung somit einen gedenkstättenpolitischen Skandal riskierte, lenkten SMJ, SMF und SMI ein und zeichneten sie die Kabinettsvorlage mit.451 Per Eilbedürftigkeit wurde die Beschlussvorlage am 03. April 1998 der Staatskanzlei übermittelt.452 »Trotz einer respektablen Bilanz der Stiftungsarbeit besteht zwei Jahre nach ihrer Gründung ein Missverhältnis zwischen dem in der Satzung niedergelegten Anspruch der Staatsregierung und der Wirklichkeit der vielfach noch improvisierten Arbeit der Stiftung in den von ihr betreuten Gedenkstätten«, hieß es darin.453 Um dieses Missverhältnis zu beheben wurde eine Anpassung der Organisation, des Stellenplanes und des Finanzierungsbedarfs gefordert. Die Handlungsfähigkeit der Stiftung sollte gestärkt werden und das Personal fortan nicht mehr von den (Förder-)Vereinen vor Ort, sondern von der Stiftungsgeschäftsstelle zentral geführt und verwaltet werden.454 Für die Gedenkstätte Bautzen wurden eine Leitung, zwei pädagogisch-wissenschaftliche Referenten, eine Dokumentaristenstelle, eine Sachbearbeitungs-
448 Schreiben des BMI an die StSG vom 04.03.1998, ArStSG, Kabinett. 449 Ebd. 450 Schreiben des SMWK Staatssekretär Noack an das BMI Staatssekretär Eckart Werthebach vom 13.03.1998, ArStSG, Kabinett 451 Schreiben des BMI an die StSG vom 04.03.1998, S. 3, ArStSG, Kabinett; Schreiben der StSG an das SMWK vom 13.03.1998, ArStSG, Kabinett. 452 Schreiben des SMWK Staatsminister Meyer an die Sächsische Staatskanzlei vom 03.04.1998, ArStSG, Kabinett. 453 Ebd., S. 4; [Tatsächlich waren bereits 4 Jahre nach der Gründung vergangen.]. 454 Ebd., S. 6.
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stelle und eine Sekretariatskraft in Teilzeit vorgesehen.455 Eine Ungleichbehandlung der einzelnen Gedenkstätten unter dem Dach der StSG, durch eine Beibehaltung der dezentralen Personalstruktur bei den nicht vom Bund geförderten Gedenkstätten, wurde nicht befürwortet. »Eine derart strukturell verankerte Bevorzugung der durch die anteilige Bundesförderung ohnehin bereits besser ausgestatteten Gedenkstätten Torgau und Bautzen würde […] zu politischen Spannungen in den Stiftungsgremien, insbesondere zu Einsprüchen seitens der Opferverbände führen«, lautete die Kabinettsvorlage.456 Der Beschlussvorschlag sah daher generell für alle StSG-Gedenkstätten vor: »1. Das neue Organisations- und Personalkonzept für die Stiftung Sächsische Gedenkstätten wird bestätigt. 2. Das Sächsische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst wird beauftragt, die notwendigen Veränderungen im Wirtschaftsplan der Stiftung […] vorzunehmen.«457 Am 07. April 1998 beschloss die Sächsische Regierung diese Kabinettsvorlage zu guter Letzt. Zwar führte das Kabinett den Beschluss enger als vom SMWK empfohlen, indem es eine Umsetzung vollständig abhängig machte von einer institutionell angelegten Komplementärfinanzierung in Höhe von einer Million DM durch den Bund für die Jahre 1999 und 2000,458 aber dennoch war damit die dauerhafte Ausstattung der Gedenkstätte Bautzen gesichert. Unter gleicher Voraussetzung war damit auch eine Komplementärfinanzierung des Landes in entsprechender Höhe prinzipiell zugesagt. Für Bautzen hieß dies ein Budget von 900.000 DM p.a. und die Einrichtung von 5,5 festen Mitarbeiterstellen ab 1999. Fortbestehen und Ausbau der Gedenkstätte waren somit erstmals garantiert und es endete das bis dahin bestehende Provisorium. Da sich die Sächsische Landesregierung insofern an die Vorgaben des BMI gehalten hatte, fand das Anliegen einer institutionellen Bundesförderung im Schlussbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages besondere Erwähnung. Darin hieß es nun unmissverständlich: »Von besonderer Bedeutung ist auch insgesamt das Engagement von ehemaligen Inhaftierten. Ohne dieses Engagement wären die meisten Orte der Inhaftierung in der DDR nicht in das öffentliche Bewusstsein gelangt und als Gedenkstätten eingerichtet worden. Dies gilt insbesondere für die Haftanstalten in Bautzen, die erst durch das Engagement des BautzenKomitees in eine Gedenkstättenkonzeption des Freistaates Sachsen aufgenommen wurden. […] Bautzen steht im öffentlichen Bewusstsein in ganz Deutschland in besonderer Weise für die politische Verfolgung in der DDR. Die Gedenkstätte Bautzen, in der ehemaligen Haftanstalt Bautzen II, soll künftig die Geschichte der beiden Bautzener Haftanstalten dokumentieren. Der Bund beteiligt sich seit 1995 mit Projektmitteln an dieser Gedenkstätte, ab 1999 ist
455 456 457 458
Ebd., S. 8. Ebd., S. 10. Ebd., S. 2. Sächsische Staatskanzlei: Beschluss Nr. 02/0995 vom 07.04.1998, ArStSG, Kabinett; Schreiben des SMWK an den Sächsischen Landtag vom 20.10.1998, ArStSG, LtDrs.
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eine institutionelle Förderung durch den Bund, gemeinsam mit dem Freistaat Sachsen (Stiftung Sächsische Gedenkstätten) beabsichtigt.«459
Explizit empfahl die Enquete-Kommission zum weiteren Vorgehen, die Gedenkstätte Bautzen wie auch die sächsische Gedenkstätte Torgau als Gedenkstätten von gesamtstaatlicher Bedeutung dauerhaft zu 50% mit Bundesmitteln zu unterstützen.460 »Bautzen ist zum Symbol für politische Verfolgung und justizielles Unrecht in SBZ und DDR geworden«, begründete die Enquete-Kommission diese Entscheidung.461 Damit stand einer Aufnahme in die institutionelle Bundesförderung und in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes nichts mehr entgegen. Dieses Ergebnis wurde dem Sächsischen Landtag als Antwort auf den OktoberAntrag der CDU am 20. November 1998 übergeben.462 Bereits vier Wochen zuvor, am 01. Oktober 1998 wurden von der StSG die ersten vier Stellen für die Gedenkstätten Bautzen und Torgau ausgeschrieben. Eine Stellenbesetzung wurde für den 04. Januar 1999 avisiert.463 Zum 01. April 1999 übertrug das BK die Gedenkstätte der StSG, die von da an alleinig für die Ausstattung (inhaltlich, materiell und personell) verantwortlich wurde. Bei gleicher Gelegenheit wurde auch die Zusammenarbeit zwischen StSG und BK durch eine Kooperationsvereinbarung neu geregelt. 464 Es wurde vertraglich festgelegt, dass das BK weiterhin in allen Gremien vertreten sein bzw. an Entscheidungsprozessen beteiligt werde und im Gegenzug dazu das BK weiterhin die Gedenkstätte und die StSG beim Aufbau der Sammlung, bei der Gestaltung und in Fragen der Zeitzeugenarbeit unterstützen werde.465 Im Gegensatz zu anderen Opferverbänden, die in der Regel nur über Beiräte beratend an der Gedenkstättenarbeit beteiligt werden, wurden dem BK auf diese Weise echte Mitbestimmungsrechte eingeräumt.466 Der Empfehlung der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit« folgend, wurde die Gedenkstätte Bautzen neben Torgau 1999 in den Förderkatalog der Gedenkstättenkonzeption des Bundes als eine dauerhaft institutionell zu fördernde Einrichtung aufgenommen. Hierzu hieß es in der Unterrichtung des Deutschen Bundestages: »Seit 1999 befinden sich beide Einrichtungen in einer unmittelbaren und umfassenden Trägerschaft durch die Stiftung [Sächsische Gedenkstätten] und werden durch den Freistaat Sachsen und den Bund nach glei-
459 460 461 462 463 464
Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 1, 1999), S. 609. Ebd., S. 637. Ebd. Sächsischer Landtag, Drs. 02/10288 vom 02.12.1998, PASächsLt. Gedenkstätte Bautzen: Sachstandsbericht 1998, Dezember 1998, ArGBZ, Konzepte. StSG: Kooperationsvereinbarung zwischen StSG und Bautzen-Komitee vom 01.04.1999, Privatbesitz Eberhard Mundra [PrEM]. 465 Ebd., S. 2. 466 Bautzen-Komitee: Arbeitsschwerpunkte des Bautzen-Komitees in den Jahren 1999 und 2000 vom 25.01.2000, ArBK, lose Blattsammlung.
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chem Finanzierungsschlüssel institutionell gefördert.«467 Bis 2005 wurde der künftige Finanzbedarf auf rund 5000 TDM für beide Einrichtungen, d.h. auf 2500 TDM für Bautzen geschätzt. Damit entsprach auch die Höhe des Bundeszuschusses voll und ganz den Vorstellungen des Freistaates Sachsen und der StSG. Zudem räumte die Gedenkstättenkonzeption des Bundes einen zusätzlichen Bedarf in noch unbezifferter Höhe ein, mit dem nach Abschluss der jeweiligen Aufbauphase der Gedenkstätten durch den laufenden Betrieb zu rechnen sei.468 Perspektivisch wurde der StSG und der Gedenkstätte Bautzen somit eine auf Dauer angelegte, gefestigte Gedenkstättenarbeit garantiert und konnte nach monatebzw. jahrelanger Planungsunsicherheit die Konzeption der Gedenkstätte Bautzen, d.h. die Dauerausstellung, die politische Bildungsarbeit, die Zeitzeugenarbeit usw. in der ehemaligen StVE/JVA Bautzen II in Angriff genommen und sukzessive ab 1999 bzw. 2000 umgesetzt werden. Die erinnerungspolitischen Voraussetzungen waren hierfür sowohl auf landes- als auch auf bundespolitischer Ebene fast vollständig geschaffen worden.469
3.6 E INE G EDENKANLAGE 1996-2000
AUF DEM
K ARNICKELBERG
Bezüglich der Gedenkanlage auf dem Karnickelberg ging die Entwicklung zwischen 1996-1999 langsamer voran. Zwar hatte Ministerpräsident Biedenkopf anlässlich des Besuches des Bundespräsidenten Herzog 1995 definitiv den Bau einer Gedenkkapelle an Ort und Stelle zugesagt, tatsächlich passierte in den Folgejahren bis Mai 1999 diesbezüglich konkret nichts. »Lediglich« der »Endausbau« des Gräberfeldes durch die Einbettung von 61 Urnen aus Görlitz, eine Umgrenzung des Gräberareals, das Anlegen von Wegen, ergänzende Baumbepflanzungen und das Errichten eines beschrifteten Monoliths und eines nach außen wirkenden Eingangsbereiches gelang dem BK unterstützt vom VDK.470 Das Sächsische Landesamt für Familie und Soziales bewilligte hierfür Ende April 1997 63.000 DM aus Bundesmitteln.471 Hierzu wurden auch
467 Dt. BT, Drs. 14/1569 vom 27.07.1999, S. 21. 468 Ebd. 469 U.a.a. Schumann, Carmen: »Dauerausstellung zeigt politische Verfolgung. Gedenkstätte trägt Erinnerungen ehemaliger Häftlinge und historische Dokumente zusammen und arbeitet sie für die Nachwelt auf«, in: Sächsische Zeitung vom 20.01.2000, ArGBZ, HP, Anhang I. 470 Bautzen-Komitee: Beisetzung der Urnen der toten der kommunistischen Gewaltherrschaft. Beitrag des Bautzen-Komitees für den »Stacheldraht«, Entwurf, vom 21.06.1996, ArBK, Grabpflege Karnickelberg; Bautzen-Komitee: Besichtigung und Besprechung auf der Gräberstätte am Karnickelberg in Bautzen am 29.05.1996, ArBK, Grabpflege Karnickelberg; Schreiben des Bautzen-Komitees an den VDK vom 24.06.1996, ArBK, Grabpflege Karnickelberg. 471 Schreiben des Sächsischen Ministeriums für Familie und Soziales vom 30.04.1997, ArBK, Grabpflege Karnickelberg.
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die Räumung des anliegenden Betonplatzes und der Abriss eines nahe gelegenen Silos erreicht.472 Anlässlich des 9. »Bautzen-Forums« endete die Stagnation hinsichtlich des Kapellenprojektes und kam wieder Bewegung in die Sache. So versprach der Bautzener Oberbürgermeister Schramm beim 9.«Bautzen-Forum« Mitte Mai 1998, die Stadt Bautzen werde sich nun für eine Gedenkkapelle auf dem Karnickelberg einsetzen und sich der Angelegenheit annehmen.473 Ihm schlossen sich die Vertreter des Sächsischen Landtages, Marko Schiemann (CDU) und Rolf Schwanitz (SPD) bei gleicher Veranstaltung an, sodass das Kapellenprojekt auch landespolitisch wieder auf Interesse stieß, zumindest mit politischer Unterstützung aus den Abgeordnetenreihen rechnen konnte.474 Zur Konkretisierung und besseren Verhandlungsführung zwischen Bund, Land, Kommune und BK erstellte der VDK daraufhin erste Konstruktionszeichnungen zum Kapellenbau und schlug dem BK vier realisierbare Varianten vor.475 Sie bestanden im Wesentlichen aus einem quadratisch angelegten, schlichten Sakralbau mit abgeschrägtem Dach und einer zur Gräberseite geöffneten Fassade.476 Da sich die Entwürfe nicht gravierend unterschieden und auf das grundsätzliche Gefallen des BK stieß, wurde ein Architekt mit der Umsetzung beauftragt. Die Errichtungskosten wurden auf ca. 750.000-900.000 DM geschätzt.477 Als sich jedoch herauskristallisierte, dass die Stadt Bautzen lediglich den Unterhalt der Fläche, also nur die Pflege übernehmen und höchstens zu einer kleineren Spende in Form einer Altarplatte bereit war, d.h., als offenbar wurde, dass ein anderer Stifter die Hauptlast der Baukosten zu übernehmen hatte, konzentrierte sich die Stadt vor allem auf einen Brückenschlag zum Land.478 Die Enttäuschung auf Seiten des BK, dass die Unterstützung der Stadt vornehmlich ideell ausfiel, wog entsprechend groß, drohte das ganze Vorhaben durch langwierige Verhandlungen zwischen der Stadt Bautzen und dem Freistaat gänzlich zu scheitern.479 Dieser Verdacht bestätigte sich allerdings nicht. So sorgten der Oberbürgermeister Schramm und der Landtagsabgeordnete Schiemann im Laufe des Jahres 1998 dafür, dass Biedenkopf persönlich und mit ihm die CDU-Landtagsfraktion endlich bereit war, das 1995
472 Schreiben des Bautzen-Komitees an das Staatliche Liegenschaftsamt Bautzen vom 21.10.1996, ArBK, Grabpflege Karnickelberg. 473 O.V.: »Gedenkkapelle für politische Opfer zugesichert«, in: Sächsische Zeitung vom 16./17.05.1998, ArGBZ, HP, Anhang I; Schreiben des Bautzen-Komitees an das SMWK vom 05.03.1999, ArBK, Grabpflege Karnickelberg. 474 Bautzen-Komitee: Vorstandsvorlage zur Vorstandssitzung des Bautzen-Komitees am 05.06.1998, S. 2, ArBK, Grabpflege Karnickelberg. 475 Schreiben des VDK an das Bautzen-Komitee vom 10.06.1998, ArBK, Grabpflege Karnickelberg. 476 Ebd. 477 Stadtverwaltung Bautzen: Gesprächsnotiz zu einer Beratung am 11.09.1998, ArBK, Grabpflege Karnickelberg. 478 Ebd. 479 Schreiben des Bautzen-Komitees an das SMWK vom 05.03.1999, ArBK Grabpflege Karnickelberg.
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gemachte Versprechen einzulösen. Bei einem arrangierten Treffen zwischen dem neuen Vorsitzenden des BK Horst Sch., dem Landtagsabgeordneten Schiemann und dem Ministerpräsidenten Biedenkopf am 06. Mai 1999, sagte der Ministerpräsident nach eingehender Beratung schließlich zu, dass die Gedächtniskapelle jetzt vom Freistaat Sachsen errichtet und eine volle Kostenübernahme durch das Land garantiert werde.480 Über einen Antrag der CDU-Landtagsfraktion im Anschluss an dieses Treffen gelang es, die gesamten Errichtungskosten für die Kapelle auf dem Karnickelberg in Höhe von maximal 900.000 DM in den Landeshaushalt 1999 einzustellen.481 Dies bedeutete, dass der Freistaat Sachsen zu 100% für den Bau der Kapelle aufkam, diese nunmehr voll zu finanzieren bereit war. Im Laufe des Sommers 1999 konkretisierte sich daraufhin der Kappellenbau. Die Garagen, die sich an der Baustelle befanden, wurden abgerissen.482 Am 15. September 1999 erfolgte in feierlicher Atmosphäre und unter Beisein des Staatssekretärs Noack, des Landtagsabgeordneten Schiemann und des Ehrenvorsitzenden Benno von Heynitz der erste Spatenstich.483 Das Richtfest wurde am 24. März 2000 gefeiert.484 Ende Juli besichtigten Vertreter der Sächsischen Regierung, u.a. der Staatsminister Georg Milbradt und der Staatsminister Manfred Kolbe im Beisein des CDU-Landtagsabgeordneten Schiemann und Vertretern des BK den fortgeschrittenen Kapellenbau.485 Und anlässlich des zehnjährigen Bestehens des BK fand schließlich die festliche Einweihung der Gedenkkapelle unter Beisein des Ministerpräsidenten Biedenkopf und des Staatsministers Meyer, statt.486
480 Schiemann, Marko: Grußwort des rechtpolitischen Sprechers der CDU-Fraktion im sächsischen Landtag vom 07.05.1999, ArBK Grabpflege Karnickelberg; Schreiben des Bautzen-Komitees an die Radaktion Der Stacheldraht vom 07.06.1999, ArBK, Grabpflege Karnickelberg; Rögner, Katharina: »Kapelle erinnert an die Toten im ›Gelben Elend‹«, in: Sächsische Zeitung vom 07./08.08.1999, ArGBZ, HP, Anhang I; Klaus, Matthias: »Abriss auf dem Karnickelberg läuft«, in: Sächsische Zeitung vom 28./29.08.1999, ArGBZ, HP, Anhang I, o.V.: »Versöhnung unter Gräbern«, in: Mitteilungsblatt 39 (1999) vom 02.10.1999, ArGBZ, HP, Anhang I. 481 Ebd.; Bautzen-Komitee: Arbeitsschwerpunkte des Bautzen-Komitees in den Jahren 1999 und 2000 vom 25.01.2000, S. 2, ArBK, lose Blattsammlung. 482 Ebd. 483 Buhl, Petra-Alexandra: »Kirche neben Gefängnismauern«, in: Sächsische Zeitung vom 15.09.1999, ArGBZ, HP, Anhang I; Fügert, Gerd: »Erster Spatenstich für Kapelle«, in: Sächsische Zeitung vom 16.09.1999, ArGBZ, HP, Anhang I. 484 Bautzen-Komitee: Arbeitsschwerpunkte des Bautzen-Komitees in den Jahren 1999 und 2000 vom 25.01.2000, S. 3, ArBK, lose Blattsammlung. 485 Ebd., S. 4. 486 Mundra, Erhard: »Forderungen Stück für Stück umgesetzt«, in: Sächsische Zeitung vom 10./11.06.2000, ArGBZ, HP, Anhang I; von Heynitz, Benno: Begrüßungsansprache zur Einweihung der Kapelle auf dem Karnickelberg am 13.09.2000, PrEM; Horst Sch.: Ansprache zur Einweihung auf dem Karnickelberg am 13.09.2000, PrEM; Mattern, Carla: »Vater-Suche in Bautzen«, in: Sächsische Zeitung vom 13.09.2000, ArGBZ, HP, Anhang I; Schnabel, S.: Versöhnung über den Gräbern, in: Mitteilungs-
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Damit war das Gedenkkapellenprojekt endgültig zu einem »Staatsakt« und im Höchstmaße zu einem »Spektakel« ranghoher Politiker geworden. Die Kapelle, wie auch das Gedenken auf dem Karnickelberg insgesamt, war nicht mehr Angelegenheit einzelner Opfervertreter, die ihrer toten Kameraden gedachten, sondern war zu einem Politikum avanciert. War es den ehemaligen Häftlingen von »Bautzen I« anfangs noch darum gegangen, ihre ehemaligen toten Kameraden bei Suchgrabungen zu finden und zu bergen, sie würdig zu bestatten, die eigene subjektive Erfahrung mit Leidensgenossen zu teilen und die Aufarbeitung der eigenen Geschichte zu institutionalisieren, war das Erinnern und Gedenken an die Opfer von 1945-1956 mit dem Abschluss der Gräberstätte auf dem Karnickelberg durch eine vom Freistaat Sachsen gestiftete Kapelle zu einem politischen Großereignis und zu einem breiten öffentlichen Symbol geworden. Das Erinnern und Gedenken der Opfer auf dem Karnickelberg war damit in ebensolchem Höchstmaße aber auch Instrument der Delegitimation geworden. Die dort von höchstem politischem Rang geehrten Toten sollten Zeugnis ablegen über die Delegitimität der kommunistischen Herrschaft. Ohne diesen symbolpolitischen Nutzen seitens der sächsischen Regierung wiederum wäre es nie zu einer Verwirklichung des gesamten Projektes gekommen. Gerade um zu delegitimieren, unterstützte die Regierung das Vorhaben und überließ es nicht mehr nur seinem Selbstzweck. Entsprechend empfindlich fielen in der Folgezeit Reaktionen im Hinblick auf neuere Forschungen zu den Totenzahlen und die zunehmende Verwissenschaftlichung der Gedenkstättenarbeit aus, die aus Sicht der ehemaligen Häftlinge bzw. Opfer die Legitimität des Totengedenkens auf dem Karnickelberg und die eigene subjektive Leidensgeschichte in Frage stellten bzw. »korrigierten«. Hierauf soll in einem letzten Kapitel dieser Gedenkstättenanalyse ein Ausblick gegeben werden.
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SEIT
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Mit der institutionellen Einbindung in die StSG, mit der dauerhaften finanziellen Absicherung durch den Bund und den Freistaat Sachsen, mit der Schaffung von über fünf Mitarbeiterstellen, mit dem Beschluss einer inhaltlichen Konzeption zur Gedenkstättenarbeit in »Bautzen II« sowie mit dem Abschluss der Gräberstätte auf dem Karnickelberg durch den Bau einer Gedenkkapelle, schienen die erinnerungs- und geschichtspolitischen Auseinandersetzungen um die Gedenkstätte und das Totengedenken in Bautzen zu enden.487 Das Gestaltungs- und Nutzungskonzept war sowohl von
blatt 38 (2000) vom 23.09.2000, PrEM; o.V.: »Gedächtniskapelle im ehemaligen Zuchthaus Bautzen eingeweiht«, in: Die Welt vom 14.09.2000. 487 Zwar initiierte der ab August 2001 amtierende Vorsitzende des Bautzen-Komitees Günter Mühle ein Projekt zur Sicherung des Ausgrabungsbereiches Karnickelberg als Landschaftsdenkmal, zu einer Realisierung dieses Projektes (durch das Führen eines Weges von der Kapelle zum Ausgrabungsbereiches und das Anlegen eines »Gedenkplatzes« am Ausgrabungsort) kam es jedoch aus Mangel an Geldern vorerst nicht mehr, vgl. Mattern, Carla: »Gräberfeld soll Denkmal werden«, in: Sächsische Zeitung vom
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der Fachkommission Bautzen als auch vom Stiftungsbeirat und vom Stiftungsrat der StSG angenommen bzw. verabschiedet worden, mit einer ersten Ausstellungseröffnung wurde 2001 gerechnet. Trotz dieses Grundkonsenses und obwohl auch die großen erinnerungs- und gedenkstättenpolitischen Hürden genommen waren, setzten sich die Auseinandersetzungen nach 2000/2001 punktuell fort. Knackpunkt blieb dabei die Differenz zwischen wissenschaftlicher Aufarbeitung und Vermittlung der Vergangenheit auf der einen Seite und subjektiver Leiderfahrung der ehemaligen Bautzen-Opfer auf der anderen Seite. Je weiter die Forschung im Laufe der Jahre fortschritt und Licht brachte in Haftschicksale und Haftbedingungen zweier Gefängnisse zu unterschiedlichen Verfolgungszeiten, umso stärker schwoll der Konflikt zwischen dem BK und den Gedenkstättenmitarbeitern an. Obwohl das erste Ausstellungskonzept im Sinne des BK den Schwerpunkt auf die Zeit 1945-1956 legte und es – dem eigenen Gedenkstättenanspruch nach Authentizität zuwiderlaufend – sogar eine Rekonstruktion einer Gefängniszelle aus »Bautzen I« in den Räumen von »Bautzen II« vorsah,488 und obwohl zudem Biographien und Einzelschicksale bewusst in den Mittelpunkt dieses Ausstellungsabschnittes gerückt wurden,489 stieß das erste »Ausstellungsdrehbuch« bei Vertretern des BK dennoch auf herbe Kritik. »Nach meiner Meinung besteht in den GS [Gedenkstätten] allgemein ein offenkundiges Missverhältnis zwischen der Darstellung der authentischen Räume und der authentischen Gegenstände einerseits und einer adäquaten Vermittlung und Sichtbarmachung der Leiden der Opfer für die Besucher andererseits. Eine der Hauptaufgaben einer GS sollte es aber sein, die Leiden der Opfer für die Besucher auch emotional spürbar zu machen«,
bezog der Ehrenvorsitzende des BK in seiner Mitgliederinformation Stellung, und forderte er von der Gedenkstätte Bautzen, sie solle »[…] versuchen, die körperlichen und seelischen Leiden der Opfer durch künstlerische graphische oder andere bildliche Darstellungen für die Besucher sichtbar zu machen, u.a. mit der Darstellung der verhärmten, verbitterten und bis aufs Skelett abgemagerten Gestalten in zerschlissener Kleidung«.490 Diese Aufforderung bedeutete im Grunde genommen jedoch nichts anderes, als dass die Gedenkstätte in erster Linie »Opfer-Bilder« verbreiten sollte, die nicht auf alle Häftlinge zu allen Zeiten in beiden Gefängnissen zutrafen. Auch wurde von der
23.11.2001, ArGBZ, HP, Anhang I; Bautzen-Komitee: Projekt zur Sicherung des Vergrabungs- und Ausgrabungsbereiches Karnickelberg als Denkmal vom 10.09.2001, PrEM; Mühle, Günter: Vergrabungs- und Ausgrabungsbereich Karnickelberg Bautzen, o.D., Privatbesitz Günter Mühle [PrGM]. 488 Gedenkstätte Bautzen: Ausstellungskonzept. Geschichte des Speziallagers Bautzen 1945-1956, aktualisierte Fassung vom 17.12.2003, S. 4, ArGBZ, Konzepte. 489 Ebd., S. 5. 490 Bautzen-Komitee: Stellungnahme von Benno von Heynitz zu einigen Arbeitsschwerpunkten des BK in der Mitgliederversammlung vom 13.09.2000, S. 2, PrBvH, Mitgliederinformation I.
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Fehlannahme ausgegangen, Gedenkstätten seien dazu da, Opfergeschichten möglichst emotional zu vermitteln. Diese Erwartungshaltung lief aber der gebotenen objektiven, wissenschaftlich fundierten Geschichtsaufarbeitung und Gedenkstättenarbeit diametral entgegen und wurde mit der Eröffnung der ersten Elemente der Dauerausstellung am 03. Mai 2001 zwangsläufig enttäuscht. »Leider sind sehr viele falsche Aussagen, ja Legenden im Umlauf. Durch eine Ausstellung, die nichts beschönigt oder verfälscht, sondern sich an den Tatsachen orientiert wollen wir […] dazu anregen sich offensiver mit […] Geschichte auseinander zu setzen«, hielt die Leiterin der Gedenkstätte diesen subjektiv geprägten Erwartungen der Häftlingsvertreter entgegen.491 Zwar berücksichtigte die Gedenkstätte in großem Stil die verschiedensten Berichte von Zeitzeugen, dort wo jedoch keine stichhaltigen zusätzlichen Belege gefunden wurden, praktizierten die Gedenkstättenmitarbeiter jedoch den »Mut zur Lücke«, anstatt grassierende Mythen und Klischees zu bedienen bzw. zu pflegen.492 Eine Überbetonung der Leidensgeschichten, wie von einzelnen Vertretern des BK gefordert, blieb daher aus. Auf einen von den Häftlingsvertretern vorgeschlagenen Einbau eines Stehkarzers, auf einen suchmeldungsartigen Aushang einer Namensliste der Lagerärzte, sowie auf diverse andere Rekonstruktionen aus Häftlingserinnerungen (z.B. ein Pneumothorax zur Veranschaulichung massenhafter TBC-Erkrankungen in Bautzen) wurde, unter starkem Gegenwind seitens der Komitee-Mitglieder, im Zuge des schrittweisen Aufbaus der Ausstellung bewusst verzichtet. In den Jahren 2001-2005 wurde – einem »Baukastenprinzip« und den Grundsätzen des Nutzungs- und Gestaltungskonzeptes folgend – erst sukzessive der Ausstellungsteil für den Zeitraum 1945-1956 komplettiert.493 Ihm schloss sich nahtlos die Drehbuchplanung und sukzessive Umsetzung des zweiten Verfolgungsabschnittes 1956-1989 an, den es in der Gedenkstätte zu vermitteln galt. Noch stärker als auf den ersten Ausstellungsabschnitt bezogen, legten die Macher den Schwerpunkt auf die Prämisse: »Das Haus Ist das Objekt«.494 Neben der nüchternen Präsentation von Räumen und örtlichen Spuren, beinhaltete dieser Abschnitt – wie auch der zuvor installierte zum Zeitraum 1945-1956 – Biographiestelen, anhand derer exemplarisch verschiedene individuelle Erfahrungen aus unterschiedlicher Perspektive und zu unterschiedlichen Zeitpunkten vermittelt werden sollten. Damit fanden die Betroffenen bzw. die ehemaligen Häftlinge, wenn auch nicht auf der geforderten, emotional und moralisch aufgeladenen Ebene, so doch auf fachlich fundierte Weise Eingang in die Gesamtdramaturgie der Gedenkstätte. Durch die Berücksichtigung von Täterbiographien und durch die starke historische Kontextualisierung der beispielhaft dargestellten Lebensläufe,
491 Schumann, Carmen: »Zur Auseinandersetzung anregen«, in: Sächsische Zeitung vom 02.05.2001, ArGBZ, HP, Anhang I. 492 Siehe u.a.a. Stengel, Silvia: »Den Weg der Häftlinge gehen«, in: Sächsische Zeitung vom 03.05.2001, ArGBZ, HP, Anhang I. 493 Gedenkstätte Bautzen: Ausstellungskonzept »Geschichte der Stasi-Sonderhaftanstalt Bautzen II. 1956 bis 1989« vom August 2005, S. 3, ArGBZ, Konzepte. 494 Ebd., S. 6.
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fand zudem eine Objektivierung statt, die dem subjektiven Pathos entgegenwirkte und die geforderte »Dramatik« abschwächte. Diese unterschiedlichen Erwartungen und Haltungen zur konkreten Gedenkstättenarbeit zwischen den Opfervertretern (insbesondere dem BK) und dem wissenschaftlichem Gedenkstättenbetrieb sorgten auch in der Folgezeit immer wieder punktuell für Spannungen und Dissonanzen, z.B. wenn es um gestalterische Detailfragen ging.495 Insgesamt jedoch stellten diesbezügliche Auseinandersetzungen den Gesamtbetrieb der Gedenkstätte nicht mehr in Frage. Viel stärker als die Kritik an einzelnen Ausstellungselementen wog in den Jahren nach 1999/2000 noch die Kritik einzelner Mitglieder des BK gegenüber den wissenschaftlichen Forschungsergebnissen bezüglich der belegbaren Totenzahlen in Bautzen. Wie bereits oben angedeutet, war die Delegitimation der »kommunistischen Gewaltherrschaft« untrennbar mit einer hohen Zahl an unschuldigen Toten des »Gelben Elends« verbunden. Sie waren der Anlass für die Suchgrabungen auf dem Karnickelberg 1990 und ab 1992, sowie für das Aufstellen eines Gedenksteines 1990 und das Errichten einer Gräberstätte mit Andachtskapelle bis ins Jahr 2000 hinein. Geschichtspolitisch sorgte die Vermutungen über eine hohe Opferzahl für eine Vergleichbarkeit mit dem Konzentrations- und Speziallager Buchenwald. Bezüglich der Speziallagerzeit nach 1945 maßen Opferverbände dem Lager in Bautzen sogar mehr Bedeutung zu als Buchenwald, hätten in Bautzen vornehmlich Unschuldige gesessen und seien dort die Verluste an Kameraden besonders gravierend gewesen. Jedes Infragestellen bzw. Korrigieren der im SOPADE-Bericht mit 16.700 angegebenen Toten des »Gelben Elends«,496 wurde von einzelnen Opfervertretern deshalb als »antifaschistisch geprägte Verharmlosung« und »Bagatellisierung der kommunistischen Gewaltherrschaft« aufgefasst und scharf zurückgewiesen. So schrieb der stellvertretende Vorsitzende des BK an einen Redakteur der Sächsischen Zeitung, der im September 2001 über dahingehende Forschungen des HAIT berichtete: »Obwohl Tausende von Opfern der antifaschistischen Gewalttätigkeit, oft noch sehr junge Menschen, in der Umgebung des ›Gelben Elends‹ wie krepiertes Vieh in Erdlöchern begraben wurden, wird die Anzahl der Toten von der sächsischen Forschung auf nicht mehr als etwa 2400 Tote dezimiert, um die verbrecherische Gewalt des sowjetischen Terrorsystems zu verharmlosen. […] Es ist genug! Bautzen ist kein Tummelplatz für antifaschistische Gewalttäter!«497
Und an das HAIT selbst ging aus gleicher Richtung nur wenig später der Hinweis: »Die Auswirkungen totalitärer Macht und Gewalt sind hinlänglich bekannt und bedürfen nicht einer interdisziplinären Forschung, die eine offensichtliche Verfälschung von histori-
495 Insbesondere wurden der Verfasserin in diversen Gesprächen hierzu immer wieder Konflikte über Zellen-Rekonstruktionen genannt. 496 Vorstand der SPD (Hg.): SOPADE Denkschriften 2/55 (1955), S. 5. 497 Schreiben des Bautzen-Komitees an die Sächsische Zeitung vom 23.09.2001, PrEM.
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schen Tatsachen zum Ziel hat, für die immense Summen von Finanzmitteln verausgabt werden, während das Begehren betroffener Menschen missachtet und politisch gerügt wird.«498
Und als die Gedenkstätte Bautzen begann, die in der Forschung bis 2002 grassierenden unterschiedlichen Totenzahlen499 und Häftlingsstrukturen durch eigene Recherchen im Zuge der Ausstellungsarbeit und im Zuge des Erstellens eines Totenbuches zu korrigieren, und dabei auch offenlegte, dass die Gruppe der Häftlinge wohl heterogener war, als gemeinhin angenommen500 und die Zahlen deutlich nach unten zu berichtigen seien, brach abermals ein anhaltender Streit aus zwischen der Gedenkstätte Bautzen und dem BK. Der für die Dokumentation zuständige Wissenschaftler der Gedenkstätte bezweifelte die überhöhten Zahlen der Listen des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) und des SOPADE-Berichtes und gab zu bedenken, »[…] dass es sich bei den Namenslisten um nicht bereinigte Datensätze handelt […]«.501 Da in die Datenbanken des DRK verschiedene Quellen eingeflossen waren, wurde seitens der Gedenkstätte vermutet, dass es namentliche Mehrfachnennungen geben müsse bzw. unterschiedliche Schreibweisen zu Mehrfachnennungen geführt hätten. Die Listen der Lagerwaltung hingegen gäben Aufschluss über annähernd realistische Zahlen, argumentierte er gegen die Häftlingsvertreter, denen seine Zahlen zu niedrig waren.502 Als das Totenbuch schließlich 2004 erschien, listete es in einer ersten Auflage für den Zeitraum 19451956, abweichend von bisherigen Veröffentlichungen, knapp über 3000 Tote auf, von denen 73 Menschen in den Jahren 1945-1946 hingerichtet worden waren.503 Zudem grenzte es ein, dass 80% dieser Menschen nachweislich bis zur zweiten Jahreshälfte 1948 vornehmlich an Dystrophie, Tbc und Krankheiten durch Unterversorgung gestorben waren.504 Zwar machte die Gedenkstätte deutlich, dass die extrem desolaten Haftumstände Haupttodesursache war und dass diese recherchierte Totenzahl »nach oben hin noch offen« sei, u.a.a. weil es eine nicht zu bestimmende Zahl an Selbstmor-
498 Schreiben des Bautzen-Komitees an das HAIT vom 12.10.2001, PrEM. 499 Die Gedenkstätte Bautzen stellte eine umfassende Übersicht der bisherigen, stark voneinander abweichenden Angaben in der Literatur seit 1955 zusammen, vgl. Gedenkstätte Bautzen: Speziallager in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (1945-1950), interne Übersicht, o.D., ArGBZ, Bestand: Speziallager Totenbuch [Totenbuch]. 500 D.h., neben Unschuldigen und aus politischen Motiven heraus Verhafteten waren zum Teil auch Häftlinge in Bautzen I, die sich in vollkommen unterschiedlichem Ausmaß NSDAP-Aktivitäten schuldig gemacht hatten, vgl. u .a. Lipinsky, Jan: »Häftlingsstruktur im Speziallager Bautzen aus sowjetischer Sicht«, in: Plato, Alexander von/Niethammer, Lutz (Hg.): Sowjetische Speziallager (1998), S. 500ff. 501 Schönbach, Ulli: »Mehr als 3.000 Tote im Speziallager? Gedenkstätte zweifelt an neuen Erkenntnissen«, in: Sächsische Zeitung vom 20.03.2002, ArGBZ, HP, Anhang I. 502 Ebd. 503 Morré, Jörg/Liebold, Cornelia: Totenbuch (2004), S. 5, 7. 504 Ebd., S. 7.
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den gegeben habe, insgesamt stieß die Veröffentlichung des Totenbuches jedoch beim BK und bei den ehemaligen Häftlingen auf herbe Kritik.505 Sie hielten an ihrer Auffassung fest, bei Bautzen habe es sich um ein Massenvernichtungslager mit Massentötungen gehandelt, dem über 16.700 zum Opfer fielen. Und allein weil die Quellen des Totenbuches, nämlich die Überlieferungen der Lagerverwaltung (v.a. das »Journal der täglichen Registrierung« und die Berichte der Lagerleitung an die Sowjetische Militäradministration) aus der »Feder der Täter« stammten, könne man diesen nicht vertrauen und seien die Zahlen geschönt, wiesen die Opfervertreter die Argumente der Gedenkstätte zurück.506 Zudem zögerten sie nicht, der Gedenkstätte und anderen prononcierten Historikern auf diesem Gebiet auftragsgemäße »Geschichtsfälschung« zu unterstellen.507 »In zunehmenden Maße wird nun der Anschein erweckt, dass die vielen, zum Teil offiziellen Aussagen zu der Anzahl der Lagertoten von Lagerärzten, von Überlebenden, von Historikern und kompetenten Autoren wie Fricke z.B. als weniger zuverlässig gelten als die Auflistungen derer, die dieses Sterben verursacht haben«,
hieß es an einer,508 »[…] wenn man unangenehme Aufzeichnungen verschwinden lassen wollte, dann waren doch wohl [die] Unangenehmsten, die Auflistungen der begangenen Morde auch dabei«, hieß es an anderer Stelle.509 Schließlich wurde dem wissenschaftlichen Mitarbeiter der Gedenkstätte nahegelegt: »Historikern, die bisher die Freizügigkeit der russischen Archive priesen, und seit fünf Jahrzehnten belogen werden, ist ernsthaft anzuraten sich um ehrliche Gesprächspartner und ebensolche Informationen zu bemühen.«510 »Ich sehe derzeit keine andere Möglichkeit, an die Namen der Verstorbenen zu gelangen. Eine Aufzählung mit den Namen von bis zu 10.000 Toten in Bautzen ist mir nicht bekannt, andernfalls hätte ich sie berücksichtigt«, wies die Gedenkstätte den Vorwurf, sie hielte sich an die falschen Quellen, zurück.511 Und mit den Argumenten, die Liste sei doch »nach oben offen« und schließlich ginge es beim Totenbuch statt um einen »body count« vielmehr um ein würdevolles Totengedenken, nahm sie den Opfervertretern den »Wind aus den Segeln«.512 In einer zweiten Auflage des Totenbuches in 2005 hielt die Gedenkstätte Bautzen an der bisheri-
505 506 507 508 509 510 511 512
Ebd. Ebd., S. 9. Schreiben des Bautzen-Komitees an die Gedenkstätte Bautzen vom 26.04.2002, PrEM. Schreiben von Horst G. K. an die Gedenkstätte Bautzen vom 13.08.2004, ArGBZ, Totenbuch. Horst G. K.: Das »Totenbuch«. Unveröffentlichtes Manuskript, Sommer 2004, S. 3, ArGBZ, Totenbuch. Schreiben von Horst G. K. an die Gedenkstätte Bautzen vom 02.01.2005, ArGBZ, Totenbuch. Schreiben der Gedenkstätte Bautzen an Horst G. K. vom 11.11.2004, ArGBZ, Totenbuch. Ebd.
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gen Vorgehensweise und an seinen Forschungsergebnissen fest. Der Objektivität des Faches geschuldet, ergänzte sie lediglich 54 Namen, die im ersten Totenbuch nach Aussage von Zeitzeugen und von Angehörigen nachweislich fehlten, strich acht Namen aufgrund von Doppelungen und abweichenden Todesorten und machte Korrekturen an 73 weiteren Einträgen der Erstausgabe.513 Darüber hinaus vermittelte sie allen Kritikern erneut, es handle sich weiterhin um eine offene Liste und forderte zu Mitarbeit auf. Dies schloss jedoch das Einbeziehen von reinen Vermutungen und Schätzungen, von wagen Angaben usw. weiterhin aus. Entsprechend stieß auch die zweite Auflage seitens der Opfervertreter auf starke Kritik und wurde die Wissenschaftlichkeit der diesbezüglich tätigen Mitarbeiter in der Gedenkstätte abermals in Frage gestellt. »Leider haben die dem Totenbuch zu entnehmenden, auf angeblich wissenschaftliche Bearbeitung beruhenden Opferzahlen mit der Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun«, kommentierten die TotenbuchKritiker nun auch öffentlich in der Zeitschrift Der Stacheldraht.514 Daraufhin schalteten sich auch Opfervertreter, die mit Bautzen bislang kaum direkte Berührung hatten, in die Debatte ein, sodass sich z.B. der Kurt-Schumacher-Kreis aus Berlin an den Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen und an den Staatsminister des SMWK wandte: »Aber die Historiker haben keine Ahnung von den Zuständen nach 1945 in der sowjetischen Zone […]«, schließlich hätten die Russen die Totenzahlen offiziell niedrig gehalten, um weiterhin die Verpflegungsrationen der mittlerweile Verstorbenen zu erhalten, diese »[…] überzähligen Verpflegungssätze konnte man ›aufbereiten‹ und sie auf dem ›Schwarzen Markt‹ gegen Alkohol ›verhökern‹. […] Den überwiegenden Teil der Unterlagen in Moskau über die damaligen Gefangenen des NKWD kann man ›wegwerfen‹. Sie sagen in den meisten Fällen die Unwahrheit aus. Das gilt insbesondere über die Totenzahlen«.515
Neben den hier beispielhaft angeführten Opfervertretern, die sich schwer mit der wissenschaftlichen Gedenkstättenarbeit und neueren Forschungsergebnissen taten, gab es aber auch einen Vertreter unter den ehemaligen Häftlingen, der zum anderen Extrem neigte. Nicht minder pauschalisierend beschrieb er die ehemaligen Häftlinge Bautzens: »Diese Menschen waren Täter und reklamieren nun für sich die Opferrolle, um ihre Schuld zu relativieren. Viele fälschen ihre Biographie, um sich Entschädigungen zu erschwindeln und schreien dreist auch noch nach ›Ehrenrenten‹.«516 Im Unterschied zu seinen Haftkameraden, bezog er sich ausdrücklich auf neuere Forschungsergebnisse, um zu belegen, »[…] dass der Anteil politisch moti-
513 Morré, Jörg/Liebold, Cornelia: Totenbuch (2005). 514 Horst G. K.: »Das Sterben in Bautzen. Zu den Opferzahlen des Speziallagers Nr. 4/ Bautzen I«, in: Der Stacheldraht 2 (2005), ArGBZ, Totenbuch. 515 Schreiben des Berliner Freundeskreises ehem. politischer Häftlinge aus den Reihen der demokratischen Parteien SPD, CDU und FDP an die Gedenkstätte Bautzen vom 27.09.2005, ArGBZ, Totenbuch. 516 Schreiben von Wilfried H. an die Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen vom 23.01.2003, Privatbesitz Wilfried H. [PrWH].
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vierten Widerstandes nur noch eine Minderheit ist« und »[…] dass die unermesslichen Verbrechen der Deutschen an den Russen Schlimmeres erwarten ließ und auch rechtfertigen würde als das, was sie den Deutschen angetan haben«.517 Angesichts der belegten Todeszahlen von ca. 3000 zwischen 1945-1950 (d.h. unter fünf Sterbefälle pro Tag) kam er zu dem Schluss: »In Anbetracht des Lebensalters der Verstorbenen […] und der Lebenssituation in diesen Nachkriegsjahren, entspricht das fast der durchschnittlichen Sterberate eines Gemeinwesens mit solcher Altersstruktur.«518 Es sei »[…] zynisch 44 Tausend nicht willentlich getötete Menschen anklagend aufzurechnen, ohne die 55 Millionen Tote, die auf das Konto des deutschen Volkes zu buchen sind, gegenüberzustellen, wobei allein 3,3 Millionen russische Kriegsgefangene innerhalb von 3 Jahren in deutscher Obhut verhungert sind«, machte er darüber hinaus eine Gegenrechnung auf und lief damit wiederum Gefahr, das »Gelbe Elend« zu relativieren.519 Diese Auseinandersetzungen um konkrete Ausstellungsinhalte und die Opferzahlen in Bautzen seit 1999/2000 liefen vorwiegend hinter den Kulissen und gewannen nie breite öffentliche Aufmerksamkeit. Sie begleiteten die zunehmende Konsolidierung und Professionalisierung, ohne diesen Prozess zu beeinflussen oder gar zu lenken. Ganz anders hingegen, mit einer breiten öffentlichen Resonanz sowie starken erinnerungspolitischen Folgen für die Erinnerungslandschaft in Sachsen und darüber hinaus, verlief ab 2002 die Auseinandersetzung um ein Stiftungsgesetz für die StSG. Von den Auseinandersetzungen um ein Stiftungsgesetz war die Gedenkstätte Bautzen allerdings nur geringfügig betroffen, weshalb im Folgenden abschließend diesbezüglich nur ein kleiner »Ausblick« gegeben wird. Da der Kabinettsbeschluss der Sächsischen Landesregierung vom 07. April 1998 lediglich die Finanzierung der StSG für die Haushaltsjahre 1999 und 2000 zusicherte,520 und Aufgaben des Sächsischen Landesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit der DDR auf die StSG übertragen werden sollten, aber auch dadurch dass die Gedenkstätte »Bautzener Straße« in Dresden sowie die Gedenkstätte Museum in der »Runden Ecke« Leipzig in die institutionelle StSG-Förderung strebten,521
517 Schreiben von Wilfried H. an das Bautzen-Komitee vom 20.05.2003, PrWH. Zugrunde gelegt wurde eine Statistik eines Vortrages von Leonid P. Kopalin am 16.05.2003 in Bonn, nach der 41% der SMT-Verurteilten des Kriegsverbrechens für schuldig erklärt wurden und nur 12% der antisowjetischen Propaganda, 4% terroristischer Tätigkeiten und nur 3% der Sabotage, vgl. auch Schreiben von Wilfried H. an die Gedenkstätte Bautzen vom 14.04.2005, PrWH. 518 Schreiben von Wilfried H. an die Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen vom 22.05.2003, PrWH. 519 Wilfried H.: Aufforderung zum intensiven Nachdenken. Offener Brief an alle Opferverbände und Gedenkstätten vom 02.02.2006, PrWH. 520 Sächsische Staatskanzlei: Beschluss Nr. 02/0995 vom 07.04.1998, ArStSG, Kabinett; Schreiben des SMWK an den Sächsischen Landtag vom 20.10.1998, ArStSG, LtDrs. 521 Sächsischer Landtag, Drs. 03/6468 vom 14.05.2002, S. 3 PASächLt. Zu den Versuchen der Gedenkstätten Bautzener Straße und »Runde Ecke« in die institutionelle Landesmittelförderung zu gelangen.
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wurde der Bedarf nach einer gesetzlichen Verankerung der StSG, wie 1993 seitens des Sächsischen Landtages mit Ausnahme der CDU-Fraktion ohne Erfolg gefordert, im Laufe des Jahres 2002 immer dringlicher. Gleichzeitig, so das übergeordnete Ziel der Gesetzesinitiative, sollte auf diese Weise vor allem endlich ein dauerhaftes Fundament der StSG geschaffen werden, das sowohl den Anforderungen der auf Langfristigkeit ausgelegten Bundesförderung genügte, als auch die legislativen Einflüsse auf die StSG minimieren half. Bisher fußte die StSG ja lediglich auf Regierungs- bzw. Kabinettsbeschlüssen, ohne eine parlamentarische Teilhabe. Ohne an dieser Stelle näher auf den »Sächsischen Gedenkstättengesetzstreit« (2002-2004) tiefer eingehen zu können, sei in Bezug auf die Gedenkstätte Bautzen zumindest erwähnt, dass dieser streitintensive Gesetzesprozess für die Gedenkstätte Bautzen in zweierlei Hinsicht normativen Charakter besaß. Erstens, wurde die Gedenkstätte Bautzen per Stiftungsgesetz vom 28. Februar 2003 erstmals gesetzlich, d.h. auf Dauer institutionell in die StSG eingebunden, mit allen Vor- und Nachteilen, die diese unumkehrbare Verbindung seither mit sich brachte.522 Zweitens, wurde der Schwerpunkt der Gedenkstätte Bautzen erneut auf die Nachkriegszeit festgelegt, sodass die politische Verfolgungsperiode 1933-1945 nun endgültig den Verfolgungsperioden 1945-1956 und 1956-1989 nachgeordnet wurde und auf erinnerungspolitischer Ebene nicht mehr gleichrangig Erwähnung bzw. Berücksichtigung fand. Als Ort der »dreifachen Diktaturerfahrung« tauchte Bautzen im Zuge des Gesetzgebungsprozesses zur StSG nicht mehr auf, im Unterschied zu den Gedenkstätten Torgau und Münchner Platz. Dies hatte zur Folge, dass die Gedenkstätte Bautzen auch weiterhin erinnerungs- und gedenkstättenpolitisch vornehmlich als SBZund DDR-Gedenkstätte behandelt wurde.523 Das Bemühen der Gedenkstätte, diese öffentliche Wahrnehmung als reine SBZ/DDR-Gedenkstätte durch eine ergänzende, dritte Ausstellung zu Bautzen zwischen 1933-1945 abzumildern, scheiterte Jahr um Jahr. Das fertige Ausstellungsdrehbuch zur politischen Haft in »Bautzen I« und »Bautzen II« zwischen 1933-1945 konnte aufgrund einer Haushaltssperre, die der StSG vom Bund auferlegt wurde, jahrelang nicht umgesetzt werden. Ohnehin war die Gesetzesfassung der vorerst letzte gedenkstättenpolitische Entwicklungsschritt der Gedenkstätte Bautzen. Zwar wurden Haase und Klewin im Zusammenhang mit der 2005 vom BMI berufenen Sabrow-Kommission um Stellungnahme gebeten, die Gedenkstätte Bautzen selbst und ihre institutionelle Einbettung in die StSG blieben in den Empfehlungen der Expertenkommission allerdings vollständig außen vor.524 Da an ihrem Status quo (institutionell von Freistaat und Bund gefördert, strukturell und personell der StSG angegliedert) nichts verändert
522 Gesetz zur Errichtung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft vom 28.02.2003, ArStSG. 523 StSG: Bericht. Erinnerung an Unrecht, Opposition und Widerstand während der nationalsozialistischen Diktatur, der sowjetischen Besatzung und der SED-Diktatur im Freistaat Sachsen vom 12.02.2002, ArStSG; Sächsischer Landtag: Stenographisches Protokoll der Anhörung »Gesetz zur Errichtung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft«, Drs. 03/6468 vom 16.01.2003. 524 Sabrow, Martin/Eckert, Rainer (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? (2007), S. 42.
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werden sollte, wurde sie folglich auch mit keiner Silbe berücksichtigt. Haase kritisierte dies in seiner Stellungnahme: »Es erstaunt, dass bei der Beschreibung des empfohlenen Aufarbeitungsschwerpunktes der historische Ort fehlt, der im kollektiven Gedächtnis sowohl der Deutschen als auch über die Landesgrenzen hinaus bis heute synonym für die Repression der Diktatur in SBZ und DDR steht: Bautzen. Im gesamten Papier findet sich kein Hinweis auf diesen überregional bedeutsamen Ort der Repression. Das Bautzener Speziallager war das Lager der Widerständigen, die gegen die Sowjetisierung in der SBZ aufbegehrten. Bautzen II […] war die einzige Vollzugseinrichtung der DDR, die der Staatssicherheit unterstand, war das Gefängnis für ›Staatsverbrecher‹ (z.B. Erich Loest, Karl Wilhelm Fricke, Rudolf Bahro, Walter Janka). Aus historischer Sicht ist Bautzen in einem Atemzug mit der Normannenstraße zu nennen.«525
Statt die Einrichtungen in der Fläche überwiegend zu ignorieren, forderte Haase: »eine finanziell und personell angemessene Ausstattung der dezentralen Einrichtungen […]«, zu denen im Südosten Sachsen gelegen auch Bautzen zu zählte.526 Ihre Herauslösung aus der StSG und eine 100%ige Bundesübernahme verfolgte der Geschäftsführer der StSG mit seiner Kritik nicht, sondern vor allem eine Aufstockung der Mittel, um gerade in der ländlichen und kleinstädtischen Region gegen eine Verharmlosung der DDR aufklären zu können.527 In der Praxis bedeutete dies, dass der Handlungsspielraum der Gedenkstättenmitarbeiter häufig gerade dort begrenzt blieb, wo historisch-wissenschaftliche Gestaltungsspielräume für eine unvoreingenommene Realisierung der konzeptionell längst vorgesehenen, offenen und vielschichtigen Gedenkstättenarbeit noch zu füllen waren. Dies galt insbesondere für die Einbeziehung der verschiedenen, z.T. geschichtspolitisch konkurrierenden Gremien ebenso, wie für die haushaltsmäßig Abhängigkeit, wurden doch sowohl die Mittel vom Freistaat als auch die Bundesmittel über die StSG an die Gedenkstätte ausgeschüttet. Jede Dezimierung des StSGHaushaltes oder gar eine Haushaltssperre traf die Gedenkstätte unmittelbar, und jede zu treffende Entscheidung musste die Bürokratie der StSG und ihre Gremien durchlaufen. Fand die Gedenkstätte Bautzen mit keinem Wort in den Empfehlungen der Sabrow-Kommission Erwähnung, so wurde sie zumindest in der neuen Gedenkstättenkonzeption, die der BKM Bernd Neumann am 18. Juni 2008 der Öffentlichkeit vorlegte, an einer Stelle im Text aufgeführt. Zwar unterbreitete die NeumannKonzeption zur institutionellen, strukturellen und finanziellen Situation der Gedenkstätte Bautzen abermals keine neuen Vorschläge, inhaltlich aber rückte das Papier die Gedenkstätte wieder näher in Richtung Buchenwald und Sachsenhausen: »Durch eine anteilige institutionelle Förderung gewährleistet der Bund seit 1993 die Arbeit verschiedener Gedenkstätten an Orten mit NS-Vergangenheit, die nach 1945 vom kommu-
525 Ebd., S. 172. 526 Ebd., S. 173. 527 Ebd., S. 172.
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nistischen Repressionsapparat weitergenutzt wurden […]. Dies gilt zum einen für die sowjetischen Speziallager auf dem Gelände der ehemaligen nationalsozialistischen Konzentrationslager Sachsenhausen und Buchenwald, für das Gericht am Münchner Platz in Dresden und für die Haftstätten Torgau. Aber auch die Ursprünge der vom Bund institutionell geförderten Gedenkstätte Bautzen, wo das Ministerium für Staatssicherheit eine berüchtigte Sonderhaftanstalt für politische Gegner betrieb, reichen bis in die Zeit des Nationalsozialismus zurück.«528
Die Vergleichbarkeit von Bautzen mit Sachsenhausen und Buchenwald bezog sich also ausschließlich auf die Speziallagerzeit. Das heißt, anders als von Opfervertretern häufig gefordert, wurden geschichtspolitisch keine verklärenden Parallelen mehr gezogen zwischen den NS-Konzentrationslagern und dem Speziallager Bautzen. Die Gedenkstätte Bautzen wurde hinsichtlich ihres Aufarbeitungsschwerpunktes weiterhin maßgeblich den SBZ/DDR-Gedenkstätten zugeordnet.529 Anders jedoch als seit 2002, wies die neue Gedenkstättenkonzeption immerhin wieder darauf hin, dass die politische Haft in Bautzen nicht erst 1945 begann, sondern bereits im Nationalsozialismus. Das Vermengen und Nivellieren bzw. ein vollständiges Vernachlässigen einzelner Verfolgungsperioden fanden also in Bezug auf die Gedenkstätte Bautzen nicht mehr in dem Maße wie zuvor statt.
3.8 Z USAMMENFASSUNG : D IE G EDENKSTÄTTE B AUTZEN 1989-2009 Die historische Aufarbeitung der Bautzener Haftanstalten begann im Winter 1990. Sie war keine Folge der Reformen und des Endes des DDR-Strafvollzuges, sondern entsprang maßgeblich dem Bedürfnis ehemaliger Speziallager-Häftlinge aus Westdeutschland, sich mit der Grenzöffnung und mit dem Ende der DDR vor Ort auf Spurensuche zu begeben und dort ihren in Haft verstorbenen Kameraden eine letzte Ehre zu erweisen. Im Vordergrund stand also zunächst das Totengedenken an die Bautzener Speziallageropfer des »Gelben Elends«. Hierbei stützten sich die Initiatoren von Suchgrabungen in ummittelbarer Nähe der StVE Bautzen I vor allem auf ihre individuellen Erfahrungen sowie auf den SOPADE-Bericht. So vermuteten sie, dass es in Bautzen nach 1945 etwa 16.700 Speziallagertote gegeben habe, die sie in Massengräbern auf dem Karnickelberg bzw. in seiner unmittelbaren Umgebung zu finden hofften. Organisatorisch wurde – in Anlehnung an das »Internationale Dachau-Komitee« – von den ehemaligen Häftlingen ein »Bautzen-Komitee« ins Leben gerufen, das mit Unterstützung der Kommunalpolitik bereits im Juni 1990 als Verein gegründet, die Federführung der Aufarbeitung der Bautzener Haftanstalten übernahm. Im Vordergrund standen neben dem Gedenken der im »Gelben Elend« verstorbenen Haftkameraden und dem »Lüften des Mantels des Schweigens« vor allem
528 BKM: Verantwortung wahrnehmen (2008), S. 17. 529 Ebd., Anlage 2, S. 23.
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auch das Anprangern des als »kommunistisches Unrecht« definierten gesamten Nachkriegsgeschehens in der SBZ und DDR. Zwischen verschiedenen rechten und linken antidemokratischen Systemen sowie zwischen unterschiedlichen Epochen politischer Verfolgung differenzierten die Opfervertreter dabei zunächst nicht, vielmehr wurden ungleiche Verbrechenskomplexe »im Eifer des Gedenkens« oft miteinander vermengt. Dies führte dazu, dass Stalinismus, Kommunismus und Staatssozialismus häufig als ein und dasselbe betrachtet wurden und besonders in der Anfangsphase der Geschichtsaufarbeitung suggeriert wurde, stalinistische Verbrechen habe es sogar noch bis 1989 gegeben. Diese Vermischung bzw. Nivellierung führte aber zunächst auch dazu, dass die nationalsozialistischen Verbrechen immer zwangsläufig dort relativiert wurden, wo Speziallager-Unrecht mit dem Holocaust gleichgesetzt, wo zwischen KZ und Speziallager nicht stark genug unterschieden und wo die Nachkriegs- und Internierungspolitik sowie der DDRStaatsapparat in einem Atemzug als »Terror an unschuldigen Deutschen« dargestellt wurde. Gewissermaßen war es also auch eine bis 1989 aufgestaute »Erinnerungsnot«, die sich in Bautzen wie durch ein Ventil entlud, und war es diese Dynamik, durch die rechtskonservative Auslegungen der Totalitarismustheorie in Bautzen ihre Renaissance erlebten und es im Zuge des Opfergedenkens gerade dort zu einer Fortführung antikommunistischer Traditionen sowie zu einem Aufflackern eines »neuen deutschen Opferkultes« kam. Dies führte anfangs dazu, dass nationalsozialistische Verbrechen eher verklärt und die DDR in der Dimension ihres Diktaturcharakters eher überbewertet wurden. Die erste Phase der Aufarbeitung in Bautzen trug somit nicht die Handschrift der um Differenzierung bemühten historischen Fachwissenschaft, sondern die der ehemaligen Opfer, die aus ihrer subjektiven Perspektive heraus, die Chance ergriffen, endlich ihr Leid und ihre Verluste aufgedeckt und öffentlich anerkannt zu bekommen. Um diesem Bedürfnis Nachdruck zu verleihen, gruben sie bereits 1990 nach Leichen, errichteten sie noch im gleichen Jahr einen Gedenkstein und schufen sie bis in das Jahr 2000 hinein und mit Unterstützung des VDK, des Freistaates Sachsen und der Stadt Bautzen auf dem Karnickelberg Stück für Stück eine Gräber- und Erinnerungsstätte. Die MfS-Sonderhaftanstalt Bautzen II rückte erst mit einer Verzögerung in den Blick der Geschichtsaufarbeitung vor Ort. Zwar wurde die Gefängnisgeschichte der StVE Bautzen II schon im Sommer 1990 ebenfalls zum Vereinszweck des BK erhoben, allerdings erst mit der Verlegung ihrer letzten Häftlinge in die JVA Bautzen sowie mit der vollständigen Räumung der Haftanstalt, wurde sie als ein historisches Dokument für politische Verfolgung und Haft in der DDR in Betracht gezogen. Es waren die CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages und der Sächsische Justizminister Heitmann, die im Sommer 1991 erstmals »Bautzen II« statt den Karnickelberg als Standort für ein Museum und eine Begegnungsstätte mit Dokumentencenter bevorzugten. Von einer parallelen Fortführung des Haftbetriebes nahm das SMJ erst ab Sommer 1992 Abstand. Das BK nahm die Initiative der CDU-Fraktion auf, bildete eine Arbeitsgruppe und legte im Oktober 1992 ein erstes Museumskonzept über ein Menschenrechtsmuseum in »Bautzen II« vor. Es empfahl, dass »Bautzen II« insgesamt stellvertretend für politische Haft zwischen 1945-1989 auf dem Gebiet der ehemaligen DDR stehen solle. Geschichtspolitisch knüpfte es an den scharfen kommunismuskritischen Ton an, der
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auch das Opfergedenken auf dem Karnickelberg bestimmte. Planungen des Liegenschaftsamtes und des SMJ, »Bautzen II« trotz Museumsbetrieb zusätzlich als ein Archiv bzw. als Verwaltungsgebäude für das benachbarte Gericht zu nutzen, sowie Zerstörungen und Demontagen bei der Räumung von »Bautzen II« 1992 und 1993, lösten schließlich eine solch hefte Kritik am Liegenschaftsamt, am SMJ und an der JVA Bautzen aus, dass jedwede Weiternutzung als Haftanstalt oder Verwaltungsgebäude am Ende unterblieb und »Bautzen II«, von den Fraktionen der Bündnisgrünen und der SPD des Sächsischen Landtages politisch flankiert, im April 1993 von der Sächsischen CDU-Regierung für eine Gedenkstättennutzung zur Verfügung gestellt wurde. Das geschichtspolitische Motiv hierfür war, mit einer Gedenkstätte der »Opfer kommunistischer und sozialistischer Diktatur und politischer Justiz« in Bautzen ein »antikommunistisches Pendant« zur Gedenkstätte Buchenwald zu schaffen. Da das BK eine alleinige Trägerschaft der Gedenkstätte ausschloss, empfahl es mit Blick auf zeitgleich stattfindende bundespolitische Bemühungen, die ehemaligen »Nationalen Gedenkstätten der DDR« (u.a. Buchenwald und Sachsenhausen) in die Bundesverantwortung zu nehmen, die Gründung einer Landesstiftung für die in Sachsen einzurichtenden Gedenkstätten. Die Sächsische Regierung nahm diese Idee auf und gründete per Kabinettsbeschluss und ohne Partizipation des Sächsischen Landtages im Februar 1994 die Stiftung Sächsische Gedenkstätten. Für eine Gedenkstätte in Bautzen wurde so ein Trägermodell geschaffen, das – mit der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten vergleichbar – auch für die »KommunismusGedenkstätten« eine hälftige Beteiligung des Bundes ermöglichte. Für die Gedenkstätte Bautzen bedeutete die StSG-Gründung ab August 1994 daher vor allem ihre institutionelle, strukturelle, personelle und finanzielle Anbindung an die StSG, die bis heute – mit all ihren Vor- und Nachteilen – besteht. Neben den Mitteln des Freistaates Sachsen wurde die Gedenkstätte bereits ab 1996 anteilig vom Bund mit Projektmitteln gefördert, seit 1999 befindet sie sich im Rahmen der Gedenkstättenkonzeption des Bundes in der institutionellen Förderung. Unterdessen ging die Arbeit am inhaltlichen Aufbau der Gedenkstätte weiter. So wurden das HAIT und Karl Wilhelm Fricke mit der Weiterentwicklung eines Gedenkstättenkonzeptes beauftragt. Geschichtspolitisch wurde das bestehende Konzept abgemildert und unterschieden sich Überlegungen aus diesen Richtungen dahingehend von den bisherigen. Eine Nivellierung verschiedener Verfolgungsperioden erfolgte nicht, vielmehr wurde der Gedenkstättengegenstand ausgeweitet auch auf die Zeit vor 1945. In Bezug auf die StSG-Gründung hingegen setzten sich die partei-, geschichts- und gedenkstättenpolitischen Auseinandersetzungen unterdessen fort. So wurde die Gründung per Regierungsdekret von SPD, Bündnisgrün, FDP und PDS als ein »Geschichtsdiktat von oben« abgelehnt, die PDS monierte die in der Stiftungssatzung vorgefundenen »Gleichheitszeichen« zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus, d.h. die undifferenzierte totalitarismustheoretische Ausrichtung der StSG. Aber auch die Opfervertreter waren unzufrieden mit dem Regierungsmachwerk, fühlten sie sich übergangen bzw. unterrepräsentiert und war ihnen die StSG geschichtspolitisch wiederum nicht »antikommunistisch« und »antistalinistisch« genug. Von Anfang an stand also die StSG im Verdacht, ein geschichts- und symbolpolitisches Instrument der Sächsi-
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schen CDU-Regierung zu sein und den Opferinteressen gleichzeitig unzureichend gerecht zu werden. Aufgrund dieser Vorbehalte kam es seit Mitte der 90er Jahre auch inhaltlich immer wieder zu Konflikten zwischen der StSG und dem BK bzw. zwischen der Gedenkstätte Bautzen und einzelnen Opfervertretern. Dies galt sowohl für die Besetzung der Geschäftsführerstelle der StSG als auch für die Berufung der Gremienmitglieder der Stiftung. Dies galt aber auch im Hinblick auf die Ausstellungsinhalte in »Bautzen II«. Streit gab es um das das Aufstellen eines GSTW, um die Rekonstruktion von Gefängniszellen oder um das Gewicht von Biographien in der Gedenkstättenarbeit. Aber auch neuere Forschungsergebnisse, insbesondere die Bezifferung der Opferzahlen für die Zeit nach 1945, lösten Dissonanzen aus. Der Hauptvorwurf der Opfervertreter lautete, die Geschichte nach 1945 werde getilgt und verharmlost, ja insgesamt seien die Opfer ungenügend einbezogen im Aufarbeitungsprozess und kämen ihre Erfahrungen zu wenig vor. Kritik aus der Gegenrichtung, die politische Verfolgung vor 1945 werde vernachlässigt und es werde zu Unrecht der Stalinismus mit dem Kommunismus sowie beide mit dem Sozialismus vermischt, kam hauptsächlich nur aus Richtung der PDS. Die StSG und die Mitarbeiter der Gedenkstätte hingegen bemühten sich um geschichtspolitische Neutralität und argumentierten vorwiegend mit vorgefundenen Fakten und zeitgenössischen Gedenkstättenstandards, also wissenschaftlich und berufsständisch. Entsprechend legten die Historikerinnen Klewin, Liebold und Wenzel im Winter 1996/1997 ein vollkommen neues Gedenkstättenkonzept vor und wurde die bisherige Ausstellung des BK in den Folgejahren ersetzt. Diesem neuen Konzept gemäß, wurde fortan konsequent unterschieden zwischen den Verfolgungsperioden 1933-1945, 1945-1956 und 1956-1989 sowie zwischen den Haftanstalten »Bautzen I« und »Bautzen II«. Des Weiteren wurde einer Überbetonung der Opferperspektive sowie jeglicher politischer Indoktrination in der Gedenkstättenarbeit eine Absage erteilt. Politisch-ideologisch aufgeladene Geschichtsbilder sollten nicht länger gepflegt werden. Vielmehr verfolgte das Konzept das Ziel, zu kontroversen und offenen Diskussionen bzw. Betrachtungen anzuregen. Dies brachte ein »Aufweichen« des bis dahin starren »Opfer-Täter-Schemas« mit sich, die Erhebung belegbarer Opferzahlen sowie die Erforschung der Todesumstände und Haftbedingungen zu verschiedenen Zeiten sorgten für eine »Entmythologisierung« der Geschichte beider Haftorte. Die geschichtspolitisch von Konservativen und Kommunismus-Opfervertretern gepflegten Klischees wurden in der Gedenkstättenpraxis in »Bautzen II« im Zuge ihrer Professionalisierung und Konsolidierung also nicht mehr bedient. Anders hingegen verlief das Erinnern und Gedenken auf dem Karnickelberg. Stand diesbezüglich zu Beginn 1990 das Bergen und würdige Begraben der Speziallagertoten im Mittelpunkt, und verfolgten die Opfer des »Gelben Elends« damals das Ziel, die eigene Leidensgeschichte öffentlich zu machen, war das Totengedenken mit dem Bau einer Kapelle durch den Freistaat Sachsen zehn Jahre später sowie mit jährlichen Kranzniederlegungen im Beisein von Politikern und Opfern dort am Ende zu einem Ort symbolpolitischer Staatsakte geworden. So ging es neben der Totenehrung auf dem Karnickelberg weiterhin auch um eine vor allem geschichtspolitisch motivierte Delegitimation der »kommunistischen Gewaltherrschaft«.
4. Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen
4.1 G EDENKEN AN DIE O PFER DES S TALINISMUS UND K OMMUNISMUS 1988-1990 »Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen ist ein Kind der Friedlichen Revolution in Ostdeutschland: Wären die Bürger der DDR nicht im Herbst 1989 auf die Straße gegangen und hätten dort freie Wahlen erzwungen, wäre das Gelände wohl noch heute Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit,« lautet es im ersten Tätigkeitsbericht der Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen.1 Ganz so einfach ist die Sachlage jedoch nicht. Das Ende der DDR 1989/1990 stellte zwar die historische Grundvoraussetzung dar, führte jedoch nicht automatisch zur Einrichtung einer Gedenkstätte in der ehemaligen Haftanstalt. Erst das beharrliche Bemühen von Opfer- und Häftlingsverbänden, Wissenschaftlern, Verwaltungszuständigen und Politikern sorgten für die Umwandlung dieses Repressionsortes in eine Gedenkstätte. Diese Initiativen gingen dabei von Anfang an mit streitintensiven Auseinandersetzungen einher. Die Überlegung, am Ort der zentralen Untersuchungshaftanstalt an die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft und an die Opfer der DDR zu erinnern, wurde bereits vor dem Herbst 1989 von ehemaligen Häftlingen vorgebracht. In einem Schreiben des Kurt-Schumacher-Kreises e.V. (KSK) an das Zentralkomitee der SED wurde dieses Opfergedenken bereits 1988 eingefordert: »[…] wir möchten Sie für die Idee interessieren, an einem geeigneten Ort, beispielsweise auf dem Gelände südlich des Güterbahnhofes Hohenschönhausen, ein Mahnmal für die deutschen Opfer des Stalinismus zu errichten«.2 Da das Untersuchungsgefängnis zum damaligen Zeitpunkt noch in Betrieb war, kam dieses für den KSK als Ort eines Mahnmals nicht in Frage, wohl aber das außerhalb liegende Bahnhofsgelände. Anfang November 1989, im Zuge des sich abzeichnenden politischen Wandels, richtete der KSK erneut ein Schreiben an die DDR-Regierung, mit der Forderung nach einer Einrichtung eines Denkmales zur Erinnerung an die Opfer des Stalinis1 2
Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: 1. Tätigkeitsbericht, Berlin 2002, S. 8. Schreiben vom Kurt-Schumacher-Kreis e.V. (KSK) an das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands vom 04.08.1988, ArLStU, Bestand: Gedenkstätten SBZ/DDR Berlin, Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen [Gedenkstätten SBZ/ DDR].
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mus. Gleichzeitig verband sich diese Forderung unmittelbar mit dem Aufruf an die SED, sich ihrer Vergangenheit im Zuge des Aufbruches 1989 zu stellen: »Werter Herr Krenz, Werte Mitglieder des Politbüros der SED, Sie haben erklärt, dass in der DDR eine Wende vollzogen werde. Ohne die entschiedene Verkündung der Wahrheit ist eine solche Wende aber nicht möglich. Wir rufen Sie daher zur historischen Wahrheit in der DDR, zur baldigen, intensiven Vergangenheitsbewältigung und der damit unumgänglichen Rehabilitierung der Opfer stalinistischer Verfolgung in der DDR auf. […] Bereits am Anfang des Jahres hatten wir Ihnen vorgeschlagen, in Berlin-Hohenschönhausen, auf dem Gelände des zentralen NKWD-Untersuchungsgefängnisses ein Denkmal für die Opfer des Stalinismus zu errichten, so wie es ein Komitee aus Mitgliedern des KGB und der Komsomolzen in der Sowjetunion vorhat. […] Für ein ähnliches Denkmal in Hohenschönhausen bieten wir Ihnen unsere Mitarbeit an. […] Herr Krenz, stehen Sie zu Ihrem Wort und lassen Sie die SED ›der Wahrheit ins Gesicht sehen‹!«3
Der KSK forderte in diesem Schreiben also die Regierung auf, ein Denkmal zur Erinnerung an die stalinistischen Opfer in Hohenschönhausen zu errichten. Erstmals wurde das Haftgelände als Ort des Gedenkens in Erwägung gezogen. Das geforderte Erinnern bezog sich allerdings nur auf die Opfer des Stalinismus, d.h. auf Haftopfer zwischen 1945 und 1956. Ein weiterer Appell des Schumacher-Kreises an die Regierung der DDR folgte Anfang Dezember 1989. Dieser umfasste nun nicht mehr nur die Errichtung eines Denkmals, sondern die Umwandlung eines größeren Areals der Untersuchungshaftanstalt in eine zentrale Gedenkstätte von nationaler Tragweite: »Vor diesem tragischen Hintergrund appelliert unsere Organisation […] an die Regierung der DDR, dazu beizutragen, auf dem Gelände des ehemals berüchtigten Gefängnisses des sowjetischen Geheimdienstes und des späteren Staatssicherheitsdienstes der DDR in Berlin-Hohenschönhausen zur ständigen Mahnung zu Recht und Freiheit eine Gedenkstätte für die Opfer stalinistischen Terrors auf deutschem Boden zu errichten. […] In gleich lautendem Schreiben werden wir die Bonner Regierung ebenfalls um Unterstützung dieses Vorhabens bitten.«4
Statt an ein Denkmal wie noch 1988 und im November 1989 erwog der KSK nun eine kolossale Mahnmalanlage. An eine Gedenkstätte mit zeitgeschichtlicher Forschung, Museumsbetrieb, Führungen usf. war noch nicht gedacht, eher an einen symbolträchtigen künstlerisch gestalteten Ort, an dem ehemalige Opfer, ihre Vertreter und u.a. Politiker mit Kränzen den Stalinismusopfern gedenken sollten. Diese Vorstellung zum zentralen Gedenken der Stalinismusopfer sei, so berichtet der KSK, auf dem PDS-Parteitag vom 16./17. Dezember 1989 aufgenommen und
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Schreiben vom KSK an den Generalsekretär der SED und Vorsitzenden des Politbüros der SED Herrn Egon Krenz und an die Mitglieder des Politbüros der SED vom 01.11.1989, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR. Schreiben vom KSK an die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik vom 03.12. 1989, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR.
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zum Beschluss erhoben worden. Die DDR-Regierung habe sich bei diesem Parteitag für die Errichtung einer solchen zentralen Gedenkstätte in der Untersuchungshaftanstalt des MfS ausgesprochen und die Unterstützung des Schumacher-Kreises zur Umsetzung eines solchen Gedenkortes zugesagt.5 Sieben Jahre später, bei einer öffentlichen Anhörung zur Rahmenkonzeption der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, führt der KSK aus, dass Hohenschönhausen zum damaligen Zeitpunkt als eine Gedenkstätte nationalen Ranges der reformierten DDR angedacht gewesen sei. Die DDR-Regierung habe die Vorschläge des KSK befürwortet und der damalige Innenminister Peter-Michael Diestel habe die Opfervertreter unmittelbar nach dem Parteitag mit der Umsetzung einer solchen Gedenkstätte in Hohenschönhausen beauftragt.6 Ganz so war es nicht. Das Ministerium des Innern war im Dezember 1989 nämlich noch nicht zuständig für die Haftanstalt.7 Die ersatzlose Auflösung des MfS/AfNS wurde noch bis in den Januar 1990 hinein von der Modrow-Regierung blockiert. Das MfS war mit dem Beschluss vom 21. November 1989 durch die Leitungen des MfS, den Ministerpräsidenten Hans Modrow und die Leiter der Bezirksverwaltungen der Staatssicherheit in das AfNS umgebaut worden, mit dem Ziel, dieses Machtorgan der SED/PDS längerfristig als Geheimdienst der DDR zu erhalten. Ende November wurde von der Modrow-Regierung daher beschlossen, das AfNS in einen zivilen Nachrichtendienst und einen Verfassungsschutz aufzugliedern.8 Diese Möglichkeit hielt auch der Beschluss des Runden Tisches bei seiner ersten Sitzung am 07. Dezember offen,9 ebenso wie der Beschluss der ModrowRegierung am 14. Dezember.10 Am 17. Dezember wurde ein Kontrollausschuss zur schrittweisen Auflösung der Berliner Bezirksverwaltung des MfS/AfNS eingesetzt, in denen Vertreter der Regierung, die Staatsanwaltschaft und Vertreter politischer Parteien und Gruppierungen des Runden Tisches sowie eine Anzahl von Volkspoli-
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O.V.: »Schumacher-Kreis für Gedenkstätte auf Stasi-Gelände«, in: Berliner Morgenpost vom 03.01.1990; Schreiben des KSK an die Senatorin für Justiz Jutta Limbach vom 19.03.1991, SWFKB, Bestand: »U-Boot« Hohenschönhausen 1991-1994 Band 1, Nr. 5 [Nr. 5]. 6 Diese Information ist einem Tonband-Protokoll zur Veranstaltung zu Rahmenkonzeption Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen vom 04.09.1996 entnommen. Da dieses Protokoll nicht für die Veröffentlichung freigegeben wurde, wird auf Namensnennungen und direkte Zitate verzichtet. Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Tonband-Protokoll: Veranstaltung am 04.09.1996 zur Rahmenkonzeption Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Berlin 1996, S. 12f, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR. 7 Beratungsprotokoll zur Nutzungsübergabe des Objektes Untersuchungshaftanstalt BerlinHohenschönhausen vom 18.09.1990, SWFKB, Hohenschönhausen, JVA, Genslerstr. 66 [Genslerstr. 66]. 8 ASTAK e.V. (Hg.): Wegweiser durch die Ausstellungen der Forschungs- und Gedenkstätte im Haus I des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, Berlin 2003, S. 7. Siehe hierzu insbesondere Kapitel 2.2. 9 Thaysen, Uwe (Hg.): Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente (Band 1), Wiesbaden 2000, S. 68 10 Ebd. (Band 5, 2000), S. 7.
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zisten berufen werden sollten.11 Die Arbeit der Kommission begann am 19. Dezember und sah eine Verschonung der Zentrale in der Normannenstraße vor, wie auch eine Sicherstellung der Arbeitsfähigkeit der Auslandsaufklärung und Spionageabwehr.12 D.h., auch bei der »Auflösung« der Berliner MfS/AfNS-Bezirksverwaltung, blieben das »Herzstück« des MfS sowie die MfS-Strafjustiz erhalten, zu dem u.a.a. die Zentrale MfS-Untersuchungshaftanstalt in Berlin-Hohenschönhausen gehörte. Und auch von den DDR-weit geltenden Amnestien des 06. und 07. Dezembers 1989, die massenhafte Haftentlassungen noch bis zum Jahresende zur Folge hatten, war Hohenschönhausen ausgeschlossen.13 Zwar wurde vom Zentralen Runden Tisch Berlin am 27. Dezember 1989 schließlich die Arbeitsgruppe »Sicherheit« eingesetzt, deren Aufgabe es sein sollte, den gesamten Apparat des MfS/AfNS inkl. aller vom MfS betriebenen Haftanstalten aufzulösen, in Bezug auf die Zentrale MfS-Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen wurde diese Regelung jedoch nicht angewendet. Selbst mit dem Beschluss des Runden Tisches zur ersatzlosen Auflösung des Staatssicherheitsdienstes am 10. Januar 1990 und der Einsetzung der Regierungskommission zur Auflösung des AfNS, wurde der Haftbetrieb in Hohenschönhausen nicht eingestellt. Noch nicht einmal mit dem Beginn der Auflösung der MfS-Zentrale ab dem 15. Januar 1990 erfolgte die sofortige Stilllegung. Trotz des Fortgangs des Haftbetriebes trifft aber auch die im ersten Tätigkeitsbericht der Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen zu findende Beschreibung der damaligen Situation nicht zu. Dort ist zu lesen: »Als aufgebrachte Bürger im Januar 1990 die Zentrale des DDR-Staatssicherheitsdienstes besetzten, um dessen Auflösung zu erreichen, dachte zunächst niemand an das einige Kilometer weiter gelegene Untersuchungsgefängnis von Berlin-Hohenschönhausen. Es lag inmitten eines geheimen Sperrbezirks, der von Wachtposten gesichert und in keinem Stadtplan eingezeichnet war.«14
Zwar gab es noch keine Neuauflage der Berliner Stadtpläne mit korrekter Ortsausweisung, aber das Gefängnis fiel mit der Auflösung des MfS/AfNS ab Mitte Januar
11 O.V.: »Kontrollausschuss gebildet«, in: Neues Deutschland vom 18.12.1989, ArLStU, Bestand: Archiv 15. Januar Landesarchiv. 12 Budek, Josef: »Zur Geschichte der Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße«, in: ASTAK e.V. (Hg.): Die Zentrale. Das Hauptquartier des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg, Berlin 2003, S. 6f; Gutzeit, Martin: Die im Haus I des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit tätigen Vereine und ihre Bedeutung für eine zukünftige Nutzung. Arbeitspapier für die Fachkommission, Entwurf vom 25.04.2001, S. 15, ArLStU, Geschäftsablage o. Sign. 13 Hinze, Margitta: »Sie fällt nicht unter die Amnestie. Von einem Besuch in der Haftanstalt Berlin-Hohenschönhausen«, in: Die Kirche vom 24.12.1989, ArLStU, Bestand: Margitta Hinze. 14 Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: 1. Tätigkeitsbericht (2002), S. 8. Ob eine Erstürmung der Zentrale des MfS durch aufgebrachte Bürger tatsächlich zutraf wird an anderer Stelle problematisiert, siehe hierzu insbesondere Kapitel 2.3.1
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dem Ministerium des Innern zu. Ab Februar wurden hier »normale Untersuchungsgefangene« inhaftiert, die aus den U-Haftanstalten Rummelsburg und dem Standort in der Keibelstraße kamen. Wenig später beherbergte Hohenschönhausen u.a. die Stasi-Generäle und Polit-Funktionäre Erich Mielke, Günter Mittag und Harry Tisch.15 Die Modrow-Regierung und das Ministerium des Innern gestatteten darüber hinaus eine Besichtigung der Zentralen MfS-Untersuchungshaftanstalt durch Vertreter des KSK, um dort eine geeignete Stelle für eine Denkmalanlage zum Gedenken der Stalinismusopfer auswählen zu können.16 Ob im Anschluss an die Begehung seitens der Modrow-Regierung und des Ministeriums des Innern der DDR bis zur März-Wahl eine weitergehende Unterstützung des Vorhabens erfolgte, ist nicht belegt; eine Verhinderung des Gedenkstättenvorhabens allerdings auch nicht. Die Einrichtung einer Gedenkstätte während des noch laufenden Haftbetriebes, hatte die Modrow-Regierung also zumindest zur Kenntnis genommen. Spontan umgesetzt wurde diese Idee jedoch unter Modrow nicht, ob aufgrund der Kürze der Zeit und anderer vordringlicher Aufgaben, oder ob aus politischen Motiven heraus, das bleibt Spekulation, vermutlich jedoch ersteres. Anders sah es mit der Nachfolgeregierung aus. Tatsächlich lassen sich Belege dafür finden, dass der KSK nach der Regierungsneubildung unter Lothar de Maiziére nun mit dem Entwurf einer Gedenkstättenanlage auf dem Hohenschönhausener Gefängnisgelände beauftragt wurde. Als mit der März-Wahl Peter-Michael Diestel der zuständige Innenminister wurde, räumte er für den KSK nun konkret die Möglichkeit ein, in Zusammenarbeit mit dem Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung auf dem Gelände der MfS-U-Haftanstalt eine zentrale »Gedenkstätte für die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft« zu planen.17 Bis Juli 1990 lagen dem Ministerium des Innern zustimmende Schreiben zur »alsbaldigen Realisierung eines derartigen Projektes« vor, u.a. vom Präsidenten der Volkskammer der DDR, Höppner, von der Präsidentin des Deutschen Bundestages, Süßmuth, vom Minister für Kultur der DDR, Schirmer, und vom Landesbischof der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, Forck. 18 Süßmuth befürwortete die Idee, die Gedenkstätte insgesamt den »deutschen Opfern der kommunistischen Machtherrschaft« zu widmen und das Gedenken nicht allein auf die Opfer des Stalinismus zu begrenzen.19 Dem KSK folgend, wurde seitens des Ministeriums des Innern das »umwehrte Vorgelände des Verwaltungsgebäudes« hierfür als geeignet betrachtet, das mittels eines zu schaffenden separaten Einganges einen »störungsfreien Dienstbetrieb« innerhalb der U-Haftanstalt weiterhin ermöglichen
15 SenJustiz: Vermerk vom 10.05.1991, SWFKB, Nr. 5. 16 Schreiben des KSK an die Senatorin für Justiz Jutta Limbach vom 19.03.1990, SWFKB, Nr. 5. 17 Hausmitteilung des Ministerium des Innern Staatssekretär Stief an den Stellvertretenden Ministerpräsidenten und Minister des Innern Diestel vom 25.07.1990, SWFKB, Bestand: Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Nr. 31 [Nr. 31]. 18 Ebd. 19 Schreiben des KSK an die Senatorin für Justiz Jutta Limbach vom 19.03.1991, SWFKB, Nr. 5.
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sollte.20 Ein daraufhin vom KSK angefertigter Lageplan bestimmte einen möglichen Standort einer solchen Gedenkstättenanlage zwischen Genslerstraße und Lössauer Straße innerhalb der Gefängnismauern auf dem Garagen(vor)platz. Der Zugang sollte von der Genslerstraße erfolgen.21 Die Pläne zu einer zentralen »Gedenkstätte für die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft« im wiedervereinten Deutschland stellten die Weiternutzung der MfS-U-Haftanstalt also nicht in Frage. Im Gegenteil. Davon ausgehend, dass die Anstalt mit einem Wechsel vom Innenministerium ins Justizressort ein Gedenkvorhaben von nationalem Ausmaß aufgrund des Haftbetriebes eher verhindern werde, empfahl der Staatssekretär des Ministerium des Innern der DDR eine Beschleunigung der Realisierung des Gedenkstättenvorhabens und eine finanzielle Förderung. Hierzu sollten zügig die Kosten ermittelt werden und wurde eine Deckung der Aufwendungen durch das Finanzministerium der DDR und mit Eigenmitteln des Innenministeriums vorgeschlagen.22 Die letzte DDR-Regierung förderte also – entgegen der bisherigen Annahme – die Idee, die Zentrale MfSUntersuchungshaftanstalt in eine Gedenkstätte für die Opfer des Stalinismus zu verwandeln und sorgte hinsichtlich der Tragweite und Dimension sogar für eine gewisse Aufwertung des ursprünglichen Denkmalvorhabens.23 Die de MaiziéreRegierung zeigte bezüglich des Gedenkstättenvorhabens in Hohenschönhausen also ernsthafte Bereitschaft, zumindest die dunkelsten Kapitel der eigenen Vergangenheit aufklären zu wollen und entsprechende Symbole zu setzen. Das Errichten einer zentralen Mahnstätte Deutschlands für die NKWD-Opfer auf dem Gelände der U-Haftanstalt Berlin-Hohenschönhausen geschah zwar ausschließlich mit dem Blick auf die Stalinismusopfer, sollte aber nun überregional und entsprechend repräsentativ erfolgen. Kritisch anzumerken bleibt, dass diese Förderung des Gedenkens der politischen Opfer lediglich auf die Opfer der stalinistischen Ära der DDR beschränkt blieb. An eine Gedenkstätte, die die Gefängnisgeschichte bis 1989 einschloss, war keinesfalls gedacht. Diese begrenzte Perspektive bestand aber nicht nur auf DDR-Seite. So beschränkte sich auch die Aufforderung des Westberliner Abgeordnetenhauses – anlässlich des Jahrestages des Kriegsendes am 08. Mai und als Reaktion auf die ersten Gedenkstätteninitiativen durch organisierte westdeutsche Opfervertreter (der SPD-Arbeitskreis ehemaliger politischer Häftlinge der SBZ/DDR im Falle von Bautzen, der KSK im Falle von Berlin-Hohenschönhausen) – auf das Errichten von Mahnstätten für Verfolgte des Stalinismus.24 In Bezug auf die Stalinismusopfer gab es also in der ost- und westdeutschen Politik
20 Hausmitteilung des Ministerium des Innern Staatssekretär Stief an den Stellvertretenden Ministerpräsidenten und Minister des Innern Diestel vom 25.07.1990, SWFKB, Nr. 31. 21 Lageplan zur zukünftigen Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen im Schreiben des KSK an die Senatorin für Justiz Jutta Limbach vom 19.03.1991, SWFKB, Nr. 5. 22 Hausmitteilung des Ministerium des Innern Staatssekretär Stief an den Stellvertretenden Ministerpräsidenten und Minister des Innern Diestel vom 25.07.1990, SWFKB, Nr. 31. 23 Hinrichsen, Carola: Geschichts- und Erinnerungspolitik (2004), S. 132-133. 24 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 11/798 vom 08.05.1990.
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1989/1990 insgesamt ein wachsendes Bewusstsein für die Notwendigkeit zu Erinnern und zu Gedenken, auch und vor allem weil es Opfervertreter gab, die sich hierfür politisch engagierten. Anders sah es mit der politischen Haft nach 1956 bis 1989 aus. Sie blieb weiterhin im Unklaren und fiel, durch den Fokus auf die politische Haft vor 1956, vollständig aus dem Blick bzw. wurde auf diese Weise sogar eher eine Vertuschung begünstigt. Dies erklärt auch die »kosmetischen« Korrekturen, die noch bis zum Beitritt im Oktober 1990 in der Haftanstalt vorgenommen wurden. »Unmittelbar nach der Wende veranlasste die Modrow-Regierung, all dies in der Haftanstalt zu beseitigen, was internationalen Rechtsnormen widersprach. […] Es ging ihr [der Regierung] dabei ausschließlich darum, belastende Spuren zu beseitigen.«25 Diese Spurenbeseitigungen, die auch mit der Zerstörung und der Demontage wichtiger, authentischer Inneneinrichtungen (Zellen, Ausrüstungen) und der Vernichtung von Akten einhergingen, deuten daraufhin, dass der Haftbetrieb, wie er bis zum Herbst 1989 bestand, »gesäubert« weitergehen sollte.26 Die de Maiziére-Regierung führte dieses Spurenvernichten der Modrow-Regierung fort: »In der Amtszeit der ersten demokratisch legitimierten DDR-Regierung, ab Frühjahr 1990, gingen die Vernichtungsaktionen weiter. Sie dauerten bis Herbst 1990 und wurden nachgerade ermutigt durch die Anordnung des damaligen Innenministers Diestel, jede Behörde möge selbst darüber befinden, wie sie mit früheren Unterlagen umgeht.«27 Durch die Förderung eines reinen Stalinismusgedenkens und in Ermangelung des Bewusstseins, dass auch die MfS-Haft bis 1989 historisch dokumentiert werden müsse, handelte Diestel einer umfassenden Aufarbeitung der Geschichte des Haftortes, die es seinerseits zu unterstützen vorgab, rückblickend eher abträglich. Spätestens im Juni 1990 kam hinzu, dass Diestel sich statt mit einer Denkmalanlage vielmehr mit Erben der ehemaligen Heike-Fabrik konfrontiert sah, die ihrerseits Eigentumsansprüche gegenüber dem Innenministerium in Bezug auf das UHaft-Gelände geltend machten.28 Von einer schnellen Realisierung des Gedenkvorhabens, wie es der Staatssekretär noch im Juli 1990 empfahl, nahm Diestel also auch aufgrund der ungeklärten Eigentumsverhältnisse zur gleichen Zeit Abstand. In Richtung Gedenkstättenrealisierung wurden nun erst einmal keine weiteren erforderlichen Schritte mehr unternommen.29 Hierfür gab es bis zum Beitritt am 03. Oktober 1990 schließlich auch kaum noch Raum. Zwar war das Ministerium des In-
25 Krause, Werner H.: »Ein Wiedersehen am Ort des Leidens«, in: Berliner Morgenpost vom 15.09.1994. 26 Suckut, Siegfried/Wilke, Manfred/Wolle, Stefan: Abschlussbericht vom 23.01.1995, Berlin, S. 19, ArLStU, BStU 1999. 27 Ebd. 28 Schreiben des Regierungsrat Hardtke an das Ministerium des Innern der DDR Innenminister Diestel vom 16.06.1990, SWFKB, Genslerstr. 66; Schreiben des Regierungsrat Hardtke an den Magistrat von Berlin Abt. Finanzen vom 23.06.1990, SWFKB, Genslerstr. 66; Schreiben des Rechtsanwaltes Lüdecke an die Magistratsverwaltung für Finanzen vom 17.09.1990, SWFKB, Genslerstr. 66. 29 Es wurden keine Belege hierfür gefunden.
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nern ab Februar für die U-Haftanstalt zuständig, jedoch erst am 18. September 1990 beerbte es das Gefängnis offiziell vom AfNS. Der Leiter des Komitees zur Auflösung des AfNS, Eichhorn, übergab die MfS-U-Haft gleich direkt an den Leiter der Strafvollzugseinrichtung Berlin, Witschel.30 Ein Nutzungsvertrag zwischen Eichhorn und Witschel regelte die Übergabe des gesamten Haftkomplexes.31 Bereits drei Monate vorher war im »Dienstobjekt Nr. 1« bereits das Landeskriminalamt der Länder, d.h. das Wiesbadener Bundeskriminalamtes eingezogen.32
4.2 »DDR-M USEUM «
ODER
»P LÖTZENSEE II« 1991-1993
Mit der Übernahme der Haftanstalt durch die Berliner Senatsverwaltung für Justiz (SenJustiz)33 bestand die Möglichkeit fort, das geplante Gedenkstättenvorhaben in Berlin-Hohenschönhausen umzusetzen. Sie vergrößerte sich sogar, hatte die SenJustiz von Anfang an keine Absicht, den Haftbetrieb in vollem Umfang aufrecht zu halten. Er wurde am 30. November 1990 eingestellt und die Haftanstalt – bis auf zentrale Bereiche der Verwaltung – vorübergehend stillgelegt. Schon unmittelbar nach der Übernahme des Geländes setzte sich die neue Eigentümerin SenJustiz dafür ein, das Gelände punktuell für Besucher zugänglich zu machen. Zu diesem Zwecke wurde ein Schlüssel beim Bezirksamt Hohenschönhausen deponiert. Als sich der KSK mit den Worten: »Es gibt keinen geeigneteren Standort für eine Gedenkstätte für alle deutschen Opfer der kommunistischen Machtherrschaft vor und nach 1945 innerhalb und außerhalb Deutschlands als die Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen. Sie ist ein würdiges Pendant zu der Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus Berlin-Plötzensee«,
an die Justizsenatorin wandte, rannte er also nicht nur sinnbildlich »offene Türen« ein.34 Auch als zwei Vertreter der Antistalinistischen Aktion Normannenstraße e.V.
30 Beratungsprotokoll zur Nutzungsübergabe des Objektes Untersuchungshaftanstalt BerlinHohenschönhausen vom 18.09.1990, SWFKB, Genslerstr. 66. 31 Vertrag über die Nutzung von Grundstücken und Grundmitteln zwischen dem Komitee zur Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit und dem Ministerium des Innern vom 14./18.09.1990, SWFKB, Genslerstr. 66. 32 Schreiben von Renate Künzle an das Bundeskriminalamt Wiesbaden vom 24.11.1990, SWFKB, Genslerstr. 66. 33 Bereits zwei Tage vor dem Beitritt der DDR zur BRD, nämlich am 01. Oktober 1990 um 13 Uhr erfolgte die Schlüsselübergabe an die SenJustiz, vgl. Suckut, Siegfried/Wilke, Manfred/Wolle, Stefan: Abschlussbericht vom 23.01.1995, Berlin, S. 20, ArLStU, BStU 1999. Offiziell ging die Untersuchungshaftanstalt am 03. Oktober 1990 um 00:00 Uhr in die Verantwortung der Berliner Justizbehörden über, vgl. Schreiben der SenJustiz an die Magistratsverwaltung für Finanzen vom 17.12.1990, SWFKB, Nr. 5. 34 Schreiben des KSK an die Senatorin für Justiz Jutta Limbach vom 19.03.1991, SWFKB, Nr. 5.
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als Betreiber einer Ausstellung in der ehemaligen MfS-Zentrale der SenJustiz einen Besuch abstatteten und u.a. darum baten, im Zusammenhang mit der Ausstellungstätigkeit in der ehemaligen Zentrale des MfS, in Hohenschönhausen auch Führungen geben zu dürfen, sicherte die SenJustiz ihnen den freien Zugang zum Gefängnisgelände zu.35 Bei gleicher Gelegenheit teilte die SenJustiz mit, es gäbe Pläne »[…] in der Vollzugsanstalt Hohenschönhausen eine Gedenk- und Dokumentationsstätte über Stasi-Gefängnisse einzurichten. Es werde ins Auge gefasst, zur Vorbereitung diesbezüglicher Konzepte zu Gesprächen einzuladen«.36 Die SenJustiz gab also von Anfang an unmissverständlich zu verstehen, dass sie ein Teil des Geländes der ehemaligen zentralen MfS-U-Haftanstalt so rasch wie möglich zur weiteren Verwendung als Gedenkstätte abgeben wolle.37 Die Vorstellungen der SenJustiz übertrafen dabei die bisherigen Planungen des KSK. Über eine Denkmalanlage hinaus wurde eher an eine museologische Einrichtung mit Archiv am historischen Ort gedacht, die zudem – und über die Speziallagerzeit weit hinausgehend – vordergründig die MfS-Haft bis Oktober 1990 zum Gegenstand erhob.38 »Nahezu alle Fluchthelfer, Republikflüchtlinge, prominente und andere politische Gefangene wurden zunächst in der UHA Hohenschönhausen untergebracht, isoliert und monatelang Verhören ausgesetzt. Deshalb muss die UHA Hohenschönhausen als Symbol für die Unterdrückungsmaschinerie des totalitären DDR-Vollzuges angesehen werden«,
argumentierte die SenJustiz im Sinne eines solchen umfassenden Gedenkstättenvorhabens.39 Sie empfahl insbesondere das »U-Boot« in eine »Gedenkstätte für die Opfer des DDR-Strafvollzuges« einzubeziehen. »Zugleich soll in dieser Anstalt die gemeinsame Informationsstelle für Gefangenen-Karteien und Gefangenen-Akten mit den fünf neuen Ländern eingerichtet werden. Wichtigster Bestandteil soll sein die Zentrale Gefangenenkartei der DDR, die z. Z. noch […] im Verwaltungsgebäude dieser Anstalt untergebracht ist und von ehemaligen DDR-Vollzugsangehörigen betreut wird«,40
definierte die SenJustiz den Dokumentationscharakter der zu schaffenden Einrichtung. Des Weiteren regte sie an, einen Beirat aus wissenschaftlichen Vertretern und
35 SenJustiz: Vermerk vom 28.03.1991, SWFKB, Nr. 5. 36 Ebd., S. 2. 37 Suckut, Siegfried/Wilke, Manfred/Wolle, Stefan: Abschlussbericht vom 23.01.1995, Berlin, S. 20, ArLStU, BStU 1999. 38 SenJustiz: Einladung »Justizsenatorin lädt zum Rundgang durch die stillgelegten Haftanstalten im Ostteil Berlins ein« vom 08.05.1991, SWFKB, Nr. 5; SenJustiz: Vermerk vom 10.05.1991, SWFKB, Nr. 5. 39 Ebd., S. 1-2. 40 Ebd., S. 4.
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Opfervertretern zu bilden, auch interessierte Organisationen und »Persönlichkeiten« sollten hierfür gewonnen werden.41 Neben diesen gedenkstättenbezogenen Maßnahmen schloss die SenJustiz allerdings die Wiederaufnahme eines Haftbetriebes auf einem Teilgelände der ehemaligen MfS-Haftanstalt nicht aus. Gedacht wurde an die Wiederaufnahme eines offenen Vollzugs und an einen »leichten geschlossenen Vollzug« mit männlichen Strafgefangenen.42 Dass in dem Fall unter Umständen – zugespitzt formuliert – das Gedenken an Opfer unter den Augen von »Tätern« stattfinden würde, wurden doch einige ehemalige DDR-Vollzugsbedienstete in den bundesdeutschen Strafvollzugsdienst übernommen, wurde nicht bedacht. Die SenJustiz knüpfte also nicht nur an die mit dem Beitritt der DDR vorübergehend ausgesetzten Planungen einer Gedenkstätte an und schuf hierfür die Voraussetzungen, sondern entwickelte die Gedenkstättenpläne sowie Vorstellungen über die zukünftige Nutzung des Geländes erheblich weiter. Geschichtspolitisch überwog nicht mehr der antistalinistische Tenor des KSK, sondern legte die Initiative der SenJustiz ein totalitarismustheoretisches Verständnis der DDR zugrunde. Die DDR und mit ihr der Justizapparat wurden nun als totalitär definiert. Den Opfern des totalitären Staates gebühre dementsprechend ein adäquat dimensionierter öffentlicher Ort des Erinnerns und Gedenkens. Kritiker dieser ersten umfassenden Gedenkstättenpläne fanden sich u.a. unter den Heike-Fabrik-Erben, die kein Verständnis dafür aufbrachten, dass die SenJustiz »[…] vollmundig die Zukunftspläne für dieses Gelände der Presse und der Öffentlichkeit vorstellen kann, ohne in irgendeiner Art und Weise Kontakt mit den ehemaligen Eigentümern aufgenommen zu haben«.43 Dies zumindest ließen sie über ihren Rechtsanwalt der Senatorin direkt mitteilen. »Es dürfte, sehr verehrte Senatorin, auch an Ihnen liegen, die Rückgabe an die rechtmäßigen Eigentümer […] zu forcieren, damit Ihr Wunsch , den ›Ort des DDR-Schreckens rechtstaatlich zu modernisieren‹, bald erfüllt werden kann«, legte einer der Erben des Heike-Fabrikgeländes persönlich nach.44 »Und zur Not sei man auch bereit, den Knast abreißen zulassen«, wurde ein Berliner Anwalt in dieser Sache zitiert.45 Kritik in eine andere Richtung kam von ehemaligen DDR-Oppositionellen und der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Hohenschönhausen. So appellierte der prominente Bürgerrechtler Jürgen Fuchs an den Regierenden Bürgermeister von Berlin Eberhard Diepgen: »Bitte setzen Sie alle politischen Möglichkeiten ein, dass an diesen Stasi-Gefängnissen Stätten der Erinnerung und der Aufklärung werden (über Stalinismus und seine Methoden). Be-
41 Ebd. 42 Ebd. 43 Schreiben des Rechtanwalts Lüdecke an die SenJustiz Senatorin Jutta Limbach vom 17.05.1991, S. 2, SWFKB, Genslerstr. 66. 44 Schreiben des Regierungs- und Finanzstadtrates a.D. Hardtke an die SenJustiz Senatorin Limbach vom 24.05.1991, S. 3, SWFKB, Genslerstr. 66. 45 Karsten L. z.n. Heinke, Lothar: »Erben pochen auf das alte Stasi-Gefängnis-Gelände«, in: Der Tagesspiegel vom 24.05.1991.
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denken Sie auch, dass eine ›Nutzung funktionsfähiger Haftanstalten‹ vielleicht pragmatisch verständlich ist, moralisch aber unerträglich. Diese Stätten des Inhumanen und der psychi46 schen Folter dürfen nicht untergehen im politischen Alltag.«
Eine Weiternutzung als »offener« oder »leichter Strafvollzug« lehnte er ab. Am 28. Mai 1991 brachten parallel die Fraktionen SPD, FDP und Bündnisgrün der BVV Hohenschönhausen einen gemeinsamen Antrag ein, die MfS-U-Haftanstalt in eine Gedenkstätte für die Opfer des Stalinismus umzuwandeln ohne eine teilweise Weiternutzung als Haftanstalt.47 Statt den Haftalltag in Hohenschönhausen fortzusetzen sah der Beschluss der BVV vor, das Gefängnis, insbesondere das »U-Boot« – ähnlich wie das ehemalige NS-Gefängnis in Spandau – zu einer Mahnstätte umzuwandeln und den übrigen Teil des Geländes einer gewerblichen Nutzung zuzuführen.48 Eine gleichlautende Empfehlung schickte die BVV an die Senatsverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten (SenKult), an die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt (SenStadtUm), an die Senatsverwaltung für Finanzen (SenFin), an die SenJustiz sowie direkt an den Regierenden Bürgermeister Diepgen.49 Uneingeschränkten Zuspruch für die eigenen Pläne erhielt die SenJustiz hingegen u.a. vom Bund der Stalinistisch Verfolgten e.V. (BSV). In Abgrenzung zur Ausstellung in der Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße, in der damals vorwiegend Kultgegenstände der Stasi gezeigt wurden, hielt er es für dringend erforderlich, »[…] eine weitere Gedenkstätte in Berlin aufzubauen, in deren Mittelpunkt stärker die Leiden, Verfolgungen und Menschenrechtsverletzungen der Opfer stehen«.50 Der BSV bot zudem an, acht seiner ABM-Mitarbeiter unterstützend einzusetzen.51 Ein weiteres Hilfsangebot unterbreitete der Heimatverein Hohenschönhausen, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Ortgeschichte aufzuarbeiten »[…] wozu […] auch die Haftanstalt in Hohenschönhausen gehöre«.52 Im Juli 1991 nahm die SenJustiz schließlich endgültig Abstand von jeglicher Weiternutzung der ehemaligen MfS-UHA Hohenschönhausen als eine Strafvollzugseinrichtung.53
46 Schreiben von Jürgen Fuchs an den Regierenden Bürgermeister von Berlin Eberhard Diepgen vom 26.5.1991, SWFKB, Nr. 5. 47 BVV Hohenschönhausen, Gemeinsamer Antrag der Fraktionen SPD, FDP, Bündnisgrüne, Drs. 165/91 vom 28.05.1991, SWFKB, Nr. 5. 48 BVV: Beschluss über die Umwandlung der Haftanstalt des MfS zu einer Gedenkstätte für die Opfer des Stalinismus (Drs. 165/91) vom 12.06.1991, SWFKB, Nr. 5; Schreiben der BVV Hohenschönhausen an die Senatsverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten (SenKult) Senator Roloff-Momin vom 27.06.1991, SWFKB, Nr. 5. 49 Ebd. 50 Schreiben vom Bund der Stalinistisch Verfolgten e.V. an die SenJustiz vom 22.05.1991, S. 2, SWFKB, Nr. 5. 51 Ebd. 52 SenJustiz: Vermerk vom 22.05.1991, SWFKB, Nr. 5. 53 SenKult: Vermerk vom 25.07.1991, SWFKB, Nr. 5.
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»Die konkreten Planungen sind, obwohl es durchaus sinnvoll erschienen wäre, den Gegensatz zwischen heutigem rechtsstaatlichem Strafvollzug und den früheren Inhaftierungsbedingungen in einem Unrechtsstaat an einem solchen Ort zu dokumentieren, im Hinblick auf die Vermittelbarkeit gegenüber vielen Bürgern aufgegeben worden«,
legte die SenJustiz dem Regierenden Bürgermeister Diepgen nahe.54 Der Senat folgte im Einvernehmen und beschloss am 02. Oktober 1991 die UHA Hohenschönhausen nicht wieder in Betrieb zu nehmen. Im Bericht zum Beschluss gegründete der Senat seine Entscheidung: »Hinsichtlich des Vollzugsstandortes Hohenschönhausen hatte der Senat zunächst die Absicht, hierfür ein Nutzungskonzept mit Einrichtung einer Gedenkstätte, eines Dokumentationszentrums über Stasi-Gefängnisse und Nutzung als Vollzugsanstalt nach Umbau […] zu entwickeln. Dieses Vorhaben gibt der Senat jedoch auf. […] Gleichwohl erscheint dem Senat nach der öffentlichen Diskussion der letzten Monate der Ort als Symbol der Unterdrückung durch die Sowjetische Besatzungsmacht nach 1945 sowie durch staatliche Stellen der sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR so belastet, dass Gefangene auch unter rechtsstaatlichen Verhältnissen hier nicht mehr untergebracht werden sollten.«55
Mit gleicher Begründung wurde auch die von der BVV Hohenschönhausen empfohlene gewerbliche Nutzung vom Berliner Senat abgelehnt und wurde stattdessen die Einrichtung einer würdigen Gedenkstätte, »[…] die eine angemessene Erinnerung an das Leid der Opfer ermöglicht und zugleich insbesondere die unmenschlichen Zellen im sogenannten ›U-Boot‹ als Anschauungsobjekt erhält«56 begrüßt. Es überwog also inzwischen die Einsicht, dass eine Fortführung des Haftbetriebes moralisch abzulehnen sei, gleichzeitig erklärte die Berliner Regierung erstmals offiziell ihr prinzipielles Wohlwollen gegenüber einer Gedenkstättenlösung. Aber auch finanzielle Gründe spielten vermutlich eine Rolle für keine Inbetriebnahme der UHA Hohenschönhausen. Der Sanierungsbedarf für einen modernen Strafvollzug in Hohenschönhausen wurde zu hoch eingestuft. Bereits die Umgestaltung des »U-Bootes« zu einer »Gedenkstätte für die deutschen Opfer der kommunistischen Machtherrschaft« (inklusive einer Bibliothek) wurde auf sieben bis acht Millionen DM geschätzt. Der KSK beabsichtigte daher zur Finanzierung dieses Betrages eine Stiftung zu gründen, die auch die spätere Unterhaltung der Gedenkstätte übernehmen sollte, und hoffte auf eine Beteiligung des BMI am Stiftungskapital. 57 Anläss-
54 Schreiben der SenJustiz an den Regierenden Bürgermeister Diepgen vom 31.08.1991, SWFKB, Nr. 5. 55 Schreiben der SenJustiz an den Regierenden Bürgermeister Diepgen vom 17.12.1991, S. 2, SWFKB, Nr. 5. 56 Ebd. 57 SenKult: Vermerk vom 25.07.1991, SWFKB, Nr. 5; SenKult: Vermerk vom 26.07.1991, SWFKB, Nr. 5.
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lich der ersten Lesung des Unrechtsbereinigungsgesetzes verfasste der KSK eine entsprechende Resolution.58 Darin hieß es: »Die […] ehemaligen politischen Häftlinge aus mehreren Verbänden bitten den Deutschen Bundestag, die Bundesregierung und den Senat von Berlin, die Errichtung einer vom KurtSchumacher-Kreis Berlin bereits 1988 konzipierten zentralen Gedenkstätte für die deutschen Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft auf dem Areal des Hauptuntersuchungsgefängnisses des NKWD und der Stasi in Berlin-Hohenschönhausen zu veranlassen.«59
Über die Pläne von 1988 deutlich hinausgehend berücksichtigte das nunmehr eingeforderte Gedenken nicht mehr nur die Stalinismusopfer, sondern auch »[…] vier Millionen Flüchtlinge und zahllose andere Verfolgte des SED-Regimes«.60 Für ein Aufhören der Gefängnisnutzung wiederum brachte der KSK hingegen keinerlei Verständnis auf. Er unterstrich, dass seine Vision von einer Gedenkstätte geradezu eine Fortführung eines angrenzenden Haftbetriebes zugrunde legte, sollte doch die Gedenkstätte vom Besucher mit einem humanitären Strafvollzug in Beziehung gesetzt werden. Entsprechend forderte der KSK den Berliner Senat auf, den diesbezüglichen am 02. Oktober 1991 getroffenen Beschluss wieder aufzuheben.61 Mit dieser Forderung stand der KSK innerhalb der Häftlingsvertreter alleine da. Insbesondere der Arbeitskreis ehemaliger Häftlinge der SPD und das Knastplenum Berlin waren gegenteiliger Meinung und erwarteten, dass in Berlin-Hohenschönhausen »[…] nie wieder Menschen eingesperrt werden«.62 Nachdem die SenJustiz die Anstalt nicht mehr als Gefängnis nutzen wollte, lagerte sie historisch interessante und wertvolle Gegenstände, die nicht anderweitig verwertbar waren, z.B. das Mobiliar aus den Kellerräumen der Verwahrbereiche (Holzpritschen und Kübel) für eine spätere museale Nutzung ein und brachte sie diese in der Justizvollzugsanstalt für Frauen in Berlin-Plötzensee unter.63 Gleiches galt für die Zentrale Gefangenenkartei der DDR.64 Eine spätere Rück-
58 Schreiben des KSK an die SenJustiz Senatorin Jutta Limbach vom 02.08.1991, SWFKB, Nr. 5. 59 Resolution ehemaliger politischer Häftlinge in der Europäischen Akademie Berlin an den Deutschen Bundestag, die Bundesregierung und an den Senat von Berlin vom 2. und 3. August 1991, SWFKB, Nr. 5. 60 Ebd. 61 Schreiben des KSK an den Regierenden Bürgermeister von Berlin Diepgen vom 14.10.1991, S. 2, SWFKB, Nr. 5. Gleichlautende Schreiben gingen an den Senator für Justiz, den Senator für Kultur, an den Senator für Finanzen, an die Fraktionen SPD und CDU des Abgeordnetenhauses Berlin und an den Bundesminister des Innern. 62 Aufruf des Knastplenums Berlin, o.D., SWFKB, Nr. 5; Schreiben des SPD Arbeitskreises ehemaliger politischer Häftlinge [SPD Arbeitskreis] an die SenJustiz Senatorin Limbach vom 06.10.1991, SWFKB, Nr. 5. 63 SenJustiz: Vermerk vom 17.12.1991, SWFKB, Nr. 5. 64 SenJustiz: Vermerk vom 29.05.1991, S. 2, SWFKB, Genslerstr. 66; SenJustiz: Vermerk vom 17.12.1991, SWFKB, Nr. 5.
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führung in eine Gedenk- und Dokumentationsstätte in Hohenschönhausen war ausdrücklich beabsichtigt, so heißt es im ersten Konzept der Gedenkstätte Hohenschönhausen.65 Auch wurde die Häftlingsbibliothek von der SenJustiz gesichert und vorübergehend der Hilfsorganisation für die Opfer politischer Gewalt in Europa (HELP e.V.) übergeben, mit dem Ziel einer baldigen Rückführung in eine zukünftige Gedenkstätte.66 Da die SenJustiz ihrerseits beabsichtigte das Gelände in das allgemeine Grundstückvermögen des Landes Berlin abzugeben und nachdem die Eigentumsverhältnisse bezüglich des Geländes nicht zweifelsfrei geklärt waren, sah die SenJustiz fortan von Investitionen in die Gebäude (Instandsetzung bzw. Umbaumaßnahmen) ab.67 Sie hielt lediglich den Objektschutz aufrecht und verwies nunmehr auf die SenKult als zuständige Senatsverwaltung für Gedenkstättenbelange, mit dem Hinweis, »[…] dass eine endgültige politische Haltung des Kultursenators noch nicht feststeht«.68 Dem Regierenden Bürgermeister Diepgen empfahl sie, nicht nur das »U-Boot« für eine Gedenkstätte zu nutzen, sondern auch »[…] sonstige Hafträume und die drei im Keller des Verwahrgebäudes befindlichen Absonderungs- und Gummizellen […]. Im Hinblick auf die räumlichen Möglichkeiten kommt darüber hinaus die Einrichtung eines Museums sowie von Räumlichkeiten zur Durchführung von Seminaren und anderen Bildungsveranstaltungen in Betracht. […] Im Hinblick auf die Raumkapazitäten wird auch zu erwägen sein, ob den zuvor erwähnten Opfer-Organisationen Räume für ihre Tätigkeit zur Verfügung gestellt werden können«.69
Die SenJustiz stellte sich also inzwischen eine groß angelegte Gedenkstätteneinrichtung vor und regte, wie zuvor bereits der KSK, als Trägermodell die Gründung einer Gedenkstättenstiftung an. Die Federführung sollte fortan bei der SenKult liegen.70 Anfang März 1992 gab die SenJustiz das gesamte Gelände an das Bezirksamt Hohenschönhausen zum Zweck einer zukünftigen Gedenkstättennutzung ab.71
65 Suckut, Siegfried/Wilke, Manfred/Wolle, Stefan: Konzeption für die Errichtung einer Gedenkstätte auf dem Gelände der ehemaligen Haftanstalt Hohenschönhausen. Zwischenbericht vom 26.08.1994, Berlin, S. 18, ArLStU, Bestand: 67.21 April 1995-Ende 2000, Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen [67.21 1995-2000]. 66 Ebd., S. 19. 67 Zwar wies das Grundbuch für das Grundstück Genslerstraße 66 die »Regierung der DDR« bzw. das »Ministerium für Staatssicherheit« aus, ob beide rechtmäßig in Besitz des Grundstückes kamen, erging jedoch daraus nicht und erforderte weitere Nachforschungen. vgl. SenJustiz: Vermerk vom 05.07.1991, SWFKB, Genslerstr. 66; SenJustiz: Vermerk vom 29.05.1991, S. 3, SWFKB, Genslerstr. 66. 68 SenJustiz: Vermerk vom 17.12.1991, S. 2, SWFKB, Nr. 5. 69 Schreiben der SenJustiz an den Regierenden Bürgermeister Diepgen vom 17.12.1991, S. 3, SWFKB, Nr. 5. 70 Ebd. 71 SenJustiz: Protokoll zur Übergabeverhandlung vom 02.03.1992, SWFKB, Genslerstr. 66; Schreiben der SenJustiz an das Bezirksamt Hohenschönhausen Bezirksstadtrat für Finan-
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Neben diesen Gedenkstättenvisionen und bedächtigen Bestandssicherungen der SenJustiz stieg schon ab Januar 1992 das Engagement der SenKult für eine Gedenkstätte in Hohenschönhausen. Die Denkmalunterschutzstellung des Gefängnisareals wurde auf den Weg gebracht, ein erstes denkmalpflegerisches Gutachten legte die SenStadtUm im Mai 1992 vor. Darin wurde der Denkmalcharakter und Seltenheitswert der Gefängnisanlage bestätigt.72 Des Weiteren wurden erste Verhandlungen über eine mögliche Beteiligung des BMI aufgenommen. Insbesondere die aktuellen Planungen über eine Gedenkstättenkonzeption des Bundes, die eine finanzielle Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten von herausragender Bedeutung und exemplarischem Charakter vorsah, weckten bei der SenKult in Bezug auf den Aufbau einer zentralen Gedenkstätte in der UHA Hohenschönhausen Begehrlichkeiten.73 Darüber hinaus wurden verschiedene mögliche Trägerschaften in Betracht gezogen, die eine Bundesbeteiligung grundsätzlich nicht ausschlossen.74 Daneben wurden intensive Nachforschungen zur Geschichte der Haftanstalt Hohenschönhausen in Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Opferverbänden (u.a. mit dem Arbeitskreis ehemaliger Häftlinge der SPD, mit dem KSK, mit HELP e.V. und dem Bund Stalinistisch Verfolgter – BSV– etc.) im Auftrag der SenKult durchgeführt. Ebenfalls kam es zwischen der SenKult und der Gedenkstätte Sachenhausen bezüglich Hohenschönhausen zu einer ersten intensiven Forschungszusammenarbeit. Berichte ehemaliger Internierter und Häftlinge wurden gesammelt und ausgewertet, mehrere Ortsbegehungen mit Zeitzeugen fanden statt. Anfragen erfolgten zudem beim Bundesarchiv, beim BStU sowie in staatlichen Moskauer Archiven und Dienststellen.75 Diese ersten Arbeiten der SenJustiz und der SenKult lieferte die Grundlage dafür, das Areal in seinem Bestand weiterhin zu sichern und unter Denkmalschutz zu stellen. Die Unterschutzstellung wurde am 02. September 1992 angeordnet.76 Sie wurde begründet mit einer späteren »dokumentarischen Nutzung« der Haftanstalt im Interesse der Allgemeinheit, d.h. die Errichtung einer Gedenkstätte wurde zur denkmalpflegerischen Grundlage erhoben: »Der dokumentarische Erhalt der Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen, Genslerstraße 66/Lichtenauer Straße, liegt im Interesse der Allgemeinheit, weil sie zur notwendigen Auseinandersetzung besonders mit diesem Teil der DDR-Geschichte – der Aufdeckung der Machtstrukturen und der Arbeitsweise des MfS sowie dessen Verflechtung mit staatlichen
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zen vom 15.03.1992, SWFKB, Genslerstr. 66; Verwaltungsvereinbarung zwischen SenJustiz und Bezirksamt Hohenschönhausen vom 25.03.1992, SWFKB, Nr. 5. SenStadtUm: Gutachten zur Denkmaleigenschaft der ehemaligen U-Haftanstalt des MfS der DDR vom Mai 1992, SWFKB, Nr. 5; SenKult: Vermerk vom 18.05.1992, SWFKB, Nr. 5. SenKult: Vermerk vom 19.05.1992, SWFKB, Nr. 5. SenKult: Vermerk vom 26.02.1992, SWFKB, Nr. 5. SenKult: Vermerk vom 01.03.1993, Nr. 5; Schreiben der SenJustiz an das Bezirksamt Hohenschönhausen vom 09.03.1993, SWFKB, Nr. 5. Schreiben der SenStadtUm an die SenJustiz vom 02.09.1992, SWFKB, Genslerstr. 66.
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und gesellschaftlichen Institutionen der DDR beiträgt. Teile der o.g. Haftanstalt – das sog. U-Boot – haben Seltenheitswert, da es nach gegenwärtigen Erkenntnissen keine vergleichbare Dunkelzellenanlage dieser Art in Deutschland gibt.«77
Am 12. Oktober 1992 wurde die ehemalige Zentrale Untersuchungshaftanstalt des MfS in die Liste der Baudenkmale eingetragen.78 Die denkmalpflegerische Unterschutzstellung stellte eine Grundvoraussetzung dar, diesen Haftort zunächst einmal in seinem Bestand, d.h. auch in seinem authentischen baulichen Bestand zu erhalten. Umnutzungen, die mit gravierenden baulichen Veränderungsmaßnahmen einher gegangen wären, wurden somit ausgeschlossen und eine Wahrung der Authentizität des Haftortes zum Zeitpunkt 1989/1990 sowie Rückbauten (Restaurierungen) in den Originalzustand 1945-89 grundsätzlich ermöglicht. Einzelnen Häftlingsvertretern gingen diese Bemühungen nicht weit genug. Dem Gebäudeverwalter des Gefängnisses, dem Bezirksamt Hohenschönhausen wurde Verwahrlosung der gesamten Anlage vorgeworfen. Zudem werde Besuchern ein falsches Bild der Haftsituation vermittelt, seien z.B. in Räumen Betten aufgestellt worden, die so dort nie existiert hätten, beschwerte sich der SPD Arbeitskreis ehemaliger politischer Häftlinge (SPD Arbeitskreis) bei der SenJustiz und schlug er eine vom Arbeitskreis vorbereitete Einweihung einer »Mahn- und Gedenkstätte der Opfer kommunistischer Diktatur« schon zum 40. Jahrestag des 17. Juni 1953 unter Anwesenheit des Bundeskanzlers Helmut Kohl vor. 79 An den Bausenator ging die Bitte, keinen Wettbewerb für die Gestaltung einer Gedenkstätte auszuloben, müsse statt Umbauten vielmehr der Ursprungszustand wieder hergestellt werden.80 Und auch der BSV lehnte die Errichtung eines »DDR-Museums«, wie es der Kulturausschuss der BVV Hohenschönhausen in seiner vorläufigen Beschlussempfehlung mittlerweile vorschlug,81 als »Verhöhnung der Opfer des kommunistischen Terrors« ab.82 Die BVV regte entgegen der bisherigen Pläne inzwischen eine symbol- und ideengeschichtliche Ausstellung mit dem Arbeitstitel »Zwischen Utopie und Terror, SBZ/DDR 1945-1989« an, in der verschiedene Utopien, Religionen und Ideologien thematisiert sowie u.a. Ikonen des DDR-Sozialismus gezeigt werden sollten.83 Dies
77 Denkmalpflegerisches Gutachten von Christina Czymay: OBJ-Dok-Nr. 09045867 vom September 1992, StAufarb, Bestand: Gedenkstätte Hohenschönhausen, Allgemeines, Briefwechsel (Geschäftsablage o. Sign.) [HSH Allg.]; SenStadtUm: Bescheid vom 02.09.1992, S. 3, SWFKB, Genslerstr. 66. 78 Amtsblatt für Berlin, Nr. 61 vom 04.12.1992, S. 3553, SWFKB, Nr. 5. 79 Schreiben des SPD Arbeitskreises an die SenJustiz vom 01.02.1993, SWFKB, Nr. 5. 80 Schreiben des SPD Arbeitskreises an den Senator für Bau- und Wohnungswesen Wolfgang Nagel vom 17.03.1993, SWFKB, Nr. 5. 81 BVV Hohenschönhausen, Beschlussempfehlung 2. Fassung vom 11.03.1993, Ausschuss für Kultur, SWFKB, Nr. 5. 82 Schreiben des BSV an die BVV Hohenschönhausen vom 24.03.1993, SWFKB, Bestand: »U-Boot«, Kommission, Nr. 9 [Nr. 9]. 83 BVV Hohenschönhausen, Beschlussempfehlung 2. Fassung vom 11.03.1993, Ausschuss für Kultur, SWFKB, Nr. 5.
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war dem BSV zu philosophisch, zu verharmlosend und zu wenig opfergerecht. Der BSV machte den Gegenvorschlag, die Gedenkstätte mit dem Arbeitstitel »Erinnerung und Mahnung. Zentrale von Gewalt und Umerziehung in der Diktatur (1945-1989)« in Regie des BSV zu betreiben. Hierzu sollten auch das Lokalisieren von Gräbern und das Anlegen einer würdigen Grabanlage gehören. Die Gedenkstätte sollte das »UBoot«, den Vernehmer- und Zellentrakt, das Haftkrankenhaus und die Küche, Werkstatträume und einen Freihof umfassen. Auf eine Nutzung des gesamten Areals sollte zugunsten einer zügigen Umsetzung verzichtet werden. Eine Teileröffnung wurde für das erste Quartal 1994 in Aussicht gestellt.84 Mit den Worten: »Auf jeden Fall zu vermeiden ist die Errichtung dieser Gedenkstätte aus rein intellektueller Sicht«, brachte der BSV zum Ausdruck, worum es ihm insbesondere ging, nämlich um eine Privilegierung einer opfergeprägten Perspektive, die er bei den Alternativvorschlägen leider vermisste.85 Die Gegenvorschläge und das Angebot des BSV, die Gedenkstätte in Eigenregie umzusetzen, waren auch eine Reaktion auf den Antrag, den die FDP-Fraktion bereits am 04. Februar 1993 ins Abgeordnetenhaus eingebracht hatte. Er forderte den Senat auf, in Hohenschönhausen endlich ein Museum und eine »Gedenkstätte für die Opfer des Widerstandes gegen kommunistische Terrorherrschaft« auszugestalten. Hierzu hatte die FDP empfohlen, demontierte Denkmäler und Wahrzeichen des »Sozialismus« in Hohenschönhausen wissenschaftlich aufzuarbeiten.86 Dies wurde nicht nur vom BSV, sondern auch von der SenKult als absurd und inadäquat abgelehnt. Stattdessen wies die SenKult daraufhin, dass es beim Gedenken an die Opfer der NKWDZeit in Hohenschönhausen zu keiner Vermischung mit den Tätern des Nationalsozialismus kommen dürfe. Um dies zu verhindern schlug sie vor, möglichst umfassend die Biographien der ehemaligen Häftlinge zu verifizieren.87 Gleiches galt für die verschiedenen Haftperioden. So empfahl die SenKult im Rahmen der Debatte des Ausschusses für Bundes- und Europaangelegenheiten des Abgeordnetenhauses Berlin zum FDP-Antrag zwischen der Zeit 1945-1946 (Internierungslager), 1947-1949/50 (zentrales NKWD-Untersuchungsgefängnis) und der MfS-Zuständigkeit 1950-1989 (zentrale MfS-Untersuchungshaftanstalt) zu unterscheiden.88 Im Rahmen eines Änderungsantrages der Fraktion SPD und CDU wurde der Senat daher vom Abgeordnetenhaus aufgefordert, bis zum 30. Juni 1993 einen Bericht über ein Gesamtkonzept zur Gedenkstätte vorzulegen, das diese Besonderheiten und die Belange der ehemaligen Häftlinge berücksichtigte.89 Die BVV
84 BSV: Empfehlungen zur Nutzung der ehemaligen Stasi-Haftanstalt Hohenschönhausen vom März 1993, SWFKB, Nr. 9. 85 Ebd., S. 2. 86 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 12/2463 vom 04.02.1993, SWFKB, Nr. 9/PA Berlin. 87 SenKult: Vermerk vom 01.03.1993, SWFKB, Nr. 5; Abgeordnetenhaus von Berlin, Inhaltsprotokoll 12/32 der 32. Sitzung vom 25.03.1993, Ausschuss für Bundes- und Europaangelegenheiten, S. 5, PA Berlin. 88 Ebd., S. 4. 89 Ebd., S. 3; Abgeordnetenhaus von Berlin, Beschlussprotokoll 12/32 der 32. Sitzung vom 25.03.1993, S. 4, Anlage 2, PA Berlin.
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zog ihre Beschlussempfehlung daraufhin zurück bzw. ersetzte sie durch eine neue, in der es jetzt ausschließlich hieß: »Die Gesamtanlage ist ein Mahnmal, eine Gedenkstätte gegen Terror und Gewalt.«90 Zugleich beauftragte die BVV auch das Bezirksamt Hohenschönhausen damit eine Projektgruppe einzusetzen, um eine abgestimmte Konzeption zur Nutzung des Geländes zu entwickeln.91 »Noch ist das dort Geschehene nicht vergessen. […] Dem Vergessen darf kein Vorschub geleistet werden«, begründete die BVV diesen Schritt.92 Und anlässlich des 17. Juni 1993 wurde das Gefängnisgelände tatsächlich für die breite Öffentlichkeit erstmals geöffnet.93 Der KSK nutzte diese Gelegenheit, der SenKult und dem Landesbeauftragten für die Unterlagen der ehemaligen Staatssicherheit der DDR Berlin (LStU) ein weiteres eigenes »Konzept für die Gedenkstätte Hohenschönhausen« vorzulegen.94 Dieses sah nunmehr eine Kombination aus einer Gedenkanlage und dem berüchtigtem »U-Boot« vor. Die Gedenkanlage sollte aus einem künstlerisch stilisierten Gräberfeld bestehen, »[…] das in etwa dem durch Arbeiten der ehem. Volksarmee im Frühjahr 1990 im Forst von Schmachtenhagen in der Nähe des ehem. KZs Sachsenhausen aufgebrochenen Gräberfeldes entspricht […]. […] Zwischen Erdschollen und Gräsern lassen sich Teile der Gebeine der verscharrten in der Haft umgekommenen Gefangenen erkennen«,
beschrieb der KSK die Gestaltung.95 Neben einer Gedenkinschrift mit dem Wortlaut »Dem Gedenken aller deutschen Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft« an der angrenzenden Mauer sollte eine Treppe »wie in eine Gruft« in einen unterirdischen Gang führen, der im »U-Boot« mündete.96 An den Wänden des unterirdischen Ganges sollten Besucherinformationen über »zahlreiche KZs, Zuchthäuser, Gefängnisse und Lager in der ehe. SBZ/DDR« angebracht sein. Das »U-Boot« sollte wieder in den Zustand 1946/1947 bis 1960 zurück versetzt werden.97 Zur Förderung einer solchen »Zentralen Gedenkstätte für die deutschen Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft« empfahl der KSK (in Anlehnung an das AuschwitzKomitee und das Bautzen-Komitee) das Gründen eines Hohenschönhausen-Komi-
90 BVV Hohenschönhausen, Drs. 358/93, Dringliche Beschlussempfehlung vom 14.04.1993, SWFKB, Nr. 5. 91 Ebd. 92 Ebd. 93 Teske, Knut: »Eine Burg, in der Menschen zerbrachen«, in: Die Welt vom 17.06.1993. 94 LStU Berlin: Vermerk vom 29.06.1993, ArLStU, Bestand: 51.1 ASTAK e.V., BSV, Hauptausschuss (Finanzen) [51.1]. 95 KSK: Konzeption für die Gedenkstätte Hohenschönhausen vom Juni 1993, ArLStU, 51.1. 96 Ebd.; KSK: Lageskizze der Gedenkstätte Hohenschönhausen »Zentrale Gedenkstätte für die deutschen Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft« vom Juni 1993, ArLStU, 51.1. 97 KSK: Konzeption für die Gedenkstätte Hohenschönhausen vom Juni 1993, ArLStU, 51.1.
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tees.98 Anders jedoch als die o.g. Komitees, sollten dem HohenschönhausenKomitee bis zu vier Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses, bis zu vier Bundestagsabgeordnete, bis zu drei Vertreter der Bezirkspolitik/-Verwaltung und bis zu sechs ehemalige politische Häftlinge angehören. Den Vorsitz sollte der LStU Berlin übernehmen.99 Zur Finanzierung schlug der KSK vor, ein Spendenkonto einzurichten, auf das nicht nur der Bund drei bis fünf Millionen DM einzahlen sollte, sondern auch Landkreise und Städte (jeweils 10.000-20.000 DM) sowie die Bundesländer (jeweils 100.000 DM), »[…] so dass für die Gedenkstätte […] etwa 12 bis 14 Millionen DM zur Verfügung stünden«.100 Diese Vorstellungen des KSK waren ähnlich inadäquat, wie die ersten Pläne der BVV Hohenschönhausen und fielen hinter den eigenen Vorschlägen von 1991101 und den einstweilen von der SenJustiz und von der SenKult angestellten Überlegungen sowohl ästhetisch-gestalterisch als auch erinnerungs- und geschichtspolitisch weit zurück. So wurden im neuen KSK-Konzept nicht-deutsche Opfer und Opfer politischer Haft und Verfolgung nach 1960/61 vom Gedenken vollständig ausgeschlossen und suggerierte es Analogien zwischen Sowjetkommunismus und Nationalsozialismus (z.B. bezüglich der Begriffsverwendung »KZ« und dem Totengedenken der NS-Opfer), die die ungleichen Verbrechenskomplexe nahezu nivellierten. Vom Umfang her blieb das vom KSK skizzierte Erinnern und Gedenken zudem beschränkt auf eine Gräberstätte mit Denkmal und eine begrenzte museale Öffnung bzw. Nutzung des »U-Boots«. Die SenKult nahm das Papier des KSK zwar gezwungenermaßen zur Kenntnis, ernsthaft berücksichtigt im weiteren Planungsverlauf wurde es jedoch nicht. Die Empfehlung und Pläne der Bezirksverordnetenversammlung, der SenJustiz sowie der SenKult, die Berichte bzw. Empfehlungen der Berliner Regierung, die Bestandssicherungen und Sicherstellungen von Gefängnisinventar, die Durchführung von Forschungsarbeiten und Dokumentationsmaßnahmen, die Aufnahme des Geländes in die Baudenkmalliste sowie ihre punktuelle Öffnung zur Besichtigung von 1991 bis 1993 belegen – bei aller Kritik von ehemaliger Häftlingsseite her – insgesamt doch, dass Verwaltung und Politik von vornherein intendierten, diesen Ort als Haftort in vollem Umfang nicht weiter zu nutzen, sondern anstrebten, ihn stattdessen langfristig in einen Ort des Gedenkens im Sinne der Opfer und ihrer Angehörigen umzuwandeln. D.h., bereits zwischen 1991 und 1993 zeichnete sich deutlich ab, dass die Verwaltungen und der Berliner Senat von vornherein gewillt waren, den Wunsch des KSK von 1988/1989 sowie anderer Opfervertreter (BSV,
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KSK: Komitee zur Förderung der Gedenkstätte Hohenschönhausen – Hohenschönhausen-Komitee – , ArLStU, 51.1. 99 Ebd. 100 KSK: Vorschläge zur Finanzierung der Errichtung der Gedenkstätte Hohenschönhausen vom Juni 1993, ArLStU, 51.1. 101 Vgl. Resolution ehemaliger politischer Häftlinge in der Europäischen Akademie Berlin an den Deutschen Bundestag, die Bundesregierung und an den Senat von Berlin vom 2. und 3. August 1991, SWFKB, Nr. 5. Hier wurden die politischen Häftlinge der DDR bis 1989 im Gedenkkonzept einbezogen.
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SPD Arbeitskreis) im Laufe der frühen 90er Jahre aufzunehmen, weiterzuentwickeln und entsprechende Voraussetzungen auch auf politischer Ebene hierfür zu schaffen.
4.3 »T OPOGRAPHIE
DER ZWEITEN DEUTSCHEN
D IKTATUR «
Trotz dieser ersten Maßnahmen der Berliner Verwaltung und der Berliner Politik, strebte Berlin spätestens ab Mitte 1993 danach, das Gedenkstättenvorhaben zumindest hälftig an den Bund abzugeben, sah sich doch das Land Berlin selbst bzw. die SenKult vor dem Hintergrund finanzieller Engpässe (u.a. durch den Wegfall der Berlin-Sonderförderung102 und durch das Hinzukommen der Ostberliner Kulturbetriebe) inzwischen außerstande, ein solchen Großprojekt alleine zu schultern.103 Parallel gerieten die SenKult und der Senat gegenüber dem Parlament zunehmend unter Realisierungsdruck.104 Die SenKult und das Land Berlin bemühten sich daher ab Herbst 1993 verstärkt um eine Bundesbeteiligung im Rahmen der »Gesamtkonzeption des Bundes«. In diese Richtung unternahmen sie in den Folgemonaten weitere Schritte. So meldete der Regierende Bürgermeister Diepgen die zu errichtende Gedenkstätte bereits im August 1993 beim Bundeskanzleramt für eine Beteiligung des Bundes an, die im Rahmen der 1993 geschaffenen »Gesamtkonzeption zur Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland« in Aussicht gestellt wurde.105 Die SenKult legte dem Bundesministerium des Innern (BMI) hierfür Anfang September einen ersten zwölfseitigen Bericht vor, 106 der die gesamtdeutsche Bedeutung des historischen Ortes hervorhob, drei zu berücksichtigende Opfergruppen in Hohenschönhausen (Internierte, NKWD-Häftlinge und Untersuchungshäftlinge der DDR-Staatssicherheit) benannte, dezidiert auf
102 Im Jahr 1989 belief sich die Sonderförderung Berlins auf rund 230 Millionen DM. 103 Eine erste Kalkulation rechnete mit einem Investitionsbedarf für die Instandsetzung von rund vier Millionen DM. Der jährliche Unterhalt wurde auf weitere 4,6 Millionen DM geschätzt, vgl. SenKult: Vermerk vom 20.12.1993, S. 3, SWFKB, Nr. 5. So verhängte der Berliner Senat beispielsweise am 18.01.1994 einen Ausgabestop, der die SenKult ebenfalls grundsätzlich betraf, vgl. SenKult: Vermerk vom 27.01.1994, S. 2, SWFKB, Nr. 5. 104 So beschloss das Abgeordnetenhaus am 03. Dezember 1993: »Der Senat wird aufgefordert, dem Hauptausschuss bis zum 30. April 1994 in einem Bericht darzustellen, wie die Arbeit der Opferverbände ([…] Haftmuseum Hohenschönhausen, u.a.) langfristig finanziert werden soll«, vgl. Senatskanzlei: Beschluss des Abgeordnetenhauses Berlin zu Drs. 12/3556 vom 06.12.1993, SWFKB, Nr. 5. 105 Schreiben des Regierenden Bürgermeisters Diepgen an den Staatsminister beim Bundeskanzler Anton Pfeifer vom 16.08.1993, SWFKB, Nr. 5. 106 Schreiben der SenKult an das Bundesministerium des Innern Sieghardt v. Köckritz vom 03.09.1993, SWFKB, Nr. 5; vgl. Suckut, Siegfried/Wilke, Manfred/Wolle, Stefan: Zwischenbericht vom 26.08.1994, Berlin, S. 14, ArLStU, 67.21 1995-2000.
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fünf verschiedene historische Phasen politischer Haft (1945-1946, 1947-1950, 1950/51-1961, 1961-1964/65, 1964/65-1990) hinwies und in Abgrenzung zu anderen Einrichtung exemplarisch für politische NKWD- und MfS-Untersuchungshaft sein sollte.107 »Als jeweils zentrales Internierungslager bzw. Untersuchungsgefängnis der SMAD und des MfS für das gesamte Territorium der SBZ und der DDR symbolisiert der Komplex Hohenschönhausen wie keine andere vergleichbare Anlage stalinistischen Terror in Deutschland seit 1945 und bietet sich daher an als nunmehr zentrale Gedenkstätte für die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft«,
hieß es in einem Vermerk hierzu.108 Der Arbeitstitel, der dem Antrag zugrunde lag, lautete entsprechend: »Zentrale Mahn- und Gedenkstätte für die Opfer des Stalinismus«.109 Obwohl die SenKult unterschiedliche Verfolgungsperioden und Haftzeiträume aufzeigte, knüpfte sie im Widerspruch dazu offiziell an den antikommunistischen und antistalinistischen Formulierungen der Häftlingsverbände an und vermied die Bezeichnung »Opfer des Stalinismus« und »Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft« zugunsten einer geschichtspolitisch neutralen Wendung offenkundig nicht.110 Ob dies bewusst ein Zugeständnis war an die Opferverbände oder eine Konzession an die konservative Regierungsbank, die sich in der EnqueteKommission ihrerseits bereits durch antikommunistische Äußerungen geschichtspolitisch klar positioniert hatte, konnte nicht aufgedeckt werden. Bereits im November 1993 wurde eine solche Zentrale Mahn- und Gedenkstätte Hohenschönhausen vom BMI grundsätzlich als förderungswürdig eingestuft, allein es fehlte an einem tragfähigen Konzept und einer handfesten Kostenkalkulation.111 Da der Bund seine Unterstützung davon sowie von einem Expertenvotum abhängig machte,112 gab die SenKult umgehend das geforderte gedenkstättenspezifisches Gutachten in Auftrag. Ein Senatsbeschluss hierüber wurde am 18. Januar 1994 gefasst.113 Am 31. Januar 1994 berief die SenKult – analog anderer Gedenkstättenver-
107 Schreiben der SenKult an das Bundesministerium des Innern Sieghardt v. Köckritz vom 03.09.1993, S. 5-8, SWFKB, Nr. 5. 108 SenKult: Vermerk vom 20.12.1993, SWFKB, Nr. 5. 109 Schreiben der SenKult an das Bundesministerium des Innern Sieghardt v. Köckritz vom 03.09.1993, S. 1, SWFKB, Nr. 5. 110 Ebd.; SenKult: Vermerk vom 20.12.1993, S. 2, SWFKB, Nr. 5. 111 Schreiben von der Senatverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten an das Abgeordnetenhaus von Berlin: Mitteilung über die ehemalige Stasi-Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen, Zwischenbericht, in: Senatsverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten an das Abgeordnetenhaus von Berlin vom 15.07.1994: Senatvorlage Nr. 5062/94 zur Beschlussfassung, ArLStU, 67.21 1995-2000. 112 Schreiben des Bundeskanzleramtes Staatsminister Anton Pfeifer an den Regierenden Bürgermeister Diepgen vom 07.09.1993, SWFKB, Nr. 5. 113 Schreiben der SenKult Senator Roloff-Momin an die BStU Siegfried Suckut vom 25.01.1994, SWFKB, Nr. 9.
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fahren in Berlin sowie trotz Haushaltssperre – ein dreiköpfiges »Expertengremium zur Erarbeitung einer Gedenkstättenkonzeption für das Terrain des früheren sowjetischen Internierungslagers und der ehemaligen Stasi-Haftanstalt in Hohenschönhausen«.114 Dem Gremium gehörten Manfred Wilke (Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin), Stefan Wolle (Historiker an der Humboldt-Universität) und Siegfried Suckut (Leiter des Bereiches Grundlagenforschung beim BStU) an. Wilke und Suckut ermöglichten eine Platzierung des Projektes Hohenschönhausen auf Bundesebene. Wilke war zum damaligen Zeitpunkt – als Sachverständiger der CDU – Mitglied der Enquete-Kommission des Bundestages »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur« und konnte die Idee einer vom Bund zu fördernden Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen dort einbringen. Suckut ermöglichte die enge Verbindung zur Behörde des Bundesbeauftragten (BStU). Von vornherein bestand also die Intention, Hohenschönhausen in die Teilträgerschaft des Bundes zu bringen, entweder über die Gedenkstättenkonzeption des Bundes (vergleichbar mit Buchenwald und Sachsenhausen) durch das BMI, oder über eine Anbindung an den BStU. »Um die Entscheidung der Bundesregierung über eine mögliche Beteiligung an einer zentralen ›Gedenkstätte für die Opfer der kommunistischen Herrschaft‹, wie sie von der Senatverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten bereits 1993 beantragt worden ist, beschleunigen zu können, hat dieses Gremium einen Zwischenbericht bereits für den Sommer dieses Jahres zugesagt«,
kündigte die SenKult in Erwartung einer schnellen Bundeslösung darüber hinaus an.115 Erst Wochen nach der Berufung des Expertengremiums segnete das AbgeordnetenHaus In seiner Sitzung vom 21. April 1994 als Reaktion auf den FDP-Antrag vom 04. Februar 1993116 das Vorgehen des Senats und der SenKult nachträglich per Parlamentsbeschluss ab. Darin hieß es: »1. das ehemalige Stasigefängnis als Museum und Gedenkstätte für die Opfer des Widerstandes gegen kommunistische Terrorherrschaft auszugestalten, für die umgehende Öffnung zu
114 Senatsverwaltung für Kultur: Berufung. Expertengremium zur Erarbeitung einer Gedenkstättenkonzeption für das Terrain des früheren sowjetischen Internierungslagers und der ehemaligen Stasi-Haftanstalt in Hohenschönhausen, Berlin 1994, ArLStU, 67.21 1995-2000; Schreiben der SenKult an das Bezirksamt Hohenschönhausen vom 15.02.1994, SWFKB, Nr. 9. 115 Eile war tatsächlich geboten. Schon bis Ablauf des Jahres 1993 lagen innerhalb des BMI Präferenzen für mögliche Bundesbeteiligungen vor, vgl. Schreiben der Amtschefkommission Kulturförderung des Bundes Staatssekretär Hofmann-Göttig an die SenKult Staatssekretär Winfried Sühlo vom 08.12.1993, SWFKB, Nr. 5. 116 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 12/3986 vom 10.03.1994, PA Berlin; Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 12/4164 vom 10.03.1994, PA Berlin.
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sorgen und die Häftlingsverbände konzeptionell zu beteiligen; 2. mit der Bundesregierung in Verhandlungen über eine Mitnutzung des Gebäudes als nationale Forschungsstätte zur Geschichte kommunistischer Terrorherrschaft in Deutschland einzutreten […].«117
Zu diesem Zeitpunkt hatte das Wilke-Gremium bereits das erste Mal getagt und der SenKult bereits nahegelegt, die Gedenkstättenfrage zur MfS-U-Haftanstalt nicht losgelöst von der Gedenkstätte in der Normannenstraße im Haus 1 bzw. der Zentrale des MfS zu behandeln und stärker die Opferverbände und Mitglieder der Bürgerbewegungen in die Gedenkstättenarbeit einzubeziehen.118 »Unabhängig von noch zu klärenden rechtlichen Konstruktionen wird […] eine enge inhaltliche Verzahnung der Arbeit beider Gedenkstätten und Dokumentationsorte unabdingbar sein«, prophezeite das Gremium frühzeitig und verfolgte es zudem eine stärkere Beteiligung der Betroffenen.119 Am 18. April 1994 lud das Wilke-Gremium in diesem Zusammenhang zu einer Anhörung der Opferverbände ein. Am 20. Mai folgte eine gemeinsame Ortsbegehung.120 Bei beiden Gelegenheiten konnten die verschiedenen Vertreter unterschiedlicher Opferorganisationen ihre eigenen Vorstellungen über ein geeignetes Gedenken und Erinnern in Höhenschönhausen vorbringen. Schon Ende April legten die Verbände als »Konferenz der Verbände ehemaliger politischer Häftlinge«121 unter der Federführung des KSK zusätzlich ein untereinander abgestimmtes Gedenkstättenkonzept vor.122 Über die bisherigen Überlegungen des KSK hinausgehend sah dieses Gedenkstättenkonzept nunmehr eine großangelegte Gedenkstätte vor, die sowohl das »U-Boot« als auch das »Heikesche Haus«, den Verwaltungsneubau und Zellenhäuser im hinteren Teil der U-Haft-Anlage umfassen sollte. Im »Heikeschen Haus« sollten – zusätzlich zur Zellenanlage im »U-Boot« – die verschiedenen Haftperioden in Hohenschönhausen bis 1989 dokumentiert werden. Im Verwaltungsneubau empfahl das Konzept vor allem eine allgemeine Darstellung der »[…] kommunistischen Gewaltherrschaft im Bereich der politischen Haft in der
117 Schreiben von der Senatverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten an das Abgeordnetenhaus von Berlin: Mitteilung über die ehemalige Stasi-Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen, Zwischenbericht, in: Senatsverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten an das Abgeordnetenhaus von Berlin vom 15.07.1994: Senatvorlage Nr. 5062/94 zur Beschlussfassung, S. 2, ArLStU, 67.21 1995-2000; Abgeordnetenhaus von Berlin, Beschlussprotokoll 65. Sitzung vom 21.04.1994, S. 5619, PA Berlin. 118 Ergebnisprotokoll der Kommissionssitzung vom 08.03.1994, SWFKB, Nr. 9. 119 Schreiben von Suckut, Wilke und Wolle an die SenKult vom 23.02.1994, S. 2, SWFKB, Nr. 9. 120 SenKult: Protokoll der Anhörung der Opferbände vom 18.04.1994, SWFKB, Nr. 9. 121 Hierzu gehörten die Vereinigung Opfer des Stalinismus (VOS), die Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG), der KSK und der SPD Arbeitskreis. 122 Konferenz der Verbände ehemaliger politischer Häftlinge: Konzeption Hohenschönhausen vom 26.04.1994, SWFKB, Nr. 9.
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SBZ bzw. DDR«.123 Sie sollte die Internierungszeit, die Zeit der sowjetischen Militärtribunale, die Frühphase der DDR sowie die politische Haft in den 70er und 80er Jahren getrennt voneinander behandeln. Zudem sollte es ein Ausstellungsabschnitt zu den anderen Lagern in der SBZ und in der Sowjetunion sowie zu anderen (U-)Haftanstalten in der DDR geben. Auch an eine Darstellung der Haftanstalt in seinem räumlichen Umfeld und an eine Ausstellung über Frauen in Haft war gedacht.124 Darüber hinaus umfasste das Großkonzept der »Konferenz« obligatorische Seminarräume, eine Spezialbibliothek, eine Cafeteria, ein Archiv, Sammlungsräume usw.125 Im Südwesten der Haftanlage empfahl das Konzept – nur noch an dieser Stelle die Handschrift des KSK tragend – das Errichten einer Gedenkanlage mit Skulptur zum eigentlichen Totengedenken.126 Die Vorstellungen einzelner Opfervertreter hatten sich in dem vorgelegten Konzept insgesamt entfernt von einem reinen Stalinismusopfergedenken. Zudem wurden verschiedene Haftperioden offenkundig differenzierter betrachtet. So nahm das Konzept die zeitliche Abfolge der verschiedenen Haftzeiten und verschiedenen Funktionen der Haftanstalt auf, betonte vermeintliche Ähnlichkeiten zwischen den unterschiedlichen Haftzeiten und -formen aber nicht und stellte damit auch kein Kontinuum für die Zeit 1945-1989 her, um das in dieser Zeit Geschehene unter »kommunistische Gewaltherrschaft« subsumieren zu können wie bisher. Das zweiseitige Papier war darüber hinaus frei von antikommunistischen Einlassungen bzw. äußerst reduziert und sachlich gehalten. Es war damit zwar kommunismuskritisch, jedoch fast schon ungewohnt unpolitisch. Ungeachtet dieser Vorschläge sorgte die BVV Hohenschönhausen inzwischen dafür, dass in Hohenschönhausen weitere Voraussetzungen für eine Gedenkstätte geschaffen wurden. Als Interimslösung wurde die ABS-Brücke GmbH von der BVV im Juni 1994 mit der Betreuung der Anlage beauftragt.127 Am 15. Juli 1994 legte die SenKult dem Senat einen Sachstandsbericht vor.128 Dieses Schreiben ist insofern eine wichtige Quelle, als es die politischen Anstrengungen hinsichtlich der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen bis zum damaligen Zeitpunkt noch einmal zusammenfasst. So ist beispielsweise das Schreiben des Regierenden Bürgermeisters Diepgen an das Bundeskanzleramt vom August 1993 erwähnt, ebenso die Verhandlungen zum Hauptstadtvertrag,129 in dessen Rahmen ebenfalls auf die Bedeutung der Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen hingewiesen wurde. Darüber
123 124 125 126 127
Ebd. Ebd., S. 2. Ebd. Ebd., S. 1. SenKult: Vermerk vom 06.04.1994, SWFKB, Nr. 9; SenKult: Vermerk vom 14.04.1994, SWFKB, Nr. 9. 128 SenKult: Mitteilung über die ehemalige Stasi-Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen Drs. 12/2463, Drs. 12/3986 und 12/4164, Zwischenbericht, in: SenKult: Senatvorlage Nr. 5062/94 zur Beschlussfassung vom 15.07.1994, ArLStU, 67.21 1995-2000. 129 Hauptstadtvertrag zwischen Bundesrepublik Deutschland und Land Berlin vom 30.06.1994.
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hinaus verweist das Schreiben darauf, dass das BMI bereits im November 1993 eine grundsätzliche Förderwürdigkeit mitgeteilt habe und dass die Enquete-Kommission des Bundestages sich in ihrer »Arbeitsgruppe Opfer« (der u.a. Wilke als Sachverständiger angehörte) der Gedenkstättenidee angenommen habe und die Empfehlung beabsichtigt, eine nationale Mahn- und Dokumentationsstätte auf diesem Terrain einzurichten: »Ihre diesbezüglichen Vorschläge wurden gemeinsam mit den Empfehlungen der Enquete-Kommission am 17. Juni 1994 dem Deutschen Bundestag unterbreitet.«130 Der Sachstandsbericht der SenKult vom 15. Juli wurde in der 162. Sitzung des Senats am 16. August 1994 angenommen.131 Dies bedeutete eine offizielle – von der Regierung bestätigte – Übernahme des bis dahin bei der SenJustiz gelegenen Objektes durch die SenKult. Zehn Tage später, am 26. August 1994 legte das Wilke-Gremium einen ersten Zwischenbericht bzw. Konzeptionsentwurf vor.132 Zudem empfahl das Gremium in einem Nachtrag, der Aufbaustab möge sich auf die Zeit von Hohenschönhausen als MfS-Untersuchungshaftanstalt konzentrieren und die Erforschung der Speziallagerzeit (u.a. mit Methoden der Oral History) sei besser an einer Hochschule anzusiedeln.133 Tatsächlich wurde daher Hohenschönhausen bereits im Abschlussbericht der ersten Enquete-Kommission als Gedenkstätte von gesamtdeutscher Bedeutung empfohlen: »Zu einer Stätte des Gedenkens an die Opfer politischer Verfolgung von 1945 bis 1989, die von herausragender Bedeutung ist, sollte die frühere Zentrale Untersuchungshaftanstalt der Sowjetischen und der DDR-Geheimpolizei in Berlin-Hohenschönhausen genutzt werden.«134 Deutlich verweist das Schreiben der SenKult auf den Umstand, dass eine Berücksichtigung Hohenschönhausens im Bundeshaushalt 1995 oder 1996 dringend einer wissenschaftlichen Konzeption bzw. Empfehlung bedürfe, die konkrete Investitions- und Unterhaltskosten zu benennen habe.135 Dies stieß nach Bekanntwerden bei einzelnen Opferverbänden und Initiativen auf erhebliche Ablehnung. Sie fühlten sich »mit dem Rücken zur Wand gedrängt« und bei der Gestaltung der zukünftigen Gedenkstätte vollkommen übergangen, da ihre Vorstellungen inhaltlich kaum berücksichtigt oder sie nicht zur Anhörung bzw. zur Begehung geladen worden waren. Bereits im Vorfelde richtete daher die Anti-
130 SenKult: Mitteilung, in: SenKult: Senatvorlage Nr. 5062/94 zur Beschlussfassung vom 15.07.1994, ArLStU, 67.21 1995-2000. 131 Senatsbeschluss Nr. 5062/94 vom 16.08.1994, ArLStU, 67.21 1995-2000. Dem Abgeordnetenhaus von Berlin wurde er am 19.09.1994 zur Kenntnis gegeben, vgl. Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 12/4804 vom 19.09.1994, PA Berlin. 132 Suckut, Siegfried/Wilke, Manfred/Wolle, Stefan: Zwischenbericht vom 26.08.1994, Berlin, ArLStU, 67.21 1995-2000. 133 Schreiben des Forschungsverbundes SED-Staat Manfred Wilke an die SenKult vom 15.09.1994, SWFKB, Nr. 9. 134 Dt. BT Drs. 12/7820, S. 233. 135 SenKult: Mitteilung, in: SenKult: Senatvorlage Nr. 5062/94 zur Beschlussfassung vom 15.07.1994, ArLStU, 67.21 1995-2000.
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stalinistische Aktion (ASTAK e.V.) ein Rundschreiben an verschiedene Bürgerinitiativen und Opferverbände (u.a. BSV, HELP e.V., das Bürgerkomitee 15. Januar) mit dem Aufruf: »Unser Ziel ist, dass alle betroffenen Vereine und weitere Interessierte wenn möglich eine gemeinsame Stellungnahme zu dem vorgelegten Gutachten ausarbeiten und zusätzlich eigene Vorschläge zur Gestaltung der Gedenkstätte Hohenschönhausen beisteuern.«136 In ähnliche Richtung führte auch die Kritik des SPD Arbeitskreises.137 Hinter der Ausgrenzung der Betroffenen witterte der Arbeitskreis zudem eine Verschleppung der ganzen Angelegenheit.138 Schließlich lud die ASTAK mit seinem Rundschreiben zu einem Treffen am 18. Januar 1995 ein, bei dem die Gestaltungsvorschläge der Betroffenenverbände zu Hohenschönhausen diskutiert werden sollten. Die SenKult wurde zu diesem Treffen nicht eingeladen. Dabei hatte nun gerade sie es erwirkt, dass die zukünftige Gedenkstätte »an die Opfer politischer Verfolgung von 1945 bis 1989« aufgrund einer prädisponierten gesamtstaatlichen Bedeutung ab Herbst 1994 sogar ohne ein Expertenvotum und ohne ein abgeschlossenes sowie politisch abgestimmtes Konzept zügig in den Genuss der ersehnten Bundesbeteiligung kam. »Vom Bundesministerium des Innern haben wir zwischenzeitlich die verbindliche Zusage, dass die ehemalige U-Haftanstalt Hohenschönhausen […] in die Gedenkstättenkonzeption aufgenommen wurde und im Bundeshaushalt dafür bereits 1995 Anlaufkosten bereitgestellt sind«, berichtete die SenKult dem Berliner Senat im Oktober 1994.139 Hinzu kam, dass die SenKult immer wieder betonte, dass eine Gedenkstättenplanung die ehemaligen Opfer einbeziehen müsse und Hohenschönhausen sogar als Standort ihrer Organisationen in Betracht kam.140 Der Abschlussbericht des Wilke-Gremiums wurde am 23. Januar 1995 termingerecht bei der SenKult eingereicht.141 In weiten Teilen war der Abschlussbericht identisch mit dem im August 1994 vorgelegten Zwischenbericht. Das Gutachten richtete sich an die Adresse der Stadt Berlin und des Bundes: »Berlin als Hauptstadt und künftiger Sitz des Bundestages und der Bundesregierung steht gegenüber den Opfern des Unrechts in einer besonderen Pflicht. Gemeinsam mit allen Deutschen hat die Stadt die Aufgabe, würdige Stätten der Erinnerung, der Mahnung und des Gedenkens zu schaffen. Dies betrifft sowohl die Opfer des nationalsozialistischen als auch des SED-Regimes, denen in angemessener Form gedacht werden soll, ohne dass die Menschen-
136 137 138 139 140 141
Rundschreiben der ASTAK e.V. vom 05.01.1995, ArLStU, 67.21. Schreiben des SPD Arbeitskreises an die SenJustiz vom 24.11.1994, SWFKB, Nr. 28.1. Schreiben des SPD Arbeitskreises an den LStU Berlin vom 28.11.1994, ArLStU, 67.21. SenKult: Senatvorlage (Entwurf) vom 12.10.1994, S. 4, SWFKB, Nr. 5. Ebd. Ursprünglich war eine solche Veröffentlichung für Anfang Februar vorgesehen, vgl. Abgeordnetenhaus von Berlin: Plenarprotokoll 12/80 vom 26.01.1995, PA Berlin. Sie verschob sich aufgrund der Reaktionen der Opferverbände um sechs Wochen, vgl. o.V.: »Stasi-Gefängnis als Gedenkstätte für die Opfer des SED-Regimes«, in: Welt am Sonntag vom 05.03.1995.
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rechtsverstöße gegeneinander aufgewogen werden können, oder das eine Unrechtssystem das andere verdunkeln und in den Hintergrund treten lassen soll.«142
Des Weiteren hieß es im Konzept: »Hohenschönhausen eignet sich aufgrund seiner Geschichte besonders gut als zentrale Gedenkstätte für Justizunrecht in der früheren DDR und erfüllt die Kriterien für eine vom Bund zu fördernde Einrichtung von gesamtstaatlicher Bedeutung.«143 Erinnerungs- bzw. gedenkstättenpolitisch war das Konzept vollständig auf eine Beteiligung des Bundes ausgelegt. Die geschichtspolitische Intention des Papiers folgte inhaltlich dem antikommunistischen Grundklima der Konservativen (CDU/CSU) der ersten Enquete-Kommission, wie bei der Betrachtung der Essentials des Wilke-Gutachtens deutlich wird. Der Diktaturvergleich wurde durch die Einbettung der Gedenkstätte in den historischen Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus und durch die Empfehlung einer Einrichtung einer »Topographie der zweiten deutschen Diktatur« untermauert: »Die Fachkommission Hohenschönhausen ist beauftragt, eine Gedenkstättenkonzeption für das Gelände der ehemaligen Haftanstalt zu erarbeiten. Sie konnte dies nur leisten, indem sie die Topographie gleich zweier deutscher Diktaturen mitbedachte. Gedenkstätten, die an den Nationalsozialismus erinnern, sind in den letzten Jahrzehnten bereits im Westteil der Stadt errichtet worden, die auf die SED-Diktatur bezogenen befinden sich noch in der Planung. Diese Situation sollte auch als Chance begriffen werden, ein arbeitsteiliges Konzept der Gedenkstätten zu entwickeln […].«144
Vergleichbar mit der »Topographie des Terrors« bezüglich der NS-Zeit, empfahl das Wilke-Gremium eine »Topographie der Repression«, die auch die Forschungsund Gedenkstätte in der Normannenstraße, den ehemaligen Sitz des Ministeriums für Staatssicherheit einschließen sollte. Die SenKult sollte hierzu eine »Topographie beider Diktaturen in Berlin vorlegen und die Kooperation unter den vorhandenen Einrichtungen fördern, nicht nur um den wissenschaftlichen Diktaturenvergleich in die politische Bildungsarbeit zu übersetzen, sondern auch, um den Besuchern der Bundeshauptstadt zu demonstrieren, dass sich das vereinte Deutschland seiner Erblast aus zwei Diktaturen bewusst bleibt«.145
Die zukünftige Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen sollte zentraler Ort des Gedenkens an die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft und an Justizunrecht in Deutschland werden. Das U-Boot, die Dunkelzellen, die Freigang-Käfige, die Wachttürme, das Eingangstor, der Laufweg der Wachhunde entlang der Mauer und die Rekonstruktion von Vernehmerzimmern sollten, als Sinnbild dieser kommunistischen Gewaltherrschaft, Gedenkstättenbereich werden. »Generell sollte sich die
142 Suckut, Siegfried/Wilke, Manfred/Wolle, Stefan: Abschlussbericht vom 23.01.1995, S. 1, ArLStU, BStU 1999. 143 Ebd., S. 13. 144 Ebd., S. 3. 145 Ebd., S. 4f.
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Darstellung primär auf jene Jahre beziehen, in denen die Haftbedingungen besonders unmenschlich waren, denn gerade der Opfer jener Jahre gilt es zu gedenken.«146 Die Definition der Gedenkstätte als Denk- und Lernort lehnte sich an die Berliner Fachkommission zur Nutzung des »Gestapo-Geländes« als Gedenkstätte 1990 an: »Es muss ein Ort sein, der zum Nachdenken über Diktatur, Rassismus und Menschenverachtung anregt, der das Unfassbare der nationalsozialistischen Verbrechen bis hin zum Völkermord nicht verkleinert, aber doch Aufklärung möglich macht.«147 Diese Definition wurde eins zu eins auf Hohenschönhausen übertragen, ungeachtet der Tatsache, dass dieser Ort eigentlich ein ganz anderes Leid repräsentierte, nämlich das der politischen Verfolgung. Da Hohenschönhausen als ein Knotenpunkt aufgrund seiner Funktion als Auffang- und Durchgangslager 1945-1950 charakterisiert wurde, sollte eine enge Zusammenarbeit mit den Gedenkstätten Bautzen, Buchenwald und Sachsenhausen erfolgen. Diese Zusammenarbeit sollte ausgeweitet werden auf die Einrichtung einer internationalen Forschungs- und Begegnungsstätte »über die stalinistische Diktatur und seiner notwendigen Überwindung hin zur Demokratie«, wie es in einem separat erschienenen Fachaufsatz von Wilke heißt.148 Neben den Analogieschlüssen zu Gedenkstätten des nationalsozialistischen Unrechts, wurde auch die Notwendigkeit betont, Differenzen herauszuarbeiten, insbesondere bezüglich der unterschiedlichen historischen Zeitabschnitte (zwischen 1938 und 1990). Widersprüche und unbequeme Tatsachen sollten bei der Geschichtsvermittlung berücksichtigt werden. Hierzu sollte ein Besucher- und Dokumentationszentrum eingerichtet werden. Dieses sollte den Rundgang über das Gelände (unter Begleitung und Führung ehemaliger Insassen) ergänzen. Eine Dauerausstellung sollte allgemeine und differenzierte Informationen vermitteln, die über den Haftort hinausgehen sollten, beispielsweise über Justizunrecht in der DDR im Allgemeinen informieren. Die Übernahme der Ausstellung des Bundesinnenministeriums »Im Namen des Volkes? Über die Justiz im Staat der SED« wurde angeregt.149 Das Ungewöhnliche des Konzeptes lag darin, dass es eine enge Zusammenarbeit mit ehemaligen Häftlingen und Opferverbänden berücksichtigte. So sah das Konzept vor, Betroffenenverbänden Büroräume im Hauptgebäude oberhalb des »U-Boot«-Traktes zur Verfügung zu stellen.150 Zudem sollte die Didaktik bzw. Geschichtsvermittlung schwerpunktmäßig über einen biographischen Zugang erfolgen. Der Dialog mit ehemaligen politischen Häftlingen sollte im Vordergrund stehen, typische Opfer- und Täterbiographien dokumentiert sowie leibhaftig erfahren wer-
146 Ebd., S. 8. 147 Ebd., S. 10. 148 Wilke, Manfred: »Berlin und das Erinnern an zwei Diktaturen. Zum Aufbau der Gedenkstätte Hohenschönhausen«, in: Süß, Werner (Hg.): Hauptstadt Berlin. Metropole im Umbruch (Band 3), Berlin 1996, S. 474. 149 Suckut, Siegfried/Wilke, Manfred/Wolle, Stefan: Abschlussbericht vom 23.01.1995, S. 21f, ArLStU, BStU 1999. 150 Ebd., S. 22.
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den.151 »Die persönliche Schilderung des Erlebten macht Vergangenes am ehesten für andere nachvollziehbar und wirkt überzeugend«, argumentierte das WilkeGremium.152 Gerade aus diesem Grund plädierte das Gremium für die Einbeziehung von Betroffenen als Gruppenbetreuer in die zukünftige Gedenkstättenarbeit.153 Der subjektiven Geschichtsvermittlung wurde deutlich Vorrang gegeben gegenüber der objektiven, sachlichen und wissenschaftlichen Darstellung und Vermittlung von Geschichte. Eine Dauerausstellung sollte zwar generelle Basisinformationen zu den sowjetischen Gefangenenlagern und der Haftpraxis im politisch motivierten Strafvollzug der DDR liefern, primär jedoch sollte der Ort für Besucher aus einer Opferperspektive durch Opfernarrative erschlossen werden.154 Über die konzeptionellen Vorschläge zur Geschichtsvermittlung (opferzentrierte, personifizierte Führungen durch ehemalige Häftlinge und begleitende Dauerausstellung zur allgemeinen Kontextualisierung) empfahl das Wilke-Gremium für Betroffene und politische Repräsentanten die Einrichtung eines würdigen Ortes des Opfergedenkes. Die Errichtung eines »Denkmals für alle politischen Gefangenen in der SBZ und der DDR«, an »einer zentralen Stelle innerhalb des GedenkstättenArerals« wurde befürwortet.155 Das Denkmal sollte nicht ausschließlich den Opfern Hohenschönhausens gewidmet sein, sondern politische Verfolgung durch die »kommunistische Gewaltherrschaft« im Allgemeinen anprangern, ihrer Opfer mahnen und gedenken. Da nicht alle Bereiche des Ursprungsareals in die Gedenkstättenkonzeption einflossen, empfahl das Wilke-Papier eine sinnvolle Weiternutzung z.B. durch Jugendwerkstätten, durch Archive oder auch durch das Bezirksamt. Auch eine gewerbliche Inanspruchnahme oder gar eine Weiternutzung durch die SenJustiz als Räume des »offenen Strafvollzugs« schloss das Konzept nicht aus. Die SenJustiz, so der Wortlaut des Konzeptes: »[…] hat im Gespräch mit der Fachkommission erklärt, dass sie keinen entsprechenden Wunsch äußern wird, sich aber grundsätzlich in der Lage sähe, das eine oder andere der nicht für die Gedenkstätte benötigten Gebäude für den offenen Strafvollzug zu nutzen. Ganz ausgeschlossen ist dagegen nach Überzeugung des Beirats [Suckut, Wolle und Wilke] wie der Justizverwaltung eine weitere Verwendung von Teilen der Anlage als reguläre Haftanstalt. Gewöhnlicher Strafvollzug kann und darf in Hohenschönhausen nicht mehr stattfinden. […] Dabei wird nicht übersehen, dass aufgrund staatlich praktizierten Unrechts zugefügtes Leid nicht mit dem gleichzusetzen ist, das die Verbüßung einer Strafe verursacht, die in rechtsstaatlich einwandfreiem Verfahren verhängt und unter menschenwürdigen Bedingungen vollzogen wird.«156
151 152 153 154 155 156
Ebd., S. 10. Ebd. Ebd. Ebd., S. 24. Ebd., S. 13. Ebd., S. 23.
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Im Klartext bedeutete dieser Passus nicht die Gleichsetzung von Strafrecht und Strafvollzug der DDR mit den Realitäten der BRD, sondern eine gezielte, vergleichende Gegenüberstellung. Während die Gedenkstätte Justizunrecht der DDR thematisierte und darstellte, sollte diesem »Negativ-Bild« das »Positiv-Bild« – offener Strafvollzug der BRD am gleichen Ort – gegenüber gestellt werden. Die psychologischen Zermürbungsmaßnahmen bis 1989 unter SMAD, NKWD, MGB und MfS sollten »Resozialisierungsmaßnahmen« des bundesrepublikanischen Strafvollzugs entgegen gesetzt werden. Diese geschichtspolitische und unsensible Stoßrichtung drückte sich auch in folgendem Passus aus: »Gerade diese Behutsamkeit, das Bemühen um die Resozialisierung des einzelnen [in der BRD] demonstriert anschaulich einen wichtigen Vorzug heutiger Rechtstaatlichkeit.«157 Für das weitere Vorgehen sah die Konzeption die Gründung einer selbständigen Stiftung öffentlichen Rechts vor, die bereits als Stiftung in Gründung ab Mitte des Jahres 1995 ihre Arbeit aufnehmen sollte. Direktes Vorbild einer solchen Stiftung sollte die »Topographie des Terrors« sein. »Für die Bildung einer selbständigen öffentlichen Stiftung spräche, dass für die Gedenkstätte ›Topographie des Terrors‹ diese Organisationsform gewählt wurde und sich offenbar bewährt hat. […] Das langwierige Implementationsverfahren könnte – wie im Falle der ›Topographie des Terrors‹ – durch die Gründung einer Vororganisation so gestaltet werden, dass die Handlungsfähigkeit nicht wesentlich eingeschränkt wäre. Stiftungsrat, Arbeitsausschuss und Beirat wären in Anlehnung an die ›Topographie‹ zu bilden. Auch ihre Aufgaben ließen sich ähnlich definieren.«158
Ein Beirat sollte einberufen werden, der in der Anlaufphase »[…] speziell die Einhaltung der konzeptionellen Vorgaben, wacht«.159 Dieser Beirat sollte sieben Personen umfassen, die entsprechende museumspädagogische und wissenschaftliche Kenntnisse haben sollten. Der spätere Stiftungsbeirat sollte 14 Vertreter umfassen, insbesondere aus den Reihen der Opfer und Betroffenenverbände. Die Finanzierung wurde paritätisch durch Bund und Land empfohlen. Als Name der Stiftung sollte »Gedenkstätte für die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft in Deutschland« lauten, durchaus der antikommunistischen Tendenz der Konzeption entsprechend.160 Formal wie auch konzeptionell war die Einrichtung der »Topographie des Terrors« angelehnt. Es sollte zudem eine Gedenkstätte entstehen, die als zentrale Einrichtung das »Dach« anderer, themenverwandter Gedenkstätten bilden sollte. Eine zukünftige »Zentralisierung« des Gedenkens an Opfer der »kommunistischen Gewaltherrschaft« an diesem Ort wurde als mögliche Perspektive in Betracht gezogen. Damit sprach sich das Konzept für ein »zentrales Gedenken« – zumindest für einen späteren Zeitpunkt – aus und gegen eine breite, in die Fläche gehende und pluralistische Erinnerungslandschaft.
157 158 159 160
Ebd., S. 24. Ebd., S. 26. Ebd. Ebd.
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»Das Wissen der Betroffenen gilt es auch in Zukunft intensiv zu nutzen. Die konzeptionellen Vorstellungen der Opferverbände deckten sich weitgehend mit denen der Kommission«, lautete die Einschätzung des Wilke-Gremiums.161 Tatsächlich waren die Reaktionen gespalten. Der antikommunistische Kurs des Konzeptes wurde von den Opfern und Betroffenen grundsätzlich begrüßt. Abgelehnt hingegen wurde weiterhin die Ausgrenzung von Opfern und Betroffenen in der Konzeptionsphase und die avisierten Weiternutzungen einiger Geländeabschnitte als Gewerbegebiet, Amtssitz bzw. für den Strafvollzug. Kritisiert wurde auch die organisatorische Dimension einer solchen Großeinrichtung, die keine unmittelbare Lösung für die Opfer bzw. Betroffenen bot. Erneut wurde der Vorwurf erhoben, die SenKult nutze eine gezielte Verzögerungstaktik, um das Gedenken an die zweite deutsche Diktatur zu verhindern. Ihre Enttäuschung über den »langsamen Gang der Dinge« machte die »Berliner Konferenz«162 in einem Protestschreiben an den regierenden Bürgermeister Diepgen unmittelbar nach der Veröffentlichung des Konzeptes deutlich: »Sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister, Seit Bestehen des jetzigen Senats werden die ehemaligen politischen Häftlinge der kommunistischen Gewaltherrschaft von dem Senator für kulturelle Angelegenheiten, Roloff-Momin, brüskiert und diskreditiert. […] So hat sich dieser Senator noch nie offiziell für den Ausbau der Gedenkstätte der Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft, Hohenschönhausen, ausgesprochen. Im Gegenteil hat er den Eindruck erweckt, dass er diese Gedenkstätte verhindern, zumindest ihren Ausbau verzögern möchte. […] Wir sind bestürzt, dass es fünf Jahre nach dem Zusammenbruch der SED-Diktatur und noch dazu durch einen Senator möglich ist, dass ehemalige politische Häftlinge der NS- und der kommunistischen Diktatur brüskiert und diffamiert werden und ein solcher Senator ganz offen seine Sympathien mit der kommunistischen Gewaltherrschaft zum Ausdruck bringt. Wir bitten Sie […] um Auskunft, […] ob wir mit einem echten Engagement des Senats für die Gedenkstätte der Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft in Hohenschönhausen rechnen können.«163
Dieses Schreiben richtete sich also gezielt gegen die Person Roloff-Momin, der sich als Kultursenator parteineutral verhielt und sich damit deutlich gegen die konservative Geschichtspolitik im Umgang mit der DDR-Vergangenheit aussprach. Die Kritik der Berliner Konferenz ging schon allein deshalb fehl, war es doch gerade dieser Kultursenator, der sich wiederholt grundsätzlich für das Gedenken an die Opfer des SED-Unrechts einsetzte und in seiner Amtszeit die Berufung des Wilke-Gremiums verantwortete. Zudem setze er sich gerade im Zusammenhang mit der Umsetzung der Gedenkstättenplanung dafür ein, dass in der hierfür einzurichtenden Fachkommission auch Opferverbände vertreten sein sollten.164
161 Ebd., S. 6. 162 Die »Berliner Konferenz« bestand inzwischen aus dem KSK, der VOS, der UOKG und dem BSV. Der SPD Arbeitskreis gehörte nicht mehr dazu. 163 Schreiben von der Berliner Konferenz an den Regierenden Bürgermeister Diepgen, Berlin Frühjahr 1995, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR. 164 Abgeordnetenhaus von Berlin, Plenarprotokoll 12/80 vom 26.01.1995, PA Berlin.
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Hielt sich die Berliner Konferenz mit ihrer Kritik in Bezug auf das Konzept noch sehr allgemein und zielte sie in erster Linie auf den Senator Roloff-Momin als Person ab, bezog sich der SPD Arbeitskreis in seinem Protestschreiben an die SenKult direkt auf die Konzeption, der »[…] Abschlussbericht der Fachkommission zur Erarbeitung einer Konzeption für die Errichtung einer Gedenkstätte auf dem Gelände der ehemaligen Haftanstalt Hohenschönhausen wird von uns in der Gesamtheit abgelehnt«.165 Zwar bedankte sich der SPD-Arbeitskreis für die Arbeit des Gremiums, anders allerdings als die Berliner Konferenz kritisierte er im Einzelnen die mangelnde Berücksichtigung zahlreicher Vorschläge der Häftlingsvertretungen, den Verzicht auf den Titel »Zentrale Mahn- und Gedenkstätte«,166 die geplanten, historisch zweifelhaften Rekonstruktionen auf dem Gelände,167 die Auswahl der Besuchern zugänglichen Räumlichkeiten, die Ausgrenzung der Grabstätten der Opfer sowie – vor allem – die Nutzungsvorschläge durch das Bezirksamt, wie Jugendwerkstätten oder offenen Strafvollzug: »Wenn in dem Abschlussbericht weiterhin über einen offenen Strafvollzug gesprochen wird, so ist das unbegreiflich. […] Wer würde auf die Idee kommen, auf dem Gelände des ehemaligen KZ Buchenwald, Sachsenhausen oder Auschwitz solche Vorschläge zu unterbreiten? Wer solche Vorschläge unterbreitet, kann kaum bereit sein, eine wirkliche Mahn- und Gedenkstätte zu errichten.«168
Die ASTAK kommentierte die Nachnutzungspläne des Wilke-Gremiums mit den kappen Worten: »Das ist den ehemaligen Häftlingen nicht zuzumuten.«169 Bei der öffentlichen Anhörung am 17. Mai 1995 stellte die SenKult die Eckfeiler des Wilke-Papiers daher noch einmal grundsätzlich zur Diskussion. An die geladene Gäste richtet sie die Fragen: Sollte es eine Gedenkstätte für die »Opfer der Gewaltherrschaft« werden? Sollte es eine »Topographie beider Diktaturen« in Berlin geben? Sollte es ein Denkmal geben? Sollte Hohenschönhausen wirklich eine »Zentrale Gedenkstätte für Justizunrecht« werden? Wie sollte nun die Nutzung der nicht-musealen Bereiche aussehen?170 Die Stellungnahmen hierzu gaben wenig Aufschluss. HELP e.V. stufte die bisher geplante Einrichtung als eine »Gedenkstätte mit Regional-Niveau« ein und forderte deshalb mehr nationale
165 Schreiben vom SPD Arbeitskreis an die SenKult vom 14.02.1995, ArLStU, 67.21 19952000. 166 Ebd. 167 Z.B. wurde abgelehnt Freigang-Käfige einzurichten an Orten, an denen es in der Form keine gab oder Rekonstruktionen den Vorrang zu geben gegenüber Orten, die noch im Ursprungszustand sind. 168 Schreiben vom SPD Arbeitskreis an die SenKult vom 14.02.1995, S. 4, ArLStU, 67.21 1995-2000. 169 Jörg Drieselmann (ASTAK e.V.) z.n. o.V.: »Stasi-Gefängnis als Gedenkstätte für die Opfer des SED-Regimes«, in: Welt am Sonntag vom 05.03.1995. 170 Schreiben der SenKult an den LStU Berlin vom 18.04.1995, ArLStU, 67.21.
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Größe.171 Ein Denkmal wurde befürwortet, jedoch an einer zentraleren und eher geeigneten Stelle in der Stadt Berlin.172 Dies empfahl auch die Initiativgruppe Internierungslager Ketschendorf.173 Insgesamt war der Hilfsorganisation HELP das Papier zu wenig antikommunistisch und würde es die MfS-Zeit sogar stellenweise bagatellisieren, z.B. hinsichtlich der Anwendung von Folter.174 Zwar lobte HELP insbesondere die Kapitel I und V des Abschlussberichtes, dennoch lautete das Urteil, die geplante Einrichtung müsse erheblich »opfergünstiger« werden. 175 Die Initiativgruppe Ketschendorf wiederum hielt die geplante Gedenkstätte für geeignet genug, den »stalinistischen Terror auf deutschem Boden« als »[…] schlimmsten Abschnitt der deutschen Nachkriegsgeschichte ins Bewusstsein zu bringen […].«176 Der SPD Arbeitskreis, der KSK, der BSV sowie der Verein Recht§druck und einzelne geladene ehemalige Häftlinge legten keine Stellungnahmen vor, sondern brachten ihre Bedenken bei der Anhörung persönlich vor.177 Es ist anzunehmen, dass sie ihre bereits kurz nach der Veröffentlichung vorgebrachte Kritik dort wiederholten.178 Als Ergebnis der Anhörung legte die SenKult verschiedene Maßnahmen fest. So ordnete der Senator persönlich an, bei der Eingangsfront außen solle eine kleinere und im Inneren des Geländes solle eine größere Informationstafel mit »historisch unbestrittenen Fakten« als Besucherinformation angebracht werden.179 Zweitens entschied sich die SenKult für das Errichten einer unselbständigen Stiftung öffentlichen Rechts (ähnlich der »Topographie des Terrors«) in Bundes- und Landesträgerschaft. Drittens lehnte sie die Vorschläge des KSK, d.h. die kleine Denkmalanlage mit »U-Boot« ab und entschied sich für das Schaffen einer großen Zentralen Gedenkstätte im Sinne des überwiegenden Teils der Opfervertreter.180 In einem gemeinsamen Antrag der CDU- und der SPD-Fraktion des Abgeordnetenhauses von Berlin forderte das Parlament den Senat parallel dazu auf, die Errichtung der Gedenkstätte in Hohenschönhausen zügig abzuschließen. Hierzu
171 HELP e.V.: Stellungnahme zum Abschlussbericht vom 18.04.1995, S. 2, ArLStU, 67.21 1995-2000. 172 Ebd., S. 3. 173 Initiativgruppe Internierungslager Ketschendorf e.V.: Stellungnahme vom 20.04.1995, S. 2, ArLStU, 67.21 1995-2000. 174 HELP e.V.: Stellungnahme zum Abschlussbericht vom 18.04.1995, S. 4, ArLStU, 67.21 1995-2000. 175 Ebd., S. 5. 176 Initiativgruppe Internierungslager Ketschendorf e.V.: Stellungnahme vom 20.04.1995, S. 1, ArLStU, 67.21 1995-2000. 177 SenKult: Tagesordnung zur Anhörung Hohenschönhausen vom 17.05.1995, ArLStU, 67.21. 178 Ein Protokoll zur öffentlichen Anhörung, dem solches zu entnehmen wäre, wurde leider nicht gefunden. 179 SenKult: Vermerk vom 29.06.1995, SWFKB, Konzeption 1994-1996, handschriftliche Notiz. 180 Ebd.
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sollten die notwenigen Instandsetzungsmaßnahmen durchgeführt, die Beschilderung angebracht und eine angemessene Nutzung des Restareals gefunden werden.181 Ein Hindernis stellte vorübergehend nur noch die Eigentumszuordnung des Geländes dar. So war das Gelände von der Oberfinanzdirektion Berlin aufgrund der Rückübertragungsansprüche der Heike-Fabrik-Erben 182 nie der SenJustiz oder der SenKult übertragen worden. Solange die SenKult das Gelände nicht besaß, konnte es auch alle in diesem Zusammenhang anstehenden Aufgaben nicht wahrnehmen.183 Erst am 17. Juli 1995 willigte das Bezirksamt Hohenschönhausen einer kurzfristigen Übertragung der Liegenschaft an die SenKult zu.184 Das Gelände wurde ohne Umschweife am 28. September 1995 offiziell von der Oberfinanzdirektion Berlin an die SenKult abgegeben.185 Dies war leider nicht mehr rechtzeitig genug, um im Rahmen der Feierlichkeiten zum 03. Oktober 1995 die geplante Gedenktafel anbringen zu können. Zur Enthüllung kam es daher erst zwei Tage später, also am 05. Oktober 1995.186 Trotz dieser Verzögerung fand die Enthüllung der Tafel breite Zustimmung und wurde sie vor allem von den Opferverbänden begrüßt.187 Die mit den Opfervertretern abgestimmte Inschrift lautete: »Auf diesem Gelände befand sich von 1950 bis 1990 die – Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen – des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR – hervorgegangen aus einem Speziallager (1945 bis 1946) – und der Zentralen Untersuchungshaftanstalt (bis 1950) – der sowjetischen Besatzungsmacht – Als Ort des Leidens und Sterbens verfolgter Menschen ist
181 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 12/5743 vom 21.06.1995, PA Berlin; Abgeordnetenhaus von Berlin, Plenarprotokoll 12/87 vom 22.06.1995, S. 7549, PA Berlin. 182 Die Rückübertragung wurde erst am 30.04.1996 vom Amt zur Regelung offener Vermögensfragen abgelehnt. Hauptgrund hierfür war vor allem die Rechtmäßigkeit der Veräußerung des Grundstückes an die NS Volkswohlfahrt durch den Eigentümer Richard Heike, wie sich im Laufe des Verfahrens herauskristallisiert hatte. Zudem mangelte es an Belegen über die Erbfolgerichtigkeit, vgl. Schreiben des Amtes zur Regelung offener Vermögensfragen Hellersdorf-Hohenschönhausen-Marzahn an die SenKult vom 30.04.1996, SWFKB, Bestand: »U-Boot«, Grundstücksangelegenheiten, Nr. 13 [Nr. 13]. 183 Schreiben der SenJustiz an die SenKult vom 06.07.1995, SWFKB, Nr. 5. 184 Schreiben des Bezirksamtes Hohenschönhausen an die SenFin vom 17.07.1995, SWFKB, Nr. 13. 185 Schreiben der SenFin an die SenKult vom 28.09.1995, SWFKB, Nr. 13; Protokoll über die 1. Sitzung des Arbeitsausschusses Hohenschönhausen vom 01.12.1995, S. 1, ArLStU, 67.21 1995-2000. Die Übertragung erfolgte rückwirkend zum 01.09.1995, vgl. Schreiben der SenKult an das BMI vom 15.10.1995, S. 2, SWFKB, Bestand: Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Haushalt 1995, 1996, 1997, Nr. 8.2 [Nr. 8.2]. 186 Ulrich Roloff-Momin: Rede anlässlich der Enthüllung einer Gedenktafel vom 05.10.1995, SWFKB, Nr. 14. 187 Schreiben der SenKult an das Bezirksamt Hohenschönhausen vom 08.09.1995, SWFKB, Bestand: Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Nr. 14 [Nr. 14].
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die – Gedenkstätte Hohenschönhausen – ein Zeugnis und Mahnmal gegen politische Unterdrückung.«188
Zumindest dem Namen nach gab es die Gedenkstätte nun auch offiziell. Kultursenator Roloff-Momin kommentierte diesen symbolischen Akt mit den Worten: »Mit der Anbringung der Berliner Gedenktafel hier am Tor der Haftanstalt wird nicht nur eine konkrete Forderung […] und ein Wunsch der Insassen erfüllt. Diese Gedenktafel ist zugleich ein Türschild der hiermit nun rechtlich der Kulturverwaltung zugeordneten Gedenkstätte, die damit auch als solche ausgewiesen wird. […] Bis wir die Gedenkstätte so ausgestaltet haben […] wird noch einige Zeit ins Land gehen. Ich sehe dies als einen heute beginnenden Prozess an, der […] zu einer Gedenk- wie auch Begegnungsstätte führen wird […].Hohenschönhausen wird der zentrale Ort des Gedenkens an die Opfer und an die Täter des Unrechts sein, das in der Vergangenheit hier von der sowjetischen Besatzungsmacht wie auch von ihren SED-Nachfolgern praktiziert wurde. [Herv. i.O.]«189
Zwei weitere Tafeln im Innenhof des Geländes informierten fortan Besucher über die wechselvolle Geschichte der Untersuchungshaftanstalt.190 Des Weiteren leitete Roloff-Momin Schritte in Richtung Stiftungsgründung ein, hierzu gehörten auch personelle bzw. strukturelle Erwägungen191 sowie finanzielle Verhandlungen.192 Im Ergeb-
188 Ebd., S. 2. 189 Ulrich Roloff-Momin: Rede anlässlich der Enthüllung einer Gedenktafel vom 05.10.1995, S. 2, 4, SWFKB, Nr. 14. 190 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 12/6077 vom 26.10.1995, PA Berlin. 191 SenKult: Vermerk vom 29.06.1995, S. 2, SWFKB, Konzeption 1994-1996; SenKult: Stellenausschreibung Entwurf, o.D., SWFKB, Konzeption 1994-1996. Obwohl ABS Brücke sich stark für eine weitere Beauftragung einsetzte, vgl. Schreiben der ABS Brücke an die SenKult vom 26.09.1995, SWFKB, Nr. 28.1, bat die SenKult vorläufig die Berliner Festspiele GmbH um die Bewirtschaftung des vorläufigen Gedenkstättenbetriebes, vgl. Schreiben der SenKult an das BMI vom 15.10.1995, S. 4, SWFKB, Nr. 8.2; Geschäftsordnungsvertrag zwischen SenKult und Berliner Festspiele GmbH vom 7./19.12.1995, SWFKB, Nr. 8.2. Die Aufgaben der ABS Brücke wurden auf Führungen beschränkt, vgl. Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Protokoll über die 5. Sitzung des Arbeitsausschusses vom 29.04.1996, S. 3, StAufarb, Bestand: Gedenkstätte Hohenschönhausen, Veranstaltungen, Presse, Infomaterial (Geschäftsablage o. Sign.) [HSH Veranst.]. Zu Problemen unterschiedlicher Anbindungen an verschiedene Trägerorganisationen s.a. SenKult: Vermerk vom 23.10.1995, SWFKB, Nr. 8.2; Offener Brief der Konferenz der Verbände ehemaliger politischer Häftlinge in Berlin vom 29.11.1995, ArLStU, 67.21 Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen [67.21]; Schreiben der Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen an die SenKult vom 08.05.1996, Konzeption 1994-1996. 192 Ebd., S. 1. Darin beantragte die SenKult beim BMI die Teilübernahme der Vorlaufkosten i.H.v. 145.595 DM für 1995 sowie 314.830 DM für 1996. Bis Oktober 1995 wurden bereits 90.000 DM vom Bund abgerufen, vgl. Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 12/6077 vom 26.10.1995, PA Berlin.
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nis schufen das Wilke-Papier und damit einhergehende frühzeitige Aufnahme in die Liste der Bundesgedenkstättenbeteiligungen also Voraussetzungen zur Einrichtung einer Gedenkstätten Hohenschönhausen als Stiftung in Gründung zum Jahresende 1995. Das BMI stellte dafür sogar 107.545 DM, das Land Berlin 145.232 DM für 1995 bereit,193 für 1996 wurden von Bonn und Berlin jeweils 140.000 DM in Aussicht gestellt. 194
4.4 D IE G EDENKSTÄTTE B ERLIN -H OHENSCHÖNHAUSEN 1996-1997 Im Anschluss an diese kurz- bis mittelfristige Planungssicherheit wurde zum 01. Dezember 1995 von der SenKult – wie im Wilke-Papier empfohlen – ein Arbeitsausschuss eingesetzt, der die Grundkonzeption umsetzen und Detailplanungen vornehmen sollte. Gegründet wurde das Einsetzen damit, dass »[…] die Bereitschaft der einzelnen Verbände und Opferorganisationen über die die Vielzahl […] unterbreiteten Vorschläge miteinander ins Gespräch zu kommen […], kaum vorhanden war. Als Fazit dessen haben wir beschlossen […] ein arbeitsfähiges Gremium zu schaffen, das die vorliegenden konzeptionellen Gedanken weiterentwickeln, Schwerpunkte zur stufenweise Errichtung der Zentralen Mahn- und Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen erarbeiten und deren künftige Aufgabenstellung definieren soll«.195
Mit dem Berufen des Arbeitsausschusses nahm die institutionalisierte Arbeit der Gedenkstätte ihren Anfang.196 Dem Arbeitsausschuss gehörte an zehn Vertreter der Opferverbände, des Bundes und der Wissenschaft sowie vier Vertreter der SenKult. Ausschussmitglieder waren weiterhin Manfred Wilke (inzwischen Sachverständiger der zweiten EnqueteKommission des Deutschen Bundestages), Stefan Wolle (Humboldt-Universität Berlin) und Siegfried Suckut (BStU). Vertreter der Opferverbände waren Gerhard Finn (UOKG) und Günther Toepfer (MdA Berlin), als Vertreter der Bürgerbewegten Petra Morawe und Martin Gutzeit (LStU, Sachverständiger der zweiten Enquete-Kommission), der auch die Interessen der Opferverbände vertreten sollte. Aus dem wissenschaftlichen und Gedenkstätten-Bereich wurde Günter Morsch (Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen), Hermann Weber (Universität Mannheim) und Gabriele Camphausen (Deutsch-Russisches Museum Karlshorst) berufen. Die SenKult wurde
193 Schreiben des BMI an die SenKult vom 22.11.1995, SWFKB, Nr. 8.2; SenKult: Vermerk vom 11.12.1995, SWFKB, Nr. 8.2. 194 Rössling, Ingo: »So wird das Stasi-Gefängnis zum Mahnmal. Gedenkstätten-Leiterin in ihr Amt eingeführt«, in: Berliner Morgenpost vom 07.12.1995; Dt. BT Drs. 13/4766 vom 29.05.1996, S. 1, ArLStU, 67.21. 195 Schreiben der SenKult an den LStU Berlin vom 15.11.1995, ArLStU, 67.21. 196 Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen (Hg.): 1. Tätigkeitsbericht, Berlin 2002, S. 9.
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hochkarätig repräsentiert: Senator Roloff-Momin, Referatsleiter Rainer K., MarieLuise W. und Dagmar St. wurden in den Arbeitsausschuss entsandt. Der traf sich erstmals am 01. Dezember 1995. Gerhard Finn wurde von Roloff-Momin zum Vorsitzenden vorgeschlagen und vom Ausschuss bestätigt. Frau Camphausen wurde als wissenschaftliche Leiterin der Stiftung in Gründung benannt.197 Die Benennung von Gabriele Camphausen war bei den Opferverbänden nicht unumstritten. Als gebürtige Bonnerin wurde sie aufgrund ihrer biographischen Herkunft als »ungeeignet« beurteilt. Sie habe keinen Zugang zu der besonderen Ostproblematik »Stasi-Knast« und wäre damit als Leiterin fehlbesetzt, lautete das Urteil.198 Camphausen hatte, gemäß den Vorstellungen des Wilke-Gremiums, einschlägige Erfahrungen durch eine zweijährige Arbeit bei der »Topographie des Terrors« und ihre exponierte Mitarbeit beim Aufbau des Museums »Deutsch-Russisches-Museum Karlshorst« ab 1992. Ihre Qualifikationen prädestinierten sie darüber hinaus. Sie hatte über Russlandforschung zur NS-Zeit promoviert und sprach fließend Englisch, Russisch und Französisch. Dennoch blieben Vorbehalte von Seiten der Häftlingsvertretungen. Ungeachtet dessen nahm der Arbeitsausschuss zügig seine Arbeit auf. Bereits in der zweiten Sitzung berichtete die SenKult, dass eine Gründung einer unselbständigen Stiftung mit Ablauf des Jahres zum 01. Januar 1997 avisiert sei, das BMI hierfür zunächst 750.000 DM für 1997 in Aussicht stelle.199 Diese Mittel sollten als Projektmittel dazu dienen, das Gedenkstättengelände Instand zu setzen und die Stiftung in Gründung insgesamt auf eine institutionelle Förderung durch den Bund vorzubereiten.200 Doch bereits kurz nach dieser Offenbarung wurde diese anfangs optimistische Perspektive durch eine drastische Haushaltskürzung für 1997 durch das BMI getrübt. Eine Kürzung der 750.000 DM auf 300.000 DM wurde für 1997 aufgrund der angespannten Haushaltslage, aber vor allem auch wegen des noch fehlenden konkreteren Konzeptes (Organisations- und Stellenentwicklungsplan, Raumund Nutzungsplan, Bauplanung usw.) vorgenommen. Das BMI entschied zudem, diese gekürzten Mittel als vorübergehende Projektförderung für das Projekt »Errichtung einer Gedenkstätte« auszugeben. Eine institutionelle Förderung nehme der Bund erst auf, wenn zuvor haushaltsmäßige und konzeptionelle Voraussetzungen geschaffen worden seien, kündigte das BMI darüber hinaus an.201 Da im März noch derartige Unterlagen fehlten, konnte in der Tat nur der geringere Betrag als Projekt-
197 SenKult: Pressemitteilung vom 01.12.1995, ArLStU, 67.21. 198 O.V.: »Geschichte aufarbeiten«, in: Berliner Morgenpost vom 07.12.1995. 199 Protokoll über die 2. Sitzung des Arbeitsausschusses Hohenschönhausen vom 22.01.1996, S. 1, ArLStU, 67.21 1995-2000. Die SenKult meldete daraufhin weitere 767.330 DM für den Haushalt 1997 an, vgl. SenKult: Anmeldung zum HaushaltsplanEntwurf vom 29.01.1996, SWFKB, Bestand: Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Haushalt 1997/1998 [Haushalt 1997-1998]. 200 SenKult: Vermerk vom 25.01.1996, SWFKB, Nr. 13. 201 Schreiben des BMI an die SenKult vom 31.01.1995, SWFKB, Nr. 8.2.
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förderung bewilligt werden.202 Ab Februar 1996 nahm daraufhin der Nachfolger von Roloff-Momin und neu amtierende Berliner Kultursenator Peter Radunski (CDU) die Verhandlungen zum Nachtragshaushalt auf.203 Des Weiteren einigte sich der Arbeitsausschuss über den Umfang der Gedenkstätte. Der Ausschuss lehnte eine »kleine« Gedenkstättenlösung, wie es u.a. der Schumacher-Kreis forderte, ab und sprach sich für die »große« Lösung aus (u.a. getragen vom Arbeitskreis der SPD).204 Für die Fragen der inhaltlichen Gestaltung der Dokumentation einigte sich der Ausschuss über eine enge Zusammenarbeit mit dem BStU und der Gedenkstätte Sachsenhausen.205 Die Zusammenarbeit des Ausschusses mit weiteren Vertretern der Opferverbände wurde als »wenig effektiv« abgelehnt und stattdessen die Option anheim gestellt, im Anschluss an die Ausschussarbeit eine öffentliche Anhörung zu veranstalten, vergleichbar mit dem Wilke-Vorgehen. Dem Wilke-Vorschlag, Opferverbänden im Haupthaus Büroräumlichkeiten zur Verfügung zu stellen, wurde abgelehnt. Eine schriftliche Anfrage des »Bürgerkomitee 15. Januar« wurde zurückgewiesen.206 Gleichzeitig sollte die Berliner Regierung über die alarmierende Situation der Initiativen informiert werden.207 Dies erfolgte in Form eines Bittgesuches des Arbeitsausschusses direkt an den Regierenden Bürgermeister. Darin wurde appelliert: »Nur wenige Jahre nach Ende der DDR sehen sich zahlreiche Initiativen, Forschungseinrichtungen und Opferverbände, deren Arbeit für die Auseinandersetzung mit der DDRGeschichte unabdingbar ist, aus finanziellen Gründen vor das Aus gestellt. […] Ein ganzer Bereich der Erforschung und Auseinandersetzung ist bedroht. […] Wir möchten Sie daher bei der Suche nach einer gesellschaftspolitisch verträglichen Lösung für das aufgezeigte Problem um Unterstützung bitten.«208
Ein Gedenkstein sollte im Rosenhof des Geländes aufgestellt werden. Toepfer bot sich an hierfür einen kostenlosen Findling zu beschaffen. Sein Vorschlag wurde –
202 Am 12.03.1996 wurden 277.900 DM vom BMI bewilligt, vgl. Schreiben des BMI an die SenKult vom 12.03.1996, Nr. 8.2; Dt. BT Drs. 13/4766 vom 29.05.1996, S. 3, ArLStU, 67.21. Am 24.06.1996 wurden nochmals 13.650 DM bewilligt für Führungen durch Fachstudenten, vgl. Schreiben des BMI an die SenKult vom 24.06.1996, SWFKB, Nr. 8.2. 203 Schreiben der SenKult Senator Peter Radunski an den SPD Arbeitskreis vom 29.03.1996, ArLStU, 67.21. 204 Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Protokoll über die 2. Sitzung des Arbeitsausschusses Hohenschönhausen vom 22.01.1996, S. 2, ArLStU, 67.21 1995-2000. 205 Ebd., S. 4. 206 Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Protokoll über die 5. Sitzung des Arbeitsausschusses Hohenschönhausen vom 29.04.1996, S. 4, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR. 207 Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Protokoll über die 2. Sitzung des Arbeitsausschusses Hohenschönhausen vom 22.01.1996, S. 4, ArLStU, 67.21 1995-2000. 208 Schreiben der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen an den Regierenden Bürgermeister Berlin vom 07.05.1996, SWFKB, Konzeption 1994-1996.
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nach kontrovers geführter Diskussion – angenommen.209 Die von Wilke vorgeschlagene Inschrift »Den Opfern der kommunistischen Gewaltherrschaft« wurde allerdings auf eine weniger antikommunistische Variante zurückgeschraubt. Der Ausschuss ersetzte die Wilke-Inschrift durch den allgemein gefassten Wortlaut »Den Opfern politischer Verfolgung 1945-1989«. Eine Einweihung wurde für den 16. Juni 1996 festgelegt.210 Zudem erarbeite der Ausschuss eine Gesetzesvorlage für die Stiftungsgründung in direkter Anlehnung an das Gesetz über die Errichtung der Stiftung »Topographie des Terrors - Internationales Dokumentations- und Begegnungszentrum Berlin« vom 27. März 1995.211 Diese Gesetzesvorlage stellte die Jahre 1950-1989 ins Zentrum des Stiftungszwecks: »Im Mittelpunkt haben die Jahre 1950-1989 zu stehen, in denen Hohenschönhausen die zentrale Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR war.«212 Dieser Abschnitt sollte später in das Stiftungsgesetz vom 21. Juni 2001 nicht übernommen werden. Die vom WilkeGremium als begleitende Einrichtung verstandene Ausstellungs- und Forschungstätigkeit wurde in dem Gesetzesentwurf gestärkt, das Gesetz sah als Stiftungszweck vorrangig vor, in »[….] der Gedenkstätte, die zugleich die Funktion eines Dokumentations- und Begegnungszentrums hat, die Geschichte der Haftanstalt […] zu erforschen«.213 Die Vorrangigkeit der Zeitzeugenarbeit wurde so durch eine Aufwertung der Forschungs- und Dokumentationstätigkeit eingeebnet. Schließlich legte der Arbeitausschuss ein Nutzungs- und Raumkonzept der zukünftigen Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen vor, das auf Seiten der Betroffenenverbände auf umfassende Ablehnung stieß. Diese Ablehnung der Pläne des Arbeitsausschusses begann bereits während der Sitzungszeit des Ausschusses und fand ihren vorläufigen Höhepunkt in einer öffentlichen Anhörung des Konzeptes im September 1996. Die Kritik von Seiten der Betroffenenverbände richtete sich dabei sowohl gegen den Ausschuss (u.a. vorgebracht durch den KSK) als auch gegen einzelne Aspekte der zukünftigen Gedenkstättenarbeit. Auf diese sich entfachende Debatte wird im Folgenden eingegangen. Bereits im Mai 1996 richtete sich die Berliner Konferenz in einem Schreiben an den neuen Kultursenator Radunski, der im Februar sein Amt als Nachfolger von
209 Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Protokoll über die 3. Sitzung des Arbeitsausschusses Hohenschönhausen vom 04.03.1996, ArLStU, 67.21. 210 Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Protokoll über die 5. Sitzung des Arbeitsausschusses Hohenschönhausen vom 29.04.1996, S. 4, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR. 211 Gesetz über die Errichtung der Stiftung »Topographie des Terrors – Internationales Dokumentations- und Begegnungszentrum Berlin« vom 27.03.1995, Ges. Nr. 95/82/4 A, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR. 212 Gesetz zur Errichtung einer Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen (überarbeiteter Entwurf), Unterlagen zur 5. Sitzung vom 29.04.1996 des Arbeitsausschusses Hohenschönhausen, S. 1, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR. 213 Gesetz über die Errichtung der Stiftung »Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen« vom 21.06.2001, in: Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen (Hg.): 1. Tätigkeitsbericht, Berlin 2002, S. 52.
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Roloff-Momin angetreten war. Dieses Schreiben kritisierte erneut die »Verschleppungspolitik« von Roloff-Momin und die Ausgrenzung der Häftlingsvertreter in der Konzeptionsphase: »Obwohl die Idee für die Gedenkstätte ausschließlich aus Kreisen politischer Häftlinge […] stammt und es ehemalige politische Häftlinge waren, die in Hohenschönhausen inhaftiert waren, die die Idee der Errichtung der Gedenkstätte ab 1990 getragen und gefördert haben, wurden die […] Vertreter der Häftlingsverbände von Ihrem Vorgänger […] bewusst von allen Entscheidungsprozessen und Entscheidungsgremien ausgegrenzt. […] Wir werden zwar gebraucht, um unser Wissen und unsere Kenntnisse […] zur Verfügung zu stellen, aber in dem vom Senator Roloff-Momin einberufenen Gremium über die Gedenkstätte dürfen wir nicht mitwirken. […] Nach unserer Auffassung hat der ehemalige Senator […] bis auf Einsetzung von Kommissionen und ein bis zwei Veranstaltungen, die als Alibifunktion dienten, nichts getan, um die Realisierung des Projektes voranzubringen.«214
Die »linke Gesinnung« des Ausschusses wurde als Grund für die »Verschleppungspolitik« benannt. Als Alternative schlug die Konferenz eine vollständige Neuzusammensetzung des Gremiums vor, die dann maßgeblich aus Vertretern der Opferverbände zu bestehen habe.215 Des Weiteren sollte – gemäß der Berliner Konferenz – für die Gedenkstätte eine »kleine realisierbare Lösung« angestrebt werden, die auch eine Weiternutzung für den Strafvollzug ermöglichte. Der Zustand der Gedenkstätte würde von diesem neuen Gremium – im Sinne der knappen Berliner Haushaltslage – bescheiden, jedoch würdevoll wieder hergerichtet werden.216 Unterzeichnet wurde dieses Schreiben vom KSK stellvertretend für den BSV, die VOS, HELP e.V., den Arbeitskreis ehemaliger politischer Häftlinge der CDU (CDU Arbeitskreis) sowie der Vereinigung ehemaliger politischer Häftlinge im Bund Freiheit der Wissenschaft. Auch der SPD Arbeitskreis ehemaliger politischer Häftlinge brachte im Vorwege der öffentlichen Präsentation des Raum- und Nutzungskonzeptes seine Kritik gegenüber der Arbeit des Arbeitsausschusses zum Ausdruck. Auch er kritisierte eine Ausgrenzung der Zeitzeugen und ehemaligen Häftlinge: »Ich ging davon aus, dass Sie [Frau Camphausen,] mit den Häftlingsverbänden, aber besonders mit den Zeitzeugen von Hohenschönhausen, so weiter arbeiten werden, wie es in den frühen Jahren die Senatverwaltungen für Justiz und Kultur bzw. die Bezirksverwaltung für selbstverständlich hielten […] In meinen Zeitungsveröffentlichungen habe ich in den früheren Jahren die gute Zusammenarbeit mit der Verwaltung gelobt. Das ist mir zurzeit nicht möglich.«217
214 Schreiben der Berliner Konferenz an SenKult Senator Radunski vom 06.05.1996, S. 1, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR. 215 Ebd. 216 Ebd., S. 2. 217 Schreiben des SPD Arbeitskreises an die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen vom 19.05.1995, S. 1, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR.
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Der Arbeitausschuss sei zwar mit Vertretern von Opferverbänden besetzt, diese seien jedoch nicht Zeitzeugen von Hohenschönhausen, warf er dem Arbeitsausschuss vor. »Wir lassen uns […] von einigen Vertretern der Opferverbände oder Einzelpersonen, die kaum einen Häftlingsverband vertreten, nicht bevormunden«, richtete sich seine Kritik an Gerhard Finn und Günther Töpfer.218 Der SPD Arbeitskreis bot, um diesen Missstand auszuräumen, daraufhin wiederholt seine weitere Mitarbeit an: »Dass man aber in Hohenschönhausen nicht ohne oder gegen Zeitzeugen arbeiten kann, haben Sie beim Forum [des LStU] erfahren. Deshalb biete ich Ihnen erneut meine Mitarbeit an.«219 Ein weiterer, schwerwiegender Kritikpunkt des SPD Arbeitskreises war der Verzicht auf die Benennung »Zentrale Mahn- und Gedenkstätte«: »Sie [Frau Camphausen] betonen, Bonn wünscht, dass es nicht Mahn- und Gedenkstätte für die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft heißt. Hierzu möchte ich gern erfahren, wer wünscht das in Bonn?«220 Der SPD Arbeitskreis bezog sich bei seinem Vorwurf auf einen Senatsbeschluss vom 18. Januar 1994, der eine »zentrale Mahn- und Gedenkstätte für die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft« empfahl. »Obwohl kein neuer Senatsbeschluss vorliegt, wurde vor wenigen Monaten aus der ›Zentralen Mahn- und Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen‹ eine ›Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen‹. Diese Veränderung wurde […] von mehreren Vertretern der Opferverbände kritisiert, aber es erfolgte keine Änderung.«221 Camphausen antwortete dem SPD Arbeitskreis: »Dieser Name wurde unter anderem in Bonn bevorzugt, da 1. der Titel ›Mahn- und Gedenkstätte‹ der DDR-Terminologie entspringt, und 2. die Besucher aus heutigem politischen Verständnis mündige Bürger sind, die selbständig denken und beurteilen sollen, ohne dass man ihnen eine Mahnung ausspricht. Man geht davon aus, dass hier geschehene Dinge, die zu dokumentieren sind, für sich sprechen, dass man also nicht zusätzlich (er)mahnen braucht.«222
In ähnliche Richtung wies auch die Reaktion der SenKult. So reagierte die SenKult auf die Beschwerde des SPD Arbeitskreises: »Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen will sich bewusst von dieser DDR-Tradition des aufoktroyierten Mahnens und Erinnerns distanzieren […].«223 Schließlich bestätigte das BMI selbst, dass es angeregt hatte auf den Begriff »Nationale Mahn- und Gedenkstätte« zugunsten
218 Schreiben des SPD Arbeitskreises an den LStU Berlin vom 20.07.1996, S. 1, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR. 219 Schreiben des SPD Arbeitskreises an die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen vom 19.05.1996, S. 2, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR. 220 Ebd., S. 1. 221 Schreiben des SPD Arbeitskreises an die SenKult vom 20.07.1996, S. 2, ArLStU, 67.21 1995-2000. 222 Schreiben der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen an den SPD Arbeitskreis vom 09.04.1996, S. 2, ArLStU, 67.21. 223 Schreiben der SenKult an den SPD Arbeitskreis vom 30.08.1996, S. 2, ArLStU, 67.21.
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einer nicht mit dem ehemaligen DDR-Antifaschismus behafteten Bezeichnung zu verzichten, und auch den Zusatz »Zentrale Gedenkstätte« zu vermeiden, kollidierte sie doch ansonsten mit der bereits bestehenden »Zentralen Gedenkstätte des Bundes für alle Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft« in der »Neuen Wache« in Berlin.224 Die ehemaligen Opfer hingegen bevorzugten den Terminus »Zentrale Mahn- und Gedenkstätte«, um den Charakter der Gedenkstätte als Knotenpunkt und ehemalige Zentrale der Untersuchungshaftanstalt zu untermauern. Die »zentrale Funktion« innerhalb des MfS-Justizapparates sollte sich also – historisch begründet – im Titel der Einrichtung wiederfinden. Durch den von ihnen eingeforderten Appendix »für die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft« oder »für die Opfer des Stalinismus« jedoch, wollten sie nicht nur erreichen, dass die Opfer und Täter klar benannt werden, sondern drückten sie damit auch ihre politische Haltung aus, die überwiegend einer antistalinistisch bzw. antikommunistisch, also geschichtspolitisch konservativ war.225 Mit dem neuen Titel befürchteten sie eine »Verniedlichung« dieses Repressionscharakters. Dem Ausschuss und Bonn ging es zu diesem Zeitpunkt hingegen um eine (auch) terminologische, deutliche Abgrenzung gegenüber dem DDR-Gedenken. Diese Parallele zogen die Zeitzeugen bei ihrer Kritik an dem Verzicht auf den Namen »Zentrale Mahn- und Gedenkstätte« nicht. Für sie bedeutete dieser Verzicht zugunsten einer BRD-Terminologie eine Geringschätzung dieses Ortes ihrer Leiden. Der SPDArbeitskreis forderte daher eine Rückbenennung der Gedenkstätte: »Die sozialdemokratischen ehemaligen politischen Häftlinge erwarten eine unverzügliche Rückbenennung, die Einhaltung der Senatsbeschlüsse, weil der Name: ›Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen‹ keine Aussagekraft hat.«226 Der gleiche Disput zwischen dem geschichtspolischen Wollen von Politik/ Verwaltung/ Fachkundigen und den Zeitzeugen entfachte sich an der Beschriftung des Gedenksteines. Hatte das Wilke-Papier noch die Beschriftung »Gedenken an die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft 1945-1989« nahe gelegt und hatten die Häftlinge den Vorschlag »Den Verfolgten kommunistischer Gewaltherrschaft in Deutschland 1945-1989« erarbeitet und vorgeschlagen, einigte sich der Arbeitsausschuss – ohne die Opferverbände einzubeziehen – auf die allgemeiner gefasste, antiantikommunistische Version »Den Opfern politischer Verfolgung 1945-1989«. Diese Variante wurde von den Opfervertretern und ehemaligen Häftlingen schon allein deswegen abgelehnt, weil sie am Entscheidungsprozess nicht beteiligt wurden. Aber auch inhaltlich fand diese Inschrift keinen Anklang, zum einen weil sie nur ihren eigenen Vorschlag verwirklicht sehen wollten, zum anderen war ihnen diese Version politisch nicht eindeutig genug und zu wenig kommunismuskritisch.227
224 Schreiben des BMI an den MdB Rolf Schwanitz vom 20.11.1996, ArLStU, 67.21 19952000. 225 Schreiben des SPD Arbeitskreises an den LStU Berlin vom 24.04.1996, ArLStU, Bestand: Arbeitskreis ehemaliger politischer Häftlinge in der SPD [Arbeitskreis]. 226 Schreiben des SPD Arbeitskreises an die SenKult vom 20.07.1996, S. 2, ArLStU, 67.21 1995-2000. 227 Ebd., S. 3.
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Auf die Kritik an der fehlenden Einbeziehung der Opferverbände reagierte der Arbeitsausschuss sofort. Am 07. Juni 1996 traf sich die wissenschaftliche Leiterin Camphausen mit den Opfervertretern und räumte Versäumnisse ein. Die für den 16. Juni geplante Einweihung des Gedenksteins wurde verschoben und eine Aussprache über die Inschrift im Rahmen des nächsten LStU-Forums am 25. Juni angeboten.228 Daneben kündigte Camphausen eine öffentliche Anhörung zu den Arbeitsergebnissen des Arbeitsauschusses an. Sie sollte am 06. September unter Beteiligung des Kultursenators stattfinden und den Opfervertretern ein Podium für Kritik und Anregungen bieten.229 Initiiert vom KSK und aufbauend auf sein Schreiben im Mai 1996 kam es am 25. Juni 1996 anlässlich des Forums des LStU Berlin zwischen Arbeitsausschuss und einzelnen Opfervertretern jedoch zu keiner Einigung, sondern veröffentlichten letztere schließlich sogar eine »Erklärung der Berliner Verbände der Verfolgten kommunistischer Gewaltherrschaft und Vereinigungen zur Aufarbeitung der Geschichte kommunistischer Diktatur«, die den Keil noch stärker zwischen Opfer- und Gedenkstätten- bzw. Verwaltungsseite trieb. Die öffentliche Erklärung folgte unbehelligt aller bisherigen Schlichtungsgespräche vor allem der KSKKritik und seinen Vorschlägen. Zudem forderte der KSK nun sogar öffentlich eine vollständige Neubesetzung des Arbeitsausschusses, die dann vornehmlich Fürsprecher der Häftlingsverbände zu berücksichtigen habe: »Die ›Arbeitgruppe‹ setzt sich in Zukunft wie folgt zusammen: Vorsitzender: Günther Toepfer (MdA), Mitglieder: vier jeweils von den Verbänden zu benennende ehem. politische Häftlinge; die drei Wissenschaftler Wilke, Suckut, Wolle, der Senatsbeauftragte für die pol. Häftlinge Martin Gutzeit, Frau Dr. Kamphausen, als Leiterin der Gedenkstätte.«230 Diese Neubesetzung des Arbeitsausschusses, so der KSK, sei das Ergebnis der Diskussion der versammelten Vertreter der Verbände der Verfolgten der »kommunistischen Gewaltherrschaft«. Diese Verbände forderten den Senat auf, »[…] die kostspielige Verzögerungspolitik der vormaligen Senatverwaltung für kulturelle Angelegenheiten und die Ausgrenzung der Vertreter der Verbände der Verfolgten der kommunistischen Gewaltherrschaft aus dem Entscheidungsgremium für die
228 Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Protokoll über die 6. Sitzung des Arbeitsauschusses vom 11.06.1996, S. 2, ArLStU, 67.21; Schreiben der Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen an die Berliner Konferenz der Verbände ehemaliger politischer Häftlinge vom 14.06.1996, Entwurf, ArLStU, 67.21. 229 Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Protokoll über die 6. Sitzung des Arbeitsauschusses vom 11.06.1996, S. 1, ArLStU, 67.21. Aus organisatorischen Gründen wurde die Anhörung später auf den 04.09.1996 verlegt, vgl. Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Protokoll über die 7. Sitzung des Arbeitsausschusses vom 07.08.1996, S. 2, ArLStU, 67.21 1995-2000. 230 KSK: Vorschlag für die Erklärung der Berliner Verbände vom 25.06.1996, ArLStU, Bestand: 51.1 ASTAK e.V., BSV, Hauptausschuss (Finanzen) [51.1].
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Gedenkstätte Hohenschönhausen zu beenden«.231 Geschichtspolitisch richtete sich also diese Erklärung – wie auch das Schreiben vom Mai 1996 – explizit gegen »linksideologische Kreise in der Senatverwaltung«. Diese »Kreise« hätten – laut KSK – die Ausgrenzung der Häftlinge und die Verschleppung des Projektes zu verantworten und ihnen sei daher »[…] die Beschäftigung mit dem Projekt Hohenschönhausen zu entziehen«.232 Gemeint war hiermit vor allem die SenKult, wie ein Entwurf dieser »Erklärung« des KSK dokumentiert. Was der KSK hier im Namen aller Opferverbände forderte, entsprach allerdings weder der tatsächlichen Meinungsvielfalt noch der tatsächlichen Situation. So lehnte der SPD Arbeitskreis diese politisch-ideologisch gefärbte Fundamentalkritik an der SenKult ab. »Der Angriff auf die Kulturverwaltung ist unbegründet. […] Wir können […] nicht die Auffassung unterstützen, dass leitende Mitarbeiter der Senats-Kulturverwaltung […] ausgegrenzt werden sollen. Hier zeigt sich leider, dass einzelne Opferverbände kaum Interesse an einer Aufarbeitung der Gewalttaten haben, wenn nicht ihre Vorstellungen umgesetzt werden«,
brach der SPD Arbeitskreis eine Lanze.233 »Wir lassen uns […] von einigen Vertretern der Opferverbände oder Einzelpersonen, die kaum einen Häftlingsverband vertreten, nicht bevormunden«, machte der Arbeitskreis seinen Standpunkt klar.234 In einzelnen Punkten unterschieden sich die Opfervertreter also bewusst und waren sie alles andere als ein homogener Block. Hinzu kam, dass eher das Gegenteil des KSK-Vorwürfe an die SenKult der Fall war. So sorgte sie dafür, dass »[…] alle zur Verfügung stehenden Mittel des Bereiches Zeitgeschichte einschließlich der Mittel vom Checkpoint Charlie (gesamt: 301.000 DM) für Hohenschönhausen« für 1996 eingesetzt wurden, um das Projekt bestmöglich voranzubringen, damit es noch zum 01. Januar 1997 zu einer Stiftungsgründung kommen konnte.235 Die Kritik des KSK, aus linksideologischen Motiven heraus würde ein Gedenken in Hohenschönhausen verzögert, traf also nicht einmal in Ansätzen zu. Da sich die Opfervertreter auch im Hinblick auf die Neufassung der Inschrift des Gedenksteines durchsetzten, liefen auch diesbezügliche Beanstandungen ins Leere. Weil die Verbandsvertreter beim LStU-Forum am 25. Juni auf die ge-
231 Erklärung Berliner Verbände der Verfolgten kommunistischer Gewaltherrschaft und Vereinigungen zur Aufarbeitung der Geschichte kommunistischer Diktatur vom 25.06.1996, Berlin, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR. 232 Ebd. 233 Schreiben des SPD Arbeitskreises an die SenKult vom 20.07.1996, S. 3, ArLStU, 67.21 1995-2000. 234 Schreiben des SPD Arbeitskreises an den LStU Berlin vom 20.07.1996, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR. 235 SenKult: Mitteilung an das Abgeordnetenhaus von Berlin zu Drs. 12/298 und 13/557, Juli 1996, S. 2, SWFKB, Bestand: Bericht der Bundesregierung 1997, Bericht der Enquete-Kommission 98’, Nr. 28 [Nr. 28]; SenKult: Sachdarstellung vom 26.07.1996, SWFKB, Nr. 8.2.
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schichtspolitisch tendenziöse Wortwendung »Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft« beharrten, gab der Arbeitsausschuss am 07. August bei seiner siebten Sitzung schließlich seine neutralere Fassung zugunsten der von den Opfern geforderten auf. Er beschloss: »Der Gedenkstein im Rosenhof soll eine Tafel mit folgender Inschrift tragen: ›Den Opfern kommunistischer Gewaltherrschaft, 1945-1989‹.«236 D.h., bezüglich der Widmung der Gedenkstätte setzten sich die ehemaligen politischen Häftlinge mit ihrem ahistorischen Verständnis der SBZ und DDR durch. Es wurde eine Inschrift gewählt, die zwischen den verschiedenen politischen Phasen der Nachkriegszeit bewusst nicht unterschied, indem die alliierte Internierungs- und Besatzungszeit, die Frühphase der DDR, der poststalinistische Zeitraum und die späte DDR simplifizierend unter dem Begriff »kommunistische Gewaltherrschaft« subsumiert wurden. Zudem wurde auf den Zusatz »in Deutschland« verzichtet, um einer Ausgrenzung der verschleppten Häftlinge vorzubeugen.237 Hierdurch wandelte sich der Gedenkstein folglich von einem Ort des stillen Gedenkens zu einer geschichtspolitisch aufgeladenen, antikommunistischen Geste. Diesbezügliche Bedenken von fachlicher Seite, u.a. durch den Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen vorgebracht, blieben unberücksichtigt.238 Trotz und im Widerspruch zu diesen Maßnahmen und Zugeständnissen seitens des Arbeitsauschusses und der SenKult veröffentlichte der KSK im Namen der Berliner Konferenz am 10. August 1996 ein weiteres Memorandum, das – anknüpfend an vorhergehende Pläne des KSK – erneut die Einrichtung einer »kleinen« Gedenkstätte für die Verfolgten der kommunistischen Gewaltherrschaft Berlin-Hohenschönhausen einforderte.239 Aus Kostenersparnisgründen und wegen der eklatant schlechten Haushaltslage der Stadt Berlin proklamierte das Memorandum: »Für Hohenschönhausen dürfen in den nächsten Jahren nur die allernötigsten Haushaltsmittel ausgegeben werden. […] Die Gründung einer Stiftung entfällt. Alle hierfür angesetzten Personalstellen sind zum nächstmöglichen Zeitpunkt zu streichen. […] Die Gedenkstätte sollte unter Heranziehen der politischen Häftlinge, die dort inhaftiert waren, umgehend mit einfachen und preiswerten Hinweisschildern, Informationstafeln und Informationsmaterial […] versehen werden. Über die Dimension der Gedenkstätte […] sollte der Senator […] den […] Kreis ehem. politischer Häftlinge beauftragen, unter Berücksichtigung höchster Sparsamkeit […].«240
236 Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Protokoll über die 7. Sitzung des Arbeitsausschusses vom 07.08.1996, S. 3, ArLStU, 67.21 1995-2000. 237 Schreiben der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen an die Berliner Konferenz der Verbände ehemaliger politischer Häftlinge vom 113.08.1996, SWFKB, Konzeption 1994-1996. 238 Schreiben der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten an den Arbeitsausschuss der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen vom 08.08.1996, ArLStU, 67.21. 239 KSK/Berliner Konferenz: Memorandum vom 10.08.1996, Berlin, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR. 240 Ebd.
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Der Forschungsverbund SED-Staat unter der Leitung von Manfred Wilke solle die historisch- wissenschaftliche Aufbereitung des Komplexes politischer Verfolgung übernehmen, empfahl das Memorandum. Das Memorandum wurde im Einvernehmen mit dem BSV, HELP e.V.,241 dem CDU Arbeitskreis, dem SPD Arbeitskreis und der VOS veröffentlicht. Es spiegelte unverändert die Grundhaltung der enttäuschten Häftlinge gegenüber den bisherigen Anstrengungen der SenKult und des Arbeitsausschusses wieder und instrumentalisierte die Berliner Finanzprobleme für die Realisierung der politik- und verwaltungsfernen Vorstellungen des KSK. Statt einer langfristigen, auf ein breites wissenschaftliches und differenziertes Fundament gestellten Gedenkstättenlösung, die zwangsläufig planungs- und kostenintensiv wäre, forderte die Berliner Konferenz eine kurzfristige »Amateurlösung«, die weder wissenschaftlich anerkannt worden wäre noch eine gewisse Seriosität garantierte. Schließlich und pünktlich zum 35. Jahrestag des Mauerbaus am 13. August 1996 forderte die Berliner Konferenz – weiterhin unter der Federführung des KSK – eine Konzentration aller Berliner Gedenkstätten. Sowohl für die Berliner Gedenkstätten der NS-Diktatur als auch für die Berliner Gedenkstätten zur DDRVergangenheit sollte, so ihr Vorschlag »[…] an geeigneter Stelle im Zentrum der Stadt eine zentrale Stätte des Gedenkens an die Verfolgten und Opfer der nationalsozialistischen und der kommunistischen Gewaltherrschaft geschaffen [werden]«.242 Als »eine geeignete Stelle« schlug das Rundschreiben das »Deutschlandhaus« und das ihm angrenzende Gelände vor: »Der Bund müsste hierfür das Deutschlandhaus und der Berliner Senat das ›Gelände‹, auf dem sich schon das Areal der ›Topographie des Terrors‹ befindet, zur Verfügung stellen.«243 Der KSK bzw. die Berliner Konferenz führte seine geschichtsrevisionistische Erinnerungspolitik fort. Der authentische Ort und eine differenzierte Aufarbeitung der unterschiedlichen historischen Ebenen und ihre Vermittlung sollten, der Auffassung des KSK bzw. der Berliner Konferenz nach, aus »Effizienzgründen« aufgegeben werden. Hohenschönhausen sollte, diesem Vorschlag folgend, dieser »Groß-Gedenkstätte« der gesamten deutschen Geschichte einverleibt werden.244 Die Konferenz sprach sich deutlich gegen eine heterogene, multiperspektivische und differenzierte Erinnerungskultur aus und tendierte stattdessen in Richtung »zentralisiertes Gedenken«, wie es eigentlich sogar eher dem DDR-Vorbild entsprach. So sehr sich verschiedene Opfergruppen aus verschiedenen parteipolitischen Lagern auch im Detail (z.B. bezüglich ihrer konkreten Gedenkstättenvorstellungen)
241 HELP e.V. zog sein Einvernehmen in einem Schreiben an Herrn Kreutzer vom 22.08.1996 zurück. HELP e.V. war bereits drei Monate zuvor aus der »Berliner Konferenz« ausgetreten und inhaltlich vollständig gegen die im Memorandum aufgestellten Forderungen, vgl. Schreiben von HELP e.V. an Hermann Kreutzer vom 22.08.1996, StAufarb, HSH Allg. 242 Berliner Konferenz: Rundschreiben vom 13.08.1996, S. 1, StAufarb, HSH Allg. 243 Ebd., S. 2. 244 Ebd.
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unterschieden, insgesamt lehnten sie gemeinsam die geschichtspolitisch neutrale und liberale Lösung des Arbeitausschusses bzw. der Verwaltung und der Fachkundigen ab. Stattdessen verfolgten sie allem Anschein nach eine geschichtsrevisionistische, ja zutiefst konservative Geschichtspolitik, die sich durch einen ausgeprägten Antikommunismus und Gleichsetzungen verschiedener Verfolgungsperioden und Verbrechenskomplexe bis hin zu einer Relativierung der Verbrechen des Nationalsozialismus auszeichnete. Die Vorschläge des Ausschusses wurden als zu linksliberal und als zu wenig antikommunistisch von Häftlingsvertretern zurückgewiesen. Neben diesen politisch-ideologischen Motiven teilten einige wenige Wortführer der ehemaligen politischen Häftlinge auch ihr Bedürfnis nach mehr Mitsprache und Beteiligung. Die öffentliche Anhörung bot zumindest in diesem Punkt Abhilfe, wenn auch die geschichtspolitische Einflussnahme auf den Gedenkstättenprozess durch eine solche Veranstaltung eher gesteigert wurde. Bei der öffentlichen Veranstaltung zur Rahmenkonzeption des Arbeitsausschusses stand dementsprechend eine geschichtspolitische Grundsatzdiskussion im Vordergrund.245 Einige Vertreter rückten von ihrer radikalen Position ab, für die das KSKSchreiben und das Memorandum der Berliner Konferenz stellvertretend waren. So zogen mehrere Unterzeichner des Memorandums ihre Unterschrift öffentlich zurück, angeblich kannten sie nicht den genaueren Wortlaut zum Zeitpunkt der Unterschrift. Die Hälfte der Unterzeichner des Memorandums, so stellte sich am Ende der Anhörung heraus, konnte die dort fixierten Forderungen nicht (mehr) akzeptieren. Andere waren von vornherein gegen die Vorstellungen der Berliner Konferenz und wollten sich mit ihrer radikalen Stoßrichtung nicht identifizieren. Der Großteil der Zeitzeugen von Hohenschönhausen, auch der in Verbänden organisierten, stand damit auf einer gemäßigten, wenn auch weiterhin gegen Fachkundige und Verwaltung gerichteten Seite. Nur der KSK hielt am Ende an seiner radikalen Haltung fest und warf dem Ausschuss unbeirrt Geschichtsklitterung, Verantwortungslosigkeit und Verschwendung von Steuergeldern vor. In seiner Stellungnahme zur Rahmenkonzeption, die wiederholt mit »Berliner Verbände ehemaliger politischer Häftlinge« unterzeichnet war, jedoch maßgeblich die KSK-Meinung widerspiegelte, erklärte er: »Die politischen Häftlinge, vertreten in ihren Verbänden, lehnen die hier vorgelegte Konzeption für Hohenschönhausen ab. Wir schlagen vielmehr vor, endlich die ehemaligen politischen Häftlinge zu beauftragen, die seit Jahren anstehende Gedenkstätte zu schaffen. […] Hohenschönhausen soll eine Gedenkstätte für uns politische Häftlinge sein, ähnlich der Gedenkstätte Plötzensee, mehr nicht. […] Wir, als die in Hohenschönhausen Inhaftierten, wissen besser, als Unbeteiligte, wie man mit einer solchen Stätte umzugehen hat und wir werden auch in der Lage sein, Hohenschönhausen für Berlin und dem Besucher so darzubieten, dass
245 Das vorliegende Protokoll wurde zum Zitieren nicht autorisiert. Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen: Tonband-Protokoll: Veranstaltung am 04.09.1996 zur Rahmenkonzeption Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Berlin 1996, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR.
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bei größter gebotener Sparsamkeit ein bleibender Eindruck des Gedenkens und der Mahnung entsteht.«246
Inhaltlich beharrte diese Position auf den bereits geschilderten Kritikpunkten, die der KSK mit der Schlussempfehlung zusammenfasste: »Die von der Arbeitsgruppe erarbeitete Konzeption für Hohenschönhausen wird nicht weiter verfolgt.«247 Die allgemeine Sorge der Häftlingsvertreter unterschiedlicher Verbände, dass eine »Großlösung« jegliches Gedenken hinauszögere sowie die Enttäuschung über den würdelosen Zustand der Gedenkstätte (durch einen Mangel an Beschriftungen und zum damaligen Zeitpunkt noch bestehende Fremdnutzungen und Verwüstungen) und der jahrelange, äußerliche Stillstand der Einrichtung der Gedenkstätte kamen schließlich bei der Anhörung am 04. September ebenfalls zur Sprache.248 Auch in den Tagen und Wochen nach dieser Veranstaltung hielten einzelne Opfervertreter, allen voran der KSK und der SPD Arbeitskreis an ihrer Haltung fest. Schreiben an den Kultursenator Radunski und an das BMI sowie ein Planungskonzept zu einem alternativen »Komitee« zur Förderung der Gedenkstätte dokumentieren dies,249 ebenso wie zahlreiche Briefe, in denen immer wieder über die mangelnde Einbeziehung von Zeitzeugen in der täglichen Gedenkstättenarbeit geklagt und in denen den inzwischen beschäftigten Honorarkräften anhaltend Unfähigkeit unterstellt wurde.250 Aber auch einzelne bisher kaum mit Hohenschönhausen in Berührung gekommene Opferverbände und ihre Vertreter – z.T. sogar aus politischen Reihen – sahen sich durch die Veröffentlichung der Arbeitsergebnisse veranlasst, sich zumindest vorübergehend bisher vorgebrachten Kritikpunkten anzuschließen und die kritische
246 Berliner Verbände ehemaliger politischer Häftlinge: Kreise aus der Kulturverwaltung planen Verschwendung von Steuergeldern. Kritik an einem unsinnigen Projekt in der Gedenkstätte Hohenschönhausen vom August/September 1996, ArLStU, 67.21. 247 Berliner Verbände ehemaliger politischer Häftlinge: Vorschläge für eine würdige Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen für die Verfolgten der kommunistischen Gewaltherrschaft vom August/September 1996, ArLStU, 67.21. 248 Stamm, Ursula: »Wie weiter mit dem Stasi-Gefängnis? Gespräch über Konzeption für Gedenkstätte Hohenschönhausen«, in: Der Tagesspiegel vom 05.09.1996; o.V.: »Konzept der Gedenkstätte für Stasi-Opfer vorgelegt«, in: Berliner Zeitung vom 06.09.1996. 249 Schreiben des KSK an die SenKult Senator Radunski vom 05.09.1996, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR; Berliner Verbände ehemaliger politischer Häftlinge: Kreise aus der Kulturverwaltung planen Verschwendung von Steuergeldern. Kritik an einem unsinnigen Projekt in der Gedenkstätte Hohenschönhausen vom August/September 1996, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR; KSK: Komitee zur Förderung der Gedenkstätte Hohenschönhausen. Hohenschönhausen-Komitee/Vorschläge zur Finanzierung der Errichtung der Gedenkstätte Hohenschönhausen vom 05.09.1996, ArLStU, 51.1. 250 U.a. Schreiben des SPD Arbeitskreises an den LStU Berlin vom 13.10.1996, ArLStU, 67.21 1995-2000.
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Position der Opfer und Zeitzeugen gegen die bisherigen Gedenkstättenplanungen zu stärken.251 Der Berliner LStU resümierte diese Entwicklung: »Kern der Probleme der Opferverbände ist aus meiner Sicht die Tatsache, dass diese zunehmend den Verlust ihres politischen Einflusses seit den Jahren 1989/90 zu spüren bekommen und dieser einher geht mit der Schwächung ihrer Mitgliederbasis, z.T. aus Altersgründen, aber auch auf Grund der sich zunehmend ansammelnden Frustration über den aus ihrer Sicht unbefriedigenden Verlauf der Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit […]. Die Veranstaltung in Hohenschönhausen hat deutlich gemacht, dass die Positionen in den Verbänden […] überaus heterogen sind. […] Hier ist für mich ein gemeinsamer Wille zu einer für alle Seiten akzeptablen Lösung nicht zu erkennen.«252
Und bezüglich der radikalen Gegenvorschläge des KSK kommentierte er: »Das vorliegende Papier ist meiner Ansicht nach ein unverantwortlicher Versuch, die Frage der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen vor dem Hintergrund der intensiven Spardiskussion zu einer politischen Kraftprobe zu missbrauchen. Den Verantwortlichen dieses Papiers ist entweder nicht klar, welcher politische Schaden für die Interessen der ehemaligen Opfer des SEDRegimes angerichtet wird, oder sie kalkulieren den möglichen Schaden bewusst ein.«253
Die Rahmenkonzeption des Ausschusses wurde, der Kritik der Opfervertreter ungeachtet im Oktober 1996 dem BMI und der SenKult übergeben. Diese Eile war begründet mit dem Wunsch einer zügigen Übernahme der Einrichtung in die institutionelle Förderung durch den Bund ab 1998.254 Eine Entscheidung des Bundes in dieser Angelegenheit sollte noch im Laufe des Jahres 1997 fallen.255 Dieser Wunsch erforderte ein zeitnahes Vorgehen des Ausschusses. Eine baldige Stiftungsgründung wurde angestrebt.256
251 Vgl. Ehrhard G.: »Gedenkstätten gehören in die Obhut der Opfer«, in: Hilferufe von drüben 6, (1996), S. 16; Schreiben von Peter M. an den BSV vom 11.09.1996, StAufarb, HSH Allg.; Schreiben von Peter M. an den BSV vom 11.09.1996, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR; Schreiben des MdA Günter Töpfer an den BSV vom 16.09.1996, ArLSTU, Gedenkstätten SBZ/DDR. 252 Schreiben des Berliner LStU an den MdA Günter Töpfer vom 18.09.1996, S. 2, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR. 253 Ebd. MdA Günter T. und HELP e.V. nahmen im Laufe der Debatte als einzige wenige Abstand von der KSK-Kritik und änderten ihre Meinung, vgl. Schreiben von HELP e.V. an den MdA Töpfer vom 19.09.1996, ArLStU, 67.21; Schreiben des MdA Töpfer an den LStU Berlin vom 19.09.1996, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR. 254 Abele, Marion: »Als es mit der DDR zu Ende ging, stellten die Wärter in Hohenschönhausen Blumenkübel auf«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.09.1996. 255 Stamm, Ursula: »Wie weiter mit dem Stasi-Gefängnis? Gespräch über Konzeption für Gedenkstätte Hohenschönhausen«, in: Der Tagesspiegel vom 05.09.1996. 256 O.V.: »Konzept der Gedenkstätte für Stasi-Opfer vorgelegt. Heftige Kritik von Verbänden an dem Entwurf«, in: Berliner Zeitung vom 05.09.1996.
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Die Schlussfassung des Rahmenkonzeptes sah inhaltlich vorbehaltlos die Einrichtung einer Stiftung nach dem Vorbild der »Topographie des Terrors« mit dem Titel »Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen« vor. An der Besetzung der Organe der Stiftung (z.B. Stiftungsrat: zwei Vertreter des Senats, zwei Vertreter des BMI, zwei Vertreter des Beirats – Vertreter der Häftlinge und der politischen Bildungsarbeit –) wurde, im Hinblick auf das Streben nach institutioneller Förderung durch das BMI, nur bedingt festgehalten. Vorsitzender des Stiftungsrates sollte das für kulturelle Angelegenheiten zuständige Mitglied des Senats sein (Kultursenator). Darüber hinaus sollten dem Stiftungsrat ein Mitglied der SenJustiz, ein Mitglied des BMI sowie ein Beiratsmitglied angehören. Der Beirat sollte sich aus Vertretern von Gedenkstätten, Einrichtungen, Gruppen und Initiativen, Wissenschaftlern oder anderweitig qualifizierten Persönlichkeiten zusammensetzen. Der Vorstand sollte durch den Direktor der Gedenkstätte repräsentiert werden.257 Die bereits vor der Anhörung mit den Opferverbänden verhandelte Neufassung des Gedenksteines wurde in der Endfassung der Rahmenkonzeption natürlich ebenfalls berücksichtigt. Der Stein wurde fünf Monate nach der ursprünglichen Planung im November 1996 in dieser Fassung aufgestellt.258 Auch der bereits im WilkePapier skizzierte Rundgang wurde übernommen. Er sollte das U-Boot, den Vernehmertrakt, den Zellentrakt inkl. Freigang-Käfige, Schleuse und Gummizellen umfassen. Hierdurch sollten die spezifischen Merkmale der Untersuchungshaftanstalt für den Besucher erfassbar werden.259 Abweichend vom Wilke-Papier sollten aber nicht die Haftzellen und die Orte besonders menschenunwürdiger Haftbedingungen (1945-1950) im Vordergrund des Rundganges stehen, sondern der Vernehmertrakt. Diese Schwerpunktverlagerung wurde damit begründet, dass »das Ausgeliefertsein des Inhaftierten an den allmächtigen Staatsapparat in der Person des StasiVernehmers […] die prägende Erfahrung für das Leben in der Untersuchungshaftanstalt […]« war.260 Die Besichtigung des Vernehmertraktes sollte daher den Zel-
257 Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: 1. Tätigkeitsbericht, Berlin 2002, S. 51. 258 O.V.: »Gedenkstein im einstigen Stasi-Gefängnis enthüllt«, in: Berliner Zeitung vom 18.11.1996. Der KSK nahm an dieser Veranstaltung nicht teil mit der Begründung: »Die Blockadepolitik der Momin-Verwaltung sowie die Lustlosigkeit und Unfähigkeit der Radunski-Administration in der Errichtung einer nationalen Gedenkstätte, denen in sieben Jahren nicht einmal die Errichtung originalgetreuer Zellentrakte gelang, runden das klägliche Bild ab. […] Mit unseren vergeblichen Bemühungen, zur Gestaltung der Gedenkstätte beizutragen, wuchs die Distanz, daher sehen wir uns mit anderen politischen Freunden enttäuscht außerstande zu einer Teilnahme an der Gedenkveranstaltung«, vgl. Schreiben der Berliner Bürgergemeinschaft mit den Organisationen KurtSchumacher-Kreis, Gesellschaft für soziale Demokratie und Julius-Leber-Gesellschaft an die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen vom 13.11.1996, SWFKB, Nr. 14. 259 Arbeitsausschuss der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Nutzungs- und Gestaltungskonzept für die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Berlin 1996, S. 3, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR. 260 Ebd., S. 4.
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lengebäuden innerhalb des Rundganges vorangestellt werden. Der Fokus der Darstellung auf die Jahre, in denen die Haftbedingungen besonders unmenschlich waren, wurde in der Rahmenkonzeption aufgegeben. Stattdessen wurde den Jahren 1950-1989 ein höheres Gewicht beigemessen. Die Rahmenkonzeption hielt an der Bedeutung einer begleitenden Dokumentation fest, wie es schon das Wilke-Papier vorsah. Dokumentationsnischen (»Module«) entlang des Rundganges sollten eingerichtet werden. Die Vermittlung sollte dabei »in Form einer Verknüpfung von strukturgeschichtlicher Betrachtung und biographischer Darstellung (anhand exemplarischer Lebensläufe ehemaliger Häftlinge) geschehen«.261 Dieser biographische Ansatz folgte ebenfalls den Vorstellungen des Wilke-Papiers, bettete ihn allerdings in ein objektivierendes Informationssystem ein. Neben diesen begleitenden Dokumentationsnischen, die inhaltlich in die drei Oberthemen: 1.) »Internierungs- und Haftpolitik der sowjetischen Besatzungsmacht und Übernahme des Gefängnisses durch das MfS« (U-Boot-Bereich), 2.) »Das Untersuchungsgefängnis unter der Regie des MfS« (Vernehmerbereich) und 3.)« Die MfS-Untersuchungshaftanstalt aus Sicht der Betroffenen« aufgegliedert wurden, sollte auch eine große Ausstellung im Hauptgebäude eingerichtet werden, die allgemeine Themen wie beispielsweise »Die sowjetischen Internierungslager im Besatzungsgebiet und jenseits von Oder und Neiße«, »Politische Justiz in der DDR«, »Die Untersuchungshaftanstalt und ihre Umgebung«, »Häftlingsfreikauf als Devisenbeschaffung« etc. umfassen sollte.262 Letzterer Gedanke war nicht neu, sondern entsprach bereits dem Wilke-Konzept. Anders jedoch als das Wilke-Papier legte diese Planung der Dokumentation, vergleichbar mit dem Rundgang, ebenfalls den inhaltlichen Schwerpunkt auf die politische Verfolgung nach 1950. Vergleiche zwischen 1945-1946, 1946-1950 und 19501989, die noch beim Wilke-Konzept gezogen wurden, blieben in der Rahmenkonzeption des Ausschusses in Bezug auf das Ausstellungs- und Dokumentationsvorhaben außen vor. Zudem wurde – ebenfalls im Unterschied zum Wilke-Konzept – das Kapitel »Politische Justiz in der DDR« um einen vergleichenden Abschnitt ergänzt, »[…] und zwar unter Berücksichtigung der zeitlichen und inhaltlichen Veränderungen, die in der Bundesrepublik Deutschland stattfanden«.263 Die leibhaftige Gegenüberstellung von »offenem Strafvollzug« und Geschichte der »politischen DDR-Haft« des WilkePapiers wurde so ebenfalls deutlich abgemildert. Zugleich verzichtete das neue Rahmenkonzept auf die geschichtspolitisch delikaten Fremdnutzungsvorschläge des Wilke-Gremiums gänzlich. Sah das WilkePapier eine mögliche Nutzung der übrigen Gebäude durch den offenen Strafvollzug vor, um dem positiven demokratischen Strafvollzug der BRD den repressiven Haftvollzug der DDR gegenüberstellen zu können, sah das Rahmenkonzept von einer solchen Festlegung ab und hielt sich dagegen allgemein: »Der festgelegte Rundgang führt durch das Erdgeschoss der jeweiligen Gebäude. Das Kranken-
261 Ebd., S. 5. 262 Ebd., S. 8ff, 16. 263 Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Protokoll über die 8. Sitzung des Arbeitsausschusses vom 09.10.1996, S. 2, ArLStU, 67.21 1995-2000.
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haus sowie die Obergeschosse der Haft- und Vernehmergebäude stehen somit für die Nutzung durch andere Einrichtungen zur Verfügung.«264 Unter »andere Einrichtungen« zog der Arbeitsausschuss weiterhin in erster Linie Aufarbeitungsinitiativen, Vertretungen von Opferverbänden sowie Projekte mit gedenkstättenverträglichen Nutzungsarten aus gedenkstättenfernen Bereichen (z.B. Umwelt- und Sozialprojekte) in Betracht. Ein Teil sollte für ein Magazin zur Verfügung stehen bleiben.265 Insgesamt entsprach das Rahmenkonzept inhaltlich mehrheitlich den Vorstellungen der Politik, der Verwaltung, der Fachkundigen und eines Teiles der Zeitzeugen, die sich von radikalen Positionen einiger genannter Verbände und ihrer Vertreter abgrenzten. Gleichzeitig wurde die geschichtspolitisch konservative Stoßrichtung des Gutachtens des Wilke-Gremiums deutlich abgeschwächt und der Schwerpunkt gelegt auf eine differenzierte, anti-antikommunistische und nicht vergleichende Darstellung der Geschichte der U-Haftanstalt.
4.5 D IE G EDENKSTÄTTE B ERLIN -H OHENSCHÖNHAUSEN UND DIE S TIFTUNG ZUR AUFARBEITUNG DER SED-D IKTATUR 1997-1999 Mit Vorlage des Rahmenkonzeptes beim BMI und bei der Berliner Regierung wurde auch die Chance auf eine weitere finanzielle Sicherstellung der Einrichtung möglich. Für 1997 wurden – trotz Haushaltssperre – Projektmittel in Höhe von insgesamt 615.000 DM von Land und Bund für den reinen Gedenkstättenbetrieb benötigt, hinzu kamen insgesamt geschätzte 4,2 Millionen DM für Investitionen und Bauunterhaltung sowie 180.000 DM für die Bewirtschaftung.266 Tatsächlich stellte der Bund für 1997 300.000 DM zur Verfügung und das Land nochmals 421.000 DM, so dass die Gedenkstättenarbeit vor Ort (z.B. durch das Schaffen von erforderlichen Mitarbeiterstellen) ausgeweitet werden konnte.267 Im Laufe des Jahres 1997 konnte auf diese Weise die Bildungsarbeit (Führungen fanden bereits seit Juni 1995 durch ABS-Brücke und seit Sommer 1996 durch Honorarkräfte statt) ausgebaut und die Zusammenarbeit mit ehemaligen Häftlingen verstärkt werden. Es wurde ein monatlicher Gesprächskreis »Inhaftiert bei der
264 Arbeitsausschuss der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Nutzungs- und Gestaltungskonzept für die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Berlin 1996, S. 6, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR. 265 Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Mögliche Ergänzungen des Rahmenkonzeptes, Anlage zum Protokoll über die 8. Sitzung des Arbeitsausschusses vom 09.10.1996, ArLStU, 67.21 1995-2000. 266 SenKult: Vermerk vom 11.09.1996, SWFKB, Bestand: Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Haushalt 1998/1999, Nr. 8.3 [Nr. 8.3]; Schreiben der SenKult an das BMI vom 08.01.1997, SWFKB, Nr. 8.2. 267 Konzeption Gedenkstätte Hohenschönhausen, S. 3, Anlage zu SenKult: Vermerk vom 15.04.1997, SWFKB, Nr. 28.
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Staatssicherheit« für ehemalige Häftlinge eingeführt, Filmvorführungen fanden statt, die Arbeit des Zeitzeugen-Büros268 wurde professionalisiert und ein didaktisches Konzept für die Besichtigung des Geländes erarbeitet. 269 Das Bildungsangebot umfasste dabei maßgeblich Führungen von Zeitzeugen und zu Schwerpunktthemen. Für Schulklassen konnten Gesprächskreise mit Zeitzeugen und vor- bzw. nachbereitende Seminare gebucht werden. Das Bildungsangebot entsprach zunächst nur in Teilen den Vorstellungen des Rahmenkonzeptes. Der subjektive, biographische und emotionale Zugang zur Geschichte (durch Zeitzeugen-Führungen) bildete noch den Schwerpunkt. Die Einbettung der persönlichen Erfahrungen der Zeitzeugen sollte zwar idealer Weise in einer allgemeinen historischen Ausstellung kontextualisiert werden, diese zweite, objektivierende Komponente des Gedenkstättenbesuches wurde jedoch zunächst vernachlässigt, konnte vorerst keine sachlich fundierte, wissenschaftlich erarbeitete Dokumentation bzw. keine Dokumentationsnischen entlang des Gedenkstättenrundganges eingerichtet werden. Hierfür mangelte es an Finanzmitteln. Ein Großteil der Haushaltsmittel wurde für Bestandssicherungsmaßnahmen an Gebäuden und Ausstattungen verbaut. Ein weiterer Teil deckte lediglich die Personalkosten.270 Trotz dieser vagen Finanzlage wurde in Zusammenarbeit mit dem museumspädagogischen Dienst zumindest eine Werkausstellung angestrebt. Sie sollte spätestens im Herbst 1998 im Verwaltungsgebäude eröffnet werden und »mosaikartig wichtige Stationen und Zäsuren der Geschichte des Geländes aufzeigen und zugleich einen Einblick in die bisherigen Arbeits- und Forschungsergebnisse der Gedenkstätte bieten«.271 Diese Pläne schienen vor allem deshalb möglich, weil die SenKult weiterhin fest mit einer vollständigen institutionellen Übernahme der zu gründenden Gedenkstättenstiftung durch den Bund ab 1998 rechnete. Diese Hoffung deckte sich mit einer diesbezüglich noch im Frühjahr 1997 abgegebenen Absichtserklärung des BMI.272
268 Das Zeitzeugen-Büro hatte bereits im März 1996 seine Arbeit aufgenommen. Aufgabe des Büros war es, den Kontakt zu ehemaligen Häftlingen herzustellen und Zeitzeugen der politischen Verfolgung nach ihrer Haftgeschichte sowie nach ihrer persönlichen Geschichte ihrer Verfolgung zu befragen. Gleichzeitig wurde ein Zeitzeugen-Archiv aufgebaut, das die Interviews mit den Zeitzeugen und zur Verfügung gestelltes Material archivierte und auswertete. 269 Camphausen, Gabriele/Ammerschubert, Silke: Bildungsarbeit in der Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen. Unveröffentlichtes Manuskript, Berlin 1997, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR; Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Authentische Bildungsarbeit am historischen Ort. Projekt zur Mitarbeit ehemaliger politischer Häftlinge in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Projektskizze, Berlin 1997, StAufarb, HSH Allg. 270 Ein Drittel des Honorars wurde über den Lohnkostenzuschuss Ost finanziert, ein weiteres Drittel über ABM-Mittel des Landes, so dass für die Gedenkstätte nur ein Drittel des Honorars zu Buche schlug. 271 Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Sachbericht 1997, Berlin 1997, S. 7, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR. 272 So wurde vom BMI ab 1998 ein Bundeszuschuss für Personal- und Bewirtschaftung in Höhe von 667.000 DM sowie für die Bauunterhaltung zwischen 1998-2000 in Höhe
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Letztendlich war es jedoch die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages und war es der Regierungswechsel in Bonn 1998, die die Pläne zur Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen vorübergehend durchkreuzten bzw. ihre Gründung verzögerten. So warteten das BMI und die Berliner Regierung zunächst die Abschlussempfehlungen der zweiten Enquete-Kommission ab, bevor eine institutionelle Förderung bewilligt wurde. Die von der Enquete-Kommission in Aussicht gestellte Gründung einer Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur verzögerte zudem die Stiftungsgründung der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, war doch zunächst unklar, ob die Gedenkstätte unter dem Dach der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur institutionell eingegliedert werden konnte. Dies zumindest empfahlen die CDU-Vertreter der Enquete-Kommission. »Sitz der Stiftung solle Berlin sein, als Ort der Stiftung biete sich nach Auffassung der CDU/ CSU Hohenschönhausen an, das ggf. auch institutionell in die Stiftung einzubinden sei, sodass sich eine inhaltlich-konzeptionelle Bündelung ergebe«, regte der CDUObmann bei einer Gesprächsrunde mit Diepgen an.273 Zwar lehnte die SenKult eine solche institutionelle Verknüpfung zunächst als »weder sinnvoll noch produktiv« entschieden ab, dennoch wurden Diskussionen über Möglichkeiten einer Zusammenführung von Aufarbeitungsinitiativen und der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen unter einem solchen Stiftungsdach in den Reihen der Berliner Politik kaum schwächer.274 Mit der Bundestagswahl im September 1998 und dem Regierungswechsel zur neuen Regierungskoalition SPD/ Bündnisgrüne ging zudem die Zuständigkeit für Gedenkstätten des Bundes vom BMI auf den neu eingesetzten Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (BKM) im Bundeskanzleramt über und waren entsprechend auch die bereits getroffenen Absichtserklärungen des BMI hinfällig geworden. Schließlich wurden die institutionelle Förderung und die Gründung einer Stiftung auch durch personelle Querelen hinausgezögert. Die Gedenkstättenleiterin Camphausen verließ mit dem 01. Januar 1998 die Gedenkstätte und es entfachte sich ein Streit um die Neubesetzung dieser Stelle. Die Kontroversen um die langfristige institutionelle Absicherung der Gedenkstätte sollen im Folgenden dargestellt werden. Oktober des Jahres 1997 wurden für die Gedenkstätte Hohenschönhausen zum 01. Januar 1998 vier der langfristig geplanten 15 Stellen ausgeschrieben (wissenschaftlicher Direktor/Direktorin, wissenschaftlicher Mitarbeiter/Mitarbeiterin, Verwaltungsleiter/-leiterin und Referent/Referentin für politische Bildungsar-
von 750.000 DM jährlich angekündigt, vgl. Schreiben des BMI an die SenKult vom 04.03.1997, S. 2-3, SWFKB, Nr. 8.3; Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Globalisierter Haushaltsplan 1998 vom 15.08.1997, SWFKB, Bestand: Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen, Nr. 19 [Nr. 19]. 273 Deutscher Bundestag Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SEDDiktatur im Prozess der Deutschen Einheit«: Protokoll des Gesprächs der Obleute mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin vom 05.06.1997, SWFKB, Nr. 28. 274 SenKult: Vermerk vom 08.04.1997, SWFKB, Nr. 28.
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beit).275 Eine vom BMI eingesetzte, unabhängige Findungskommission wurde beauftragt, sich für einen der Bewerber zu entscheiden. Reinhard Rürup (Topographie des Terrors), Christoph Kleßmann (Institut für Zeitgeschichtliche Forschung in Potsdam), Manfred Wilke (Forschungsverbund SED-Staat an der FU-Berlin sowie Mitglied der zweiten Enquete-Kommission), Martin Gutzeit (LStU Berlin und ebenfalls Mitglied der zweiten Enquete-Kommission) wurden von der SenKult und dem BMI in die Findungskommission berufen. Zum Ärgernis der Betroffenenverbände waren die Häftlingsvertretungen in der Findungskommission nicht vertreten. Zwar saß wieder einmal der LStU Berlin in der Kommission, um die Interessen der Opfer zu vertreten, aber seine Funktion reichte den Kritikern nicht. Sogar Wilke, selbst Mitglied der Findungskommission, monierte in einem Schreiben an den Kultursenator Peter Radunski: »Die Opferverbände sind in den Auswahlprozess für die Stelle des wissenschaftlichen Direktors nicht eingebunden worden. Dies ist bereits bei der Erstbesetzung dieser Stelle nicht geschehen und hat damals ebenfalls zu Konflikten geführt. […] Angesichts der Bewerberlage wäre und ist es sinnvoll, neu auszuschreiben und die Opferverbände an einer künftigen Findungskommission zu beteiligen.«276
Zwar hatte Wilke bei der Abstimmung der Kommission am 12. Februar 1998 sein Votum für den Kandidaten Siegfried H. abgegeben, dieses zog er nun offiziell zurück. Er begründete dies mit dem falschen Umgang beim Gedenken an die DDRVergangenheit, da die gleichwertige Behandlung der Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft, seiner Diagnose nach, weiterhin vernachlässigt werde: »Die deutsche Erinnerungskultur ist hinsichtlich der Opfer beider Diktaturen immer noch gespalten und am Beispiel von Buchenwald kann studiert werden, dass auch nach 1989 das ›Nachordnen‹ der kommunistischen Verfolgten nicht aufgehört hat. […] Der erneute Konflikt um die Besetzung der wissenschaftlichen Direktorenstelle in Hohenschönhausen erinnert uns daran, dass wir noch nicht den rechten Weg gefunden haben, wie wir das Gedenken an Widerstand, Opposition und Verfolgung in der SED-Diktatur in Berlin organisieren.«277
Die Entscheidung über die Besetzung des Direktorenpostens wurde tatsächlich unter Ausschluss der Opferverbände getroffen, allerdings ohne Widerspruch im Vorwege.278 Die von der Kommission vorgeschlagenen Kandidaten sollten als Vorschläge an die SenKult und das BMI gehen, um dort weiter abgestimmt zu wer-
275 O.V.: »Stellenausschreibung der Öffentlichen Verwaltung über eine Stellen zum 1. Januar 1998 in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen«, in: Der Tagesspiegel vom 26.10.1997. 276 Schreiben von Manfred Wilke an Senator Peter Radunski vom 18.02.1998, S. 1 u. 2, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR. 277 Ebd. 278 Schreiben der SenKult an Manfred Wilke vom 03.03.1998, S. 2, ArLStU, 67.21 19952000.
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den279 – alle Vorgänge weitestgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit und Wahrung höchster Diskretion.280 Letzte gelang nicht, so dass neben Wilke auch die Antistalinistische Aktion (ASTAK) und der LStU Berlin öffentlich Kritik an diesem Auswahlverfahren erhoben. »Für Bewerber aus der früheren DDR, besonders für ehemalige Regimegegner, seien die geforderten Bewerbungskriterien› praktisch K.o.-Kriterien. […] Auch sollten die Stellen überregional ausgeschrieben werden«, kommentierte die ASTAK dieses Vorgehen.281 »Andere Gedenkstätten für die Opfer von Diktaturen arbeiten auf Basis von Stiftungen mit einem Häftlingsbeirat. […] Ohne dessen Zustimmung wird nichts entschieden. DDR-Opfer müssen in Hohenschönhausen ein Mitspracherecht erhalten, zumindest in Form eines Vetorechts bei der Stellenbesetzung«, forderte der LStU Berlin Kusior.282 Neben dem Auswahlverfahren richtete sich die Kritik aber auch gegen die Person Siegfried H. Von ihm wurde behauptet, er habe früher Geschichtsklitterung betrieben und die »Fernsteuerung« der DKP in der BRD durch die SED nicht deutlich genug gemacht in seinen wissenschaftlichen Arbeiten. Außerdem wurde Siegfried H. vorgeworfen, Schüler eines mutmaßlich als IM tätigen, Mannheimer Professors gewesen zu sein. Der Tagesspiegel kommentiert diese haltlosen Vorwürfe: »Dieser an Sippenhaft erinnernde moralische Rigorismus läuft ohnehin ins Leere. [Siegfried H.] Lehrer waren andere.«283 Die Kritik am Auswahlverfahren und an der Person Siegfried H. durch Wilke, Kusior und den Betroffenenverbänden führte zu einem zweischneidigen Resultat: »Vor dem Hintergrund eines alten Streits wurde der favorisierte Nachfolger, der Historiker [Siegfried H.], aus dem Rennen genommen. […] Intern zweifelt in der Verwaltung niemand mehr daran, dass der einzig überzeugende Bewerber […] das Bauernopfer sein soll, um Wogen fragwürdiger Erregung zu glätten.«284
Die Absetzung von Siegfried H. und die Berufung einer kommissarischen Leitung (Mechthild Günther) aus den eigenen Reihen der Gedenkstättenmitarbeiter war das
279 Abgeordnetenhaus Berlin: Nicht behandelte Mündliche Anfrage Nr. 16 des Abgeordneten Arnold Krause (Bündnisgrüne) über Gedenkstätte Hohenschönhausen vom 05.03.1998, StAufarb, Bestand: Gedenkstätte Hohenschönhausen, Veranstaltungen, Presse, Infomaterial (Geschäftsablage o. Sign.) [HSH Veranst.]. 280 Schreiben der SenKult an Manfred Wilke vom 03.03.1998, S. 3, ArLStU, 67.21 19952000. 281 ASTAK z.n. Oschlies, Renate: »Gedenkstätte mit unsicherer Zukunft. Um die Perspektive des ehemaligen Stasi-Gefängnisses in Berlin-Hohenschönhausen ist ein Streitentbrannt, bei dem es vor allem um Geld und Personalfragen geht«, in: Berliner Zeitung vom 14.03.1998; vgl. Abgeordnetenhaus von Berlin: Mündliche Anfrage Nr. 16 vom 19.02.1998, PA Berlin. 282 Wolfgang Kusior z.n. ebd. 283 Mönch, Regina: »Sonderstatus für Opfer? Häftlingsverbände wollen eigenen Kandidaten für Gedenkstätte Hohenschönhausen«, in: Der Tagesspiegel vom 23.03.1998. 284 Ebd.
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eine, die zeitaufwendige Überprüfung eines neuen Gesamtkonzeptes durch die SenKult das andere Ergebnis. Die Besetzung des Postens wurde also vertagt, Berlin nahm stattdessen Verhandlungen mit dem Bund auf über eine Gesamtkonzeption. Die Findungskommission beurteilte dieses »Einknicken der Berliner Regierung«, im Hinblick auf die denunziatorischen Gerüchte, als einen Skandal. An die Adresse von Siegfried H. richtete sich Reinhard Rürup: »Sie sind das Opfer des Verfahrens, das die Verwaltung gewählt hat.«285 Der »schwarze Peter« wurde also zurückgegeben an die Beklagten (falsche Verfahrensweise der Verwaltung) und die Kläger (Opferverbände seien schuld am Stillstand der Gedenkstätte). Dass dieses ganze Debakel auch politisch motiviert war, wurde erst in der Reflexion erkennbar. Siegfried H. war der Favorit der SPD-nahen Kommissionsmitglieder. Die Kritik gegen ihn kam vor allem aus dem konservativen Milieu, CDUnahen Kommissionsmitgliedern (neben Wilke stellte sich auch ein Bonner Ministerialdirektor gegen Siegfried H.) und von Seiten der linkskritischen Opferverbände. Diesen geschichtspolitischen Hieb brachte Peter Steinbach (Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand) auf den Punkt: »Unerträglich ist jedoch, dass der abgelehnte Bewerber Dr. habil. S. [H.] politisch diskreditiert und diffamiert wird. […] [Siegfried H.] hat mehr als zwei Jahre im Rahmen eines meiner Forschungsprojekte zur Geschichte über die Ost-SPD lange Zeit […] gefördert werden können. Er hat auch Expertisen für die Enquete-Kommission erarbeitet. Nichts rechtfertigt sachliche, schon gar nicht politische Zweifel. […] Heute ist [Siegfried H.] Vorsitzender der Berliner Historischen Kommission der SPD. Es geht also nicht um ›Bauernopfer‹, sondern um handfeste Geschichtspolitik, der hier ein Mensch geopfert wird.«286
Tatsächlich wurde die Frage der Stellenbesetzung neben der geschichtspolitischen auch zu einer bundespolitischen Frage. Sie wurde nämlich auch aus Kalkül erst einmal zurückgestellt, bis Klarheit darüber bestehen sollte, ob die Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen an eine Bundeseinrichtung angegliedert werden könne: »Um weiteren politischen Schaden zu vermeiden wird deswegen – insbesondere im Zusammenhang des positiven Fortgangs der Beratungen zur künftigen Bundesstiftung […] die Besetzung der wissenschaftlichen Direktorenstelle der Gedenkstätte Hohenschönhausen zunächst zurückgestellt.«287 D.h., im Klartext sollten keinerlei Personalfragen behandeln werden, bis eine Bundeslösung vorlag, damit die Stellenbesetzung nicht noch einmal in ein geschichtspolitisches Fahrwasser
285 Küpper, Mechthild: »Schuld sollen die Opfer sein. Warum die Gedenkstätte Hohenschönhausen sich so schwer tut, einen Leiter zu finden«, in: Süddeutsche Zeitung vom 26.03.19980. 286 Steinbach, Peter: »Diffamierung eines qualifizierten Bewerbers«, in: Der Tagesspiegel vom 30.03.1998. 287 Schreiben der SenKult an Manfred Wilke vom 03.03.1998, S. 3, ArLStU, 67.21 19952000; Abgeordnetenhaus von Berlin: Antwort auf die Kleine Anfrage Nr. 3574 vom 30.03.1998, PA Berlin.
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kam. Das Dilemma wurde auf den Bund verschoben, der eine politische Lösung gegen die Interessen der Opferverbände durchzusetzen in der Lage war. Die Einbindung in die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur kam der Berliner Regierungsbank schon allein deswegen entgegen, weil auf diese Weise gleich drei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden konnten: Das Land wäre finanziell entlastet worden, gleichzeitig hätte das Stellenproblem durch die Bundesstiftung abgedeckt werden können, schließlich hätte es durch die Stiftung ein politisches Gegengewicht zu den Interessen der Häftlingsverbände in Hohenschönhausen gegeben. Die Eingliederung der Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen in eine Bundesstiftung kam also in Betracht, um einer politischen Instrumentalisierung vorzubeugen und Berlins Geldbörse zu schonen. »Gegen die unmittelbare Einbeziehung der Gedenkstätte Hohenschönhausen hätte er – schon aus Haushaltsgründen – keine Einwände«, trat Diepgen gegenüber der Enquete-Kommission bereits im Frühjahr 1997 für eine solche Lösung ein.288 In ähnliche Richtung gingen auch die Positionen des Abgeordnetenhauses zum Thema der Gedenkstättenfinanzierung von Einrichtungen mit gesamtstaatlicher Bedeutung im Allgemeinen. So stellte der Kulturausschuss klar: »Z.T. wurde […] die Auffassung vertreten, die Finanzierung dieser Gedenkstätten sei alleinige Aufgabe des Bundes; andere Abgeordnete waren der Meinung es solle […] eine anteilige Finanzierung zwischen Bund und Ländern angestrebt werden, die neben Berlin auch die übrigen Bundesländer in Anspruch nehme, wobei der Bund dabei den deutlich größten Teil übernehmen müsse.«289
Eine ganz andere Auffassung vertrat hingegen die Gedenkstätte selbst und die SenKult, die in einer institutionellen Verknüpfung einer staatlichen Einrichtung wie einer Gedenkstätte mit den Aufarbeitungsinitiativen in einer übergeordneten Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur eher erhebliche Konfliktpotentiale ausmachten und an einer gemischten Trägerschaft unabhängig von einer Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur festhielten. So votierte die SenKult in ihren Stellungnahmen im Laufe des Jahres 1997 immer wieder gegen das Schaffen einer »Superstiftung« durch die Einbindung der Gedenkstätte und der Aufarbeitungsinitiativen in die geplante Bundesstiftung und gegen Zentralisierungsbestrebungen in der Gedenkstättenlandschaft insgesamt. Sie sprach sich vielmehr für selbständige Institutionen und dezentrale Organisationsformen, so auch im Fall der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen aus.290 Camphausen verteidigte das be-
288 Deutscher Bundestag Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SEDDiktatur im Prozess der Deutschen Einheit«: Protokoll vom 05.06.1997, S. 2, SWFKB, Nr. 28. 289 Abgeordnetenhaus Berlin: Positionspapier des Ausschusses für Kulturelle Angelegenheiten vom 16.04.1997, SWFKB, Nr. 28. 290 SenKult: Vermerk vom 08.04.1997, S. 6-7, SWFKB, Nr. 28; SenKult: Vermerk vom 30.09.1997, S. 3, SWFKB, Nr. 28.
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stehende Organisationskonzept sogar persönlich vor dem Berliner Parlament.291 Unterstützt wurden Camphausen und die SenKult von den SPD-Vertretern der Enquete-Kommission, die in einer Verkoppelung der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen mit einer zu 100% vom Bund getragenen Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur nicht nur negative Auswirkungen auf die Aufarbeitungsinitiativen ausmachten, sondern vor allem die dann eintretende Privilegierung der Gedenkstätte gegenüber anderen Einrichtungen kritisierten.292 Die Empfehlung der Enquete-Kommission setzte unter die Gerüchte vorerst einen Strich. Nur die mit 1998 beginnende, bereits in 1997 angekündigte, institutionelle Förderung von Bund und Land wurde bestätigt.293 An der geplanten Gründung einer Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, ohne eine Eingliederung in die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, wurde festgehalten. Auch das Ziel der Gedenkstättenarbeit wurde nicht anders als bereits in der Rahmenkonzeption definiert: »Die Enquete-Kommission empfiehlt die Einrichtung einer Gedenk- und Dokumentationsstätte zur Erinnerung an Opposition und Widerstand in der SBZ und DDR.«294 Das Sondervotum der SPD sowie der Sachverständigen Burrichter, Faulenbach, Gutzeit, Weber, Braune, Gleicke und Hiller richtete sich gegen ein Gedenken an Opposition und Widerstand in Hohenschönhausen, sei dieser Ort doch vornehmlich repräsentativ für die politischen Opfer und Häftlinge.295 Die Idee, die Gedenkstätte der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SEDDiktatur unterzuordnen, war spätestens ab Frühjahr 1998 auch bei einer Vielzahl von Parlamentariern des Bundestages als auch bei der Bundesstiftung selbst (im Zuge ihrer Gründung) auf Widerstand gestoßen. »Die Kosten für eine solche nationale Gedenkstätte würden den Etat der Stiftung, dem der Haushaltsausschuss des Bundestages gerade zugestimmt hat, sprengen und die ganze Stiftung erneut gefährden«, kommentierte der SPD-Abgeordnete Stephan Hilsberg, der ebenfalls Mitglied der Enquete-Kommission war.296 Auch Martin Gutzeit (LStU Berlin, Sachverständiger der Enquete-Kommission und Mitglied der Findungskommission Hohenschönhausen) lehnte diese Idee inzwischen ab. Die Stadt, so sein Appell, dürfe die ideelle und finanzielle Verantwortung nicht einfach abgeben.297 D.h., die Eingliederungsidee, die die CDU-Vertreter weiterhin favorisierten, setzte sich letztendlich
291 Abgeordnetenhaus von Berlin: Wortprotokoll Nr. 13/22 vom 16.04.1997, S. 46, PA Berlin. 292 Deutscher Bundestag Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SEDDiktatur im Prozess der Deutschen Einheit«: Protokoll vom 05.06.1997, S. 2, SWFKB, Nr. 28. 293 Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 1, 1999), S. 609. 294 Ebd., S. 637. 295 Ebd., S. 637. 296 Stephan Hilsberg z.n. Oschlies, Renate: »Gedenkstätte mit unsicherer Zukunft. Um die Perspektive des ehemaligen Stasi-Gefängnisses in Berlin-Hohenschönhausen ist ein Streit entbrannt, bei dem es vor allem um Geld und Personalfragen geht«, in: Berliner Zeitung vom 14.03.1998. 297 Ebd.
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aufgrund der gebotenen politischen Neutralität und aufgrund der Gefahr einer haushaltsmäßigen »Implosion« der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur im Falle einer Gedenkstättenträgerschaft diesen Ausmaßes nicht durch. Trotz dieser abwehrenden Argumente der Enquete-Kommission und der SPDnahen Gutachter, hielt die Berliner Regierung beharrlich an einer möglichen Anbindung Hohenschönhausens an den Bund fest und unterbreitete sie im Herbst 1998 wiederholt den Vorschlag, die Gedenkstätte in die Stiftung zur Aufarbeitung der SEDDiktatur eingliedern zu wollen.298 Die SenKult, die seit dem Debakel um die Stellenbesetzung offenbar einen Meinungswandel vollzogen hatte, erarbeitete hierzu ein Diskussionspapier. Dieses stellte erneut zur Disposition, die Gedenkstätte als unselbständige Stiftung unter dem Dach der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur anzusiedeln, »um der Gedenkstätte mehr politisches Gewicht zu verleihen, damit sie gesellschaftspolitisch ihre Wirkung nicht verfehlt […]«.299 Die SenKult wollte den gewachsenen Einfluss der ehemaligen Häftlinge zurückstutzen und auf diesem Wege eine differenzierte Geschichtsdarstellung und -vermittlung wieder herbeiführen bzw. stärken. Die Gefahr eines einseitigen, ausschließlich subjektiven Geschichtsumgangs in Hohenschönhausen sollte gebannt, eine Eingliederung Hohenschönhausens in die Bundesstiftung wurde inzwischen aufgrund der dann gewährleisteten politischen Neutralität also mittlerweile sogar als dringend notwendig eingeschätzt: »Da es bei der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen […] um deutsche und europäische Geschichte geht, ist eine gesamtstaatliche Bedeutung grundsätzlich gegeben, die eine Einbindung in die Bundesstiftung nicht nur rechtfertigt, sondern sogar erforderlich macht […].«300 Damit wurde das Streben nach einer dezentralen, pluralistischen und demokratischen Erinnerungskultur der Enquete-Kommission mit dem Argument einer Professionalisierung und Differenzierung der Geschichtsarbeit in Hohenschönhausen ausgehebelt. Und das inzwischen seit Monaten vorliegende Stiftungsgesetz über eine Landesstiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen blieb angesichts dieser sich abzeichnenden Perspektive weiterhin »auf Eis«.301 Gegen diese, von der Berliner CDU-Regierung – vor allem aus Haushaltsnöten – verfolgte Politik der »Zentralisierung« der Berliner Gedenkstätten votierten insbesondere die Bündnisgrünen. Gerade Hohenschönhausen sollte nicht an den Bund »abgeschoben« werden: »Was aus undemokratischen, zentralstaatlichen Strukturen entsprungen ist, sollte prinzipiell in einer geteilten Verantwortungsstruktur bleiben. Die unterschiedlichen Trägerschaften sind auch Garant für eine politische Unabhängigkeit und verhindern durch ihre Struktur die Weisungsabhängigkeit der Verantwortlichen vom alleinigen Träger. Berlin als Hauptstadt darf
298 O.V.: »Gedenkstätte in Bundesstiftung«, in: Berliner Morgenpost vom 14.09.1998. 299 SenKult: Vermerk vom 18.09.1998, S. 1, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR. 300 Schreiben der SenKult an den Ausschuss für Wissenschaft, Forschung und Kultur zum 21.09.1998 zu TOP 3: Perspektive für die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen vom 18.09.1998, S. 1, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR. 301 Abgeordnetenhaus von Berlin: Antwort auf die Mündliche Anfrage Nr. 18 vom 16.06.1998, PA Berlin.
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sich nicht der Nachlasspflege der in der Stadt befindlichen Tatorte und Orte des Leidens entledigen, sonst beraubt sich die Stadt selbst ihrer Vergangenheit. […] Ein Abschieben auf den Bund würde in vielen Fällen das immer noch vorhandene besondere Engagement der Bürger zerstören.«302
Neben den Bündnisgrünen sprach sich aber vor allem die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur selbst weiterhin vehement gegen eine solche Einbindung in die Bundesstiftung und damit gegen eine Zentralisierung des Gedenkens aus. Im Mai 1999 wurde dieser Plan von der Stiftung offiziell verworfen.303
4.6 D IE G EDENKSTÄTTE B ERLIN -H OHENSCHÖNHAUSEN : S TIFTUNGSGRÜNDUNG 1999-2000 Die erneute Zurückweisung der Zentralisierung der Einrichtungen beschleunigte schließlich die Gründung der Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Waren seit der Vorstellung des Rahmenkonzeptes 1996 aufgrund der Querelen um Personal, Finanzierung und Trägerschaft nahezu 2 ½ Jahre verstrichen, konnten nun die 1996er Planungen erstmals realisiert werden. Am 13. Juli 1999 trafen sich hierzu Mitarbeiter der Gedenkstätte, Vertreter der Opferverbände und Aufarbeitungsinitiativen mit Vertretern der SenKult, um die künftige Zusammenarbeit und das weitere Vorgehen zu besprechen.304 Ergebnis dieser Gesprächsrunde war erstens, die Errichtung einer Stiftung öffentlichen Rechts nach dem bereits bestehenden Stiftungsgesetzesentwurf und zweitens, in Bezug auf die Direktoren-Stelle die Wiedereinsetzung des ursprünglichen Arbeitsausschusses von 1996, zuzüglich zweiter Vertreter der Opferverbände und eines Vertreters der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. 305 Zwar sollte den Opferverbänden, analog zu den Einstellungsverfahren bei NS-Gedenkstätten, weiterhin kein grundsätzliches Mitbestimmungsrecht eingeräumt werden, jedoch sollten sie durch das Entsenden zweiter Vertreter innerhalb des Ausschusses die Möglichkeit erhalten, zur Empfehlung an Bund und Land beratend beizutragen.306 Dieser Kompromiss beim Verfahren zur Stellenbesetzung hielt also an den Kriterien der Stellenausschreibung von 1997 fest, entsprachen sie allgemeinen Voraussetzungen und
302 Ströver, Alice: »Gegen ein zentralisiertes Gedenken. Berlin will die Verantwortung für die Vergangenheit an den Bund abschieben – eine fatale Idee«, in: Süddeutsche Zeitung vom 25.04.1999. 303 Abgeordnetenhaus Berlin: Antwort (Schlussbericht) auf die Kleine Anfrage Nr. 13/5054 vom 05.10.1999, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR. 304 Schreiben der SenKult vom 17.05.1999, SWFKB, Nr. 31. 305 SenKult: Ergebnisprotokoll vom 14.07.1999, S. 3, ArLStU, 67.21 1995-2000; Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur: Vermerk vom 15.07.1999, StAufarb, HSH Allg. 306 SenKult: Ergebnisprotokoll einer Gesprächsrunde über die Zusammenarbeit der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen mit den Aufarbeitungsinitiativen und Opferverbänden sowie das weitere Vorgehen vom 14.07.1999, S. 2 u. 3, ArLStU, 67.21 1995-2000.
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Anforderungen dieser Position. Durch ein stärkeres Berücksichtigen der Häftlingsvertreter, versprach sich die SenKult darüber hinaus endlich ein Ende der Querelen, die es zuvor in Fragen der Gedenkstättenleitung gegeben hatte.307 Diese beiden Gesprächsergebnisse des Treffens vom 13. Juli 1999 wurden am 05. Oktober 1999 vor dem Abgeordnetenhaus bestätigt.308 Schon am 08. November 1999 tagte die wieder ins Leben gerufene, erweiterte Findungskommission abermals und kam nach Gesprächen mit den Favoriten unter den damaligen Bewerbern zum Ergebnis, dass sie gänzlich ungeeignet für die Leitung der Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen seien. Der Bund hatte zudem inzwischen darum gebeten, die Stelle nun endlich mit Siegfried H. zu besetzen, war er doch Schüler des Vorsitzenden der Findungskommission Rürup und »ein in Wissenschaftskreisen hochgeachteter Mann […]«.309 Die Opfervertreter jedoch stimmten einer Berufung von Siegfried H. weiterhin nicht zu und verfolgten vielmehr eine Neuausschreibung. Diese wurde immer wahrscheinlicher als auch Camphausen das Angebot einer Wiederkehr an die Gedenkstätte ausschlug.310 Am 25./26. März 2000 wurde – nach Zustimmung des Bundes – daher eine neue Stellenausschreibung in Tageszeitungen inseriert, mit deren Hilfe ein vollkommen neuer Bewerber gefunden werden sollte.311 Neben diesen personalpolitischen Quantensprüngen wurde dem Berliner Senat nur wenige Wochen vor Ablauf des Jahres endlich der Gesetzesentwurf zur Errichtung der Landesstiftung Berlin-Hohenschönhausen vorgelegt, der eine Stiftungs-
307 So war nicht nur Siegfried H. diskreditiert worden, sondern inzwischen auch die kommissarische Leiterin der Gedenkstätte, Mechthild Günther, die sich zunehmend mit öffentlicher Kritik von Opfer- bzw. Häftlingsverbandsseite konfrontiert sah. Ihr wurde wiederholt eine »Rehabilitierung der Täter und Verhöhnung der Opfer« und eine »Verharmlosung der DDR unterstellt«, vgl. Schreiben von BSV e.V., HELP e.V., Forum zur Aufklärung und Erneuerung e.V. und ASTAK e.V. an die SenKult Senator Radunski vom 15.02.1999, ArLStU, 67.21 1995-2000; Fuhrer, Armin: »Stasi-Opfer sehen ihr Schicksal verharmlost«, in: Die Welt vom 23.03.1999; SenKult: Vermerk vom 21.03.1999, S. 2, SWFKB, Nr. 31; Schreiben der SenKult StS Pufendorf an BSV e.V., HELP e.V., Forum zur Aufklärung und Erneuerung e.V., ASTAK e.V. vom 29.03.1999, SWFKB, Nr. 31. Dieser Vorwurf war schon allein deshalb absurd, weil sie selbst Opfer politischer Verfolgung in der DDR und fünf Jahre in Hohenschönhausen inhaftiert gewesen war, vgl. SenKult: Vermerk vom 12.07.1999, S. 2, SWFKB, Nr. 31. 308 Abgeordnetenhaus Berlin: Antwort (Schlussbericht) auf die Kleine Anfrage Nr. 13/5054 vom 05.10.1999, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR; Kunert, Matthias: »Stiftung übernimmt Gedenkstätte«, in: Berliner Zeitung vom 04.11.1999; Nachtmann, Ralf: »Zehn Millionen Mark für Stasi-Gedenkstätte«, in: Berliner Morgenpost vom 05.11.1999. 309 SenKult: Sprechzettel zur Senatsvorlage 2611/99 vom 03.12.1999, S. 2, SWFKB, Bestand: Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Nr. 20 [Nr. 20]. 310 SenKult: Sprechzettel vom 11.02.2000, S. 2, SWFKB, Bestand: Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen, Nr. 21 [Nr. 21]. 311 SenKult: Vermerk vom 16.05.2000, SWFKB, Nr. 21.
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gründung bereits zum 01. Januar 2000 vorsah.312 Er wurde am 07. Dezember 1999 von der Berliner Regierung beschlossen.313 Dem Abgeordnetenhaus von Berlin wurde das Gesetz am 30. Dezember 1999 zur Beschlussfassung vorgelegt. Darin wurde als Stiftungszweck definiert: »[…] in der Gedenkstätte, die zugleich die Funktion eines Dokumentations- und Begegnungszentrums hat, [ist] die Geschichte der Haftanstalt Hohenschönhausen in den Jahren 1945 bis 1989 zu erforschen […] und zur Auseinandersetzung mit den Formen und Folgen von politischer Verfolgung und Unterdrückung in der kommunistischen Diktatur anzuregen. Am Beispiel des Gefängnisses ist zugleich über das System der politischen Justiz in der Deutschen Demokratischen Republik zu informieren«.314
Damit wurde die Gedenkstätte – auch wenn sich ihre zentrale Funktion nicht in der Namensgebung niederschlug – in den Rang einer »zentralen Gedenkstätte« mit antikommunistischer Stoßrichtung gehoben, wie es die Opfer- und Häftlingsverbände von Anbeginn gefordert hatten. Um den Einfluss der Verbände jedoch ansonsten für die Zukunft zu begrenzen, hieß es in der Gesetzesbegründung: »Die Unabhängigkeit einer nationalen Gedenkstätte ist unter allen Umständen zu bewahren.«315 Inhaltlich wurde dem Gesetz zudem das 1996 noch aus der Feder von Camphausen stammende Gedenkstättenkonzept »Rundgang – Dokumentation – Bildungsarbeit« zugrunde gelegt, das den Wert darauf legte, dass umgehend Beschriftungen des Rundganges mit begleitenden Dokumentationsnischen und Themenvertiefungsräumen sowie ein Ausstellungszentrum im Haupthaus eingerichtet werden, um der politischen Bildungsarbeit ihre starke subjektive Prägung zu nehmen.316 Erwartungsgemäß stieß die begriffliche Unschärfe hinsichtlich der Zweckbestimmung der Stiftung, nämlich »zur Auseinandersetzung […] von politischer Verfolgung und Unterdrückung in der kommunistischen Diktatur anzuregen«, bei der PDS-Fraktion auf Kritik. Was die historische Dimension der Genslerstraße betreffe, sei diese Wortwendung unzureichend, monierte die PDS-Abgeordnete, als der Gesetzesentwurf innerhalb des Kulturausschusses zur Debatte stand. Einen ernsthaften Änderungsvorschlag brachte die PDS allerdings nicht vor.317 Entsprechend wurde der Beschlussentwurf – mit wenigen und rein formalen Änderungen – einstimmig angenommen und eine entsprechende dringliche Beschlussempfehlung an den Hauptausschuss abgegeben.318 Am 07. Juni 2000 wurde das Gesetz über die Errich-
312 SenKult: Senatsvorlage 2611/99 vom 19.11.1999, SWFKB, Nr. 20. 313 Senatskanzlei: Beschluss Nr. 2611/99 vom 07.12.1999, SWFKB, Nr. 20; SenKult: Pressemitteilung vom 07.12.1999, SWFKB, Nr. 20. 314 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 14/105 vom 30.12.1999, PA Berlin. 315 Ebd., S. 4. 316 Ebd., S. 7-8. 317 Abgeordnetenhaus von Berlin: Inhaltsprotokoll 14/2 vom 21.02.2000, PA Berlin. 318 Abgeordnetenhaus von Berlin: Beschlussprotokoll 14/2 vom 21.02.2000, PA Berlin; Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 14/448 vom 21.02.2000, PA Berlin.
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tung der Stiftung Berlin-Hohenschönhausen in geänderter Fassung vom Abgeordnetenhaus Berlin beschlossen. Zum 01. Juli 2000 sollte es in Kraft treten.319 Unterdessen verzögerten tarifrechtliche Unklarheiten und unterschiedliche Auffassungen über Personalanforderungen das zweite Ausschreibungsverfahren hinsichtlich der Besetzung des immer noch vakanten Direktorenpostens.320 Die SenKult musste sich den Vorwurf gefallen lassen, sie stelle die Weichen für eine Verharmlosung des DDR-Systems, indem sie auf ein streng wissenschaftliches und akademisches Profil bei den Bewerbern Wert lege. »Für eine Universität mag solch eine Haltung irgendwie nachvollziehbar sein. Für eine Gedenkstätte des Terrors ist eine solche Einstellung fatal«, wurde sie von einem ehemaligen SED-Opfer unter den Bewerbern kritisiert.321 Der Vorwurf, die SenKult würde die ehemaligen Opfer und Zeitzeugen darüber hinaus erneut bewusst ausgrenzen, stand spätestens wieder im Raum als bekannt wurde, dass sie beabsichtigte in Abstimmung mit dem Bund eine neue Findungskommission einzuberufen.322 Dies kam einem Eklat gleich. Als dann auch noch CDU und SPD angesichts der prekären Berliner Haushaltslage forderten, die zukünftigen Mitarbeiter der Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen schlechter als die NS-Gedenkstätten-Mitarbeiter zu bezahlen (nämlich nicht nach dem sonst üblichen öffentlichen Tarif), drohte die Personal- und Gesetzesfrage kurzweilig erneut bis auf Weiteres offen zu bleiben. Mit Geschichtspolitik hatten diese Haken, die kurz vor der Verabschiedung des Errichtungsgesetzes geschlagen wurden, weniger zu tun, vielmehr mit realer Finanznot. So forderte gerade die PDS, der das geringste Interesse an der Gedenkstätte unterstellt wurde, dass die Mitarbeiter in Hohenschönhausen den Mitarbeitern anderer Gedenkstätten gleichzustellen und dementsprechend auch zu bezahlen seien. Alles andere wurde als politisch nicht vertretbar zurückgewiesen.323 »Im Vergleich zu Mitarbeiterinnen der anderen Stiftungen sollen die Mitarbeiterinnen in Hohenschönhausen offensichtlich zu Dumpinglöhnen und auch noch quasi als arbeitsrechtliches Freiwild tätig werden. […] Besonders perfide wird dieses Vorgehen noch dadurch, dass die Betroffenen seit Jahren […] nur mit Zeitverträgen tätig sind, die zudem noch Ende dieses Monats auslaufen. Letztlich wurde hier eine erpresserische Situation geschaffen, und die wird von ihnen nun schamlos ausgenutzt«,
kritisierte die PDS die CDU/SPD-Gesetzesversion scharf und verteidigte sie wortstark, aber von wenig Erfolg gekrönt ihre Vorstellungen zur Sicherung der Auf-
319 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 14/448 vom 07.06.2000. 320 Abgeordnetenhaus von Berlin: Inhaltsprotokoll 14/14 vom 12.04.2000, S. 14-15, PA Berlin; Küpper, Mechthild: »Demokratischer Gang nicht ohne Tücken«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06.04.2000. 321 Schreiben von Josef Budek an die SenKult vom 28.05.2000, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR. 322 SenKult: Vermerk vom 06.06.2000, SWFKB, Nr. 21. 323 Abgeordnetenhaus von Berlin: Inhaltsprotokoll 14/16 vom 07.06.2000, S. 42, PA Berlin; Abgeordnetenhaus von Berlin: Drs. 14/448-1 vom 08.06.2000, PA Berlin.
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arbeitungsarbeit in Hohenschönhausen.324 Bei derselben Parlamentssitzung wurde das Errichtungsgesetz in der alten Fassung mit wenigen Stimmenthaltungen verabschiedet, ein weiterer Aufschub wurde schon allein aufgrund der wachsenden Überdrüssigkeit nicht gewagt, »die Kuh sollte endlich vom Eis«.325
4.7 R E -P OLITISIERUNG UND »Z ENTRALE G EDENKSTÄTTE FÜR DIE O PFER DER SED-D IKTATUR « Nachdem das Errichtungsgesetz entschieden und infolgedessen die Findungskommission eine Empfehlung über die Besetzung der Stelle des wissenschaftlichen Direktors der Gedenkstättenstiftung aussprach, wurde Hubertus Knabe, bisheriger Historiker beim BStU und von ihm zunächst für zwei Jahre abgeordnet, zum 01. Dezember 2000 in sein neues Amt eingeführt.326 In ihm hatte die Findungskommission zusammen mit dem Arbeitsausschuss einen Direktor gefunden, der das nötige Know-how mitbrachte, aus den Reihen einer Bundesbehörde kam und gleichzeitig das uneingeschränkte Vertrauen der Opferverbände genoss.327 Vor allem aufgrund seiner opferfokussierten328 und explizit antikommunistischen Sicht auf die DDR-Vergangenheit, überzeugte er die Häftlingsverbände und stand er damit geschichtspolitisch deutlich auf der Seite von Wilke und den Betroffenen.329 Bereits bei seiner Berufung zum wissenschaftlichen Direktor kündigte Knabe an, er werde seinen eigenen Vorstellungen zur Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen in Form eines eigenen inhaltlichen Gedenkstättenkonzeptes Gestalt geben und bisherige Arbeiten – mit einem geänderten Stellenstrukturplan einhergehend – korrigieren bzw. überholen.330 Dass es sich hierbei nicht nur um ungewollte Anpassungen an die prekäre Haushaltssituation des Landes Berlin handeln würde,331 son-
324 Abgeordnetenhaus von Berlin: Plenarprotokoll 14/11 vom 08.06.2000, S. 562, PA Berlin. 325 Ebd., S. 563; Gesetz über die Errichtung der Stiftung »Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen« vom 21.06.2000, in: Gesetzes- und Verordnungsblatt für Berlin, Nr. 21 vom 28.06.2000, S. 360. 326 SenKult: Ergebnisprotokoll vom 11.10.2000, S. 2, SWFKB, Nr. 20. 327 O.V.: »›Das Dachau des Kommunismus‹. Der neue Leiter über die Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen«, in: Berliner Zeitung vom 01.12.2000; Banse, Dirk: »StasiForscher leitet Stasi-Mahnstätte«, in: Berliner Morgenpost vom 02.12.2000. 328 Er selbst war aufgrund seiner Forschungsarbeiten zu Umwelt- und Friedensbewegung in der DDR und aufgrund seiner privaten Kontakte ins Visier der DDR-Staatssicherheit gelangt und betrachtete sich daher öffentlich ebenfalls als Stasi-Opfer, vgl. ebd. 329 Ide, Robert: »Die Intrige findet nicht statt – aus wahltaktischen Gründen. Um Hubertus Knabe gibt es Streit – diesmal in der Gedenkstätte Hohenschönhausen«, in: Der Tagesspiegel vom 26.06.2001. 330 SenKult: Ergebnisprotokoll vom 11.10.2000, S. 3, SWFKB, Nr. 20. 331 Vier der für 2001 ursprünglich eingeplanten Personalsstellen wurden vom BKM nicht bewilligt. Hiergegen protestierten gegenüber dem BKM sowohl Knabe als auch die
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dern vielmehr auch um eine politische Neuausrichtung bzw. Politisierung der Gedenkstätte, ließ bereits der erste öffentliche Auftritt Knabes erahnen. So zögerte er in seinen ersten Presseinterviews zum Amtsantritt nicht, die ehemalige Zentrale MfS-Untersuchungshaftanstalt mit einem Konzentrationslager des NS gleichzusetzen und bezeichnete Hohenschönhausen als »Dachau des Kommunismus«. Auch scheute er nicht davor zurück, Nationalsozialismus und SED-Sozialismus pauschal als zwei »sozialistische« Seiten ein und derselben totalitären Medaille zu betrachten und beide Regimes zu analogisieren.332 Zwischen Stalinismus, Kommunismus sowjetischer Prägung und dem DDR-Sozialismus unterschied Knabe ebenfalls nicht. So wurde Hohenschönhausen von ihm nicht nur als »Dachau des Kommunismus«, sondern daneben auch als »deutsche Lubjanka« bezeichnet. Dadurch suggerierte Knabe, wie in der Moskauer Lubjanka seien auch in Hohenschönhausen stalinistische Säuberungen und antisemitische Verschwörungen vorbereitet worden und hätten unzählige Selbsttötungen, Folterungen und Exekutionen stattgefunden. Diese Einordnung des historischen Ortes stieß innerhalb der Fachwissenschaft auf herbe Kritik, die Opferverbände hingegen begrüßten die umstrittenen Analogien.333 Überhaupt wurden die ehemals politisch Verfolgten mit Knabe in einem nie dagewesenen Umfang in die Gedenkstättenarbeit einbezogen. Mit dem Argument, es solle zunächst das Nötigste saniert werden, solange müsse der Aufbau des bildungspolitischen Angebots zurückgestellt werden, legte Knabe den Fokus nun auf Führungen durch Zeitzeugen bzw. ehemalige NKWD- und Stasi-Opfer. Mit dem Ausbau der Zeitzeugen-Führungen und einem vorläufigen Verzicht auf die ursprünglich vorgesehenen Beschriftungen, Dokumentationsnischen und eine Dauerausstellung, wurden Führungen durch ehemalige Opfer in kurzer Zeit nicht nur der Schwerpunkt, sondern bis auf Weiteres das einzige Bildungsangebot für Besucher.334 Die so erzeugte enge Einbindung der Verbände in die tägliche Gedenkstättenarbeit liefere den nötigen Konsens, den es für die Erinnerungsarbeit in Hohenschönhausen brauche, verteidigte Knabe diese vollständig auf subjektive und emotionale Effekte abzielende Geschichtsvermittlung gegen seine Kritiker. Ihnen wiederum missfiel nicht nur die mangelnde Objektivität und die zunehmende Politisierung der Gedenkstätte, die immer häufiger das Neutralitätsgebot ignorierte, sondern
UOKG und Mitglieder des Stiftungsbeirates, vgl. Schreiben der UOKG an den BKM Nida-Rümelin vom 30.01.2001, SWFKB, Konzeption 1994-1996; Schreiben von Klaus-Dietmar Henke an den BKM Nida-Rümelin vom 30.01.2001, SWFKB, Konzeption 1994-1996; Schreiben von BKM Nida-Rümelin an Henke vom 19.02.2001, SWFKB, Konzeption 1994-1996. 332 O.V.: »›Das Dachau des Kommunismus«, in: Berliner Zeitung vom 01.12.2000; Banse, Dirk: »Stasi-Forscher leitet Stasi-Mahnstätte«, in: Berliner Morgenpost vom 02.12.2000. 333 Clauss, Ulrich/Sturm, Daniel Friedrich: »Wider das Gedenken«, in: Die Welt vom 23.06.2001; Henke, Klaus-Dietmar: »Anatomie des SED-Staates«, in: Frankfurter Rundschau vom 19.03.2002. 334 Gäding, Marcel: »200.000 besuchten früheren Stasi-Knast«, in: Berliner Zeitung vom 10.05.2001.
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vor allem die rigide Instrumentalisierung der Zeitzeugen. Die Zeitzeugen-Arbeit in der Gedenkstätte sei »[…] Eine Therapie gegen die lebenslängliche Erinnerungsqual«, zitierte die Presse Knabes gegensätzlichen Standpunkt.335 Jeder Versuch, die Gedenkstätte wieder zu entpolitisieren, Forderungen seitens der Politik und Verwaltung, die Gedenkstätte müsse sich – wie es sich gehöre – neutral verhalten und zurückkehren zu ihrem Kerngeschäft (Forschung, Dokumentation und Vermittlung nach internationalen, wissenschaftlichen und pädagogischen Standards), sowie jede leise Kritik am Aufarbeitungsstil von Hubertus Knabe verhallte angesichts des bestehenden, von der PDS tolerierten rot-grünen Senats und vor allem in Anbetracht der sich anbahnenden sowie schließlich amtierenden rotroten Regierungskoalition in Berlin, die besonders um Legitimation in Fragen der DDR-Aufarbeitung kämpfte. So zögerten ehemalige Bürgerrechtler und Oppositionelle, Vertreter der Opferverbände und ehemalige Häftlinge nicht, Knabes Arbeitsweise öffentlich zu verteidigen und der SenKult und der Berliner Regierungsbank zu unterstellen, die Gedenkstätte sei der Landespolitik ein »Dorn im Auge«, sie würde Knabe daher abwickeln und die Zeitzeugen aus der Gedenkstätte verdrängen wollen.336 Politische Rückendeckung bekam Knabe zudem von der CDUOpposition im Berliner Abgeordnetenhaus, die darauf bestand, dass Knabe seinen Direktorenposten behält, gerade weil so eine Gedenkstättenarbeit gewährleistet bliebe, in der »authentische Erfahrungen« eine wichtige Rolle spielten und die nicht »in einer Verwissenschaftlichung abstrahiert« werde.337 »Ich habe seit langem den Verdacht, dass es politische Tendenzen gibt, mich aus diesem sensiblen Bereich zu entfernen. Offenbar setze ich mich zu sehr für die Opfer des DDRGeheimdienstes und die Aufklärung des Stasi-Einflusses auf den Westen ein. […] Ich hatte vermutet, dass man mich […] bekämpfen würde. Dass es aber soweit gehen würde, konnte ich nicht ahnen«,
blies Knabe ins ähnliche Horn und trug er zur Politisierung seines eigenen Postens bei.338 Zugleich suggerierten solche Äußerungen, die SenKult und die Berliner Regierung würden ihn als »Störenfried« aus dem Weg schaffen und insbesondere aufgrund seiner Forschungsarbeiten zur Westarbeit der DDR-Staatssicherheit »mundtot« machen wollen, er befände sich – durch bestehende Seilschaften bis in höchste Regierungskreise hinein –ungebrochen in einer politischen Verfolgungssituation. Die SenKult dementierte solche Unterstellungen, der Stiftungsrat (unter dem Vorsitz der Berlin-Abgeordneten Ströver von Bündnisgrün) entschied – die von
335 Clauss, Ulrich/Sturm, Daniel Friedrich: »Wider das Gedenken«, in: Die Welt vom 23.06.2001. 336 Ebd. 337 Abgeordnetenhaus von Berlin: Inhaltsprotokoll 14/26 vom 09.07.2001, S.8, PA Berlin. 338 Hubertus Knabe z.n. o.V.: »Leiter der Stasi-Opfer-Gedenkstätte auf der Abschussliste?«, in: Berliner Morgenpost vom 25.06.2001.
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Knabe suggerierte Verschwörung nicht erfüllend – zudem gegenteilig. Einstimmig wurde Knabe nach seiner Probezeit in seinem Amt bestätigt, mit den knappen Worten »Knabe hat seine Befähigung […] unter Beweis gestellt«, bereitete Nida-Rümelin diesen Gerüchten vorerst ein jähes Ende.339 Nicht Knabes publizistischen Aktivitäten, sondern seine Eignung sei ausschlaggebend für diese Entscheidung gewesen, betonte Nida-Rümelin auch gegenüber dem Berliner Parlament.340 Die zuvor gemutmaßte parteipolitische Intrige um den Direktorenposten der Gedenkstätte blieb also – schon allein aus wahltaktischen Gründen – bewusst aus. Obwohl Knabe aufgrund seines öffentlichen Gebarens kaum tragbar schien, vermied es der Stiftungsrat, Wasser auf Knabes Mühlen zu gießen und brachte er demgemäß gerade noch genug Argumente für ein Fortsetzen des Dienstverhältnisses vor.341 Gleichzeitig wurde auf diese Weise einem langwierigen, parteipolitisch instrumentalisierbaren Neubesetzungsverfahren einfach der Riegel vorgeschoben.342 Mit diesem Votum verband sich seitens des Stiftungsrates vor allem aber auch die Hoffnung, die Gedenkstätte würde sich nunmehr inhaltlich ohne weitere Unterbrechungen fortentwickeln. Knabe, der bisher noch keine eigenen Arbeitsentwürfe zur politischen Bildungsarbeit in der Gedenkstätte vorgelegt hatte, kam der Aufforderung des Stiftungsrates vom März 2001 nach und legte im November 2001 endlich ein Arbeitspapier über einen erweiterten Rundgang vor, der die Besucher durch alle wichtigen Stationen des Gefängnisses leiten und in einer zentralen Dauerausstellung münden sollte.343 Sosehr der Stiftungsrat diesen sachbezogenen Vorstoß grundsätzlich begrüßte, allein das Kostenvolumen, das Knabe hierfür beanspruchte – nämlich bis zu zehn Millionen DM –344 schien eine baldige Umsetzung schon wieder in Frage zu stellen.345 Da allein der Sanierungsbedarf der Gedenkstätte inzwischen mit weit über den ursprünglichen 4,5 Millionen DM beziffert wurde,
339 Nida-Rümelin z.n. o.V.: »Doch kein Machtwechsel«, in: Berliner Morgenpost vom 26.06.2001. 340 Abgeordnetenhaus von Berlin: Inhaltsprotokoll 14/26 vom 09.07.2001, S.9, PA Berlin. 341 Ide, Robert: »Die Intrige findet nicht statt«, in: Der Tagesspiegel vom 26.06.2001; SenKult: Vermerk vom 16.04.2002, S. 2, SWFKB, Bau. 342 Krause, Andreas: »Doch keine Jagt«, in: Berliner Zeitung vom 27.06.2001. 343 Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Bedarfsprogramm für Umbau und Sanierung der Gedenkstätte, September 2003 S. 2-3, SWFKB, 2002-2003. Das Ursprungskonzept liegt d. Verf. leider nicht vor. 344 Die Kosten der geplanten Dauerausstellung stiegen binnen weniger Monate von 3,6 Millionen DM (vgl. ebd.), auf 5,8 Millionen DM (vgl. Hoischen, Oliver: »Das wäre das Ende«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.10.2001) auf rund zehn Millionen DM zum Ende des Jahres 2001 (vgl. Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 15/81 vom 18.12.2001, PA Berlin). 345 Krings, Constanze: »Wie teuer darf Gedenken sein?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.06.2001; Hoischen, Oliver: »Das wäre das Ende«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.10.2001.
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rückte eine Realisierung des von Knabe vorgelegten Ausstellungs- und Präsentationskonzeptes in weite Ferne.346 Diese Perspektivlosigkeit veranlasste einzelne Opfervertreter und den Gedenkstättenleiter wiederum dazu, nun auch hinsichtlich der finanziellen Ausstattung der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen PDS-Kalkül zu unterstellen. Die Gedenkstätte sei mit zwei Millionen DM für die laufenden Kosten unterversorgt, erklärte Knabe gegenüber der Presse und drohte: »Entweder wir erhalten mehr Geld, oder müssen den Besuchern sagen, sie können nicht mehr kommen.«347 Parteipolitische Unterstützung bekam er nun nicht mehr nur von der Berliner CDU-Fraktion, die sofort einen entsprechenden Antrag ins Parlament einbrachte, sondern auch von der FDP, deren weiblichen Abgeordneten der Bundestagsfraktion gemeinsam mit der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley ihren Besuch in der Gedenkstätte nutzten, um sich gegen die PDS als Berliner Regierungspartei und gegen einen zukünftigen PDSKultursenator zu positionieren.348 Tatsächlich jedoch haperte die inhaltliche Fortentwicklung der Gedenkstätte vor allem aus Mangel an einer einheitlichen Vorstellung zur Gedenkstättennutzung einzelner Räume und Gebäude. Das kleinteilige und topographisch orientierte Gedenkstättenkonzept, das die Handschrift von Camphausen trug und den Schwerpunkt auf beschilderte Rundgänge, Dokumentationsnischen sowie Dauer- und Wechselausstellungen im bestehenden Hauptgebäude legte, auf Neu- bzw. Umbauten (z.B. für eine Dauerausstellung mit Foyer) verzichtete und das zudem bereits auf fortgeschrittenem Planungsstand war, wurde durch das Ausstellungs- und Präsentationskonzept von Knabe mit einer zentralen großen Dauerausstellung im Haupthaus überholt. Alle Umsetzungsarbeiten, die sich auf die älteren Pläne stützten wurden unterbrochen bzw. auf »Null« gesetzt, Konkretisierungen zum Nutzungsprofil einzelner Gedenkstättenareale blieben aus.349 Statt das bestehende, dem Stiftungsgesetz zugrunde liegende Rahmenkonzept Stück für Stück zu realisieren, zogen der Stiftungsrat nun das HdG in Bonn (als Vertreter des Bundes) sowie die SenStadtUm zu Rate, um auf Intervention des BKM mit den beauftragten Architekten und Gestaltern gemeinsam alternative Lösungen zu entwickeln. Das angebliche Ziel dieses am 13. November 2001 neu eingesetzten Arbeitsausschusses (AG »Evaluierung Baukonzeption Hohenschönhausen«) sollte das
346 Im Zuge erheblicher Sicherheitsmängel und Abnutzungserscheinungen durch Besucherverkehr wurde der Sanierungsbedarf mittlerweile auf rund 50 Millionen DM geschätzt. Die ursprünglich kalkulierten zehn Millionen DM waren bereits verbaut. »Für den Fehlbedarf von 39.795 Millionen DM bestehen gegenwärtig weder beim Land noch beim Bund die notwendigen Deckungsmöglichkeiten«, nahm die SenKult hierzu Stellung, vgl. Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 15/81 vom 18.12.2001, PA Berlin. 347 Hubertus Knabe z.n. Hoischen, Oliver: »Das wäre das Ende«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.10.2001. 348 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 14/1547 vom 25.09.2001; Hoischen, Oliver: »Das wäre das Ende«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.10.2001. 349 Besprechungsvermerk vom 27.11.2001, S. 2, SWFKB, Bestand: Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen, Bau, PBA, AG Evaluierung [Bau].
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Überprüfen und Anpassen aller bisherigen Entwürfe (d.h. Camphausens Rahmenkonzept und Knabes Ausstellungs- und Präsentationskonzept) im Hinblick auf Realisierbar- und Finanzierbarkeit sein.350 Wie sich aus der Aktenlage allerdings zweifelsfrei rekonstruieren lässt, war dieser Ausschuss im Grunde genommen nichts als reine Kulisse. Er tagte nur zweimal und diente lediglich dazu, die Vorstellungen des BKM bzw. des Bundes stärker in die Gedenkstättenplanung einzubringen, Folglich war das HdG das einzige Ausschussmitglied, das ein Diskussionspapier zur Fortentwicklung der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen vorlegte. Es ersetzte das Ausstellungsund Präsentationskonzept von Knabe und gab wieder, was sich wiederum der BKM als Geldgeber für die Gedenkstätte wünschte, nämlich Hohenschönhausen unter Anleitung und Beteiligung des HdG zu einer »Zentralen Gedenkstätte zur SED-Diktatur« zu machen. Ob es dem BKM dabei auch darum ging, die Gedenkstätte zu professionalisieren und damit der bisherigen Kritik an der Einrichtung etwas entgegenzusetzen, bleibt offen. Belegt ist nur die Devise: »Wenn der BKM schon zahlte, dann sollte er auch die Musik bestellen dürfen.«351 Das einzige Ergebnis des Evaluierungsausschusses, nämlich die Stellungnahme des HdG, erfüllte die Erwartungen der SenKult (d.h. die Kosten zu reduzieren und wieder zur sukzessiven Umsetzung des Rahmenkonzeptes zurückzukehren) nicht. Das HdG bzw. sein Direktor Hermann Schäfer favorisierte die Maximallösung, nämlich den massiven Aus- und Umbau der Gedenkstätte zum zentralen Museum und Ort der Information sowie des Gedenkens an die Opfer der SED-Diktatur mit entsprechenden kostenintensiven baulichen Eingriffen. Es empfahl, das Hauptgebäude bzw. die ehemalige Großküche solle zu Lasten der historischen Raumanordnung vollständig entkernt und zu einer riesigen Ausstellungshalle großzügig umfunktioniert werden. Hierzu solle die Galerie eine größere Öffnung erfahren und Zwischenwände entfernt werden, nur der Fußbodenbelag sei aufgrund seiner auratischen Wirkung zu erhalten, hieß es in der Stellungnahme. D.h., auch der Trakt der Vernehmerräume im 1. Stockwerk des Haupthauses sollte abgerissen werden und einem Saalbau weichen. Dieser Vorschlag deckte sich so sehr mit den Vorstellungen des BKM, dass intern häufig von der »Nevermann-Halle« gesprochen wurde, benannt nach dem Staatssekretär des BKM Nevermann, der sich persönlich stark für eine solche Ausstellungshalle engagierte und auf dessen Interventionen die Neuplanungen insgesamt zurückgingen.352 Neben der »Nevermann-Halle« empfahl das HdG ein groß dimensioniertes Foyer einzurichten, in dem die wichtigen obligatorischen Service-Funktionen untergebracht werden sollten (Garderobe, Plakatwand, Informationsschalter, Meetingpoint). In räumlicher Nähe wurden ein Museumsshop und eine Cafeteria mit neuer Möblierung vorgeschlagen. Des Weiteren forderte das HdG knapp: »Ein Informationszentrum (Bibliothek/Mediathek) für Besucher ist neu zu pla-
350 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 15/81 vom 18.12.2001, PA Berlin. 351 SenKult: Vermerk vom 27.06.2002, S. 2, SWFKB, 2002-2003. 352 Vgl. Schreiben der SenKult an den BKM vom 01.07.2002, SWFKB, 2002-2003; SenKult: Vermerk vom 19.09.2002, SWFKB, 2002-2003; Abgeordnetenhaus von Berlin: Inhaltsprotokoll 15/44 vom 14.06.2004, S. 12, PA Berlin.
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nen.« Für einen Überwachungsturm, für die Garagen und die Freigangzellen sowie für das ehemalige Haftkrankenhaus sah das Konzept von Schäfer zudem Bauerhaltungsmaßnahmen bzw. Wiederherstellungen des vermuteten Ursprungszustandes vor.353 Neben diesen Umbau-Empfehlungen bezog das HdG aber auch bezüglich der inhaltlichen Arbeit der Gedenkstätte Position. Für die Gedenkstättenarbeit in Hohenschönhausen stellte Schäfer die übergeordnete Prämisse auf: »Aufgabe der Gedenkstätte in dem ehemaligen Gefängnis ist es, den Besuchern die bedrückende Situation der dort Inhaftierten und ihre unmenschliche Behandlung zu vermitteln. Dem dient insbesondere eine emotionale Betroffenheit.«354 Anschaulicher und atmosphärischer sowie »authentischer« als bisher sei daher die jeweilige, z.T. perverse Situation wiederzugeben. Entsprechend machte Schäfer den Vorschlag, die Besucher könnten für die Dauer ihres Besuches »Schicksalskarten« bzw. »Opferbiographien« für eine höhere emotionale Identifizierung der Besucher mit dem Ort und ihren Opfern mit sich führen. Akustische Führungen, die Besuchern eine unbegleitete Besichtigung des Geländes entlang des Rundganges ermöglichen würden, könnten dann in »abschließenden Begegnungen mit ehemaligen Häftlingen« enden, die zugleich der »Höhepunkt des Besuches in Hohenschönhausen« seien, empfahl er.355 Die Zeitzeugen sollten also zunächst weiterhin zentrale Funktionen in der bildungspolitischen Arbeit der Gedenkstätte übernehmen, zumal eine Dauerausstellung aufgrund der vom HdG kalkulierten 2,3 Millionen Euro Errichtungskosten noch in weiter Ferne schien.356 D.h., das HdG folgte mit seiner Stellungnahme dem bisherigen und vorwiegend auf emotionale Wirkung setzenden Ansatz von Knabe und empfahl dessen Fortführung. Vor allem auch als Reaktion auf die Berufung des PDS-Abgeordneten Flierl zum Berliner Kultursenator, verteidigten Knabe und Schäfer ihre ambitionierten Hohenschönhausen-Pläne. Schäfer hatte in diesem Zusammenhang gegenüber den mit der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen beauftragten Architekten sogar von »taktischen Erfordernissen« gesprochen. 357 »Das Gefängnis in der Genslerstraße, in dem sich heute eine Gedenkstätte befindet, ragt auch politisch sperrig in die neue Zeit hinein. Die Berliner SPD hat sich mit der PDS auf eine Koalition geeinigt. Und die PDS tut sich schwer, den SED-Sozialismus als Unrechtssystem zu kennzeichnen. […] Was den Umgang mit der DDR-Vergangenheit anbetrifft, könnte der Ort bald zum Prüfstein der neuen Berliner Regierung werden«,
353 Haus der Geschichte (HdG) Bonn Hermann Schäfer: Stellungnahme vom 25.01.2002, S. 3-4, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR. 354 Ebd., S. 6. 355 Ebd., S. 6. 356 HdG: Kostenschätzung für die Schaffung eines zentralen Ausstellungsbereiches in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, o.D., Anlage 2 zu HdG Hermann Schäfer: Stellungnahme vom 25.01.2002, ArLStU, Gedenkstätten SBZ/DDR. 357 SenKult: Vermerk vom 18.02.2002, SWFKB, Bau.
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politisierte Knabe und stellte er den Zusammenhang zwischen der eigenen Gedenkstätte und der Berliner Tagespolitik her.358 Forderungen nach einer großen Dauerausstellung mit entsprechendem Aufwand sowie nach mehr Geld für den Gedenkstättenunterhalt erzeugten in diesem politischen Klima besonders viel Aufmerksamkeit, konnten doch mangelnde Berücksichtigung und Verwirklichung leicht mit der Parteienkonstellation und dem PDS-Senator in Verbindung gebracht werden.359 Nie zuvor befand sich eine Regierung in einem solchen Legitimationsdilemma und musste sie dieses durch gedenkstättenpolitische Zugeständnisse lösen. Anders ausgedrückt: für die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, und dies gab Knabe zwischen den Zeilen preis, war die neu gewählte rot-rote Regierungskoalition eigentlich ein Glücksfall. Flierl musste als PDS-Kultursenator Hohenschönhausen besonders goutieren, wollte er nicht die Vorurteile gegenüber der PDS bedienen und nicht seinen politischen »Kopf« riskieren. In Bezug auf die Appelle der Gedenkstätte nach mehr Ressourcen, lautete die Devise daher: wenn nicht jetzt und maximal, wann dann. Von politischer Neutralität war die Gedenkstätte daher soweit entfernt wie zu keiner anderen Zeit. Ihrem neuen Dienstherrn Flierl gegenüber pflegte sie zugleich ein Höchstmaß an Unloyalität. Gleichzeitig erwies sich Knabe unfähig, die Gedenkstätte konzeptionell eigenständig weiterzuentwickeln. Hinter der Kulisse, d.h. nebst der abgegebenen Stellungnahme beauftragte der BKM nämlich das HdG bzw. seinen Direktor Hermann Schäfer erneut, diesmal sogar mit der Konzeption der Dauerausstellung. Kaum gewonnen wurde Knabe offenbar das Zepter wieder aus der Hand genommen.360 Die Referatsmitarbeiter der SenKult und der SenStadtUm lehnten die Stellungnahme von Schäfer unterdessen ab, weil sie in die bisherigen Planungen sowie z.T. bereits durchgeführten Baumaßnahmen wesentlich eingriffen und weil vor allem Vorbehalte bestanden hinsichtlich der vollständigen Instrumentalisierung und Entwertung der Gedenkstätte zugunsten einer Totalinszenierung. Die Vorstellungen des HdG wichen von den bisherigen Entwürfen bzw. von den Vorgaben des Errichtungsgesetzes vollständig ab und erforderten quasi einen planerischen Neuanfang. Dies mussten die Senatverwaltungen schon allein aufgrund der bereits verbauten Mittel sowie der politischen Konsequenzen missbilligen. »Das ursprüngliche Konzept stellt die Gebäude mit ihrer historischen Struktur in den Vordergrund, denen dann die inhaltliche Nutzung folgt. Bei den Ausführungen von Professor Schäfer hingegen wird die inhaltliche Nutzung in den Vordergrund gestellt – mit entsprechend baulichen Neukonzeptionen; die historische Struktur wird dem untergeordnet«,
358 Knabe, Hubertus: »Die deutsche Lubjanka. Ein altes Stasi-Gefängnis als Prüfstein der neuen Berliner Regierung«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.01.2002. 359 Schreiben der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen Hubertus Knabe an SenKult Senator Thomas Flierl vom 15.02.2002, SWFKB, Bestand: Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, I-Planung 2002-2003 [2002-2003]. 360 Schreiben des BKM an die SenKult vom 04.02.2002, SWFKB, 2002-2003.
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skizzierte die SenKult die Ausgangsproblematik.361 Eine derart diametral den bisherigen Entscheidungen und Maßnahmen entgegen gesetzte Neuplanung mit einem erforderlichen Mehrbedarf von rund 30 Millionen Euro machte folglich grundlegende politische Entscheidungen erforderlich, bis hin zu einer vollständigen Kostenübernahme durch den Bund, stellte die SenKult bei einer Besprechung auf Staatssekretärsebene in Aussicht.362 »Eine alleinige Kostenübernahme durch den Bund wäre Voraussetzung für die Umsetzung des Konzeptes des HdG«, grenzte die SenKult daher den einzig möglichen Handlungsspielraum ein.363 »Aus diesem Grund ist das Land Berlin mit dem Bund in Verhandlungen zwecks Übernahme der Finanzierung getreten. Mit einer Entscheidung ist nicht vor Ende September dieses Jahres zu rechnen«, berichtete Kultursenator Flierl dem Abgeordnetenhaus wenig später.364 Über diese baulich problematischen sowie finanzpolitisch unrealistischen Rahmenbedingungen hinaus, berücksichtigten die Empfehlungen des HdG aber auch inhaltlich an vielen Stellen nicht, dass es sich um einen historischen Ort und nicht um ein herkömmliches Museum handelte.365 Der Forschungs- und Dokumentationscharakter von Gedenkstätten sowie Angaben zum bildungspolitischen Angebot fehlten im HdG-Konzept nämlich vollständig. »Die in der Unterlage des HdG angekündigte ›Bespielung‹ des Hauses, die konkreten Vorschläge zur Ausgestaltung der Rundgänge und die bereits vorliegenden Anträge zur Modifikation laufender Ausführungen (Hofgangzellen) lassen aus unserer Sicht aber keine Interpretation zu als die Absicht einer entsprechenden Umwertung«,
formulierte die SenKult vorsichtig ihre Kritik.366 »Nach bisherigem Verständnis schien es nicht erforderlich, den Besuchern die bedrückende Situation der Inhaftierten und ihre unmenschliche Behandlung* … über eine durch geeignete Maßnahmen hervorgerufene … emotionale Betroffenheit* … zu vermitteln – hier sprechen die Bauten und Anlagen der Gedenkstätte hinreichend für sich. Im Gegenteil war bislang jede Maßnahme verpönt, die auch nur einen Verdacht einer möglichen Instrumentalisierung für eine bestimmte geistesgeschichtliche Haltung, eine unter Umständen einseitige historische Sicht, schlimmstenfalls eine Vereinnahmung als ›Propagandaeinrichtung‹ hätte erwecken können [* i.O.]«,
361 Schreiben der SenKult an den Stiftungsbeirat Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen Karl Wilhelm Fricke vom 01.03.2002, SWFKB, 2002-2003. 362 SenKult: Vermerk vom 26.03.2002, S. 2, SWFKB, Bau. Wenig später wurde der Mehrbedarf mit rund 25 Millionen Euro kalkuliert, vgl. SenKult, Vermerk vom 16.04.2002, S. 2, SWFKB, Bau. 363 Ebd. 364 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 15/387 vom 14.04.2002, PA Berlin. 365 SenStadtUm: Vermerk vom 18.02.2002, S. 2, SWFKB, Bau. 366 SenKult: Vermerk vom 18.02.2002, S. 3, SWFKB, Bau.
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argumentierte die SenStadtUm noch schärfer.367 Die einzelnen Vorschläge des HdG wurden daher in toto als nicht nachvollziehbar, unangemessen, unrealistisch bzw. unpraktikabel sowie als gedenkstättenunverträglich beurteilt.368 Neben der Kritik an Neuplanung der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, stieg auch der Unmut über den Stiftungsdirektor. »Der Vorstand der Stiftung ist eine Fehlbesetzung. Er ist subjektivistisch, es fehlt an sozialer, aber auch an fachlicher Kompetenz. Zum einen werden notwendige Entscheidungen häufig nicht oder sehr verzögert getroffen, zum anderen einmal getroffene Entscheidungen verworfen. Die Bauverwaltung verweigert aus diesen Gründen eine direkte Zusammenarbeit […] Stiftungsratbeschlüsse […] werden nicht beachtet, Weisungen der Rechtsaufsicht umgangen bzw. missachtet. […] Seine Pressebeiträge, öffentlichen Auftritte etc. sind hart an der Grenze seiner Loyalitätspflicht«,
lautete das verheerende Urteil.369 Da seine Sitzungs- und Besprechungsprotokolle von »manipulatorischem Charakter« seien, wurde ihm folglich das Protokollrecht entzogen.370 Und da Knabe zudem seiner Stellvertreterin Günther beharrlich sämtliche Honorarkräfte verweigerte und ihr – entgegen seiner Befugnisse und noch dazu unbegründet – wiederholt mit dienstrechtlichen Maßnahmen drohte, hielt die SenKult sogar eine Abmahnung des Direktors für kaum mehr abwendbar.371 Nicht nur zur Entlastung des Berliner Haushaltes, sondern auch um den »politischen Erpressungen« des Direktors Herr zu werden, zog die SenKult schließlich zunehmend eine Übernahme der Gedenkstätte in vollständige Trägerschaft des Bundes in Erwägung.372 Eine zurückhaltende Position vertrat hingegen der Stiftungsbeirat, der von der SenKult zur Abgabe einer eigenen Stellungnahme zu der Neuplanung des HdG – unter Berücksichtigung der Mehr- und Wegwerfkosten sowie des denkmalpflegerischen Substanzverlustes – aufgefordert wurde.373 Da die Differenzen zwischen dem Ursprungskonzept und den HdG-Neuplanungen zunächst als nicht so gravierend eingestuft wurden, sprach er sich global für eine denkmalgerechte und gegen eine baulich verfälschende Lösung aus. Darüber hinaus gehende Empfehlungen blieben aus, wollte der Beirat zunächst konkrete Gestaltungsvorschläge und das Votum des Arbeitsausschusses abwarten.374 Nicht zuletzt aufgrund der vehementen Einsprüche der Berliner Senatsverwaltungen sprach sich der mit der Evaluierung der Baukonzeption befasste Arbeitsausschuss
367 368 369 370 371 372 373
SenStadtUm: Vermerk vom 18.02.2002, S. 3, SWFKB, Bau. Ebd., Anlage. SenKult: Vemerk vom 16.04.2002, S. 2, SWFKB, Bau. SenKult: Vermerk vom 26.03.2002, S. 2, SWFKB, Bau. Ebd., S. 3. SenKult: Vermerk vom 16.04.2002, SWFKB, Bau. Schreiben der SenKult an die Mitglieder des Stiftungsbeirates der Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen vom 22.02.2002, SWFKB, 2002-2003. 374 Stiftungsbeirat Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Beschluss des Beirates vom 13.05.2002, SWFKB, Bau.
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schließlich für eine »abgespeckte« Version des HdG-Entwurfes aus. Die Pforte sollte wie bisher lediglich Erstinformationen für Besucher anbieten, nicht zum »vorgeschalteten Foyer« ausgebaut werden. Die Überwachungstürme sollten weiterhin unzugänglich bleiben. Auch wurde auf ein großes Foyer mit diversen Funktionen (WC, Sanitätsraum, Garderobe etc.) zugunsten der bestehenden dezentralen Anordnung verzichtet werden. Gleiches galt für die Cafeteria, die ebenfalls »klein« beibehalten werden sollte (mit kombiniertem Buchladen), ein Museumsshop wurde entsprechend ausgeschlossen. Hinsichtlich der baulichen Ausstattung des ehemaligen Haftgeländes wurde ansonsten ein Kompromiss geschlossen: die Bibliothek wurde (jedoch ohne Mediathek) als reine Präsenzbibliothek in drei Räumen im Haupthaus zugestanden, ebenso die beispielhafte Rekonstruktion von 1-2 Freigangzellen. In Bezug auf den Umgang mit dem UHA-Neubau und dem Haupthaus wurde im Gegenzug erreicht, dass diese Räume so authentisch wie möglich zu erhalten seien und eine minimale Innensanierung stattzufinden habe. »Gedenkstättengedanke steht im Vordergrund«, lautete die Devise zumindest in Bezug auf die vom Rundgang betroffenen Gedenkstättenbereiche.375 Hinsichtlich des zentralen Ausstellungsbereiches im Haupthaus wurde der HdG-Vorstoß zurückgeschraubt. Nur eine teilweise Wiedersichtbarmachung der ehemaligen Großküche wurde empfohlen, ebenso lediglich eine Entfernung der Zwischendecke und der mittleren Trennwände nur im vorderen Bereich des Hauptraumes. Auf diese Weise sollte der Blick frei werden auf den Vernehmertrakt im 1. Obergeschoss, der nunmehr erhalten bleiben sollte. Einer vollständigen Entkernung wurde also widersprochen. Die größten Zugeständnisse wiederum gab es hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung der Ausstellung. Die Ausstellungskonzeption und -realisierung sollte fortan von der Stiftung und dem HdG gemeinsam erarbeitet werden. »Die Federführung wird beim HdG liegen«, legte der Ausschuss zudem fest. 376 Dies entsprach ohnehin dem BKM-Auftrag und unterstrich de facto die weitgehende Entmachtung des Stiftungsdirektors. Zugleich wurde Knabe auf diese Weise zu einer Dauerausstellung in Hohenschönhausen gezwungen, die er bis dahin für nachrangig gehalten und deshalb vernachlässigt hatte. Der Stiftungsbeirat, in dem auch namhafte Persönlichkeiten aus der Gedenkstätteszene vertreten waren, nahm zum Kompromiss-Papier eine neue Position ein. Angesichts des Hin und Her in den vergangenen Wochen erwarteten sie erst einmal eine Feinkonzeption, die am Modell konkretisierte, was der Kompromiss für die Gedenkstättenausstellung bedeutete. Beiratsmitglied K. stellte dafür zudem die Bedingung, dass diese Feinplanung definitiv zu berücksichtigen habe, dass es sich ausschließlich um einen historischen Ort handle. Der Bereich der Großküche sei in erster Linie keine Ausstellungshalle, sondern das Exponat selbst, betonte er. Das Verlangen nach ausreichender Ausstellungsfläche sei bei einer Gedenkstätte ohnehin sekundär, begründete er seine Zweifel an der HdG-Handschrift.377 Die anderen
375 SenKult: Protokoll der AG »Evaluierung Baukosten Hohenschönhausen« vom 11.06.2002, S. 2, SWFKB, 2002-2003. 376 Ebd. 377 Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Ergebnisprotokoll der 6. Sitzung des Beirates vom 24.06.2002, S. 3, SWFKB, 2002-2003.
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Beiratsmitglieder stimmten ihm zu. Zudem wurde die Anregung, einen Gestaltungswettbewerb für den zentralen Ausstellungsbereich auszuschreiben, aufgenommen.378 D.h. grundsätzlich erwünschte sich der Beirat für die Feinkonzeption vor allem Alternativen zum HdG-Konzept. Eine Zustimmung zu den Grundzügen des Kompromiss-Papiers gaben sie also nur vorbehaltlich dieser Maßgaben.379 Die führende Rolle, die das HdG bei der Ausstellungskonzeption und -realisierung spielen sollte, nahmen sie mit Befremden zur Kenntnis und schlugen zumindest eine Kooperationsvereinbarung zwischen der Gedenkstätte und dem HdG vor, die das Ausmaß der Beteiligung beider Partner näher definierte.380 Der Stiftungsrat folgte diesen Vorschlägen nur in Ansätzen und hielt stattdessen am Kompromiss-Papier des Arbeitsausschusses fest. Er vertrat den Standpunkt, dass Kompromisse zu machen seien, wenn die Raumsituation zu NKWD-Zeiten im Haupthaus dargestellt werden solle. Zudem sei es – trotz Wegwerfkosten etc. – nicht sinnvoll an alten Plänen festzuhalten, wenn es bessere gäbe. An einem zentralen Ausstellungsbereich (mit einer noch zu verifizierenden Deckenöffnung) bzw. der Ausstellungshalle wurde dementsprechend nicht gerüttelt. Auch wurde der Beiratsvorschlag zu einer Kooperationsvereinbarung abgelehnt. Vielmehr sollte das HdG direkt gebeten werden, in Kooperation mit den Gedenkstätten-Gremien weiterhin federführend ein Konzept für die Dauerausstellung und den hierfür nötigen Umbau zu erarbeiten. Der BKM wiederum wurde gebeten hierfür die Finanzierung zu übernehmen.381 Der Gestaltungswettbewerb wurde nicht befürwortet, sondern angesichts der Federführung des HdG als entbehrlich betrachtet. Diesbezügliche Auslassungen im Ratsbeschluss deuten zumindest darauf hin. Wegen der alleinigen Beauftragung des HdG und wegen der sich abzeichnenden Neugestaltung der Gedenkstätte, waren die Aussichten (unter Umständen auch auf »Bordmittel« des HdG) gut. Das Land Berlin unterstützte schon allein deshalb diese Variante. Darüber hinaus erreichte die SenKult gemeinsam mit der SenStadtUm Mitte August sogar die Aussicht auf Übernahme der gesamten Kosten für den zentralen Ausstellungsbereich durch den Bund. Der BKM deutete zumindest an, unter Umständen ebenfalls für die Baumaßnahme für die »Halle« aufzukommen.382 »Bei zusätzlichem Mittelbedarf wird es zwischen HdG und BKM sicher zu einer zufriedenstellenden Lösung kommen«, schürte der BKM Zuversicht.383 Doch auch trotz dieser enormen Zugeständnisse von Bundesseite, konterkarierte Knabe die Berliner Rettungspläne. Über die Presse ließ er verkünden, der Berliner
378 Ebd., S. 4. 379 SenKult: Vermerk vom 27.06.2002, S. 2, SWFKB, 2002-2003. 380 Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Ergebnisprotokoll der 6. Sitzung des Beirates vom 24.06.2002, S. 4, SWFKB, 2002-2003. 381 SenKult: Protokoll der 5. Sitzung des Stiftungsrates der Stiftung Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen vom 31.07.2002, SWFKB, 2002-2003. 382 SenKult: Vermerk vom 16.08.2002, SWFKB, 2002-2003; SenKult: Vermerk vom 20.09.2002, SWFKB, 2002-2003. 383 Schreiben des BKM an das HdG vom 09.09.2002, Bestand: Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen, I-Planung 2004, 2005, 2006, 2007 [2004-2007].
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Senat und der Kulturstaatsminister Nida-Rümelin würden die SOS-Rufe der Gedenkstätte ignorieren, weder für die Zeitzeugenführungen, noch für den Ausbau der Gedenkstätte sei Geld da, daher müsse die Gedenkstätte wohl notfalls geschlossen werden.384 Parteipolitische Hinweise, dass es gerade unter der PDS-geführten Senatsverwaltung weiterhin besonders schwer sei, die Finanzierung der Gedenkstätte zu sichern, fehlten dabei erneut nicht, auch nicht direkte Vergleiche zur politischen Verfolgung unter Hammer und Sichel. So suggerierte Knabe diesmal, die Schließung der Gedenkstätte käme quasi einer Zensur gleich, wie es sie in der DDR gegeben habe.385 Schließlich diagnostizierte er, da die NS-Gedenkstätten haushaltsmäßig besser versorgt seien, gäbe es in Bezug auf Gedenkstätten zur DDR-Vergangenheit wohl offenkundig Nachholbedarf.386 »Entweder übernehme der Bund die Einrichtung oder das Land müsse mehr Geld zur Verfügung stellen«, lautete sein Lösungsvorschlag.387 Besonders anlässlich des Gedenkstättenbesuches des Bundespräsidenten Rau entfalteten diese Proklamationen ihre volle politische Wirkung. Wie bereits im September 2001388 folgte die CDU-Fraktion den öffentlichen Beschwerden Knabes und brachte die Fraktion eine Kleine Anfrage zum Finanzierungs- und Planungsstand ins Berliner Parlament ein.389 Der SPD-Senator der SenStadtUm, Peter Strieder, wiederum wagte den Schnellschuss und sicherte Knabe im Vieraugengespräch Sofortmaßnahmen zu, wie das Schaffen von Depot-, Film- und Seminarräumen sowie den Ausbau der Cafeteria. Ohne die SenKult und den BKM davon zu unterrichten überrumpelte er die Spitzenvertreter der Berliner Parteien auf einer Podiumsveranstaltung mit diesen Neuigkeiten.390 Parallel legte das bisher mit allen Baumaßnahmen beauftragte Architektenbüro am 01. Oktober 2002 verschiedene Bauvarianten zum Haupthaus und zur Neunutzung der Gedenkstättenräume vor.391 Da diese vorgelegte Grobplanung angesichts des Finanzvolumens nicht mehr aus Mitteln der Bauunterhaltung realisiert werden konnten, setzte die SenStadtUm im Januar 2003 endlich einen planungsbegleitenden Ausschuss mit Vertretern der Gedenkstätte, des HdG, des BKM und der Senatsverwaltungen ein. Dieser sollte eigenmächtige Entscheidungen und Handlungen zukünftig verhindern helfen und die Umsetzung bereits bestehender Neuplanungen
384 Rössling, Ingo: »Verschlossene Türen im Stasi-Knast?«, in: Berliner Morgenpost vom 20.07.2002. 385 Rau, Jörg-Peter: »Opfer des eigenen Erfolges: Stasi-Gedenkstätte überzieht Etat«, in: Der Tagesspiegel vom 20.08.2002. 386 Ebd. 387 Bey, Steffi: »Den Opfern fehlt Geld«, in: Der Tagesspiegel vom 29.08.2002. 388 Vgl. Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 14/1547 vom 25.09.2001. 389 Abgeordnetenhaus von Berlin, Kleine Anfrage Nr. 577 des CDU-Abgeordneten Gregor Hoffmann über Erinnerungen an den sozialistischen Terror vom 31.07.2002, PA Berlin. 390 SenKult: Vermerk vom 19.09.2002, SWFKB, 2002-2003; Schreiben der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen Hubertus Knabe an die SenStadtUm Peter Strieder vom 18.09.2002, SWFKB, 2002-2003. 391 Burckhardt Fischer & Partner GBR: Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Darstellung von Nutzungsvarianten vom 01.10.2002, SWFKB, Bau.
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koordinieren.392 Zum Planungsziel wurde jetzt erhoben, die Gedenkstätte als den zentralen Ort in der Bundesrepublik zu gestalten, »[…] wo über die Geschichte, die Formen und Folgen der politischen Verfolgung und Unterdrückung in der DDR informiert, geforscht und publiziert wird«.393 D.h., die Neuplanung setzte eine deutliche Aufwertung der Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen zu einer »Zentralen Gedenkstätte für die Opfer der SEDDiktatur« voraus. Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen sollte fortan mehr verkörpern, als »nur« das ehemalige Speziallager Nr. 3, die NKWD-Untersuchungshaft und die Zentrale MfS-Untersuchungshaftanstalt. Sie sollte die nationale Gedenkstätte zum DDR-Unrecht werden.394 Das Camphausen-Konzept von 1996, das sich im engeren Sinne auf die Funktionen des historischen Ortes beschränkt hatte, sowie das Rahmenkonzept aus dem Stiftungsgesetz, das ebenfalls den Fokus auf Justizunrecht legte, wurden mit dieser neuen Stoßrichtung und entgegen der inzwischen gewachsenen dezentralen Erinnerungslandschaft quasi aufgegeben. Dies unterstützte mittlerweile selbst die SenKult, in der Hoffnung die Gedenkstätte, zumindest die »Nevermann-Halle«, über den Bund finanziert zu bekommen.395 Da die Zielvorgabe zur Neuplanung mehr mit einer »Topographie der zweiten deutschen Diktatur« (in Anlehnung an die »Topographie des Terrors«) gemeinsam hatte als mit der bisher bestehenden »bloßen« Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, kehrten die SenKult und das BKM somit im Grunde genommen zum Wilke-Konzept von 1994/1995 zurück. Den Opferverbänden kam dies entgegen, hatten sie eine solche Einrichtung bereits – wie im Fall des KSK – seit 1988 gefordert. Mit dem Einsetzen des Planungsausschusses zu Jahresbeginn 2003, ging die inhaltliche und bauliche Fortentwicklung der Gedenkstätte in eine weitere Runde. So legte die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen im September 2003 ein Bedarfsprogramm für den Umbau und die Sanierung vor, das über den Raum- und Nutzungsbedarf weit hinaus ging, weil es konzeptionell – an das bestehende Ausstellungs- und Präsentationskonzept von 2001 anknüpfend – erstmals detaillierte Vorschläge unterbreitete. Es enthielt u.a. präzise Vorstellungen zur Besicherbetreuung bzw. zum Besucherdienst (z.B. standardisierten Filmvorführung, Kernbesichtigung ohne Führung, Standardführung durch Zeitzeugen und Sonderführung) und zum pädagogischen Angebot (z.B. Seminare, Workshops, Vorträge usw.) sowie Ausstellungen (z.B. »Dokumentationsinseln«).396 Anders als in der öffentlichen Selbstdarstellung und in den bisherigen Arbeitspapieren des HdG und der
392 Schreiben der SenStadtUm an die SenKult vom 09.12.2002, SWFKB, Bau; Schreiben der SenKult an den Stiftungsrat vom 22.01.2003, SWFKB, 2002-2003; SenStadtUm: Ergebnisprotokoll vom 27.01.2003, SWFKB, Bau; Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 15/1903 vom 26.06.2003, PA Berlin. 393 SenKult: Anmeldung zur I-Planung vom 25.02.2003, SWFKB, 2002-2003. 394 Abgeordnetenhaus von Berlin: Inhaltsprotokoll 15/44 vom 14.06.2004, S. 12, PA Berlin. 395 SenKult: Vermerk vom 26.02.2003, SWFKB, 2002-2003. 396 Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Bedarfsprogramm für Umbau und Sanierung der Gedenkstätte, September 2003, SWFKB, 2002-2003.
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Gedenkstätte, besaß das Bedarfsprogramm keine Schwarz-weiß-Rhetorik und ordnete es auch den Denkmalwert nicht mehr einer museologischen Nutzung unter.397 Trotz dieses offenkundigen Bemühens des Planungsausschusses, um eine differenziertere Behandlung der verschiedenen Verbrechenskomplexe und einer »Entpolitisierung« der Gedenkstättenarbeit vor Ort, hörten die Konflikte zwischen der Gedenkstätte und der Berliner Regierung nicht auf. So blieb die Gedenkstätte in ihrem öffentlichen Auftreten, d.h. nach außen geschichts- und parteipolitisch weiterhin nicht neutral. Insbesondere Stasi-Äußerungen und Verdächtigungen in Bezug auf den PDS-Vorsitzenden Lothar Bisky und den Journalisten Günter Wallraff durch den Gedenkstättenleiter, nötigten den Kultursenator Flierl gegenüber der Presse auf das Neutralitätsgebot hinzuweisen, das insbesondere für Gedenkstätten gelte.398 Für die Stimmung zwischen der Politik und der Gedenkstätte zudem nicht gerade förderlich, wurden aber auch die Versprechen der rot-roten Regierung, die Gedenkstätte bestmöglich zu unterstützten, kaum eingelöst. Die SenStadtUm versäumte es einfach, die vom BKM für die Sanierung zur Verfügung gestellten Mittel in Höhe von 400.000 € für das Jahr 2003 abzurufen.399 An das Abgeordnetenhaus berichtete Senator Flierl hierüber nichts, sondern kommentierte allgemein gehalten: »Die notwendigen Abstimmungen und Planungen sind arbeits- und zeitintensiv und werden noch einen längeren Zeitraum beanspruchen.«400 Der Presse gegenüber verteidigte er seine Gedenkstättenpolitik, es sei in Zeiten wie diesen schon ein Erfolg, wenn Zuwendungen nicht gekürzt würden.401 Ein derartig laxer Umgang mit Ressourcen stieß bei der Gedenkstätte auf erwartungsgemäßen Widerstand. Der PDS-SPD-Regierung warf Knabe wiederholt Verhinderungspolitik vor, auch verwies Knabe wieder einmal auf eine generelle bessere Ausstattung der NS-Gedenkstätten, die ja zeigen würde, es ginge auch anders.402 »Da gibt es schon ein Gefühl der Ungleichbehandlung«, deutete er vorsichtig Kritik an einer vermeintlichen Bevorzugung der NS-Gedenkstätten an.403 Dabei waren weder das »Denkmal für die ermordeten Juden Europas« (»Holocaust-Mahnmal«) noch die »Topographie des Terrors« nach über zehnjähriger Planungsphase fertig
397 Ebd., S. 6. 398 O.V.: »Rüffel für Knabe«, in: Der Spiegel vom 27.10.2003; o.V.: »Knabe wehrt sich gegen Kritiker«, in: Berliner Morgenpost vom 27.10.2003; Abgeordnetenhaus von Berlin: Plenarprotokoll 15/37 vom 30.10.2003, S.2952, PA Berlin. 399 Schreiben der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen an die SenStadtUm vom 18.12.2003, SWFKB, 2004-2007; Schreiben der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen Direktor Knabe an die SenStadtUm Senator Strieder vom 21.01.2004, SWFKB, 2004-2007. 400 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 15/2500 vom 03.02.2004, PA Berlin. 401 O.V.: »Gedenkstätte will mehr Geld«, in: Der Tagesspiegel vom 04.02.2004. 402 O.V.: »Weniger Zuschüsse für Stasiopfer-Gedenkstätte«, in: Berliner Morgenpost vom 05.02.2004. 403 Miller, Tobias: »Der Stasi-Knast ist die neue Touristenattraktion«, in: Berliner Zeitung vom 10.02.2004.
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gestellt und gehörte die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen – neben der Mauergedenkstätte in der Bernauer Straße – daher zu diesem Zeitpunkt eigentlich zu den weitest entwickelten Gedenkstättenneugründungen nach 1989. Den Verdacht, er würde mit derartigen Äußerungen und einseitigen Rechnungen die NS-Verbrechen relativieren, begegnete Knabe mit dem Hinweis: »Beide Vergangenheiten – die mehr miteinander zu tun haben, als vielen bewusst ist – müssen immer wieder neu erklärt und verstanden werden. […] Wer von den kommunistischen Verbrechen spricht, relativiert damit nicht die nationalsozialistischen, sondern addiert sie zu diesen hinzu.«404
Damit bezog Knabe unverändert Stellung und kehrte er einer weniger politisierten und differenzierten Vergangenheitsbetrachtung öffentlich weiterhin den Rücken zu. Flierl begegnete den aufflammenden Vorwürfen mit dem Appell, der Bund müsse sich mehr in Hohenschönhausen engagieren: »Es ist völlig unbefriedigend, dass ein so wichtiger Ort […] nicht vom Bund übernommen wird.«405 Mit dieser Meinung stand er nicht allein. So pflichtete die CDU-Fraktion dem PDS-Senator bei: »Ein solches Projekt wie die Gedenkstätte Hohenschönhausen solle möglichst ganz vom Bund übernommen werden. Berlin solle möglichst in diese Richtung hinarbeiten.«406 Anlässlich des 15. Jahrestages der Grenzöffnung am 09. November brachte die CDU-Fraktion zudem einen Dringlichen Antrag über ein »Gesamtkonzept zur öffentlichen Darstellung und Aufarbeitung der jüngsten Deutschen Zeitgeschichte in der Hauptstadt« ein, in dem ein Konzept für den Erhalt und Umgang mit den historischen Orten beider deutscher Diktaturen gefordert wurde, in Anlehnung an den Vorstoß der CDU-Fraktion im Bundestag. »Die Erinnerung an die NS-Terrorherrschaft und an die SED-Diktatur sowie das Gedenken an die Opfer und den Widerstand sind Teil des demokratischen Selbstverständnisses. Dieses Erinnern trägt zur Festigung des Bewusstseins für Freiheit, Recht und Demokratie bei und stärkt den antitotalitären Konsens«,
begründete die CDU ihre Handlungsanweisung an die Berliner Regierung.407 »Der würdevolle Umgang mit der jüngsten deutschen Geschichte muss vom Senat konzipiert und koordiniert werde«, hieß ihr erinnerungspolitische Auftrag.408 Und dies erfüllten die SenKult und der Regierende Bürgermeister längst mittels öffentlicher Loyalitätsbekundungen,409 durch Planungen zu einem Architek-
404 Knabe, Hubertus: »Die Osteuropäer und ihre Geschichte«, in: Die Welt vom 06.05.2004. 405 Thomas Flierl z.n. dpa: Flierl für stärkeres Engagement des Bundes bei Gedenkstätten vom 19.04.2004, StAufarb., HSH Veranst. 406 Abgeordnetenhaus von Berlin: Inhaltsprotokoll 15/44 vom 14.06.2004, S. 13. 407 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 15/3378 vom 11.11.2004, PA Berlin. 408 Ebd.
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tenwettbewerb410 sowie durch zähe Verhandlungen mit der SenStadtUm und dem BKM. 411 So wandte sich Flierl direkt an seine Senatskollegin Junge-Reyer und bat sie, umgehend alle notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, damit es mindestens zu einer Kofinanzierung durch den Bund, wenn nicht gar zu einer mehr als 50%igen Sonderfinanzierung komme. »Angesichts des hohen politischen Stellenwertes dieser national bedeutenden Gedenkstätte ist der Bund bereit auch in 2004 und 2005 […] mitzufinanzieren, wenn Berlin mindestens in gleicher Höhe mitfinanziert [Herv. i.O.]«, alarmierte er die SenStadtUm, damit sie nicht erneut die Chance auf Bundesmittel verpasste.412 Und um »[…] in diesem politisch sensiblen Bereich keine unnötige Zeit zu verschenken«, legte er seiner Kollegin nahe, zwischenzeitlich einen Bauwettbewerb zu veranstalten.413 Parallel wurde eine Verwaltungsvereinbarung auf den Weg gebracht, die die geteilte Verantwortung zwischen Bund und Berlin für die Baumaßnahme in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen für die Jahre 2004 und 2005 regelte und den Bund zu einer 50%igen Mitfinanzierung verpflichtete.414 Auch stimmte Flierl zu, dass freiwerdende Mittel aus der Baumaßnahme »Topographie des Terrors« umgewidmet und in die Baumaßnahme in Hohenschönhausen fließen konnten.415 Der Herrichtung der »Nevermann-Halle« (durch eine 2/3-Deckenöffnung im Haupthaus) und einer vom HdG zu konzipierenden Dauerausstellung wurde – trotz vorprogrammierter Konflikte mit der Oberen Denkmalschutzbehörde – ebenfalls höchste Priorität eingeräumt.416 Während sich die Berliner Senatsverwaltungen und die Berliner Regierung in einem Ausmaß wie nie zuvor für ein Erinnern und Gedenken der DDR-Vergangenheit einsetzten, wovon nicht nur die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, sondern u.a.a. die Mauergedenkstätte in der Bernauer Straße profitierte, vertraten die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen zusammen mit dem Forschungsverbund SED-Staat (der Freien Universität Berlin) weiterhin öffentlich die Meinung, Berlin tue nichts oder zumindest nicht genug in diese Richtung. Ende November 2004 veröffentlichten Knabe und Wilke ein gemeinsames Konzept, das im Wesentlichen solche Vorschläge für die Berliner Gedenkstätten- und Geschichtsaufarbeitungslandschaft enthielt, die bereits umgesetzt waren oder sich längst in fortgeschrittener
409 Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Pressemitteilung vom 07.07.2004, SWFKB, 2004-2007. 410 SenStadtUm: PBA Ergebnisprotokoll 6 vom 13.07.2004, S. 2, SWFKB, Bau. 411 Schreiben der SenKult an die Senatskanzlei vom 07.07.2004, SWFKB, 2004-2007; Schreiben der SenKult Senator Flierl an die SenStadtUm Senatorin Junge-Reyer vom 09.08.2004, SWFKB, 2004-2007. 412 Ebd. 413 Ebd., S. 2. 414 Verwaltungsvereinbarung vom 5./6.12.2004, SWFKB, 2004-2007. 415 SenKult: Vermerk vom 18.02.2005, SWFKB, 2004-2007. 416 SenStadtUm: Protokoll vom 20.05.2005, SWFKB, 2004-2007; o.V.: »Gedenkstätte in Hohenschönhausen erhält neue Ausstellungshalle«, in: Die Welt vom 28.04.2005.
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Planung befanden.417 Nicht frei von Geschichtspolitik erweckte das Papier den Anschein, dass es sich bei der »ostdeutschen Spielart des Sowjetkommunismus« um eine ebenso totalitäre Diktatur wie die unter dem Nationalsozialismus gehandelt habe, deren Überbleibsel Berlin bis dato – sowie im Unterschied zu den NS-Orten – jedoch schamvoll versteckt habe.418 Die geschichtspolitisch untermauerten, erinnerungspolitischen Appelle liefen angesichts des realen Engagements der rot-roten Regierung jedoch ins Leere. Und auch Wilkes und Knabes Idee, in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen solle das »[…] nationale Gedenken für die Verfolgten der kommunistischen Gewaltherrschaft konzentriert werden, während in der ehemaligen Stasi-Zentrale das Funktionieren der Diktatur im Mittelpunkt stehen muss«, war im Grunde genommen kein Verbesserungsvorschlag, sondern eine Beschneidung der Gedenkstätte.419 So wiesen ihr doch Bund und Berlin längst eine zentralere Position innerhalb der Gedenkstättenlandschaft zu. Ungeachtet dessen wurde Anfang des Jahres 2005 von anderer Seite Kritik am Bauplanungsausschuss laut. So ging dem HdG seine Planungen zur Gedenkstätte Hohenschönhausen inhaltlich wiederum »zu schnell« voran und mussten sich die SenStadtUm den Vorwurf gefallen lassen, sie würden in den vorgesehenen Maßnahme das HdG übergehen: »Ein Architektenwettbewerb […] wird […] nach wie vor begrüßt, die entsprechenden Vorgaben zum Hauptgebäude sollten aber maßgeblich im Sinne der bereits gemachten Vorschläge der Stiftung [HdG] erstellt werden; sie liegen im Übrigen in großen Zügen bereits vor«, ermahnte das HdG zu mehr Mitsprache und Beteiligung.420 Und auch der Stiftungsrat der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen lehnte eine europaweite Ausschreibung, das neuerliche Einbeziehen des Haftkrankenhauses in die Gedenkstättenplanung sowie eine ergänzende kunsthistorische Dokumentation, wie es die SenStadtUm inzwischen erarbeitet hatte, in Gänze ab.421 Nur ein beschränkter Wettbewerb wurde im Sinne des Verfahrens akzeptiert.422 Zugleich wurde das HdG vom Stiftungsrat »ins Boot zurückgeholt« und im April endlich mit der Erarbeitung eines Gesamtkonzeptes zum Umbau des Hauptgebäudes sowie mit der inhaltlichen Gestaltung der Dauerausstellung sowie ihrer Umsetzung beauftragt.423 Unter diesen
417 Wilke, Manfred/Knabe, Hubertus: Die Wunden der Teilung sichtbar machen. Vorschläge für ein Konzept der Erinnerung an die untergegangene SED-Diktatur vom 26.11.2004, S. 5, SWFKB, 2004-2007. 418 Ebd., S.1, 2. 419 Ebd., S. 4. 420 HdG: Vermerk vom 24.02.2005, SWFKB, S. 2, 2004-2007. 421 SenStadtUm: Vermerk vom 21.02.2005, SWFKB, 2004-2007. 422 SenKult: Ergebnisprotokoll vom 25.02.2005, S. 2, SWFKB, 2004-2007; Schreiben der SenKult Senator Flierl an die SenStadtUm Senatsbaudirektor Stimmann vom 21.03.2005, SWFKB, 2004-2007. 423 SenKult: Vermerk vom 13.04.2005, SWFKB, 2004-2007; Schreiben der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen an die SenKult vom 12.09.2005, SWFKB, 2004-2007; Schreiben der SenKult an das BKM vom 20.09.2005, SWFKB, 2004-2007; Schreiben
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Voraussetzungen stellte der BKM weiterhin eine hälftige Beteiligung in Aussicht, sodass mit einem mittelfristigen Abschluss der Neugestaltung der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen – nun wieder unter inhaltlicher Federführung des HdG – definitiv zu rechnen war.424
4.8 F LIERL , S ABROW UND N EUMANN : G EDENKSTÄTTENPOLITIK 2006-2008 Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen war trotz dieses Planungsfortschrittes im Frühjahr 2006 erneut in geschichtspolitische Debatten verwickelt. Den Auftakt machten geschichtspolitische Auseinandersetzungen um die Kennzeichnung des ehemaligen Sperrgebietes, in dem sich die Gedenkstätte befand. Sowohl die PDS-Mehrheit im Berliner Bezirk Lichtenberg als auch die PDS-geführte SenKult unterstützten die Anregung von Knabe und seiner Gedenkstätte grundsätzlich, im Zuge der Neuplanungen der Gedenkstätte auch das umliegende ehemalige Sperrgebiet im Stadtraum kenntlich zu machen. Anders jedoch als die Gedenkstättenleitung, bevorzugte der von der PDS/Linkspartei regierte Bezirk eine weitgehend kommentarlose Markierung. Die Gedenkstätte, deren Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung des Inneren der Gedenkstätte seit der Beauftragung des HdG merklich abgenommen hatte, und die vielleicht auch deshalb vermehrt das umliegende Gelände in den Blick nahm, hatte hingegen vier große Tafeln konzipiert, die an prononcierten Stellen installiert werden sollten und in deren Texten die DDR pauschal als 40-jährige kommunistische Diktatur bezeichnet wurde. Während CDU, SPD und FDP diese Variante der Sperrgebietsmarkierung guthieß, lehnte die PDS/Linkspartei sie aufgrund ihrer Pauschalität und undifferenzierten Begrifflichkeit als pure Provokation ab.425 Um zu alternativen Lösungen zu kommen initiierte die SenKult gemeinsam mit der Bezirksversammlung Lichtenberg schließlich eine Podiumsdiskussion, zu der neben dem Kultursenator Flierl und dem Gedenkstättendirektor Knabe auch namhafte Sachverständige (u.a. die ehemalige Leiterin Camphausen) sowie ehemalige Häftlinge eingeladen waren.426 Es ging darum, verschiedene Entwürfe öffentlich zur Diskussion zu stellen, wie denn nun das Sperrgebiet sichtbar gemacht werden könne und solle. Zu einem Ergebnis kamen die Diskutanten jedoch nicht, da rund 200 Ex-Offiziere der Staatssicherheit (darunter sogar die zwei Stellvertreter Mielkes) gegen die Gedenkstätte und die dortige Aufarbeitung das Wort erhoben, und der gesamten Veranstaltung somit einen anderen Verlauf gaben als ursprünglich ge-
des BKM an die SenKult vom 29.09.2005, SWFKB, 2004-2007; Schreiben des BKM an das HdG vom 29.09.2005, SWFKB, 2004-2007. 424 Schreiben des BKM Nevermann an die SenKult Senator Flierl vom 01.07.2005, SWFKB, 2004-2007. 425 Fuchs, Claudia: »Linkspartei will nicht von ›kommunistischer Diktatur‹ reden«, in: Berliner Zeitung vom 13.03.2006; o.V.: »Diskussion um Informationstafeln am ehemaligen Stasi-Sperrgebiet«, in: Berliner Morgenpost vom 14.03.2006. 426 Ebd.
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plant. Die Gäste standen dem Aufmarsch der ehemaligen Eliten der Staatssicherheit und ihren Behauptungen (z.B. die politischen Häftlinge in Hohenschönhausen seien vor allem NS-Kriegsverbrecher gewesen und die Gedenkstätte sei ein Geschichte verfälschendes »Gruselkabinett«) relativ hilflos gegenüber.427 So kam es zu geschichtsrevisionistischen Verzerrungen der Gefängnisgeschichte und zu Verhöhnungen der anwesenden Opfervertreter, die weder von der Moderatorin Camphausen noch von den Amtsträgern auf dem Podium in Gänze verhindert werden konnten. Im Gegenteil. Jeder Versuch der Podiumsteilnehmer, den störenden Ex-StasiOffizieren mit einer Versachlichung der Diskussion zu begegnen, geriet automatisch in den Verdacht, den ehemaligen Tätern zu versöhnlich entgegen zu kommen und die DDR relativieren zu wollen. Dementsprechend scheiterte dann auch Flierls Versuch, einen sachlicheren wissenschaftlicheren, d.h. auch unpolitischeren Umgang einzufordern, zumal er aufgrund seiner PDS-Angehörigkeit und Gedenkstättenverantwortlichkeit ohnehin schon unter besonderem (geschichts-)politischen Erwartungsdruck stand. Seine Worte: »Und ich bin, wie gesagt, kein Historiker, ich bin auch nicht der Oberaufseher der Gedenkstätte, die das historische, das richtige Geschichtsbild dort zu verbreiten hat. Aber ich habe natürlich dazu beizutragen, dass von den unterschiedlichen Teilen der Öffentlichkeit – und auch die ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit sind Bürgerinnen und Bürger dieses Landes und Teil der Öffentlichkeit – dass diese öffentliche Debatte qualifiziert geführt wird. […] Und, das sage ich auch sehr deutlich, natürlich können die Zeitzeugen, können auch Sie als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nur ein Teil der Perspektive sein«,
wurden daher nicht als eine Aufforderung zu mehr wissenschaftlicher Sachlichkeit und Objektivität gedeutet, sondern als Relativierung des Zeitzeugenbegriffs und als Befürwortung des von den anwesenden Tätern praktizierten Geschichtsrevisionismus.428 Und obwohl es auch nach Aussage der Moderatorin Camphausen den StasiLeuten nicht gelungen war, die Veranstaltung zu kippen, und sich Flierl im Zuge seiner politischen Karriere schon allein aufgrund seiner DDR-Gedenkstättenpolitik überdeutlich von DDR-Schönrednern und ihren Geschichtsauffassungen distanziert hatte, musste er sich vor allem aufgrund seines Versuches, der Podiumssituation neutral und sachlich zu begegnen, nach der Veranstaltung massiver öffentlicher Kritik stellen.429 Es war eingetreten, womit Oppositionsparteien sowie vor allem die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen selbst in den vorangegangenen Jahren immer wieder unterschwellig gerechnet hatten: Der PDS-Senator hatte in Bezug auf die DDRAufarbeitung eine Angriffsfläche geboten, sodass er erstmals Gefahr lief, seinen
427 Taubert, Greta: »Stasi. Vier Tafeln Geschichte«, in: Berliner Zeitung vom 16.03.2006. 428 Thomas Flierl z.n. Schomaker, Gilbert: »Flierl nennt Stasi-Kader ›Zeitzeugen«, in: Berliner Morgenpost vom 20.03.2006. 429 Abgeordnetenhaus von Berlin: Plenarprotokoll 15/83 vom 23.03.2006, S. 7121, PA Berlin.
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politischen Kopf zu verlieren. Entsprechend erhob Knabe, der von Anfang an keinen Hehl aus seinen Vorbehalten gegenüber dem PDS-Kultursenator gemacht hatte, öffentlich den Vorwurf, Flierl habe es geduldet, dass ein ehemaliger Stasi-Gefängnischef »[…] seine Haftanstalt als eine Art Erholungsstätte darstellt […]«.430 Das sei ein Skandal, den Flierl nicht unkommentiert hätte lassen dürfen, warf Knabe seinem Widersacher Flierl vor.431 Zudem monierte er, Flierl habe sich als Stiftungsratsvorsitzender deutlicher hinter die Gedenkstätte und vor die Opfer stellen müssen.432 Politische Anhängerschaft fanden diese Standpunkte in Zeiten des Wahlkampfes vor allem bei der CDU-Fraktion des Abgeordnetenhauses von Berlin, die den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) umgehend dazu aufforderte, »[…] nicht länger zu den skandalösen Verunglimpfungen von Opfern der SED-Diktatur […] zu schweigen«433 und die im Auftritt der ehemaligen StasiOffiziere einen »vorläufigen Höhenpunkt einer üblen Kampagne gegen die Erinnerung an die SED-Diktatur und deren Opfer« sahen.434 Wowereit reagierte auf die Kritik an seinem Kultursenator prompt und forderte ihn zur Stellungnahme auf. Dies tat Flierl und korrigierte die öffentliche Darstellung: »Niemand auf dem Podium oder von den Bezirkspolitikern hat den Positionen der früheren StasiMitarbeiter zugestimmt. Im Gegenteil. Ihnen wurde heftig widersprochen.«435 Zudem stellte er klar, dass er im Vorwege und bei der Veranstaltung selbst für eine Markierung des Sperrgebiets geworben habe und er in seinem gesamten politischen Handeln immer wieder seine Ablehnung des historischen Revisionismus zum Ausdruck gebracht habe.436 Dies sahen Vertreter der Berliner Regierungsopposition wiederum anders, obwohl das Protokoll der Veranstaltung längst vorlag und wenige Interpretationsspielräume offen ließ. So deuteten sie Flierls an die Gedenkstätte gerichteten Appelle, doch wissenschaftlich fundierter und dokumentarischer als bisher zu arbeiten, um und interpretierten hinein, Flierl habe die SED-Opfer mit diesen Worten dazu aufgefordert, den SED-Terror zu beweisen. Zudem stießen sie sich unbeirrt an Flierls Äußerungen zum Status der ehemaligen Stasi-Mitarbeiter als »Teile der Öffentlichkeit«, »Bürger des Landes« und »Zeitzeugen«, lehnten sie doch eine Verwendung des Zeitzeugenbegriffs in Bezug auf die ehemaligen Täter sowie ihre Einbeziehung in die Geschichtsaufarbeitung grundlegend ab. »Wenn man Täter als Zeitzeugen zu Wort kommen lässt bei der Aufarbeitung der Geschichte, dann ist das doch Hohn
430 o. V: »›Das ist ein Skandal‹. Hubertus Knabe über den Auftritt von Ex-StasiOffizieren«, in: Berliner Morgenpost vom 17.03.2006. 431 Ebd. 432 Beikler, Sabine: »Kultursenator Flierl empört Stasi-Opfer«, in: Der Tagesspiegel vom 20.03.2006. 433 O.V.: »CDU rügt ›Stasi-Kampagne gegen Opfer‹«, in: Berliner Morgenpost vom 18.03.2006. 434 Ebd. 435 Thomas Flierl z.n. Schomaker, Gilbert: »Stasi-Eklat. Klaus Wowereit greift ein. Flierl schreibt Brief an Gedenkstättenleiter«, in: Berliner Morgenpost vom 19.03.2006. 436 Abgeordnetenhaus von Berlin: Inhaltsprotokoll 15/74 vom 20.03.2006, S. 3, PA Berlin.
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und Spott für die Opfer […]«, positionierte sich die CDU-Fraktionsvorsitzende Berlin-Lichtenberg.437 Es sei ein Schlag ins Gesicht aller Opfer, wenn Stasioffiziere darüber finden wollen, wie die Erinnerung an ihre Verbrechen aussehen soll, spitzte die CDU im Kulturausschuss durch Verwendung eines Zitates von Knabe ihren Standpunkt zu.438 Schließlich wurde Flierl auch persönlich angegriffen, als ihm die CDU unterstellte, er agiere im Grunde genommen in der Tradition eines »Kulturfunktionärs der DDR« und habe sich weggeduckt statt die »Werte der Demokratie« zu verteidigen.439 Damit fungiere er praktisch »[…] im Senat als Schutzpatron der Stasi-Funktionäre«, prangerte ihn auch ein Kollege aus den Reihen der FDP öffentlich an, dessen Fraktion sich der CDU weitgehend anschloss.440 Etwas milder fiel das Urteil der Bündnisgrünen aus. Nach prinzipieller Zurückweisung jeglicher DDR-Verharmlosungen und nachdem sie Flierl zur unmissverständlichen Klarstellung aufforderten, diagnostizierte die Grünen-Abgeordnete, Flierls Äußerungen seien wohl nicht nur menschlich betrachtet, sondern in erster Linie »[…] in politischer Hinsicht ein ›riesiger Fehler‹«, mehr allerdings auch nicht.441 Gemeinsam mit der CDU und FDP forderten sie daher ebenfalls eine öffentliche Entschuldigung, Flierls Rücktritt jedoch nicht.442 Flierl reagierte mit Gegenkritik: »Wenn die CDU-Fraktion behauptet, er habe Stasi-Opfer aufgefordert, den SED-Terror zu beweisen, so sei das eine bewusst verfälschende und diffamierende Darstellung,« drehte er den Spieß um.443 »Ich habe keine Opfer beleidigt, verhöhnt oder gedemütigt. Ich wehre mich entschieden gegen die infame Unterstellung, ich hätte mich für die Veranstaltung engagiert, um Ewiggestrigen Gehör und Anerkennung zu verschaffen. Auch die Behauptung der CDU-Fraktion, ich hätte während der Veranstaltung die Opfer aufgefordert, den SED-Terror zu beweisen, ist eine dreiste Lüge«,
wies er die Anschuldigungen der Konservativen und Liberalen zurück.444 Er habe lediglich die Gedenkstätte dazu aufgefordert verschiedene historische Komplexe besser dokumentarisch abzusichern, gerade um Revisionisten keine Argumente in
437 Astrid J. z.n. Schomaker, Gilbert: »Flierl nennt Stasi-Kader ›Zeitzeugen‹«, in: Berliner Morgenpost vom 20.03.2006. 438 Abgeordnetenhaus von Berlin: Inhaltsprotokoll 15/74 vom 20.03.2006, S. 5, PA Berlin. 439 Ebd., S. 6. 440 Martin L. z.n. Beikler, Sabine: »Flierl soll sich öffentlich entschuldigen«, in: Der Tagesspiegel vom 21.03.2006. 441 Abgeordnetenhaus von Berlin: Inhaltsprotokoll 15/74 vom 20.03.2006, S. 5, PA Berlin, S. 7. 442 Beikler, Sabine: »Flierl soll sich öffentlich entschuldigen«, in: Der Tagesspiegel vom 21.03.2006; Wedekind, Olaf: »Jamaika-Koalition gegen Kultursenator Flierl«, in: Berliner Zeitung vom 23.03.2006. 443 Abgeordnetenhaus von Berlin: Inhaltsprotokoll 15/74 vom 20.03.2006, S. 4, PA Berlin. 444 Abgeordnetenhaus von Berlin: Plenarprotokoll 15/83 vom 23.03.2006, S. 7122, PA Berlin.
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die Hand zu geben. Zudem habe er selbst die erinnerungskulturelle Aufarbeitung der SED-Diktatur im öffentlichen Raum immer schon deshalb in besonderem Maße unterstützt, weil sie die beste Gewähr biete gegen Relativierung, Verharmlosung und Revisionismus, wie sie auf der Podiumsveranstaltung sichtbar wurde, konterte er im Rahmen einer Anhörung vor dem Kulturausschuss. Schließlich wies er auf das Dilemma hin, dass jede öffentliche Auseinandersetzung über Vergangenheit als demokratische Erinnerungskultur solche Auftritte einschlösse, sei doch eine Auseinandersetzung mit den Tätern nun einmal ebenso ein Teil von ihr, wie die Erinnerung der Opfer. Man könne solche Auftritte daher nicht verbieten oder gar verhindern, sondern müsse sich darauf besser vorbereiten, die Täter stärker einbeziehen und sie kritischer hinterfragen statt sie zu ignorieren, verteidigte er seinen Standpunkt und sein Handeln.445 Rückendeckung bekam er – neben der eigenen PDS/Linkspartei – von den Sozialdemokraten, die nach anfänglicher Kritik im Laufe der Debatte ihrerseits den Versuch unternahm, die Regierungsopposition dazu zu bewegen, Flierls Worte und Handeln frei von Parteiideologie zu betrachten und dazu ermahnte, im Gesagten nichts hinein zu interpretieren, was nie gedacht oder gemeint war. »Wenn der Senator dort z.B. Lehmann-Brauns [CDU-Abgeordneter des Kulturausschusses] geheißen und sich genauso [wie Flierl] verhalten hätte, würde die Diskussion sicherlich völlig anders geführt«, deckte der SPD-Abgeordnete innerhalb der Kulturausschusssitzung die zugrunde liegenden rein parteipolitischen Motive der CDU-Kritik auf und verlangte die SPD vielmehr »[…] etwas weniger ›Betroffenheitskultur‹ […]«.446 Zugleich brachte sie gemeinsam mit der Linkspartei einen Antrag ins Berliner Parlament ein, in dem sie sich gemeinsam mit der Linkspartei deutlich von den jüngsten Versuchen distanzierten, die DDR-Staatssicherheit zu verharmlosen und die Opfer zu diffamieren, und in dem beide Parteien die Verbrechen der Stasi, die systematische Unterdrückung von Menschenrechten und Demokratie explizit und in aller Schärfe verurteilten.447 Flierl unterstützend, sprachen sich PDS und SPD zudem für ein Fortführen seiner Gedenkstätten- bzw. Erinnerungspolitik aus, sorge sie doch für einen »offensiven Umgang mit Verbrechen« und für »Versöhnung und innerer Einheit« als »Schutz vor Verunglimpfung und Verharmlosung«.448 Damit stellte sich die Mehrheit der Berliner Linken 449 gegen den SPD-Arbeitskreis ehemaliger politischer Häftlinge, der öffentlich längst Flierls Rücktritt bzw. seinen
445 Abgeordnetenhaus von Berlin: Inhaltsprotokoll 15/74 vom 20.03.2006, S. 4 u. 9, PA Berlin. 446 Ebd., S. 6. 447 Der Antrag von SPD und Linkspartei war eine Reaktion auf einen Antrag der CDU, FDP und Bündnisgrünen, der einen Missbilligungsantrag gegen den Senator in Aussicht stellte, würden SPD und Linkspartei sich nicht ihrem Antrag anschließen, vgl. Apin, Nina: »Zielscheibe Flierl«, in: Taz vom 23.03.2006; Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 15/4911 vom 23.03.2006, PA Berlin. 448 Ebd., S. 2. 449 Vgl. Beikler, Sabine: »Stasi-Debatte: Kein Verständnis für den Kultursenator«, in: Der Tagesspiegel vom 24.03.2006
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Rausschmiss durch Wowereit verlangte,450 sowie gegen 210 DDR-Oppositionelle, die in einem offenen Brief an den Regierenden Bürgermeister ebenfalls personelle Konsequenzen für den Kultursenator erwarteten.451 Diesbezügliche konkrete Schritte leitete schließlich die CDU-Fraktion ein, der Flierls Beteuerungen nicht genügte und die ihn weiterhin als eine »Fehlbesetzung« für den Stiftungsratsvorsitz der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen hielt. Sie brachte einen Antrag ein, der den Ausschluss des Kultursenators aus dem Stiftungsrat per Gesetzesänderung empfahl, würde so ein »möglicher Interessenkonflikt vermieden«, den sie zwischen der Gedenkstätte und ihrem Dienstherren unweigerlich ausmachten. »Durch das Eingeständnis des von der Linkspartei.PDS gestellten Kultursenators Dr. Thomas Flierl, sich bei der Veranstaltung in Lichtenberg nicht ausreichend gegen die dort auftretenden und pöbelnden Stasi-Offiziere gestellt zu haben, disqualifiziert sich der Senator für die verantwortungsvolle und hochsensible Aufgabe des Vorsitzes der Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Als Vorsitzender des Stiftungsrates hat er seine Glaubwürdigkeit eingebüßt«, begründeten die Konservativen ihren Vorschlag, Flierl gegen einen alternativen Wunschkandidaten der SenKult zu ersetzen.452 Die FDP pflichtete der CDU bei, bestand in einem eigenen Antrag jedoch darauf, dass nicht ein x-beliebiger Ersatz gefunden werde, sondern dass weiterhin ein Mitglied des Senats den Stiftungsvorsitz zu tragen habe.453 Die Regierungsparteien SPD und Linkspartei.PDS wiesen beide Anträge vehement zurück. Insbesondere die SPD kritisierte erneut die wahltaktischen und damit rein parteipolitischen Motive, die den Anträgen zugrunde lägen, hatte sich das Parlament bereits auf verschiedenste Art mit dem Fall befasst, hatte Flierl bei diesen Gelegenheiten seine Fehler längst öffentlich eingeräumt und keine Zweifel mehr offen gelassen an seiner Solidarität mit der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen sowie mit den Opfern, und herrschte ohnedies ein parteiübergreifender Konsens, dass eine Relativierung der DDR-Verbrechen und eine Verhöhnung der Opfer aufs Schärfste zu verurteilen war.454 »Mit dem Einbringen Ihres Antrages […] verleihen Sie der bisher geführten Debatte eine neue Qualität. Mit diesem Antrag ziehen Sie die Auseinandersetzung auf Wahlkampfniveau herab. Das finde ich sehr bedauerlich«, lautete daher das Urteil der SPD.455 Mit der Frage an die Antragssteller:
450 O.V.: »Stasi-Opfer fordern Flierl-Rücktritt«, in: Berliner Zeitung vom 22.03.2006. 451 Offener Brief von 210 DDR-Oppositionellen an den Regierenden Bürgermeister von Berlin vom 25.04.2006, www.havemann-gesellschaft.de/info219.htm (07.06.2006). 452 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 15/4943 vom 28.03.2006, PA Berlin. 453 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 15/4943-1 vom 06.04.2006, PA Berlin. 454 Am 23.03.2006 hatte hierzu im Abgeordnetenhaus von Berlin eine Aktuelle Stunde stattgefunden, am 04.04.2006 hatte der Präsident des Abgeordnetenhauses zudem 19 ehemalige Häftlinge zu einer öffentlichen Lesung ins Parlament eingeladen, vgl. Abgeordnetenhaus von Berlin: Plenarprotokoll 15/83 vom 23.03.2006, S. 7121-7122, PA Berlin; Abgeordnetenhaus von Berlin: Plenarprotokoll 15/84 vom 06.04.2006, S. 7259, PA Berlin. 455 Ebd.
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»Wollen Sie konkret dieses Stiftungsgesetz und eventuell auch andere ständig ändern, je nachdem, ob Sie die Senatsvertreter gerade sympathisch oder nicht sympathisch finden, ob Sie sich in der Opposition befinden oder nicht?«, wies die SPD ganz unabhängig von der Person Flierl zudem auf die generelle Tragweite der CDU- und FDP-Anträge hin.456 »Beschädigen Sie die Arbeit der Stiftung nicht mit solchen Anträgen, die durchsichtig nichts anderes als Wahlkampfgeschrei sind!«, endete das Plädoyer der SPD für das Festhalten am Status quo.457 Für die Linkspartei.PDS war die Forderung der CDU schlichtweg »verheerender Unsinn« und die Idee der FDP, die Verantwortung für Gedenkstätten und Museen einem ressortfremden Senator zu übertragen, eine unverschämte Verlegenheitslösung. Mit den Worten: »Wenn der Senat von Berlin künftig Gremienbesetzungen unbeeindruckt von fachlichen Zuständigkeiten nach dem jeweiligen Wohlwollen der Opposition regeln sollte, wäre das Chaos komplett«, wies auch sie auf die weitreichenden Folgen der CDU- und FDP-Forderungen hin.458 Das Parlament folgte schließlich den Bündnisgrünen und dem Ältestenrat. Es überwies die Anträge in den Kulturausschuss,459 der bei Enthaltung der FDP-Abgeordneten und gegen die CDU-Stimmen mehrheitlich eine Ablehnung beider Anträge empfahl.460 Dieser Beschlussempfehlung des Kulturausschusses folgte das Parlament am 31. August 2006. Bei wiederholter Enthaltung der FDP und Gegenstimmen aus den Reihen der CDU, wurde die Gesetzesänderung zur Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen mit rot-rot-grüner Mehrheit abgelehnt,461 stand Berlin sowieso kurz vor der Landtagswahl und war in diesem Zusammenhang ohnehin längst offenbar, dass sich Flierl bei einer Bestätigung der rot-roten Regierung kein weiteres Mal für das Amt des Kultursenators zur Verfügung stellte.462 In Bezug auf das Sperrgebietprojekt schien der politische Eklat in der Zwischenzeit eher förderlich als hinderlich zu sein. So nutzte die Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen die parteipolitische Debatte dazu, die sofortige Aufstellung der bis dahin vom Bezirk abgelehnten Texttafeln zu fordern, mit der Begründung, sie seien »[…] ein Signal an die Öffentlichkeit, dass der Bezirk den Geschehnissen
456 457 458 459 460
Ebd. Ebd., S. 7260. Ebd., D. 7261. Ebd., S. 7260, 7262. Abgeordnetenhaus von Berlin: Inhaltsprotokoll 15/79 vom 26.06.2006, S. 16, PA Berlin; Abgeordnetenhaus von Berlin: Beschlussprotokoll 15/79 vom 26.06.2006, S. 3, PA Berlin; Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 15/5390 vom 27.06.2006, PA Berlin. 461 Abgeordnetenhaus von Berlin: Plenarprotokoll 15/89 vom 31.08.2006, S. 7805, PA Berlin. 462 Das Amt des Kultursenators wurde mit Koalitionsvertrag vom November 2006 mit dem Amt des Regierenden Bürgermeisters vereint, sodass fortan Wowereit sowohl Regierender Bürgermeister und Chef der Senatskanzlei als auch Kultursenator war. Wowereit setzte seinen Staatssekretär André Schmitz für das letztere Amt ein, der in seinem Auftrag das Tagesgeschäft des Kultursenators übernahm.
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nicht tatenlos zusieht«.463 Die Tafeln seien ein »[…] klares Zeichen gegen die jüngsten Ausfälle von Stasi-Kadern«, erklärte Knabe gegenüber der Presse. 464 Die Lichtenberger Linkspartei.PDS-Bezirksregierung blieb davon unbeeindruckt und bewilligte die Aufstellung zunächst nicht. Sie lehnte weiterhin die dortige pauschale Formulierung zur »kommunistischen Diktatur« ab, erwecke sie nach wie vor dem Flierl-Skandal den Eindruck, die DDR habe in der Tradition der stalinistischen Ära bis 1989 bestanden.465 Außerdem vermisste sie auf den Texttafeln Hinweise zur Vorgeschichte des Sperrgebietes und forderte sie daher eine Ausweitung der Markierungen um den Zeitraum 1933-1945.466 Die Linkspartei.PDS empfahl zudem eine Expertengruppe einzuberufen, die den Auftrag bekäme, die bestehenden Texttafeln fachlich zu prüfen und ihrerseits alternative Vorschläge zur Gesamtmarkierung des Sperrbezirkes zu erarbeiten.467 Das reichte den Bezirksfraktionen von SPD, CDU und FDP nicht. Sie brachten einen Antrag ein, der abermals die sofortige Aufstellung der vier Texttafeln der Gedenkstätte verlangte. Zur BVV-Sitzung am 26. April 2006 luden sie zudem zahlreiche ehemalige Häftlinge ein, die erstmalig vom Rederecht der Öffentlichkeit bei einer BVV Gebrauch machten, um »[…] den PDS-Vertretern ein Beharren auf ihre Position besonders schwer zu machen […]«.468 Am gleichen Tag brachte die CDUFraktion, ohne primäre Zuständigkeit und daher von reiner Symbolpolitik geleitet, zusätzlich einen Antrag ins Abgeordnetenhaus ein, der das Errichten der Gedenktafeln im ehemaligen Sperrgebiet rund um die MfS-U-Haftanstalt Hohenschönhausen ebenfalls zum Gegenstand erhob.469 Das war gar nicht nötig, war die Linkspartei.PDS auf Bezirksebene längst dazu übergegangen, das von Knabe angeregte Sperrgebiet-Projekt gemeinsam mit der SenKult auszuweiten um mindestens zehn weitere Texttafeln, deren Gestaltung und Einbettung in eine topographische Markierung inzwischen sogar Gegenstand eines auszulobenden Gestaltungswettbewerbes mit einer Fachjury werden sollte.470 Hierüber hatten sich der Kultursenator und die Bezirksbürgermeisterin kurzfristig und
463 Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Presse-Information vom 21.03.2006, StAufarb., HSH Veranst. 464 Beikler, Sabine: »Parlament will Flierl vorladen«, in: Der Tagesspiegel vom 22.03.2006; vgl. Knabe, Hubertus: »Die Diffamierung des Gedenkens«. Gastkommentar, www.stiftung-hsh.de (07.06.2006). 465 Fuchs, Claudia: »Ein Zeichen gegen das Schweigen«, in: Berliner Zeitung vom 20.04.2006. 466 Rössling, Ingo: »Neue Provokation der Stasi«, in: Berliner Morgenpost vom 22.04.2006. 467 Ebd.; Knabe, Hubertus: »Die Diffamierung«(2006). 468 O.V.: »Neuer Versuch für die Stasi-Infotafeln«, in: Der Tagesspiegel vom 20.04.2006. 469 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 15/5037 vom 26.04.2006. 470 Fuchs, Claudia: »Tafeln und Striche gegen das Vergessen«, in: Berliner Zeitung vom 22.07.2006.
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sogar gemeinsam mit Knabe in der Zwischenzeit verständigt.471 Darüber hinaus mehrten sich mittlerweile auch in der Linkspartei.PDS Stimmen, die die vorgeschlagene Formulierung 40-jährige kommunistische Diktatur akzeptierten.472 Entsprechend wurde der parteiübergreifende Antrag von SPD, CDU und FDP von der BVV Lichtenberg auch von Vertretern der Linkspartei.PDS angenommen.473 Ein weiterer Skandal, der in der Presse bereits prophezeit wurde, 474 blieb aus. Die Debatte wurde endgültig für »erledigt« erklärt.475 Am 21. Juli 2006 wurden die vier umstrittenen Gedenktafeln aufgestellt.476 Geschichtspolitisch hatten das Flierl-Debakel, der Streit um die Texttafeln zum Sperrgebiet und der einmalige Großauftritt der Ex-Stasi-Kader vor allem eine Stärkung der rechtskonservativen Leseart der DDR-Geschichte und eine Solidarisierungsflut bezüglich der Gedenkstätte zur Folge. Fortan sorgte jedwede Kritik an der Gedenkstättenarbeit schnell für den Verdacht »geschichtsrevisionistisch« und »verharmlosend« zu sein und den Stasi-Altvorderen das Wort zu reden. Alle Berliner Parteien waren gezwungen geschichtspolitisch Flagge zu zeigen. Dies betraf vor allem die Berliner PDS.Linkspartei, die sich in einem Ausmaß wie nie zuvor zur DDR-Vergangenheit positionieren musste und im Ringen um politische Legitimation sogar die Charakterisierung der DDR als Terrorherrschaft uneingeschränkt akzeptieren musste. Diese neue Solidarität mit der Gedenkstätte als Trutzburg gegen Geschichtsrevisionisten und Alt-Kader, die Welle an antikommunistischer Selbstvergewisserung durch alle politischen Lager sowie die allgemeine Oberhand des undifferenzierten totalitarismustheoretischen Diktaturverständnisses wirkten sich aber auch gedenkstättenpolitisch auf Berlin-Hohenschönhausen förderlich aus. Das erwartete Erdbe-
471 Rössling, Ingo: »Neue Provokation der Stasi«, in: Berliner Morgenpost vom 22.04.2006. Trotz dieser Einigung behielt sich Knabe eine Skepsis an der Ausweitung der Ausschilderung vor, betrachtete er die Ergänzung von Hinweisen zu früheren Nutzungen des Stasi-Geländes (z.B. als NS-Zwangsarbeiterlager) als eine Relativierung der Stasi-Verbrechen, die er weiterhin ablehnte, vgl. Loy, Thomas: »Etappensieg im Tafelstreit«, in: Der Tagesspiegel vom 21.07.2006. 472 Fuchs, Claudia: »Und wieder trat die Stasi auf«, in: Berliner Zeitung vom 22./ 23.04.2006. 473 Rössling, Ingo: »Parteiübergreifendes Bündnis«, in: Die Welt vom 26.04.2006. 474 Kirschey, Peter: »Vier Gedenktafeln und Rederecht. MfS-Thema soll in Lichtenberger BVV zur Generalabrechnung mit der Linkspartei genutzt werden«, in: Neues Deutschland vom 20.04.2006; Seewald, Berthold: »Letzte Bastion. Warum die PDS im Ostberliner Bezirk Lichtenberg vier Informationstafeln über die DDR-Staatssicherheit verhindern will«, in: Die Welt vom 26.04.2006. 475 Abgeordnetenhaus von Berlin: Plenarprotokoll 15/85 vom 04.05.2006, S. 7369, PA Berlin. 476 Loy, Thomas: »Etappensieg im Tafelstreit, in: Der Tagesspiegel vom 21.07.2006; Ders.: »Ein Stück DDR-Geschichte enthüllt«, in: Der Tagesspiegel vom 22.07.2006; Kellerhoff, Sven Felix: »Tafeln zur Erinnerung an Stasi-Opfer«, in: Die Welt vom 22.07.2006.
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ben durch die Empfehlungen der Expertenkommission um Martin Sabrow, das inhaltlich im Einklang war mit der Gedenkstättenpolitik von Flierl, blieb nämlich nicht aus. Die 2005 von der Staatsministerin Christina Weiss (BKM) eingesetzte Expertenkommission, deren Auftrag es vordergründig gewesen war, im Zuge der Ressortverlagerung der BStU und der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur vom BMI zum BKM die Rolle dieser beiden Einrichtungen für die Zukunft neu zu bestimmen, und damit einhergehend eine Neuordnung der Gedenkstättenlandschaft vorzunehmen, unterbreitete zwar Vorschläge, die gewissermaßen eine »Entmachtung« des Gedenkstättendirektors und eine vollständige Einverleibung der Einrichtung durch den Bund bedeuteten, politisch und fachlich stießen die Vorstellungen der Sabrow-Kommission jetzt gerade aufgrund dieser Radikalität sowie aufgrund der jüngsten Ereignisse auf wenig Rückhalt.477 Die Kommissionsempfehlung, die Gedenkstätte könne in die bestehende Behördenstruktur der BStU eingegliedert und der Behördenleitung unterstellt werden, später dann gemeinsam mit der BStU-Abteilung »Bildung und Forschung« – in der inzwischen Gabriele Camphausen Fachbereichsleiterin für politische Bildung war – den Grundstock für eine Nachfolgeinstitution für die BStU bilden, löste den schärfsten Protest aus, bedeutete sie doch de facto den größten Autonomieverlust für die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen.478 Eine Eingliederung in die BStU hieß nichts anderes, als dass dem Stiftungsdirektor Hubertus Knabe (neben Hermann Schäfer vom HdG als längst beauftragter Chefautor der Dauerausstellung) nun auch noch die BStU Marianne Birthler und Gabriele Camphausen »vorsetzt« werden sollten. Aber auch die Alternativen, nämlich die Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen mit der Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße in eine unselbständige Stiftung unter dem Dach der BStU zusammenzuführen oder als selbständige Stiftung bei einer absehbaren Auflösung der BStU personell mit der Abteilung »Bildung und Forschung« zu fusionieren, stießen ebenfalls auf Zweifel und Kritik, verbarg sich dahinter doch ein ähnlich großer Autonomieverlust.479 Die gleichzeitig vorgenommene »Aufwertung« der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen (gemeinsam mit der Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße) als Teil einer neu zu schaffenden Leiteinrichtung »Forschungs- und Dokumentationszentrum ›Diktatur und Geheimpolizei‹« täuschte über einen Gängelungsversuch, der dem Bund maximalen Einfluss auf die inhaltliche Arbeit und Gestaltung der Gedenkstätte bescheren sollte und zugleich einen zukünftigen Rettungsanker für die BStU geboten hätte, nicht hinweg.480 »Schon seit Jahren versuchen linke Historiker und Politiker, die von einem Bürgerrechtlerverein betriebene ehemalige Mielke-Zentrale […] durch den Einbezug in die BirthlerBehörde ihres weitgehend autonomen Charakters zu berauben. Auch die Gedenkstätte im
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Sabrow, Martin/Eckert, Rainer (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? (2007), S. 13. Ebd., S. 37-38. Ebd., S. 38-39. Ebd., S. 36, 39; Schlegel, Matthias: »Streitbare Zukunft der Vergangenheit«, in: Die Tageszeitung vom 16.05.2006.
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ehemaligen MfS-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen sollte inhaltlich und personell anders ausgerichtet werden. Nachdem diese Versuche scheiterten, wurde zur Legitimation des Vorhabens, diese Orte zu entschärfen, eine personell entsprechend zusammengesetzte Kommission eingesetzt. Um ihr Ergebnis nicht politisch, sondern wissenschaftlich begründen zu können, musste sie notwendigerweise eine falsche Diagnose stellen«,
interpretierte Klaus Schröder, Leiter der Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin, in einem Deutschland Radio-Interview die Ergebnisse der Sabrow-Kommission.481 Für ihn war die Sabrow-Kommission vor allem ein geschichtspolitisches Manöver der Linken gegen die rechtkonservative Geschichtspolitik der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen.482 Die Verstaatlichung Hohenschönhausens sei ein linkspolitisch motiviertes Instrument zur Entschärfung, Entpolitisierung und Musealisierung der Aufarbeitung, das alleine schon deshalb versage, weil durch den zwischenzeitlichen Regierungswechsel der Auftraggeber verloren gegangen sei, gab er der Umsetzung der Empfehlungen wenig Chance. »Das ist ein Glücksfall für die Aufarbeitung der DDR«, schloss er sein Plädoyer für eine antilinke Diktaturaufarbeitung und gegen ein Weichzeichnen der DDR.483 In ähnliche Richtung wies auch die massive Gegenrede von Hubertus Knabe, der die Ergebnisse der Sabrow-Kommission – insbesondere ihre Empfehlung, die gesellschaftliche Durchdringung und den Diktaturalltag stärker ins Visier zu nehmen – zur »staatlich geförderten Ostalgie« erklärte und die Absorption seiner Gedenkstätte als das unsinnige Schaffen eines »Aufarbeitungskombinats« bezeichnete, mit dem Ziel seine Einrichtung mundtot zu machen.484 Dies sei ein Traditionsbruch mit der bisherigen Gedenkkultur der BRD und entspreche eher der Erinnerungspolitik der DDR, verteidigte er das Fortbestehen seiner institutionellen Unabhängigkeit und einer dezentral gewachsenen, bürgerschaftlich verankerten Gedenkstättenlandschaft.485 Bereits die Besetzung der Kommission, so Knabe, sei gekennzeichnet gewesen von Linkslastigkeit, sie habe in diesem Geiste mit der Abwicklung der BStU und mit der Enthauptung der Gedenkstätte Hohenschönhausen den ehemaligen Sta-
481 Klaus Schröder z.n. o.V.: »›Wir vergessen nichts‹ – Zur Diskussion um Aufarbeitung der SED-Diktatur«. Interview mit Klaus Schröder. Deutschland Radio Kultur vom 21.05.2006. 482 Siehe hierzu auch Schröder, Klaus: »Positionen: Was wir vergessen, das war nicht«, in: Der Tagesspiegel vom 18.05.2006. 483 Klaus Schröder z.n. o.V.: »›Wir vergessen nichts‹« vom 21.05.2006. 484 Mülder, Benedict Maria: »›Defizite‹ bei der Aufarbeitung des SED-Staats«, in: Der Tagesspiegel vom 08.05.2006. 485 Mülder, Benedict Maria: »Stasiknast oder Gartenzwergidylle? Streit um die Deutung der DDR-Geschichte«. 3SAT, Kulturzeit vom 16.05.2006, in: Sabrow, Martin/Eckert, Rainer (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? (2007), S. 261; Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Stellungnahme der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen zum Votum der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes »Aufarbeitung der SED-Diktatur« vom 06.06.2006 [Kopie in Besitz d. Verf.].
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si-Kadern einen Herzenswunsch erfüllt, lautete zudem sein Urteil. »Dass der erfahrene Kulturpolitiker Neumann beim Gedenken an die SED-Diktatur den zentralistischen Weg der DDR beschreiten wird, ist schwer vorstellbar«, endete sein erinnerungs- und geschichtspolitisches Gegenmanöver in der Presse, weit vor der eigentlichen öffentlichen Anhörung.486 Unterstützung erhielt er durch die Opfervereine und Verbände. Der Verein Bürgerbüro Berlin, kam unter dem Vorsitz ehemaliger DDR-Bürgerrechtler und dem Stellvertreter von Knabe, Siegfried Reiprich, zum Ergebnis: »Die BStU kann nicht in eine Gedenkstätten- und Museumsverwaltung umfunktioniert werden, erfolgreiche selbständige Gedenkstätten bedürfen keiner übergeordneten Verwaltung.« 487 Die UOKG, die VOS, das Forum Aufklärung und Erneuerung, der OFB e.V. sowie HELP e.V. unterzeichneten eine gemeinsame Stellungnahme, in der einem Anschluss der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen und eine Veränderung der Gedenkstättenzuständigkeit widersprochen wurde. »Die dringend erforderliche Verbesserung […] kann nicht durch die Schaffung einer zentralen Aufarbeitungsbehörde erreicht werden, sondern nur durch eine bessere finanzielle und personelle Ausstattung«, appellierten sie eindringlich.488 Weniger geschichtspolitisch motiviert ordneten die am 06. Juni 2006 im MarieElisabeth-Lüders-Haus zur öffentlichen Anhörung geladenen Experten die Kommissionsergebnisse ein. Reinhard Rürup leuchtete ein institutionelles Zusammenfassen der beiden Gedenkstätten Hohenschönhausen und Normannenstraße in ein »Forschung- und Dokumentationszentrum Diktatur und Geheimpolizei« vor allem aufgrund der verschiedenen Gegenstände nicht ein, eine Sicherung der Fachkompetenz der BStU sah er zudem eher in Verbindung mit Forschungseinrichtungen wie das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam.489 Manfred Wilke wiederum hielt nur ein Zusammengehen von der Gedenkstätte Normannenstraße mit der BStU für sinnvoll, die Probleme in Hohenschönhausen hingegen »[…] werden nach meinem Eindruck nicht durch diese neue Zuordnung gelöst«, lautete sein kurzes Statement hierzu.490 Sogar die BStU Marianne Birthler meldete deutliche Zweifel an. Mit den Worten: »Die Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen verfügt über funktionsfähige Strukturen in der Trägerschaft des Landes Berlin. Weder spricht meiner Ansicht nach etwas dafür, das Land Berlin aus dieser Verantwortung zu entlassen, noch erfordert der inhaltliche Zu-
486 Knabe, Hubertus: »Das Aufarbeitungskombinat. Merkwürdige Vorschläge zur Neuorganisation des DDR-Gedenkens«, in: Die Welt vom08.05.2006; Knabe, Hubertus: »Die DDR als Light-Version«, in: Berliner Morgenpost vom 08.05.2006. 487 Bürgerbüro Berlin e.V.: Presseerklärung vom 15.05.2006, www.havemann-gesell schaft.de/info222.htm (07.06.2006). 488 UOKG/VOS u.a.: »Expertenkommission III. Stellungnahme der Verbände der Verfolgten in der SBZ und der DDR vom 29.05.2006«, in: Sabrow, Martin/Eckert, Rainer (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? (2007), S. 292. 489 Sabrow, Martin/Eckert, Rainer (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? (2007), S. 64. 490 Ebd., S. 74.
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sammenhang der Arbeit mit der BStU und dem Haus 1 zwingend eine Veränderung der Struktur der Stiftung Berlin-Hohenschönhausen«,
lehnte sie im Grunde genommen die Übernahme Hohenschönhausens ebenfalls aus rein sachlichen Gründen ab.491 Trotz dieses sachbezogenen Zuspruches hielt die Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen während der Anhörung an ihrer maßgeblich geschichtspolitischen Argumentation fest. So begründete sie die Ablehnung der Ergebnisse der Expertenkommission weiterhin damit, dass es ihr nicht ansatzweise gelungen sei Antworten zu geben auf die Frage: »Ist die Delegitimierung linkstotalitärer Gesellschafts-, Geschichts- und Politikentwürfe, ist die Delegitimierung der kommunistischen Diktatur im Osten Deutschland wirklich nachhaltig gelungen oder nicht?«492 Das Schaffen eines »Aufarbeitungskombinats« und das Zerstören der gewachsenen Aufarbeitungslandschaft, wie es der Kommission unterstellt wurde, sei jedenfalls keine Lösung, gegen die neuerliche »Verklärung der Vergangenheit« anzugehen, wies Siegfried Reiprich als Vertreter von Knabe – der selbst nicht erschienen war – die Empfehlungen vehement zurück.493 Die Vorschläge der Kommission seien vielmehr Beiträge zur Verharmlosung der DDR-Vergangenheit, kritisierte er das Expertenvotum in Gänze. »Wir befürchten nicht nur, sondern wir meinen, dass die zentralen Vorschläge der Kommission […] eher darauf hinauslaufen werden, Zentralisierung zu fördern sowie Kräfteressourcen zu binden und den manchmal schon verzweifelten Kampf gegen Neulegitimierung linkstotalitärer Politikentwürfe nicht nur zu entwerten, sondern auch nachhaltig zu schwächen.«494
Zur Verschmelzung der Gedenkstätte mit der BStU fasste er die Haltung der Gedenkstätte zusammen: »Wir können dafür keinen Sinn und keine Notwendigkeit sehen.«495 Schließlich lehnte Reiprich auch die Forderung nach mehr Professionalisierung als erinnerungspolitisches »Fanal« zurück, unterstelle man den ehemaligen Häftlingen und Zeitzeugen, die u.a. in der Gedenkstätte Hohenschönhausen arbeiteten, in nicht zu rechtfertigender Weise einen Dilettantismus und verletzte man sie damit zutiefst.496 Zudem sei gerade die Zeitzeugenführung, wie sie in Hohenschönhausen praktiziert werde, das wirkungsvollste Mittel gegen den aufflackernden Geschichtsrevisionismus und entfalte – das würde die Beobachtung zeigen – gerade
491 Ebd., S.100-101; vgl. BStU: Pressemitteilung vom 15.05.2006 [Original in Besitz d. Verf.]. 492 Sabrow, Martin/Eckert, Rainer (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? (2007), S. 110. 493 Ebd., S. 112. 494 Ebd., S. 113. 495 Ebd., S. 114. 496 Ebd., S. 113.
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dieses Instrument seine hohe bildungspolitische Wirkung, pflichteten ihm Zeitzeugenmitarbeiter der Gedenkstätte bei.497 Sachlicher fiel die nachträgliche Stellungnahme von Hubertus Knabe im Namen der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen aus, bemängelte er darin, dass die Kommission die nachweislich erfolgreiche Arbeit der Gedenkstätte abgewertet habe, ohne eine empirische Überprüfung (z.B. eine Besucherevaluation) vorgenommen zu haben oder eine nähere Begründung hierfür anzugeben.498 Auch sei nicht nachvollziehbar, dass demgegenüber die in der Kommission vertretenen Einrichtungen ausschließlich positiv davon gekommen seien. »Diese Einteilung […] steht im Kontrast zur tatsächlichen Bedeutung der genannten Einrichtungen […]«, verteidigte er seine Gedenkstätte gegenüber der BStU und dem DHM, die trotz ein mehrfaches an Personal und Etat, der verhältnismäßig wesentlich kleineren Einrichtung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen in ihrer Wirkung und Effizienz erheblich nachstehen würden.499 Schließlich kritisierte Knabe in stärkerem Maße die Abstraktheit des Papiers und attestierte ihm geringe Sachkenntnis, liefere es hinsichtlich der Ausstattung der Gedenkstätten und in Bezug auf die Zukunft der BStU keine konkreten Antworten und pragmatischen Lösungen, und wenn doch, dann jenseits der rechtlichen Spielräume. So könne weder die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen als landesgesetzlich verankerte selbständige Stiftung öffentlichen Rechtes, noch die Gedenkstätte Normannenstraße, in Trägerschaft eines gemeinnützigen Vereines, in die Bundesbehörde integriert werden.500 Gegen den Vorwurf, die Gedenkstätte sei nur mangelhaft vernetzt und zur BStU gäbe es bisher kaum Kooperationswilligkeit, argumentierte er, die Gedenkstätte sei sehr wohl eingebunden in übergreifende Gremien, wie der Arbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten zur SBZ und DDR, auch habe die Gedenkstätte die meisten Ausstellungen der BStU in ihren Räumen gezeigt und habe es gemeinsame Veranstaltungen gegeben.501 Unter einer Stärkung der Zusammenarbeit konnte er sich daher lediglich die Abordnung frei werdender BStU-Mitarbeiter an notleidende Gedenkstätten vorstellen, unterbreitete er einen Gegenvorschlag.502 Er kam zum Schluss: »Der vorgeschlagene Zusammenschluss, der ein abstraktes Ordnungsinteresse über die Wirklichkeit stellt, ist der Arbeit der genannten Einrichtungen […] eher hinderlich« und er forderte die Bundesregierung auf, doch möglichst bald ein besser geeignetes Konzept vorzulegen, um der »Verklärung der kommunistischen Diktatur« entgegenzuwirken.503
497 Ebd., S. 147-148, 158-160. 498 Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Stellungnahme der Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen zum Votum der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes »Aufarbeitung der SED-Diktatur« vom 06.06.2006, S. 3, [Original in Besitz d. Verf.]. 499 Ebd., S. 2. 500 Ebd., S. 3. 501 Ebd. 502 Ebd., S. 4. 503 Ebd.
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Sabrow wiederum verteidigte die Empfehlungen der von ihm geleiteten Expertenkommission und die darin enthaltene Disziplinierung der Gedenkstätte Hohenschönhausen gegen die Kritiker: »Diese gezielte Bildung von Kristallisationskernen […] bedeutet Beistand zur Professionalisierung und nicht Unterdrückung oder Monopolisierung.«504 Mit den Worten: »[…] eine moralische Verdammung ohne historisches Tiefenverständnis verflacht letztlich zum hohlem Pathos«, verurteilte er jegliche Form platter Geschichtspolitik und verlieh er seiner Forderung nach einer wissenschaftlich fundierten Historisierung der DDR-Aufarbeitung und nach einem dahingehenden Akzentwechsel in der DDR-Aufarbeitung Nachdruck.505 Und auch in seinem Schlussplädoyer trat er entschieden für eine Verbindung der historisch objektivierten Wahrheit mit der Delegitimierung diktatorischer Systeme ein, verliere doch ein geschichtspolitisches Handeln, ohne sich der bedingungslosen Wahrheit zu versichern, jegliche ethische Berechtigung.506 Er, und mit ihm die Kommissionsmitglieder Klaus-Dietmar Henke – der u.a. zum »Pathos der Nüchternheit« aufrief – sowie Rainer Eckert – der als Leiter des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig innerhalb der Stiftung HdG sowie als Vorstandsmitglied der Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen eigentlich gegensätzliche Interessen zu vertreten hatte – standen damit offenkundig auf dem Kontrapunkt zur Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, die jede Form des Objektivierens und Differenzierens als einen Versuch des Nivellierens, Weichzeichnens, Beschönigens interpretierte.507 Beistand bekamen sie aus dem sozialdemokratischen Lager sowie vom ehemaligen BStU Joachim Gauck. Meckel, SPD-Minister des Bundes und Ratsvorsitzender der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, nahm sogar außerhalb der Tagesordnung der öffentlichen Anhörung schriftlich Stellung. In seinem handverteilten Zettel begrüßte er den Vorschlag explizit, die Gedenkstätten Normannenstraße und BerlinHohenschönhausen zusammenzufassen. Er interpretierte diese Zukunftsvision als späte Aufwertung beider Gedenkstätten, würde an den jeweils historischen Orten auf diese Weise endlich eine »[…] ›Topographie der Repression‹ geschaffen, in welcher die kommunistische Diktatur unmittelbar erfahrbar wird«.508 Nur die Empfehlungen in Bezug auf das allmähliche Ende der BStU teilte Meckel nicht.509 Gauck wiederum brachte gegen die ausschließliche Fixiertheit auf die Stasi und den »Leuchtturm« Hohenschönhausen vor: »Es geht doch letztendlich darum, dass wir uns klar machen, dass die Verwandlung von Bürgern, von möglichen Bürgern in ›Staatsinsassen‹ nicht
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Sabrow, Martin/Eckert, Rainer (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? (2007), S. 96. Ebd., S. 98. Ebd. S. 166. Klaus-Dietmar Henke z.n. Baum, Karl-Heinz: »Wirklichkeit der Diktatur«, in: Frankfurter Rundschau vom 07.06.2006. 508 Meckel, Markus: Herausforderung der Großen Koalition zur Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur in Deutschland vom 06.06.2006 [Original in Besitz d. Verf.]. 509 Rogalla, Thomas/Oschlies, Renate: »Nur wer sich ändert, bleibt sich treu«, in: Berliner Zeitung vom 12.05.2006; Meckel, Markus: »Die Geschichte qualmt noch«, in: Frankfurter Rundschau vom 02.06.2006.
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vor einem Stasi-Offizier und nicht im Gefängnis beginnt, sondern viel früher.«510 Die Suche nach »Erinnerungswaffen« gegen reaktionäre Kräfte und »Überwältigungspädagogik« überzeuge nicht immer, verwies auch er auf Fehler in der bisherigen Gedenkstättenarbeit – insbesondere in Richtung Hohenschönhausen.511 In der Presse fanden sich – wie es eine öffentliche Debatte erfordert – beide Lager, wobei die linke und linksliberale Presse, die sämtliche Verharmlosungsvorwürfe und insbesondere die der Hohenschönhausen-Vertreter als »abstrus« zurückwies, deutlich dominierte. »Die Zukunft der Auseinandersetzung mit der deutschen Diktaturgeschichte […] darf nicht in institutionellen Eigenbrötlereien und mit polemischen Zerrbildern zerredet werden, in denen zeithistorische Aufarbeitung zu erinnerungspolitischer Selbstbehauptung schrumpft«, zitierte die Journalistin Mönch den Kommissionsvorsitzenden Sabrow.512 Es komme »[…] bei der Neuordnung der DDR-Erinnerungslandschaft weder auf Bernd Neumanns Weltbild an noch auf die persönlichen respektive institutionellen Interessen von Hubertus Knabe. Es kommt darauf an, dass die DDR-Geschichte genauso klug, sachlich richtig und auf eine für die Besucher einsehbare Weise präsentiert wird wie dies […] im Hinblick auf die NS-Geschichte gelungen ist«,
legte auch die Journalistin Augstein im Einklang mit der Kommission ihren Finger auf die Wunde.513 Die institutionelle und kooperative Verbindung der Stasi-Aufarbeitungseinrichtungen in Berlin bewertete sie daher als sinnvoll.514 »Das Engagement ehemaliger Häftlinge ist bewundernswert und ehrenhaft. Es muss aber […] von den Einrichtungen moderiert werden und kann nicht der Selbsttherapie dienen, schon gar nicht, indem man beispielsweise Schülerinnen probeweise in Zellen einsperrt oder die historische Wahrheit nachbessert […]. Diese Situation ist unwürdig. Man löst sie nicht, indem man jede Kritik an der Museumspädagogik mit Drohgebärden oder der Verdächtigung beantwortet, hier wollten lediglich die alten Kader wieder ans Ruder«,
kritisierte auch Mariam Lau die Gedenkstättenarbeit in Hohenschönhausen und erklärte sie Hohenschönhausen zum Paradebeispiel für den Mangel an Professionalität, den die Sabrow-Kommission qua BStU-Anbindung zu beheben trachtete.515 Und auch die FAZ empfahl eine enge Zusammenarbeit von Birthlerbehörde und den StasiGedenkstätten, jedoch vorwiegend als geschichtspolitische Offensive gegen ewigge-
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Sabrow, Martin/Eckert, Rainer (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? (2007), S. 80 Gauck, Joachim: »Der sozialistische Gang«, in: Der Spiegel 25 (2006), S. 39. Mönch, Regina: »Meine DDR«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.05.2006. Augstein, Franziska: »Im Garten der Erinnerung«, in: Süddeutsche Zeitung vom 12.05.2006. 514 Ebd. 515 Lau, Mariam: »Aus Sicht der Opfer – Erinnerung an die SED-Diktatur«, in: Die Welt vom 08.06.2006; Lau, Mariam: »Grenzen der Schockpädagogik«, in: Die Welt vom 16.05.2006.
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strige DDR-Patrioten.516 Die Tageszeitung schloss sich dem Votum des Historikers Lutz Niethammer an, der gegen die gängige Praxis in Hohenschönhausen dafür plädierte, die DDR-Aufarbeitung nicht länger simplifizierend schwarz-weiß, personalisiert und moralisch zu führen, sondern nach wissenschaftlichen Kriterien, also historisierend und kontextualisierend: »Die Vorschläge sind fern von staatlicher Bevormundung und eher eine sanfte Kursbestimmung. Die Botschaft lautet: weniger Stasi, mehr Blick für den Alltag in einer Diktatur. Das ist […] die richtige Richtung: eine kluge Historisierung, die der Vielfalt der DDR gerecht wird.« 517 Genau das wiederum kritisierten die Gegenseite, die Knabes Argumente vollständig stützte und seine Einschätzung teilte, die Stasi-Aufarbeitung werde weichgespült und die Kommission rede einer »DDR-Light-Version« das Wort.518 Mathias Döpfner spitzte zu: »Wenn sich ihr [das der Sabrow-Kommission] rosarotes Geschichtsbild durchsetzt, wäre das eine Verhöhnung der Opfer. Das Beste, was der Bundestag mit den Empfehlungen der Experten tun kann, ist: ablehnen und ablegen.«519 Gemäß dieser Ankündigung wurden die Sabrow-Empfehlungen von BKM Bernd Neumann (CDU), dem Nachfolger von Christian Weiss (SPD), nur unter Vorbehalt angenommen, und das obwohl die Befürworter des Paradigmenwechsels – die Vorschläge zu Hohenschönhausen dabei ausgeschlossen – inzwischen die Mehrheit bildeten.520 Die Vorschläge zur institutionellen Einbindung der Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen in die BStU bzw. das Schaffen einer neuen Stiftungsstruktur wurden von Neumann allein deshalb schon nicht mehr weiter verfolgt. An eine ernsthafte Umsetzung hatte der BKM ohnehin nie gedacht, bekundete er doch bereits bei seinem Antrittsbesuch nur wenige Wochen vor der Übergabe der Kommissionsergebnisse seine uneingeschränkte Solidarität mit der Einrichtung bzw. seine Unterstützung der bestehenden Struktur und war er der Arbeit der Gedenkstätte gegenüber ausschließlich voll des Lobes.521 Neumann hielt also zu Knabe und distanzierte sich höflich vom Sabrow-Papier, indem er das Kommissionsergebnis lediglich als einen »Diskussionsbeitrag« bzw. »Denkbaustein«, den man nicht übernehmen müsse, abqualifizierte.522
516 Blasius, Rainer: »Die Rentner der Stasi – Verfolger verhöhnen Opfer und wollen das MfS rehabilitieren«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.05.2006. 517 Reinecke, Stefan: »Die DDR, klug historisiert«, in: Taz vom 12.05.2006. 518 Staadt, Jochen: »Kollision der Fachleute. Die Einrichtungen zur DDR-Aufarbeitung sollen neu geordnet werden«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.05.2006. 519 Reinecke, Stefan: »›Ostpartys glorifizieren nicht‹«. Interview mit Lutz Niethammer, in: Taz vom 12.05.2006; Döpfner, Mathias: »Keine DDR light«, in: Die Welt vom 20.06.2006. 520 Oschlies, Renate: »Von Fahnenappell bis Kadersystem. Nun doch auch Zustimmung zu DDR-Aufarbeitungskonzept«, in: Berliner Zeitung vom 07.06.2006; Kellerhoff, Sven Felix: »›Die Stasi war charakteristischer als die Kinderkrippen‹«, in: Die Welt vom 07.06.2006. 521 O.V.: »Staatsminister Neumann lobt Gedenkstätte für Stasi-Opfer«, in: Berliner Morgenpost vom 23.04.2006. 522 Oschlies, Renate: »›Nur ein Denkbaustein‹. Minister geht auf Distanz zu DDRAufarbeitungskonzept«, in: Berliner Zeitung vom 16.05.2006.
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Ihm ging das Sabrow-Papier als Beitrag gegen die Tendenzen zur Verklärung der DDR nicht weit genug, die Vorschläge führten seiner Meinung nach auch im Hinblick auf die Zukunft der Gedenkstätte Hohenschönhausen erst Recht nicht in die richtige Richtung. Ihm lag nichts ferner, als die Abwicklung Hohenschönhausens, sondern trat vielmehr für ihre Aufwertung ein, die er in der Verbindung mit der BStU nicht erkennen wollte.523 Unterstützung erhielt er von Hermann Schäfer, der als Direktor des HdG und als Neumanns Stellvertreter eine noch radikalere Position einnahm, indem er vor einem Export deutscher Gedenkkultur nach Osteuropa warnte und im Papier – der Kritik der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen und der Opfervertreter folgend – eine einzige DDR-Verklärung las.524 Damit war die Anbindung der Gedenkstätte an die BStU offiziell vom Tisch. Offen blieben Alternativen zur bundespolitischen Beteiligung an der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, z.B. weitergehende Verhandlungen mit dem neuen BKM über eine anteilige Übernahme der Bauinvestitionen (Stichwort: »Nevermann-Halle« und Dauerausstellung). Angesichts des Flierl-Debakels, der Ablehnung der Kommissionsvorschläge sowie der Entschiedenheit von BKM Neumann, alles gegen eine Verklärung der kommunistischen Diktatur zu unternehmen, schienen die Aussichten hierauf günstig. In Abgrenzung zu den Sabrow-Ergebnissen und die Kritik gegen eine Anbindung der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen weitgehend berücksichtigend, sah die neue Gedenkstättenkonzeption des Bundes, die der BKM Neumann am 18. Juni 2008 vorlegte, für die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen lediglich eine Fortsetzung und den Ausbau der Kooperationen zu verwandten Einrichtungen vor. Die BStU wurde dabei ausdrücklich nicht genannt, sondern lediglich die Gedenkstätte Normannenstraße und die Gedenkstätten in den ehemaligen Gefängnissen und Bezirksstädten des MfS.525 D.h., an der institutionellen Struktur der Gedenkstätte sollte sich nichts ändern, die Gedenkstätte sollte in Landesträgerschaft bleiben. Die 50%ige institutionelle Förderung durch den Bund garantierte Neumann ebenfalls. Hubertus Knabe begrüßte diese für seine Einrichtung glückliche Wendung. »Der BKM-Entwurf strebt weder ein ›Reichsgedenkstättenhauptamt‹ noch ein ›Aufarbeitungskombinat‹ an. Darin unterscheidet er sich positiv von früheren eher zentralistisch angelegten Vorschlägen«, brüskierte er ein vorerst letztes Mal seinen Widersacher Sabrow.526 In Bezug auf Hohenschönhausen versprach der BKM in der Neuen Gedenkstättenkonzeption zudem schwarz auf weiß, dass sich der Bund »[…] wie geplant an der Hälfte der Kosten für die notwendigen Sanierungs- und Umbauarbeiten und für die Einrichtung einer Dauerausstellung [beteiligt], die die vertiefte Auseinandersetzung
523 Ebd.; Schlegel, Matthias: »Streitbare Zukunft der Vergangenheit«, in: Die Tageszeitung vom 16.05.2006. 524 Mönch, Regina: »Weichspüler der Geschichte. Deutungshoheit über die DDR: Der Kulturstaatsminister watscht seine Gutachter ab«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.05.2006. 525 BKM: Verantwortung wahrnehmen (2008), S. 11. 526 Dt. BT, Drs. 16(22)132c vom 01.11.2007, S. 3, PA Dt. BT.
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mit dem Schicksal der Inhaftierten und der Geschichte der Haftanstalt ermöglicht.«527 Und der fast ein Jahrzehnt währenden Kritik an der subjektiven und rein zeitzeugengestützten Geschichtsvermittlung schob er einen Riegel vor, indem er dieser bisherigen Gedenkstättenpraxis in Hohenschönhausen zugleich Sachkundigkeit bescheinigte.528 D.h., auch bei diesen beiden Aspekten war Neumann der Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen wohl gesonnen. Der fachlich längst geforderte Paradigmenwechsel war also politisch weiterhin nicht durchsetzbar. Im Gegenteil. Die subjektive und politisch rechtkonservative delegitimatorische DDR-Aufarbeitung in Hohenschönhausen wurde nun vom Bundeskanzleramt ausdrücklich erlaubt.
4.9 Z USAMMENFASSUNG : D IE G EDENKSTÄTTE B ERLIN -H OHENSCHÖNHAUSEN 1989-2009 Die Idee einer Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen fußte auf frühe Initiativen ehemaliger Speziallagerhäftlinge, nämlich des Kurt-Schumacher-Kreises, der bereits 1988 und 1989 Versuche unternahm, in Bezug auf das Speziallager Hohenschönhausen eine »Gedenkstätte für die Opfer der stalinistischen Terrorherrschaft« zu errichten. Die DDR-Regierung stand einer nationalen Mahn- und Gedenkstätte für die Opfer des Stalinismus in Hohenschönhausen nicht vollkommen abgeneigt gegenüber. Es gab Begehungen und Willensbekundungen, erst durch die Modrow-, dann durch die de Maiziére-Regierung. Der letzte Innenminister der DDR, PeterMichael Diestel, räumte dem KSK sogar kurz vor dem Beitritt der DDR zur BRD die Möglichkeit ein, auf dem Gefängnisgelände Hohenschönhausen eine Denkmalanlage für die »Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft« aufzubauen. Er gab damit – im Einklang mit seinen bundesdeutschen Kollegen – frühzeitig eine Begrenzung auf ein Stalinismusopfergedenken auf. Konkrete Schritte in Richtung einer Umsetzung blieben jedoch aus. Ganz anders waren die Vorstellungen der SenJustiz gelagert, die nach dem 03. Oktober 1990 für die ehemalige Zentrale MfS-Untersuchungshaftanstalt zuständig wurde. Von Anfang an unterstützte die Berliner SenJustiz das Vorhaben, auf dem Gelände des MfS-Gefängnisses nicht nur eine kleine Denkmalanlage für die Opfer des Stalinismus bzw. Kommunismus zu errichten, sondern den Kern der Haftanstalt in eine groß angelegte Dokumentations- und Gedenkstätte zu verwandeln mit dem Schwerpunkt »politische Haft in der DDR«. Von der Weiternutzung von Teilen des Gefängnisses für den Strafvollzug nahmen die SenJustiz und der Berliner Senat daher schon 1991 endgültig Abstand. Im Frühjahr 1992 wurde das Areal zum Zwecke einer zukünftigen Gedenkstättennutzung der SenKult übergeben, im Herbst 1992 unter Denkmalschutz gestellt. Pläne der Senatsverwaltungen, dort eine Gedenkstätte zur politischen Haft einzurichten, sowie Vorschläge des Bezirkes Lichtenberg, in der Haftanstalt Hohenschönhausen ein mentalitäts- und kulturgeschichtliches »DDR-Museum« zu instal-
527 BKM: Verantwortung wahrnehmen (2008), S. 18. 528 Ebd.
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lieren, ermutigten den KSK seine Gedenkstättenpläne wiederaufzunehmen, diesmal in Richtung einer »Zentralen Gedenkstätte für die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft«. Auch er hatte die antistalinistische Engführung des Opfergedenkens inzwischen abgelegt. In Abgrenzung zu den Verwaltungen und dem Bezirk, bevorzugte der KSK jedoch fortan ein Gedenkstättenmodell, das auf eine normative Gegenüberstellung von DDR- und BRD-Strafvollzug abzielte. Um ein Scheitern des Gedenkens an die Opfer der »kommunistischen Gewaltherrschaft« zu verhindern, schalteten sich neben dem KSK mittlerweile auch andere Häftlings- und Opferverbände ein, so der SPD-Arbeitskreis und der BSV. Sie widersprachen den Gedenkstättenideen der Verwaltungen und des Bezirkes ebenfalls entschieden und forderten die Rückkehr zu einem würdigen »Gedenken an die Opfer und den Widerstand gegen die kommunistische Terrorherrschaft«. An den geschichtspolitischen Grundpositionen der Opfer und ehemaligen Häftlinge, die ein antistalinistisch und antikommunistisch geprägtes, delegitimierendes Erinnern und Gedenken erwarteten, sowie der zuständigen Senatverwaltungen, die ein solches vereinfachtes SBZ- und DDR-Geschichtsbild durch neutralere Begriffe und durch eine differenziertere Betrachtung der politischen Haft in der DDR weitgehend zu vermeiden suchten, änderte sich im Laufe des Jahrzehntes nichts. Gleichwohl sorgte diese Konstellation für wenig Konsens und für viel Streit. Nur ein einziges Mal rückten die SenKult und die Häftlings- und Opfervertreter von ihren Standpunkten ab. So folgte die SenKult ihrem Vorsatz, neutral und wissenschaftlich objektiv zu bleiben, bei ihrem 1993 gestellten Antrag an das BMI über eine Bundesbeteiligung nicht, beantragte sie eine Beteiligung an einer »Zentralen Mahn- und Gedenkstätte für die Opfer des Stalinismus« in ungewohnt antistalinistischem Ton. Die Häftlings- und Opfervertreter wiederum legten als »Konferenz der Verbände ehemaliger politischer Häftlinge« (unter Federführung des KSK) im Frühjahr 1994 ein Gedenkstättenkonzept vor, das eine vom Gegenstand und Ausmaß her plausible Einrichtung empfahl und entgegen der bisherigen Diktion gänzlich frei von Geschichtspolitik war. Diese beiden »Fälle« blieben allerdings die Ausnahme, bemühten sich die Senatsverwaltungen ansonsten um gebotene Sachlichkeit und argumentierten die Häftlings- und Opfervertreter überwiegend emotional und hochgradig politisiert. Obwohl sich die Berliner CDU-Regierung geschichtspolitisch häufig gegen die SenKult und die SenJustiz stellte und im Sinne der Opfervertreter prinzipiell dafür plädierte, das ehemalige Stasigefängnis als »Museum gegen kommunistische Terrorherrschaft« auszugestalten, waren die Regierungsentscheidungen über eine Gedenkstätte in Hohenschönhausen lange Zeit reine Symbolpolitik, Taten folgten kaum: So drückte sich die Berliner CDU-Regierung jahrelang darum, inhaltlich federführend und auch finanziell für den Aufbau der Gedenkstätte die Verantwortung zu übernehmen; auch zielten die meisten Aktivitäten der Berliner CDU-Regierung (z.B. die 1993 eingesetzte Wilke-Kommission) darauf ab, die Gedenkstätte so schnell wie möglich an den Bund abzugeben. Das Wilke-Gremium folgte inhaltlich dem antikommunistischen Grundklima der Opferverbände und der Bundes-CDU. Es empfahl in seinem Gutachten von 1995 die Gedenkstätte in Höhenschönhausen zur zentralen Einrichtung einer »Topographie der zweiten deutschen Diktatur« als Pendant zur NS-Gedenkstätte »To-
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pographie des Terrors« auszubauen. Zudem sollte es der zentrale Ort des »Gedenkens an die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft und an Justizunrecht in Deutschland« werden. Dazu nahm es auch die Idee des KSK auf, dem DDRJustizunrecht einen realen BRD-Strafvollzug vor Ort gegenüberzustellen. Des Weiteren legte das Wilke-Gutachten nahe, die Gedenkstätten zur NS-Zeit und zur »kommunistischen Gewaltherrschaft« stärker miteinander in Beziehung zu setzen in Form einer »Topographie beider Diktaturen in Berlin«. Obwohl das Wilke-Papier vollkommen auf der politischen Linie der Opfervertreter lag, gab es von ihrer Seite dennoch Gegenstimmen. So war einigen Verbandsvertretern das Papier nicht antistalinistisch und antikommunistisch genug. Zudem gab es Klagen über die mangelnde Berücksichtigung der ehemaligen Häftlinge beim Planungsprozess sowie über die Langwierigkeit der Verfahren. Auch wurde eine Weiternutzung als Strafvollzugseinrichtung abgelehnt. In den letzen beiden Punkten herrschte zwischen SenKult und Verbandsvertretern seltene Einigkeit. Weil das Wilke-Papier nur stellenweise den Anforderungen und Vorstellungen der SenKult entsprach, setzte sie Ende 1995 einen Arbeitsauschuss zur Weiterentwicklung des Gedenkstättenkonzeptes ein. Er milderte die geschichtspolitisch aufgeladenen Vorschläge des Wilke-Gremiums erheblich ab und dämpfte somit das antikommunistische, totalitarismus-theoretische Geschichtsbild, das sich mit den Gedenkstättenentwürfen der Vorjahre verband. So vermied das vom Ausschuss erarbeitete Rahmenkonzept von 1997 durchweg Analogieschlüsse zum Nationalsozialismus und Schwarz-Weiß-Malereien, sondern machte es – zum Ärger einiger Häftlingsverbände und ihrer konservativen Vertreter – eine undogmatische, multiperspektivische und sachlich differenzierte Geschichtsaufarbeitung, frei von politischen Wertungen zur Grundlage der Gedenkstättenarbeit vor Ort. Dieser Vorzeichenwechsel schlug sich nicht zuletzt in der Namensgebung der Gedenkstätte nieder, sollte sie nun nicht mehr eine »Zentrale Gedenkstätte für die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft« oder eine »Topographie der zweiten deutschen Diktatur« sein, sondern politisch neutral und wissenschaftlich nüchtern eine »Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen«. Diese »Umwidmung«, die unter anderem auch eine vom Bund gestellte Bedingung für die Bundesförderung war, lösten erneut starke Widerstände in den Reihen der organisierten ehemaligen Häftlinge aus. Sie verbanden mit den Arbeitsergebnissen nun erstrecht eine Verharmlosung der DDR-Verbrechen, linksliberale Geschichtsklitterung sowie eine Beschönigung des Repressionsortes. Darüber hinaus bestanden sie jetzt insbesondere auf eine stärkere Beteiligung bei der Gedenkstättengestaltung. Die Kritik der Opfervertreter am Rahmenkonzept prallte im Arbeitsausschuss weitgehend ab. Nicht einmal die Mitnutzung von Räumlichkeiten durch einzelne Opferverbände wurde mehr befürwortet. Bloß hinsichtlich der Gedenksteininschrift machte der Ausschuss Zugeständnisse. Weil die Anregungen der Häftlinge ansonsten vom Ausschuss und der SenKult weitgehend ignoriert wurden, nutzten die Opfervertreter die Suche nach einem geeigneten Gedenkstättenleiter, um durch das Denunzieren einzelner Bewerber und das Lancieren eines eigenen Wunschkandidaten wieder an Einfluss auf das Gedenken und Erinnern in Hohenschönhausen zu gewinnen. Personalpolitische Querelen um die Besetzung des Direktorenpostens, sowie der darauf-
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hin eingeschlagene Kurs der Berliner CDU-Regierung, die Gedenkstätte einfach unter das Dach der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur einzugliedern bzw. sie sanft an den Bund »abzuschieben«, folgten. Durch das Gerangel um den Einfluss auf die Gedenkstätte und ihre staatlich-institutionelle Rückbindung zögerte sich die Stiftungsgründung schließlich bis ins Jahr 2000 hinaus. Mit der Berufung des Gedenkstättendirektors Hubertus Knabe setzten sich die Interessen der Konservativen und der Opfervertreter gegen die der SenKult und der Mehrheit der Sachverständigen durch. Mit ihm erhielten die ehemaligen HaftOpfer die ersehnte Anerkennung und wiedererlangten sie ein Stück weit Deutungshoheit. So wurden seit dem Amtsantritt von Hubertus Knabe zum Jahresende 2000 in einem Ausmaß wie nie zuvor ehemalige Häftlinge in die Gedenkstättenarbeit integriert und verwandelte sich die Gedenkstätte in ihr politisches Sprachrohr. Während Knabe vorwiegend publizistisch massiv Geschichtspolitik im Sinne der Opferverbände und in eigener Sache betrieb (z.B. indem er für eine konsequente Gleichbehandlung von Nationalsozialismus und Kommunismus eintrat), konzentrierte sich seine bildungspolitische Arbeit – ebenfalls abweichend von der Praxis anderer Gedenkstätten –verstärkt auf die rein subjektive und betroffenheitsbetonte Geschichtsvermittlung. Hierfür wurde das Zeitzeugenangebot außergewöhnlich ausgebaut, ohne dass begleitende, objektivierende Informationsmaterialien und Ausstellungen bzw. Beschilderungen folgten, die diese opferzentrierte, monoperspektivische Geschichtsvermittlung in einen übergeordneten historischen Kontext eingebettet hätten. Die Ansätze und Ergebnisse des Arbeitsausschusses, des BKM und der SenKult wurden auf diese Weise erheblich abgeschwächt, wenn nicht gar z.T. verworfen und eine Geschichtsdarstellung begünstigt, die dem antikommunistischen Duktus der Opfervertreter und ihren subjektiven Sichtweisen auf die SBZ/DDR-Vergangenheit entgegenkam. Die neue Berliner Regierungskoalition aus SPD und PDS sowie die Benennung des PDS-Abgeordneten Flierl zum Kultursenator förderten diese Entwicklung ungewollt, bot doch die linke Regierung permanent Angriffspunkte, die den politischen Kurs der Gedenkstätte und ihre dogmatische Pädagogik pressewirksam zu rechtfertigen schienen. Nachdem Knabe in seinem Amt v.a. durch politischen Druck 2001 vom BKM bestätigt wurde und Berlin eben angesichts der rot-roten Regierung nur einen minimalen Handlungsspielraum genoss, schien als einzige Möglichkeit einer ReProfessionalisierung und Disziplinierung der Gedenkstättenarbeit zu fördern, die Forcierung einer Dauerausstellung durch den Bund. Weil diesbezügliche Vorschläge des Gedenkstättendirektors ohnehin weit über dem einkalkulierten Etat lagen und sie deutlich von den Vorgaben des potenziellen Geldgebers BKM abwichen, beauftragte der Stiftungsrat schließlich im Laufe des Jahres 2002 Hermann Schäfer vom Haus der Geschichte in Bonn (stellvertretend für den Bund) mit der Ausstellungskonzeption. Damit war die Berliner SPD-PDS-Regierung einigermaßen »raus« aus der politischen »Schusslinie« und übernahm der Bund die Zügel. Eine Versachlichung und Entpolitisierung der Gedenkstättenarbeit bedeutete die Beauftragung des HdG aber nicht. Vielmehr verbarg sich dahinter eine massive staatliche Intervention, die aufgrund ihres übergeordneten Zieles, die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen auf diese Weise in den Rang einer »Zentralen Gedenkstätte für die Opfer der SED-Diktatur« zu heben, bei weitem nicht frei von Erinne-
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rungs- und Geschichtspolitik war. So flossen die Anregungen des BKM (z.B. die »Nevermann-Halle«) direkt in die Gedenkstättenneuplanungen des HdG ein und wurde der geschichtspolitisch konservative Kurs der Gedenkstätte im Grunde genommen fortgesetzt. Der lang ersehnte Ausbau der Gedenkstätte zur Zentralen Stasi-Opfer-Gedenkstätte lag überdies voll und ganz im Interesse der ehemaligen Häftlinge und ihrer Opferverbände. Er war im rot-rot regierten Berlin ein trotziges Zeichen dafür, dass die »rote Diktatur« angesichts der linken Regierungsmehrheit nun erst Recht erinnert werden müsse. Eingriffe in diese BKM/HdG-Planungen seitens der SenStadtUm und der SenKult wurden fortan kaum noch berücksichtigt. Kritik seitens der Berliner SPDPDS-Regierung an der Gedenkstättenarbeit in Hohenschönhausen und die Ermahnung eines sachlicheren Umganges mit der Geschichtsmaterie und einer differenzierten Darstellung der SBZ und DDR, wurden unter den Generalverdacht gestellt, die Vergangenheit relativieren zu wollen. Höhepunkt dieser geschichtspolitischen Auseinandersetzungen bildete 2006 die Eskalation des Streites um die Beschilderung des Sperrgebietes, in dem sich die MfS-U-Haftanstalt befunden hatte. Flierls Unfähigkeit, den Auftritt von rund 200 Stasioffizieren bei einer Podiumsdiskussion zu vereiteln, kostete ihm schließlich seinen politischen Kopf und begünstigte einen breiten politischen Rückhalt, den die anti-links ausgerichtete Gedenkstätte fortan genoss. Die öffentlichen Auftritte ehemaliger Stasi-Kader provozierten also antikommunistische Reflexe und förderten die politisch ungeteilte Solidarität mit den ehemaligen Häftlingen und ihren Opferorganisationen sowie mit der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Versuche der Berliner SPD, PDS und Bündnisgrünen, neben ihrer allgemeinen Solidarität gegen Ewiggestrige auch jenseits von Parteipolitik und »Wahlkampfgeschrei« eine politisch unabhängige Geschichtsaufarbeitung in Hohenschönhausen durchzusetzen, missglückten – nicht zuletzt auch durch den Schiffbruch, den die Empfehlungen der Sabrow-Kommission im Auftrag der Ex-BKM Weiss (SPD) erlitten. Die Versuche der Sabrow-Kommission, die Gedenkstättenarbeit in Hohenschönhausen in Richtung eines politisch neutralen Historisierungsprozesses zu beeinflussen und auf Dauer institutionell mit dem Bund zu verankern, scheiterten vor allem am Vorschlag, die Gedenkstätte langfristig mit der Behörde der BStU zu verbinden. Der neue BKM Neumann (CDU) und mit ihm die Mehrzahl der Experten (inkl. der BStU Marianne Birthler selbst) lehnten eine solche Lösung der »Probleme« ab. Entsprechend legte Neumann 2008 eine Gedenkstättenkonzeption des Bundes vor, die an der institutionellen Autonomie der Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen sowie an ihrem Ausbau zum »Zentralen Gedenkort für die Opfer der SED-Diktatur« festhielt, der delegitimatorischen und antikommunistischen Ausrichtung der Gedenkstätte positive Anerkennung entgegenbrachte sowie ihrer bisherigen Arbeit ausreichende »Objektivität« bescheinigte. Damit hatten sich die Vorstellungen der Opferverbände bzw. Häftlingsvertreter in Bezug auf ein Gedenken und Erinnern in der ehemaligen Zentralen MfS-Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen vorerst durchgesetzt.
Der Streit um das Erbe der Stasi: »Runde Ecke« und »Haus I«
1. Einführung
Die historische Aufarbeitung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) spielte bereits im Zuge seiner Auflösung eine zentrale Rolle und war von Beginn an ein geschichtspolitisch hochgradig umkämpftes Gut. Aktensicherung und ihre Archivierung sowie die öffentliche Aufklärung über MfS-Machenschaften erwiesen sich zu einem frühen Zeitpunkt als ideale Werkzeuge, um die DDR zu demontieren bzw. sie zu delegitimieren. Die Macht über die Akten der Staatssicherheit zu gewinnen, bedeutete aber nicht nur zum Ende der DDR beizutragen, sondern auch seine Geschichte ein Stück weit mitzuschreiben. Bei der Gedenkstätte Museum in der »Runden Ecke« Leipzig und der Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße ist daher besonders von wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse, auf welchen Wegen im Zuge der Auflösung des MfS bzw. des Amtes für Nationale Sicherheit (AfNS) schon im Laufe des Sommers/Herbstes 1990 erste Ausstellungen bzw. Gedenkstätten entstehen konnten. Wie konnte die DDR-Staatssicherheit so frühzeitig musealisiert werden? Und wer betrieb eigentlich mit welchem Interesse so früh die öffentliche Darstellung der MfS-Geschichte? Wie stark war die Aufarbeitung an den jeweiligen MfS-Orten tatsächlich vom vorherrschenden Tenor der MfS-Auflöser und ihren geschichtspolitischen Motiven geprägt? Welche Geschichts- und Erinnerungsnarrative etablierten sich und an welchen Stellen erweisen sie sich als Konstruktion? War das Ende der DDR eine »Selbstbefreiung aus eigener Kraft«?1 Oder war die gewaltfreie Bürgerbewegung auch ein »Feigenblatt« für SED und MfS? War die »Friedliche Revolution« am Ende vielleicht sogar eine »Revolution von oben«? Für das geschichtspolitische Selbstverständnis der Mitglieder der Auflösungs- bzw. Bürgerkomitees und heutigen Gedenkstättenmacher an diesen MfS-Orten, war und ist diese »Gretchenfrage« – wie zu zeigen sein wird – darum so wesentlich, weil sie ihre Deutungshoheit über – und ihren jeweiligen »Besitzanspruch« auf das Erbe der DDRStaatssicherheit aus der gelungenen »Revolution von unten« ableiten. Sollte es vor dem »Sturm eine geordnete Übergabe«2 geben haben, und statt einer »Friedlichen
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Hollitzer, Tobias: »15 Jahre Friedliche Revolution«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 41-42 (2004), S. 4ff. Vgl. Hinze, Albrecht: »›Vor dem Sturm eine geordnete Übergabe‹«, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.01.1995.
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Revolution« dort doch eher eine »Refolution«3 – d.h. eine Revolution, die v.a. aus kontrollierten, kanalysierenden Reformen seitens der Politik sowie Kooperationen zwischen den zivilen Kräften und dem ehemaligen MfS/AfNS bestand, bedeutete das für die MfS-Geschichtsaufarbeiter nichts anderes als einen »Schatten auf der eigenen Heldengeschichte« bzw. eine Entmythologisierung der eigenen Rolle, mit der möglichen Folge, Deutungsmacht einzubüßen bzw. das Deutungsmonopol mit denjenigen, die sie im Herbst 1989 stürzen wollten, teilen zu müssen. Besonders an diesen ehemaligen MfS-Orten wird dieses Dilemma deutlich. Vorab sei angemerkt, dass es hierbei nicht um die Bewertung von Einzelleistungen der an der Auflösung der Staatssicherheit beteiligten und noch heute in die Erinnerungsarbeit involvierten Personen bzw. Institutionen geht. Die mit der Auflösung betrauten Auflösungs- und Bürgerkomitees bzw. Personen stehen diesbezüglich nicht zur Disposition und es wird auch keine Beschönigung der DDRStaatssicherheit durch eine kritische Betrachtung ihres Auflösungsprozesses verfolgt. So wird die Analyse diejenigen enttäuschen, die eine abschließende Beantwortung der o.g. Gretchenfrage erwarten. Nur diejenigen Entwicklungen werden bei der Analyse detailliert berücksichtigt, die für die wissenschaftliche Fragestellung ausschlaggebend sind. Die stellenweise präzise Rekonstruktion der Ereignisse in Leipzig und in Berlin 1989/1990 konzentrieren sich ausschließlich auf die erinnerungs- und geschichtspolitisch relevanten Aspekte bzw. Vorkommnisse. Bei den Analysen geht es demzufolge ausschließlich darum, die Konstruktion des Geschichts- und Erinnerungsnarrativs um die »Friedlichen Revolution« als Teil des erinnerungs- und geschichtspolitischen Diskurses um die Auflösung der DDRStaatssicherheit und ihre historische Aufarbeitung herauszuarbeiten. Für die Beantwortung darüber hinausgehender Forschungsfragen ist auf andere (Forschungs-) Literatur zu verweisen.4
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Ash, Timothy Garton: Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, München 1995, S. 505, z.n. Gehler, Michael: »Die Umsturzbewegungen 1989 in mittel- und Osteuropa. Ursachen – Verlauf – Folgen«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 41-42 (2004), S. 45. U.a. Hollitzer, Tobias: »Der Rollen- und Funktionswandel von Aufarbeitungsinitiativen seit der friedlichen Revolution 1989/90 am Beispiel des Bürgerkomitees Leipzig«, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 7, 1999); Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls von Montag zu Montag. Zur Auflösung der Staatssicherheit in Leipzig. Erste Erkenntnisse und Schlussfolgerungen, Berlin 2000; Süß, Walter: Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern, Berlin 1999; Schöne, Jens: Erosion der Macht. Die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin (=Schriftenreihe LStU Berlin, Band 19), Berlin 2004; Sabrow, Martin (Hg.): Bewältigte Diktaturvergangenheit? (2010); Seibel, Wolfgang: »Die gescheiterte Wirtschaftsreform in der DDR 1989/1990«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 11 (2010), S. 34-40; Sabrow, Martin: »Der vergessene ›Dritte Weg‹«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 11 (2010), S. 6-13.
2. Die DDR-Staatssicherheit – Historischer Abriss
Das MfS wurde offiziell mit dem Gesetz zur »Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit« am 08. Februar 1950, fünf Monate nach der Gründung der DDR am 07. Oktober 1949, ins Leben gerufen. Diese Rechtsgrundlage umfasste nur einen einzigen Paragraphen, der die Umwandlung der bis dahin vom Ministerium des Innern unterstellten »Hauptverwaltung zum Schutze der Volkswirtschaft« in ein eigenständiges Ministerium veranlasste.1 Das Gesetz enthielt keinerlei Definitionen der Aufgaben und ließ auch die Struktur und Zuständigkeiten offen.2 Da genauere Hinweise auf Zweck, Aufgaben und Struktur des MfS der erwünschten uneingeschränkten politischen Verwendung zuwider gelaufen wären, arbeitete das MfS praktisch ohne jegliche gesetzliche Grundlage. Dieser Mangel an gesetzlichen Grundlagen öffnete alle gesellschaftlichen und staatlichen Bereiche für sämtliche geheimdienstliche, polizeiliche und juristische Aktivitäten durch das MfS.3 Das unmittelbare Vorbild für Struktur und Arbeitsweise des MfS war die russische Tscheka, die »Außerordentliche Kommission zum Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage« unter der Führung von Felix Dzierzinsky. Diese, von Lenin 1917 gegründete, geheimdienstliche Parteipolizei diente als bolschewistisches Sicherheitsorgan der uneingeschränkten Machtsicherung der Kommunistischen Partei der UdSSR. In dieser Tradition definierte sich das MfS als »Schild und Schwert« der SED; Mitarbeiter des MfS verstanden sich selbst als Tschekisten. Viele der ersten MfS-Offiziere in der Gründungsphase hatten vor 1950 im Sicherheitsapparat der Kommunistischen Partei bzw. im KGB gearbeitet, d.h. eine tschekistische Gesinnung brachten diese in die Gründungsphase mit.4 Darüber
1
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Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik: Gesetz über die Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit vom 08.02.1950, Berlin 21.02.1950, in: ASTAK e.V. (Hg.): Die Zentrale (2003), S. 124. Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes ehemaligen DDR (Hg.): Anatomie der Staatssicherheit. Geschichte. Struktur. Methoden. Die Organisationsstruktur des Ministeriums für Staatssicherheit 1989, Berlin 1996, S. 7. Henke, Klaus-Dietmar: »Staatssicherheit«, in: Weidenfeld, Werner/Korte, Karl-Rudolph (Hg.): Handbuch zur deutschen Einheit, Bonn 1996, S.647. Ebd., S. 646.
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hinaus waren bis in die 50er Jahre hinein sowjetische »Instrukteure« unmittelbar am Aufbau des MfS beteiligt.5 Diese sowjetische Anbindung, die für alle »Bruderstaaten« der Sowjetunion galt, begünstigte die Umsetzung des tschekistischen Vorbildes. Zu den Vorläufern des MfS gehörten unmittelbar nach Kriegsende 1945 außerdem sogenannte »Ifo-Dienste« innerhalb der KPD und die Ausübung geheimdienstlicher Funktionen durch die sowjetischen Sicherheitsorgane im Zuge der sowjetischen Besatzung. Unter sowjetischer Anleitung wurde die Deutsche Volkspolizei (VP) organisiert. Kommissariate 5 (K5) der Kriminalpolizei der VP übernahmen bereits 1945/1946 geheimdienstliche Tätigkeiten. Sie dienten in erster Linie der Unterstützung der sowjetischen Sicherheitsorgane bei der Aufklärung »politischer Verbrechen«, im Zuge derer es zu zahlreichen Verhaftungen von Systemgegnern kam. 1946 wurde die Deutsche Verwaltung des Innern gebildet, deren Vizepräsident Erich Mielke wurde. 1947 ließ Mielke innerhalb der Verwaltung eine Informations- und Nachrichtenabteilung einrichten, die 1948 unter Mielkes Leitung zu einer »Hauptabteilung zum Schutze des Volkseigentums und der demokratischen Ordnung« ausgebaut wurde.6 Zeitgleich billigte die SMAD, auf Drängen des Politbüros, die Schaffung eines »Ministeriums für staatliche Sicherheit«.7 Nach Gründung der DDR wurde die »Hauptabteilung zum Schutze des Volkseigentums und der demokratischen Ordnung« zur »Hauptabteilung zum Schutz der Volkswirtschaft« unter Leitung von Karl Steinhoff umgewandelt, die schließlich kurz darauf mit dem Gesetz vom 08. Februar 1950 in die Gründung des MfS mündete.8 Der erste Minister 1950-1953 war Wilhelm Zaisser. 1951 wurden das Institut für wirtschaftswissenschaftliche Forschung (IWF) und der Außenpolitische Nachrichtendienst (APN) gegründet. Beide dienten der »Auslandsspionage« und wurden von Markus Wolf geleitet. Beide Einrichtungen waren zunächst dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten unterstellt und wurden schließlich am 01. September 1953 in das Staatssekretariat für Staatssicherheit (SfS) integriert.9 Am 01. Juni 1956 wurden beide Unterabteilungen zur Hauptver-
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Später fungierten diese nicht mehr als Instrukteure, sondern als »Berater«; vgl. Fricke, Karl Wilhelm: »›Schild und Schwert der Partei‹: Die Stasi«, in: ASTAK e.V. (Hg.): Die Zentrale (2003), S. 39. ASTAK e.V. (Hg.): Wegweiser (2003), S. 36. Fachkommission Haus I: Anatomie der SED-Diktatur. Staatspartei und Staatssicherheit der DDR, Berlin 2001, S. 13, StAufarb, Bestand: Gedenkstätte Normannenstraße (Geschäftsablage o. Sign.). Das Gesetz wurde ohne Aussprache einstimmig, ohne Stimmenthaltung und ohne Gegenstimmen von der Volkskammer beschlossen; vgl. Fricke, Karl Wilhelm: »Schild und Schwert«, in: ASTAK e.V. (Hg.): Die Zentrale (2003), S. 38. Mit dem Aufstand vom 17. Juni 1953 wurde das Ministerium vorübergehend zu einem Staatssekretariat herabgestuft und dem Ministerium des Innern angegliedert, vgl. ASTAK e.V. (Hg.): Wegweiser (2003), S. 37; Fachkommission Haus I: Anatomie der SEDDiktatur (2001), S. 15-16, StAufarb, Bestand: Gedenkstätte Normannenstraße (Geschäftsablage o. Sign.).
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waltung (HVA) aufgewertet. Zum Zeitpunkt der Übernahme 1953 hatte das SfS/ MfS bereits 8800 Hauptamtliche Mitarbeiter. 1955, mit der Rückführung des SfS in das MfS am 23. November, trat das erste Statut des MfS vom 15. Oktober 1953 in Kraft. Das Statut regelte, dass das SfS/MfS direkt den Beschlüssen und Direktiven des Politbüros der SED und des Zentral Komitees unterstellt war. Laut Statut war das MfS weisungsgebunden an den Ministerpräsidenten (Walter Ulbricht) und an das Ministerium des Inneren. Die Aufgabe des MfS sollte sein: »[…] die Voraussetzungen zu schaffen und die Maßnahmen zu treffen, die die Sicherheit des Staates, die Festigung der Staatsmacht und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gewährleisten«.10 Zur Umsetzung dieser Aufgaben wurde das MfS ermächtigt, Verhaftungen von »feindlichen Elementen« jeglicher Art vorzunehmen, gerichtliche Untersuchungen zu führen sowie zur Aufdeckung, Unterbindung und Entlarvung »feindlicher Tätigkeiten« als geeignete Mittel Zensur einzusetzen, Beobachtung, Abhören, Spionage etc. zu verwenden. Im Zuge dieser Befugnisse konnte jeder gesellschaftliche Bereich vom MfS kontrolliert und sanktioniert werden. Nach dem ersten Minister Zaisser folgte 19551957 Ernst Wollweber. Die flächendeckende Überwachung nach innen und außen musste durch entsprechende Haupt- und Unterabteilungen aufgebaut werden und benötigte einen entsprechenden Personalstand. Institutionell und topographisch wurde das Gebiet der DDR mit 15 Bezirksleitungen und 211 Kreisleitungen vollständig abgedeckt. Bereits zum Jahresende 1957, als Mielke das Amt von Wollweber übernahm, waren 16.887 Hauptamtliche Mitarbeiter nötig.11 D.h., innerhalb weniger Jahre gab es eine Verdreifachung des Personals. Nach 1968/1969 dehnte sich der Apparat des MfS weiter aus. Durch den Mauerbau am 13. August 1961, die Studentenbewegung im Westteil der Stadt und vor allem durch den »Prager Frühling« 1968 erhöhten sich die Mitarbeiterzahlen nun auf 40.000 Hauptamtliche. Inhaltlich passte sich die Arbeit des MfS der neuen »Klassenkampfsituation« an. Es ging im Zuge der Entspannungspolitik zwischen BRD und DDR äußerlich mehr und mehr um eine positive Imagepflege der DDR, bei gleichzeitiger verschärfter Verfolgung der politischen Opposition im Inneren. Das zweite Statut vom 30. Juli 1969, das bis zum Ende des MfS gültig blieb, baute auf den SED-Beschlüssen als Grundlage der Tätigkeit des MfS auf und definierte die Hauptaufgabe des MfS wie folgt: »[…] feindliche Agenturen zu zerschlagen, Geheimdienstzentralen zu zersetzen und andere operative Maßnahmen gegen die Zentren des Feindes durchzuführen, […] geheime subversive Pläne und Absichten […] offensiv aufzudecken […] und zu untersuchen«.12 Hinzu kamen die Unterstüt-
10 Z.n. ebd., S. 15. 11 Bis zum geschlossenen Rücktritt der Honecker-Regierung am 08.11.1989 blieb Erich Mielke Minister des MfS, seine Stellvertreter waren Rudi Mittig, Gerhard Neiber, Wolfgang Schwanitz und Werner Großmann. Schwanitz übernahm das Amt Mielkes mit der Umwandlung des MfS in ein Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) ab dem 15. November 1989. 12 Z.n. ebd., S. 16.
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zung der Grenzsicherung und die Unterwanderung der Nationalen Volksarmee, bedingt durch den Mauerbau 1961. Mit dem Machtwechsel an der Spitze der DDR wurde der Apparat des MfS weiter ausgebaut. In dieser Zeit entwickelte der Apparat nahezu groteske Züge. Das MfS wurde nach 1971 zu einem Generalunternehmen für Sicherheit, Machtsicherung und Repression. Bis 1989 war die DDR vollständig vom MfS vernetzt: »Als strategische Querschnittsinstitution im Herrschafts- und Gesellschaftssystem der DDR war die Staatssicherheit das Leitorgan in einer über 40 Jahre hinweg gut eingespielten Kontroll-, Disziplinierungs- und Unterdrückungsmaschinerie, die viele Rädchen hatte.«13 Die ausnahmslose politische Durchdringung gehörte ab 1971 dazu. Erich Honecker räumte Mielke einen Beisitz im Politbüro ein, wodurch Partei und MfS aufs engste auch auf höchster Ebene personell amalgamisierten. 1976 wurde Mielke Mitglied des Politbüros, blieb es bis 1989. Auch strukturell erreichte das MfS nach 1971 die größte politische Durchdringung. Bis 1989 erfassten die Abteilungen des MfS alle gesellschaftlichen und staatlichen Bereiche. Strukturell/institutionell deckte das MfS die gesamte DDR ab. Die Leitungen der Bezirke und Kreise standen dabei in enger Personalunion mit den entsprechenden politischen Ämtern. Umgekehrt existierten in allen Diensteinheiten des MfS Grundorganisationen und Parteigruppen der SED: »In keiner anderen Institution der DDR war der Organisationsgrad der SED so hoch wie der unter den Angehörigen des MfS«, resümiert Karl Wilhelm Fricke.14 Strukturell hatte die SED-Führung auch durch das ZK-Sekretariat für Sicherheitsfragen direkten Zugriff auf das MfS, das zwischenzeitlich (sechs Jahre) von Egon Krenz geleitet wurde.15 Neben dieser politischen Durchdringung stieg überdies die Zahl der Hauptamtlichen Mitarbeiter auf ca. 103.000 bis 1989.16 Neben den Hauptamtlichen Mitarbeitern wurde auch das Netz der Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) ausgeweitet und engmaschiger. 1989 belief sich die Zahl dieser »Schattenarmee« auf ca. 174.000 Personen.17 Ab Mitte der 80er Jahre kamen damit auf einen Inoffiziellen Mitarbeiter durchschnittlich 90 DDR-Bürger.18 Mit der Honecker-Regierung und dem IM-Netz
13 Henke, Klaus-Dietmar: »Staatssicherheit«, in: Weidenfeld, Werner/Korte, Karl-Rudolph (Hg.): Handbuch (1996), S. 648. 14 Fricke, Karl Wilhelm: »Schild und Schwert«: Die Stasi, in: ASTAK e.V. (Hg.): Die Zentrale (2003), S. 51. 15 Ebd., S. 52. 16 Eik, Jan: »Zur Topographie und Geschichte des Lichtenberger Stasi-Komplexes«, in: ASTAK e.V. (Hg.): Die Zentrale (2003), S. 28. Andere Autoren gehen von ca. 91.000 Hauptamtlichen Mitarbeiter bis 1989 aus; vgl. Henke, Klaus-Dietmar: »Staatssicherheit«, in: Weidenfeld, Werner/Korte, Karl-Rudolph (Hg.): Handbuch (1996), S. 647, Fachkommission Haus I: Anatomie der SED-Diktatur (2001), S. 31, StAufarb, Bestand: Gedenkstätte Normannenstraße (Geschäftsablage o. Sign.). 17 Ebd., S. 19. Die endgültige Zahl ist jedoch vage, es besteht die Vermutung, dass es weit mehr als 250.000 gewesen sein müssen. Forschungen hierzu sind noch im Gange. 18 Diese Rechnung legt eine Bevölkerungszahl von 16 Millionen zugrunde, abzüglich der MfS-Mitarbeiter (HA und IM).
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wandelten sich aber auch die Methoden der Überwachung. »Leiser Terror«, psychologische, subversive Repressionsmethoden, moderne Formen der Unterdrückung wichen den harten Geheimdienstmethoden der vorangegangenen Jahre. Im Mittelpunkt der Überwachung der 70er und 80er Jahre stand nicht mehr die Bekämpfung des »äußeren Klassenfeindes« (im Zuge des Kalten Krieges), sondern die Bekämpfung des »inneren Klassenfeindes«. Diese Bekämpfung betraf nunmehr AusreiseAntragssteller, Dissidenten und Oppositionelle sowie ihre Familien bzw. ihre »Gruppen«.19 Im Grunde genommen war die »Bespitzelung« jedoch nicht nur auf diese Personengruppen fixiert. Die totale Überwachung aller DDR-Bürger wurde zum Hauptziel des MfS in den 80er Jahren erklärt: »Noch einmal wiederhole ich: Wir müssen alles erfahren! Es darf an uns nichts vorbeigehen. […] Das ist eben die Dialektik des Klassenkampfes und der Arbeit der Tschekisten.« 20 Mit diesem Wandel des »Feindobjektes« avancierten die IMs in den 70er/80er Jahren zur »Hauptwaffe gegen den Klassenfeind«. Die IMs bedienten sich bei ihrem »Kampf gegen den Klassenfeind« vorwiegend »operativer« und »zersetzender Maßnahmen« (Observation, Denunziation) und versuchten, mit diesen Mitteln die Linientreue der DDR-Bürger zu erzwingen. Mit 1979 regelte eine neue Richtlinie ihre Aufgaben, nach der die IMs »[…] zum Schutze der sozialistischen Gesellschaft vor erheblichen Störungen, Schäden und Verlusten, zum rechtzeitigen Verhindern jeglicher feindlich-negativer Handlungen sowie zur Gewährleistung einer wirksam vorbeugenden, schadensverhütenden Arbeit […]« zuständig waren.21 Diese subtile Gewalt gegenüber der eigenen Bevölkerung ging einher mit einer zunehmenden Professionalisierung des Personals und einer Stärkung der Abteilungen HA XX (politischer Untergrund) und HA IX (Untersuchung politischer Strafverfahren), die das Herzstück des MfS darstellten. Die Aufgaben der Abteilung HA XX, unter der Leitung von Paul Kienberg, umfassten die Abschirmung und Überwachung des staatlichen und gesellschaftlichen Überbaus, die Kontrolle von Reisekadern, die Bespitzelung der Blockparteien und Massenorganisationen, die Überwachung aller Kirchen und Glaubensgemeinschaften, die verdeckte Beobachtung der Massenmedien, des Kulturbetriebes, des Schul- und Gesundheitswesens sowie des Sports und aller potenziell verdächtigen, politischen Systemgegner. 22
19 U.a. durch die Bildung einer Zentralen Koordinierungsgruppe, mit der Aufgabe, alle DDR-Bürger, die einen Antrag auf »Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR« gestellt hatten zu bearbeiten und weitere Anträge zu verhindern; vgl. ASTAK e.V. (Hg.): Wegweiser (2003), S. 38. 20 Mielke, Erich: Schlusswort auf einer Kollegiumssitzung des MfS vom 19.2.1982, z.n. Fricke, Karl Wilhelm: »Schild und Schwert«: Die Stasi, in: ASTAK e.V. (Hg.): Die Zentrale (2003), S. 63. 21 Z.n. Henke, Klaus-Dietmar: »Staatssicherheit«, in: Weidenfeld, Werner/Korte, KarlRudolph (Hg.): Handbuch (1996), S. 649. 22 Fricke, Karl Wilhelm: »Schild und Schwert«: Die Stasi, in: ASTAK e.V. (Hg.): Die Zentrale (2003), S. 74.
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War die Gründergeneration noch nach politischer Zuverlässigkeit und proletarischer Herkunft rekrutiert worden, bestand ein Großteil der Hauptamtlichen Mitarbeiter nun aus hervorragend geschulten Absolventen der MfS-eigenen Kaderschmieden.23 An diesen lernten die Hauptamtlichen Mitarbeiter nicht nur das Know-how für Abhör- und Observationstechnik, sondern auch die subtilen Unterdrückungsmethoden wie beispielsweise die »Operative Psychologie«. Bei dieser »Operativen Psychologie« ging es um »systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufs«, die »systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Misserfolge« (Verhinderung von beruflichem Aufstieg, das Herbeiführen von Scheidungen, etc.), das »Erzeugen von Misstrauen und gegenseitiger Verdächtigungen«, insbesondere innerhalb »bearbeiteter Gruppen«, die im Verdacht standen, »staatsfeindliche Hetze« bzw. »ideologische Diversion« zu betreiben.24 Die Bearbeitung missliebiger Bürger geschah in »Operativen Vorgängen« (OV). Die von Hauptamtlichen geplanten OVs wurden dabei maßgeblich von IMs ausgeführt. Allein 1988 gab es 4543 laufende OVs. Weitere 19.169 Bürger waren im gleichen Jahr unter ständiger Personenüberwachung (Operative Personenkontrolle, OPK). 25 Ab Mitte der 80er Jahre führte das MfS zudem durchschnittlich 2500 gerichtliche Ermittlungsverfahren pro Jahr durch. Zwischen 1971-1989 entwickelte sich also das MfS zu einem omnipräsenten Apparat, der tief durchdrungen war von dem politischen Primat. Unstrittig ist, dass das DDR-System aufs Ganze gesehen, ohne das MfS und seine Staatsfunktionen in allen gesellschaftlichen Bereichen, seine Macht nicht hätte ausüben können. Gleichzeitig führte diese Allgegenwart des Staates und der Staatssicherheit zu einer grundlegenden Ablehnung des Systems durch die Mehrheit der Bürger und einer zunehmenden Ineffizienz in der Arbeitweise innerhalb des MfS. 26 Die System stabilisierende und Macht erhaltende Funktion kehrte sich am Ende der 80er Jahre in ihr Gegenteil, wodurch die Tage des MfS nach der bis dahin geltenden »Sicherheitsdoktrin« faktisch gezählt waren. Die Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit in der Normannenstraße Als geeigneter Standort für den Hauptsitz des MfS in der Hauptstadt Ost-Berlin wurde das ehemalige Finanzamt Lichtenberg in der Normannenstraße/Ecke Magdalenenstraße ausgewählt. Es lag in verkehrsgünstiger Lage, nur wenige Kilometer vom Stadtkern (Alexanderplatz) entfernt, war dennoch unauffällig gelegen und gewährleistete logistisch einen engen Bezug zur sowjetischen Besatzungsmacht. Diese hatte in der benachbarten Umgebung ihre Sitze, u.a. in der angren-
23 Henke, Klaus-Dietmar: »Staatssicherheit«, in: Weidenfeld, Werner/Korte, Karl-Rudolph (Hg.): Handbuch (1996), S. 647. 24 Ebd., S. 649. 25 Ebd., S. 650. 26 Die vorgefundenen, nicht im Zuge der Auflösung des MfS/AfNS vernichteten 200km Stasi-Akten zeugen von dieser ineffizienten »Orwellschen Dimension« des MfS.
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zenden Magdalenenstraße, in der sich auch ein Gefängnis unter sowjetischer Leitung befand.27 1957 waren in der Zentrale in der Normannenstraße bereits 3689 Hauptamtliche Mitarbeiter tätig.28 Die steigenden Mitarbeiterzahlen erforderten eine räumliche Ausdehnung der Zentrale des MfS. Zahlreiche Gebäude und ein Kleingartenverein im »Vorhof« der Zentrale mussten weichen. 1961 wurde schließlich ein Flügelbau errichtet, der das »Haus I« werden sollte, der Hauptsitz des Ministeriums (inkl. Ministerialbüro und Arbeitsgruppe: ca. 915 Hauptamtliche Mitarbeiter bis 1989).29 Die bereits o.g. politischen Großereignisse Mauerbau, Studentenbewegung und Prager Frühling und nicht zuletzt auch der Machtwechsel an der Regierungsspitze, d.h. der Beginn der Honecker-Ära ab 1971 und die damit verbundene neue Sicherheitspolitik, wirkten sich in grotesker Weise auch auf die Ausmaße der Zentrale in der Normannenstraße aus. So wurde das Areal rund um die Zentrale im Haus I ab Mitte der 80er Jahren zum Sperrgebiet und umfasste das Gebiet aufgrund des steigenden Personal- und Aufgabenzuwachses inzwischen 22 Hektar.30 Bis 1989 waren in der Zentrale ca. 20.000 Hauptamtliche Mitarbeiter in 48 Häusern, in ca. 40 MfSHauptabteilungen inkl. ihrer Unterabteilungen, Arbeitsgruppen, Stäbe etc. tätig. Die Bezirksverwaltung der Staatssicherheit (BVSt) in Leipzig Das Gebäude im Dittrichring 24 wurde ursprünglich zwischen 1911 und 1913 als Geschäftshaus für die Leipziger Feuerversicherung in Form eines zweiflügeligen Baus mit einer zylinderförmigen Mitte errichtet. Aufgrund der runden Form des Mittelbaus »gab der Volksmund dem Gebäude den Namen ›Runde Ecke‹«.31 Im Mai 1945 wurde das ehemalige Geschäftshaus vorübergehend als Hauptquartier der US-Armee genutzt, die Leipzig bereits ab dem 18. April 1945 besetzte. Ab dem 02. Juli 1945 übernahm die sowjetische Armee die militärische Besetzung Leipzigs. »Nach Aussagen ehemaliger Mitarbeiter der BVSt Leipzig etablierte sich dann der Sowjetische Militärgeheimdienst bzw. auch der NKWD im Dittrichring 24. [Das] im Jahr 1946 gegründete […] und im Jahr 1947 personell aufgestockte ›K5‹ soll ebenfalls hier [seine] Leipziger Dienststelle unterhalten haben«,32
27 Eik, Jan: »Zur Topographie«, in: ASTAK e.V. (Hg.): Die Zentrale (2003), S. 26. 28 Gieseke, Jan: Die Hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit, Berlin 2000, z.n. Fachkommission Haus I: Anatomie der SED-Diktatur (2001), S. 14, StAufarb, Bestand: Gedenkstätte Normannenstraße (Geschäftsablage o. Sign.). 29 Eik, Jan: »Zur Topographie«, in: ASTAK e.V. (Hg.): Die Zentrale (2003), S. 28; Fachkommission Haus I: Anatomie der SED-Diktatur (2001), S. 17, StAufarb, Bestand: Gedenkstätte Normannenstraße (Geschäftsablage o. Sign.). 30 Siehe Übersicht über die Anlage der Zentrale 1986, aus: ASTAK e.V. (Hg.): Die Zentrale (2003), S. 70. 31 BKL: Faltblatt zur Ausstellung, Stand: Sommer 2007, ArBKL, Geschäftsablage o. Sign. 32 Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 21.
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führt das Bürgerkomitee Leipzig (BKL) zur Geschichte des Ortes aus.33 D.h., mit der Gründung des MfS konnte auf diese geheimdienstliche Infrastruktur vor Ort bereits zurückgegriffen werden.34 Mit der Bildung von Bezirken im August 1952 wurde die MfS-Dienststelle in Leipzig zur Bezirksverwaltung der Staatssicherheit (BVSt), 1954 folgte der Aufbau der Kreisämter für nationale Sicherheit (KÄfNS), von denen bis November 1989 insgesamt 13 der BVSt Leipzig unterstellt waren.35 Vergleichbar und im Einklang mit der Entwicklung der Zentrale des MfS reichte in den 50er Jahren angesichts des eklatanten Anstieges der Mitarbeiterzahlen und der Ausweitung der Überwachungstätigkeiten des MfS die »Runden Ecke« räumlich nicht mehr aus. Zwischen 1955 und 1958 entstand daher ein angrenzender Neubau, der u.a. eine Festsaal und eine Kegelbahn beherbergte.36 Mit dem Machtwechsel zu Honecker und der abermaligen enormen Aufstockung des MfS bis in die 80er Jahre hinein, erfolgte auch in Leipzig eine weitere räumliche Ausdehnung. Nach siebenjähriger Bauzeit wurde am 19. September 1985 ein weiterer Neubau eröffnet, in den die BVSt weitgehend umzog. Der Haupteingang lag fortan in der Fleischergasse.37 Der Altbau hingegen wurde saniert bzw. umgebaut und zwischen 1986 und 1989 nur noch als Teil der Abteilung M (Postkontrolle) und Bildstelle, d.h. als Nebengebäude mit unwesentlichen Funktionen weitergenutzt.38 Zum Zeitpunkt der Auflösung des MfS im Dezember 1989 unterstand die BVSt dem Generalmajor Manfred Hummitzsch und zählte mehr als 2400 hauptamtliche und rund 10.000 inoffizielle Mitarbeiter.39 Die Mehrzahl waren Berufsoffiziere und -unteroffiziere sowie Soldaten auf Zeit, die »[…] in einem der Armee vergleichbaren Dienstverhältnis standen.«40 Hummitzsch hatte auf Antrag Mielkes bereits am 11. Juli 1967 das Amt des Leiters der BVSt Leipzig übernommen.41 Er wurde im Zuge der MfS-Auflösung in Leipzig von Oberst Reinhard Eppisch abgelöst, der als ehemaliger 1. Stellvertreter noch bis April 1990 in der BVSt Leipzig seinen Dienst fortführte.42
33 Da bisher keine, über die BKL-Publikationen hinaus gehenden Geschichtsüberblicke über die »Runde Ecke« existieren, vertraut der Verf. auf die Richtigkeit der Angaben. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 22. 36 Ebd. 37 Bürgerkomitee Leipzig (Hg.): Stasi intern. Macht und Banalität, Leipzig 1998, S. 364. 38 Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 22. 39 Das BKL weist daraufhin, dass die Zahlen zwischen 2.401 und 2.440 variieren und unter Umständen unvollständig sind, da Angaben (z.B. zu »Offizieren in besonderem Einsatz«) eventuell fehlen. Ob die Angabe auch die hauptamtlichen Mitarbeiter der Kreisämter umfassen, ist zudem unklar. Der Verf. geht allerdings nicht davon aus. Leider findet sich auch zur genannten Zahl der IM in den Veröffentlichungen des BKL kein Quellenachweis. Die angegebene Zahl kann daher nur unter Vorbehalt übernommen werden. Vgl. ebd., S. 23. 40 Bürgerkomitee Leipzig (Hg.): Stasi intern (1998), S. 363. 41 Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 25. 42 Ebd., S. 26.
3. Die Gedenkstätte Museum in der »Runden Ecke« Leipzig
Die Gedenkstätte Museum in der »Runden Ecke« in der ehemaligen BVSt der DDR im Gebäude Dittrichring 22-24 in Leipzig ist kein Zufall. Und sowenig sie ein Zufall ist, so wenig unpolitisch und frei von Erinnerungs- und Geschichtspolitik ist dieser Erinnerungsort. Der geschichtspolitische Nukleus, um den sich die Kämpfe um die Deutungsmacht an diesem Ort von Anfang an und bis heute drehen, ist die Frage nach dem tatsächlichen Verhältnis von politischer Steuerung und bürgerlichem Einfluss auf die Herbstereignisse in Leipzig 1989. Im Zentrum der geschichtspolitischen Auseinandersetzungen stehen daher erstens, der Kampf um die Anerkennung der Leipziger MfS-Auflöser als Protagonisten des Herbstes 89’ und zweitens, die Etablierung Leipzigs als »Stadt der Friedlichen Revolution«. Erinnerungspolitisch geht es hingegen vornehmlich um die Frage nach der politischen Anerkennung der »Runden Ecke« als einen historischen und repräsentativen Ort der »Friedlichen Revolution« innerhalb der deutschen Erinnerungslandschaft und damit verbundene Existenzkämpfe.
3.1 B ESETZUNG DER »R UNDEN E CKE « AM 04. D EZEMBER 1989 Die Idee, dass die »Runde Ecke« ein zu Geschichte werdender Ort werden müsse, tauchte Anfang November auf einem Transparent einer Leipziger Montagsdemonstration auf. Darauf stand: »›Krumme Ecke‹, Schreckenshaus – wann wird ein Museum draus?«1 Weniger war damit die tatsächliche Einrichtung eines Museums gemeint, als vielmehr das »zur Geschichte werden der Stasi«, also das Ende der DDRStaatssicherheit. Die Kreisämter des MfS befanden sich bereits seit Anfang November 1989 DDR-weit, also auch im Raum Leipzig-Land in Auflösung. Am 06. November 1989 hatte Erich Mielke in diesem Zusammenhang einen Befehl erteilt, der eine umfangreiche Aktenvernichtung im Zuge der Auflösung hinauslief
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Bürgerkomitee Leipzig (Hg.): 1989/90. Auflösung der Staatssicherheit. Materialien zur Tagung in der Gedenkstätte Museum in der »Runden Ecke« in Leipzig 03.12.-05.12.2004, Leipzig 2004, ArLStU, Bestand: 1989/90: Auflösung der DDR-Staatssicherheit [1989/90].
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und eine »regelrechte Vernichtungsorgie« zur Folge hatte.2 Ein Teil der Unterlagen wurde in die Bezirkverwaltungen der Staatssicherheit (BVSt) umgelagert. Am 15. November 1989 wurde das MfS umbenannt in »Amt für Nationale Sicherheit« (AfNS), und die neue Führungsspitze bildete ab dann der ehemalige Leiter der BVSt Berlin, Wolfgang Schwanitz.3 Da die Aktenvernichtungen bis Anfang Dezember in den Bezirken weitergingen sowie die bloße Umbenennung des MfS und der Austausch Mielkes gegen Schwanitz die Forderungen nach einer grundlegenderen Demokratisierung der DDR und nach einer öffentlichen Kontrolle des Machtapparates nicht erfüllten, sondern vielmehr konterkarierten, besetzten auf Initiative einer Frauenbewegung etwa 300 Personen am 04. Dezember 1989 um 9 Uhr morgens in Erfurt4 die dortige BVSt und »[…] setzten zugleich wichtige Normen für kommende Fälle. Nicht wilde Erstürmung, sondern eine möglichst legitimierte Übernahme des Amtes und seiner Aktenbestände war das Ziel«.5 Am selben Tag kam es auch in Suhl, in Rostock und schließlich auch in Leipzig zu einer »Öffnung« der BVSt. Es folgten die Städte Cottbus und Dresden.6 Lediglich in Magdeburg ging der »normale Arbeitsbetrieb« nahezu uneingeschränkt weiter.7 Zum genauen Ablauf der Ereignisse in Leipzig existieren verschiedene »Erinnerungen«, die später mehr oder weniger in die offizielle Geschichtsschreibung einflossen. Sie seien zum besseren Verständnis der verschiedenen Geschichtsinterpretationen und Vergessensleistungen an dieser Stelle kurz zusammengestellt. Helmut Warmbier, Mitglied des Neuen Forums (NF), berichtet in einem Interview, er habe am 04. Dezember 1989 mittags einen Anruf von Bärbel Bohley (ebenfalls NF) erhalten. Sie habe berichtet, es gäbe aufgrund der Erfurter Besetzung der BVSt am Morgen eine Anordnung von Schwanitz, dass ab 14 Uhr keine Dokumente, kein Papier mehr vernichtet werden dürfe. Es wurde eine Erstürmung der BVSt Leipzig im Zuge der Montagsdemonstration befürchtet, daher solle er, Warmbier, mit der BVSt eine Absprache treffen, »[…] dass auf irgendeine Weise das Gebäude geöffnet würde. Eine Absprache in dieser Hinsicht sei mit Modrow, damaliger Ministerpräsident, und Gysi, damals schon Parteivorsitzender der SEDPDS, einerseits und auf der anderen Seite mit Schwanitz erfolgt«.8 Bei einem anschließenden Telefonat Warmbiers mit Gregor Gysi, bestätigte dieser die Vereinbarung mit Schwanitz.9 Er kommt zu der Einschätzung: »Und für Leipzig befürchtete
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Richter, Michael: Die Staatssicherheit im letzten Jahr der DDR, Weimar/Köln/Wien 1996, S. 36, z.n. Schöne, Jens: Erosion der Macht (2004), S. 32. Ebd., S. 33. Süß, Walter: Staatssicherheit am Ende (1999), S. 613, 614. Richter, Michael: Die Staatssicherheit (1996), S. 36, z.n. Schöne, Jens: Erosion der Macht (2004), S. 35. Ebd. Zentraler Operativstab: Arbeitsmöglichkeiten der Bezirksämter des ANS vom 06.12.1989, ABL, Bestand: 16.6 Sicherheitspolitische Lage Herbst 89 (16.6.1-16.6.4) [16.6], Bl. 96. Helmut Warmbier z.n. Bürgerkomitee Leipzig (Hg.): Stasi intern (1998), S. 25. Ebd.
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man von Berlin aus halt eine gewaltsame Erstürmung des Gebäudes. Dem wollte man zuvorkommen und in Absprache mit der Behörde von sich aus eine Übergabe vereinbaren. Von kontrolliertem Einlass war die Rede.«10 Zur Beruhigung der zu erwartenden Demonstranten sollten Bürgerbewegte im Auftrag des AfNS vom Balkon der »Runden Ecke« deeskalierend auf diese einwirken.11 Diese Absprachen zwischen NF, Schwanitz, Modrow und Gysi werden auch durch Gespräche bestätigt, die Bärbel Bohley ebenfalls mittags mit Leipzig (u.a. mit der Markusgemeinde) führte. In diesen berichtet Bohley, dass das Haus der DDRStaatssicherheit besichtigt werden könne, um den Sturm auf die BVSt Leipzig am Abend zu verhindern: »Jetzt hat Gysi noch mal gesagt, es ist eine furchtbare Verantwortung, die da auf euch augenblicklich lastet, aber wenn es heute in Leipzig zu Gewalt kommt, dann haben wir morgen in der DDR eine ganz andere Regierung. […] Sucht ihr ein paar aus, die wirklich die Situation richtig einschätzen und mit denen zusammen geht man mit der Presse und Aktuellen Kamera durch […] Ja, das habe ich jetzt mit Gysi für Leipzig … […] … damit ihr das am Anfang der Demo eventuell sagen könnt und sagen könnt, also so und so, auch die Staatssicherheit gehört jetzt uns. Wir haben da und das gesichert, der Reißwolf, also ihr müsst da denn natürlich auch irgendwelche Forderungen anbringen. […] Ich denke, so ein Satz wie ›Der Reißwolf ist gesichert‹ und ›Es gehen keine Daten verloren und keine Akten‹.«12
In gleicher Situation fallen die Worte: »[…] das ist mit Gysi abgesprochen, der hat mit Modrow gesprochen. … Heute Nacht. Das ist alles heute Nacht abgesprochen worden. Bloß Gysi hat jetzt noch mal angerufen und eben gesagt: ›Das müssen die in Leipzig verhindern, dass da Gewalt fließt, sonst haben wir morgen eine andere Regierung‹«.13
10 Ebd., S. 26. 11 Ebd.; Lagefilm aus dem Dienstbuch des Dienst habenden Offiziers der BVSt Leipzig Nr. 338/89 vom 04.12.1989/05.12.1989, in: Bürgerkomitee Leipzig (Hg.): Stasi intern (1998), S. 49. 12 LStU Berlin: Transkription einer Videoaufnahme: Bärbel Bohley am Krisentelefon am 04.12.1989, ArLStU: Bestand: RH/NF 024. 13 Ebd., S. 2. Dass eine solche Absprache in der Nacht erfolgt sein muss und sie der politischen Strategie entsprach, das MfS/AfNS sowie Schalck-Golodkowski zu opfern (»Köpfe rollen zu lassen«), um die politische Elite zu schützen, geht auch aus einem Interview zwischen Manfred Wilke und Wolfgang Berghofer hervor, im Frühjahr 2007 im Jahrbuch für Kommunismusforschung veröffentlicht, vgl. Wilke, Manfred: »Wenn wir die Partei retten wollen, brauchen wir Schuldige. Der erzwungene Wandel der SED in der Revolution 1989/90«. Interview mit Wolfgang Berghofer, in: Weber, Hermann/Mählert, Ulrich (Hg.): Jahrbuch für historische Kommunismusforschung, Berlin 2007, S. 396ff. Mit diesen Aussagen stimmen die Ereignisse überein, dass erstens, bei einer Sitzung aller Diensteinheiten am 03. Dezember Modrow verkündet, es werde bis zur Wahl keine weiteren Geheimdienste geben und zweitens, die Zeitungen am Montagmorgen über die Ent-
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In einem weiteren Gespräch wurde Ilona Weber über diese Absprache zwischen NF, Schwanitz, Modrow und Gysi informiert. Dass die Besetzung der BVSt abgesprochen war, um eine unkontrollierte Erstürmung zu verhindern, bestätigt auch sie in einem Interview.14 Weitere Mitglieder des NF (u.a. Falk Hocquéll) wurden durch Weber informiert und zogen deshalb bereits gegen 15 Uhr zum Dittrichring, um entsprechende Vorgespräche für den Abend zu führen. »Die ›Genossen‹ der Staatssicherheit sollen auf unser Angebot sehr erleichtert reagiert haben. Sie zogen eine ›Besatzer‹-Gruppe von 30 Leuten in Erwägung«, berichtet sie zu den 04.-Dezember-Ereignissen.15 Die Genossen »[…] wollten sogar selbst eine Mikrophonanlage installieren – auf dem Balkon der Runden Ecke, damit wir am Abend die Demonstranten beruhigen könnten, was dann auch geschah«, führt sie weiter aus.16 Zudem berichtet sie, dass Wolfgang Schnur17 nicht erst als die »Besetzung« bereits »gelaufen« war in der »Runden Ecke« angekommen sei, sondern er sei bereits zum Zeitpunkt der Begehung durch Mitglieder des späteren BKL, nämlich in Begleitung von Michael Kleinert und Christian Scheibler vor Ort gewesen.18 Offen ist, weshalb Christian Scheibler die Aussage macht, er sei einer der letzten gewesen, die in der »Runden Ecke« ankamen.19 Michael Arnold, der zusammen mit Frank Hocquéll am Nachmittag zur BVSt zog, um den Abend vorzubereiten, bestätigt auf die Frage, ob die DDRStaatssicherheit auf den »Besuch« vorbereitet gewesen sei: »Na klar. Die hatten uns förmlich erwartet, taten zwar ein wenig verdutzt, anstandshalber, aber die Leitdienststelle wusste über unser Kommen Bescheid […].«20 Ähnlich bezeugt Claudia Bohse, die in der Nacht 04. auf den 05. Dezember zusammen mit Tobias Hollitzer in der Hans-Driesch-Straße gewesen sei: »[…] nicht ein handgeschriebenes Wort
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deckung des Waffenhandels der Schalck-Firma IMES berichten, was für Schalck das politische Ende bedeutete, vgl. Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 114. Ilona Weber z.n. Bürgerkomitee Leipzig (Hg.): Stasi intern (1998), S. 30. Dies entspricht auch Webers Report beim Koordinierungstreffen des Neuen Forums des Bezirkes Leipzig nur 11 Tage nach der Besetzung am 04.12.1989, vgl. Protokoll des Koordinierungstreffens des Bezirkes Leipzig vom 15.12.1989, ABL, Bestand: 4.28 Neues Forum (Bestand Geschäftsstelle des Neuen Forums) September 1989-1991 [4.28], Nr. 4.28.191, Bl. 2. Ilona Weber z.n. Bürgerkomitee Leipzig (Hg.): Stasi intern (1998), S. 30. Ebd., S. 32. Im Oktober 1989 war der Diplomjurist und prononcierte Kirchenvertreter Schnur Mitbegründer der Partei Demokratischer Aufbruch (DA), auf deren Gründungsparteitag er zum Vorsitzenden gewählt wurde. Er war von 1989 bis 1990 Teilnehmer am Zentralen Runden Tisch (ZRT) Berlin und 1990 Mitbegründer der Allianz für Deutschland, bestehend aus Demokratischer Aufbruch, Deutsche Soziale Union (DSU) und CDU. Die gezielte Offenlegung seiner Stasi-Akte im März 1990, direkt vor der ersten freien Volkskammerwahl, beendete seine politische Karriere: Von 1965 bis 1989 hatte ihn das Ministerium für Staatssicherheit als IM »Torsten« bzw. »Dr. Ralf Schirmer« geführt. Schnur trat vom Vorsitz des DA zurück und wurde aus der Partei ausgeschlossen. Ebd. Christian Scheibler z.n. Bürgerkomitee Leipzig (Hg.): Stasi intern (1998), S. 36. Michael Arnold z.n. ebd., S. 39.
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habe ich vorgefunden, kein Telefonbuch. Die Bleistifte waren auf dem Platz sortiert. Und die Zimmer waren besetzt. Es war also nichts dem Zufall überlassen. […] das gesamte Gebäude war total clean«.21 Mit anderer Gewichtung fallen die detaillierten Beschreibungen von Tobias Hollitzer aus, der bei der ersten Begehung der BVSt am Nachmittag nicht dabei war, allerdings als frühes Mitglied des Bürgerkomitees und inzwischen als Leiter der Gedenkstätte »Runde Ecke« bis heute eine führende Rolle innerhalb Aufarbeitung der »Runden Ecke« einnimmt. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Wolfgang Schnur und Christian Ladwig zwar tatsächlich in Folge einer Lagebesprechung zwischen den Berliner Bürgerkomitees und Schwanitz am 04. Dezember morgens beauftragt wurden, nach Leipzig zu fahren, um dort beruhigend auf die Massen einzuwirken und mit Gruppen der Bürgerbewegung Sicherheitspartnerschaften zu installieren, und dass auch eine Dienstanweisung an alle BVSt diesbezüglich von Schwanitz verschickt wurde, am Ende jedoch die Bürgerbewegten schneller gewesen seien und noch vor Schwanitz’ Ankunft in der »Runden Ecke« die BVSt besetzt hätten.22 »Die Rekonstruktion des Tages in Leipzig zeigt aber, dass Schnur keinen Einfluss auf die Entscheidungen hatte«, resümiert Hollitzer.23 Er schlussfolgert – den oben angeführten Berichten entgegengesetzt – dass die Besetzung nicht »von oben« vorbereitet, sondern »spontan« verlaufen sei: »Unter dem Druck der 150.000 Demonstranten dieses Montags bot er [Oberst Reinhard Eppisch, stellv. Leiter der BVSt Leipzig] nun an, eine Gruppe von 30 Demonstranten einzulassen, denen die Möglichkeit zugesagt wurde, Räume zu besichtigen und zu versiegeln.«24 Zwar hätte es eine erste Abordnung von fünf Personen schon gegen 16 Uhr in den Neubau und in das Dienstzimmer von Eppisch geschafft, und Mitarbeiter der BVSt installierten schon weit vor 18 Uhr Lautsprecheranlagen auf dem Balkon des Altbaus, dennoch sei – laut Hollitzer – der »Durchbruch« erst mit dem Einlass von 25 weiteren Bürgern gelungen.25
21 Claudia Bohse z.n. Hollitzer, Tobias/Bohse, Reinhard: Heute vor 10 Jahren. Leipzig auf dem Weg zur Friedlichen Revolution, Fribourg 2000, S. 625. 22 Hollitzer, Tobias: »Die Auflösung der Staatssicherheit in Leipzig – 4. Dezember 1989«, in: ders./Bohse, Reinhard: Heute vor 10 Jahren (2000), S. 595. Walter Süß berichtet, dass diese Verabredung mittags stattgefunden habe, vgl. Süß, Walter: Staatssicherheit am Ende (1999), S. 614/615; Fernschreiben von Schwanitz an die Leiter der Bezirks- und Kreisämter für Nationale Sicherheit, die Aktenvernichtung sofort zu stoppen vom 04.12.1989, in: Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 233. 23 Hollitzer, Tobias: »Der Rollen- und Funktionswandel«, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 7, 1999), S. 258; Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 116; Hollitzer, Tobias: Die Auflösung der Staatssicherheit in Leipzig, in: ders./Bohse, Reinhard: Heute vor 10 Jahren (2000), S. 601. 24 Ebd., S. 599; siehe auch Hollitzer, Tobias: »… steht nun die Machtfrage auf der Tagesordnung. Die Entwicklung der Friedlichen Revolution 1989/90«, in: Zu Fuß durch Leipzig, Leipzig 1996, S. 121. 25 Hollitzer, Tobias: »Die Auflösung der Staatssicherheit«, in: ders./Bohse, Reinhard: Heute vor 10 Jahren (2000), S. 600; BKL e.V.: Bürgerkomitee Leipzig (Hg.): Stasi intern (1998), S. 32.
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Eine Hollitzer ähnliche Beschreibung der Ereignisse vom 04. Dezember findet sich auch von Michael Kleinert, der als ehemaliger Sprecher des BKL zusammenfasst: »Letztlich blieb uns nur die ›operative Entscheidung‹ übrig: Handeln und nichts wie hinein!«26 Wenngleich Kleinert ebenfalls bestätigt, dass Oberst Eppisch bereits von Modrow mit der Auflösung der DDR-Staatssicherheit beauftragt worden war und insgesamt der Eindruck blieb, dass zum Zeitpunkt der ersten Begehung die BVSt ungewöhnlich »voll betriebsfähig« und gleichzeitig unbewaffnet, d.h. auf eine »Besetzung« vorbereitet schien, stützten seine Ausführungen die These von Hollitzer, dass sich am Ende die Bürgerbewegten über die politische Direktive hinweggesetzt hätten.27 Eine Rekonstruktion der Ereignisse und Abläufe, die ggf. diese unterschiedlichen, ja z.T. diametralen Schilderungen und Interpretationen verknüpfen kann, soll hier nicht gewagt werden, wichtig bleibt für die geschichtspolitischen Auseinandersetzungen in der Folgezeit, dass es gerade diese gegensätzlichen und unterschiedlichen Versionen und Zeitzeugenberichte zum 04. Dezember 1989 in Leipzig sind, die die geschichtspolitische Ausrichtung der »Runden Ecke« charakterisierten und es ist Hollitzers und Kleinerts – dies sei schon einmal vorweggenommen – Version, die den Geschichtsdiskurs über den Herbst 89’ seither dominierte und worauf das Selbstverständnis des BKL – als Träger der Gedenkstätte Museum in der »Runden Ecke« Leipzig – bis heute fußt. Die weit vor der Montagsdemonstration von oben arrangierte Übergabe der Staatssicherheit in den Bezirken, die für die Demonstranten in Leipzig inszenierte Besetzung des unbedeutenden Altbaus, die von der Politik eingefädelte »Erstürmung« wurde nicht Bestandteil des Geschichtsnarrativs.
3.2 F RÜHPHASE DER AUFARBEITUNG S TAATSSICHERHEIT
DER
DDR-
Vom 04. auf den 05. Dezember 1989 konstituierte sich das Bürgerkomitee in Leipzig mit dem Ziel in »Sicherheitspartnerschaft« mit der VP, dem Militäranwalt und dem Regierungsbeauftragten der Modrow-Regierung die BVSt Leipzig aufzulösen.28 Scheibler und Kleinert wurden zu den Sprechern des BKL ernannt. Noch am 05. Dezember forderte das Volkskontrollkomitee, wie das BKL sich zu diesem Zeitpunkt noch nannte, seine Legitimierung durch die Regierung:
26 Michael Kleinert z.n. ebd., S. 45. 27 Ebd., S. 46f. 28 Siehe u.a. Niemann, Uwe: »Empörung über Verbrechen am Volk«, in: Leipziger Volkszeitung vom 05.12.1989, ArBKL, Bestand: Heute vor 10 Jahren, 4. Dezember [4. Dezember]; Lindenberg, Andreas: »Bürgerkomitee in Leipzig will Licht ins Dunkel bringen«, in: Leipziger Volkszeitung vom 06.12.1989, ArBKL, 4. Dezember; Lindenberg, Andreas: »Ehemalige MfS-Gebäude jetzt unter Kontrolle«, in: Leipziger Volkszeitung am 07.12.1989, ArBKL, 4. Dezember.
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»1. Das Volkskomitee ist von Seiten des Ministerpräsidenten/der Volkskammer um kompetente Vertreter zu ergänzen. Es ist zu legitimieren. Für dieses Bürgerkomitee müssen Arbeitsbedingungen geschaffen und Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt werden. 2. Es ist eindeutig zu definieren, welche Räumlichkeiten den nationalen Sicherheitsinteressen dienen und welche Räume den Zweck der innerstaatlichen Kontrolle erfüllen. Gleiches gilt für Archivmaterial.«29
Neben politischer Legitimierung forderte das Volkskontrollkomitee zudem MfSsachkundige politische Vertreter als Unterstützung an und erkannte es öffentlich an, dass nur die Abteilungen zur inneren Sicherheit aufzulösen seien, nicht das gesamte MfS/AfNS inklusive Auslandsaufklärung. Entsprechend sollten auch nur diese Räume versiegelt und dieses Personal beurlaubt werden.30 Sowohl seitens der Politik als auch seitens des MfS/AfNS bestand aus taktischen Gründen große Bereitschaft, den Bürgerkomitees bei der Auflösung der fraglichen Abteilungen »zu helfen«, konnte doch der Öffentlichkeit suggeriert werden, dass der Auflösungsprozess »unter demokratischer Kontrolle« verlief während gleichzeitig auf diese Weise die Kontrolle über das MfS/AfNS zurück gewonnen wurde. An eine vollständige bzw. ersatzlose Auflösung des MfS/AfNS war seitens des Ministerrates bzw. der MfS/AfNS-Führung nämlich noch gar nicht gedacht. Nur die Bereiche des MfS/AfNS sollten abgewickelt werden, die noch der »alten Sicherheitspolitik« entsprachen. Alle anderen Abteilungen sollten »reformiert« werden und in »neue Sicherheitsorgane« überführt werden. So verfolgte das MfS/AfNS noch bis Mitte Januar 1990 die Strategie, institutionell in einen Verfassungsschutz und in einen DDR-Nachrichtendienst aufzugehen, um in diesen Einrichtungen quasi fortzubestehen. Diese Umwandlung des MfS/AfNS war unter dem Deckmantel der »Auflösung unter Bürgerkontrolle« nicht nur erheblich leichter möglich, sondern die Beteiligung von Bürgerkomitees »legitimierten« diesen Prozess sogar. Schon allein deshalb wurde die Bildung von Bürgerkomitees begrüßt. Diese Strategie wird für den Raum Leipzig von einem Schreiben bestätigt, dass das Kreisamt für Nationale Sicherheit (KfNS) Leipzig-Land am selben Tag an das NF sandte. Darin erklärten die MfS-Mitarbeiter des KfNS: »Wir […] unterstützen die Bildung von Bürgerkomitees zur Untersuchung dieser Vorgänge. Gleichzeitig bieten wir diesen Komitees unsere Hilfe an, alle Gesetzesverletzungen vorbehaltlos mit zu untersuchen, um die Schuldigen anklagen zu können. […] Deshalb fordern wir den Rücktritt des alten Kollegiums des ehemaligen MfS, weil wir uns von diesen Leuten verraten und missbraucht fühlen. Der heutige Leiter des Amtes […] hat offensichtlich immer noch nicht begriffen, dass es grundsätzlich nur mit einer uneingeschränkten Ehrlichkeit vor dem
29 Sofortforderungen des Volkskomitees Leipzig vom 05.12.1989, in: Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 238; siehe auch Hollitzer Tobias: »Die Auflösung der Staatssicherheit«, in: ders./Bohse, Reinhard: Heute vor 10 Jahren (2000), S. 604. 30 Ebd.
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Volke eine Legitimation für eine künftige Tätigkeit eines […] von der Volkskammer kontrollierten Sicherheitsorgans geben kann.«31
In ähnliche Richtung ging auch ein »Appell an die Vernunft«, der von verschiedenen Vertretern der Öffentlichkeit unterstützt wurde und im PDS-SED-Organ »Neues Deutschland« bereits einen Tag nach der Besetzung der »Runden Ecke« erschien: »Wir wenden uns an die Regierung und die Volkskammer, sofort die rechtliche Grundlage für die Arbeit der Bürgerkomitees zu schaffen. […] Die Bürgerkomitees in Stadt und Land sollen in Sicherheitspartnerschaft mit den staatlichen Organen zunächst Kontrollaufgaben wahrnehmen, Beweismaterial sichern und bei den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft mitarbeiten.«32
D.h., an ein endgültiges Ende des DDR-Staatssicherheitsdienstes wurde nicht gedacht, eher an Untersuchungen im Fall von Amtsmissbrauch und eher an eine »Erneuerung« der ansonsten für weiterhin erforderlich gefundenen DDR-Staatssicherheit. Und von Seiten des MfS/AfNS blieb es das erklärte Ziel, trotz der zugestandenen Einschränkungen durch die Bürgerkomitees eigentlich so weiter zu arbeiten wie bisher. Damit niemand dabei störte, wurde alles getan, um die »Bürgerkontrolle« so gering wir möglich zu halten. Bereits am 06. Dezember 1989 war die Sicherheitspartnerschaft mit der VP hergestellt, sodass die VP die Sicherung diverser MfS/AfNS-Gebäude übernahm, so auch die Sicherung der »Runden Ecke«.33 Erfolgreich meldete der Zentrale Operativstab, dass die Arbeitfähigkeit des MfS in Leipzig noch möglich sei.34 Schwanitz wies seine Bezirksämter in einem Fernschreiben schließlich an: »Es ist damit zu rechnen, dass autorisierte Kontrollgruppen, bestehend aus Vertretern staatlicher Organe sowie von Bürgerrechtsbewegungen, gebildet und in den BÄfNS und anderen
31 Schreiben des KfNS Leipzig-Land an das Neue Forum vom 05.12.1989, ABL, 16.4 MfSAuflösung [16.4], Nr. 16.4.5, S.1-2. 32 »Aufruf ›Appell an die Vernunft‹«, in: Neues Deutschland vom 05.12.1989, ArLStU, 1989/90: Auflösung der DDR-Staatssicherheit. Der Appell war u.a. unterzeichnet von Wolfgang Berghofer, damaliger Oberbürgermeister von Dresden und Mitglied des Krisenstabes um Modrow, von Gregor Gysi in seiner Funktion als Rechtsanwalt und von diversen Vertretern aus Kunst-, Kultur- und Kirchenkreisen. Siehe hierzu auch Tornow, Georgia: »Ventile für den Volkszorn«, in: Taz vom 06.12.1989, ArBKL, 4. Dezember. 33 Lagefilm der BDVP vom 03.12.1989-07.12.1989, SächsStAL, Bestand: BDVP Leipzig 24.1, Nr. 1587. Für die DVP galt: »Es ist eine hohe Wachsamkeit der eingesetzten operativen Kräfte zu gewährleisten, unsere Genossen stehen in der Öffentlichkeit und werden von unseren Bürgern genau beobachtet, [es ist] dafür Sorge [zu] tragen, dass keine Unterlagen und and. Dokumente vernichtet werden […] Sicherungsmaßnahmen werden gemeinsam mit den Genossen von (Nasi) durchgeführt«, ebd. Bl. 7 und Bl. 8. 34 Vgl. Zentraler Operativstab: Arbeitmöglichkeiten der Bezirksämter des ANS vom 06.12.1989, ABL, 16.6 Sicherheitspolitische Lage Herbst 89 [16.6], Bl. 96; Zentraler Operativstab: Bericht vom 07.12.1989, ABL, 16.6, Bl. 93.
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Diensteinheiten Arbeits- und Kontrollmöglichkeiten erhalten werden. Können unter Ausschöpfung aller dazu geeigneten Möglichkeiten […] die Forderungen dieser Kontrollgruppen nicht abgewiesen werden, sind die Öffnung von Räumen und Schränken sowie die Einsichtnahme in Dokumente und Unterlagen möglich.«35
Dieses nur begrenzte Zugeständnis seitens des MfS/AfNS an die »Eindringlinge« wurde nach elfstündiger Verhandlung in Form eines Maßnahmeplanes des BKL fixiert, den Tobias Hollitzer als eines der »revolutionärsten Dokumente des Herbstes 1989 in Leipzig« einstuft.36 Hieß es darin noch in einem ersten Entwurf »Die Kreisämter für Nationale Sicherheit sollen geschlossen werden« (was ja nur eine unverbindliche Absichtserklärung darstellte), hieß es in einem zweiten Entwurf immerhin: »Das Bezirksamt und die Kreisämter für Nationale Sicherheit werden auf Betreiben der Bürgerkomitees durch Entscheid des Amtes f. NS Berlin geschlossen.«37 Schließlich einigten sich die Mitglieder des BKL, der Regierungsvertreter, der Militärstaatsanwalt, Vertreter des MfS und der Leiter der BVSt Leipzig auf die Endfassung: »Das Bezirksamt und die Kreisämter für Nationale Sicherheit wurden auf Betreiben des Bürgerkomitees auf Entscheid des Amtes für Nationale Sicherheit geschlossen. Bereiche nationaler Sicherheit bleiben jedoch arbeitsfähig.«38 Aus der Absichtserklärung war eine Feststellung geworden, die Schließung wurde als bereits vollzogen erklärt. Dass der Bereich nationale Sicherheit im Maßnahmeplan weiterhin ausgeklammert wurde, war ein deutliches Zugeständnis des BKL zur damaligen sicherheitspolitischen Strategie der Regierung und des MfS/AfNS, einen Verfassungsschutz und einen DDR-Nachrichtendienst zu bilden. Zwar wurden erstmals die Kompetenzen eines Bürgerkomitees schriftlich fixiert und politisch legitimiert (und darin ist Hollitzer in seiner Beurteilung zuzustimmen, dass diese Fixierung einmalig im Zuge des Auflösungsprozesses des MfS/AfNS gewesen ist), allerdings wurden dem BKL in diesem Abkommen nur solche Kompetenzen eingeräumt, die den Vorstellungen des MfS/AfNS entsprachen. So gestanden die Regierungs- und MfS/AfNSVertreter lediglich eine Zusammenarbeit bei der Sicherung von speziell ausgewählten Akten- und Beweismaterialien zu, die obendrein bestehenden gesetzlichen Voraussetzungen entsprechen musste. D.h., ein uneingeschränkter Aktenzugang war weiterhin nicht möglich. Auch wurden die Aussagemöglichkeiten gegenüber dem Bürgerkomitee und der Staatsanwaltschaft begrenzt auf die Aufklärung von Straf-
35 Fernschreiben vom Leiter des AfNS Wolfgang Schwanitz an die Leiter der BÄfNS vom 06.12.1989, z.n. Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 240. 36 Ebd., S. 135. 37 Ebd., Bl. 3. 38 Maßnahmeplan des Bürgerkomitees zur Gewährleistung der öffentlichen und parlamentarischen Kontrolle im Bereich der inneren Sicherheit vom 06.12.1989, 12 Uhr, ABL, 4.23 Bürgerkomitee Leipzig e.V. [4.23], 4.23.3 Bl. 1; Maßnahmeplan des Bürgerkomitees zur Gewährleistung der öffentlichen und parlamentarischen Kontrolle im Bereich der inneren Sicherheit vom 06.12.1989, 23 Uhr, SächsStAL, Bezirkstag u. Rat des Bezirkes Leipzig, Nr. 31253 [BBLpz., Nr. 31253].
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tatbeständen. Ferner sollten gesetzliche Vorgaben der Strafprozessordnung zur persönlichen und juristischen Sicherheit der Mitarbeiter des MfS Anwendung finden. Nur bezüglich der historischen Aufarbeitung räumten die Regierungs- und MfS/ AfNS-Vertreter ein, dass »parlamentarische Transparenz« zu gewährleisten sei.39 Was sich hinter einer »parlamentarischen Transparenz« verbarg, blieb offen. Der Maßnahmeplan bedeutete daher insgesamt, dass das BKL den gesetzlichen Vorgaben zu folgen und den Schutz der Mitarbeiter zu garantieren hatte, weiterhin zur Zusammenarbeit mit dem MfS/AfNS verpflichtet wurde, ferner die Arbeitsfähigkeit des Bereiches nationale Sicherheit, d.h. die Weiterarbeit des MfS/AfNS vom BKL geduldet werden musste, d.h. dass der Handlungsspielraum des BKL zu diesem Zeitpunkt vorerst auf die Vorarbeit zu Ermittlungsverfahren zu MfSStraftaten und auf die historische Aufarbeitung der »falschen Sicherheitspolitik« des MfS beschränkt blieb. Zu welchen Bereichen und Materialien dem BKL Zugang verschafft werden sollte, war bereits vorab durch Schwanitz detailliert festgelegt worden. IM/GMS-Unterlagen, Materialien zu »Operativen Vorgängen« (OV) und »Operativen Personenkontrollen« (OPK) sowie Unterlagen zu Aufklärung und Spionageabwehr gehörten nicht dazu.40 Dass sich das BKL mit diesem reduzierten Handlungsspektrum zu diesem Zeitpunkt zufrieden gab und noch voll auf die »Rechtstaatlichkeit« der DDR vertraute, sich sogar mit einer Neuorganisation der Staatssicherheit bzw. an einer ungebrochenen staatlichen Kontrolle über das MfS abfand, ist auch aus Kommentaren einzelner BKL-Mitglieder wie Michael Kleinert bei der tags drauf, am 07. Dezember 1989 stattfindenden Pressekonferenz ersichtlich: »Als Bürgerkomitee müssen wir da natürlich ab einem gewissen Punkt – ob der nun heute erreicht ist oder erst morgen, das wollen wir hier vielleicht noch nicht festschreiben – die gesamten Arbeiten den dafür zuständigen Staatsorganen zu übergeben. Wir können kein zusätzliches Kontrollamt im Staate schaffen […]. Wir wollen den Zeitaufwand reduzieren. […] Ich möchte ergänzen, dass sich das Bürgerkomitee nicht zum Ziel gesetzt hat, ermittelnd tätig zu sein im Sachen der Landesverteidigung oder der nationalen Sicherheit, sondern wir haben uns zum Ziel gesetzt, zu sichern, dass vorhandene Archive und Datenträger, die gegebenenfalls der Erhellung von Straftatbeständen dienen könnten, sichergestellt werden und jetzt, in der Phase der Überführung des Amtes in eine andere Funktion, der notwendigen Auswertung zugänglich gemacht werden.«41
Ein weiteres Mitglied, Thomas R., pflichtete bei: »Was wir also leisten können, betrifft die offiziellen Räume und dort alle die Bereiche, die nicht im Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit stehen.«42 Im Grunde genommen diente das BKL da-
39 Ebd. 40 Fernschreiben vom Leiter des AfNS Wolfgang Schwanitz an die Leiter der BÄfNS vom 06.12.1989, z.n. Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 241f. 41 Protokoll Pressekonferenz am 07.12.1989 im Gästehaus Wilhelm-Seifert-Straße der Bezirksleitung der SED-Leipzig, ABL, 4.23, Nr. 4.23.4, Bl. 2, 3, 5. 42 Ebd., Bl. 3.
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mit der offiziellen und politisch längst festgelegten Entkriminalisierung des MfS, der Abkehr der DDR-Staatssicherheit von der alten Sicherheitspolitik und ihrer Überleitung in ein neues Sicherheitsorgan. Dass als »Reform-Helfer des MfS« nur ausgewählte, bestimmte Bürger in Frage kommen dürften, machte Kleinert bei gleicher Veranstaltung deutlich, mit den Worten, es könne nicht im Sinne der Sache sein, »[…] dass jetzt jeder kommt und sagt: jetzt möchte ich mal kontrollieren«.43 Und auch in Sachen Räumung der BVSt lag der vom BKL verhandelte Maßnahmeplan ganz auf der Linie des AfNS-Planungen, wie durch Kleinerts Kommentar, »dass der Altbau des Gebäudes [›Runde Ecke‹] ab 01.04.1990 dem Rat der Stadt zur Verfügung gestellt wird […]«.44 Eine solche Festlegung war bereits am 03. Dezember, d.h. einen Tag vor der »Besetzung« der »Runden Ecke« bei der Dienstkonferenz der Leiter der Bezirksverwaltungen in Berlin durch Schwanitz getroffen worden. Dies geht zweifelsfrei aus einem Protokoll des Leiters der BVSt Leipzig, Generalleutnant Manfred Hummitz, über dieses Berliner Treffen hervor. Darin hieß es: »– heute noch über Sender Erklärung ›Runde Ecke‹ ab 1.4.90 an Rat der Stadt. – Umstrukturierung bis Ende April abschließen«.45 D.h., die Räumung der »Runden Ecke« war also schon vor dem 04. Dezember beabsichtigt und geplant, »neu« war nur noch, dass das Bürgerkomitee jetzt eingespannt wurde, diese planmäßig umzusetzen. Um den Anschein zu erwecken, DDR-Regierung und MfS/AfNS hätten ein ernsthaftes Aufklärungsinteresse und seien bereit »aus den Fehlern zu lernen«, wurde – als »Zugeständnis« an das Bürgerkomitee – die Einrichtung einer Aktensichtungskommission im Maßnahmeplan ausdrücklich befürwortet. Bestehend aus Soziologen, Politologen, Juristen und Historikern sollte diese Aktensichtungskommission zur Aufdeckung von Fehlentwicklungen innerhalb des MfS/AfNS beitragen: »Das ist wichtig für die Geschichtsaufarbeitung und für die Klärung der Zielstellung und der Art solcher Aufklärungen.«46 Dies galt besonders mit Blick auf die vorgesehenen, zukünftigen Sicherheitsorgane der DDR. Vom MfS/AfNS zu verantwortende Vergehen sollten auf gar keinen Fall von Verfassungsschutz und Nachrichtendienst wiederholt werden. Schon einen Tag nach der Pressekonferenz wurden hierfür die Kompetenzen des Bürgerkomitees bei der inhaltlichen sowie historischen Aufarbeitung der sichergestellten Materialien konkretisiert. Es wurde festgelegt, dass die Aktensichtungskommission, bestehend aus Vertretern des AfNS, dem Militärstaatsanwalt und 10 Vertretern des BKL ab dem 12. Dezember eingerichtet werde, die die Materialien sichten und inhaltlich zu einer späteren Veröffentlichung/Offenlegung – unter Wahrung der Persönlichkeitsschutzrechte der Mitarbeiter des MfS/AfNS – aufbereiten sollten. Berufliche Freistellungen und die Übernahme des entstehenden Lohnausfalls durch die
43 Ebd., Bl. 5. 44 Ebd., Bl. 6. 45 Protokoll der Dienstbesprechung des Leiters der BVSt Leipzig vom 04.12.1989, in: Bürgerkomitee Leipzig (Hg.): Stasi intern (1998), S. 51. 46 Protokoll Pressekonferenz am 07.12.1989 im Gästehaus Wilhelm-Seifert-Straße der Bezirksleitung der SED-Leipzig, ABL, 4.23, Nr. 4.23.4, Bl. 13.
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Regierung wurden garantiert.47 Nur die Dokumente/Akten sollten in die historische Aufarbeitung der BVSt einfließen und Bürgern offen gelegt werden, die nicht der Geheimhaltung im Sinne der nationalen Sicherheit entsprachen. Dementsprechend wurden alle Materialien kategorisiert. Die Akten, die der Geheimhaltungsstufe unterlagen, wurden der Kategorie 1 zugeschlagen. Nur der Militärstaatsanwalt durfte hier stichprobenartig Einsicht nehmen. In einem separaten Archivbereich sollten die andern Unterlagen als Materialien der Kategorie 2 und 3 (je nach Relevanz für die historische Aufarbeitung) den BKL-Mitgliedern zugänglich sein.48 D.h., alle für eine spätere Neuorganisation des Sicherheitsdienstes notwendigen Materialien wurden der historischen Aufarbeitung durch das BKL entzogen und das BKL wurde zudem vielmehr damit beauftragt nur anhand der übrigen, bereits stark selektierten Materialien die inhaltliche Arbeit des MfS/AfNS aufzuarbeiten. Es lässt sich daher feststellen, dass die BVSt bzw. das MfS/AfNS inhaltlich ungebrochen »den Daumen« auf ihr Herrschaftswissen legte und bestimmte, welche Bereiche in die eigene Geschichtsschreibung einfließen sollten. Das MfS/AfNS unterstützte die eigene Aufarbeitung in dem Maße, wie es den Inhalt diktierte. Dies bedeutete aber auch, dass diese erste historische Aufarbeitung »im Auftrag«, ja zumindest in enger Absprache mit der BVSt bzw. des MfS/AfNS und unter dessen Duldung geschah. Die BVSt bzw. das MfS/AfNS kam in diesem Sinne der Forderungen der Montagsdemonstranten »›Krumme Ecke‹, Schreckenshaus – wann wird ein Museum draus?« vordergründig nach, gestand sich also prinzipiell Fehler ein, behielt dabei aber die »Zügel fest in der Hand« und legte grundlegend Richtung und Ausmaß ihrer »Aufarbeitung« fest. Diesem Vorgehen entsprach auch der Schwanitz-Befehl vom 07. Dezember 1989, grundlegende Dokumente des ehemaligen MfS als Belegexemplare für Archive und Historiker erhalten zu wollen, den Rest jedoch zu vernichten.49 Während der ersten Auflösungsphase in der »Runden Ecke« dominierten daher vor allem die Vorstellungen der BVSt bzw. des MfS/AfNS und entschieden diese und nicht das BKL über Form und Inhalt des Geschichtswerdungsprozesses. Die Gewährung der kontinuierlichen Teilhabe des BKL an diesem Prozess hatte also den Preis, dass das MfS/AfNS in gewisser Weise schon während seiner Auflösung begann, die eigene Geschichte mitzuschreiben. Dies gelang nicht nur durch die allseits bekannten Vernichtungsaktionen, die außerhalb Leipzigs z.T. noch bis in den Sommer 1990 stattfanden, sondern – wie das Beispiel Leipzig zeigt – auch auf »bürokratischem Wege«: nämlich durch das maximale Ausschöpfen vorhandener Spielräume, die das BKL dem MfS/AfNS in seiner Kompromissfähigkeit und gemäß seinem eigenen Rechtverständnis vertraglich zugestand bzw. im Sinne der Sicherheitspartnerschaft zugestehen musste. Damit die Bürgerkontrolle und die inhaltliche Aufarbeitung des MfS zumindest im Prinzip geschah und dauerhaft fortbestand, musste stellenweise eben auf Tiefenschärfe bzw. Vollständigkeit verzichtet werden.
47 Präzisierung des Maßnahmeplanes des Bürgerkomitees Leipzig vom 08.12.1989, in: Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 249. 48 Ebd., S. 249-250. 49 O.V.: »Lage spitzt sich zu«, in: Leipziger Volkszeitung vom 08.12.1989; Vermerk vom 08.12.1989, in: Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 251.
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Dass sich der Vernichtungsbefehl von Schwanitz nur auf solche Unterlagen der Kategorie 3 bezog, die vom BKL für die historische Aufarbeitung ebenfalls als »nachrangig« bzw. »ohne Verwendung« eingestuft wurden, und dass für diese Akten – konform mit dem Schwanitz-Vernichtungsbeschluss – auch seitens des BKL eine spätere Vernichtung in Betracht gezogen wurde,50 findet sich in den bisherigen Darstellungen noch nicht. Dabei hatte Schwanitz – zumindest auf dem Papier und durchaus geschichtspolitisch – ein ureigenes Interesse daran, jene für die historische Aufarbeitung für gerade noch wichtig genug befundenen Materialien zu bewahren. Schließlich konnten neue Sicherheitsorgane nur in scharfer Abgrenzung zum bestehenden MfS/AfNS legitimiert werden. Dass das BKL diese Regierungspläne noch bis Anfang Januar vorbehaltlos unterstützte, wird auch deutlich aus einem Vorschlag des BKL, den die Sprecher des BKL durch den Regierungsvertreter noch vor dem »Ministerratsbeschluss über die Bildung eines Verfassungsschutzes und eines Nachrichtendienstes anstelle des MfS/AfNS« vom 14. Dezember 1989 an die Regierung leiten ließen. Darin hieß es konform mit Schwanitz’ Vorstellungen: »1. Das Amt für Nationale Sicherheit ist strukturell, personell und bezüglich seiner Objekte aufzulösen. […] 2. Die folgenden ausgewählten Aufgaben werden anderweitig neu aufgebaut: a) Auslandsaufklärung wird von einem Zentralen Nachrichtendienst wahrgenommen. […] b) Militärische Aufklärung und Abwehr wird der NVA übertragen. C) Es ist ein Amt für Verfassungsschutz neu zu schaffen.«51
Für den Bezirk Leipzig schlugen die BKL-Sprecher – die Schwanitz-HummitzVorstellungen am 03. Dezember 198952 aufnehmend – vor: »Das Bezirksamt für Verfassungsschutz wird im ehemaligen MfS-Objekt Gustav-MahlerStraße installiert. Das Bezirksamt für Datenschutz wird im ehemaligen MfS-Objekt LeizigLeutzsch installiert. Alle anderen Objekte werden dem Rat der Stadt übergeben. Das Bezirksamt Neubau des ehemaligen MfS wird […] der neue Sitz des Rates der Stadt Leipzig. […] Der Bezirksamt-Altbau [›Runde Ecke‹] wird dem Rat der Stadt übergeben.«53
Kontrollierte Aktenvernichtungen zum »Personen- und Quellenschutz« im Zusammenhang mit der Auflösung/Umwandlung wurden in Kauf genommen, für die gesi-
50 Präzisierung des Maßnahmeplanes des Bürgerkomitees Leipzig vom 08.12.1989, in: Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 250. 51 Bürgerkomitee Leipzig: Vorschlag des Bürgerkomitees Leipzig zur Durchsetzung von Rechtstaatlichkeit im Bereich der Nationalen Sicherheit vom 12.12.1989, in: ebd., S. 256. 52 Protokoll der Dienstbesprechung des Leiters der BVSt Leipzig vom 04.12.1989, in: Bürgerkomitee Leipzig (Hg.): Stasi intern (1998), S. 51. 53 Bürgerkomitee Leipzig: Vorschlag des Bürgerkomitees Leipzig zur Durchsetzung von Rechtstaatlichkeit im Bereich der Nationalen Sicherheit vom 12.12.1989, in: Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 257.
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cherten Akten wurde durch die BKL-Sprecher eine Verwahrung im Staatsarchiv vorgesehen.54 Dass unter diesen Prämissen auch die Leipziger Stadtregierung Bereitschaft zeigte, mit »bürgerlichen Basisgruppen« zusammenzuarbeiten und Untersuchungen in den eigenen Reihen durchzuführen, geht aus Protokollen des Rates der Stadt Leipzig in dieser Zeit hervor. Am 08. Dezember 1989 unterbreitete die Stadtverordnetenversammlung (SVV) Leipzig den Bürgern das Angebot, Untersuchungskommissionen einzurichten, 30 Teilnehmer der Basisgruppen als ständige Teilnehmer der SVV zu gestatten, und einen Vertreter der demokratischen Basisgruppen in eine Ratsfunktion zu heben.55 Bei gleicher Sitzung legten 25 Mandatsträger mit begründetem Verdacht auf Wahlbetrug ihr Mandat nieder.56 Am 09. Dezember gründete sich das Bürgerkomitee der Stadt Leipzig,57 in denen sich neben auch vormaligen Stadtratsmitgliedern58 auch Mitglieder des sich am 04. Dezember 1989 gebildeten Bürgerkomitees der »Runden Ecke« wiederfanden, so die Sprecher des BKL Michael Kleinert und Christian Scheibler sowie Ernst M.59 Die Grundsätze zur Arbeitsweise des Bürgerkomitees der Stadt Leipzig (dem sich das Auflösungs- bzw. Bürgerkomitee in der »Runden Ecke« dann sogar formal anschloss) wurden am 15. Dezember 1989 beschlossen. Aus ihnen ging hervor, dass das Bürgerkomitee der Stadt nunmehr den direkten Anlaufpunkt für Bürgeranfragen darstellen sollte und administrativ den »Runden Tisch der Stadt Leipzig« (RTSL) sowie den »Runden Tisch des Bezirkes Leipzig« (RTBL) als angegliederter Ausschuss unterstützen sollte.60 Die Finanzierung des Bürgerkomitees der Stadt (und damit auch des Bürgerkomitees in der »Runden Ecke«) übernahm der Stadtrat bzw. lief über die die Stadt Leipzig.61 Am 13. Dezember 1989 wiederholte der Rat der
54 Dies bestätigt auch Hollitzer in seiner Analyse, ebd., S. 149f; vgl. Bürgerkomitee Leipzig: Vorschlag des Bürgerkomitees Leipzig zur Durchsetzung von Rechtstaatlichkeit im Bereich der Nationalen Sicherheit vom 12.12.1989, in: ebd., S. 257. 55 Stadtverordnetenversammlung der Stadt Leipzig: Bericht vom 08.12.1989, StArL, Bestand: StVuR (2), Nr. 2211, Bl. 22. 56 Beschluss der Stadtverordnetenversammlung Leipzig vom 08.12.1989 über Mandatsveränderungen in der Stadtverordnetenversammlung Leipzig, StArL, StVuR (2), Nr. 2212, Bl. 8. 57 Beschluss des Koordinierungstreffens der oppositionellen Gruppen und Parteien im Kreis Leipzig vom 09.12.1989, ABL, 4.28, Bl. 2. 58 SED-PDS: Zum Bürgerkomitee der Stadt Leipzig vom 02.01.1990, SächsStAL, SEDBezirksleitung, Nr. 1815, Bl. 42. 59 Liste der Mitarbeiter des Bürgerkomitees, ABK, 4.24 Bürgerkomitee der Stadt Leipzig [4.24], Nr. 4.24.161, Bl. 1. 60 Bürgerkomitee Leipzig: Grundsätze für die Arbeitsweise des Bürgerkomitees vom 15.12.1989, ABL, 4.24, Nr. 4.24.101, Bl. 1-2. Eine rückwirkende Anerkennung des Bürgerkomitees in der »Runden Ecke« als Arbeitsauschuss des RTSL erfolgte im Januar, vgl. Vereinbarungsformular über Freistellung für Mitarbeit im Bürgerkomitee Leipzig, Januar 1990, in: Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 261. 61 Geschäftsordnung des Bürgerkomitees Leipzig, StArL, RTSL, Nr. 1-13, Film Nr. 5.
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Stadt Leipzig zwar noch sein Angebot, »[…] über 30 Sitze in der Stadtverordnetenversammlung und auch die Teilnahme an Sitzungen des Rates […] am Runden Tisch nochmals zu erneuern,« durch enge personelle Überscheidungen zwischen Rundem Tisch und Rat, zwischen Bürgerkomitee der Stadt, SVV und Stadtrat sowie die Einbindung der Bürgerkomitees in die Runden Tische der Stadt und des Bezirkes erübrigte sich dies jedoch.62 Mit der Einlagerung der Materialien der KÄfNS in den Gebäuden der BVSt, mit der Räumung des Neubaus der BVSt und der Arbeitsaufnahme der Aktensichtungskommission, begann die erste systematische Aufarbeitung des Wirkens des MfS in Leipzig. Die Aktenkontrollkommission, bestehend aus BKL-Mitgliedern, MfS/ AfNS-Mitarbeitern, Vertretern der Regierung und Mitarbeitern des Staatsarchivs, sortierte das Material. »Die entsprechend der Vereinbarung mit dem Bürgerkomitee und Regierungsvertretern tätige Sichtungskommission […] hat in 3 Gruppen in einer Gesamtstärke von 15 Personen mit der Sichtung des Materials der Kategorie 2 begonnen. Durch den Bezirksstaatsanwalt wurde am 22. Dezember 1989 damit begonnen, Unterlagen der ehemaligen Leitung der BV und des Stabes gesondert zu sichern. Die Unterlagen werden dem Material der Kategorie 1 zugeordnet, jedoch getrennt aufbewahrt«,
hieß es in einem Lagebericht an Modrow.63 Je nach Relevanz wurde das Material also zum Zweck einer späteren lückenlosen Dokumentation des MfS in einem ab-
62 Protokoll über die 25. Sitzung des Rates der Stadt Leipzig am 13.12.1989, StArL, StVuR (2), Nr. 2192, Bl. 65. So war der BKL-Sprecher Scheibler beim RTBL (für den DA) stimmberechtigtes Mitglied der inneren Runde, Kleinert und Ernst M. nahmen ebenfalls teil, vgl. Protokoll über die Beratung des Runden Tisches – Bezirk Leipzig am 02.01.1990 vom 03.01.1990, SächsStAL, SED-Bezirksleitung, Nr. 1815, Bl. 52ff. Bei gleicher Sitzung wurden die Geschäftsordnung und das Statut des Bürgerkomitees der Stadt Leipzig bestätigt. Auf Regierungsebene wurden solche »staatlichen Bürgerkomitees« legitimiert durch die Regierungserklärung vom 17.11.1989 zur Bildung von Gremien zwischen Abgeordneten und örtlichen Vertretern zur Lösung kommunaler Aufgaben und durch den Beschluss des Ministerrates 08/14/90 vom 04.01.1990. Darin wurde die Herausbildung einer nationalen Bürgerbewegung der DDR für die »demokratische Erneuerung des gesamten öffentlichen Lebens« unter Einplanung von 666 Planstellen beschlossen. Diese »Bürgerkomitees« hatten erst recht nichts mehr mit echter »Bürgerkontrolle« gemein, sondern sie waren Staatsorgane mit »bürgerlichem Anstrich«, vgl. Ministerrat der DDR, Beschluss des Ministerrates 8/14/90 vom 04.01.1990, SächsStAL, SEDBezirksleitung, Nr. 1815, Bl. 146-149. 63 Lagezentrum: Berichterstattung an den Vorsitzenden des Ministerrates, Genossen Modrow vom 23.12.1989, ABL, 16.6, Bl. 47-50. Zwar ging aus anderen Berichten des Lagezentrums hervor, dass die BVSt Leipzig zwischen dem 23.12. und dem 03.01.1990 offiziell geschlossen sei und mit einer Kategorisierung und Sichtung frühestens ab dem 02.01.1990 begonnen werde, tatsächlich jedoch begann die Arbeit der Aktensichtungs-
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gegrenzten Archivbereich (u.a. in der Untersuchungshaftanstalt in der KätheKollwitz-Straße und im Altbau Dittrichring 22-24, dem Sitz der späteren Gedenkstätte) eingelagert.64 Gemäß den Festlegungen vom 06. Dezember 198965 und vom 08. Dezember 198966 erfolgte die erste Sichtung und Aufarbeitung vor dem Hintergrund der Legitimierung eines neuen nationalen Sicherheitsdienstes bzw. als Teil der Umwandlung des MfS/AfNS in ein Amt für Verfassungsschutz und einen Nachrichtendienst, die unter Leitung neuer Führungskader und mit der Bildung von Außenstellen in den Bezirken zum 31. März 1990 abgeschlossen sein sollte.67 Das AfNS meldete daraufhin an den Ministerrat der DDR seinen »Erfolg«, die Situation in den sieben Bezirken sei angespannt, aber das öffentliche Leben funktioniere wieder, mit »[…] der Bildung von Operativstäben wurde nach Berichten der Bevollmächtigten bzw. Vorsitzenden der Räte der Bezirke in 6 Bezirken begonnen«.68 Ob mit »Operativstäben« für Leipzig die Aktensichtungskommission und/oder das Bürgerkomitee der Stadt Leipzig gemeint waren, wird zumindest vermutet. Da diese die einzigen neu geschaffenen »Institutionen« waren, die in direktem Zusammenhang mit der Auflösung bzw. Umwandlung des AfNS standen, liegt dieser Verdacht nahe. Er wird zudem gestützt durch die Erläuterungen des Informationszentrums des Ministerrates vom 28. Dezember 1989: »Der Prozess der Auflösung der Ämter für Nationale Sicherheit verläuft planmäßig. […] Ziel der Bürgerinitiativen ist die Befreiung vom Stalinismus, aber nicht vom Sozialismus. […] Zur Archivierung von Schriftgut des ehemaligen MfS im Bezirk Leipzig werden ab Januar 1990 10 Planstellen zusätzlich benötigt. […] Die BDVP-Leipzig benötigt 8 Offiziers- und 104 Unteroffiziers-Planstellen zusätzlich für 1990, um Spezialisten des ehemaligen A[f]NS
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kommission schon am Weihnachtsvorabend, vgl. Lagezentrum: Bericht vom 23.12.1989, ABL, 16.6, Bl. 45; Lagezentrum: Bericht vom 28.12.1989, ABL, 16.6, Bl. 213. Informationszentrum des Ministerrates: Information über die Tätigkeit der Beauftragten des Vorsitzenden des Ministerrates/Inhalte der Meldungen der Vorsitzenden der RdB – 08.12.1989 vom 09.12.1989, ABL, 16.6; o.V.: »Bürgerkomitee informierte auf Pressekonferenz«, in: Leipziger Volkszeitung vom 09.12.1989. Maßnahmeplan des Bürgerkomitees zur Gewährleistung der öffentlichen und parlamentarischen Kontrolle im Bereich der inneren Sicherheit vom 06.12.1989, 23 Uhr, SächsStAL, BBLpz., Nr. 31253. Präzisierung des Maßnahmeplanes des Bürgerkomitees Leipzig vom 08.12.1989, in: Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 249. Entwurf des Leiters des AfNS vom 13.12.1989, ABL, 16.6, Bl. 98-100; Fernschreiben des Leiters des AfNS an die BÄfNS vom 13.12.1989, ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv; Schreiben des Leiters des AfNS an alle Diensteinheiten vom 14.12.1989, ABL, 16.6, ohne Bl. Nr. Darin teilt Schwanitz den Leitern der BÄfNS den Ministerratsbeschluss über die Errichtung eines Verfassungsschutzes und eines Nachrichtendienstes mit. Des Weiteren heißt es dort: »Die mit der Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit zusammenhängenden Maßnahmen sind bis zum 20.06.1990 abzuschließen«. Informationszentrum des Ministerrates der DDR: Einschätzung der Lage in den Bezirken am 15.12.1989 vom 16.12.1989, ABL, 16.6, Bl. 63-67.
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[…] einstellen zu können. […] Es sind weitere zentrale Veröffentlichungen zum Amt für Verfassungsschutz notwendig, da vielfach die Meinung besteht, dass die Arbeit des MfS unter neuem Namen fortgesetzt wird.«69
Während das MfS/AfNS sich mit den vorangehenden Beschlüssen und Institutionalisierungen »in Sicherheit« wog, stieg Ende Dezember 1989 die Skepsis einzelner merklich. Zunehmend realisierten einzelne BKL-Mitglieder, dass das Ende des ehemaligen MfS/AfNS und der angekündigte sicherheitspolitische Neuanfang unter »demokratischer Kontrolle« ausblieben sowie bisherige dahingehende Vereinbarungen sich in der Praxis als obsolet erwiesen: »Trotzdem das Amt für Nationale Sicherheit offiziell aufgelöst wurde, beobachten wir, dass sich zahlreiche ehemalige Mitarbeiter weiterhin im Haus des Bezirksamtes bewegen. Nicht einmal die inzwischen eingelagerten Aktenbestände können zuverlässig gesichert werden. Die in den letzten Tagen festgestellten Siegelbrüche sind Indiz dafür. […] die Nachrichtenzentrale des aufgelösten Bezirksamtes für Nationale Sicherheit arbeitet weiter und kann von uns nicht kontrolliert werden. […] Wir befürchten, dass die ungesetzliche und für die Gesellschaft destruktive Tätigkeit des ehemaligen MfS in modifizierter Form weitergeführt wird. Deshalb fordern wir sofortige effektive Maßnahmen zur Unterbindung der Arbeit des ehemaligen MfS.«70
Die kooperative Zusammenarbeit zwischen Bürgerkomitee, Regierungsvertretern sowie Mitarbeitern des MfS/AfNS innerhalb der »Sicherheitspartnerschaft« wurde in Frage gestellt. Hatte sich das BKL im Vertrauen darauf, dass es der DDRRegierung ernst war mit der Staatsreform, bisher weitgehend moderat bzw. teilweise sogar angepasst verhalten, wurde nun erstmals jegliche Weiterarbeit des MfS/AfNS, d.h. auch die Fortführung der Auflösung des MfS/AfNS in der BVSt Leipzig verhindert. Das mit Ministerratsbeschluss vom 14. Dezember 1989 ins Leben gerufene Amt für Verfassungsschutz registrierte demzufolge: »Besonders prekär sei die entstandene Lage im ehemaligen BA [Bezirksamt] Leipzig. Das Bürgerkomitee stelle sich kategorisch gegen alle Beschlüsse der Regierung der DDR. Seitens des Mitarbeiters des Regierungsbeauftragten werde z. Z. kein Handlungsspielraum mehr gesehen, um in absehbarer Zeit zu einem tragfähigen Konsens mit dem Bürgerkomitee hinsichtlich der weiteren Auflösung/Räumung dieses ehemaligen Bezirksamtes zu kommen. Dieses ehemalige Bezirksamt sei praktisch total blockiert. Jegliche Maßnahmen zur Vernichtung von operativem Schriftgut würden abgelehnt […].«71
69 Informationszentrum des Ministerrates: Einschätzung der Lage in den Bezirken am 27.12.1989 vom 28.12.1989, ABL, 16.6, Bl. 202. 70 Bürgerkomitee Leipzig: »Erklärung einzelner Mitglieder des Bürgerkomitees Leipzig vom 17.12.1989, in: Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 257-258. 71 Verfassungsschutz der DDR: Ergebnisse eines Erfahrungsaustausches vom 29.12.1989 mit vom Verfassungsschutz der DDR entsandten Mitarbeitern der in den Bezirken tätigen Regierungsbeauftragten der DDR vom 30.12.1989, ABL, 16.6, Bl. 322.
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Dass die widerständigen Mitglieder des BKL mit ihrer Blockade Erfolg hatten, geht hervor aus der Bemerkung: »[…] Die Vernichtung des operativen Schriftgutes ›Quellenschutz‹ müsse unverzüglich begonnen werden. Die damit verbundenen Probleme/Fragen überdecken alle Handlungen und Maßnahmen zur Bildung des Verfassungsschutzes bzw. verhindern, hier voranzukommen.«72 D.h., die Auflösung verlief vor Ort offenbar nicht mehr reibungslos und angesichts des wachsenden Widerstandes, musste vordringlich solches Aktenmaterial verschwinden, welches die neue Sicherheitspolitik in Verruf gebracht hätte. Des Weiteren wurde empfohlen, die Auflösung des AfNS personell und räumlich zu trennen vom Wideraufbau des Verfassungsschutzes/Nachrichtendienstes.73 Auf diese Weise versuchte das MfS/ AfNS in Leipzig wieder der Lage Herr zu werden. Bei einer für den 04. Januar 1990 um 14 Uhr anberaumten Sondersitzung zwischen BKL und der Bezirksleitung des AfNS Leipzig spitzte sich der Konflikt zu. Die widerständigen BKL-Mitglieder forderten dort, für ehemalige Mitarbeiter solle die Schweigepflicht aufgehoben und auch ein Verfassungsschutz sei unter »demokratische Kontrolle« zu bringen. Des Weiteren verlangten sie, die Zahlungen von Überbrückungsgeld an ehemalige MfS-Mitarbeiter seien einzustellen und die SED müsse für ihre Verquickung mit dem MfS zur Rechenschaft gezogen sowie hierfür die Archive und Akten geöffnet werden.74 Das BKL hatte beschlossen, sich nicht länger für eine Neugründung von DDR-Sicherheitsorganen instrumentalisieren zu lassen und erwartete von der Regierung die volle Übernahme ihrer politischen Verantwortung. Nach 14-stündiger Beratung trat das BKL vor die Presse mit dem Ergebnis: »Die Weisung der Regierung vom 14. Dezember 1989 zur Bildung eines Verfassungsschutzes [ist] auszusetzen, bis die demokratische Kontrolle eines solchen Organs möglich ist.«75 Damit folgte das BKL der AG Sicherheit des Zentralen Runden Tisches (ZRT) Berlin, die bereits am 27. Dezember 1989 diesen Beschluss gefasst hatte. Abweichend von der AG Sicherheit jedoch erklärten die Mitglieder des BKL: »Die Weiterarbeit der nach außen gerichteten Aufklärungstätigkeit des ehemaligen Amtes für Nationale Sicherheit haben wir zur Kenntnis genommen«, und regten hierfür – trotz der gemachten Erfahrungen – ebenfalls die Anwendung des bisherigen Procedere an, nämlich ebenfalls die Einführung einer »demokratische Kontrolle«.76 Eine ersatzlose Auflösung des MfS/AfNS bzw. ein endgültiges Ende von Verfassungsschutz, Nachrichtendienst und Auslandsaufklärung wurden mit dieser Erklärung bei genauer Betrachtung vom BKL zu diesem Zeitpunkt also weder gefordert noch durchgesetzt.77 Unter der Bedingung »Bürgerkontrolle« wurde der Fortbestand prinzipiell akzeptiert. Nur hinsichtlich des Umgangs mit den
72 Ebd. 73 Ebd., S. 323. 74 Presseerklärung des Beauftragten der Bürgerkomitees der Bezirke vom 04./05.01.1990, in: Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 271. 75 Ebd. 76 Ebd. 77 Erst zehn Tage später »knickte« die Modrow-Regierung ein und gab der Forderung des Zentralen Runden Tisches Berlin nach ersatzloser Auflösung des MfS/AfNS nach.
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ehemaligen MfS-Mitarbeitern und bezüglich der Zusammenarbeit von DDRStaatssicherheit und Partei, setzte das BKL radikalere Vorstellungen uneingeschränkt durch. So hieß es in der Presseerklärung: »Für die verfassungswidrigen Tätigkeiten des Ministeriums für Staatssicherheit trägt die SED die Verantwortung. […] Damit ergibt sich die Notwendigkeit, gegen die SED-PDS wegen des Verdachts verfassungswidriger Aktivitäten zu ermitteln.«78 An den Ministerpräsidenten Modrow gingen diese Forderungen unmittelbar nach der vom BKL anberaumten Pressekonferenz.79 Zudem wurde Modrow telefonisch über das geplante weitere Vorgehen in Leipzig in Kenntnis gesetzt. Der Lagebericht drückt unmissverständlich aus, wie wenig das MfS/AfNS tatsächlich beabsichtigte, Zugeständnisse zu machen und welche marginale Rolle das BKL beim Auflösungsprozess bis dahin immer noch spielte: »Unter der Kategorie 1 wurden alle Unterlagen zu den operativen Quellen sowie der operativen Bearbeitung, die Rückschlüsse auf Quellen ermöglichen, erfasst. Eine Einsicht in diese Materialien durch das Bürgerkomitee konnte bisher verhindert werden.«80 Und auch in einer Presseerklärung an die Regierung und an den ZRT in Berlin rückte das MfS/AfNS keinen Deut von seiner Ursprungsstrategie ab: »Mit dem Beschluss [handschriftlich ergänzt: vom 14.12.1989] über die Auflösung des ehemaligen MfS/Amtes für Nationale Sicherheit entsprach die Regierung den Forderungen breiter Bevölkerungsschichten, die Durchsetzung einer neuen Sicherheitspolitik zu beschleunigen. Die Regierung verurteilt zugleich Amtsmissbrauch, falsche Befehle und Methoden, für die der ehemalige Minister für Staatssicherheit die politische Verantwortung trägt. Auf diese Gebiete und die neuen Aufgaben beim [handschriftlich korrigiert: Zum] Schutz der Bevölkerung der DDR vor Gefahren, die aus Terrorismus, Rauschgiftkriminalität, Rechtsextremismus und ökologischen Verbrechen hervorgehen, muss sich die Arbeit der neuen Dienste [handschriftlich ergänzt: die Sicherheit …] konzentrieren [Durchst. i.O.].«81
Das MfS/AfNS dachte also keinesfalls daran, die öffentlich geforderte »demokratische Kontrolle« umzusetzen bzw. gar auszubauen. Und auch die politische Verantwortung wurde allein dem Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, zugeschoben. Schließlich wurde das Fortbestehen eines Verfassungsschutzes damit gerechtfertigt, dass kein Staat ohne Sicherheitsdienste existieren könne, gäbe es auch jenseits »falscher Befehle und Methoden« gesellschaftliche Bedrohungen, vor denen sich eine Gesellschaft schützen müsse. D.h., es wurde nicht im Entferntesten an ein wirkliches Aussetzen bzw. sogar Abschaffen des Verfassungsschutzes, geschweige denn an eine »Bürgerkontrolle« gedacht.
78 Ebd., S. 270; siehe auch ABL, 16.6, Bl. 380. 79 Lagezentrum des Verfassungsschutzes der DDR an den Ministerpräsidenten der DDR, Genosse Modrow persönlich vom 05.01.1990, ABL, 16.6, Bl. 319. 80 Bezirksstelle Leipzig: telefonische Meldung Gen. Eppisch vom 05.01.1990, ABL, 16.6, Bl. 386. 81 Verfassungsschutz der DDR: Information an Regierung der DDR und den RT vom 05.01.1990, ABL, 16.6, Bl. 134.
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Einzelne BKL-Mitglieder warteten diese Reaktionen erst gar nicht ab und schufen unmittelbar im Anschluss an die Verhandlungen die Voraussetzungen für eine nunmehr MfS-freie historische Aufarbeitung der MfS-Geschichte in Leipzig. So versiegelten Mitglieder des Bürgerkomitees noch am 05. Januar 1990 die Aktenschränke der bezirklichen SED-PDS und wurde die Arbeit der Aktensichtungskommission der BVSt Leipzig vorerst eingestellt: »Die Vertreter der Bürgerkomitees aus Leipzig und den Kreisen halten vor diesem Hintergrund die in der Aktensichtungskommission entstandene Dominanz von SED-Mitgliedern für einen unvertretbaren Zustand und haben ohne Gegenstimme beschlossen, die Tätigkeit der Aktensichtungskommission in ihrer jetzigen Zusammenstellung auszusetzen.«82
Damit wurde auf »personelle Probleme« reagiert, die das Bürgerkomitee in der »Runden Ecke« offenbar bis dahin hatte, und gewannen regierungs- und MfSkritischen Mitglieder des BKL erstmals Oberwasser bei der Auflösung des MfS/ AfNS in Leipzig.83 In Vorbereitung für den ZRT am 15. Januar 1990 gaben die Bürgerkomitees der Bezirke ihre Stellungnahme ab, in der sie zusätzlich zur Auflösung der Kreis- und Bezirksämter auch die Auflösung der Zentrale des MfS/AfNS in der Normannenstraße und aller mit ihr zusammenhängenden Strukturen forderten. Wie auch für die Auflösung der BVSt Leipzig und andere ehemalige Bezirksverwaltungen, wurde zu diesem Zweck die Einrichtung eines »Arbeitsstabes« empfohlen, der sich – den bezirklichen Erfahrungen entsprechend – ebenfalls aus Bürgerinitiativen, Staatsanwaltschaft, Regierungsbeauftragten, VP und dem Beauftragten des AfNS zusammensetzen sollte. Des Weiteren wurde der Beginn der Auflösung der Berliner Zentrale des MfS/AfNS bis zum 17. Januar 1990 zur Bedingung der weiteren Arbeiten in den Bezirken erhoben.84 Im Protokoll zur diesbezüglichen Sitzung in Berlin Friedrichsfelde wurde die Zielstellung definiert: »Das Anliegen der Bürgerkomitees der Bezirke ist, per 15. Januar 1990 die in den Bezirken bewährte Methode zur Auflösung des MfS Normannenstraße mit einzubringen und damit die Sicherstellung des Zentralen Amtes zu beginnen […] unabhängig [von] der vom Neuen Forum für 17 Uhr aufgerufenen Demonstration vorm Objekt Normannenstraße.«85
82 Bürgerkomitee Leipzig: Beschluss des Bürgerkomitees Leipzig zur Aktensichtungskommission vom 09.01.1990, in: Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 278; vgl. Bericht des Bezirksvorstandes der SED-PDS vom 08.01.1990, in: Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 274. 83 Handschriftliches Protokoll zur Beratung des Bürgerkomitees der Stadt Leipzig vom 08.01.1990, ABL, 4.24, Nr. 4.24.104, Bl. 1 und Nr. 4.24.105, Bl. 1. 84 Stellungnahme des Bürgerkomitees der Bezirke zur Auflösung des AfNS vor dem Zentralen Runden Tisch in Berlin vom 14.01.1990, in: Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 279/280. 85 Protokoll des Koordinierungstreffens am 14.01.1990 in Berlin, z.n. Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 173.
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Inwiefern hiermit ebenfalls eher eine »geordnete Übergabe« als »eine Erstürmung der Zentrale des MfS/AfNS« sowie Vorabsprachen mit der Regierungsebene gemeint waren, kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Tatsache ist, dass der umfangreiche »Bericht der Regierung zur Inneren Sicherheit« für die Beratung am ZRT am 15. Januar diese Empfehlungen und Forderungen der Bürgerkomitees der Bezirke bereits berücksichtigte bzw. sogar über deren Zielstellung hinausging. So war die ersatzlose Auflösung des AfNS inklusive der Zentrale bereits beschlossene Sache und war es stattdessen nun vorgesehen, dass staatswichtige Aufgaben (z.B. der Untersuchungshaftvollzug, die Gewährleistung der Regierungsnachrichtenverbindung, Antiterrorkräfte usw.) zukünftig dem Ministerium des Innern angegliedert werden sollten: »Da die Entscheidung zur Bildung des Verfassungsschutzes aufgehoben ist, erhält das Ministerium für innere Angelegenheiten weitere Aufgaben zur: Spionageabwehr, Bekämpfung rechts- und linksextremistischer sowie antisemitischer und anderer rassistischer Aktivitäten, Abwehr des Terrorismus und der Sabotage gegen Einrichtungen aller Eigentumsformen.«86
Auch die mit dem Ministerratsbeschluss vom 14. Dezember 1989 getroffene soziale Sicherstellung von Angehörigen des AfNS war vom Ministerrat schon aufgehoben worden.87 Selbst zur Weiternutzung der Berliner MfS-Gebäude wurde festgelegt: »Intensiv wird an Entscheidungsvorschlägen für die künftige Nutzung solcher Komplexe gearbeitet, wie –Normannenstraße/Magdalenenstraße, – Bezirksverwaltung Berlin, […]. Der Gebäudekomplex Normannenstraße stellt ein geschlossenes System […] dar. Mit einer Nutzung als Verwaltung könnten in erheblichem Umfang bisher zweckentfremdet genutzter Wohn- und Gewerberaum […] freigezogen werden. […] Außerdem ist angewiesen, alle Nutzungsverträge für Objekte eines Verfassungsschutzes zu kündigen.«88
Auf diese spezielle Situation in der Berliner Normannenstraße kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Insgesamt kann aber festgehalten werden, dass sich der Fokus des Bürgerkomitees nach dem Beginn der Auflösung der Zentrale des MfS/AfNS in der Berliner Normannenstraße ab dem 15. Januar verlagerte und die historische Dokumentation der Geschichte des MfS plötzlich sukzessives Gewicht bekam. So richtete das BKL zusammen mit dem Beauftragten der Regierung der DDR Bezirk Leipzig nur zwei Tage nach den Berliner Ereignissen an den RTBL den Antrag: »Durch den Runden Tisch wird das Bürgerkomitee – Ausschuss zur Auflösung des ehemaligen MfS/AfNS – beauftragt, gemeinsam mit dem Bezirksstaatsanwalt oder Militärstaatsan-
86 Bericht der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik vom 15.01.1990, S. 8, SächsStAL, Bezirkstag und Rat des Bezirkes Leipzig, Nr. 31256 [BBLpz., Nr. 31256], Bl. 82. 87 Ebd., Bl. 84. 88 Ebd., Bl. 86.
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walt im engen Zusammenwirken mit der Deutschen Volkspolizei Befragungen und Untersuchungen zur Aufklärung der Struktur, Arbeitsweise, Ziele, einschließlich der Auftragslage des ehemaligen MfS/AfNS durchzuführen.«89
Zum »glaubhaften öffentlichen Nachweis« der bisherigen Auflösungsarbeit sollten die bisherigen Auflöser zudem vor dem RTBL Bericht erstatten.90 Auf diesbezüglich weiter nötige berufliche Freistellungen von 15 BKL-Mitgliedern hatten sich der Sprecher des BKL Scheibler und der Regierungsbeauftragte Rosentreter bereits vorab geeinigt.91 Der Antrag wurde am 18. Januar 1990 mit sieben Stimmen dafür, drei Gegenstimmen und fünf Enthaltungen angenommen, eine Sonderberatung wurde für den 24. Januar 1990 angesetzt.92 In Bezug auf das Gebäude »Runde Ecke« Leipzig hatte es – wie bereits erwähnt – schon am 03. Dezember die Festlegung gegeben, das Haus mittelfristig komplett zu räumen.93 Nur einen Monat später, am 04. Januar legte der RTSL fest: »Es wird vom DA [von Kleinert] der Vorschlag unterbreitet, das Gebäude des ehemaligen MfS/AfNS (Runde Ecke) als Verwaltungshaus durch den Rat der Stadt zu nutzen. Damit könnte das Neue Rathaus öffentlicher Nutzung zugeführt werden und auch in museale Aufgaben integriert werden. […] Im Amt für Nationale Sicherheit hat noch keine Besichtigung der dort vorhandenen Räume stattgefunden.«94
Die Teilnehmer des RTSL empfahlen eine Ausschreibung der MfS/AfNSGebäude.95 Der Rat der Stadt Leipzig befasste sich daraufhin mit der Nachnutzung der »Runden Ecke« am Dittrichring 22-24 bereits am 11. Januar 1990 erstmals offiziell, da über die Zukunft des Nochnutzers offenbar politisch schon entschieden war.96 Während das BKL nach dem 15. Januar und inzwischen erfolgreich versuchten, die historische Aufarbeitung des MfS/AfNS in Leipzig durch den Auflösungsausschuss des BKL zu sichern, brachte der Sprecher Ernst M.
89 Antrag des Bürgerkomitees Leipzig, unterstützt durch den Regierungsbeauftragten und den Sonderbeauftragten des Chefs der BDVP an den Runden Tisch des Bezirkes Leipzig vom 17.01.1990, SächsStAL, SED-Bezirksleitung, Nr. 1815. 90 Ebd.; siehe auch Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 281. 91 Vereinbarung vom 17.01.1990, SächsStAL, Bezirkstag und Rat des Bezirkes Leipzig, Nr. 31255 [BBLpz., Nr. 31255], Bl. 43. 92 Protokoll über die Beratung am Runden Tisches – Bezirk Leipzig am 18.01.1990 vom 22.01.1990, SächStAL, BBLpz., Nr. 31255, Bl. 3. 93 Protokoll der Dienstbesprechung des Leiters der BVSt Leipzig vom 04.12.1989, in: Bürgerkomitee Leipzig (Hg.): Stasi intern (1998), S. 51, siehe S. 11. 94 Festlegungsprotokoll, Informelles Gespräch Runder Tisch der Stadt Leipzig vom 03.01.1990, StArL, RTSL, Nr. 1-13, Film, Nr. 5. 95 Ebd. 96 Rat der Stadt Leipzig: Information über Objekte des ehemaligen Amtes für Nationale Sicherheit in der Stadt Leipzig, die für eine Nachnutzung zur Verfügung stehen vom 11.01.1990, SächsStAL, SED-Bezirksleitung, Nr. 1815, Bl. 113-115.
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beim RTSL die Idee ein, die »Runde Ecke« zukünftig für internationale Interessen der Stadt Leipzig zu nutzen. Man einigte sich darauf, zur Frage der Nachnutzung der »Runden Ecke« eine Arbeitsgruppe zu bilden, die damit beauftragt wurde, entsprechende Kriterien zur Weiternutzung zu entwickeln. 97 Am 26. Januar 1990, zwei Tage nachdem das BKL zusammen mit dem Leiter der BVSt in Auflösung und den Vertretern der Regierung zusammen mit dem RTBL ihren Sonderberichtstermin wahrnahmen, trat die SVV aufgrund der Wahlfälschung 1989 pro forma geschlossen zurück.98 Daraufhin übernahm der RTSL die legislativen Verpflichtungen der SVV.99 Neben dem RTSL und dem Bürgerkomitee der Stadt Leipzig sprachen sich auch Vertreter des Auflösungskomitees des BKL entschieden gegen diesen geschlossenen Rücktritt aus: »Am 26.01.1990 hat sich die Stadtverordnetenversammlung aufgelöst. Form und Inhalt dieser Entscheidung sprechen wir unsere deutliche Missbilligung aus.«100 Ehemaligen Abgeordneten wurde deshalb auf Antrag des BKL die Möglichkeit eingeräumt, bis zu den Neuwahlen provisorisch geschäftsführend im Amt zu bleiben und sich sodann in zu bildende Kommissionen des RTSL personell und fachlich einzubringen.101 Dieses Angebot nahmen die ehemaligen Mandatsträger an.102 Und auch der Rat der Stadt Leipzig, den der Vorwurf des Wahlbetruges ebenso traf, erklärte, dass er »[…] unter der geschäftsführenden Leitung des amtierenden Oberbürgermeisters, Günter Hädrich, bereit [ist], im Interesse der tagtäglichen Erhaltung der Lebensfunktionen der Stadt bis zu den Kommunalwahlen ebenfalls geschäftsführend [seiner] Verant-
97
Festlegungsprotokoll zur Beratung des Runden Tisches der Stadt Leipzig am 17.01.1990 vom 25.01.1990, StArL, RTSL, Nr. 1-13, Film Nr. 6. 98 Protokoll der außerordentlichen Beratung des Runden Tisches der Stadt Leipzig am 23.01.1990 vom 29.01.1990, ABL, 4.2, Nr. 4.2.19, Bl. 69ff; Erklärung des RTSL am 23.01.1990 vom 24.01.1990, StArL, StVuR (2), Nr. 2212, Bl. 62. 99 Satzung und Geschäftsordnung des Runden Tisches der Stadt Leipzig vom 14.02.1990, in: Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 295-298. Darin war auch geregelt, dass das BKL mit einem Sprecher mit Stimmrecht, Antragsrecht und Vorschlagsrecht am RTSL teilnimmt. 100 Antrag des Bürgerkomitees an den Runden Tisch der Stadt Leipzig zur Weiterarbeit der legislativen und exekutiven Organe der Stadt nach Auflösung der Stadtverordnetenversammlung vom 29.01.1990, ABL, 4.24, Nr. 4.24.116, Bl.1. 101 Vorschlag des Bürgerkomitees und von Vertretern der neuen demokratischen Kräfte am Runden Tisch der Stadt Leipzig zur Gewährleistung der Regierbarkeit der Stadt nach Auflösung der Stadtverordnetenversammlung vom 26.01.1990, ABL, 4.2 , Nr. 4.2.17, Bl. 67; Antrag des Bürgerkomitees an den Runden Tisch der Stadt Leipzig zur Weiterarbeit der legislativen und exekutiven Organe der Stadt nach Auflösung der Stadtverordnetenversammlung vom 29.01.1990, ABL, 4.24, Nr. 4.24.116, Bl. 1. 102 Satzung und Geschäftsordnung des Runden Tisches der Stadt Leipzig vom 24. Januar 1990, ABL, 4.2, Nr. 4.2.11, Bl. 37ff. Die Kommissionen deckten u.a.a. die Bereiche Ordnung und Sicherheit, Verwaltungsreform und die Nachnutzung von MfS/AfNSObjekten ab.
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wortung nachzukommen«.103 Auf diese Weise gelangten Mitglieder der ehemaligen Stadtplankommission des Rates der Stadt Leipzig und der SVV in die vom RTSL neu gebildete Kommission zur Nachnutzung der MfS/AfNS-Objekte. Das BKL lehnte gleichzeitig die Übernahme der alleinigen Verantwortung für die Nachnutzungsfragen ab.104 Über diesen Umweg gerieten Vorschläge zu den Rahmenbedingungen der Nachnutzung von MfS-Objekten der ehemaligen Stadtplankommission des Stadtrates in die Beratungen des RTSL. Diese sahen jetzt vor, dass die Gebäude zukünftig schwerpunktmäßig für die Gebiete Gesundheit und Soziales, Kommunalpolitik und Öffentlichkeit sowie für sonstige kommunale Zwecke (z.B. von der VP) genutzt werden sollten.105 Dies sollte auch für die »Runde Ecke« gelten, die genauso wie der Neubau in der Fleischergasse, weiterhin sofort und vollständig geräumt werden sollte.106 Die ad hoc-Räumung und zügige Umnutzung des Gebäudes »Runde Ecke« hätte auf die Aktensicherung und -kontrolle zu diesem Zeitpunkt erhebliche negative Auswirkungen gehabt, wären doch alle bis dahin eingelagerten Unterlagen an einen anderen Ort gebracht worden. Dies barg das naheliegende Risiko, auf dem Weg dorthin versehentlich oder auch absichtlich verloren zu gehen. Zudem hätte ein solcher Umzug den Auflösungs- und Aufarbeitungsprozess, der gerade erst begonnen hatte, in jedem Fall gestört. An den diesbezüglichen Beratungen hatten daher auch Mitglieder des Auflösungskomitees des BKL teilgenommen.107 Ungeachtet ihrer berechtigten Einwände, empfahl die Stadtplanungs-kommission für die RTSL-Sitzung am 14. Februar 1990, die »Runde Ecke« zukünftig entweder als Sitz der Sozialversicherung der Stadt Leipzig, oder als Haus der Verwaltungsdienste (Einwohnermeldeamt/Dokumentenstelle) oder als Büro- und Verwaltungsräume für ausländische Vertretungen zu nutzen.108 Er
103 Erklärung des Rates der Stadt Leipzig vom 26.01.1990, ABL, 4.2, Nr. 4.2.18, Bl. 68; Schreiben des Oberbürgermeisters der Stadt Leipzig Hädrich an die Mitglieder des Rates der Stadt Leipzig vom 05.02.1990, ABL, 4.26 Rat der Stadt Leipzig 1989-1990 [4.26], Nr. 4.26.23, Bl. 1; Protokoll über die 3. Sitzung des Rates der Stadt Leipzig am 07.02.1990, StArL, StVuR (2), Nr. 2197, Bl. 32ff 104 Protokoll der Beratung des Runden Tisches der Stadt Leipzig am 31.01.1990 vom 02.02.1990, StArL, RTSL, Nr. 1-13, Film Nr. 8. 105 Rat der Stadt Leipzig Stadtplankommission: Vorschlag Rahmenbedingungen für eine Nachnutzung der ehemaligen MfS-Objekte vom 25.01.1990/31.01.1990, StArL, RTSL, Nr. 49, Bl. 3-5. 106 Lindenberg, Andreas: »Der MfS-Neubau in Leipzig ist nunmehr fast ›leergefegt‹«, in: Leipziger Volkszeitung vom 15.01.1990. 107 Rat der Stadt Leipzig Stadtplankommission: Vorschlag Rahmenbedingungen für eine Nachnutzung der ehemaligen MfS-Objekte vom 25.01.1990/31.01.1990, StArL, RTSL, Nr. 49, Bl. 5. 108 Rat der Stadt Leipzig Stadtplankommission: Vorschlag für den Runden Tisch am 14.02.1990, ABL, 4.2 Runder Tisch Leipzig [4.2], Nr. 4.2.35, Bl. 180-184.
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wurde mit einer Tendenzabstimmung mit 19 zu 1 Stimmen vom RTSL Mitte Februar angenommen.109 Drei Wochen vorher – und nur einen Tag nachdem die SVV Leipzig zurückgetreten war – fand im Hauptgebäude des ehemaligen MfS/AfNS am 24. Januar 1990 die Sonderberatung des RTBL statt zusammen mit dem ehemaligen Leiter der BVSt Eppisch, dem Regierungsvertreter Rosentreter und Mitgliedern des BKL unter Anwesenheit der Presse. Eppisch berichtete über die Tätigkeiten des MfS, den Stand seiner Auflösung und sprach sich für die Sicherung des Quellen- und Personenschutzes, für die Herbeiführung schneller Lösungen für die Nachnutzung der Objekte sowie für die Unterstützung bei der Vermittlung von Arbeitsplätzen an ehemalige MfS-Mitarbeiter aus.110 Rosentreter nutzte die Gelegenheit, sich für die Arbeit des BKL zu bedanken, sagte weitere materielle Unterstützung der BKL-Mitglieder zu und appellierte an ein Fortbestehen der »Sicherheitspartnerschaft«.111 Dass die gute Zusammenarbeit Bestand haben sollte, betonte auch das BKL in seinen eigenen Ausführungen: »Grundsätzlich sehen wir unsere Aufgabe in der Deeskalierung und Vermittlung zwischen der aufgebrachten Bevölkerung und den nicht mehr vertrauenswürdigen Staats- und Sicherheitsorganen. […] Jetzige Zielsetzung ist, dass endlich die Regierung durch Anweisungen und Befehle die Initiative bei der Auflösung übernimmt.«112
Ob die politischen Verantwortlichen damit quasi aufgefordert wurden, dem BKL wieder das Heft aus der Hand zu nehmen, oder ob der Appell eher die politische Ebene dazu aufrief, Beschlüsse zur weiteren Absicherung der BKL-Arbeit zu fassen, ist offen. Letzterer scheint hiermit wohl aber eher gemeint gewesen zu sein. Als Ergebnis der Sonderberatung wurde gleich ein ganzer Katalog an Maßnahmen beschlossen. Der Vorschlag des BKL, einen Vertreter der Regierung und einen BKL-Vertreter zu beauftragen, zusammen mit den Berliner Vorgesetzten alle MfSObjekte für den Bezirk Leipzig aufzuspüren und die weitere Nutzung zu klären, wurde einstimmig angenommen. Auch sollte ein Ausschuss aus Mitgliedern des RTBL, des BKL und der Kirche gebildet werden, der die Wiedereingliederung von
109 Festlegungsprotokoll der Beratung des Runden Tisches Leipzig am 14.02.1990 vom 15.02.1990, ABL, 4.2, Nr. 4.2.35, Bl. 190. 110 Oberst Reinhard Eppisch: Hauptaufgaben der ehemaligen Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Leipzig (ehemal. Bezirksamt für Nationale Sicherheit) und den ehemaligen Kreisdienststellen (ehem. Kreisämter), zu deren Durchsetzung notwendige Strukturen sowie zum Stand der Auflösung vom 24.01.1990, SächsStAL, SED-Bezirksleitung, Nr. 1815, Bl. 130-144. 111 Protokoll über die Sonderberatung des Runden Tisches – Bezirk Leipzig am 24.01.1990 vom 25.01.1990, SächsStAL, SED-Bezirksleitung, Nr. 1815, Bl. 151-159. 112 Wortprotokoll der Sondersitzung des Runden Tisches des Bezirkes Leipzig [Auszug] am 24.01.1990, z.n. Hollitzer, Tobias: »Der Rollen- und Funktionswandel«, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 7, 1999), S. 566, 567.
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ehemaligen MfS-Mitarbeitern koordinieren sollte.113 Des Weiteren sollten Mitglieder des RTBL in das BKL entsendet werden, um »personelle Voraussetzungen für die Kontrolle der Akten zu schaffen«, also um das BKL bei seiner Arbeit vor Ort zu beaufsichtigen.114 Nur einen Tag später erhielt das BKL – legitimiert durch den Militärstaatsanwalt – den Auftrag, die Akten der Bezirks- und Kreiseinsatzleitungen zu sichern und diese zu diesem Zweck in die BVSt umzulagern.115 Zur weiteren historischen Aufarbeitung des MfS sowie als Bedingung für die Wiedereingliederung der ehemaligen MfS-Mitarbeiter in die Arbeitswelt, wurde Anfang Februar dem Antrag des BKL stattgegeben, alle Kader des MfS von ihrer Schweige- und Geheimhaltungspflicht über ihre MfS-Tätigkeit zu entbinden.116 In der neuen Fassung der Geschäftsordnung des BKL wurde im Hinblick auf die historische Aufarbeitung des MfS/AfNS nun explizit festgelegt: »Das Bürgerkomitee übernimmt in Abstimmung mit einem Beauftragten der Regierung Befugnisse für Kontrollen, Befragungen und Einsichten in Dokumente und Unterlagen. Es ist am Runden Tisch des Bezirkes oder evtl. des Landes Sachsen mit Antrags- und Beratungsrecht beteiligt.«117 Dies bedeutete, dass das BKL nun den Schwerpunkt legte auf die Erforschung des MfS/AfNS und auf die Wahrnehmung politische Aufgaben. So sorgte das BKL schon kurz darauf dafür, dass einige ihrer Mitglieder als Stadträte ohne Geschäftsbereich in den Rat der Stadt Leipzig berufen wurden.118 Ein diesbezüglicher Antrag wurde am 20. Februar vom BKL eingebracht und einen Tag später beschlossen.119 Dies hatte zur Folge, dass das BKL der »Runden Ecke« (über seinen Sprecher Christian Scheibler) und das Bürgerkomitee der Stadt Leipzig
113 Protokoll über die Sonderberatung des Runden Tisches – Bezirk Leipzig am 24.01.1990 vom 25.01.1990, SächsStAL, SED-Bezirksleitung, Nr. 1815, Bl. 155. Der Koordinierungsausschuss wurde am 01.02.1990 per RTBL-Beschluss ins Leben gerufen, das Bürgerkomitee zur Auflösung des MfS/AfNS (»Runde Ecke«) war darin mit einer Person vertreten, vgl. SächsStAL, BBLpz., Nr. 31256, Bl. 22. Ein erstes Treffen für diesen Koordinierungsausschuss wurde für den 12.02.1990 in der »Runden Ecke« festgelegt, vgl. Bürgerkomitee der Stadt Leipzig: Protokoll zur Arbeitsberatung vom 12.02.1990, ABL, 4.24, Nr. 4.24.122, Bl.1. 114 Protokoll über die Sonderberatung des Runden Tisches – Bezirk Leipzig am 24.01.1990 vom 25.01.1990, SächsStAL, SED-Bezirksleitung, Nr. 1815, Bl. 156. In gewisser Weise wurde der Zugriff der Legislative auf die Auflösung damit wieder erneut erhöht. 115 Auftrag zur Sicherung der Akten der Bezirks- und Kreiseinsatzleitungen vom 25.01.1990, in: Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 289, 290. 116 Protokoll über die Beratung des Runden Tisches – Bezirk Leipzig am 01.02.1990 vom 02.02.1990, SächsStAL, BBLpz., Nr. 31256, Bl. 3-4. 117 Geschäftsordnung des Bürgerkomitees Leipzig, o.D., SächsStAL, BBLpz., Nr. 31256, Bl. 39ff. 118 Bürgerkomitee der Stadt Leipzig: Protokoll zur Arbeitsberatung vom 12.02.1990, ABL, 4.24, Nr. 4.24.122, Bl. 3; Erklärung zur Aufrechterhaltung der kommunalen Verwaltung der Stadt Leipzig vom 14.02.1990, ABL, 4.2, Nr. 4.2.35, Bl. 194. 119 Antrag zur Besetzung der Stadträte an den Runden Tisch der Stadt Leipzig vom 20.02.1990, ABL, 4.2, Nr. 4.2.39, Bl. 247.
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(über Frank Pörner) ab dann direkt im Stadtrat vertreten waren.120 Die Möglichkeit, verstärkt politisch Einfluss auf die Auflösungsarbeiten und die historische Aufarbeitung des MfS/AfNS nehmen zu können, wurde damit erhöht. Dies galt auch für die Nachnutzung der ehemaligen MfS-Objekte. Als der RTBL – entgegen aller bisherigen Gebäude-Planungen des Rates der Stadt Leipzig und des RTSL – vorschlug, die »Runde Ecke« zukünftig als Arbeitsamt zu nutzen, setzte sich das Bürgerkomitee der Stadt erfolgreich dafür ein, die Verwaltung der ehemaligen MfS-Gebäude dem BDVP-Beauftragen der MfSAuflösung im Bezirk Leipzig, Herrn P., zu übertragen.121 Die Entscheidung zur Nachnutzung der »Runden Ecke« bzw. des MfS-Altbaus am Dittrichring ließ sich auf diese Weise immerhin etwas herauszögern. Mitte März zog der Leipziger Stadtrat die Nutzung der »Runden Ecke« als Stadt- und Bezirksbibliothek, als Haus der Verlage und als Standort für Sozialversicherungen sowie ggf. als Haus der Gesundheit in Erwägung. Auch eine Nutzung als Sitz des Volkspolizeikreisamtes wurde nicht ausgeschlossen.122 Am 21. März konnte die sofortige Räumung der »Runde Ecke« nicht länger verhindert werden. Der RTSL beschloss, den Altbau Dittrichring 22-24 für den Sitz eines Sozialversicherungsträgers und einer Leipziger Versicherungsgesellschaft zur Verfügung zu stellen.123 Der Arbeitsstab des Staatlichen Komitees zur Auflösung des MfS/AfNS wurde umgehend mit der Umlagerung der Akten beauftragt.124 Dieser Beschluss entsprach voll und ganz den Zentralisierungsplänen des Ministeriums des Innern der DDR, alle MfS/AfNS-Akten in Berlin zu bündeln. Da es ab dann verstärkt Versuche gab, Unterlagen aus der »Runden Ecke« auf ihrem Weg dorthin bzw. bei ihrer Ankunft zu vernichten, wurde die Aufarbeitung des MfS/AfNS in der »Runden Ecke« erneut erschwert.125 Das BKL reagierte auf diese neue Situation, indem es umgehend seinen politischen Einfluss bei der Besetzung des Staatlichen Komitees zur Auflösung des ehe-
120 Festlegungsprotokoll der Beratung des Runden Tisches der Stadt Leipzig am 21.02.1990 vom 21.02.1990, ABL, 4.2, Nr. 4.2.39, Bl. 248. 121 Protokoll über die Beratung des Runden Tisches – Bezirk Leipzig am 15.02.1990 vom 16.02.1990, ABL, 4.2, Nr. 4.2.36, Bl. 201; Protokoll über die 5. Sitzung des Rates der Stadt Leipzig am 07.03.1990/12.03.1990, StArL, StVuR (2), Nr. 2199, Bl. 54. 122 Maßnahmen zur Umsetzung des MR-Beschlusses Nr. 13/14/90 vom 08.03.1990, StArL, StVuR (2), Nr. 2200, Bl. 16; Rat der Stadt Leipzig: Information über a) Objekte des Amtes für Nationale Sicherheit in der Stadt Leipzig vom 12.03.1990, StArL, RTSL, Nr. 44, Bl. 1. 123 Nachnutzungskonzeption für die ehemaligen MfS-Objekte Dittrichring 24/Große Fleischergasse der Kommission 19 des RTSL vom 21.03.1990, ABL, 4.2, Nr. 4.2.67, Bl. 542; Protokoll der Beratung des RTSL am 21.03.1990 vom 23.03.1990, ABL, 4.2, Nr. 4.2.67, Bl. 563. 124 Ebd., Bl. 542. 125 Schreiben des Komitees zur Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit des Leiters Eichhorn an die Leiterin des Bezirksstabes Leipzig Machlitt vom 18.04.1990, ABL, 16.5 AfNS [16.5], Nr. 16.5.7, Bl. 1. Auf diese Vorgänge sei hier nur verwiesen.
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maligen AfNS geltend machte, das mit dem Ministerratsbeschluss vom 08. Februar 1990 von der DDR-Regierung beauftragt war, die Auflösung des MfS/AfNS von staatlicher Seite her zu leiten bzw. fortzuführen.126 Das BKL sorgte dafür, dass einige seiner Mitglieder vom Rat des Bezirkes in den für Leipzig zuständigen Arbeitsstab des Staatlichen Komitees entsendet wurden.127 Es setzte sogar durch, dass das weitgehend aus ehemaligen MfS-Kadern bestehende Staatliche Komitee in Leipzig unter der Leitung des BKL-Mitgliedes Ingrid Machlitt arbeitete. Belege für eine andere Auslegung dieser Personalentscheidungen, etwa dass Machlitt im Auftrag des MfS/AfNS Mitglied des BKL gewesen sei und daher nur vorgetäuscht habe, die Interessen des BKL im Staatlichen Komitee zu vertreten, konnten nicht gefunden werden.128 Lediglich ließ sich herausfinden, dass Machlitt und die anderen BKL-Mitglieder ehemalige MfS-Mitarbeiter im Arbeitsstab tolerierten: »Diese Personalbesetzung ist mit dem Bürgerkomitee zur Auflösung des ANS [›Runde Ecke‹] abgestimmt. Die drei Mitarbeiter des ehemaligen ANS wurden durch die vom Runden Tisch eingesetzte Kaderkommission geprüft und für den Einsatz bestätigt.«129 Allerdings konnte auch festgestellt werden, dass das BKL im Gegensatz dazu verhinderte, dass ein ehemaliger MfS-Oberst zum Leiter des staatlichen Auflösungskomitees in Leipzig berufen wurde.130 Nichtsdestotrotz blieben die BKL-Mitglieder sowie insbesondere Machlitt den Vorgesetzten des Staatlichen Komitees in Berlin, d.h. Eichhorn gegenüber weisungsgebunden. Die Berufung brachte mit sich, dass einzelne Mitglieder des BKL – zumindest offiziell – der Befehlsstruktur des Staatlichen Komitees unterstanden.131 Es bleibt an dieser Stelle also offen, ob es dem Staatlichen Komitee in Leipzig wirklich gelang, die MfS/AfNS-Auflösung wieder zu »verstaatlichen«. Vieles spricht dafür, dass der Einfluss des Staatlichen Komitees in Leipzig dünn war. So wurde durchgesetzt, dass eine neue Aktensichtungskommission vom RTSL zusammengestellt und autorisiert wurde, Einsicht in Schriftgut und andere Datenträger zu nehmen.132 Diese neue Aktensichtungskommission sollte jetzt ausschließlich aus BKL-Mitgliedern bestehen und nicht mehr wie bisher auch aus ehemaligen
126 Beschlussvorschlag des Rates des Bezirkes vom 22.02.1990, SächsStAL, Bezirkstag und Rat des Bezirkes Leipzig, Nr. 21313 [BBLpz., Nr. 21313], Bl. 99; Komitee zur Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit: Rahmenordnung, o.D., SächsStAL, BDVP Leipzig 24.1, Nr. 2842. 127 Beschluss des Rates des Bezirkes Leipzig Nr. 25/90 vom 22.02.1990, SächsStAL, BBLpz., Nr. 21313, Bl. 107-109. 128 Lt. Hollitzer kamen insgesamt 261 MfS-Offiziere zum Wiedereinsatz. Zudem sei das Ziel gewesen, die Auflösung des MfS wieder vollkommen in die staatliche Gewalt zu bekommen, vgl. Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 198 129 Ebd., S. 108. 130 Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 201. 131 Komitee zur Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit: Rahmenordnung, o.D., SächsStAL, BDVP Leipzig 24.1, Nr. 2842. 132 Vereinbarung zur Einsetzung einer Untersuchungskommission des Bürgerkomitees Leipzig vom 20.02.1990, in: Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 299.
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MfS/AfNS-Mitarbeitern, Regierungsvertretern und Mitarbeiter des Staatsarchivs. Hinzu kam, dass das Aufgabengebiet dieser neuen Aktensichtungskommission erheblich ausgeweitet wurde. Statt einer bloßen Sortierung, Kategorisierung und Sichtung nachrangiger Aktenbestände, lautete der Auftrag nun »[…] Unterlagen bereitzustellen, die es […] ermöglichen, schnellstens eine Aufarbeitung politischrelevanten Materials zu Auswertungs- und Dokumentationszwecken durchzuführen«.133 Dies bedeutete einen uneingeschränkten Aktenzugang zum Zwecke der breiten Aufklärung über das MfS/AfNS. Das Ziel, Schriftgut und andere Materialien kurzfristig auszuwerten und diese in geeigneter Form für die historischpolitische Aufklärung zu veröffentlichen, hatte sich das BKL also schon Ende Februar 1990 gesetzt. Mit der neuen Aktensichtungskommission rückte das BKL diesem Ziel ein Stückchen näher.134 Am 02. März 1990 wurden die BKL-Mitglieder Sélitrenny, Scheibler, Hollitzer, Beleites, Pohler, Hönemann und Deichmann als Mitglieder der neuen Aktensichtungs- bzw. Untersuchungskommission bestätigt.135 Mehr und mehr rückte also der Dokumentations- und Veröffentlichungsgedanke beim BKL in den Vordergrund. Ein entsprechender Antrag wurde am 15. März 1990 an den Regierungsbevollmächtigten gestellt: »Die Herren Regierungsbevollmächtigten mögen beschließen: Die genannten Personen der Untersuchungsgruppe zu autorisieren, die Aufgaben zur weiteren politischen Auswertung der Arbeit des ehemaligen MfS/ANS wahrzunehmen. […] Die Untersuchungsgruppe des BK Leipzig – Ausschuss zur Auflösung des ehemaligen MfS/ANS – führt weitere Befragungen, Untersuchungen und Einsichtnahmen von relevantem Material mit dem Ziel durch, die weitere politische Auflösung des ehemaligen MfS/ANS durchzuführen. […] Die namentlich benannte Untersuchungsgruppe verpflichtet sich zur strikten Einhaltung des Quellenschutzes. Im Rahmen der vorhandenen Sicherheitspartnerschaft des Bürgerkomitees mit dem Militärstaatsanwalt werden die Ergebnisse der Untersuchungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.«136
Unterzeichnet wurde der Antrag von Machlitt, Leiterin des Arbeitsstabes des Staatlichen Komitees, von Militärstaatsanwalt Köcher und von den Vertretern der Untersuchungskommission Pohler, Sélitrenny und Hollitzer.137
133 Ebd., S. 300. 134 Beschluss des Bürgerkomitees zur Sichtung und Auswertung der Akten der Abteilung XX der BVfS Leipzig vom 26.02.1990, in: ebd., S. 301. 135 Vereinbarung zwischen Bürgerkomitee Leipzig, Militärstaatsanwalt und dem Beauftragten der Volkspolizei zur Auflösung des Amtes über die Weiterarbeit der Untersuchungsgruppe des Bürgerkomitees vom 02.03.1990, in: ebd., S. 304. 136 Antrag an die Regierungsbevollmächtigten zur weiteren Verfahrensweise der politischen Auflösung des ehemaligen MfS/AfNS durch die Untersuchungsgruppe des Bürgerkomitee Leipzig – Ausschuss zur Auflösung des ehemaligen MfS/ANS vom 15.03.1990, ArLStU, MDA Bestand Gill. 137 Bereits einen Tag zuvor hatte das Bürgerkomitee für Leipzig erwirkt, dass der Regierungsbeschluss vom 08.02.1990 so auszulegen war, dass die Zusammenarbeit zwischen
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De facto verlangte der Antrag, eine Beauftragung des Bürgerkomitees mit der weiteren Auflösung und Aufarbeitung des MfS/AfNS, um die »Verstaatlichung der MfS-Auflösung« – die am 08. Februar 1990 mit der Einführung von Staatlichen Komitees zur Auflösung des MfS/AfNS vom Ministerrat beschlossen wurde – für Leipzig rückgängig zu machen, zumindest abzumildern. Er wurde am 29. März angenommen und die neue Aktensichtungs- bzw. Untersuchungskommission durch den Regierungsbevollmächtigten bestätigt.138 Somit blieb das BKL – trotz Staatlichem Komitee – ungebrochen politisch legitimiert die Auflösung des MfS/AfNS in Leipzig fortzuführen und übernahm es jetzt sogar offiziell die Federführung über die historische Aufarbeitung. »Die autorisierten Mitglieder des Bürgerkomitees […] zur Auflösung des ehemaligen MfS/AfNS führen weitere Befragungen, Untersuchungen und Einsichtnahmen von relevantem Material mit dem Ziel durch, die weitere politische Auflösung des ehemaligen MfS/AfNS durchzuführen. […]«,139 bestätigte der Auftrag der Regierungsbevollmächtigten, »[…] Die Autorisierung besitzt seine Gültigkeit bis zum 30. Juni 1990. Über weitere Verfahrensweisen für den Zeitraum danach ist durch das Komitee zur Auflösung des Amtes zu entscheiden«, wurde die Beauftragung allerdings zeitlich begrenzt.140 Nur zwei Wochen später gelang es, diese Festlegungen auch auf überbezirklicher Ebene zu verankern, indem die bezirklichen Bürgerkomitees mit dem Staatlichen Auflösungskomitee eine ähnliche Vereinbarung abschlossen.141 Im Wissen, dass die Auflösungs-, Aktensicherungs- und Aufarbeitungsarbeit des BKL aufgrund der Befristung bis zum 30. Juni nur dann die Wahlen am 06. Mai 1990 und den späteren Beitritt der DDR zur BRD überstehen könne, wenn es gelang, die Arbeit in geeigneter Form zu institutionalisieren, forcierte das BKL in den folgenden Wochen noch stärker als zuvor den Aufbau von Dokumentationszentren an ehemaligen BVSt-Standorten sowie die parlamentarische Einbindung der Bürgerkomitees in dafür eigens eingesetzte Sonderausschüsse. Zu diesem Zweck entwickelte das BKL zunächst einen Beschluss-Entwurf für die
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Bürgerkomitee und Staatlichem Komitee garantiert blieb: »Sämtliche im Beschluss einschließlich der in den Anlagen festgelegten Maßnahmen sind in enger Zusammenarbeit mit dem Bürgerkomitee zu realisieren«, vgl. Festlegungen zur Durchführung des Beschlusses Nr. 13/4/90 des Ministerrates vom 08. Februar 1990 über weitere Maßnahmen zur Auflösung des ehemaligen Amtes für Nationale Sicherheit vom 14.03.1990, in: Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 305. Antrag über die Verfahrensweise zur weiteren Einsicht in das Schriftgut des ehemaligen MfS/AfNS vom 29.03.1990, in: ebd., S. 308. Ebd., S. 308. Antrag an die Regierungsbevollmächtigten zur weiteren Verfahrensweise der politischen Auflösung des ehemaligen AfNS durch das Bürgerkomitee vom 29.03.1990, z.n. Hollitzer, Tobias: »Der Rollen- und Funktionswandel«, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 7, 1999), S. 618. Vereinbarung über die Zusammenarbeit zwischen dem Staatlichen Komitee und den Bürgerkomitees bei der weiteren Auflösung des ehemaligen Amtes für Nationale Sicherheit vom 04.04.1990, ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv.
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Volkskammer der DDR. Dieser sah – neben der Einrichtung von bezirklichen Sonderdepots für die MfS/AfNS-Akten – vor, parlamentarische Untersuchungsausschüsse einzurichten, um vor allem die Mitglieder der Bürgerkomitees ökonomisch weiter abzusichern: »Längstens bis zur vollständigen Übergabe der Verantwortung an die bezirklichen Sonderdepots übernehmen die Bürgerkomitees weiter auf Basis der bisherigen Protokolle und Vereinbarungen die Kontrolle der Sicherung der Dokumente und die Klärung daraus resultierender Probleme. […] Bis zu diesem Zeitpunkt garantiert die Regierung die materielle und soziale Sicherstellung der Bürgerkomitees und ihrer Arbeitsfähigkeit. […] Bei Beendigung der Arbeit […] sollte die Regierung die soziale Absicherung der BK-Mitarbeiter mindestens entsprechend ihrer vorhergehenden Tätigkeit gewährleisten.«142
Kurz darauf regte Scheibler bei der letzten Sitzung des RTSL am 02. Mai 1990 auf städtischer Ebene »[…] die Einrichtung eines Dokumentationszentrums an, in dem alle Akten des früheren Staatssicherheitsdienstes archiviert und unter parlamentarischer Kontrolle gebracht werden«.143 Aufgabe dieses Dokumentationszentrum sollte die wissenschaftliche Aufarbeitung der DDR-Staatssicherheit sein, »[…] wobei die weit verzweigten und in alle Lebensbereiche eingedrungenen Strukturen der Stasi sichtbar gemacht und die Mechanismen der Manipulation/Demoralisierung ganzer Bevölkerungsgruppen als warnendes Lehrbeispiel für die Welt dokumentiert wird«.144 D.h., das Dokumentationszentrum sollte durch geeignete Mittel (z.B. Ausstellungen) einen klaren Bildungsauftrag erfüllen. Personell wurde hierfür die »[…] langfristige Einsetzung eines Arbeitsstabes aus politischen unbelasteten (zuerst Überprüfung), moralisch integren, fachlich kompetenten und dem Parlament verpflichteten Historikern, Juristen, Psychologen, Soziologen, Philologen u.a., welche die Vorarbeiten der Bürgerkomitees übernehmen […]« vorgeschlagen.145 Das BKL hatte Erfolg. Beide Eingaben, d.h. sowohl der VolkskammerEntwurf über die Errichtung eines Sonderdepots bzw. über die Regelung der Weiterarbeit der Bürgerkomitees als auch der Vorschlag über die Errichtung eines Dokumentationszentrums in Leipzig, wurden noch bei der letzten Sitzung des RTSL am 02. Mai 1990 beschlossen und als letzte Empfehlung des RTSL an die DDR-Regierung weitergeleitet. Mit eindeutiger Mehrheit wurde entschieden, beide Beschlüsse direkt der Volkskammer zur Beratung vorzulegen.146
142 Bürgerkomitee Leipzig: Entwurf Beschlussvorlage für die Volkskammer vom April 1990, SächsStAL, SED-Bezirksleitung, Nr. 1816, Bl. 170. 143 Demokratie Jetzt: Vorlage an den Runden Tisch der Stadt Leipzig vom 02.05.1990, ABL, 4.2, Nr. 4.2.97, Bl. 885. 144 Ebd. 145 Ebd. 146 Protokoll der Beratung des Runden Tisches der Stadt Leipzig am 02.05.1990 vom 04.05.1990, ABL, 4.2 , Nr. 4.2.91, Bl. 878.
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Als potentieller Standort für ein solches Sonderdepot bzw. Dokumentationszentrum bot sich die »Runde Ecke« Dittrichring 22-24 an, war doch das Gebäude inzwischen nicht nur Haupt-Aktenlager des BKL sondern auch Sitz des Arbeitsstabes des Staatlichen Auflösungskomitees, und war es trotz des RTSL-Beschlusses vom 21. März 1990 noch zu keiner Räumung gekommen. Eine »besenreine« Übergabe des Komplexes an einen neuen Träger (Sozialversicherung und Versicherungsgesellschaft) schien angesichts dieser Situation vorerst ausgeschlossen.147 Dennoch stimmte der Rat der Stadt Leipzig einem Dokumentationszentrum nicht zu und hielt stattdessen an seiner bisherigen Empfehlung über die Nachnutzung fest: »Zwischen Arbeitsstab (Machlitt), RdSt [Rat der Stadt Leipzig] und Sv [Stadtverordnetenversammlung Leipzig] konnte abgesichert werden, dass die Vorbereitung für die Projektierung im Objekt Dittrichring 24 erfolgen kann. Frau Selly Trenny (vom Bürgerkomitee) informierte die Kommission über einen MR-Beschluss zur konzentrierten Unterbringung der MfS-Akten. Als Zwischenlösung für 12.000 m Aktenmaterial wird der Altbau Dittrichring 24 vorgesehen. Die Kommission hat sich dagegen ausgesprochen und den Vorsitzenden der Kommission beauftragt am RT [Runden Tisch der Stadt Leipzig] den Standpunkt der Kommission zu vertreten.«148
Solange die Frage der endgültigen Lagerung der Aktenbestände offen blieb, konnte dem Wunsch der Kommission allerdings nicht entsprochen werden.149 Zwar versicherte Machlitt vom Arbeitsstab dem RTSL beständig eine schnellstmögliche Umlagerung im Sinne der beschlossenen Nachnutzung und hielt sie damit offiziell an einer endgültigen Räumung der »Runden Ecke« weiterhin fest, konkrete Taten folgten aber zu keiner Zeit.150
147 Bereits Mitte April stellte der RTSL hierzu fest: »Dieses Objekt kann noch nicht für eine Nachnutzung (Hauptnutzer: Sozialversicherung) freigegeben werden, da sich im Objekt umfangreiches Aktenmaterial befindet. Ein Termin für die Auslagerung von Akten ist nicht bekannt«, vgl. Vorlage für die Sitzung des RTSL am 02.05.1990, Überleitungsbericht vom 18.04.1990, StArL, RTSL, Nr. 21, Bl. 45. Gleiche Feststellung floss auch in den Abschlussbericht zur letzten Sitzung des RTSL zu dieser Frage ein, vgl. Kommission 19 des RTSL: Vorlage für die Sitzung des Runden Tisches der Stadt Leipzig am 02.05.1990, ABL, 4.2, Nr. 4.2.91, Bl. 862. Die BDVP hatte zur längerfristigen Aktensicherung sogar schon vorsorglich elektronische Alarmanlagen organisiert, vgl. Schreiben des BDVP Beauftragten des Chefs der BDVP an den Leiter Nachrichten der BDVP vom 19.04.1990, SächsStAL, BDVP Leipzig 24.1, Nr. 2842. 148 Niederschrift über die Beratung der Kommission 19 am 24.04.1990, StArL, RTSL, Film Nr. 44, Bl. 37. 149 Protokoll über die 9. Sitzung des Rates der Stadt Leipzig am 02.05.1990/07.05.1990, StArL, StVuR (2), Nr. 2203, Bl. 109f. 150 Protokoll der Beratung des Runden Tisches der Stadt Leipzig am 02.05,1990 vom 04.05.1990, ABL, 4.2, Nr. 4.2.91, Bl. 876; Protokoll über die Beratung des Runden Tisches der Stadt Leipzig am 23.05.1990 vom 24.05.1990, ABL, 4.2, Nr. 4.2.96, Bl. 912913.
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Dies änderte sich unmittelbar nach der Mai-Wahl und mit dem Ministerratsbeschluss vom 16. Mai 1990. Dort wurde die Aufarbeitung des MfS endgültig der Bürgerkontrolle entzogen und ausschließlich einer Regierungskommission unter Teilnahme des ehemaligen MfS-Leiters für den Bereich Aufklärung, Generaloberst Markus Wolf übertragen. Des Weiteren wurde darin geregelt, dass das Schriftgut des MfS fortan dem Ministerium des Innern und dem Ministerium für Abrüstung und Verteidigung mit entsprechend weitreichenden Sperrfristen übergeben werden sollte. Auch die beruflichen Freistellungen für die MfS/AfNS-Auflöser sollten unter der neugewählten de-Maiziére-Regierung nicht weiter verlängert, sondern stattdessen eher die soziale Absicherung ehemaliger MfS-Mitarbeiter garantiert werden.151 Der Ministerratsbeschluss bedeutete also das unerwartete, vorzeitige Aus allen Bürgerkomitees mit all seinen Folgen für die weitere MfS-Abwicklung.152 »Die Durchsetzung dieses Beschlusses würde bedeuten, dass eine historische Aufarbeitung der Arbeitsweise des ehemaligen MfS unmöglich wäre und somit die Mechanismen des Überwachungsstaates weiterhin im Dunkeln blieben«, beschwerte sich das BKL und richtete einen offenen Brief an alle Parteien und politischen Instanzen.153 Darin wurde nun die vollständige Übertragung der Aktenkontrolle und der MfS-Aufarbeitung auf die Bürgerkomitees und auf zu bildende parlamentarische Untersuchungsgremien vorgeschlagen, die sich u.a. auch aus den Reihen der Bürgerkomitees rekrutieren sollten.154 Darüber hinaus wurde proklamiert: »Die Arbeit des Bürgerkomitees kann wegen der anfallenden Arbeit bei der politischen Auflösung des ehemaligen Amtes MfS/AfNS in absehbarer Zeit nicht beendet werden. Große Mengen von Akten – und anderem Material sind noch zu sichern, zu sichten und zu verzeichnen und für eine Nutzung und Einsichtnahme durch Befugte vorzubereiten. […] So sieht das Bürgerkomitee es als wichtigste Aufgabe der Gegenwart an, im Interesse der Sicherung der Ergebnisse der Herbstrevolution 1989, die in Leipzig ihren Ausgang nahm, und zum Schutz der sich entfaltenden Demokratie, die Konspiration aufzuhellen, um zu verhindern, dass die Kräfte des Alten aus dem Untergrund heraus Unruhen in der Bevölkerung schüren oder erneut aktiviert werden.«155
151 Schwarz, Stefan: »Was wird aus den Stasi-Akten«, in: Taz vom 22.05.1990; Bürgerkomitee Leipzig Ausschuss zur Auflösung des MfS/ANS: Zum Ministerratsbeschluss vom 16.05.1990 vom 22.05.1990, ABL, 4.23, Nr. 4.23.7/SächsStAL, SED-Bezirksleitung, Nr. 1816. 152 Hollitzer, Tobias: »Der Rollen- und Funktionswandel«, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 7, 1999), S. 360. 153 Bürgerkomitee Leipzig Ausschuss zur Auflösung des MfS/ANS: Zum Ministerratsbeschluss vom 16.05.1990 vom 22.05.1990, ABL, 4.23, Nr. 4.23.7, S. 2/ SächsStAL, SED-Bezirksleitung, Nr. 1816. 154 Schreiben des Bürgerkomitees Leipzig – Ausschuss zur Auflösung des ehemaligen Amtes MfS/AfNS an alle Parteien der Stadt Leipzig vom 17.05.1990, ABL, 4.23, Nr. 4.23.7, Bl.4-5. 155 Ebd.
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Das BKL verlangte jetzt nachdrücklicher denn je »[…] es ist zu gewährleisten, dass das Bürgerkomitee oder ein aus ihm heraus neu zu bildendes Organ ständig die demokratische Kontrolle wahrnehmen kann. […] deshalb schlägt das Bürgerkomitee vor die Institutionalisierung der Arbeit zur politischen Auflösung des ehemaligen Amtes MfS/AfNS in ein Dokumentationszentrum zur Aufbewahrung, Verwaltung des Archiv- und anderen Materials und für die Öffentlichkeitsarbeit; es müsste ein besonderes Gebäude zur Verfügung gestellt werden«.156
Das Leipziger Dokumentationszentrum sollte dabei der »Forschungs- und Gedenkstätte für die Opfer des Stalinismus in der DDR« im ehemaligen Haus I der Zentrale des MfS/AfNS in der Berliner Normannenstraße angelehnt sein, die der Ministerrat ebenfalls mit Beschluss vom 16. Mai 1990 für Berlin in Auftrag gegeben hatte.157 Das Dokumentationszentrum sollte, gemäß den Planungen zur Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße, sowohl Archiv als auch Museum werden und in die Zuständigkeit des Ministers für Kultur (Schirmer) bzw. des Ministers des Innern (Diestel) fallen. Neben der Archiv-, Forschungs- und Ausstellungstätigkeit war zudem an eine Opfer-Beratung in Bezug auf Rehabilitationsmaßnahmen gedacht.158 Dies ging aus einem Begleitschreiben des offenen Briefes explizit hervor. 159 Durch Verweis auf die ZRT-Vorlage vom 22. Januar 1990 wurde die politische Konformität eines solchen Vorschlages zumindest suggeriert.160 Während die Regierung der DDR in Bezug auf das Haus I in der Normannenstraße vornehmlich die Strategie verfolgte, die Aufarbeitung des MfS/AfNS wieder zu verstaatlichen und während das Staatlichen Komitee wiederum versuchte, mittels eines Museums die Deutungshoheit über das MfS/AfNS-Erbe zurückzugewinnen, diente das vom BKL geforderte Dokumentationszentrum in Leipzig eher dazu, den Einfluss des BKL auf dem Gebiet der historischen Aufarbeitung weiter auszubauen. Während das Gedenkstättenprojekt in Berlin also eher eine »Verstaatlichung« der MfS-Aufarbeitung begünstigte, versprach sich das BKL vom erhofften Dokumentationszentrum, dass es selbst auf der MfS/AfNS-Aufarbeitung den Daumen behielt. Ob das BKL dabei gewissermaßen »regierungstreu« handelte, konnte nicht heraus-
156 Ebd. 157 Beschluss des Ministerrates 6/6/90 vom 16.05.1990, BArch Dc 20 I/3-2952. 158 Siehe hierzu auch Bürgerkomitee Leipzig – Ausschuss zur Auflösung des MfS: Mitteilung zur Demonstration des Neuen Forums am 28.05.1990 vom 27.05.1990, ABL, 16.4, Nr. 16.4.11, Bl. 1. Darin hieß es programmatisch: »Auf der Demonstration des Neuen Forums […] fordert das Bürgerkomitee ein unabhängiges Dokumentationszentrum, in dem die gesamte Stasi-Vergangenheit öffentlich und parlamentarisch kontrollierbar, historisch, politisch und juristisch aufgearbeitet werden kann«. 159 Bürgerkomitee Leipzig Ausschuss zur Auflösung des MfS/ANS: Zum Ministerratsbeschluss vom 16.05.1990 vom 22.05.1990, ABL, 4.23, Nr. 4.23.7, S. 2/ SächsStAL, SED-Bezirksleitung, Nr. 1816. 160 Ebd.; ebenfalls in: Hollitzer, Tobias: »Der Rollen- und Funktionswandel«, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 7, 1999), S. 650.
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gefunden werden. Fest steht vielmehr, dass beide Forderungen nach geeigneten Institutionen zur Aufarbeitung der DDR-Staatssicherheit sowohl den »Restitutionsansprüchen« des Staatlichen Auflösungskomitees als auch dem »Überlebensdrang« des BKL entgegenkamen, und es in beiden Fällen also immer um die übergeordnete Frage ging, wer zukünftig in den dauerhaften Besitz des Herrschaftswissens kommen solle. Eine erste Ausstellung über die DDR-Staatssicherheit und ihr Ende, die das BKL ab April 1990 vorbereitete, hatte damit nicht nur zum Zweck »neugierige Journalistenanfragen« zu bedienen, wie das BKL vordergründig glaubhaft vermittelte, sondern war in viel stärkerem Maße geschichtspolitischer Ausdruck dafür, dass einzelne Mitglieder des Bürgerkomitees bis auf Weiteres Deutungshoheit über das MfS-/AfNS-Erbe reklamierten.161 Die museale Aufbereitung der DDRStaatssicherheit war somit nicht nur Medium zur Demontage bzw. Delegitimierung der DDR-Staatssicherheit, sondern war vor allem ein Werkzeug zur Durchsetzung der BKL-spezifischen Sicht der Geschichte des MfS und seiner Auflösung. Als BKL eine Ausstellung über das MfS zu machen, hieß die Geschichte des MfS/ AfNS auch fortan im eigenen Sinne entscheidend mitschreiben zu können. Dass das BKL im Zuge der konkreteren Ausstellungskonzeption das Staatliche Komitee nicht vollkommen mied, sondern beabsichtigte, auf dessen finanzielle Ressourcen zurückzugreifen, geht aus einem Antrag hervor, den das BKL bezüglich der Finanzierung dieser ersten dokumentarischen Ausstellung an das Staatliche Komitee stellte. Darin hieß es: »Das Bürgerkomitee hat während des Auflösungsprozesses Gegenstände und Materialien gesammelt, die wichtige Zeitdokumente für den geschichtlichen Aufarbeitungsprozess der Staatssicherheit sind. Die Ausstellung wird von der Graphikerin Angelika Pohler und von Mitgliedern des Bürgerkomitees vorbereitet. […] Wir bitten Sie, dem Antrag des Bürgerkomitees nachzukommen, eine entsprechende Geldsumme für die Ausstellung bereitzustellen.«162
D.h., das BKL plante, seine Ausstellung163 zunächst über das Staatliche Komitee zu finanzieren. Weshalb das BKL einen solchen Antrag stellte, konnte nicht aufgeklärt werden. Aus einem handschriftlichen Vermerk auf diesem Antrag geht allerdings hervor, dass nur deshalb eine Ablehnung durch den Leiter des Staatlichen Komitees Eichhorn erfolgte, weil der Haushalt für die Auflösung des MfS/AfNS des Staatlichen Komitees Mittel für Ausstellungen gar nicht erst vorsah. Das Eichhorn-
161 Hollitzer, Tobias: »Die Staatssicherheit im Museum. Die museale Präsentation in der ›Runden Ecke‹ in Leipzig«, in: Deutschland Archiv 2 (1997), S. 258. 162 Schreiben des Bezirksarbeitsstabes Leipzig zur Auflösung des AfNS Leiterin Machlitt an das Komitee zur Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit vom 18.05.1990, z.n. Hollitzer, Tobias: »Der Rollen- und Funktionswandel«, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 7, 1999), S. 648. 163 Der Titel der ersten Ausstellung des BKL lautete vollständig: »Stasi intern. Macht und Banalität«.
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Kommentar: »Zur Zeit geht nichts!« signalisierte keine inhaltlichen Bedenken, sondern bezog sich vor allem auf die fehlenden Haushaltsvoraussetzungen zur Förderung eines derartigen Vorhabens.164 Ohne inhaltliche Aussichten auf eine Unterstützung des Ausstellungsprojektes hätte das BKL zudem (in logischer Konsequenz) erst gar keinen Antrag stellen brauchen. Nach der Ablehnung durch den Leiter des Staatlichen Komitees Eichhorn, beantragte das BKL die Gelder für die Ausstellung in Höhe von 10.000 DM beim RTBL.165 Auf seiner Sitzung am 22. Mai entschied dieser: »Der Runde Tisch befürwortet einen Antrag des Bürgerkomitees Leipzig mit der Bitte an den Rat des Bezirkes, für die Finanzierung einer Ausstellung über die Arbeit der Stasi in der Stadt Leipzig die Bereitstellung von 10.0 TM aus eigenen Mitteln zu prüfen.«166
D.h., eine Finanzierung aus kommunalen Mitteln wurde in Aussicht gestellt. Parallel wurde bei einer gemeinsamen Besprechung des Arbeitsstabes des Staatlichen Komitees (Machlitt), der Kirche, der VP und des BKL auf Drängen des BKL beschlossen, dass das »Bürgerkomitee – Ausschuss zur Auflösung des MfS« bei der konstituierenden Sitzung der Stadtverordnetenversammlung (SVV) am 30. Mai 1990 in einen dort angebundenen Untersuchungsausschuss (UA) eingebunden werde: »Durch Herrn Magirius ist im Stadtparlament die parlamentarische Sicherung des Bürgerkomitees ›Runde Ecke‹ als Organ der parlamentarischen ›öffentlichen Kontrolle‹ einzuleiten«, lautete die Abmachung.167 Auf diese Weise sollte die MfS/AfNS-Aufarbeitung auch nach dem Ende des RTSL parlamentarisch verankert bleiben. Entsprechend brachte die CDU-Fraktion bei der konstituierenden Sitzung der Leipziger SVV am 30. Mai 1990 den Antrag ein über die Bildung eines UA, »[…] welcher sich mit der vollständigen Auflösung des MfS und der Klärung der Untaten des MfS und der SED beschäftigt«.168 Die Empfehlung lautete, »[…] 15 Mitglieder des Bürgerkomitees ständig zu übernehmen und durch den Rat der Stadt finanziell und arbeitsmäßig abzusichern«.169 Hollitzers schlussfolgert hierzu: »Nur
164 Ebd., S. 649. 165 Bürgerkomitee Leipzig – Auflösung MfS/ANS, Dittrichring 22-24: Antrag an den Runden Tisch des Bezirkes Leipzig, o.D., SächsStAL, Bezirkstag und Rat des Bezirkes Leipzig, Nr. 31263 [BBLpz., Nr. 31263], Bl. 35. 166 Protokoll der Beratung des Runden Tisches Bezirk Leipzig am 22.05.1990 vom 23.05.1990, SächStAL, BBLpz., Nr. 31263, Bl. 9, 34. 167 BDVP/Stellvertretender des Chefs F/SV: Protokoll zur gemeinsamen Beratung mit Bürgerkomitee, Arbeitsstab, Kirche und VP vom 31.05.1990, SächsStAL, BDVP Leipzig 24.1, Nr. 2842, S. 2; vgl. Antrag des Bürgerkomitees Leipzig an das Stadtparlament bezüglich seiner Weiterarbeit im Untersuchungsausschuss der SVV vom 05.06.1990, in: Hollitzer, Tobias: »Der Rollen- und Funktionswandel«, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 7, 1999), S. 658. 168 Niederschrift über die konstituierende Tagung der Stadtverordnetenversammlung Leipzig am 30.05.1990 vom 30.05.1990, ABL, 4.2, Nr. 4.2.98, Bl. 933. 169 Ebd.
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in Anbindung an das neue Stadtparlament sah das Bürgerkomitee Möglichkeiten, seine Arbeit zu legitimieren und seine Vorstellungen zum weiteren Umgang mit den Akten durchzusetzen.«170 Die SVV Leipzig nahm den CDU-Antrag an und übertrug dem UA die Aufgabe, die Auflösung des MfS fortzuführen, die Akten in Leipzig sicherzustellen und zu verwahren, Entschädigungsansprüche zu bearbeiten, Abgeordnete hinsichtlich einer MfS-Verstrickung zu überprüfen sowie ein Dokumentationszentrum einzurichten.171 Der ehemalige BKL-Sprecher Scheibler, der inzwischen für das Bündnis 90 im Stadtparlament saß, setzte die Forderung des BKL durch, »[…] Mitglieder des Bürgerkomitees, die bereits ihre Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit unter Beweis gestellt haben, in die Arbeit einzubeziehen«.172 Auch wurde festgelegt, dass das Bürgerkomitee namentlich festlegen sollte, wer die Leute sein werden, »[…] die vom Bürgerkomitee dann mit dem Untersuchungsausschuss der Stadtverordnetenversammlung zusammenarbeiten«.173 Entsprechend wurden per SVV-Beschluss 15/90 – neben den Vertretern der einzelnen Parlamentsfraktionen – auch einzelne Vertreter des BKL als Mitglieder des hierfür gebildeten Leipziger parlamentarischen UA am 06. Juni 1990 bestätigt.174 Indem die Finanzierung der Ausstellung über den Rat des Bezirkes eingeleitet war und die Errichtung eines Dokumentationszentrums zur Kernaufgabe einer parlamentarischen Untersuchungskommission – die noch dazu hauptsächlich aus Vertretern des BKL bestand – erklärt wurde, war dem BKL die längerfristige Institutionalisierung der historischen Aufarbeitung gewissermaßen gelungen. Der UA konstituierte sich anlässlich der Eröffnung der BKL- Ausstellung »Stasi – Macht und Banalität. Indizien des Verbrechens« am 10. Juni 1990 in der Leipzig Information am Sachsenplatz.175 Der Rat der Stadt Leipzig kam für die gesamten Herstellungskosten der Ausstellung auf und übernahm damit die Trägerschaft.176 Die Berufung von 15 ehemaligen BKL-Mitgliedern in den UA wurde schließlich per SVVBeschluss am 20. Juni 1990 vertraglich geregelt.177 Die ersten neun Vertreter des
170 Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 204. 171 Niederschrift über die konstituierende Tagung der Stadtverordnetenversammlung Leipzig am 30.05.1990 vom 30.05.1990, ABL, 4.2, Nr. 4.2.98, Bl. 933. 172 Ebd., Bl. 936. 173 Ebd., Bl. 937. 174 Niederschrift über die 2. Tagung der Stadtverordnetenversammlung Leipzig am 06.06.1990 vom 12.06.1990, ABL, 4.2, Nr. 4.2.100, Bl. 975; Beschlussprotokoll über die 2. Tagung der Stadtverordnetenversammlung Leipzig am 06.06.1990, Drs. SVV Nr. 04, Beschluss Nr. 15/90, StArL, StVuR (1), Nr. 17720, Bl. 1 u. 2. 175 Hollitzer, Tobias: »Der Rollen- und Funktionswandel«, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 7, 1999), S. 362; Ausstellungseinladung »Stasi – Macht und Banalität. Indizien des Verbrechens«, StArL, StVuR (1), Nr. 17720, Bl. 69. 176 Schreiben von Angelika Pohler an den Rat der Stadt Leipzig Frank Pörner vom 13.06.1990, ABL, 4.24, Nr. 4.24.157, Bl. 1. 177 Beschlussprotokoll über die 3. Tagung der Stadtverordnetenversammlung Leipzig am 20.06.1990, Drs. SVV Nr. 09, Beschluss Nr. 23/90, StArL, StVuR (1), Nr. 17721, Bl. 2
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BKL (unter Ihnen auch die Leiterin des Arbeitsstabes des Staatlichen Komitees, der stellvertretende Leiter des Bezirksarbeitsstabes Hans-Ulrich L. sowie der Militärstaatsanwalt Oberst Walter K.) wurden am 04. Juli 1990 unter Beifall für die Ausstellung im Rahmen der 4. Tagung der SVV im UA begrüßt.178 Neben diesen personellen Kontinuitäten führte der UA aber auch die inhaltliche Arbeit des BKL und des Staatlichen Komitees ungebrochen fort. Dies geht aus den Arbeitsrichtlinien hervor, die die SVV im gleichen Zuge verabschiedeten: »Sich als sinnvoll erwiesene Wege der Sicherheitspartnerschaft werden auch weiterhin gegangen. Der Untersuchungsausschuss stimmt seine Arbeit, wenn möglich und sinnvoll, mit dem Komitee zur Auflösung/Arbeitsstab zur Auflösung des MfS/AfNS ab.«179 D.h., der UA verpflichtete sich, weiterhin mit den Staatlichen Komitees, so lange es existierte, zu kooperieren. Des Weiteren wurde festgelegt, dass »eine umfassende Dokumentation über das ehemalige MfS/AfNS zu erstellen bzw. zu ermöglichen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen« sei.180 Durch diese Regelung musste der UA die Fortführung der Ausstellungen zur DDR-Staatssicherheit gewährleisten. Zur Veröffentlichung historisch relevanten Materials wurde jetzt eine Koordinierungsgruppe für die Aktensichtung, Sortierung und Erfassung gebildet. Eine zweite Koordinierungsgruppe kümmerte sich inhaltlich ausschließlich um die Auflösung der BDVP. Damit waren die Ausstellungstätigkeit des bisherigen BKL bzw. seine museologische Weiterarbeit innerhalb des UA sowie die Fortführung der historischen Aufarbeitung im Einklang mit dem Staatlichen Komitee in Leipzig parlamentarisch verankert und endgültig zum »städtischen Regierungsauftrag« geworden.181 Mit der »Übernahme« in den UA der Leipziger SVV endete die Arbeit des BKL nicht bzw. ging das BKL nicht vollständig im UA auf. Das BKL gehörte zwar formal zur SVV, arbeitete aber in der Praxis weitgehend unabhängig vom parlamentarischen Ausschuss weiter. In dieser Konstellation setzte sich das Bürgerkomitee nun auch über die Stadt- bzw. Bezirksgrenze hinweg dafür ein, dass ihr »Leipziger Modell« auch in anderen Bezirksstädten umgesetzt werde. Bereits Anfang Juni 1990 unterbereitete es dem stellvertretenden Ministerpräsidenten und Innenminister der DDR Diestel den Vorschlag:
178 179 180 181
u. 3; Drs. SVV Nr. 06, Antrag Untersuchungsausschuss der SVV: Aufgaben des Untersuchungsausschusses der Leipziger Stadtverordnetenversammlung zur Auflösung des ehemaligen MfS/AfNS, StArL, ZR (2) Nr. 11517 (Band 2) Bl. 277-279; Niederschrift über die 3. Tagung der Stadtverordnetenversammlung Leipzig am 20.06.1990 vom 26.06.1990, StArL, StVuR (1), Nr. 17721, Bl. 9-14, 21-26, 28-40; Untersuchungsausschuss der Leipziger Stadtverordnetenversammlung zur Auflösung des MfS/AfNS: Aufgaben des Untersuchungsausschusses der Leipziger Stadtverordnetenversammlung zur Auflösung des MfS/AfNS vom 15.06.1990, in: ebd. Niederschrift über die 4. Tagung der Stadtverordnetenversammlung Leipzig am 04.07.1990 vom 10.07.1990, ABL, 4.2, Nr. 4.2.101, Bl. 1002-1003. Ebd., S. 2. Ebd., S. 3. Ebd., S. 5.
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»Wegen der faktisch vorhandenen Strukturierung des Schriftgutes und der […] Verflechtung auf der Ebene der Bezirke der DDR sind regionale (bezirkliche) Dokumentationszentren einzurichten, die unter inhaltlicher Leitung durch den parlamentarischen Untersuchungsausschuss und unter Einbeziehung von Ausschüssen, die durch die örtlichen Parlamente legitimiert sind, arbeitsteilig die eingangs genannten Aufgaben lösen. […] Dem Ministerium des Innern kommt daher ausschließlich die äußere Sicherung der zu schaffenden Dokumentationszentren zu. […] Rahmenaufgabe des Dokumentationszentrums ist, unabhängig vom politischen Tagesinteresse die Stasi-Vergangenheit politisch-historisch und juristisch aufzuarbeiten, Ermittlungen gegen Schuldige einzuleiten sowie auf die Rehabilitierung Geschädigter hinzuwirken. […] Mitgliedern der existierenden Bürgerkomitees zur Auflösung des MfS/AfNS muss dabei die Möglichkeit eingeräumt werden, nach Bestätigung durch die lokalen Parlamente die Arbeit in den bezirklichen Dokumentationszentren haupt- und nebenberuflich aufzunehmen.«182
Das BKL forderte damit nichts Geringeres als den flächendeckenden Aufbau von Aktensonderdepots und Dokumentationszentren, bei denen Bürgerkomiteemitglieder zu beschäftigen seien. Es verlangte also eine Übertragung der Leipziger Verhältnisse und Strukturen auch auf den Rest der DDR. Und obwohl eine abschließende Lösung für den Umgang mit dem Erbe der DDR-Staatssicherheit zu diesem Zeitpunkt noch ausstand, verständigten sich das BKL und Diestel bei einer diesbezüglichen Beratung schließlich darauf, dass Mitglieder des BKL bei der Konzeption solcher Dokumentationszentren zumindest mitarbeiten bzw. bei der Einführung der parlamentarischen Kontrolle in anderen Bezirken wenigstens mitwirken konnten.183 D.h., auch über Leipzig hinaus gelang dem BKL beständig sich erinnerungspolitisch zu etablieren und Strukturen zu schaffen, die den errungenen Einfluss absichern halfen. Ungeachtet dieser erinnerungspolitischen Kämpfe um die historische Aufarbeitung, ihre Struktur und ihre Deutungsträger, ging am 27. Juni 1990 die erste Ausstellung zur DDR-Staatssicherheit, für die die Stadt Leipzig die finanzielle Verantwortung übernommen hatte, in der Leipziger Information zu Ende.184 Die DDRtypischen BKN-Ausstellungstafeln mit Fotos und Kopien von MfS-Dokumenten
182 Bürgerkomitee Leipzig zur Auflösung des MfS/AfNS Tobias Hollitzer: Vorschläge des Bürgerkomitees Leipzig an den Stellvertreter des Ministerpräsidenten der DDR und Innenminister Diestel vom 02.06.1990, ArLStU, BArch DO 104 – 10-13, 17-19, 24-26, BArch DO 104/11, Bl. 79 u. 80. 183 Bürgerkomitee Leipzig: Pressemitteilung über Innenminister Diestel und Leipziger Bürgerkomitee am Pfingstsonntag im Gespräch vom 03.06.1990, in: Hollitzer, Tobias: »Der Rollen- und Funktionswandel«, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 7, 1999), S. 656. Entsprechend protestierte das BKL/der UA, als der Regierungsbeschluss vom 14. Juni 1990 doch eine zentrale Depot- und Aufarbeitungslösung entgegen dem BKL -Beschlussvorschlag vom 13. Juni 1990 favorisierte, vgl. Offener Brief des Bürgerkomitees Leipzig und des Untersuchungsausschusses der SVV Leipzig an die Volkskammer der DDR vom 26.06.1990, in: ebd., S. 660. 184 O.V.: »Runde Ecke, offene Tür«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.06.1995.
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sowie Zeugnissen des Herbstes 89’ wurden – mangels alternativer Lagermöglichkeiten und aufgrund der personellen und inhaltlichen Nähe zum Staatlichen Komitee – zunächst in der »Runden Ecke« abgestellt und eingelagert.185 Da der UA einen Aufklärungsauftrag zu erfüllen hatte, wurde die Ausstellung am 01. September 1990 Vor-Ort wiedereröffnet.186 Erst mit dieser mehr oder minder »zufälligen« Wiedereröffnung der Ausstellung in den Räumen der »Runden Ecke« wurde das Gebäude nun zum Museum. Die »Runde Ecke« war damit nicht nur Aktenlager und bisheriger Sitz des Staatlichen Komitees sondern nun auch Museum am historischen Ort, also »Gedenkstätte«. Um die zeithistorische Ausstellung unabhängig vom Staatlichen Komitee in der »Runden Ecke« bewahren zu können und dem BKL Arbeitsräume zu erhalten, schlossen der Arbeitsstab des Staatlichen Komitees zur Auflösung des MfS/AfNS Leipzig und das BKL am 19. September 1990, noch kurz vor Beitritt der DDR zur BRD einen Vertrag über die Nutzung der »Runden Ecke«. Das Staatliche Komitee regelte darin, dass das BKL fortan die »Runde Ecke« sowohl als Geschäftssitz als auch als Ort für die Ausstellung weiter nutzen dürfe. Tatsächlich war dieser Nutzungsvertrag ein Abkommen des BKL mit sich selbst, war doch die Vertragspartnerin des Staatlichen Komitees sowohl Leiterin des Arbeitsstabes als auch Mitglied des BKL.187 Das BKL gab sich also selbst die Vollmacht, das Erbe des Staatlichen Komitees in der BVSt anzutreten und wurde nun der Hauptnutzer der »Runden Ecke«. Auf diese Weise schuf sich das BKL noch vor dem Beitritt der DDR eine Einrichtung, die dem BKL auch über den 03. Oktober 1990 und über parlamentarische Untersuchungsausschüsse hinaus dauerhaft »Unterschlupf« gewährte. Diese Regelung zwischen Staatlichem Komitee und BKL/UA wurde vom Sonderbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit, Joachim Gauck, der mit dem Volkskammergesetz vom 24. August 1990 seine Arbeit aufgenommen hatte, noch vor Jahresende 1990 bestätigt bzw. erneuert. Zwar wurde die Archiv-Nutzung des Dittrichrings 22-24 (»Runde Ecke«) dem BKL weitgehend entzogen, die Nutzung der »Runden Ecke« als Museum jedoch blieb zwischen Sonderbeauftragten und BKL vorerst vollständig im Sinne des BKL gelöst.188 So bestätigte Gauck bei
185 Zuerst war an die Untersuchungshaftanstalt als Lager gedacht, diese wurde jedoch als unentbehrlich eingestuft, vgl. Schreiben der BDVP Stellvertreter des Chefs F/SV an die Bezirksverwaltungsbehörde vom 20.09.1990, SächsStAL, BDVP Leipzig 24.1, Nr. 2842. 186 Hollitzer, Tobias: »Die Staatssicherheit im Museum«, in: Deutschland Archiv 2 (1997), S. 258, 260. 187 Der Vertrag 27-09/1990 vom 19.09.1990 wurde der Verf. nicht vorgelegt. Einige Inhalte konnten jedoch späteren Schriftwechselns zur Neufassung des Nutzungsvertrages abgeleitet werden. 188 Dies geschah u.a. im Zuge eines Vertrages zwischen Sonderbeauftragten und dem Beauftragten der Bezirksbehörde der deutschen Polizei zur Auflösung des MfS/AfNS am 21. November 1990, vgl. Schreiben des Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes an das Außenarchiv Leipzig des Sonderbeauftragten der Bundesregierung vom 19.11.1990,
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seinem Besuch der SVV Leipzig am 14. November 1990, dass seine Behörde zurzeit keine historische und politische Aufarbeitung der Vergangenheit leisten, d.h. auch keine Ausstellung wie die in der »Runden Ecke« betreiben könne. Und bei gleicher Gelegenheit bedankte er sich bei den BKL-Mitgliedern dafür, dass sie einer solchen Aufgabe nachgekommen würden.189 Wenige Wochen später wurde eine Nutzungsordnung zwischen dem Sonderbeauftragten und dem BKL aufgesetzt, die es den Mitgliedern des BKL weiterhin ermöglichte, die Ausstellung in der »Runden Ecke« in Koexistenz zum Sonderbeauftragten, d.h. in Koexistenz zum Archiv zu betreiben.190 Sie regelte den Zutritt zum BKL und zur Ausstellung zwischen dem Sonderbeauftragten und der BDP und erkannte damit indirekt die Trägerschaft durch das BKL und das Fortbestehen des Museumsbetriebes an. Der Sonderbeauftragte reklamierte also vorerst kaum »Deutungshoheit« über die Geschichte der DDR-Staatssicherheit in Leipzig, sondern betrachtete sich zu diesem frühen Zeitpunkt vornehmlich als Sachverwalter der MfSAkten und des daraus entstehenden Archivs. Damit stand fest, dass das BKL die Aufgabe der historisch-museologischen Aufarbeitung der MfS-Vergangenheit in Leipzig nunmehr ohne Interessenrivalitäten wahrnehmen würde und es kaum noch Konkurrenz zu erwarten hatte. So kam das BKL schließlich nicht umhin, sich nun eine Organisationsform zu geben, die das längerfristige Betreiben des Museums institutionell ermöglichte. Bis dahin war das BKL doch lediglich eine lose Gruppe aus einzelnen Personen, die sich im Zuge der MfS-Auflösung freiwillig zusammengeschlossen hatte. In Ergänzung zu den bestehenden Verträgen und Nutzungsordnungen plante das BKL daraufhin ab Dezember 1990 seine Neugründung als Verein. Die dazugehörige Satzung nutzte das BKL, um die Trägerschaft der zeitgeschichtlichen Ausstellung in der »Runden Ecke« noch stärker an sich zu binden. Die politisch-historische Aufarbeitung des MfS und der Ausstellungsbetrieb wurden deshalb zum Hauptzweck des Vereins.191 Angesichts
SächsStAL, BDVP Leipzig 24.1, Nr. 2842; Betretens- und Verfahrensordnung für das Objekt Dittrichring 22-24 »Runde Ecke« (Archiv) zwischen Sonderbeauftragten der Bundesrepublik für die Sicherung und Nutzung der Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes Leiterin des Archivs Leipzig und dem Beauftragten des Chefs der BDP zur Auflösung des MfS/AfNS in Leipzig vom 21.11.1990, SächStAL, BDVP Leipzig 24.1, Nr. 2842. 189 Protokollauszug der SVV-Sitzung vom 14.11.1990. Tagesordnungspunkt 4: Ausführungen des Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die Sicherung und Nutzung der Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes, Herrn Gauck vom November 1990, ABL, 16.4, Nr. 16.4.27, Bl. 1 u. 2. 190 Allgemeine Betretensordnung für das Objekt Dittrichring 22-24 »Runde Ecke« zwischen Sonderbeauftragten der Bundesrepublik für die Sicherung und Nutzung der Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes Leiterin des Archivs Leipzig und dem Beauftragten des Chefs der BDP zur Auflösung des MfS/AfNS in Leipzig vom 19.12.1990, SächStAL, BDVP Leipzig 24.1, Nr. 2842. 191 Hollitzer, Tobias: »Der Rollen- und Funktionswandel«, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 7, 1999), S. 385.
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des Vakuums, das Gauck dem BKL überließ, fing das BKL also an, die institutionelle Federführung bezüglich der MfS-Aufarbeitung in Leipzig zu übernehmen; zur Gründung des Vereins kam es jedoch vor Ablauf des Jahres nicht mehr. Allerdings veröffentlichte das BKL rechtzeitig zum 04. Dezember 1990, als sich die Besetzung der BVSt Leipzig zum ersten Mal jährte, das Buch: »Stasi intern. Macht und Banalität.«192 Es war die erste historische Dokumentation über das MfS und sein Ende, die es überhaupt je gegeben hatte. Entsprechend groß war das allgemeine Interesse und ebenso hoch war seine geschichtspolitische Bedeutung, wurden doch neben der historischen Aufklärung vor allem grundlegende Definitionen vorgenommen. So spiegelte das Buch wider, wie sehr sich spätestens jetzt die Perspektive der MfS-Auflöser bei der Darstellung der Geschichte des MfS durchzusetzen begann: Historische Abläufe wurden nun vorwiegend aus BKLSicht, d.h. vor allem aus ihrer Zeitzeugenperspektive vermittelt. Die Auflösung des MfS in der BVSt Leipzig rückte verstärkt in den Mittelpunkt der historischen Betrachtung und bildete fortan die Rahmenhandlung.193 Mit dieser Schwerpunktsetzung ging einher, dass hauptsächlich die Erfolge des BKL beleuchtet und davon abweichende Entwicklungen und Phänomene (z.B. Elitenkontinuitäten) ausgeblendet wurden. Diese sich abzeichnende Tendenz führte zudem dazu, dass das MfS und seine Auflösung nicht in der gesamten Komplexität und Widersprüchlichkeit dargestellt wurden. Auch fanden noch keine umfassenden Einbettungen in den historischen und osteuropäischen Gesamtzusammenhang statt und wurde die Geschichte des MfS stattdessen überwiegend »DDR-spezifisch« und »vom Ende her« dargestellt. Der historische Verlauf wurde so erzählt, dass er zwangsläufig in den Herbst 89’ mündete. Dem BKL übernahm dabei die Rolle des »Befreiers«, das MfS die des drakonischen Tyrannen, von dem das BKL die Bürger erlöst habe »[...] ohne uns zu Komplizen zu machen«.194 Dementsprechend wurde geschlussfolgert, dass das Ende der DDR-Staatssicherheit wesentlich zum Ende der DDR beigetragen habe. Zwar verkürzte das Geschichtsnarrativ die Ereignisse des Herbstes 89’ noch nicht auf eine DDR-spezifische »Revolution von unten« und wurde Leipzig noch nicht zur »Heldenstadt« gekürt, das Grundmuster für solche Geschichtsauslegungen war jedoch bereits angelegt. Dass diese frühe Aufklärungsarbeit des BKL aufgrund dieser vorgenommenen Gewichtung beständig Gefahr lief, nicht genug zum Verständnis der SED-Diktatur beizutragen, und daher hinsichtlich ihrer Wirkung begrenzt blieb, kommentierte die Presse mit den Worten: »Hatten nicht auch jene, die sich vor den Bildern entrüsten, einen ›inneren Sicherheitsapparat‹, den sie nun verleugnen? Die abschließenden Fotos über den ›Sturm‹ der Bezirksverwaltung Leipzig der Staatssicherheit zeigen das Täteropfer Wolfgang Schnur mit dem Megaphon. […] Die Vergangenheit des Sicherheitsstaates bietet, wie schon einmal, zwei Varianten
192 Bürgerkomitee Leipzig (Hg.): Stasi intern (1998). 193 Ebd., S. 5-7. Dies galt besonders für die Ausstellung in der »Runden Ecke«, vgl. Hollitzer, Tobias: »Die Staatssicherheit im Museum«, in: Deutschland Archiv 2 (1997), S. 260. 194 Bürgerkomitee Leipzig (Hg.): Stasi intern (1998), S. 359.
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der Bewältigung. Im Gästebuch dominiert jener unversöhnliche Ton der Widerstandskämpfer, der nichts mehr zu lernen braucht.«195
Viel stärker als diese zeitgenössische Beurteilung der Beteiligung der Bürgerbewegten bei der MfS-Auflösung und die patriotische Einschätzung der Herbst-89’Ereignisse wog allerdings erstens, die Aufklärung über das enorme Ausmaß der MfS-Machenschaften, zweitens die frühe Forderung nach historisch-politischer Aufarbeitung sowie drittens, die historische Gesamtbewertung der DDR als SEDDiktatur. »Aus der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts ergibt sich die Verpflichtung, dass eine öffentliche und umfassende Aufarbeitung der Geschichte des Unrechts unbedingt notwendig ist. Wir hatten Einblick in das System der Unterdrückung, deren wichtigstes Instrument wohl die Stasi war. Und doch ist es nur ein kleines Stück aus dem Puzzle, das in seiner Gesamtheit den Staatssicherheitsdienst darstellt. Und auch das Ministerium für Staatssicherheit war nur ein Teil des Apparates der SED-Diktatur«,
resümierte Johannes Beleites im August 1990 im Nachwort zum Ausstellungsband und nahm damit Klassifikationen vorweg, die sich in vollem Umfang erst zum Ende der beiden Enquete-Kommissionen durchzusetzen begannen.196 Mit der ersten Ausstellung zur DDR-Staatssicherheit und mit dem Begleitband »Stasi intern« sicherte sich das BKL also nicht nur die Deutungshoheit über das MfS/AfNS in Leipzig und über die eigene Rolle bei dessen Auflösung, sondern erhielt das BKL zu diesem frühen Zeitpunkt auch Deutungsmacht über diese Ereignisse des Herbstes 89’, über das Ende der DDR und die historisch-politische Bewertung der DDR insgesamt. Diese Aufklärungs- und Dokumentationsarbeit des BKL war a priori kein Produkt einer fachwissenschaftlichen Geschichtsaufarbeitung, sondern war vor allem ein Werkzeug zur vollständigen Delegitimation der DDR. Bis zum Jahresende 1990 hatte das BKL die Deutungskämpfe, die den MfSAuflösungsprozess begleitet hatten, erinnerungs- und geschichtspolitisch gewonnen.197 Ob und inwieweit diese politisierte Ausgangsposition des BKL prägend für die weitere Museums- und Gedenkstättenarbeit in der »Runden Ecke« blieb, und in welcher Form erinnerungs- und geschichtspolitische Deutungs- und Existenzkämpfe fortgeführt wurden, wird in den folgenden Kapiteln näher zu betrachten sein.
195 Hartmann, Bert: »Die geschlossene Gesellschaft und ihre Freunde«, in: Taz vom 28.06.1990. 196 Ebd., S. 361. 197 Siehe hierzu auch die thesenartigen Zusammenfassungen zur Auflösungsgeschichte der BVSt Leipzig in: Hollitzer, Tobias: »Der Rollen- und Funktionswandel«, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 7, 1999), S. 420ff; Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 206ff.
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3.3 V OM M USEUM
ZUR
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Der Trägerverein »Bürgerkomitee Leipzig e.V.« gründete sich am 16. April 1991 offiziell. Da er laut Satzung die unmittelbare Rechtsnachfolge des »Bürgerkomitees Leipzig zur Auflösung des MfS/AfNS« antrat, behielt der Nutzungsvertrag vom 19. September 1990 Bestand. Da darin präzise festgehalten war, in welchem Umfang und unter welchen Konditionen dem BKL die Räume in der »Runden Ecke« zur Verfügung stehen, schien der Museumsbetrieb am historischen Ort räumlich gesichert. An den Prämissen des Auflösungskomitees anknüpfend, machte es sich der Verein daher zur Aufgabe, die persönliche, politische, juristische und historisch-wissenschaftliche Aufarbeitung der Arbeitsweisen, Strukturen und Verflechtungen der DDR-Staatssicherheit und seiner Nachfolgeeinrichtungen in der »Runden Ecke« zu fördern und für die öffentliche Kontrolle der Akten zu kämpfen. Zur zentralen Aufgabe des Vereins wurden der Aufbau und der Betrieb eines Dokumentationszentrums (Ausstellung und Bibliothek) sowie die »staatsbürgerliche politische Bildung« in der »Runden Ecke«.198 Das Museum betreuten die BKLMitglieder ehrenamtlich, die meisten waren »[…] bis zur Gründung der Behörde des Bundesbeauftragten vom Rat der Stadt als Angestellte geführt, um die Sicherung, Umlagerung und Sortierung von Unterlagen des MfS vorzunehmen«. 199 Damit war das Fortbestehen des Museums an Ort und Stelle sowie die personelle Kontinuität des Bürgerkomitees Leipzig satzungsgemäß festgelegt. Bis zum Jahresende 1992 verzeichnete das BKL monatlich ca. 1500 Besucher. Deshalb wurden schließlich eine bezahlte Stelle sowie die kommunale Beteiligung an den entstehenden Kosten nötig. Das BKL beantragte zu diesem Zweck am 03. Juni 1991 bei der Stadt Leipzig einen Zuschuss i.H.v. 28.600 DM200 und beim Regierungspräsidium Leipzig die Übernahme einer ABM-Kraft, 201 damit der Ausstellungsbetrieb bis auf Weiteres sichergestellt werden konnte.202 Ab 1992 wurde das Museum in der »Runden Ecke« fortlaufend institutionell von der Stadt gefördert,203 und als das Regierungspräsidium Leipzig die ABM-Stelle über die
198 BKL e.V.: Satzung des Vereins Bürgerkomitee Leipzig für die Auflösung der ehemaligen Staatssicherheit (MfS) , Fassung vom 06.11.1995, ArBKL, Finanzen Bund/Land institutionelle Förderung 2002 [Finanzen 2002]. 199 Schreiben der SVV Leipzig/Untersuchungsausschuss zur Auflösung des ehem. Staatssicherheitsdienstes an den BStU vom 08.12.1992, StArL, ZR (2), Nr. 12689, Bl.8-13. 200 Schreiben des BKL an den Rat der Stadt Leipzig vom 03.06.1991, ArBKL, Finanzen 1992-1995, Zuwendungen Stadt Leipzig institutionelle Förderung [Finanzen 19921995]. 201 Antrag auf Förderung einer Allgemeinen Maßnahme zur Arbeitsbeschaffung vom 05.08.1991, ArBKL, Ausstellungsbetrieb Arbeitskräfte. 202 BKL e.V.: Presseerklärung vom 22.11.1992, StArL, ZR (2), Nr. 11517 (Band 2) Bl. 221. 203 Stadt Leipzig: Hauhaltssatzung Haushaltplan und Wirtschaftpläne der städtischen Regiebetriebe 1993, ArBKL, Finanzen 1992-1995.
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Jahre 1992/1993 hinaus bewilligte, war das Museum auch personell abgesichert.204 Diese räumliche museale Situation in der »Runden Ecke« änderte sich erst Mitte der 90er Jahre mit den Umbauplänen des BStU, der im Ostflügel der »Runden Ecke« seit Oktober 1990 die Verwaltung der Akten übernommen hatte und seit Dezember 1992 dort seine BStU-«Außenstelle Leipzig« betrieb. Ab 1993 gewannen Gedenkstätten allgemein politisch an Bedeutung, es schärfte sich auch seitens des BKL das Bewusstsein dafür, dass das Museum in der »Runden Ecke« gerade weil es sich in der historischen »originalen« Umgebung befand, unter Umständen besondere Förderwürdigkeit beanspruchen konnte. Der »authentische Ort« gewann also in dem Maße an Bedeutung für das BKL, in dem sich auch die Öffentlichkeit und die öffentliche Hand für die Unterstützung solcher Gedenkorte einzusetzen begannen. So wurde die Historizität des Ortes vor allem ab dann zum »Aushängeschild« des Museums, zunehmend verstand es sich fortan als Gedenkstätte von hoher Symbolwirkung: »Besonders hervorzuheben ist, dass die Ausstellung in originalen Räumen der ehemaligen Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Leipzig – der legendären ›Runden Ecke‹, – die 40 Jahre lang für die Öffentlichkeit verboten waren, gezeigt werden kann.«205 An anderer Stelle lautete die Selbsteinschätzung: »Das Museum in der ›Runden Ecke‹ mit der Ausstellung ist ein Ort der Erinnerung und Mahnung geworden.«206 Dass der Standort im Herbst 1990 zufällig gewählt und durch umfangreiche Umbaumaßnahmen ab 1992 so mancher Zustand nicht mehr »original« war, geriet zugleich in Vergessenheit.207 Neben der steigenden Bedeutung des »authentischen Standortes« für das Fortbestehen des Museums galt es spätestens ab 1995 aber auch, die bis Herbst 1990 erworbenen Nutzungs- bzw. Hausrechte in vollem Umfang zu verteidigen, sofern Einschränkungen drohten. Da sich die Arbeit des Bürgerkomitees im Laufe der Jahre immer stärker auf die »legendäre Runde Ecke« bezog und ihr symbolisches Kapital mit der »Runden Ecke« (angefangen mit der »Friedlichen Revolution« bis hin zur bildungspolitischen Ausstellungsarbeit vor Ort) zutiefst verwoben und verquickt war, wurde jeder Versuch, die »Runde Ecke« baulich zu verändern, seitens des
204 Schreiben des BKL an die Sächsische Staatskanzlei vom 04.03.1993, ArBKL, Ausstellungsbetrieb Arbeitskräfte; Schreiben des BKL e.V. an das Regierungspräsidium Leipzig vom 27.05.1993, ArBKL, Ausstellungsbetrieb Arbeitskräfte. 205 Ebd., Anlage, S. 1. 206 Schreiben des BKL e.V. an den Rat der Stadt Leipzig vom 20.06.1993, ArBKL, Finanzen 1992-1995; Schreiben des BKL e.V. an Rat der Stadt Leipzig vom 01.11.1993, ArBKL, Finanzen 1992-1995. 207 BStU: Protokoll der Besprechung beim Denkmalschutz am 23.06.1992 und 04.08.1992, ArBKL, Ausstellungserhalt, Baumaßnahme durch BStU – Schriftverkehr 1995/1996 [BStU 1995/1996]; StHA: Vermerk vom 08.10.1992, ArBKL, BStU 1995/1996; Schreiben des BKL an die Sächsische Staatskanzlei vom 04.03.1993, ArBKL, Ausstellungsbetrieb Arbeitskräfte. 1994 und 1995 waren umfangreiche Bauarbeiten an den sanitären Anlagen vorgesehen, vgl. Schreiben des BKL e.V. an den Rat der Stadt Leipzig vom 10.08.1994, ArBKL, Finanzen 1992-1995.
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BKL folgerichtig abgelehnt, getragen von der Befürchtung, einen symbolischen Bedeutungsverlust zu erleiden. Als das BMI dem BStU die »Runde Ecke« Anfang 1995 offiziell als Ressortvermögen zuordnete, und der BStU daraufhin ankündigte: »Um dieses Gebäude entsprechend dem gestellten Auftrag sachgerecht nutzen zu können, sind umfangreiche Umbaumaßnahmen erforderlich«, die für das BKL in erster Linie Einschnitte bei der Museumsarbeit bedeuteten, war der Auftakt zu einem jahrelang währenden Streit um das Gebäude der »Runden Ecke« gegeben.208 Bereits bei der ersten Besprechung zwischen BKL, BStU und Staatshochbauamt (StHA) erklärte das BKL, dass sowohl die Heizung als auch die Fenster mit Scherengittern, der Fußboden und die gesamte Elektrik – zumal diese ohnehin in Teilen 1994 erneuert worden war – musealen Charakter hätten und daher auf gar keinen Fall modernisiert, Geschweige denn entfernt werden dürften, da die Ausstellung »[…] ihren Wert auch aus der weitgehend erhaltenen authentischen Raumgestaltung«209 gewinne. Lediglich die sanitären Anlagen sollten aus hygienischen Gründen saniert werden dürfen. Aus dem Protokoll geht hervor, dass das BKL beim Vertreter des BStU bereits bei dieser ersten Begegnung auf Unverständnis und mangelnde Akzeptanz stieß. Der Vertreter des BStU äußerte im Gespräch »[…] was hier gemacht werde, bestimme er«.210 Um der Haltung des BKL auch formal Nachdruck zu verleihen, wandte sich das BKL Ende des Jahres 1995 an das Sächsische Landesamt für Denkmalpflege. Es legte seine Vorstellungen zum Erhalt der historischen Bausubstanz in der »Runden Ecke« dar und brachte den Wunsch vor, den Denkmalwert des Gebäudes feststellen zu lassen, um die geplanten Eingriffe des BStU zumindest denkmalpflegerisch eindämmen zu können.211 »Die Ausstellung und vor allem die Reaktionen der Besucher gaben uns Anlass die Originalität dieser Räumlichkeiten weitgehend zu erhalten. Dadurch prägt sich das dokumentarisch zu vermittelnde Wissen auch über andere Sinnesorgane ein. Scherengitter, Eisentüren bis hin zum originalen Fußbodenbelag erhalten den ausgestellten Dokumenten und Objekten das Umfeld, aus welchem sie stammen und bleiben somit lebendiger und glaubwürdiger. […] Für das Verstehen sind die originalen Rahmenbedingungen von unschätzbarer Bedeutung«,
argumentierte das BKL und bat zu prüfen, inwiefern eine komplette Unterschutzstellung der kompletten Ausstellungsräume einschließlich des Eingangsbereiches »Runde Ecke« möglich sei.212 Da es zu diesem Zeitpunkt noch keine denkmalschutzrechtlichen Festlegungen bezüglich der »Runde Ecke« gab, lediglich das Außengebäude als Kulturdenkmal der Stadt erfasst war, und da Unklarheit herrschte, inwiefern Inneneinrichtungen
208 209 210 211
Schreiben des BStU an das BKL e.V. vom 23.02.1995, ArBKL, BStU 1995/1996. BKL e.V.: Gedächtnisprotokoll vom 30.03.1995, ArBKL, BStU 1995/1996. Ebd., S. 2. Schreiben des BKL e.V. an das Landesamt für Denkmalpflege vom 11.12.1995, ArBKL, BStU 1995/1996. 212 Ebd.
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ebenfalls geschützt werden dürften, bat das LfD das BKL um Zuarbeit.213 Das angeforderte Gutachten lieferte das BKL im Januar 1996. Darin stellte das BKL u.a. Vergleiche zur Gedenkstätte »Topographie des Terrors« auf dem Gelände des ehemaligen Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) der NSDAP in Berlin her.214 Fehler, wie die Einebnung der Ruinen des RSHA 1956 in der DDR unter Ulbricht, dürften bei der BVSt Leipzig nicht wiederholt werden, appellierte das BKL eindringlich.215 Dass diese geschichtspolitisch ambitionierte Analogisierung von RSHA und BVSt sowohl in Anbetracht der historischen Dimension und Bedeutung (Gestapo ungleich DDR-Staatssicherheit) als auch ihrem Schicksal nach (Sanierung in der BRD ungleich Einebnung in der DDR) nicht zutraf, spielte dabei keine Rolle, solange der Zweck die Mittel zu heiligen schien. Auch vor Übertreibungen machte das BKL nicht Halt, so führte es aus, bei der ehemaligen BVSt handle es sich um ein »waffenstarrendes Gebäude, an dem vierzig Jahre lang beim Vorbeigehen jedes Gespräch verstummte, [und das] im Herbst 1989 von den Leipzigern friedlich in Besitz genommen [wurde]«.216 Bereits Mitte Dezember 1995 teilte der BStU dem BKL mit, dass er neben den Sanierungsmaßnahmen auch plane, den Nutzungsvertrag von September 1990 durch einen neuen Mietvertrag zu ersetzen, sodass u.a. zukünftig Mietkosten drohten.217 Wenige Wochen später informierte der BStU, dass die Abrisse der hofseitigen Anbauten auch die bisher vom BKL genutzten Bereiche betreffen (d.h. mit einer Dezimierung der Ausstellungsfläche zu rechnen war) und der bisher allein vom BKL museal genutzte Eingangsbereich fortan von der Behörde des BStU mitgenutzt werde. Während Vertreter des BStU argumentierten: »Es könne nicht angehen, dass die Besitzer eines Hauses nicht ihren Eingang benutzen dürften, sondern das Gebäude nur über den Hintereingang betreten könnten«, hielt das BKL dagegen: »[…] dass es nicht nur rein praktisch (völlig andere Dienstzeiten, scharf geschaltete Türen u.a.) für uns unvorstellbar sei, vor allem aber politisch, da wir unseren Museumsbesuchern nur schwer verständlich machen könnten, dass sie diese Ausstellung nur unter den Augen von Kameras und ähnlichen Dingen betreten können […]«.218
Zudem legte das BKL Wert darauf, dass für Besucher die Eigenständigkeit des BKL als Träger des Museums erkennbar bleibe, was durch einen gemeinsamen
213 Leipziger Amtsblatt von August 1995, Nr. 17, ArBKL, BStU 1995/1996; Schreiben des LfD an das BKL e.V. vom 12.12.1995, ArBKL, BStU 1995/1996. 214 BKL e.V.: Denkmaleigenschaft der »Runden Ecke« als Zeitdokument zur 40-jährigen SED-Diktatur in der DDR, Januar 1996, ArBKL, BStU 1995/1996. 215 Ebd. 216 Ebd. 217 BKL e.V.: Entwicklung der Baumaßnahmen im Bereich des Museums in der »Runden Ecke«, o.D., ArBKL, BStU 1995/1996 218 BKL e.V.: Gedächtnisprotokoll vom 06.01.1996, S. 2, ArBKL, BStU 1995/1996; siehe auch BStU: Gesprächsnotiz vom 08.01.1996, ArBKL, Baumaßnahme durch BStU – Schriftverkehr 1995/1996.
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Eingang nicht mehr gewährleistet sei.219 Da das BKL den Eingangsbereich als zusätzliche Ausstellungsfläche genutzt hatte, wollte es darüber hinaus weitere Ausstellungsflächenverluste vermeiden.220 Es erwartete vom BStU »[…] entsprechend unserem Nutzungsvertrag vom September 1990 §8 eine einvernehmliche, schriftliche Regelung […]«.221 Obwohl die Vertreter des BStU nicht müde wurden dem BKL zu beteuern, dass die historische und politische Bedeutung der Ausstellung und die Arbeit des BKL unbestritten sei, und auch keinerlei Interesse daran bestehe, dies zu ändern, hatten die angekündigten Maßnahmen für das BKL massive Verluste (räumlich und ideell) und Belastungen (kostenmäßig) zur Folge.222 Und auch eine Befürchtung des BKL, dass diese Veränderungen neben dem Einbüßen an Authentizität zudem Symbolverluste mit sich brachten, war nicht von der Hand zu weisen, stand doch das Image der »Hausbesetzer« zur Disposition. Daher betonte das BKL bei Bau bezogenen Besprechungen immer wieder: »Wir müssen gegen jede Verringerung und Veränderung an der Originalität kämpfen, denn der Erhalt von originalen Fundstücken am originalen Ort macht den Wert des Museums aus. Daraus ergeben sich zwangsläufig unterschiedliche Interessen. Wir würden um unsere kämpfen.«223 Dementsprechend boykottierte das BKL den Austausch alter Heizkörper, Leitungen, Fenster, Bodenbeläge usw. und forderte von der Behörde des BStU alternative Ausstellungsflächen bzw. Ersatz. Diese Forderung lehnte der BStU ab: »Für die in diesem Zusammenhang wegfallenden Räume kann ich Ihnen leider keine Ersatzräume anbieten, da mir nach dem 31.12.1998 zur Unterbringung meiner Außenstelle nur noch der Altbau zur Verfügung steht.«224 Darüber hinaus hielt der BStU an seinen Plänen zur Mitnutzung des Eingangsbereiches und an einer Begrenzung des Mietbereiches des BKL fest, mit der Begründung, dass auf diese Weise mehr Bürgerfreundlichkeit und -nähe erreicht werde.225 In einem eigenen Konzept entwickelte das BKL daraufhin im Frühjahr 1996 seine eigenen Vorstellungen zur Instandsetzung der »Runden Ecke«. An der Gültigkeit des Vertrages mit dem Staatlichen Komitee vom September 1990 wurde festgehalten und die in den vergangenen Jahren vollzogene Etablierung des Museums in der »Runden Ecke« als Ort des Erinnerns besonders hervorgehoben. »Dieser Bereich muss in seiner Gesamtheit im Zustand der Epoche ›40 Jahre DDR‹ erhalten bleiben«, lautete die Forderung.226 Diesen Prämissen folgend, empfahl das Papier, den gesamten Eingangsbereich, den Fußbodenbelag, die alten Heizkörper und Leitungen, die Fenster mit (Scheren-)Gittern, die originale Farb-
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Ebd., S. 2. Schreiben des BKL e.V. an den BStU vom 20.02.1996, ArBKL, BStU 1995/1996. Ebd. BKL e.V.: Gesprächsnotiz vom 22.01.1996, ArBKL, BStU 1995/1996. Ebd., S. 2. Schreiben des BStU an das BKL e.V. vom 24.01.1996, ArBKL, BStU 1995/1996. Ebd., S. 2. BKL e.V.: Vorstellungen über die Inneninstandsetzung der von uns genutzten Räume (Museum in der »Runden Ecke«) vom 30.05.1996, ArBKL, BStU 1995/1996.
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gebung und die Treppe am Ende des Ganges seien zu erhalten.227 Es wurde keinerlei Veränderung und Eingriff in die historische Bausubstanz zugelassen, das Papier sah vor, alles so zu belassen, wie es war. Das Konzept war also eher eine »Totalverweigerung«. Dies war auch im Sinne des LfD, das eine Abschrift erhalten hatte und dem BKL umgehend bescheinigte, »[…] die vom Bürgerkomitee erarbeiteten Vorstellungen über die Inneninstandsetzung […] werden vom Landesamt für Denkmalpflege mitgetragen. […] Bei entsprechender Abstimmung und Zusammenarbeit müssten die Vorstellungen des Bürgerkomitees in vollem Umfange umsetzbar sein«.228 Damit schien ein Teilziel des BKL im Sinne des Denkmalschutzes und im Sinne des Erhaltes des historischen Ortes als Erinnerungsort erreicht, nämlich die uneingeschränkte Unterstützung der hierfür zuständigen Fachbehörde. In dem Maße wie das BKL die Bauarbeiten fortan weiterhin inhaltlich wie auch substanziell boykottierte, fing aber auch der BStU an im Laufe des Sommers 1996, Absprachen, vertragliche Regelungen und Auflagen zu ignorieren, wenn nicht gar äußerst »phantasiervoll« zu interpretieren. So wurde die Behauptung aufgestellt, das denkmalpflegerische Gutachten empfehle den Einbau einheitlicher neuer Fenster.229 Dabei folgte das Gutachten in Wirklichkeit inhaltlich – ja zum Teil sogar wortwörtlich den Vorstellungen des BKL.230 Dann wieder wurde das BKL einfach zur sofortigen Räumung der »Runden Ecke« aufgefordert, unter Umgehung vertraglich geregelter Kündigungsfristen.231 Erst nachdem das BMI die Gültigkeit des Nutzungsvertrages geprüft hatte, lenkte der BStU ein und bot er als Ersatz für den inzwischen erlittenen Raumverlust Ausweichfläche zur Lagerung von Magazinsachen an: »Als Nutzungsausgleich bekommen Sie das Angebot, im Saalbau Stellwände zu stellen und bekommen dort Stauraum.«232 Nur drei Tage später, am 20. September 1996 kündigte der BStU den Nutzungsvertrages Nr. 27-09/90 nach sechsjähriger Laufzeit.233 Und vom neuen Hausrecht gleich Gebrauch machend, beschränkte der BStU die Teilnutzung des Saalbaus nun auf die Sanierungszeit und forderte er das BKL auf, einen Zugangsschlüssel zu hinterlegen, sodass die Bauarbeiten jederzeit und ohne vorzeitige Anmeldung erfolgen konnten.234 Da der BStU-Vertreter nur für die durch Abriss wegfallenden Räume zeitlich begrenzten Ersatz anbot, und keinen
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Ebd. Schreiben des LfD Sachsen an das BKL e.V. vom 10.06.1996. BKL e.V.: Gedächtnisprotokoll vom 28.08.1996, ArBKL, BStU 1995/1996. Denkmalschutzrechtliche Stellungnahme des Regierungspräsidiums Leipzig vom 27.08.1996, ArBKL, BStU 1995/1996; BKL e.V.: Gedächtnisprotokoll vom 17.09.1996, ArBKL, BStU 1995/1996. BKL e.V.: Gedächtnisprotokoll vom 28.08.1996, ArBKL, BStU 1995/1996; BStU: Protokoll der Besprechung zwischen dem Bürgerkomitee Leipzig und dem BStU in der Außenstelle des BStU Leipzig am 28.08.1990, ArBKL, BStU 1995/1996. BStU-Vertreter B. z.n. BKL e.V.: Gedächtnisprotokoll vom 17.09.1996, ArBKL, BStU 1995/1996, S. 3. Schreiben des BStU an das BKL e.V. vom 20.09.1996, ArBKL, BStU 1995/1996. Schreiben des BStU vom 25.09.1996, S. 2, ArBKL, BStU 1995/1996.
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neuen Nutzungs- bzw. Mietvertrag unterbreitete, kam dies im Grunde genommen einem »Rausschmiss auf Raten« gleich.235 Dies ließ das BKL nicht auf sich sitzen und widersprach: »Bei Abschluss des Vertrages 27-09/90 im September 1990 gingen die Parteien davon aus, dass eine ordentliche Kündigung nicht möglich ist. Daran dürfte sich bis heute nichts geändert haben. […] Sicher werden Sie […] verstehen, dass wir Gewissheit brauchen, in der Folgezeit die verbleibenden Flächen ausschließlich zu unserer Nutzung zur Verfügung zu haben. Die von Ihnen offenbar verfolgte Möglichkeit einer Teilkündigung sieht der o.g. Vertrag im Übrigen nicht vor. […].«236
Die vom BStU angekündigten Maßnahmen – so auch die Nutzung des Eingangsbereiches als Notausgang während der Bauarbeiten – wurden abgelehnt. Nur unter der Bedingung, dass dem BKL das Angebot gemacht werde, alle bisher genutzten Restflächen unverändert weiternutzen zu können wie bisher, wurde der Reduzierung der Ausstellungsfläche durch Abriss der Anbauten zugestimmt.237 Und zum Eingangbereich ließ es unmissverständlich wissen: »Die Nutzung […] ist […] ausschließlich für Zwecke des Bürgerkomitees vorgesehen. […] Die Gestaltung des Eingangsbereiches ist integraler Bestandteil der Ausstellung.«238 Der BStU zog seine Kündigung zwar nicht zurück, bot aber nun »[…] den Abschluss eines neuen Mitvertrages […] beginnend am 01.03.1997« an.239 Als Begründung wurde angegeben: »Ich bekenne mich ausdrücklich zum Standort ihrer Einrichtung, muss allerdings mit Blick auf die Arbeitsfähigkeit meiner Außenstelle einige Rahmenbedingungen neu definieren.«240 Hierzu gehörte das erstmalige Erheben von monatlichen Mietnebenkosten (bis dato war das BKL von allen Nutzungskosten befreit gewesen) sowie das Überlassen des Eingangsbereiches der »Runden Ecke« (bis dahin vom BKL als Ausstellungsfläche genutzt) an den BStU als sein künftiger Haupteingang.241 Um in der Sache voranzukommen wurde nun gedroht: »Für den Fall einer weiteren generellen Verweigerung der Baufreiheit mache ich Sie darauf aufmerksam, dass Sie [das BKL] die daraus entstehenden Kosten in Höhe von 5000 DM täglich zu tragen haben.«242 Damit wurde dem BKL das Messer direkt auf die Brust gelegt.
235 Schreiben des BStU vom 25.09.1996, ArBKL, BStU 1995/1996; Nutzungsüberlassung zwischen der BRD vertreten durch das BMI und dem BKL e.V. [Entwurf], o.D., ArBKL, BStU 1995/1996. 236 Schreiben des BKL e.V. an den BStU vom 22.10.1996, ArBKL, BStU 1995/1996. 237 Ebd. 238 Ebd. 239 Schreiben des BStU an das BKL e.V. vom 20.11.1996, ArBKL, BStU 1995/1996. 240 Ebd. 241 Ebd., Anlage: Entwurf eines Mietvertrages zwischen BRD vertreten durch das BMI und BKL e.V. , S. 3, 5. 242 Schreiben des BStU an das BKL e.V. vom 25.11.1996, ArBKL, BStU 1995/1996.
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Den Mietvertragsentwurf und die darin gefassten Konditionen nahm das BKL dennoch nicht hin. So waren die monatlichen Betriebskostenzahlungen eine Bedrohung für die eigene Existenz und wurde die Umnutzung des Eingangsbereiches als Haupteingang des BStU als zusätzliche Ausstellungsverkleinerung zurückgewiesen.243 Die Komplettmodernisierung der Museumsausstattung wurde beharrlich verweigert: »Die Bürger konnten bis jetzt fast ungetrübt den originalen Eindruck wahrnehmen. Das sollte man nicht leichtfertig aufgeben.«244 Noch vor Ablauf des Jahres legte das BKL erneut Einspruch ein: »Wir weisen die Kündigung unter Verweis auf §§7 und 8 des Nutzungsvertrages 27-09/90 zurück. Eine ordentliche Kündigung kommt demnach nicht in Betracht. Die vertragsschließenden Parteien gingen seinerzeit übereinstimmend davon aus, eine vertragliche Regelung zu treffen, die die Nutzung der Räumlichkeiten auf Dauer – auch unabhängig von einem Besitzerwechsel – gewährleistet.«245
Darüber hinaus gab das BKL seiner Verwunderung Ausdruck, dass die Planungen des BStU im krassen Widerspruch stünden zur Anerkennung des Museums, und dass die Rechtsposition des BKL durchweg ignoriert werde.246 Es dachte also nicht daran, dem BStU das Herzstück der Ausstellung – nämlich den Eingangsbereich – abzutreten. Der anhaltende Protest schlug sich schließlich auch in der Ausstellungsgestaltung im Eingangsbereich nieder. So wurden Ende 1996 Holzpodeste installiert, um so die verfügbare Ausstellungsfläche erst einmal zu vergrößern. Und neben den bisher gezeigten Tafeln zur Auflösung der Staatssicherheit wurden nun zusätzliche Tafeln aufgestellt, die die »Runde Ecke« nicht nur als »authentischen Ort der friedlichen Revolution« und »Bastion des Leipziger Bürgerkomitees« markierten, sondern die darüber hinaus die »Runde Ecke« als »historischen Ort« thematisierten, den es insgesamt zu bewahren galt.247 Durch diesen Widerstand auf verschiedenen Ebenen gegen den BStU hatte das BKL tatsächlich Erfolg. So räumte der zuständige Direktor des BStU ein, dass der Nutzungsvertrag prinzipiell fortbestehen könne und er nur ergänzt werde durch eine gemeinsame Vereinbarung, die dann eben zu berücksichtigen habe, dass es sich bei den Räumlichkeiten um ein zeithistorisches Museum handele.248 Die Mitnutzung des Eingangsbereiches durch den BStU sollte durch ein Durchgangsrecht gewährleistet werden, welches die dortige Ausstellung nicht stören dürfe.249 Am 15. Januar
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BKL e.V.: Gesprächs-/Telefonprotokoll vom 25.11.1996, ArBKL, BStU 1995/1996. BKL e.V.: Gedächtnisprotokoll vom 26.11.1996, ArBKL, BStU 1995/1996. Schreiben des BKL e.V. an den BStU vom 14.12.1996, ArBKL, BStU 1995/1996. Ebd.; BKL e.V.: Konzeption für das Gespräch mit dem Direktor des BStU am 15.01.1997, ArBKL, Ausstellungserhalt, Baumaßnahme durch BStU – Schriftverkehr 1997 [BStU 1997]. 247 BKL e.V.: Tätigkeitsbericht für das Jahr 1996, S. 2, ArBKL, Finanzen 1996-1997, Zuwendungen Stadt Leipzig institutionelle Förderung [Finanzen 1996-1997]. 248 BKL e.V.: Verlaufsprotokoll vom 23.01.1997, S. 3, ArBKL, BStU 1997. 249 Ebd., S. 5.
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1997, also nach zweijährigem Interessenkonflikt zwischen BStU und BKL wurde vereinbart, dass das Haus als historischer Ort in seiner authentischen Bausubstanz zu erhalten sei und der BStU fortan das BKL hierin unterstützen werde: »In original erhaltenen Räumen zeigt das Bürgerkomitee Leipzig e.V. eine ständige zeitgeschichtliche Ausstellung über Methoden und Arbeitsweisen der Staatssicherheit. Der BStU unterstützt dies, insbesondere durch den Erhalt der Authentizität der vom Bürgerkomitee Leipzig e.V. genutzten Räume.«250 Bezüglich des Eingangsbereiches wurde festgelegt: »Der BStU hat kein Interesse an einem repräsentativen Haupteingang, besteht jedoch auf einen Eingang von der Straße aus, wenn der bisherige Eingang über den Saalbau nicht mehr zur Verfügung stehen wird. Das Bürgerkomitee Leipzig e.V. gewährt dem BStU dann ein privatrechtliches Durchgangsrecht durch den Eingang ›Runde Ecke‹. Der BStU nimmt keinen Einfluss auf die Gestaltung der Ausstellung im Eingangsbereich.«251
Damit hatte sich das Bürgerkomitee durchgesetzt und seine 1989/1990 erworbenen »Hausrechte« erfolgreich verteidigt bzw. den Erhalt der »Runden Ecke« als Museum erreicht. Jede zukünftige Veränderung und unerwünschte Entwicklung konnte das BKL fortan unter Verweis auf diese Festlegungen abwehren. Es hatte den Anschein, als sei der Konflikt im Interesse des BKL gelöst worden. Dass Versuche, die Rechte und Tätigkeiten sowie die Raumsituation des Bürgerkomitees nachträglich zu beschneiden dennoch nicht endeten, zeigen die Auseinandersetzungen, die im Anschluss folgten und weitere zwei Jahre, d.h. bis ins Jahr 1999 andauerten. Kaum war die Ausstellungsarbeit des BKL über die Vereinbarung mit dem BStU im Sinne des BKL geregelt, ließ sich beispielsweise das StHA der Stadt Leipzig bescheinigen, dass die städtischen Brandschutzbestimmungen nicht eingehalten seien.252 Und um Baumaßnahmen doch so durchzuführen, wie ursprünglich vorgesehen, schob der BStU nun bestehende Sicherheitsauflagen vor.253 Um sich gegen diese bürokratischen Argumente zur Wehr zu setzen, zog das BKL erneut die Denkmalpflege sowie alternative Bauplaner/Sachverständige zu Rate. Das BKL wandte sich wiederholt an das Regierungspräsidium, um von der dort angesiedelten Denkmalschutzbehörde Unterstützung für den Erhalt des Ortes
250 BStU: Ergebnisprotokoll über das am 15.01.1997 von 14:00 Uhr bis 16:30 Uhr stattgefundene Gespräch zischen dem BStU und dem Bürgerkomitee Leipzig e.V., S. 1 (Präambel), ArBKL, BStU 1997. Unterschrieben und damit vertraglich verbindlich wurde das Protokoll am 26.02.1997 vom BStU und vom BKL e.V.; BKL. e.V.: Ergebnisprotokoll vom 15.01.1997, ArBKL, BStU 1997. 251 Ebd., S. 2. 252 Schreiben der Stadt Leipzig/Brandschutzamt an das StHA Leipzig I vom 22.05.1997, ArBKL, BStU 1997; Schreiben des BKL e.V. an den BStU vom 24.06.1997, ArBKL, BStU 1997. 253 Zahlreiche Gesprächprotokolle und Schriftwechsel liegen hierzu vor, aus denen dies zweifelsfrei hervorgeht, so. u .a. Schreiben des BStU an das BKL e.V. vom 10.09.1997, S. 2, ArBKL, BStU 1997.
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als zeithistorisches Dokument zu bekommen.254 Auch gab es ein technisches Gutachten in Auftrag, das bescheinigte, dass die denkmalschutzgerechten Alternativen des BKL möglich und sinnvoll seien.255 Begründet wurde das Engagement mit den Worten: »Um den Erhalt der originalen Räumlichkeiten bemühen wir uns nicht privat, sondern für die Öffentlichkeit und somit schlussendlich für die Bundesrepublik Deutschland.«256 Nur unter der Voraussetzung, dass die Mehrkosten vom BKL zu tragen seien und die denkmalgerechte Sanierung nur in den BKL-Räumen stattfinde, lenkte der BStU schließlich auf Basis dieses Sachverständigengutachtens im November 1997 ein.257 Am Ende des Jahres 1997 bilanzierte das BKL trotzdem pessimistisch: »Das Museum in der ›Runden Ecke‹ befindet sich am ›historischen Ort‹ im Gebäude der ehemaligen Bezirksverwaltung für Staatsicherheit. Somit sind die Ausstellungsräume und ihre originale Einrichtung selbst zum Ausstellungsobjekt geworden. Dies galt es gegen alle Sanierungsvorhaben zu schützen. Die Einsicht des Bauherren, dass das Bürgerkomitee Leipzig mit dem Kampf um den Erhalt der Authentizität dieser Räume einen wichtigen gesellschaftlichen und für die Aufarbeitung der DDR-Diktatur notwendigen Beitrag leistet, erreichten wir kaum oder gar nicht.«258
Ab Frühjahr 1998 sah sich das BKL aufgrund dieser »Nadelstichpolitik« schließlich veranlasst, einen Rechtsanwalt einzuschalten.259 Er sollte den BStU dazu bringen, die mehr als ein Jahr zuvor abgeschlossene Vereinbarung endlich einzuhalten. Unterstützung erhielt es weiterhin vom LfD, das dem BKL bescheinigte, dass seine Entwurfsplanung »[…] in einem hohen Maße dem denkmalpflegerischen Anliegen eines weitgehenden Erhaltes der für die Innenarchitektur prägenden Elemente gewährleistet […]«.260 Erst nachdem das BKL auf diese Weise den Druck auf den BStU erhöhte, gab er im Mai 1998, d.h. nach mittlerweile drei Jahren nach und akzeptierte er die Belange des BKL: »Ich gehe nunmehr davon aus, dass mit der Realisierung der vorge-
254 Schreiben des BKL e.V. an das Regierungspräsidium Leipzig vom 18.09.1997, ArBKL, BStU 1997; Schreiben des Regierungspräsidiums Leipzig an den BStU vom 18.09.1997, ArBKL, BStU 1997; Schreiben des BKL e.V. an das Regierungspräsidium Leipzig vom 26.02.1998, ArBKL, Ausstellungserhalt, Baumaßnahme durch BStU – Schriftverkehr 1998 I [BStU 1998 I]. 255 BKL e.V.: Gedächtnisprotokoll vom 29.09.1997, ArBKL, BStU 1997; Schreiben des BKL e.V. an den BStU vom 13.10.1997, ArBKL, BStU 1997. 256 Ebd., S. 4. 257 Schreiben des BKL e.V. an das Regierungspräsidium Leipzig vom 26.02.1998, ArBKL, BStU 1998 I. 258 BKL e.V.: Tätigkeitsbericht für das Jahr 1997, S. 1-2, ArBKL, Finanzen 1998-1999, Zuwendungen Stadt Leipzig institutionelle Förderung [Finanzen 1998-1999]. 259 Schreiben der RA O.R. an den BStU vom 12.03.1.998, ArBKL, BStU 1998 I; Schreiben der RA O.R. an den BStU vom 06.04.1998, ArBKL, BStU 1998 I. 260 Schreiben des Regierungspräsidiums Leipzig an das BKL e.V. vom 12.03.1998, ArBKL, BStU 1998 I.
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nannten Maßnahme eine für beide Seiten akzeptable Lösung gefunden wurde.«261 Der BStU setzte jetzt verstärkt auf »friedliche Koexistenz« in der »Runden Ecke«. Die »friedliche Koexistenz« hielt nicht lange an.262 So weigerte sich das BKL ab Juni 1998, das vertraglich zugesicherte Durchgangsrecht sowie die Nutzung des Haupteinganges als Fluchtweg bzw. Notausgang zuzugestehen.263 Während der BStU bestritt, dass es dadurch zu einem tiefen Eingriff in die Ausstellung komme, monierte das BKL, durch die Öffnung einer zum BStU-Flur führenden Doppelflügeltür im Treppenhaus werde genau dieses passieren. Aus Sicht des BKL wog die bequeme Erreichbarkeit der BStU-Außenstelle weniger als ein störungsfreier Ausstellungsbetrieb. Mit den Worten: »Ihre [BStU] strikte Ablehnung der Benutzung der rechten Seitentür mit der Begründung, es sei ›völlig inakzeptabel‹ ihren ›Mitarbeitern einen Durchgang über die rechte Seitentür […] zuzumuten‹, zeigt, dass Sie die Wertigkeit der Außenstelle Ihrer Behörde weit über der des Museums in der ›Runden Ecke‹ ansetzen«, brachte das BKL sein Unverständnis hierüber zum Ausdruck.264 Dem BKL ging es beim Streit um das Nutzungsrecht – besonders da die »Runde Ecke« als eine Gedenkstätteneinrichtung von bundesweiter Bedeutung zunehmend anerkannt wurde – nun erst recht darum, den Ort auch symbolisch weiterhin »zu besetzen«: »Die Fläche [im Eingansbereich] ist der Blickfang für den Besucher, der dieses bis 1989 hermetisch verschlossene Gebäude betritt. Die Installation mit dem groß dimensionierten Kerzenfoto und dem originalen Transparent ist an keiner anderen Stelle der Ausstellung zu präsentieren ohne ihre Aussagekraft zu verlieren.«265
Das Arrangement im Eingangsbereich suggerierte nämlich, dass es während der Montagsdemonstration durch diesen Eingang eine spontane Besetzung der »Runden Ecke« von Bürgern gegeben habe. D.h., es wurde in diesem Bereich der Ausstellung eine historische Situation konstruiert, die mit den tatsächlichen historischen Abläufen nur wenig gemeinsam hatte, um die »Runde Ecke« symbolisch aufzuwerten.266 Insofern wurden im Eingangsbereich weniger historisch-wissenschaftlich
261 Schreiben des BStU an die RA O.R. vom 20.05.1998, ArBKL, BStU 1998 I; s. u .a. BStU: Gesprächsnotiz zur Besprechung am 07.04.1998 im Bürgerkomitee Leipzig, S. 2, ArBKL, BStU 1998 I; Schreiben des BStU an das BKL e.V. vom 29.04.1998, ArBKL, BStU 1998 I. 262 Schreiben des BStU an das BKL e.V. vom 30.06.1998, ArBKL, BStU 1998 I. 263 Schreiben des BStU an das BKL e.V. vom 03.07.1998, ArBKL, BStU 1998 I; Schreiben des BKL e.V. an den BStU vom 23.07.1998, ArBKL, BStU 1998 I; Schreiben des BKL e.V. an den BStU vom 30.09.1998, ArBKL, BStU 1998 II. 264 Ebd., S. 2. 265 Schreiben des BKL e.V. an den BStU vom 30.09.1998, ArBKL, BStU 1998 II. 266 Es wurde bereits dargestellt, dass die »Runde Ecke« nicht durch den Eingang im Altbau, sondern durch den Neubau erstmals von einzelnen Abgesandten des NF begangen wurde, und dies auch nicht während der Leipziger Montagsdemonstration, sondern im
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einwandfreie Informationen vermittelt, als vielmehr starke Symbole gesetzt, die die BKL-spezifische Perspektive auf die Ereignisse des Herbstes 89’ stützten. Das BKL nutzte schließlich die Gelegenheit, im Rahmen der EnqueteKommission über die denkmalpflegerische Situation in der »Runden Ecke« nunmehr auch öffentlich zu informieren, auch um Unterstützung und Fürsprecher zu gewinnen. In der Stellungnahme des BKL für den Bericht der Enquete-Kommission nahm daher der Konflikt zwischen BStU und BKL um die »Runde Ecke« breiten Raum ein. Das BKL widmete dieser Thematik ein ganzes Kapitel.267 Über die Enquete-Kommission wandte es sich direkt an den Bundestag: »Damit Lernen und Erfahren am originalen Ort auch zukünftig authentisch möglich bleibt, müssen die Ausstellungsräumlichkeiten, einschließlich des Eingangsbereiches ›Runde Ecke‹, in originaler Form erhalten bleiben. Diese Forderung steht einer kompletten Sanierung des gesamten Gebäudes nach modernsten Gesichtspunkten entgegen. Derzeit muss um jede Steckdose, um jeden Heizkörper gekämpft werden.«268
Und im Schlussplädoyer wurde bekräftigt: »Die Verwaltungsmitarbeiter des BStU bringen dem Anliegen des originalen Erhaltes der Räume keinerlei Verständnis oder gar Sympathie entgegen. Sie unterlaufen die originale Erhaltung wo es nur geht. Hier ist der Gesetzgeber dringend gefordert […]. […] Darüber hinaus sollte der Gesetzgeber Regelungen erarbeiten, die gewährleisten, dass die noch original vorhandenen Täterorte erhalten bleiben und als Gedenkorte zur Verfügung stehen. In den letzten Jahren sind schon zu viele dieser Zeugnisse abgerissen oder bis zur Unkenntlichkeit saniert worden.«269
Es brauche also ein deutliches Signal »von oben«, um den Bestand zu schützen. Freilich ignorierte das BKL alle bisherigen Verhandlungsergebnisse und wurde stattdessen eine kompromisslose »Vernichtung von oben« suggeriert. Das Ziel jedoch, in den Rang einer erhaltenswerten Einrichtung gehoben zu werden und deshalb mehr unterstützt zu werden als bisher, verfehlte der Bericht nicht. So erkannte die Enquete-Kommission in ihrem Abschlussbericht das bisherige Wirken des BKL in der »Runden Ecke« an:
Einklang mit der Regierung bereits davor, am Nachmittag des 04. Dezember 1989. Hinzu kam, dass die Transparente, die sich speziell auf die »Runde Ecke« bezogen, vereinzelt für die eine Woche später angesetzte Montagsdemonstration von Beamten der BDVP angefertigt worden waren, vgl. Langner, Hans-Ulrich: »Das singende Pferd«, in: Horch und Guck 23 (1998), S. 53 Auch wenn die Herkunft der in der Ausstellung gezeigten Banner offen ist, reicht diese Information aus, um die Tauglichkeit kritisch zu hinterfragen bzw. um auf die »Zerbrechlichkeit« der gesetzten Symbole hinzuweisen. 267 Vgl. Hollitzer, Tobias: »Der Rollen- und Funktionswandel«, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 7, 1999), S. 394f. 268 Ebd., S. 395. 269 Ebd., S. 425-426; s. hierzu u.a.a. Hollitzer, Tobias: »Die Staatssicherheit im Museum«, in: Deutschland Archiv 2 (1997), S.259f.
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»In diesem Zusammenhang ist auch die Arbeit des Museums in der ›Runden Ecke‹ Leipzig von besonderer Bedeutung. Nach der Besetzung der MfS-Bezirksverwaltung […] erarbeitete das Bürgerkomitee Leipzig eine umfassende Dokumentation der Verfolgungsmaßnahmen des MfS aus Sicht von Betroffenen. Die ›Runde Ecke‹ ist heute mit ihrer Dokumentation und ihrem Angebot an Seminaren und Vorträgen weit über Leipzig hinaus ein fester Bestandteil der Aufarbeitung der Arbeit des MfS geworden.«270
Darüber hinaus empfahl die Enquete-Kommission eine finanzielle Förderung des Museums in der »Runden Ecke« durch den Bund.271 Ende Juni 1998, also nur wenige Wochen nachdem bereits geschlichtet worden war, drohte nun der BStU mit Einschalten des Gerichts, um das Problem zu lösen.272 Das BKL hingegen forderte unterdessen vom BStU Schadensersatz für die durch Bauarbeiten notwendig gewordene Baustaubreinigung der Museumsräume/bestände,273 und warf dem BStU – auf die Ergebnisse der 2. Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages Bezug nehmend und die bisherige Argumentation bei weitem übertreffend – jetzt vor, es würde einen historischen Ort von gesamtstaatlicher Bedeutung mutwillig zerstören: »Sie haben zu berücksichtigen, dass es sich hierbei um einen Ort der demokratischen Erinnerungskultur in der Bundesrepublik Deutschland handelt. Da dieser Aspekt bei der Bauplanung für die Etagen Ihrer Behörde keinerlei Berücksichtigung fand, haben Sie unsere Anstrengungen, diesem Anliegen gerecht zu werden, nicht nur zu dulden, sondern zu unterstützen.«274
Es machte zudem klar, dass es erst dann wieder an eine Kooperation dachte, wenn der BStU die Vereinbarungen vom 15. Januar 1997 einhielte275 und deutete an, es werde künftig den BStU bei Behinderungen im Museumsbetrieb haftbar machen.276 Aber der BStU dachte nicht daran, die Forderungen des BKL zu erfüllen. Die Kostenübernahme für die Staubbegutachtung und -reinigung wurde erst einmal kategorisch abgelehnt, den konkreteren Forderungen zu einzelnen Baumaßnahmen wurde entgegnet: »Wir sind weiterhin bemüht die getroffenen Feststellungen des Einigungsprotokolls zu erfüllen. Allerdings kann ›Einvernehmen‹ nicht einseitig
270 271 272 273
Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 1, 1999), S. 611. Ebd., S. 642. Schreiben des BStU an das BKL e.V. vom 30.06.1998, ArBKL, BStU 1998 I. Begutachtungsprotokoll vom 05.08.1998, ArBKL, BStU 1998 I; Schreiben des BKL e.V. an den BStU vom 13.08.1998, ArBKL, BStU 1998 I; Schreiben des BKL e.V. an den BStU vom 08.09.1998, ArBKL, BStU 1998 I. Es wurden dem BStU 2.239,56 DM für Schadensgutachten, Fotodokumentation und Grobreinigung in Rechnung gestellt, vgl. Schreiben des BKL e.V. an den BStU vom 08.09.1998, ArBKL, BStU 1998 I. 274 Schreiben des BKL e.V. an den BStU vom 30.09.1998, ArBKL, BStU 1998 II. 275 Schreiben des BKL e.V. an den BStU vom 30.09.1998, S. 3-4, ArBKL, BStU 1998 II; Schreiben des BKL e.V. an den BStU vom 25.10.1998, ArBKL, BStU 1998 II. 276 Schreiben des BKL e.V. an den BStU vom 16.10.1998, ArBKL, BStU 1998 II.
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interpretiert werden.«277 Schließlich schaltete sich sogar Gauck persönlich in den Streit zwischen seiner Behörde und dem BKL ein: »Wenn sich zwei Institutionen wie das Bürgerkomitee und der BStU, die sich beide den Belangen der Betroffenen der SED-Diktatur verpflichtet fühlen, nicht einigen können, sondern ggf. auf gerichtliche Hilfe angewiesen sind, so ist dies für die Öffentlichkeit das falsche Signal«, rief er beide Seiten zur Räson.278 Am 11. Dezember 1998 besuchte Gauck die »Runden Ecke«, um zwischen den Streitparteien zu vermitteln und erreichte tatsächlich eine Einigung.279 BStU und BKL verständigten sich darauf, dass dem BStU ein Durchgangsrecht durch den Haupteingang eingeräumt werde. Die Behördenräume sollten dann von dort durch eine Seitentür zugänglich werden, nicht durch das doppeltürige Portal. Auf Sicherheitsanlagen im Eingangsbereich wurde vollständig verzichtet.280 Mit dieser Lösung blieb die Ausstellung weitgehend unbeeinträchtigt. Daneben kam der BStU dem BKL finanziell entgegen. Er sicherte zu, die Betriebskosten für die angemieteten Räume zu übernehmen und akzeptierte nun die BKL-Entwurfsplanung zur technischen Umsetzung von Heizung und Elektrik.281 Als Schadensersatz bekam das BKL pauschal 3000 DM »ohne Anerkennung eines Rechtsanspruchs«.282 Mit diesem Kompromiss fand sich das BKL letztendlich ab. Zwar monierte es noch, dass der vom StHA geforderte Fluchtweg des BStU durch die Doppelflügeltür in das Eingangsportal – d.h. ohne Berücksichtigung dort fest installierter Ausstellungsstücke – führte, trotz dieses Einwandes stimmte das BKL Gaucks Angebot zu.283 Eine Vereinbarung, in die Gaucks Vorschläge einflossen, wurde von beiden Parteien am 31. März bzw. am 29. April 1999 unterzeichnet.284 Ende Juli wurde die
277 Schreiben des BStU an das BKL e.V. vom 14.10.1998, S. 2, ArBKL, BStU 1998 II. 278 Schreiben des BStU Joachim Gauck an das BKL e.V. vom 03.12.1998, ArBKL, BStU 1998 II. 279 BKL e.V.: Konzeption des Gesprächs mit der Behördenleitung des BStU am 11.12.1998, ArBKL, BStU 1998 II. 280 StHA: Protokoll vom 15.02.1999, S. 4, ArBKL, Ausstellungserhalt, Baumaßnahme durch BStU – Schriftverkehr 1999 II und 2000 [BStU 1999/2000]. 281 BStU: Vorstellungen des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) zur gemeinsamen Nutzung des Haupteinganges Dittrichring 24 in Leipzig »Runde Ecke« durch das Bürgerkomitee Leipzig e.V. (BKL) und den BStU ab dem 01.02.1999, ArBKL, BStU 1998 II; BKL. e.V.: Tätigkeitsbericht für das Jahr 1998, ArBKL, Finanzen 2000-2002, Unterstützung Freistaat Sachsen StSG [Finanzen StSG]. 282 Schreiben des BStU an das BKL e.V. vom 27.01.1999, ArBKL, BStU 1999/2000. 283 U.a. Schreiben des BKL e.V. an den BStU vom 11.03.1999, ArBKL, BStU 1998 II; Schreiben des BKL e.V. an das StHA vom 25.05.1999, S. 3-4, ArBKL, BStU 1999; Schreiben des BKL e.V. an das Staatliche Vermögens- und Liegenschaftsamt von 16.07.1999, ArBKL, BStU 1999/2000. 284 Vereinbarung zwischen dem Bürgerkomitee Leipzig e.V. für die Auflösung der ehemaligen Staatssicherheit (BKL) und dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU) zur Ausgestaltung des dem BStU eingeräumten privat-
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Fluchtwegegestaltung ergänzt, die nun sogar die Interessen des BKL weitgehend wahrte und zuungunsten des StHA ausfiel.285 Und um der Standort- und Symbolpolitik des BKL gerecht zu werden, wurde geregelt: »Der BStU verwendet offiziell für seinen Eingangsbereich die Bezeichnung ›Dittrichring 24‹. Die Bezeichnung ›Runde Ecke‹ bleibt ausschließlich dem Bürgerkomitee vorbehalten.«286 Damit war sogar die begriffliche Zuschreibung ein und desselben Haupteingangs klar im Sinne des geschichtspolitischen Selbstverständnisses des BKL definiert und das symbolische Erbe der »Runde Ecke« ausschließlich erneut dem BKL zuteil geworden. Während des ersten Jahrzehnts nach dem Herbst 89’ hatte sich die »Runde Ecke« von einem Museum in der ehemaligen BVSt Leipzig in eine Gedenkstätte verwandelt. Es gab dort nicht mehr nur eine Ausstellung bzw. Dokumentation, die zufällig im ehemaligen Standort der Bezirksstaatssicherheit aufgebaut worden war, sondern eine »amtlich« und politisch anerkannte Erinnerungs- und Aufarbeitungsstätte am historischen Ort. Am Ende des Jahrzehntes vorgenommene Denkmalunterschutzstellungen des Gebäudes, der Peitschenlampen und der Tonsäule des Leipziger Stadtfunks auf dem Vorplatz unterstrichen diese Entwicklung.287 Das BKL hatte den symbolischen und denkmalpflegerischen Kampf gegen den BStU und um die »Runde Ecke« für sich entschieden, was im Jahr 1999 – angesichts des zehnjährigen Jubiläums des Herbstes 89’ – geschichtspolitisch von besonders hoher Bedeutung war.288 Es hatte erreicht, dass die »Runde Ecke« nun zum zentralen Ort der »Friedlichen Revolution« erhoben wurde. Diese Wendung spiegelte sich auch in den Veröffentlichungen wider, die das BKL anlässlich des zehnjährigen Jubiläums des Herbstes 89’ und im Rahmen der 2. Enquete-Kommission veröffentlichte.289 In beiden Veröffentlichungen wurden in
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rechtlichen Durchgangsrechts durch den Haupteingang in Leipzig, Dittrichring 24, ArBKL, BStU 1999. Vereinbarung zwischen dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), dem Bürgerkomitee Leipzig e.V. für die Auflösung der ehemaligen Staatssicherheit über die zeitweilige Nutzung des Haupteingangs, Dittrichring 24 als Hauptfluchtweg vom 20.07.1999, ArBKL, BStU 1999/2000. Vereinbarung zwischen dem Bürgerkomitee Leipzig e.V. für die Auflösung der ehemaligen Staatssicherheit (BKL) und dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU) zur Ausgestaltung des dem BStU eingeräumten privatrechtlichen Durchgangsrechts durch den Haupteingang in Leipzig, Dittrichring 24, ArBKL, BStU 1999. BKL e.V.: Tätigkeitsbericht für das Jahr 1999, S. 5, ArBKL. Carstens, Peter: »Am Brunnen der Vergangenheit Leipzig und heldische Erinnerungen an das Jahr 1989«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.05.1999; ders.: »Haus um Haus erobert«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06.12.1999; Hübner, Ralf: »Als sich der Volkszorn entlud«, in: Der Tagesspiegel vom 07.12.1999; BKL e.V.: Veranstaltungsmitschnitt. 10. Jahrestag der Eröffnung des Museums in der »Runden Ecke« vom 31.08.2000, ArBKL, Finanzen StSG. Besonders seien hier die Publikationen »Heute vor 10 Jahren«, »Wir leben jedenfalls von Montag zu Montag« sowie »Der Rollen- und Funktionswandel« genannt, vgl. Hol-
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der Einleitung Begriffsbestimmungen vorgenommen, die das Ende der DDR nun ausschließlich als »Friedliche Revolution« definierten und Alternativen zu dieser politischen Bewertung der Herbst-89’-Ereignisse in SED- bzw. PDS-Nähe rückten.290 Hatte der Ausstellungsband »Stasi intern« aus dem Jahr 1990 bereits stellenweise antagonistische Entwicklungen ausgeblendet, verkürzte das BKL die Ereignisse des Herbstes 89’ nun vollständig auf eine DDR-spezifische »Revolution von unten« und kürte es Leipzig zur »Heldenstadt«. Das BKL vertrat nun – im Gegensatz zu den Veröffentlichungen vom Anfang der 90er Jahre – die These, dass die »Friedliche Revolution« ihren Ausgangspunkt in Leipzig gehabt habe und uneingeschränkt eine »Revolution von unten« gewesen sei. »Jedes Entgegenkommen der Vertreter des alten Regimes war nur taktischer Natur«, argumentierte Hollitzer im Sinne einer maßgeblich vom Bürgerkomitee geprägten Geschichtsauslegung über das Ende der DDR.291 Davon abweichende Geschichtsdarstellungen, insbesondere solche, die einem Teil der DDRFunktionäre Reformwilligkeit attestieren, wurden demgegenüber nun verstärkt als von »begrifflicher Unschärfe« mit »gewollt fatalen Folgen für die Bewertung der friedlichen Revolution« konsequent zurückgewiesen.292 Das Geschichtsbild, das das BKL stattdessen konstruierte und in der »Runden Ecke« zu versinnbildlichen versuchte, umfasste daher fortan die Kernaussagen: das DDR-System sei ohne Mitwirkung der Machthaber von Bürgern gestürzt worden, die Entmachtung der DDR-Staatssicherheit habe maßgeblich zum Zerfall der DDR beigetragen, der Demokratisierungsprozess sei »von unten« und ohne Staat erfolgt und die friedliche Revolution sei von der Peripherie ausgegangen und hätte das Zentrum (Berlin) zeitlich versetzt und in abgeschwächter Form erreicht.293 Hierzu gehörte auch die Geschichtskonstruktion, die »Runde Ecke« sei am Abend nach bzw. während der Leipziger Montagsdemonstration von friedlichen Demonstranten aus dem Volk spontan besetzt worden.294 Das entscheidende Zutun der BRD wurde vollends ausgeblendet. Am 09. Oktober 1999 enthüllte Bundestagspräsident Wolfgang Thierse unter Beisein ranghoher Lokalpolitiker anlässlich des 10. Jahrestages der Leipziger Montagsdemonstration und parallel zur Eröffnung des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig,295 eine Gedenktafel an der »Runden Ecke«, auf der konform mit diesem Geschichtsnarrativ eingraviert war: »Hier befand sich von 19501989 die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Leipzig. Bürger besetzten sie wäh-
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litzer, Tobias/Bohse, Reinhard: Heute vor 10 Jahren (2000); Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000); Hollitzer, Tobias: »Der Rollen- und Funktionswandel«, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 7, 1999). Ebd., S. 234-235; Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 6-7. Ebd., S. 78. Ebd., insb. dort. Anm. 321 sowie S. 96; Hollitzer, Tobias: »Der Rollen- und Funktionswandel«, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 7, 1999), S. 420. Ebd. Ebd., S. 258. Das Zeitgeschichtliche Forum in Leipzig wurde als Museumszweigstelle der Stiftung Haus der Geschichte in Bonn mit dem Schwerpunkt Widerstand und Unterdrückung in der DDR durch den Bundeskanzler Gerhard Schröder eröffnet.
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rend der Montagsdemonstration am 4. Dezember 1989.«296 Damit setzte das BKL in zweifacher Hinsicht ein Zeichen: geschichtspolitisch, indem so das eigene Geschichtsbild einer Bürgerrevolution »in Stein gegossen« wurde, und erinnerungspolitisch, indem die Enthüllung der Gedenktafel die Feierlichkeiten zum Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig konterkarierten, das von Anfang an als staatliche Konkurrenz abgelehnt wurde.297 Untersuchungen bzw. Quellen, die auf abweichende bzw. vielschichtigere Geschehnisse hindeuteten, flossen in die historische Aufarbeitung und in die erinnerungskulturelle Arbeit am Ende der 90er Jahre also nicht mehr ein. Folglich wurden wissenschaftliche Abhandlungen, die die Rolle des BKL kritischer betrachteten und versuchten, die damaligen Ereignisse in der gebotenen Komplexität darzustellen, im Grunde genommen bis heute abgelehnt.298 Stefan Wolles Feststellung, dass die DDR-Staatssicherheit bei der Bildung des BKL eine gravierende Funktion übernommen habe und auf der Woge der Volksbewegung mit geschwommen sei, wurde entgegnet, dass die IM, die im BKL mitgearbeitet hatten, zu keiner Zeit die Richtung mitbestimmten hätten.299 Die (Selbst-) Einschätzung lautete stattdessen: »Die unterdrückten Bürger nahmen den einst Mächtigen ihre schärfste Waffe – das Herrschaftswissen. Sie holten sich ihre Würde zurück und ermöglichten für die Zukunft eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Geschichte.«300 Geschichtspolitisch gab es also zehn Jahre nach dem Ende der DDR diesbezüglich nicht nur die Diktatur-Leugner und die Diktatur-Gegner, d.h. diejenigen, die das DDR-Regime versuchten zu verharmlosen301 und diejenigen, die der DDR als SED-Diktatur jegliche Legitimation absprachen, sondern es gab unterhalb dieser Grobeinteilung inzwischen auch geschichtspolitische Positionen unter den DDRKritikern, die im Hinblick auf das Ende der DDR grundverschieden waren. Für die einen verlief das Ende der DDR nur an der Oberfläche staatsfrei, basisdemokratisch und umstürzlerisch, die »Revolution« wurde als »Reformbewegung«, zumindest als
296 Die Gedenktafel befindet sich am Eingangsportal der Runden Ecke und wurde vom Künstler Matthias Klemm im Auftrag des BKL angefertigt. 297 Löwisch, Georg: Ein neues Forum zum Sammeln, in: Taz vom 11.10.1999. 298 Hollitzer, Tobias: »Der Rollen- und Funktionswandel«, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 7, 1999), S. 421, insb. Pkt. 6. 299 Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 117, insb. dort Anm. 495; s.a. Langner, Hans-Ulrich: »Das singende Pferd«, in: Horch und Guck 23 (1998), S. 41, 60. 300 Hollitzer, Tobias: »Der Rollen- und Funktionswandel«, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 7, 1999), S. 392. 301 Der Verf. sind diesbezüglich keine seriösen Untersuchungen von historisch-wissenschaftlichem Wert bekannt. DDR-Beschwichtigungen finden sich höchstens im Presseorgan »Neues Deutschland« oder in Parteiorganen/-verlautbarungen der PDS und kommunistischer Plattformen wieder. Zwar widmet Hubertus Knabe den »Schönrednern der SED-Diktatur« ein ganzes Buch, es ist aber auch der einzige Text, der dieser geschichtspolitischen Position eine nennenswerte Öffentlichkeit verleiht, vgl. Knabe, Hubertus: Die Täter sind unter uns. Über das Schönreden der SED-Diktatur, Berlin 2008.
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Mischung aus »Druck von unten« und »Steuerung von oben« diagnostiziert, für andere war das Ende der DDR zweifelsohne ein »Sieg der DDR-Bürger« und eine gelungene »Friedliche Revolution von unten«, die in Leipzig seine Wurzeln gehabt habe.302 Das BKL gehörte – das kann wohl festgestellt werden – zur letzteren Gruppe und betrieb unter dieser Ägide die Gedenkstätte in der »Runden Ecke«.
3.4 G EDENKSTÄTTENPOLITIK 2000-2005
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Während die 90er Jahre vorwiegend gekennzeichnet waren von Bestandssicherung, Besitzstandswahrung, baulichem Substanzerhalt und Symbol- bzw. Geschichtspolitik, dominierte in den Folgejahren die erinnerungs- und gedenkstättenpolitische Profilierung der Gedenkstätte Museum in der »Runde Ecke« Leipzig. Die enorme Ausweitung der Museums- und Ausstellungsarbeiten im Zuge des zehnjährigen Jubiläums des Herbstes 89’ sowie im Laufe der Expo2000-Teilnahme (z.B. durch Verlängerung der Öffnungszeit, Erhöhung der Besucherführungen, Fortführung eines vielfältigen Veranstaltungsprogramms), förderten die vereinsinterne Grundsatzentscheidung, dass das BKL auf dem inzwischen erreichten Niveau weiterarbeiten müsse und nicht zurückkehren könne zur Museumsarbeit von geringerem Ausmaß, und dass obwohl sich zwischen 1998-2000 die finanzielle bzw. personelle Ausstattung des Museums bzw. der Gedenkstätte dramatisch verschlechterte. Mit dem Abschlussbericht der zweiten Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages und der Gedenkstättenkonzeption des Bundes lagen zudem plötzlich Argumente bzw. Instrumente vor, die dem Anspruch des BKL entgegen kamen, nicht mehr nur Museum in der BVSt Leipzig, sondern vielmehr Gedenkstätte von gesamtstaatlicher Bedeutung zu sein. In Verbindung mit den erinnerungskulturell relevanten Großereignissen der Jahre 1998-2000 verstärkte sich also das Engagement des BKL, innerhalb der Erinnerungslandschaft anerkannt zu werden. Auf welchen Wegen es dem BKL gelang, die Arbeit der Gedenkstätte Museum in der »Runden Ecke« zu konsolidieren und zu etablieren, soll im Folgenden genauer dargestellt werden.303 Bis 1999/2000 war das BKL in die Museumsarbeit maßgeblich abgesichert durch Zuschüsse der Stadt Leipzig, durch die Bereitstellung einer fest angestellten Museumsleiterin über das Regierungspräsidium Leipzig sowie durch die kostenlose
302 Vertreter dieser Position sind u.a. Ulrich Mählert, Stefan Wolle, Timothy Garton Ash, vgl. Mählert, Ulrich: Kleine Geschichte der DDR, München 2004, Wolle, Stefan: DDR, Frankfurt a.M. 2004; Ash, Timothy Garton: Im Namen Europas. (1995), S. 505; Sabrow, Martin: Wem gehört »1989«?, in: ders. (Hg.): Bewältigte Diktaturvergangenheit? (2010); ders.: »Der vergessene ›Dritte Weg‹«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 11 (2010), S. 6-13. 303 Hierzu gehörten der Abschlussbericht der 2. Enquete-Kommission, die Gründung der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die Gedenkstättenkonzeption des Bundes, das zehnjährige Jubiläum des Herbstes 89’, die Expo2000 und schließlich das zehnjährige Jubiläum des Museums in der »Runden Ecke«.
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Bereitstellung des Gebäudes durch den BStU. Weil ehemalige BKL-Mitglieder noch bis in die 90er Jahre hinein Stadtratsfunktionen bekleideten, konnte das BKL direkt über das Hauptamt (d.h. nicht über das Kulturamt) jährlich Mittel von der Stadt Leipzig für den Museumsbetrieb erhalten. 1992 waren es 30.000 DM, bis auf 1994 waren es zwischen 1993 und 1997 jährlich 27.000 DM.304 Obwohl die Museumsarbeit zunahm, wurden 1998 nur 25.700 DM genehmigt.305 Das gleiche wiederholte sich 1999.306 Parallel kündigte das Hauptamt an, dass es für das Jahr 2000 mit einer weiteren Mittelkürzung auf 22.000 DM zu rechnen habe.307 Die Kürzung der BKL-Fördermittel bedeutete nicht, dass die »Runde Ecke« politisch weniger Rückhalt besaß, sondern erfolgte aufgrund der desolaten städtischen Haushaltssituation und traf auf alle Zuwendungsempfänger im Kulturbereich zu. 308 Über die Teil-
304 Stadt Leipzig: Haushaltssatzung. Haushaltsplan und Wirtschaftpläne der städtischen Regiebetriebe 1993, ArBKL, Finanzen 1992-1995; Schreiben des BKL e.V. an den Rat der Stadt Leipzig vom 01.11.1993, ArBKL, Finanzen 1992-1995; BKL. e.V.: Handschriftliche Notiz von August 1994, ArBKL, Finanzen 1992-1995; Schreiben des BKL e.V. an den Rat der Stadt Leipzig vom 10.08.1994, ArBKL, Finanzen 1992-1995; Schreiben der Stadt Leipzig an das BKL e.V. vom 16.10.1995, ArBKL, Finanzen 19921995; Schreiben des BKL e.V. an den Rat der Stadt Leipzig vom 28.06.1995, ArBKL, Finanzen 1992-1995; Schreiben der Stadt Leipzig an das BKL e.V. vom 11.04.199; Schreiben des BKL e.V. an den Rat der Stadt Leipzig vom 21.11.1996, ArBKL, Finanzen 1996-1997; Schreiben des BKL e.V. an den Rat der Stadt Leipzig vom 29.09.1998, ArBKL, Finanzen 1998-1999. 305 Schreiben der Stadt Leipzig an das BKL e.V. vom 07.12.1998, ArBKL, Finanzen 19981999. 306 Schreiben der Stadt Leipzig an das BKL e.V. vom 10.08.1999, ArBKL, Finanzen 19981999. 307 Ebd. Das BKL protestierte umgehend, vgl. Schreiben des BKL e. V, an die Stadt Leipzig vom 20.09.1999, ArBKL, Finanzen 1998-1999; Schreiben des BKL e.V. an die Stadt Leipzig vom 28.11.1999, ArBKL, Finanzen 1998-1999 308 Schreiben der Stadt Leipzig an das BKL vom 10.08.1999, ArBKL, Bestand: Finanzen 1998-1999. Neben den schleichenden Kürzungen, verlangte aber auch die städtische Bürokratie dem BKL mehr und mehr ab. Während 1992-1995 ein formloses Anschreiben an den Stadtrat genügte, setzt die Stadt ab 1996 zunehmend die Einhaltung bestimmter Antragskriterien für eine positive Bewilligung voraus. Mit Verweis auf die Organisationsverfügung des OBM Nr. 37/92 wurde dem BKL ab dann ein Finanzierungsplan abgefordert, vgl. Schreiben der Stadt Leipzig an das BKL e.V. vom 15.01.1996, ArBKL, Finanzen 1996-1997; Schreiben des BKL an die Stadt Leipzig vom 08.02.1996, ArBKL, Finanzen 1996-1997. 1997 musste der Antrag des BKL zunächst sogar abgelehnt werden, fehlte trotz mehrfacher Anmahnung nicht nur ein Finanzierungs- und Haushaltsplan, sondern auch eine ausführliche Konzeption sowie eine Bescheinigung des Finanzamtes über die Gemeinnützigkeit der Organisation, vgl. Schreiben der Stadt Leipzig an das BKL e.V., o.D., ArBKL, Finanzen 1996-1997. Das BKL weigerte sich zunächst, diesen Antragbestimmungen zu folgen, kam aber durch geltendes Hausrechts am Ende nicht umhin, zukünftig zumindest Tätigkeitsberichte an-
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nahme an der Expo2000 gelang es immerhin, zumindest für das Haushaltsjahr 2000 zusätzliche städtische Mittel i.H.v. 30.000 DM zu bekommen. Sie wurden zur Überarbeitung der Ausstellung eingesetzt.309 Da das BKL sich dafür entschied, die enorme Ausweitung der bisherigen Gedenkstättenarbeit auch über die Expo hinaus aufrecht zu halten, bemühte es sich ab Herbst 2000 nun verstärkt um zusätzliche finanzielle Unterstützung durch Freistaat und Bund. Dabei knüpfte es an die Worte des Geschäftsführers der Landesstiftung Sächsische Gedenkstätten anlässlich der Feierlichkeiten zum zehnjährigen Bestehen des Museums in der »Runden Ecke« an: »Die Stadt und der Freistaat stehen hier in der Verantwortung, da privates Engagement allein eben nicht ausreicht. Es ist wichtig, dass die Einrichtung ihrer historischen Bedeutung und ihres öffentlichen Interesses entsprechend arbeitsfähig gehalten wird. […] Mit dem Instrument der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Gedenkstättenkonzeption des Bundes, die explizit ja auch das Museum Runde Ecke als förderungswürdig eingeordnet hat, sind Grundlagen geschaffen, die mit einem entsprechenden komplementären sächsischen Engagement eine Verstetigung Ihrer Arbeit hier am Ort ermöglichen sollte.«310
Das BKL griff die politischen Angebote auf und entwickelte ein Strategiepapier, das die zukünftige Arbeit der Gedenkstätte skizzierte.311 Es wurde festgelegt, den inzwischen erreichten Professionalisierungsgrad zu konsolidieren: »Um den erreichten Stand für die nächsten Jahre zu erhalten, ist die Gedenkstätte auf weitere finanzielle Unterstützung aus den öffentlichen Haushalten der Bundesrepublik Deutschland, des Freistaates Sachsen und der Stadt Leipzig angewiesen.«312 Als künftige übergeordnete Ziele wurden neben der Fortführung der Trägerschaft konkret der Erhalt und die Profilierung der Gedenkstätte »Museum in der ›Runden Ecke‹ » als authentischer Ort und als international anerkanntes »bedeutendstes Fachmuseum zum Thema Staatssicherheit« sowie der Ausbau und die Etablierung des Trägervereins als politischer Akteur auf dem Feld der politischen Bildungsarbeit benannt.313 Auf Basis des Strategiepapiers wandte sich das BKL am 09. November 2000 sodann direkt an den Bundesbeauftragten für kulturelle Ange-
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zufertigen (der erste wurde für das Jahr 1996 angelegt) und einen Haushaltsplan aufzustellen. Die Vorlage einer Konzeption blieb weiterhin aus, zu Antragszwecken wurde stattdessen eine dreiseitige Selbstdarstellung angefertigt, vgl. Schreiben des BKL e.V. an die Stadt Leipzig vom 27.06.1999, ArBKL, Finanzen 1998-1999; BKL e.V.: Kurze Darstellung unserer Arbeit vom 29.09.1999, ArBKL, Finanzen StSG. BKL e.V.: Tätigkeitsbericht für das Geschäftsjahr 2000, S. 3, ArBKL. Norbert Haase z.n. BKL. e.V.: Veranstaltungsmitschnitt. 10. Jahrestag der Eröffnung des Museums in der »Runden Ecke« vom 31.08.2000, S. 7, ArBKL, Finanzen StSG. BKL e.V.: Zur zukünftigen Arbeit des Bürgerkomitees Leipzig e.V. mit der Gedenkstätte »Museum in der Runden Ecke« vom Oktober 2000, StAufarb, Gedenkorte Sachsen, Leipzig (Geschäftsablage, o. Sign.) . Ebd., S. 2, 6. Ebd., S. 3, 7.
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legenheiten und Medien (BKM) im Bundeskanzleramt, Michael Naumann, an den sächsischen Ministerpräsidenten, Kurt Biedenkopf, sowie an den Oberbürgermeister (OBM) der Stadt Leipzig Wolfgang Tiefensee, um sie persönlich um eine landes- und bundespolitische Unterstützung der Gedenkstätte Museum in der »Runden Ecke« zu bitten.314 Die Reaktionen fielen unterschiedlich aus. Bereits nach zwei Wochen erhielt das BKL vom BKM eine abschlägige Antwort. »Institutionelle Förderungen werden nicht aufgenommen« hieß es, und anderweitige Anträge für zeitliche begrenzte Projekte seien wenn, dann über den Freistaat Sachsen zu stellen.315 Anfang Dezember bot Tiefensee ein Gespräch mit seinem Kulturdezernenten an.316 Es fand am 09. Januar 2001 statt. Die Forderungen des BKL, nämlich 100.000 DM an institutioneller Förderung, eine kostenlose Nutzung des Saalbaus sowie die Finanzierung mindestens einer festen Personalstelle, lehnte der Kulturdezernent allerdings ab.317 Lediglich die Erhöhung des städtischen Zuschusses in Höhe der bestehenden Mietkosten für den Saalbau wurde in Erwägung gezogen.318 Und anders als erwartet, signalisierte das Sächsische Innenministerium ebenfalls keine Bereitschaft, sich mit der Anfrage ernsthaft beschäftigen zu wollen, sondern es unterbreitete dem BKL stattdessen die »Hiobsbotschaft«, dass die bisher von Regierungspräsidium Leipzig übernommene Museumsleiterstelle zum 30. Juni 2001 aus rechtlichen Gründen auslaufen würde.319 D.h., statt einer zusätzlichen Unterstützung kündigte der Freistaat Sachsen sogar die vollständige Streichung der bisherigen an. Das war das Gegenteil von dem, was das BKL wollte. Es intervenierte umgehend und machte dem SMI klar: »Sie haben entschieden, die einzige Hauptamtliche Stelle, über die das Museum verfügt, ersatzlos zu streichen. Dies ist mit der Schließung dieser national und international anerkannten Einrichtung gleichbedeutend.«320 An den Ministerpräsidenten appellierte es in einem dritten Schreiben noch am selben Tag und ohne Umschweife: »Wir bitten Sie, sich umgehend dieses Problems anzunehmen.«321
314 Schreiben des BKL e.V. an den Beauftragten im Kanzleramt für Angelegenheiten der Kultur und Medien StS Michael Neumann vom 09.11.2000, ArBKL, Finanzen 20002002, Unterstützung BR Deutschland [Finanzen BRD]; Schreiben des BKL e.V. an die Sächsische Staatsregierung Ministerpräsident Kurt Biedenkopf vom 09.11.2000, ArBKL, Finanzen 2000-2002, Unterstützung Freistaat Sachsen [Finanzen Sachsen]. 315 Schreiben des BKM an das BKL e.V. vom 21.11.2000, ArBKL, Finanzen BRD. 316 Schreiben der Stadt Leipzig OBM Tiefensee an das BKL e.V. vom 01.12.2000, ArBKL, Finanzen 2000-2002, Unterstützung Stadt Leipzig [Finanzen Lpz.]. 317 BKL e.V.: Vermerk vom 09.01.2001, ArBKL, Finanzen Lpz. 318 Stadt Leipzig/SG Bildende Kunst/Stadtgeschichte: Protokoll der Beratung am 09.01.2001 vom 15.01.2001, ArBKL, Finanzen Lpz.; BKL e.V.: Gesprächsvermerk vom 20.02.2001, ArBKL, Finanzen Lpz. 319 Schreiben des SMI an das BKL e.V. vom 06.03.2001, ArBKL, Finanzen Sachsen. 320 Schreiben des BKL e.V. an das SMI vom 19.03.2001, ArBKL, Finanzen Sachsen. 321 Schreiben des BKL e.V. an die Sächsische Staatsregierung Ministerpräsident Kurt Biedenkopf vom 19.03.2001, ArBKL, Finanzen Sachsen.
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Durch die geringe Zeitspanne, die dem BKL blieb, um zumindest die Museumsleiterstelle über den 30. Juni 2001 hinaus zu retten, erhöhte das BKL den politischen Druck. So wandte es sich direkt an den Vorsitzenden der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, in der Hoffnung, er könne qua seines Amtes das »[…] Anliegen beim Bürgermeister der Stadt Leipzig, beim Sächsischen Ministerpräsidenten sowie dem Kulturminister der Bundesrepublik […] unterstützen. […] Zudem sollte den offiziellen Stellen deutlich werden, dass die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur zwar immer wieder Projekte des Bürgerkomitees fördert, für die Aufrechterhaltung des täglichen Geschäftsbetriebes jedoch keine Mittel zur Verfügung stellen kann«.322
Der Bitte des BKL folgte Eppelmann und er richtete an den BKM Nida-Rümelin, an den Ministerpräsidenten Biedenkopf und an Leipzigs OBM Tiefensee ein entsprechendes Gesuch.323 Parallel wurde der Landesbeauftragte für die Unterlagen der ehemaligen Staatssicherheit der DDR (LStU) Sachsen, Michael Beleites eingespannt, der nicht nur BKL-Mitglied war, sondern auch aufgrund der institutionellen »Verwandtschaft« ähnliche Interessen zu vertreten hatte. Sowohl Eppelmann als auch Beleites waren erfolgreich. Noch vor Ablauf des Monats April machte der Innenminister, Klaus Hardraht, das Zugeständnis: »Allerdings habe ich zwischenzeitlich […] vereinbart, dass die Unterstützung erst zum 31.12.2001 enden soll. Im Anschluss sehe ich keine Möglichkeit, das Stasi-Museum im Rahmen meiner Ressortzuständigkeit weiter zu unterstützen.«324 Und da er das zuständige Sächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur (SMWK) darüber informiert hatte, dass er die »Runde Ecke« prinzipiell als eine Einrichtung von landes- bzw. gesamtstaatlicher Bedeutung einstufte, richtete der Innenminister außerdem an den Sächsischen Kulturminister, Hans-Joachim Meyer, die Bitte: »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie im Rahmen Ihrer Zuständigkeit für die Museen prüfen lassen würden, ob sich eine Möglichkeit für eine Unterstützung des Stasi-Museums ergibt und wenn Sie sich der Angelegenheit selbst annehmen würden.«325 Hardraht bat also seinen Kollegen Meyer abzuwägen, ob die »Runde Ecke« nicht doch auf-
322 Schreiben des BKL e.V. an die StAufarb Rainer Eppelmann vom 12.04.2001, StAufarb, Gedenkorte Sachsen, Leipzig (Geschäftsablage, o. Sign.). 323 Schreiben der StAufarb Rainer Eppelmann an den Freistaat Sachsen Ministerpräsident Kurt Biedenkopf vom 14.05.2001, StAufarb, Gedenkorte Sachsen, Leipzig (Geschäftsablage, o. Sign.); Schreiben der StAufarb Rainer Eppelmann an den BKM NidaRümelin vom 14.05.2001, StAufarb, Gedenkorte Sachsen, Leipzig (Geschäftsablage, o. Sign.); Schreiben der StAufarb Rainer Eppelmann an die Stadt Leipzig OBM Tiefensee vom 14.05.2001, StAufarb, Gedenkorte Sachsen, Leipzig (Geschäftsablage, o. Sign.). 324 Schreiben des SMI Staatsminister Klaus Hardraht an das SMWK Staatsminister HansJoachim Meyer vom 25.04.2001, ArBKL, Finanzen Sachsen. 325 Ebd., S. 2; siehe hierzu auch Schreiben des SMI an das BKL e.V. vom 26.04.2001, ArBKL, Finanzen Sachsen.
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genommen werden könne in die Förderung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten (StSG), die ja seit 1994 für Gedenkstätten von landesweiter und gesamtstaatlicher Bedeutung zuständig war. Schließlich schaltete sich sogar der Ministerpräsident Biedenkopf ein. Er machte dem BKL deutlich, dass auch er die Arbeit des BKL schätze, jedoch jedwede Landesunterstützung eine »[…] Neufassung und möglicherweise auch eine Erweiterung der bisherigen Aufgaben der Stiftung Sächsische Gedenkstätten […] voraus[setzte]«.326 Und er ließ das BKL wissen: »Ich habe Herrn Staatsminister Prof. Dr. Meyer in diesem Zusammenhang um Prüfung gebeten, ob die Gedenkstätte ›Museum in der Runden Ecke‹ in einer Förderkonzept der Stiftung aufgenommen werden kann.«327 Sowohl über das SMI als auch über den Ministerpräsidenten war das SMWK damit beauftragt worden zu prüfen, ob im Rahmen der ohnehin vorgesehenen Neugründung der StSG die »Runde Ecke« berücksichtigt werden könne. Entsprechende Rückmeldung ging auch an die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.328 Diese Prüfung blieb allerdings aus. Obwohl Staatsminister Meyer »von oben« bzw. »auf Augenhöhe« instruiert worden war, obwohl mit dem Geschäftsführer der StSG Gespräche in diese Richtung geführt wurden und obwohl das BKL informiert worden war, dass grundsätzlich einer Aufnahme nichts entgegenstand, wurde nicht die »Runde Ecke«, sondern die Gedenkstätte in der Bautzener Straße in Dresden für die Aufnahme in die Liste der zu fördernden Einrichtungen der StSG in Betracht gezogen.329 »Prof. Dr. Meyer habe sich dagegen entschieden«, teilte die StSG hierzu in knappen Worten mit.330 Daraufhin wies auch der BKM nur eine Woche später das Anliegen des BKL zurück: »Zu meinem Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass eine Unterstützung des Bürgerkomitees nach der Gedenkstättenkonzeption nicht möglich ist, weil in diesem Rahmen keine institutionelle Verbandsförderung betrieben werden kann. Im Übrigen käme eine Förderung allein für das vom Bürgerkomitee betriebene Museum ›Runde Ecke‹ in Frage, wenn dieses als Gedenkstätte betrachtet werden könnte. Nach den Kriterien der Gedenkstättenkonzeption wäre jedoch auch dann die Aufnahme einer institutionellen Förderung ausgeschlossen.«331
326 Schreiben des Freistaates Sachsen Ministerpräsident Kurt Biedenkopf an den BKL e.V. vom 03.05.2001, ArBKL, Finanzen Sachsen. 327 Ebd. 328 Schreiben des Freistaates Sachsen Ministerpräsident Kurt Biedenkopf an die StAufarb Rainer Eppelmann vom 29.05.2001, ArBKL, Finanzen Sachsen. 329 Schreiben des BKL e.V. an die StSG Stiftungsratsvorsitzenden Hans-Joachim Meyer vom 04.06.2001, ArBKL, Finanzen Sachsen; StSG: Beschlüsse der 17. Sitzung des Stiftungsrates der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft am 05.06.2001, ArBKL, Finanzen StSG; BKL e.V.: Gesprächsnotiz vom 15.06.2001, ArBKL, Finanzen StSG. 330 Ebd., S. 2. 331 Schreiben des BKM Knut Nevermann an die StAufarb Rainer Eppelmann vom 13.06.2001, ArBKL, Finanzen BRD
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Sowohl der Freistaat Sachsen als auch der Bund lehnten es also ab, die »Runde Ecke« als förderungswürdige Gedenkstätte anzuerkennen. Während der Freistaat sie eher als gering bedeutsam einstufte, sprach ihr der Bund zusätzlich gleich ganz das Gedenkstättedasein ab und schloss schon deswegen eine institutionelle Förderung aus. Damit positionierten sich Freistaat und Bund gegen die Empfehlungen der Vorjahre und der zweiten Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, die vorsahen dass die »Runde Ecke« eine vom Bund dauerhaft zu fördernde Einrichtung sei.332 Damit verweigerten Freistaat und Bund eine Förderung, die ihnen in der Gedenkstättenkonzeption des Bundes per Gesetz eingeräumt worden war.333 Diese Zurückweisung akzeptierte das BKL nicht. Ein erneuter Antrag an den Freistaat Sachsen auf institutionelle Förderung, der die Einzigartigkeit der Gedenkstättenkombination »Runde Ecke« und Museums-Bunker in Machern sowie die Aura von »authentischen Täter-Orten« als Fachmuseen abermals betonte, wurde gegenüber der StSG vorgebracht.334 Im September 2001 trat das BKL eine Pressekampagne los, die die gedenkstättenpolitischen Entscheidungsträger zusätzlich massiv unter Handlungsdruck setzte.335 Schließlich wandte sich das BKL erneut an einzelne Bundestagsabgeordnete, an die Fraktionen und das Bundeskanzleramt.336
332 Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 1, 1999), S. 611, 642. 333 Dt. BT, Drs. 14/1569 vom 27.07.1999, S. 5; Dt. BT: Bericht der Bundesregierung über die Beteiligung des Bundes an den Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland, Oktober 1999, S. 8-9, ArGDT, 11333, 9. Finanzierungskonzepte [11333, 9]. 334 BKL e.V.: Antrag an den Freistaat Sachsen auf institutionelle Förderung in Form von Festbetragsfinanzierung der Gedenkstätte Museum in der »Runden Ecke« mit dem Museum im Stasi-Bunker ab 2002, Sept. 2002, ArBKL, Finanzen StSG. Um die kommunale Unterstützung des Machener Projektes zu garantieren, wurde Ende September auch beim Landkreis Muldentalkreis (MTL) ein Zuschuss beantragt, vgl. Schreiben des BKL e.V. an das Landratsamt MTL vom 28.09.2001, ArBKL, Finanzen, Zuwendungen Landratsamt MTL 2003-2008 [Finanzen 2003-2008]; BKL e.V.: Antrag auf institutionelle Förderung des Museums im Stasi-Bunker, September 2001, ArBKL, Finanzen 2003-2008; BKL e.V.: Weitere Ausführungen zu Geschichte und Funktion der ehemaligen Ausweichführungsstelle des Leiters der Leipziger Bezirksverwaltung für Staatssicherheit bei Machern, September 2001, ArBKL, Finanzen 2003-2008. Der Antrag wurde allerdings in Ermangelung mehrfach angemahnter und hierfür tragfähiger Antragsunterlagen vom Kulturraum Leipzig schließlich abgelehnt, vgl. Schreiben des Kulturraum Leipziger Raum an das BKL vom 21.05.2002, ArBKL, Finanzen 2003-2005. 335 Siehe u.a. Görtz, Armin: »Runde Ecke. Rekordbesuch, aber Zittern vor der Zukunft«, in: Leipziger Volkszeitung vom 01.09.2001; o.V.: »CDU-Fraktion. Gedenkstätte ›Runde Ecke‹ bedarf Förderung«, in: Die Welt vom 01.09.2001; o.V.: »Der ›Runden Ecke‹ droht das aus«, in: Dresdner Morgenpost vom 06.09.2001; Kurtz, Martina: »Rettet die Runde Ecke!«, in: Bild vom 13.09.2001. 336 Vgl. Schreiben des BKL e.V. an die SPD-Bundestagsfraktion Peter Struck vom 01.10.2001, ArBKL, Finanzen 2000-2002, Unterstützung BR Deutschland/Bundestag [Finanzen Dt. BT]; Schreiben des BKL e.V. an die CDU-Bundestagsfraktion Friedrich
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Dem Bundestagsabgeordneten und Mitglied des Haushaltsausschusses, Gunter W., schrieb das BKL: »Wir bitten Sie daher, sich nach Möglichkeit dafür einzusetzen, dass auch für die Gedenkstätte ›Museum in der Runden Ecke‹ ähnlich wie vor wenigen Jahren für die Gedenkstätte Bautzen oder die Gedenkstätte Torgau eine institutionelle Förderung als Kofinanzierung für die entsprechenden Landesmittel beschlossen wird.«337 An den BKM Nida-Rümelin richtete es seine Verwunderung über die grundsätzliche Ablehnung von Neuaufnahmen in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes, sah das Gesetz dieses Instrument doch vor: »Die offenbar in ihrem Haus festgelegte grundsätzliche Ablehnung von institutioneller Förderung auch in Bezug auf die weiteren, in der Gedenkstättenkonzeption des Bundes genannten Einrichtungen, scheint uns daher nicht sachgerecht und aufgrund der vorgenannten, vom Deutschen Bundestag angenommenen Papiere unzulässig.«338
Das BKL erwartete stattdessen jetzt eine umgehende dauerhafte Lösung für die »Runde Ecke«.339 Landespolitisch reagierte in erster Linie die CDU-Fraktion des Sächsischen Landtages. Sie stellte Mitte September 2001 einen Antrag, der solche langfristigen institutionellen Fördermöglichkeiten grundsätzlich für die Sächsischen Aufarbeitungsinitiativen zur SED-Diktatur einforderte.340 Trotz Einwand vom sächsischen LStU beantragte das SMWK, dem CDU-Landtagsantrag folgend, außerplanmäßige Mittel als »Überbrückungshilfe« zur Vorbereitung einer institutionellen Förderung der »Runden Ecke« ab 2003.341 Damit signalisierte das SMWK immerhin eine grundlegende Bereitschaft, die »Runde Ecke« stärker als bisher finanziell zu unterstützen. Inwiefern diese Empfehlung auch von der Landesregierung getragen wurde, blieb jedoch zu diesem Zeitpunkt weiterhin offen. Die Vertreter des Bundes reagierten auf die Beschwerden des BKL ambivalent. Einerseits erklärten die SPD-Fraktion und der Staatsminister für Angelegenheiten der neuen Bundesländer, dass eine Projektförderung nur in Betracht käme, sofern
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Merz vom 01.10.2001, ArBKL, Finanzen Dt. BT; Schreiben des BKL e.V. an die Bündnis 90/Die Grünen-Bundestagsfraktion Rezzo Schlauch vom 01.10.2001, ArBKL, Finanzen Dt. BT; Schreiben des BKL e.V. an das Bundeskanzleramt Staatsminister für Angelegenheiten der neuen Bundesländer Rolf Schwanitz vom 03.10.2001, ArBKL, Finanzen Dt. BT; Schreiben des BKL e.V. an das Bundeskanzleramt BKM Nida-Rümelin vom 29.09.2001, S. 2, ArBKL, Finanzen Sachsen. Schreiben des BKL e.V. an MdB Gunter W. vom 28.09.2001, ArBKL, Finanzen Dt. BT. Schreiben des BKL e.V. an das Bundeskanzleramt BKM Nida-Rümelin vom 29.09.2001, S. 2, ArBKL, Finanzen Sachsen. Schreiben des BKL e.V. an das Bundeskanzleramt BKM vom 09.10.2001, ArBKL, Finanzen BRD. Sächsischer Landtag, Drs. 3/4894 vom 12.09.2001, Antrag der CDU-Fraktion. Schreiben des SMWK an das BKL e.V. (u.a.) vom 24.10.2001, ArBKL, Finanzen Dt. BT; Schreiben des SMWK Staatsminister Hans Joachim Meyer an das SMF Staatsminister Thomas de Maiziére vom 24.10.2001, ArBKL, Finanzen Dt. BT.
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eine entsprechende wissenschaftliche Konzeption und eine positive Stellungnahme des hierfür konsultierten Expertengremiums vorliege, andererseits gab der BundesHaushaltsausschuss bekannt, dass die »Runde Ecke« für 2002 direkt über den Ausschuss in Höhe von 100.000 € erstmalig in den Genuss von Bundesgeldern kommen werde.342 Für 2003 wurden 50.000 € als Verpflichtungsermächtigung bzw. »Erinnerungsstütze« vorab veranschlagt.343 Dem BKL wurde zudem bestätigt, dass es keinerlei Festlegungen im Zusammenhang mit der Gedenkstättenkonzeption gegeben habe, die eine institutionelle Förderung der »Runden Ecke« ausschloss: »Damit hat die Koalition ihren politischen Willen, das Museum ›Runde Ecke‹ in Leipzig zu unterstützen, deutlich zum Ausdruck gebracht«, teilte die Grünen-Abgeordnete Antje H. dem Bürgerkomitee freimütig mit und begründete sie die Bundesentscheidung lapidar: »In diesem speziellen Falle […] ist eine institutionelle Förderung unumgänglich, wenn man das Museum erhalten will. Das war uns bewusst«.344 Da die Landesregierung mit der Bereitstellung der außerplanmäßigen Mittel weiterhin haderte, sah sich nun auch die SPD-Landtagsfraktion ihrer Bundesfraktion gegenüber verpflichtet, den politischen Druck landesseitig zu erhöhen. Die SPD veröffentlichte Mitte November einen Offenen Brief und eine Presseerklärung, in denen sie sich vehement für die Umsetzung der Landesförderung in der geforderten Höhe einsetzte: »Wir fordern die Sächsische Staatsregierung mit allem Nachdruck auf, ihren adäquaten Beitrag für die langfristige Sicherung der StasiGedenkstätte ›Runde Ecke‹ in Leipzig zu leisten.«345 Dies tat die Sächsische Landesregierung schließlich. Am 20. November 2001 teilte das SMWK mit, am gleichen Tag habe sich die Regierung auf Kabinettsebene darauf verständigt, die Finanzierung der »Runden Ecke« ab 2002 sicherzustellen.346
342 Schreiben des MdB Angelika Krüger-Leißner an das BKL e.V. vom 18.10.2001, ArBKL, Finanzen Dt. BT; Schreiben des MdB Sabine Kaspereit an das BKL e.V. vom 19.10.2001, ArBKL, Finanzen Dt. BT; Schreiben des Bundeskanzleramtes Staatsminister Rolf Schwanitz an das BKL e.V. vom 08.11.2001, ArBKL, Finanzen Dt. BT; Gunter W.: Pressemitteilung vom 08.11.2001, ArBKL, Finanzen BRD; Haushaltsausschuss Deutscher Bundestag: Fraktionswünsche für Sondermaßnahmen 2002 vom 07.11.2001, ArBKL, Finanzen Dt. BT; Deutscher Bundestag: Protokoll 89. Sitzung Haushaltsausschuss vom 08.11.2001, ArBKL, Finanzen Dt. BT. 343 Haushaltsausschuss Deutscher Bundestag: Fraktionswünsche für Sondermaßnahmen 2002 vom 07.11.2001, ArBKL, Finanzen Dt. BT; Schreiben des MdB Antje H. an das BKL e.V. vom 03.12.2001, ArBKL, Finanzen BRD; Kochinke, Jürgen: »Mehr Geld vom Bund – Hoffnung für ›Runde Ecke‹«, in: Leipziger Volkszeitung vom 12.11.2001. 344 Schreiben des MdB Antje H. an das BKL e.V. vom 03.12.2001, ArBKL, Finanzen BRD. 345 Offener Brief der SPD-Landtagsfraktion an das SMJ Staatsminister Thomas de Maiziére vom 14.11.2001, ArBKL, Finanzen Lpz.; SPD-Landtagsfraktion: Presseerklärung vom 14.11.2001, ArBKL, Finanzen Lpz. 346 SMWK: Pressemitteilung 56/2001 vom 20.11.2001, ArBKL, Finanzen Sachsen; s.a. Kochinke, Jürgen: »Land zahlt 200.000 Mark – ›Runde Ecke‹ ist gesichert«, in: Leipziger Volkszeitung vom 20.11.2001; Schreiben des SMWK Staatsminister Meyer an den Sächsischen Landtag Landtagspräsident Iltgen vom 18.12.2001, ArBKL, Finanzen Lpz.
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Auf Basis der Entscheidung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages und des Sächsischen Kabinetts, wandte sich das BKL daraufhin erneut an den BKM Nida-Rümelin und forderte ihn auf, entsprechend den Beschlüssen eilends tätig zu werden: »Sollte es zu dem vorliegenden Antrag Ihrerseits noch offene Fragen […] geben, bitten wir Sie, uns dies umgehend mitzuteilen. Andernfalls gehen wir davon aus, – ohne dem Urteil des Fachgremiums vorgreifen zu wollen –, dass aus Sicht Ihres Hauses gegen eine institutionelle Förderung in der genannten Höhe für das kommende Jahr nichts entgegensteht.«347
Und den Kulturstaatsminister Meyer forderte das BKL auf, umgehend für die verwaltungsmäßige Umsetzung der in Aussicht gestellten Zuwendung zu sorgen: »Die beantragten Mittel müssen uns zwingend ab 01.01.2002 zur Verfügung stehen, um den Betrieb der Gedenkstätte Museum in der ›Runden Ecke‹ mit dem Museum im Stasi-Bunker auf dem bisher erreichten Niveau weiterführen zu können.«348 Da es nach wie vor darum ging, die zunächst sporadisch in den Bundeshaushalt eingestellten 100.000 DM in eine dauerhafte Förderung in doppelter Höhe umzuwandeln, wandte sich das BKL erneut an die Bundestagsfraktionen der SPD und FDP: »Zum jetzigen Zeitpunkt besteht die einmalige Möglichkeit, die Gedenkstätten, die in den vergangenen Jahre überwiegend durch bürgerschaftliches Engagement getragen wurden, auf eine gesicherte institutionelle Basis zu stellen.«349 Und anlässlich einer weiteren Sitzung des Fachbeirates des BKM am 14. Dezember 2001 schrieb Eppelmann von der Bundesstiftung Aufarbeitung an den BKM Nida-Rümelin: »Gestatten Sie mir, dass ich mich im Vorfeld der anstehenden Förderentscheidungen für das Jahr 2002 in der Angelegenheit des ›Museums in der Runden Ecke‹ Leipzig persönlich an Sie wende. […] Aus Sicht der Stiftung Aufarbeitung ist es ein großer Erfolg, dass sich das Land nunmehr – trotz angespannter Haushaltslage – dazu bereit gefunden hat, die Gedenkstätte […] institutionell zu fördern. Die Stadt Leipzig hat mittlerweile signalisiert, ihrerseits jährlich 100.000 DM zur Verfügung zu stellen. Damit würde die Gedenkstätte […] aus Sicht der Stiftung alle Voraussetzungen erfüllen, um in den Genuss einer Kofinanzierung durch den Bund zu gelangen. […] Im Interesse einer zumindest mittelfristigen Absicherung der dortigen Arbeit möchte ich mich bei Ihnen nachdrücklich dafür einsetzen, dass Ihr Haus […] den Handlungsspielraum ausschöpft, der ihm durch die Gedenkstättenkonzeption des Bundes eingeräumt wurde.«350
347 Schreiben des BKL e.V. an das Bundeskanzleramt BKM Nida-Rümelin vom 03.12.2001, ArBKL, Finanzen BRD. 348 Schreiben des BKL e.V. an das SMWK Staatsminister Hans Joachim Meyer vom 03.12.2001, ArBKL, Finanzen Sachsen. 349 Schreiben des BKL e.V. an die SPD-Fraktion des Deutschen Bundestages vom 03.12.2001, ArBKL, Finanzen Dt. BT; s.a. Schreiben des BKL e.V. an die FDPBundestagsfraktion vom 03.12.2001, ArBKL, Finanzen Dt. BT. 350 Schreiben der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur Rainer Eppelmann an das Bundeskanzleramt BKM Julian Nida-Rümelin vom 05.12.2001, StAufarb, Gedenkorte Sachsen, Leipzig (Geschäftsablage, o. Sign.).
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Und der stellvertretende Vorsitzende ergänzte: »Die Gedenkstätte zählt aus meiner Sicht zu den ›Leuchttürmen‹ bürgerschaftlichen Engagements zur Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur […]. Am authentischen Ort, im ständigen Dialog mit Fachfrauen und -männern, leisten dort ehemalige Protagonisten der DDRBürgerbewegung herausragende Arbeit. […] Ich wäre Dir außerordentlich dankbar, wenn der Bund […] seinen Handlungsspielraum nutzen und ausnahmsweise eine institutionelle Kofinanzierung der Gedenkstätte beschließen würde.«351
Dass es sich bei den zugesagten Landes- und Bundesfördermitteln für 2002 allein haushaltrechtlich nur um Projektmittel handelt konnte und dass die Stadt Leipzig noch keine abschließende Entscheidung getroffen hatte, entzog sich dem Kenntnisstand der Vertreter der Bundesstiftung. Vielmehr erwarteten sie ein »staats- und regierungspolitisches Machtwort von oben«, um die autonome historische Aufarbeitung »von unten«, damit die »Runde Ecke« auf Dauer und institutionell abgesichert sei. Doch bei einem eigens hierfür anberaumten Besprechungstermin zwischen Vertretern des BKM, des SMWK, der StSG und dem BKL am 23. Januar 2002, wurde daran festgehalten, dass die Mittel in 2002 übergangsweise als Projektmittel ausgereicht werden.352 Eine Aufnahme der »Runden Ecke« in die StSG wurde jedoch weiterhin entschieden abgelehnt, ausschließlich eine Förderung durch die StSG, d.h. nicht zu Lasten des StSG-Haushaltes und anderer StSG-Gedenkstätten, wurde in Betracht gezogen.353 Um eine dauerhafte Unterstützung der »Runden Ecke« unabhängig von einem Wechsel in die StSG-Trägerschaft doch noch zu ermöglichen, ohne andere Einrichtungen in Mitleidenschaft zu ziehen, bemühte sich insbesondere das SMWK in den Folgewochen und -monaten, das StSG-Gesetz für freie Träger zu öffnen. Der erste Gesetzesentwurf vom 14. Mai 2002 ermöglichte sogar dauerhafte Förderungen für Einrichtungen, die sich in freier Trägerschaft befanden. Nicht nur StSG-eigene Gedenkstätten sollten in den Genuss institutioneller Förderung kommen, sondern auch Institutionen, die von anderen Initiativen und Vereinen getragen und betrieben wurden.354 Am 17. Mai 2002 nahm der Sächsische Landtag die von der CDU eingebrachten Anträge Drs. 3/5034355 und Drs. 3/5035 über eine Neuordnung der sächsi-
351 Schreiben der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur Markus Meckel an das Bundeskanzleramt BKM Julian Nida-Rümelin vom 07.12.2001, StAufarb, Gedenkorte Sachsen, Leipzig (Geschäftsablage, o. Sign.). 352 Der Zuwendungsbescheid erging erst Anfang April, vgl. Schreiben des BKM an das BKL e.V. vom 08.04.2002, ArBKL, Finanzen 2002. 353 Schreiben des SMWK an das BKL e.V. vom 05.12.2002 ArBKL, Finanzen Sachsen; Schreiben des SMWK an das BKL e.V., o.D., ArBKL, Finanzen Dt. BT; BKL e.V.: Gesprächsvermerk vom 25.01.2002, ArBKL, Finanzen 2002, S. 6. 354 Sächsischer Landtag, Drs. 3/6468 vom 14.05.2002, S. 3, PASächsLt. 355 Sächsischer Landtag, Drs. 3/5034 vom 09.10.2001, PASächsLt.
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schen Gedenkstättenlandschaft bzw. eine demzufolge notwendige Überarbeitung des Gedenkstättenstiftungsgesetzes an.356 Das vorläufige Ergebnis brachte zu Tage, dass die »Runde Ecke« endgültig zur politischen Verhandlungsmasse zwischen Bund und Freistaat geworden war. Im Fall der »Runden Ecke« sollte also maßgeblich der politische Wille ausschlaggebend sein. Eine inhaltliche Auseinandersetzung – wie bei anderen Gedenkstätten eingefordert – fand daher gar nicht erst statt. Auch bestand offenbar die Ansicht, es benötige keines umfassenden wissenschaftlichen und ausstellungsdidaktischen Konzeptes sowie keines Fachgutachtens (Expertenvotums) als Grundvoraussetzung für eine institutionelle Bundesförderung. Auf eine kritische Prüfung der historischen sowie didaktischen Qualität der Bildungsarbeit wurde gänzlich verzichtet, ebenso auf ein tragfähiges Gedenkstättenkonzept. D.h., auf die Einhaltung bestehender Förderkriterien und Verfahrensweisen der Gedenkstättenkonzeption des Bundes sowie des Freistaates Sachsen wurde zunächst weitgehend verzichtet.357 Dem gedenkstättenpolitischen Druck, den das BKL aufbaute, gaben Politik und Verwaltung also vorläufig nach. Das BKL nutzte dabei Handlungsspielräume, die die Politik im Zuge der zweiten Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages und im Zuge der Gedenkstättenkonzeption des Bundes in Bezug auf die »Runde Ecke« zuvor geschaffen hatten. Das BKL zwang die Entscheidungsträger also in erster Linie vollkommen losgelöst von der inhaltlichen Substanz und vom historischen Gegenstand dazu, »ihre eigene Suppe auszulöffeln«. Erst in zweiter Linie griff das BKL symbolpolitisch zusätzlich auf sein (symbolisches) Kapital als Protagonisten der »Friedlichen Revolution« zurück. 358 Dies galt besonders für die Pressekampagnen und für die Aktivierung ehemaliger Bürgerbewegter in den Reihen der Abgeordneten sowie bei der Mobilisierung der Stiftung Aufarbeitung. Nur die städtische Unterstützung der »Runden Ecke« gelang maßgeblich über das Vorbringen symbolpolitischer Argumente. Das Bekenntnis zur Stadt Leipzig als »Heldenstadt der Friedlichen Revolution« legte die uneingeschränkte Anerkennung der Arbeit des BKL in der »Runden Ecke« nahe.359 Auf diese Weise erreichte das BKL – trotz desolater Haushaltslage der Stadt – für die Jahre 2002 und 2003 jeweils einen Zuschuss i.H.v. 11.250 € sowie die vollständi-
356 Sächsischer Landtag, Drs. 3/5035 vom 09.10.2001, PASächsLt. 357 Schreiben des SMWK an das BKL vom 25.01.2002, ArBKL, Finanzen Dt. BT; Schreiben des SMWK an das BKL e.V. vom 20.12.2001, ArBKL, Finanzen Sachsen. 358 Siehe hierzu auch die Kritik eines SMWK-Vertreters bei einer Besprechung Mitte Januar 2002: »Der ordentliche Weg wäre gewesen, dass das Bürgerkomitee sich an ihn gewandt hätte, stattdessen hat das Bürgerkomitee böse Briefe geschickt«, z.n. BKL e.V.: Gesprächsvermerk vom 25.01.2002, S. 4, ArBKL, Finanzen 2002. 359 Stadt Leipzig: Dienstberatung des Oberbürgermeisters der Stadt Leipzig vom 19.02.2002, ArBKL, Finanzen Lpz.; Stadt Leipzig: Protokoll der Stadtratssitzung vom 20.02.2002, S. 6-11, ArBKL, Finanzen Lpz.
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ge Übernahme der Betriebskosten und Mietfreiheit für die vom BKL genutzten städtischen Immobilien.360 Trotz dieser gedenkstättenpolitischen Erfolgsbilanz für die Jahre 2001 und 2002 blieb für das BKL eine Planungsunsicherheit in Bezug auf eine institutionelle Förderung ab 2003 bestehen und setzten sich daher die erinnerungs- und geschichtspolitischen Manöver des BKL nahtlos fort. Die Vertreter des Bundes, so auch der Beauftragte für Angelegenheiten der neuen Bundesländer, beharrten auf ihrem Standpunkt: »Intern hat sich die Bundesregierung dahingehend festgelegt, dass mit Inkrafttreten der Gedenkstättenkonzeption im Jahre 1999 keine neuen institutionellen Förderungen begründet werden. Dies gilt weiterhin. Insofern hat sich der Sachstand nicht verändert.«361 Da grundsätzliche politische Anstrengungen auch weiterhin zwingend notwendig schienen, beschwerte sich das BKL auf Bundesebene erneut bei den Mitgliedern des Haushaltsausschusses.362 Um das gewünschte Ziel auch auf städtischer Seite zu erreichen, brachte das BKL abermals das symbolpolitische Argument vor, die Stadt Leipzig müsse sich aus Imagegründen zum BKL bekennen: »Es scheint uns unerklärlich, dass eine Stadt, die sich nach dem Willen ihres Oberbürgermeisters als Stadt der Friedlichen Revolution versteht und sich explizit als solche auch für Olympia 2012 beworben hat, im Gegenzug nicht in der Lage sein will, 50.000 € für den Betrieb unserer Einrichtung beizusteuern.« 363 Das BKL warnte: »Sollten wir nicht zu einer einvernehmlichen Lösung finden, sehen wir uns gezwungen, die Öffentlichkeit über unser Finanzproblem zu informieren.«364 Den OBM Tiefensee ließ es wissen: »Wenn Leipzig sich weiterhin öffentlich als ›Stadt der Friedlichen Revolution‹ positionieren will, ist die beantragte Summe für unsere Gedenkstättentätigkeit und politische Bildungsarbeit unabdingbar nötig. […] Sollte sich die Stadt weiterhin weigern, die ›Runde Ecke‹ als ein wichtiges Symbol des Herbstes ‹89 in angemessener Form zu unterstützen, sähen wir uns
360 Schreiben der Stadt Leipzig an das BKL vom 18.06.2002, ArBKL, Finanzen Lpz.; Stadt Leipzig: Stellungnahme – Stand der Umsetzung des Beschlusses der RV Nr. III/961/02 vom 20.02.2002 vom 19.09.2002, ArBKL, Finanzen Lpz. 361 Schreiben des Bundeskanzleramtes Staatsminister für Angelegenheiten der neuen Bundesländer an das BKL e.V. vom 07.08.2002, ArBKL, Finanzen Dt. BT; siehe u.a.a. Schreiben des BKM an das BKL e.V. vom 06.08.2002, ArBKL, Finanzen BRD. 362 Schreiben des BKL e.V. an MdB Antje H. vom 27.03.2002, ArBKL, Finanzen Dt. BT. Vgl. auch Schreiben des BKL e.V. an MdB Gunter W. vom 27.03.2002, ArBKL, Finanzen Dt. BT; Schreiben des BKL e.V. an MdB Gunter W. vom 29.10.2002, ArBKL, Finanzen Dt. BT; Schreiben des BKL e.V. an MdB Gunter W. vom 11.12.2002, ArBKL, Finanzen Dt. BT. 363 Schreiben des BKL e.V. an die Stadt Leipzig Kulturausschuss vom 28.06.2002, ArBKL, Finanzen Lpz. 364 Ebd., S. 2-3. Gleicher Wortlaut findet sich auch in einem Schreiben direkt an den OBM der Stadt Leipzig, vgl. Schreiben des BKL e.V. an die Stadt Leipzig OBM Tiefensee vom 17.07.2002, S. 3, ArBKL, Finanzen Lpz.
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gezwungen, Leipzig das Recht abzusprechen, sich als ›Stadt der Friedlichen Revolution‹ zu bezeichnen beziehungsweise diesen Titel immer dann zu nutzen, wenn es gerade vorteilhaft scheint. Wir erwarten in den kommenden Tagen einen Termin für ein persönliches Gespräch […] andernfalls werden wir uns noch in der nächsten Woche an die Presse wenden.«365
Und auch der LStU Sachsen appellierte inzwischen an Tiefensee ähnlich eindringlich: »Ich bin überzeugt, dass es im ureigenen Interesse der Stadt Leipzig liegt, mit der Gedenkstätte ›Museum in der Runden Ecke‹ eine Einrichtung zu fördern und zu erhalten, die gleichermaßen touristischer Anziehungspunkt wie Sinnbild für den Mut, den Aufbruchswillen und die demokratische Gesinnung der Bürger Ihrer Stadt ist.«366
Besonders die Stadtratsfraktionen der SPD und der Grünen nahmen sich daraufhin im Laufe des Herbstes 2002 der BKL-Problematik an und setzte sich nun vehement für eine höhere kommunale Förderung ein.367 Sie brachten einen Antrag ein, der eine mittelfristige Sicherstellung der »Runden Ecke« ab dem 30. Juni 2003 vorsah.368 Darin hieß es: »Die Stadtverwaltung unterbreitet dem Stadtrat bis zum 30.06.2003 Vorschläge, die eine mittelfristige Sicherung der Arbeit des Museums ermöglichen.«369 Zur Bedingung wurden die Vorlage einer schlüssigen Konzeption sowie die Kooperation mit dem Archiv der Bürgerbewegung Leipzig e.V. erhoben.370 Der Stadtrat beschloss noch vor Ablauf des Jahres eine institutionelle Förderung der »Runden Ecke« in Höhe von 50.000 € jährlich.371 Ab Januar 2003 war das BKL in Bezug auf seine landespolitischen Bemühungen, die »Runde Ecke« im Zuge der StSG-Neugründung in die dauerhafte Förderung zu bekommen, endlich erfolgreich. Es erreichte, dass eine institutionelle Förderung der Gedenkstätte Museum in der »Runden Ecke« Leipzig im StSGG ausdrücklich und so festgelegt wurde, dass das BKL seine freie Trägerschaft behalten konnte. Der Geschäftsführer der StSG betrachtete diese Variante bei der Experten-
365 Schreiben des BKL e.V. an die Stadt Leipzig OBM Tiefensee vom 13.09.2002, ArBKL, Finanzen Lpz. 366 Schreiben des LStU Sachsen an die Stadt Leipzig OBM Tiefensee vom 27.11.2002, S. 2, ArBKL, Finanzen Lpz. 367 Orbeck, M.: »CDU fordert: Verwaltung soll Etatentwurf 2003 überprüfen«, in: Leipziger Volkszeitung vom 05.11.2002; o.V.: »Haushalt 2003 – das sagen die Fraktionen«, in: Leipziger Volkszeitung vom 14.11.2002; Müller, Thomas: »Runde Ecke gerät erneut in Finanznot«, in: Leipziger Volkszeitung vom 27.11.2002. 368 Schreiben der SPD-Stadtratsfraktion an das BKL e.V. vom 18.12.2002, ArBKL, Finanzen Lpz.; Stadt Leipzig: Änderungsantrag Nr. III/ÄA zu Antrag Nr. 073 HHPl 2003 vom 18.12.2002, ArBKL, Finanzen Lpz. 369 Ebd. 370 Ebd. 371 Der Stadtratsbeschluss liegt Verf. nicht vor. Ein Hinweis hierauf fand sich im Schreiben des BKL e.V. an die Stadt Leipzig Kulturamt vom 24.10.2005, ArBKL, Finanzen Lpz.
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anhörung am 16. Januar 2003 zwar weiterhin äußerst kritisch, »[…] würde eine fortlaufende Aufzählung von Förderungen, die ausschließlich die SED-Diktatur, und die DDR betreffen […] die eingeschwungene Balance der Stiftung und ihre Orientierung auf den antitotalitären Konsens beeinträchtigen«,372 und betonte er noch, »die besondere Erwähnung des Staatssicherheitsdienstes der DDR ist für das Gefüge der Stiftung nicht zweckdienlich […]«,373 durchsetzen konnte er sich allerdings nicht. Vielmehr schloss sich die Politik den Vorschlägen des LStU Sachsen an, der gegen den Geschäftsführer argumentierte: »An der Stelle […] wo es um die Hinzunahme der Gedenkstätten ›Runde Ecke‹ in Leipzig und Bautzener Straße in Dresden geht – also Orte der Stasiverwaltungen – sehe ich den Änderungsantrag der CDU-Fraktion in keiner Weise einseitig, weil hier […] gerade in der bisherigen Tätigkeit der Stiftung die Erinnerung an die Stasirepression zu kurz gekommen ist und weil ich persönlich glaube, dass man die Zeiten vor und nach 1945 nicht so mathematisch abwägen kann.«374
So hieß es im am 28. Februar durch den Sächsischen Landtag verabschiedeten StSGG unter §2 Absatz (3): »Institutionell gefördert werden insbesondere die Gedenkstätten 1. ehemalige Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) Bautzener Straße Dresden und 2. Museum in der ›Runden Ecke‹ Leipzig.«375 Da sich die Förderung auf Gedenkstätten beziehen musste und eine Verbands-/Vereinsförderung ausgeschlossen war, wurde der Stasi-Bunker in Machern kein Bestandteil des StSGG. Auf Bundesebene erreichte das BKL erst durch kontinuierliches Einwirken auf einzelne Haushaltspolitiker des Deutschen Bundestages sowie in Folge der landespolitischen StSGG-Lösung, eine einigermaßen gesicherte Gedenkstättenförderung.376 Den Zuwendungsbescheid des BKM an die StSG vom Mai 2003, in dem
372 Sächsischer Landtag: Stenographisches Protokoll des Ausschusses für Wissenschaft und Hochschule, Kultur und Medien zur Anhörung »Gesetz zur Errichtung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft« vom 16.01.2003, S. 15, PASächsLt. 373 Haase, Norbert: Stellungnahme zum Gesetz zur Errichtung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft vom 08.01.2003, ArStSG, Landtagsdrucksachen 1991-2004/2003. 374 Sächsischer Landtag: Stenographisches Protokoll des Ausschusses für Wissenschaft und Hochschule, Kultur und Medien zur Anhörung »Gesetz zur Errichtung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft« vom 16.01.2003, S. 36, PASächsLt. 375 Gesetz zur Errichtung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft (Sächsisches Gedenkstättenstiftungsgesetz – SächsGedenkStG vom 28.02.2003, ArStSG, Landtagsdrucksachen 1991-2004/2003 376 U.a. Schreiben des BKL e.V. an MdB Petra-Evelyne Merkel vom 03.01.2003, ArBKL, Finanzen Dt. BT; Schreiben des BKL e.V. an MdB Günter Nooke vom 04.10.2004, ArBKL, Finanzen Dt. BT.
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ausdrücklich geregelt war: »Außerdem bewillige ich Ihnen zweckgebunden für eine Projektförderung des Stasi-Museums ›Runde Ecke‹ in Leipzig eine Bundeszuwendung in Höhe von bis zu 100.000 €«, erklärte das BKL einfach für »rechtswidrig«.377 Gleiches galt für die Zuwendungsbescheide der StSG. Obwohl das BKM und die StSG haushaltsrechtlich gar nicht umhin kamen, den Anweisungen des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) bzw. des Bundesverwaltungsamtes (BVA) im Hinblick auf Art, Höhe und Gegenstand zu folgen, legte das BKL Einspruch gegen die Bescheide ein.378 Und als die StSG das BKL (im Auftrag des BVA) zur Nachreichung eines entsprechenden Projektantrages für das Jahr 2004 aufforderte und die StSG kurz darauf den Museumsbunker in Machern aus der Bundes- und Landesprojektförderung herausnahm, eskalierte die Auseinandersetzung zwischen StSG und BKL.379 Und nachdem sowohl die StSG und als auch das BKM bzw. das BVA die Einwände des BKL zurückwiesen, wurde jetzt auch vor einer gerichtlichen Auseinandersetzung nicht mehr Halt gemacht. Das BKL reichte Klage gegen die StSG ein.380 Parallel informierte es erneut Abgeordnete des Deutschen Bundestages, um auf diesem Wege die eigenen Interessen weiterhin durchzusetzen. Das BKL teilte den Bundestagsabgeordneten mit, der politische Wille werde auf verwaltungsrechtlichem Wege untergraben.381 Es beschwerte sich, die StSG »[…] weigere sich leider, in unserem Sinne tätig zu sein«, infolgedessen sei das BKL nun am Rande der Zahlungsunfähigkeit bzw. »bankrott«.382 Zudem monierte es, die Exekutive habe sich einfach nicht an die Festlegungen des Haushaltsplanes des Bundes gehalten:
377 BKM an die StSG vom 12.05.2003, S. 2, ArBKL, Finanzen 2003; BKL e.V.: Argumentation bezüglich der Frage institutionelle oder Projektförderung vom BKM (Bund) für das Jahr 2003, Anlage zu Schreiben des BKL e.V. an MdB Gunter W. vom 09.10.2003, ArBKL, Finanzen 2003; Schreiben des BKL e.V. an das Verwaltungsgericht Dresden vom 24.11.2003, S. 2, ArBKL, Finanzen 2003. 378 Schreiben der StSG an das Bürgerkomitee Leipzig vom 21.05.2003, ArBKL, Finanzen 2003; Schreiben des BKL e.V. an die StSG vom 29.12.2003, ArBKL, Finanzen 2004; Schreiben des BKL e.V. an die StSG vom 19.12.2003, ArBKL, Finanzen Sachsen. 379 Schreiben der StSG an das BKL e.V. vom 15.01.2004, ArBKL, Finanzen 2004; BKL e.V.: Offene Fragen bezüglich der Förderung der Gedenkstätte Museum in der »Runden Ecke« mit dem Museum im Stasi-Bunker vom 26.01.2004, ArBKL, Finanzen 2004. 380 Schreiben des BKL e.V. an die StSG vom 21.05.2003 vom 19.06.2003, ArBKL, Finanzen Sachsen; Schreiben der StSG an das BKL e.V. vom 23.06.2003, ArBKL, Finanzen Sachsen; Schreiben des BKL e.V. an das Bundesverwaltungsamt vom 10.02.2004, ArBKL, Finanzen 2004; Schreiben des BKL e.V. an das Verwaltungsgericht Dresden vom 12.08.2003, ArBKL, Finanzen 2003; Schreiben des BKL e.V. an die StSG vom 11.08.2003, ArBKL, Finanzen 2003. 381 Schreiben des BKL e.V. an MdB Gunter W. vom 09.10.2003, ArBKL, Finanzen 2003; BKL e.V.: Argumentation bezüglich der Frage institutionelle oder Projektförderung vom BKM (Bund) für das Jahr 2003, Anlage zu ebd. 382 Schreiben des BKL e.V. an MdB Gunter W. vom 11.02.2004, ArBKL, Finanzen Dt. BT; BKL e.V.: Aktueller Sachstand zur Bundesförderung der Gedenkstätte Museum
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»Sowohl die BKM als auch die Stiftung Sächsische Gedenkstätten haben in der Vergangenheit immer wieder betont, dass eine institutionelle Förderung nur dann möglich ist, wenn auf politischer Ebene entsprechende Entscheidungen getroffen wurden. Nun, da diese vorliegen, fühlt sich die Verwaltung daran plötzlich nicht mehr gebunden.«383
Von den Abgeordneten forderte das BKL deshalb noch mehr politische Einflussnahme auf die Umsetzung politischer Entscheidungen, sodass »[…] die Entscheidungen über die Förderung unserer Einrichtung nicht auf Verwaltungsebene, sondern im Parlament getroffen werden«.384 Und obwohl nicht nur auf exekutivem, sondern auch auf legislativem Wege, d.h. über den BKM beim Bundeskanzleramt und über den Haushaltsauschuss des Deutschen Bundestages, lediglich einer Projektförderung zugestimmt wurde, hielt das BKL an seiner Auffassung fest, politisch sei eigentlich das Gegenteil gewollt. Angesichts der gegen sie erhobenen Klage wurde jetzt auch Seitens der StSG der Ton schärfer. So ging die StSG von nun an streng formalistisch vor.385 Bezüglich des Druckes, den das BKL aus den Reihen der Bundestagsabgeordneten aufbaute, reagierte die StSG, sie lasse sich von der Politik nicht die eigene Arbeit der StSG diktieren.386 Erst als das BKL wiederholt damit drohte, die Öffentlichkeit über das Aus der Gedenkstätte zu informieren, und erst als das BKL in Folge eines Schlichtungsgespräches am 18. Oktober 2004 die von der StSG und dem BVA angeforderten Unterlagen (Wirtschaftspläne, Stellenbeschreibungen und Projektantrag) einreichte, gewährte die StSG endlich die Auszahlung der bewilligten Projektmittel.387 Auch wenn es in dem nachgereichten Projektantrag noch hieß: »Wir erklären jedoch ausdrücklich, dass wir nach wie vor davon ausgehen, dass die Zuwendungen aufgrund der Beschlussfassung des Deutschen Bundestages institutionell ausgereicht werden müssten [Herv. i.O.]«, erkannte das BKL somit die Projektförderung endlich an.388
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in der »Runden Ecke«, o.D., Anlage zu Schreiben des BKL e.V. an MdB Petra-Evelyne M. vom 26.03.2004, ArBKL, Finanzen Dt. BT. Schreiben des BKL e.V. an MdB Gunter W. vom 11.02.2004, ArBKL, Finanzen Dt. BT. Schreiben des BKL e.V. an MdB Gunter W. vom 19.12.2003, S. 2, ArBKL, Finanzen Dt. BT. Schreiben der StSG an das BKL e.V. vom 03.02.2004, ArBKL, Finanzen 2004; Schreiben der StSG an das BKL e.V. vom 09.03.2004, ArBKL, Bund/Land institutionelle Förderung 2004. Norbert Haase z.n. Schreiben des BKL e.V. an das MdL Christine C. vom 16.02.2004, ArBKL, Finanzen Sachsen. Schreiben des BKL e.V. an die StSG vom 19.03.2004, ArBKL, Bund/Land institutionelle Förderung 2004; Schreiben des BKL e.V. an die StSG vom 15.11.2004, ArBKL, Finanzen 2004; BKL e.V.: Antrag auf Projektförderung für das Jahr 2004 vom 29.11.2004, ArBKL, Finanzen 2004. Ebd.
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Offiziell wurde der Streit einen Tag vor Heiligabend 2004 beigelegt, indem die StSG und das BKL einen Zuwendungsvertrag beschlossen.389 Der Vertrag, der zunächst nur für das Jahr 2004 gelten sollte, legte ausdrücklich fest, dass die Mittel des Bundes auf Dauer als Projektförderung auszuschütten seien. Im Gegenzug billigte die StSG an gleicher Stelle, dass ein Teil der Mittel für den Stasi-Bunker in Machern verwendet werden dürfe.390 Im Frühjahr 2005 einigten sich das BKL und die StSG außergerichtlich und wurde ein Zuwendungsvertrag über die Projektförderung durch den Bund und die institutionelle Förderung durch den Freistaat für den Zeitraum 2005-2008 unterzeichnet, wodurch das BKL das gewisses Maß an Planungssicherheit garantiert bekam.391 Erst nach Jahren gedenkstätten- und erinnerungspolitischer Auseinandersetzungen und Verhandlungen auf politischer, verwaltungsmäßiger und schließlich gerichtlicher Ebene wurde also eine mittelfristige Absicherung der Gedenkstätte Museum in der »Runden Ecke« mit dem Stasi-Bunker in Machern erreicht. Die erinnerungspolitische Anerkennung der »Runden Ecke« gelang dabei vor allem durch Rückgriffe auf die eigenen Narrative zu den Herbst-89’-Ereignissen, die das BKL am Ende der 90er Jahre etabliert hatte. Die Verweise auf die »Runde Ecke« als »zentraler Ort der Friedlichen Revolution« und Leipzig als »Stadt der Friedlichen Revolution« sowie Verweise auf die tragende Rolle des Bürgerkomitees waren ausschlaggebend, um in die landes- sowie bundespolitische Gedenkstättenförderung zu kommen. D.h., die dauerhafte Gedenkstättenarbeit des BKL fußte spätestens seit 2002 nicht nur ideell, sondern auch materiell auf Geschichtskonstruktionen, die die Komplexität und die ambivalenten Entwicklungen der Herbst-89’Ereignisse kaum wiedergaben und besonders die Sicht des Bürgerkomitees selbst widerspiegelten. Über das Produzieren und Pflegen dieser Geschichtskonstruktionen und über das Setzen starker Symbole gelang es, politischen Handlungsdruck zu erzeugen, der dann zu einer breiten politischen Unterstützung der Gedenkstättenarbeit in der »Runden Ecke« führte. Hierbei ging es nicht nur um den Erhalt des historischen Ortes, sondern es stand – wie auch beim Streit mit dem BStU – ein weiteres Mal das »Überleben« des BKL im Mittelpunkt. Die Gedenkstättenförderung der Staatsregierung und des BKM war als Sonderfall der sächsischen und gesamtdeutschen Gedenkstättenpolitik gewissermaßen ein geschichts- und erinnerungspolitisch erkämpfter »Lebensunterhalt«. Auf eine fundierte, wissenschaftliche Konzeption und ein didaktisches Konzept – wie sonst üblich – wurde daher verzichtet. Auch erfolgte keine Begutachtung der »Runden Ecke« durch unabhängige Sachverständige bzw. durch ein vom BKM berufenes Expertengremium, obwohl die Gedenkstättenkonzeption des Bundes solche Procedere für Einzelgedenkstätten vorsah. Schließlich akzeptierten Freistaat und Bund sogar stillschweigend, dass der Museumsbunker in Machern und die ehemalige zentrale Hinrichtungsstätte in Leip-
389 Zuwendungsvertrag zwischen StSG und BKL e.V. vom 23.12.2004, ArBKL, Bund/ Land institutionelle Förderung 2004. 390 Ebd., S. 3. 391 Außergerichtliche Einigung zwischen der Stiftung Sächsische Gedenkstätten und dem Bürgerkomitee Leipzig e.V. vom 15./29.04.2005, ArBKL, Finanzen 2003.
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zig indirekt mitgefördert wurden, definierte das BKL derlei Projekte fortan als wesentliche Elemente der »einmaligen Gedenkstättenkombination ›Runde Ecke‹.«
3.5 D IE »R UNDE E CKE « UND DIE NEUE G EDENKSTÄTTENKONZEPTION Als im Dezember 2004 die BStU und die Stiftung zur Aufarbeitung vom BMI ihr Ressort zum BKM wechselten, und sich infolgedessen eine Neuordnung der Gedenkstättenlandschaft abzeichnete, überraschte es daher nicht, dass das BKL aus der eigenen erinnerungs- und geschichtspolitischen Perspektive heraus diese Neuordnung und das ihr zugrundeliegende »Regionalkonzept« ablehnte und – von der Befürchtung getragen, ein Stück weit Erinnerungs-, Bildungs- und Deutungshoheit zu verlieren – am Erhalt des Status quo festhielt. Die von der BStU geplante Konzentration der BStU-Archive, durch Zusammenführung der bisher bezirklich verwalteten Aktenbestände in eine Außenstelle je Bundesland, sowie die Ausweitung der Abteilung Bildung und Forschung wurde abermals als Bedrohung der eigenen örtlichen Aufarbeitungsleistung wahrgenommen und dementsprechend scharf kritisiert. Das BKL forderte öffentlich dazu auf: »Die Umsetzung des Regionalkonzeptes der BStU […] muss umgehend gestoppt werden.«392 Und obwohl die historische Aufarbeitung schon seit 1992 Bestandteil des StUG war, und das BKL seit 1991 fortlaufend an den Gesetzesnovellierungen mitgeschrieben hatte, konstatierte es zum Wechsel ins Kulturressort: »Dies ist einerseits unsachgemäß, andererseits rechtlich auf diesem Wege nicht möglich. […] Die Bundesbeauftragte verwaltet keine Gedenkstätte, sondern ein Archiv.«393 Neben der langfristig angelegten Verlagerung der BStU-Schwerpunkte von der Archiverwaltung weg hin zu Bildung und Forschung, lehnte das BKL auch sich abzeichnende Zentralisierungstendenzen grundlegend ab. Gerade weil das BKL existenziell darauf angewiesen war, dass die historische Aufarbeitung des MfS auch zukünftig in der Peripherie stattfindet, und es deshalb auch ureigenes Interesse am Fortbestehen einer dezentralen und pluralistischen Erinnerungs- und Aufarbeitungslandschaft hatte, sprach es sich ausdrücklich gegen eine »Geschichtsaufarbeitung aus einem Guss« zentral in Berlin aus: »Ein Aufarbeitungskombinat ist keine Lösung.«394 Es machte den Gegenvorschlag: »Der richtige Weg […] wäre die Verteilung vorhandener Ressourcen auf die bereits bestehenden Träger, die zum Teil seit 15 Jahren effektiv und erfolgreich arbeiten. […] Die
392 BKL e.V.: Presseerklärung vom 10.12.2004, ArBKL, Finanzen BRD; s.a. Erklärung der sächsischen Verfolgtenverbände und Aufarbeitungsinitiativen vom 29.04.2004, ArBKL, Finanzen Dt. BT. 393 BKL e.V.: Presseerklärung vom 03.12.2004, ArBKL, Finanzen BRD. 394 BKL e.V.: Presseerklärung vom 10.12.2004, ArBKL, Finanzen BRD. Neben dem BKL e.V. unterzeichnete auch die ASTAK e.V. als Trägerin der Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße.
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Unterzeichner [BKL e.V. und ASTAK e.V.] gehen als freie Träger zweier renommierter Gedenkstätten davon aus, dass bei der geplanten Verteilung von Aufgaben und Ressourcen diejenigen Einrichtungen größte Berücksichtigung finden, die bereits seit Jahren kompetent im Bereich der Aufarbeitung und politischen Bildung tätig sind.«395
Statt die Aufarbeitungs- und Deutungsmacht an die BStU abzugeben, forderte das BKL die Stärkung der eigenen »Randposition«. Beide freien MfS-Gedenkstättenträger boten sich daher an, die BStU im Bereich der museologischen und zeithistorischen MfS-Geschichtsaufarbeitung zu beerben. Erinnerungspolitisch zielte dieser Gegenentwurf deshalb vor allem ab auf eine spürbare Stärkung des eigenen Gedenkstättenstandortes. Geschichtspolitisch legte das Gegenkonzept die Schwächung der Deutungskonkurrentin BStU auf dem »Markt der Aufarbeitung und Erinnerung« nahe, indem u.a. der Abbau von Privilegien, ein Ende ihrer museologischen Arbeiten und eine Konzentration auf die reine Aktenverwaltung gefordert wurden. Der Vorschlag ging direkt an die BKM Christina Weiss, an den Deutschen Bundestag und an die Presse.396 Als Weiss im Frühjahr 2005 eine Expertenkommission unter dem Vorsitz von Martin Sabrow beauftragte, einen »Geschichtsverbund zur Aufarbeitung der SEDDiktatur« zu konzipieren, schloss sich das BKL (als Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Gedenkstätten zur Diktatur in SBZ und DDR) federführend den Forderungen der Arbeitsgemeinschaft an, die die Schaffung eines solchen Geschichtsverbundes auf Kosten der dezentralen und heterogenen Gedenkstättenlandschaft durchweg ablehnte. Zunehmende Zentralisierungstendenzen und eine institutionelle »Verstaatlichung« einzelner Einrichtungen wurden abermals öffentlich kritisiert.397 Außerdem wurde nun in einem Offenen Brief endlich eine Verbesserung der Lage und Ausstattung der SBZ- und DDR-Gedenkstätten erwartet. Sie sollten den NS-Gedenkstätten gleichgestellt werden, als konsequente Einlösung des in der Gedenkstättenkonzeption des Bundes verankerten »antitotalitären Konsenses«.398 Da das BKL mit dem Neuordnen der Gedenkstättenlandschaft und mit dem Schaffen eines Geschichtsverbundes befürchtete, dass abermals die eigene Zukunft zur Disposition stehe, und das BKL nicht bereit war, die soeben errungenen landesund bundespolitischen Privilegien sowie die damit verbundene Anerkennung wieder abzugeben, gab es fast keine Alternative, als sich grundsätzlich gegen die Sabrow-Kommission zu positionieren. Und weil die Ergebnisse der Sabrow-Kommission, die am 15. Mai 2006 der Öffentlichkeit vorgestellt wurden, bezüglich der MfS-Aufarbeitung in der Region – trotz Forderungen nach einer besseren finanziellen und personellen Ausstattung – kaum den eigenen Vorstellungen entsprachen,
395 Ebd. 396 Vgl. hierzu auch Schreiben des BKL e.V. an das BKM Staatsministerin Christina Weiss vom 10.02.2005, ArBKL, Finanzen. BRD; Schreiben des BKL e.V. an den Deutschen Bundestag Ausschuss für Kultur und Medien vom 06.05.2005, ArBKL, Finanzen Dt. BT. 397 Offener Brief der Arbeitsgemeinschaft Gedenkstätten zur Diktatur in SBZ und DDR an das BKM Staatsministerin Christina Weiss vom 06.05.2005, ArBKL, Finanzen Dt. BT. 398 Ebd., S. 2.
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übte auch das BKL folgerichtig weiterhin herbe Kritik.399 So lehnte es eine Ausweitung der Geschichtsaufarbeitung der BStU über Berlin hinaus ab, die durch das Errichten eines MfS-Gedenkstättennetzwerkes unter der Ägide der BStU erreicht werden sollte. Die Empfehlungen, die »Grundfinanzierung [der regional ansässigen MfS-Gedenkstätten] sollte grundsätzlich auf Landes- und kommunaler Ebene erfolgen. Der Aufbau eines innerhalb des Regionalnetzwerkes abgestimmten Ausstellungsangebotes, das die einzelnen Gedenkstätten mit gezielten Schwerpunktbildungen profiliert, ist am aussichtsreichsten durch Kooperationsvereinbarungen mit der BStU zu erzielen […]«,wurden ebenfalls abgelehnt.400 Aus Sicht des BKL stellten sie nämlich in erster Linie eine Deklassierung der »Runden Ecke« dar, als nicht mehr von gesamtstaatlicher Bedeutung bzw. als kaum förderungsfähig durch den Bund. Ferner wurden Verträge über Ausstellungsinhalte bzw. die Übertragung der inhaltlichen Federführung auf die BStU sowie gedenkstättenräumliche Mitnutzungen der BStU als eklatante Eingriffe in die eigene institutionelle Autonomie gewertet.401 Schließlich wurde der Kommission aufgrund ihrer personellen Besetzung jegliche gedenkstättenpolitische Legitimation abgesprochen: »Allein schon die Zusammensetzung […] ist fragwürdig, gehört ihr doch kein Gedenkstättenfachmann an, obwohl eine zentrale Frage eben gerade die Zukunft von Gedenkstätten an authentischen Orten ist.«402 D.h., die in der Kommission versammelten Fachhistoriker wurden in Fragen der Geschichtsaufarbeitung so oder so für inkompetent erklärt. Da für die Gedenkstätte Museum in der »Runden Ecke« Leipzig nur bis 2008 projektbezogene Förderungen durch den Bund und eine institutionelle Förderung durch die StSG geregelt waren, setzte das BKL alle Hoffnung auf den neuen BKM Bernd Neumann, der die Sabrow-Empfehlungen ja nur zögerlich annahm und sie maximal als Anregung für eine eigene Gedenkstättenkonzeption auffasste. Als Neumann im Sommer 2008 seine neue Gedenkstättenkonzeption vorlegte, wurde das BKL teils in seinen Gewichtungen und Forderungen bestätigt, teils herbe enttäuscht. So tauchte die »Runde Ecke« namentlich lediglich an der Stelle auf, wo es um die Würdigung der Herbst-89’-Relikte in Leipzig ging: »Das umfassende Informationsangebot des Zeitgeschichtlichen Forums, aber auch der Gedenkstätte Museum in der ›Runden Ecke‹ in der ehemaligen MfS-Bezirksverwaltung und des Archivs der Bürgerbewegung machen Leipzig zu einem Schwerpunkt der Erinnerung an den Widerstand gegen die SED-Diktatur.«403
399 Sabrow, Martin/Eckert, Rainer (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? (2007), S. 39. 400 Ebd. 401 Die Empfehlung der Kommission in diesem Punkt lautete tatsächlich: »Eine besondere Stärkung […] kann sich daraus ergeben, dass eine personelle und sachliche Verstärkung der regionalen Gedenkstätten mit MfS-Bezug zugleich die Möglichkeit bietet, deren Räumlichkeiten für die regionale Präsenz der BStU (Sprechstunde, Akteneinsicht) zu nutzen«, vgl. ebd. S. 39, 40; BKL e.V.: Pressemitteilung vom 15.05.2006, ArBKL, Finanzen BRD. 402 Ebd. 403 BKM: Verantwortung wahrnehmen (2008), S. 19.
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Diese Erwähnung signalisierte zwar, dass es dem BKM – entgegen den bisherigen Empfehlungen – nun auch um die prinzipielle gesamtstaatliche Anerkennung dieser Einrichtungen in der Peripherie ging, und sogar die Bereitschaft bestand, die vom BKL betriebene Umdeutung Leipzigs zur »Heldenstadt« und die Umwandlung der »Runden Ecke« in einen »Ort des Widerstandes« mitzutragen, darüber hinaus gehende Festlegungen allerdings – wie insbesondere konkrete Zusagen über eine dauerhafte Förderung der Gedenkstätte – blieben weiterhin aus.404 Weder wurde die »Runde Ecke« als eine bisher über Projektmittel des Bundes geförderte Einrichtung aufgeführt, noch wurde sie als eine zukünftig institutionell zu fördernde Gedenkstätte empfohlen.405 Das BKL hatte zwar noch in seiner Stellungnahme zur Anhörung am 07. November 2007 den BKM aufgefordert, er solle an dieser Stelle doch unmissverständlicher werden und gerade die in der Fläche gelegenen Einrichtungen, d.h. auch die »Runde Ecke« stärker institutionell unterstützen, sei doch von dort das Ende der DDR ausgegangen und bestünden da besonders starke Verharmlosungstendenzen, mehr aber als eine bloße Anerkennung der »Runden Ecke« wurde nicht erreicht.406 Ähnlich erging es dem BKL mit seinen Vorstellungen, erstens die Politik solle die Regelung nach der sich der Bund nur bis maximal 50% beteiligt überdenken, seien doch gerade die neuen Bundesländer damit überfordert, und zweitens, bei Neuaufnahmen in die Bundesförderung solle im Hinblick auf die angeforderten fachwissenschaftlichen Konzepte berücksichtigt werden, »[…] dass gerade in der Aufbauphase […] kein zusätzliches Potential für die Erarbeitung solcher Konzepte vorhanden ist«.407 Auch diesen grundlegenden Förderkriterien rüttelte der BKM keineswegs, an dem bereits 1999 im Zuge der damaligen Gedenkstättenkonzeption entwickelten Kriterienkatalog hielt Neumann fest.408 In anderen Punkten gab es jedoch ein Entgegenkommen. Die Forderung des BKL: »Das Prinzip der Subsidiarität ist unbedingt zu wahren. Das bedeutet, dass keine Einrichtungen, die durch bürgerschaftliches Engagement entstanden sind und sich in freier Trägerschaft befinden, in staatliche Zuständigkeiten übernommen oder gar durch neu zu schaffende staatliche Einrichtungen ersetzt werden«, wurde weitgehend berücksichtigt.409 D.h., einer Übernahme der bestehenden MfS-Museen durch die BStU wurde – mit Ausnahme der Forschungs- und Gedenkstätte in der
404 Im Entwurf vom 22.06./04.07.2007 war eine solche Neubewertung der »Runden Ecke« noch nicht enthalten, vgl. Dt. BT, Drs. 16(22)127 vom 04.07.2007; BKM: Verantwortung wahrnehmen, Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen. Entwurf vom 22.06.2007, S. 14. 405 BKM: Verantwortung wahrnehmen (2008), S. 19, Anlage 2 u. 3, S. 23, 24ff. 406 Dt. BT, Drs. 16(22)132 h; Hollitzer, Tobias: Stellungnahme zum Entwurf des BKM zur Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes vom 05.11.2007, S. 3, S. 14, 15. 407 Ebd., S. 8. 408 BKM: Verantwortung wahrnehmen (2008), Anlage 4, S. 28. 409 Dt. BT, Drs. 16(22)132 h; Hollitzer, Tobias: Stellungnahme zum Entwurf des BKM zur Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes vom 05.11.2007, S. 7.
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Normannenstraße – eine Absage erteilt. Zwar ging Neumann nicht soweit, das Angebot des BKL »im Sinne des angestrebten Geschichtsverbundes sollten Aktivitäten der BStU und im Bereich der politischen Bildung und des Betriebs von Dokumentations- und Informationszentren (IDZ) zusammen mit den personellen und finanziellen Ressourcen an die vor Ort bestehenden Gedenkstätten bzw. freien Träger der gesellschaftlichen Aufarbeitung übergeben werden«, anzunehmen, die institutionelle und inhaltliche Unabhängigkeit und Gestaltungsfreiheit des BKL in der »Runden Ecke« und anderer freier Aufarbeitungsträger sollte ohne Einschränkungen bestehen bleiben.410 Jenseits dieser gedenkstättenpolitischen Ergebnisse nahm das BKL in Bezug auf die Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption geschichtspolitisch weiterhin eine Position ein, die den undifferenzierten totalitarismustheoretischen Ansätzen folgte. Wenngleich sich das BKL explizit gegen eine Gleichsetzung der Verbrechenskomplexe aussprach, so hielt es doch an einer rigorosen Gleichbehandlung von NS- und DDR-Gedenkstätten bzw. an einer deutlichen Aufwertung der DDR-Gedenkstätten fest und befürwortete es eine enge Zusammenarbeit zwischen NS- und SBZ/DDRAufarbeitung dort, wo »Ähnlichkeiten« identifiziert wurden.411 Zudem betonte das BKL abermals den totalitären Diktaturcharakter der DDR: »jeder Teil des Alltags [war] von der Diktatur betroffen«, Nischen habe es demnach nicht gegeben.412 Schließlich forderte das BKL, es solle nicht weiter von einer »SED-Diktatur«, sondern vielmehr einheitlich von einer »kommunistischen Diktatur in der SBZ und DDR« gesprochen werden – mit Erfolg.413 So leitete der BKM seine neue Gedenkstättenkonzeption mit den Worten ein: »Während im Westen Deutschlands nach 1945 der Aufbau einer rechtstaatlichen Demokratie gelang, wurde in der SBZ und später in der DDR eine kommunistische Diktatur etabliert, die erst 1989/90 überwunden werden konnte.«414 D.h., das Geschichtsnarrativ einer kontinuierlichen totalitären kommunistischen Diktatur, die 1945 ihren Anfang nahm und in einer Friedlichen Revolution jäh gestürzt wurde, hatte sich inzwischen etabliert. Und den BKL-Forderungen folgend, die Gedenkstätten zum Gedenken der Opfer des Kommunismus besser zu stellen, versprach der BKM jetzt global: »Bei seiner Förderung […] wird der Bund dem bei den Gedenkstätten und Erinnerungsorten zur Auseinandersetzung mit der kommunistischen Diktatur festzustellenden Nachholbedarf Rechnung tragen. Die Bedingungen für die entsprechenden Einrichtungen sollen verbessert und ausgebaut werden.«415
410 Ebd., S. 17, 18; BKM: Verantwortung wahrnehmen (2008), S. 19. 411 Dt. BT, Drs. Drs. 16(22)132 h; Hollitzer, Tobias: Stellungnahme zum Entwurf des BKM zur Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes vom 05.11.2007, S. 1, 2,6. 412 Ebd., S. 5. 413 Ebd., S. 2. 414 BKM: Verantwortung wahrnehmen (2008), S. 2. 415 Ebd., S. 15.
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3.6 Z USAMMENFASSUNG : D IE »R UNDE E CKE « 1989-2009 In der Nacht vom 04. auf den 05. Dezember 1989 bildete sich das Bürgerkomitee Leipzig, um in Sicherheitspartnerschaft mit dem MfS/AfNS, der VP und Vertretern der Regierung die BVSt in Leipzig zu sichern und das MfS/AfNS aufzulösen. Bereits am 03. Dezember hatten die Staats- und Kommunalpolitik den Weg hierfür bereitet, bereits am Nachmittag des 04. Dezember kam es zu einer »geordenten Übergabe«. Zwischen dem 04. Dezember 1989 und dem 15. Januar 1990 bestand der Schwerpunkt der Arbeit der BKL vor allem darin, Aktenvernichtungen im großen Stil zu unterbinden und eine legitimierte »bürgerliche Kontrolle« über einzelne Bereiche des MfS/AfNS und – soweit zu diesem Zeitpunkt überhaupt möglich – zu etablieren. Die Strategie der Modrow-Regierung, nur solche Abteilungen aufzulösen, die einer »falschen Sicherheitsdoktrin« gefolgt seien, und einen Teil der Machtstrukturen des MfS/AfNS durch die Bildung in eines Nachrichtendienst und in eines Verfassungsschutz zu erhalten, wurde von einzelnen Mitgliedern des BKL noch bis in den Januar 1990 hinein toleriert bzw. sogar aktiv unterstützt. Erst Anfang Januar 1990 und als schließlich politisch bereits entschieden war, dass das MfS/AfNS ersatzlos aufgelöst und endgültig »zur Geschichte« werden sollte, d.h. mit dem Regierungsdekret vom 13. Januar 1990, wurde die historische Aufarbeitung und Dokumentation des MfS/AfNS von BKL-Mitgliedern auf die Agenda gesetzt und stieg insgesamt der Einfluss derjenigen BKL-Mitglieder, die dem DDR-Regime insgesamt kritisch gegenüberstanden und denen demokratische Reformen nicht mehr ausreichten. Diese neue Qualität der Auseinandersetzung mit dem MfS und der Bedeutungszuwachs des BKL für die Aufarbeitung des MfS/AfNS drückte sich u.a. darin aus, dass die ab Ende Februar und März 1990 eingerichteten Auflösungskommissionen und -komitees von da an hauptsächlich mit BKL-Mitgliedern besetzt und BKL-Mitgliedern nun auch in verschiedenen politischen Gremien vertreten waren. Des Weiteren wurde die historische Aufarbeitung und Dokumentation des MfS nun – neben der weiterhin bestehenden Bestandssicherung und Aktensichtung – zum Hauptgegenstand der Kommissionsarbeit. Auf diesem Wege bekamen Mitglieder des BKL nicht nur Einblicke in das Herrschaftswissen, sondern gewannen sie in gewisser Weise nun auch zunehmend Deutungshoheit über die Geschichte des MfS und über sein Ende. Eine bereits seit der Besetzung der BVSt Leipzig am 04. Dezember 1989, d.h. eine von Anfang an bestehende Überlegenheit von Bürgern und BKL-Mitgliedern im MfS-Auflösungsprozess und ein schon vor Mitte Januar bestehendes Bestreben, das MfS historisch aufzuarbeiten, können also nicht bestätigt werden. Das BKL unterhielt im Zuge des Transformationsprozesses 1989/90 vielmehr ein ambivalentes Verhältnis zum Staat und zur Staatsmacht. Einerseits stand es staatlichen Interventionen bei der Auflösung des MfS/AfNS und bei der historischen Aufarbeitung spätestens seit Anfang Januar 1990 äußerst kritisch gegenüber, andererseits war das BKL auf verschiedensten Ebenen immer wieder mit Staat und Stadt, Regierung und Rat verbunden und suchte es zur Durchsetzung seiner Interessen sowie zur Legitimierung seiner Arbeit die Nähe zur Politik und zur Staatsmacht. Dies ging soweit, dass einige BKL-Mitglieder schließlich sogar Teil der Politik und staatlichen
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Steuerungsinstrumente wurden (z.B. Staatliches Komitee) und auf diese Weise Einfluss nahmen auf die Auflösung des MfS, das Ende der DDR und ihre historische Aufarbeitung. Zu keiner Zeit arbeitete das Bürgerkomitee daher vollkommen »autonom« und vollkommen unabhängig von staatlichen Institutionen. Ab Februar 1990 machte es sich das BKL zur Aufgabe, aus den vorgefundenen MfS-Materialien eine Dokumentation über das MfS zu erstellen. Dies führte zur ersten historischen Ausstellung über das MfS. Ab März und verstärkt ab Mai 1990 tauchten sogar erste Planungen zu einem Dokumentationszentrum auf. Das BKL stützte sich dabei auf Konzepte, die in der ehemaligen Zentrale des MfS vom dortigen Arbeitsstab bzw. von der dortigen Aktensichtungskommission vorgelegt wurden. Diese Planungen wurden jedoch bis zum Sommer 1990 nur in Teilen weiterverfolgt. So entstand im Laufe des Frühlings – finanziert über einen Zuschusses des Runden Tisch des Bezirkes Leipzig – die erste MfS-Ausstellung überhaupt mit dem Titel »Stasi. Macht und Banalität«. Sie wurde am 10. Juni 1990 in der Leipziger Information eröffnet. Da in der »Runden Ecke« noch große MfS-Aktenbestände eingelagert waren und daher eine anderweitige kommunale Nutzung politisch noch nicht entschieden war, wurde die Ausstellung nach ihrem Ende am 27. Juni 1990 eher zufällig im Altbau der ehemaligen BVSt eingelagert und dort – im Einklang mit dem politischen Auftrag des parlamentarischen Untersuchungsausschusses – zum 01. September 1990 wiedereröffnet. Sie bildete den Grundstock der späteren Museumsarbeit. Da der Sonderbeauftragte für die Unterlagen der Staatssicherheit seine Verantwortung zunächst nur für die Akten der DDR-Staatssicherheit sah, betreute das BKL die MfS-Ausstellung in der »Runden Ecke« bis auf weiteres. Zur weiteren historischen Aufarbeitung des MfS in Leipzig und um dauerhaft die Zuständigkeit für die Ausstellung zu regeln, gründete sich das BKL im Frühjahr 1991 als ein Verein neu. Der dauerhafte Verbleib der Ausstellung in der »Runden Ecke« war noch vor Beitritt der DDR zur BRD durch einen Nutzungsvertrag festgelegt worden, den das BKL mit dem Staatlichen Komitee abgeschlossen hatte. Ab Herbst 1990 war also das BKL für die MfS-Geschichtsschreibung in Leipzig zunächst konkurrenzlos zuständig und wurde die »Runde Ecke« der Hauptsitz. Das Buch zur ersten MfS-Ausstellung erschien rechtzeitig zum ersten Jahrestag der Besetzung der BVSt am 04. Dezember 1990. Es war die erste Dokumentation über das MfS überhaupt. Die Besetzung der BVSt Leipzig und der Auflösungsprozess des MfS bildeten die Rahmenhandlung bzw. die Fixpunkte, von denen aus das MfS anhand von Dokumenten und Zeitzeugenberichten skizziert wurde. Daneben zeichneten sich Tendenzen ab, die im Laufe der 90er Jahre zunehmend die Arbeit in der »Runden Ecke« Leipzig kennzeichneten. So bestand schon zu diesem frühen Zeitpunkt die Neigung, das MfS und die DDR »von ihrem Ende her« zu betrachten und die DDR als eine »totalitäre Diktatur« zu bewerten. Schließlich gab es bereits so frühzeitig Ansätze, den Herbst 89’ zu historisieren als einen erfolgreichen Akt der Selbstbefreiung, an dem das BKL entscheidend und folgenschwer mitgewirkt habe. Dieses Geschichts- und Selbstverständnis des BKL verfestigte sich in den Folgejahren, sodass das BKL zunehmend eine undifferenzierte Bewertung der DDR vornahm und zum Ende des Jahrzehntes immer stärker dazu neigte, die stalinistische und poststalinistische Ära als ein Kontinuum zu betrachten. Das BKL, das den
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Blick hauptsächlich auf die DDR-Staatssicherheit richtete, trat verstärkt ab 1999 solchen Geschichtsdarstellungen scharf entgegen, die die DDR nach ihrer Staatsgründung bis 1989 eher als einen Staatssozialismus sowjetischen Typs kennzeichneten und totalitäre Strukturen maßgeblich nur der stalinistischen Zeit und weniger der poststalinistischen Spätphase der DDR zugestanden. Spätestens ab 1999 dominierte daher eine Sicht auf die DDR-Vergangenheit, in der totalitarismustheoretische Begriffe schon allein deshalb bevorzugt wurden, weil sie eine exakte Abgrenzung zu denjenigen Positionen ermöglichten, die durch die Verwendung weniger drastischer und politisch besetzter Worte inzwischen unter kontinuierlichem Verdacht standen, die DDR zu verklären oder gar zu verharmlosen und das Ausmaß des MfS-Unrechtes zu bagatellisieren. BKL-spezifische Perspektiven und BKL-forcierte Begrifflichkeiten – d.h. vor allem die Beurteilung bzw. die Definition der Herbst-89’-Ereignisse als eine »Friedliche Revolution von unten«, die in der »Heldenstadt Leipzig« ihren Ausgangs- und Höhepunktpunkt gehabt habe und die Definition der DDR als eine »totalitäre kommunistische Diktatur« – wurden im Zuge der 90er Jahre – die konnte herausgefunden werden – ebenfalls erst allmählich zu Eckpfeilern der BKL-eigenen Geschichtskultur. Im Zuge der zweiten Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages und anlässlich des zehnjährigen Jubiläums des Herbstes 89’ legte das BKL schließlich Berichte vor, die alternative Interpretationen und Definitionen explizit vehement ablehnten. Die Besetzung der BVSt Leipzig am 04. Dezember 1989 wurde nun zusammen mit der Leipziger Montagsdemonstration am 09. Oktober 1989 zum zentralen Ereignis des Herbstes 89’. Diese postdiktatorischen Geschichtskonstruktionen aus Perspektive der am Auflösungsprozess Beteiligten bzw. die Verengung der historischen Ereignisse begünstigten nun immer dort ein Vergessen, wo komplexere gesellschaftliche Zusammenhänge, Elitenkontinuitäten sowie widersprüchliche Prozesse das eigene Geschichtsnarrativ von einer »Friedlichen Revolution von unten« und einer konsistenten »totalitären kommunistischen Diktatur« zu zerstören drohten. Dies hatte primär zur Folge, dass die Geschichtsaufarbeitung in der »Runden Ecke«, die von vornherein politisiert war, nicht nur ausschließlich einen delegitimatorischen Charakter besaß, sondern zusätzlich zu Selbstheroisierung und vermehrt zu Verklärungen neigte. »Blinde Flecken« wurden bei Bewertung der DDR und des Herbst-89’ in wachsendem Maße gepflegt und es gelang im Laufe der Jahre immer weniger eine ideologiefreie Darstellung und Beurteilung der DDR und ihres Endes in der jeweiligen gebotenen historischen Komplexität. Waren Archiv- und Museumsarbeiten ab Mitte 1990 strategische Werkzeuge, um die DDR zu delegitimieren und Aufklärungsarbeit zu leisten, war die Ausstellung bzw. das Museum in der »Runden Ecke« ab 1991 zunehmend auch institutionelles Instrument, diese gewonnene Deutungshegemonie aufrecht zu erhalten und auszubauen. Daneben war die Aufarbeitung des MfS inzwischen für einige ehemalige MfS-Auflöser zum »Broterwerb« und war das Museum daher auch Arbeitsplatz geworden, den es zu verteidigen galt. Dies wirkte sich – wie in der Analyse aufgezeigt – u.a. auf die Zusammenarbeit mit dem BStU aus, der ab der Mitte der 90er Jahre begann, die »Runde Ecke« für seine Behördenzwecke »zurückzuerobern«. Die Koexistenz des BStU wurde nicht nur substanziell in Bezug auf die geplanten Umbau- und Abrissarbeiten als Bedrohung wahrgenommen, sondern auch existen-
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tiell, befürchtete das BKL mit dem Ende der Ausstellungsarbeit auch das Ende seines Daseins. War das Museum in der »Runden Ecke« noch 1990 ein reines »Zufallsprodukt«, so war es spätestens ab 1995 für das BKL zu einer überlebensnotwendigen Einrichtung geworden. Vom BStU geplante Einschnitte in die historische Bausubstanz der »Runden Ecke« und in die Ausstellungsgestaltung (z.B. in Bezug auf die Situation in der Eingangshalle), die vom BKL über Jahre hinweg erfolgreich verhindert wurden, sowie die Aussicht auf Aufnahme in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes begünstigten schließlich das Neudefinieren des bisherigen StasiMuseums zu einer Gedenkstätte von überregionaler Bedeutung. Erinnerungskulturelle »Überlebenskämpfe« wurden dabei vor allem auf rein symbol- bzw. geschichtspolitischer Ebene ausgetragen. Insbesondere die gedenkstättenpolitischen Auseinandersetzungen um die »Authentizität des Ortes« als Schauplatz von »Repression und Revolution« einerseits, und um die finanzielle Ausstattung des Gedenkstättenensembles »Runde Ecke« und Stasi-Bunker andererseits zeugen davon, wie stark die dortige Geschichtsaufarbeitung geprägt war der mittlerweile ritualisierten Würdigung der eigenen Rolle im Zuge des Herbstes 89’ und der herausragenden Bedeutung der Stadt Leipzig. So halfen Verweise auf die »Heldenstadt Leipzig« und die »Friedliche Revolution« immer wieder, die erinnerungs- und gedenkstättenpolitischen Interessen des Bürgerkomitees durchzusetzen. Dies ging – wie die Analyse zeigt – im Fall der »Runden Ecke« soweit, dass jegliche bauliche Veränderung und jede finanzielle Planungsunsicherheit vom Bürgerkomitee als »Vernichtung von oben« gedeutet wurde, gegen die das Bürgerkomitee durch politischen Lobbyismus und mit Hilfe von Presse- und Öffentlichkeitsarbeit anging. Nur über symbolpolitisch aufgeladene Interventionen von Seiten des Bürgerkomitees gelang es schließlich, die »Runde Ecke« baulich so »original« wie möglich zu erhalten, sie zu einer Gedenkstätte aufzuwerten und sie in vergleichsweise »kurzer« Zeit sowie ohne obligatorische Vorgehensweisen in die staatliche Förderung zu lavieren. An diesem Zustand änderten auch die seit 2004 vorgenommenen Neuerungen in der Gedenkstättenpolitik wenig. Weder die Empfehlungen der Sabrow-Kommission 2006 noch die Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes 2008 bedeuteten für die »Runde Ecke« erinnerungs- und gedenkstättenpolitisch eine Verbesserung des Status quo. Lediglich wendete das BKL eine Zentralisierungs- und Verstaatlichungstendenz ab und sicherte somit den prinzipiellen Fortbestand in freier Gedenkstättenträgerschaft. Geschichtspolitisch brachte das BKL kaum mehr neue Argumente und Konstruktionen hervor, hielt es doch an den totalitarismustheoretischen Grundannahmen fest und verfolgte es weiterhin eine Geschichtspolitik, die den Bestand des Vereines in der »Runden Ecke« und ihre Deutungshegemonie über das MfS in Leipzig absicherte. Die vom BKL forcierte Vorstellung, die »Runde Ecke« sei der zentrale Ort der »Friedlichen Revolution«, die in Leipzig ihren Ausgangspunkt gehabt habe, wurde durch das Regierungspapier zuletzt nicht nur bestätigt, sondern sogar ausgeweitet. So wurde die »Runde Ecke« nicht mehr nur als Inbegriff der Repression und Diktaturdurchdringung charakterisiert, sondern nun vor allem auch als ein zentraler »Ort von Widerstand und Opposition«. Diese politische Neubewertung hatte zwar keine materielle Besserstellung zur Folge, zeigte aber, dass sich die Perspektive der MfS-Auflöser dort geschichtspolitisch durchgesetzt hatte und kaum mehr kritisch hinterfragt wurde.
4. Die Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße
Im Unterschied zur »Runden Ecke« in Leipzig, begann die Geschichte der Gedenkstätte nicht am 04. Dezember 1989, sondern erst mit dem »Sturm« auf die Zentrale am 15. Januar 1990, ab dann jedoch umso forcierter. Der Aufbau eines DDRMuseums in den Räumen Erich Mielkes wurde sogar umgehend zum Staatsauftrag, den Oppositionelle und Bürgerbewegte unter Beteiligung ehemaliger MfS-Mitarbeiter noch vor dem 03. Oktober 1990 zunehmend staatsunabhängig zu erfüllen suchten. In den Monaten zwischen dem »Sturm« auf die Zentrale und dem Beitritt der DDR zur BRD wurde so der Grundstein für die Gedenkstätte im Haus I der ehemaligen Zentrale der DDR-Staatssicherheit gelegt und die wesentlichen Weichen für spätere erinnerungs- und geschichtspolitische Debatten gestellt. Eine detaillierte Untersuchung des Auflösungsprozesses der MfS-Zentrale als »Herzstück« der DDR-Staatssicherheit wird daher – analog der Analyse zur »Runden Ecke« – den erinnerungs- und geschichtspolitischen Auseinandersetzungen, die in den Jahren danach folgten, vorangestellt.
4.1 D AS E NDE DER Z ENTRALE UND G EDENKSTÄTTENPLÄNE BIS APRIL 1990 Voraussetzung für die Errichtung einer Gedenkstätte am Ort der Zentrale des MfS war die Durchsetzung der ersatzlosen Auflösung des MfS/AfNS unter ziviler Kontrolle im Verlauf der des Winters 1989/1990. Wie bereits dargestellt, versuchte die Modrow-Regierung das MfS noch bis zum 15. Januar 1990 zu retten. Der Beschluss vom 17. November 1989, der die Umwandlung des MfS in ein Amt für Nationale Sicherheit – unter der Leitung des ehemaligen Stellvertreters Mielkes, Wolfgang Schwanitz – vorsah, der Regierungsbeschluss vom 14. Dezember 1989 über die Auflösung des AfNS und seine Umwandlung in einen Nachrichtendienst und einen Verfassungsschutz sollten diesen Rettungsversuch gesetzlich verankern. Die Ereignisse in den Bezirken, insbesondere in Leipzig am 04. Dezember 1989 wurden bereits ausführlich behandelt. Anders als häufig dargestellt, blieb es im Anschluss an die Besetzungen der BVSt in Erfurt, Leipzig, Suhl usw. Anfang Dezember 1989 auch in Berlin nicht vollkommen ruhig. So zogen u.a. Vertreter des NF und
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Mitglieder der am 07. Oktober in Schwante gegründeten Sozialdemokratischen Partei der DDR (SDP) am Nachmittag des 06. Dezembers 1990 zum Hauptgebäude des AfNS in der Normannenstraße und begannen sie im Beisein eines Militärstaatsanwaltes die Auflösung und parlamentarische Überprüfung zu fordern.1 »Der Ablauf der Ereignisse ähnelte zunächst dem in Erfurt und andernorts. […] Wie in Erfurt, so wurden auch hier Vertreter benannt, die sich Einlass in das Gebäude verschafften und dort den Forderungen gegenüber den Mitarbeitern Ausdruck verliehen«, resümiert Jens Schöne in seiner Untersuchung.2 Auch erste Versiegelungen von Schränken fanden in der Nacht in Räumen der Zentrale in der Normannenstraße statt.3 Einen Tag später, am 07. Dezember wurde einer Gruppe von Journalisten und einer »Bürgergruppe« erneut im Beisein eines Militärstaatsanwaltes Eintritt in die Zentrale des MfS gewährt und in Begleitung des Pressesprechers des AfNS ein Rundgang über das Gelände vorgenommen. Unter laufender Fernsehkamera wurden der Gruppe das Dienstzimmer Mielkes, das Gefängnis und Räume der Papiervernichtung gezeigt. Margitta Hinze, Sprecherin der »Bürgergruppe« und Journalisten führten mit Mitarbeitern Interviews. Die DDR-Fernsehsendung »Elf 99« berichtete ausführlich in einer Spezialsendung.4 Zu einer Gründung eines Bürgerkomitees zur Auflösung der Zentrale und zu einer energischen Besetzung des Stasi-Areals an der Normannenstraße kam es allerdings in diesen Dezembertagen nicht, die Zentrale blieb zunächst außerhalb jeglicher Bürgerkontrolle und von den restaurativen Auflösungsplänen ausgeschlossen.5 Dies galt auch für die Auflösung der BVSt Berlin in Friedrichsfelde. So wies das Berliner Präsidium der VP zwar am 17. Dezember 1989 die Bildung eines diesbezüglichen Kontrollausschusses an (analog zur Errichtung von Aktensichtungskommissionen in den Bezirksstädten), neben Vertretern aller politischer Parteien und Gruppierungen sollte dieser jedoch maßgeblich aus Regierungsvertreter, Militärstaatsanwalt und Vertretern des Präsidiums selbst bestehen. Auch die Leitung sollte beim persönlich ernannten Regierungsvertreter liegen. Daneben empfahl das Berliner Präsidium der VP die Gründung eines Bürgerkomitees, »[…] zur weiteren Ausgestaltung der Sicherheitspartnerschaft für die Gewährung der Ordnung und Sicherheit in der Stadt«.6 Zur Konstituierung des Bürgerkomitees sollte durch das
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Fernsehen der DDR: MAZ vom 06.12.1989, Deutsches Rundfunkarchiv Babelsberg über ArLStU, Bestand: Margitta Hinze; Schöne, Jens: Erosion der Macht (2004), S. 36. Ebd., S. 36-37. Elf 99: »›Sesam öffne dich‹ – Mitarbeiter für nationale Sicherheit sagen aus« vom 07.12.1989, Sendeprotokoll, S. 2, Deutsches Rundfunkarchiv Babelsberg über ArLStU, Margitta Hinze. Ebd., S. 1. Jens Schöne vermutet, dass die unmittelbar bevorstehende Gründung des Zentralen Runden Tisches (ZRT) in Berlin hierfür ursächlich war, sollte er maßgeblich für die Auflösung der DDR-Staatssicherheit in Berlin (BVSt und Zentrale) aufgrund der besonderen Berliner Dimension zuständig werden; vgl. Schöne, Jens: Erosion der Macht (2004), S. 37. Präsidium der Volkspolizei Berlin: Festlegungsprotokoll vom 17.12.1989, S. 2, ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv.
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VP-Präsidium entsprechend kurzfristig eine Einladung erfolgen. Auch die thematischen Arbeitsschwerpunkte dieses »Bürgerkomitees« wurden vom Präsidium vorgegeben.7 Der Fokus wurde dabei – wie auch in Bezug auf den Kontrollausschuss – nicht auf die Zentrale, sondern ausschließlich auf die Berliner BVSt gelegt. Damit erfolgte die Auflösung des Berliner AfNS bis auf Weiteres im Grunde genommen begrenzt auf die BVSt Berlin sowie unter staatlicher Federführung und wurde zu diesem Zeitpunkt selbst die »Bürgerkontrolle« von Staatsseite, d.h. »von oben« initiiert und geplant.8 Dieses regierungsseitige Vorgehen folgte dem übergeordneten Plan, wesentliche Bereiche des AfNS unbeschadet in einen Nachrichtendienst bzw. Verfassungsschutz zu überführen. Im Grunde genommen bereitete der Kontrollausschuss – dieser übergeordneten Devise folgend – daher vor allem die Umwandlung des AfNS in einen Nachrichtendienst bzw. Verfassungsschutz der DDR vor. Am 05. Januar 1990 berichtete der Berliner Kontrollausschuss hierzu sogar erfolgsgewiss, »[…] dass die Voraussetzungen zu einer möglichen Aufnahme der Arbeit von eventuell neu zu gründenden Einrichtungen, in bestimmten Bereichen, die einer politischen Entscheidung bedürfen, geschaffen sind (›Nachrichtendienst der DDR‹/›Verfassungsschutz‹)«.9 Schon Ende Dezember 1989 trat das AfNS offiziell nur noch als »Verfassungsschutz« auf und stand die Reorganisation bis hin zu detaillierten Angaben über die Mitarbeiterzahl je einzurichtender Abteilung.10 Die Bürgervertreter des Berliner Kontrollausschusses unterstützten diesen Rettungsversuch des AfNS/MfS ohne Vorbehalte, der Pressesprecher, der als Mitglied der Gruppe »Demokratie jetzt« im Kontrollausschuss saß, sah darin sogar die einzige Möglichkeit »[…] zum Erhalt einer Rechtstaatlichkeit«.11 Der ZRT in Berlin steuerte diesem Manöver der Modrow-Regierung wiederum entgegen, indem er – angeregt durch die Bürgerkomitees aus Magdeburg, Potsdam, Rostock und Schwerin12 – am 27. Dezember 1989 die Bildung einer »AG Sicherheit« zur zivilen Kontrolle der Auflösung des AfNS beschloss und die Aussetzung des Beschlusses über die Bildung eines Verfassungsschutzes vom 14. Dezember 1989 erreichte.13 Am 08. Januar, bei der 6. Sitzung des ZRT brachte die AG Sicher-
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Ebd., S. 2-3. O.V.: »Kontrollausschuss gebildet«, in: Neues Deutschland vom 18.12.1989; Arbeitsgruppe des Kontrollausschusses zur Auflösung der Bezirksverwaltung Berlin des Amtes für Nationale Sicherheit: Zwischenbericht I vom 05.01.1990, S. 2, ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv. Arbeitsgruppe des Kontrollausschusses zur Auflösung der Bezirksverwaltung Berlin des Amtes für Nationale Sicherheit: Zwischenbericht I vom 05.01.1990, S. 9, ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv. Verfassungsschutz der DDR: Strategiepapier BdL/372/89, o.D., ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv. Aktuelle Kamera vom 02.01.1990, Sendeprotokoll, ArLStU, Geschäftsablage o. Sign. Schöne, Jens: Erosion der Macht (2004), S. 41. Gutzeit, Martin: Der Entstehungszusammenhang der von der Antistalinistischen Aktion Berlin Normannenstraße (ASTAK e.V.) betriebenen »Forschungs- und Gedenkstätte für
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heit die Forderung nach einer ersatzlosen Auflösung des AfNS unter ungehinderter ziviler Kontrolle vor.14 Dem Regierungsbeauftragten wurde das Misstrauen ausgesprochen und die Beschlussfassung auf den 15. Januar 1990 vertagt, um die Anwesenheit Modrows zu gewährleisten.15 Die Umsetzung der ersatzlosen Auflösung sollte mit dem 17. Januar 1990 erfolgen. Damit sollte die halbherzige Auflösung in Berlin – sowohl in der BVSt Berlin als auch in der bis dahin weitgehend unbehelligten Zentrale des AfNS/MfS – endlich ein Ende haben.16 In Vorbereitung für den ZRT am 15. Januar 1990 und wegen der am gleichen Tag initiierten Protestkundgebungen reisten die Vertreter der Bürgerkomitees der Bezirke nach Berlin.17 Neben der offenen Kritik gegen die BKL-Sprecher Scheibler und dem anwesenden Kleinert stand bei den Treffen also vielmehr die bisher allein vom ZRT geforderte ersatzlose Auflösung des AfNS/MfS inklusive der Zentrale, und schließlich die selbst initiierten Protestkundgebungen, geplant für den 15. Januar, im Vordergrund. Entsprechend fiel das Tagungsergebnis aus. Den Forderungen von Scheibler und Kleinert vom BKL schlossen sich die Bürgervertreter der anderen Bezirke nicht an, sondern stattdessen dem Antrag des Berliner ZRT. Wie auch die AG Sicherheit des ZRT forderten die Bezirksbürgerkomitees in Form einer eigenen Stellungnahme – neben der restlosen Auflösung der Kreis- und Bezirksämter – jetzt ebenfalls eine sofortige Auflösung der Zentrale des MfS/AfNS in der Normannenstraße und aller mit ihr zusammenhängenden Strukturen. In Anlehnung an die Auflösung der BVSt Leipzig und andere ehemalige Bezirksverwaltungen, empfahlen sie zu diesem Zweck die Einrichtung eines »Arbeitsstabes«, der sich – den Erfahrungen in den Bezirken gemäß – gleichfalls aus Bürgerinitiativen,
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die Opfer des Stalinismus« im Haus I in der Normannenstraße, Arbeitspapier der Fachkommission Haus I, Berlin 2001, S. 3, ArLStU, Bestand: Fachkommission Haus I Normannenstraße/Berlin-Lichtenberg Ablage. Gutzeits Ausführungen beziehen sich maßgeblich auf die Quellen von Uwe Thaysen; vgl. Thaysen, Uwe: Der Zentrale Runde Tisch der DDR: Wortprotokoll und Dokumente (Band 1-5), Wiesbaden 2000. Vorlage der Arbeitsgruppe »Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit der DDR« für den 15.01.1990, ArLStU, Margitta Hinze. Schöne, Jens: Erosion der Macht (2004), S. 45-46. Im Vergleich zu den anderen BVSt hatte die Aktensichtung, Zugangskontrolle, Demontage und Objektsicherung nämlich angesichts der staatlichen Federführung bis dahin kaum bzw. im Fall der Zentrale gar nicht stattgefunden. Der Militärstaatsanwalt hatte die Auflösung und Einstellung der Arbeit der BVSt Berlin erfolgreich blockiert, eine Sicherheitspartnerschaft und ein gemeinsames Vorgehen zwischen Bürgervertretern, VP, Staatsanwaltschaft existierte nicht, ein Konzept zum Auflösungsverfahren ließ auf sich warten; vgl. Protokoll des Koordinierungstreffens am 12.01.1990 in Dresden, S. 4-5, ArLStU, Bestand: MDA Gill Bereits beim ersten Koordinierungstreffen der Bezirksbürgerkomitees in Leipzig am 04. Januar 1990 war der paradoxe Zustand, dass sich die BVSt DDR-weit in Auflösung befanden, während die Zentrale in Berlin unbeaufsichtigt weiterarbeitete, zum Hauptgegenstand erhoben worden. Für den 15. Januar 1990 wurde gegen dieses Missstand zu Protestkundgebungen aufgerufen; vgl. Schöne, Jens: Erosion der Macht (2004), S. 45.
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Staatsanwaltschaft, Regierungsbeauftragten, VP und dem Beauftragten des AfNS zusammensetzen sollte. Über den Antrag der AG Sicherheit hinausgehend wurde die Auflösung der Berliner Zentrale des MfS/AfNS von den BürgerkomiteeSprechern der Bezirke sogar zur Bedingung der weiteren Arbeiten in den Bezirken gemacht.18 Im Protokoll zur zweiten Sitzung in Berlin am 14. Januar 1990 steht: »Das Anliegen der Bürgerkomitees der Bezirke ist, per 15. Januar 1990 die in den Bezirken bewährte Methode zur Auflösung des MfS Normannenstraße mit einzubringen und damit die Sicherstellung des Zentralen Amtes zu beginnen […] unabhängig [von] der vom Neuen Forum für 17 Uhr aufgerufenen Demonstration vorm Objekt Normannenstraße. Zwischen VP und NF ist vereinbart, die personelle Räumung des Objektes bis 15 Uhr sowie die technische Sicherstellung des Objektes zu übernehmen.«19
Walter Süß stuft dieses »eigenmächtige zur Tat schreiten« der regionalen Initiativen in seiner Analyse als »belehrend gemeintes Vorpreschen der Bezirkskomitees« ein, die beim ZRT aufgrund der eigenen Begehungs- und Auflösungspläne auf Ablehnung stieß.20 Zudem hatte sich ein Teil dieser Forderungen ja bereits einen Tag zuvor erfüllt. So lenkte die Regierung mit dem Beschluss des Ministerrates vom 13. Januar 1990 ein, dass die Auflösung des MfS mit größerer Konsequenz als bisher stattzufinden habe und bis zu den Neuwahlen am 06. Mai 1990 kein Verfassungsschutz zu bilden sei.21 »Der Beschluss des Ministerrates vom 14.12.1989 über die Bildung des Nachrichtendienstes der DDR und des Verfassungsschutzes der DDR wird, soweit er die Bildung des Verfassungsschutzes betrifft, aufgehoben. Es wird bis zum 06.05.1990 kein derartiges Amt gebildet«,
hieß es wortwörtlich im »Beschluss zur weiteren konstruktiven Zusammenarbeit der Regierung mit dem Runden Tisch«.22 D.h., die DDR-Regierung hatte der Forderung der AG Sicherheit des ZRT in Bezug auf eine eventuelle Neubildung eines Verfassungsschutzes schon zugestimmt. Noch einen Schritt weiter ging der umfangreiche »Bericht der Regierung zur Inneren Sicherheit« für die Beratung des ZRT am 15. Januar. Alle Empfehlungen und Forderungen der AG Sicherheit und der Bürgerkomitees der Bezirke waren
18 Stellungnahme des Bürgerkomitees der Bezirke zur Auflösung des AfNS vor dem Zentralen Runden Tisch in Berlin vom 14.01.1990, ArLStU, Margitta Hinze. Die Stellungnahme war unterzeichnet von Michael Kleinert (BKL), Martin Montag (BK Suhl), Gerhard Rogge (BK Rostock). 19 Protokoll des Koordinierungstreffens am 14.01.1990 in Berlin, ArLStU, MDA Bestand Gill. 20 Süß, Walter: Staatssicherheit am Ende (1999), S. 725-726. 21 Ministerrat der DDR: Beschluss des Ministerrates 9/1a/90 vom 13.01.1990, S. 2, BArch DO 104/9, Bl. 21. 22 Ministerrat der DDR: Beschluss des Ministerrates 9/1b/90 vom 13.01.1990, S. 3, ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv.
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dort bereits enthalten bzw. ging der Bericht sogar über deren Zielstellung hinaus. So war die ersatzlose Auflösung des AfNS inklusive der Zentrale laut Regierungsbericht bereits beschlossene Sache und war es fest vorgesehen, dass nur elementare staatswichtige Aufgaben zukünftig dem Ministerium des Innern angegliedert werden sollten: »Da die Entscheidung zur Bildung des Verfassungsschutzes aufgehoben ist, erhält das Ministerium für innere Angelegenheiten weitere Aufgaben zur: Spionageabwehr, Bekämpfung rechts- und linksextremistischer sowie antisemitischer und anderer rassistischer Aktivitäten, Abwehr des Terrorismus und der Sabotage gegen Einrichtungen aller Eigentumsformen.«23
Auch die mit dem Ministerratsbeschluss vom 14. Dezember 1989 getroffene soziale Sicherstellung von Angehörigen des AfNS war vom Ministerrat schon aufgehoben worden.24 Selbst zur Weiternutzung der Berliner MfS-Gebäude war im Regierungsbericht festgelegt: »Intensiv wird an Entscheidungsvorschlägen für die künftige Nutzung solcher Komplexe gearbeitet, wie -Normannenstraße/Magdalenenstraße, – Bezirksverwaltung Berlin, […]. Der Gebäudekomplex Normannenstraße stellt ein geschlossenes System […] dar. Mit einer Nutzung als Verwaltung könnten in erheblichem Umfang bisher zweckentfremdet genutzter Wohn- und Gewerberaum […] freigezogen werden. […] Außerdem ist angewiesen, alle Nutzungsverträge für Objekte eines Verfassungsschutzes zu kündigen.«25
Dem Beschluss vom 13. Januar folgend und den Bericht der Regierung »unterm Arm«, erschien Ministerpräsident Modrow zusammen mit dem stellvertretenden Leiter des Sekretariats des Ministerrates, Manfred Sauer, am 15. Januar 1990 um 9 Uhr morgens zur 7. Sitzung des ZRT und erklärte den Verzicht auf alle ursprünglich geplanten Ersatzeinrichtungen für das MfS, was auch die Bildung eines Nachrichtendienstes ausschloss.26 Im gleichen Zuge gab Sauer mit seinem Bericht über die innere Sicherheit die ersatzlose Auflösung unter ziviler Kontrolle öffentlich bekannt.27 So lobenswert die drei Stunden später von Konrad T. (BKL) bei gleicher ZRT-Sitzung persönlich vorgebrachte Stellungnahme der Bezirksbürgerkomitees war, entscheidend für das Regierungshandeln waren die dort fixierten Forderungen
23 Bericht der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik vom 15.01.1990, S. 8, SächsStAL, Bezirkstag und Rat des Bezirkes Leipzig, Nr. 31256 [BBLpz., Nr. 31256], Bl. 82. 24 Ebd., Bl. 84. 25 Ebd., Bl. 86. 26 Thaysen, Uwe (Hg.): Der Zentrale Runde Tisch der DDR (Band 2, 2000), S. 347. 27 Fachkommission Haus I: Anatomie der SED-Diktatur (2001), S. 20f, StAufarb, Bestand: Gedenkstätte Normannenstraße (Geschäftsablage o. Sign.); Ursprünglich sollte Heinz Busch als Vertreter der HVA den Lagebericht abgeben, er fiel jedoch aus, lief er am selben Tag zum BND über; vgl. Richter, Michael: Die Staatssicherheit (1996), S. 157-158.
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offensichtlich nicht.28 Die Beschlüsse der Regierung waren schon vorher und vor allem ohne die Stellungnahme der Bürgerkomitees der Bezirke gefasst worden. Die Bürgerkomitees der Bezirke hatten in dieser entscheidenden Phase keinen Einfluss auf das politische Geschehen. Höchstens die AG Sicherheit des ZRT hatte in Bezug auf die ersatzlose Auflösung inklusive der Zentrale mit ihren diesbezüglichen Forderungen seit Dezember 1989 den politischen Stein ins Rollen gebracht. Dieses »Einknicken« der Modrow-Regierung, wenige Stunden vor »Erstürmung« der Zentrale am 15. Januar 1990 in der Normannenstraße, ging einher mit dem Vorschlag von Wolfgang Templin über die Einrichtung einer Gedenkstätte für die Opfer des Stalinismus.29 Noch bevor Mitglieder der Bürgerkomitees der Bezirke die ehemalige MfS-Zentrale besetzten, brachte Wolfgang Templin von der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) im weiteren Verlauf der ZRTSitzung – im Kontext der Debatte über die ersatzlose Auflösung des AfNS und die »Verfilzung« von SED und MfS – die Idee der Schaffung einer Gedenkstätte für die Opfer des Stalinismus auf dem Gelände der Zentrale des ehemaligen MfS ein.30 Die Einrichtung einer Gedenkstätte begründete Templin damit, dass an diesem Ort »eines der dunkelsten Kapitel der DDR-Geschichte geschrieben wurde und eine andere Nutzung mit historischem Bewusstsein nicht zu vereinbaren sei«.31 Was von diesem Ort ausgegangen war, sollte nicht dem Vergessen anheim fallen, vielmehr sollte es »im Sinne der wirklichen Präsenz dieser Geschehnisse auch für das Bewusstsein Späterer« erhalten bleiben.32 Templin schlug vor, in der Zentrale des MfS ein Museum, eine Bibliothek, ein Archiv und entsprechende Arbeitsmöglichkeiten für Historiker etc. einzurichten. Dabei wurde inhaltlich eine Dokumentation, die über das MfS hinausgehen sollte, avisiert.33 Damit war nicht nur an ein Gedenken an die Opfer gedacht, sondern neben einer musealen, bildungspolitischen Nutzung sah der Vorschlag von Templin auch eine »Verwaltung
28 Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 175; Stellungnahme des Bürgerkomitees der Bezirke zur Auflösung des AfNS vor dem Zentralen Runden Tisch in Berlin vom 14.01.1990, ArLStU, Margitta Hinze. 29 Die Modrow-Regierung hatte zu diesem Zeitpunkt keineswegs an eine Auflösung ohne bewährte Kräfte des MfS gedacht, sondern plante, Mitglieder des MfS und das Ministerium des Innern bei der Auflösung zu beteiligen. So sollten auch wesentliche Aufgabengebiete des MfS aufrecht gehalten werden und dazu an das Ministerium des Innern übertragen werden. Zu diesen Aufgaben gehörten die Spionageabwehr, Bekämpfung linkswie rechtsextremer Aktivitäten, Terrorismusbekämpfung, Sabotageabwehr, etc.; vgl. Thaysen, Uwe (Hg.): Der Zentrale Runde Tisch der DDR (Band 2, 2000), S. 363. 30 Thaysen, Uwe (Hg.): Der Zentrale Runde Tisch der DDR. (Band 2, 2000), S. 387; Fachkommission Haus I: Anatomie der SED-Diktatur (2001), S. 20f, StAufarb, Bestand: Gedenkstätte Normannenstraße (Geschäftsablage o. Sign.) 31 Gutzeit, Martin: Der Entstehungszusammenhang (2001), S. 6, ArLStU, Bestand: Fachkommission Haus I Normannenstraße / Berlin-Lichtenberg Ablage. 32 Thaysen, Uwe (Hg.): Der Zentrale Runde Tisch der DDR (Band 2, 2000), S. 387. 33 Gutzeit, Martin: Der Entstehungszusammenhang (2001), S. 6, ArLStU, Bestand: Fachkommission Haus I Normannenstraße / Berlin-Lichtenberg Ablage.
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des Schriftgutes« vor, wie es später Aufgabe des BStU werden sollte. Inhaltlich hatte Templin die Vorstellung von einer Gedenkstätte, die sich nicht nur mit dem MfS, sondern auch mit dem gesamten politischen, justiziellen und archivarischen Erbe beschäftigen sollte. Im Ergebnis war also die ersatzlose Auflösung auch der AfNS-Zentrale – wie auch im Fall der BVSt Leipzig – bereits Tage und Stunden vor »Erstürmung« bzw. »Besetzung« der Zentrale des 15. Januar eine beschlossene Sache. Die »Erstürmung« bzw. »Besetzung« war eher ein abgekartetes Spiel des AfNS/MfS, bei dem die Bürgerkomitees wohl oder übel, gewollt oder unabsichtlich mitmachten.34 Ein ernsthafter Widerstand war nämlich nicht zu erwarten. Vielmehr erfolgte – wie im Fall der BVSt Leipzig – auch in der Normannenstraße vor dem »Sturm eine geordnete Übergabe«.35 »Gegen 13:45 verlangten, wie zuvor geplant, weitere Vertreter der Bürgerkomitees in Begleitung von Mitgliedern der AG ›Sicherheit‹ Einlass in den Gebäudekomplex zwischen Frankfurter Allee und Normannenstraße«, schildert Schöne die Ereignisse vor dem »Sturm«.36 »Als das Häuflein […] an jenem Mittag dann am Einlass klingelten, wurden sie nicht etwa abgewiesen, sondern sofort eingelassen. Zugegen waren schon die Volkspolizei und die Militärstaatsanwaltschaft, die heikle Räume bereits zuvor versiegelt hatte«, meldet auch Walter Süß Zweifel an der vielbehaupteten Spontaneität der Ereignisse an.37 »Nach Verhandlungen mit der Führung des Amtes wurden den Delegierten […] Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt, in denen sie mit Vertretern des AfNS, der Generalstaatsanwaltschaft, Regierungsbeauftragten und der Volkspolizei verhandelten. […] Gemeinsam vereinbarte man, dass die im Objekt befindlichen Mitarbeiter […] die Gebäude bis 15:00 verlassen und die Volkspolizei die äußere Sicherung des Komplexes übernehmen sollte. […] Außerdem sollten die Eingangstore durch Ordner des Neuen Forums gesichert werden und vor dem Tor in der Ruschestraße ein Lautsprecherwagen der Volkspolizei zum Einsatz kommen«,
beschreibt Michael Richter die damaligen, wie »am Schnürchen« laufenden Vorkommnisse.38 Das Protokoll über eine Beratung im ehemaligen AfNS am 15. Januar 1990 um 14:40 Uhr gibt näher Auskunft darüber, wie sich die Sprecher der Bezirksbürgerkomitees Berlin, Rostock, Leipzig, Dresden, Gera und Frankfurt/Oder gemeinsam mit den Regierungsvertretern und Vertretern des AfNS sogar über den Umgang mit der durch die Demonstrationen zu erwarteten »prekären Situation« stärker im Sinne des AfNS als im Sinne der Demonstranten verständigten. Hierzu gehörte u.a. ein sofortiges Vorziehen der Gebäudesicherung und Räumung, eine äußere Versiege-
34 Süß, Walter: Staatssicherheit am Ende (1999), S. 728. 35 Hinze, Albrecht: »›Vor dem Sturm eine geordnete Übergabe‹«, in: Süddeutsche Zeitung vom 14./15.01.1995. 36 Schöne, Jens: Erosion der Macht (2004), S. 48; BKB: Ablaufdokumentation vom 22.01.1990, ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv. 37 Süß, Walter: Staatssicherheit am Ende (1999), S. 727. 38 Richter, Michael: Die Staatssicherheit (1996), S. 159.
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lung durch den Generalstaatsanwalt und Absprachen zum Inhalt der umgehend herauszugebenden Pressemitteilungen. Insbesondere der Sprecher des BKL, Kleinert, bestand darauf, dass die Bürgerkomitees die Zentrale im Falle der Eskalation sofort zu schließen und damit zu schützen hätten. Zudem legte er Wert darauf, dass das Bürgerkomitee in einer Auflösungsarbeitsgruppe der Regierung berücksichtigt werde und warnte er eindeutig zweideutig: »Politische Brisanz beachten, für die Republik wichtig!«39 Eine von diesem Protokoll vollständig abweichende Version der Abläufe findet sich bei Hollitzer. Er fasst zusammen: »Matthias Skornetzki (BK Dresden), Rosemarie Fuchs (BK Frankfurt/Oder) und Margitta Hinze (Berlin) standen vor den Toren des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit. Über ein Telefon an der Tür nahmen sie Verbindung mit dem Diensthabenden auf […]. Am frühen Nachmittag waren die Verhandlungen soweit gediehen, dass eine Sicherheitspartnerschaft zwischen Volkspolizei und den Vertretern der Bezirksbürgerkomitees zustande gekommen war.«40
Dann kommt er zur Schlussfolgerung, dass »beherzte Bürger aus der ganzen DDR« die Zentrale eingenommen und »die Berliner« diesen Schritt »nicht aus eigener Kraft« unternommen hätten.41 Dies trifft allerdings angesichts der im Vorfelde politisch und administrativ bereits vorbereiteten »Übergabe« der Zentrale sowie angesichts der Leistungen und Präsenz der AG Sicherheit, und schließlich auch angesichts der massiven Berliner Proteste der »Revolutionäre nach Dienstschluss« sowie aufgrund der Absprachen »hinter verschlossener Tür« – so schön es aus Leipziger Sicht auch gewesen wäre – jedoch nicht zu.42 Gerade weil die Demonstranten von diesen gesamten Vorgängen nichts wussten, so Schöne, äußerte sich ihr Unmut über die Stasi am Abend des 15. Januar derart stark, dass die Beruhigungsversuche der Bezirksbürgerkomitee-Vertreter – die ja doch eher alles dafür taten, um eine Besetzung der Zentrale durch Demonstranten zu verhindern – über Lautsprecher fehl schlugen und Martin Montag vom Bürgerkomitee Suhl schließlich die Anweisung gab, die Tore zum AfNS/MfS-Gelände zu öffnen.43 Ohne die daraufhin folgende »Erstürmung« der Zentrale des MfS durch Demonstranten also in Abrede stellen zu wollen, denn die »Erstürmung« bzw. Besetzung erfolgte ja tatsächlich am frühen Abend des 15. Januar, ausschließlich dem Aufruf des NF folgend, war die Zentrale also schon vor dieser Aktion von politischer Seite »freigeben« und von Vertretern des ZRT und der Bezirksbürgerkomitees – unter Wahrung der noch möglichen Spielräume des AfNS/MfS – »einge-
39 Protokoll über eine Beratung im ehemaligen Amt für Nationale Sicherheit am 15.01.1990 vom 19.01.1990, ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv. 40 Hollitzer, Tobias: Wir leben jedenfalls (2000), S. 174. 41 Ebd., S. 174-175. 42 Süß, Walter: Staatssicherheit am Ende (1999), S. 726. 43 Schöne, Jens: Erosion der Macht (2004), S. 48; Richter, Michael: Die Staatssicherheit (1996), S. 160-162.
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nommen« worden.44 Neben dieser offiziellen Variante deuteten zudem inoffizielle Maßnahmen des AfNS/MfS, wie beispielsweise die Erstellung eines Alarmplanes ab dem 11. Januar 1990, auf die allgemeine strategische Kehrtwende hin, zur Rückgewinnung politischer Stabilität den Destabilisierungsfaktor »Staatssicherheit« zu opfern.45 Schon lange vor den Absprachen mit den Vertretern des Bürgerkomitees am Nachmittag des 15. Januar waren auf diese Weise weite Teile des Geländes im Vorfelde geräumt worden. Zudem waren die eindringenden Demonstranten von einer anführenden Gruppe (unter ihnen u.a. zivil gekleidete Mitglieder der MfSKompanie »Feliks E. Dzierzynski«)46 ausschließlich in unwichtige Gebäudeteile geleitet worden.47 »Bündelt man alle Hinweise und Indizien, so drängt sich der Eindruck auf, dass – einschließlich der Öffnung der Tore – eine von der Staatssicherheit offensichtlich gut vorbereitete Aktion ablief«, kommt Richter schließlich zum Schluss.48 Templin kommentiert den 15. Januar und die Politik der Modrow-Regierung Jahre später: »Wir haben nicht begriffen, dass Modrow uns am Runden Tisch von hinten bis vorne ausgetrickst hat. Ich bin heute felsenfest überzeugt, Modrow wusste über alle Hintergrund- und Absetzstrategien der Staatssicherheit nicht nur Bescheid, er hat sie mit anderen initiiert […] Am Runden Tisch wurde Theater gespielt. […] Modrow hat mit Sicherheit gewusst, welche Leute im Inneren schon längst das ganz Plünderungstheater vorbereitet hatten und wer von Ihnen an den Toren manipuliert hatte.«49
Selbst Templins Idee, an dieser Stelle eine Gedenkstätte einzurichten, überraschte die Regierung in keiner Weise, hatte sich bereits am 13. Januar 1990 Heinz M. persönlich um die Mitwirkung einer »Dokumentation über die Gründung, Tätigkeit und Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit bzw. Amtes für nationale Sicherheit der DDR« bei Modrow mit dem Ziel beworben, mit einer Dokumentation zu einer »moralischen Entlastung ihrer Koalitionsregierung« beizutragen.50
44 Siehe Aufruf des Neuen Forums: »Mit Fantasie gegen Stasi und Nasi. Aktionskundgebung: 15.1.1990 um 17 Uhr«, in: ASTAK e.V. (Hg.): Die Zentrale (2003), S. 107. 45 Süß, Walter: Staatssicherheit am Ende (1999), S. 726-730; Wilke, Manfred: »Wenn wir die Partei retten wollen«, in: Weber, Hermann/Mählert, Ulrich (Hg.): Jahrbuch für historische Kommunismusforschung (2007), S. 396ff. 46 Richter, Michael: Die Staatssicherheit (1996), S. 162. 47 Ebd., S. 161. 48 Ebd., S. 162. 49 Templin, Wolfgang: »Der 15. Januar 1990«, in: ASTAK e.V. (Hg.): Die Zentrale (2003), S. 118/119. 50 Schreiben von Heinz M. an den Vorsitzenden des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik Herrn Hans Modrow vom 13.01.1990, ArLStU, Bestand: BArch DO 104, 1-9; BArch DO 104/5, Bl. 50. Die Bewerbung lag dem Sekretariat Halbritter am 23.01.1990 vor.
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Noch in der Nacht des 15. Januar bildete sich aus den Reihen der Demonstranten und der Ordner das »Bürgerkomitee Normannenstraße«, auch als »Berliner Bürgerkomitee« (BKB) bezeichnet. Zudem wurde eine Konzeption zur Auflösung des AfNS in Berlin entwickelt, die den Umfang der bisherigen Auflösung feststellte und die noch aufzulösenden Diensteinheiten, das Auflösungsverfahren sowie die Struktur des BKB bereits grob festlegte.51 Am 17. Januar fand die offizielle Konstituierung des Bürgerkomitees Normannenstraße statt. Leiter (Koordinator) wurde der Theologiestudent Christian David Gill. Mit dieser offiziellen Konstituierung erfolgte die Bildung von sechs Arbeitsgruppen innerhalb des BKB. Heinz M. übernahm sofort die Leitung der AG 2-Akten. Am gleichen Tag wurde bei einem Treffen der unterschiedlichen Akteure und Zuständigen (Ministerium des Innern, Ministerrat, BKB, AG Sicherheit des Rundes Tisches) der Vorschlag unterbreitet, mit notwendigen Kompetenzen ausgestattete Regierungsvertreter zu berufen, die die Auflösung des AfNS regierungsamtlich leiten sollten. Diese sollten zudem ein »Staatliches Komitee« bilden, auf Wunsch der am Gespräch beteiligten Bürger besetzt mit Vertretern des Ministeriums des Innern, MfS-Spezialisten (MfS-Offiziere) und Vertretern des öffentlichen Lebens (d.h. Bürgerbewegte, Kirchenangehörige, etc.), um die Auflösung der Zentrale vorzunehmen.52 Die zivile Kontrolle sollte dabei sowohl von Vertretern der Öffentlichkeit innerhalb des Staatlichen Komitees als auch durch die Beteiligung des BKB gewährleistet werden, ansonsten folgte dieses Staatliche Komitee (SK) der Vorstellung einer »Selbstauflösung« des AfNS.53 An der Sitzung des Runden Tisches vom 18. Januar 1990 wurde die Auflösung des AfNS, nach der Vorlage vom 15. Januar, beschlossen. Die AG Sicherheit wurde zudem mit der Beaufsichtigung und Kontrolle des Staatlichen Komitees beauftragt, d.h. ihre Kompetenz in Bezug auf die Auflösung des AfNS/MfS erheblich ausgeweitet.54 Hinsichtlich des Einsatzes der Bezirksbürgerkomitees sprach die AG Sicherheit bei gleicher Gelegenheit zwar offiziell ihren Dank aus, sie nahm deren Angebot, mit Rat und Tat bei der Auflösung der Zentrale weiterhin zur Verfügung zu stehen, jedoch nur zur Kenntnis.55 Statt mit ihnen zu kooperieren, entschied sich die
51 Konzeption zur Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit vom 15.01.1990, ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv; Notiz über die Bildung der Arbeitsgruppen zur Auflösung des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit vom 16.01.1990, BArch DO 104/7, Bl. 74. Der Verfasser der Konzeption ist nicht klar. Vermutlich waren es jedoch die Vertreter der Bezirkskomitees. Ob sie die Konzeption alleine verfassten oder gemeinsam mit den Vertretern des AfNS ließ sich nicht feststellen. 52 Protokoll über das Gespräch am 17.01.1990 mit Vertretern der Bürgerinitiative und der Arbeitsgruppe Sicherheit des Runden Tisches vom 17.01.1990, BArch DO 104/3, Bl. 134-136. 53 Ebd. Zur Struktur des Staatlichen Komitees siehe auch Süß, Walter: Staatssicherheit am Ende (1999), S. 732-734, 739. 54 ZRT: Beschlussvorlage Nr. 5 vom 18.01.1990, ArLStU, Margitta Hinze. 55 Arbeitsgruppe des Runden Tisches zur Auflösung des Amts für Nationale Sicherheit: Festlegungsprotokoll der Beratung am 17.01.1990 vom 18.01.1990, ArLStU, Margitta Hinze.
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AG Sicherheit für eine stärkere personelle Zusammenarbeit mit dem BKB, so dass noch bei gleicher Sitzung zwei Mitglieder des BKB für die AG Sicherheit als Sachverständige für die Sicherung und Aufarbeitung des MfS-Schriftgutes berufen wurden.56 Am gleichen Tag wurde erneut die Bildung des SK beraten. Sechs Vertreter der Bürgerkomitees und zwei Vertreter der Kirche waren dabei, als Generaloberst Peter (im Auftrag des Ministerpräsidenten), Oberst Engelhardt und Staatssekretär Halbritter in Bezug auf das SK festlegten, dass Vertreter des AfNS/MfS als Konsultationspartner direkt bei den Bürgerinitiativen mitzuarbeiten hatten.57 Nur einen Tag später, bei einer ersten Beratung des Arbeitsstabes am 19. Januar wurde dem Leiter der AG 2-Akten, Heinz M., vom Leiter des Arbeitsstabes Oberst Engelhardt, der AfNS-Oberst M. (stellvertretender Leiter der Abteilung XII »Archiv- und Auskunftstätigkeit«) als Partner zugewiesen. Und die bereits am 15. Januar 1990 entwickelte Konzeption über die Auflösung wurde in leicht abgewandelter Form angenommen.58 Bei gleicher Gelegenheit verkündete Heinz M. in seiner Funktion als Leiter der AG 2-Akten zudem, dass das BKB beschlossen habe, einen Antrag an den Ministerrat über die Einrichtung eines »Museums für die Geschichte des Stalinismus« in der ehemaligen Zentrale zu stellen. Drei Tage später wiederholte Heinz M. diese Forderung vor dem Arbeitsstab, dass das »[…] Haus I des ehem. MfS Gedenkstätte des Stalinismus werden soll« und ergänzte, dass hierfür Inventar (insbesondere stalinistische Kultgegenstände) zu sammeln und zentral aufzubewahren sei.59 D.h., Heinz M. brachte bereits wenige Tage nach der »Erstürmung« der Zentrale (seiner ursprünglichen Bewerbung an Modrow folgend), den Vorschlag zum Aufbau eines »Museums für die Opfer des Stalinismus« in Haus I vor.60 Schon am 28. Januar legte Heinz M. ein Konzept vor, das sich – über die grundsätzlichen Planungen zur Arbeit des BKB hinaus – auch mit notwendigen Maßnahmen für eine Gedenkstättenerrichtung befasste und eine Gedenkstätte in der Normannenstraße empfahl. »Die Interessen vom Mitgliedern des Bürgerkomitees, sich hauptberuflich diesen Arbeiten sowie dem Aufbau der Gedenkstätte zu widmen, sollten berücksichtigt werden«, wies Heinz M. zugleich an.61 Außerdem entstand im gleichen Zeitraum eine »Grobkonzeption der AG 2-Akten« (datiert vom 21. Januar 1990), die eine Sicherung und Konzentration aller Akten und Materialien (»Schriftgut«, Kultgegenstände des Stalinismus, Agit-prop-Material sowie sonstige Demonstrationselemente) im Haus II des ehemaligen MfS für eine
56 Ebd., S. 3. 57 Beratungsprotokoll vom 18.01.1990, ArLStU, MDA Bestand Gill. 58 BKB: Protokoll einer Beratung des Arbeitsstabes zur Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit vom 19.01.1990, S. 2, ArLStU, MDA Bestand Gill. 59 BKB: Protokoll einer Beratung des Arbeitsstabes zur Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit vom 22.01.1990, S. 2, ArLStU, MDA Bestand Gill. 60 BKB: Protokoll einer Beratung des Arbeitsstabes zur Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit vom 19.01.1990, S. 3, ArLStU, MDA Bestand Gill. 61 BKB: Konzeption vom 28.01.1990, Berlin, S. 6, ArLStU.
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spätere Aufbereitung in einem »Museum für die Opfer des Stalinismus« im Haus I vorsah.62 Die historischen Inhalte und die geschichtspolitische Ausrichtung der Archivund Museumsarbeit vernachlässigte diese Konzeption vom 21. Januar 1990. Stattdessen enthielt sie bereits präzise Vorstellungen zu Struktur und Personalstand. Sie sah einen »Operativstab Museum für die Opfer des Stalinismus« von 6 Personen (vorwiegend Museologen) vor, der Teil einer 45-köpfigen AG 2Akten sein sollte.63 Der hohe Personalbedarf der AG 2-Akten erklärt sich daraus, dass zu diesem Zeitpunkt noch an eine enge Verknüpfung von Gedenkstätte (Museum) und Archiv gedacht war (vergleichbar mit dem Templin-Vorschlag vom 15. Januar), gab es noch keinen »Sonderbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit«. Diese von Heinz M. vorgebrachte Grobkonzeption ging daher von einem Zuständigkeitsbereich aus, das den späteren Aufgaben der GauckBehörde integrierte. Neben diesen Überlegungen zur Struktur und Personalwesen enthielt die Grobkonzeption zudem die Empfehlung, dass die Gründung eines solchen »Museums für die Opfer des Stalinismus« durch die DDR-Regierung zu erfolgen habe und es in die Staatlichen Museen zu Berlin einzugliedern sei.64 Dieser Vorschlag zur Eingliederung deutet zwar auf eine inhaltliche Verwandtschaft zu herkömmlichen DDR-Museen hin, die Anlehnung an DDR-Museen muss jedoch nicht zwangsläufig bewusst angestrebt worden sein. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass Heinz M. zu diesem frühen Zeitpunkt wohl kaum Kenntnisse über »Alternativen« zu staatlichen DDR-Museen (nämlich Museen in gemeinnütziger bzw. privater Trägerschaft) hatte. Das Grobkonzept von Heinz M. stand nicht für sich alleine. Es nahm direkten Bezug auf den Antrag über eine Einrichtung einer »Gedenk- und Forschungseinrichtung zum DDR-Stalinismus« im Haus I, den Carlo Jordan, Mitbegründer von Bündnisgrün und Bürgerrechtler, beim Runden Tisch stellte: »Die Grüne Partei schlägt vor, im Gebäudekomplex der damaligen Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit […] eine Gedenk- und Forschungsstätte zum DDR-Stalinismus einzurichten. Als besonders geeignet erscheint […] das Gebäude mit dem ehemaligen Sitz des Ministers für Staatssicherheit, Erich Mielke. In diesem Gebäude können MfS-Archivmaterialien der zeitgeschichtlichen Forschung zur Verfügung gestellt werden. Ebenso kann diese Gedenk- und Forschungsstätte interessierten Bürgern und Bürgerinnen Einblick in die vom MfS über sie angelegten Akten ermöglichen und Rehabilitierung vorbereiten.«65
62 Bürgerkomitee Berlin/AG 2-Akten: Grobkonzeption der AG 2-Akten vom 21.01.1990, ArLStU, MDA Bestand Gill. 63 Ebd., S. 2. 64 Ebd., S. 3. 65 Beschluss des Zentralen Runden Tisches Vorlage 9/5, Antrag GP: Zur Errichtung einer Gedenk- und Forschungsstätte zum DDR-Stalinismus, z.n. Moser, Thomas: »Hausbesitzer und Hausbesetzer – Oder: Wem gehört die Stasi-Zentrale. Eine Dokumentation«, in: Horch und Guck 42 (2003), S. 45.
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Mit Templins Vorschlägen vom 15. Januar vor dem ZRT kompatibel, schlug auch Jordan eine Verbindung von Archiv und Erinnerungsort vor. Sein Antrag beinhaltete das Zugänglichmachen von MfS-Unterlagen für die zeitgeschichtliche Forschung, die persönliche Akteneinsicht für Rehabilitierung und strafrechtliche Aufarbeitung und setzte eine enge Verbindung von MfS-Archiv und einer Forschungsund Gedenkstätte voraus. Es wurde eine Einrichtung vorgeschlagen, die mit dem späteren Sonderbeauftragten bzw. dem BStU vergleichbar war – jedoch inklusive eines Museums. Der Antrag wurde am 22. Januar 1990 vom Runden Tisch beschlossen. Der Beschluss ließ die Trägerschaft und die Umsetzung vollständig offen.66 Heinz M. Konzept füllte diese konzeptionelle Lücke, indem er Jordans Vorschläge um eine mögliche Verstaatlichung ergänzte. Grundsätzlich waren die Inhalte des zu schaffenden Erinnerungsortes, seine Struktur und seine Trägerschaft bis zu diesem Zeitpunkt bei allen drei »Konzepten« (Templin, Heinz M., Jordan) noch relativ offen. Heinz M. Konzept war das einzige, das genauere Angaben und Wünsche zur Umsetzung formulierte. Übereinstimmung gab es bezüglich einer nötigen Umwandlung der ehemaligen Zentrale in einen Ort der Dokumentation sowie der historischen Aufarbeitung. Alle drei Konzepte sahen zudem eine enge Verbindung zwischen Archivverwaltung und »Museum« bzw. »Gedenkstätte« vor und fokussierten zunächst auf die stalinistische Ära der DDR. Die Forderung nach einem Erinnerungs- bzw. Museumsort war unmittelbar mit dem Wunsch nach ersatzloser Auflösung des AfNS verbunden. Die Gedenkstätte sollte Teil eines »zivilen Auflösungsprozesses« sein, unter maßgeblicher Beteiligung der Bürgerkomitees. Am 08. Februar 1990 schuf der Ministerrat der DDR den rechtlichen und institutionellen Rahmen für die Auflösung des MfS. Der bereits am 17. Januar eingebrachte Vorschlag über die Bildung eines Staatlichen Komitees – unter der Leitung von Georg Böhm (DBD), Werner Fischer (IFM und Runder Tisch) und Fritz Peter (Regierungsbeauftragter) – wurde beschlossen. Das Staatliche Komitee (SK) zur Auflösung des AfNS wurde eingesetzt. Persönlich von Modrow wurde Günter Eichhorn (ehemaliger Leiter im Finanzministerium) zum Leiter des SK bestimmt. 67 Das Komitee bestand aus 176 Angestellten, darunter ca. 70 Stasi-Offiziere.68 Weitere 700 ehemalige Stasi-Mitarbeiter wurden darüber hinaus mit der Unterstützung
66 Gutzeit, Martin: Der Entstehungszusammenhang (2001), S. 7, ArLStU, Bestand: Fachkommission Haus I Normannenstraße/Berlin-Lichtenberg Ablage; Fachkommission Haus I: Anatomie der SED-Diktatur (2001), S. 21, StAufarb, Bestand: Gedenkstätte Normannenstraße (Geschäftsablage o. Sign.). 67 Ministerrat der DDR: Beschluss 13/4/90 vom 08.02.1990, S. 2, ArLStU, BArch DO 1049, Bl. 67; BArch DO 104 1-9. 68 Staatliches Komitee zur Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit (SK): Grobstruktur des Komitees zur Auflösung [des] ehemaligen Amtes für Nationale Sicherheit vom 16.02.1990, ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv. Das SK bestand im April 1990 aus 186 Mitarbeitern, von denen 69 dem ehemaligen MfS/AfNS angehörten, vgl. SK: Bericht über den Stand der Auflösung vom 12.04.1990, S. 9, BArch DO 104/26; ArLStU, BArch DO 104 10-13, 17-19, 24-26.
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des Komitees beauftragt. Alleine für den Bereich Behandlung des Schriftgutes wurden 30 Kader des ehemaligen MfS/AfNS eingeplant und für Archivaufgaben zusätzliche 80 ehemalige AfNS-Mitarbeiter.69 Nahezu alle Abteilungsleiter kamen aus Bereichen früherer Ministerien oder anderer staatlicher Organisationen der DDR. Bis Mitte Mai waren außerdem zahlreiche ehemalige Stasi-Generäle »per Handschlag« zur Mitarbeit verpflichtet worden, unter Ihnen auch Engelhardt, der diensthabende Offizier vom 15. Januar 1990.70 Somit bestand das SK maßgeblich aus ehemaligen Spezialisten der Staatssicherheit. Eine enge Zusammenarbeit mit den Regierungsbeauftragten, mit dem Runden Tisch und den Bürgerkomitees wurde allerdings zur Bedingung gemacht. Ungeachtet dieser neuen staatlichen Struktur zur Auflösung des AfNS, der neu eingeführten Regelungen zum Umgang mit MfS-Schriftgut und zur Aufhebung der Schweigepflicht, arbeitete das BKB (federführend Heinz M.) weiter an einer Beschlussfassung für den ZRT zur Gründung einer Gedenkstätte.71 Inzwischen plante die AG 2-Akten nicht mehr ein »Museum für die Opfer des Stalinismus«, sondern eine groß ausgelegte »Forschungs- und Gedenkstätte zur Unterdrückung Andersdenkender in der DDR«.72 Dieser neue Titel war offenkundig missverständlich, sollte es ja nicht um eine Gedenkstätte zur Unterdrückung Andersdenkender, sondern um eine Gedenkstätte zur Darstellung der Unterdrückung sein. Neben diesen Formulierungsschwächen offenbarte die Beschlussvorlage aber auch strukturelle Schwachpunkte.73 So sah sie zudem die vollkommen unbegründete Beauftragung seiner selbst mit dem Aufbau und mit der Leitung dieser Einrichtung vor. Dahingehend war Heinz M. schon aktiv geworden, lagerte er doch inzwischen gemeinsam mit seinen Mitarbeiterinnen »Kult(ur)gegenstände« im Raum 520 des Hauses I ein. Beide statteten auch dem Märkischen Museum einen Besuch ab, wohl mit der Absicht von dort professionelle Ratschläge für den Aufbau einer Forschungs- und Gedenkstätte mitzunehmen.74 Die Finanzierung der Forschungs- und Gedenkstätte wiederum sollte, anders als es die Grobkonzeption vom 19. Januar noch vorsah, diesmal direkt durch den Staatshaushalt der DDR erfolgen und nicht mehr über eine Eingliederung in die Staatlichen Museen Berlin. Es war also an ein eigenständiges Museum mit Archiv gedacht, das mit der Staatlichen Archivverwal-
69 SK: Protokoll über die Ergebnisse der Beratung zur Abgrenzung der Aufgaben zwischen dem neugebildeten Komitee zur Auflösung des ehem. AfNS und dem Bürgerkomitee vom 16.02.1990, S. 2-3, ArLStU, MDA Bestand Gill. 70 Templin, Wolfgang: »Der 15. Januar 1990«, in: ASTAK e.V. (Hg.): Die Zentrale (2003), S. 120; Das Komitee zur Auflösung der Staatssicherheit, S. 1, ArLStU, Bestand: MDA Bestand Gill. 71 Ministerrat der DDR: Beschluss 13/4/90 vom 08.02.1990, Anlagen, ArLStU, BArch DO 104-9. 72 BKB AG 2-Akten: Aktennotiz vom 09.02.1990, ArLStU, MDA Bestand Gill. 73 BKB AG 2-Akten: Beschlussvorlage für AG Sicherheit des Zentralen Runden Tisches vom 11.02.1990, ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv. 74 Gutzeit, Martin: Die im Haus I (2001), S. 67, ArLStU, Bestand: Fachkommission Haus I Normannenstraße / Berlin-Lichtenberg Ablage.
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tung eng kooperieren sollte. Des Weiteren umfasste der beigefügte Strukturplan nunmehr über 50 Mitarbeiter und sieben Honorarkräfte, die sich neben der Leitungsetage auf sechs Unterabteilungen (Forschung und Dokumentation, Archiv, Depot, Technische Dienste, Öffentlichkeitsarbeit, Pädagogik) verteilten.75 Diese Beschlussvorlage wurde am 11. Februar 1990 vorgelegt, jedoch von der AG Sicherheit des Runden Tisches aus Zeitgründen nicht behandelt. Eine Wiedervorlage, erneut vor dem ZRT und dann vor dem neugewählten Parlament, wurde für März/April anvisiert.76 Trotz mangelnder Zustimmung seitens des ZRT und der AG Sicherheit hatte Heinz M. bereits am 23. Februar einen sechsköpfigen Mitarbeiterstab aus Vertretern des SK und des BKB zum Aufbau seiner Forschungs- und Gedenkstätte (FOGE) zumindest auf dem Papier zusammengestellt.77 Daneben bemühte sich das Bürgerkomitee um die Sicherung der Immobilie Haus I und leitete es weitere Schritte in Richtung Aufbau der FOGE ein. So lagen aus den Reihen der Bürgerkomitees Berlin bei Heinz M. bereits zwölf Bewerbungen für eine fortlaufende Mitarbeit an einer aufzubauenden FOGE vor, inzwischen wurden auch Fotolaboreinrichtungen und Mobiliar im Haus I zu späteren Museumszwecken eingelagert. Auch wurde die Teilnahme an einer Pressekonferenz am 13. März 1990 angekündigt, bei der im Namen der FOGE erste Arbeitsergebnisse vorgestellt werden sollten.78 Am 12. März, bei der letzten Sitzung des Rundes Tisches, wurde erneut die Beschlussvorlage des Bürgerkomitees vom 11. Februar mit dem Argument, dass noch keine Gesamtplanung für das Objekt Normannenstraße vorliege, vertagt. Carlo Jordan, der auf dieser Sitzung die Beschlussvorlage des Bürgerkomitees über eine FOGE (erneut) in die Diskussion einbrachte, erhielt nur eine vage Auskunft darüber, dass das SK und nicht das BKB sich dieser Frage zukünftig anzunehmen habe.79 Die Vertagung hatte einen weiteren Hintergrund. Es lagen – vor allem aufgrund des Endes der Arbeit des ZRT – parallel Anträge vor, die einen parlamentarischen Ausschuss zur Kontrolle der Auflösung forderten. Dieser unabhängige, parlamentarische Ausschuss sollte sich der Verwaltung der MfS-Hinterlassenschaften langfristig annehmen. Mit diesem parlamentarischen Ausschuss (später mit dem »Sonderbeauftragten« bzw. der Gauck-Behörde tatsächlich umgesetzt) sollte ver-
75 Ebd., S. 68; BKB AG 2-Akten: Strukturplan der Forschungs- und Gedenkstätte zur Unterdrückung Andersdenkender in der DDR vom 11.02.1990, ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv. 76 BKB AG 2-Akten: Zwischenbericht vom 10.03.1990, S. 3, BArch DO 104/18; ArLStU, BArch DO 104 10-13, 17-19, 24-26. 77 SK: Strukturübersicht und Personalstand Bürgerkomitee, Komitee zur Auflösung, Regierungsbeauftragte vom 23.02.1990, Anlage zu SK: Schreiben vom 23.02.1990, ArLStU, MDA Bestand Gill. Eine Beauftragung der ersten drei Mitarbeiter erfolgte jedoch erst am 13.03.1990, vgl. BKB: Bescheinigung vom 13.03.1990, BArch DO 104/18; ArLStU, BArch DO 104 10-13, 17-19, 24-26. 78 BKB AG 2-Akten: Zwischenbericht vom 10.03.1990, S. 3, BArch DO 104/18; ArLStU, BArch DO 104 10-13, 17-19, 24-26. 79 Thaysen, Uwe (Hg.): Der Zentrale Runde Tisch der DDR (Band 4, 2000), S. 1121.
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hindert werden, dass sich die an der Auflösung beteiligten Komitees der MfSHinterlassenschaften (Akten, etc.) bemächtigten. Die Verhinderung einer Übernahme des MfS-Erbes durch die Komitees wurde zum einen mit einer möglichen StasiUnterwanderung, zum anderen mit der offiziellen Beteiligung ehemaliger StasiLeute bei der Auflösung des AfNS begründet. Die Befürchtungen, die ein ZRT-Nachfolgeorgan begründeten, trafen nicht nur in Bezug auf die Arbeit der AG 2-Akten voll zu. So schlug das SK noch am selben Tag vor, einige engagierte Mitarbeiter des BKB in das SK zu übernehmen. Übergeordnetes Ziel des SK war es dabei in der Tat, die Federführung in Sachen MfS/AfNS wiederzuerlangen. Und tatsächlich übergab die AG 2-Akten ebenfalls am 12. März ihre Konzeption an das SK und besprachen sich die beiden Vertreter Heinz M. (AG 2-Akten vom BKB) und Eichler (Leiter der AG 2-Komitee vom SK sowie Stellvertreter von Eichhorn).80 Dabei stimmten beide zumindest darin überein, dass eine Forschungs- und Gedenkstätte in der Normannenstraße eingerichtet werden solle.81 Zwei Tage später, bei einer gemeinsamen Beratung zwischen AG 2Akten und AG 2-Komitee, nahmen auch die übrigen Mitglieder der AG 2-Komitee Kenntnis von den Gedenkstättenplänen des BKB. U.a. Wagner, amtlicher Leiter des Zwischenarchivs Berlin der Staatlichen Archivverwaltung (StAV), verwies »[…] auf Notwendigkeit der rechtzeitigen Abstimmung zu dieser Problematik. Herr E. erklärt u.a., dass die in der [Beschluss-]Vorlage erwähnten funktionstechnischen Einrichtungen bereits durch das staatliche Komitee gesichert wurden«.82 Die Anwesenden der BKB-AG 2-Akten und die Vertreter des SK legten zugunsten des SK fest: »Zur Vermeidung von Parallelarbeit bzw. sporadischen Maßnahmen ist eine Gesamtkonzeption als Grundlage für eine entsprechende Beschlussvorlage zu erarbeiten. Das staatliche Komitee zur Auflösung des AfNS übernimmt die Sicherung der erforderlichen Ausstellungsgegenstände.«83 Die konzeptionellen Bemühungen des BKB und ihre Sammlungsaktivitäten wurden damit als obsolet erklärt bzw. übernahm das SK nunmehr die Federführung zur Vorbereitung einer Gedenkstätte im Haus I. Entgegen dieser Festlegung legte Heinz M. nur wenige Tage später, am 18. März 1990 eine überarbeitete Beschlussvorlage vor, die nun die Gründung einer »Forschungs- und Gedenkstätte (FOGE) für die Opfer stalinistischer Willkür und zur Darstellung der Unterdrückung Andersdenkender in der DDR« empfahl.84 Dieser neue Arbeitstitel ersetzte den vorherigen, missverständlichen. Er reduzierte zu-
80 BKB AG 2-Akten: Mitteilung von AG 2-Akten an AG 2-Komitee vom 12.03.1990, ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv. 81 Gutzeit, Martin: Die im Haus I (2001), ArLStU, Fachkommission Haus I Normannenstraße/Berlin-Lichtenberg Ablage. 82 BKB AG 2-Akten: Protokoll vom 15.03.1990, S. 5, ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv. 83 Ebd. 84 Schreiben der BKB AG 2-Akten an die Vertreter des ZRT Georg B. und Werner F. und den Regierungsbeauftragten Fritz Peter vom 18.03.1990, BArch, DO 104/1, Bl. 138; ArLStU, BArch DO 104 1-9.
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gleich den Gedenkstättengegenstand auf die stalinistischen Irrwege des MfS/AfNS und begrenzte die historische Aufarbeitung auf nur solch politische Unterdrückung. Neben dieser inhaltlichen Neuausrichtung sah der Entwurf nun zudem die Bildung eines »Aufbaustabes« vor.85 Dieser sollte jetzt sowohl aus Vertretern des BKB als auch aus Vertretern des SK bestehen, sowie aus internen »Spezialisten«. Ob es sich dabei um ehemalige Stasi-Leute handeln sollte, wurde nicht explizit ausgeführt. Aber es wurde eine enge Zusammenarbeit mit dem SK und der Staatlichen Archivverwaltung zugrunde gelegt. So sollte die Entlohnung aller Mitarbeiter des Aufbaustabes aus Mitteln des SK erfolgen; dies setzte vertraglich festgelegte Beschäftigungsverhältnisse beim SK voraus.86 Da inzwischen schon 14 Bewerbungen für den Aufbaustab vorlagen und er mit einem arbeitsfähigem Aufbaustab ab dem 01. April rechnete, bat Heinz M. zudem darum, baldigst die arbeitsrechtlichen Vereinbarungen zwischen SK und den zukünftigen FOGE-Mitarbeitern zu treffen.87 Er selbst empfahl sich weiterhin als kommissarische Leitung, bis die Stelle des Gedenkstättendirektors über eine öffentliche Ausschreibung neu zu besetzen sei. Neben der Leitung des Aufbaustabes schrieb er sich selbst den konzeptionellen Vorsitz zu.88 Der Stellenplan für den laufenden Gedenkstättenbetrieb wurde im neuen Entwurf auf 56 Festangestellte und zwölf Honorarkräfte leicht ausgeweitet.89 Zudem konkretisierte Heinz M. nun die finanziellen und materiellen Voraussetzungen für die FOGE. Er empfahl: »Der Rechtsträgerwechsel des Objektes Haus I BerlinNormannenstraße in die Rechtsträgerschaft der Forschungs- und Gedenkstätte ist zu vollziehen.«90 Die Verantwortung hierfür sollte das SK tragen. Darüber hinaus wies die Beschlussvorlage an, dass dem Aufbaustab der FOGE aus dem Bestand des ehemaligen MfS/AfNS diverse Devotionalien, Kultgegenstände, »Agit-propMaterialien«, Uniformen und Abzeichen, »Traditionskabinette« sowie verschiedenste Ausstellungs- und MfS-Technik anzubieten sei. »4. Die bisherige Ausstattung des Hauses I ist nur mit Zustimmung des Aufbaustabes der FOGE zu verändern. Insbesondere sind die Dienst- und Arbeitsräume des ehemaligen Ministers des MfS und deren Ausstattung zu erhalten. 5. Die Rückführung bereits übergebener Ausstellungs-, Archiv- und Bibliotheksgüter sowie technischer Ausstattungen, insbesondere
85 BKB AG 2-Akten: Beschlussentwurf vom 18.03.1990, BArch, DO 104/1, Bl. 139; ArLStU, BArch DO 104 1-9. 86 BKB AG 2-Akten: Grundsätze der Bildung des Aufbaustabes der FOGE vom 18.03.1990, BArch, DO 104/1, Bl. 140; ArLStU, BArch DO 104 1-9. 87 Schreiben der BKB AG 2-Akten an die Vertreter des ZRT Georg B. und Werner F. und den Regierungsbeauftragten Fritz Peter vom 18.03.1990, BArch, DO 104/1, Bl. 138; ArLStU, BArch DO 104 1-9. 88 BKB AG 2-Akten: Beschlussentwurf vom 18.03.1990, BArch, DO 104/1, Bl. 139; ArLStU, BArch DO 104 1-9. 89 BKB AG 2-Akten: Grobstruktur und Anzahl der Plansstellen vom 18.03.1990, BArch, DO 104/1, Bl. 141; ArLStU, BArch DO 104 1-9. 90 BKB AG 2-Akten: Finanzelle und materiell-technische Ausstattung vom 18.03.1990, BArch, DO 104/1, Bl. 143-144; ArLStU, BArch DO 104 1-9.
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Observations- und Abhörtechnik, letztere in dem für die FOGE erforderlichen Umfang und Übergabe an den Aufbaustab ist zu gewährleisten«,
legte Heinz M. fest.91 Schließlich bezifferte er einen anzustrebenden Staatszuschuss in Höhe von rund drei Millionen Mark für das laufende Jahr 1990.92 Zu einer Eröffnung der FOGE sollte es nach dreimonatiger Vorbereitung bereits am 01. Juli 1990 kommen. Dies teilte er der Presse mit.93 Am 20. und 21. März 1990 übergab er den Beschlussentwurf an die großen Parteien CDU, SPD, PDS, Bündnis 90 sowie an das Bündnis Freier Demokraten. Weitere Exemplare sollten an die Volkskammer und den Ministerrat der DDR gehen.94 Am 22. März stellte Heinz M. seine FOGEEntwurf beim Koordinierungstreffen der Bürgerkomitees der Bezirke vor und lud er die anderen Bürgerkomitees dazu ein, sich am Aufbau zu beteiligen, sofern keine eigenen Ausstellungen errichtet werden.95 Heinz M. Motive liegen auf der Hand. Seine Gedenkstättenpläne zielten inzwischen vor allem darauf ab, den mittlerweile eingebüßten Einfluss auf den Auflösungsprozess zurückzugewinnen. Und angesichts des drohenden Endes der Arbeit des BKB (aufgrund der Regierungsneubildung im Anschluss an die März-Wahlen und aufgrund der zunehmenden Übernahme der MfS-Auflösung durch das SK) boten seine bisherigen Überlegungen zu einer FOGE zudem die Chance, zumindest einen Teil der AG 2-Akten »zu retten« und diesen Mitarbeitern bzw. dem BKB – neben der Mitarbeit in einem parlamentarischem Kontrollausschuss – auch dort ein zukünftiges, arbeitsrechtlich abgesichertes neues Betätigungsfeld zu schaffen.96 Diese personalpolitisch ambitionierten Museumspläne standen dabei in offenkundigem Widerspruch zu den Interessen des SK, das zur gleichen Zeit und unter Hintergehung der Kontrolle des BKB die Mielke-Suite von der Staatsanwaltschaft übernahm und anfing sie zu »beräumen«, regelrechte Plünderungen eingeschlossen.97 Am 28. März 1990 trafen sich Gill, Heinz M., Eichhorn und der Regierungsbeauftragte Peter, um erneut über die FOGE zu beraten. Bei dieser Besprechung wurde regierungsseitig wieder einmal der Rahmen der FOGE enger abgesteckt. Heinz M. Ak-
91 Ebd., Bl. 143. 92 Ebd., Bl. 144. 93 BKB AG 2-Akten: Pressemitteilung vom 19.03.1990, BArch DO 104/1, Bl. 145; ArLStU, BArch DO 104 1-9. 94 Schreiben des BKB an CDU, SPD, PDS, Ministerrat der DDR, Bündnis Freier Demokraten, Bündnis 90 vom 20.03.1990, BArch DO 104/1, Bl. 137; ArLStU, BArch DO 104 19; Schreiben des BKB an die Volkskammer der DDR vom 20.03.1990, ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv. 95 Protokoll zum Koordinierungstreffen der BK der Bezirke vom 22.03.1990, S. 3, ArLStU, MDA Bestand Gill. 96 BKB AG 2-Akten: Protokoll vom 21.03.1990, S. 2, ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv. 97 Schreiben des BKB Gill an das Staatliche Komitee Eichhorn vom 19.03.1990, ArLStU, MDA Bestand Gill; SK: Protokoll über eine Beratung des Arbeitsstabes vom 20.03.1990, S. 5, ArLStU, MDA Bestand Gill.
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tennotiz vermerkt zentrale Ergebnisse des Treffens: Die Vorstandsmitglieder, der über den Beschlussentwurf in Kenntnis gesetzten Parteien, hatten am Beschluss des ZRT über die Errichtung einer FOGE festgehalten. Die Übergabe des Entwurfes von Heinz M. an die Volkskammer und die Regierung wurde dennoch auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Auch sollten von der FOGE nicht alle Etagen des Hauses I genutzt werden. Die Rolle des SK im Aufbauprozess wurde deutlich gestärkt. So wurde festgelegt, zunächst zwei bis drei Mitarbeiter »des Aufbaustabes« ausschließlich für vorbereitende Maßnahmen ins SK einzustellen. Auch bot Eichhorn persönlich »[…] seine Mitarbeit im Hinblick auf die Schaffung technisch-organisatorischer Voraussetzungen und der konzeptionellen inhaltlichen Gestaltung der FOGE an«, notierte Heinz M.98 Er, Eichhorn, empfahl zudem eine Anbindung an das Museum für deutsche Geschichte (MfDG) und kündigte seine direkte Kontaktaufnahme an. Alle Gesprächsteilnehmer legten Wert darauf, dass die Initiatoren der FOGE nicht zuletzt aufgrund ihrer Verdienste Mitglieder der BKB bleiben sollten. Schließlich wurde angeregt, die Zusammenarbeit zwischen FOGE und SK schriftlich zu vereinbaren.99 Wesentliche Ergebnisse des Gespräches, die von Heinz M. Aktennotiz stellenweise abweichen, wurden in einer Festlegung zum Beschlussentwurf über die Gründung einer Forschungs- und Gedenkstätte auch von Fritz Peter fixiert. Darin heißt es: »Das vorliegende Material kann als solide Grundlage betrachtet werden.«100 Hiermit war die Vorarbeit Heinz M. gemeint. Abweichend von der Aktennotiz Heinz M., legte das Papier allerdings fest, dass eine neue Beschlussvorlage unter Zusammenarbeit von BKB, SK und künftigem parlamentarischen Ausschuss vorzubereiten sei, sich die Nutzung des Hauses I definitiv auf zwei bis drei Etagen beschränken werde und die Finanzierung dann beim Ministerium für Kultur (MfK) zu liegen habe.101 Das Staatliche Komitee sollte als Träger entfallen, es käme lediglich für eine zeitweilige Beschäftigung von zwei, maximal drei Mitarbeitern auf, die die Errichtung der FOGE vornehmen sollten. »Zu diesen Festlegungen wurde Übereinstimmung mit Herrn Gill und [Heinz M.] vom Bürgerkomitee am 28.03.1990 erreicht«, schließt das Dokument.102 Diese Festlegungen entsprachen im Grunde genommen einer Niederlage des BKB. 103 Der große Entwurf von Heinz M. schrumpfte auf zwei bis drei Etagen und zwei bis drei Mitarbeiter zusammen, die noch dazu beim SK angestellt sein sollten. Schließlich wurde eine endgültige Umsetzung des Projektes abhängig gemacht von der Beteiligung eines noch nicht exis-
98 BKB: Aktennotiz vom 28.03.1990, ArLStU, MDA Bestand Gill. 99 Ebd. 100 Beauftragter des Ministerpräsidenten der DDR für die Auflösung des ehemaligen AfNS, Generaloberst Peter: Festlegungen zum Beschlussentwurf über die Gründung einer Forschungs- und Gedenkstätte vom 29.03.1990, ArLStU, Bestand: BArch DO 104, 1-9; BArch DO 104/1 S. 136. 101 Ebd. 102 Ebd. 103 Heinz M. berichtete der AG 2- Akten daher ungeschminkt, dass seine Beschlussvorlage von Peter abgewiesen worden sei, da es an zentralen Entscheidungen fehle, vgl. BKB AG 2-Akten: Protokoll vom 29.03.1990, S. 2, ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv.
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tierenden parlamentarischen Ausschusses und einem Regierungsbeschluss. Für das SK wiederum stellte diese »Einigung« einen »Sieg« dar, wurde die Planung doch an Mitarbeiter übertragen, die dem SK unterstellt waren und wurde somit die Position der Fraktion von Heinz M. geschwächt.
4.2 D IE FOGE
NACH DER
M ÄRZWAHL 1990
Von April bis Mitte Mai ergriff das SK vier Maßnahmen, um eine staatliche Planung und Übernahme der FOGE und eine restaurative Aufarbeitung der DDRVerfehlungen voranzubringen. Hierzu zählten personelle Schritte, politische Beschlüsse und schließlich strukturelle sowie konzeptionelle Planungen. Die Initiatoren der FOGE in den Reihen des BKB wiederum versuchten im Gegenzug jetzt immer vehementer ihren zunehmenden Bedeutungsverlust und ihren schwindenden Einfluss auf die Aufarbeitung des MfS-Erbes abzuwenden. Offen zu Tage traten diese verschiedenen Interessen sowohl hinsichtlich der befürworteten Trägerschaft als auch im Hinblick auf die inhaltliche Ausrichtung das Hauses I als Museum am historischen Ort. Diese Entwicklung wird im Folgenden nachgezeichnet. Zunächst wurde als erste Maßnahme der »Aufbaustab« eingesetzt. Hierzu gehörten die Historiker Armin Mitter und Stefan Wolle, die ab dem 01. April 1990 vom SK eingestellt wurden.104 Statt Heinz M. sollte Ulrich W. als »Museologe« die Leitung des Aufbaustabes im Auftrag des SK übernehmen, Dorit S. und Anneliese G. von der AG 2-Akten sollten Ulrich W. beim Aufbau der Gedenkstätte unterstützen, ihre Einstellungen beim SK folgten zum 01. Mai 1990.105 Bereits vor der Beauftragung Ulrich W. äußerte das BKB »Bedenken«.106 In einer Mitteilung an Eichhorn und Peter empfahlen Christoph M. (Leiter der AG 8 des Bürgerkomitees) und Gill daher eine Übertragung der Leitungsfunktion auf Heinz M.: »Im Ergebnis von Recherchen zur Übernahme der kommissarischen Leitungsfunktion des Aufbaustabes der Forschungs- und Gedenkstätte des Herrn [Ulrich W.] gibt es Bedenken. […] Heinz [M.], hat sich infolgedessen bereit erklärt, selbst die Leitung des Aufbaustabes zu übernehmen. Wir bitten Sie deshalb, mit Herrn [Heinz M.] eine dementsprechende arbeitsrechtliche Übereinkunft in Verbindung mit der weiteren Arbeit im Bürgerkomitee zu treffen.«107
104 BKB AG 2-Akten: Aufstellung der Bewerber für die Mitarbeit in der Forschungs- und Gedenkstätte vom 21.04.1990, ArLStU, MDA Bestand Gill. 105 Ebd.; BKB AG 2-Akten: Mitteilung vom 02.04.1990, ArLStU, Bestand: Archiv ASTAK Bestand Geschichte [ASTAK]. 106 Dieses »Bedenken« konnte nicht aufgeklärt werden. Zwei Vermutungen sind möglich. Entweder deutet das »Bedenken« auf eine MfS-Nähe von Ulrich W. hin oder aber es bestanden »Bedenken« dahingehend, dass Ulrich W. eben kein Mitglied des Bürgerkomitees war, was von Seiten des BKB allerdings gewünscht wurde. 107 Schreiben von Gill und Christoph M. an Wandrey über Peter und Eichhorn: Personelle Besetzung des Aufbaustabes vom 02.05.1990, ArLStU, MDA Bestand Gill.
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Ein gänzlicher Verzicht auf die Mitarbeit des »bedenklichen« Ulrich W. war damit jedoch nicht beabsichtigt. Gill und Christoph M. empfahlen eine weitere Beschäftigung von Ulrich W., allerdings unter Heinz M. Vorsitz: »Wir wären Ihnen dankbar, Herrn Ulrich [W.] trotzdem als Mitarbeiter des Aufbaustabes ab 8.5.1990 einzustellen.«108 Am gleichen Tag konstituierte sich der Aufbaustab mit dem Arbeitsantritt von Dorit S. und Anneliese G. Trotz des Einspruchs des BKB wurde Ulrich W., wenn auch verspätet, am 15. Mai 1990 als Leiter des Aufbaustabes eingesetzt und mit der Erarbeitung einer Gestaltungs- und Raumkonzeption beauftragt.109 Damit war die Errichtung der Gedenkstätte zu einer direkten staatlichen Aufgabe geworden. Während das SK einen Aufbaustab einsetzte, suchte Heinz M. unterdessen den Kontakt zum Innenministerium. In einem Brief an den neuamtierenden Innenminister Peter-Michael Diestel machte er ihn darauf aufmerksam, dass personell und materiell ein »nahtloser Übergang« zur Errichtung einer FOGE geschaffen werden müsse. Des Weiteren schlug er vor, dass Diestels Ministerium die Schirmherrschaft über die Forschungs- und Gedenkstätte übernehmen solle.110 Heinz M. Vorgehen hing mit dem Regierungswechsel ab April 1990 zusammen. Durch die de MaiziéreRegierung wurde laut Koalitionsvertrag das SK dem Innenministerium unterstellt. Dies legte die Vermutung nahe, dass auch für die Gedenkstätte die Zuständigkeit beim Innenministerium lag. Eine Antwort erging wohl bis zum 14. Mai 1990.111 Der Ministerratsbeschluss vom 16. Mai 1990112 verfügte schließlich – als zweite Maßnahme neben der Einsetzung des Aufbaustabs – dass zur Einrichtung einer »Forschungs- und Gedenkstätte für die Opfer des Stalinismus« die erforderlichen Voraussetzungen zu erfüllen seien: »Entsprechend dem Vorschlag des Zentralen Rundes Tisches zur Errichtung einer Forschungs- und Gedenkstätte für die Opfer des Stalinismus im Haus I des Objektes Normannenstraße des ehemaligen MfS/AfNS sind die erforderlichen konzeptionellen Vorschläge sowie die materiellen, finanziellen und personellen Voraussetzungen vorzubereiten und zu schaffen.«113
108 Ebd. 109 BKB: Protokoll vom 22.05.1990, S. 4, ArLStU, MDA Bestand Gill. In einem Schreiben an Eichhorn vom 14. Juni 1990 unterzeichnet Ulrich W. im Widerspruch hierzu nur als stellvertretende Leitung, vgl. Schreiben von Ulrich W. an Eichhorn vom 14.06.1990, ArLStU, ASTAK. Ob Heinz M. ihm im Laufe des Junis vorgesetzt wurde, konnte nicht aufgeklärt werden. Da Ulrich W. an späterer Stelle wieder als Leiter auftritt, bleibt die Verf. bei der Leitungsfunktion. 110 SK: Entwurf Punkt 21 des Beschlussentwurfes für den Ministerrat der DDR vom 23.04. 1990, ArLStU, ASTAK; Protokoll über eine Beratung des Arbeitsstabes zur Auflösung des AfNS in Berlin vom 24.04.1990, ArLStU, MDA Bestand Gill. 111 Leider liegt dieses Dokument nicht vor. 112 Beschluss des Ministerrates 6/6/90 vom 16.05.1990, BArch Dc 20 I/3-2952. 113 Ebd.
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Verantwortlich für die Umsetzung des Beschlusses sollte der Minister für Kultur (Schirmer) sein, in Abstimmung mit dem Minister des Inneren (Diestel), bei dem die Zuständigkeit für die Auflösung des AfNS seit dem 18. März lag. Damit wurde die staatliche Verantwortlichkeit für die Forschungs- und Gedenkstätte untermauert, die personell bereits durch den Aufbaustab gegeben war. Die Forschungs- und Gedenkstätte, initiiert von Mitgliedern des Bürgerkomitees Normannenstraße, sollte somit nicht nur personell (durch den Aufbaustab) sondern auch politisch zur Staatsaufgabe werden. Die dritte Maßnahme (neben Aufbaustab und neben ministerialer Verantwortung) zur »Verstaatlichung« des Gedenkstättenvorhabens, wurde materiellstrukturell durch die Rückübertragung des Hauses I auf das SK und das Einsetzen des parlamentarischen Sonderausschusses (später Sonderbeauftragter für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR) unter der Leitung Joachim Gaucks am 07. Juni 1990 erreicht.114 Eichhorn wies Gill umgehend an, die Aneignung von Räumen und Inventar des Hauses I durch das BKB zu unterlassen und das Gebäude samt Interieur und Ausrüstungsgegenständen wieder an den Rechtsträger SK zurückzugeben. Als Zweck der Überführung des Hauses I wurden die noch zu erarbeitenden konzeptionellen Vorschläge im Sinne einer FOGE angegeben.115 Daneben sollte auch die bürgerliche Kontrolle über die Durchführung der Errichtung einer Forschungs- und Gedenkstätte im Haus I zurückgedrängt werden. Ihre Gewährleistung war nur noch über dem parlamentarischen Sonderausschuss vorgesehen. Eine rege Beteiligung des BKB am Aufbau der FOGE wurde stattdessen nicht unterstützt, vielmehr sollte die Arbeit der Bürgerkomitees mit dem 01. Juli 1990 offiziell enden. D.h., Heinz M. hatte mit dem Ende seiner FOGEAufbauarbeit zu rechnen, und damit notgedrungen auch mit dem Ende seiner existenziellen Absicherung.116 Gleichzeitig wurden die Archiv-Zuständigkeiten, die ursprünglich ebenfalls bei der FOGE liegen sollten, mit der Einrichtung des Sonderausschusses bzw. Sonderbeauftragten auf diesen übertragen. Die Vorstellung vom Archiv im Verbund mit einem Museum wurde hiermit ebenso ad acta gelegt, was Heinz M. AG 2-Akten im Grunde genommen noch stärker überflüssig machte. Der Einfluss der AG 2-Akten des BKB auf den Planungsprozess der Gedenkstätte und die Chancen der nicht vom SK übernommenen BürgerkomiteeMitglieder innerhalb der FOGE »unterzukommen«, wurden auf ein Minimum reduziert. Heinz M. kommentierte hierzu in einer Besprechung des Arbeitsstabes zur Auflösung des AfNS: »Forschungs- und Gedenkstätte: Fortgang der Arbeiten erweist sich als mühsam.«117
114 Volkskammer der DDR, Drs. 27a vom 07.06.1990, BArch DA 1/17476; ArLStU, BArch DA 17477. 115 Schreiben des SK Eichhorn an BKB Gill vom 23.05.1990, ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv. 116 BKB: Protokoll vom 08.06.1990, ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv. 117 SK: Protokoll vom 29.05.1990, S. 2, ArLStU, MDA Bestand Gill.
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Alle drei Maßnahmen drückten deutlich aus, dass die FOGE ein »Staatsprojekt« werden sollte und die AG 2-Akten bzw. das BKB an Einfluss auf die FOGE verlor. Es sollte eine Gedenkstätte von »nationalgeschichtlicher Bedeutung« werden, angesiedelt zunächst beim MfK, dann beim MdI. Dabei wurde auch eine spätere Übernahme durch die Bundesrepublik Deutschland (bzw. durch das BMI), im Falle des Beitritts der DDR zur BRD, eingeplant. So lautete es in einer Vorlage Eichhorns zum Aufbau der FOGE von Anfang Juni 1990: »Da der Bereich Kultur nach bundesdeutscher Aufgabenverteilung dem Bundesinnenministerium zugeordnet ist, wäre denkbar, diese Forschungs- und Gedenkstätte der Außenstelle des Bundesinnenministeriums in Berlin zuzuordnen.«118 Bis dahin wollte das SK dem Aufbaustab »[…] das 1.-3. Geschoss sowie das Sockelgeschoss als gestaltete Eingangshalle […]«, für Ausstellungs- und Depoträume zur Verfügung stellen.119 Bis zu einer Anbindung an das BMI bescheinigte Eichhorn dem Projekt »Forschungs- und Gedenkstätte für die Opfer des Stalinismus« ansonsten vor allem Beschwerlichkeiten, stellte das MfK weder Mittel bereit noch sah es sich im Stande, die vorübergehende Rechtsträgerschaft für das Haus I zu übernehmen. Er empfahl daher zunächst ein »Minimalprogramm«, das aus einer kleinen Ausstellung in der Mielke-Etage bestand.120 Neben diesen personellen, politischen und strukturellen Maßnahmen wurde schließlich auch konzeptionell-inhaltlich eine »Geschichtsaufarbeitung von oben« forciert. So steckte der Leiter des SK Eichhorn, neben seinen trüben Perspektiven zur materiellen Umsetzung, als erster den konzeptionellen Rahmen der FOGE ab. Seine Vorstellungen zur zukünftigen Gedenkstätte im Haus I folgten dem Grundgedanken, dass an diesem Ort eine »[…] gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit den politischen Entwicklungsprozessen auf dem Gebiet der DDR in den letzten Jahrzehnten unter besonderer Berücksichtigung der Rolle des MfS […]« anhand von Sachzeugnissen sowie durch das Schaffen von Begegnungsmöglichkeiten zwischen den Bürgern stattzufinden habe.121 Er stellte sich dabei eine Art »Geschichtsforum« vor, in dem Bürger sich aktiv und kritisch mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinandersetzen sollten, insbesondere mit den stalinistischen Verfehlungen der DDR, zu denen er unweigerlich das MfS zählte. Trotz dieser persönlichen Direktiven von Eichhorn nahm die FOGE innerhalb des Auflösungsprozesses des AfNS/MfS aufs Ganze gesehen eher eine nachrangige Position ein und blieb seine konzeptionellen Vorgaben Lippenbekenntnisse. Tatsächlich standen dem Aufbaustab nach vierwöchiger Arbeit nämlich noch keine Arbeitsräume im Haus I zur Verfügung und war dem Aufbaustab nicht einmal der zeitweilige Zugang zu den dortigen Räumen möglich. Auch mangelte es gänzlich an materiell-technischen Grundausstattungen und Arbeitsmitteln, so dass sich Ulrich W. veranlasst sah, Eichhorn um eine umgehende Verbesserung der Arbeitsbe-
118 SK Eichhorn: Vorlage zum Aufbau der Forschungs- und Gedenkstätte, Berlin im Juni 1990, S. 3, ArLStU, ASTAK. 119 Ebd., S. 2. 120 Ebd., S. 3. 121 Ebd., S. 1.
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dingungen zu bitten. Er appellierte: »Wir hoffen auf konstruktive Zusammenarbeit bei der Verwirklichung unseres Vorhabens«, und brachte damit auch die Randposition zum Ausdruck, in der sich der FOGE-Aufbaustab innerhalb des SK in Wirklichkeit befand.122 Damit das nationalgeschichtlich als bedeutsam eingestufte Haus I erhalten werde, beantragte der frisch berufene Leiter des Aufbaustabes Ulrich W. beim Schirmer zeitgleich mit Eichhorns Vorgaben die Denkmalunterschutzstellung. »Aufgrund seines Charakters als ehem. Zentrale der Staatssicherheit der DDR besitzt das Gebäude nationalgeschichtliche Bedeutung und sollte in seiner Originalität erhalten bleiben, um auch späteren Generationen auf wirkungsvolle Weise Eindrücke der DDR-Geschichte vermitteln zu können«, lautete die Denkmalschutzbegründung.123 Im Gegensatz zu Eichhorns Skizze war diese vollkommen frei von gesellschaftskritischen Ambitionen. Mit der Einstufung der FOGE als ein Projekt nationalen Ranges verband sich nicht nur bei Eichhorn, sondern auch bei Ulrich W. ein übergeordneter geschichtspolitischer Zweck. Eichhorn ging es ausschließlich um die Delegitimation der stalinistischen Verfehlungen mit dem Ziel, der »Versöhnung«. Ulrich W. hingegen verfolgte in stärkerem Maße »Affirmation« und »Katharsis«. Die FOGE sollte, wie aus seinem »12-Punkte-Programm« vom 13. Juli 1990 herauszufiltern ist, eine Einrichtung werden, die die Geschichte der DDR darstellen und DDR-bezogene Legitimationsfunktionen erfüllten sollte. Es sollte ein weitgehend gesellschaftskritikfreies DDR-Museum entstehen, das das MfS eher als Ausnahmeerscheinung darstellen sollte. Damit ging allerdings die Stoßrichtung einher, nicht nur die Schattenseiten der DDR zu dokumentieren, sondern auch ihre Sonnenseiten. Im 12-PunkteProgramm, das direkt an den Ministerpräsidenten de Maiziére, den Kulturminister Schirmer und den Minister des Innern Diestel ging, heißt es hierzu: »Nach vorliegender Konzeption entsteht eine Einrichtung nationalgeschichtlicher Bedeutung […]. Aufgearbeitet und dargestellt werden bestimmte Prozesse und Erscheinungen in der deutschen Geschichte, insbesondere in der Geschichte der DDR unter dem Aspekt der Aktivitäten des ehem. MfS bei der Verfolgung Andersdenkender und der Unterwanderung demokratischer Bestrebungen und Prozesse der Gesellschaft.«124
Deutlich wird hier, dass an der »DDR als gute Idee« festgehalten und das MfS als »Betriebsunfall« dargestellt werden sollte. Der Repressionsapparates wurde als »Randerscheinung« verharmlost. Auch der Begriff »Andersdenkender« implizierte, dass diese eben nicht die »Richtigdenkenden« waren. Die Angaben zur »Autonomie« der Einrichtungen blieben vage, unter Punkt 11 wurde dazu aufgeführt: »Sie arbeitet im Sinne eines eigenen Statuts parteipolitisch unabhängig. Ihre Mittel wer-
122 Schreiben von Ulrich W. an das SK Eichhorn vom 14.06.1990, S. 2, ArLStU, ASTAK. 123 Schreiben von Ulrich W., Aufbaustab der FOGE an das MfK Minister Schirmer vom 03.06.1990, ArLStU, ASTAK. 124 Schreiben von Ulrich W., Aufbaustab der FOGE an das MfK Minister Schirmer vom 13.07.1990, S. 3, ArLStU, ASTAK.
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den aus öffentlichen und anderen Mittel finanziert.« Welche diese anderen Mittel sein sollten, wurde nicht genannt. So konnten es auch Mittel von Parteien oder parteinahen Einrichtungen sein. Diesem 12-Punkte-Programm wurden eine Planung zur Funktionsstruktur125 und ein Raumnutzungskonzept beigelegt. 126 Die Funktionsstruktur entsprach dabei einer »groß« angelegten Einrichtung, es sollten eigens ein Finanzsachbearbeiter, ein Jurist, Sprachmittler, Filmtechniker, Pädagogen nebst Museumspädagogen, Gebrauchswerber, Journalisten und ein Bibliothekstechniker (u.a.) angestellt werden. Aus dem Raumnutzungsplan ist ersichtlich, dass die Gedenkstätte nicht das ganze Objekt umfassen sollte, so waren das Kellergeschoss, das Sockelgeschoss und die erste bis dritte Etage für die FOGE vorgesehen. Das 12-Punkte-Programm gab spärlich Auskunft über konkrete Inhalte der Ausstellungen der FOGE. Lediglich der Ausstellungsumfang wurde benannt. Hierbei handelte es sich um den herkömmlichen Umfang einer Dauerausstellung, die begleitet werden sollte durch Einzel- bzw. vorübergehende Sonderausstellungen. »Kunst und politische Themen« waren die einzigen inhaltlichen Aussagen zum Ausstellungsvorhaben.127 Das Arbeitsprofil, das die FOGE zu erfüllen habe, wurde mit »Forschung – Dokumentation – Ausstellung – Begegnung« beschrieben, wobei bei letzterem Punkt – ähnlich wie bei Eichhorn – an eine aussöhnende Begegnung zwischen Opfern mit Tätern gedacht war.128 Diese sollten dafür sorgen, dass sich »Spannungen« zwischen Opfern und Tätern abbauten. Die Arbeiten des Aufbaustabes wurden umschrieben: »Der Aufbaustab sammelt, bewahrt und pflegt Sachzeugen der materiellen und geistigen Kultur, die in direkten und indirekten Bezug zur Tätigkeit und der Geschichte des MfS stehen.«129 Eine Inventarisierung durch den Aufbaustab sollte hierfür die Grundlage bilden. Dieses 12-Punkte-Programm floss in ein Beratungsgespräch ein, das am 18. Juli 1990 zwischen Ulrich W. und dem Stellvertreter des Generaldirektors des Museums für Deutsche Geschichte (MfDG), Kurt W., stattfand. Im Anschluss an dieses Treffen signalisierte Kurt W. in einem Schreiben an Ulrich W., dass das MfK weiterhin Bedenken habe, die Finanzierung der FOGE übernehmen zu können, dass aber das MfDG an einer Zusammenarbeit dennoch interessiert sei: »Ich darf Ihnen versichern, dass wir – unabhängig von den letztlich ausschlaggebenden Verantwortungsbereichen – jederzeit bereit sind, mit Rat, Tat und Einsatz von Personen mit Ihrem Team zusammenzuarbeiten.«130 Ob Kurt W. mit dieser Zusammenarbeit auch die Hoffnung verband, einige seiner Mitarbeiter nach dem Beitritt zur BRD in die
125 Ulrich W.: Funktionsstruktur der FOGE vom 13.07.1990, ArLStU, ASTAK. 126 Ulrich W.: Raumnutzungskonzept Gedenkstätte Haus I vom 13.07.1990, ArLStU, ASTAK. 127 Ulrich W.: Funktionsstruktur der FOGE vom 13.07.1990, S. 1, ArLStU, ASTAK. 128 Schreiben von Ulrich W., Aufbaustab der FOGE an das MfK Minister Schirmer vom 13.07.1990, S. 3, ArLStU, ASTAK. 129 Ebd., S. 2. 130 Schreiben vom MfDG Kurt W. an Ulrich W. vom 25.07.1990, ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv.
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FOGE hinüberzuretten, kann an dieser Stelle nicht abschließend geklärt werden. Nichtsdestotrotz legte er im gleichen Schreiben ein weit reichendes Konzept »Vorlage zu einem Beschluss über die Gründung eines Sammlungs-, Dokumentationsund Kommunikationszentrums zur Geschichte der DDR 1945-1990« für die zukünftige FOGE vor.131 Diesem Konzept gemäß sollte die FOGE das Pedant zum »Haus der Geschichte« in Bonn werden: »Liegt das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in der BRD-Hauptstadt Bonn, sollte die entsprechende Institution, die sich der Geschichte der DDR (1945-1990) widmet, in der DDR-Hauptstadt Ost-Berlin angesiedelt sein. Emotional wirkungsvoll wäre, dafür ein Gebäude auszuwählen, das in der Machtstruktur, wie sie der DDR eigen war, eine Rolle spielte: Haus I im Komplex der Normannenstraße […] wäre dafür geradezu ideal geeignet.«132
Das Gedenken an die Opfer des Stalinismus sollte dieses »Haus der Geschichte II« integrieren. Das MfS sollte damit eigentlich ganz »nivelliert« werden. Es tauchte bei den genaueren Überlegungen zu einzelnen Ausstellungsbereichen gar nicht mehr auf.133 Lediglich unter den »Vorstellungen zum Personalbestand« wurden von den avisierten 25 Planstellen drei für »die im 1. Geschoss befindliche ›Gedenkstätte‹ « eingeräumt.134 Zum rechtlichen Status bzw. zur Trägerschaft empfahl Kurt W. zwei Varianten. Entweder könne das Dokumentationszentrum eine Dependance des MfDG/DHM werden oder aber es könne als Länderstiftung von den sechs Ländern auf dem Territorium der DDR getragen werden. Den Stiftungsvorsitz erhalte im letzteren Fall dann ein Vertreter der Bundesregierung.135 Mit dieser Vorlage des MfDG wurde die Arbeit von Ulrich W. deutlich erweitert und geschichtspolitisch untermauert. Sie lag voll und ganz auf Ulrich W. Linie. Die FOGE sollte ihr zufolge zum Legitimationsobjekt einer sich im »Zusammenbruch« befindenden DDR werden. Die geplante Darstellung der gesamten DDR-Geschichte vernachlässigte das Opfergedenken und schwächte die kritische Aufarbeitung und Dokumentation der Repressionsstrukturen ab. DDR-kritische Inhalte wurden den Aspekten der DDR-Geschichte nachgeordnet, die einen hohen Grad an Legitimationstauglichkeit besaßen. Zwar fehlten auch diesem Konzept genauere Aussagen über die Inhalte der Ausstellungen, allein die Zielsetzung, dem »Haus der Geschichte« in Bonn eine entsprechende »Paralleleinrichtung« entgegen zu setzen, deutete allerdings auf geschichtspolitische Intentionen hin. Darüber hinaus widersprach dieses MfDGKonzept den Vorstellungen der Bürgerkomitees bzw. Bürgerrechtler. Diese hatten
131 MfDG Kurt W.: Vorlage zu einem Beschluss über die Gründung eines Sammlungs-, Dokumentations- und Kommunikationszentrums zur Geschichte der DDR 1945-1990 vom 24.07.1990, ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv. 132 Ebd., S. 1. 133 Ebd., S. 2. 134 Ebd., S. 3. 135 Ebd.
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doch seit Januar für eine FOGE plädiert, die die Machenschaften des MfS/AfNS und die Archivverwaltung in den Mittelpunkt rückte. Zuspruch erhielten die Ideen des MfDG vor allem von Ulrich W. Er hatte sich bereits vor diesen schriftlichen Fixierungen des MfDG die Idee zu Eigen gemacht, das Haus I in ein »Haus der Geschichte der DDR« zu verwandeln. Dies geht zumindest aus einem Protokoll einer Beratung des Arbeitsstabes zur Auflösung des AfNS hervor, bei der Ulrich W. um Unterstützung warb: »Zur Zukunft dieser Einrichtung wird es so sein analog dem Haus der Geschichte in Bonn, es wird also auch ein Haus der Geschichte der DDR geben, d.h. es kommt ein wesentlicher Aspekt hinzu, wir werden nicht nur zur MfS-Geschichte aussagen, sondern auch zur politischen Kultur. […] Der Bereich der Sammlung wird insbesondere DDR-Geschichte sein, insbesondere politische Geschichte in der ganzen Breite, von Kunst bis zu Ausstattungsstücken.«136
Obwohl Ulrich W. und das MfDG eigentlich mit dem SK auf einer Linie hätten liegen müssen, stand das SK diesen Plänen skeptisch bis ablehnend gegenüber. Der Stellvertreter von Eichhorn merkte bei gleicher Sitzung kritisch an: »Über Haus I gibt es keinen MR[Ministerrats-]-Beschluss, dass es ein Haus der Deutschen Geschichte werden soll.«137
4.3 ASTAK
UND
FOGE
BIS ZUM
03. O KTOBER 1990
Hatte das BKB Ulrich W. als Leiter des Aufbaustabes von vornherein abgelehnt, mehrte sich mittlerweile auch die Kritik am SK. Damit stieg das Misstrauen gegenüber dem SK insgesamt.138 Parallel dazu drohte ungebrochen ein schwindender Einfluss der Mitarbeiter des BKB auf die Auflösung des AfNS und auf den Aufbau der FOGE. Diese Umstände veranlassten das BKB, unabhängig von Eichhorn, Ulrich W. und Kurt W., eigene Planungen bezüglich der FOGE fortzusetzen. Hierzu gehörten vor allem Planungen hinsichtlich eines Trägervereins, der nach dem Ende des BKB den Aufbau der FOGE übernehmen und Unterstützungswürdigkeit durch den Bund genießen sollte. Nur so bot sich die Chance, dass die FOGE dem staatlichen Einfluss des SK und des MfDG vollständig entzogen werden könne. Die Vertreter des BKB, die an dem FOGE-Aufbau weiterhin engagiert mitwirkten wollten, bildeten dafür inzwischen eine 22 Bürger starke Initiativgruppe,139 die vor allem »Auffangbecken« des sich auflösenden BKB war und auf die Bildung eines ge-
136 SK: Protokoll vom 26.06.1990, S. 2, BArch DO 104/22; ArLStU, BArch DO 104/22. 137 Ebd., S. 3. 138 Vgl. Das Komitee zur Auflösung der Staatssicherheit, S. 2-3, ArLStU, MDA Bestand Gill; Schreiben vom BKB vom 22.06.1990, S. 1-2, ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv; Schreiben des Aufbaustabes FOGE an das SK Eichhorn vom 13.07.1990, ArLStU, ASTAK. 139 Initiativgruppe der FOGE: Grobkonzeptionelle und Beschlussvorschläge vom 21.06.1990, ArLStU, ASTAK.
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meinnützigen Vereins oder auch die Gründung einer Stiftung (nach West-Vorbild) zur Unterhaltung der avisierten »Bundesgedenkstätte« hinarbeitete.140 Am Ende stand die nicht unumstrittene Gründung der Antistalinistischen Aktion (ASTAK) als Trägerin der FOGE. Der Weg dahin wird im Folgenden beschrieben. In einer sogar mit Ulrich W. abgestimmten Endfassung einer Satzung vom 06. Juli 1990 wurde der Trägerverein als »Aktion Normannenstraße e.V.« erstmals genannt.141 Als Ziel und Aufgabe dieser Vereinigung wurde »[…] die Förderung des Aufbaus eines Zentrums zur Sammlung, Bewahrung, Dokumentation und Ausstellung von Sachzeugen sowie einer themenbezogenen Forschungsarbeit, die Unterstützung der von Repressalien Betroffenen und deren Rehabilitierung, die Förderung einer Stätte der Begegnung« definiert.142 Nach dem Besuch der Ausstellung »Topographie des Terrors« im Westteil der Stadt bereits Anfang Juni 1990, wurde auch die Gründung einer Stiftung zu diesem Vorhaben in Erwägung gezogen. 143 Diese Planungen stießen beim SK, verfolgte es doch eine institutionelle Anbindung an das MfDG, auf Ablehnung.144 Der Vertreter des SK argumentierte: »Wir würden empfehlen, diesen guten Weg weiterzugehen und anzudenken die Fusion mit dem Museum für deutsche Geschichte, würden nicht empfehlen, mit Sponsoren zu arbeiten (noch gehören die beweglichen und unbeweglichen Grundmittel dem Komitee). Ich möchte den klassischen Weg vorschlagen, dass wir die museale Tradition Deutschlands berücksichtigen.«145
Im Zuge der Vorbereitungen zur Übernahme der Trägerschaft durch die Initiativgruppe FOGE, erarbeitete diese im Juni parallel ein Grobkonzept mit dem Titel »Grobkonzeptionelle und Beschlussvorschläge«. Inhaltlich skizzierte es die FOGE weiterhin als eine »Gedenkstätte für die Opfer des Stalinismus« und als eine »Dokumentationsstelle zur Aufarbeitung der MfS-Geschichte«. Die Ausstellung sollte dabei eine Darstellung der MfS-Machtstrukturen (besonders im Hinblick auf die Unterdrückungsmethoden), der Beziehung zwischen SED und MfS sowie sonstiger staatlicher und gesellschaftlicher Verflechtungen beinhalten. Dabei sollten Widersprüche zwischen demokratisch gewachsenen Strukturen und dem MfS herausgearbeitet werden. Schließlich sollte diese Einrichtung eine internationale Forschungsstätte, ein internationales Dokumentations- und Bildungszentrum sein sowie eine Begegnungsstätte all jener, die Opfer stalinistischer Verbrechen wurden, mit ihren Tätern. »Nur so kann Vergangenheitsbewältigung erfolgreich betreiben wer-
140 SK: Protokoll vom 19.06.1990, S. 2, BArch DO 104/22; ArLStU, BArch DO 104/22; BKB: Protokoll vom 21.06.1990, ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv. 141 Entwurf Satzung »Aktion Normannenstraße e.V.« vom 06.07.1990, ArLStU, Bestand: ASTAK Geschichte. 142 Ebd., S. 1. 143 BKB: Protokoll vom 08.06.1990, ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv; SK: Protokoll über eine Beratung des Arbeitsstabes zur Auflösung des AfNS Berlin vom 12.06.1990, ArLStU, Bestand: MDA Bestand Gill. 144 Ebd. 145 Ebd., S. 5.
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den«, begründete die Initiativgruppe ihre Vorschläge geradezu idealistisch.146 Neben diesem neuerlich internationalen Charakter legte das Grobkonzept weiterhin Wert auf die gesamtnationale Bedeutung der Einrichtung und wies auf eine Unterstützungswürdigkeit durch den Bund hin.147 Ziel und Gegenstand dieser »Konzeption«, die umgehend der Kulturstaatssekretärin zuging, war nicht nur die Implementierung eines Beschlusses des MfK zur finanziellen Unterstützung dieses Vorhabens in Höhe von drei Millionen DM ab Juli 1990 (inkl. personeller Absicherung durch Übernahme bisheriger Mitarbeiter), sondern auch die Rückübertragung der vom MfDG und vom SK eingelagerten Museumsgüter auf die FOGE sowie die Übernahme des Objektes samt seines Inventars durch die Initiativgruppe.148 Diese Neuregelung sollte vorbeugen, dass die von SK und vom MfDG bereits gesammelten potenziellen Museumsbestände vernichtet, veräußert oder an andere Einrichtungen abgegeben werden.149 Um diesem Ziel näher zu kommen, richtete Heinz M. im Namen der FOGE gleichzeitig einen Antrag an Gaucks Sonderausschuss, der ebenfalls zu verhindern versuchte, dass vom SK MfS-Kultgut ohne Abstimmung mit der FOGE vernichtet oder entwendet wird.150 Und an den Innenminister Diestel erging schriftlich der Appell: »Wir bitten Sie, die in diesem Beschluss festgelegten Verbindlichkeiten […] in Anbetracht der Dringlichkeit durchzusetzen.«151 Im Klartext wollte die Initiativgruppe also die bisherige Sammlung retten, die Rechtsnachfolge vom MdI übernehmen und vom MfK die Mittel bereit gestellt bekommen. Das MfK sollte Förderer werden und der FOGE letztendlich die Trägerschaft überlassen. Die »Grobkonzeptionellen und Beschlussvorschläge« umgingen damit in jeder Hinsicht die Vorstellungen des SK. Ulrich W. hingegen übernahm zumindest den Finanzierungsumfang und die uneingeschränkte Entlassung des SK aus der Verantwortung für die FOGE weitgehend in sein 12Punkte-Programm, das – wie bereits oben dargestellt – ansonsten von den Positionen des BKB abwich und weiterhin auf eine staatliche Anbindung seines nationalgeschichtlichen »Hauses der Geschichte der DDR« setzte.152 Am Abend der Gründung der ASTAK gab es demnach drei unterschiedliche Grobkonzepte zum Umgang mit dem Haus I. Das SK hielt am MR-Beschluss vom 16. Mai 1990 fest, d.h. am Errichten einer Gedenkstätte für die Opfer des Stalinismus »von oben«. Die Übergabe von potenziellen Ausstellungsstücken an die Initiativgruppe von Heinz M. bzw. an den Aufbaustab von Ulrich W. wurde verwei-
146 Initiativgruppe der FOGE: Grobkonzeptionelle und Beschlussvorschläge vom 21.06.1990, ArLStU, ASTAK. 147 Ebd., S. 2. 148 Ebd. 149 Ebd., S. 3. 150 BKB: Antrag an den Sonderausschuss der Volkskammer zur Kontrolle der Auflösung des MfS/AfNS vom 22.06.1990, ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv. 151 Schreiben der Initiativgruppe der FOGE an den Ministerrat der DDR Minister des Inneren Diestel vom 28.06.1990, ArLStU, MDA Bestand Gill. 152 Schreiben von Ulrich W., Aufbaustab der FOGE an das Ministerium für Kultur der DDR Minister Schirmer vom 13.07.1990, S. 3, ArLStU, ASTAK.
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gert.153 Das MfDG und Ulrich W. befürworteten hingegen ein »Haus der Geschichte II«, ebenfalls in staatlicher Regie, unabhängig vom SK. Heinz M. mit seiner Initiativgruppe wiederum strebte nach einer institutionellen Alternative, die ihr Fortleben sicherte (Verein bzw. Stiftung) und legte den Schwerpunkt auf eine MfSbezogene internationale Dokumentations-, Aufarbeitungs- und Begegnungsstätte. Sowohl Ulrich W. als auch Heinz M. standen dem SK kritisch gegenüber. Während Ulrich W. auf die Unterstützung durch das MfK bzw. MdI setzte, verfolgte die Initiativgruppe weitgehende staatliche Autonomie. Ulrich W. gegenüber sprach die Initiativgruppe zudem ihr Misstrauen aus: »Auch nachdem sich Herr [Ulrich W.] in die Problematik der Forschungs- und Gedenkstätte eingearbeitet hatte, ging die Arbeit im Großen und Ganzen nicht so recht vorwärts. […] Wiederholt an ihn gerichtete Vorschläge wurden vielfach abgelehnt oder zumindest herabgewürdigt. Außerdem brachte Herr [Ulrich W.] sehr oft seine pessimistische Haltung zu den Vorgängen […] zum Ausdruck. […] Herr [Ulrich W.] konnte bis jetzt die anstehende Arbeit nicht koordinieren und verteilen; besonders in letzter Zeit war es kaum möglich, mit ihm sachliche Gespräche über Arbeitsaufgaben zu führen, teilweise blockt er sie ab […].«154
Dann ging alles sehr schnell und bleiben die Zuständigkeiten auch nach genauer Aktenkunde undurchsichtig. Am 02. August 1990 gründete sich nämlich nicht nur aus den Reihen der Initiativgruppe um Heinz M., sondern vielmehr auch aus den Reihen des Aufbaustabes des SK die »Stiftung Antistalinistische Aktion Berlin Normannenstraße« (die ASTAK). Mitglieder der ersten Stunde waren u.a. Heinz M., Dorit S. und Anneliese G., die zuvor in der AG 2-Akten des BKB und z.T. von dort ins SK übernommen worden waren. Frühe Mitglieder waren aber auch ehemalige Mitarbeiter des MfS, die »[…] den Aufbau einer Forschungs- und Gedenkstätte fördern wollen«.155 Da gab es z.B. der ehemalige MfS-Mitarbeiter Heinz K., der vom SK gemeinsam mit dem Vorstand der ASTAK unmittelbar nach der ASTAKGründung mit der Konzeption einer ersten Ausstellung mit dem Titel »Vom MfS genutzte Technik« beauftragt wurde.156 Schon zehn Tage vor der ASTAKGründung hatte Dorit S. ihn im Namen des Aufbaustabes mit einer ersten Inventarisierung betraut.157 Neben diesen personellen Überschneidungen, gab auch die Satzung Aufschluss über die inhaltliche Nähe zum Aufbaustab bzw. dem SK. So hieß es dort bezüglich des Zweckes und den Aufgaben:
153 Schreiben des SK an den Aufbaustab der FOGE vom 25.07.1990, ArLStU, ASTAK; Schreiben des Aufbaustabes der FOGE an das SK vom 30.07.1990, BArch DO104/12; ArLStU, BArch DO 104 10-13, 17-19, 24-26. 154 S. Dorit/Anneliese G.: Bericht vom 31.07.1990, ArLStU, ASTAK. 155 Schreiben der ASTAK an das MdI Minister des Innern Diestel vom 28.08.1990, BArch DO 104/12; ArLStU, BArch DO 104 10-13, 17-19, 24-26. 156 SK: Aktenvermerk vom 15.08.1990, S. 2, ArLStU, ASTAK; ASTAK: Protokoll vom 16.08.1990, ArLStU, ASTAK. 157 Aufbaustab FOGE Heinz K.: Sachstandsbericht vom 21.08.1990, ArLStU, ASTAK.
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»Ziel der Vereinigung ist die gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit den politischen Entwicklungsprozessen auf dem Gebiet der DDR in den letzten Jahrzehnten. Die Vereinigung soll die Auseinandersetzung mit einer Politik in der DDR fördern, die sich demokratischen Grundsätzen abgewandt hatte, und dabei besonders die Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit untersuchen und berücksichtigen. Die Vereinigung soll damit eine demokratische Entwicklung fördern.«158
Inhaltlich entsprach der Gegenstand der ASTAK-FOGE damit eins zu eins den Vorgaben Eichhorns, der die MfS-Verfehlungen eher als Ausnahmeerscheinung der DDR darzustellen trachtete und auf Versöhnung durch Begegnung setzte. Zur Erfüllung dessen sollte »die Förderung des Aufbaus eines Zentrums zur Sammlung, Bewahrung, Dokumentation, Aufarbeitung und Ausstellung von Sachzeugnissen sowie themenbezogener Forschungsarbeit und die Bereitschaft zur Übernahme der Trägerschaft« erfolgen.159 D.h., das Betreiben des Haus I und eine potenzielle Trägerschaft wurden ebenfalls zum Satzungsziel erhoben. Begründet wurde dies damit, dass sich die zuständigen Ministerien zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht ernsthaft im Stande sahen, die geplante Großeinrichtung mit einem Etat von drei Millionen DM zu übernehmen. Als Anlage zur Satzung wurde ein Vereinbarungsentwurf zwischen der Regierung der DDR (MdI und MfK) sowie der ASTAK160 beigefügt, die die geforderte Übertragung der Rechtsträgerschaft für das Haus I sowie die Übergabe der zukünftigen Museumsgegenstände und Inventars an die ASTAK regelte.161 Mit den Worten: »In Anbetracht der geschilderten Haushaltssituation Ihrer Regierung, erklärt sich die Vereinigung bereit, die Trägerschaft über die Forschungs- und Gedenkstätte zu übernehmen«, ging die ASTAK wenige Tage später in Richtung Diestel und Eichhorn diesbezüglich in die Offensive.162 Bei der Pressekonferenz am 03. August 1990 führte die ASTAK ihre konkreten Vorstellungen zum Haus I näher aus. Dort erfuhr die Öffentlichkeit, dass die ASTAK zusätzlich zum Museumsbetrieb in den Räumen Mielkes auch eine Begegnungsstätte zwischen Opfern und Tätern, eine Stalinismus-Bibliothek sowie die Unterbringung verschiedener Aufarbeitungsinitiativen auf einer der fünf Etagen plante. Neben den Dokumenten des Politbüros, so lautete die Berichterstattung am nächsten Tag, wollte die ASTAK auch die Millionen Personendossiers der Staatssi-
158 Satzung der Vereinigung »Stiftung Antistalinistische Aktion Berlin Normannenstraße e.V.« vom 02.08.1990, S. 1, ArLStU, ASTAK. 159 Ebd. 160 Vermutlich in Unkenntnis über die formale Unvereinbarkeit der Rechtsformen eingetragener Verein und Stiftung, wurde die ASTAK dort sogar als »Stiftung Antistalinistische Aktion Berlin-Normannenstraße e.V.« bezeichnet, vgl. Entwurf einer Vereinbarung über den Aufbau und die Trägerschaft der Forschungs- und Gedenkstätte für die Opfer des Stalinismus vom 02.08.1990, ArLStU, ASTAK. 161 Ebd. 162 Schreiben der ASTAK an das MdI Minister des Innern Diestel vom 28.08.1990, BArch DO 104/12; ArLStU, BArch DO 104 10-13, 17-19, 24-26; Schreiben der ASTAK an das SK Eichhorn vom 28.08.1990, ArLStU, ASTAK.
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cherheit, also das »Herzstück« der Stasi-Akten sichern. D.h., die ASTAK wollte Museum und Stasi-Archiv in der FOGE wieder zusammenbringen, entgegen den Vorstellungen des Sonderbeauftragten für die Unterlagen der ehemaligen Staatssicherheit (Gauck). Ebenfalls abweichend vom Sonderbeauftragten, war die ASTAK überaus offen für eine rege Beteiligung ehemaliger MfS-Mitarbeiter beim Aufarbeitungsprozess. Der »[…] ›Beitrag zur gemeinsamen Bewältigung der Geschichte der DDR‹ soll auch die Zusammenarbeit mit ehemaligen Stasi-Mitarbeitern umfassen. Unter ihnen gebe es viele, die bereit seien, ›ihre eigene Schuldverstrickung aufzuarbeiten‹ […]«, zitierte der Berliner Tagesspiegel die Vertreter der ASTAK.163 Von der PDS erhielt die ASTAK sogar eine erste Spendenzusage i.H.v. 35.000 DM, mit der sich die Erwartung knüpfte, »[…] dass ein propagandistischer Antikommunismus und Antisowjetismus nicht zum Gegenstand der Arbeit der Stiftung gehören werde.«164 Mit der ASTAK-Gründung aus den Reihen des Aufbaustabes und der Initiativgruppe, arbeitete der Aufbaustab im Auftrag des SK plötzlich zielstrebiger an der Umsetzung der FOGE. Damit es zu baldigen Ergebnissen komme, beauftragte Eichhorns Vertreter Eichler schließlich sogar seine Leiterin der Abteilung Schriftgut mit der Kontrolle mit sämtlichen Arbeiten des Aufbaustabes. Ulrich W. stand damit unter direkter Beobachtung des SK. Er wurde zudem angewiesen sofort eine Bestandaufnahme durchzuführen, umgehend eine Sicherheitskonzeption vorzulegen und Umlagerungen von Museumsgütern vorzunehmen, sich dabei im Falle des Falles auch die Kenntnisse der Vorstandsmitglieder der frisch gegründeten ASTAK-Stiftung zu Nutze zu machen.165 Ansonsten legte der Bericht an die Regierung fest, dass die alleinige Verantwortung für die historisch-politische Aufarbeitung offiziell unverändert allein beim Leiter des SK, also Eichhorn liege.166 An seiner Vorgabe, nämlich eine erste Ausstellungseröffnung (Minimalprogramm) im November des Jahres, wurde zudem ungehindert festgehalten.167 Eigens hierfür beauftragte das SK bzw. der ASTAK-Vorstand eben den ehemali-
163 Z.n. Gutzeit, Martin: Die im Haus I (2001), S. 118-119, ArLStU, Geschäftsablage o. Sign. 164 Schreiben der PDS an die Stiftung ASTAK vom 15.08.1990. ArLStU, Bestand: ASTAK Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße [FOGE]. 165 SK: Aktenvermerk vom 10.08.1990, S. 1, 3, ArLStU, ASTAK; SK: Aktenvermerk vom 15.08.1990, ArLStU, ASTAK. 166 SK Eichhorn: Konzeption für die weitere politisch-historische Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit vom 15.08.1990, S. 4, ArLStU, MDA Bestand Gill. 167 SK Eichler: Aktenvermerk vom 10.08.1990, S. 4, ArLStU, ASTAK. »Auf Grundlage der am 29.8.1990 gegebenen Hinweise und Vorgaben des Leiters des Komitees, Herrn Eichhorn, ist ein detaillierter Ablaufplan zur Sicherstellung und Durchführung der Ausstellung im November, einschließlich des Mittelbedarfes und der Finanzierung zur Bestätigung […] vorzulegen«, legte der Aufbaustab fest; vgl. SK Eichler: Festlegungsprotokoll vom 28.08.1990, BArch DO 104/12; ArLStU, BArch DO 104 10-13, 17-19, 24-26.
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gen MfS-Mitarbeiter Heinz K.168 Als Vorstandsmitglied sollte Heinz M. im Auftrag der ASTAK auf das SK einwirken, dass Heinz K. hierfür sogar eine Planstelle beim SK bekommt.169 Damit es zu keinerlei Aneignungen außerhalb des SK bzw. des Aufbaustabes kommen konnte, wurden am 15. August 1990 die für die FOGE relevanten Räume im 2. und 3. Stock sowie die nicht für die FOGE vorgesehenen Räume im 4.6. Stock auf Anweisung des SK verschlossen und z.T. versiegelt.170 Nur noch handverlesene Mitglieder des Aufbaustabes erhielten Zutritt,171 nämlich Dorit S., Anneliese G. und Ulrich W. Die strengen Sicherheitsvorschriften legten fest: »Sämtliche Schlüssel sind außerhalb der Dienstzeit in verschlossenen und versiegelten Stahlkassetten, getrennt nach Etagen, bei der VP [Volkspolizei] (Hauswache) zu hinterlegen. […] Außerhalb der Dienstzeit kontrolliert die VP Verschluss und Versiegelung der Diensträume regelmäßig (Rundgang alle 2 Stunden).«172
Ob diese rigide Abschottung des Hauses I den Zweck verfolgte, die übrigen Initiativmitglieder der ASTAK im wahrsten Sinne des Wortes »auszuschließen«, konnte nicht herausgefunden werden. Fakt ist, dass die ASTAK-Mitglieder den ehemaligen MfS-Mann Heinz K., Dorit S. und Anneliese G. als Mitarbeiter des SKAufbaustabes freien Zugang zum Haus I genossen, andere ASTAK-Mitglieder wiederum als Mitarbeiter der FOGE nicht anerkannt wurden und wohl daher offiziell keinen privilegierten Zutritt genossen.173 Parallel legte der Aufbaustab der Regierungskommission am 22. August 1990 ein Gestaltungskonzept für die FOGE inklusive einer Raum- und Funktionsstruktur vor.174 Dieses Konzept hielt an der geschichtspolitischen Stoßrichtung des 12Punkte-Programmes fest: Die FOGE sollte einen »spezifischen Beitrag zur Aufarbeitung und Bewahrung der Geschichte der DDR« leisten. Die nationalgeschichtliche Einrichtung sollte weiterhin »[…] die kritische Auseinandersetzung mit bestimmten Erscheinungen in der deutschen Geschichte, insbesondere in der Geschichte der DDR unter dem Aspekt der Aktivitäten des ehemaligen MfS bei der Verfolgung Andersdenkender und der Unterwanderung demokratischer Bestrebungen in der Gesellschaft« fördern.175 Mit einer »intensiven Begegnungsarbeit« sollte
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Aktenvermerk vom 15.08.1990, ArLStU, Archiv 15. Januar Landesarchiv. ASTAK: Protokoll vom 23.08.1990, ArLStU, ASTAK. SK: Notiz vom 16.08.1990, ASTAK. Aufbaustab FOGE: Sicherheitskonzeption für Forschungs- und Gedenkstätte vom 10.08.1990, BArch, DO 104/12; ArLStU, BArch DO 104 10-13, 17-19, 24-26. Ebd., S. 2. SK: Stellungnahme zum beigefügten Schreiben von Werner Grobosch, o.D., BArch DO 104/12; ArLStU, BArch DO 104 10-13, 17-19, 24-26. Schreiben des Aufbaustabes der FOGE an die Regierungskommission zur Auflösung des MfS/AfNS: Vorlage zu den Gestaltungskonzeptionen der Forschungs- und Gedenkstätte vom 22.08.1990, ArLStU, ASTAK; ArASTAK, Bestand: Geschichte. Ebd., S.1.
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die FOGE darauf abzielen, ein »demokratisches Forum humanistischer Geschichtsbewältigung« zu schaffen.176 Mit Hilfe »fachlich gesicherter Betreuung« sollten sich in der FOGE »[…] gesprächsbereite Besucher treffen und so ein Stück DDRVergangenheit bewältigen lernen. Ohne Gegensätze einzuebnen, soll die Begegnungsarbeit den Abbau destruktiver Spannungen zwischen sogenannten ›Tätern‹ und ›Opfern‹ dienen«, beschrieb Ulrich W. eine Kernfunktion der FOGE.177 Schließlich sollte die Forschungsabteilung der FOGE »[…] der Erhellung der Strukturen, der Arbeits- und Wirkungsweisen des ehemaligen MfS als politischer Geheimdienst unter stalinistischen Bedingungen dienen. Ein besonderer Aspekt der Untersuchung ist hierbei die Konfrontation zwischen MfS und ideologisch Andersdenkenden im Wirkungsfeld der herrschenden Partei- und Staatsdoktrin der SED und in der DDR«.178
Im Grunde genommen stellte sich Ulrich W. unter der FOGE also weiterhin ein »Aufarbeitungskombinat« vor. Die Opfer sollten dort lernen vor allem Verständnis für die ehemaligen MfS-Mitarbeiter zu entwickeln, die selbst zu Opfern einer verfehlten Politik der ansonsten demokratisch verfassten DDR geworden seien. Die FOGE sollte nicht über die jahrzehntelangen Machenschaften des MfS aufklären, sondern vornehmlich die stalinistischen Verfehlungen ins Visier nehmen und Erklärungen hierfür liefern. Die Gestaltungskonzeption wurde vor allem aufgrund mangelnder neuer Erkenntnisse gegenüber dem Papier vom 13. Juli 1990 (12-Punkte-Programm) zurückgewiesen, woraufhin Ulrich W. sich veranlasst sah, eine weitere »Ideenskizze« einzubringen.179 Diese Ideenskizze enthielt konkretere Angaben über die für November geplante Teileröffnung der Gedenkstätte im Haus I. Die erste Ausstellung sollte aus MfS-Devotionalien und Traditionsmitteln, typischen Büromöbeln und einem Diorama bestehen. Der dokumentarische Teil sollte einen Überblick über Machtstrukturen und Wirkungsweise, den Stand der MfS-Forschung, die Auflösung des MfS und die Arbeit der Bürgerkomitees umfassen. Außerdem sollte Besuchern die Ministeretage im Originalzustand zugänglich gemacht werden.180 Die Ideenskizze entsprach damit insgesamt mehr den Vorstellungen des BKB bzw. der ASTAK, als den vorherigen »Großplanungen« von Ulrich W. und MfDG. Dies lag aber wohl auch daran, dass Heinz K. mehr und mehr die Federführung übernommen hatte und eine Zwitterstellung einnahm. Vom MfK standen für dieses erste Ausstel-
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Ebd. Ebd., S. 3. Ebd. Protokoll Nr. 12/90 über die Dienstberatung der Leitung des Komitees vom 27.08.90, BArch DO 104/19; ArLStU, BArch DO 104, 10-13, 17-19, 24-26; Aufbaustab FOGE an die Regierungskommission zur Auflösung des MfS/AfNS: Vorlage Ideenskizze zum Ausstellungskonzept für eine Teileröffnung der Forschungs- und Gedenkstätte im November vom 28.08.1990, ArLStU, ASTAK. 180 Ebd. S. 1-2.
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lungsvorhaben immerhin Sondermittel i.H.v. 25.000 DM zur Verfügung.181 Eichhorn hatte hierfür nämlich parallel einen entsprechenden Antrag auf den Weg gebracht.182 Trotz dieser ersten Ausstellungskonzeption und dem finanziellen Spielraum lösten sich die Unklarheiten zur Trägerschaft der FOGE vorerst nicht. Dies kam auch bei einem Treffen der Regierungskommission am 30. August 1990 zum Ausdruck. Das MfK war in absehbarer Zeit grundsätzlich nicht mehr zuständig, wurde doch mit dem Beitritt der DDR zur BRD die Kulturhoheit auf die Länder übertragen und das MfDG dem DHM eingegliedert. Auch die vorläufige Zuordnung zum SK erwies sich als problematisch, war auch dessen Zukunft nach dem 03. Oktober ungewiss. Daraufhin wurden Überlegungen angestellt, die FOGE dem BMI zuzuordnen. Schließlich brachte sich die ASTAK selbst als potenzielle Trägerin in die Überlegungen ein: »Herr [Heinz M.] teilt mit, dass sich inzwischen eine ›Stiftung antistalinistische Aktion Normannenstraße‹ als Verein interessierter Bürger gebildet hat, die sich der Förderung der von Herrn Eichhorn genannten Ziele annehmen will. Es wird mit Förderern und Sponsoren gerechnet. So ist z.B. von japanischen Sponsoren eine Spende von 1 Million Dollar angekündigt.«183
Innerhalb der Regierungskommission wurde Heinz M. Vorschlag kritikfrei aufgenommen. Der Vertreter des BMI empfahl Heinz M., er möge im Sinne einer solchen ASTAK-Übernahme beim MdI rechtzeitig einen Antrag auf Übertragung des Hauses I stellen, da mit dem Einigungsvertrag das gesamte MfS-Vermögen der Treuhand zufallen werde.184 Und auch die übrigen Regierungsvertreter kamen Heinz M. Vorstellungen entgegen. Wenngleich sie aufgrund der Auflösungsstruktur zunächst an der Hauptverantwortung des SK festhalten mussten, empfahlen sie eine stärkere Einbeziehung der ASTAK im Planungs- und Aufbauprozess und stellten sie in Aussicht, dass die ASTAK eine Einrichtung sei, »[…] von der die Gedenkstätte künftig wesentlich mitgetragen werden könnte«.185 Gestärkt von diesem grundsätzlichen Wohlwollen, traf sich die ASTAK daraufhin mit der Deutschen Reichbahn (DR), die zu diesem Zeitpunkt noch Eigentümerin von ca. 40% der ehemaligen MfS-Infrastruktur in Berlin-Lichtenberg war, um mit ihr eine Übernahme des Hauses I noch vor dem 03. Oktober zu verhandeln. Auf
181 Schreiben des Aufbaustabes der FOGE an das SK vom 20.08.1990, ArLStU, ASTAK; Schreiben vom SK Eichhorn an das MfK. Referat Bildende Kunst vom 21.08.1990, ArLStU, ASTAK. 182 Ebd. 183 MdI Regierungskommission zur Auflösung des MfS/AfNS: Protokoll über die Sitzung der Regierungskommission vom 07.09.1990, S. 2, BArch DA 1/16342; ArLStU, BArch DA 1/16342-16345. 184 Ebd., S. 3; Stiftung ASTAK e.V.: Protokoll der Vorstandssitzung vom 12.09.1990, S. 1, ArASTAK, Bestand: Verein, Vorstandssitzung, Ablage 1990-1995 [Verein]. 185 MdI Regierungskommission zur Auflösung des MfS/AfNS: Protokoll vom 07.09.1990, S. 3, BArch DA 1/16342; ArLStU, BArch DA 1/16342-16345.
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diese Weise sollte eine Übernahme der Liegenschaft ins Treuhandvermögen umgangen werden.186 Doch die DR lehnte diesen vorzeitigen Eigentümerwechsel ab. Vermutlich wollte sie der treuhändlerischen Verwaltung nicht vorgreifen. Daraufhin folgte die ASTAK der Empfehlung des BMI und stellte sie im September direkt einen Antrag an die Treuhand über eine kostenlose Überführung des Hauses I in das Eigentum der ASTAK.187 Aber auch in Bezug auf die personelle Situation, begann sich die ASTAK zunehmend vom Aufbaustab, d.h. insbesondere von Ulrich W. unabhängig zu machen. So wurde bereits bei der ersten Vorstandssitzung der ASTAK Mitte August der Wunsch geäußert, dem ehemaligen MfS-Mann Heinz K. sei endgültig die museale Leitung der FOGE zu übergeben, habe er ohnehin »schon vielfach die Arbeit von Herrn [Ulrich W.] übernommen«.188 Es wurde sogar der Vorschlag unterbreitet, Ulrich W. gänzlich »[…] von seiner Funktion zu entbinden«, sei er »nach Recherchen in ehemaligen Arbeitsstellen […] nicht tragbar […]«.189 Heinz K. sollte also nicht nur die Ausstellungen federführend gestalten, sondern Ulrich W. nunmehr ganz und gar ablösen.190 Zwar war es der ASTAK nicht möglich, derart über das Personal des SK zu entscheiden, im Tagesgeschäft jedoch wurden von nun an Heinz K. und Heinz M. zu den Hauptverantwortlichen.191 Diese interne Regelung bestimmte zunehmend auch den Einfluss der ASTAK auf die inhaltliche Gestaltung der FOGE. Dies geht zumindest aus dem Sachstandbericht vom 12. September 1990 hervor, der transparent macht, dass von Seiten des SK nicht nur personell, sondern auch konzeptionell nichts mehr zu erwarten war. 192 So wurde der bisherige Beitrag des SK auf »Vorarbeiten« (wie Sammeln und Inventarisieren) reduziert, die in erforderlichem Maße umgehend von der ASTAK zu unterstützen seien, damit es noch zu einer Ausstellungseröffnung im November 1990 komme. »Die Stiftung unterstützt den Aufbaustab bei der Erarbeitung und Realisierung des inhaltlichen Konzepts sowie eines Maßnahmeplans zur Vorbereitung einer Ausstellung. […] Der Vorstand bildet dafür zeitweilige Arbeitsgruppen aus interessierten Mitgliedern und Förderern der Stiftung (AG Historiker; AG Entwurf für Gestaltung der Ausstellung und für Werbermaterialien; AG Bild und Ton) […] Die Stiftung unterstützt darüber hinaus mit ihren Mitteln und Möglichkeiten den Aufbaustab bei der Klärung und Lösung materiell-technischer Fragen, […] in der Öffentlichkeitsarbeit […] sowie bei der Durchführung von Veranstaltungen […]. Es wird angestrebt, die erste Ausstellung der Gedenkstätte als eine gemeinsame Initiative des Staatlichen Komitees
186 Stiftung ASTAK e.V.: Protokoll vom 16.08.1990, S. 1, ArLStU, ASTAK. 187 Schreiben der Stiftung ASTAK e.V. an den Präsidenten der Treuhand Herrn Rohwedder vom 17.09.1990, ArLStU, ASTAK. 188 Ebd., S. 2. 189 Stiftung ASTAK e.V.: Protokoll vom 12.09.1990, S. 2, ArASTAK, Verein. 190 Stiftung ASTAK e.V.: Protokoll vom 23.08.90, S. 1, ArASTAK, Verein. 191 FOGE: Stellungnahme vom 10.10.1990, ArASTAK, Bestand: BStU Gauck. 192 Stiftung ASTAK e.V.: Sachstandsbericht bezüglich der Vorbereitung einer ersten Ausstellung in der Mielke-Etage vom 12.09.1990, S. 1, ArASTAK, Verein.
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zur Auflösung des MfS und der Stiftung Antistalinistische Aktion Berlin-Normannenstraße e.V. zu autorisieren. Die o.g. Punkte sind Beschluss des Vorstandes«,
lautete das »Übernahmeangebot« der ASTAK an den SK.193 In Bezug auf den »Aufbaustab« empfahl Heinz M. zudem, bis zum 03. Oktober lediglich eine mündliche Vereinbarung über die Zuständigkeiten zu schließen, löse sich das SK doch nach dem 03. Oktober ohnehin auf.194 Die von Eichhorn eingesetzte Kontrolleurin des Aufbaustabes willigte ein, was einer Kapitulation des SK noch vor seiner Auflösung gleichkam. Parallel zu dieser Entwicklung bemühte sich die ASTAK aber auch materiell um weitgehende Unabhängigkeit vom SK. So bat sie u.a. das MdI um eine »schnelle Lösung« in Fragen der materiellen Grundausstattung der FOGE noch vor dem 03. Oktober.195 Auch stellte sie einen dringlichen Antrag auf finanzielle Förderung an die Stadtverordnetenversammlung (SVV) Berlin durch die Grünen.196 Letzteres Bemühen hatte im Laufe des Oktobers 1990 sogar Erfolg. Die SVV beschloss: »Die Stadt Berlin fördert nach Möglichkeit die im Haus I des ehemaligen MfS auf Grundlage der zentralen Rundtisch- und Regierungsbeschlüsse im Aufbau befindliche Forschungs- und Gedenkstätte Normannestraße. Die Aufgabenstellung ist dem Standort entsprechend einzugrenzen.«197 Ergebnis war, dass die ASTAK tatsächlich 50.000 DM aus dem Berliner »Kulturfonds« erhielt und »Bestandteil im Haushaltsplan« Berlins wurde.198 Für die erste Ausstellung »Observierungspraxis im MfS« wurden bis zum 03. Oktober 1990 darüber hinaus 77.000 DM aus Ostberliner Regierungskreisen gesammelt, wobei der Löwenanteil von 35.000 DM tatsächlich von der PDS kam, gefolgt von der CDU mit einer Spende von 30.000 DM. 10.000 DM kamen vom FDGB und 2000 DM von der FDJ.199 Damit waren die inzwischen gesponnenen Ausstellungspläne der ASTAK200 und ihre kurzfristige Umsetzung noch vor dem 03. Oktober 1990 finanziell abgesichert.
193 Schreiben der Stiftung ASTAK e.V. an das SK vom 14.09.1990, ArLStU, ASTAK. 194 Stiftung ASTAK e.V.: Protokoll vom 12.09.1990, S. 2, ArASTAK, Verein. 195 Schreiben der FOGE vom 17.09.1990, BArch, DO 104/12; ArLStU, BArch DO 104 1013, 17-19, 24-26. 196 SVV Berlin Drs. 1/190 S vom 19.09.1990, ArLStU, ASTAK. 197 SVV Berlin: Stellungnahme vom 18.10.1990, ArLStU, ASTAK. 198 Stellungnahme des Ausschusses für Inneres, Sicherheit und Ordnung zum Antrag der Fraktion Bündnisgrüne/UFV über Förderung der Stalinismus-, Forschungs- und Gedenkstätte Drs. 1/190 vom 26.09.1990, ArLStU, ASTAK; SVV Berlin: BeschlussProtokoll vom 21.09.1990, S. 3, ArLStU, ASTAK; Stiftung ASTAK e.V.: Protokoll vom 02.11.1990, S. 2, ArLStU, ASTAK. 199 Stiftung ASTAK e.V.: Protokoll vom 06.10.1990 , ArASTAK, Verein. 200 Für die erste Ausstellung »Observierungspraxis im MfS« veranschlagte die ASTAK lediglich 13.000 DM. Sie fielen für Reinigungs- und Aufräumarbeiten, die Anschaffung von Ausstellungsausrüstungen, Druckkosten usw. an. Für das erste Halbjahr 1991 plante die ASTAK zudem eine Ausstellung zum Fall Chris Gueffroy sowie das Einrichten einer Dauerausstellung mit DDR-Devotionalien und Kultgegenständen. Im zweiten
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Nach dem Beitritt der DDR zur BRD am 03. Oktober 1990 ging die ASTAK vorübergehend von einer »Lösung« der unklaren Zuständigkeiten aus. So vermutete sie, dass die FOGE mit dem 03. Oktober nunmehr dem ans BMI angeschlossenen »Sonderausschuss zur Kontrolle der Auflösung der Stasi« angehören werde. »Ein persönliches Gespräch mit Herrn Gauck ist […] erforderlich, da er die Forschungsund Gedenkstätte übernommen hat und somit auch für sie verantwortlich ist«, teilte Heinz M. dem Vorstand ohne jeglichen Zweifel Ende Oktober 1990 mit.201 In dieser neuen Konstellation sei die ASTAK nur »als Hilfe beim Aufbau dieser Institution« und nicht als »Hausherrin« zu betrachten, vertrat er gegenüber seinen Kollegen die Auffassung, Gauck und seine Behörde seien jetzt wohl maßgeblich für die institutionellen Belange der FOGE zuständig.202 Aber auch von Seiten des Sonderbeauftragten herrschte noch bis Anfang November 1990 die Meinung vor, prinzipiell sei das Haus I die eigene Sache. »Herr Gill […] hat sich als Ansprechpartner angeboten […] Herrn Gill liegen alle FOGE betreffenden Informationen vor«, berichtete Heinz M. dem restlichen ASTAKVorstand.203 Anneliese G., Dorit S. und Heinz K. (als ehrenamtlicher Mitarbeiter) wandten sich daraufhin bezüglich ihrer konzeptionellen Vorstellungen in erster Linie eben an Gill, der als vormaliger Koordinator des BKB inzwischen zu Gaucks Sekretär aufgestiegen war.204 Bei ihm machten sich v.a. Anneliese G. und Dorit S. auch dafür stark, dass Heinz K. vom Sonderbeauftragten Gauck fest eingestellt werde, schätzten beide an ihm seine internen MfS-Kenntnisse, insbesondere auf dem Gebiet der Öffentlichkeitsarbeit und im Ausstellungswesen: »Zum anderen benötigen wir dringend Unterstützung im Hinblick auf Informationen über innere Zusammenhänge und Geschehnisse im MfS, auch diesbezüglich ist uns Herr [Heinz K.] gerade wegen seines früheren Tätigkeitsbereiches als Berater eine große Hilfe.«205 Das Missverständnis über Gills Zuständigkeit – lag Gaucks Aufgabenbereich zu diesem Zeitpunkt doch ausschließlich bei der Archivverwaltung und nicht beim Betreiben einer politischen Bildungseinrichtung – klärte sich erst im Zuge eines persönlichen Gespräches mit Gauck Anfang November 1990 auf. Um endlich die Verantwortlichkeiten in Bezug auf das Haus I und die FOGE zu klären, trafen sich der
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Halbjahr sollte eine Veranstaltung mit »betroffenen Schriftstellern« hinzukommen und eine Galerie eröffnet werden. Der grob kalkulierte Gesamtetat für 1991 belief sich auf rund 49.500 DM, vgl. Stiftung ASTAK e.V.: Kostenplanung vom 19.10.1990, ArLStU, ASTAK. Stiftung ASTAK e.V.: Protokoll vom 22.10.1990, ArLStU, ASTAK. U.a. deshalb wurde auch eine Ausstellungseröffnung durch Gauck persönlich am 07. November 1990 ins Auge gefasst, vgl. Stiftung ASTAK e.V.: Protokoll vom 06.10.1990, ArASTAK, Verein. Stiftung ASTAK e.V.: Protokoll vom 22.10.1990, ArASTAK, Verein. Schreiben der FOGE an David Gill, Behörde des Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes vom 15.10.1990, ArLStU, MDA Bestand Gill. Schreiben von Dorit S. und Anneliese G. vom 11.10.1990, ArASTAK, BStU Gauck.
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engste Kreis der ASTAK (u.a. Heinz M., Dorit S. und Anneliese G.) am 01. November 1990 mit Gill und Gauck, um über drei Varianten der Anbindung der FOGE an die Behörde des Sonderbeauftragten zu sprechen, immerhin eine Behörde, die bis dahin die oberen drei Etagen des Hauses I belegte und die Verwaltung des MfS-Erbes zum Gegenstand hatte. Die erste Variante sah eine direkte Verknüpfung der FOGE an die Behörde des Sonderbeauftragten ohne eine Beteiligung der ASTAK vor, die zweite Variante räumte eine Beteiligung der ASTAK-Mitglieder ein. Die dritte Variante umfasste die Übernahme der FOGE durch die ASTAK ohne jegliche Behördeneinbindung.206 Zu einer ernsthaften Diskussion kam es jedoch nicht, wies Gauck während des Gespräches jegliche Zuständigkeit für die Liegenschaft Haus I mit Verweis auf die Treuhand zurück und lehnte seine Behörde selbst die Verantwortung über die erste kleine Ausstellung mit der Begründung ab, der Haushalt der Gauckbehörde sei für eine solche Aufgabe zu knapp bemessen. Gauck schlug also das Angebot der ASTAK aus, die FOGE in wie auch immer gearteter Weise zu übernehmen. D.h., erst jetzt kristallisierte sich heraus, dass weder Gauck noch das BMI für das Haus I und die darin geplante FOGE zuständig waren bzw. sein wollten und die einzige institutionelle Verankerung nach dem 03. Oktober bei der ASTAK lag. Durch die Ablehnung Gaucks erklärte sie sich – fast schon gezwungener Maßen – nun bereit, auch zukünftig die ungeteilte Verantwortung für die Museumsarbeit im Haus I zu übernehmen.207 Daraufhin wurde die erste Ausstellung der FOGE am 07. November 1990 unter der alleinigen Schirmherrschaft der ASTAK im Haus I eröffnet und führte die ASTAK die FOGE fortan auf eigene Faust bzw. in »Eigenregie«.208 Erst im November 1990 arbeitete die Forschungs- und Gedenkstätte somit unabhängig von staatlichen Weisungen bzw. Institutionen, und übernahm die ASTAK nun auch offiziell die Geschäfte der FOGE. Dass die erste Generation der ASTAK dabei dennoch nicht völlig frei von staatlichen, politischen und interessegeleiteten Einflüssen war, zeigt die personelle Besetzung und die Herkunft des Startkapitals der ASTAK. So setzte sich die Stiftung inzwischen zusammen aus ehemaligen Mitarbeitern des SK (Dorit S., Anneliese G.), die auch Mitglieder des BKB gewesen waren, Mitarbeitern des ehemaligen Bürgerkomitees (u.a. Heinz M.), politischen Vertretern (von den Bündnisgrünen und von der PDS) und ehemaligen MfSMitarbeitern (Heinz K., Horst Z.). Letztere waren maßgeblich mit der Ausstellungsgestaltung betraut. Heinz K. wurde sogar als museologische Leitung der FOGE bestätigt und bildete daraufhin zusammen mit Anneliese G. und Dorit S. ab
206 Stiftung ASTAK e.V.: Vermerk vom 01.11.1990, ArASTAK, BStU Gauck. 207 Stiftung ASTAK e.V.: Protokoll der Vorstandsitzung vom 02.11.1990, S. 2, ArASTAK, Verein. 208 So beschloss der Vorstand dem Bund der Stalinistisch Verfolgten Räumlichkeiten im Haus I zur Verfügung zu stellen, vgl. ebd. Ebenfalls plante die ASTAK für weitere Ausstellungen auch die bisher frei stehenden Etagen des Hauses zu nutzen und die FOGE damit über das ganze Haus auszudehnen, vgl. Stiftung ASTAK e.V.: Protokoll vom 20.11.1990, S. 3, ArLStU, ASTAK.
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März 1991 den geschäftsführenden Vorstand.209 D.h., die erste ASTAK-Generation war im Endeffekt ein Zusammenschluss aus Vertretern der Bürgerrechtsbewegung, ehemaligen Mitarbeitern des MfS und Mitgliedern der PDS, wobei die ehemaligen MfS-Mitarbeiter und PDS-Mitglieder zentrale Aufgaben innerhalb der FOGE und die Bürgerrechtler hauptsächlich administrative und repräsentative Aufgaben übernahmen. Auch die Herkunft der finanziellen Startmittel war delikat, bestanden sie ja vorwiegend aus Spenden der PDS, der FDJ und des FDGB.210 Ob dieses »DDRErbe« die Anfangsjahre der FOGE auch inhaltlich prägte, wird im folgenden Kapitel rekonstruiert.
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Zwar pflegte die ASTAK von Anfang an vor allem äußerlich das Image, von der DDR-Bürgerrechtsbewegung aus der Taufe gehoben worden zu sein, inhaltlich jedoch war die Gedenkstättenarbeit im Ergebnis – zumindest in der Anfangsphase bis 1992 – gewollt oder ungewollt noch stark geprägt von den latent revisionistischen Absichten des SK und den ehemaligen MfS-Mitarbeitern im Vorstand.211 Sie dachten nicht an eine vollständige Delegitimierung der DDR, sondern begrenzten ihren Blick maßgeblich auf die stalinistischen Auswüchse und DDR-Kuriositäten. Entsprechend wurde auch die ersten Ausstellungen (über »Observationstechnik« ab November 1990, über »Polit-Kultgegenstände« ab Dezember 1990 und über »Fotos aus dem Wendejahr 1989« ab Februar 1991), die inhaltlich eine Mischung aus dem ersten Grobkonzept des BKB und der Ideenskizze von Ulrich W. darstellten, in den Folgejahren nicht wesentlich überarbeitet. Mehrere Protokolle dokumentieren diesen Misstand und die ihn begleitenden internen Auseinandersetzungen zwischen 1991 bis 1992.212 So legte Heinz M. bereits im Februar 1991 sein Amt als geschäftsführender Vorstand nieder.213 Ab dann gehörte Heinz K. zum geschäftsführenden Vorstand.214 Diese steile Karriere von Heinz K. sowie die PDS-Spendengelder stießen wiederum besonders bei den Opferverbänden, die an einer Zusammenarbeit mit der FOGE interessiert waren, auf
209 FOGE: Ausführungen zum Strukturplan der Forschungs- und Gedenkstätte vom 10.10.1990, ArASTAK, BStU Gauck; Schreiben von Dorit S. an Gill vom 11.10.1990, ArASTAK, BStU Gauck; Schreiben vom geschäftsführenden Vorstand an Joachim Gauck vom 12.03.1991, ArASTAK, BStU Gauck. 210 ASTAK e.V.: Zur Situation der Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße vom 08.03.1990, ArASTAK, BStU Gauck. 211 Knieling, Dorit: Die Zukunft des Stasi-Museums bleibt offen, in: Taz vom 27.02.1991. 212 ASTAK e.V.: Protokoll vom 18.05.1991, S. 2, ArASTAK, Verein; ASTAK e.V.: Protokoll 5/2 vom 23.08.1991, S. 1, ArASTAK, Verein; ASTAK e.V.: Protokoll 16/2 vom 15.02.1992; ArASTAK, Verein. 213 ASTAK e.V.: Protokoll vom 13.02.1991, S. 2, ArLStU, ASTAK. 214 ASTAK e.V.: Protokoll vom 09.03.1991, S. 2, ArLStU, ASTAK; Schreiben der ASTAK e.V. an Gauck vom 12.03.1991, ArASTAK, BStU Gauck.
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herbe Kritik. Die Mitarbeit von ehemaligen MfS-Angehörigen und der Betrieb der FOGE als »Kultstätte der Stasi«, in der die Opferleiden zu kurz kämen, waren insbesondere dem BSV zuwider.215 »Einige machen uns den Vorwurf, dass wir die Stasi verherrlichen wollen. Das kann uns erhebliche neue Seilschaften schaffen«,216 fasste Dorit S. die Resonanz auf die FOGE nach den ersten Monaten zusammen, ohne dabei besonders negativ überrascht zu sein. Diese heikle Personalfrage löste der Vorstand schließlich, in dem er veranlasste, dass sich ehemalige MfS-Mitarbeiter (insbesondere Heinz K.) ab Sommer 1991 zunehmend aus der aktiven FOGE-Arbeit zurückzogen und fortan nicht mehr im Rampenlicht standen.217 »Eine Mitgliedschaft in der ASTAK von ehemaligen StasiMitarbeitern sei mit unseren Zielen und Aufgaben unserer Satzung unvereinbar, eine Mitarbeit sollte jedoch möglich sein«, unterband die ASTAK den öffentlichen Auftritt von ehemaligen MfS-Leuten im Namen der ASTAK, ohne dabei auf eine prinzipielle Zusammenarbeit gänzlich zu verzichten.218 Der Antrag von Anneliese G., dass ehemaligen SED- und PDS-Mitglieder darüber hinaus der Zugang zu ABM-Stellen innerhalb der FOGE verweigert werden sollte, fand nicht einmal solchen Kompromiss. Sie sollten ungehindert vollgültige Mitarbeiter der FOGE bleiben bzw. werden können.219 Neben diesen inhaltlichen Querelen um die Frage, wer die Deutungsmacht in Bezug auf die ehemalige MfS-Zentrale eigentlich besaß, begann etwa zeitgleich die Auseinandersetzung um die »Hausrechte« über diesen symbolischen Ort. Die Nutzung des Hauses durch die FOGE entbehrte eine klar geregelte rechtliche Grundlage, basierte sie doch allein auf Beschlüssen und Arbeitsverträgen des Staatlichen Komitees, das eins zu eins in die Treuhand übergegangen war. Als das BMI im Februar 1991 den ersten zaghaften Versuch unternahm, das Haus I von der Treuhand in den Bundesbesitz zu überführen, stieß es bei den Museumsbetreibern erstmals auf harsche Gegenwehr. »Man wolle ja kein Gruselkabinett für amerikanische Touristen einrichten, sondern DDR-Geschichte und Geheimdienstmethoden ehrlich aufarbeiten«, attestierte die ASTAK der Bundesbehörde schiere Unfähigkeit.220 Zudem fing die ASTAK nun an, auf ihre – nach Aktenlage tatsächliche zweifelhafte – ausschließliche Herkunft aus der Bürgerrechtsbewegung zu setzen. Diese symbolträchtigen »Wurzeln« wurden immer dann als einschlägiges Argument vorgebracht, wenn die ASTAK Gefahr lief, ihren ungeteilten Einfluss auf das Haus I zu verlieren. Dabei setzte die ASTAK absichtlich darauf, dass keine Staatseinrichtung jemals einen Rausschmiss der ehemaligen Bürgerbewegten aus der Mielke-Zentrale riskieren würde.221
215 216 217 218 219 220
ASTAK e.V.: Protokoll vom 18.05.1991, S. 2, ArLStU, ASTAK. ASTAK e.V.: Protokoll vom 19.05.1991, S. 2, ArLStU, ASTAK. ASTAK e.V.: Protokoll vom 29.06.1991, ArASTAK, Verein. ASTAK e.V.: Protokoll vom 23.08.1991, S. 2, ArASTAK, Verein. Ebd., S. 3. Förster, Andreas: »Bundesministerium in Mielkes Befehlszentrale«, in: Berliner Zeitung vom 04.02.1991. 221 Knieling, Dorit: »Die Zukunft des Stasi-Museums bleibt offen«, in: Taz vom 27.02.1991.
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Das BMI biss also bei der ASTAK auf Granit. Gleichwohl benötigte die ASTAK dringend regelmäßige öffentliche Förderungen, um den Betrieb aufrecht halten zu können. Spenden allein reichten nicht aus, zumal sie im Hinblick auf die PDS-Gelder »anstößig« wirkten. Die ASTAK wählte daher den bereits durch die SVV Berlin eingeschlagenen Weg, nämlich sich um eine regelmäßige Bezuschussung vom Land Berlin zu bemühen.222 Dabei kamen ihr nicht nur wiederholt die Berliner Bündnisgrünen,223 sondern auch die Treuhand entgegen, die das Haus I dem Land Berlin bis zum 01. Juni 1994 übertrug, und diese unentgeltliche Überlassung an die Auflage band, der ASTAK die derzeit genutzten Räume im Sockel- und Erdgeschoss sowie in der 1.-2. Etage mietfrei zur Verfügung zu stellen.224 Mit der Oberen Finanzdirektion Berlin (OFD), die als Nachnutzerin der Gauckbehörde die übrigen Etagen bezog, wurde ein entsprechender Nutzungsvertrag zwischen ASTAK und dem Land Berlin abgeschlossen. Darin hieß es: »Die Nutzungsvereinbarung erlischt automatisch nach Klärung der Eigentumsverhältnisse des Gebäudes, spätestens nach Ablauf von drei Jahren, gerechnet ab dem 01.07.1991. Eine weitere Nutzung der der ASTAK überlassenen Räumlichkeiten muss danach neu geregelt werden.«225 Trotz dieser zeitlichen Befristung überlies die Treuhand der ASTAK auch die inzwischen angewachsene MfS-Sammlung als Dauerleihgabe.226 Weitere Unterstützung erhielt die ASTAK nun zudem verstärkt von der Senatsverwaltung für Kultur (SenKult), die sich nicht nur für 12 ABM-Stellen in der FOGE einsetzte, sondern auch eine weitere Anschubfinanzierung der FOGE aus Mitteln des Berliner »Kulturfonds« für 1991 erreichte.227 Überdies hatte die SenKult einen Projektantrag an die Deutsche Kassenlotterie auf den Weg gebracht. Des Weiteren stellte sie in Aussicht, dass die ASTAK wohl grundsätzlich sowohl für Mittel des Sonderbeauftragten Gauck in Frage kam als auch für eine Bundesbeteiligung im Zuge der Planungen zur Gesamtkonzeption zur Beteiligung des Bundes an Mahn- und Gedenkstätten.228 Der Unterstützung aus Bundesmitteln Vorzug gebend, bat sie die Vertreter des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages »[…] die zum Überleben notwendigen Gelder im Bundeshaushalt 92‹ [zu] gewährleisten«, um den ehemaligen Amtssitz von Mielke als »Stätte der Mahnung« von »nationaler Bedeutung« zu erhalten.229 »Sollte der ASTAK [e.V.] aus finanziellen Gründen die Weiterarbeit in diesem Ge-
222 ASTAK e.V.: Protokoll vom 19.05.1991, S. 3, ArLStU, ASTAK. 223 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 12/974 vom 17.07.1991, PA Berlin. 224 Schreiben der Treuhandanstalt an die Senatverwaltung für Finanzen Berlin (SenFin) vom 23.05.1991, ArLStU, Bestand: Fachkommission Haus 1 Normannenstraße / BerlinLichtenberg (Band 1) [FK, Band 1]. 225 Nutzungsvereinbarung zwischen OFD und ASTAK e.V. vom 23.06.1992 mit Rückwirkung vom 01.07.1991, ArLStU, FK, Band 1. 226 ASTAK e.V.: Vermerk vom 03.06.1991, ArASTAK, Verein. 227 SenKult: Vermerk vom 26.07.1991, SWFKB, Bestand: »U-Boot« Hohenschönhausen 1991-1994 Band 1, Nr. 5 [Nr. 5]. 228 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 12/974 vom 20.12.1991, PA Berlin. 229 Schreiben der SenKult an den Deutschen Bundestag vom 11.10.1991, ArLStU, FK, Band 1.
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bäude unmöglich werden, drohen auch Erinnerungen zu schwinden, die ohne historische Zeugnisse auf Dauer nicht wach gehalten und erfahrbar gemacht werden können«, begründete die SenKult die Notwendigkeit einer Bundesbeteiligung.230 Konzeptionell verband die SenKult mit ihrer Forderung nach Bundesförderung aber auch konkrete Vorstellungen über eventuelle institutionelle Anbindungen des Haus I an bestehende Bundeshäuser. So regte sie an: »Perspektivisch schiene mir wünschenswert, dort ein ›Haus der Geschichte der DDR‹ – evtl. in Verbindung mit dem DHM zu gestalten, kurzfristig könnte auch eine Verlagerung der ›Erfassungsstelle Salzgitter‹ in die Normannenstraße erfolgen«.231 Zumindest mit dem ersten Vorschlag knüpfte die SenKult offenkundig an Pläne des Frühjahres 1990 an, die damals aus der Feder des MfDG und von Ulrich W. (SK) kamen. Diesmal ging es jedoch nicht darum, Mitarbeiter vom sinkenden Schiff zu retten, sondern vielmehr um das Berliner Interesse, die Verantwortung der FOGE samt Haus I dauerhaft dem Bund zu übertragen. Berlin war der jährliche Bedarf an Unterhalt zu hoch, auch hatte die Stadt die dort inzwischen ansässigen Opferverbände wegen der Kündigung der Verträge bereits so früh gegen sich.232 Eine Integration der FOGE und des Haus I ins DHM schien daher eine gangbare Lösung. Während sich die institutionellen Strukturen der FOGE mehr und mehr weiterentwickelten, sei es durch die Stiftungs- bzw. Vereinsgründung oder sei es durch Verträge und Überlegungen zur zukünftigen langfristigen Anbindung, schwellte intern ungebrochen der Konflikt unter den Gründungsmitgliedern über die personelle »Richtung«, die die FOGE einschlagen sollte. So wurde erst am 05. November 1991 ein Nachfolger von Heinz M. gewählt: Walter F.233 Er kam nicht aus den Reihen des ehemaligen BKB, zeigte darüber hinaus auch wenig Initiative, den Anteil der ehemaligen BKB-Mitglieder in der FOGE zu erhöhen, und hielt an der prononcierten Position von Heinz K. innerhalb der FOGE ungebrochen fest, weil er ihn als einzig kompetent in Fragen der Ausstellungsgestaltung und -technik einstufte.234 Kritik gegen diese Duldungspolitik wurde nur »hinter vorgehaltener Hand« laut.235 Daneben mehrten sich die Gerüchte, die ASTAK sei von der Stasi unterwandert und beschäftige ehemalige KGB-Spione. Bis zur SenKult drang durch, bei der FOGE gehe es zu wie bei der Stasi, sie spiegele daher mehr die DDR-Verhältnisse wieder als dass sie sie kritisch aufarbeite.236 Da der neue Geschäftsführer in erster Linie die alte Geschäftsführung der FOGE hierfür verantwortlich machte, wurde neben Heinz M. v.a.a. Anneliese G. Mitte Februar 1992 zu einer außerordentlichen Sitzung geladen. Bei dieser kam es endlich zu einem klärenden Gespräch. Hierbei
230 Ebd., S. 2. 231 Ebd. 232 O.V.: »Mahnwache der Opfer kommunistischen Terrors«, in: Der Tagesspiegel vom 29.10.1991; o.V.: »Wer wird Mielkes Machtzentrale hüten?«, in: Der Tagesspiegel vom 16.03.1992. 233 ASTAK e.V.: Protokoll vom 10.11.1991, ArASTAK, Verein. 234 ASTAK e.V.: Protokoll vom 20.11.1991, ArASTAK, Verein. 235 Ebd., S. 3-4. 236 ASTAK e.V.: Protokoll vom 15.02.1992, S. 2-3, ArASTAK, Verein.
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stellte sich heraus, dass nur noch der inzwischen rein ehrenamtlich mitarbeitende Heinz K. eine MfS-Vergangenheit mitbrachte, aus der er zudem keinen Hehl machte. Und auch alle weiteren Vermutungen und Verdächtigungen erwiesen sich als mittlerweile von geringem Wahrheitsgehalt.237 Dennoch legten sich die internen Auseinandersetzung und Reibereien nicht. Als sich im Februar 1992 aus den Reihen des »Hauses der Zukunft« (HdZ)238 ein neuer Vorstand und ein neuer Geschäftsführer rekrutierten, lehnten es die Gründungsväter der FOGE ab, dem neuen Einrichtungsleiter Jörg Drieselmann und »seinen Leuten« das Zepter zu übergeben.239 Die Arbeit des »Hauses der Zukunft« und die Leistungen der Vertreter, die nun innerhalb der ASTAK wirkten, wurden als »politisch tendenziös« und »mittelmäßig« beurteilt. Mit dem Eindringen des »Hauses der Zukunft« waren die FOGE-Gründer derart unzufrieden, dass sie Abgeordnete des Deutschen Bundestages und die SenKult sogar inoffiziell, d.h. am neuen Vorstand und Geschäftsführer vorbei, dazu aufforderten, sich für eine Loslösung der FOGE von der ASTAK einzusetzen: »Eine Gruppe von sieben Mitarbeitern beschließt, die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Museums durch die Loslösung der Forschungs- und Gedenkstätte von der ASTAK anzustreben; […] Lösungsvorschläge u.a.: Anbindung des Museums an die Gauck-Behörde […] [oder] Anbindung der Forschungs- und Gedenkstätte an das Bundesarchiv.«240
Zwischen April und November 1992 nahmen die HdZ-kritische ASTAK-Fraktion diesbezüglich weitergehende Verhandlungen auf. Es fanden Gespräche mit Vertretern des Bundesarchivs, des BMI, des Deutschen Bundestages sowie mit Vertretern der Gauck-Behörde, der SenKult sowie der Treuhand in diese Richtung statt. Dabei brachten die ASTAK-Mitarbeiter auch ihre konzeptionelle und personelle Vorstellung ein, die u.a. eine Weiterbeschäftigung von fünf bis sechs FOGE-Mitarbeitern vorsah.241 Es ist anzunehmen, dass dabei nicht an den neuen
237 Ebd., S. 8ff. 238 Das »Haus der Zukunft« sei in den 60er Jahren als Einrichtung politischer Bildungsarbeit in Westberlin ins Leben gerufen und seither vom Gesamtdeutschen Institut finanziert worden. Es habe in erster Linie Seminare angeboten für Westdeutsche über die DDR. Mit dem Ende der Deutschen Teilung seien erhebliche Mittelkürzungen verbunden gewesen, die die Mitarbeiter gezwungen hätten anderweitig, nämlich u.a.a. in der ASTAK unterzukommen, gibt ein Schreiben an einen Abgeordneten des Deutschen Bundestages Auskunft, vgl. Schreiben von Dorit S. an MdB P. vom 27.11.1992, ArLStU, Bestand: 51.1 ASTAK e.V., BSV, Hauptausschuss (Finanzen) [51.1]. 239 Drieselmann tritt bis heute offiziell als Kopf des »Hauses der Zukunft« e.V. in Erscheinung. 240 Ebd. 241 Es liegt ein Konzept aus der Feder von u.a. Dorit S. vom Januar 1993 vor, auf dem handschriftlich vermerkt ist: »Liegt bei Gauck und in Bonn«, vgl. FOGE: Situationsschilderung und Konzeptionelle Vorstellungen vom Januar 1993, ArLStU, FK 1;
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Geschäftsführer und seine mitgebrachten Mitarbeiter gedacht war, sondern vornehmlich an Mitarbeiter der »alten Truppe«, auf deren Initiative dieser »Putschversuch« zurückzuführen war. Insofern zielte der emsige Versuch, die FOGE aus der ASTAK herauszulösen v.a.a. darauf ab, das Überleben der ehemaligen Mitglieder aus dem Aufbaustab und des SK zu sichern und die Deutungsmacht über das Haus I zurückzugewinnen. Ein Dokument gibt darüber Auskunft, dass die Vorschläge zur Anbindung der FOGE an den Bundesbeauftragten für die Unterlagen der ehemaligen Staatsicherheit der DDR (BStU) insgesamt bei der SenKult und bei Gauck auf Wohlwollen stießen. Vermutlich waren weder der BStU noch die SenKult darüber im Bilde, dass es sich hierbei nur um eine Initiative einer kleinen Fraktion innerhalb der ASTAK handelte, die nicht die Meinung des Geschäftsführers und des Vorstandes widerspiegelte. SenKult und Gauck gingen wohl eher davon aus, dass die Verhandlungen abgestimmt waren und eher ein Hilferuf der ASTAK darstellte, in Anbetracht der tatsächlichen finanziellen Notlage des Vereins und der dementsprechenden Unklarheiten über den Fortgang des Museumsbetriebes. »[Die] Forschungs- und Gedenkstätte wird unter derzeitigen Machtverhältnissen nur ›am Leben erhalten‹, aber nicht weitergehend unterstützt; [die] Gauck-Behörde soll [die] Forschungs- und Gedenkstätte übernehmen; die schon lange dort tätigen Mitarbeiter sollen ebenfalls übernommen werden«, wird die Haltung der SenKult in Sachen ASTAK in einem Schreiben an den Bundestagsabgeordneten P. wiedergegeben.242 Des Weiteren forderte die SenKult Gauck auf, umgehend die Initiative in der Sache Haus I zu ergreifen, damit das Haus I erhalten bleibe. Die Worte »Sie bekräftigen Interesse an der Übernahme der Forschungs- und Gedenkstätte; nach der Entscheidung zum Haushalt 93’ sollen die praktischen Schritte zur Realisierung der Übernahme im gleichen Kreise besprochen und in Angriff genommen werden«, zeigen auf, dass Gaucks Bereitschaft, der Aufforderung der SenKult zeitnah nachzukommen, ebenfalls groß war und machen deutlich wie weitreichend bzw. konkret er und seine Mitarbeiter die Übernahme bereits planten.243 Leitender Gedanke war hierbei auch von Gaucks Seite vordringlich eine zügige »Rettung des Hauses I«. Von diesen Übernahmeverhandlungen bzw. von diesem »Putschversuch« unterdessen nichts wissend, nahmen Drieselmann und der neue Vorstand die Arbeit zügig auf und gaben sie in kürzester Zeit der FOGE von Grund auf eine andere Richtung und ein neues Gesicht. So wurden nun endlich Arbeitrichtlinien verfasst, die die konzeptionellen und personellen »Geburtsfehler« der ASTAK und die damit einhergehende, geschichtspolitische Stoßrichtung von 1990 überwanden.244 Darüber hinaus wurde die Satzung vom 02. August 1990 überarbeitet und die Stiftung mit neuer Satzung vom 15. Juli 1992 in einen gemeinnützigen
Schreiben von Dorit S. an MdB P. vom 27.11.1992, S. 2, ArLStU, Bestand: 51.1 ASTAK e.V., BSV, Hauptausschuss (Finanzen) [51.1]. 242 Ebd. 243 Ebd. 244 ASTAK e.V.: Arbeitsrichtlinien vom 16.03.1992, ArASTAK, Verein.
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Verein umgewandelt.245 Die Mitarbeit von ehemaligen MfS-Mitarbeitern an der Gedenkstätte wurde nun gänzlich unterbunden, indem in §7 der neuen Satzung eine Mitarbeit ehemaliger MfS-Mitarbeiter im Vorstand offiziell ausgeschlossen wurde.246 Des Weiteren wurden die Mitglieder des Vorstandes verpflichtet, sich einer Überprüfung durch die Gauck-Behörde zu unterziehen.247 Die Arbeitsrichtlinien regelten darüber hinaus, dass die ASTAK bei Ausstellungsgestaltungen einen unabhängigen, wissenschaftlichen Beirat zu konsultieren sowie nur fachlich geeignetes Personal einzustellen habe. Auch sollte nun ein Geschäftführer eingesetzt werden, der die Mitarbeiter anleiten und die Leitung der Geschäfte des Vorstandes übernehmen sollte.248 Mit der Ära von Drieselmann, der das Amt von Walter F. offiziell erst zum 01. Juli 1992 übernahm, endeten die geschichtspolitisch ambitionierten, internen Auseinandersetzungen innerhalb der ASTAK nicht gleich.249 Vielmehr war das Ergebnis zunächst nur ein organisatorischer, konzeptioneller und personeller Richtungswechsel. So verkörperte die Gedenkstätte erst mit dem zunehmenden Einfluss des »Hauses der Zukunft« den »Geist« des Herbstes 1989, der Bürgerbewegung sowie von Widerstand und Opposition, Images, die den Charakter der Gedenkstätte in den 90er Jahren prägen sollten.250 Erst jetzt setzte sich die radikale systemkritische Sicht aus Perspektive der Betroffenen und Systemgegner in der Museums- und Gedenkstättenarbeit in der Normannenstraße durch. Damit veränderte sich auch das Profil der Gedenkstätte. Opposition, Widerstand und die »Friedliche Revolution« von 1989/1990 wurden – neben der Vermittlung von Kenntnissen zum MfS und zum politischen System der DDR im Allgemeinen – ab sofort zu den wesentlichen Bausteinen des ab 1992 vermittelten Geschichtsbildes in der Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße. Erst jetzt emanzipierte sich die FOGE vom »Traditionskabinett der Stasi« zu einem politischen Bildungs- und Begegnungszentrum. So kam es zur kuriosen Situation, dass mit der neuen, dominierenden ASTAK-Mannschaft, die zwar durchaus Wurzeln in der DDR-Opposition hatte, jedoch zur »Wendezeit« bereits z.T. seit Jahren im Berliner Westen lebten, in viel stärkerem Maße die Werte der MfS-Auflöser bzw. das Image der Bürgerbewegten und »Revolutionäre des Herbstes 89’« gepflegt wurden als von den tatsächlichen ehemaligen Aufbaustab-Mitgliedern und Gründern der Gedenkstätte. 251
245 Satzung des Vereins »Antistalinistische Aktion Berlin Normannenstraße« e.V. vom 15.07.1992, ArLStU, Bestand: MDA ASTAK. 246 Ebd., S. 5. 247 ASTAK e.V.: Arbeitsrichtlinien vom 16.03.1992, S. 4, ArASTAK, Verein. 248 Ebd. 249 ASTAK: Protokoll vom 17.06.1992, ArASTAK, Verein. 250 Dieser neue Akzent fand später sogar einen gestalterischen Ausdruck in einer ergänzenden Dauerausstellung zum Thema »Opposition und Widerstand« in der dritten Etage des Haus I und durch eine Umgestaltung der verbleibenden Ausstellung, die der Opferperspektive Vorzug gab; vgl. ASTAK e.V. (Hg.): Wegweiser (2003), S. 15f. 251 Das Vorstandmitglied M. war nach seiner Abschiebung aus der DDR bereits seit 1977 wohnhaft in Westberlin. Ein Jahr zuvor war der Geschäftsführer Drieselmann nach
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Ausdruck fand diese Schwerpunktverlagerung in einer Neueröffnung der FOGE am 15. Juni 1992, die begleitet wurde von der Eröffnung neuer Ausstellungsbereiche zu den Themen »Sowjetische Internierungslager«, »Zwangsaussiedlung aus dem Grenzgebiet«, »Observierungstechnik«, »Innerdeutsche Grenze« und »Beispiele politischer Verfolgung«.252 Ein Grundkonzept vom Oktober 1992 skizziert diese inhaltliche – auch geschichtspolitische – Neuausrichtung anschaulich.253 So wurde der Gegenstand der FOGE dort folgendermaßen definiert: »Die Forschungs- und Gedenkstätte informiert über die Geschichte und das politische System der DDR im Allgemeinen, im Besonderen über die Entwicklung und die Wirkungsweise der Unterdrückungsmechanismen. Dabei findet den Umständen entsprechend das Ministerium für Staatssicherheit als eines der wichtigsten Machtorgane der SED besondere Berücksichtigung.«254
Über die bisherige Zielsetzung hinausgehend und von der bisherigen geschichtspolitischen Stoßrichtung abweichend, machte es sich die ASTAK nun zudem zur Aufgabe, am Beispiel der DDR »[…] das breite Spektrum von Mitteln und Methoden der Machtergreifung und der totalitären Machtausübung« zu zeigen, insbesondere »[…] die Situation des Einzelnen im Spannungsfeld zwischen Mittäterschaft, Anpassung und Widerstand« zu verdeutlichen.255 Zwangsläufig wurde erst jetzt der »[…] Funktion des MfS als politische Geheimpolizei und Organ der politischen Justiz viel mehr Raum als bisher eingeräumt«.256 Damit war die Zeit des Nivellierens vorbei und begann die radikale Delegitimierung der DDR unter stärkerer Beteiligung der ehemals politisch Verfolgten. Zur Entpolitisierung und Versachlichung der Geschichtsaufarbeitung der ehemaligen MfS-Zentrale trug dieser Vorzeichenwechsel nicht bei. Die politisierte Auseinandersetzung über die DDR-Geschichte und die Rolle des MfS wurde fortgeführt, wie auch der Streit um die Deutungsmacht. So setzten sich in der Normannstraße gegen den Willen von Gauck und BMI nur diejenigen mittelfristig durch, die dazu neigten die Ereignisse des Herbstes 89’, und damit auch die Rolle der Bürgerbewegten zu mythologisieren und die FOGE zum Sprachrohr der Interessen der Betroffenen zu
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knapp einjähriger MfS-Haft in den Westen freigekauft worden. Das jüngste Mitglied des ASTAK-Vorstandes, Leide, war 1988 nach Westberlin übergesiedelt, vgl. ASTAK e.V.: Information über den Verein Antistalinistische Aktion Berlin Normannenstraße (ASTAK e.V.) und die von ihr betriebene Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße vom Herbst 1993, ArLStU, FK Band 1. FOGE: Situationsschilderung und Konzeptionelle Vorstellungen vom Januar 1993, S. 23, ArLStU, FK 1; FOGE: Konzeption für die Arbeit der Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße vom März 1993, S. 6, ArLStU, FOGE. FOGE: Entwurf einer Grobkonzeption für die Arbeit der Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße, Berlin 1992, ArLStU, MDA ASTAK. Ebd., S. 3. Ebd., S. 4. Ebd., S. 5.
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machen. Die MfS-unkritische Geschichtspolitik der FOGE wurde folglich von einer selbstunkritischen Geschichtspolitik der »Bürgerbewegten« abgelöst, von einer politikfreien Geschichtsaufarbeitung und Bildungsarbeit war die Einrichtung also weiterhin entfernt. Die internen Querelen über die Federführung innerhalb der FOGE zogen insofern ihre Kreise, als dass sich mit ihnen generell verschiedene erinnerungs- und geschichtspolitische Ansätze und gedenkstättenspezifische Modelle für das Betreiben der FOGE im Haus I verbanden. Das eine Modell lief auf eine Entmachtung der ASTAK und eine Integration der Einrichtung in die Abteilung Bildung und Forschung (BF) des BStU hinaus. Das andere Zukunftsmodell hielt an einem unabhängigen Gedenkstättenbetrieb und dem Fortführen der Trägerstruktur fest und setzte auf staatliche Förderung. Die Kontrahenten waren auf der einen Seite die Berliner Regierung und Kulturverwaltung sowie der Bund (BMI und BStU), die in der Anbindung der FOGE an die Gauck-Behörde die einzig finanzierbare Zukunftschance sahen (initiiert und unterstützt vom HdZ-kritischen Flügel der ASTAK) und die sich auch inhaltlich damit ein Höchstmaß an Qualität bzw. Professionalität versprachen, auf der anderen Seite die neue ASTAK-Generation (u.a. aus dem HdZ), die auf die kritische Auseinandersetzung über das System der DDR unter »maßgeblicher Beteiligung der Betroffenen« setzte. Berliner Regierung und der Bund auf der einen Seite und ASTAK auf der anderen, vertraten also unterschiedliche Ansätze der Geschichtsaufarbeitung und verfolgten in Bezug auf die eigene institutionelle Rolle gegensätzliche Interessen.
4.5 D IE ASTAK UND DES BS T U 1993
DER
Ü BERNAHMEVERSUCH
Da inzwischen die Kritik an der Arbeit der neuen ASTAK-Führung und die Problematik der prekären Haushaltslage des Vereins – nicht zuletzt mit Hilfe der »Putschisten« – mehr und mehr in die Politik durchgesickert waren, setzte der Ausschuss für Bundes- und Europa-Angelegenheiten die Zukunft der ASTAK am 03. September 1992 auf die Tagesordnung. Rudi M., Mitglied des ASTAK-Vorstandes wurde zur Sitzung hinzugebeten, um dort die Situation der FOGE aus Sicht des Vorstandes darzustellen. Bei dieser Gelegenheit erreichte er, dass der ASTAK (vor einer etwaigen Schließung der FOGE oder gar ihrer baldigen Übergabe an den BStU) eine »Gnadenfrist« eingeräumt wurde. So erging die dringliche Beschlussempfehlung: »Der Senat soll dafür Sorge tragen, dass der ASTAK e.V. seine begonnene Arbeit über den 1. November 1992 hinaus – den Ablauf der jetzigen ABM-Maßnahme – fortsetzen und im Verlauf der nächsten sechs Monate ein geschlossenes museumspädagogisches und Archivkonzept entwickeln kann, auf dessen Grundlage dann über die weitere Förderungswürdigkeit des ASTAK e.V. beschlossen werden soll.«257
257 Abgeordnetenhaus von Berlin: Inhaltsprotokoll Nr. 12/21 vom 03.09.1992, S.5, PA Berlin; Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 12/1870 vom 03.09.1992, PA Berlin.
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Noch am gleichen Tag folgte das Berliner Parlament dieser Empfehlung. Damit gewann die ASTAK ein halbes Jahr Zeit, um den eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Obwohl die ASTAK schon wenige Wochen später, nämlich im Oktober 1992 das abverlangte Konzept (Grobkonzept) vorlegte, blieb die in Aussicht gestellte finanzielle Unterstützung durch die SenKult bzw. die Berliner Regierung aus.258 Über einen mutmaßlich konzeptionslosen Zustand der FOGE, eine »dubiose Geschäftsführung«, vom HdZ unterwanderte Vereinsstrukturen sowie angeblich veruntreute Gelder bei einem Gespräch zwischen den ASTAK-Kritikern und dem Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen alarmiert, wurden die in den Berliner Haushalt eingestellten Mittel auf Eis gelegt.259 Im Frühjahr 1993 entfachte daher der erste Streit um die Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße. Hatten bis dahin Verhandlungen über eine Eingliederung der FOGE in die BStU-Behörde nur hinter verschlossenen Türen und unter weitgehender Umgehung der ASTAK-Führung stattgefunden, machte die SenKult nun öffentlich, dass die FOGE offiziell dem BStU angegliedert werde. Die Begründung der SenKult hierzu lautete: Zunächst einmal sei die ASTAK nur vorübergehend »eingesprungen«, die Gedenkstätte zu betreiben, hatte die OFD doch der ASTAK nur bis zum 31. Mai 1994 das Haus I zur kostenlosen Nutzung übertragen. Zu diesem Zwecke seien auch nur befristet ABM-Stellen von der SenKult bewilligt worden.260 Auch habe die SenKult bis einschließlich 1992 keine institutionelle Förderung, sondern lediglich Projektmittel bereit gestellt.261 Mit Ablauf dieser temporären Sofortmaßnahmen zur Sicherung der Gedenkstätte sowie durch die angespannte Haushaltslage der Stadt Berlin, empfahl die SenKult langfristig eine Integration der Gedenkstätte in die Behörde des BStU.262 Neben den finanziellen und strukturellen Unsicherheiten begründete die SenKult diesen Integrationswunsch auch mit einer bevorstehenden Doppelung der Einrichtungen zwischen BStU und ASTAK, mit mangelnder Professionalität vor Ort sowie mit der angeblich geringen Bereitschaft der ASTAK, das im September 1992 angeforderte Konzept für die Fortführung der Trägerschaft vorzulegen.263 Letztere Bedingung hatte die ASTAK zwar mit ihrem Entwurf eines Grobkonzeptes bereits im Oktober 92’ gewissermaßen erfüllt, es wurde jedoch als Grundlage einer Weiterförderung nicht anerkannt. Daraufhin reichte der Vorstand der ASTAK im April 1993 das zur Auflage gemachte Konzept in einer überarbeiteten Version er-
258 FOGE: Entwurf einer Grobkonzeption für die Arbeit der Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße vom Oktober 1992, ArLStU, MDA ASTAK; Reuth, Ralf Georg: Kein Geld für Mielkes Schreibtisch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.03.1993. 259 U.a. Dorit S.: Vermerk vom 25.02.1992, ArLStU, FK 1. 260 Schreiben der SenKult Senator Roloff-Momin an den Vorsitzenden des Abgeordnetenhauses vom 21.04.1993, S. 2, ArLStU, FK Band 1. 261 Ebd., S. 3. 262 Ebd., S. 4. 263 Abgeordnetenhaus von Berlin: Plenarprotokoll Nr. 12/44 vom 25.02.1992, PA Berlin.
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neut ein.264 Darin machte die ASTAK weiterhin aufmerksam auf die Notwendigkeit einer dringenden Überarbeitung der Dauerausstellung und legte sie unverändert ihren Schwerpunkt auf eine Geschichtsaufarbeitung allein aus der »BetroffenenPerspektive«.265 Senator Roloff-Momins Kommentar: »Es sei recht schwierig, dahinter eine Konzeption zu entdecken«, drückte die unaufhörliche Geringschätzung aus, mit der der ASTAK inhaltlich begegnet wurde.266 Der Hinweis der SenKult, die FOGE erfülle Aufgaben, die der BStU qua Gesetz bereits erfüllte bezog sich in erster Linie auf die Informations- und Dokumentationszentren (DIZ) über das MfS, zu deren Aufbau und Unterhaltung der BStU verpflichtet war. So plante der BStU ab 1993 seinem gesetzlichen Auftrag gemäß, die Errichtung eines Dokumentationszentrums zum MfS. Nach §37 StUG war es ab 1992 neben der reinen Aktenverwaltung eine zentrale, gesetzlich verankerte Aufgabe des BStU mit der Abteilung BF, die wissenschaftliche Erforschung von Struktur, Methoden und Wirkungsweise des MfS durchzuführen sowie die Ergebnisse dieser Forschungen publikumswirksam öffentlich zu machen – u.a.a. durch die Einrichtung von entsprechenden Dokumentationszentren.267 Die ASTAK erfüllte diese BStU-Aufgabe mit dem Betreiben der Gedenkstätte im Haus I. Es lag nahe, daher an ein Zusammenführen von DIZ und FOGE zu denken. »Zu erwähnen ist hier, dass die selbstdefinierte Aufgabenstellung der ASTAK weitgehend identisch ist mit der Arbeit der neugegründeten Abteilung Forschung und Bildung beim Bundesbeauftragten […] Insoweit bleibt zu bedenken, ob und in welcher Größenordnung das Land Berlin mit Mitteln in Höhe von voraussichtlich mindestens 1 Mio. DM p.a. ab 1994 Tätigkeiten institutionell fördert, die bereits von der Abteilung Forschung und Bildung […] mit Bundesmitteln wahrgenommen werden«,
begründete der Kultursenator Roloff-Momin seine finanzpolitische Zurückhaltung gegenüber dem Berliner Parlament.268 Von einer Weiterfinanzierung der ASTAK-Gedenkstätte wurde seitens der SenKult also Abstand genommen, ergab sich mit der Übertragung der Gedenkstätte auf den BStU die Möglichkeit, die Gedenkstätte künftig über den Bund finanzieren zu können. Dies war auch im Sinne der Berliner CDU-Regierung, versuchte sie durch eine bundespolitische Übernahme Gedenkstätten zu erhalten bzw. zu etablieren, bei gleichzeitiger Entlastung des Berliner Haushaltes. Eine Platzierung der Gedenkstättenproblematik innerhalb der Enquete-Kommission, mit dem Ziel einer Aufnahme in die Bundesförderung bzw. in die Gedenkstättenkonzeption des Bun-
264 FOGE/ASTAK e.V.: Konzeption für die Arbeit der Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße vom März 1993, ArLStU, FOGE. 265 Ebd., S. 13-15. 266 Abgeordnetenhaus von Berlin: Inhaltsprotokoll Nr. 12/61 vom 26.05.1993, S. 33, PA Berlin. 267 Schreiben der SenKult Senator Roloff-Momin an den Vorsitzenden des Abgeordnetenhauses vom 21.04.1993, S. 5, ArLStU, FK Band 1. 268 Abgeordnetenhaus von Berlin: Plenarprotokoll Nr. 12/44 vom 25.02.1992, PA Berlin.
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des (wie bei Hohenschönhausen), war dazu eine der Strategien. Diese Möglichkeit bot sich einfach auch für Diepgen an, aufgrund der Verwandtschaft zum Aufgabengebiet des BStU, im Hinblick auf eine logistisch sinnvolle »Nähe« von Archiv im Nebentrakt des Haus I und Gedenkstätte sowie bezüglich anstehender Planungen eines Dokumentationszentrums des BStU. Eine solche Lösung der Trägerschaft wurde von Seiten des Bundes (dem Haushaltsausschuss des Bundestages von CDU, SPD und FDP, dem Bundesinnenministerium und dem BStU) inzwischen ebenfalls auf breiter Basis befürwortet.269 Bund, Berliner Regierung und SenKult knüpften dabei offiziell an Vorstellungen an, die bereits im November 1990 (kurz nach Eröffnung der Gedenkstätte) zur Diskussion standen.270 Damals war jedoch vereinbart worden, dass eine Anbindung der FOGE nur auf Initiative der ASTAK erfolgen könne.271 Diese Bereitschaft sahen die SenKult, Diepgen, der Bund und Gauck inzwischen durch die Gespräche mit einzelnen ASTAK-Mitgliedern gegeben. Die Empfehlungen der SenKult stießen bei der ASTAK aufgrund des vorangegangenen internen Macht- und Richtungswechsels nicht auf den erwarteten Zuspruch, sondern stattdessen auf vehementen Widerstand: »Geradezu absurd mutet es daher an, dass uns jetzt vorgehalten wird, unsere Zielsetzung sei identisch mit den Aufgaben der Abteilung BF der Gauck-Behörde, und uns deshalb eine weitere Förderung versagt wird. Es kann doch wohl nicht ernsthaft von uns verlangt werden, eine Konzeption vorzulegen, in der die Rolle des MfS als Unterdrückungsinstrument der SEDHerrschaft ausgespart bleibt. […].«272
Zudem argumentierte Drieselmann im Sinne der Neuausrichtung der ASTAKArbeit, dass eine Aufarbeitung von Opfern und Betroffenen »kostengünstiger« und effizienter zu leisten sei als von einer staatlichen Behörde. Damit vertrat die ASTAK gedenkstättenpolitisch eine konsequente Gegenposition. Die ASTAK wollte nicht aus dem laufenden Gedenkstättenbetrieb herausgedrängt werden. Während die Betroffenen andernorts mehr »Beteiligung« einforderten, wollten die Vertreter der ASTAK ihren »Rausschmiss« verhindern. Verstanden die Berliner Regierung, der Bund, Gauck und die SenKult in diesem Angebot des BStU einen »Rettungsanker« zur Sicherung der Gedenkstätte, empfanden die im Haus I sitzenden Verbände (allen voran die ASTAK) dieses Vorhaben als »feindliche Übernahme« und als eine Missachtung ihrer geleisteten Arbeit.273
269 Schreiben der SenKult Senator Roloff-Momin an den Vorsitzenden des Abgeordnetenhauses vom 21.04.1993, S. 4, ArLStU, FK Band 1. 270 Gesprächprotokoll ASTAK und Gauck zu Möglichkeiten der Anbindung der Forschungs- und Gedenkstätte für die Opfer des Stalinismus und damit verbundene Anforderungen vom 01.11.1990, ArASTAK, BStU Gauck. 271 Ebd., S. 2. 272 ASTAK: Pressemitteilung vom 14.06.1993, S. 2- 3, ArLStU, MDA ASTAK. 273 Entwurf: Schreiben der Minister des Bundes D. (CDU), A. (FDP) und P. (SPD) an die FOGE Drieselmann vom 17.06.1993, ArLStU, 51.1.
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Auf ihrer Seite wähnte die ASTAK v.a. die Berliner FDP und die Bündnisgrünen, die sich – animiert durch einen Vor-Ort-Besuch – angesichts des drohenden Endes der nicht-staatlich organisierten Geschichtsaufarbeitung gegen die SenKult und die Berliner CDU-Regierung und für den Erhalt der Vereins- und Verbandsarbeit aussprachen.274 Ein Antrag an das Abgeordnetenhaus von Berlin durch die FDP erhob die Folgefinanzierung der ASTAK und das Problem einer klaren Aufgabenabgrenzung gegenüber dem BStU zum Gegenstand, mit dem Ziel, eine langfristige Lösung für die ASTAK zu finden.275 Die Bündnisgrünen gingen noch einen Schritt weiter, indem sie ihre Forderung nach einer Dauerlösung auch auf andere Opfer- und Betroffeneninitiativen im Haus I und andernorts ausweiteten: »Der Senat wird aufgefordert 1. sicherzustellen, dass das Haus I des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit als Stätte der Erinnerung, der Forschung, der Aufklärung und politischen Bildung erhalten bleibt. 2. den im Haus I arbeitenden Opferverbänden und -vereinen ausreichen Möglichkeiten zur Beratung und Betreuung Betroffener einzuräumen und sie dazu auch finanziell dauerhaft zu fördern.«276
Es »[…] dürfe die Aufarbeitung und Hilfe nicht allein durch staatliche Behörden erfolgen«, begründeten sie ihre Forderungen – mit Erfolg.277 Am 26. Mai 1993 nahm das Berliner Parlament den Antrag in nur leicht veränderter Form an. Der Senat wurde aufgefordert bis Ende Mai ein Bericht über die Zukunft der im Haus I ansässigen Vereine vorzulegen.278 Damit hatte die ASTAK ihre gedenkstättenpolitischen Vorstellungen zumindest im Berliner Abgeordnetenhaus vorerst durchgesetzt. Obwohl mit diesem Beschluss ein klarer Auftrag an die SenKult ging, die ASTAK und die FOGE finanziell abzusichern, passierte nichts. Die Auszahlung von Fördermitteln, die im Haushalt bereits eingestellt waren, erfolgte nicht.279 Vielmehr hielten SenKult, Bund und BStU an ihren Ursprungsplänen fest. Daraufhin wandte sich die ASTAK jetzt an die Öffentlichkeit. In einer Pressemitteilung klagte sie wortgewaltig an: »Für mehr als bedenklich halten wir es aber, dass durch die Vergabe von finanziellen Zuwendungen einer Behörde einen monopolartige Vormachtstellung im Bereich der politischen Bildung und Forschung eingeräumt und gleichzeitig unabhängigen Vereinen und Initiativen, die sich mit der Aufarbeitung dieses Teil der DDR-Geschichte beschäftigen, die Existenzgrundlage entzogen wird. […] Mit aller Kraft zur Wehr setzen werden wir uns aber, wenn beab-
274 O.V.: »Haus I – wie weiter?«, in: Der Stacheldraht 3 (1993), S. 3. 275 Abgeordnetenhaus Berlin, Drs. 12/2619 vom 16.03.1993, PA Berlin. 276 Bündnisgrünen: Dringlichkeitsantrag vom 20.03.1993, Entwurf, ArLStU, 51.1; Abgeordnetenhaus von Berlin: Inhaltsprotokoll Nr. 12/58 vom 24.03.1993, S. 30, PA Berlin. 277 Abgeordnetenhaus von Berlin: Inhaltsprotokoll Nr. 12/61 vom 26.05.1993, S. 31, PA Berlin. 278 Ebd., S. 34; Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 12/2910 vom 26.05.1993, PA Berlin. 279 ASTAK: Pressemitteilung vom 14.06.1993, ArLStU, MDA ASTAK.
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sichtigt wird, uns nur die Brotsamen zu überlassen, die vom Tisch der ›Gauck-Behörde‹ fallen.«280
Dass diese Anbindung der ASTAK, zumindest von Seiten des BMI und des BStU, dann doch eher als »feindliche Übernahme«, und inzwischen weniger als ein »Rettungsversuch« angelegt war, kann u.a. einem Protokoll vom 16. Juni 1993 über ein Treffen zwischen BStU, SenKult und BMI entnommen werden.281 Das Konzept zur Übernahme des Hauses I durch den BStU basiere, laut Protokoll, auf den Prämissen »Erhalt und Anbindung«. Der Erhalt sollte durch die Weiterbeschäftigung von nur fünf »besonders qualifizierte[n] Mitarbeiter[n]« der ASTAK erfüllt sein, wollte Gauck nicht als »Enteigner« oder »Greifer« dastehen.282 Des Weiteren sollte den Vereinen, die in Haus I ihren Sitz hatten, neben personellen Übernahmen lediglich ein »Bleiberecht« eingeräumt werden. Die Prämisse »Anbindung« deutete auf einen deutlichen Einflussverlust der bisherigen Gedenkstättenbetreiber hin. Etwa sollten die verbleibenden Gruppen bzw. der »Rest-Verein« der ASTAK kein Mitspracherecht bei der Neukonzeption erhalten.283 Bei einem Treffen am 29. Juni 1993 zwischen ASTAK, LStU Berlin und SenKult wurde die Idee von »Erhalt und Anbindung« des Hauses I an den BStU konkretisiert: »Seitens der Senatsverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten und des Landesbeauftragten wurde den Vertretern der ASTAK eindringlich verdeutlicht, das es […] keine Alternative zu der mit dem Bundesbeauftragten und Mitgliedern des Deutschen Bundestages abgestimmten Konzeption gebe, […].«284
D.h., selbst in Bonn hatte sich die Ansicht durchgesetzt, »[…] dass die GauckBehörde [das] Haus I als Ausstellungs- und Dokumentationszentrum übernehmen soll«.285 Der ASTAK sowie der ansässigen Opferverbände wurden bei dem Treffen zudem Arbeitsmöglichkeiten und die Option, ggf. mögliche eigene, separate Ausstellungen durchführen zu können, angeboten. Diese sollten dann wieder mittels Projektförderungen (bis in Höhe von 350.000 DM) durch die SenKult unterstützt werden können. Insgesamt zielte die Anbindung damit auf eine vollständige Zurückdrängung der bisherigen ASTAK: »Es wurde klargestellt, dass diese Konzeption eine Neuorientierung und Umkonzipierung des ASTAK erfordern wird.«286
280 Ebd., S. 3. 281 BMI: Gesprächsprotokoll vom 16.06.93 vom 18.06.1993, S. 1, ArLStU, 51.1. 282 Ebd. Zwischenzeitlich war immerhin beabsichtigt mit dem Bund über die Übernahme von weiteren »[…] sieben Mitarbeiter/innen aus der Zahl der dort Beschäftigten […]« zu verhandeln; vgl. Abgeordnetenhaus von Berlin: Inhaltsprotokoll Nr. 12/61 vom 26.05.1993, S. 31, PA Berlin; BMI: Gesprächsprotokoll vom 16.06.93 vom 18.06.1993, S. 2, ArLStU, 51.1. 283 Ebd. 284 LStU: Gesprächsvermerk vom 01.07.1993, S. 1, ArLStU, 51.1. 285 ASTAK e.V.: Protokoll vom 28.07.1993, ArASTAK, Verein. 286 LStU: Gesprächsvermerk vom 01.07.1993, S. 1, ArLStU, 51.1.
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Im Klartext wurde der ASTAK damit das Gewehr auf die Brust gesetzt. Da das Land Berlin keine Trägerschaft des Hauses I übernehmen wollte, die bisherigen Mittel der SenKult nicht weiterbewilligt wurden (mit dem Argument leerer Kassen und eines fehlenden tragbaren Konzeptes der ASTAK) und der Bund keine direkte institutionelle Förderung beabsichtigte, blieb für die ASTAK nur noch die Annahme des Übernahmeangebotes des BStU als einzige »Überlebenschance« übrig: »Als gemeinsame Einschätzung von SenKult und LStU wurde den Vertretern des ASTAK mitgeteilt, dass der Verein vor der Alternative stehe, entweder mit veränderter Konzeption und reduzierter Aufgabenstellung weiterzuarbeiten oder sich nach Auslauf der ABM-Stellen […] und des gegenwärtigen Überlassungsvertrages […] wegen vollständiger Mittellosigkeit auflösen zu müssen.«287
Trotz dieser Bredouille versuchte der ASTAK-Vorstand beharrlich die vollständige Übernahme durch den BStU zu verhindern. Am 25. August 1993 ging sie in die Offensive und unterbreitete sie ein Gegenangebot. Die Trägerschaft der FOGE sollte gänzlich bei der ASTAK verbleiben, die Gauck-Behörde stattdessen das Erdgeschoss und die erste Etage gegen Miete für ihre Abteilung BF zur Verfügung gestellt bekommen. Neben der Trägerschaft sollten auch Führungen, das Bildungsangebot, Eintrittseinnahmen und die »Mielke-Suite« in der zweiten Etage bei der ASTAK verbleiben.288 Die ASTAK schlug damit im Grunde genommen eine »Aufteilung« des Haus I zwischen der Behörde und der ASTAK bzw. den übrigen ansässigen Vereinen vor. Nur auf Basis dieses Angebotes stelle sich der Verein eine zukünftige Zusammenarbeit mit der Gauck-Behörde vor, ist einem diesbezüglichen Schreiben an Gauck persönlich zu entnehmen: »Ein Verzicht, der über die genannten Voraussetzungen hinausgeht, kann vom Verein nicht mehr geleistet werden, da dies der Selbstaufgabe des Vereins gleichkäme.«289 Flankiert wurde dieser Vorstoß der ASTAK durch ein Rundschreiben, das u.a. an den Bundeskanzler, an den Bundesarbeitminister Norbert Blüm, an Angehörige der Bundestagsfraktionen und an Mitglieder der Enquete-Kommission des Bundestages ging und in dem vor der angeblich drohenden »Schließung des Hauses« gewarnt wurde: »Alle Mitarbeiter der Gedenkstätte halten die Schließung des Hauses zum gegenwärtigen Zeitpunkt für einen politischen Fehler […]. Für die Fortführung erscheint eine räumliche Straffung der Ausstellung sinnvoll […], insbesondere in Zusammenarbeit mit der ›GauckBehörde‹. […] Die Mitarbeiter der Forschungs- und Gedenkstätte […] bitten Sie, sich bei den anstehenden Entscheidungen für den Erhalt des Hauses und der Arbeitsplätze einzusetzen.«290
287 288 289 290
Ebd., S. 2. ASTAK e.V.: Protokoll vom 18.08.1993, ArASTAK, Verein. Schreiben von der ASTAK an den BStU vom 24.08.1993, ArASTAK, BStU Gauck. Schreiben der FOGE vom 19.08.1993, ArLStU, 51.1.
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Bei den angeschriebenen Mitgliedern des Bundestages löste der Rundbrief Befremden aus, bestehe bundesseitig doch großes Bemühen, das Haus I als Ausstellungszentrum einschließlich einer begrenzten Zahl an Mitarbeiten zu erhalten. Die Bundestagsabgeordneten appellierten an die FOGE, »[…] diese Überlegungen als Chance zu begreifen und den sich abzeichnenden ›Rettungsanker‹ nicht auszuschlagen«.291 Selbst beim Landesbeauftragten für die Unterlagen der ehemaligen Staatssicherheit Berlin (LStU Berlin), der die Anliegen der ASTAK bis dahin immer unterstützt hatte, stieß dieses Vorgehen auf Missbilligung: »Zumindest provoziert das Schreiben bei einem Leser, der die genauen Umstände nicht kennt, einen verkehrten Eindruck. Wäre ich nicht gutmütig, müsste ich diese Schreiben für bewusste Desinformation halten.«292 Nur eine Woche später stimmte der Vorstand der ASTAK bei einer Beratung zwischen BStU und SenKult einer Vereinbarung zu, die zwischen BStU und ASTAK die zukünftige Zusammenarbeit regeln sollte. Dabei machte es die ASTAK zur Bedingung, dass eine außerordentliche Mitgliederversammlung diese Vereinbarung per Abstimmung annehmen müsse: »Zur endgültigen Entscheidung ist es notwendig, eine Mitgliederversammlung einzuberufen.«293 Sie wurde für Ende September 1993 angesetzt.294 Weitere zwei Wochen später lag eine Vereinbarung zwischen BStU und ASTAK zur Unterschrift vor. Obwohl die ferner verfassten Grundsätze zu dieser Vereinbarung deutlicher als zuvor eine konstruktive Zusammenarbeit und die Gewährleistung einander ergänzende Arbeitsfelder festschrieben, beinhaltete der Vertragstext am Ende doch eine vollständige Selbstaufgabe des Vereins.295 Der gesamte Ausstellungsbetrieb inklusive Ausstellungsgegenstände sollte an die Gauck-Behörde übergehen. Auch die Rechte und Pflichten bezüglich der Räumlichkeiten sollten an den BStU abgeben werden. Der ASTAK sollten Räumlichkeiten, eventuell doch gegen Miete und Betriebskostenerstattung in noch unkonkreter Höhe vom BStU »nach seinen [BStU] Möglichkeiten« zur Verfügung gestellt werden. Der Vertrag ließ eine Unterstützung der ASTAK offen und vermied konkrete Angaben über Personalübernahmen. Es sollten lediglich Personen benannt werden, die die Übernahme zu koordinieren hätten. Die Vereinbarung sollte am 01. November 1993 in Kraft treten, »sofern die Mitgliederversammlung der ASTAK zustimmt«.296 In dieser Unklarheit wich die Vereinbarung auch von den Vorstellungen der SenKult ab, die doch ihrerseits versucht hatte, die ASTAK innerhalb des BStU weitgehend zu erhalten. U.a. hatte die SenKult zur »Absicherung möglichst vieler
291 292 293 294 295 296
Schreiben der MdB D., A. und P. an die FOGE vom 21.06.1993, ArLStU, FK Band 1. Schreiben des LStU an die FOGE vom 25.08.1993, ArLStU, 51.1. ASTAK e.V.: Protokoll vom 01.09.1993, ArASTAK, Verein. Ebd. BStU/ASTAK e.V.: Grundsätze vom September 1993, ArLStU, FK Band 1. Vereinbarung zwischen Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR und Antistalinistische Aktion Berlin-Normannenstraße vom 14.09.1993, ArASTAK, BStU Gauck.
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Mitarbeiter des Vereins« zusätzliche ABM-Anträge (sieben Anträge gemäß §249 Arbeitsförderungsgesetz und zwölf weitere Anträge für herkömmliche ABMs) befürwortet.297 Außerdem hatte sich die SenKult bei der Gauckbehörde rückversichert, dass die Instandsetzung des Hauses, die Duldung der neben der ASTAK ansässigen Vereine (BSV, HELP u.a.) und die weitere inhaltliche Aufarbeitung der Geschichte des MfS durch die ASTAK gewährleistet bleiben sollte, entsprechende »vage Formulierungen der Vereinbarung« sollten zugunsten der ASTAK ausgelegt werden.298 Des Weiteren stellte die SenKult zusätzlich fortlaufende Projektförderungen für ASTAK-eigene Veranstaltungen und Vorhaben seitens der SenKult und gemeinsam mit dem LStU Berlin in Aussicht. Um eine zwischenzeitliche Existenzgefährdung der ASTAK auszuschließen, hatte sie außerdem 72.000 DM ad hoc zur Verfügung gestellt.299 Am 14. September wurde die Vereinbarung vom Vorstand der ASTAK (namentlich Wolfgang Templin) und dem BStU unterzeichnet, obwohl die vertraglichen Regelungen das Gegenteil von dem waren, was der Vorstand der ASTAK noch wenige Wochen vorher angestrebt hatte und obwohl die Vereinbarung wegen ihrer mangelnden Klarheit auch den Vorstellungen der SenKult widersprach. Das Inkrafttreten war jetzt nur noch an das Votum der Mitgliederversammlung der ASTA gebunden. Sie lehnte am 14. Oktober 1993 mit 27:5 Stimmen diese Vereinbarung ab, wodurch alle Planungen von Seiten des BStU, einer Seifenblase gleich, zerplatzten. Die Mitgliederversammlung begründete die Ablehnung mit einer Vielzahl von Argumenten, die sie in einer Stellungnahme unter dem Titel: »Gründe für die Ablehnung der Vereinbarung zwischen der ASTAK und dem BStU« öffentlich machten.300 Hier hieß es, der Verein verliere seine Daseinberechtigung, da der satzungsgemäße Zweck der ASTAK nicht mehr erfüllt werden könne. Die Vereinbarung enthalte nur unverbindliche Absichterklärungen und keine rechtverbindlichen Aussagen bezüglich der künftigen Arbeitsmöglichkeiten des Vereins. Auch die versprochenen fünf Stellen würden nicht garantiert und wären, wenn überhaupt auf maximal drei Jahre befristet gewesen. Inhaltlich beschränke sich die Gauck-Behörde auf das MfS, die ASTAK hingegen widme sich eines umfassenderen Ansatzes, indem sie über das gesamte politische System der DDR informiere. Natürlich wurde auch kritisiert, dass das bürgerliche Engagement bei einer »Verstaatlichung« der Einrichtung verloren ginge, was gerade bei dieser Gedenkstätte einen großen Verlust bedeutete. Auch mangelte es den Mitgliedern der ASTAK in der Vereinbarung an konkreten Aussagen bezüglich einer praktischen Umsetzung der Übernahme, insbesondere im Hinblick auf Kooperationsmöglichkeiten. Die ASTAK-Mitglieder befürchteten ferner eine vollständige
297 SenKult: Bericht an das Abgeordnetenhaus von Berlin vom 20.10.1993, S. 3, ArLStU, 51.1. 298 Ebd., S. 4. 299 Ebd., S. 2. 300 ASTAK e.V.: Gründe für die Ablehnung der Vereinbarung zwischen der ASTAK und dem BStU, Oktober 1993, ArASTAK, BStU Gauck.
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Verdrängung aus den Räumlichkeiten (würden diese dann von Mitarbeitern des BStU benötigt) und eine Ausgrenzung aus der gestalterischen wie auch politischen Bildungsarbeit. Hierzu gehörten der von ihnen befürchtete Verlust der Bibliothek, die Schließung des Besuchercafés und die Übergabe der Besucherbetreuung an den BStU. Die Stellungnahme resümierte: »In der Summe haben die genannten Gründe zu der eindeutigen Ablehnung dieser Vereinbarung durch die Mitgliederversammlung geführt und führen müssen, denn es handelte sich im Grunde genommen, wenn auch nicht im streng juristischem Sinn, doch um eine ›Enteignung und Verstaatlichung‹ der vom Verein aufgebauten und betriebenen Forschungs- und Gedenkstätte.«301
Mit der Ablehnung der Vereinbarung ging aber überdies ein klares Votum für eine generelle Unabhängigkeit des Hauses I einher. So wurde der Presse verkündet: »Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße besteht auf Eigenständigkeit.« Begleitet wurde die Kampagne von einem Aufruf für eine unabhängige Geschichtsaufarbeitung, dem sich diverse prominente ehemalige Bürgerrechtler, Aufarbeitungsinitiativen sowie der Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin anschlossen.302 Die Ablehnung der Vereinbarung bedeutete somit auch eine generelle politische Absage an eine Erinnerungskultur, die maßgeblich durch staatliche Einrichtungen getragen ist. Sie wandte sich gegen eine Zentralisierung der Aufarbeitung durch eine staatliche Behörde. Die ASTAK drückte damit ihr grundsätzliches Misstrauen gegen den Staat aus sowie gegen Zentralisierungstendenzen in der Erinnerungskultur, wie die Mitglieder es aus ihrer eigenen DDR-Vergangenheit schon kannten. Die »Legende« von der »Erstürmung« der Zentrale durch die Bürger und die »Legende« von der »Auflösung des AfNS unter vollständiger ziviler Kontrolle«, spielten dabei keine unwesentliche Rolle. Sie wurden nun gezielt zur Legitimation der ASTAK und ihrer Arbeit in Haus I eingesetzt: Das ehemalige MfS, das durch Bürger »zivilisiert« und in eine Gedenkstätte umgewandelt wurde, sollte nicht wieder verstaatlicht werden. Jenseits dieser Symbolpolitik knüpften die Mitglieder damit im Grunde genommen aber auch viel eher am bundesrepublikanischen Grundsatz eines pluralistischen Gedenkens und einer dezentral gewachsenen Erinnerungslandschaft an als die politischen Vertreter. Sie unterstrichen ihren geschichtspolitischen Ansatz einer unabhängigen Aufarbeitung und eines Erinnerns und Gedenken »von unten« im Gegensatz zur Geschichte »von oben«, die die SenKult und Bund zwangsläufig auch aus finanziellen Gesichtpunkten neuerdings in Kauf nahmen.
301 Ebd., S. 2. 302 ASTAK e.V.: Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der Forschungs- und Gedenkstätte muss erhalten bleiben, Aufruf vom 16.10.1993, ArLStU, FK Band 1.
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4.6 »T OPOGRAPHIE
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Trotz des Scheiterns eines Kooperationsvertrages, hielten die SenKult, der Bund und der BStU auch in der Folgezeit an ihren Ursprungsplänen, nämlich eine staatliche Lösung für die FOGE zu finden, fest. Diese schien offiziell schon allein deshalb alternativlos, verschlang doch eine institutionelle Förderung des Hauses I, ohne Bauinvestitionen und Projektmittel, immerhin 1,5 Millionen DM pro Jahr, die das Land Berlin nicht allein aufzubringen im Stande war.303 »Insofern werden neue Verhandlungen erforderlich«, berichtete Diepgen dem Abgeordnetenhaus Anfang November 1993 und meinte damit vor allem die ASTAK, hielt Gauck doch – solange keine Alternative in Sicht war – sein Angebot aufrecht. »[…] wir [sind] jederzeit bereit, die Vertragsvereinbarung, die wir mit dem Vorstand der ASTAK geschlossen haben, wiederaufleben zu lassen«, betonte er vor dem Ausschuss für Bundes- und Europaangelegenheiten, der zu einer Anhörung zur Situation der Opferverbände und freien Aufarbeitungsinitiativen ins Abgeordnetenhaus geladen hatte.304 Dabei nutzte Gauck auch die Gelegenheit, den in diesem Zusammenhang grassierenden Gerüchten einer Enteignung bzw. Entmachtung der freien Aufarbeitungsinitiativen entgegenzusetzen, dass es seiner Behörde bei der Übernahme der FOGE vordringlich um eine Sicherstellung einer hohen Qualität der Geschichtsaufarbeitung und Vermittlung ginge. »Es ist ganz klar, dass hier eine den modernen museologischen Bedürfnissen entsprechende Variante her muss. Und ob wir diejenigen sind, die eine eigene Konzeption zu einer vorhandenen Ausstellung hinzugeben, oder ob wir eine Konzeption entwickeln in gegenseitiger Beratung mit ASTAK und einen ASTAK-Bereich darin haben – all das wäre auszuhandeln«, machte Gauck den Standpunkt seiner Behörde deutlich.305 Hierin erhielt er Rückendeckung von der SenKult, die nicht müde wurde zu betonen, dass die Unabhängigkeit der ASTAK zu keiner Zeit gefährdet und an einer Eingliederung des Vereins in die Gauck-Behörde nie gedacht gewesen sei.306 Sie warf der ASTAK vor, der Bund habe 250.000 DM pro Jahr für den jährlichen Unterhalt der FOGE zur Verfügung gestellt, der BStU zusätzlich fünf Stellen für ASTAK-Leute geschaffen. Das alles habe die ASTAK unverständlicher Weise ausgeschlagen.307 Die Problematik, dass die ASTAK mit der Abgabe des FOGEBetriebes ihren maßgeblichen Vereinszweck verloren hätte und sich ein neues Tätigkeitsfeld hätte suchen müssen, erkannte die SenKult nicht an. Entsprechend minimal fiel die weitere Unterstützung der ASTAK seitens der Berliner Senatsverwaltung fortan aus. Nur mittelfristig wurde die Arbeit der ASTAK für die Jahre 1994
303 SenKult: Bericht an das Abgeordnetenhaus von Berlin vom 27.10.1993, S. 3, ArLStU, FK Band 1. 304 Abgeordnetenhaus von Berlin: Wortprotokoll Nr. 12/45 vom 11.11.1993, S. 65, SWFKB, Bestand: »U-Boot« Hohenschönhausen 1991-1994 Band 1, Nr. 5 [Nr. 5]. 305 Ebd., S. 67. 306 Ebd., S. 89. 307 Schreiben der Senatskanzlei an Alfred Syska vom 29.07.1994, ArLStU, FK Band 1; ASTAK e.V.: Protokoll vom 18.05.1994, ArASTAK, Verein.
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bis 1996308 mit einem Haushaltszuschuss von 144.000 DM (zur reinen Deckung der Betriebskosten) und durch eine Bewilligung von fünf §249-ABM-Kräften sichergestellt, »[…] aber mehr sei nicht drin.«309 Die klaffenden Finanzierungslücken (u.a. für neue Ausstellungsprojekte) wurde ab dann immer häufiger vom LStU Berlin geschlossen.310 Während die ASTAK im Laufe des Jahres 1994 trotz gescheiterter Verhandlung um die Zukunft der FOGE mehrfach vergeblich Versuche unternahm, es wenigstens zu einer Zusammenarbeit zwischen ASTAK und BStU hinsichtlich einer Umgestaltung der Dauerausstellungen kommen zu lassen, schmiedete und verwarf die Berliner Regierung Pläne, wie die FOGE doch noch vollständig aus dem Privatverein herauszulösen sei.311 Da eine Anbindung an den BStU auf Gegenwehr gestoßen war und aussichtslos schien, hatte das Abgeordnetenhaus von Berlin am 03. Dezember 1993 den Beschluss gefasst, alternative institutionelle Lösungen für das Haus I und ihre »Untermieter« zu finden: »Der Senat wird aufgefordert, dem Hauptausschuss bis zum 30. April 1994 in einem Bericht darzustellen, wie die Arbeit der Opferverbände des untergegangenen DDR-Regimes […] langfristig finanziert werden soll. Für die ›Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße‹ sind die Möglichkeiten der Errichtung einer Stiftung ähnlich der ›Topographie des Terrors‹ zu prüfen«.312
Eine solche Stiftungsgründung brachte immerhin den Vorteil mit sich, dass der Bund sich daran theoretisch bis zu 50% beteiligen konnte. Da eine Förderung für das Haus I über die geplante Bundesgedenkstättenförderung seitens der SenKult mittlerweile als unrealistisch eingeschätzt wurde, lotete der Kultursenator beim BMI bzw. beim Haushaltsausschuss des Bundes aus, ob die Gründung einer Stiftung öffentlichen Rechts auch bundesseitig eine gangbare Alternative darstellte. »Ich wäre Ihnen nun für eine Auskunft dankbar, ob Sie im Haushaltsausschuss des Bundestages für eine Stiftung ›Normannenstraße‹ zusätzliche Bundesmittel befürworten würden«, forderte der Kultursenator Roloff-Momin die Bonner Kollegen in Sachen FOGE erneut zur Stellungnahme auf. Mit wenig Erfolg.313
308 Abgeordnetenhaus von Berlin: Inhaltsprotokoll Nr. 12/101 vom 21.09.1994, S. 53, ArLStU, FOGE. 309 Schreiben der Senatskanzlei an Alfred Syska vom 29.07.1994, ArLStU, FK Band 1; ASTAK e.V.: Protokoll vom 18.05.1994, ArASTAK, Verein. 310 ASTAK e.V.: Vermerk vom 26.08.1994, ArLStU, FOGE. 311 Schreiben der ASTAK an den BStU vom 17.01.1994, ArASTAK, BStU Gauck; Schreiben der ASTAK an den BStU vom 23.08.1994, ArLStU, FOGE; Schreiben des BStU an ASTAK e.V. vom 07.09.1994, ArASTAK, BStU Gauck; o.V.: Protokoll vom 25.10.1995, S. 7, SWFKB, Bestand: KA finanzielle Forderung der Gst HSH 1995/1996 [Finanzen 1995-1996]. 312 Regierender Bürgermeister von Berlin, Drs. 12/3556 vom 03.12.1993, SWFKB, Nr. 5. 313 Schreiben der SenKult Senator Roloff-Momin an den MdB P. vom 23.02.1994, SWFKB, Nr. 5.
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Das BMI und die Vertreter des Haushaltausschusses unterstützten eine solche Stiftungsumwandlung nicht und hielten an der Finanzierung über den BStU fest, war mit dem Stasi-Unterlagen-Gesetz doch bereits eine Grundlage geschaffen, die FOGE seitens des BStU finanzieren zu sollen.314 »Die Haltung des Bundes hat sich gegenüber den bereits im Frühjahr […] abgegebenen Äußerungen nicht geändert«, berichtete Roloff-Momin daraufhin dem es Berliner Parlament.315 Am Ende zerschlug sich die Stiftungsgründungsidee bis zum Ende des Jahres 1994 deswegen, weil Berlin sich finanziell nicht einmal mehr in der Lage sah, 50% des im Idealfall benötigten Stiftungskapitals aufzubringen.316 Weil die ASTAK eine Stiftungsgründung ebenfalls ablehnte, die BStU-Variante von vornherein von den Vereinsmitgliedern ausgeschlossen und der Berliner Geldhahn inzwischen zugedreht war, blieb ihr kaum eine andere Wahl als die Berliner Regierung gebetsmühlenartig zu ermahnen, zumindest die freien Träger des Hauses I zu subventionieren, um für den Erhalt der FOGE auf diese Weise Sorge zu tragen. »Trotz der höchst angespannten Haushaltssituation halte man es für eine moralische Aufgabe des Landes Berlin, sich den in der Stadt auf diesem Gebiet tätigen Verbänden und Initiativen zu widmen«, appellierte der Geschäftsführer der ASTAK.317 Und rein symbolpolitisch argumentierte er, es sei eben etwas Besonderes, wenn die vormals Unterdrückten in den Räumen ihrer schärfsten Unterdrücker residierten. 318 Es wurde offenbar, dass es der ASTAK – angesichts der leeren Kassen – immer weniger um differenzierte Geschichtsaufarbeitung »von unten« ging, sondern zunehmend um Selbsterhalt. Das Engagement der ASTAK für die Stasi-Opfer und die DDR-Opposition hing eng zusammen mit dem Kampf um die eigene Existenz. Der Hinweis auf eine notwendige fortlaufende gesellschaftliche Anerkennung derjenigen, die zu den Opfern des DDR-Regimes gezählt hatten und als »Revolutionäre« die »Stasi-Zentrale« wie die Pariser »Bastille« gestürmt hätten, erwies sich dabei zunehmend als einziges geeignetes Druckmittel, das »Hausrecht« zu verteidigen. – Und das, obwohl kaum noch »echte Revolutionäre« und seit Jahren keine StasiAuflöser mehr in der FOGE mitarbeiteten und die Argumente der ASTAK deshalb eigentlich zweifelhaft waren.319 Im Zuge der Planungen, die Manfred Wilke, Siegfried Suckut und Stefan Wolle bezüglich der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen parallel vornahmen, wurde aber auch aus den »eigenen Reihen«, nämlich von ehemaligen Systemkritikern und Oppositionsvertretern ein weiterer Versuch unternommen, eine Anbindung an den BStU zu forcieren. Im Zusammenhang mit ihrer Konzeption zur Errichtung einer Ge-
314 Schreiben der SenKult Senator Roloff-Momin an den MdB P. vom 05.04.1994, ArLStU, 51.1. 315 Schreiben der SenKult Senator Roloff-Momin an das Abgeordnetenhaus von Berlin vom 25.10.1994, S., 2, ArASTAK, Bestand: BStU Gauck ab 01.01.1999 [BStU 1999]. 316 Ebd. 317 Abgeordnetenhaus von Berlin: Inhaltsprotokoll Nr. 12/101 vom 21.09.1994, S. 50, ArLStU, FOGE. 318 Schreiben der ASTAK an Alfred Syska vom 12.10.1994, ArLStU, FK Band 1. 319 O.V.: Protokoll vom 25.10.1995, S. 3, SWFKB, Finanzen 1995-1996.
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denkstätte auf dem Gelände der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt BerlinHohenschönhausen hatte sich das Wilke-Gremium für eine »Topographie der Repression« ausgesprochen, bestehend aus der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen (als Opfer-Ort) und dem Haus I (als Täter-Ort). Als Voraussetzung dieser »Topographie der Repression« wurde die Anbindung des Hauses I an den BStU empfohlen: »Eine ›Topographie der Repression‹, in der die flächendeckende Bespitzelung und Überwachung der DDR-Bevölkerung dokumentiert würde, sollte mit diesem Ort auch künftig verbunden sein. Es scheint sinnvoll, dass der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen das Haus I übernimmt, um ein solches Dokumentationszentrum zu errichten. Die Fachkommission Hohenschönhausen schlägt vor, die Konzeption für diese Gedenkstätten aufeinander zu beziehen und ihre Arbeit miteinander abzustimmen, vielleicht sogar unter einem gemeinsamen Dach zu bündeln […]«.320
Diese Empfehlung wurde im Schlussbericht des Wilke-Gremiums noch einmal bekräftigt: »Es ist in der Diskussion, das Haus I unter die Obhut des Bundesbeauftragten für die StasiUnterlagen zu stellen. Welche endgültige Lösung gefunden wird, bleibt abzuwarten. In jedem Fall ist der Bundesbeauftragte gemäß §37 Stasi-Unterlagen-Gesetz verpflichtet, eigene Dokumentations- und Ausstellungszentren einzurichten und wird schon bald entscheiden müssen, wo das Berliner Zentrum stehen soll.«321
Dass sich hinter dem Wilke-Papier eine konservative Geschichtspolitik verbarg, wurde bereits dargelegt. Interessant für den Zusammenhang mit Haus I ist, dass das Wilke-Papier konzeptionell eine direkte Verbindung zwischen Haus I und BerlinHohenschönhausen herstellte. Das Wilke-Gremium ging zwar inhaltlich nicht konkret auf eine mögliche Gestaltung der FOGE ein, es ist jedoch nahe liegend, dass für das Haus I innerhalb der »Topographie der Repression« ein vergleichbares konservatives Geschichtsbild – wie bei der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen – angedacht war. Die Planungen zur »Topographie der Repression« wurden durch spätere Konzepte abgemildert und ersetzt, wodurch die Frage nach der Zukunft der FOGE auch in diese Richtung weiterhin offen blieb.
4.7 Z WEITER Ü BERNAHMEVERSUCH
DES
BS T U 1996
Erst im Laufe des Jahres 1996 wagte die Behörde des BStU ihrerseits erneut einen Anlauf zur Anbindung des Hauses I. So wurde ein Treffen zwischen Vertretern der ASTAK und des BStU, bei dem es zunächst nur um eine gemeinsame MfSAusstellung gehen sollte, für den BStU zum Anlass, die Planungen zur Einrichtung
320 Suckut, Siegfried/Wilke, Manfred/Wolle, Stefan: Konzeption für die Errichtung einer Gedenkstätte (1994), S. 4, ArLStU, 67.21. 321 Ebd.
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eines Informations- und Dokumentationszentrums des BStU (IDZ) im Haus I wieder aufzunehmen.322 Doch wie war es dazu gekommen? – Nach dem Dissens 1993 hatte die ASTAK mehrmals dem BStU angeboten, bei Ausstellungen zu kooperieren.323 Gekränkt vom Verhandlungsverlauf lehnte die Abteilung BF des BStU dies jedoch strikt ab. Erst als es dort zu einem Personalwechsel kam, bot sich für die ASTAK und für den BStU die Chance eines Neuanfangs.324 Sowohl Gauck als auch die ASTAK erkannten die Signalwirkung eines solchen Gemeinschaftsprojektes an die Öffentlichkeit, die bis dahin hauptsächlich die Verstrittenheit der unterschiedlichen Aufarbeitungsinitiativen mit dem BStU wahrgenommen hatte. Zudem hatte die Symbolkraft des Hauses I für die Behörde des BStU an Attraktivität nicht verloren. Obwohl seitens der ASTAK außer Frage stand, dass sie an einer alleinigen Trägerschaft der FOGE festhielt und mit einer gemeinsamen Ausstellung keinesfalls den Einzug eines BStU eigenen Museums in das Haus I meinte, beabsichtigte der neue Kopf der Abteilung BF eben genau das. D.h., die Idee eines gemeinsamen Ausstellungsprojektes mündete im Vorschlag, sogleich das ganze zentrale IDZ des BStU in der ersten Etage des Objektes der Begierde unterzubringen. Im Dezember 1996 richtete die Abteilung BF ein entsprechendes Schreiben an Drieselmann: »Sehr geehrter Herr […] Drieselmann, nach unseren Vorgesprächen über die Möglichkeit, das zentrale Informations- und Dokumentationszentrum unserer Behörde im Haus I unterzubringen, kommt es mir darauf an, nun rasch zu konkreten Vereinbarungen zu kommen.«325 Hierzu sollten – über den Aufbau des IDZ in der ersten Etage hinaus – das Überlassen eines erheblichen Teiles der Arbeitsräume sowie das Abschließen eines auf Dauer angelegten Mietvertrages gehören. »Zur Beschleunigung des Vorhabens und um ein deutliches Zeichen zu setzen, sollten bereits Anfang 1997 die schon vorhandenen Teile unserer Ausstellung in den freien, renovierten Räumen der 1. Etage aufgebaut werden«, preschte die Abteilung BF vor.326 Die Abteilung BF hatte es anscheinend sehr eilig mit der Eröffnung des IDZ, waren nunmehr fast drei Jahre nach dem letzten Versuch verstrichen, es im Haus I unterzubringen. Jedoch schätzte die Abteilung BF die dahingehende Kooperationsbereitschaft der ASTAK viel zu optimistisch ein. In einem Schreiben von Mitte Januar 1997 bestätigte Drieselmann erwartungsgemäß lediglich eine Beteiligung des BStU an einem gemeinsamen Ausstellungsprojekt »[…] zu Struktur und Arbeitsweise des MfS«, für das die ASTAK die Räumlichkeiten und Gegenstände bereitstellen wollte. Der avisierte Einzug des zentralen IDZ ins Haus I wurde stattdessen
322 ASTAK e.V.: Gesprächsnotiz vom 30.07.1996, ArASTAK, BStU Gauck. 323 Schreiben der ASTAK an den BStU vom 17.01.1994, ArASTAK, BStU Gauck; Schreiben der ASTAK an den BStU vom 23.08.1994, ArLStU, FOGE; Schreiben des BStU an ASTAK e.V. vom 07.09.1994, ArASTAK, BStU Gauck; o.V.: Protokoll vom 25.10.1995, S. 7, SWFKB, Finanzen 1995-1996. 324 Ebd. 325 Schreiben des BStU Abteilung BF an die ASTAK vom 28.12.1996, S. 1, ArASTAK, BStU Gauck. 326 Ebd., S. 2.
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dementiert. Vielmehr betrachtete die ASTAK die Ausstellungselemente des BStU nur als einen ergänzenden Beitrag der ansonsten weiterhin autonom betriebenen FOGE.327 Die Abteilung BF reagierte sichtlich irritiert, indem sie dem Geschäftsführer der ASTAK, Drieselmann, nochmals erklärte, worum es dem BStU nach wie vor bei der anstehenden Kooperation ginge: »Um meinerseits für größtmögliche Klarheit zu sorgen, sei darauf verwiesen, dass es uns darum geht, […] ein eigenes Informations- und Dokumentationszentrum in diesen Räumen zu errichten. Es kann uns nicht genügen, lediglich für die von der ASTAK geplante Ausstellung zur DDR-Geschichte Informationstafeln zur MfS-Tätigkeit zuzuliefern. Was entstehen soll, muss klar als Einrichtung des BStU erkennbar und ausgewiesen sein.«328
Diesem Schreiben ist auch zu entnehmen, dass es dieses mal nicht um eine vollständige Absorption des Haus I und der FOGE ging, sondern dass diesmal an eine »Verbundlösung« – gedacht war, d.h. an eine enge Verzahnung des IDZ mit der FOGE in Form eines »partnerschaftlichen Mit- und Nebeneinanders«.329 Statt eine Vereinbarung aufzusetzen, die zu einer Selbstaufgabe des Vereins aufforderte, wurde nun – entsprechend dieser partnerschaftlichen Lösung – an einen »Duldungsvertrag« zwischen ASTAK und BStU gedacht.330 Zielte der BStU somit weiterhin auf eine langfristige Lösung für sein IDZ ab, zog die ASTAK durch diese Vorstellung des BStU schon bald einen gewaltigen Strich. Als zu Tage trat, dass die geplante IDZ-Ausstellung in weiten Teilen identisch mit der ASTAK-Ausstellung war bzw. sogar über sie hinauswies, schlug die ASTAK im Frühjahr 1997 den »Duldungsvertrag« aus und forderte sie stattdessen eine »Projektvereinbarung«. 331 Damit wurde das IDZ zu einem Projekt heruntergestuft, das räumlich, zeitlich und inhaltlich einen begrenzten Umfang gehabt hätte.332 Mit den Worten: »In diesem Zusammenhang halten wir auch die Benennung ›Zentrales Informations- und Dokumentationszentrum des BStU‹ für eine Bezeichnung unseres Projektes, die nicht geeignet ist, die Idee der Kooperation auszudrücken«, wies die ASTAK den BStU zurück in die Schranken und schob sie den inzwischen weitreichenden IDZ-Plänen einen Riegel vor.333
327 Schreiben der ASTAK an den BStU Abteilung BF vom 10.01.1997, ArASTAK, BStU Gauck. 328 Schreiben des BStU Abteilung BF an die ASTAK vom 29.01.1997, S. 1, ArASTAK, BStU Gauck. 329 Ebd., S. 2. 330 Schreiben des BStU Abteilung BF an die ASTAK vom 07.03.1997, ArASTAK, BStU Gauck. 331 BStU: IDZ Berlin Haus I, 1. Etage Themenplan, 2. Fassung, o.D., StAufarb, Gedenkstätte Normannenstraße (Geschäftsablage o. Sign.). 332 Schreiben der ASTAK an den BStU Abteilung BF vom 07.03.1997, o.D., ArASTAK, BStU Gauck. 333 Ebd.
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Schließlich schaltete sich Gauck persönlich ein, um bestehende Vorurteile von Seiten der ASTAK und ihre Befürchtungen, beim IDZ handle es sich um einen erneuten Versuch einer »feindlichen Übernahme« durch den BStU, aus dem Weg zu räumen. In einem Schreiben an den Vorstandsvorsitzenden der ASTAK klärte er unmissverständlich auf, dass die IDZ-Unterbringung im Haus I nicht zum Ziel habe, »[…] die ASTAK aus diesem Haus zu verdrängen und die Betreuung dieser historischen Räume selbst zu übernehmen«.334 Und er machte deutlich: »Ich strebe, ganz im Gegenteil, eine enge, dauerhafte Kooperation zwischen der ASTAK und meiner Behörde in diesem Hause an.«335 Die Daseinberechtigung des IDZ im Haus I rechtfertigte er mit der historischen Bedeutung dieses Ortes als ehemalige Befehlszentrale des MfS sowie mit seinem gesetzlichen Auftrag, der – genauso wie die ASTAK – ein »Kind« der Auflösung des AfNS war: »Gerade hier wäre der beste Ort um – meinem gesetzlichen Auftrag entsprechend – durch Ausstellung und Dokumentation über die Strukturen, Methoden und Wirkungsweise des Staatssicherheitsdienstes zu informieren.«336 Gaucks Schreiben stieß bei der ASTAK auf Ablehnung. Dies brachte ihr Vorsitzender in einem Antwortschreiben an Gauck punktgenau zum Ausdruck. Die ASTAK, so erläuterte er die Absage, habe von Beginn an Vorbehalte gehabt und hege bezüglich eines gemeinsamen Projektes andere Vorstellungen als der BStU: »Wir haben in unserem Vorstand die gesamte Problemlage mehrfach eingehend erörtert. Als Ergebnis müssen wir leider feststellen, dass Ihr gesetzlicher Auftrag zur Errichtung eines IDZ nicht mit unserer Idee eines gemeinsamen Projekts vereinbar ist.«337 Das Angebot eines gemeinsamen Ausstellungsvorhabens hielt die ASTAK allerdings aufrecht und signalisierte: »Selbstverständlich sind wir darüber hinaus an einer weiteren guten Zusammenarbeit mit Ihnen und Ihrer Behörde interessiert.«338 Gemeint war hiermit allerdings lediglich eine Beteiligung des BStU an ASTAK eigenen Ausstellungen und die Entwicklung gemeinsamer Werbematerialien.339 Daraufhin zog sich der BStU im Juli 1997 von seinem Vorhaben zurück: »Eine bloße Beteiligung meiner Behörde an Ihrer Ausstellung kann uns natürlich nicht genügen […]. Nun werden wir uns um eine andere Unterbringung bemühen.«340 Zudem wies Gauck die Haltung der ASTAK zurück, beide hätten von Anfang an nur über eine Zulieferung für ASTAK-Ausstellungen verhandelt. »Ihre Kehrtwendung überrascht meine Mitarbeiter und mich deshalb umso mehr«, 341 kritisierte Gauck die »kalten Füße«, die der Verein bekommen habe, als er allmählich reali-
334 Schreiben des BStU Gauck an die ASTAK vom 23.06.1997, S. 1, ArASTAK, BStU Gauck. 335 Ebd. 336 Ebd. 337 Schreiben der ASTAK an den BStU Gauck vom 10.07.1997, ArASTAK, BStU Gauck. 338 Ebd. 339 Ebd. 340 Schreiben des BStU Gauck an ASTAK vom 21.07.1997, S. 1, ArASTAK, BStU Gauck. 341 Ebd.
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siert habe, wie weitreichend die Kooperationsplanungen des BStU von Anfang an geplant waren.
4.8 D IE ASTAK
UND DIE
E NQUETE -K OMMISSIONEN
Die weiteren Versuche, eine langfristige Lösung für die FOGE zu finden, standen in enger Verbindung zur zweiten Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit« und zur Gedenkstättenkonzeption des Bundes von 1999. Ende des Jahres 1997 sowie 1998 wurden die ASTAK und der BStU mehrfach zu Vermittlungsgesprächen mit dem Vorsitzenden der Enquete-Kommission Siegfried Vergin eingeladen, um endlich gemeinsam nach einem tragfähigen Konzept für die ehemalige Zentrale des MfS zu suchen und um in diesem Zusammenhang das IDZ doch noch dort unterzubringen.342 Aber diese Schlichtungsversuche verfehlten ihr Ziel. Schon das erste Treffen am 04. Dezember 1997 führte zu keiner Annäherung, sondern schürte eher den Streit. Die ASTAK beurteilte die Haltung des BStU, das IDZ – komme was wolle – mit einem erhöhten Bedarf an Räumlichkeiten weiterhin im Haus I unterbringen zu wollen, als unverschämt. Ein Vertreter der ASTAK hegte sogar den Verdacht, »[…] dass der BStU seine Ausstellung in der Mauerstraße nicht eröffnen wolle, um weiter Druck auf die ASTAK auszuüben«.343 Anlässlich des neunten Jahrestages der Besetzung der Zentrale verurteilte die ASTAK die Pläne des BStU daher öffentlich als »Entmündigung engagierter Bürger« und »feindliche Übernahme«.344 Gegenüber Vergin argumentierte sie: »Die ASTAK verstehe sich als Teil der Bürgerbewegung, die das Haus I 1990 erkämpft habe.«345 Daher müsse es als »das letzte Symbol der Bürgerbewegung« auch ein »Ort der Bürgerbewegung« bleiben.346 Ganz anderer Ansicht waren dagegen Vergin und Gauck. Gauck dementierte die Vorwürfe der ASTAK. Er wies die öffentlichen Beschimpfungen und Unterstellungen entschieden zurück und machte unmissverständlich klar, dass es ihm und seiner Behörde zu keiner Zeit darum gegangen sei, die ASTAK zu verdrängen.347 Vergin fühlte sich aufgrund der Informationspolitik der ASTAK nur noch »verschaukelt«.348 Da offenkundig war, dass die ASTAK eine Eingliederung in die Behörde des BStU kategorisch ablehnte und auch der BStU das Verhältnis zur ASTAK als »nachhaltig gestört« beurteilte, nahm Vergin daraufhin den Vorschlag der ehemaligen Bürgerrechtlerin Angelika Barbe auf, die Trägerschaft des Hauses I zwar wei-
342 Schreiben des BStU an den Staatsminister Pfeifer vom 21.01.1998, ArLStU, FOGE. 343 Deutscher Bundestag: Kurzprotokoll vom 03.02.1998, S. 2, ArLStU, FOGE. 344 Flocken, Jan von: Feindliche Übernahme, in: Focus Nr. 6/1998; Schreiben des BStU an die Redaktion des Focus vom 04.02.1998, ArLStU, FOGE. 345 Deutscher Bundestag: Kurzprotokoll vom 03.02.1998, S. 2, ArLStU, FOGE. 346 Ebd., S. 3. 347 Ebd., S. 2. 348 Ebd., S. 3.
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terhin auf den Bund zu übertragen, es nun jedoch zum Sitz der zukünftigen Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur zu machen.349 »Der Konflikt zwischen den Verbänden und der Behörde des BStU wäre entschärft, wenn die Behörde gleichrangig mit den Verbänden als Untermieter im Haus der Stiftung ihr IDZ errichten würde […] Dieser Lösungsvorschlag muss ab sofort Gegenstand der parlamentarischen Beratung zum Stiftungsgesetz werden«, legte Barbe allen Beteiligten nahe. Zudem empfahl sie, dass die Stiftung für die verbleibenden Etagen und Räume ein Gesamtnutzungskonzept erarbeiten solle.350 Dieses sollte das gesetzesgemäße Dokumentationszentrum des BStU zur Tätigkeit des MfS und den Verbleib der Vereine im Haus I als zentrale Grundvoraussetzungen berücksichtigen. Alle Vereine – inkl. die ASTAK – sollten in Anerkennung ihrer bisherigen verdienstvollen Arbeit Arbeitsmöglichkeiten im Haus I behalten.351 Ein solcher Kompromiss kam nicht nur den einerseits nach Autonomie und andererseits nach staatlicher Existenzsicherung strebenden Initiativen entgegen, sondern entsprach zudem ganz den Vorstellungen Berlins. Die SenKult hoffte, sowohl die finanziellen Unwägbarkeiten als auch die Konflikte mit den Opferverbänden auf diese Weise los zu werden, sie befürwortete die Vorschläge uneingeschränkt.352 Der LStU Berlin, der parallel für die SPD-Fraktion in der Enquete-Kommission vertreten war, sah darin in erster Linie ein Instrument der Deeskalation und Persistenz. Schließlich brachten Anfang Juni 1998 über 48 Abgeordnete die Anregungen von Barbe und Vergin als überfraktionellen Dringlichkeitsantrag noch kurz vor der Veröffentlichung der Empfehlungen der Enquete-Kommission ins Berliner Parlament ein.353 Und der Chef der Senatskanzlei setzte sich beim BMI sogar persönlich dafür ein, dass es sich für den Sitz der Stiftung in der ehemaligen MfS-Zentrale erwärme.354 Mit einer Übertragung der »Hausrechte« auf die noch zu gründende Bundesstiftung hielt sich die Enquete-Kommission zurück. Eckpunkte dieser Empfehlung wurden nicht im Abschlussbericht fixiert.355 Dort heißt es vielmehr: »Das Haus I ist aufgrund seiner herausragenden historischen Bedeutung als Zentrale des MfS, als Ort historischer Dokumentation und bürgerschaftlicher Aufarbeitung zu erhalten. Das Haus I sollte – gemäß den Vorschlägen des Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR und der ASTAK unter Leitung der Enquete-Kom-
349 Ebd., S. 4-5. 350 Angelika Barbe: Handschriftlicher Vermerk an den LStU Berlin vom 15.01.1998, ArLStU, FOGE. 351 Ebd. 352 SenKult: Vermerk vom 30.09.1997, SWFKB, Bericht der Bundesregierung 1997, Bericht der Enquete-Kommission 98’, Nr. 28 [Nr. 28]; SenKult: Vermerk vom 15.09.1998, S. 2, SWFKB, Bestand: Haus 1, Nr. 29 [Nr. 29]. 353 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 13/2825 vom 08.06.1998. 354 Schreiben der Senatskanzlei Chef der Senatskanzlei Kähne an das BMI Staatssekretär Carstens vom 27.07.1998, SWFKB, Nr. 29. 355 Fachkommission Haus I: Anatomie der SED-Diktatur (2001), S. 25f, StAufarb, Bestand: Gedenkstätte Normannenstraße (Geschäftsablage o. Sign.).
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mission – künftig Sitz des Zentralen Informations- und Dokumentationszentrums (IDZ) des BStU sowie Sitz der bisher ansässigen Aufarbeitungsinitiativen, insbesondere der ASTAK sein.«356
Des Weiteren wurden Bund und Land gebeten zu prüfen, ob die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur eine Gesamtkonzeption zur Nutzung des Haus I als Gedenkstätte von gesamtstaatlicher Bedeutung erarbeiten könne.357 D.h., die EnqueteKommission schloss das Haus I als Stiftungssitz aus, es sollte lediglich Beratungsgegenstand bleiben. Ziel dieser Empfehlung war es nicht mehr nur einen Weg zu finden, Teile des BStU doch noch im Haus I unterzubringen, sondern mit dem BStU und der Stiftung dort zudem Maßnahmen zu ergreifen, die den ehemaligen Mielkesitz zusammen mit der ASTAK und den dort ansässigen Initiativen v.a. für eine Aufnahme in die Gedenkstättenkonzeption tauglich machten. Die Aufnahme in die Bundesförderung wurde somit abhängig gemacht von einem hohen Grad an Beteiligung bundeseigener Einrichtungen sowie von der Bereitschaft der privaten Aufarbeitungsorganisationen, mitzuziehen. Hatte die ASTAK bereits 1994 ein Interesse entwickelt, in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes aufgenommen zu werden, wurde diese Möglichkeit einer Dauerfinanzierung nun als Hebel eingesetzt, die u.a. die ASTAK zwangen, gestellte Forderungen des Bundes voll und ganz zu akzeptieren.358 Dieser Passus im Schlussbericht blieb nicht ohne Einspruch von SPD-Mitgliedern der Kommission und ihren Sachverständigen. In einem Sondervotum der Abgeordneten Braune, Gleicke, Hiller, Hilsberg, Meckel, Spiller und der Sachverständigen Burrichter, Faulenbach und Weber wiesen diese daraufhin, dass es nicht Aufgabe der Bundesstiftung sein könne, Konzeptionen für Aufarbeitungsinitiativen zu erarbeiten: »Die Erarbeitung von Konzepten anderer Trägerschaft ist nicht Aufgabe der Bundesstiftung. Sie können nur auf Anforderung der Träger erbeten werden.«359 Damit war auch gemeint, dass es nicht Aufgabe der Kommission war, die Arbeit eines Vereines zu reglementieren. Die ASTAK berief sich im Zuge weiterer Planungen auf dieses Sondervotum, das ihr die Autonomie hinsichtlich der FOGE zusicherte.
4.9 D IE ASTAK UND DIE G EDENKSTÄTTENKONZEPTION DES B UNDES 1999 Durch den Enquete-Bericht in den Rang einer potenziellen Trägerin gehoben, die eine Einrichtung von nationaler Bedeutung betreibt, forderte die ASTAK sofort entsprechende Rechte ein. Da die ehemalige Zentrale des MfS im Schlussbericht der Enquete-Kommission zweifelsohne als ein Ort von gesamtstaatlicher Bedeutung eingestuft wurde, und der Betrieb der FOGE außerdem noch alternativlos bei der
356 357 358 359
Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 1, 1999), S. 639. Ebd. ASTAK e.V.: Protokoll vom 09.03.1994, S. 3, ArASTAK, Verein. Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 1, 1999), S. 639.
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ASTAK lag, nutzte der Verein die sich bietende Gelegenheit, nun zu versuchen als alleiniger Betreiber der FOGE mit dem Haus I in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes aufgenommen zu werden.360 Da die grundsätzlichen Kriterien erfüllt schienen, ging die ASTAK davon aus, dass für eine solche Aufnahme dem Anschein nach nur noch ein fachwissenschaftlich gestütztes Konzept fehlte. Um einem etwaigen Konzept der Stiftung zur Aufarbeitung zuvor zu kommen, gab die ASTAK deshalb noch im Sommer 1998 die Erstellung eines eigenen Konzeptes in Auftrag: »Nach gründlicher Beratung mit anderen Vereinen und Initiativen hat die ASTAK wegen der dringlichen Notwendigkeit, zukünftige Perspektiven für die Weiterarbeit der Forschungs- und Gedenkstätte NORMANNENSTRASSE zu erarbeiten, den Beschluss gefasst, von externen Experten die bisherige Arbeit bewerten und eine Konzeption für die künftige Gestaltung von Haus I erstellen zu lassen. [Herv. i.O.]«361
Der Hinweis auf »externe Experten« gab eine Unabhängigkeit und Objektivität allerdings nur vor; tatsächlich »neutral« waren die beauftragten Sachverständigen nicht. So entschied sich die ASTAK nämlich ausschließlich für Experten aus der ehemaligen Bürgerrechtszene der DDR, die bekannt für ihre BStU-kritische Haltung waren und den bürgerschaftlichen Initiativen durchweg loyal gegenüberstanden. Auf diese Weise stellte der Verein sicher, dass das Konzept inhaltlich den Status quo natürlich weitgehend bestätigte. Entsprechend fiel das im September 2001 veröffentlichte Konzept (im Folgenden: Thaysen-Papier) von Hildigund Neubert (Bürgerbüro e.V.), Klaus Schröder (Forschungsverbund SED-Staat, FU Berlin), Wolfgang Schuller (Universität Konstanz) und Uwe Thaysen (Universität Lüneburg) aus. Wenig überraschend empfahl es, die FOGE unabhängig von etwaigen mitansässigen Bundeseinrichtungen für eine Aufnahme die Gedenkstättenkonzeption vorzubereiten. Des Weiteren bestätigte es grundsätzlich die nationale, ja gesamtstaatliche Bedeutung der FOGE und des Haus I, die durch die Anwesenheit und das Engagement unabhängiger Initiativen nicht geschmälert, sondern erst sichtbar gemacht worden sei. Inhaltlich empfahl es einen Dreiklang zwischen »Erinnern und Gedenken«, »internationaler Begegnung und politischer Bildung« und der »Beratung von Opfern der Diktatur und der Dokumentation von Einzelschicksalen«.362 Obwohl die historische Bedeutung des Ortes deutlich vorgibt, dass es sich bei Haus I in erster Linie um einen »Täter-Ort« handelt, sollte es im Einklang mit den
360 FOGE: Einladung zur Pressekonferenz vom 10.09.2001, ArLStU, Bestand: Fachkommission Haus 1 Normannenstraße/Berlin-Lichtenberg Band 3 [FK, Band 3]. 361 Neubert, Hildigund/Schröder, Klaus/Schuller, Wolfgang/Thaysen, Uwe: Haus I des Ministeriums für Staatssicherheit. Konzeptionen und Gestaltungsvorschläge zur Arbeit in der ehemaligen Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR unter nationalen und internationalen Aspekten, Berlin 2001, S. 5, StAufarb, Gedenkstätte Normannenstraße (Geschäftsablage o. Sign.). 362 Ebd., S. 7.
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Partikularinteressen der ansässigen Bürgerinitiativen sowohl zu einem Ort der Opfer und Unterdrückten als auch zu einem Ort der ehemaligen DDR-Opposition und des Widerstandes, d.h. zu einem »Helden-Ort« werden. Das Haus I sollte vor allem in letzterer Hinsicht eine Aufwertung erfahren und fortan das zentrale Symbol der »Friedlichen Revolution« von 1989/90 darstellen. Nahe lag, dass der ehemalige Mielkesitz daher auch personell weiterhin eine »Bastion« der »Freiheitskämpfer« bleiben sollte: »Durch die Arbeit verschiedener Initiativen wurde dieses Haus […] zu einem Ort, wo sich vor allem Widerständige und Leidtragende der SED-Herrschaft auf unterschiedliche Weise mit Geschichte und Folgen dieser Diktatur beschäftigten. Das Haus der Täter wurde zu einem Haus der Verfolgten und Widerständler und zu einem Ort der Aufklärung über die untergegangene zweite deutsche Diktatur.«363
Die Gegner der SED-Diktatur hätten hier quasi in der Höhle des Löwen einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der sozialistischen Diktatur geleistet, hieß es.364 Überlegungen zur inhaltlichen Ausrichtung der Gedenkstättenarbeit folgten stark polarisierenden sowie geschichtspolitisch konservativen Ansätzen. Den »Tätern« sollten die »Widerständler« gegenüber gestellt werden. Das war mit ihrer Charakterisierung des Hauses I als einen Täter- und Opfer- bzw. Helden-Ort gemeint. Dieser dichotomen Ausrichtung der Gedenkstätte folgend, wurde überdies empfohlen, direkte Analogien zur NS-Diktatur herzustellen: »In vergleichender Perspektive wird die Zeit der NS-Diktatur einbezogen.«365 Der Duktus des Konzeptes legt zudem die Vermutung nahe, dass das DDR-Regime als mindestens ebenso totalitär wie der NS-Staat dargestellt werden sollte, wenn nicht gar als noch totalitärer hinsichtlich der geheimdienstlichen Durchdringung der Gesellschaft. Die DDR-Staatssicherheit sei schlimmer als die Gestapo gewesen, lautete die leitende Prämisse, die die Intension, rassistische und antisemitische Dimension sowie das Ausmaß der Gewalt der Gestapo (Deportation, systematische Folter, Erschießungen) einfach unterschlug. Neben diesen totalitarismustheoretischen Gleichsetzungen der beiden deutschen Geheimdienste in Ausstellungen und in der politischen Bildungsarbeit, sollte zudem die Rolle des Widerstandes und der Opposition massiv in den Vordergrund rücken: »Hier kann es gelingen, […] die spezifischen deutschen Widerstands- und Oppositionsformen in der kommunistischen Diktatur nachzuzeichnen und damit die Macht- und Herrschaftsstrukturen des Regimes im Sinne antitotalitärer Prävention transparent zu machen.«366 Entsprechende einseitige Beurteilungen des 15. Januar 1990, die Klassifizierung der Herbst-89’-Ereignisse als genui-
363 Ebd., S. 10; vgl. Mehlig, Holger: »Normannstraße: Genugtuung am Ort der Täter«, in: Berliner Zeitung vom 14.09.1999 364 Micke, Dana: »Mielkes Dienstsitz im Visier«, in: Märkische Zeitung vom 23.10.2001. 365 Neubert, Hildigund/Schröder, Klaus/Schuller, Wolfgang/Thaysen, Uwe: Haus I des Ministeriums für Staatssicherheit (2001), S. 12, StAufarb, Gedenkstätte Normannenstraße (Geschäftsablage o. Sign.). 366 Ebd., S. 24.
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ne »Revolution von unten«, die Überbetonung des demokratischen Bildungsauftrages der ehemaligen Widerständler und Oppositionellen und schließlich die Proklamierung der Gedenkstätte zum Sinnbild des »Einsatzes von einst Diktaturunterworfenen für die Erziehung zur Demokratie« veranschaulichen die Stoßrichtung der Experten, die damit mehrheitlich die Interessen des eigenen Milieus wiedergaben und weniger einen distanzierten Blick.367 Entsprechend wurde das Haus I im Thaysen-Papier als Symbol des »finalen Aufstandes des Anspruchs auf Wahrheit und Freiheit […] gegen die DDR-Diktatur« und als Anerkennungsstätte zur »Würdigung ihres [oppositionellen] Widerstandes und ihres Engagements als Botschaft an die Nachgeborenen« gedeutet.368 Im Endeffekt sollte dem »Horrorszenario« und der Skurrilität des MfS plakativ und demonstrativ das positive Gegenbild »Opposition und Widerstand« gegenüber gestellt werden. Dass das Ende der DDR-Staatssicherheit am 15. Januar 1990 auch ohne Bürgerbesetzung politisch schon entschieden war, dass die Auflösung des AfNS eher einer »Selbstauflösung« glich, dass die Anfänge der Forschungs- und Gedenkstätte zunächst nicht dem hehreren Ziel folgten, demokratische Bildungsarbeit zu leisten, sondern durchaus geprägt waren von DDR-Strukturen und dem Engagement von ehemaligen MfS-Mitarbeitern, blieb im Thaysen-Papier unerwähnt. D.h., die »Niederlagen« der Bürgerrechtsbewegungen und des Bürgerkomitees, ihre Instrumentalisierung und ihre viel zu späte Anerkennung wurden – vermutlich nicht einmal bewusst – ausgespart, damit am Ende das gewünschte dichotome Geschichtsbild, der Heldenmythos der »Bürger aus dem Volk« sowie ganz bestimmte Legitimationsansprüche auf das Haus I nicht verblassten. Um die Legitimation der ansässigen Vereine zu stärken und die Chancen auf eine Aufnahme in die Bundesförderung zu erhöhen, empfahl das Thaysen-Papier eine engere und intensivere Zusammenarbeit zwischen den Vereinen, den Ausbau internationaler Kooperationen und eine Professionalisierung sowie Systematisierung der Gedenkstättenarbeit (Bibliothek, Archiv, Ausstellungswesen).369 Dabei sollte der besondere Charakter der Einrichtung nicht zerstört, die Geschichtspropaganda der SED konterkariert und die Macht- und Herrschaftsmechanismen delegitimiert werden. Die Gedenkstätte sollte in Einklang mit der Delegitimation der DDR auch einen Beitrag leisten zur Anerkennung der »großen Helden« und »kleinen Opfer«. Neben diesen mythologischen, Schwarz-Weiß-geprägten Facetten der zukünftigen Gedenkstättenarbeit betonte das Thaysen-Papier die Notwendigkeit, das Haus I zu einem »Lernort der Demokratie« weiter auszugestalten, u.a. durch einen multiperspektivischen Zugang.370 Inwiefern ein solcher Zugang überhaupt noch möglich war, angesichts der von Bürgerrechtlern dominierten Geschichtsdarstellung, ließ das Papier offen. Der Verweis auf eine zu berücksichtigende Multiperspektivität bei der Geschichtsvermittlung und politischen Bildungsarbeit suggerierte daher nur, dass die Arbeit im Haus I sich an die Kriterien der Enquete-Kommission – zumin-
367 368 369 370
Ebd., S. 20. Ebd. Ebd., S. 21. Ebd., S. 23.
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dest dem Anspruch nach halten – würde. Wie die Gedenkstättenarbeit diesen Anspruch tatsächlich umzusetzen hätte – wurden doch Führungen vorwiegend durch ehemalige Bürgerbewegte, Bürgerrechtler bzw. politisch Verfolgte geleistet und umfasste die Ausstellung ausschließlich die Mielke-Suite, MfS-Devotionalien, MfS-Observationstechnik, Ausstellungen zu Opposition und Widerstand sowie das Ende der DDR – blieb im Thaysen-Papier »Zukunftsmusik«. Um die Vereine in ihrer Position nicht zu sehr zu schwächen und im Sinne einer Beibehaltung einer pluralistischen Erinnerungslandschaft, empfahl das ThaysenPapier ein Fortbestehen des Status quo, z.B. ein Verbleib der Gebäudezuständigkeit beim Land Berlin. Das Belassen der Immobilie beim Land sollte Zentralisierungstendenzen, wie sie bei einer Anbindung an den Bund bzw. an Bundesbehörden gegeben sein würden, entgegenwirken. Die Vorherrschaft des BStU sowie der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur wurde abgelehnt. Lediglich die Finanzierung des Trägervereins der Gedenkstätte sollte durch Bund und Land gemäß der Gedenkstättenkonzeption erfolgen.371 Im Grunde genommen drückte das Thaysen-Papier den gesamten Widerspruch der FOGE Normannenstraße aus: Einerseits versuchte die ASTAK vor allem aus politischen Gründen gegenüber dem Bund autonom zu bleiben, andererseits bemühte sie sich um eine Aufnahme in die die staatliche Bundesförderung und gab es immer wieder Anstrengungen in diese Richtung. Einerseits propagierte die ASTAK einen differenzierten und multiperspektivischen Ansatz der politischen Bildungsarbeit, andererseits goutierte sie ein polarisiertes, selbstunkritisches Geschichtsbild. Einerseits verlangte die ASTAK nach schonungsloser Aufklärung, andererseits leugnete sie Teile ihrer eigenen »Wurzeln«. In Bezug auf das abzudeckende Spektrum der FOGE ging das Thaysen-Papier darüber hinaus kaum über die Konzepte »der ersten Stunde« 1990 (das Grobkonzept von Heinz M. und die Ideenskizze von Ulrich W.) hinaus. Von Staatsseite wurde das Papier abschätzig als »[…] wenig überzeugend bezeichnet. Der finanzielle Teil sei unrealistisch und ein zukunftsfähiges Konzept fehle«.372 Zu einem anderen Ergebnis konnten Vertreter der öffentlichen Hand aber auch gar nicht kommen, verfolgten sie parallel gegenteilige konzeptionelle und institutionelle Interessen und legten sie nur einen Monat später ein konkurrierendes Konzept zur Zukunft von Haus I vor, dessen Hergang und Inhalt im Folgenden näher dargestellt werden.
4.10 D AS H AUS I ALS ZENTRALER O RT DER »ANATOMIE DER SED-D IKTATUR « Das Thaysen-Papier stand nämlich nicht für sich allein. So hatte es sich der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (BKM Naumann) und die Berliner Regierung in Folge des Abschlussberichtes der Enquete-Kommission parallel zur Aufgabe ge-
371 Ebd., S. 21. 372 SenKult: Ergebnisprotokoll vom 14.09.2001, ArLStU, Bestand: Fachkommission Haus 1 Normannenstraße/Berlin-Lichtenberg Band 4 [FK, Band 4].
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macht, sich nun ebenfalls konkreter mit der langfristigen Zukunft von Haus I zu befassen.373 Dies schloss noch bis in den November 1998 Überlegungen und Beschlüsse ein, die Immobilie Haus I an den Bund zurück zu übertragen und es neben dem Sitz des BStU-IDZ – entgegen den Empfehlungen der Enquete-Kommission – doch zum Sitz der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur zu machen.374 »Insbesondere aus inhaltlichen Gründen (neben den finanziellen Aspekten) sollte die Senatskanzlei […] alles in Kräften stehende tun, dass die Stiftung ihren Sitz am authentischen Ort nimmt, um das Gebäude endlich einer sinnvollen Konzeption zuzuführen«, deutet die SenKult ihre Erwartungen in Bezug auf eine Professionalisierung der DDRAufarbeitung an, die sich mit dem Wechsel der Trägerschaft verband.375 In diesem Sinne schrieb der Chef der Senatskanzlei an den Parlamentarischen Staatssekretär des BMI: »Keines ist aber wohl als Sitz einer Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur besser geeignet als das Haus I der ehemaligen MfS-Zentrale […].«376 Die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur entschied trotz aller politischen Interventionen gegenteilig. Am 03. September 1998 beschloss der Stiftungsrat eine konzeptionelle Gestaltung und die Trägerschaft von Haus I aus den gleichen Gründen abzulehnen wie auch die Übernahme und Gestaltung der Gedenkstätte BerlinHohenschönhausen.377 Obwohl es für Archivzwecke zu klein war, bevorzugte die Stiftung als zukünftigen Sitz das »Haus der Demokratie«. Als Interimslösung wurden zunächst für eine Dauer von zwei Jahren Räume in der Otto-Braun-Straße angemietet und das Haus I höchstens zur längerfristigen Unterbringung des Archivs bzw. der Bibliothek in Betracht gezogen.378 Das Signal war eindeutig: Um nicht in die Querelen der dort ansässigen Initiativen mit dem BStU hineingezogen zu werden, favorisierte sie einen neutralen Standort. Dies entsprach inzwischen der Taktik des Bundes insgesamt. Man ging behutsamer als bisher mit dem Haus I und den dortigen Aufarbeitungsinitiativen um, und vermied es vorschnell langfristige Verbindlichkeiten einzugehen. So zog sich auch der BStU vorläufig zurück und eröffnete er sein IDZ im November 1998 an anderer Stelle, nämlich in den Räumen des ehemaligen Ministeriums des Innern der DDR.379 Erst im Frühjahr 1999 nahm schließlich eine Koordinierungsrunde im Auftrag des BKM und des neuen Berliner Kultursenators Radunski die Planungen zum
373 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 13/2825 vom 08.06.1998; Abgeordnetenhaus von Berlin: Beschluss Nr. 98/54/14 vom 26.11.1998, SWFKB, Nr. 29. 374 Ebd. 375 SenKult: Vermerk vom 15.09.1998, SWFKB, Nr. 29. 376 Schreiben der Senatskanzlei Chef der Senatskanzlei Kähne an das BMI Staatssekretär Carstens vom 27.07.1998, SWFKB, Nr. 29. 377 Abgeordnetenhaus von Berlin: Inhaltsprotokoll Nr. 13/20 vom 16.09.1998, S. 8, SWFKB, Nr. 29. 378 SenKult: Vermerk vom 15.09.1998, S. 2, SWFKB, Nr. 29; Schreiben der Senatskanzlei Chef der Senatskanzlei Kähne an die SenKult Senator Radunski vom 23.02.1999, SWFKB, Nr. 29; Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 13/3531 vom 28.02.1999, PA Berlin. 379 Siemons, Mark: Darf ich nichts zu sagen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.11.1998.
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Haus I wieder auf. Den Empfehlungen der Enquete-Kommission direkt folgend, hatte der Stiftungsrat der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur am 16. Februar 1999 den BKM gebeten, eine Arbeitsgruppe zwischen Bund und Land Berlin unter Beteiligung der Stiftung einzusetzen, in der die zukünftige Nutzung des Hauses I beraten und Verhandlungen eingeleitet werden sollten.380 Da das Haus I in der ersten Fassung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes nicht berücksichtigt worden war und eine Überarbeitung für Herbst 1999 noch ausstand, verband sich damit auch das Ziel, für das Haus I auf diese Weise zumindest eine kurzfristige Aufnahme zu erwirken.381 Bereits beim ersten Koordinierungstreffen wurde allerdings offenbar, dass die Aufnahme des Haus I in die Bundesförderung so schnell nicht zu verwirklichen war. Weder gab es angesichts der hohen Sanierungs- und Investitionskosten finanzielle Sicherheit, noch entsprach die inhaltliche Arbeit der ASTAK den erforderlichen Kriterien. Eine institutionelle Bundesförderung über die Gedenkstättenkonzeption des Bundes war damit vorerst ausgeschlossen. Vertreter des BKM, der SenKult und der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur kamen zusammen mit Vertretern des BStU und der SenFin darüber hinaus zu dem Ergebnis, dass erst einmal eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme der bisherigen Ausstellungstätigkeit der ASTAK zu erfolgen habe und zu diesem Zweck eine Fachkommission einzuberufen sei. Diese Fachkommission sollte mit Hilfe eines Eckpunktepapiers Antworten liefern auf bis dato offene Grundsatzfragen und Möglichkeiten einer Professionalisierung des Haus I aufzeigen.382 Der Empfehlung, die Besetzung politisch so neutral wie möglich zu gestalten sowie potenzielle Nutzer auszuschließen, wurde nur im Hinblick auf den letzteren Punkt konsequent gefolgt.383 So wurde die Fachkommission unter Ausschluss von Vertretern der ASTAK und weiterer in Haus I ansässiger Vereine, sowie schließlich auch ohne einen Vertreter des BStU am 20. März 2000 einberufen.384 Ansonsten setzte sie sich maßgeblich aus namhaften Vertretern aus Politik und Verwaltung von Bund und Land (Siegfried Vergin, Martin Gutzeit) sowie Vertretern der Fachwissenschaft (Gabriele Camphausen, Rainer Eckert, Karl Wilhelm Fricke) und der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (Wolfgang Kusior) zusammen, alle
380 Fachkommission zur Erarbeitung von Vorschlägen zur zukünftigen Nutzung von Haus I: Protokoll vom 10.04.2000, ArLStU; SenKult: Vermerk vom 10.05.1999, SWFKB, Nr. 29. 381 SenKult: Ergebnisprotokoll vom 19.06.1999, SWFKB, Nr. 29. 382 Ebd., S. 2; SenKult: Vermerk vom 18.10.1999, SWFKB, Bestand: Fachkommission Haus 1 Normannenstraße/Berlin-Lichtenberg Band 2 [FK, Band 2]; SenKult: Mitteilung an das Abgeordnetenhaus von Berlin vom 16.2.2000 [Entwurf], SWFKB, Nr. 29. 383 Schreiben von Siegfried Vergin an das BKM Knut Nevermann, o.D., SWFKB, Bestand: Haus 1, Nr. 29.1 [Nr. 29.1]. 384 SenKult: Ergebnisprotokoll vom 28.01.2000, SWFKB, Nr. 29.1; SenKult: Vermerk vom 14.02.2000, SWFKB, Nr. 29.1; LStU: Protokoll vom 10.04.2000, SWFKB, Nr. 29.1.
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mehrfach bereits beteiligt an den Enquete-Kommissionen bzw. vergleichbaren Fachkommissionen (wie beispielsweise zur Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen) oder durch ihre Position innerhalb der »Aufarbeitungsszene« prädestiniert. Vorsitzender wurde Siegfried Vergin. Sein Stellvertreter wurde Martin Gutzeit, der dem Status quo in Kenntnis der Geschichte der ASTAK ebenfalls kritisch gegenüberstand.385 Sonstige Teilnehmer an den Sitzungen waren Vertreter der SenKult, die ebenfalls die BStU-Lösung bevorzugte, und (nur bis Oktober 2000) die ehemalige Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe.386 Die Einsetzung der Fachkommission stieß bei der ASTAK natürlich auf Kritik. Am 24. August 2000 richtete Jörg Drieselmann an Wolfgang Kusior von der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur bezüglich der Ausgrenzung der ASTAK in der Fachkommission ein Schreiben: »Auch wir haben von der Existenz einer Kommission gehört, die sich mit Haus I beschäftigen und eine Gesamtkonzeption erarbeiten soll. In einem Minderheitsvotum haben die Abgeordneten der SPD […] vor geraumer Zeit darauf hingewiesen, dass die im Haus I tätigen Initiativen selbständige Körperschaften sind, denen man schlecht eine Konzeption für ihre Arbeit vorschreiben könne. Aus unserer Sicht wäre es also angebracht gewesen, falls diese Kommission existiert und sie sich dem unterstellten Gegenstand tatsächlich widmet, die Initiativen von Beginn an einzubeziehen.«387
Kusior antwortete am 08. September und wies Drieselmanns Hinweis als nicht den Tatsachen entsprechend zurück: »Hinsichtlich der von Ihnen angesprochenen Kommission ist die Stiftung nicht der richtige Ansprechpartner. Diese Arbeitsgruppe arbeitet im Auftrag des Bundesbeauftragten für Kultur und Medien mit Unterstützung durch die Berliner Senatsverwaltung für Kultur. […] Um jedoch Missverständnisse zu vermeiden, kann ich Ihnen mitteilen, dass die Kommission keine Konzeptionen für die derzeit in Haus I tätigen Vereine erarbeiten wird. Dies ist in der Tat, wie Sie bemerkten, Sache der jeweiligen Vereine selbst.«388
Dieses Antwortschreiben ist insofern widersprüchlich, als es selbstverständlich Aufgabe der Kommission war, ein Konzept für das Haus I zu erarbeiten, das die ASTAK und die übrigen Vereine und deren Verbleib unmittelbar betraf. Auch war die Stiftung personell vertreten durch Wolfgang Kusior, so dass er in der Tat einer der richtigen Ansprechpartner war. Die Kommission war also angehalten, ein Gesamtnutzungskonzept zu erstellen, welches einen angemessenen institutionellen Rahmen für eine Übernahme in die
385 Ebd., S. 4. 386 SenKult: Ergebnisprotokoll vom 11.10.2000, SWFKB, Nr. 29. 387 Schreiben von Jörg Drieselmann an Wolfgang Kusior vom 24.08.2000, S. 2, StAufarb, Bestand: Gedenkstätte Normannenstraße (Geschäftsablage o. Sign.). 388 Schreiben von Wolfgang Kusior an Jörg Drieselmann vom 08.09.2000, StAufarb, Bestand: Gedenkstätte Normannenstraße (Geschäftsablage o. Sign.).
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Bundesförderung gewährleisten sollte.389 Von einer ergebnisoffenen Auseinandersetzung über die Zukunft des Haus I war die Kommission – nicht zuletzt aufgrund ihrer personellen Besetzung und Interessenlage – meilenweit entfernt. So machte der Vorsitzende der Fachkommission Vergin von vornherein keinen Hehl daraus, dass für den Bund im Grunde genommen nach wie vor eigentlich nur ein Einzug des IDZ und eine Unterhaltung des Hauses durch den BStU in Frage kämen. Diese Marschrichtung machte er bereits bei der ersten Sitzung deutlich: »Es wäre sinnvoll, bald das Gespräch mit dem Bundesbeauftragten [für die Stasi-Unterlagen] zu suchen, da Bundesmittel leichter zugänglich würden, wenn eine Bundesbehörde Mitnutzer wird.«390 Genauso hielt es auch der Vertreter des BKM, der bei einer der ersten Sitzungen der Fachkommission ebenso klarstellte: »In jedem Fall sei der Bund verpflichtet, bei einer Beteiligung, gleich welcher Art, die gesetzlichen Aufträge anderer Bundeseinrichtungen in diesem Bereich zu berücksichtigen; dazu gehöre insbesondere der BStU.«391 Mit anderen Worten, was weder BStU noch SenKult in eigener Verhandlungssache mit der ASTAK geschafft hatten, sollte nun die »von oben« eingesetzte Fachkommission unter Vorgabe größtmöglicher Neutralität erreichen. A priori war die grobe gedenkstättenpolitische Richtung also vom Bund klar vorgegeben. Entsprechend vorhersehbar fiel das Ergebnis aus: »Die Fachkommission sieht in der Erhaltung des Hauses I und in seiner Erschließung als Dokumentations- und Bildungszentrum ›Anatomie der SED-Diktatur – Staatspartei und Staatssicherheit der DDR‹ […] eine gesamtstaatliche, nationale Aufgabe. Mit dem vorgelegten Gesamtnutzungskonzept ist aus Sicht der Fachkommission eine Grundlage geschaffen, um das Haus I seiner Bedeutung gemäß in das Eigentum des Bundes zu überführen.«392
Inhaltlich sah das Konzept, das in 17 Sitzungen und zweier »Expertenanhörungen« im Laufe des Jahres 2000 und 2001 entstand, also eine vollständige Umorientierung der FOGE in nahezu allen Bereichen vor. Die einzelnen Aspekte des Konzeptes seien hier überblicksartig vorgestellt. Entgegen den Vorstellungen von Neubert, Schröder, Schuller und Thaysen sollte das Haus I nicht mehr ein Ort des Gedenkens und Dokumentierens des Widerstands und der Opposition sowie der MfS-Täter sein, sondern die Herrschaftsmechanismen des MfS und der SED-Diktatur insgesamt dokumentieren. Das Haus I sollte somit ausschließlich »Täter-« und »System-Ort« sein. Widerstand und Opposition sollten nur noch am Rande berücksichtigt werden: »Haus I ist aus Sicht der Fachkommission ein historisch-authentischer Ort von herausragender Bedeutung, der an die Geschichte des MfS wie der SED-Diktatur insgesamt erinnert. Die
389 Ide, Robert: »Kampf um Erich Mielkes Büro«, in: Der Tagesspiegel vom 13.09.2001. 390 LStU: Protokoll vom 10.04.2000, S. 2, SWFKB, Nr. 29.1; SenKult: Vermerk vom 26.09.2000, SWFKB, Nr. 29.1. 391 SenKult: Ergebnisprotokoll Entwurf vom 30.01.2001, S. 2, SWFKB, Nr. 29.1. 392 LStU: Protokoll vom 10.04.2000, S. 2, SWFKB, Nr. 29.1.
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Bedeutung des MfS lässt sich nur im Zusammenhang der kommunistischen Diktatur und Ideologie fassen. Die Fachkommission empfiehlt daher, das Haus I nicht allein als Ort der Darstellung der Tätigkeiten des MfS zu begreifen, sondern als eine umfassende Dokumentation zu Anatomie der SED-Diktatur einzurichten.«393
Dabei sollte es nicht zu einer Simplifizierung des Ansatzes z.B. auf den »StasiStaat« kommen. Es sollte nicht mehr nur »Stasi-Museum« sein, sondern die Geheimpolizei als kardinale Voraussetzung staatssozialistischer Systeme thematisieren. Gerade das Zusammenspiel von MfS, Politik und System sollten einer solchen Reduktion entgegenwirken: »Eine Ausstellung im Haus I muss aus Sicht der Fachkommission daher mehr umfassen als eine bloße Dokumentation der Tätigkeit des MfS, es geht um die Darstellung der ›Anatomie der SED-Diktatur‹.«394 Hierzu gehöre, laut Fachkommission auch die Thematisierung der Rolle der Justiz. Das Haus I sollte als Täter-Ort eine zentrale Stellung innerhalb der Erinnerungslandschaft zur DDR-Vergangenheit einnehmen. Das Haus I sollte dabei in seinem Stellenwert der »Topographie des Terrors« gleichgestellt werden. Versäumnisse, die bei der »Topographie« gemacht wurden, sollten beim Haus I vermieden werden.395 Gleichzeitig sollte auch die Überwindung der SED-Diktatur berücksichtigt werden. Gerade die Vielfalt der ansässigen Aufarbeitungsinitiativen und deren bürgerschaftliche Verwurzelung sollte als ein wichtiges Charakteristikum des Hauses I für die Zukunft erhalten bleiben und fortentwickelt werden.396 Hierzu sollten die Vereine weiterhin Arbeitmöglichkeiten vor Ort erhalten und auch eigene Ausstellungsprojekte möglich bleiben. Eine Einbeziehung in die neue Ausstellungs- und Bildungskonzeption sollte jedoch explizit vermieden werden: »Das für die o.g. Gruppen selbstverständliche und legitime Einfließen von Parteinahme und persönlicher Betroffenheit und die daraus resultierende Qualifizierung von Ereignissen und Themen bewegen sich in einem eigenen spezifischen Bewertungsrahmen, der nicht in Einklang mit einer sachlich-nüchternen Geschichts- und Erinnerungsarbeit gebracht werden kann. […] Damit soll den anderen Bereichen im Haus keineswegs die Existenzberechtigung abgesprochen werden, nur sollten diese Bereiche als eigenständige Privatangebote erkennbar bleiben und innerhalb des Hauses deutlich abgegrenzt sein. Eine Vermischung der jetzigen Informationsangebote mit den geplanten neuen Bildungsangeboten unter ein und demselben Siegel wäre unzulässig. […] Leitlinie ist ein präzise unterschiedenes Nebeneinander, nicht ein vermischtes Miteinander.«397
393 Fachkommission Haus I: Anatomie der SED-Diktatur (2001), S. 10, StAufarb, Gedenkstätte Normannenstraße (Geschäftsablage o. Sign.). 394 Ebd., S. 12. 395 Ebd., S. 11. 396 Ebd., S. 23. 397 Camphausen, Gabriele/Eckert, Rainer: Eckpunkte-Papier zur künftigen Ausstellung in Haus I, Berlin 2000, S. 2, ArLStU, FK, Band 2.
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Das neue Dokumentations- und Bildungszentrum im Haus I sollte in seinen Inhalten, seinen Vermittlungsformen und seiner Ausstellungsarchitektur den Standards moderner zeithistorischer Museums- und Dokumentationsarbeit entsprechen. Ein Höchstmaß an Professionalisierung sollte dabei Grundsatz sein, entgegen der bisher als »laienhaft« und »unseriös« beurteilten Ausstellung der ASTAK. Gleichzeitig sollte ein heterogenes Geschichtsbild, d.h. kein vorgefertigtes, kein einheitliches wiedergegeben werden: »Die inhaltlichen Angebote richten sich an den Besucher als selbständigen Betrachter.« Beim Besucher sollten offene Fragen, Problembewusstsein und eine eigenständige Auseinandersetzung mit Geschichte geweckt werden.398 Räumlich sollten für die Ausstellungen und Dokumentationen unter Umständen und nach Abwägung der authentischen historischen Bausubstanz »Veränderungen im Grundriss« vorgenommen werden, sprich: Entkernungen.399 Die Ausstellung und Dokumentation sollte das Erd- bzw. Sockelgeschoss, die Zwischenetage, die erste und zweite Etage umfassen, d.h. den gesamten Bereich der ASTAK-Räumlichkeiten. Die Frage, welche Räumlichkeiten noch für die Vereine verbleiben würden, wurde im Konzept offen gelassen. Inhaltlich sollte sich die Ausstellung entlang einer historischen Zeitleiste und orientiert an den politisch-historischen Phasen der DDR-Geschichte in sieben Module gliedern: 1.) 1945-1949 Wurzeln und Anfänge der Diktatur bis zur Staatsgründung, 2.) 1949-1953 Anfangs- und Krisenjahre, 3.) 1953-1961 »Tauwetter« und Herrschaftssicherung bis zum Mauerbau, 4.) 1961-1971 »Konsolidierung« der SED-Herrschaft bis zum Machtantritt Honeckers, 5.) 1971-1976 »Aufbruch«: Erwartungen und Hoffnungen, internationale Entspannungspolitik und innenpolitische Repression, 6.) 1977-1989 Erosion und Niedergang und 7.) 1989/1990 Friedliche Revolution und Überwindung der SED-Diktatur.400 Vergleichbar mit der Konzeption zur Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, sollten auch hier in Vertiefungsebenen auf Spezialthemen gesondert eingegangen werden. Im Ergebnis entsprach dieses Ausstellungsvorhaben in seinem Ausmaß weitgehend dem »Haus der Geschichte II«, wie es bereits vom MfDG durch Kurt W. im Jahr 1990 geplant war. Der wesentliche Unterschied bei dieser neuen Version der Fachkommission bestand in ihrem negativen Vorzeichen. Während die MfDGKonzeption die DDR-Geschichte weitgehend systemunkritisch anging und das »Haus der Geschichte II« als Paralleleinrichtung zum Original angelegt war, entsprach die Ausstellungskonzeption der Fachkommission stattdessen einem Negativabdruck vom »Positiv« HdG in Bonn. Der »Erfolgsgeschichte BRD« im Bonner HdG sollte im Haus I die »Diktaturgeschichte der DDR« gegenüber gestellt werden. Trotz des Anspruchs auf Neutralität, Heterogenität, Professionalität, Sachlichkeit, etc. war der Fachkommissions-Konzeption diese Parallele inhärent; diese Tendenz lag zumindest sehr nahe.
398 Fachkommission Haus I: Anatomie der SED-Diktatur (2001), S. 31, StAufarb, Gedenkstätte Normannenstraße (Geschäftsablage o. Sign.). 399 Ebd., S. 32. 400 Ebd., S. 36.
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Einer platten Anwendung der Totalitarismustheorie, die besonders die Gleichartigkeit beider deutscher Diktaturen hervorhob, entsprach das Konzept dabei jedoch nicht. Im Gegenteil. Die Kommission setzte auf dezidierte Diktaturanalyse, ohne der These eines »roten Holocausts« zu folgen und betonte den Wert der Unterschiedlichkeit verschiedener Verfolgungsperioden, der sich auch in einer NSunabhängigen Diktaturaufarbeitung der SBZ/DDR-Vergangenheit widerspiegeln sollte. Mit den Worten: »Die Promotoren solch ungezügelter TotalitarismusVorstellungen degradieren die Verfolgung im Kommunismus zu einer Ableitung der NS-Verfolgung und binden sie an die Konjunkturen der Auseinandersetzunge mit dem Nationalsozialismus«, grenzten sich die Vertreter der Fachkommission geschichtspolitisch deutlich von den Hardlinern ab, die in der Gedenkstätte Hohenschönhausen ein »rotes Dachau«, in Mielke einen »rot angestrichenen Heydrich« und dementsprechend auch im Haus I das »kommunistische Reichssicherheitshauptamt« sehen wollten.401 In Bezug auf die Koexistenz von BStU und den ansässigen Vereinen im Haus I, folgte die Fachkommission der von Anfang an gesetzten Vorgabe, den Behördensitz und seine museologische Arbeit definitiv in die ehemalige MfS-Zentrale zu verlegen. Ein Einzug des BStU ins Haus I wurde daher nahe gelegt. Die Trennung von BStU und Haus I (und damit die Trennung von Archiv und Museum) sollte aufgehoben werden, gemäß dem gesetzlichen Auftrag (37§ StUG) und gemäß den ersten Planungen zu einer FOGE im Zuge der Auflösung 1990 sowie entsprechend der Empfehlung der Enquete-Kommission.402 Mit dem Appell: »Die Einrichtung einer dauerhaft gesicherten staatlich unterstützen Dokumentation an diesem Ort entspricht daher den Forderungen aus dem Herbst 1989. Mehr als ein Jahrzehnt danach müssen diese Ideen endlich realisiert werden«, wurde diese Empfehlung untermauert.403 Als »nationales Monument« gehöre das ehemalige MfS überdies »nicht in die Verfügungsgewalt privater Vereine und Initiativen […], sondern [ist] öffentlichrechtlich zu verantworten«, wurde Position bezogen.404 Die bestehende Ausstellung des IDZ sollte allerdings nicht übernommen werden, entspräche sie nicht den Anforderungen des neuen, größer und umfassender angelegten Dokumentationszentrums »Anatomie der SED-Diktatur«.405 Bezüglich der Trägerschaft des Hauses I wurde folglich und ebenfalls wenig überraschend empfohlen, das neue Dokumentationszentrum »Anatomie der SED-Diktatur« in die Obhut der BStU (Marianne Birthler) zu geben: »Das Haus I wird in das Eigentum des Bundes überführt. Im Bundeshaushalt werden zusätzliche Mittel zum Erhalt der Bausubstanz des Hauses I bzw. zu seiner Restaurierung und Er-
401 Henke, Klaus-Dietmar: »Anatomie des SED-Staates«, in: Frankfurter Rundschau vom 19.03.2002 402 Fachkommission Haus I: Anatomie der SED-Diktatur (2001), S. 24f, StAufarb, Gedenkstätte Normannenstraße (Geschäftsablage o. Sign.). 403 Ebd., S. 27. 404 Ebd. 405 Ebd., S. 41.
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schließung als Dokumentations- und Bildungszentrum bereitgestellt. […] Im Geschäftsbereich der Behörde der BStU wird im Benehmen mit dem Bundesminister des Innern oder durch den Bundesminister selbst eine unselbständige Stiftung Haus I gegründet. Das Haus I wird in die Trägerschaft der Stiftung überführt.«406
Diese Empfehlung entstammte direkt Vergins Feder, der mit Unterstützung des BKM von Anfang an keine Alternative zugelassen hatte.407 Für die Bundesübernahme und Stiftungsgründung wurden mehrere Argumente angeführt: die dringend nötige Sanierung des Komplexes in zweistelliger Millionenhöhe könne gewährleistet und eine Übertragung in den Bundesbesitz würde der gesamtstaatlichen und nationalen Bedeutung des Hauses gerecht werden.408 Da das Land Berlin über keinerlei Mittel verfüge und aufgrund der notwendigen landesseitigen Kofinanzierung somit auch eine Aufnahme in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes ausgeschlossen sei, da aber auch Projektmittel das Haus I langfristig nicht sicher stellten, wurde die Gründung einer unselbständigen Stiftung Haus I unter dem Dach der BStU empfohlen: »Vor diesem Hintergrund liegt eine Zuständigkeit der BStU für den Erhalt des Hauses I aus politischen und rechtlichen Gründen nahe. Die Fachkommission sieht die Zuständigkeit auch aus fachlichen Gründen gegeben […].«409 Damit sollte das Haus I über die Behörde der Bundesbeauftragten dem BMI unterstellt sein, als einzige Gedenkstätte in der BRD (alle anderen unterstanden dem BKM). So sehr sich die Kommission auch bemühte, die ansässigen Vereine bzw. Initiativen und ihre Arbeit zu würdigen und in der Konzeption zu berücksichtigen, insgesamt bedeutete dieses Konzept eine »Ohrfeige«. Das Konzept wandte sich vollständig gegen ein Fortbestehen des Status quo und sah eine Herabwürdigung ihrer Existenz im Haus I zu »Statisten« vor. Das Konzept beinhaltete keine kleinteilige, bis dato »authentische« bzw. »urdemokratische« Gedenkstätte, sondern die »große Lösung«. Dass es den Vereinen gerade in ihrer Ablehnung von »Hierarchien« und »Monopolen« darum ging, aus der DDR gewohnte zentralistische und obrigkeitsstaatliche Strukturen zu vermeiden, ignorierte die Kommission vollständig. Vielmehr strebte die Kommission das Gegenteil an. Den Preis einer Zentralisierung und Verstaatlichung des Gedenkens und eines vollständigen Verlustes der Deutungsmacht, gerade an diesem Ort, wollten die Ansässigen nicht bezahlen. Hierfür stand das Thaysen-Papier. Die Kosten einer Zentralisierung und Verstaatlichung zur Professionalisierung der Aufarbeitung und zum Erhalt des Ortes als Gedenkstätte nationaler Provenienz wolle und müsse die Kommission hingegen gerne schultern, konterte das Konzept der Fachkommission.
406 Ebd., S.55. 407 Schreiben von Siegfried Vergin an die Mitglieder der Fachkommission »Haus I« vom 14.08.2001, ArLStU, FK, Band 3; SenKult: Ergebnisprotokoll vom 14.09.2001, ArLStU, FK, Band 4. 408 Fachkommission Haus I: Anatomie der SED-Diktatur (2001), S. 48f, StAufarb, Gedenkstätte Normannenstraße (Geschäftsablage o. Sign.). 409 Ebd., S. 51.
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Das Thaysen-Konzept und das Fachkommissionskonzept standen einander diametral gegenüber. Das Thaysen-Konzept befürwortete eine »Geschichte von unten« (d.h. der Betroffenen aus Opposition, Widerstand Opfergruppen), das Fachkommissions-Konzept wiederum verfolgte, aufs Ganze gesehen, eine »Geschichte von oben«. Das Thaysen-Papier legte den Schwerpunkt auf die »Revolution« und auf »Opposition und Widerstand«, anhand derer die DDR-Geschichte dargestellt werden sollte, das Kommissions-Papier legte den Schwerpunkt auf die Herrschaftsverhältnisse innerhalb der SED-Diktatur. Während die Kommission einem strukturund politikgeschichtlichen Ansatz den Vorzug gab, gab das Thaysen-Papier der Erfahrungs- und Betroffenengeschichte den Vorrang. Machte das Thaysen-Papier die Arbeit der Zeitzeugen und Betroffenenverbände zum Anker authentischer Geschichtsvermittlung, dabei durchaus einem emotionalen, subjektiven und moralisierenden Pathos folgend, strebte das Kommissionspapier nach größtmöglicher Professionalität, Objektivität und Distanz, sowie nach weitgehender Verhinderung von Manipulation und Indoktrination. Interessant ist, dass sich beide Konzepte das Vokabular der Enquete-Kommission zu Eigen machten, d.h., beide beriefen sich auf die Kriterien und Definitionen der »demokratischen Erinnerungskultur«. Beide bewerteten die Zentrale des MfS als Ort von gesamtstaatlicher und nationaler Bedeutung. Beide verfolgten das Ziel einer differenzierten und multiperspektivischen Geschichtsvermittlung und -darstellung, wie sie die Definition der »demokratischen Erinnerungskultur« zugrunde legte. Beide Konzepte lehnten vorgefertigte, einseitige Geschichtsbilder ab. Sowohl das Thaysen-Konzept als auch das Kommissions-Konzept konnten diesen Ansprüchen jedoch in der Gestaltung, Institutionalisierung und inhaltlichen Ausrichtung der Gedenkstätte nicht immer gerecht werden. Beide tendierten zudem eher zu einseitigen Lesarten der DDR-Geschichte: das Thaysen-Papier, indem es u.a. vor einem undifferenzierten Diktaturvergleich nicht zurückschreckte und zu unkritischen »Überhöhungen« (z.B. des Herbstes 1989) neigte; das Kommissionspapier, indem es die Rolle der Betroffenen vollständig herunterspielte (z.B. durch ihre nachrangige Berücksichtigung in der Ausstellung und in der Gedenkstättenarbeit) und die Gedenkstätte als eine »Nationale Gedenkstätte« maßgeblich zur bundespolitischen Angelegenheit machen wollte, wodurch der pluralistische Ansatz der demokratischen Erinnerungskultur und ihre Basis »bürgerschaftliches Engagement« eingeebnet wurde. Beide Konzepte hatten allerdings auch Stärken aufzuweisen. Das ThaysenPapier berücksichtigte die Authentizität des Ortes und seinen unverwechselbaren »Charme«, vermied daher Rekonstruktionen und eine groß angelegte Musealisierung. Außerdem verlieh das Papier den Trägern der »Friedlichen Revolution« entsprechende Anerkennung. Die Stärke des Fachkommissionskonzeptes hingegen war es, ein breites Informationsangebot und wissenschaftliche Standards in Aussicht zu stellen. Zudem sicherte es die Sanierung und langfristige Instandhaltung des Gebäudes. Am 15. Juli 2002, nahezu ein dreiviertel Jahr nach Fertigstellung der Konzeption der Fachkommission im Oktober 2001, wurde es an den BKM (inzwischen der SPD-Abgeordnete Nida-Rümelin) übergeben. Zwar lag das Papier nach mehrmaligen Terminverschiebungen bereits seit Mitte Mai 2002 über dem Postwege vor,
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eine offizielle Anerkennung blieb jedoch zunächst aus.410 Diese Verzögerung hatte mehrere Gründe. Erstens stand im Herbst 2001 der neue Kultursenator noch nicht fest, sodass Berlin politisch für das Konzept nicht »empfangsbereit« war. Zweitens wollten sich der Bund nicht verpflichtet fühlen, die darin enthaltenen, finanziellen Empfehlungen umsetzen zu müssen. Insbesondere aus dem BMI hatte es Sperrfeuer gegeben, bedeutete eine Übernahme des Haus I durch die BStU erhebliche Mehrbelastungen für den BMI-Haushalt, an dem die BStU noch angesiedelt war.411 Aber auch der BKM wollte falsche Signale verhindern und übte in Anbetracht der bisherigen Gedenkstättenpolitik des Bundes Zurückhaltung.412 Viertens, wurde ein erster Veröffentlichungstermin im März 2002 aufgrund des Helmut Kohl-Urteils – bezüglich der Stasi-Akten zu Personen der Zeitgeschichte – verschoben.413 Aber auch nach der offiziellen Übergabe des Konzeptes an den BKM NidaRümelin Mitte Juli 2002 hielt sich die Reaktion bundes- wie landesseitig in Grenzen.414 Öffentliche Stellungnahmen vom BKM und von der BStU konnten hierzu kaum gefunden werden. Dies lässt darauf schließen, dass Nida-Rümelin und Mari-
410 O.V.: »Mielkes Schauerreich«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.05.2002. 411 SenKult: Vermerk vom 10.07.2002, SWFKB, Bestand: Haus 1, Nr. 29.2.1 [Nr. 29.2.1]. 412 Mit der Gedenkstättenkonzeption des Bundes von 1999 hatte es nach jahrelangen Debatten endlich eine mittelfristige Regelung für Gedenkstätten von gesamtstaatlicher Bedeutung gegeben. Eine Neuverhandlung galt es schon allein deshalb zu vermeiden. Hinzu kam, dass schon allein der zusätzliche Finanzbedarf dagegen sprach, bezifferte das Konzept einen zweistelligen Millionenbetrag, der für eine Sanierungs- und Bauinvestition des Haus I vonnöten war. Schätzungen des Sanierungsbedarfs beliefen sich inzwischen auf rund 60 Millionen DM, vgl. SenKult: Vermerk vom 08.03.2002, SWFKB, Nr. 29.2.1. 413 Der ursprüngliche Zeitpunkt einer Übernahme der Empfehlungen der Fachkommission war auch aufgrund der verwaltungsgerichtlichen Niederlage der BStU (im Bezug auf die Herausgabe von MfS-Informationen über Personen von zeitgeschichtlichem Interesse) vollkommen ungeeignet gewesen. Die Geschichtsaufarbeitung der BStU stand öffentlich in scharfer Kritik und teilte die Öffentlichkeit in zwei Lager. Während die DDR-Opposition und die Wissenschaft gegen eine Schwärzung der MfS-Akten im Sinne einer transparenten Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit argumentierten, machten der ehemalige Bundeskanzler und seine Anhänger Persönlichkeitsschutzrechte geltend, die dieser bisherigen Veröffentlichungspraxis widersprachen. Nach langwierigen gerichtlichen Verhandlungen gaben die Richter Helmut Kohl Recht, vgl. Gast, Wolfgang: »Ein Erbe aus 5340 Tonnen Papier«, in: Taz vom 29.12.2001. Dies hatte zur Folge, dass alle Einrichtungen der BStU vorübergehend den Betrieb einstellen mussten, so auch das IDZ. Angesichts der tragenden Rolle, die nun aber gerade die BStU zukünftig in der Sache Haus I übernehmen sollte, schien daher ein Verschieben der Bekanntgabe des Fachkommissionskonzeptes ebenfalls geboten. Damit ließ sich zumindest verhindern, dass das Konzept zum Haus I im Strudel der Debatte um die Stasi-Akten nicht ebenfalls mit unterging, vgl. Käppner, Joachim: »Mielke als stete Warnung«, in: Süddeutsche Zeitung vom 13.03.2002. 414 SenKult: Vermerk vom 10.07.2002, SWFKB, Nr. 29.2.1.
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anne Birthler dem Konzept kurz vor der Bundestagswahl äußerst vorsichtig begegneten. Gegenüber dem Berliner Tagesspiegel signalisierte Birthler lediglich eine generelle Bereitschaft, grundsätzlich die empfohlene Stiftung an ihre Institution anbinden zu können. Ansonsten verwies sie zuständigkeitshalber auf die zukünftige Bundesregierung, in deren Händen allein die Zukunft des Haus I läge.415 NidaRümelin entzog sich gänzlich einem Kommentar. Dies mag auch an der Gewissheit gelegen haben, dass er nach der Regierungsneubildung für das Amt des BKM nicht mehr zur Verfügung stand. Die SenKult befürwortete zwar die Empfehlungen der Fachkommission vollinhaltlich, schloss ihrerseits aber ein konkretes Engagement im Hinblick auf eine Stiftungsgründung angesichts der Haushaltslage des Landes Berlin aus.416 »Welche Oper sollen wir dafür schließen?«, fragte die SenKult provokativ.417 Die einzige Beteiligung Berlins an der Umsetzung des Konzeptes lief auf eine mögliche Übertragung des Haus I zu einem symbolischen Preis von 1 € auf den Bund hinaus, so jedenfalls das Angebot der SenKult.418 Und das sollte im Interesse des Landes Berlin sowie des BKM so schnell wie möglich geschehen, damit die SenKult und der BKM nicht Gefahr liefen, den Unterhalt doch noch aus dem Kulturetat schöpfen zu müssen. Ansonsten vertrat die SenKult die Auffassung, sollte es bei den Bundesverhandlungen um dauerhafte Förderung und Übernahme zu einer Pattsituation kommen, entweder Berlin-Hohenschönhausen oder Haus I, habe Berlin die Gedenkstätte Hohenschönhausen zu bevorzugen und das Haus I zu vernachlässigen.419 Das BKM sah dies genauso, hatte er sich in Bezug auf Hohenschönhausen (Stichwort: »Nevermann-Halle«) bereits weit vorgewagt und wollte Nevermann das Haus I deshalb eher loswerden bzw. gar nicht erst erhalten.420 Die Presse fiel, dort wo über DPA-Meldungen hinaus berichtet wurde, überwiegend negativ aus. Das »Authentische« und die ansässigen Bürgerrechtler wurden gegenüber einem gestylten Museum in Staatshand bevorzugt.421 Selbst das Neue
415 Burchard, Amory: »Werden die Gründer verdrängt?«, in: Der Tagesspiegel vom 13.08.2002. 416 Abgeordnetenhaus von Berlin: Inhaltsprotokoll Nr. 15/14 vom 25.11.2002, S. 5-6, PA Berlin; Schreiben von Michael R. an die SenKult vom 11.06.2001, ArLStU, FK, Band 3. 417 Rainer K. z.n. Staud, Toralf: »Streit um die ›Mielke-Suite‹«, in: Die Zeit vom 11.07.2002. 418 SenKult: Vermerk vom 10.07.2002, SWFKB, Nr. 29.2.1; Schreiben der SenKult an die SenFin vom 07.04.2003, SWFKB, Nr. 29.2.1. 419 SenKult: Vermerk vom 08.02.2003, SWFKB, Nr. 29.2.1. 420 Schröder, Klaus: Vertraulicher Vermerk vom 11.02.2003, ArASTAK, BStU Gauck. 421 SenKult: Vermerk vom 08.02.2003, SWFKB, Nr. 29.2.1; Müller, Volker: »Der Geruch von Haus I«, in: Berliner Zeitung vom 15.07.2002; Mönch, Regina: »Wem gehört die DDR?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.07.2002; Micke, Dana: »Angst vor dem Rauswurf«, in: Märkische Zeitung vom 31.07.2002; Burchard, Amory: »Besetzer der Stasi-Zentrale kämpfen um ihr Erbe«, in: Der Tagesspiegel vom 13.08.2002; Tetzlaff, Michael: »›Hier ist Angst verwaltet worden‹«, in: Frankfurter Rundschau vom 17.08.2002.
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Deutschland stellte mit Polemik in Aussicht, gestandene Revolutionäre ließen sich nicht einfach vor die Tür setzen.422 Die Symbolpolitik der ASTAK ging auf. Die ASTAK lehnte das Papier in der Mitgliederversammlung erwartungsgemäß ab. Sie führte dafür zahlreiche Gründe an. Das Nutzungskonzept wurde als nicht satzungsgemäß beurteilt und widerspreche außerdem dem SPD-Votum der Enquete-Kommission. Zudem ärgerte es die ASTAK, dass ein wichtiger Fördergeldantrag an die Stiftung Deutsche Kassenlotterie mit dem Verweis auf die Arbeit der Fachkommission abgelehnt worden war, und ihre Existenz im Haus I damit nicht nur konzeptionell sondern auch reell bedroht worden sei.423 Schließlich rührte sie die Tommel für die eigene, staatsunabhängige Lösung. »Formal halte ich es für das falsche Signal, wenn eine zentrale staatliche Institution wie das Ministerium für Staatssicherheit zu einer zentralen staatlichen Gedenkstätte wird«, kommentierte der Leiter der FOGE Jörg Drieselmann die Pläne der Fachkommission.424 Dem Argument, dass es dem Bund auch um Professionalisierung ginge, hielt er entgegen: »Es ist ein großer Fehler zu glauben, dass nur gut ist, was von Profis gemacht wird. Es ist auch undemokratisch. […] Demokratisch ist es, davon auszugehen, dass die Bürger zunächst einmal selbst ihre Angelegenheiten regeln […]. Erst wenn ihre Kräfte nicht ausreichen, kann der Staat helfend einspringen.«425 Schließlich stellte er den nichtstaatlichen Betrieb der FOGE als die kostengünstigere Variante dar: »Und es gibt keinen sachlichen baulichen Grund, dieses Haus jetzt für zig Millionen zu sanieren. […] Kein Hausbesitzer saniert sein Haus vollständig, wenn es mit einigen Reparaturen getan ist. […] wir tun es preiswerter als vergleichbare staatliche Institutionen.«426 Von der »Anatomie der SED-Diktatur« nicht überzeugt, hielten die im Haus I ansässigen Vereine, allen voran die ASTAK an ihrem Konzept fest. Für sie kam weiterhin ausschließlich eine »Topographie des Widerstands« als ein internationales Forum in Frage.427 Diese Abwehrhaltung änderte sich auch nicht, als Marianne Birthler Anfang 2003 den Versuch unternahm, den Dialog wieder aufzunehmen. So lud die BStU Mitte Januar die ASTAK dazu ein, auf Basis der bestehenden Konzepte nunmehr gemeinsam zu einer miteinander abgestimmten Lösung für das Haus I zu kommen.428 Zu den Gästen dieser nicht-öffentlichen Beratung gehörten neben der ASTAK auch einzelne ehemalige Mitglieder der seinerzeitigen Fachkommission, Vertreter der SenKult, des BKM und des BMI, der Vorsitzende der Stiftung zur
422 Funke, Rainer: »MfS-Zentrale National-Monument«, in: Neues Deutschland vom 17.07.2002. 423 SenKult: Vermerk vom 30.05.2001, SWFKB, Bestand: Haus 1, ASTAK, Nr. 29.6 [Nr. 29.6]. 424 O.V.: »Originaler als das Original. Ein Gespräch mit Jörg Drieselmann«, in: Der Stacheldraht 7 (2002), S. 8. 425 Ebd., S. 9. 426 Ebd., S. 8. 427 Ebd., S. 9. 428 Schreiben der BStU Marianne Birthler an die ASTAK Jörg Drieselmann vom 15.01.2003, ArASTAK, BStU Gauck.
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Aufarbeitung der SED-Diktatur sowie die Direktoren des HdG und der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen.429 Diskussionsgrundlage bildete – neben den vorliegenden Konzepten – zudem ein aus der Feder von Gabriele Camphausen (die im Dezember 2002 Abteilungsleiterin für politische Bildung bei der BStU geworden war) stammendes »Kompromisspapier«, das an einer alleinigen Übertragung des Haus I auf die BStU festhielt, jedoch der ASTAK das Angebot unterbreitete – auf Basis eines Kooperationsvertrages mit der BStU – weiterhin die Mielke-Suite »bespielen« zu können: »Ausgewählte Dienstleistungen (der Betrieb der sog. MielkeSuite einschließlich der diesbezüglichen Ausstellungs- und Besucherbetreuung) könnten im Rahmen einer tätigkeitsbezogenen Aufgabenübertragung an den bisherigen Betreuer der Mielke-Räume, die ASTAK, verlagert werden.«430 Des Weiteren nahm die BStU Abstand davon, ihr IDZ im Haus I unterbringen zu wollen, sondern empfahl, es an zentraler Stelle in Berlin zu belassen und es zu einem »Wegweiser« über die SBZ/DDR-Aufarbeitungslandschaft umzufunktionieren.431 Trotz dieser weitreichenden Zugeständnisse, die nicht bei allen Diskussionsteilnehmern auf Zustimmung stießen – handelte es sich doch bei der Mielke-Suite um das Herzstück des Haus I – rückte die ASTAK auch in Vertretung der anderen Initiativen im Haus I nicht von ihrem Standpunkt ab, alleinige Hausherren im Haus I bleiben zu wollen und eine Professionalisierung auch ohne BStU durchführen zu können. Unterstützung erhielt die ASTAK von Klaus Schröder (Forschungsverbund SED-Staat der FU Berlin) und Hubertus Knabe (Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen).432 Das Treffen zwischen BStU und ASTAK Anfang Februar 2003 führte also zu keinerlei neuem Ergebnis, außer, dass sich die Behörde dort erneut »eine blaue Nase« holte.433 Am 19. Juni 2003 wandte sich schließlich der Chef der Berliner Senatskanzlei, André Schmitz, an den Chef des Bundeskanzleramtes, Frank-Walter Steinmeier, um auf dieser Ebene zumindest hinsichtlich der Liegenschaft Haus I voran zukommen. Mit folgenden Worten erklärte Berlin die Angelegenheit nunmehr zur Chefsache: »Für das Land Berlin kann ich eine Rückveräußerung […] zu einem symbolischen Preis anbieten einschließlich eines Verzichts auf Rückzahlung des vollständigen seinerzeit vom Land geleisteten Wertausgleichs in Höhe von fast 12 Mio. DM. Allerdings müsste der Bund bei Übernahme der Liegenschaft für die Nutzung des Gebäudes als nationale Gedenkstätte die erforderlichen Unterhalts- und Sanierungskosten übernehmen. Sofern sich eine kurzfristige Übernahme für diese gesamtstaatliche Aufgabe nicht realisieren lassen sollte, sähe sich das Land Berlin aufgrund seiner hoch prekären Haushaltssituation gezwungen, die Liegenschaft zu veräußern«.434
429 Ebd. 430 BStU: Perspektiven für die zukünftige Nutzung von Haus I vom 05.02.2003, S. 5, StAufarb, Gedenkstätte Normannenstraße (Geschäftsablage o. Sign.). 431 Ebd., S. 6. 432 Schröder, Klaus: Vertraulicher Vermerk vom 11.02.2003, ArASTAK, BStU Gauck. 433 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 15/1692 vom 08.05.2003, PA Berlin. 434 Schreiben der Senatskanzlei Chef der Senatskanzlei André Schmitz an das Bundeskanzleramt Chef des Bundeskanzleramtes Frank-Walter Steinmeier vom 19.06.2003, S. 2, SWFKB, Nr. 29.2.1.
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Die Presse, die erst Monate später davon Wind bekam, titelte spitz: »Berlin verschenkt Stasi-Zentrale«.435 Doch der Erfolg blieb aus. Eine Reaktion erfolgte auch im Laufe des Jahres 2004 nicht, die Ergebnislosigkeit setzte sich fort.436
4.11 D AS H AUS I
UND DIE
S ABROW -K OMMISSION
Was war der Hintergrund für diese Stagnation? Sowohl das BMI als auch das BKM sträubten sich inzwischen gegen eine Übernahme des Haus I aufgrund der hohen Kosten, die damit verbunden waren (Unterhalt, Sanierung, Investition). Der BKM berief sich auf seine Nichtzuständigkeit, war die BStU, der das Haus I angegliedert werden sollte, doch dem BMI zugeordnet. Das BMI wiederum sah ihrerseits auch keine Handlungsnotwendigkeit, hatte die Bundesregierung doch alle Fragen der historischen Aufarbeitung und Gedenkstättenpolitik mit dem Schaffen des BKM aus dem BMI herausgelöst. Das Betreiben einer Gedenkstätte im Haus I gehörte damit streng genommen weder in die Zuständigkeit der BStU noch in die des BMI. Die diesbezügliche Regelung des StUG entstammte noch einer Zeit, als das Gedenkstättenressort noch mein BMI lag und war im Grunde genommen mit dem BKM »überrollt«. Die einzige Möglichkeit aus diesem Dilemma herauszukommen und der Verwirklichung der Empfehlungen der Fachkommission in Bezug auf das Haus I bzw. eines »Geschichtsverbundes SED-Diktatur« insgesamt ein bisschen näher, war, die Zuständigkeit für die BStU vom BMI zum BKM zu verlagern. Nur durch diese Ressortverlagerung konnte das Betreiben der Gedenkstätte unter dem Dach der BStU umgesetzt und dauerhaft gerechtfertigt werden. Verhandlungen auf Ministerebene fanden hierzu spätestens ab März 2004 statt.437 Am 28. Dezember 2004 schließlich erteilte der Bundeskanzler selbst unter Umgehung des Parlamentes und ohne weitgehende Einbeziehung der beiden betreffenden Einrichtungen BStU und Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ad hoc einen entsprechenden Organisationserlass.438
435 Kai R. z.n. Schreiben der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur vom 08.07.2004, StAufarb, Gedenkstätte Normannenstraße (Geschäftsablage o. Sign.). Vgl. Herrmann, Klaus-Joachim: »Die Stasi-Zentrale für nur einen Euro«, in: Neues Deutschland vom 08.07.2004; Bullion, Constanze von: »Im Grusel-Knast der Stasi«, in: Süddeutsche Zeitung vom 09.07.2004. 436 Schreiben der SenKult an die Senatskanzlei vom 03.11.2003, SWFKB, Nr. 29.2.1; Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 15/2255 vom 10.11.2003, PA Berlin; Moser, Thomas: »Hausbesitzer und Hausbesetzer – Oder: Wem gehört die Stasi-Zentrale. Eine Dokumentation«, in: Horch und Guck 42 (2003), S. 57; Schreiben der Senatskanzlei an das Bundeskanzleramt vom 13.01.2004, SWFKB, Nr. 29.2.1; Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 15/2620 vom 04.03.2004, PA Berlin; Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 15/3518 vom 03.12.2004, PA Berlin. 437 SenKult: Vermerk vom 17.03.2004, SWFKB, Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, I-Planung 2004, 2005, 2006, 2007 [2004-2007]. 438 Dt. BT, Drs. 15/4958 vom 22.02.2005, PA Dt. BT; Dt. BT, Drs. 15/5083 vom 14.03.2005, PA Dt. BT.
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Zum 01. Januar 2005 war es soweit. Die Behörde der BStU und die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur wurden – zur Überraschung der Aufarbeitungsszene – aus dem Ressort des BMI herausgelöst und der BKM Christian Weiss übertragen. Damit wurde die Auseinandersetzung mit der SBZ/DDR-Vergangenheit auf eine neue Grundlage gestellt und die administrative Grundvoraussetzung für eine institutionelle Einbindung des Haus I in die Birthler-Behörde oder in die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur geschaffen.439 Knut Nevermann vom BKM hatte flankierend bereits am 01. Dezember 2004 ein entsprechendes erinnerungspolitisches Konzept vorgelegt. Es sah mittelfristig für das Haus I vor, dass die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur die Weiterentwicklung des Gedenkortes zu betreiben habe.440 »Die Stiftung zur Aufarbeitung übernimmt die Verantwortung für die Normannenstraße. Der Vorschlag einer Expertengruppe aus dem Jahre 2002 (unter Leitung von Siegfried Vergin) wird insoweit verändert. Die Stiftung Aufarbeitung könnte möglicherweise sogar ungenutzte Stockwerke in der Normannenstraße selber nutzen und die eigenen und zukünftigen Bildungs- und Dokumentationsaufgaben hier ansiedeln«,
regte Nevermann an.441 Er empfahl die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur zur zentralen Institution der SBZ/DDR-Erinnerungsarbeit auszubauen und das Haus I im Zuge dessen zum Stiftungssitz und zentralen Ort der SBZ/DDR-Erinnerung zu machen. Auch wenn das Nevermann-Konzept (vor allem aufgrund der dort fixierten mittelfristigen BStU-Perspektive, nämlich eine allmähliche Auflösung der Behörde) kurz darauf von der BKM Weiss zurückgenommen wurde, verband sich mit der Übernahme der BStU und der Stiftung zur Aufarbeitung des SED-Diktatur ins BKM-Ressort dennoch nun die Möglichkeit, eine grundlegende Neuordnung der Gedenkstättenzuständigkeiten und Erinnerungslandschaft vornehmen zu können.442 Mit dem Wechsel der BStU zur BKM wurde nämlich das Kerngeschäft von der Aktenverwaltung auf die Geschichtsaufarbeitung verlagert. Sowohl innerhalb der BStU als auch innerhalb der Stiftung stieg die Bedeutung von Bildung und Forschung und wurden neue Trägermodelle, Kooperationen und eine Umverteilung von Kompetenzen möglich. Und laut Weiss sollte ein daraufhin zu bildender »Geschichtsverbund Aufarbeitung der SED-Diktatur« vor allem im Haus I seinen Standort bekommen443 und der Birthler-Behörde als »Hauptpartnerin« bzw. als
439 Bundesregierung: Pressemitteilung Nr. 631 vom 03.12.2004, PA Dt. BT. 440 BKM Nevermann, Knut: Erinnerungspolitisches Konzept zu den Gedenkstätten der SED-Diktatur in Berlin vom 01.12.2004, ArRHG. 441 Ebd. 442 BStU: Pressemitteilung vom 10.12.2004, ArRHG; BKM: Statement von Staatsministerin Weiss zu Spekulationen über die Abwicklung der »Birthler-Behörde« vom 10.12.2004, ArRHG. 443 Rogalla, Thomas: »Was wird aus Mielkes Büro?«, in: Berliner Zeitung vom 17.01.2005.
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»Hauptakteurin« höchste Kompetenz im Bereich der DDR-Erinnerungskultur eingeräumt werden.444 D.h., mit der Verlagerung der BStU und der Bundesstiftung bestand jetzt erstmals außerhalb des Rahmens der bisherigen gedenkstättenpolitischen Manöver (Gedenkstättenkonzeption des Bundes) auf Bundesebene Anlass, eine übergreifende Konzeption nur für die Aufarbeitung der SBZ- und DDR-Geschichte zu erstellen, in der auch das Haus I zentrale Berücksichtigung genoss.445 Mit dem »Geschichtsverbund« verband sich also von Anfang an nicht das Ziel, die vorhandene dezentral gewachsene Erinnerungslandschaft zu verstaatlichen bzw. zu zentralisieren, gar die freien Gedenkstättenbetreiber zu enteignen, sondern es galt – gerade unter Berücksichtigung der dezentralen Struktur – auf Basis einer Bestandsaufnahme vor allem mögliche Kooperationen vorzuschlagen sowie Konturen einzelner Einrichtungen und ihre jeweiligen Aufarbeitungsschwerpunkte zu schärfen.446 Doch diese eigentlichen Gegenstände des »Geschichtsverbundes« gerieten durch das Bekanntwerden des Konzeptes von Nevermann in den Hintergrund. Und auch trotz der diesbezüglichen Dementi der BKM blieb das Augenmerk allein auf der von Nevermann vorgeschlagenen Abwicklung der Birthler-Behörde und auf dem von ihm empfohlenen eklatanten Ausbau der Stiftung zur Aufarbeitung. Das Schaffen eines »Geschichtsverbundes« wurde einfach mit Nevermanns Vorschlägen gleichgesetzt, eine Distanzierung nahmen die freien Aufarbeitungsinitiativen ihr, Weiss, einfach nicht ab. Wie bereits oben ausgeführt lehnte die ASTAK daher sowohl die Abwicklung der Behörde der BStU als auch das Schaffen eines »Aufarbeitungskombinats« ab. Gemeinsam mit dem Leipziger BKL veröffentlichte sie die bereits erwähnte Erklärung an die BKM Weiss.447 Nur weil mit der BStU und mit der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur nun auch staatlicherseits eine langfristige Geschichtsaufarbeitungsstruktur geschaffen war, waren die freien Träger noch lange nicht bereit, das Feld der Geschichtsaufarbeitung zu räumen. Im Gegenteil. Sie hatten jahrelang um öffentliche Gelder und Anerkennung gekämpft, sie wollten jetzt auch etwas vom »Kuchen« abhaben, den es an die BStU und die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur zu verteilen gab. Und um ihre Interessen in Bezug auf die Gedenkstätten- und Aufarbeitungsentwicklung besser durchsetzen zu können, riefen der ASTAK e.V. zusammen mit dem Forum zur Aufklärung und Erneuerung e.V. und HELP e.V. sogar einen »Runden Tisch« zur »Erarbeitung einer Gesamtkonzeption für die Aufarbeitung der SED-Diktatur« ein, zu dem sie Christian Weiss und Marianne Birthler höchstpersönlich einluden.448 Da jedoch weder die BStU noch die BKM an den Treffen teilnahmen, und auch Vertreter der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Ver-
444 BKM: Statement von Staatsministerin Weiss zu Spekulationen über die Abwicklung der »Birthler-Behörde« vom 10.12.2004, ArRHG. 445 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 15/4108 vom 10.06.2005, PA Berlin. 446 Sabrow, Martin/Eckert, Rainer (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? (2007), S. 9. 447 BKL e.V.: Presseerklärung vom 10.12.2004, S. 2, ArRHG. 448 Schreiben des Forum zur Aufarbeitung und Erneuerung e.V. an die BKM Christina Weiss vom 25.04.2005, ArLStU, Bestand: Deutscher Bundestag Enquete-Kommission, 15. Sitzung Berichterstattergruppe »Gedenkstätten« [Enquete-Kommission].
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treter des BMJ und der SenKult ihre Teilnahme unterließen, bestand der »Runde Tisch« ausschließlich aus den o.g. Initiativen, der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen sowie aus hinzu geladenen Häftlings- und Opferverbänden, z.B. VOS, BSV und UOKG.449 Die Vertreter des Bundes hingegen wählten ein anderes Instrument. Am 09. Mai 2005 wurde – trotz zahlreicher Kritik aus der DDR-Aufarbeitungslandschaft und quasi in Konkurrenz zum »Runden Tisch« – die Expertenkommission unter dem Vorsitz von Martin Sabrow einberufen, die von Weiss den Auftrag erhielt, ihrerseits ein Gesamtkonzept zur SED-Gedenkstättenlandschaft zu erarbeiten, das die Neuzuordnung von BStU und der Bundesstiftung berücksichtigte und Lösungen bot für die Gedenkstätten Berlin-Hohenschönhausen und Berliner Mauer sowie insbesondere für das Haus I. Neben der Bestandaufnahme machte sich die Kommission zur Aufgabe Perspektiven für die dezentrale Erinnerungslandschaft zur SBZ/DDR-Vergangenheit zu entwickeln und dabei mögliche Vernetzungen, Institutionalisierungen und Spezifizierungen ins Spiel zu bringen.450 Eine frühzeitige Einbindung der Aufarbeitungsinitiativen war zwar erklärtes Ziel, es wurde jedoch allein schon dadurch verfehlt, dass weder der von der ASTAK initiierte »Runde Tisch« noch die Arbeitsgemeinschaft SBZ/DDR-Gedenkstätten ernst genommen und einbezogen wurden.451 Ein Ergebnis lieferte die Sabrow-Kommission im Frühjahr 2006. Ohne hier nochmals die zentralen Vorschläge, wie sie bereits in der Analyse zur Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen ausführlich behandelt wurden in ganzer Breite zu wiederholen, lässt sich in Bezug auf die Empfehlungen zum Haus I zusammenfassen, dass die Sabrow-Kommission jedwede institutionelle Eigenständigkeit der FOGE ausschloss und alleinig eine Zuordnung zur BStU (in drei verschiedenen Varianten) als realistisch einschätzte. Zur Disposition gestellt wurden eine Eingliederung des Haus I in die Abteilung BF der BStU, die Gründung einer unselbständigen Stiftung oder die Gründung einer selbständigen Stiftung unter dem Dach der BStU. 452 Neben dieser Anbindung bzw. einer späteren Fusion mit der Abteilung BF, schlug die Kommission zudem ein Zusammengehen mit der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen vor.453 Im Sinne dieser institutionellen Vernetzungen und Amalgamisierungen empfahl das Papier einen Aufarbeitungsschwerpunkt »Überwachung und Verfolgung« einzuführen, dessen »institutioneller Kern« ein »Forschungs- und Dokumentationszentrum ›Diktatur und Geheimpolizei‹« bilden sollte. Dieses Forschungs- und Doku-
449 Forum zur Aufklärung und Erneuerung e.V.: Protokoll vom 01.03.2005, ArLStU, Enquete-Komission. 450 Schreiben der BKM Weiss an das Forum zur Aufklärung und Erneuerung e.V. vom 20.05.2005, ArRHG; Sabrow, Martin/Eckert, Rainer (Hg.): Wohin treibt die DDRErinnerung? (2007), S. 10. 451 Rundschreiben der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes »Aufarbeitung der SED-Diktatur« vom 30.06.2005, ArASTAK, Bestand: Arbeitsgemeinschaft Gedenkstätten zur Diktatur in SBZ und DDR [AG SBZ/DDR]. 452 Sabrow, Martin/Eckert, Rainer (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung?, S. 37. 453 Ebd.
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mentationszentrum sollte von der BStU getragen werden und die gewachsene Fachkompetenz der diesbezüglichen Gedenkstätten bündeln.454 Ob dieses Forschungsund Dokumentationszentrum »Diktatur und Geheimpolizei« im Haus I entstehen sollte, geht aus den Empfehlungen zwar nicht explizit hervor, angesichts der Vorschläge zur Anbindung der FOGE an die BStU liegt dieser Gedanke jedoch nahe. D.h., grundlegende konzeptionelle Neuigkeiten, bis auf eine Verknüpfung der beiden Berliner »Stasi-Gedenkstätten«, konnte die Sabrow-Kommission nicht liefern. Über bisherige Eckpunkte und Nutzungspläne zum Haus I wies auch dieses Papier – streng genommen – nicht hinaus. Insofern war die Sabrow-Kommission lediglich ein weiterer Versuch, dem Haus I und den dort ansässigen Initiativen »von oben« eine Lösung überzustülpen. Erwartungsgemäß stießen die Empfehlungen bei der ASTAK und bei den im Haus I ansässigen Aufarbeitungsinitiativen auf Zurückhaltung. Der Einladung zur öffentlichen Anhörung am 06. Juni 2006 folgte der ASTAK-Geschäftsführer nicht. Da die ASTAK der Sabrow-Kommission ohnehin jegliche Legitimation absprach, sich in Vereinsbelange einmischen zu dürfen, blieben ihre Vertreter fern. Wozu an einer Veranstaltung teilnehmen, die von Grund auf in Frage gestellt wurde? Lediglich zu einer entsprechend gearteten schriftlichen Stellungnahme war die ASTAK bereit. Dem Vorsitzenden der Kommission gegenüber erklärte sie: »Obschon sich unsere Institution dem von der Kommission beschriebenen Ziel der ›eingehenden Auseinandersetzung mit 40 Jahren DDR-Geschichte‹ verpflichtet sieht, unterliegt sie als vereinsrechtlich organisierte Initiative nicht der konzeptionell-gestalterischen Kompetenz politischer Instanzen. Auch gehört sie nicht, wie in den Empfehlungen irrtümlich behauptet, zu den ›auf Länderebene direkt oder indirekt institutionell geförderten‹ Einrichtungen. […] Aus den genannten Gründen glauben wir, dass es uns nicht zukommt, die Vorschläge der Kommission zu bewerten, sofern die Bewertung über eine Teilnahme an der allgemeinen geschichtspolitischen Diskussion hinausgehen soll.«455
Ohnehin hatte die ASTAK unter den gehörten Sachverständigen mehrere Fürsprecher sitzen, die ihre grundsätzliche Auffassung teilten und eine Angliederung an die BStU sowie ein »Forschungs- und Dokumentationszentrum« der BStU im Haus I ablehnten, hierzu gehörten u.a. Klaus W. von der Robert-Havemann-Gesellschaft456 sowie Reiner M. vom Thüringer Archiv für Zeitgeschichte »Matthias Domaschk«.457 Zudem hatte die ASTAK die Opfer- und Häftlingsverbände weitgehend geschlossen hinter sich.458
454 Ebd., S. 36. 455 Schreiben der FOGE Jörg Drieselmann an die Expertenkommission »Geschichtsverbund SED-Diktatur« vom 13.06.2006, ArASTAK, AG SBZ/DDR. 456 Sabrow, Martin/Eckert, Rainer (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? (2007), S. 138. 457 Ebd., S. 149. 458 UOKG / VOS / BSV, Forum zur Aufklärung und Erneuerung/OFB/HELP e.V.: Stellungnahme der Verbände der Verfolgten in der SBZ und DDR zu den Empfehlungen
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Die BStU hingegen nahm die Vorschläge der Sabrow-Kommission geteilt auf. Eine Anbindung der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen lehnte sie ab. Nur die Empfehlungen zur Zukunft des Haus I und die damit verbundene gleitende Neuausrichtung der BStU-Tätigkeit stießen erwartungsgemäß auf Zustimmung. »Bei aller Wertschätzung der Verdienste und der Arbeit des Trägervereins ist festzustellen, dass hier Entscheidungs- und Handlungsbedarf besteht. Ich darf daran erinnern, dass die Diskussionen um das Haus I nun schon seit vielen Jahren dauern und nicht zuletzt angesichts des baulichen Zustands dringend einer Lösung bedürfen. […] bleibt zu wünschen, dass im Zuge der jetzt geführten Diskussion handfeste Fortschritte erzielt werden«,
appellierte Birthler an die ASTAK, doch endlich nachzugeben und in die zweite Reihe zu treten.459 Zudem betonte sie bei gleicher Anhörung, dass sie inhaltlich und wirtschaftlich keine Alternative für das Haus I sah, als es in die Gesamtverantwortung ihrer Behörde zu übernehmen. »Der geplante Geschichtsverbund wird erst dann zufriedenstellend funktionieren können, wenn dieser Angelpunkt der Erinnerungslandschaft konzeptionell wie finanziell eine gesicherte Perspektive hat und die Frage der Trägerschaft endlich verlässlich beantwortet wird«, hob die BStU das Haus I zudem in den Rang eines Kristallisationspunktes und Prüfsteins der SBZ/DDR-Geschichtsaufarbeitung insgesamt.460 Entweder es gelang das Haus I vor dem Verfall zu retten, die Aufarbeitung vor Ort zu professionalisieren und dauerhafte Strukturen für eine künftige Beschäftigung mit der SBZ/DDRVergangenheit dort zu schaffen, oder die staatlichen Möglichkeiten, hier fundamentale Weichen zu stellen, schlugen fehl und drohten damit auch generell zu versagen. Weder der eine noch der andere Fall traten ein. Denn der Nachfolger von BKM Christian Weiss, Bernd Neumann, setzte schließlich auf eine dritte Lösung. So empfahl er nicht nur einen Ausbau der Kooperationen zwischen der Berlin-Hohenschönhausen und der FOGE Normannenstraße, sondern er forcierte in seiner Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes vom Juni 2008 nun vor allem auch ein enges Kooperationsmodell zwischen ASTAK und BStU als gangbare Alternative zur Eingliederung der FOGE in die BStU-Behörde.461 Auf diese Weise erfüllte er die institutionellen, strukturellen und inhaltlichen Erwartungen der ansässigen Initiativen, insbesondere der ASTAK voll und ganz, kam aber auch dem Wunsch der BStU ins Haus I einziehen zu wollen entgegen. Statt einer Verschmelzung mit der Abteilung BF und statt einer Gründung einer Stiftung unter dem Dach der BStU (zusammen mit der Gedenkstätte Berlin-Hohen-
der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes »Aufarbeitung der SED-Diktatur« vom 29.05.2006 [Original in Besitz d. Verf.]. 459 Sabrow, Martin/Eckert, Rainer (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? (2007), S. 101. 460 BStU: Die BStU im Wandel der Rechtsprechung und der öffentlichen Diskurse in Ostund West vom Juni 2006 [Original in Besitz d. Verf.]. 461 BKM: Verantwortung wahrnehmen (2008), S. 11.
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schönhausen), schlug er engste Zusammenarbeit bei fortbestehender vereinsrechtlicher Unabhängigkeit, d.h. bei Beibehaltung des institutionellen Status quo vor. Neumanns Empfehlung lautete: »Es besteht der einmütige, von Bürgerrechtlern, Opferverbänden und Fraktionen des Deutschen Bundestages getragene Wunsch, das Gebäude wegen seiner historischen und emotionalen Bedeutung zu erhalten. […] Das Haus I soll dann ein Dokumentations- und Bildungszentrum zum Thema ›Repression in der SED-Diktatur‹ eingerichtet werden. […] Die BStU übernimmt im Rahmen ihrer gesetzlichen Aufgabenstellung mit ihren vorhandenen Mitteln die Verantwortung für die Einrichtung einer neuen Dauerausstellung, in der die Funktion des Ministeriums für Staatssicherheit im System der SED-Diktatur ausführlich dargestellt werden soll. Dabei werden die Ausstellung der BStU in ihrem Informations- und Dokumentationszentrum in der Berliner Mauerstraße und in Absprache mit der Antistalinistischen Aktion (ASTAK) deren derzeitige Ausstellung in Haus I zusammengeführt. Die ASTAK wird in die Konzeption der neuen Ausstellung einbezogen. Um der Bedeutung der Bürgerrechtsinitiativen und Opferverbände für die friedliche Revolution Rechnung zu tragen, soll Haus I auch 462 weiterhin von diesen genutzt werden können.«
Damit hatte die ASTAK im Grunde genommen ihre Ziele erreicht: Das Haus I sollte auf Kosten des Bundes saniert, instandgesetzt und unterhalten werden. Die ASTAK musste der BStU zudem weder institutionell noch in Bezug auf die Aufarbeitungstätigkeiten untergeordnet werden, sondern wurde als Kooperationspartner auf Augenhöhe behandelt. Die ansässigen Initiativen behielten überdies ihre BStUunabhängigen Hausrechte. Mehr noch, sie wurden selbst zu Symbolen der »Friedlichen Revolution« erklärt, die im Haus I ihren symbolischen Ort gefunden hatten. In gewisser Weise ähnelte Neumanns »salomonischer« Vorschlag deshalb einer »Wohngemeinschaft« bei der sich ASTAK mit BStU in jeder Hinsicht den Kühlschrank teilten.
4.12 Z USAMMENFASSUNG : D IE FOGE IM H AUS I 1989-2009 Vergleichbar mit der »Runden Ecke« war auch die Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße (FOGE) im Haus I von Anbeginn der Auflösung des ehemaligen MfS ein Ort verschiedener erinnerungs- und geschichtspolitischer Begehrlichkeiten. Der Konflikt bestand dabei von Anfang an zwischen Bürgerinitiativen und staatlichen Institutionen. Er resultierte maßgeblich aus »Besitzansprüchen«, die sowohl die Bürgerinitiativen als auch die staatlichen Einrichtungen aus dem Prozess der Auflösung des MfS/AfNS ableiteten. In noch viel stärkerem Maße als bei der »Runde Ecke« wurde seitens der zivilen MfS-Auflöser dabei auf die Symbolik der »Erstürmung«, auf die »Friedliche Revolution« sowie auf die Bedeutung von »Opposition und Widerstand im Haus I« gesetzt, obwohl gerade in Bezug auf die MfS-
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Zentrale diese Geschichtsbilder einer kritischen Überprüfung kaum standhalten. Der Mythos von einer Besetzung der Stasi-Zentrale am Abend des 15. Januar 1990 und die Mär einer Gründung einer Gedenkstätte allein durch die ehemals Unterdrückten und »Hausbesetzer« dienten dennoch bis heute dazu, Hausrechte der dort ansässigen Initiativen und die Trägerschaft der Gedenkstätte durch die ASTAK erfolgreich gegen eine Vormachtstellung von Bundeseinrichtungen zu verteidigen. Dies überrascht insofern, als dass die Rekonstruktion der Ereignisse zwischen dem 07. Dezember 1989 und dem 15. Januar 1990 sowie die Gründungsgeschichte der FOGE aufdecken, dass es sich auch bei der Besetzung der MfS-Zentrale – ähnlich der BVSt Leipzig – eher um eine »geordnete Übergabe« gehandelt hatte und der Auflösungsprozess wie auch der Aufbau einer nationalen Gedenkstätte im Haus I mit dem Einsetzen des Staatlichen Komitees bis zum Beitritt zur BRD maßgeblich unter staatlicher Regie erfolgten. Heinz M., der sich bereits zwei Tage vor der Auflösung der MfS-Zentrale bei Modrow um eine leitende Stelle in einem dort möglichen MfS-Museum beworben hatte, forcierte als Leiter der AG 2-Akten des BKB in den ersten Wochen der MfSAuflösung die von Wolfgang Templin und Carlo Jordan am ZRT vorgebrachte und bereits am 22. Januar 1990 beschlossene Idee einer Gedenkstättengründung im Haus I. Seine Konzepte zu einer »Gedenkstätte für die Opfer des Stalinismus« (21./28. Januar 1990), zu einer »Forschungs- und Gedenkstätte zur Unterdrückung Andersdenkender« (08. Februar 1990), schließlich zu einer »Forschungs- und Gedenkstätte für die Opfer stalinistischer Willkür und zur Darstellung der Unterdrückung Andersdenkender« (18. März 1990) – mit über 56 Mitarbeitern als Großeinrichtung geplant – stießen allerdings mit zunehmendem staatlichen Einfluss auf die MfS-Auflösung auf Widerstand. Ausstellungsvorbereitende Arbeiten wie das Sammeln, Erfassen und Sortieren von potenziellen Exponaten wurden behindert. Ab März 1990 übernahm dann das SK endgültig die Federführung und begann es mit Hilfe des eigens hierfür eingesetzten Aufbaustabes – zu dem auch zwei Überläufer aus der AG 2-Akten gehörten – ab März 1990 gesondert von Heinz M. »Initiativgruppe FOGE« ein nationalgeschichtliches »Sammlung-, Dokumentationsund Kommunikationszentrum zur Geschichte der DDR 1945-1990« zu planen. Der hierfür eingestellte Museumsexperte, Ulrich W., sowie der Leiter des Staatlichen Komitees, Eichhorn, verfolgten damit das Ziel, die DDR als »gute Idee« zu konservieren und lediglich die »stalinistischen Verfehlungen«, zu denen sie das MfS rechneten, als »Betriebsunfall« zu delegitimieren. Inhaltliche Unterstützung im Sinne eines solchen »DDR-Nationalmuseums« erhielten Eichhorn und Ulrich W. vom stellvertretenden Generaldirektor des MfDG in Ostberlin Kurt W., der mit der Vorstellung eines »Haus der Geschichte II« als Pendant zum HdG in Bonn auch eine »Unterschlupfmöglichkeit« für seine Mitarbeiter verband. Politisch wurden die Nationalmuseumspläne von Eichhorn, Ulrich W. und Kurt W. durch den Ministerratsbeschluss vom 16. Mai 1990 untermauert, der die Vorbereitung und Einrichtung einer »Forschungs- und Gedenkstätte für die Opfer des Stalinismus« im Haus I endgültig zur Staatsaufgabe erklärte. Hierfür wurde eine Anbindung an das MfK vorgesehen, alternativ – mit Blick auf den anstehenden Beitritt zur BRD – auch eine Anbindung an das MdI in Erwägung gezogen.
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Da das MfK und das MdI weder finanziell noch personell in der Lage waren, das FOGE-Projekt kurzfristig zu schultern, und der Initiativgruppe/dem Aufbaustab ab Sommer 1990 aufgrund von Gauck und Beitritt zur BRD zudem das baldige Ende drohte, bot sich als »Rettungsanker« für die FOGE und ihre Mitarbeiter die Gründung eines Trägervereins oder einer Stiftung an. Sie konnte das Gedenkstättenvorhaben, aber auch das eigene Fortleben und den eigenen Einfluss auf die historische Aufarbeitung im Haus I auch nach dem 01. Juli 1990 bzw. nach dem 03. Oktober 1990 hinaus sichern. Die Regierungsvertreter und das SK nahmen das gemeinsame Errichten einer Stiftung Antistalinistische Aktion (ASTAK) als Trägerin der FOGE im Haus I wohlwollend zur Kenntnis, zumal eine solche Organisationsform auch in der BRD ein gängiges Modell für Museen und Gedenkstätten zu sein versprach. Einer ASTAK-Gründung standen sie daher nicht im Wege. Inhaltlich lag die ASTAK-Stiftung ohnehin auf der Regierungslinie und stimmte auch der Stiftungszweck weitgehend mit den Vorstellungen von Eichhorn überein. So machte sich die am 02. August 1990 aus Mitgliedern des BKB und SKAufbaustabes, aus Vertretern der PDS und ehemaligen MfS-Angehörigen gegründete ASTAK zum Ziel, die Auseinandersetzung mit einer Politik in der DDR zu fördern, die sich demokratischen Grundsätzen abgewandt hatte, um im Sinne eines erfolgreichen Demokratisierungsprozesses als Ort der Begegnung zu versöhnen. Auch war die konkrete Ausstellungstätigkeit noch weitgehend regierungsunkritisch. Das erste Gestaltungskonzept für das angestrebte »demokratische Forum humanistischer Geschichtsbewältigung« inklusive Raum- und Funktionsstruktur der FOGE wurde sogar der DDR-Regierungskommission vorgelegt und von ihr abgesegnet. Und auch die erste Ausstellung der FOGE, die Anfang November 1990 eröffnet wurde und vom ehemaligen MfS-Angehörigen Heinz K. konzipiert war, entsprach terminlich sowie gegenständlich Eichhorns Vorgaben »zu einer kleineren Ausstellung im November«. Sie konzentrierte sich auf MfS- Devotionalien und gab wenig Auskunft über historisch-politische Zusammenhänge, Verquickung von MfS und SED usw. Sie spiegelte auf diese Weise zudem das eigentliche Kräfteverhältnis innerhalb der ASTAK wider. Ehemalige SK- und MfS-Mitarbeiter sowie die PDSVertreter besetzten die zentralen Positionen innerhalb der ASTAK. Sie verfolgten zunächst keine Delegitimation der DDR und keine umfassende kritische Auseinandersetzung mit dem DDR-Staatssozialismus, sondern begrenzten ihren Blick vornehmlich auf stalinistischen Auswüchse und DDR-Kuriositäten. Das fatale an dieser Situation war, dass es vorübergehend keine Alternative für das Haus I gab. Mit der Auflösung des MfS ging die Immobilie in das Vermögen des SK über, von dort in das Vermögen der Treuhand. Der seit Sommer 1990 amtierende Sonderbeauftragte für die Unterlagen der ehemaligen Staatssicherheit der DDR hatte – in Ermangelung eines StUG – noch keine Zuständigkeit für den Betrieb und die Trägerschaft einer Gedenkstätte in Haus I. Eine Anbindung an die Behörde des Sonderbeauftragten wurde daher in jedweder Form noch kurz vor der Eröffnung der FOGE von Gauck persönlich abgelehnt, obwohl er zur gleichen Zeit bereits in den oberen Etagen des Haus I residierte und die ASTAK ihm die FOGE »auf dem silbernem Tablett« präsentierte. Die Ablehnung der Schirmherrschaft für die erste ASTAK-Ausstellung war ein törichter Schritt, den Gauck zu einem späteren Zeitpunkt bitter bereute.
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Als er ab 1992 mit dem §37-StUG verpflichtet wurde, eigene Dokumentationszentren und Bildungsstätten zur politisch-historischen Aufarbeitung zu unterhalten, war es für eine unkomplizierte Inbesitznahme des Haus I schon zu spät. Inzwischen hatte sich die ASTAK als Betreiberin der FOGE etabliert und vor allem durch den Wechsel an der Vereinsspitze zügig das Image einer allein aus der Oppositions- und Bürgerrechtbewegung stammenden »Hausherrin« aufgebaut. Ein Putschversuch der ASTAK-Gründungsväter, die äußerst kritisch ihren Nachfolgern aus dem »Haus der Zukunft« gegenüberstanden und schon allein deswegen versuchten, den BStU und die Berliner SenKult dazu zu bewegen die FOGE »zu retten«, scheiterte. Das von den Gründungsvätern initiierte Angebot des BStU, der ASTAK finanziell und institutionell »unter die Arme greifen« zu können, wurde öffentlich als »feindliche Übernahme« desavouiert. Mit Erfolg. Innerhalb der ASTAK und in der öffentlichen Wahrnehmung setzte sich als zukünftige Betreiber der FOGE die ehemaligen DDROppositionellen durch, die zwar 1989 schon längst in Westdeutschland gewesen waren und deshalb kaum »Revolutionserfahrung« mitbrachten, aber in der FOGE eine vielversprechende Zukunftsperspektive für sich entdeckten. Die »staatstreuen« MfS-Auflöser aus dem Aufbaustab, der PDS und dem MfS zogen sich vollends zurück. Aufgrund einer neuen Satzung und neuer Spielregeln blieb ihnen fast keine andere Wahl. Damit endete zwar die geschichtspolitisch DDR- und MfS-unkritische Ausrichtung der Gedenkstätte, eine Versachlichung gelang jedoch nicht. Vielmehr wurde der alte Mythos durch einen neuen Mythos ersetzt. So kam es zur kuriosen Situation, dass mit der neuen, dominierenden ASTAK-Mannschaft, die die »Wendezeit« in der BRD verbracht hatte, in viel stärkerem Maße die Werte der MfS-Auflöser bzw. das Image der ostdeutschen Bürgerbewegten und »Revolutionäre des Herbstes 89’« gepflegt wurden als von den tatsächlichen ehemaligen MfS-Auflösern, Aufbaustab-Mitgliedern und Gründern der Gedenkstätte. Erst mit dem Abgang der alten ASTAK-Garde und mit dem steigenden Einfluss des »Hauses der Zukunft« verkörperte die Gedenkstätte den »Geist« des Herbstes 1989, der Bürgerbewegung sowie von Widerstand und Opposition. Damit war aber auch die Zeit des Nivellierens vorbei und begann die radikale Delegitimierung der DDR. In die Gedenkstättenarbeit flossen fortan vorwiegend systemkritische Perspektiven der Betroffenen und Systemgegner ein. Damit veränderte sich auch das Profil der Gedenkstätte. Opposition, Widerstand und die »Friedliche Revolution« von 1989/1990 wurden – neben der Vermittlung von Kenntnissen zum MfS und zum politischen System der DDR im Allgemeinen – ab sofort zu den wesentlichen Bausteinen des ab 1992 vermittelten Geschichtsbildes. Erst jetzt entwickelte sich also die FOGE vom »Traditionskabinett der Stasi« zu einem politischen Bildungs- und Begegnungszentrum der DDROpposition. Von einer politikfreien Geschichtsaufarbeitung und Bildungsarbeit war die Einrichtung aber auch deshalb weiterhin entfernt. Hinzu kam, dass der BStU zunehmend den symbolischen Wert des Haus I für seine eigene Geschichtsaufarbeitung entdeckte und folglich gezielter versuchte, es der ASTAK streitig zu machen. Der erinnerungs- und geschichtspolitische Richtungsstreit setzte sich also in den folgenden Jahren fort, verlagerte sich jedoch auf Konflikte zwischen Bundeseinrichtungen (insbesondere BStU) und der im Haus I ansässigen Vereine, zu denen maßgeblich die ASTAK zusammen mit der FOGE gehörte. So scheiterten Gauck
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und Birthler zwischen 1992 und 2003 immer wieder bei dem Versuch, das Haus I zu übernehmen, die ASTAK samt FOGE in die eigene Behörde einzugliedern und an Ort und Stelle ein Informations- und Dokumentationszentrum einzurichten. Mit dem symbolpolitischen Argument, dass man Revolutionäre nicht einfach rausschmeißen bzw. auf die Straße setzten könne, und mit dem satzungsgemäßen Mitspracherecht der Vereinsmitglieder, ließen sich die Besitzstands- und Hausrechte der ASTAK gegen die Pläne, das Haus In verschiedenster Weise zu verstaatlichen, problemlos durchzusetzen. Schließlich gab Gauck auf und errichtete er sein zentrales IDZ in der Mauerstraße. Seine Nachfolgerin Birthler wurde nach 2003 in diese Richtung nur noch auf Initiative der Bundesregierung initiativ. Mit dem Widerstand gegen eine institutionelle Anbindung an eine staatliche Einrichtung bzw. Behörde verbanden sich – neben dem Beharren auf staatliche Autonomie – v.a.a. grundsätzlich unterschiedliche konzeptionelle Vorstellungen. Während sich die ASTAK nach 1992 gegen die DDR-Geschichtsrevisionisten in den eigenen Reihen durchgesetzt hatte und sodann ausschließlich ihrem erfahrungs, revolutions- und widerstandsgeschichtlichen Ansatz sowie einer vergleichenden Diktaturaufarbeitung »von unten« folgte (hierfür stand die Skizze vom Oktober 1992 sowie das Thaysen-Papier von September 2001), stellten die Pläne des BStU (Vertrag vom September 1993, »Verbundlösung« von 1996) und später auch die Konzepte der vom Bund und der SenKult eingesetzten Fachkommission (»Anatomie der SED-Diktatur« von 2001/2002) diesen Ansatz in Frage. Sie rückten stattdessen – einem system- und politikgeschichtlichen Ansatz folgend – das staatssozialistische System der DDR in den Vordergrund und drangen auf Professionalisierung. Für sie war das Haus I kein »Ort der Opfer«, kein Ort von »Widerstand und Opposition« und kein Ort der »Friedlichen Revolution«, sondern ausschließlich ein »Ort der Täter«. Damit gingen zugleich erneut Pläne von einer groß angelegten »nationalen Gedenkstätte« vom Rang des HdG bzw. als Pendant zur »Topographie des Terrors« einher, die zwangsläufig das Zurückdrängen der Bürgerinitiativen mit sich brachten und Assoziationen zu einer zentralistischen Geschichtsaufarbeitung »von oben« weckten. Zwar sollte den ansässigen Vereinen, insbesondere der ASTAK »Bleiberechte« in Haus I und die Möglichkeit, eigene Angebote durchzuführen, eingeräumt werden, insgesamt jedoch lief es auf einen weitgehenden Verlust an Deutungsmacht und Einfluss auf politische Bildungsarbeit hinaus, wollte man ihnen die »Mielke-Suite« sowie den Großteil der Ausstellungs- und Arbeitsräume nehmen. Schließlich wurde den Vereinen sogar ein kooperatives »Miteinander« versagt. Die Empfehlungen der zweiten Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages und die Gedenkstättenkonzeption des Bundes, die perspektivisch eine ReVerstaatlichung der Gedenkstätte allein aus Bausubstanz sichernden Gründen nun unter verschiedener Einbeziehung der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur empfahl, trug kaum zur dauerhaften Lösung des Problems bei. Die Stiftung zur Aufarbeitung zur SED-Diktatur fasste das »heiße Eisen« nicht an und lehnte es ab, dort ihren Sitz zu nehmen. Angesichts der gesamtstaatlichen Bedeutung des historischen Ortes sowie aufgrund der eigenen prekären Haushaltssituation versagte das Land Berlin zudem weiterhin zusätzliches Engagement und setzte es unverändert auf eine Bundesübernahme. In die Liste der dauerhaft zu fördernden Einrichtungen
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von gesamtstaatlicher Bedeutung, d.h. in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes von 1999 wurde die FOGE – in Ermangelung eines bundespolitisch erwünschten Trägermodells – nicht aufgenommen. Schließlich lieferten die von der EnqueteKommission fixierten Grundsätze zur »demokratischen Erinnerungskultur« – zumindest aus Sicht der ASTAK – sogar eher überzeugende Argumente für ein Fortbestehen des strukturellen Status quo. So kam es zur zweiten Kuriosität: Denn sowohl die ASTAK als auch die 2000 berufene Fachkommission beriefen sich bei ihren Versuchen, eine institutionelle Bundesförderung zu erreichen, auf die Prinzipien der »demokratischen Erinnerungskultur«, ohne diese jeweils konzeptionell konsequent anzuwenden. Dabei »ergänzten« sich die Gedenkstättenkonzepte fast schon idealtypisch: was dem einen fehlte, berücksichtigte das andere und umgekehrt. So sollte die Geschichtsaufarbeitung gerade an diesem symbolträchtigen Ort, laut der Fachkommission nicht einseitig und subjektiv, aus der Perspektive Betroffener bzw. der Opposition, sondern dem Anspruch nach objektiv und aus systemgeschichtlicher Perspektive erfolgen. Die Multiperspektivität sowie das Einbeziehen des bürgerschaftlichen Engagements und ihrer gewachsenen Strukturen blieben dabei jedoch unberücksichtigt. Zwar sah die »Anatomie der SED-Diktatur« ein Höchstmaß an Professionalität und Differenziertheit vor, und vermied damit auch undifferenzierte totalitarismustheoretische Gleichsetzungen bzw. Gegenüberstellungen von NS und DDR sowie von Gestapo und Stasi, realisiert werden sollte das Projekt »Anatomie der SED-Diktatur« aber vornehmlich als Chefsache des Staates. Aber auch die ASTAK hielt nicht, was sie unter der Verwendung der Prämissen der »demokratischen Erinnerungskultur« im Thaysen-Papier versprach. Das allein auf Multiperspektivität und bürgerschaftliches Engagement abhebende Konzept ließ nämlich wiederum differenzierte, wissenschaftlich fundierte sowie tief greifende Systemaufarbeitung vermissen. Zudem enthielt es totalitarismustheoretische Vergleiche mit der NS-Diktatur, die dem Verharmlosungs- und Nivellierungsverbot der »demokratischen Erinnerungskultur« zuwiderliefen. Den Zweck, in den Genuss der institutionellen Bundesförderung zukommen, verfehlten am Ende beide Konzepte. Es folgte ein jahrelanger Stillstand. Da die Symbolpolitik der ASTAK aufging und sich die »Revolutionäre« einfach nicht vor die Tür setzen ließen, da ab 2003/2004 ohnehin die Zukunft der BStUBehörde auf der Tagesordnung stand und um schließlich auch Bewegung in die Sache zu bringen, versuchte die Bundesregierung letztendlich »von ganz oben« zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Erstens, im Interesse einer langfristigen Lösung für das Haus I sowie, zweitens, im Sinne eines Fortlebens der Abteilung BF im Zuge einer Übergabe der Stasi-Akten an das Bundesarchiv, wurde die BirthlerBehörde durch eine Ressortverlagerung vom BMI zum BKM gedenkstättenpolitisch massiv gestärkt. Gleichzeitig bestand damit Anlass genug, jenseits bisheriger gedenkstättenpolitischer Manöver eine übergreifende Bundeskonzeption nur für die Gedenkstättenlandschaft zur SBZ/DDR-Vergangenheit zu erstellen, in der das Haus I besonders berücksichtigt werden konnte. Im Mai 2005 berief die BKM Christina Weiss zu diesem Zweck die Sabrow-Kommission ein, die binnen eines Jahres in Konkurrenz zu den u.a. im Haus I ansässigen Initiativen (allen voran die ASTAK) Empfehlungen zum Schaffen eines »Geschichtsverbundes SED-Diktatur« erarbeitete. Für das Haus I und die ASTAK gab es wenige Überraschungen. In drei
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verschiedenen Varianten wurde eine Anbindung der FOGE (gemeinsam mit der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen) an die BStU vorgeschlagen. Des Weiteren sollte die BStU im Haus I das eigene »Forschungs- und Dokumentationszentrum« einrichten, das zugleich eine Leiteinrichtung für alle anderen Gedenkstätten, Initiativen, Archive usw. innerhalb des Aufarbeitungsschwerpunktes »Diktatur und Geheimpolizei« werden sollte. Die ASTAK und mit ihr zahlreiche weitere Bürgerinitiativen und »freie« Gedenkstätten bzw. Archive, d.h. die Mehrzahl der ehemaligen Bürgerrechtler und organisierten DDR-Oppositionellen lehnten das Schaffen eines solchen vermeintlichen »Aufarbeitungskombinates« und die staatliche Okkupation des Hauses I ab. Die ASTAK argumentierte erneut mit ihrem vereinsrechtlichen Status und mit ihrer damit grundsätzlich verbürgten Autonomie, die einer Umsetzung der Empfehlungen entgegenstand. So kam auch nach der Regierungsneubildung der neue BKM Bernd Neumann nicht umhin, alternativ auf eine enge Zusammenarbeit bzw. auf eine »Kooperation in Augenhöhe« zu setzen. Sein Kompromissvorschlag lief am Ende darauf hinaus, sowohl der ASTAK als auch den im Haus I ansässigen Initiativen als deklarierte »Symbole der Friedlichen Revolution« gebührliche Aufmerksamkeit und Spielräume einzuräumen. An ihren Vereinsstrukturen und ihrer Deutungsmacht wurde nicht gerüttelt und das gewünschte »Forschungs- und Dokumentationszentrums« im Haus I wurde nunmehr als Gemeinschaftsprojekt von BStU und ASTAK in seiner »Neuen Gedenkstättenkonzeption des Bundes« vom Juni 2008 festgeschrieben. Die Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße ist damit weder ein »DDR-Traditionskabinett« noch ein »Haus der Geschichte der DDR« oder eine »Dependance des/der BStU« geworden und verkörpert heute, neben der Geschichte des MfS, auch die Geschichte des Ortes nach 1990, sodass sich die Bürgerinitiativen gewissermaßen mit dem Haus I schließlich vorerst selbst ein Denkmal setzten.
Konflikte um Gedenkstätten zur deutschen Teilung: Die Berliner Mauer und Marienborn
1. Einführung
Als in der Nacht vom 09. auf den 10. November 1989 zögerlich die Grenze in Richtung BRD geöffnet wurden, verlor sie ihre einzigen drei Funktionen: zwei politische Systeme voneinander zutrennen, Deutschland in der Mitte zu teilen und die DDR-Bevölkerung davon abzuhalten sich frei in Europa zu bewegen. Ein rigider Grenzapparat mit Vor- und Hinterlandmauern, Todesstreifen und Selbstschussanlagen hinderten fortan niemanden mehr, von seinem grundsätzlichen Recht auf Freiheit Gebrauch zu machen. Aus einem über die Jahrzehnte aufgeblähten Abschottungs- und Grenzsystem wurde eine durchlässige Ruine. Die in den Folgemonaten zügig voranschreitende Demontage der Berliner Mauer und der Grenzanlagen zwischen Ostsee und Fichtelgebirge galt, neben der geopolitischen Neuordnung, vor allem auch als symbolpolitisches »Understatement« für grenzenlose Freiheit und einen schnellen Beitritt der DDR zur BRD. Die politische Forderung »Die Mauer muss weg!« wurde mit dem beschleunigten Abriss der Grenzanlagen symbolträchtig in die Tat umgesetzt. Es bestand infolgedessen zwangsläufig ein grundsätzlicher Zwiespalt zwischen Bewahrung der Grenze zur historischen Aufarbeitung bzw. Dokumentation und zum Erinnern der deutschen Teilung einerseits und dem bewussten, symbolträchtigen Vernichten der Spuren deutscher Teilung als Zeichen ihrer Überwindung andererseits. Das Dilemma der Erinnerung an die deutsche Teilung ist also von Anfang an die ihr innewohnende Widersprüchlichkeit als materielles Zeichen verschwinden zu müssen, um das zu überwinden, worauf es als materielles und symbolisches Zeichen verweist.
2. Die deutsche Teilung – Historischer Abriss
Eine Folge des Zweiten Weltkrieges war die Teilung Deutschlands. Ab dem 01. Juli 1945 zogen sich die Alliierten (Großbritannien, USA, Frankreich und Sowjetunion) in die ihnen mit dem Londoner Protokoll vom 12. September 1944 und mit dem Potsdamer Abkommen vom 02. August 1945 zugewiesenen Besatzungszonen zurück. Der Osten Deutschlands wurde zur Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), Süddeutschland wurde von den USA besetzt, der Südwesten fiel Frankreich zu und Norddeutschland stand unter britischer Besatzung. Wenngleich bis 1948 der Alliierte Kontrollrat alle grundlegenden besatzungspolitischen Beschlüsse fasste, gestaltete sich der Alltag innerhalb jeder Besatzungszone sehr unterschiedlich. So war die Versorgungsnot in der SBZ im Vergleich zu den anderen Besatzungszonen aufgrund der dramatischen Kriegszerstörungen und aufgrund der allgemeinen desolaten Lage der Sowjetunion besonders hoch. Bis zum Frühsommer 1946 hatten bereits rund 1,6 Millionen Menschen die SBZ in Richtung Westen verlassen, wobei die meisten Transit- und Kriegsflüchtlinge waren, die es wegen der erhofften besseren Versorgungslage und wegen vielfach kaum vorhandener Unterkünfte in Richtung Westen weiter zog. Auf Initiative der Sowjetunion beschloss der Alliierte Kontrollrat die Grenze zwischen der SBZ und den westlichen Besatzungszonen ab dem 30. Juni 1946 für zunächst vier Monate zu sperren. Während die West-Zonen diesen Schritt mit massiven Versorgungs- und Unterbringungsproblemen rechtfertigten, war die Schließung für die Ost-Zone eine erste Maßnahme gegen den blühenden Schwarzmarkt im Grenzgebiet sowie gegen Schmuggel.1 Eine politische Provokation war diese Grenzschließung also noch nicht. Mit der Kontrollratsdirektive Nr. 42 vom 29. Oktober 1946 wurde der legale Grenzübertritt zwischen den Besatzungszonen nach dieser viermonatigen Sperrung über die neu geschaffenen Grenzübergänge in Verbindung mit einem »Interzonenpass« möglich, um den Warenfluss besser kontrollieren zu können. Eine Ausnahme bildete Berlin, dort blieben die Sektoren (bis auf die Zeit der »Berlin-Blockade«) bis 1961 frei passierbar. Zwischen 1947 und 1948 kühlte das Klima zwischen den Besatzungsmächten ab. Als die westlichen Besatzungsmächte im März 1948 eine westliche »Trizone« errichteten, verließ die Sowjetunion den Alliierten Kontrollrat. Und als innerhalb der Tri1
Scherrieble, Joachim: Leitfaden für die Führungen, Stand 1999, S. 19, ArGDT, Geschäftsablage o. Sign.
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zone im Juni 1948 die Währungsreform durchgeführt wurde, kam es zu einem endgültigen Bruch. Die Sowjetunion reagierte auf die Währungsreform mit einer elfmonatigen »Berlin-Blockade« zwischen dem 24. Juni 1948 und dem 12. Mai 1949. Bis zum Ende der »Berlin-Blockade« verdreifachte sich die Stärke der Grenzpolizei an der Zonengrenze von 4000 auf über 13.000 Mann.2 Die Trizone war von Westen ausgegangen und folgte der politisch angestrebten Westbindung sowie ökonomischen Gründen. Mit der Gründung der BRD durch Inkrafttreten des Grundgesetzes am 24. Mai 1949 wurde die Zonengrenze zwischen Trizone und SBZ zur innerdeutschen Staatsgrenze und war die deutsche Teilung vollzogen. Die Nachgründung der DDR am 07. Oktober 1949, durch Konstituierung des Deutschen Volksrates, war eine Reaktion auf die vorher bereits vollzogene Teilung Deutschlands. Grenzbezogene, systematische Repressionen begannen mit der Übertragung der Zuständigkeit auf das MfS 1952. Am 16. Mai 1952 wurde die Grenzpolizei, die bis dahin dem Ministerium des Innern zugeordnet war, als »Deutsche Grenzpolizei« dem MfS unterstellt.3 Am 26. Mai 1952 erging die »Verordnung über Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands«. Sie regelte die Einrichtung einer Sperrzone, den Ausbau der Grenzanlagen und die Räumung des Sperrgebietes von »feindlichen, verdächtigen und kriminellen Elementen«. Die in der Sperrzone verbleibende Bevölkerung erhielt einen Wohnberechtigungsstempel, Ostdeutsche erhielten einen Passierschein nur aus beruflichen Gründen bzw. bei Vorliegen von Verwandtschaft ersten Grades, Westdeutschen blieb der Zutritt gänzlich verweigert.4 Nachdem der sowjetische Vorschlag, West-Berlin zu entmilitarisieren, abgelehnt wurde und auch der Versuch scheiterte, über einen Friedensvertrag zwischen den Alliierten mit den beiden deutschen Staaten die völkerrechtliche Anerkennung der DDR herbeizuführen, gaben Nikita Chruschtschow und auch die anderen Regierungschefs der Ostblockstaaten nach anfänglichem Zögern dem Drängen der SEDFührung auf eine Abriegelung Ost-Berlins schließlich nach.5 Auf einer Konferenz der Vorsitzenden der kommunistischen Parteien der Warschauer Vertragsstaaten in Moskau Anfang August 1961 erhielt die DDR-Spitze die Legitimation, die innerdeutsche Grenze um und durch Berlin hindurch abzuriegeln.6 Am 13. August 1961 wurde die Berliner Sektorengrenze auf einer Gesamtlänge von über 160 km mit Stacheldraht und Mauerbau vollständig geschlossen und der »antifaschistische Schutzwall« errichtet. Diese begriffliche Wendung suggerierte, die Mauer sei eine legitime Maßnahme zur Verteidigung der DDR gegen einen drohenden Angriff des Westens. Tatsächlich ging es aber um das Eindämmen der Fol-
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Walther, Achim/Bittner, Joachim: Heringsbahn. Die innerdeutsche Grenze im Raum Hötensleben/Offleben/Schöningen, Braunschweig 2001, S. 15. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18-19. Verein »Berliner Mauer – Gedenkstätte und Dokumentationszentrum« (Hg.): Die Berliner Mauer. Ausstellungskatalog Dokumentationszentrum Berliner Mauer, Berlin 2002, S. 61, S. 96. Ebd., S. 96.
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gen der bis dahin anhaltenden Massenflucht, nämlich um das Abwenden des ökonomischen Ruins der DDR einerseits und um Stabilisierung der poststalinistischen DDR-Innenpolitik andererseits.7 Hatten mehr als 2,6 Millionen Menschen zwischen 1949 und 1961 aufgrund von Mangelwirtschaft, wegen Bevorzugung der westeuropäischen Wohlstandsgesellschaft und der Ablehnung eines zentralwirtschaftlich organisierten Staatssozialismus die bis dahin offene Ostberliner Grenze Richtung BRD übertreten, gelang die Republikflucht ab dann nur noch unter Lebensgefahr bzw. mit dem Risiko langjähriger Haftstrafen.8 Außenpolitisch wiederum provozierte der Mauerbau die Umwandlung des bisher »kalt« geführten Krieges in eine »heiße« kriegerische Auseinandersetzung. Obwohl sich am 28. Oktober 1961 amerikanische und sowjetische Panzer am Checkpoint Charly gefechtsbereit gegenüberstanden, kam es hierzu jedoch nicht. Die Berliner Mauer wurde zwar bis zu ihrem Fall am 09. November 1989 grundlegend vom Westen und vom Großteil der DDR-Bevölkerung abgelehnt, am Status quo änderte sich die folgenden 28 Jahre allerdings nichts, die endgültige Teilung Deutschlands wurde – trotz Passierscheinabkommen 1963-1966 und der neuen Ostpolitik (Entspannungspolitik) bzw. Annäherungen in den 70er und 80er Jahren – hingenommen.9 »Die Bundesrepublik – und auch die Regierung Kohl – waren in der Praxis viel stärker an der deutschen Zweistaatlichkeit orientiert, als dies später zugegeben wurde«, resümiert Weber.10 Dies ging sogar soweit, dass Bundeskanzler Kohl die Nachricht über eine anstehende Grenzöffnung ignorierte, die er etwa eine Woche vor der Grenzöffnung vom Regierenden Bürgermeister Berlin, Walter Momper, nach dessen Treffen mit Günter Schabowski zugestellt bekommen hatte. Sie lautete, die DDR plane »den Kessel aufzumachen«, die Grenze in den nächsten Tagen zu öffnen und Reisefreiheit einzuführen. Konkrete Überlegungen und Schritte in diese Richtung hatte die DDRRegierung bereits ab August 1989 eingeleitet.11 Am 01. November öffnete die SED die Grenze zur ČSSR, am 04. November konnten 6000 »Republikflüchtlinge« aus Prag direkt in die BRD ausreisen, zwei Tage später veröffentlichte die DDRRegierung den Entwurf eines Reisegesetzes, der am 09. November beschlossen wurde und am 10. November in Kraft treten sollte.12 Die von Egon Krenz angeordnete Veröffentlichung des Beschlusses am Abend des 09. Novembers und der berühmt gewordene, dilettantische Versprecher von Schabowski, der Beschluss gelte ab sofort, vor allem aber die Berichterstattung darüber im öffentlich-rechtlichen
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Hertle, Hans-Herrmann/Jarausch, Konrad/Kleßmann, Christoph (Hg.): Mauerbau und Mauerfall. Ursachen. Verlauf. Auswirkungen, Berlin 2002. 8 Verein »Berliner Mauer – Gedenkstätte und Dokumentationszentrum« (Hg.): Berlin, 13. August 1961. Werkschau des Dokumentationszentrums Berliner Mauer, Berlin 2001. 9 Zentrum für Zeithistorische Forschung: Die Berliner Mauer – Erinnerung ohne Ort? Memorandum zur Bewahrung der Berliner Mauer als Erinnerungsort vom 15.03.2005, S. 2, ArLStU, Bestand: Deutscher Bundestag Enquete-Kommission. 10 Weber, Hermann: Geschichte der DDR, München 2003, S. 479. 11 Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel, S. 457. 12 Ebd., S. 453-454.
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Fernsehen in Westdeutschland führten zur vorzeitigen Grenzöffnung nur wenige Stunden vor Inkrafttreten des Reisegesetztes. Die Berliner Mauer in der Bernauer Straße Die Schließung der Sektorengrenze am 13. August 1961 um 1 Uhr nachts versperrte den letzten offenen Fluchtweg in den Westen. Es wurden Familien, Paare und Freundschaften getrennt, Häuser zerschnitten und verbarrikadiert, schließlich zugemauert und abgerissen, von spektakulären Fluchten ganz zu schweigen. Alleine sieben Menschen starben dabei im ersten Jahr des Mauerbaus.13 Besonders spitzte sich die Situation in der Bernauer Straße zu. Der Bürgersteig der östlichen Straßenseite gehörte noch zum Westsektor und zum Bezirk Wedding, die angrenzende Häuserfassade hingegen war bereits Berlin-Mitte und damit Staatsgebiet der DDR. Dies war Folge der 1920 geschaffenen Bezirksgrenzen von Groß-Berlin, an denen sich 1945 bei der Einteilung der Sektoren orientiert wurde.14 Eine weitere Besonderheit in der Bernauer Straße bestand darin, dass die Berliner Mauer hier über den Friedhof der Sophiengemeinde verlief, auf dem – neben den Musikern Carl Bechstein und Walter Kollo – u.a.a. Kriegstote der letzten Kriegstage begraben waren, zumindest bis zu ihrer Umbettung im Zuge des ersten Grenzausbaus (1963-1968).15 Und ebenso war es ein besonderer Umstand, dass sich inmitten des Grenzstreifens der Berliner Mauer das Kirchengebäude der Versöhnungskirchengemeinde befand. Mit dem Bau der Mauer stand die Versöhnungsgemeinde plötzlich ohne ihre Kirche da. 16 In der Bernauer Straße – wie auch in anderen Teilen der Stadt – wurde der Bau des »antifaschistischen Schutzwalls« weitgehend abgelehnt. Er führte zu einer vorerst letzten Fluchtwelle. Eine Hausfrau berichtet über den September 1961 in der Bernauer Straße: »Die Errichtung der Schandmauer sowie Ziehung von Drahtzäunen und der Aufstellung von VP entlang der Sektorengrenze rief eine Aufruhr bei der Bevölkerung in der Bernauer-Str. und Umgebung hervor. […] Schon im Laufe des Tages, am 13.8.61, wurden die Bewohner der Bernauer-Str., Rheinsberger-Str., Schönholzer-Str.[…] in Angst und Schrecken versetzt, denn die VP riegelte diesen großen Wohnblock ab und trennte die Bewohner dieses Gebietes von der Bevölkerung, die in anderen Straßen wohnten. Im Laufe des Sonntags haben etwa 30 bis 40 Bewohner dieser Straßen fluchtartig den Sow. Sektor verlassen und sind nach Westber-
13 Trotnow, Helmut: »Der historische Rückblick macht die Gegenwart verständlich. Die Bernauer Straße und die Gedenkstätte Berliner Mauer«, in: Verein »Berliner Mauer – Gedenkstätte und Dokumentationszentrum« (Hg.): Berliner Mauer. Gedenkstätte, Dokumentationszentrum und Versöhnungskapelle in der Bernauer Straße, Berlin 1999, S. 8. 14 Ebd. 15 Landesdenkmalamt Berlin: Kirchhof II Sophien-Gemeinde. Denkmalpflegerisches Gutachten vom Juli 1997, S. 14ff, ArGBM, Geschäftsablage o. Sign. 16 Trotnow, Helmut: »Der historische Rückblick«, in: Verein »Berliner Mauer – Gedenkstätte und Dokumentationszentrum« (Hg.): Berliner Mauer (1999), S. 9.
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lin geflüchtet. Im Laufe der darauf folgenden Tage haben etwa weitere 100 bis 200 Personen ihr Hab und Gut in Stich gelassen und sind ebenfalls in den Westsektor geflüchtet.«17
Als bald darauf bekannt wurde, dass der gesamte Straßenzug der Bernauer Straße zwangsgeräumt und die Absperrung von Dauer sein werde, nutzten auch mehrere hundert Ostberliner aus anderen Stadtgebieten und Straßenzügen die Chance, über die noch nicht zugemauerten oberen Fensterreihen der Häuser in der Bernauer Straße in den Westen zu springen. Bei diesem Versuch kamen Rolf Urban und Ida Siekmann ums Leben.18 Nur vier Wochen war es unter diesen gefährlichen Umständen möglich, aus den oberen Stockwerken in den Westen zu gelangen, da die VP diese Wohnungen spätestens ab Mitte September besetzt hielt.19 Die bis dahin verbliebenen Bewohner der Bernauer Straße (ca. 2000) wurden schließlich am 24. September 1961 zwangsumgesiedelt.20 Diverse Ereignisse zwischen 1961 und 1989 machten die Bernauer Straße auch über das Jahr 1961 hinaus berühmt. Hierzu gehörte der als Foto festgehaltene Sprung des Grenzsoldaten Conrad Schumann über den Stacheldrahtzaun an der Ecke zur Ruppiner Straße am 15. August 1961. Hierzu gehörten auch die Tunnelfluchten, so die Flucht von 57 Menschen durch einen 12m tiefen und etwa 150m langen gegrabenen Tunnel im Oktober 1964 zwischen Bernauer Straße und Strelitzer Straße.21 Schließlich gehörte hierzu ebenfalls das Sprengen der Versöhnungskirche am 22. und 28. Januar 1985.22 Traurige Bekanntheit erhielt die Bernauer Straße durch den Umstand, dass dort die ersten und meisten Maueropfer der Berliner Mauer zu beklagen waren. Unter ihnen auch der Flüchtling Ernst Mundt, der am 04. September 1962 von einem DDR-Grenzsoldaten getötet wurde.23 Der Ausbau der Berliner Mauer verlief in der Bernauer Straße ähnlich wie auch entlang der restlichen ehemaligen Sektorengrenze. Zunächst wurde Stacheldraht gespannt und eine provisorische Mauer gezogen. Dort, wo auf der Grenzlinie um-
17 Bericht einer Betroffenen vom 28.09.1961 z.n. Verein »Berliner Mauer – Gedenkstätte und Dokumentationszentrum« (Hg.): Berlin, 13. August 1961 (2001). 18 Verein »Berliner Mauer – Gedenkstätte und Dokumentationszentrum« (Hg.): Berliner Mauer (1999), S. 32; Verein Berliner Mauer – Gedenkstätte und Dokumentationszentrum e.V.: Das Dokumentationszentrum »Berliner Mauer« im Rahmen des Ensembles »Gedenkstätte und Dokumentationszentrum Berliner Mauer« in der Bernauer Straße. Rahmenkonzeption, März 1998, S. 9, ArGBM, Geschäftsablage o. Sign. 19 Bericht einer Betroffenen vom 28.09.1961, S. 2-4, in: Verein »Berliner Mauer – Gedenkstätte und Dokumentationszentrum« (Hg.): Berlin, 13. August 1961 (2001). 20 Verein Berliner Mauer – Gedenkstätte und Dokumentationszentrum e.V.: Das Dokumentationszentrum (1998), S. 6, ArGBM, Geschäftsablage o. Sign. 21 Trotnow, Helmut: »Der historische Rückblick«, in: Verein »Berliner Mauer – Gedenkstätte und Dokumentationszentrum« (Hg.): Berliner Mauer (1999), S. 10-11. 22 Verein »Berliner Mauer – Gedenkstätte und Dokumentationszentrum« (Hg.): Grenzblicke. Werkschau des Dokumentationszentrums, Berlin 1999. 23 Verein »Berliner Mauer – Gedenkstätte und Dokumentationszentrum« (Hg.): Die Berliner Mauer (2002), S. 30-31.
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funktionierbare Bauten vorhanden waren, wurden diese aus Mangel an Material umgenutzt, sodass in der Bernauer Straße u.a. ein Teil der Friedhofsmauer der Sophienkirchengemeinde die erste Grenzmauer bildete. Im Herbst 1965 fielen die verbarrikadierten und zugemauerten Häuserreihen dem Abriss zum Opfer, bis Ende 1967 auch die Eckhäuser zu den Nebenstraßen, um ungehindert Hinterlandmauer, Signal-Zaun, Flächen- und Panzersperren, Beobachtungstürme (Berlin-weit mehr als 200), Bunker, Lichttrasse, Postenweg, Kontrollstreifen, Kfz-Sperr-Graben und die eigentliche Vorderlandmauer, d.h. einen tiefengestaffelten Grenzstreifen errichten zu können.24 Lediglich einige Häuserfassadensockel wurden noch bis 1979 als Bestandteil der äußeren Grenzmauer weiterverwendet.25 Die Querstraßen zur Bernauerstraße zwischen Schwedter Straße und Gartenstraße, d.h. auf einer Straßenlänge von 1,4 km, verschwanden auf diese Weise bis 1989/1990 gänzlich aus dem Ostberliner Straßenbild. Der Grenzübergang Marienborn Als Alliierter »Kontrollpassierpunkt« entstanden im Sommer 1945 entlang der Demarkationslinie außerhalb Berlins zwischen der sowjetischen und der britischen bzw. amerikanischen Besatzungszone die ersten Grenzkontrollbauten. So auch im Bereich Marienborn, an der in den dreißiger Jahren gebauten, ehemaligen Reichsautobahn zwischen Hannover und Berlin.26 Die ehemalige »Alliierte Kontrollstelle Helmstedt/Marienborn« bzw. der »Allied Checkpoint Alpha« wurde zum 01. Juli 1946 der sowjetischen Militäradministration übergeben und somit zur Grenzübergangsstelle (GÜSt) der SBZ.27 Nachdem die Zonengrenze 1949 zur Staatsgrenze geworden war, entwickelte sich Marienborn erst allmählich zu einem der bedeutendsten Durchgangs-, Kontroll- und Stützpunkte der Alliierten bzw. seitens der DDR zur größten GÜSt entlang der innerdeutschen Grenze.28 Die ersten Abfertigungsstellen mit angeschlossenen Unterkünften der Beschäftigten und Funktionsgebäuden des sowjetischen Mili-
24 Verein Berliner Mauer – Gedenkstätte und Dokumentationszentrum e.V.: Das Dokumentationszentrum (1998), S. 6, ArGBM, Geschäftsablage o. Sign. 25 Verein »Berliner Mauer – Gedenkstätte und Dokumentationszentrum« (Hg.): Grenzblicke (1999); Verein »Berliner Mauer – Gedenkstätte und Dokumentationszentrum« (Hg.): Die Berliner Mauer (2002), S. 7, 50; SenKult: Gesamtkonzept zur Erinnerung an die Berliner Mauer: Dokumentation, Information und Gedenken vom 12.06.2006, S. 5. 26 Scherrieble, Joachim: Fragebogen zu Geschichte, Charakter und Arbeitsweise der Institutionen, die sich mit der Aufarbeitung der SED-Diktatur auseinandersetzen. Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn, o.D., S. 3, ArGDT, Geschäftsablage o. Sign. 27 Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt (Hg.): Gedenken, Nach-Denken, VorausDenken. Gedenkstätten, Dokumentationszentren und andere Einrichtungen, Magdeburg 2000, S. 66. 28 Institut für Denkmalpflege Landesamt Sachsen-Anhalt: Denkmalpflegerisches Gutachten zur Grenzübergangsstelle Marienborn vom 27.10.1990, S. 2, ArGDH, Bestand: Dü Marienborn, HE, Gedenkstättenfrage, AK Höt-Mb [Dü].
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tärs, der Grenzpolizei und Grenztruppen der DDR (GÜSt I) entstanden zwischen 1950 und 1952 westlich des heutigen Kerngebietes.29 Bis 1952 ging der innerdeutsche Grenzverkehr außerhalb der GÜSt weiterhin vornehmlich über die »grüne Grenze«, d.h. weitgehend ohne tiefengestaffelte Grenzsicherungsanlage. Dies änderte sich am 26. Mai 1952 per Ministerratsbeschluss, der die vollständige Abriegelung der innerdeutschen Grenze und ihren Ausbau anordnete. Sukzessive wurde die innerdeutsche Grenze räumlich und technisch aufgerüstet, so dass ein 5 km langer Grenzstreifen als Sperrgebiet entstand. Hierzu gehörten auch die Errichtung des nahezu unbezwingbaren 500m breiten Schutzstreifens und 10m breiten Kontrollstreifens. Insgesamt maß die innerdeutsche Grenze außerhalb Berlins bereits Mitte der 50er Jahre rund 75m2.30 Ab 1966 fanden erste konzeptionelle Überlegungen für einen Ausbau der GÜSt statt, da das MfS die bis dahin genutzten Grenz- und Sperranlagen nach dem Mauerbau 1961 und im Zuge der Konsolidierung der DDR als nicht mehr ausreichend einstufte.31 Realisiert wurden die Baupläne allerdings erst, als die deutsch-deutschen Verträge im Rahmen der neuen Ostpolitik unterzeichnet waren und das MfS mit wachsendem Verkehrsaufkommen und mit entsprechenden »Sicherheitslücken« rechnete.32 Die Umsetzung erfolgte per Ministerratsbeschluss erst ab 1972.33 Die GÜSt Marienborn als »Grenzfestung« (GÜSt II), wie sie 1989 vorgefunden wurde, entstand innerhalb der folgenden zwei Jahre bis 1974, ca. 1,5 km östlich des eigentlichen Grenzverlaufes. Sie wurde die monumentalste Grenzanlage der insgesamt rund 1400 km langen innerdeutschen Grenze. Das Gelände der GÜSt umfasste etwa 35 ha, davon waren alleine 88.000m² reine betonierte Fläche.34 Die Baukosten betrugen mehr als 70 Millionen DDR-Mark.35 Bei der Passkontrolleinheit, beim Zoll, bei den Grenztruppen und schließlich beim MfS, das den gesamten innerdeutschen und alliierten Güter- und Personenverkehr bis 1989 überwachte und regulier-
29 Voß, Gotthard: »Die innerdeutsche Grenze als Problemfall der Denkmalpflege. Beispiele aus Sachsen-Anhalt«, in: Deutsche Stiftung Denkmalschutz (Hg.): Verfallen und vergessen oder aufgehoben und geschützt? Architektur und Städtebau der DDR, (Band 51, 1995), S. 91. 30 O.V.: »Eingefroren. Die deutsch-deutsche Eiszeit. In Marienborn und Hötensleben wird die deutsche Teilung dokumentiert«, in: Deutsche Stiftung Denkmalschutz (Hg.): Monumente 5/6 (1995), S. 44ff. 31 Voß, Gotthard: »Die innerdeutsche Grenze«, in: Deutsche Stiftung Denkmalschutz (Hg.): Verfallen und vergessen (Band 51, 1995), S. 92. 32 Scherrieble, Joachim: Fragebogen zu Geschichte, o.D., S. 3, ArGDT, Geschäftsablage o. Sign.; Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt (Hg.): Gedenken, Nach-Denken (2000), S. 66; Miehe, Lutz: Konzeption zur Nutzung der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn vom 07.10.1994, S. 8, ArGDT, 11333, 8. Konzeptionen (8.1-8.5) [11333, 8]. 33 Ebd., S. 67. 34 Voß, Gotthard: »Die innerdeutsche Grenze«, in: Deutsche Stiftung Denkmalschutz (Hg.): Verfallen und vergessen (Band 51, 1995), S. 92. 35 Scherrieble, Joachim: Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn: Leitfaden für Führungen durch die Gedenkstätte – eine Anregung, Stand 1999, S. 11, ArGDT, 11333, 8.
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te, waren (neben einer Minderheit an zivilen Mitarbeitern) weit über 1000 Beschäftigte im Dienst der GÜSt Marienborn.36 Das Grenzgebiet bzw. der äußere Kontrollbereich der GÜSt Marienborn begann auf ostdeutscher Seite mit der Beschauerbrücke. Ab dort wurden von der VP und den Passkontrolleinheiten sogenannte »Vorkontrollen« vorgenommen. Der eigentliche Grenzstreifen umfasste Grünstreifen, Kolonnenwege, Beobachtungstürme, Kontrollstreifen aus Sand bzw. Kies, Sperrgräben, Schutzstreifen, Sperrschlagbäume, dicht an dicht gestellte Beleuchtungsmasten, Grenz-Signal-Zäune, Grenzmauer mit Stacheldraht und Übersteigschutz.37 Zur weiteren Ausstattung des gestaffelten Kontroll- und Sperrsystems gehörten in Marienborn im äußeren Kontrollbereich (Vorkontrolle DDR-Ausreise) zudem fest installierte Ampeln, SchnellschussSchranken entlang der Autobahn, Vernehmungsbauten und Überwachungstechnik.38 Der äußere Kontrollbereich zog sich auf der Transit-Strecke über eine Gesamtlänge von rund 4 km.39 Im inneren Kontrollbereiches (Kernbereich der GÜSt II) gab es einen Führungsturm, von dem aus die Führungsstelle der GÜSt alle Sperranlagen (Schnellsperren auf den Fahrbahnen, Sperrschlagbäume usw.) betätigen konnten,40 sowie das Stabsgebäude, in dem sich die Dienstzimmer der Kommandeure und die Verwaltung von Zoll, Grenztruppen und Passkontrolle befanden. Des Weiteren lagen innerhalb des inneren Kontrollbereiches ein Zweckbau für Leichenüberführungen bzw. Krankentransporte, überdachte Abfertigungstrakte des Zolls und der Passkontrolle (Ein- und Ausreise) für PKW- und LKW-Verkehr (inkl. Passlaufbänder) sowie ein Röntgenraum, Vernehmungszimmer, eine Standkasse zum Mindesttausch, Räume zur körperlichen Durchsuchung, Fahndungsräume etc.41 Eine Vielzahl an Lichtmasten konnte das Kontrollgebiet nach Sonnenuntergang taghell ausleuchten.42 Neben diesen Bauten und Einrichtungen war unter der GÜSt Marienborn ein labyrinthartiges
36 Institut für Denkmalpflege Landesamt Sachsen-Anhalt: Denkmalpflegerisches Gutachten zur Grenzübergangsstelle Marienborn vom 27.10.1990, S. 2, ArGDH, Dü; Scherrieble, Joachim: Fragebogen zu Geschichte, o.D., S. 3, ArGDT, Geschäftsablage o. Sign.; Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt (Hg.): Gedenken, Nach-Denken (2000), S. 67. 37 Institut für Denkmalpflege Landesamt Sachsen-Anhalt: Denkmalpflegerisches Gutachten zur Grenzübergangsstelle Marienborn vom 27.10.1990, S. 4, ArGDH, Dü. 38 Ebd., S. 5. U.a. verweist der Verfasser auf ein »Gammaphon« bzw. Strahlungsgerät, was mittels radioaktiver Strahlung die Durchleuchtung des Grenzverkehrs ermöglicht haben könne. 39 Voß, Gotthard: »Die innerdeutsche Grenze«, in: Deutsche Stiftung Denkmalschutz (Hg.): Verfallen und vergessen (Band 51, 1995), S. 92. 40 Institut für Denkmalpflege Landesamt Sachsen-Anhalt: Denkmalpflegerisches Gutachten zur Grenzübergangsstelle Marienborn vom 27.10.1990, S. 6, ArGDH, Dü; LfD LSA: Zur GÜSt Autobahn A 2 Marienborn-Helmstedt vom 01.03.1992, ArMI LSA, 11333-5/1, Band 1. 41 Institut für Denkmalpflege Landesamt Sachsen-Anhalt: Denkmalpflegerisches Gutachten zur Grenzübergangsstelle Marienborn vom 27.10.1990, S. 7, ArGDH, Dü. 42 Ebd., S. 8.
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Tunnelsystem angelegt worden. Es diente als Versorgungskanal für Wasser bzw. Abwasser und vor allem für Elektrizität. Das Tunnelsystem durchzog die gesamte Anlage, sodass jeder Ort durch den Tunnel erreichbar war.43 Am Rande der GÜSt befanden sich zudem weitflächig Funktionsbauten, wie z.B. Garagen, Werkstätten, ein Kultursaal, eine Gaststätte, Unterkunfts- bzw. Wohnhäuser.44 Mit der GÜSt Marienborn kamen DDR-Bürger in der Regel selten in Kontakt. Die Ausreise ins »nichtsozialistische Ausland« erforderte positiv entschiedene Ausreiseanträge und blieb, da diese rar waren, auch trotz diverser Reiseabkommen in den 70er und 80er Jahren zwischen der BRD und der DDR, eher die Ausnahme bzw. hauptsächlich privilegierten Gruppen vorbehalten. Hierzu gehörte auch der diplomatische Dienst, für den auf dem Gelände der GÜSt separate Abfertigungsanlagen eingerichtet waren.45 Zwischen 1952 und 1989 ereigneten sich wenige Fluchtversuche über den Grenzübergang Marienborn. Fast nie gelang es, unbemerkt in den Westen zu gelangen, hierfür waren die Kontrollen und Hindernisse zu unüberwindbar: »Nach der Ausreisekontrolle [in Richtung BRD] durchfuhr man Sperrschlagbäume sowie eine Straßenvollsperre bevor man die eigentliche Grenze passieren konnte. Vom Polizeikontrollpunkt […] bis zur Straßenvollsperre mussten 3 Reihen Sperrschlagbäume und normale Schranken überwunden werden, wollte man gewaltsam die Grenze überwinden. Die Straßenvollsperre war, sollte man bis dahin gelangt sein, das letzte Hindernis. Es wurde darum auch so angelegt, dass es von besonderer Wirkung war. Die Fahrspuren waren jeweils zur Mitte vertieft. An den Seiten befanden sich Betonklötze, die paarweise funktionierten. Einer davon war innen hohl und nahm eine auf Schienen stehende massive Schranke auf. Bei Alarm wurde diese Schranke per Seilzug und Hebel ausgeklinkt und raste auf den Schacht auf den in der Fahrbahnmitte befindlichen Aufprallklotz.«46
Meistens flog ein Fluchtversuch bereits unmittelbar bei der Fahrzeugkontrolle im Ausreisebereich auf, wenn nicht gar schon früher. So blieb beispielsweise Manuela Eickenroth bei ihrem Fluchtversuch am 11. April 1980 im Kofferraum nicht unentdeckt.47 Am 21. November 1983 scheiterte ein »unerlaubter Grenzdurchbruch« mit Hilfe eines Tanklastzuges an der oben beschriebenen Rollschranke.48
43 Scherrieble, Joachim: Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn. Leitfaden für Führungen durch die Gedenkstätte, Stand 1999, S. 23, ArGDT, Geschäftsablage o. Sign. 44 Institut für Denkmalpflege Landesamt Sachsen-Anhalt: Denkmalpflegerisches Gutachten zur Grenzübergangsstelle Marienborn vom 27.10.1990, S. 9, ArGDH, Dü. 45 Ebd., S. 8. 46 Ebd. Diese Rollschranke wurde von Mitarbeitern der GÜSt »Fiffi« getauft, vgl. Scherrieble, Joachim: Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn: Leitfaden für Führungen durch die Gedenkstätte – eine Anregung, Stand 1999, S. 22, ArGDT, Geschäftsablage o. Sign. 47 Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt (Hg.): Gedenken, Nach-Denken (2000), S. 67. 48 Scherrieble, Joachim: Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn: Leitfaden (1999), S. 22, ArGDT, Geschäftsablage o. Sign.
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Erst zum 01. Juli 1990, mit Einführung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der BRD und der DDR, wurde der Grenzbetrieb an der GÜSt Marienborn nach genau 44 Jahren eingestellt. Zu einer Umsetzung des Projektes »Grenze 2000«, das für mehrere Millionen DDR-Mark eine flächendeckende Ausstaffierung der Grenze mit Hightech vorsah, kam es daher nicht mehr.49 Die Grenze ins Hötensleben Die Einteilung Deutschlands in Besatzungszonen brachte für Hötensleben, einem kleinen Dorf im Kreis Oschersleben, ebenfalls einschneidende Veränderungen. Direkt am westlichen Ortsrand von Hötensleben verlief ab Mai Juli 1945 die Demarkationslinie zwischen der britischen Besatzungszone und der SBZ, ab 1950 die innerdeutsche Staatsgrenze zwischen dem Bezirk Magdeburg auf der DDR- und Niedersachsen auf der BRD-Seite. Was 1945 mit rot-blauen Eichenpfählen bzw. 1946 mit einem Bretterzaun vor einer Brücke nach Schöningen über den Grenzbach Aue begann, endete am 09. November 1989 mit einem hochgerüsteten Sperrsystem unmittelbar um das 3000-Seelen-Dorf herum.50 Insbesondere ab 1952 bestand in Hötensleben mit dem sukzessiven Ausbau der innerdeutschen Grenze die besondere Situation, dass sich das üblicherweise 5 km breite Sperrgebiet, aufgrund der Nähe zum Dorf, auf nur 500m verdichtete. Die meist über mehrere hundert Meter angelegte Tiefenstaffelung war in Hötensleben, als Ort inmitten dieses verkürzten Sperrgebietes, stellenweise auf 40m komprimiert. Dies entsprach einer engeren Abfolge der Grenzvorrichtungen als der an der Berliner Mauer ab 1965. Hinzu kam, dass sich die Grenzanlagen direkt dem Ort anschlossen. Sie lagen in unmittelbarer Nähe zu den dortigen Gärten bzw. Häusern und sorgten auf diese Weise für eine Allgegenwart des Eingesperrtseins. Zwischen 1946 und bis zum Beschluss des Ministerrates vom 26. Mai 1952 über den massiven Ausbaus der innerdeutschen Grenze bestand die Hötenslebener »grüne Grenze« vornehmlich aus Pfählen, Bretterzaun, Schlagbaum. Mit dem Beschluss wurde etwa 2m hinter der eigentlichen Grenzlinie ein 1,20m hoher Stacheldrahtzaun errichtet, an den sich auf DDR-Seite ein etwa 10m breiter Streifen anschloss. Wer diesen nun betrat, lief Gefahr unter Beschuss zu geraten. Der sogenannte »Todesstreifen« wurde eingerichtet. In Hötensleben verlief er fortan direkt entlang des Dorfrandes. Eine weitere Ausweitung der Hötenslebener Grenzanlage erfolgte 1961 nach dem Bau der Berliner Mauer. Es wurde ein zweireihiger Stacheldrahtzaun mit Be-
49 Scherrieble, Joachim: Die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn. Konzeptionelle Eckpunkte vom 01.07.2000, S. 12, ArGDT, Geschäftsablage o. Sign. Der weitere Ausbau der Grenzanlagen wurde im Dezember 1989 mit Befehl 101/98 durch Modrows Verteidigungsminister gestoppt, vgl. Flemming, Thomas/Koch, Hagen: Die Berliner Mauer. Grenze durch eine Stadt, Berlin 2000, S. 71. 50 Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt (Hg.): Gedenken, Nach-Denken (2000), S. 73-74.
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tonpfählen und einer Höhe von etwa 2,40m ungefähr 10m östlich des Grenzbaches errichtet. Der Abstand zwischen beiden Zäunen betrug 5m, der Zwischenraum wurde mit zusätzlichem Stacheldraht gesichert. 1962 wurden nördlich und südlich des Ortsbereiches Minenfelder angelegt.51 Ab 1964 sorgte der Kolonnenweg für einen gefahrenlosen Grenztruppen-Zugang. 1967 wurden neben den obligatorischen DDR-Grenzsäulen insbesondere Stahlhöcker als Fahrzeughindernisse, eine Lichttrasse und zwischen den Stacheldrahtzäunen Hundetrassen installiert. Der östlichere Zaun wurde auf 2,80m erhöht. 1971 erfolgte die Aufstellung des ersten Beobachtungs- bzw. Kompanie-Wacht-Unterkunft-Turmes (BT 11 bzw. KWU) mit Führungspunkt auf dem ehemaligen Schützenplatz des Dorfes. Es folgte 1972 ein 2,20m hoher Signalzaun aus Metallgittern und Kontaktdrähten.52 Spätestens mit dem Aufstellen zweier Sichtblendmauern aus Beton (bis zu einer Höhe von 3,20m) in den Jahren zwischen 1975 und 1978 und dem Errichten eines neuen Führungsturmes auf einem Hügel am Ortsrand (»auf der Kippe«) sowie der Neuaufstellung des KWU-Turmes mit Bunker, war baulich und technisch die Ausdehnung der Grenzanlagen in Hötensleben abgeschlossen.53 Insgesamt lautete die Statistik der Sperranlagen in Hötensleben 1989: 700m Sichtblendmauer, 1,1 km Grenzmauer, 2 km Signalzaun, 2,3 km Kolonnenweg, 1 km Hundestrasse, 150m Wassergraben, 360 Kfz-Höcker, 1 Führungsturm mit Kfz-Stellung, 2 Beobachtungstürme (davon einer mit Mannschaftsbunker), 31 Peitschenlampen.54 Diese außergewöhnliche Grenz-Situation schränkte nicht nur die Bewegungs- und Reisefreiheit der Bevölkerung in besonderem Maße ein – war doch zum Verlassen und Eintritt ins Sperrgebiet, d.h. in den eigenen Ort, ein gesondertes Genehmigungsverfahren bzw. ein Passierschein notwendig –, sondern brachte auch mit sich, dass jeder Blick aus dem eigenen Fenster automatisch auf die im Höchstmaße gesicherte innerdeutsche Grenze fiel.55 Neben dieser manifesten Freiheitsberaubung gehörten auch sublimere Formen der Repression (wie z.B. Zwangsumsiedlung und Dauerüberwachung) zu den alltäglichen Erfahrungen im Sperrgebiet. Bereits wenige Tage nach Inkrafttreten der Verordnung des Ministerrates vom 26. Mai 1952, wurden 304 Personen, d.h., rund 10% der Hötenslebener Bevölkerung als »Gegner der DDR«, »Grenzgänger« und
51 Walther, Achim: Grenzdenkmal Hötensleben. Denkmalpflegerische Zielstellung vom April 2002, S. 5, ArGDH, Dd. 52 Walther, Achim: Grenzdenkmal Hötensleben. Denkmalpflegerische Zielsetzung. Entwurf, Januar 1993, S. 4-5, ArGDH, Dd. 53 Diese beiden Sichtblendmauern setzten sich jenseits der Dorfbebauung fort, vgl. Voß, Gotthard: »Die innerdeutsche Grenze«, in: Deutsche Stiftung Denkmalschutz (Hg.): Verfallen und vergessen (Band 51, 1995), S. 91; Walther, Achim: Grenzdenkmal Hötensleben. Denkmalpflegerische Zielstellung vom April 2002, S. 5-6, ArGDH, Dd; Walther, Achim: Grenzdenkmal Hötensleben. Denkmalpflegerische Zielsetzung. Entwurf, Januar 1993, S. 6, ArGDH, Dd. 54 Ebd. 55 Walther, Achim: Und in der Ferne die Türme von St. Lorenz. Tagebuch zu Wende und Grenzöffnung 1989 in Hötensleben, S. 1, ArGDH, gD6.
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»kriminelles Element« oder wegen »Beleidigung der VP«, »Wirtschaftsvergehen« oder »Kuppelei« mit der »Aktion Ungeziefer« ins Hinterland zwangsumgesiedelt. 56 Die im Sperrgebiet verbleibende Bevölkerung blieb durch das MfS lückenlos überwacht. »Politisch Andersdenkende« wurden bei geringstem Verdacht verhaftet, verhört, enteignet und aus dem Sperrgebiet ausgewiesen. Von außerhalb der Sperrzone war keinerlei genehmigungsfreier Zugang möglich. Besuche aufgrund von Geburt und Tod wurden häufig einfach abgelehnt. Lediglich die allabendliche Ausgangssperre ab 22 Uhr wurde nach ein paar Jahren aufgegeben.57 »Zwischenfälle« an der Grenzanlage in Hötensleben gab es selten. 1979 endete die Flucht einer Person durch Schusswaffengebrauch, 1987 durchfuhr eine Person die Warnbarriere von westlicher Seite her. 1988 flüchtete schließlich ein Grenztruppenmitglied »[…] durch Vortäuschen eines Auftrages zum Einsatz zwischen Metallgitterzaun und Aue«.58 Häufiger als durch spektakuläre Fluchten rückte die Grenzanlage in Hötensleben hingegen durch Besuche ranghoher Politiker in die Öffentlichkeit. Allein zwischen 1964 und 1967 besuchten fünf das Grenzgebiet, unter ihnen der Bundespräsident der BRD Lübke, Bundeskanzler Kiesinger und Herbert Wehner.59
56 Voß, Gotthard: »Die innerdeutsche Grenze«, in: Deutsche Stiftung Denkmalschutz (Hg.): Verfallen und vergessen (Band 51, 1995), S. 91; Walther, Achim/Bittner, Joachim: Heringsbahn (2001), S. 21. Die »Aktion Ungeziefer« lief im Kreis Oschersleben an zwei Tagen (29.05. und 07.06.1952). 57 Ebd. 58 Walther, Achim: Grenzdenkmal Hötensleben. Denkmalpflegerische Zielsetzung. Entwurf, Januar 1993, S. 7, ArGDH, Dd. 59 Ebd., S. 8.
3. Die Gedenkstätte »Berliner Mauer«
3.1 D IE R ETTUNG DER B ERLINER M AUER IN DER B ERNAUER S TRASSE Unmittelbar nach Öffnung der Berliner Mauer bis zum Beitritt der DDR zur BRD setzten sich schon früh verschiedene gesellschaftliche Gruppen und Institutionen aus Ost- und Westberlin für den Erhalt von Mauerabschnitten in der Bernauer Straße ein. Für die Bewahrung des Grenzabschnittes am heutigen Standort der Gedenkstätte Berliner Mauer, engagierten sich bis zum 03. Oktober 1990 aus Westberlin vor allem das Deutsche Historische Museum (DHM) und die angrenzende Versöhnungskirchengemeinde, aus Ostberlin das Museum für Deutsche Geschichte (MfDG) und die Ostberliner Kulturverwaltung. Bereits am 29. Dezember 1989 entschied der Ministerrat der im November neu gebildeten Übergangsregierung der DDR unter dem Ministerpräsidenten Hand Modrow und in Übereinkunft mit dem Ostberliner Magistrat, dass die Berliner Mauer unverzüglich abzureißen sei. Hierzu gehörten in und um Berlin 184 km Mauer, 154 km Grenzzäune, 144 km Signal- und Sperrzäune und 87 km Sperrgräben. Die etwa 45.000 Mauersegmente aus Beton sollten kommerziell vermarktet bzw. an die Wirtschaft veräußert werden. Der Abbau sollte von der NVA und Grenztruppen bewerkstelligt werden, die Vermarktung übernahm der Außenhandelsbetrieb Limex-Bau.1 Bis zum 01. Dezember 1990 sollte der restlose Rückbau der Grenzanlagen abgeschlossen sein, schloss sich die de-Maizière-Regierung an.2 Abweichend jedoch von der Modrow-Regierung sollten die Erlöse, die beim Verkauf der einzelnen Mauersegmente erzielt wurden, nicht mehr in den Staatshaushalt zurückgeführt, sondern dem Gesundheitswesen und dem Denkmalschutz zur Verfügung gestellt werden.3 Ungeachtet dieser übergeordneten Abriss- und Veräußerungspläne beschloss der Runde Tisch Berlin-Mitte – u.a. auf Anregung von Johannes Hildebrandt (Museum am Checkpoint Charly) – bereits Anfang 1990 eine Gedenkstätte auf dem ehemaligen Gelände der Versöhnungskirche an der Bernauer Straße zu errichten, stellte sich – an1 2 3
Sälter, Gerhard: Der Abbau der Berliner Mauer und noch sichtbare Reste in der Berliner Innenstadt, Arbeitspapier Nr. 1 vom 12.04.2004, SWFKB, Geschäftsablage o. Sign. Ebd., S. 4. Ebd., S. 5.
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gesichts des absehbaren Endes der Deutschen Teilung – dem Runden Tisch BerlinMitte automatisch die Frage, ob und wie fortan an die Deutsche Teilung erinnert werden könne. Gleichzeitig erfolgten im Bundesministerium des Innern (BMI) erste allgemeine Überlegungen hinsichtlich Denkmalunterschutzstellungen von Teilen der Berliner Mauer und bezüglich der Errichtung von geeigneten Erinnerungszeichen. Auf einen genauen Standort legte sich das BMI jedoch nicht fest. Erst als das DHM und das MfDG gemeinsam auf das BMI zuging und es explizit baten, sich speziell für den Erhalt des Mauerabschnitt in der Bernauer Straße einzusetzen, konkretisierte sich die Möglichkeit, in diesem Straßenzug einen Grenzabschnitt zu bewahren. Im Frühjahr 1990 wurden das DHM und das MfDG vom BMI beauftragt, nach Möglichkeiten der Errichtung eines Denk- bzw. Mahnmales zu suchen.4 Am 16. Mai 1990 wandten sich die beiden Museumsdirektoren erstmals an die Stadtoberhäupter, um die Maueranlagen in der Bernauer Straße vor einer anstehenden Demontage zu retten. Explizit regten sie die Errichtung einer Gedenkstätte zur Geschichte der Berliner Mauer an der Stelle Bernauer Straße/Ackerstraße an und baten darum, die drohenden Abbrucharbeiten auszusetzen.5 »Beide haben die Idee grundsätzlich begrüßt und den Vorschlag zur Beratung in die jeweiligen Beratungsgremien der beiden Stadthälften sowie an den Regionalausschuss des zukünftigen Groß-Berlin weitergegeben«, führt das DHM hierzu aus.6 Parallel zum DHM und MfDG setzte sich der Pfarrer der angrenzenden Evangelischen Versöhnungsgemeinde für ein Mauermuseumsprojekt ein, welches eine Denkmalunterschutzstellung und Musealisierung eines authentischen Grenzabschnittes in unmittelbarer Nähe zu seiner Kirchengemeinde, d.h. ebenfalls in der Bernauer Straße/Ackerstraße vorsah. Am 08. Juni 1990 schrieb die Gemeinde, unterstützt vom Berliner Bischof, an den Regierenden Bürgermeister Walter Momper, um für ein solches Vorhaben der Versöhnungsgemeinde zu werben.7 Als das DHM durch ein Interview des Pfarrers im DFF auf die Rettungsversuche der Versöhnungsgemeinde aufmerksam wurde, entstand nun eine gemeinsame Initiative zwischen MfDG, DHM und der Versöhnungsgemeinde.8 MfDG, DHM und Versöhnungsgemeinde appellierten fortan gemeinsam an die Berliner Stadtregierung und die Bundesregierung, man möge wenigstens einen Grenzabschnitt für eine spätere Aufarbeitung und Dokumentation bewahren und einen Teil der Berli-
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O.V.: Chronologie über den Entstehungsprozess des Gedenkstättenensembles in der Bernauer Straße, StAufarb, Bernauerstraße (Geschäftsablage, o. Sign.), Schreiben des BMI an MdB Christian Neuling vom 06.02.1991, SWFKB, Bestand: GBM, Nr. 480. DHM: Die Berliner Mauer. Gedenkstätte, Mahnmal, Museum, vom 04.09.1990, S. 3, SWFKB, GBM, Nr. 480; o.V.: Chronologie über die Bemühungen zur Errichtung einer Gedenkstätte »Berliner Mauer« in der Bernauer Straße (Bezirk Mitte), o.D., SWFKB, GBM, Nr. 469. Ebd. SenStadtUm an Sen vom 26.02.1991: Chronologie der Ereignisse, zusammengestellt aus den Akten der ehemaligen Magistratsverwaltung für Kultur und des Deutschen Historischen Museums, SWFKB, GBM, Nr. 468. O.V.: Chronologie, StAufarb, Bestand: Bernauerstraße (Geschäftsablage, o. Sign.).
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ner Mauer in ein Denkmal umwandeln. Ehrgeizig wurde das Ziel verfolgte, ein solches Mauer-Denkmal bereits am 13. August desselben Jahres einzuweihen. Trotz dieser Appelle und Ambitionen wurde die Mauer an der Bernauer Straße/Ecke Ackerstraße am 13. Juni 1990 geöffnet, begann der großflächige Abriss der Berliner Mauer in der Bernauer Straße durch Grenztruppen der NVA und fand die Widerherstellung der Straßenübergänge statt.9 Die Initiativen, auf der Straßenstrecke einen Mauerabschnitt zu bewahren, blieben unberücksichtigt. Über die gemeinsamen Initiativen des MfDG mit dem DHM informiert und um für ein späteres Denkmal doch zu retten, was noch zu retten war, legte der Inspektor für Denkmalpflege zuständigkeitshalber am 25. Juni 1990 bei der Ostberliner Kulturstadträtin eine Übersicht vor, die in Vorbereitung auf die vorgesehene Ostberliner Magistratssitzung vorschlug, welche drei Mauerabschnitte konkret zu erhalten seien.10 Einen Tag später sah die Magistratsvorlage des Stadtrates für Bauwesen zum geplanten Abriss der Mauer und Wiederherstellung der Straßenverbindungen vor, es sei eine Konzeption abzustimmen zwischen Stadträtin für Kultur (Ost), Rat für Denkmalpflege (Ost), Generalkonservator des Landesamtes für Denkmalpflege (Ost), Stadtrat für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr (Ost) und dem Grenzkommando Mitte zum Erhalt der Mauer im Bereich Bernauer Straße und ihrer Umgestaltung zu einem Denkmal. Die Begründung lautete, die »[…] Bewahrung von Teilen der Mauer als Denk- und Mahnmal für eine historische Epoche ist Bestandteil der Geschichtsbewältigung des deutschen Volkes«.11 Noch bei gleicher Sitzung beschloss der Ostberliner Magistrat den Erhalt von Abschnitten in der Bernauerstraße zwischen Acker- und Gartenstraße sowie die Anfertigung einer entsprechenden Planung in Federführung der Kulturverwaltung (Ost).12 Eine Zusammenarbeit mit dem MfDG und dem DHM wurde nicht beabsichtigt. Eine erste Entwurfsplanung der Ostberliner Kulturverwaltung wurde binnen der folgenden vier Wochen erstellt. Diese wurde allerdings schon am 23. Juli 1990 mit dem Vermerk, dass sich der Stadtrat für Stadtentwicklung dagegen ausgesprochen habe, wieder fallen gelassen.13 Aus der Stellungnahme des Ostberliner Stadtrates für Stadtentwicklung vom 03. August 1990 ging hervor weshalb. Die Planungen der Ostberliner Kulturverwaltung kollidierten mit Verkehrsnutzungsplänen des Stadtrates für Stadtentwicklung. Diese sahen vor, nach dem Beitritt der DDR zur BRD die Bernauerstraße als Hauptverkehrstrasse Dimitroff-/Eberswalder-/Bernauer-/Invalidenstraße großzügig auszubauen. Eine Denk- bzw. Mauermahnmal war da hinderlich. Ungeachtet dessen wurde seitens der Ostberliner Kulturverwaltung daran festgehalten, bestimmte Grenzabschnitte in der Bernauer Straße zu erhalten. Zur
9 Ebd. 10 SenStadtUm an Sen vom 26.02.1991: Chronologie der Ereignisse, zusammengestellt aus den Akten der ehemaligen Magistratsverwaltung für Kultur und des Deutschen Historischen Museums, SWFKB, GBM, Nr. 468. 11 Magistratsvorlage des Stadtrates für Bauwesen vom 26.06.90, S. 5, z.n. ebd. 12 Magistratsbeschluss 42/90 vom 26.6.90; SenStadtUm an Sen vom 26.02.1991: Chronologie. 13 Ebd.
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kurzfristigen Lösung des Problems der andauernden Zerstörungen und Abrisse im besagten Mauerabschnitt, fand am 02. Juli 1990 im Beisein der Denkmalpflege Ost-Berlin und der Vertreter der Grenztruppen, sowie nun auch im Beisein des Pfarrers der Versöhnungsgemeinde, der Vertreter der beiden Museen DHM und MfDG sowie des Sonderbeauftragten des Ministerpräsidenten der DDR für den Abriss der Mauer eine Ortsbegehung statt. Bei der Besprechung wurde nicht nur bekannt, dass es einen Beschluss des Ministerrates gab, der den Abriss der Grenzanlagen in Berlin bis zum Jahresende vorsah, sondern auch, dass sich der Ministerpräsident der DDR persönlich dabei das Recht der Entscheidung in allen Mauerfragen vorbehalten habe.14 Dennoch einigte man sich als sichtbares Ergebnis der Begehung auf ein baldiges, vorläufiges Errichten eines Schildes an Ort und Stelle, das die NVA-Truppen und die Bevölkerung aufforderte, die Mauer in diesem Abschnitt nicht weiter zu zerstören. Des Weiteren kamen die Teilnehmer überein, dass das Areal in der Bernauer Straße/Ackerstraße das am besten geeignete für eine Gedenkstätte sei und vom technischem Standpunkt aus ein Erhalt der Anlage trotz umliegender Abrisse möglich sei sowie Objekte ohne Weiteres eingelagert werden könnten.15 Zum weiteren Vorgehen beschlossen die Beteiligten, dass der Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, gebeten werde, seinen Auftrag zum Abriss der Mauer in diesem Abschnitt auszusetzen. Hierzu sollte ein erstes Vorkonzept von MfDG und DHM erarbeitet werden, das auch das BMI in die Lage versetzen sollte, sich beim Ministerpräsident für ein solches Vorhaben einzusetzen: »Angesichts der gegenwärtigen Unwägbarkeiten hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung von Berlin und dem neuen Verhältnis des neuen Gesamtstaates zu den Bundesländern in Kulturfragen sollten sich sowohl der Ministerpräsident der DDR als auch die Bundesregierung, sowohl das AbgeordnetenHaus In Berlin (West) und der Magistrat in Ost-Berlin darauf verständigen, die Idee der Gedenkstätte zu begrüßen, den Abriss zu stoppen und weiter Planungsarbeiten in Gang zu setzen.«16
Schließlich sollten die Grenztruppen und Zollbehörden der DDR veranlasst werden, Objekte für eine zukünftige Ausstellung zu sichern und zu sammeln bzw. einzulagern.17 Ohne Rücksicht auf diese offiziellen Verabredungen gingen die Demontagen in der Bernauer Straße zwischen Acker- und Gartenstraße weiter. Am 01. August 1990 wandte sich die Ostberliner Stadträtin für Kultur daher schriftlich an den
14 DHM: Die Berliner Mauer. Gedenkstätte, Mahnmal, Museum, vom 04.09.1990, S. 3, SWFKB, GBM, Nr. 480, S. 3. 15 MfDG/DHM: Projektskizze »Die Berliner Mauer«. Gedenkstätte, Mahnmal, Museum vom 17. Juli 1990, S. 8, SWFKB, GBM, Nr. 479; o.V.: Chronologie über die Bemühungen zur Errichtung einer Gedenkstätte »Berliner Mauer« in der Bernauer Straße (Bezirk Mitte), o.D., SWFKB, GBM, Nr. 469. 16 MfDG/DHM: Projektskizze (1990), S. 8, SWFKB, GBM, Nr. 479. 17 Ebd., S. 9.
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Minister für Abrüstung und Verteidigung der DDR (MfAuV), Rainer Eppelmann, dessen Ministerium den Abbau der Grenzanlagen verantwortete.18 In ihrem Schreiben führte die Stadträtin auf, dass sich zum Ärgernis des Ostberliner Magistrats nicht an diesbezüglich getroffene Vereinbarungen gehalten werde und die Grenztruppen derart schnell arbeiteten, dass jeder Versuch, einen Grenzabschnitt auch außerhalb des Abschnittes Acker- bis Bergstraße zu retten, durch Abriss überholt wurde.19 Aufgrund der gebotenen Eile erstellten das MfDG und das DHM das erste gemeinsame Vorkonzept in kürzester Zeit. Bereits am 17. Juli 1990 wurde die Projektskizze vorgelegt.20 Sie schlug den Erhalt eines 400m langen Grenzstreifens inklusive Hinterlandsmauer und Grenzanlagen entlang der Bernauer Straße in Richtung Bergstraße vor, um dieses Areal zu einer Gedenkstätte, einem Mahnmal und einem Museum auszubauen. Die Gedenkstätte sollte an die Opfer der Grenze erinnern, das Mahnmal zum Nachdenken über die Folgen anregen und das Museums schließlich über die Geschichte der Berliner Mauer informieren. Thematisch sollten sich die Gedenkstätte in die drei Themenbereiche mit den Arbeittiteln »Die Entstehung«, »Die Existenz« und »Das Ende« gliedern, wobei der Schwerpunkt auf den zweiten Themenbereich gelegt wurde mit dem Arbeitstitel »Leben mit der Mauer«. Für den Bereich »Das Ende« wurde der Arbeitstitel »Der Durchbruch am 9. November 1989« vorgeschlagen. Informationsstand bzw. Buchladen, Räume für Vorträge, Diskussionsveranstaltungen und Filmvorführungen für maximal ca. 100 Personen wurden als obligatorisch empfohlen. »Darüber hinaus sollte es kleine Pavillons geben, wie sie für den Grenzübertritt oder bei der Erteilung der Passierscheine verwendet wurden.«21 Obwohl dieses Vorkonzept zunächst einmal nur einen ersten Entwurf darstellte und bis auf die thematische grobe Binnengliederung kaum Inhalte niedergelegt wurden, zeichnete sich mit diesem ersten Arbeitspapier bereits ab, dass die Gedenkstätte als eine »Großeinrichtung« angelegt, begründet mit der historischen Bedeutung des Ortes sowie aber auch mit der Bedeutung der Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit für eine zukünftige gemeinsame Identität.22 Das Vorkonzept bezweckte vor allem, den politischen Akteuren eine erste Idee einer solchen Gedenkstätte in der Bernauer Straße zu vermitteln und ihnen »schwarz auf weiß« Argumente dafür in die Hand zu geben. Übereinstimmend mit den Anfang Juli getroffenen Festlegungen und gestützt durch die Projektskizze, brachte die Ostberliner Stadträtin für Kultur am 07. August 1990 einen weiteren Antrag bezüglich der Mauerreste in der Bernauer Straße ein. Die Antragsbegründung lautete:
18 SenKult: Vermerk vom 28.10.1992, SWFKB, GBM, Nr. 465. 19 Magistratsbeschluss 42/90 vom 26.6.90; SenStadtUm an Sen vom 26.02.1991: Chronologie; SenKult: Vermerk vom 28.10.1992, SWFKB, GBM, Nr. 465. 20 MfDG/DHM: Projektskizze (1990), SWFKB, GBM, Nr. 479. 21 Ebd., S. 5-6. 22 Ebd., S. 3-4.
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»Sowohl die deutsche Teilung als auch der Bau der Berliner Mauer und ihr Fall nach fast drei Jahrzehnten sind integraler Bestandteil der europäischen Nachkriegsgeschichte mit ihren Wurzeln im Untergang der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Die Berliner Mauer dokumentiert Aspekte der deutschen Teilung und des Scheiterns eines entarteten politischen Systems mit besonderer emotionaler Wirkung.«23
Geschichtspolitisch grenzte sich der Antrag damit klar vom offiziellen DDRVerständnis der Berliner Mauer als »antifaschistischer Schutzwall« ab. Vielmehr wurde die Berliner Mauer explizit als Folge des Zweiten Weltkrieges und als Zeichen des DDR-Unrechtssystems und seiner Überwindung definiert. Erinnerungspolitisch empfahl der Antrag (gemäß dem Gesetz zur Erhaltung der Denkmale in der DDR – Denkmalpflegegesetz vom 19. Juli 1975) den »[…] Mauerabschnitt zwischen Acker- und Gartenstraße in seiner gesamten Tiefe einschließlich Grenzmauer und Hinterlandsmauer einschließlich des Postenturmes […]« unter Denkmalschutz zu stellen.24 Der Denkmalbereich Bernauer Straße sollte durch das MfDG »in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Historischen Museum als Mahnmal mit musealem Charakter gestaltet« werden. Die Stadträtin schlug in ihrem Antrag zudem vor, die Rechtsträgerschaft über die entsprechenden Grundstücke und Straßenflächen zunächst dem MfDG zu übertragen. Die Kosten für den musealen Ausbau sollten sich MfDG und das DHM kurzfristig teilen, wurde fest mit einer baldigen institutionellen Anbindung des MfDG an das DHM gerechnet. Pflege und Unterhalt der Denkmalanlage sollten üblicherweise bei der Stadt verbleiben.25 Doch auch diese erinnerungspolitische Anstrengung der Ostberliner Stadträtin für Kultur bewirkte wenig. Die Demontagen in der Bernauer Straße gingen ungeachtet aller Absprachen, Bitten und Planungen weiter. Schließlich setzte sich – auf Druck des DHM – niemand geringeres als der damalige Bundesminister des Innern der BRD, Wolfgang Schäuble, für den Erhalt der Mauerabschnitte in der Bernauer Straße/Ecke Ackerstraße ein.26 In einem Brief an den Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière, teilte Schäuble dem Ministerpräsidenten mit, dass eine Vorkonzeption zur Errichtung einer Gedenkstätte, eines Mahnmales und eines Museums für den Mauerbereich Bernauer Straße/Ecke Ackerstraße vorliege und er dieses Projekt unterstütze: »Der in Rede stehende Bereich ist sicher besonders geeignet, die Mauer als Symbol der deutschen Teilung museal aufzuarbeiten und als Gedenkstätte und als Mahnmal zu dienen, weil er wie kein anderer in das Bewusstsein der Menschen gedrungen ist.«27 Das Schreiben endete mit der Bitte zu veranlassen, dass dieser Teil der Mauer erhalten bleiben mö-
23 Ebd., S. 4. 24 Stadträtin für Kultur: Entwurf Magistratsvorlage zur Beschlussfassung vom 07.08.1990, S. 1, SWFKB, GBM, Nr. 480. 25 Ebd., S. 3. 26 DHM: Die Berliner Mauer. Gedenkstätte, Mahnmal, Museum, vom 04.09.1990, S. 3, SWFKB, GBM, Nr. 480, S. 3. 27 Schreiben von Bundesminister des Innern der BRD Wolfgang Schäuble an den Ministerpräsidenten Lothar de Maizière vom 10.08.1990, SWFKB, GBM, Nr. 464.
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ge.28 Dies konnte als eine deutliche Interessensbekundung des BMI bzw. als eine explizite Befürwortung eines Gedenkstättenprojektes durch den Bund und seine grundsätzliche Unterstützung der MfDG/DHM-Planungen gewertet werden. Während sich die Ostberliner Kulturstadträtin und die großen Berliner Museen DHM und MfDG zusammen mit dem BMI für den Erhalt des Mauerabschnittes in der Bernauer Straße einsetzten, unterstützte der Westberliner Bezirk Wedding und Westberliner Anwohner ein solchen Vorhaben nicht. Am 13. August 1990, dem 29. Jahrestag des Mauerbaus ging ein Brief des stellvertretenden Bezirksbürgermeisters von Wedding an den MfAuV, in dem die Unterschutzstellung der Mauer seitens des Westberliner Bezirkes durchweg abgelehnt wurde.29 Der Brief war eine direkte Reaktion des am gleichen Tag aufgestellten Schildes, das Bürger aufforderte, diesen Bereich der Mauer für eine spätere Gedenkstättenanlage zu sichern. Der Text, der auch bei Mitarbeitern und Bewohnern des benachbarten LazarusKrankenhauses und bei Mitgliedern der angrenzenden Ostberliner Sophiengemeinde auf Widerstand stieß, lautete: »Liebe Mauerspechte, bitte ›klopfen‹ Sie nicht an diesem Mauerstück. Das Grenzgebiet zwischen Acker- und Gartenstraße soll mit Unterstützung der Regierungen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland zu einer Gedenkstätte der Berliner Mauer umgewandelt werden. Helfen Sie mit, gerade auch den Opfern eine authentische und würdige Gedenkstätte zu bewahren.«30
Für den stellvertretenden Weddinger Bezirksbürgermeister war das Vorhaben eine »Nacht- und Nebelaktion« unter dem Vorwand des Denkmalschutzes. Es stünde im Widerspruch zum Bürgerwillen und das Vermächtnis der Opfer verlange seiner Ansicht nach, die Mauer als Zeichen der Teilung ersatzlos zu entfernen.31 Dass es jenseits der Dementi des Westberliner Bezirkes und o.g. Anwohner bzw. Anlieger und jenseits der Abrisse im Auftrag des MfAuV der DDR nun auch politischer Wille der DDR-Regierung wurde, eine Mauergedenkstätte an besagter Stelle zur ernsthaften Diskussion zu stellen und dafür entsprechende Voraussetzungen zu schaffen, geht aus dem Antwortschreiben des Ministerpräsidenten der DDR Lothar de Maizière an den Minister des Innern der BRD Schäuble hervor: Darin brachte de Maizière zum Ausdruck, dass er den MfAuV veranlasst habe »[…] umgehend dafür Sorge zu tragen, dass an der bezeichneten Stelle die Mauer nicht abgerissen wird«.32 Damit schien die Gefahr gebannt und bot sich die Chance noch vorhandene Mauerabschnitte vor ihrer Demontage unter Denkmalschutz zu stellen.
28 Ebd. 29 SenStadtUm vom 26.02.91: Chronologie, S. 2. 30 O.V.: »Bezirk hält nichts von Mauer-Gedenkstätte. Initiative aus Ost und West an der Bernauer Straße ist umstritten – geheime Akten gezeigt«, in: Der Tagesspiegel vom 14.08.1990. 31 Ebd. 32 Schreiben des Ministerpräsidenten der DDR Lothar de Maizière an den Bundesminister des Innern der BRD Wolfgang Schäuble vom 16.08.90, SWFKB, GBM, Nr. 464.
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Demgemäß teilte die Ostberliner Stadträtin für Kultur wenige Tage später dem Dienst habenden Oberst der Grenztruppen mit, dass vier Mauerabschnitte gemäß §13 Abs. 1 Denkmalpflegegesetz der DDR auf Geheiß des Ostberliner Magistrats von Berlin unter »Denkmalverdacht« gestellt seien, u.a. der Abschnitt zwischen Acker- und Gartenstraße in der Bernauer Straße in seiner gesamten Länge, einschließlich Grenzmauer, Hinterlandsmauer und Postenturm.33 Gleichzeitig sei die Übertragung der bezeichneten Liegenschaft an das MfDG vorgesehen, da dort bereits für Zwecke einer späteren Gedenkstätte bzw. eines Museums Sammlungsobjekte eingelagert seien.34 De facto bedeutete dies laut DDR-Denkmalschutzgesetz quasi eine Unterschutzstellung. Allein die Aussprache eines Denkmalverdachts machte weitere Abrisse und Zerstörungen anfechtbar. Anderer Auffassung hingegen war das MfAuV. Das Symbol eines kommunistischen Unrechtssystems, des Kalten Krieges und der Unterdrückung der DDRBevölkerung sollte nach Ansicht des MfAuV lieber gänzlich getilgt werden, ein Erhalt zur historischen Aufarbeitung für die ansässige Bevölkerung nur im Rahmen des Zumutbaren und im Hinblick auf die Dimension auf ein Minimalmaß beschränkt bleiben.35 Die mit dem Abriss betrauten Grenztruppen führten ihren Auftrag, die Berliner Mauer abzutragen, ungeachtet der Bestrebungen der Kulturstadträtin, des DHM, des MfGD und des BMI und trotz Intervention des Ministerpräsidenten entsprechend fort. So wurden nur 14 Tage danach für die Gedenkstätte vorgesehene Bereiche weiter demontiert.36 Der MfAuV brachte in einem Schreiben an den Oberbürgermeister, Tino Schwierzina, bezüglich der vorgesehenen 300m Mauererhalt in der Bernauer Straße sogar zum Ausdruck, ob das denn klug sei und ob es für eine Gedenkstätte nicht ein paar Meter weniger täten, litten Anwohner gewiss unter dem Anblick.37 Gleichzeitig spitzte sich damit aber auch die Möglichkeit einer Gedenkstätte in der Bernauer Straße zu, sorgten die Abrisse andernorts dafür, dass es – entgegen dem Wunsch des Bezirkes Wedding und entgegen den Abrissplänen des MfAuV sowie entgegen den Wünschen diverser Anlieger und Anwohner – zügig keine Alternativen mehr für das geplante Gedenkstättenvorhaben gab.
33 SenStadtUm an Sen vom 26.02.91: Chronologie, S. 2. Dort ist die DenkmalverdachtAussprache mit dem 16.08.1990 datiert. In einer Meldung des PDB hingegen heißt es, dass Irina R., Stadträtin für Kultur am 20.08.1990 den Denkmalverdacht für den Bereich Acker- und Gartenstraße aussprach, zusammen mit dem Bereich der Eastside-Gallery, vgl. PDB-Meldung vom 21.08.1990: Denkmalverdacht für zwei Abschnitte der Berliner Mauer, SWFKB, GBM, Nr. 464, vgl. auch DHM: Die Berliner Mauer (1990), S. 3, SWFKB, GBM, Nr. 480 34 Ebd., S. 4 35 Schreiben von Minister für Abrüstung und Verteidigung Rainer Eppelmann an den Oberbürgermeister Tino Schwierzina vom 27.08.1990, z.n. SenStadtUm an Sen vom 26.02.91: Chronologie, S. 2. 36 Ebd. 37 Schreiben von Minister für Abrüstung und Verteidigung Rainer Eppelmann an den Oberbürgermeister Tino Schwierzina vom 27.08.1990, z.n. SenStadtUm an Sen vom 26.02.91: Chronologie, S. 2.
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Die Beteiligung des MfDG am Projekt einer Gedenkstätte lag vor allem in personalpolitischem Interesse des MfDG. Dies ist einem Brief des damaligen Generaldirektors des MfDG, Wolfgang Herbst an den Generaldirektor des DHM, Christian Stölzl, vom 16. August 1990 zu entnehmen. Darin begrüßte das MfDG zwei bis dahin nicht entschiedene Sonderprojekte »Kulturhistorische und militärhistorische Waffen, Uniformen, Fahnen und Orden« sowie »Sicherung, Bewahrung und wissenschaftliche Bearbeitung von musealen Objekten zur Geschichte der DDR«.38 Insbesondere letzteres wurde mit dem Mauermuseums-Projekt in der Bernauer Straße in Verbindung gebracht. Hier erhoffte sich Herbst die Übernahme einiger seiner bei Eingliederung ins DHM frei werdenden Mitarbeiter: »Vorausgesetzt, dass die Aktivitäten der Herren Dr. [Helmut T.] und Dr. [M.] zu einem Erfolg führen, so könnten dann auch an diesem Projekt Mitarbeiter des MfDG beteiligt werden.«39 An das Bundesministerium des Innern der BRD richtete sich parallel ein durch das MfDG erstellter Entwurf einer Vereinbarung zwischen MfDG und DHM zur Eingliederung des MfDG ins DHM im Rahmen des Einigungsvertrages (Kapitel VIII).40 Darin wurde unter §5 der Vorschlag unterbreitet: »Mitarbeitern des MfDG mit Hochschulabschluss […], denen Arbeitslosigkeit droht, wird vom DHM die Möglichkeit eingeräumt, an Sonderprojekten mitzuarbeiten.«41 Aber auch für das DHM waren im Hinblick auf die Übernahme von Liegenschaften in der Bernauer Straße konkrete Lösungen gefragt. Dies belegt ein Vermerk der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur vom 20. August 1990. Darin wurde das Ende des MfDG mit Ablauf des Jahres (durch einen zu erwartenden Ministerratsbeschluss der DDR am 22. August 1990) prognostiziert und ein Transfer in Frage kommender Liegenschaften zum DHM erwähnt. Das DHM hatte hierzu bereits beim BMI bzw. beim Bundesministerium für Finanzen (BMF) einen Antrag i.H.v. 100.00 DM zur Sicherung des Geländes in der Bernauer Straße beantragt. Der Antrag sollte bis Ende August 1990 entschieden werden.42 Aus gebotener Eile und der Dringlichkeit der Schaffung von Lösungen für die am 29. August 1990 durch den Ministerrat beschlossene ersatzlose Auflösung des MfDG bereits zum 15. September 1990,43 kam es Anfang September zum Abschluss der vom MfDG am 16. August 1990 angeregten Rahmenvereinbarung zwischen BRD und DDR.44 Die Rahmenvereinbarung regelte in §2 dort auch unter
38 Schreiben des Generaldirektors des Museums für Deutsche Geschichte Wolfgang Herbst an den Generaldirektor des Deutschen Historischen Museums Christian Stölzl vom 16.08.1990, S. 5, SWFKB, GBM, Nr. 480. 39 Ebd., S. 6. 40 MfDG, Entwurf Vereinbarung vom 16.08.190, SWFB, GBM, Nr. 480. 41 Ebd., S. 3. 42 SenKult: Vermerk vom 20.08.90, SWFKB, GBM, Nr. 480. 43 DHM: Die Berliner Mauer (1990), S. 4. 44 Rahmenvereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Bundesminister des Innern und der Deutschen Demokratischen Republik, vertreten durch den Minister für Bildung und Wissenschaft über die Verwaltung und Nutzung der Liegenschaften, Sammlungsbestände und weiteren Fonds des bisherigen Museums für Deut-
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Punkt 5 die Übergabe der kurz zuvor dem MfDG übergebenen Liegenschaft »Bernauer Straße«. Die Rahmenvereinbarung sah vor, dass die MfDG-Liegenschaft »Gedenkstätte ›Berliner Mauer‹ Berlin-Mitte, Bernauer Straße« auf den Bund übergehen und dem DHM zur Nutzung übergeben werden, etwaige »Ansprüche Dritter, die sich aus Eigentumsverhältnissen an Grund und Boden ergeben, regelt der Bund«.45 Dies bedeutete, dass das DHM die Liegenschaft in der Bernauer StraßeMauer übernahm. In welchem Ausmaß auch Mitarbeiter des MfDG vom DHM übernommen werden sollten, regelte eine Zusatzvereinbarung zwischen DHM und MfDG, die der Rahmenvereinbarung als Anlage beigefügt wurde.46 Sie sollte sicherstellen, dass »diejenigen Arbeitnehmer des bisherigen MfDG, die von ihrer Qualifikation her dazu in der Lage sind, am Museumsaufbau [durch das DHM] beteiligt werden, und geeignete Arbeitnehmer des bisherigen MfDG entsprechend den Notwendigkeiten der Aufgabenerfüllung des DHM von diesem in angemessenen Umfang eingestellt werden«.47 Der Rahmenvereinbarung beigefügt wurde eine kurze Projektskizze (mit Datum vom 04. September 1990) zum Gedenkstättenvorhaben, die zwar inhaltlich nahezu identisch war mit dem bereits im Juli von M. (MfDG) und Helmut T. (DHM) verfassten Vorkonzept, nun jedoch ausschließlich das DHM als Verfasserin auswies. In dieser »zweiten« Projektskizze fixierte das DHM diesmal alleine seine Vorstellungen zum Umgang mit der historischen Aufarbeitung der Berliner Mauer in der Bernauer Straße. Sich der Tragweite der Aufarbeitung der deutschen Teilung insbesondere für die künftige Entwicklung eines gesamtdeutschen Staates bewusst, so ist es jedenfalls der Einleitung zu entnehmen, entwarf das DHM dort auf drei Maschinenseiten den bereits im Vorkonzept umrissenen »Gedenkpark«, der an den Elementen Gedenkstätte (durch Bezüge zum »authentischen Ort«), Mahnmal (durch das Schaffen von Plätzen für Opfergedenken und Kontemplation) und Museum (durch das Aufstellen von Themenpavillons) festhielt.48 Der einzige Unterschied zum Vorkonzept war, dass der entworfene »Gedenkpark« die kompletten Grenzanlagen inklusive Hinterlandsmauer in einer Länge von jetzt nur noch ca. 200m (d.h. um die Hälfte reduziert) an der Ackerstraße entlang der Bernauer Straße in Richtung Bergstraße umfasste und »die Form einer integrierten Parkanlage« erhalten sollte.49 Thematisch gliederte sich der Gedenkpark immer noch in die drei Themenbereiche »Die Entstehung«, »Die Existenz« und »Das Ende«. Bei dem Gedenkstättenpark handelte es sich damit weiterhin um eine Art »Freilichtmuseum«.50 Diese zweite Ideenskizze
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sche Geschichte (MfDG) durch die Deutsches Historisches Museum GmbH (DHM), vom (unterzeichnet) 03./06.09.1990, SWFKB, GBM, Nr. 463. Ebd., S. 1. Dieses Dokument war durch die Verf. nicht auffindbar. Siehe §5 der Rahmenvereinbarung vom (unterzeichnet) 03./06.09.1990, S. 5, SWFKB, GBM, Nr. 463. DHM: Die Berliner Mauer (1990), S. 1, SWFKB, GBM, Nr. 480. Ebd. Ebd., siehe auch: Trotnow, Helmut: »Das Mauermuseum muss mitten in der Stadt stehen«, in: Berliner Morgenpost vom 23.09.1990.
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war damit nur eine abgespeckte Version des Vorkonzeptes, dies gilt für die Form ebenso wie für die inhaltlichen vagen Festlegungen.51 Zum weiteren Vorgehen betonte das DHM (im Unterschied zum Vorkonzept), dass mit dieser Konzeption weder ein Gruselkabinett noch eine Art Disneyland gemeint sei, sondern eine großflächiger Ort der Erinnerung und Aufklärung und dass auch die kritisch gestimmte, angrenzende Sophiengemeinde in die weitere Planung einzubeziehen sei.52 Die Sophiengemeinde befürchtete zusammen mit dem benachbarten Lazarus-Krankenhaus nämlich inzwischen den Verlust ihrer Friedhofsruhe und eines freien Zugangs zum gemeindeeigenen Friedhof, der sich z.T. auf dem avisierten Gedenkstättenareal befand bzw. dort angrenzte.53 Das DHM wies in der Grobkonzeption darauf hin, dass es hierzu mit den Beteiligten Gespräche gegeben habe, die das Ziel verfolgten, die Bedenken der Sophiengemeinde und des Krankenhauses bei weiteren Planungen zu berücksichtigen.54 Am 14. September 1990 wurden die Verhandlungen bezüglich der Übergabe der Fonds des MfDG an das DHM abgeschlossen.55 Mit Wirkung vom 15. September 1990 gingen die Liegenschaften in Bundesbesitz über und wurden sie dem DHM zur weiteren unentgeltlichen Nutzung überlassen. Der Generaldirektor des DHM wurde beauftragt, gemäß §5 der Rahmenvereinbarung Mitarbeiter des MfDG beim Museumsaufbau nach Bedarf zu beteiligen bzw. beim DHM einzustellen.56 Rechtskräftig unterzeichnet wurde das Protokoll vom Minister für Bildung und Wissenschaft der DDR, Joachim Meyer, für den Bundesinnenminister von seinem Ministerialrat sowie von den Generaldirektoren des MfDG und des DHM, Herbst und Stölzl.57 Damit waren neben den denkmalpflegerischen, erstmals konkrete institutionelle Voraussetzungen für den Aufbau einer Gedenkstätte Berliner Mauer unter dem Dach des DHM geschaffen. »Sollte die Sicherung [der Mauer in der Bernauer Straße] gelingen, wird sehr wahrscheinlich das DHM das ›Freilichtmuseum‹ betreuen«, heißt es in einem Vermerk hierzu.58 Alternative Trägerschaften wurden also gar nicht erst in Betracht gezogen.59 Dabei war die Mauer zu diesem Zeitpunkt noch nicht endgültig vor Abbrucharbeiten geschützt. Zu dem Beschluss der Ostberliner Magistratsvorlage der Stadträtin für Kultur in Sachen Denkmalerklärung der Ber-
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56 57 58 59
Ebd. Ebd., S. 5. Ebd., S. 4. Ebd. Protokoll der Verhandlungen zur Übergabe der Fonds des bisherigen Museums für Deutsche Geschichte (MfDG) an die Deutsches Historisches Museum GmbH (DHM) am 14. September 1990, SWFK, GBM, Nr. 463. Ebd. Ebd. DHM: Vermerk vom 18.09.1990, SWFKB, GBM, Nr. 480. Dem Anliegen des Hauses der Geschichte Bonn (HdG), vorgebracht durch seinen Direktor Hermann Schäfer, in Berlin ein solches Mauer-Freilichtmuseum zu errichten, wurde damit nicht weiter verfolgt und eine Absage erteilt, vgl. ebd.
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nauer Straße kam es ja erst einen Tag vor Beitritt der DDR am 02. Oktober 1990. Darin erklärte der Magistrat von Ost-Berlin die auf 212m erhaltene Mauer in der Bernauer Straße zum »gesetzlich geschützten Denkmal«.60 Die Denkmalerklärung erfasste den gesamten Grenzabschnitt Bernauer Straße zwischen Acker- und Bergstraße inklusive der Hinterlandsmauer.61 Die offizielle Übergabe der Grenzsicherungsanlagen durch den Auflösungs- und Rekultivierungsstab Berlin an das DHM erfolgte am 09. Oktober 1990.62 Damit waren noch vor Beitritt der DDR neben den institutionellen auch die denkmalpflegerischen Voraussetzungen für eine zukünftige Gedenkstätte Bernauer Straße geschaffen. Die Bewahrung des Grenzabschnittes erfolgte von vornherein mit dem erklärten Ziel, dort eine Gedenkstätte zu schaffen.63 Von Erkenntnisinteresse ist, dass die Bemühungen von Ost und West gleichzeitig ausgingen (DHM und MfDG) und durch die Bereitschaft des BMI sowie v.a. auf Veranlassung des Ostberliner Magistrats und dessen Beschlüsse, Möglichkeiten für eine spätere Gedenkstätte geschaffen wurden. Das Vorurteil, die Ostberliner Politik und Verwaltung habe generell das Erinnern und Gedenken blockiert, kann nicht bestätigt werden. Bis zum 03. Oktober 1990 grundlegende Weichen im Sinne einer Gedenkstätte in der Bernauer Straße gestellt, so die Rettung vor dem Abriss, die Denkmalschutzerklärung, die Klärung der Rechtsträgerschaft sowie ein erstes Gedenkstättenkonzept.
3.2 D ER B ESCHLUSS ÜBER B ERLINER M AUER
EINE
E RINNERUNGSSTÄTTE
Bis Ende Oktober 1990 stand zunächst die Bestandssicherung der Berliner Mauer in der Bernauer Straße im Vordergrund der Bemühungen. Zu konkreteren Planungen hinsichtlich einer zu errichtenden Erinnerungsstätte sah sich die Berliner Regierung zusammen mit dem Bund (als Eigentümer bzw. Liegenschaftsverwalter) bis zum Frühjahr 1991 kaum veranlasst. Diverse Anträge in diese Richtung seitens der FDP-
60 Magistratsverwaltung für Kultur, Abt. V – Denkmalpflege: Denkmalerklärung vom 02.10.1990, SWFKB, GBM, Nr. 463; siehe auch o.V.: Chronologie über den Entstehungsprozess des Gedenkstättenensembles in der Bernauer Straße, StAufarb., Bernauerstraße (Geschäftsablage, o. Sign.). 61 Die Begründung des Denkmalwerts erfolgte durch die Berliner Senatsverwaltung am 15.03.1991; vgl. SenStadtUm: Begründung des Denkmalwerts Mauerabschnitt Bernauer Straße zwischen Acker- und Bergstraße vom 15.3.1991, SWFKB, GBM, Nr. 480. Damit wurde nach den Bestimmungen des Überleitungsgesetzes die Anlage in ihrem Denkmalwert gemäß des Westberliner Denkmalschutzgesetzes bestätigt. 62 Leiter Sachgebiet Abbau: Protokoll der Übergabe ehemaliger Grenzsicherungsanlagen im Bereich Bergstraße bis Ackerstraße vom 09.10.1990, SWFKB, GBM, Nr. 468. 63 Vgl. DHM: Gedenkstätte und Museum »Berliner Mauer« in der Bernauer Straße. Projektbeschreibung des Deutschen Historischen Museums. Stand April 1991. Anlage zur Senatsvorlage, SWFKB, GBM, Nr. 464.
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Fraktion und der REP im Abgeordnetenhaus von Berlin wurden vertagt, zurückgezogen, geschoben64 und wenn, dann nur auf SVV-Ebene entschieden.65 Erst als sich die Planungen des DHM (unterstützt durch das BMI) im März 1991 in Richtung »Gedenkpark« konkretisierten, das Areal mit Bauzäunen gesichert wurde und das DHM die Öffentlichkeit über das eigene groß angelegte Gedenkstättenvorhaben informierte, erhöhte sich der Druck auf die Berliner Regierung und das Parlament, sich mit einer Erinnerungsstätte in der Bernauer Straße politisch auseinanderzusetzen, Position zu beziehen und grundlegende Entscheidungen zutreffen.66 Da das
64 Siehe hierzu auch o.V.: »Wieder verschoben. Kulturausschuss zu Gestapo-Gelände und Erhaltung von Mauerstücken«, in: Der Tagesspiegel vom 25.09.1990. Der FDP-Antrag über die Errichtung von Mahnmalen im Bereich der bisherigen Mauerführung zwischen Ost- und Westberlin (vgl. SVV, Antrag der Fraktion der FDP Drs. Nr. 1/20 S) wurde in der Sitzung des Ausschusses für Kulturelle Angelegenheiten des Abgeordnetenhauses von Berlin am 24.09.1990 zuständigkeitshalber erst einmal vertagt auf den 08.10.1990, vgl. Abgeordnetenhaus von Berlin, Beschluss-Protokoll 11/28 der 28. Sitzung vom 24.09.1990, Ausschuss für Kulturelle Angelegenheiten und Medienpolitik, S. 1. Aber auch am 08.10.1990 wurde kein Beschluss gefasst, plädierte die SPD-Fraktion für eine von der Landesregierung vorzulegende Gesamtkonzeption und beantragte die CDU-Fraktion die Fortsetzung der Besprechung des Themas in einer der weiteren Sitzungen unter Beteiligung der Stadträtin für Kultur sowie Mitgliedern der Stadtverordnetenversammlung (SVV)., vgl. Abgeordnetenhaus von Berlin, Beschluss-Protokoll 11/29 der 29. Sitzung vom 08.10.1990, Ausschuss für Kulturelle Angelegenheiten und Medienpolitik, TOP 4, S. 3. Entsprechend wurde auch ein am 09. Oktober 1990 in das Abgeordnetenhaus eingebrachte Dringlichkeitsantrag der Fraktion der Republikaner (REP) über eine Errichtung einer Mauer-Gedenkstätte (Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 11/1239 vom 09.10.1990) einstimmig an den Kulturausschuss und in den Hauptausschuss überwiesen, vgl. Abgeordnetenhaus von Berlin, Plenarprotokoll 11/44 vom 11.10.1990, S. 2299 (D); Schreiben der Senatskanzlei vom 12.10.1990, SWFKB, GBM, Nr. 480. Gleichzeitig hatte die Magistratsverwaltung für Kultur bezüglich der Bewahrung von Abschnitten der Mauer als Denkmal und deren Ausgestaltung als Mahnmal ihre Vorlage Nr. 4/90 am 09.10.90 auf der 1. Sitzung der Gesamtberliner Landesregierung zurückgezogen, vgl. Schreiben der Senatskanzlei vom 11.10.90, SWFKB, GBM, Nr. 480. 65 So wurde in der 15. Sitzung der SVV vom 24.10.1990 der Antrag der FDP-Fraktion über die grundsätzliche Möglichkeit der Errichtung von Mahnmalen im Bereich der bisherigen Mauerführung angenommen. Damit schloss sich die SVV zunächst dem Votum des Ostberliner Magistrats an und sorgte sie dafür, dass die noch vorhandenen Anlagen im ehemaligen Grenzabschnitt Bernauer Straße zwischen Acker- und Bergstraße zu diesem Zweck zu erhalten seien. Mit diesem allgemeinen Beschluss war immerhin die politische Grundvoraussetzung geschaffen, konkretere (erinnerungspolitische) Planungen in der Bernauer Straße zu ermöglichen, vgl. Schreiben der Magistratskanzlei vom 30.10.1990, SWFKB, GBM, Nr. 464. 66 Seitens des DHM liefen auf Basis der ersten Projektskizze vom 04. September 1990 ab Herbst/Winter 1990/1991 die ersten Vorbereitungen für die Errichtung eines Gedenkstättenparks auf Hochtouren. Auf Antrag des DHM stellte das BMI im Rahmen des
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Gedenkvorhaben auch vor Ort bei Anwohnern und Anliegern, bei Bezirkspolitikern und Kirchenleuten darüber hinaus weiterhin auf Widerstände und wenig Gegenliebe stieß, entfachte ein heftiger, jahrelanger politischer Streit um das Gedenken in der Bernauer Straße, der im Frühjahr 1991 seinen Anfang nahm. Die Gedenkstättenpläne des DHM stießen in der CDU-Fraktion von Wedding sowie bei Anwohnern bzw. Anliegern auf Widerstand.67 Es ging den Widersachern dabei weniger um das Vergessen der Opfer oder gar das Verdrängen der Teilungsgeschichte. Der Bezirk Wedding und einzelne Anwohner bzw. Anlieger lehnten die vom DHM geplante »Großlösung« – bei allem Respekt vor den Opfern – vor allem aus persönlichen Motiven, institutionellen Eigeninteressen und kommunalpolitischem Kalkül ab. Die Weddinger argumentierten, die geplante Gedenkstätte schände an dem vorgesehenen Standort ehemalige Grabstätten, verzehre unnötig Haushaltsmittel und der Anblick sowie touristische Negativbegleiterscheinungen seien für die Anwohner eine unerträgliche seelische Belastung.68 Sie schlugen stattdessen die Verwirklichung eines verkleinerten Konzepts vor, z.B. auf dem Gelände der ehemaligen Versöhnungskirche, die 1985 von der NVA gesprengt wurde.69 Auch das Errichten von neun Hinweistafeln entlang der Bernauer Straße wurde als Alternative in Betracht gezogen und als ausreichend für eine Erinnerung an die Berliner Mauer angesehen.70 Die Fraktion der CDU brachte am 16. April 1991 hierzu einen entsprechenden Antrag in die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Wedding ein: »Das Bezirksamt wird ersucht, sich mit allen seinen Mitteln gegen die Einrichtung des Mauer-Museums gegenüber dem LazarusKrankenheim einzusetzen. [Herv. i.O.]«71 Die CDU-Angeordnete zwang parallel dazu das Abgeordnetenhaus, sich durch ihre am 05. März 1991 eingebrachte Kleine Anfrage mit dem Anwohneranliegen in der Bernauer Straße zu befassen.72
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3. Nachtragshaushaltes hierfür sogar 90.000 DM bereit, vgl. Schreiben des DHM an die SenKult vom 07.11.1990. Sie wurde darin sogar unterstützt durch einzelne Mitglieder des Deutschen Bundestages, die sich mit den Worten: »Den Bewohnern in der Bernauer Straße […] ist keinesfalls zuzumuten, unverändert keinen freien Blick zu haben und ständig an die schrecklichen Vorkommnisse erinnert zu werden« an das BMI wandten, vgl. Schreiben des MdB N. an den Staatssekretär (StS) des BMI Hans N. vom 12.11.1990, SWFKB, GBM, Nr. 480. Auch MdB B.-P. lehnte das Projekt in der Bernauer Straße aus gleichen Motiven entschieden ab. Ebd.; vgl. auch Abgeordnetenhaus Berlin, Drs. 11/279, Kleine Anfrage Nr. 279 vom 05.03.1991. Schreiben des Lazarus-Diakonissenhaus zu Berlin an den Regierenden Bürgermeister von Berlin Eberhard Diepgen vom 08.02.1991, SWFKB, GBM, Nr. 480. Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 11/1387, Kleine Anfrage Nr. 1964 vom 28.11.1990. Bezirksverordnetenversammlung Wedding von Berlin, Drs. Nr. 1152 vom 16.4.1991, SWFKB, GBM, Nr. 465. Abgeordnetenhaus Berlin, Drs. 11/279, Kleine Anfrage Nr. 279 vom 05.03.1991. Die Beantwortung wurde u.a. aufgrund der ausstehenden Denkmalüberprüfung im Rahmen des Überleitungsvertrages aber auch aufgrund konzeptioneller Unklarheiten verschoben,
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Das BMI hielt den Gegnern einer Gedenkstätte in der Bernauer Straße entgegen: »Der in Rede stehende Bereich ist sicher besonders geeignet, die Mauer als Symbol der deutschen Teilung aufzuarbeiten und als Gedenkstätte und als Mahnmal zu dienen […]. Für Ihr Anliegen, den Bewohnern der Bernauer Straße den weiteren Anblick der Mauer zu ersparen, habe ich großes Verständnis. Dabei sollten aber auch die Opfer der Teilung nicht vergessen werden, die an der Mauer – und gerade an der Bernauer Straße – ihr Leben lassen mussten.«73
Die SenKult versuchte bei Kritikern für das bürgernahe und bedankenswerte Projekt zu werben.74 Am Erhalt der auf 200m bestehenden Mauerreste zum Zwecke einer Gedenkstätte, hielt die SenKult fest. Dabei stellte sich die SenKult auch offen gegen konkurrierende Pläne der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt (SenStadtUm) sowie der Senatsverwaltung Verkehr und Betriebe (SenVuB), deren Senatoren Volker Hassemer (CDU) und Herwig Haase (CDU) statt einer Gedenkstätte vielmehr den Ausbau der Bernauer Straße zu einer sechsspurigen Schnellstraße befürworteten. Obwohl die SenStadtUm im März 1991 den Denkmalverdacht vom 02. Oktober 1990 offiziell bestätigte und die vorhandenen Grenzanlagen in der Bernauer Straße zum Denkmal erklärte,75 lehnte sie die Errichtung einer großen Gedenkstättenanlage ab, und hielt sie diese für denkmalpflegerisch höchst problematisch.76 Die SenVuB wiederum plante derweil den Ausbau der Bernauer Straße zu einem Ringstraßenabschnitt zuzüglich einer Straßenbahntrasse, die ein Verschwinden der denkmalgeschützten Grenzanlagen voraussetze. Dies sickerte nach und nach in der Öffentlichkeit durch.77
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vgl. SenKult: Chronologie über die Bemühungen zur Errichtung einer Gedenkstätte »Berliner Mauer« in der Bernauer Straße vom 2. Mai 1991, SWFKB, GBM, Nr. 480. Schreiben des BMI an den MdB N. vom 06.02.1991, SWFKB, GBM, Nr. 480. Schreiben der SenKult Senator Roloff-Momin an Bernd K., Fassung vom 13.03.1990, SWFKB, GBM, Nr. 464, Schreiben der SenKult StS an den Senator vom 24.04.1991, SWFKB, GBM, Nr. 480. Zur Denkmalbegründung vgl. SenStadtUm: Begründung des Denkmalwerts Mauerabschnitt Bernauer Straße zwischen Acker- und Bergstraße vom 15.03.1991, SWFKB, GBM, Nr. 480, darin heißt es: »Die Erhaltung des Mauerabschnittes ist notwendig, um die Erinnerung an die für das Leben der Menschen beiderseits der Grenze so folgenschwere Teilung der Stadt wach zu halten und auch nachfolgende Generationen eine anschauliche Vorstellung von ihrer bedrückenden Wirklichkeit zu vermitteln«, vgl. ebd. S. 2. Schreiben der SenKult Senator Roloff-Momin an Bernd K., Fassung vom 13.03.1991, SWFKB, GBM, Nr. 464. Auf Strittigkeiten zwischen SenKult und SenStadtUm lässt auch dort vorgefundener handschriftlicher Eintrag schließen. Vgl. besonders aber auch Schreiben der SenStadtUm Senator Hassemer an SenKult Senator Roloff-Momin vom 31.07.1991, SWFKB, GBM, Nr. 464. Müller-Wirth, Moritz: »Erinnerung an einen Ort des Schreckens«, in: Der Tagesspiegel vom 06.07.1991; Riedle, Gabriele: »Wo genau stand die Mauer?«, in: Die Zeit vom 01.08.1991.
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Die Berliner Regierung strebte zu diesem frühen Zeitpunkt vor allem einen einseitigen Kompromiss an, der die Wogen im Bezirk Wedding glättete und neben dem historischen Anliegen einer Gedenkstätte, stadtentwicklungspolitisch vordringlich das Ringstraßenkonzept als Prestigeprojekt nicht gefährdete.78 Der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) behielt sich zu diesem Zeitpunkt darum lediglich ein Überprüfen des Gedenkstättenprojektes durch seine Senatsverwaltungen vor, insbesondere Ausmaß und Art seien noch unentschieden, grundsätzlich sei Verständnis für die Anlieger vorhanden.79 Er hielt zwar grundsätzlich fest an der Errichtung einer Erinnerungsstätte, über den Umfang und den genauen Standort verhielt sich die Berliner CDU-Regierung in den folgenden Monaten allerdings unschlüssig, gespalten, wenn nicht gar stellenweise offenkundig der SenKult und dem DHM gegenüber höchst ablehnend, wie die Analyse der folgenden Entwicklung zeigt.80 Konzeptionell legte das DHM als weitere Entscheidungsgrundlage schon im April 1991 eine dritte Projektbeschreibung als Diskussionspapier vor.81 Darin wurde erneut vorgeschlagen, das Grenzareal zwischen Berg- und Ackerstraße in drei Teilbereiche zu gliedern. Der erste Bereich war wieder als Gedenkort für die Opfer der Teilung vorgesehen. Die Gestaltung sollte diesmal »unter Einbeziehung der erhalten gebliebenen Glocken der Versöhnungskirche, die 1985 gesprengt wurde, und von Gedenkkreuzen und -steinen aus verschiedenen Teilen der Stadt sowie von Grabsteinen der durch den Mauerbau zerstörten Friedhöfe« erfolgen.82 Ebenfalls war an dieser Stelle eine Gedenktafel mit den Namen der Maueropfer angedacht.83 Der zweite Bereich war nun als Museumstrakt mit authentischen Exponaten und Ausstellungen geplant.84 Inhaltlich empfahl die Projektbeschreibung »‹Berlin – Brennpunkt deutscher Geschichte‹, als ein Sonderthema zu behandeln«.85 Der dritte Abschnitt sollte im Unterschied zu den Vorgängerplanungen schließlich die eigentlichen Grenzanlagen (Vorder- und Hinterlandmauer, Todesstreifen, Sicherungsanlagen, Kolonnenweg, Panzersperren, Licht- und Signalanlagen, Wachturm) auf
78 Ebd. 79 Schreiben des Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen an das Lazarus Krankenund Diakonissenhaus vom 03.04.1991, SWFKB, GBM, Nr. 480. 80 Schreiben SenKult StS an SenKult Senator vom 24.04.1991, SWFKB, GBM, Nr. 480. 81 DHM: Gedenkstätte und Museum »Berliner Mauer« in der Bernauer Straße. Projektbeschreibung des Deutschen Historischen Museums. Stand April 1991. Anlage zur Senatsvorlage, SWFKB, GBM, Nr. 464, Grundlage hierfür war ein Konzept, dass im Auftrag des DHM vom 07.12.1990 zur Aufsichtsratssitzung der DHM GmbH am 26.04.1991 vorgelegt wurde, vgl. DHM: Konzept für die Gedenkstätte »Berliner Mauer«, Sitzung des Aufsichtsrates der DHM GmbH vom 26.04.1991, SWFKB, GBM, Nr. 464. 82 DHM: Gedenkstätte und Museum »Berliner Mauer« in der Bernauer Straße. Projektbeschreibung des Deutschen Historischen Museums. Stand April 1991. Anlage zur Senatsvorlage, SWFKB, GBM, Nr. 464, S. 1. 83 Ebd. 84 Ebd. 85 Ebd., S. 3.
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einer Gesamtlänge von nur noch 50m umfassen.86 Eine befügte Arbeitskizze visualisierte diese erweiterten Gedenkstättenpläne des DHM. Der Eingang/Eingangsbereich wurde in die Bergstraße gelegt, entlang des ehemaligen Kolonnenweges sollte der Besucher dann die drei Stationen »Gedenkstätte«, »Museum« und zuletzt die Rekonstruktion einer authentischen Grenzanlage »durchlaufen«, wobei der Besucher die letzte Station nur über zwei dafür eigens aufgestellte Holztürme (Aussichtsplattformen) erleben sollte. Eine Besichtigung dieses Abschnittes war also ausschließlich über eine Besucherplattform vorgesehen.87 Zur Umsetzung wurden konkrete Schritte vorgeschlagen: eine endgültige Sicherung und Rekultivierung des Geländes mit Hilfe des Bundeswehrkommandos-Ost, eine Rekonstruktion der durch Abriss/Abbau lückenhaften Grenzanlagen auf einer Länge von 50m, die Durchführung witterungsbedingter Konservierungsmaßnahmen, eine baldige landschaftlich- und technische Versorgung und Gestaltung der Anlagen sowie die Erstellung einer inhaltlichen Ausstellungskonzeption bis zum Jahresende 1991. Die künstlerische Gestaltung war für 1992 mittels Ausschreibung oder aber Beauftragung einzelner Künstler geplant. Es wurde empfohlen, für alle einzuleitenden Schritte die Federführung beim DHM zu belassen. Zum 30. Jahrestag des Mauerbaus, am 13. August 1991 war der Abschluss der meisten Beräumungs- und Installierungsarbeiten zwecks erster Öffnung der Anlage für Publikum anvisiert.88 Am 06. Mai 1991 befasste sich auf Antrag der Fraktion der Bündnisgrünen in seiner 4. Sitzung der Kulturausschuss in einer Anhörung von Sachverständigen mit dem Umgang und dem Stand der Museumsplanungen des DHM.89 Der zwischenparteiliche Dissens trat dort offen zu Tage. Während die Fraktionen der Bündnisgrünen, der FDP und der SPD sich für eine würdige Gedenkstätte in der Bernauer Straße aussprachen, die »jegliche Verniedlichung und Verdrängung vermeide«, auch »da die politischen Folgen dieser Vergangenheit längst noch nicht überwunden seien«, plädierte die Fraktion der CDU entschieden »dafür, den Mauerabschnitt in der Bernauer Straße keinesfalls in der noch bestehenden Länge zu erhalten und auch nur dann, wenn Senator Hassemer [SenStadtUm] mit den Anwohnern eine Konsenslösung erreiche. Andernfalls sei seine Fraktion nicht bereit, sich für den Erhalt auszusprechen«.90 Dass hierbei auch die Verkehrsplanungen der SenStadtUm und der SenVuB eine Rolle spielten, wurde durch den Sprecher der Bündnisgrünen vorgebracht, der sich fragte, »ob sein Vorredner [Sprecher der CDU-Fraktion] in der gleichen engagierten Weise die Belange und Wünsche der Anwohner berücksichtigen würde,
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Ebd., S. 2. DHM: Arbeitsskizze Gedenkstätte »Berliner Mauer«, Anlage zu ebd. Ebd. Siehe zum folgenden auch Metzner, Jochen: »Mauer-Reste. Debatte über Gedenkstätte im Kulturausschuss«, in: Der Tagesspiegel vom 07.05.1991, S. 17; Abgeordnetenhaus von Berlin, Inhaltsprotokoll 12/4 der 4. Sitzung vom 06.05.1991, Ausschuss für Kulturelle Angelegenheiten. 90 Z.n. ebd., S. 3, 5.
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wenn es zum Abriss der Mauer käme und die Bernauer Straße sechsspurig ausgebaut würde«.91 Er forderte stattdessen: »Der Mauerabschnitt müsse in voller Länge erhalten bleiben; das Gebiet dürfe nicht den Charakter einer Autobahn erhalten.«92 Die einzigen politischen Fürsprecher für eine Kompromisslösung fand die CDU in der PDS, deren Sprecher verlautbaren ließ: »In der Bernauer Straße neige er zu einer Kompromisslösung. […] Die Entscheidung dürfe nicht gegen die Anwohner getroffen werden. Auch gestalterisch bestehe noch Diskussionsbedarf.«93 Gegen die Unterordnung der erinnerungskulturellen Frage zugunsten einer rein lokalen, stadtplanerischen Kompromisslösung sprach sich – neben den Bündnisgrünen, der FDP und der SPD – auch die Mehrzahl der Sachverständigen sowie einzelne Vertreter der betroffenen Einrichtungen aus. Hildebrandt vom Haus am Checkpoint Charly, Helmut T. vom DHM, der Pfarrer der Versöhnungsgemeinde Manfred F. und der Kultursenator selbst rechtfertigten eine Gedenkstätte an Ort und Stelle mit der historischen und weltpolitischen Tragweite der Berliner Mauer: »[…] in einem solchen Fall müssten Lösungen – unter Umständen auch gegen die Interessen der Betroffenen – gefunden werden. […] Entscheidend sei, eine eindringliche und unmissverständliche Konzeption an die nachkommenden Generationen zu überliefern«.94 Man einigte sich schließlich darauf, den Senat zu beauftragen, eine Fachkommission einzuberufen, die sich mit sämtlichen noch verbliebenen Teilen der Berliner Mauer zu befassen habe.95 Die Empfehlung zur Einsetzung einer »Fachkommission zur Erarbeitung von Vorschlägen für die Erhaltung der ›Mauer-Reste‹« ging mit Schreiben vom 13. Mai 1991 an die Berliner CDU-Regierung.96 Dieser Empfehlung folgte der Senat nicht, der Regierende Bürgermeister Diepgen antwortete: »Eine für absehbare Zeit regelmäßig tagende Fachkommission halte ich nicht für notwendig.«97 Stattdessen wollte er zunächst durch die Sachverständigenkommission des DHM und durch DHM-Wissenschaftler über die Pläne der Bundesregierung informiert werden und erhoffte sich im gleichen Schritt konkrete Vorschläge zur Umsetzung. Es wurde angeregt, im Herbst 1991, bei einem durch die SenKult und die SenStadtUm veranstaltetes Wochenendsymposium, das Ergebnis vorzustellen.98 Parallel dazu wurde die SenKult beauftragt, den Senat über die Gedenkstättenpläne der Bundesregierung und des DHM aus-
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Ebd. S. 3. Ebd., S. 2. Z.n., ebd. S. 4. So der Kultursenator, vgl. ebd., S. 9. Ebd., S. 8. Schreiben des Vorsitzenden des Ausschusses für Kulturelle Angelegenheiten an den Regierenden Bürgermeister vom 13.05.1991, SWFKB, GBM, Nr. 480. 97 Schreiben des Regierenden Bürgermeisters Diepgen an SenKult Senator Roloff-Momin vom 06.06.1991, SWFKB, GBM, Nr. 480. 98 Ebd.; Schreiben SenKult: Chronologie über die Bemühungen zur Errichtung einer Gedenkstätte »Berliner Mauer« in der Bernauer Straße (Berlin Mitte), vorläufig datiert mit 02.05.1991 [zu einem späteren Zeitpunkt ergänzt, CR], S. 4, SWFKB, GBM, Nr. 480.
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führlich zu unterrichten, d.h. eine ATO-Vorlage für einen späteren Senatsbeschluss vorzubereiten.99 Im Hinblick auf die Lösung des Gedenkstättenkonfliktes im Bezirk Wedding versuchte die dortige SPD-Fraktion, eine Brücke zu den Gegnern der Gedenkstätte (CDU-Fraktion, Sophiengemeinde, Lazaruskrankenhaus) zu bauen und brachte am 03. Juni einen entsprechenden Antrag ein. Der sah vor, sich nochmals auf Bezirksebene mit dem Vorhaben einer Gedenkstätte zu befassen, jedoch nicht als ein groß angelegtes Museumsprojekt, sondern als eine »Gedenk- und Dokumentationsstätte Bernauer Straße«, als würdiger Ort des Erinnerns und der Mahnung«.100 Es wurde empfohlen, die Stätte auf einen Mauerrest von 50m zu beschränken und die Konzeption auf die Belange der Bewohner abzustimmen. Schließlich empfahl der Antrag, für eine bauliche Gestaltung einen Ideenwettbewerb auszuschreiben und bei weiteren Schritten die Bezirke sowie die Bevölkerung einzubeziehen.101 Vier Tage später fand am 07. Juni 1991 beim Senator SenStadtUm eine Gesprächsrunde mit dem DHM, den Gemeinden Sophien und Versöhnung, mit dem Lazarusheim sowie mit CDUMitgliedern aus Wedding, der Baustadträtin und Anwohnern aus Berlin-Mitte statt, »[…] um das Meinungsbild aus der Kulturausschusssitzung zu ergänzen«.102 Die Pfarrer der Sophiengemeinde und des Lazarus Kranken- und Diakonissenhauses lehnten die Gedenkstätte an der diskutierten Stelle im Sinne der CDU-Fraktion ab und sprachen sich stattdessen für den Kompromiss in Form einer kleinen, stillen Gedenkstättenlösung auf dem Platz der ehemaligen Versöhnungskirche aus.103 Eine Lösung im Sinne der DHM-Pläne wurde dort also nicht erzielt, vielmehr wurden stattdessen auf Bezirksebene eigene Fakten geschaffen, indem der SPD-Antrag vom 03. Juni 1991 am 10. Juni 1991 von der BVV Wedding angenommen wurde.104 So überraschte es besonders die Befürworter der DHM-Gedenkstättenlösung, dass am 11. Juni 1991 über die Zeitung veröffentlicht wurde, dass ein Koordinierungsgremium sich auf einen Kompromiss geeinigt habe, der u.a. vorsah, dass 130m Mauer abgetragen und auf Ausstellungen verzichtet werde, die Sophiengemeinde ihr Grundstück zurückerhalte und nur die verbleibenden 70m an der Ackerstraße in Richtung
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Schreiben des Regierenden Bürgermeisters Diepgen an SenKult Senator Roloff-Momin vom 06.06.1991, SWFKB, GBM, Nr. 480. Bezirksverordnetenversammlung Wedding, Drs. Nr. 1222 vom 03.06.1991, Antrag der SPD-Fraktion. Ebd. DHM: Gedenkstätte und Museum »Berliner Mauer« in der Bernauerstraße. Projektbeschreibung des DHM, Stand April 1991, Anlage zur Senatsvorlage, Nachtrag, Sachstand vom 17. Juni 1991, S. 4, SWFKB, GBM, Nr. 464; Schreiben DHM an SenKult Senator Roloff-Momin vom 30.05.1991, SWFKB, Gedenkstätte Berliner Mauer, Nr. 480. Abgeordnetenhaus von Berlin, Inhaltsprotokoll 12/4 der 4. Sitzung vom 06.05.1991, S. 8, Ausschuss für Kulturelle Angelegenheiten. DHM: Gedenkstätte und Museum »Berliner Mauer« in der Bernauerstraße. Projektbeschreibung des DHM, Stand April 1991, Anlage zur Senatsvorlage, Nachtrag, Sachstand vom 17. Juni 1991, S. 4, SWFKB, GBM, Nr. 464.
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Bergstraße für eine zukünftige Gedenkstätte erhalten blieben.105 Dieser öffentlich gemachte Kompromiss entsprach nur in Teilen dem Antrag der SPD-Fraktion der BVV Wedding vom 03. Juni 1991,106 vor allem aber kaum einer Übereinkunft zwischen DHM und dem Kirchenkonsortium am gleichen Tage und schon gar nicht den Ergebnissen des Koordinierungsgespräches vom 07. Juni 1991.107 Nur wenige Tage später gab der Senator der SenStadtUm am 17. Juni 1991 dann auch noch öffentlich bekannt, es gäbe einen übergreifenden Konsens, der beinhalte, dass die Sophiengemeinde den Friedhof zurückerhielte und keine Baulichkeiten dort zu errichten seien, die Grenzmauer als Begrenzung des Friedhof bliebe, der Bereich gegenüber dem Lazarusheim hingegen abzureißen wäre, eine Sichtbarmachung der Tiefenstaffelung der Grenzanlagen durch das Aufstellen geeigneter Zeichen ausreichend hergestellt werden könne und die Gedenkstätte auf das Areal der Versöhnungskirche ausweiche, das hierfür in Wirklichkeit jedoch nicht zur Verfügung stand und auf dem erst Recht kein Relikt der ehemaligen Grenze mehr zu finden war.108 Dieser angebliche Konsens zielte quasi auf das totale Aus der Gedenkstättenplanung an der Bernauer Straße zwischen Acker- und Bergstraße. Die Berliner Mauer sollte zu einer Friedhofmauer umfunktioniert werden, alle übrigen Grenzanlagen zugunsten einer Friedhofnutzung weitgehend geschleift und auf Hinweise im Stadtbild an besagter Stelle reduziert werden.109 Da die SenStadtUm sich im Mitzeichnungsverfahren zur Kleinen Anfrage Nr. 279 der CDU befand, fügte der Senator der SenStadtUm der Vorlage der SenKult diesen vermeintlichen Konsens einfach hinzu und machte ihn über den Landespressedienst öffentlich.110 Damit schuf die SenStadtUm plötzlich »Tatsachen« und schnitt jeglicher Diskussion und Kompromissfindung weiteres Wort ab. Sowohl die Versöhnungsgemeinde als auch die SenKult und das DHM kritisierten diesen Alleingang des Senators der SenStadtUm aufs Schärfte. In ihrer Presseerklärung erklärte die Versöhnungsgemeinde: »Die Versöhnungsgemeinde bedauert, dass Herr Senator Hassemer die Presse über das angebliche Ergebnis eines informellen Gesprächs informiert […].«111 Grundsätzlich war die Versöhnungsge-
105 Jacobi, M./Schupelius, G.: »Ohne Disney-Rummel: Ein Stück Mauer zum stillen Gedenken. 70 Meter Grenze werden restauriert«, in: Berliner Morgenpost vom 11.06.1991. 106 Bezirksverordnetenversammlung Wedding, Drs. Nr. 1222 vom 03.06.1991, Antrag der SPD-Fraktion. 107 DHM: Gedenkstätte und Museum »Berliner Mauer« in der Bernauerstraße. Projektbeschreibung des DHM, Stand April 1991, Anlage zur Senatsvorlage, Nachtrag, Sachstand vom 17. Juni 1991, S. 5, SWFKB, GBM, Nr. 464. 108 LPD: Senator Hassemer: Kompromiss für Mauer an der Bernauer Straße möglich, vom 17.06.1991, SWFKB, GBM, Nr. 480 109 Schreiben SenKult an Senator Roloff-Momin vom 18.06.1991, SWFKB, GBM, Nr. 480. 110 Ebd.; Schreiben der SenStadtUm Senator Hassemer an SenKult Senator Roloff-Momin SenKult vom 26.06.1991, SWFKB, GBM, Nr. 480. 111 Presseerklärung der Evangelischen Versöhnungsgemeinde vom 18.06.1991, SWFKB, GBM, Nr. 468.
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meinde zwar offen für Kompromisse, nicht aber solche, die das Vorhaben insgesamt zum Scheitern verurteilten.112 Daher schrieb sie an die SenStadtUm: »Ein undiskutierter ›Kompromissvorschlag‹ wird zum Ergebnis der Debatte umgedeutet. […] Auf Basis des Missverständnisses wird öffentlich agiert. […] Der Vorschlag [von Hassemer] ist daher weder neu, noch ein Kompromiss. Er ist auch der Sache nach nicht angemessen. Er wirft mehr neue Probleme auf als er löst.«113 Die Versöhnungsgemeinde forderte stattdessen: »Da es um ein Denkmal im Rang eines europäischen Monumentes geht, sollte das Parteiengezänk und die LobbyistenPolitik zurückstehen im Interesse einer vernünftigen Gedenkstättenlösung.«114 Gemeint war hier vor allem der mittlerweile groteske Züge annehmende Streit zwischen dem SPD-Kultursenator und den CDU-Senatoren der SenStadtUm und der SenVuB. Zu der schärfsten Kritikerin gehörte neben der Versöhnungsgemeinde auch das DHM, die dies an die SenStadtUm unverblümt zum Ausdruck brachte: »Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Es geht nicht um die Bewahrung von ›Mauerresten‹ sondern um die Errichtung einer Gedenkstätte mit einem Museumstrakt und einem restaurierten Grenzabschnitt. Dass die Zusammenarbeit durch derartige Vorgehensweisen nicht gerade gefördert wird, brauche ich wohl kaum zu betonen.«115
Das DHM wurde in seiner Haltung unterstützt durch die vom Senat berufene Sachverständigenkommission des DHM, die am 25. Juni 1991 unter dem Vorsitz von Werner Knopp (Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz) im Zeughaus tagte und in ihrer von der Berliner Regierung angeforderten Stellungnahme bezüglich einer Gedenkstätte Berliner Mauer ausdrücklich erklärte: »Die künftige Rolle von Berlin als Symbol der wieder gewonnenen Einheit der deutschen Nation ist nur verständlich, wenn die Spuren der geteilten Vergangenheit bewahrt und aufgearbeitet werden. Dazu ist es notwendig, die Geschichte der grausamen Grenze konkret und authentisch zu dokumentieren, wie es die Planungen des DHM mit einer Gedenkstätte für die Opfer, einem Museumstrakt zur Geschichtsdokumentation und der Restaurierung eines kompletten Grenzabschnittes zur Veranschaulichung in der Bernauer Straße vorsehen. Alternativen zu diesem Standort gibt es nicht. Die Sachverständigenkommission appelliert eindringlich an die verantwortlichen Politiker von Berlin, die Frage der Mauer-Gedenkstätte unabhängig von anderen Planungsvorstellungen oder gar Interessen ›vor Ort‹ zu entscheiden.«116
112 Richter, Christine: »Mauermuseum soll an der Bernauer Straße entstehen«, in: Berliner Zeitung vom 24.06.1991. 113 Schreiben der Versöhnungsgemeinde an SenStadtUm vom 28.06.1991, SWFKB, GBM, Nr. 480. 114 Ebd. 115 Schreiben DHM an SenStadtUm vom 28.06.1991, SWFKB, GBM, Nr. 480. 116 Schreiben DHM an Senatskanzlei Chef vom Dienst vom 26.6.1991, SWFKB, GBM, Nr. 468.
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»Obwohl das Land Berlin im Aufsichtsrat des Museums [DHM] diesem Vorhaben zugestimmt hat, scheint die Arbeit jetzt im Sumpf kleinlicher Interessen ›vor Ort‹ zu versacken. Erschwerend kommt hinzu, dass im Gegensatz zum Kultursenator der Senator für Stadtplanung Fragen der Stadtplanung höhere Priorität beimisst. Der von Hassemer vorgelegte Kompromissvorschlag bedeutet letztlich aber nichts anderes als die Beendigung des Gedenkstättenprojektes […]«,
legte der Generaldirektor des DHM, Stölzl, nicht minder deutlich nach und forderte er die politischen Verantwortlichen auf, eine Entscheidung zu treffen, die dem globalen Kontext Rechnung trage.117 Da die SenStadtUm – trotz aller Manöverkritik – an ihrem Kompromissvorschlag festhielt, beharrte die SenKult auf ihrem Standpunkt, dass aufgrund der historischen Bedeutung dieses Areals Aspekte der Denkmalpflege und Museumsplanung absoluter Vorrang vor der Straßen- und Straßenbahnplanung gebühre.118 Entsprechend hielt die ATO-Vorlage der SenKult, über die der Senat am 02. Juli 1991 in einem außerplanmäßigen Tagespunkt befand, an den Vorhaben des DHM fest und begründete dies mit der historischen Bedeutung und Funktion des Ortes, mit der bereits erfolgten Beauftragung des DHM durch den Aufsichtsrat (in dem das Land Berlin mit drei Vertretern vertreten ist) sowie mit der einhelligen Meinung innerhalb des Kulturausschusses, dass die europäische Bedeutung nicht lokalen Interessen untergeordnet werden dürfe.119 Als Beschlussvorlage wurde der ATO-Senatsvorlage die Projektbeschreibung des DHM vom April 1991 als Anlage beigefügt.120 Beides nahm der Senat in seiner letzten Sitzung vor der Sommerpause am 02. Juli 1991 zur Kenntnis. Er beauftragte die SenKult in Abstimmung mit der SenStadtUm, zur nächsten Sitzung am 13. August 1991, dem 30. Jahrestag des Mauerbaus, eine Stellungnahme zu dem DHM-Projekt vorzulegen. Des gleichen wurde der SenKult beauftragt, ggf. erforderliche Sicherungsmaßnahmen zu unterstützen.121 Damit hatte der Senat jenseits der Verhandlungen der SenStadtUm und jenseits der in der Öffentlichkeit kursierenden Kompromisse und Streitigkeiten der Grobplanung des DHM vom Grundsatz her zugestimmt. Dies bestätigte auch der Chef der Senatskanzlei in einem klärenden Antwortschreiben an den StS der SenStadtUm:
117 Schreiben des DHM Stölzl an den Regierenden Bürgermeister Diepgen vom 26.6.1991, SWFKB, GBM, Nr. 480. 118 SenKult: Vermerk vom 21.06.1991, SWFKB, GBM, Nr. 480. 119 SenKult: Senatsvorlage ATO zur Kenntnisnahme vom 25.06.1991, SWFKB, GBM, Nr. 464. 120 DHM: Gedenkstätte und Museum »Berliner Mauer« in der Bernauer Straße. Projektbeschreibung des Deutschen Historischen Museums. Stand April 1991. Anlage zur Senatsvorlage, SWFKB, GBM, Nr. 464. 121 Regierender Bürgermeister von Berlin: Senatsbeschluss Nr. 503/91 vom 02.07.1991 über Errichtung einer Gedenkstätte und eines Museums »Berliner Mauer« durch die Deutsches Historisches Museum GmbH in der Bernauer Straße vom 04.07.1991, SWFKB, GBM, Nr. 465.
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»Durch Beschluss vom 02.07.1991 hat der Senat der Absicht des Deutschen Historischen Museums, in der Bernauer Straße eine Gedenkstätte und ein Museum ›Berliner Mauer‹ zu errichten, im Grundsatz zugestimmt und sich eine Stellungnahme zur Einzelgestaltung dieses zu erhaltenden Mauerabschnitts vorbehalten.«122
Besonders der letzte Teil dieses Satz bedeutete für das DHM und die Versöhnungsgemeinde aber auch, dass neben dieser Grundsatzentscheidung eine Entscheidung der CDU-Regierung hinsichtlich einer Einzelgestaltung und des genauen Standortes noch offen war.123 Das verstanden auch der Bezirk Wedding und die SenStadtUm so und pochten darauf, dass eben noch gar nichts entschieden sei. So schrieb die SenStadtUm an Helmut T. vom DHM, dass ein eindeutiger Beschluss vom Senat bezüglich der Gedenkstätte nicht getroffen worden sei und wies Helmut T. an, von Maßnahmen hinsichtlich einer Rekonstruktion des Mauerabschnitts auf besagtem Gelände durch ehemalige NVA-Kräfte abzusehen und »bis zu einer endgültigen Entscheidung des Senats von Berlin […] keine vollendeten Fakten zu schaffen«.124 Und dem SenKult teilte der SenStadtUm unverblümt mit, dass er »diese Pläne, insoweit sie Rekonstruktionen der ehemaligen Mauerbefestigungen vorsehen, nicht teile«.125 Der Bezirk Wedding wiederum wandte sich direkt an den Regierenden Bürgermeister Diepgen mit der Bitte, bei der noch anstehenden Einzelentscheidung entsprechende Berücksichtigung zu finden, und erinnerte an die auf Bezirksebenen getroffenen Beschlüsse, die es zu integrieren gelte.126 Dass dem Senatsbeschluss vom 02. Juli 1991 die Projektplanung des DHM zugrunde lag, ignorierten sowohl SenStadtUm als auch der Bezirk Wedding. Der im Senatsbeschluss ebenfalls (besonders) an die Adresse der SenStadtUm und der SenVuB gerichtete Auftrag, bis zum 13. August 1991 dem Senat genauestens zu berichten, wurde ebenfalls weitgehend versäumt.127 Die SenStadtUm lieferte einfach nicht. Ob sich die SenStadtUm damit erhoffte, die Entscheidung zu vertagen, um in der Zwischenzeit doch noch die zuvor forcierte (Minimal-)Lösung auf den Weg zu bringen, ergibt sich aus der Aktenlage nicht eindeutig. Belegbar ist jedoch, dass schließlich der Regierende Bürgermeister Diepgen selbst schlichtend zwischen
122 Schreiben Chef der Senatskanzlei an den SenStadtUm StS vom 19.07.1991, SWFKB, GBM, Nr. 480. Das Antwortschreiben bezog sich auf ein Schreiben der SenStadtUm an das DHM aus dem hervorging, dass SenStadtUm diesen Beschluss nicht anerkannte, vgl. Schreiben der SenStadtUm StS an DHM vom 08.07.1991, SWFKB, GBM, 480. 123 Vgl. Regierender Bürgermeister von Berlin: Senatsbeschluss Nr. 503/91 vom 02. Juli 1991, SWFKB, GBM, Nr. 465. 124 Schreiben der SenStadtUm StS an DHM vom 08.07.1991, SWFKB, GBM, 480. 125 Schreiben der SenStadtUm Senator Hassemer an SenKult Senator Roloff-Momin vom 31.07.1991, SWFKB, GBM, Nr. 464. 126 Schreiben des Bezirksbürgermeisters von Berlin-Wedding an den Regierenden Bürgermeister Diepgen vom 19.07.1991, SWFKB, GBM, Nr. 480. 127 Schreiben der SenKult Senator Roloff-Momin an SenStadtUm Senator Hassemer vom 30.07.1991, SWFKB, GBM, Nr. 479.
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den Senatoren vermittelte, wie u.a. einer handschriftlichen Notiz auf einem internen Schreiben der SenKult zu entnehmen ist.128 So beraumte er einerseits ein klärendes Gespräch mit dem SenStadtUm an, andererseits ließ er den SenKult wissen, dass die »Gestaltungswünsche [der Bezirke] in Ihre Überlegungen für die Einzelgestaltung des zu erhaltenden Mauerabschnittes mit einzubeziehen« seien und beauftragte er das DHM die Konzeption dahingehend zu überarbeiten.129 Am 09. August 1991 brachte die SenKult daraufhin eine abgespeckte ATOVorlage ein.130 Diese schlug nun vor, dass von den 200m Mauerrest nur noch 130m von der Gedenkstätte und dem Museum beansprucht werde, die verbliebenen 70m gegenüber dem Lazarusheim könnten der Sophiengemeinde zugesprochen werden.131 Für die 130 verbleibenden Meter der Gedenkstätte sah das Papier vor, dass sowohl (statt der vom Bezirk Wedding geforderten 50m) 70m Grenzanlage (wie vom Bezirk Mitte empfohlen) in voller Tiefenstaffelung inklusive Vorder- und Hinterlandmauer, Wachturm, Kolonnenweg, Signalanlagen etc. zu rekonstruieren als auch auf der Restfläche ein Denkmal mit Ausstellungen zu installieren seien. 132 Im Unterschied zu den bisherigen Konzepten, und vielleicht auch aufgrund gemachter Zugeständnisse, ergänzte das DHM die Projektskizze allerdings an entscheidender Stelle. Es schlug nämlich zusätzlich vor, das gesamte Ausstellungsareal auf 130m Länge nun mit einer speziellen Glaskonstruktion zu überdachen.133 Das Konzept des Gedenkparks bzw. des Freilichtmuseums war damit obsolet und wurde durch eine »integrierte Lösung« ersetzt, bei der sowohl ein aufzustellendes Denkmal als auch Ausstellungen wie auch die historischen Grenzanlagen in einer riesigen Glashalle zusammengefasst werden sollten.134 Zudem sollte lediglich das aufzustellende Denkmal und künstlerische Arrangements innerhalb der Glashalle in Form eines Ideenwettbewerbs ausgeschrieben werden.135 Inwiefern das Gespräch des Regierenden Bürgermeisters mit dem SenStadtUm Einfluss hatte auf die Planungen der SenVuB lässt sich nicht belegen.136 Diese legte, abweichend von ihren bisherigen Aussagen immerhin rechtzeitig einen Teilkompromiss vor, der die Variante einer Gedenkstätte in der Bernauer Straße un-
128 Schreiben der SenKult Abt. III A 41 an SenKult StS vom 01.08.1991, SWFKB, GBM, Nr. 480. 129 Schreiben des Regierenden Bürgermeisters Diepgen an SenKult Senator Roloff-Momin vom 07.08.1991, SWFB, GBM, Nr. 480. 130 SenKult: Senatsvorlage ATO zur Kenntnisnahme vom 09.08.1991, SWFKB, GBM, Nr. 465. 131 Ebd., S. 3. 132 Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Mitte, Drs. 169/91 vom 30.05.1991, Dringlichkeitsantrag der Fraktion Bündnis 90/Grüne; Bezirksverordnetenversammlung BerlinMitte, Vorlage zur Kenntnisnahme vom 26.06.1991, SWFKB, GBM, Nr. 465 133 Kompromissvorschlag des Deutschen Historischen Museums. Gedenkstätte Berliner Mauer, in: ebd. 134 Ebd., S. 3. 135 Ebd., S. 4. 136 S.o.
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erwartet nicht mehr kategorisch ausschloss.137 So sollte der Ringstraßenausbau der Bernauer Straße durch den Verzicht auf Baumreihen weiterhin möglich bleiben. Durch die Abholzung der Bäume sollte Fläche frei werden, die die Errichtung einer Gedenkstätte inklusive tiefengestaffelter Grenzanlage ermöglichte. Es wurde eingeräumt, dass der Verkehr an einer Gedenkstätte vorbei geführt werden könne.138 Bezüglich des genauen Gedenkstätten-Standortes kam die SenVuB dem DHM allerdings unmissverständlich nicht entgegen. Im Gegenteil, sie empfahl als Standort demonstrativ das Grundstück der ehemaligen Versöhnungskirche: »Diese Fläche wäre zwischen den benachbarten Friedhöfen eher geeignet, zu einem Ort der Besinnung und des Gedenkens gestaltet zu werden, als der bisher vorgesehene, welcher offensichtlich zu einer Ausstellung degradiert werden soll.«139 Das Dokument endete mit dem Kommentar, dass dort genauso gut eine originale Grenzanlage errichtet werden könne.140 Diesen Vorschlag der SenVuB, der aufgrund der Alternative »Versöhnungskirchplatz« die volle Unterstützung der SenStadtUm hatte, wies die SenKult bei einer Besprechung am 12. August 1991 vehement zurück.141 Dies spiegelte sich auch wider in der Endfassung der am 13. August 1991 vom Senat zu beschließenden ATO-Vorlage der SenKult.142 Am bisherigen Platz für die Gedenkstätte wurde festgehalten. Auch blieb es bei der als Kompromiss vorgeschlagenen Verkürzung des Gedenkstättenareals auf 130m, um »[…] das Gelände des übrigen Grenzabschnittes an die Sophiengemeinde zur Nutzung als Friedhof wieder zurückzugeben.«143 Für die weitere Grobgestaltung empfahl das Papier übereinstimmend mit der Fassung vom 09. August: »Das verbleibende Areal bildet den Raum für den restaurierten Grenzabschnitt auf einer Länge von 70m, für eine überdachte Ausstellungsfläche und für ein darin integriertes Denkmal.«144 Beigefügt wurden (neben dem DHM-Konzept vom April 1991) der ursprüngliche und ein überarbeiteter Lageplan zur Gedenkstätte, die Verkehrsplanungsvorschläge der SenVuB mit herkömmlicher und neuer Variante (Querschnitte der Bernauerstraße mit Straßenbahn) sowie ein Entwurf einer Gedenkstättenüberdachung (Hallenbau).145 Von Seiten der CDU wurde diese ATO-Vorlage ein letztes Mal vor der Senatssitzung durch die Kleine Anfrage Nr. 1029 vom 12. August 1991 eines Abgeordneten der CDU-Fraktion zur Disposition gestellt. Die dort vorgebrachten, auf die ATOVorlage anspielenden Fragen stellten einen letzten Versuch dar, das Projekt doch noch im Sinne der Weddinger CDU und der Verkehrsplaner abzuwenden. So focht
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SenVuB: Vermerk vom 08.08.1991, SWFKB, GBM, Nr. 480 Ebd. Ebd., S. 2. Ebd. SenKult: Senatsvorlage ATO zur Kenntnisnahme vom 12.08.1991, SWFKB, GBM, Nr. 480. Ebd. Ebd., S. 2. Ebd. Ebd.
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die Kleine Anfrage die historische Bedeutung des umstrittenen Geländes insgesamt an und streute sie Zweifel an der »Authentizität« des gesamten Vorhabens.146 Nichtsdestotrotz beschloss der Berliner Senat am 13. August 1991, 30 Jahre nach dem Mauerbau 1961, die Errichtung einer Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße, eine dazugehörige Rekonstruktion der Tiefenstaffelung der Mauer und »[…] ferner die Erhaltung von Teilen der Mauer und der noch vorhandenen weiteren Bestandteile der gesamten ehemaligen Grenzanlage der Bernauer Straße«.147 Im Hinblick auf das Ausmaß empfahl der Beschluss »die Betroffenheit der Bürger zu beachten, ohne dass damit die Grundentscheidungen in Frage gestellt werden dürfen«.148 Bezüglich der Verkehrsplanungen der SenVuB entschied der Senat, »[…] haben die Festlegungen zu 1. und 2. Vorrang«. 149 Die Verkehrsplanungen sollten so konzipiert werden, dass die Erinnerungs- und Gedenkstätte nicht beeinträchtigt werde.150 Wenngleich der sechsspurige Ausbau der Bernauer Straße an dieser Stelle so nun nicht mehr zu verwirklichen war, zeigte sich der Senat jedoch in Bezug auf Detailplanungen weiterhin offen für verschiedene Interpretationen, was der Senatssprecher entsprechend kommentierte: »In dieser Frage hat sich der Senat bewusst einen gewissen Spielraum gelassen.«151 Dieser Spielraum bot vor allem Raum für erneute vehemente Kritik. Sowohl der Bezirk Wedding als auch der die Sophiengemeinde wehrten sich gegen die Glasdachkonstruktion des DHM und gegen die Errichtung einer Gedenkstätte auf der Gesamtlänge von 130m zwischen Acker- und Bergstraße, bedeutete dies für Bezirk und Gemeinde weiterhin, dass immer noch Teile des ehemaligen Sophienfriedhofs Gedenkstättengebiet werden sollten und dass es zu keiner favorisierten »stillen, kleinen Lösung« kommen werde. Der Bezirksbürgermeister Wedding wandte sich umgehend an den Regierenden Bürgermeister mit den Worten: »All dies deutet darauf hin, dass der Senatsbeschluss vom 13. August zum Aufbau eines Panoptikums dient.«152 Die Sophiengemeinde verfasste sogleich eine Stellungnahme, die die StahlGlas-Konstruktion (»die komplette Rekonstruktion des Grenzsicherungssystems unter einem riesigen Glashaus«153) mit dem zentralen Argument ablehnte, erneut würden damit Grabfelder und sogar Massengräber des Zweiten Weltkrieges ge-
146 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 12/1029, Kleine Anfrage Nr. 1029 vom 12.08.1991. 147 Regierender Bürgermeister von Berlin: Senatsbeschluss Nr. 629/91 vom 13.08.1991 über Errichtung einer Erinnerungs- und Gedenkstätte an die ehemalige Mauer und ihre Opfer in der Bernauer Straße, SWFKB, GBM, Nr. 465. 148 Ebd. 149 Ebd. 150 Ebd. 151 Z.n. o.V.: »Senat gibt grünes Licht für Mauergedenkstätte«, in: Der Tagesspiegel vom 14.8.1991. 152 Schreiben des Bezirks Berlin-Wedding Stellvertretender Bezirksbürgermeister an den Regierenden Bürgermeister Diepgen vom 16.08.1991, SWFKB, GBM, Nr. 479. 153 Gemeindekirchenrat der Sophiengemeinde: Stellungnahme zur Konzeption des Deutschen Historischen Museums für den Bau von Museum und Mauergedenkstätte auf dem Sophienfriedhof vom 20.08.1991, SWFKB, GBM, Nr. 468.
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schändet werden.154 Der Verweis auf vermutete Kriegsgräber an Ort und Stelle war neu und gab der Debatte zusätzlichen geschichtspolitischen Stoff. Die Parole der Sophiengemeinde »Friedhof unter Glas! Geschändete Grabfelder unter Glas! Neu zu errichtende Militärsperranlagen auf Kriegsopfern unter Glas! […] Lassen Sie nicht zu, dass Perversion und Maßstablosigkeit zur Norm des neuen Deutschlands werden!«,155 kam einem Tabubruch gleich und verlieh dem bisher rein erinnerungspolitisch geführten Diskurs nun eine neue geschichtspolitische Qualität. Die Sophiengemeinde beantwortete die geschichtspolitische Gedenkstättenfrage, wie mit zwei Vergangenheiten an Ort und Stelle umzugehen sei, mit Blick auf das eigene Interesse an der Rückübertragung des gesamten Grundstücks: Zugunsten der Kriegsopfer habe das Gedenken an die Maueropfer an anderer Stelle stattzufinden: »Totenfelder missbraucht man nicht. Grabfelder und Massengräber sind kein Baugelände.«156 Dass die Gemeinde sich allerdings selbst nicht scheute, diese ehemaligen Kriegsgräber »zu schänden«, indem sie beabsichtigte dort – nach einer Rückübertragung des Grundstückes – eine Kompostieranlage oder eine Kindertagesstätte zu bauen, machte sie vollends unglaubwürdig.157 Die Lazarusgemeinde bzw. das Lazarusheim war die eigentliche Gewinnerin der Senatsentscheidung. Für die 70m Mauerrest vor dem Heim wurden eine Denkmalaufhebung oder ein Abriss als mögliche Spielarten eingeräumt: Hatte sie ihr Ziel erreicht, verstummte in der Folgezeit ihr Protest. Und auch die Bezirke Wedding und Berlin-Mitte gaben ihren Widerstand dem Anschein nach auf und ließen sich bei einem Gespräch mit der SenKult Anfang September darauf ein, dem Erhalt von 70m zwischen Acker- und Bergstraße und einer zusätzlichen Gedenkstättenlösung auf 130m grundsätzlich zuzustimmen.158 Ganz anders jedoch als die Lazarusgemeinde und die Bezirke führte die Sophiengemeinde ihre Kämpfe gegen die Gedenkstätte massiver denn je fort, waren doch ihre Interessen an dem Gelände beim Regierungsbeschluss vollständig unberücksichtigt geblieben. So gingen Pamphlete und Beschwerden ab September an die SenKult, an den Regierenden Bürgermeister von Berlin und an den Bundesinnenminister.159 Darüber hinaus aktivierte die Sophiengemeinde die Deutsche Presseagentur (dpa),160 di-
154 Ebd. 155 Ebd., S. 2. 156 Schreiben der Sophiengemeinde an SenKult Senator Roloff-Momin vom 20.09.1991, SWFKB, GBM, Nr. 468. 157 Schreiben der SenKult an Sen Kult StS vom 06.10.1991, SWFKB, GBM, Nr. 465; Schreiben der SenKult Senator Roloff-Momin an MdA L. vom Dezember 1991, S. 4, SWFKB, GBM, Nr. 479. 158 Der Bezirk Berlin-Wedding akzeptierte sogar die Gesamtlösung über 130m, vgl. SenKult: Vermerk vom 06. September 1991, SWFKB, GBM, Nr. 480. 159 Schreiben der Sophiengemeinde an SenKult Senator Roloff-Momin vom 20.09.1991, SWFKB, GBM, Nr. 468, Schreiben der Sophiengemeinde an BMI Bundesinnenminister Schäuble vom 01.11.1991, SWFKB, GBM, Nr. 479. 160 Schreiben der Sophiengemeinde an dpa vom 04.11.1991, SWFKB, GBM, Nr. 468.
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verse Abgeordnete des Berliner Abgeordnetenhauses161 sowie (sogar) den letzten Regierenden Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière, der sich prompt an den Bundesinnenminister mit den Worten wandte: »Unbeschadet der Tatsache, dass ich erhebliche Bedenken gegen das rechtliche Vorgehen in dieser Sache habe, gehe ich davon aus, dass es auch politisch auf wenig Verständnis stoßen kann, wenn wie vorgesehen verfahren wird.«162 Dass er selbst in seiner Funktion als damaliger Ministerpräsident der DDR veranlasst hatte, das Areal aus dem Bereich des MfAuV herauszutrennen, um es dem MfDG zu Gedenkstättenzwecken zu übertragen, ließ er bei all seinen Bedenken gegenüber dem rechtlichen Vorgehen unerwähnt und folgte er nahtlos der Argumentation der Sophiengemeinde.163 Das DHM hingegen verbuchte den Senatsbeschluss immerhin als Teilsieg, sprach sich der Beschluss doch für den Erhalt der bestehenden Mauer auf 130m Länge aus und stimmte er – nach Interpretation des DHM – den eigenen drei Kompromissvorschlägen (Gedenkort, Restaurierung 70m und Ausstellung) dem Grunde nach zu.164 Unklarheit blieb bezüglich der dort gemachten Festlegung: »Für die Erinnerungs- und Gedenkstätte soll nach Möglichkeit nicht das Gelände des ehemaligen Sophienfriedhofs in Anspruch genommen werden.«165 Dies stand in offenem Widerspruch zum Erhalt der Mauer zwischen Acker- und Bergstraße zum Zwecke der Gedenkstättenerrichtung, war doch »die […] angesprochene Restaurierung des Grenzstreifens in seiner ›Tiefengestaltung‹ […] nur möglich auf dem Gelände des ehemaligen Friedhofes der Sophiengemeinde«.166 Das DHM traf den Nagel auf den Kopf. Die Berliner Regierung hatte die Berücksichtigung der Eigentumsansprüche der Sophiengemeinde genutzt, um sich ein »letztes Hintertürchen« für einen alternativen Standort offen zu lassen. Um dieses »letzte Hintertürchen« zu schließen, kam die SenKult nicht umhin, erneut Verhandlungen in diese Richtung aufzunehmen.167 Bei einem ersten diesbezüglichen Gespräch zwischen den einzelnen Senatsverwaltungen am 03. September
161 Darauf deutet zumindest ein Schreiben der MdA L. hin, vgl. Schreiben MdA L. an SenKult Senator Roloff-Momin vom 02.11.1991, SWFKB, GBM, Nr. 479. Das Antwortschreiben der SenKult klärte die Abgeordnete über den gefundenen Kompromiss auf und informierte sie darüber, dass die Sophiengemeinde bisher Beweise zu den aufgestellten Behauptungen bezüglich Zwangsenteignung und Kriegsgräbern schuldig geblieben sei, vgl. Schreiben der SenKult Senator Roloff-Momin an MdA L. vom Dezember 1991, S. 2, SWFKB, Bestand: GBM, Nr. 479. 162 Schreiben des Ministerpräsidenten a.D. Lothar de Maizière an BMI Bundesinnenminister Schäuble vom 06.11.1991, Abschrift, SWFKB, GBM, Nr. 468. 163 Ebd. 164 Schreiben des DHM Helmut T. an SenKult vom 21.08.1991, SWFKB, GBM, Nr. 469. 165 Regierender Bürgermeister von Berlin: Senatsbeschluss Nr. 629/91 vom 13.08.1991 über Errichtung einer Erinnerungs- und Gedenkstätte an die ehemalige Mauer und ihre Opfer in der Bernauer Straße, SWFKB, GBM, Nr. 465. 166 Schreiben des DHM Helmut T. an SenKult vom 21.08.1991, SWFKB, GBM, Nr. 469. 167 Schreiben der SenKult an DHM Generaldirektor Stölzl vom 28.08.1991, SWFKB, GBM, Nr. 479.
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1991 sprachen sich die beteiligten Verwaltungen zunächst für eine Interpretation des Beschlusses im Sinne des DHM-Vorschlages aus.168 Dies hielt den Senator der SenStadtUm jedoch nicht ab, bei einer weiteren Plenarsitzung des Kulturausschusses Ende September weiterhin an seiner persönlichen »Interpretation« des Beschlusses festzuhalten, nämlich die Gedenkstätte auf dem Gebiet der ehemaligen Versöhnungskirche unterbringen zu wollen.169 Der Senator der SenStadtUm wurde unterstützt von der CDU-Fraktion im Kulturausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses, die es plötzlich für einen vernünftigeren Weg hielt, »[…] jetzt einen Gutachter mit der Entwicklung eines Modells zu beauftragen, und zwar gleich für die kleinere Lösung, damit es auch zu einem für alle Beteiligten akzeptablen Ergebnis komme«.170 Da die Fraktion unerwartet nicht mehr bereit war, die vom Senat beschlossene, auf 130m hinauslaufende Lösung hinzunehmen, empfahl sie nun stattdessen, »dass ein Verbleib der Mauer allenfalls in einer Länge von 70m in Betracht komme«.171 Der »Geruch einer zweiten Zwangsenteignung« der Sophiengemeinde sollte auf diese Weise umgangen und eine Minimalvariante festgeschrieben werden.172 Schließlich stellte die CDU – wie auch in ihrer Kleinen Anfrage am 12. August 1991 – die historische Bedeutung dieses Mauerabschnittes weiterhin gänzlich in Frage und suggerierte sie, eine Gedenkstätte auf diesem Gebiet komme sogar einer »Geschichtsklitterung« gleich.173 Die Mehrheit der Abgeordneten von SPD, FDP, Bündnisgrün und PDS sprach sich hingegen grundsätzlich für die 70m + 60m – Lösung des DHM aus. Die SPD argumentierte: »Die Verlagerung der Gedenkstätte […] sei nach ihrer Meinung abzulehnen, weil das Authentizitätsprinzip eines Mahnmals dadurch nicht mehr gewährleistet sei […].«174 Die FDP war weiterhin der Auffassung, dass die Angelegenheit derart überörtlich sei, dass »nicht allein die unmittelbaren Anwohner das Sagen haben sollten«. Sowohl die FDP als auch die Bündnisgrünen setzten sich daher erneut für die Einsetzung einer hochkarätigen, internationalen Fachkommission ein. Die PDS unterstützte darüber hinaus den Vorschlag, einen Wettbewerb auszuloben, dessen Ergebnis über die endgültige Länge des verbleibenden Mauerabschnitts entscheiden würde.175 Die CDU wurde im Kulturausschuss überstimmt und dem Senatsbeschluss im Ergebnis gefolgt. Die SenKult wurde beauftragt, hinsichtlich der Erarbeitung einer Konzeption alles zu veranlassen.176
168 DHM: Vermerk vom 06.09.1991, SWFKB, GBM, Nr. 479. 169 Abgeordnetenhaus von Berlin, Inhaltsprotokoll 12/11 vom 23.09.1991, Ausschuss für Kulturelle Angelegenheiten, S. 2. 170 Ebd., S. 4. 171 Ebd., S. 6f. 172 Ebd., S. 6. 173 Ebd. 174 Ebd., S. 4. 175 Ebd., S. 5. 176 Ebd., S. 8.
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Als am 27. September 1991 der Aufsichtsrat des DHM tagte, brachte der StS der SenKult die Idee eines Gestaltungswettbewerbes vor.177 Dies war insofern kurios, als dass das DHM nunmehr beauftragt werden sollte, einen Wettbewerb für ein Projekt auszuschreiben, für das es bisher die Zuständigkeit hatte. Dass der Generaldirektor des DHM diesen Wettbewerb als eine Art »Selbstdemontage« ablehnte, war nahe liegend.178 Trotz dieser Haltung des Direktors, folgte der Aufsichtsrat dem Wunsch des Abgeordnetenhauses und beschloss er in seiner 12. Sitzung: »Das DHM wird mit der unverzüglichen Ausschreibung eines künstlerischen Wettbewerbs ›Gedenkstätte Bernauer Straße‹ beauftragt.«179 Dass es der SenStadtUm, der SenVuB und der CDU-Fraktionen des Bezirkes und des Kulturausschusses sowie der Berliner Regierung insgesamt vor allem darum ging, das Projekt möglichst gar nicht, zumindest aber nur minimal zu schultern, zeigt die kontinuierliche Widersprüchlichkeit der dargestellten Argumente bzw. Beschlüsse, die die SenStadtUm, die SenVuB, die CDU-Fraktionen auf Bezirksebene und im Kulturausschuss sowie die Berliner Regierung bis zu diesem Zeitpunkt durchweg vertraten. Einerseits hatte die SenStadtUm selbst die Grenzanlagen zwischen Acker- und Bergstraße unter Denkmalschutz gestellt.180 Andererseits schloss die SenStadtUm den Fall nicht aus, dass – bei einer Verlagerung der Gedenkstätte auf den »Versöhnungskirchhof« bzw. bei einer Minimallösung – der Denkmalschutz für die gesamte Strecke zwischen Acker- und Bergstraße gänzlich hätte aufgehoben werden können. Auf der einen Seite war es die Aufgabe der SenStadtUm, den zukünftigen Gedenkstättenbereich zu sichern und zu schützen, auf der anderen Seite kritisierte sie jegliche Sicherungsmaßnahme durch das DHM und sorgte sie sogar dafür, dass – im Falle einer Verlagerung der Gedenkstätte auf das Versöhnungsgelände – die Grenzanlagen zwischen Ackerund Bergstraße ungeschützt und quasi legal hätten abgerissen werden können. Schließlich nahmen auch die CDU-Fraktionen sowie die Berliner Regierung bei der Minimallösung auf dem »Versöhnungskirchhof« sogar in Kauf, dass es um die Authentizität der Gedenkstätte an dieser Stelle besonders schlecht bestellt gewesen bzw. die Idee einer »Gedenkstätte« mangels »Originalsubstanz« ad absurdum geführt worden wäre. Dort gab es erst recht keine echten Maueranlagen und Grenzbefestigungen mehr, auch stammten alle eingelagerten Bestände nicht aus diesem Abschnitt, sondern aus dem Abschnitt zwischen Acker- und Bergstraße. Zuletzt hatte die SenStadtUm ja bereits jegliche Form von Rekonstruktion denkmalpflegerisch als bedenklich zurückgewiesen. Was für den Abschnitt zwischen Acker- und Bergstraße hinsichtlich jedweder Form von Rekonstruktion zutreffen sollte, musste ja umso mehr für eine totale Inszenierung auf dem Ab-
177 SenKult: Vermerk vom 25.09.1991, SWFKB, Bestand GBM, Nr. 480. 178 Ebd. 179 Aufsichtsrat der DHM GmbH: Beschlussprotokoll vom 27.09.1991, SWFKB, GBM, Nr. 469. 180 Dies galt sogar für erhaltene Anlagen, die eigens für eine spätere Gedenkstätte eingelagert waren.
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schnitt der ehemaligen Versöhnungskirche gelten.181 Schlussendlich warf der Vorschlag, die Gedenkstätte auf den Versöhnungskirchhof zu verlegen, mehr Eigentumsfragen auf als er löste. So wären dort viel mehr Eigentumsansprüche zu klären gewesen als beim ehemaligen Friedhofsgelände der Sophiengemeinde, das der DDR Mitte der 60er Jahre verkauft wurde und seit dem 03. Oktober 1990 (durch die Rahmenvereinbarung vom 03./06. September 1990) vom DHM rechtmäßig verwaltet wurde. Außerdem lehnte die Versöhnungsgemeinde den von Standort »Versöhnungskirchhof« als Variante ab. Es lag daher nahe, dass sowohl die SenStadtUm, die SenVuB, die CDU-Fraktionen als auch der Berliner Senat durch den widersprüchlichen Beschluss am 13. August 1991 das gesamte Vorhaben eher zu kippen trachteten, um die »Berliner Mauer« zumindest dort, wo sie noch am »authentischsten« war, endgültig zu tilgen. Durch die eingeforderte Wettbewerbsausschreibung, die einer Selbstmontage des DHM glich, war der Einfluss der SenKult sowie des DHM auf die Gestaltung der Gedenkstätte und des gesamten Areals parallel vollständig auf ein Minimum geschrumpft.
3.3 D ER W ETTBEWERB
FÜR EINE
M AUERGEDENKSTÄTTE
Der Aufsichtsrat des DHM hatte sich mit seinem Beschluss, einen Wettbewerb auszuschreiben, dem Wunsch des Berliner Senats und dem Votum des Abgeordnetenhauses gebeugt.182 Der Beschluss sah vor, dass bei der Jurybesetzung Mitglieder des DHM sowie die an der Diskussion beteiligten Kirchengemeinden und Bezirke neben den Berliner Senatsverwaltungen angemessen zu berücksichtigen seien.183 Während das DHM den Wettbewerb organisierte, versuchte die SenKult die Eigentumsfrage als Grundvoraussetzung für den Wettbewerb zu klären. Denn nur für den Fall, dass der Bund weiterhin Eigentümer des Grenzareals blieb, war er bereit den Wettbewerb finanziell i.H.v. 500.000 DM zu unterstützen.184 Erst wenn die So-
181 Siehe hierzu auch: o.V.: Streit um das Symbol des Schreckens, in: Süddeutsche Zeitung vom 13.08.1991; o.V.: »An der Bernauer Straße soll auf Bewirtung verzichtet werden«, in: Der Tagesspiegel vom 13.08.1991; Geis, Mattias: »Die verschwundene Mauer … verkommt zur Projektionsfläche von Halbwahrheiten«, in: Taz vom 13.08.1991; Riedle, Gabriele: »13. August – Nun mauern sie wieder«, in: Taz vom 13.08.1991; SenKult: Antwort (Schlussbericht) auf die Kleine Anfrage Nr. 1029 vom 30.11.1991, S. 2, SWFKB, GBM, Nr. 464. 182 Aufsichtsrat der DHM GmbH: Beschlussprotokoll vom 27.09.1991, SWFKB, GBM, Nr. 469; Eine diesbezügliche Mitteilung an das Abgeordnetenhaus erfolgte durch den Senator SenKult am 14. Oktober 1991 bei der 13. Sitzung des Ausschusses für Kulturelle Angelegenheiten, vgl. Abgeordnetenhaus von Berlin, Plenarprotokoll Ausschuss für Kulturelle Angelegenheiten, Nr. 12/13 vom 14.10.1991, S. 3. 183 Ebd., S. 4. 184 SenKult: Vermerk vom 18.10.1991, SWFKB, GBM, Nr. 479.
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phiengemeinde auf die mittlerweile beantragte Rückübertragung verzichtete, stellte der Bund seine Gelder zur Verfügung. Eine Lösung wurde lange nicht erzielt. Die Berliner Oberfinanzdirektion bestätigte zwar, dass die Voreigentümerin der »inzwischen volkseigenen Flächen« die Sophiengemeinde war, ob die Restitutionsansprüche der Sophiengemeinde (erstmals gestellt am 20. und 27. Juli 1990) durchsetzbar seien, wurde jedoch »zur Zeit nicht abschließend beurteilt […]«.185 Dies lag auch daran, das die Oberfinanzdirektion – anders als bis dato vorausgesetzt – nicht den Bund allein als Eigentümerin und das DHM als Verwalterin für die betreffenden Flurstücke benannte, sondern den Magistrat von Berlin (vor dem 03. Oktober 1990) bzw. das Land Berlin (nach dem 03. Oktober 1990) mit 8728m², den Bezirk Berlin-Mitte mit 2174m² und die Sophiengemeinde mit einem Restareal von 1225m².186 De facto war damit die Rahmenvereinbarung zwischen Bund und DDR-Regierung vom 03./06. September 1990 von ihrem Grundsatz her ungültig, zuständig war ausschließlich das Land Berlin und zu 10% die Sophiengemeinde. Die Verfügungsberechtigung des DHM war damit ebenfalls in Frage gestellt. Zur Wiederherstellung der Anlage wies die SenKult (nunmehr als Verwaltung der Haupteigentümerin) den SenStadtUm gemäß §12 des Gesetzes zum Schutz von Denkmalen (DSchG) an, die Anlage wieder in den Zustand vom 02. Oktober 1990 zu versetzen, auch um »[…] bei der Bundesregierung den Eindruck zu vermeiden, das Land Berlin verzögere die Errichtung des von ihr gewünschten Denkmals […]«.187 Doch die SenStadtUm duldete es, dass das Bundeswehrkommando-Ost, das diverse Bestände eingelagert hatte, sich ohne Übergabeverhandlungen auflöste. Und der denkmalpflegerisch unter Schutz gestellte Wachturm sowie das ebenfalls geschützte Gehwegpflaster wurden einfach demontiert und entfernt.188 Zudem widersprach die SenStadtUm der generellen Zuständigkeit des DHM und kündigte sie stattdessen an, sie werde den tatsächlichen Verfügungsberechtigten erst einmal Mitteilungen über die Überprüfung und Bestätigung des Denkmalwertes zukommen lassen.189 Die von der Oberfinanzdirektion festgestellten Eigentumsverhältnisse sicherten diese Einschätzung rechtlich vorerst ab. Der Denkmalverdacht vom 02. Oktober 1990 und die Denkmalerklärung vom 15. März 1991 wurden bestätigt und der Grenzabschnitt durch Unterrichtung der mittlerweile festgestellten Eigen-
185 Schreiben der Oberfinanzdirektion Berlin an den Bundesminister der Finanzen vom 08.11.1991, SWFKB, GBM, Nr. 466; SenKult: Vermerk vom 27.11.1991, SWFKB, GBM, Nr. 469. 186 Schreiben der Oberfinanzdirektion Berlin an den Bundesminister der Finanzen vom 08.11.1991, SWFKB, GBM, Nr. 466. 187 Schreiben der SenKult an SenStadtUm Senator Hassemer vom Oktober 1991, SWFKB, GBM, Nr. 479. 188 SenKult: Antwort (Schlussbericht) auf die Kleine Anfrage vom 12.08.1991 vom 30.11.1991, SWFKB, GBM, Nr. 464. 189 Schreiben der SenStadtUm Senator Hassemer an SenKult Senator Roloff-Momin vom 02.12.1991, SWFKB, GBM, Nr. 464.
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tümer am 31. Januar 1992 unter Anwendung des §6 Abs. 4 DSchG Berlin unter Denkmalschutz gestellt.190 Erst im Februar 1992, als die Eigentumsfeststellungen der Oberfinanzdirektion durch solche Ermittlungsergebnisse in Frage gestellt wurden, die eher die ursprünglichen Regelungen (MfAuV-Übertragung an MfDG, MfDG-Übertragung an Bund/DHM) bestätigten, sahen sich das BMI und das DHM wieder verantwortlich.191 Anfang Juni 1992 lud das DHM zu einer ersten Arbeitsitzung für die Ausschreibung des künstlerischen Wettbewerbes ein.192 Die Sophiengemeinde wurde – wie auch das Lazarusheim und die Versöhnungsgemeinde – der Ordnung halber mit eingeladen, obwohl sie mangels positiv entschiedenen Restitutionsantrages weder Eigentümerin noch Verfügungsberechtigte für das in Rede stehende Grundstück und die darauf befindlichen Grenzanlagen waren.193 Die Sophiengemeinde reagierte prompt. Sie schrieb an die SenKult, dass sie eine Wettbewerbsausschreibung, die das gesamte Areal (auf 130m) umfasse, nicht akzeptieren würde, habe doch der Regierende Bürgermeister selbst in seinem Beschluss 629/91 festgelegt, nach Möglichkeit nicht das Gelände des ehemaligen Sophienfriedhofs dafür in Anspruch zu nehmen. Deutlich brachte sie zum Ausdruck: »Der Gemeinderat erhofft von der Bundesregierung und dem Senat […], dass die Grabfelder, Massengräber und Hunderte von Kriegsopfergräbern respektiert werden […] und dass einer Friedhofschändung im NVA-Stil entgegengewirkt wird. […] [Ein] Denkmal für die DDRAbgrenzungspolitik, für den Machtmissbrauch der SED-Regierung und den DDRMilitarismus«,
lehnte sie ab.194 Sie ignorierte vollkommen, dass bereits bei diversen Ortsbegehungen und Gesprächen zwischen September 1991 und März 1992 Einigung zwischen allen beteiligten Gruppen (Bezirke und Kirchengemeinden) erzielt wurde, dass kein alternatives Gelände für die Gedenkstätte mehr in Frage kam, im Gegenzug sogar auf die Errichtung von musealen Gebäuden zu Ausstellungszwecken als kleines Zugeständnis des DHM verzichtet wurde.195 Stattdessen entwickelte die Kirchengemeinde eigene Pläne. So überreichte sie im Frühjahr 1992 eine Skizze, nach der sie bereit sei, die Grenzmauern auf einer maximalen Länge von 40m und die Hinterlandsmauer auf einer maximalen Länge von 30m zu tolerieren. Dazwischen waren Wildwuchs und vereinzelte Erinnerungskreuze
190 Schreiben der SenStadtUm an Sophiengemeinde vom 31.01.1992, SWFKB, GBM, Nr. 463. 191 Vgl. SenStadtUm: Vermerk vom 07.02.1991, SWFKB,GBM, Nr. 468. 192 Schreiben des DHM Stölzl an Lazarus-Kranken- und Diakonissenhaus, Evangelische Versöhnungsgemeinde und Gemeindekirchenrat von Sophien vom 02.06.1992, SWFKB, GBM, Nr. 468. 193 SenKult: Vermerk vom 15.06.1992, SWFKB, GBM, Nr. 465. 194 Schreiben der Sophiengemeinde an SenKult vom 09.06.1992, SWFKB, GBM, Nr. 468. 195 SenKult: Vermerk vom 15.06.1992, SWFKB, GBM, Nr. 465.
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vorgesehen.196 Dies stand in krassem Widerspruch zu den Wettbewerbsvoraussetzungen, die in die Ausschreibung einzufließen hatten und für die entsprechende BundesSondermittel beantragt waren. Der Vorschlag wurde aber auch seitens der Denkmalpflege (SenStadtUm) zurückgewiesen, die Denkmalschützer erklärten sogar, »[…] dass sie, wenn solche Vorstellungen sich durchsetzten, für einen Gesamtabriss plädieren würden«.197 Angesichts der eigenen Pläne und dem Verständnis, bei der Gedenkstätte werde es sich um eine »Friedhofsschändung im NVA-Stil« bzw. ein »Denkmal für den DDR-Militarismus« handeln, folgte die Sophiengemeinde der Einladung für ein erstes Arbeitstreffen nicht. Das gleiche galt für die Senatsverwaltung für Verkehr und Betriebe, sowie für den Bezirk Berlin-Mitte.198 Bei dem Arbeitstreffen wurden die Positionen noch einmal deutlich. Das DHM betonte, dass es sich bei dem Gestaltungswettbewerb um das Areal, 60m anschließend an die Rekonstruktion einer Grenzanlage handle, inwieweit die Rekonstruktion in den Denkmalbereich integriert werde, könne Wettbewerbsergebnis sein.199 Die SenKult hielt an den erzielten Kompromissen (Verzicht auf Gebäude, Rückübertragung des Friedhofsbereiches außerhalb der 130m Gedenkstättenanlage) fest.200 Der Bezirk Wedding lehnte eine komplette Restaurierung der 130m Vorderlandmauer ab und versprach, sich bei 60m Restauration nicht zu sperren. Sogar das Lazarusheim gestand zu, man werde »nicht mehr rigoros für die Beseitigung der sich daran anschließenden 60Meter […]« sein, sollten die 70m Mauer Bergstraße Richtung Ackerstraße weichen, d.h. die Mauer im Bereich des Sophiengrundstückes gegenüber des Lazarusheimes.201 Die Anwesenden einigten sich immerhin darauf, der Wettbewerb solle »auch als Teil jenes größeren Prozesses diskutiert werden, den man das ›Erinnern an die deutsche Teilung‹ nennen könnte«.202 Nach Zusendung des Protokolls und der Ausschreibungsbedingungen, auf die sich alle in o.g. Sitzung geeinigt hatten protestierte Sophien erneut: »Diesem Nutzungskonzept und folgedessen der darauf beruhenden Ausschreibung stimmt die Sophiengemeinde nicht zu. Wir widersprechen heftig aus historischen, kulturellen, städtebaulichen, religiösen und traditionellen Gründen.«203 Die Gemeinde – obwohl selbst nicht der Einladung des DHM gefolgt – forderte hingegen mehr Einbeziehung in das Projekt und Abstand von einer nicht friedhofsgemäßen Nutzung des Geländes.204 Bei diesen Forderungen schien es ihr vollkommen gleichgültig, dass sie weiterhin weder Eigentümerin, noch Verfügungsberechtigte war. Das DHM antwortete:
196 Ebd. 197 SenKult: Vermerk vom 28.10.1992, SWFB, GBM, Nr. 465. 198 DHM: Protokoll der 1. Arbeitssitzung Ausschreibung des Gestaltungswettbewerbs »Gedenkstätte – Berliner Mauer –« vom 15.07.1992, SWFKB, GBM, Nr. 466. 199 Ebd., S. 2-3. 200 Ebd., S. 3. 201 Ebd. 202 Ebd., S. 4-5. 203 Schreiben der Sophiengemeinde an das DHM vom 03.08.1992, SWFKB, GBM, Nr. 466. 204 Ebd.
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»Es ist Ihnen unbenommen, eine ablehnende Haltung […] einzunehmen. Die mit den verschiedenen Partnerorganisationen und Institutionen erarbeiteten Rahmenbedingungen für die Ausschreibung des Gestaltungswettbewerbs bleiben davon unberührt. […] Ihre Bitte, gemeinsam ›alternative Möglichkeiten‹ zu suchen, kann ich angesichts der nun fast zwei Jahre währenden Diskussion nach bestem Willen nicht mehr nachvollziehen. Ich kenne auch keine Alternativen, die den politisch-rechtlichen Entscheidungsgrundlagen entspricht. […] Dass die Gestaltung einer ›nationalen Gedenkstätte‹ mit welthistorischer Bedeutung unter Berücksichtigung vielfältiger Argumente entschieden werden muss, versteht sich von selbst. Dies muss auch die Sophiengemeinde anerkennen […]«.205
Und in einem Zeitungsinterview entgegnete das DHM den Kampagnen der Sophiengemeinde: »Dass ein Pfarrer eine Gedenkstätte, die die Opfer der Mauer ehren soll, ablehnt, kann ich nicht nachvollziehen […]. Ist denn ein Friedhof kein geeigneter Ort, an die Opfer der Mauer zu erinnern?«206 Ungeachtet der Sophien-Kritik, nahm das DHM seinen Auftrag war und begann am 27. Oktober 1992, nachdem der Bund hierfür mündlich und schriftlich die Sonderprojektmittel für das Haushaltsjahr 1992 bewilligt hatte, mit der Erfüllung seiner Denkmalschutzaufgaben.207 Die Sophiengemeinde protestierte sofort beim Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, Huber, und dieser wiederum intervenierte bei der SenKult und veranlasste den StS der SenKult, die denkmalpflegerischen Sicherungsmaßnahmen sofort zu stoppen.208 Woraufhin am 28. Oktober 1992 zwischen dem Bischof, dem DHM und dem Senator für Kulturelle Angelegenheiten ein klärendes Gespräch stattfinden musste. Daran beteiligt waren ebenfalls die SenStadtUm und die Sophiengemeinde. Dort wurde immerhin die Rechtssituation (Verfügungsberechtigter sei das DHM) und die Denkmalschutzerklärung anerkannt, wenngleich die Kirchenvertreter die bestehende Rechtlage für nicht akzeptabel hielten. Stattdessen forderten sie erneut eine politische Lösung, diesmal unter Wahrung von Kircheninteressen. Als Anregung unterbreiteten sie das Angebot, Sophien könne im Fall einer Rückübertragung die Aufgabe der Errichtung einer Gedenkstätte übernehmen. Möglicherweise, so schlossen die Kirchenvertreter nicht aus, könne es dann sogar ein gemeinsames Projekt zwischen Kirche und DHM geben.209 Damit es zu einer solchen Lösung kommen könne, wurde empfohlen, den Gestaltungswettbewerb, für den das DHM im Auftrag und mit den Mitteln des Bundes der Auslober war, vorerst »auf Eis zu legen«, lediglich die unterbrochenen Sanierungs- und Kon-
205 Schreiben des DHM an Sophiengemeinde vom 06.08.1992, SWFKB, GBM, Nr. 466. 206 O.V.: »Ausschreibung für Gedenkstätte«, in: Der Tagesspiegel vom 23.10.1992. 207 Schreiben des Bezirksamtes Berlin-Mitte an DHM Helmut T. vom 25.03.1992, SWFKB, GBM, Nr. 469. Darin forderte die untere Denkmalschutzbehörde das DHM als Verfügungsberechtigte auf, das Denkmal in einen sachgemäßen und denkmalgerechten Zustand zu erhalten; SenKult: Vermerk vom 07.09.1992, SWFKB, GBM, Nr. 465; Schreiben des BMI an DHM vom 08.09.1992, SWFKB, GBM, Nr. 466. 208 SenKult: Vermerk vom 03.11.1992, SWFKB, GBM, Nr. 466. 209 DHM: Vermerk vom 29.10.1992, SWFKB, GBM, Nr. 465.
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servierungsmaßnahmen sollten fortgeführt werden dürfen.210 Die Sophiengemeinde erhoffte sich dadurch vor allem eines, nämlich Zeit zu gewinnen. Sie spekulierte darauf, dass es in der Zwischenzeit zu einem Rückübertragungsgesetz kommen könne, das Kirchen die Rückgabe der Grundstücke im ehemaligen Grenzgebiet garantierte. Für das DHM stellte sich hingegen die zentrale Frage, was in einem solchem Falle mit seiner Beauftragung durch den Bund (und den damit zusammenhängenden Bundesgeldern) werden solle und ob ein solches Vorgehen wie Sophien es vorschlug, nicht vor allem dazu führte, dass das Projekt gänzlich »an die Wand gefahren« werde. Es schlussfolgerte für sich, dass man die Gemeinde als bisherigen »Boykottierer« nicht zur Verfügungsberechtigten machen könne, Sophien auch weder die Kompetenz noch die Mittel habe, ein solches Projekt internationaler Tragweite zu schultern und der Bund inklusive der bisher aktivierten Institutionen und Personen sich generell hinausziehen würden.211 Entsprechend wies das DHM den Vereinbarungsentwurf der Sophiengemeinde zwischen dem Land Berlin und der Gemeinde entschieden zurück. Er sah vor, dass die Gemeinde die alleinige Nutzerin der Gesamtfläche werde und das Land darauf hinwirke, dass der Bund seine Mittel über das DHM direkt an Sophien ausschüttet und das Gelände an Sophien rückübertragen werde.212 In Punkt 6 schloss der Entwurf zudem eine Errichtung einer Gedenkstätte auf dem Gelände des Sophienfriedhofes nahezu aus.213 Im Klartext strebte die Sophiengemeinde mit diesem Entwurf an, sowohl in Besitz der Landesgrundstücke zu kommen als auch dort die Wiederherstellung ihres Friedhofes (über Bundesmittel finanziert) vorzunehmen. Ungeachtet des Lösungsfindungsprozesses durchbrach die Sophiengemeinde am ersten Novemberwochenende die Umzäunung des Geländes, um dort im Denkmalbereich Lindenbäume zu pflanzen. Rechtlich erfüllte diese Aktion den Tatbestand des Hausfriedensbruchs und der Sachbeschädigung.214 In Rücksprache mit der Denkmalpflege ließ das DHM die Bäumchen am 03. November wieder ausgraben und ließ sie auf Veranlassung der SenKult der Sophiengemeinde wieder aushändigen. Und auch die SenStadtUm warnte die Sophiengemeinde, auch sie könne »[…] die in jüngster Vergangenheit von Ihrer Seite unternommene Baumpflanzaktion im Grenzstreifen nicht akzeptieren«.215 Um eine Eskalation zu vermeiden, verzichteten
210 Ebd. 211 Ebd. 212 Gemeindekirchenrat von Sophien: Entwurf einer Vereinbarung zwischen dem Land Berlin und der Evangelischen Sophiengemeinde zu Berlin in der Fassung der Beratung vom 10.11.1992, SWFKB, GBM, Nr. 463. 213 Ebd. 214 SenKult: Vermerk vom 25.11.1992, SWFKB, GBM, Nr. 465. 215 Schreiben der SenStadtUm an Sophiengemeinde vom 27.11.1992, SWFKB, GBM, Nr. 463. Das Antwortschreiben entsprach den vorangegangenen Briefen der Sophiengemeinde. Das Herausnehmen der Bäume wurde erneut als Friedhofsschändung eingestuft, die laufenden Planungen als »Disneyland« und »Gruselkabinett« für Touristen beschimpft, welche einem echten Opfergedenken der Opfer des Krieges und der deut-
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DHM und SenKult auf eine Ahndung.216 Dagegen drängten beide darauf, den Wettbewerb sobald wie möglich auszuschreiben, um Bundesmittel nicht verfallen und das gesamte Projekt durch derartige Aktionen nicht weiter gefährden zu lassen. 217 Politische Unterstützung erhielt das Vorhaben durch den Senat, der zur Drs. 12/1307 der Bündnisgrünen und dem vom Abgeordnetenhaus am 18. Juni 1992 beschlossenen Ersetzungsantrag der SPD- und CDU-Fraktion Anfang 1993 seinen angeforderten Bericht abgab und diesen am 02. Februar 1993 sogleich beschloss.218 Entgegen dem CDU/SPD-Antrag, der gezielt den Schwerpunkt legte auf Wiederbebauung und unspezifische Aussagen zu Gedenkorten, sprach sich die Berliner Regierung erneut und diesmal expliziter als beim Beschluss Nr. 629 aus dem Jahr 1991 für den Erhalt des Grenzabschnitts in der Bernauer Straße und die Errichtung einer Gedenkstätte zwischen Acker- und Bergstraße aus. Ein alternativer Standort wurde nun zweifellos ausgeschlossen und der durch die SenKult und das DHM vertretene Kompromiss anerkannt (70m rekonstruierter Grenzstreifen inklusive Tiefenstaffelung aus der Zeit um den 09. November 1989, 60m anschließender Mahn- und Gedenkstättenbereich, dafür nach Möglichkeit Rückgabe der verbleibenden 70m an die Sophiengemeinde und Verzicht auf ein Dokumentationsgebäude). Im Bericht hieß es überdies: »Unter Berücksichtigung der städtebaulichen Rahmenbedingungen des Ringstraßenkonzeptes einschließlich Straßenbahn und der landschaftlichen Belange des Friedhofes der Sophiengemeinde sollen Gedenkstätte und Baudenkmal gestalterisch eine Einheit bilden«.219 Dies bedeutete zwar, dass die Verkehrsplanung sich nun nicht mehr der Gedenkstätte unterordnen musste (anders als beim Senatsbeschluss 629/91 vom 13. August 1991), im Austausch dafür aber alle anderen Forderungen seitens der SenKult und des DHM erstmals in vollem Umfang politische Unterstützung fanden. Der Beschluss war auch getragen von der Zusage des Bundes im Rahmen der Verhandlungen für die Gedenkstättenkonzeption des Bundes, die Kosten zumindest für die Errichtung zu 100% zu übernehmen. Klar war, dass der Bund angesichts der weiteren Verzögerung der Wettbewerbsausschreibung durch die Querelen mit der
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schen Teilung entgegenständen. »Und diesen Friedhof in seiner Schändung zu belassen, ja zu erneuern (1991 und 1992), ist aus unserer Sicht ein kultureller und religiöser Frevel«, konterte die Sophiengemeinde gegen die SenStadtUm, vgl. Schreiben der Sophiengemeinde an SenStadtUm vom 08.12.1992, SWFKB, GBM, Nr. 466. SenKult: Vermerk vom 25.11.1992, S. 2, SWFKB, GBM, Nr. 465. Ebd., S. 4; vgl. auch DHM: Beratungsunterlage zu Tagesordnungspunkt 7, Vierzehnte Sitzung des Aufsichtsrates der Deutsches Historisches Museum GmbH am 27.11.1992 vom 23.11.1992, SWFKB, GBM, Nr. 469. SenStadtUm: Senatsvorlage Nr. 2899/93 an das Abgeordnetenhaus von Berlin Mitteilung zur Kenntnisnahme vom 02.02.1993, SWFKB, GBM, Nr. 463; Regierender Bürgermeister von Berlin, Senatsbeschluss Nr. 2899/93 vom 02.02.1993 über Umgang mit der Mauer, SWFKB, GBM, Nr. 463, o.V.: »Denkmalschutz für die Mahnmale der Einschnürung«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 04.02.1993. SenStadtUm: Senatsvorlage Nr. 2899/93 an das Abgeordnetenhaus von Berlin Mitteilung zur Kenntnisnahme vom 02.02.1993, SWFKB, GBM, Nr. 463.
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Sophiengemeinde definitiv ein deutliches Zeichen des Landes erwartete, um nicht von dem Vorhaben gänzlich Abstand zu nehmen. Daher ließ sich die SenKult über den durch die SenStadtUm eingebrachten Senatsbeschluss nochmals den politischen Willen bestätigen.220 Allein um den Bund zu bewegen, die Mittel seitens des DHM in das Haushaltsjahr 1993 übertragen zu dürfen, war es nötig, landespolitisch – wenn auch notweniger Weise nicht im Einklang mit den» eigenen (Verkehrs-)Planungen – nun voll und ganz hinter dem Gedenkstättenprojekt zu stehen. Dies geht zumindest aus einem Vermerk der SenKult anlässlich der dazugehörigen Klausurtagung des Senats deutlich hervor.221 Die Sophiengemeinde lehnte diesen Regierungsbeschluss, da er das Gebiet zwischen Acker- und Bergstraße jetzt alternativlos festlegte, erwartungsgemäß ab und forderte eine andere politische Lösung. Sie setzte sich daher bei MdB Rainer Eppelmann aber auch beim amtierenden Bundeskanzler, Helmut Kohl, dafür ein, dass die Kirchengemeinde ihre Grundstücke im ehemaligen Grenzgebiet wiedererhalten solle.222 Ein entsprechendes Bittgesuch lag ebenfalls bereits dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages vor.223 Neben der Kritik an den bisherigen Planungen, die Sophien weiterhin mit einer Friedhofschändung im NVA-Stil gleichsetzte, forderte sie nun zudem vehement die Errichtung einer Gedenkstätte der Opfer des zweiten Weltkrieges an besagter Stelle, lägen dort doch noch ihre Leichen. Ein entsprechender Entwurf sowie Unterschriftenlisten wurden den Briefen an Eppelmann und Kohl beigefügt. Verweise auf Unterstützung durch den Bund Deutscher Kriegsgräberfürsorge, die Stiftung Historische Kirchhöfe sowie einzelner Politiker verlieh den Briefen noch mehr Gewicht.224 Parallel zu diesem Bittgesuch an die höchste Regierungsstelle, schaltete die Sophiengemeinde zusätzlich eine Anwaltskanzlei ein, um gegen die politische Entscheidung der Berliner Regierung und die Umsetzungsmaßnahmen seitens der SenKult vorzugehen.225 In einer durch die Anwälte übermittelte Stellungnahme beklagte die Gemeinde, man habe sie nicht in die Verhandlungen zum Senatsbeschluss vom 02. Februar 1993 einbezogen, die Gedenkstättenplanung ignoriere ihre Eigentumsansprüche, die Errichtung einer Gedenkstätte sei erneuter Missbrauch am geschändeten Gemeindefriedhof, zudem sei das DHM nicht nutzungsberechtigt, man verschwende nur Steuergelder, etc. Die Stellungnahme appellierte an den Kultursenator persönlich:
220 SenKult: Vermerk vom 14.05.1993, SWFKB, GBM, Nr. 465. 221 SenKult: Vermerk vom 27.01.1993, S. 3, SWFKB, GBM, Nr. 465. 222 Schreiben der Sophiengemeinde an MdB Eppelmann vom 20.02.1993, SWFKB, GBM, Nr. 468; Schreiben der Sophiengemeinde an die Regierung der Bundesrepublik Deutschland Bundeskanzler Kohl vom 22.02.1993, SWFKB, GBM, Nr. 468. 223 Schreiben der Sophiengemeinde an MdB Eppelmann vom 20.02.1993, SWFKB, GBM, Nr. 468. 224 Ebd. 225 Schreiben der Rechtsanwälte Lothar und Helga Franz an die SenKult vom 12.03.1993, SWFKB, GBM, Nr. 466.
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»Sehr geehrter Herr Roloff-Momin, es ist daher jetzt zu begrüßen, wenn die Senatverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten und […] auch die übrigen Senatsverwaltungen Bereitschaft zeigen, den Positionen von Sophien Rechnung zu tragen und dementsprechend die bisherigen Standpunkte des Landes Berlin zu revidieren.«226
Zur Nutzung des Areals entwickelte die Sophiengemeinde in ihrer Stellungnahme zudem ganz eigene Vorstellungen, die den bisherigen Konzeptionen diametral entgegenstanden. Sie erwartete, dass der gesamte Grundstücksbereich des Mauerstreifens an Sophien rückübertragen werde, sodann werde sie sich dafür aussprechen, dass auf einer Länge von 70m die jetzigen Teile erhalten bleiben mögen, »[…] soweit sie nicht die Rekonstruktion der Reihen- und Massengräber des letzten Weltkrieges behindern«.227 Jegliche Rekonstruktion der Mauer müsse unterbleiben, weil es sich um einen wieder einzurichtenden Friedhof handle, dies bedeute dann auch den Abriss der übrigen Mauerreste auf Kosten des Landes bzw. Bundes.228 Der Wettbewerb müsse die Wiederherstellung des Friedhofes mit künstlerischen Mitteln zum Ziel haben, den Vorsitz des Wettbewerbsausschusses übernehme dann die Sophiengemeinde. Die Sophiengemeinde strebte also in erster Linie den Besitz ihrer alten Grundstücke an und eine dortige Wiedererrichtung des Friedhofs inklusive der Rekonstruktion von Kriegs- und Massengräbern. Sie plante statt einer Gedenkstätte Berliner Mauer eine Gedenkstätte der Opfer des Zweiten Weltkrieges, des Krieges und der Nachkriegsgeschichte. Dabei sollte auf Einrichtungen, die zur »[…] Versorgung, Unterhaltung und Belehrung der Besucher der Gedenkstätte geeignet sind« gänzlich verzichtet werden. Für die Errichtung und Unterhaltung einer solchen Gedenkstätte sollten der Gemeinde zudem keinerlei Kosten entstehen, sprich Land und Bund dafür aufkommen. Die achtseitige Stellungnahme schloss mit dem Angebot: »Sehr geehrter Herr Roloff-Momin, wenn zu diesen Überlegungen von Sophien mit dem Land Berlin Übereinstimmung erzielt werden könnte, wäre der Weg geebnet, alsbald unter Einbeziehung des Bundes zu einer vertraglichen Regelung zu kommen. […] Bei Einlösung dieser Vorschläge scheint uns der lang andauernde Streit beendet.«229
Vollkommen ungeachtet der historischen Gegebenheiten und der rechtlichen Rahmenbedingungen maßte sich die Sophiengemeinde mit dieser Stellungnahme also an, mit diesem geschichtsträchtigen Ort zu verfahren wie sie wollte. Weder war die Gemeinde schon Eigentümerin und Verfügungsberechtigte der Grundstücke, auf der die Gedenkstätte Berliner Mauer vom DHM vorgesehen war, noch hatte sie bis dato einen Nachweis über vorhandene Kriegs- und Massengräber geliefert. Zudem verweigerte sie die Einsicht in ihre Kirchenbücher und in die Vorgänge zum Verkauf der Grundstücke an die NVA/DDR. Die SenStadtUm und die SenKult konnten hingegen recherchieren, dass es stattdessen in der Zeit des Grenzbaus immer wieder
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Ebd., S. 4. Ebd., S. 5. Ebd. Ebd.
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zu Umbettungen gekommen war.230 Zu den Umbettungen stellte die SenStadtUm bis zum 11. Oktober 1993 fest, dass laut Kirchenangaben ca. 420 Umbettungen vorgenommen worden sind und aufgrund von Verlegung von stadttechnischen Versorgungsleitungen zusätzlich auf einem 12m breiten Streifen am Mauerverlauf von einer Zerstörung der dortigen Gräber ausgegangen werden musste.231 Darüber hinaus wurde festgestellt, dass die von der Gemeinde erstellten Listen der Kriegsgräber eine Reihe Differenzen zu den Totenbüchern aufweisen und der Gemeinde keine Lagepläne vorlagen.232 Grundsätzlich aber, und das überraschte angesichts der Radikalität der Vorschläge der Sophiengemeinde, schloss sich zumindest die SenStadtUm tatsächlich ihren Forderungen an: »Abschließend betonen wir, dass wir eine Lösung im Sinne der vorgeschlagenen Vereinbarung sehr begrüßen würden. Auch unser Haus würde sich im Senat und bei den Bundesbehörden für eine rasche Umsetzung der Vereinbarung einsetzen.«233 Inwiefern die SenStadtUm damit ein Ende der GedenkstättenKonzeption des DHM anstrebte, oder ob ihr zu diesem Zeitpunkt die Konsequenzen einer solchen Unbedenklichkeitserklärung gar nicht bewusst waren, konnte nicht geklärt werden. Die SenKult hingegen tat alles, um die Gelder des Bundes zu sichern und die bisherigen Planungen aufrecht zuhalten. Hierzu gehörte auch, den Aufsichtsrat des DHM sowie die Vertreter des BMI weiterhin vom Projekt und vom ihm angebundenen Wettbewerb zu überzeugen und an den bisher getroffenen Beschlüssen, entgegen der Vorstellungen von Sophien und SenStadtUm, festzuhalten und weitere Verschleppungen bzw. Behinderungen keinesfalls mehr zu tolerieren. 234 Derweil entschied der Deutsche Bundestag grundsätzlich im Sinne der Sophiengemeinde. Aufgrund eines neuen Haushaltsvermerkes wurde es nun möglich, »[…] die im Mauerstreifen liegenden Friedhöfe an die Kirchengemeinden kostenlos zu übereignen […]« sofern »[…] öffentliche Belange, z.B. Denkmalpflege oder Bauleitplanung, nicht entgegenstehen«.235 Die betroffenen Gemeinden (so auch Sophien) sollten sich diesbezüglich sofort an die Berliner Oberfinanzdirektion wenden. Dies bedeutete, der Bund legitimierte die Rückübertragung an die Kirchengemeinden, nur noch die Länder konnten aufgrund von Denkmalschutz und Flächenplanung eine solche verhindern. Es lag daher nunmehr in der Macht des Landes Berlin, insbesondere in der Verantwortung der Oberfinanzdirektion und der SenStadtUm, das Gelände an Sophien zurückzugeben. Die Sophiengemeinde wurde daraufhin wieder aktiv und zog am 06. August 1993 einen Zaun um das landeseigene Gedenkstättengelände und stellte ein Schild auf mit
230 Schreiben der SenStadtUm an SenKult vom 21.04.1993, SWFKB, GBM, Nr. 466; SenKult: Vermerk vom 28.10.1992, SWFKB, GBM, Nr. 465. 231 Schreiben der SenStadtUm an BM FVS vom 11.10.1993, SWFKB, GBM, Nr. 468. 232 SenStadtUm: Vermerk vom 12.10.1993, SWFKB, GBM, Nr. 463. 233 Schreiben der SenStadtUm an SenKult vom 12.03.1993, SWFKB, GBM, Nr. 466. 234 SenKult: Vermerk vom 14.05.1993, SWFKB, GBM, Nr. 465. 235 Schreiben des Bundesministerium der Finanzen (BMF) an das Kommissariat der Bischöfe vom 30.07.1993, SWFKB, GBM, Nr. 463.
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der Beschriftung: »Das Betreten des Friedhofes mit Hunden ist nicht erlaubt«.236 Kurz darauf ließ die Gemeinde zusätzlich auf dem Gelände ehemalige Gräber markieren und ein zusätzliches Schild anbringen: »Nur Eingang zum II. Sophien-Friedhof. Kein Durchgang zur Gartenstraße.«237 Da es sich hierbei erneut um Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung handelte, schlug die SenKult vor, bevor der StS bzw. der Senator rechtliche Schritte einleiteten, nochmals den Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg um Schlichtung zu bitten.238 Parallel bezog die SenKult gegenüber den Anwälten der Sophiengemeinde hinsichtlich ihrer Friedhofsvorschläge Stellung und machte unmissverständlich klar, dass eine Vereinbarung zwischen dem Land Berlin und der Sophiengemeinde an bisherige Vereinbarungen und Beschlüsse bzw. Konzepte anknüpfen müsse. Darüber hinaus forderte die SenKult ein, dass eine Vereinbarung nicht allein die Belange von Sophien berücksichtigen könne und eher eine Fixierung von Grundsätzen darstellen solle. Unter diesen Voraussetzungen, und dies war ein weiteres Zugeständnis der SenKult, »[…] können wir uns sogar mit Ihrem Vorschlag einverstanden erklären, dass Sophien den Vorsitzenden der Wettbewerbsjury benennt. Und zwar dies trotz heftiger Widerstände hiergegen von Seiten des Deutschen Historischen Museums und obwohl solche Regelung nicht nur unüblich, sondern auch nur schwer in der Fachöffentlichkeit zu begründen sein wird.«239
SenKult ging damit auch auf Gegenkurs zum DHM, das alle weiteren Kompromisse vollständig ausschloss – auch vor dem Hintergrund, dass der Bund zunehmend auszuscheren drohte – und das der SenKult glasklar vor Augen führte: »Wenn die Gemeinde das Sagen haben will, soll sie auch bezahlen.«240 Zudem wurde das DHM nicht müde zu wiederholen, dass es beschlossene Planungen und Konzepte gäbe, dass die Gemeinde keinerlei Rechte habe, über eine »nationale Gedenkstätte« zu bestimmen und dass es am Ende auch denkmalpflegerische Vorgaben gebe, die eine erneute Friedhofnutzung, wie es der Sophiengemeinde vorschwebe, ausschlössen.241 Ungeachtet dieser, vom DHM im Sinne der Gedenkstätte gut gemeinten Warnungen, presste die Sophiengemeinde in den kommenden Wochen bis zur Vertragsunterzeichnung der SenKult Stück für Stück Zugeständnisse ab. Dies war umso verwunderlicher, als dass sich das Land Berlin rechtlich eindeutig in privilegierter Position befand. Berlin war Eigentümerin, Verfügungsberechtigte und hatte Entscheidungsbefugnis bezüglich der Rückübertragung. Es gab somit gar keinen Anlass, sich auch nur auf eine einzige Forderung der Sophiengemeinde einzulassen. Die einzigen Gründe, die dafür sprachen, waren erstens die fortgeschrittene Zeit
236 SenKult: Vermerk vom 09.08.1993, SWFKB, GBM, Nr. 463; SenKult: Vermerk vom 06.09.1993, SWFKB, GBM, Nr. 463. 237 Ebd. 238 SenKult: Vermerk vom 09.08.1993, SWFKB, GBM, Nr. 463. 239 Schreiben der SenKult an Rechtsanwalt Franz vom 18.08.1993, SWFKB, GBM, Nr. 463. 240 Schreiben des DHM an SenKult vom 19.08.1993, SWFKB, GBM, Nr. 463. 241 Ebd.
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und die damit verbundene Befürchtung, der Bund bewillige die Mittel kein weiteres Mal, und zweitens die Hoffnung und das Vertrauen darauf, alle weiteren gedenkstättenbezogenen Schritte würden nun störfrei vollzogen werden können.242 Die Befürchtungen, der Bund könne sich zurückziehen, bewahrheiteten sich allerdings nicht. Die Entsperrung der Mittel für den Wettbewerb in einer Höhe von 750.000 DM erfolgte im September.243 Und die Befürchtung, Sophien bekäme einen positiven Rückübertragungsbescheid und erhielte damit mehr Eigentumsrechte, lief ins Leere, konnte sich das Land doch aus denkmalpflegerischen Gesichtspunkten gegen eine reine Friedhofsnutzung aussprechen. Weshalb Berlin anfing, Konzessionen an die Sophiengemeinde zu machen und plötzlich Bereitschaft zeigte, auf sämtliche Forderungen von ihrer Seite einzugehen,244 konnte nicht herausgefunden werden. Tatsache ist, dass das Land Berlin, vertreten durch den Senator für Kulturelle Angelegenheiten und durch den Senator für Stadtentwicklung und Umwelt, sowie die Sophiengemeinde – vertreten durch den Gemeinderat – am 20. Oktober 1993 einen Vertrag unterzeichneten, der die Rahmenbedingungen für den Umgang mit den Grundstücken sowie für die Errichtung der Gedenkstätte festlegte.245 Ungeachtet der bisherigen Beschlüsse und Konzepte wurde in dieser Vereinbarung verabredet, dass es sich bei der Gedenkstätte nun tatsächlich um eine »Gedenkstätte für die Opfer des 2. Weltkrieges und der deutschen Teilung« handeln solle, das Land sich dafür einsetze, dass Sophien wieder Eigentümerin des gesamten Areals werde und dem Gelände der Charakter eines Friedhofes wiedergegeben werde.246 Sophien hingegen dulde die Errichtung einer solchen Gedenkstätte im Rahmen der (kirchlich-)gesetzlichen Bestimmungen und übertrage zu diesem Zwecke dem Land entsprechende Nutzungsrechte.247 Für die 70m Bernauer Straße Richtung Bergstraße sah die Vereinbarung nur noch den Erhalt der bestehenden Grenzanlagen zum Vertragszeitpunkt vor, jegliche Rekonstruktion wurde ausgeschlossen. Insgesamt wurde festgeschrieben, die Gedenkstätte solle als ein »[…] Ort der stillen Erinnerung zurückhaltend konzipiert sein«.248 Teilflächen und Übergänge seien gestalterisch auf den Friedhof abzustimmen, eine zukünftige Gestaltung müsse zudem den früheren Verlauf des Kreuzweges (Haupt-
242 SenKult: Vermerk vom 23.08.1993, SWFKB, GBM, Nr. 463; SenKult: Vermerk vom 06.09.1993, SWFKB, GBM, Nr. 463. 243 Schreiben des DHM an Sophiengemeinde vom 06.10.1993, SWFKB, GBM, Nr. 463; SenKult: Vermerk vom 11.10.1993, SWFKB, GBM, Nr. 463. 244 Schreiben der Rechtsanwälte Franz und Franz an DHM vom 11.10.1993, SWFKB, GBM, Nr. 463. 245 Vereinbarung zwischen dem Land Berlin, vertreten durch den Senator für Kulturelle Angelegenheiten und den Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz und der Evangelischen Sophiengemeinde zu Berlin vom 20.10.1993, ArGBM, Geschäftsablage o. Sign. 246 Ebd., S. 1-2. 247 Ebd., S. 2. 248 Ebd., S. 3.
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friedhofsweg) und die Schwesternpforte berücksichtigen.249 Darüber hinaus wurde Sophien das Recht eingeräumt, für die Wettbewerbsjury eine »[…] fachlich ausgewiesene Persönlichkeit als Vorsitzenden zu benennen«.250 Auch bei der Erarbeitung des Ausschreibungstextes sollte Sophien beteiligt werden. Bezüglich der Kosten für den Abriss der restlichen Grenzanlagen und der Wiederherstellung einer Friedhofmauer verpflichteten sich beide Vertragspartner auf eine Übernahme durch den Bund hinzuwirken.251 Die einzigen Punkte dieser Vereinbarung, die den bis dato gefassten Beschlüssen und den bisherigen Konzepten entsprachen, war erstens die Nutzung eines am 70m-Grenzstreifen angrenzenden 60m langen Streifens für eine Denkmalanlage und zweitens die prinzipielle Ausschreibung eines Gestaltungswettbewerbes.252 Alle anderen Punkte waren vollkommen neu und waren bisher weder verhandelt noch vom Land politisch beschlossen oder gar vom Bund getragen. So hatte der Bund die Sondermittel für eine »Gedenkstätte Berliner Mauer« und nicht für die Errichtung einer »Gedenkstätte für die Opfer des 2. Weltkrieges und der deutschen Teilung« oder gar für die Errichtung einer Friedhofsmauer bewilligt.253 Auch entsprach der Erhalt der Anlage zum Vertragszeitpunkt nicht den bisherigen Plänen einer kompletten Grenzanlage auf 70m inklusive Tiefenstaffelung und Sicherungsanlagen. Die bisherige »Dreigliedrigkeit« wurde darüber hinaus zugunsten ein friedhofsähnlichen »Einheitlichkeit« aufgegeben.254 Schließlich bedeutete die Wiederherstellung des Hauptfriedhofsweges und des Schwesterntores nichts anderes als das Durchbrechen der Grenzanlagen an diesen Stellen und das Schaffen »[…] einer nie da gewesenen Situation«.255 Dementsprechend fragte sich das DHM nach Kenntnisnahme der Vereinbarung, ob es für die Durchführung weiterhin der rechte Partner sei.256 Nichtsdestotrotz zwang dieser Vertrag zur generellen Einsicht, dass die z.T. noch vorhandenen bzw. die ehemaligen Kriegsgräber bei jedweder Planung zu berücksichtigen und die Konzepte enger mit den Beteiligten abzustimmen seien.257 In dem Entwurf des DHM zu den Rahmenbedingungen des Wettbewerbes hieß es daher: »Die Gestaltung […] soll sich in die friedhofsgemäße Umgebung einpassen.
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Ebd., S. 4. Ebd. Ebd. Ebd., S. 3, 4. Schreiben des DHM an BMI und SenKult vom 18.11.1993, SWFKB, GBM, Nr. 463. Ebd., S. 1-2. Ebd., S. 3. Ebd., S. 2. Zwei Massengräber konnten durch die SenStadtUm bis Ende 1993 bestätigt werden, beide auf dem Abschnitt der vorgesehenen Gedenkstätte und zumindest bis 1954 belegbar. Die Lage der Kriegsgräber bzw. etwaige Unterlagen hierzu konnten nicht recherchiert werden. Die SenStadtUm folgerte daraus, dass immerhin keine Tatsachen ermittelt werden konnten, die der Darstellung der Sophiengemeinde eindeutig widersprachen, vgl. SenStadtUm: Vermerk vom 10.12.1993, SWFKB, GBM, Nr. 463.
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[…] Weiterhin fordert der Wettbewerb die Teilnehmer auf, sich mit dem historischen Friedhof der Sophiengemeinde auseinanderzusetzen.«258 Der Eindruck eines »Käfigs«, einer »idyllischen Ruhe- oder Grünzone«, eines »Disneylands« oder »Abenteuerspielplatzes« sollte ebenfalls vermieden werden.259 Um die Vereinbarung zwischen Land und Sophien auch vor dem Aufsichtsrat des DHM zu rechtfertigen, argumentierte die SenKult, dass Kriegsgräber ohnehin zeitlich unbefristet zu erhalten seien und so auch die historischen Kausalzusammenhänge zwischen Krieg und Teilung darstellbar seien.260 Des Weiteren bestünde auf diese Weise sogar die Möglichkeit, das zu erhaltende Areal auf 170m auszuweiten, schließe eine Gedenkstättenlösung konsequenterweise die Massengräber mit ein.261 Diese Argumente konnten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Vereinbarung zwischen Land und Sophien stellenweise deutlich von den Vorstellungen des DHM und des Bundes abwich. Der Beschluss des Aufsichtsrates zum weiteren Vorgehen erklärte daher auch unverblümt: »Der Aufsichtsrat macht […] deutlich, dass die Gedenkstätte von überregionaler Bedeutung ist und im wesentlichen an die Opfer der deutschen Teilung erinnern soll.«262 Des Weiteren wurde entschieden, dass die Gedenkstätte nach Errichten durch den Bund aufgrund der »lokalen Besonderheiten« in die Trägerschaft des Landes übergehen müsse.263 Dies bedeutete nichts anderes, als dass das Land angewiesen wurde, »seine Suppe selbst auszulöffeln«, die es sich durch die Vereinbarung mit Sophien eingebrockt hatte. Auch schloss dies aus, dass das DHM und der Bund sich an etwaigen Abrissmaßnahmen, Friedhofsrekonstruktionen beteiligen würden. Hatte das Land kurz- und unvorsichtig solche »Versprechungen« gemacht, wurde es jetzt durch DHM und Bund langfristig dafür in die Pflicht genommen. Die Hoffnung, dass die Vereinbarung zur Beschleunigung des Verfahrens beitragen würde und Frieden einkehre zwischen DHM, SenKult und Sophien, erfüllte sich nicht. Wo es der Gemeinde möglich war, blockierte sie weiter, nun gerade trotz und wegen der Vereinbarung. So forderte sie im Zuge des Erarbeitens der Wettbewerbsausschreibung plötzlich, dass auf das Erinnern an die Opfer der deutschen Teilung nun gänzlich zu verzichten sei und zögerte sie die Benennung eines fachlich versierten Jurymitgliedes zeitlich hinaus.264 Durch das der Sophiengemeinde in
258 DHM: Gedenkstätte »Berliner Mauer«. Rahmenbedingungen für die Ausschreibung des Gestaltungswettbewerbs vom 07.12.93, S. 5, SWFKB, GBM, Nr. 463. 259 Ebd., S. 6. 260 SenKult: Vermerk vom 08.12.1993, SWFKB, GBM, Nr. 465. 261 Ebd., S. 2. Ein Nachweis über zwei Massengräber erbrachte die SenStadtUm eigenartigerweise nur einen Tag nach der Aufsichtsratssitzung der DHM GmbH, vgl. SenStadtUm: Vermerk vom 10.12.1993, SWFKB, GBM, Nr. 463. 262 DHM: Beschluss des Aufsichtsrates der Deutsches Historisches Museum GmbH vom 10.12.1993, in: Schreiben des DHM an SenKult vom 16.12.1993, SWFKB, GBM, Nr. 463. 263 Ebd. 264 Ebd. Für die Umsetzung entstanden, neben dem Vertrauensverlust des Bundes, vor allem finanzielle Probleme, durften die Mittel aus dem Haushaltsjahr 1993 nur bis einschließlich
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der Vereinbarung eingeräumte Recht, sich an der Erarbeitung der Ausschreibung zu beteiligen, kam die SenKult noch nicht einmal dazu, die von Sophien geforderte Streichung des Passus »für die Opfer der deutschen Teilung« zu verhindern. 265 Alle Versuche des DHM, doch noch die eigenen Vorstellungen in die Ausschreibungsrahmenbedingungen einzubringen, wurden von Sophien als »einseitig und tendenziös« abgelehnt, dem DHM außerdem »Geschichtsverfälschung« und »SchwarzWeiß-Malerei« vorgeworfen.266 Sobald das DHM an bisherige Konzepte anschloss, ging Sophien mit drastischen Forderungen in die Öffentlichkeit, die da z.B. lauteten: »Eine Gedenkstätte, die die Schändung einer anderen Gedenkstätte zur Vorrausetzung hat, disqualifiziert sich selbst« oder »Aus Gründen der Wahrhaftigkeit […] brauchen wir in Deutschland ein Museum für Deutsche Geschichte«.267 Letztere Forderung zielte offenkundig gegen das DHM und stellte seine Kompetenz vollends in Frage. Dabei scheute sich Sophien auch nicht, die bisherigen Bemühungen von Bund, DHM und Land als eine Art »zweite Enteignung« zu diffamieren, gerade so, als machten diese es der damaligen DDR bzw. NVA der DDR gleich.268 Diese Analogisierung von Zwangsverkauf in der DDR zur Errichtung des sogenannten »antifaschistischen Schutzwalls« mit dem Versuch, den Opfern dieses Unrechts eine Erinnerungsstätte zu geben, widersprach dem eigenen Anspruch an differenzierter Geschichtsbetrachtung vollkommen. Als die Sophiengemeinde dann auch noch dazu überging, öffentlich die Rahmenvereinbarung vom September 1990 und die Denkmalsschutzverdachtserklärung von Oktober 1990 als fingiert zu erklären, verlor die Gemeinde endgültig das Verständnis der bis dato beteiligten Institutionen sowie politischen Gremien.269 Dennoch: die Wettbewerbsausschreibung für eine Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße legte die Vereinbarung zwischen Land und Sophiengemeinde zugrunde und erklärte das Freilegen historischer Schichten und ihre Bewusstmachung zum Ziel.270 Sie richtete sich insgesamt an ca. 1200 Interessierte Architekten, Künstler und Stadtplaner.271 Diese Teilnehmer wurden aufgefordert, eine zurückhaltende Konzeption zu entwickeln, die die Aspekte Kriegs- und Massengräber, Friedhof und deutsche Teilung auf sinnvolle Weise zusammenzuführen habe. Neben den
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Februar 1994 verausgabt werden. Durch den anschließenden Wegfall der Mittel hätte das DHM komplett neue Mittel beantragen müssen für das Jahr 1994, vgl. ebd. SenKult: Vermerk vom 10.03.1994, SWFKB, GBM, Nr. 463. Schreiben der Sophiengemeinde an DHM vom 16.02.1994, SWFKB, GBM, Nr. 463. Gemeindekirchenrat von Sophien: Stellungnahme der Sophiengemeinde zur Ausschreibung für die Gedenkstätte auf dem Sophienfriedhof vom 11.04.1994, SWFKB, GBM, Nr. 463. Ebd. Ebd. Zum Vorgehen der Sophiengemeinde vgl. v.a. die Anlage »Wie beurteilen Sie folgende Schriftstücke?« zu ebd.; DHM (Hg.): Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße. Ausschreibung. Architektonisch-künstlerischer Ideenwettbewerb, April 1994, ArGBM, H-16/1. Ebd., S. 3. SenKult: Vermerk vom 02.06.1994, SWFKB, GBM, Nr. 463.
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Formalitäten (Personalien, Preise, Termine etc.) wurden der Ausschreibung auch die Vereinbarung zwischen Land und Sophien, ausführliche Beschreibungen zu der topographischen, historischen und gegenwärtigen Umgebung, Gutachten zur Denkmalschutzerklärung, Senatsbeschlüsse und Protokolle (so auch die Rede von Willy Brandt am 03. September 1961) beigefügt, die die Teilnehmer über die Rahmenbedingungen und über die erinnerungs- wie auch geschichtspolitischen Debatten der vergangenen Jahre informierten. Hierzu gehörte auch die Darstellung der Sophienkirche zu ihrer Position.272 Die Vorgaben für den Wettbewerb trugen erwartungsgemäß zwei Handschriften, die von Sophien und die des DHM. Im Sinne des DHM beinhalteten die Vorgaben, dass die Errichtung einer Aussichtsplattform möglich sei, dass die Berücksichtigung der vorhandenen Gräber nicht zwingend dem Erhalt der Mauer entgegenstünde, dass der ehemalige Grenzverlauf auf der gesamten Fläche (d.h. auch auf dem wieder zu errichtenden Friedhof) erkennbar bleiben müsse und insgesamt die Losung »Gedenkstätte für die Opfer des Zweiten Weltkrieges« vollkommen wegfiel.273 Im Sinne der Sophiengemeinde beinhalteten die Vorgaben, dass Mauerabrisse an nachweisbaren Kriegsgräberstellen möglich wären, dass eine Pforte geschaffen werden solle, um den Diakonissen (nicht den Gedenkstättenbesuchern) Zugang zu den Gräbern zu ermöglichen, auf Rekonstruktionen/Inszenierungen zu verzichten sei und dass jegliche Konstruktion (inkl. Eingangsbereich) auf den Charakter des Friedhofes Rücksicht nehmen und sich in das bestehende Denkmalensemble (Lazarus, Sophien, Grenze) einfügen müsse.274 An die Teilnehmer richtete sich der Appell: »Nicht zuletzt sollten sich die Teilnehmer bewusst machen, das die Gestaltung eines Mahnmals als auch eines Denkmals auf Friedhofsboden einen hohen Grad an Sensibilität erfordert, um den daraus resultierenden unterschiedlichen Nutzeransprüchen gerecht zu werden und dennoch eine zusammenwirkende Einheit für diesen neuen Ort zu erreichen.«275
Die Ausschreibung folgte damit auch dem übergeordneten Ziel: »Den Geist des Ortes zu erfassen und mit künstlerischen Mitteln auszudrücken, den wissenschaftlichen, politischen und didaktischen Diskurs im Künstlerischen zu bündeln – das wäre hier notwendig.«276 Diese Rahmenbedingungen gingen der Sophiengemeinde, obwohl sie sie im Ausschuss mitbeschlossen hatte, plötzlich doch nicht weit genug. Besonders der
272 DHM (Hg.): Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße. Ausschreibung. Architektonisch-künstlerischer Ideenwettbewerb, April 1994, ArGBM, H-16/1., S. 17-22, 64-77. 273 Ebd., S. 23ff. 274 Ebd. 275 Ebd., S. 27. 276 Dolff-Bonekämper, Gabi: »Im Niemandsland. Planung einer Gedenkstätte: Die Mauer an der Bernauer Straße in Berlin«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.05.1994.
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Verzicht auf die Widmung der Gedenkstätte den Opfern des Zweiten Weltkrieges veranlasste sie, eigenmächtig an die Teilnehmer Zusatzinformationen (über Friedhof, Massen- und Kriegsgräber) herauszugeben und auf dem Gedenkstättengelände erst mit rot-weißen Baufähnchen, später dann mit »Knüppelkonstruktionen« die vermuteten Gräber abzustecken.277 Sie griff damit aktiv in das Wettbewerbsrecht ein und sorgte so dafür, dass der Wettbewerb normalerweise sofort hätte abgebrochen werden müssen.278 Um das Projekt nicht weiter zu gefährden und den Bund nicht zu verärgern, wurden die Teilnehmer auf dem im Juni angesetzten Rückfragenkolloquium unmissverständlich darüber aufgeklärt, dass allein die Ausschreibung bindend sei und nicht die Privatangebote einer Kirchengemeinde.279 Zwischen den Preisrichtern und den Sachverständigen wurde darüber hinaus festgelegt, erstens, jeder Vertragspartner unterlasse ab sofort jegliche Äußerungen persönlicher Art, zweitens, es seien ab sofort keine Veränderungen mehr auf dem Gelände vorzunehmen, drittens, die Ausschreibung sei für alle Teilnehmer und Vertragspartner verbindlich, viertens, sämtliche Veröffentlichungen etc. seien fortan mit dem Auslober (DHM/Bund) abzustimmen und fünftens, ab sofort seien auch mündlich getroffene Festlegungen zwischen den Wettbewerbsgremienmitgliedern bindend.280 Ungeachtet dieser neuen Festlegungen hielt sich die Sophiengemeinde nicht an diese getroffenen Verabredungen und verteilte weiterhin ihre Materialien. Darüber hinaus versuchte sie gleichzeitig eine Erfassung der Kriegsgräber bei der SenStadtUm zu erreichen, d.h. sie streute beharrlich weiter Sand ins Getriebe,281 sodass sich nun sogar der Kultursenator persönlich bemühte, ein drittes Mal den Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg dazu zu bewegen, der Gemeinde Einhalt zu bieten: »Entgegen allen Erwartungen hat die Sophiengemeinde […] unter anderem durch unsachgemäße Markierungen von vermeintlichen Kriegsgräbern und Verteilung schriftlichen Materials mit einseitiger Sachdarstellung aus Sicht der Gemeinde, das erzielte Einvernehmen nicht nur
277 Zwei Informationsblätter wurden herausgegeben. Das eine Blatt war eine Skizze über die Möglichkeiten einer Gedenkstätte der Opfer des Zweiten Weltkrieges mit dazugehörigen Festlegungen, wie z.B. »Kriegsmassengräber werden wieder hergerichtet und über ihnen die Mauer entfernt«, »Sämtliche Grenzsicherungsanlagen werden entfernt« oder »die gesamte Friedhofsumrandung wird mitbedacht«. Das zweite Blatt war eine Karte des Sophienfriedhof zum Zeitpunkt vor dem Mauerbau, vgl. Gemeindekirchenrat von Sophien: Sophienfriedhof Bergstraße. Ein städtebauliches Kleinod Berlins, o.D., SWFKB, GBM, Nr. 463. 278 SenKult: Vermerk vom 02.06.1994, SWFKB, GBM, Nr. 463. 279 Ebd., S. 2-3; DHM: Protokoll zur Diskussion und zum Ergebnis der Vorbesprechung zum öffentlichen Rückfragenkolloquium für den Ideenwettbewerb zur Gestaltung der Gedenkstätte »Berliner Mauer« am 03.06.1994 vom 13.06.1994, SWFKB, GBM, Nr. 463. 280 Ebd., S. 2-3. 281 Schreiben des DHM an SenKult vom 08.06.1994, SWFKB, GBM, Nr. 463.
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gestört, sondern gegen geltendes Recht verstoßen und auch die Gefahr einer Anfechtung des laufenden Wettbewerbs herbeigeführt. […] Ich sehe daher keinen anderen Weg, als [um] den Einsatz Ihrer ganz persönlichen Autorität in dieser, für das Ansehen unseres Landes außerordentlich bedeutsamen Angelegenheit, zu bitten.«282
Um dem Bittgesuch politisches Gewicht zu geben, machte der Senator unmissverständlich klar, dass es ihm ansonsten schwer fiele, sich unter den gegebenen Umständen für eine Rückübertragung der Grundstücke an die Gemeinde einzusetzen: »Es fällt mir schwer, […] die […] Wiedereinsetzung von Sophien als Eigentümer des gesamten Friedhofsgeländes […] zu betreiben.«283 Kurzum, die Geduld der SenKult war zu Ende, sie war zu keiner weiteren Konzession mehr bereit und drohte nun erstmals zu Sanktionieren. Dass die SenKult von dieser Drohung auch Gebrauch machte, wurde kurz darauf dem DHM bestätigt: »Entsprechend dem Schreiben von Herrn Senator Ulrich Roloff-Momin […] kann das DHM davon ausgehen, dass die im letzten Absatz erwähnte Haltung auch administrativ umgesetzt worden ist.«284 Das Zustimmungsverfahren zur Grundstücksübertragung sollte fortan dilatorisch behandelt werden.285 Gleichzeitig sorgte Bischof dafür, dass seitens der Gemeinde keine weiteren Aktivitäten, die dem Wettbewerb entgegenstehen würden, mehr unternommen wurden.286 Die Pause hielt nicht lange an. Nachdem am 13. August 1994 die Ausschreibung endete und insgesamt 259 Entwürfe vorlagen, begann die Sophiengemeinde erneut den Wettbewerb zu desavouieren. So brachte sie über ihre Anwälte hervor, dass die Ausschreibung vorgetäuscht und der Wettbewerb manipuliert gewesen sei, und neue Kriterien für die Preisvergabe zugrunde gelegt werden müssten.287 Diese Vorwürfe wies das DHM weit von sich und konterte: »Alle Beteiligten haben dem Ausschreibungstext, wie er in der veröffentlichten Broschüre vorliegt, zugestimmt. […] Grundsätzlich muss ich darüber hinaus aber auch sagen, dass der eigentliche Adressat ihrer Anfrage der Berliner Senat, genauer gesagt die Senatsverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten sowie die Landesdenkmalpflege sind. Diese sind Ihre Vertragspartner gewesen.«288
282 Schreiben der SenKult Senator Roloff-Momin an Evangelische Kirche in BerlinBrandenburg Bischof Huber vom 21.06.1994, SWFKB, GBM, Nr. 481. 283 Ebd., S. 2. 284 Schreiben SenKult an DHM vom 28.06.1994, SWFKB, GBM, Nr. 481. 285 SenKult: Vermerk vom 28.06.1994, SWFKB, GBM, Nr. 481. 286 Schreiben der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg an SenKult Senator RoloffMomin vom 29.06.1994, SWFKB, GBM, Nr. 481. 287 Schreiben der Rechtsanwälte F. & F. an DHM vom 07.09.1994, SWFKB, GBM, Nr. 463. 288 Schreiben des DHM an Rechtsanwälte F. & F. vom 13.09.1994, SWFKB, GBM, Nr. 463.
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Ungeachtet der Klagen der Sophiengemeinde fuhr der Wettbewerb also fort. Die Jury – hochkarätig besetzt mit Fachvertretern, Vertretern der beteiligten Institutionen sowie des Bundes – tagte zwischen dem 07.-09. Oktober 1994. Sie beschloss einstimmig, keinen 1. Preis und stattdessen nur den 2. Preis (zu einem Preisgeld zu je 15.000 DM) zu vergeben an die Arbeiten Nr. 070, 090 und 243. Darüber hinaus wurden fünf weitere Arbeiten mit 6000 DM prämiert.289 Bei der Arbeit Nr. 070 von Susanne Winkler und des Künstlers Stefan Thiel handelte es sich um eine »Käfig«-Konstruktion, die die historische Grenzanlage von Umfeld weitgehend isolierte. Es wurde der Gedanke verfolgt, das Niemandsland der Grenze, sein absurdes Volumen inmitten der Stadt, sichtbar zu machen. Hierzu sollten 130m Grenzanlage mit einem 15m hohen Zaun eingefasst werden. Alle außerhalb der Umzäunung sich befindlichen Anlagen, so sah es der Entwurf vor, sollten restlos entfernt werden. Durch die Schaffung zweier »Interzonen« (zwischen zwei das Gelände umrahmenden Zäunen), sollte ein indirekter Zugang zum Areal ermöglicht werden.290 Die Jury überzeugte die formale Geschlossenheit der Arbeit sowie ihre Fokussierung auf den Kern des Wettbewerbes »Berliner Mauer«. Auch gefiel, dass der Mauerstreifen auf ganzer Länge (130m) bei dieser Variante erhalten bleiben würde.291 Der Entwurf, den Ursprungsentwürfen (»Glaskonstruktion«, größtmöglicher Erhalt des Grenzstreifens) in seiner Dimensionalität sehr nahe, entsprach vor allem den Vorstellungen des DHM. Die Arbeit Nr. 090 »Friedhof mit Kreuzweg« der Stuttgarter Architekten Kohlhoff & Kohlhoff hingegen bestach durch »Offenheit« und »Reduktion«. Zwei 6m hohe Edelstahlwände, in denen sich die Grenze unendlich widerspiegeln sollte, fassten den Grenzstreifen zwischen Vorderland- und Hinterlandmauer (auf einer zu erhaltenden Länge von 70m) ein. Da übrige Gelände sollte vollständig der Friedhofnutzung überlassen, sprich abgerissen werden. Der Entwurf sah für Besucher eine Aussichtsplattform vor sowie die Möglichkeit, hinter der Hinterlandmauer einen 20m breiten und – entsprechend der Anlage – 70m langen »Gehwegstreifen« zu installieren. Das Konzept »bestach« die Jury durch »Bescheidenheit«: »Der Entwurf […] biete einen Minimalkonsens an.«292 Es beschränkte sich auf 70m, verzichtete auf überhöhtes Pathos und betonte den »Ausschnittscharakter« der gezeigten Grenze.293 Es kam den Vorstellungen der Sophiengemeinde damit weitgehend entgegen, entsprach vollständig der Vereinbarung von 1993 zwischen Land und Gemeinde und war ein noch größerer als der bereits bestehende Kompromiss. So erfolgte die Nominierung unter Vorbehalt: »Bevor man sich auf einen Kompromiss solcher Art einlasse, solle man lieber eine ehrliche Alternative wählen, und das Ge-
289 DHM (Hg.): Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße. Protokoll der Preisgerichtssitzungen am 7., 8. und 9. Oktober 1994. Architektonisch-künstlerischer Ideenwettbewerb, Oktober 1994, S. 24, ArGBM, Geschäftsablage o. Sign. 290 Ebd. 291 Ebd., S. 18. 292 DHM (Hg.): Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße (1994), S. 24, ArGBM, Geschäftsablage o. Sign., S. 20. 293 Ebd., S. 19.
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lände so belassen, wie es derzeit ist […].«294 Und fast so, als wären die Wettbewerbsbedingungen erst jetzt begriffen worden, fasste die Jury zusammen: »Die Aufgabe sei ohne Zweifel hervorragend erfüllt, die Bedeutung des Ortes sei dabei allerdings verloren gegangen.«295 Die dritte mit einem 2. Preis versehenen Arbeit Nr. 243 folgte seinem Titel »Keine Gedenkstätte«. Der Entwurf proklamierte: »Dieser Ort kann nicht zu einem Museum oder einer Gedenkstätte umfunktioniert werden. […] Dieser Ort ist.«296 Entsprechend sollte der Ort (212m) in dem Zustand, in dem er in der Gegenwart war, einfach konserviert werden. Hierzu empfahlen die Teilnehmer MarkusAntonius Bühren und Markus Maria Schulz, man möge die alte Sophien-Friedhofsmauer, den Friedhofsweg und das Schwesterntor als Konservierungsstilmittel wieder herrichten bzw. rekonstruieren, ansonsten alles so belassen wie es sei, als eine Art Zeit-Topographie. Die Jury kommentierte ihre Entscheidung: »Da der Entwurf eine spätere, auf die Bedürfnisse eines Denkmals eingehende Umgestaltung zumindest nicht ausschließt, spiegelt er wie kein zweiter die gegenwärtigen konträren Positionen in Bezug auf den Umgang mit den Hinterlassenschaften der DDR ungeschönt wieder. […] Während die einen den Erhalt der Längenausrichtung und deren Erfahrbarkeit loben, weil das Gelände weitgehend belassen wird, wie es ist, mutmaßen die anderen, dass mit einem solchen Ansatz, die Ohnmacht und die Unfähigkeit, mit diesem Gebiet umzugehen, fortgesetzt werde.«297
Gerade weil der Entwurf die Debatte so stark verkörperte, wurde er so geschätzt. Er war konsequente Schlussfolgerung des zeitgenössischen widersprüchlichen Umgangs mit der Teilungsgeschichte und war in dieser Radikalität auch ein polemischer Kommentar bzw. die »ehrliche Alternative« zum Minimalkonsens des Kohlhoff-Entwurfs. Keiner der Entwürfe lieferte das von den Auslobern eingeforderte Denkmal und jeder Entwurf ignorierte den gebotenen sensiblen Umgang mit den verschiedenen Opfergruppen.298 Im Grunde genommen lieferte der Wettbewerb insgesamt zudem die drei Alternativen, die seit jeher im Raum standen: das vom DHM geforderte Maximum, das von der Sophiengemeinde angestrebte Minimum und die Variante Status quo, nämlich bloßer Erhalt. Die Jury beauftragte daraufhin die Auslober, eine rasche Prüfung im Hinblick auf die finanzielle und politische Realisierbarkeit vorzunehmen. Da eine Einigung auf Jury-Ebene nicht möglich war, wurde der Ball an die Politik zurück gespielt.299 Der SenKult brachte der Wettbewerb vor allem die Möglichkeit, durch die Wahl der entsprechenden Variante das Projekt elegant für spätere Gedenkalternativen of-
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Ebd., S. 20. Ebd. Ebd. Ebd., S. 21. Frank, Robert: »Grenzlehrpfad Berlin. Zum Wettbewerb über die Gedenkstätte in der Bernauer Straße«, in: Süddeutsche Zeitung vom 08.11.1994. 299 DHM (Hg.): Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße (1994), S. 24, ArGBM, Geschäftsablage o. Sign., S. 24.
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fen zuhalten. So empfahl sie dem Senat von Berlin ausdrücklich, sich für die letzten Entwurf »Keine Gedenkstätte« zu entscheiden: »Der Entwurf besticht trotz seiner erstmal völlig konservatorisch anmutenden Konzeption. Er gewinnt […], indem er große Teile des realen Bereiches erhält und zugleich durch Umfassung mit der ›historischen Friedhofsmauer‹ den menschenverachtenden Eingriff durch das Grenzregime der DDR behutsam kommentiert. Darüber hinaus sind Entwicklungen des Entwurfs im Sinne getroffener Absprachen mit der Kirche auch hier möglich.«300
Die »Käfig«-Konstruktion (Nr. 070) wurde nicht empfohlen mit der Einschätzung, sie sei städtebaulich zu dominant und besonders Anwohner dürften sich bei einer solchen Überhöhung erneut bedroht fühlen. Am Kohlhoff-Entwurf wurde bemängelt, er sei nur in Verbindung mit andauernden Unterhaltskosten für Sanierung (wegen Vandalismus) realisierbar, eine »[…] Ausführung dieses Entwurfes wird daher nicht als empfehlenswert angesehen«.301 Unerwähnt blieb, dass eine Umsetzung der Kohlhoff-Variante für alle Zeit den Minimalkonsens festschreiben und zukünftige Spielräume verhindern würde und den Abriss von 150m unter Denkmalschutz stehender Mauer bedinge. Um diese Entwicklung abzuwehren, schlug die SenKult daher vor: »Die Senatsverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten wird beauftragt, mit dem Bund (Bundesministerium des Innern) […] die Arbeit Nr. 243 ›Keine Gedenkstätte‹ zu realisieren.«302 Doch es kam anders. Der Ausschuss »Berlin 2000« entschied sich am 19. Dezember 1994 nämlich für die Umsetzung der Minimallösung, den KohlhoffEntwurf. Die einzige Begründung lautete tatsächlich: »Jede andere Lösung hätte die Sophiengemeinde nicht akzeptiert, was unter Umständen eine Verzögerung von zehn Jahren zur Folge gehabt hätte.«303 Der StS ergänzte, »[…] der Entwurf Nr. 70 […] sei in der Stadt nicht durchsetzbar. Ferner sei die Kirche dagegen«. 304 Damit orientierte sich der Ausschuss nicht an inhaltlichen Kriterien, sondern vor allem an der Sophiengemeinde und an einem zügig umsetzbaren, kirchenkonformen Ergebnis. Der Rahmen des Erinnerns und Gedenkens der gesamten Öffentlichkeit an die Berliner Mauer wurde im Großen und Ganzen nicht durch die historische Bedeutung des Ortes definiert, sondern maßgeblich durch Forderungen einer Kirchengemeinde und die Bequemlichkeit der zeitgenössischen Regierungspolitik, die jegliche weitere Auseinandersetzung scheute und lieber dem Diktat der kirchlichen Partikularinteressen folgte.305
300 SenKult: Vorlage an den Senatsausschuss Berlin 2000 zur Beschlussfassung, 2. Entwurf vom 08.12.1994, SWFKB, GBM, Nr. 683. 301 Ebd. 302 Ebd. 303 Marie-Luise W. z.n. Hamm, Oliver: »Neben den Gräbern des Sophien-Kirchhofs«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.07.1995. 304 StS S. z.n. ebd. 305 Bienert, Michael: »An der Mauer scheiden sich noch immer die Geister«, in: Süddeutsche Zeitung vom 12.03.1996.
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Da der Ausschuss allerdings Skrupel hatte, mit seiner Entscheidung die gesamten 150m denkmalgeschützte Restmauer für den Abriss freizugeben, ergänzte er den Kohlhoff-Entwurf, indem über den eigentlichen Gedenkstättenbereich hinaus zumindest die Vorderlandmauer ein Stück weit in südwestlicher Richtung erhalten bleiben sollte, auch an eine Errichtung des eingelagerten Wachturmes wurde wieder gedacht.306 Die Umsetzung des Kohlhoff-Entwurfes sollte so nicht zwangsläufig zu vollständigen Abrissen führen. Statt »Kohlhoff oder Mauer« wurde nun eine »Kohlhoff plus Mauer«-Lösung verfolgt.307 Dieser leichte Eingriff konnte das Einknicken vor der Sophiengemeinde nicht verbergen. Ihre Kampagne war aufgegangen.
3.4 D IE K ONZEPTION
DER
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Im Februar und März 1995 erteilte der Bund bzw. das BMI seine Zustimmung zur »Kohlhoff plus«-Variante.308 Schon kurz darauf erfolgte am 29. Mai 1995 durch die Oberfinanzdirektion Berlin die Eigentumsübertragung des gesamten Areals vom Bund auf die Sophiengemeinde.309 Ab Mitte Juni fanden erste Koordinierungsgespräche zwischen BMI, DHM, SenStadtUm und SenKult über die Umsetzung von »Kohlhoff plus« statt. Die Hoffnung, es würde nun zügig zu einer Umsetzung der Gedenkstätte kommen, verblasste allerdings schnell. Kurz nach der Eigentumsübertragung auf die Sophiengemeinde, sah sich diese erneut veranlasst, das Gedenkstättenvorhaben des Landes – nun gestärkt durch die Rechte eines Eigentümers und die politische Durchsetzung des Minimalkonsens – weiter zu stören. So forderte sie ab Juni 1995 von der SenKult, neben der würdigen Wiederherstellung der Kriegs- und Massengräber und der alten Gräberanlagen, nun auch die Übernahme der Kosten für die Errichtung der Friedhofsmauer, Entschädigungen für die zweckentfremdete Nutzung (Nutzungsausfall) sowie eine finanzielle Beteiligung an der Herstellung einer Wirtschaftsanlage (Kompostieranlage) in unmittelbarer Gedenkstättennachbarschaft.310 Parallel verlangte die Gemeinde eine
306 SenKult: Vermerk vom 28.06.1995, SWFKB, GBM, Nr. K12; SenKult: Protokoll der 1. Planungssitzung vom 31.07.1995, SWFKB, GBM, Nr. K12. 307 In den Quellen wurde diese Planung als »Kohlhoff plus« abgekürzt. 308 SenKult: Vermerk vom 28.06.1995, SWFKB, GBM, Nr. K12. 309 Urkunde 104/1995 verhandelt am 29.05.1995 von Notarin Gabriele Hübner-Becker, SWFKB, GBM, Nr. K11. Dass dieser Schritt übereilt war, erschließt sich schon aus der Tatsache, dass zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal abschließend geklärt war, ob nicht auch das Land Berlin Grundeigentümerin eines Teilgrundstückes war. 310 Schreiben des Gemeindekirchenrates von Sophien an SenKult vom 09.06.1995, SWFKB, GBM, Nr. K12, SenKult: Vermerk vom 28.06.1995, SWFKB, GBM, Nr. K12 Diese finanziellen Forderungen in Sachen Friedhofswiederherstellung ließen aber auch eine gewisse Abhängigkeit der Gemeinde vom Gedenkstättenprojekt erkennen, war es doch nur durch eine Gedenkstätten-Definition möglich, auf Kostenbeteiligung des Landes bezüglich der Friedhofsanlagen zu hoffen. Diese Abhängigkeit spürte die Gemeinde nur kurze Zeit
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Klarstellung, dass man sich auf die Kohlhoff’sche Minimallösung ohne »plusVariante« (ohne Vorderlandmauer und Wachturm) geeinigt habe, und dass restliche Flächen uneingeschränkt durch die Gemeinde nutzbar seien.311 Erst am 08. August 1995, fast ein Jahr nach Ende des Wettbewerbs, entschied der Senat in seiner 205. Sitzung, dass »die Errichtung der Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße unter Einschluss der Rekonstruktion eines Wachturms nunmehr zügig vorangebracht werden soll«.312 Er folgte der Empfehlung des Ausschusses 2000 und schlug die »Kohlhoff plus«-Variante vor, allerdings minus der zusätzlichen 150m Vorderlandmauer, die mangels einer Gedenkstättenverwendung somit für den Abriss freigegeben wurde. Das Paradox, ein Teil des Dokumentes zu vernichten, um es an gleicher Stelle mit künstlerischen Mitteln in Erinnerung zu rufen, ein historisches Bauwerk weitgehend abzureißen, um es nachträglich zum Zwecke der historischen Aufarbeitung zu rekonstruieren, nahm die Regierung grotesker Weise in Kauf. Dieser Widerspruch stieß erstaunlicherweise zunächst bei niemandem auf Kritik. Widerstand regte sich seitens der SenStadtUm, der Sophiengemeinde und der SenVuB aus anderen Motiven. Sie lehnten Mauer-Rekonstruktionen sowie die Aufstellung eines Wachturms kategorisch ab, obwohl »die Wiederherstellung der Mauer Teil des Wettbewerbsentwurfs und somit des Wettbewerbsergebnisses […]« gewesen war.313 Außerdem wurde die Aufstellung einer Besucherplattform verweigert,314 d.h. insgesamt »[…] abgelehnt wurde die Totalrekonstruktion eines Todesstreifens unter Verwendung von eingesammelten oder gesicherten Versatzstücken der Grenzanlage (Stichwort ›Horrortrip‹)«, kommentierte das Landesdenkmalamt und sprach sich damit ausschließlich für die Konservierung des aktuellen Bestandes aus.315 Die SenStadtUm verfolgte damit ungebrochen ihr seit Jahren bestehendes Ziel, ein Mauergedenken an Ort und Stelle gänzlich zu verhindern. Offenkundig
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später. Da der Bund nicht mehr Eigentümer war und somit das DHM auch nicht mehr Verfügungsberechtigter, ließ das DHM seine Bauzäune und Verkehrssicherungsmaßnahmen Mitte Juli kurzerhand abbauen. Da die Gemeinde allerdings nicht über die finanziellen Mittel verfügte für Ersatz zu sorgen, wandte sie sich prompt an die SenKult. Schließlich erwirkte das BMI beim DHM, dass die Zäune zur Sicherung des Areals für eine spätere Gedenkstätte vorübergehend wieder aufgebaut wurden; vgl. Schreiben der Rechtsanwälte F. & F. an SenKult vom 18.07.1995, SWFKB, GBM, Nr. K11. Schreiben der Rechtsanwälte F. & F. an SenStadtUm vom 28.06.1995, SWFKB, GBM, Nr. K12. Regierender Bürgermeister von Berlin: Protokollauszug aus der 205. Senatssitzung vom 09.08.1995, SWFKB, GBM, Nr. K12. Leithäuser, Johannes: »An der Bernauer Straße wird die Mauer zur Gedenkstätte. Streit um einen Wachturm«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.08.1995; SenKult: Vermerk vom 24.08.1995, SWFKB, GBM, Nr. K11; SenKult: Protokoll der 1. Sitzung der Arbeitsgruppe zur Errichtung der Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße am 28.08.1995, SWFKB, GBM, Nr. K12. Ebd. Schreiben des Landesdenkmalamtes an Architekt Z. vom 08.03.1996, SWFKB, GBM, Nr. K11.
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wurde diese Zielrichtung besonders, als die SenStadtUm verkündete, dass sie an Mauer-Rekonstruktionen an anderen Stellen (wie z.B. in der Niederkirchner Straße) aus denkmalpflegerischer Sicht nichts einzuwenden hatte.316 Auch wies ihre Erklärung, den Denkmalschutz für das Mauerstück jenseits des Kohlhoff-Entwurfes aufheben zu wollen, in dieselbe Richtung.317 Rückendeckung erhielt die SenStadtUm durch die Sophiengemeinde, die die Wiederherstellung der Grenzanlage in den alten Zustand als Verstoß gegen die Vereinbarung vom 20. Oktober 1993 einstufte und sich in eigenen Stellungnahmen für »Kohlhoff minus« aussprach. Lediglich dem Erhalt einer Peitschenlampe auf dem Gedenkstättengelände stimmte der Gemeindekirchenrat noch zu.318 Gleichzeitig addierte die Gemeinde die eigenen, auf den Friedhof bezogenen Wiederherstellungspositionen, den Gesamtkosten des Projektes hinzu, so dass statt der vom Bund grundsätzlich avisierten 1,75 Millionen der Bedarf plötzlich auf 4,4 Millionen DM anstieg (wobei alleine die Friedhofsmauer mit 1,1 Millionen DM zu Buche schlug).319 Noch geringschätziger ging die SenVuB mit dem Gedenkstättenvorhaben um. Obwohl bereits der erste Grundsatzbeschluss in dieser Angelegenheit, nämlich der Senatsbeschluss vom 13. August 1991 festgelegt hatte, dass sich der sechsspurige Ausbau (Ringstraßenkonzept) der Gedenkstätte unterzuordnen habe, plante die SenVuB nun die Führung eines Fahrradweges und eines Bürgersteiges direkt über den Fundamenten der ehemaligen Friedhofsmauer und das Abschließen der Fahrbahnen direkt an der Vorderlandmauer, so dass diese nach diesen Verkehrsplanungen dann wenig mehr gewesen wäre als eine kostenneutrale Lärmschutzwand.320 Die ehemalige Leiterin der Wettbewerbsjury, Hilde Léon, kommentierte diese alarmierende Entwicklung mit den Worten: »Eine unbequeme Jury auszuschalten, den Minimalkonsens durchzusetzen, ohne viel Diskussion und Widerstand, den Ort in seiner Aussagekraft zu reduzieren und dann das Ganze mit Wach-
316 Vgl. SenKult: Protokoll der 1. Sitzung der Arbeitsgruppe zur Errichtung der Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße am 28.08.1995, SWFKB, GBM, Nr. K12. Ende September 1995 schlug das Landesdenkmalamt einen Kompromiss bezüglich der Hinterlandmauer vor. Dieser sah vor, dass die Hinterlandmauer als Denkmalbegrenzung stehen bleiben könne, aber nur in der Höhe, wie ein Übersteigen verhindert werde, das Hinüberblicken jedoch möglich bliebe. Ausbesserungen sollten unterbleiben, stattdessen erkennbar sein, »das nur ein Teil der Hinterlandmauer am originalen Ort verblieben war; vgl. Landesdenkmalamt: Vermerk vom 21.09.1995, SWFKB, GBM, Nr. K11. Alles andere – so das Landesdenkmalamt – sei nicht »denkmalverträglich«, vgl. SenKult: Vermerk vom 26.09.1995, SWFKB, GBM, Nr. K12. 317 SenKult: Vermerk vom 07.11.1995, SWFKB, GBM, Nr. K12. 318 Gemeindekirchenrat von Sophien: Beglaubigter Auszug aus dem Verhandlungsbuch des Gemeindekirchenrates vom 14.09.1995, SWFKB, GBM, Nr. K12. 319 SenKult: Vermerk vom 26.09.1995, SWFKB, GBM, Nr. K12; SenKult: Protokoll der 2. Sitzung der Arbeitsgruppe zur Errichtung der Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße am 26.09.1995, SWFKB, GBM, Nr. K12. 320 SenKult: Vermerk vom 26.09.1995, SWFKB, GBM, Nr. K12.
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türmen zu ›vergruseln‹ das ist des Themas und des Ortes unwürdig. […] Das Gelände muss weiterhin vor Zugriffen geschützt bleiben, auch vor einer Aneignung durch die Sophiengemeinde. Das ist zwar mühsam, doch im Sinne einer Gedenkstätte Berliner Mauer lohnend.«321
Und der Referatsleiter für die Berliner Gedenkstätten resümierte resigniert: »Die Mauer für die Nachgeborenen erlebbar zu machen, das war politisch leider nicht durchsetzbar.«322 Am 12. Oktober 1995 bat die SenKult den Regierenden Bürgermeister Diepgen, den Kohlhoff-Entwurf ohne den Wachturm verwirklichen zu können.323 Nur einen Tag später teilte das BMI der SenKult mit, dass die Haushaltsmittel i.H.v. 500.000 DM für 1997 nicht mehr zur Verfügung stünden und es zu einer Ausschüttung der verbleibenden 1,368 Millionen DM bis Ablauf des Jahres 1996 nur kommen könne, wenn rasch gehandelt werde und es schnell zu einer diesbezüglichen Verwaltungsvereinbarung komme.324 Diese Veraltungsvereinbarung setzte von Seiten des BMI einen Ausschluss jeglicher Friedhofskosten und eine drastische Kostenreduzierung voraus, waren die Bundesmittel doch ausschließlich für die Realisierung der Gedenkstätte und nicht für die Wiedererrichtung eines Friedhofes vorgesehen.325 Damit legte das BMI klar die Vorgaben fest. Finanziert werden würde allein der Kohlhoff-Entwurf ohne Extras in kurzer Zeit, oder gar nichts mehr. Entsprechend veränderten sich vorübergehend die Prämissen. Die Senatskanzlei akzeptierte, dass eine Rekonstruktion nicht mehr vorhandener Grenzanlagen von Seiten der SenStadtUm und der Sophiengemeinde nicht toleriert werde, die Sophiengemeinde verzichtete (immerhin) im Gegenzug auf Entschädigungsforderungen.326 Das BMI bewilligte am 01. März 1996 eine erste Rate i.H.v. 215.000 DM.327
321 Léon, Hilde: »Mauerseligkeit. Die Gedenkstätte zerbröselt im politischen Kompromiss«, in: Der Tagesspiegel vom 31.08.1995; vgl. hierzu auch Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 12/7062, Kleine Anfrage Nr. 7062 vom 05.09.1995. Die PDS-Fraktion deutete darin an, dass auch der Zugriff durch gestalterische Erwägungen von Politikern und Politikerinnen verhindert werden müsse. 322 Rainer K. z.n. o.V.: »Schwer emotional besetzt«, in: Der Spiegel vom 06.11.1995. 323 Schreiben der SenKult an Regierenden Bürgermeister vom 11.10.1995 (ab 12.10.1995), SWFKB, GBM, Nr. K12. Eine Antwort kam erst kurz vor Jahresablauf. Sie ließ durchscheinen, dass sich der Regierende Bürgermeister mit dem Verzicht auf einen Wachturm arrangieren könne; vgl. Schreiben der Senatskanzlei an SenKult vom 19.12.1995, SWFKB, GBM, Nr. K12. 324 Schreiben des BMI an SenKult vom 13.10.1995, SWFKB, GBM, Nr. K12. 325 Schreiben des BMI an SenKult vom 02.11.1995, SWFKB, GBM, Nr. K12; Schreiben des BMI an Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen (SenBau) vom 12.12.1995, SWFKB, GBM, Nr. K12; SenKult: Anmeldung zum HaushaltsplanEntwurf 1997/1998 vom 31.01.1996, SWFKB, GBM, Nr. K12. 326 Schreiben der Senatskanzlei an SenKult vom 23.02.1996, SWFKB, GBM, Nr. K12; SenKult: Ergebnisprotokoll zur Besprechung am 27.02.1996 vom 31.03.1996, SWFKB, GBM, Nr. K12. 327 Schreiben des BMI an SenBau vom 01.03.1996, SWFKB, GBM, Nr. K12.
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Die SenBau erwirkte nach über einem Jahr eine Kostenreduzierung des Gesamtprojektes auf 1,75 Millionen DM und trieb damit die konkreten Bauplanungsunterlagen (BPU) voran.328 Das Landesdenkmalamt akzeptierte, dass weiterer Verfall der Grenzanlagen zu stoppen und eine Sanierung unumgänglich war, um die gesamte Anlage nicht weiter in einen »römischen Limes« zu verwandeln.329 Diese sich abzeichnende Annäherung zerstrittener Beteiligter und dieser sich – im Sinne einer realen Umsetzung einer Gedenkstätte – anbahnende erinnerungspolitische Minimalkonsens hatte jedoch nicht lange Bestand. Er wurde u.a. durch eine Hinhaltepolitik der SenBau sowie durch kontraproduktive Aktionen der Sophiengemeinde erneut gestört. So beantragte die Kirchengemeinde am 18. April 1996 beim Bezirk Berlin-Mitte nichts Geringeres als die partielle Aufhebung des Denkmalschutzes für den Grenzabschnitt und die Herauslösung einzelner Mauersegmente – dort wo sie die Gemeinde Massen- und Kriegsgräber vermutete –, um an diesen Stellen sichtbar »Gräberstätten für die Opfer des Zweiten Weltkrieges [Herv. i.O.]« zu errichten.330 Das Bezirksamt Mitte stellte fest, das dieses beantragte Bauvorhaben genehmigungsfrei sei und leitete die Unterlagen von Amts wegen zur weiteren Prüfung an die Untere Denkmalschutzbehörde weiter.331 Unterdessen kündigte die SenBau – jenseits aller vorangegangenen Verhandlungen mit dem BMI – an, dass die BPU-Unterlagen für eine abzuschließende Verwaltungsvereinbarung mit dem Bund frühestens im Herbst 1996 vorlägen, was das BMI dazu veranlasste, auf den gänzlichen Wegfall der Bundesmittel hinzuweisen, sollte es weiterhin zu Verschleppungen kommen.332 Eine Bereitstellung der Bundesmittel in 1997 konnte das BMI nicht mehr garantieren und wies wiederholt eine Beschleunigung des Verfahrens hin.333 Um die vom BMI angekündigten restlichen 1,5 Millionen DM nicht aufs Spiel zu setzen, lenkte die SenBau schließlich ein und versuchte sie die BPU umgehend fertig zustellen.334 Die Planungsunterlagen wurden am 30. August 1996 dem BMI vorgelegt. Das Gesamtkostenvolumen war darin nun von 4,4 Millionen DM auf 2,489 Millionen DM reduziert und man bat um Aufstockung der Ursprungsmittel des Bundes von insgesamt 1,75 Millionen um eine knappe Dreiviertelmillion DM. Die Wiederherstellung der Hinterlandmauer und
328 Vorbehaltsvereinbarung zwischen Land Berlin (SenBau) und Architektengemeinschaft Kohlhoff und Z. vom 11./24.06.1996, SWFKB, GBM, Nr. K12; Schreiben der SenBau an SenKult vom 08.07.1996, SWFKB, GBM, Nr. K12. 329 Schreiben des Landesdenkmalamtes an Architekt Z. vom 08.03.1996, SWFKB, GBM, Nr. K11. 330 Schreiben des Gemeindekirchenrates von Sophien an Bezirksamt Mitte von Berlin vom 18.04.1996, SWFKB, GBM, Nr. K11. 331 Schreiben des Bezirksamtes Mitte von Berlin an Gemeinderat von Sophien vom 30.04.1996, SWFKB, GBM, Nr. K11. 332 Schreiben der SenBau an SenKult vom 08.07.1996, SWFKB, GBM, Nr. K12. 333 Schreiben des BMI an SenBau vom 12.07.1996, SWFKB, GBM, Nr. K12. 334 Handschriftliche Randnotiz auf Schreiben des BMI an SenBau vom 12.07.1996, SWFKB, GBM, Nr. K12.
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die Aufstellung einer Besucherplattform war ebenfalls (entgegen dem Willen der SenStadtUm und dem Landesdenkmalamt) Bestandteil.335 Die erhöhte Forderung zog erwartungsgemäß erneute zähe Haushaltsverhandlungen zwischen BMI und BMF nach sich. Es dauerte weitere acht Monate bis die Verwaltungsvereinbarung zwischen dem Land Berlin (SenKult) und dem Bund (BMI) im April 1997 unterzeichnet wurde. Mit diesem Vertrag wurde nun erstmals offiziell zwischen Bund und Land geregelt, dass eine Verwirklichung des preisgekrönten Kohlhoff-Entwurfes mit Mitteln des Bundes in Höhe des nun haushaltsmäßig anerkannten Betrages von 2,231 Millionen DM vorgenommen werde. 336 Die Vereinbarung umfasste darüber hinaus die Sanierung bzw. Reparatur der Vorderlandmauer, die Wiederherstellung der Hinterlandmauer sowie den Bau einer Besucherplattform. Im Sinne der Sophiengemeinde wurde sogar die Ergänzung der Friedhofsmauer und Torsituation als Teil der Gedenkstättenanlage kostenmäßig miterfasst.337 Trotz dieser neuen Ausgangsvoraussetzungen zog die Sophiengemeinde ihren Abriss-Antrag vom 18. April 1996 über einzelne Mauersegmente nicht zurück. Im Gegenteil, das Bezirksamt Berlin-Mitte genehmigte noch am gleichen Tag des Mittelabrufs durch die SenBau338 und gegen den Willen der SenStadtUm339 die Demontage von 38,4m Vorderlandmauer an den Stellen, wo die Sophiengemeinde vom Vorhandensein von Massengräbern ausging, um »dem berechtigten Antragsbegehren der Antragsstellerin auf Beseitigung der Gräberschändung im Bereich der Massen- und Kriegsopfergräber nachzukommen«.340 Durch die daraufhin prompt von der Gemeinde durchgeführten Demontagen von Mauersegmenten (bei denen zwei 16m breite Mauerlücken geschaffen wurden) sowie durch den vollständigen, nicht genehmigten Abriss der Hinterlandmauer, wurde die mit dem Mittelabruf versprochene Fertigstellung der Gedenkstättenanlage zum 09. November 1997 ad absurdum geführt und war der Skandal um die Gedenkstätte Berliner Mauer schließlich perfekt.
335 Schreiben der SenKult an BMI vom 17.09.1996, SWFKB, GBM, Nr. K16. 336 Verwaltungsvereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesministerium des Innern und dem Land Berlin, vertreten durch die Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur vom 14.03./08.04.1997, SWFKB, GBM, Nr. K16. 337 Ebd., S. 2. 338 Schreiben der SenBau an BMI vom 17.04.1997, SWFKB, GBM, Nr. K12. 339 Vgl. Abgeordnetenhaus von Berlin, Plenarprotokoll 13/27 der 27. Sitzung vom 24.04.1997, S. 2046 (D). Dort sagt Senator Strieder vor dem Abgeordnetenhaus aus, dass das Landesdenkmalamt bereits am 17. Oktober 1996 der Unteren Denkmalschutzbehörde des Bezirkes Mitte sogar explizit untersagte, Mauerabrisse in der Bernauer Straße zu genehmigen. 340 Schreiben des Bezirksamtes Mitte von Berlin, Abt. Ökologische Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen an Gemeindekirchenrat von Sophien vom 17.04.1997, SWFKB, GBM, Nr. K11; SenKult: Vermerk vom 18.04.1997, SWFKB, GBM, Nr. K12.
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3.5 D ER P ARADIGMAWECHSEL
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Erst als das Bezirksamt Mitte den Startschuss gab, den letzten weitgehend intakten Grenzabschnitt der Berliner Mauer durch einen Teilabriss zu schleifen, setzte sich die SenStadtUm erstmals konstruktiv für den Erhalt der gesamten Grenzanlage ein. Dies lag vor allem am Senatorenwechsel. Anders als sein Vorgänger, forderte der neue Senator der SenStadtUm Peter Strieder: »Das Gedenken, das Erinnern an die Teilung, an die brutale Mauer geht nicht nur zwei, drei Leute in dieser Stadt etwas an, sondern ist ein ureigenstes Anliegen der ganzen Stadt.«341 Er ergriff die Gelegenheit, die Pläne seines Vorgängers Hassemer offensiv zu durchkreuzen und forderte aus gegebenem Anlass nun grundsätzlich eine neue Form der Auseinandersetzung mit der Berliner Mauer, d.h. ihren vollständigen Erhalt als Dokument ohne jegliche künstlerische Bearbeitung.342 Damit wollte Strieder den Kohlhoff-Entwurf quasi kippen und mit der soeben erst geschlossenen, an den Kohlhoff-Entwurf gebundenen Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund und Land offenkundig brechen. Erstmals bestand zwischen SenKult und SenStadtUm plötzlich Einigkeit darüber, dass die Anlage in ihrer Gesamtheit – unter Umständen auch ohne Rücksicht auf Partikularinteressen – für Nachgeborene als Gedenkstätte zu retten sei.343 Das Landesdenkmalamt intervenierte umgehend und ließ die Abrissarbeiten unverzüglich stoppen.344 Die jahrelange, gegen den vollständigen Erhalt der Grenzanlage gerichtete Politik der SenStadtUm endete. Die Grünenfraktion reihte sich in diesen neuen Diskurs als erste ein und forderte den Senat auf, »[…] sich auf allen Ebenen dafür einzusetzen, dass alle Teile der denkmalgeschützten Mauer an der Bernauer Straße erhalten werden und zu veranlassen, dass die entfernten Segmente wieder aufgestellt werden«.345 Da sich die öffentliche Meinung zu diesem historischen Ort verändert habe, verlangte ihr Antrag zudem, dass die Umsetzung des Kohlhoff-Entwurfs auszusetzen sei bis er in einer überarbeiteten Form neu vorläge oder es eine zeitgemäße Alternative gäbe. Die PDS-Fraktion brachte in ihrem Änderungsantrag vor, dass neben dem Aussetzen der Baumaßnahmen der Kohlhoff-Entwurf zu verwerfen und vielmehr ein ganz neuer Entwurf zu erarbeiten sei. Ferner schlug die PDS konzeptionell vor, die entfernten 32 Mauersegmente verschoben auf den ehemaligen Friedhofsmauer-
341 Abgeordnetenhaus von Berlin, Plenarprotokoll 13/27 der 27. Sitzung vom 24.04.1997, S. 2048 (A). 342 O.V.: »Das Konzept für die Gedenkstätte hat seine Grundlage verloren«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.04.1997. 343 Ebd.; Heuwagen, Marianne: »Und der Rest ist Abriss«, in: Süddeutsche Zeitung vom 07.05.1997. 344 O.V.: »Abriss von Teilen der Mauer wurde gestoppt«, in: Frankfurter Rundschau vom 18.04.1996. 345 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 13/1590 vom 22.04.1997, Dringlichkeitsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Sockeln wieder aufzustellen.346 Und die Regierungsparteien CDU und SPD kamen nicht umhin, in Anlehnung an den Ursprungsantrag der Grünen, eine Überprüfung des Kohlhoff-Entwurfes zu fordern und wiederum ähnlich dem PDS-Antrag eine konzeptionelle Ausweitung auf das gesamte Areal zu verlangen.347 Unabhängig von diesen Anträgen beschloss der Senat noch vor einer parlamentarischen Aussprache in seiner 58. Sitzung am 22. April 1997, dass weitere Abrissmaßnahmen zu unterlassen seien und ordnete er eine Überprüfung des bisher vorgesehenen Kohlhoff-Entwurfes binnen von drei Wochen an. Dabei sollten ebenfalls Vorschläge für die Einbeziehung der Massengräber erarbeitet werden. Solange diese Schritte erfolgten, wurde die Umsetzung des Kohlhoff-Entwurfes erst einmal ausgesetzt.348 Zusätzlich entschied der Senat, vor einer Einbeziehung der Massenund Kriegsgräber erst einmal aufzuklären, was es mit den Massen- und Kriegsgräbern überhaupt auf sich habe.349 In der sich anschließenden Parlamentsdebatte brachte die SenStadtUm die eigenen neuen Forderungen unmissverständlich zum Ausdruck. Der KohlhoffEntwurf bedeute den Abriss von 150m und dies widerspreche nicht nur den Denkmalschutzauflagen, sondern auch der Vereinbarung mit der Sophiengemeinde, die 130m Mauerbestand für eine Gedenkstätten- und Denkmalanlage sicherte. Jetzt komme es darauf an, »[…] neue gesellschaftliche und politische Übereinkunft über die historische Erinnerung an Kriegs- und Nachkriegszeit an einem in der Tat schwierigen und sensiblen Ort zu schaffen […]«.350 Indem Strieder mehrfach betonte, dass es auch der politische Wille des Senats sei, dass es einen gesellschaftlichen Erinnerungskonsens gebe und gemeinsam neue konzeptionelle Wege zu finden seien, verlieh er seinen Forderungen höchstes Gewicht.351 Der Antrag der Bündnisgrünen sowie der Änderungsantrag der SPD und CDUFraktion wurden angenommen, der PDS-Antrag – ging er durch eigene konzeptionelle Vorschläge wohl zu weit – wurde abgelehnt.352 Die Berliner Politik signalisierte damit eindeutig, dass sie es zu einer Minimalgedenkstättenlösung – wie zwischen 1991 und Frühjahr 1997 – nicht mehr kommen lasse und auch nicht mehr vor Kircheninteressen kusche.353
346 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 13/1590-1 vom 24.04.1997, Änderungsantrag der Fraktion der PDS. 347 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 13/1590-2 vom 24.04.1997, Änderungsantrag der Fraktion der CDU und der Fraktion der SPD. 348 Regierender Bürgermeister von Berlin: Protokollauszug aus der 58. Sitzung vom 23.04.1997, SWFK, GBM, Nr. 685. 349 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 13/1590-2 vom 24.04.1997, Änderungsantrag der Fraktion der CDU und der Fraktion der SPD. 350 Abgeordnetenhaus von Berlin, Plenarprotokoll 13/27 der 27. Sitzung vom 24.04.1997. 351 Ebd., S. 2048 (B). 352 Regierender Bürgermeister von Berlin: Beschluss vom 25.04.1997, SWFKB, GBM, Nr. K17; Abgeordnetenhaus von Berlin: Beschluss Nr. 97/27/39 A vom 28.04.1997. 353 Heuwagen, Marianne: »Und der Rest ist Abriss«, in: Süddeutsche Zeitung vom 07.05.1997.
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Um die Existenz der Massen- und Kriegsgräber zu klären, auch da die SenStadtUm die Aussagen der Sophiengemeinde stark bezweifelte, wurde nur wenige Tage nach der Parlamentssitzung ein Fachgutachten in Auftrag gegeben.354 Bei einer Besprechung mit allen beteiligten Einrichtungen und Instanzen (Bezirke, Senatsverwaltungen, Ämter, Kirchen etc.) kamen alle überein, dass eine über den Kohlhoff-Entwurf hinaus gehende Erhaltung der Mauer anzustreben sei und nachgewiesene Massengräber in der Gesamtgestaltung Berücksichtigung finden sollten. Über die Fortführung des Kohlhoff-Entwurfes hingegen konnte zunächst noch kein Konsens unter den Betroffenen erreicht werden, auch wenn die Sophiengemeinde – ebenfalls in plötzlichem Sinneswandel – nun sogar die Idee eines multimedialen Informationszentrums dulden wollte.355 Unterdessen holte sich die SenStadtUm (seit der StS-Konferenz inzwischen federführend) vom BMI das Einverständnis, dass es einer Finanzierung der Gedenkstätte Berliner Mauer auch nicht im Wege stehen würde, wenn es nicht zu einer Realisierung des Kohlhoff-Entwurfes käme.356 Allerdings musste für diesen Fall eine vollkommen neue Verwaltungsvereinbarung und eine neue Förderhöhe verhandelt werden. Durch die angespannte Haushaltslage bedeute dies nicht nur Risiken, sondern neue Zeitverluste.357 Die SenKult befürchtete durch den Vorstoß Strieders daher eher insgesamt eine Gefährdung des gesamten Projektes und schlussfolgerte »[…] wenn man dem Vorschlag von SenStadtUmTech folgen würde, [hätten] wir nicht nur in diesem Jahr, sondern möglicherweise auch in Zukunft weder eine als solche erkennbare Gedenkstätte […], noch die Mittel […], um die verbliebenen Mauerteile vor Ort zu erhalten«.358 Damit deutete die SenKult auch an, dass durch die vorangegangenen Planungsverzögerungen und Mittelübertragungen eine Haushaltssperre durch den Bund drohte und der nun durch SenStadtUm forcierte Purismus (Erhalt ohne Kohlhoff-Entwurf) sich dementsprechend eher kontraproduktiv für das gesamte Vorhaben entpuppte (»die zugesagte Fertigstellung zum 13. August 1997 ist durch Strieder-Vorstoß bereits nicht mehr zu halten«).359 Um das Projekt doch noch irgendwie zu retten, versuchte die SenKult zu argumentieren, dass Erhalt der Mauer und Kohlhoff-Entwurf sich nicht ausschließen würden, sondern eher sinnvolle gegenseitige Ergänzung seien, und boten die Architekten Kohlhoff und Z., unisono mit der Kulturverwaltung, nun sogar an, dass ihr Entwurf auch mit einer fortlaufenden Mauer jenseits der Stahlwände zu realisieren wäre. 360 Die SenStadtUm ließ dies unbeeindruckt. Sie hielt an ihrer Auffassung fest:
354 SenStadtUm: Gesprächsvermerk vom 30.04.1997, SWFKB, GBM, Nr. K12. 355 Heuwagen, Marianne: »Und der Rest ist Abriss«, in: Süddeutsche Zeitung vom 07.05.1997. 356 SenStadtUm: Vermerk vom 05.05.1997, SWFKB, GBM, Nr. K12. 357 SenKult: Vermerk vom 13.05.1997, SWFKB, GBM, Nr. K12; Schreiben des BMI an SenStadtUm vom 22.05.1997, SWFKB, GBM, Nr. 685. 358 SenKult: Vermerk vom 16.05.1997, SWFKB, GBM, Nr. K12. 359 Ebd. 360 Schreiben des Architekten Z. an SenKult vom 16.05.1997, SWFKB, GBM, Nr. K12.
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»Nicht mehr das Kunstereignis ›Mauergedenkstätte‹ wird als sinnvolle Lösung angesehen. Das Verständnis geht jetzt davon aus, dass das Geschichtsdokument an sich bereits die Gedenkstätte ist, die es mit dem Originalitätsanspruch zu bewahren gilt. Einhellig wird daher Authentizität gewünscht. […] Der Wettbewerb Kohlhoff & Kohlhoff darf bei allem Respekt vor der künstlerischen Konzeption aus zwingenden Gründen nicht umgesetzt werden. [Herv. i.O.]«361
Kurios daran war, dass nun gerade diejenige Verwaltung plötzlich hartnäckig Authentizität bzw. Originalität verlangte, die in den vergangenen Jahren in dieser Hinsicht Rekonstruktionen strikt abgelehnt, Zerstörungen und Abrisse toleriert bzw. geduldet und sich bisher hartnäckig für Minimallösungen stark gemacht hatte. Dass es der SenStadtUm allerdings nicht nur Geschichtspflege ging, sondern ganz manifest um profane Kostenentlastung bei der Pflege des Flächendenkmals, wurde erst dann augenscheinlich, als die SenStadtUm den Vorschlag unterbreitete, die 2,3 Millionen DM Bundesmittel als Grundstock für eine Stiftung zu nutzen, deren Erlöse dann den Unterhalt der Denkmalanlage decken könne.362 Kurz, die SenStadtUm wollte die Bundesmittel nicht in einem Kunstobjekt gebunden sehen und auf den Unterhaltungskosten sitzen bleiben, sondern plante das Areal durch eine Stiftungsgründung haushaltsmäßig langfristig abzustoßen. Das erklärt, weshalb kein Protokoll angefertigt wurde, als bei einer verwaltungsinternen Abstimmung die beteiligten Vertreter 3:2 für den Kohlhoff-Enwurf plus Mauererhalt votierten.363 Auch erklärten sich auf diese Weise alternative SenStadtUm-Konzeptionen, die fortan nur noch auf den denkmalpflegerischen Aspekt fokussierten und die gesellschaftspolitische Aufgabe, eine würdige Gedenkstätte für Opfer der deutschen Teilung zu schaffen, vollständig in den Hintergrund rückten.364 Diese Entwicklungen sowie die reale Gefahr, dass das gesamte Projekt zu scheitern drohte, veranlassten den Senator Radunski sich noch vor der nächsten Senatssitzung persönlich an den Regierenden Bürgermeister zu wenden, um diesen über die komplexe Sachlage in Kenntnis zu setzen und direkt Einfluss zu nehmen auf den anstehenden Entscheidungsprozess im Sinne einer Kohlhoff plus-Lösung, gab es doch keine gesicherte Alternative mehr. 365 Damit kam der Senator der Bitte Diepgens zuvor, der die Senatoren (der SenStadtUm und der SenKult) schriftlich aufforderte, dringend Vorschläge und Konsequenzen vorzulegen.366 Gleichzeitig äußerste der Regierende Bürgermeister sein Unverständnis darüber, das die Federführung ohne sein Wissen an SenStadtUm übergegangen war und verlangte eine
361 362 363 364 365
SenStadtUm: Vermerk vom 23.05.1997, SWFKB, GBM, Nr. K12. Ebd. SenKult: Vermerk vom 04.06.1997, SWFKB, GBM, Nr. 685. Ebd. Schreiben der SenKult Senator Radunski an Regierenden Bürgermeister Diepgen vom 05.06.1997, SWFKB, GBM, Nr. K12 366 Schreiben des Regierenden Bürgermeisters Diepgen an SenKult Radunski und SenStadtUm Strieder vom 05.06.1997, SWFKB, GBM, Nr. 685.
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Rückverlagerung zur SenKult, die immerhin federführend für Gedenkstättenfragen zuständig war.367 Gestützt auf das inzwischen vorliegende Fachgutachten368 plädierte die SenStadtUm in ihrer vom Regierenden Bürgermeister angeforderten ATO-Senatsvorlage weiterhin für die Betonung des rein Dokumentarischen, für einen vollständigen Verzicht auf eine künstlerische Bearbeitung, und vor allem machte sie ihre geschichtspolitisch unmissverständliche Haltung klar, dass die Teilung Deutschlands und die Opfer der Teilung absoluten Vorrang bei dieser Dokumentation genießen müssten gegenüber anderen Zeitebenen.369 Damit setzte sie sich über die langjährigen Forderungen und vertraglichen Regelungen mit der Sophiengemeinde hinweg und widmete die Gedenkstätte ausschließlich der deutschen Teilung (und nicht mehr den Opfern des Zweiten Weltkrieges). Dies entsprach keineswegs der geschichtspolitischen Haltung der SenKult, die sich weiterhin für eine Würdigung der Kriegsgräber (auch wenn diese nachgewiesenermaßen nicht mehr vorhanden waren) und für eine behutsame Darstellung der verschiedenen historischen Schichten aussprach: »Darauf hinzuweisen, dass die Geschichte in Berlin wie eine Zwiebelhaut übereinander liegt und die Mauerbauer keine Rücksicht auf Friedhöfe, Massengräber oder Kirchen nahm[en], erscheint gerade hier angemessen.«370 Während also die SenStadtUm gebetsmühlenartig auf die Beantwortung der Frage hinarbeitete, ob es überhaupt noch eine künstlerisch gestaltete Gedenkstätte auf 70m geben solle, oder eher eine Gedenkstätte, die eine historische Situation dokumentiert, suchte die SenKult eine Antwort darauf zu finden wie man damit umzugehen habe, dass jetzt plötzlich soviel mehr Mauer zur Verfügung stehe. Da die SenKult Jahre lang für den Erhalt der Mauer gekämpft hatte, schloss sie sich der SenStadtUm in der Frage des Mauererhaltes bedenkenlos an. Nur in der Frage, ob Kohlentwurf oder nicht, sperrte sie sich. Sie befürchtete, dass ein Verzicht auf den Kohlhoff-Entwurf dafür sorgte, dass die zweckgebundenen Gelder des Bundes unter Umständen nicht mehr fließen könnten. Infolgedessen werde eine wie auch immer geartete Gedenkstätte auf den »St. Nimmerleinstag« verschoben, gab die SenKult zu Bedenken.371 Deswegen wollte sie eine Gedenkstätte noch in dieser Legislaturperiode und finanziert durch die bereits bewilligten 2,3 Millionen DM des Bundes. Mit der Vorstellung, dass eine Dokumentation und eine vollständiger Mauererhalt dem Kohlhoff-Entwurf nicht entgegenstehen
367 Schreiben des Regierenden Bürgermeisters Diepgen an SenKult Radunski vom 05.06.1997, SWFKB, GBM, Nr. 685. 368 Schreiben von J. & H. vom 28.05.1997, SWFKB, GBM, Nr. K12. Daraus ging klar hervor, dass Gräberumbettungen zwischen 1964 und 1970 erfolgt waren und sich seither keine Massen- und Kriegsgräber mehr auf dem Grenzstreifen bzw. an den durch Mauerabrisse gekennzeichneten Lücken befanden. 369 SenStadtUm: ATO-Besprechungsunterlage für die Senatssitzung am 10.06.1997, SWFKB, GBM, Nr. 685. 370 SenKult: Vermerk vom 06.06.1997, SWFKB, GBM, Nr. 685. 371 Ebd.
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würden, sondern sinnvolle Ergänzungen seien, ging sie daher in die ATOVerhandlungen mit dem Senat.372 Unterstützung erhielt die SenKult durch die Kirchengemeinde Versöhnung, den Bezirk Wedding sowie durch den kulturpolitischen Sprecher der CDU, der in der letzten Ausschusssitzung vor der Senatssitzung seinen Abgeordnetenkollegen klar machte: »Jeder Alternativentwurf – um das gleich vorweg zu sagen – hat den fehlenden Charme, dass er nicht finanziert ist. […] ›Kohlhoff plus‹, verehrter Herr Senator Strieder, wollen wir Ihnen auch ans Herz legen […].«373 Rückendeckung erhielt die SenKult aber auch durch die SPD-Fraktion, die den Fehler einräumte, in der Vergangenheit von der Voraussetzung ausgegangen zu sein, dass nicht die ganze Mauer erhalten werden könne und daher nunmehr an die Architekten appellierte, ihren Entwurf in Richtung »Gedenkstätte und Dokumentation« zu überarbeiten und zwar so, dass das Dokument Priorität erhalte: »Es ist absurd, niemand würde sich bei Konzentrationslagern einfallen lassen, diese abzureißen, um dort eine künstlerische Überhöhung der historischen Ereignisse umzusetzen. […] Es sollte geprüft werden, ob wir hier eine historische Dokumentation durchsetzen können. Ich bin Pragmatikerin genug um zu sagen: Versuchen sie es mit Kohlhoff und nicht gegen ihn.«374
Die Fürsprecher für die SenStadtUm-Variante und gegen den Kohlhoff-Entwurf fanden sich u.a. in den Reihen der PDS, die an der von SenStadtUm in den Vordergrund gestellten Frage »Gedenkstätte oder Dokumentation?« festhielt und sich eine »Kohlhoff plus«-Lösung (als Widerspruch in sich, setzte der ursprüngliche Kohlhoff-Entwurf doch auf den Effekt des restlosen Abrisses der umliegenden Grenzanlagen) nicht vorstellen konnte.375 Aber auch Vertreter der Grünen unterstützten den Vorschlag der SenStadtUm vor allem als Kritiker der Sophiengemeinde, indem sie die Haltung einnahmen: »Der größtmögliche Konsens sollte im größtmöglichen Erhalt noch verbliebener Reste liegen. Das sind 210 Meter mit der Rekonstruktion der von Ihnen herausgerissenen Reste, Herr [H.].«376 Dass die Argumente allerdings auch quer durch die Parteien gingen, zeigte der Einwand des CDU-Abgeordneten P., der sich gegen den kulturpolitischen Sprecher seiner Partei stellte: »Der Charme von Kohlhoff ist auch die Finanzierung. – Das ist keine glückliche Voraussetzung für ein Mahnmal.«377 Dass es aber genau darum auch der SenStadtUm die ganze Zeit ging, unabhängig von höheren Erinnerungs- und Gedenkansprüchen, brachte der Vorschlag Strieders am Ende der Ausschussdebatte auf den Punkt:
372 Ebd. 373 Abgeordnetenhaus von Berlin, Wortprotokoll 13/3 der 3. Sitzung vom 09.06.1997, Ausschuss für Wissenschaft, Forschung und Kulturelle Angelegenheiten, S. 1. 374 Ebd., S. 3, 26. 375 Ebd., S. 25. 376 Ebd., S. 24. 377 Ebd.
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»Wir versuchen eine Dokumentation der 120m und fragen den Bund, ob er diese 2,3 Millionen DM dafür zur Verfügung stellt. Wenn er nein sagt und wir keine eigenen Finanzierungsmöglichkeiten sehen, sagen wir: Dann wird das Kohlhoff-Modell erst einmal verwirklicht, und wir müssen sehen, wie wir die 150m weiter finanzieren können. […] wir müssen eine Lösung für den Unterhalt des Areals finden und einen Ersatz […] finden für Ihre [Sophiens] Wirtschaftsfläche […]. Aber alles das – das hat jeder hier gesagt – bedeutet: Es ist die Dokumentation der Mauer, und es ist nicht die Dokumentation eines historischen Friedhofs, der vor dem Bau der Mauer an dieser Stelle war! Das ist klar der Konsens in diesem Ausschuss.«378
Strieders Vorstoß hatte Erfolg. In der 64. Senatssitzung am 10. Juni 1997, einen Tag nach der Ausschussdebatte, beauftragte der Senat die SenStadtUm, beim Bund dessen Bereitschaft zu eruieren, die entsprechenden Mittel auch für das StriederKonzept zur Verfügung zu stellen. Parallel sollte die SenStadtUm ebenfalls herausfinden, ob die beteiligten Kirchengemeinden für diese Lösung zu gewinnen seien. Sollten verlässliche positive Voten nicht binnen der nächsten sechs Wochen vorliegen, sei dem Beschluss des Berlin-2000-Ausschusses vom 19. Dezember 1994 (Kohlhoff plus Teilerhalt der Vorderlandmauer) zu folgen: »Eine Option für den Erhalt weiterer Mauerteile sei dann auch noch möglich.«379 Während sich der erste Teil dieses Auftrages schnell durch eine parlamentarische Anfrage des MdB Markus Meckel (SPD) im Sinne der SenKult erledigte, stimmte die Antwort des BMI mit den bisherigen Befürchtungen der SenKult (neues Verfahren mit hohem Zeitverlust und Finanzierungsrisiken etc.) weitgehend überein und kam die Versöhnungsgemeinde dem zweiten Teil des Auftrages durch ganz eigene Planungsalternativen zuvor.380 Überraschend machte sich die Versöhnungsgemeinde daran, eine ganz eigene Lösung für das Erinnerungs- und Gedenk-Dilemma in der Bernauer Straße zu finden. So entstand durch die Versöhnungsgemeinde ein Konzept, das versuchte, alle bisherigen Überlegungen miteinander in Form eines »Ensembles Gedenkstätte ›Berliner Mauer‹« miteinander zu verbinden. Das Ensemble sah die weitgehende denkmalpflegerische Bewahrung der Grenzanlage, ihre künstlerische Bearbeitung, aber auch ihre historische Dokumentation im Gemeindehaus der Versöhnungsgemeinde sowie die Errichtung einer Kapelle auf dem Fundament des ehemaligen, gesprengten Kirchenschiffes der Versöhnungskirche vor.381 Damit entsprach das Konzept sowohl dem Bedürfnis der SenKult nach Planungssicherheit, Mahnmal und Mauererhalt (Kohlhoff plus) als auch dem Bedürfnis der SenStadtUm nach Denkmalschutz, Dokumentation und historischer Information (Mauererhalt, Doku-
378 Ebd., S. 42. 379 Regierender Bürgermeister von Berlin: Protokollauszug aus der 64. Senatssitzung vom 11.06.1997, SWFKB, GBM, Nr. 685 380 SenKult: Vermerk vom 17.06.1997, SWFKB, GBM, Nr. 685. 381 Evangelische Versöhnungsgemeinde: Ensemble Gedenkstätte Berliner Mauer« mit Informationsstätte »Berliner Mauer« in der Bernauer Straße 111 und Kapelle der Versöhnung. Vorschlag für einen Konsens vom 12.06.1997, SWFKB, GBM, Nr. K16.
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mentationsräume). Der Vorschlag beinhaltete sogar das Angebot, eine Aussichtsplattform auf dem Dach des Gemeindehauses einzurichten, damit Besucher die Möglichkeit hätten, von oben auf die Denkmalanlage sehen zu können.382 Diese »Versöhnungs-Konzeption« (im doppelten Wortsinn) eignete sich die SenKult umgehend an und brachte sie in die nächste dafür vorgesehene Senatssitzung am 05. August 1997 ein.383 Ihre Senatsvorlage signalisierte das Einverständnis der Kirchengemeinden für eine Kohlhoff plus-Lösung, befürwortete die Bewahrung der vorhandenen Grenzanlage und empfahl eine konzeptionelle Abstimmung mit Blick auf das Versöhnungsangebot bis November des Jahres.384 Zeitgleich legte die SenStadtUm ein denkmalpflegerisches Gutachten vor, das die Argumente für eine Bewahrung des historischen Ortes und diesbezügliche denkmalpflegerische Sanierung stärkte. Ein dem Gutachten beigefügter Gedenkstättenentwurf sah neben dem Erhalt der gesamten Maueranlage auf 210m nun auch vor, dass die Fundamente der Friedhofsmauer sichtbar zu machen seien, das Schwesterntor rekonstruiert werde und auf dem Todesstreifen Mauersegmente aufzustellen seien.385 Die Gestaltung der ehemaligen Massen- und Kriegsgräber – so die beigefügte Zeichnung – sollte erst später festgelegt werden.386 Die Zusage des Bundes, die Versöhnungs-Konzeption sowie das denkmalpflegerische Gutachten zwangen den Senat schließlich dazu, die Realisierung des Kohlhoff-Entwurfes erneut abzusegnen und zugleich den Grenzstreifen als Gesamtdenkmal zu erhalten. Der Beschluss vom 05. August 1997 lautete: »Nach ausführlicher Aussprache beschließt der Senat die Errichtung […] nach dem Entwurf der Architekten Kohlhoff & Kohlhoff und bestätigt damit die entsprechende Beschlussvorlage im Ausschuss 2000 vom 19. Dezember 1994.« Ferner entschied der Senat, »[…] die an der Bernauer Straße vorhandenen Mauerreste zu erhalten, die herausgerissenen Teile wieder zu ergänzen und dauerhaft zu sichern«.387 Zwei Senatoren stimmten dem ersten Punkt nicht zu, unter den beiden erwartungsgemäß Senator Strieder der SenStadtUm. Dennoch hatte die Berliner Kulturverwaltung ihr jahrelang verfolgtes Ziel erreicht, nämlich »[…] die Erinnerung an die für das Leben der Menschen beiderseits der Grenze so folgenschwere Teilung der Stadt wach zuhalten und auch nachfolgenden Generationen eine anschauliche Vorstellung von ihrer bedrückenden Wirklichkeit zu vermitteln«.388
382 Ebd., S. 4. 383 SenKult: Senatsvorlage Nr. 983/97 zur Beschlussfassung vom 23.07.1997, SWFKB, GBM, Nr. K15. 384 Ebd., S. 3. 385 Landesdenkmalamt Berlin: Kirchhof II Sophien-Gemeinde, Denkmal Grenzsicherungsanlagen Bernauer Straße Berlin. Denkmalpflegerisches Gutachten vom Juli 1997, ArGBM, Geschäftsablage o. Sign. 386 Ebd. 387 Regierender Bürgermeister von Berlin: Senatsbeschluss Nr. 983/97 vom 06.08.1997, SWFKB, GBM, Nr. K15. 388 Schreiben der SenKult an Petitionsausschuss des Abgeordnetenhauses von Berlin vom 15.10.1997, SWFKB, GBM, Nr. 683.
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Neben diesen grundsätzlichen Beschlüssen entschied der Senat in dieser Sitzung zudem, dass die ehemaligen Massen- und Kriegsgräber des Zweiten Weltkrieges eine Markierung erhalten sollten und eine Gedenktafel der Opfer des Zweiten Weltkrieges an der Gehwegseite der Bernauer Straße angebracht werde.389 Dies war nicht Bestandteil der Endfassung der Senatsvorlage der SenKult gewesen, sondern nur Teil eines Vorentwurfes. Der Senat hielt diesen Aspekt offenbar jedoch (anders als die SenKult) für wichtig genug, darüber außerhalb der Tagesordnung ebenfalls zu befinden.390 Der Senat hoffte, durch dieses deutliche Zugeständnis an die Sophiengemeinde bei der Umsetzung der »Kohlhoff plus«-Variante nicht erneut behindert zu werden. Hierzu gehörte auch das Versprechen, für die Sophiengemeinde einen äquivalenten Ersatz zu organisieren für deren bisherige Wirtschaftsfläche (Kompostieranlage) an der Bergstraße direkt im Todesstreifen.391 Allein der PDS und der Sophiengemeinde reichte dieser Beschluss nicht. Die Sophiengemeinde lehnte die Mauerlückenschließung ab. Sie forderte stattdessen eine Wiederherstellung des Hauptweges mit Schwesterntor und bestand darauf, die vorhandene Wirtschaftsfläche in einer Höhe von 1,60m weiternutzen zu dürfen.392 Diesen Forderungen wurde allerdings nicht entsprochen. Man einigte sich lediglich auf eine vorübergehende Öffnung des Schwesterntores als Baustelleneinfahrt.393 Die PDS brachte noch einen weiteren Antrag ins Parlament ein, der eine grundlegende Überarbeitung des Kohlhoff-Entwurfes und seine Anpassung an die neuen Rand- und Rahmenbedingungen verlangte.394 Dieser wurde jedoch obsolet, als mit dem Beginn der Umsetzung des Wettbewerbsentwurfes auch eine Beauftragung der Architekten für die Gestaltung des restlichen Grenzareals (in Zusammenarbeit mit Landesdenkmalamt und Sophiengemeinde) einherging.395 Der Antrag wurde daraufhin zurückgezogen.396
389 SenKult: Pressemitteilung »Radunski: Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße kann jetzt gebaut werden« vom 05.08.1997, SWFKB, GBM, Nr. 683. 390 Vgl. ebd. 391 SenStadtUm: Vermerk vom 06.08.1997, SWFKB, GBM, Nr. K17. 392 Ebd., S. 2. 393 SenKult: Ergebnisprotokoll 1. Koordinierungsgespräch vom 25.09.1997, SWFKB, GBM, Nr. K15. 394 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 13/1926 vom 19.08.1997, Antrag der Fraktion der PDS. 395 SenKult: Vermerk vom 25.08.1997, SWFKB, GBM, Nr. K15; SenKult: Ergebnisprotokoll 1. Koordinierungsgespräch vom 25.09.1997, S. 4, SWFKB, GBM, Nr. K15. 396 Schreiben der SenKult an Regierenden Bürgermeister vom 09.09.1997, SWFKB, GBM, Nr. K17; SenKult: Antwort (Schlussbericht) auf die Kleine Anfrage 13/2045 vom 24.09.1997, Parlamentsdokumentation Berlin; Abgeordnetenhaus von Berlin, Inhaltsprotokoll 13/10 der 10. Sitzung vom 17.11.1997, Ausschuss für Wissenschaft, Forschung und Kulturelle Angelegenheiten, S. 12.
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Die Versöhnungsgemeinde übernahm unterdessen die Federführung in Sachen Gedenkstätten-Ensemble. Bereits im Oktober 1997 legte sie eine detaillierte Konzeption für ein Dokumentationszentrum (DZ) in den Räumen der Gemeinde in der Bernauer Straße 111 vor,397 entwickelte einen Zeitplan und eine Kostenübersicht für eine schrittweise Umsetzung des gesamten Gedenk-Ensembles,398 organisierte zusammen mit der SenKult die Festveranstaltung zum Spatenstich der KohlhoffGedenkstätte am 09. November 1997 und bereitete akribisch die am gleichen Tag vorgesehene Gründung eines Trägervereins »Dokumentationszentrum Berliner Mauer« vor.399 Am 09. November 1997 begann der Bau der »Gedenkstätte Berliner Mauer«. Am gleichen Tag wurde der Arbeitskreis zur Gründung des Trägervereins »Gedenkstätte Berliner Mauer e.V.« mit einer konstituierenden Sitzung in den Räumen der Versöhnungsgemeinde und des zukünftigen DZ ins Leben gerufen. Zu den Gründungsmitgliedern zählten Helmut T., Gabriele Camphausen (Leiterin der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen), der StS der SenKult sowie der Pfarrer der Versöhnungsgemeinde Manfred F.400 Der Festakt wurde begangen unter der Anwesenheit des Regierenden Bürgermeisters Diepgen, dem Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg und dem Kultursenator Radunski.401 Diepgen versäumte dabei nicht, die vergangen Jahre in seiner Rede zu kommentieren mit den Worten: »Der Streit darum war nicht immer konstruktiv, zuweilen regelrecht unerfreulich.«402 Bischof Huber, der sich frühzeitig für den Gesamterhalt der 210m neben der Verwirklichung des Kohlhoff-Entwurfes eingesetzt hatte, ging in seiner Ansprache deutlich auf Distanz zur Sophiengemeinde, die durch Abwesenheit glänzte.403
397 Evangelische Versöhnungsgemeinde: Planung Dokumentationszentrum an der Gedenkstätte »Berliner Mauer« vom 15.10.1997, SWFKB, GBM, K18. 398 Ebd. 399 Schreiben der Versöhnungsgemeinde an SenKult vom 03.11.1997, SWFKB, GBM, Nr. K18; Schreiben der Versöhnungskirche an Gedenkstätte Berlin Hohenschönhausen vom 03.11.1997, SWFKB, GBM, Nr. K18; SenKult: Stellungnahme vom 30.10.1997, SWFKB, GBM, Nr. 685. 400 SenKult: Vermerk vom 07.11.1997, SWFKB, GBM, Nr. K18; Arbeitskreis zur Gründung des Vereins »Gedenkstätte Berliner Mauer« e.V.: Protokoll Nr. 1/97 vom 09.11.1997, SWFKB, GBM, Nr. K18. 401 SenKult: Pressemitteilung: Baubeginn zur Errichtung der Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße vom 03.11.1997, in: Evangelische Versöhnungsgemeinde: Planung Dokumentationszentrum an der Gedenkstätte »Berliner Mauer« vom 09.11.1997, SWFKB, GBM, Nr. K18. 402 Eberhard Diepgen z.n. Jürgens, Isabell: »›Brutalität der Grenzziehung‹ nicht vergessen«, in: Berliner Morgenpost vom 10.11.1997. 403 Huber, Wolfgang: »Eine Gedenkstätte, die ihren Namen verdient. Rede anlässlich des 13. August 1997«, in: Evangelische Versöhnungsgemeinde: Planung Dokumentationszentrum (1997), SWFKB, GBM, Nr. K18; Mönch, Regina: »Schlusspunkt unter den Streit um die Mauergedenkstätte«, in: Der Tagesspiegel vom 10.11.1997. Zum Auftakt
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Inhaltlich bildete das am gleichen Tag veröffentlichte Planungskonzept der Versöhnungsgemeinde die Grundlage der weiteren Gedenkstättenentwicklung.404 Es umfasste die Besucherinformation und -betreuung, Serviceangebote, Archivierung, die technische wie auch didaktische Ausstattung etc. und ging damit viel weiter als zwischenzeitige Planungen und Konzepte, die sich ausschließlich mit ästhetischen Fragestellungen befasst hatten.405 Damit hatte die Versöhnungsgemeinde das geliefert, was die Wettbewerbsbeiträge an historischer Aufarbeitung und Vermittlung vermissen ließen. In gewisser Weise entsprach das DZ somit eher den damaligen DHM-Planungen zu einer Ausstellungshalle bzw. Informationspavillons, nur dass der Standort jetzt nicht mehr das Grenzgelände selbst war, sondern das Gemeindehaus der Versöhnungsgemeinde. Durch die Beteiligung von Helmut T. im Arbeitskreis zur Vereinsgründung näherte sich die Gedenkstätte auch personell wieder den Vätern der Gedenkstättenidee an. Schließlich entsprach auch der Wunsch der SenStadtUm nach einem Erhalt der bestehenden Grenzanlagen auf einer Gesamtlänge von 210m (inklusive Schließung der inzwischen entstandenen Mauerlücken) infolge des personellen Wechsels an ihrer Spitze den Ursprungsvorstellungen des Ostberliner Magistrats und des DHM. Die Tendenz des Schleifens der Zeugnisse der DDR-Vergangenheit wurde endgültig – so scheint es – also erst Ende 1997 überwunden.
3.6 D ER S TREIT
UM
W IDMUNG
UND I NSCHRIFT
Fakt ist, dass sich bis zum 09. November 1997 kaum einer der Beteiligten über die konkrete politische Aussage bzw. Wirkung der Gedenkstätte Gedanken gemacht hatte. Bisher ging es Politik und Verwaltung ausschließlich um materielle Fragen (Eigentumsklärung, Denkmalpflege, Authentizität, Ästhetik, Finanzierung). Auch die Sophiengemeinde hatte ihre Argumente in den Jahren bis 1997 vor allem in materiellen bzw. erinnerungspolitischen Zusammenhängen vorgebracht, d.h. mit der Intension einer Rückübertragung und Nutzung des Geländes als Wirtschaftsfläche, Friedhof etc. Während diese erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen um ein Mauergedenken in der Bernauer Straße ab Baubeginn in den Hintergrund rückten, gerieten mehr und mehr geschichtspolitische Fragen in den Vordergrund. Der bisherige Protest der Sophiengemeinde stützte sich neben ihren Besitzansprüchen unter anderem auch auf die Aussage, es gebe am Ort der geplanten Gedenkstätte Kriegs- und Massengräber aus dem Zweiten Weltkrieg. Ohne hierfür stichhaltige Nachweise zu liefern, wurde diese Vermutung vorübergehend berücksichtigt bei der Vereinbarung zwischen Sophiengemeinde und dem Land Berlin
der Gedenkstätte siehe auch Aulich, Uwe: »Nach acht Jahren Baubeginn für die Gedenkstätte«, in: Berliner Zeitung vom 10.11.1997; Jürgens, Isabell: »›Brutalität der Grenzziehung‹ nicht vergessen«, in: Berliner Morgenpost vom 10.11.1997. 404 Evangelische Versöhnungsgemeinde: Planung Dokumentationszentrum (1997), SWFKB, GBM, Nr. K18. 405 Ebd.
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vom 20. Oktober 1993. So wurde dort der Name der vorgesehenen Gedenkstätte mit dem Zusatz »Gedenkstätte für die Opfer des 2. Weltkrieges« versehen. Aus dem Gutachten des Landesdenkmalamts zum Kirchhof II der Sophiengemeinde Berlin und zum Denkmal »Grenzstreifen Berliner Mauer« vom 28. Mai 1997406 ging nun aber hervor, dass Gräberumbettungen zwischen 1964 und 1970 erfolgt waren, sich seither also keine Massen- und Kriegsgräber mehr auf dem Grenzstreifen bzw. an den durch Mauerabrisse gekennzeichneten Lücken befanden. Da die ehemaligen Lagen der Gräber weitgehend lokalisiert werden konnten, wurde bei der weiteren Gestaltung der Gedenkstättenanlage seitens der SenKult daher nur noch eine angemessene Kennzeichnung in Aussicht gestellt.407 Damit endeten der von der Sophiengemeinde immer wieder ins Feld geführte Verweis auf vorhandene Kriegsopfer und die damit zusammenhängende Abwertung anderer historischer Spuren jedoch nicht, im Gegenteil. Die Sophiengemeinde nutzte die Festlichkeiten zum 09. November 1997 und den ersten Spatenstich, um auf ihrem Friedhofsgrundstück vor der zweiten Mauerlücke einen eigenen Gedenkstein aufzustellen, auf dem geschrieben stand: »Gedenkstätte für die Opfer des Zweiten Weltkrieges«. Dieser Stein entsprach bei weitem nicht der getroffenen Vereinbarung, man werde die ehemaligen Massen- und Kriegsgräber angemessen würdigen, sondern provozierte eine geschichtspolitisch gewollte Umwidmung des Ortes, zumal gar keine Grabanlagen mehr vorhanden waren. Darüber hinaus legte diese Protesthandlung eine Interpretation nahe, auf dem Gelände seien andere historische Ereignisse und ihre Spuren außer die des 2. Weltkrieges nachrangig zu behandeln bzw. gänzlich zu vernachlässigen. Im Frühjahr 1998 nahm der Kreis der Opfer und der Hinterbliebenen der Opfer der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenzen diese Provokation der Sophiengemeinde und die konkreten Planungen der SenKult zum Anlass, sich mit einem umfassenden Memorandum beim Bundeskanzler Helmut Kohl zu beschweren: »Wir sind […] nicht länger gewillt, den politischen Skandal um die Errichtung der Gedenkstätte in Berlin hinzunehmen. Wir sind uns mit den Opferverbänden gegen die kommunistische Gewaltherrschaft einig, das vorgelegte Konzept des Berliner Senats darf nicht realisiert werden! Unser Protest richtet sich gegen das ›Kunstwerk mit Mauer‹. Er richtet sich gegen die absurde Vermischung von zwei völlig entgegen gesetzten Opfergruppen, den Opfern des 2. Weltkrieges und den Opfern der kommunistischen Gewaltherrschaft. Und besonders richtete sich unser Protest gegen die politisch falsche Aussage dieser Gedenkstätte: Opfer der deutschen Teilung.«408
Sie konstatierten, dass die Konzeption vollkommen der PDS-Geschichtsdarstellung folge, wenn es die Täter und die Opfer durch die offene Formulierung »Opfer der
406 Schreiben von J. & H.vom 28.05.1997, SWFKB, GBM, Nr. K12. 407 Vgl. hierzu auch Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 13/2378 vom 20.01.1998. 408 Kreis der Opfer und der Hinterbliebenen der Opfer der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze an den Bundeskanzler Kohl vom 26.01.1998, S. 2, SWFKB, GBM, Nr. K17.
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deutschen Teilung« nicht konkret benenne, das Grenzregime als bloße Teilung verharmlose sowie das Grenzregime als direkte Folge des 2. Weltkrieges darstelle. Sie wehrten sich gegen die von der Sophiengemeinde vertretene Haltung, dass die Mauer nicht eine »Erfindung von Walter Ulbricht und Erich Honecker« sei, sondern ein logisches Ergebnis von Hitlers Kriegspolitik. Sie hielten dieser Geschichtsinterpretation entgegen: »Die Errichtung der Todesmauer in Berlin und der Grenzsperranlagen […] dienten dem Machterhalt der SED-Diktatur. Für die Toten und Verletzten an der Grenze sind die kommunistischen Machthaber der SED allein verantwortlich.«409 Sie forderten, dass die Gedenkstätte »Ross und Reiter« nennen müsse, nicht dem Diktat der Sophiengemeinde folgen dürfe und appellierten an den Bundeskanzler: »Sollen wir im wiedervereinigten Deutschland auf dem Altar der kommunistischen Lüge ›Opfer der deutschen Teilung‹ erneut zu Opfern werden?«410 Die Betroffenen empfanden die bisherige Definition der Gedenkstätte insgesamt also als Verharmlosung der kommunistischen Verbrechen und ihrer Leiden sowie als Relativierung des DDR-Grenzregimes.411 So legten sie Wert darauf, die Opfergruppen nicht zu vermischen (Bombentote der letzten Kriegstage und Flüchtlinge einer kommunistischen Diktatur) und wandten sich gegen eine moralische Rehabilitierung der SED-Diktatur.412 Insgesamt erschien ihnen das Konzept der Gedenkstätte durch ihre Unkonkretheit und künstlerische Bearbeitung zu harmlos, zu unpolitisch und zu verschleiernd. Sie verlangten stattdessen eine Gedenkstätte mit einer eindeutigen politisch antikommunistischen Aussage. Gestalterisch forderten sie deswegen die Rekonstruktion der monströsen Grenzanlage mit der vollständigen technischen Ausstattung (Selbstschussanlagen, Sperrvorrichtungen, usw.): »Es geht uns dabei nicht um Gigantomanie, sondern darum, dass an einem authentischen Ort mit authentischen Mitteln die Grausamkeiten des SED-Regimes gegen seine eigene Bevölkerung dargestellt werden. […] Deutlich müssen die verhängnisvollen Folgen der kommunistischen Ideologie herausgestellt und die Kinder und Heranwachsenden gegen Gewalt und Unrecht sensibilisiert werden.«413
Sie kritisierten zudem, dass Betroffene bei der Konzeption nicht einbezogen worden wären, stattdessen die Sophiengemeinde, die bis zuletzt dem SED-Regime unkritisch gegenüber gestanden habe: »Wir vertreten jedoch den Standpunkt, das die überlebenden Opfer und die Hinterbliebenen der Toten in den Grundfragen der Gestaltung der Gedenkstätte mitwirken müssen. […] Wir sind keine manipulierbare und verfügbare Opfergruppe, die die Politiker je nach Bedarf an Gedenktagen für ihre pathetischen Reden und politischen Zwecke missbrauchen können. Von
409 410 411 412 413
Ebd. Ebd., S. 4. Ebd., S. 3-4. Ebd., S. 5. Ebd., S. 7.
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der ›Gedenkstätte Berliner Mauer‹ […] distanzieren wir überlebenden Opfer und die Hinterbliebenen der Opfer uns ausdrücklich […]. […] Es geht uns um die politische Aussage der Gedenkstätte.«414
Und an den Innenminister Kanther appellierten die Maueropfer und ihre Hinterbliebenen, der Bund möge sich nicht mehr jeglicher Verantwortung entziehen, möge sich politisch klar auf ihrer Seite positionieren bzw. die Machenschaften in Berlin nicht länger dulden.415 Sie monierten, dass »die gegenwärtige Bundesregierung überhaupt kein Interesse an der Errichtung einer nationalen ›Mahn- und Gedenkstätte für die Opfer der SED-Diktatur an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze‹ hat und auch die Zweckentfremdung von Steuergeldern, die in Berlin betrieben wird, nicht unterbinden will«.416
Inhaltlich-konzeptionell erarbeitete die Arbeitsgruppe entgegen diesen geschichtspolitischen Auffassungen ein bewusst unpolitisches, breit gefächertes Manuskript für die erste Ausstellung im DZ.417 Die Rahmenkonzeption setzte bewusst auf Multiperspektivität sowie auf eine individuelle Aneignung der verschiedenen Geschichtsebenen bzw. historischen Dimensionen, die sich mit dem Ort verbanden. Die Ausstellung sollte bewusst besucherorientiert und undogmatisch sein: »Ziel der Dokumentation ist nicht die Weitergabe feststehender Deutungsmuster, sondern die Förderung des selbständigen inhaltlichen Diskurses durch die Öffnung vielgestaltiger Informationsebenen.«418 Diese Informationsebenen deckten sowohl die politischen Rahmenbedingungen für die deutsche Teilung (die globalgeschichtliche Perspektive) ab, als auch örtliche Besonderheiten der Bernauer Straße (die lokalgeschichtliche Perspektive) und individuelle Erfahrungen (die biographiegeschichtliche Perspektive).419 Didaktisch war vorgesehen, diesen multiperspektivischen Zugang über unterschiedliche parallel laufende Datenleisten, Themenvertiefungsstationen sowie anhand unterschiedlicher Medien (z.B. in Form von Computerterminals) zu vermitteln.420 Diese Multiperspektivität und der Anspruch an das Gedenkstätten-Ensemble, dass das Erinnern und Gedenken nicht allein auf Mauertote und Mauerversehrte reduziert werden könne, widersprachen den Forderungen der organisierten Maueropfer und ihrer Hinterbliebenen, die sich von der Gedenkstätte eine klare antikommunistische Botschaft erhofften. Auch stand die Definition der »Deutschen Tei-
414 Ebd., S. 8-9. 415 Schreiben von Klaus E. an BMI Innenminister Kanther vom 25.03.1998, SWFKB, SWFKB, GBM, Nr. K17. 416 Ebd. 417 Camphausen, Gabriele: Gedenkstätte »Berliner Mauer« in der Bernauer Straße. Konzeptionelle Vorschläge, Stand: 02.03.1998, SWFKB, GBM, Nr. K18. 418 Ebd., S. 4. 419 Ebd., S. 3. 420 Ebd., S. 4.
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lung« als ein breites Spektrum deutsch-deutscher Geschichte (von der BerlinBlockade 1948 bis zum Abriss der Mauer im Juni 1990) in krassem Gegensatz zu ihrem Vorwurf, es werde die antifaschistische Geschichtspropaganda fortgeführt. Die Konzeption suchte also geschichtspolitische »Neutralität«, sie war weder verharmlosend noch antikommunistisch angelegt. So ganz wollte es nicht gelingen, brachte das Konzept doch nun das individuelle Leid in Verbindung mit dem Verlust der Einheit der Nation.421 Unterdessen wurden die Initiativen des Kreises der Opfer und der Hinterbliebenen der Opfer der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze durch andere Opferverbände wie beispielsweise HELP e.V. unterstützt.422 Mit dieser Rückendeckung wurden die Vertreter der Maueropfer nicht müde einzufordern, die Grausamkeit des Ortes sei nicht länger durch eine künstlerische Überhöhung der Mauerreste zu verharmlosen: »Wir, die Opfer und Hinterbliebenen der Toten der SED-Diktatur, die den berechtigten und alleinigen Anspruch auf eine Gedenkstätte haben, distanzieren uns ausdrücklich von dieser geschichtsverfälschenden ›Gedenkstätte‹ Es wird eine sinn- und wertlose ›Gedenkstätte‹ gebaut. Sie kann nur zwei Zielen dienen: Sie wird dazu instrumentalisiert, um die SED-Diktatur aus der Verantwortung für die Toten und Verletzten an der Mauer und Stacheldraht zu entlassen. Sie soll geschichtslosen Politikern als Kranzabwurfstelle für Schaufensterveranstaltungen dienen. [Herv. i.O.]«423
Die bestehenden Vorhaben waren den Opfern, wie bereits herausgearbeitet, nicht nur zu wenig antikommunistisch, sondern – und das wird anhand dieses Zitates deutlich – die Organisation der Mauer-Opfer beanspruchte darüber hinaus alleinige Deutungshoheit und Gestaltungsmacht. Sie wollten nicht nur beim Entstehungsprozess der Gedenkstätte beteiligt werden, sondern sie wollten grundsätzlich und maßgeblich die Inhalte des Erinnerns und Gedenkens bestimmen. Beiträge für ein Erinnern und Gedenken jenseits aller Zeitzeugenschaft und Betroffenheit wurden als nicht legitim erachtet und genossen schnell den Ruf, nivellierend, verharmlosend und bagatellisierend zu sein.424 Sie forderten historische Wahrheit und Objektivität, unterliefen diese Forderung selbst aber durch das eigene, subjektiv geprägte Pathos.
421 Vgl. vorangegangene Ausführungen v.a.a. Verein Berliner Mauer – Gedenkstätte und Dokumentationszentrum e.V.: Das Dokumentationszentrum »Berliner Mauer« im Rahmen des Ensembles »Gedenkstätte und Dokumentationszentrum Berliner Mauer« in der Bernauer Straße. Rahmenkonzeption, März 1998, ArGBM, Geschäftsablage o. Sign. 422 Schreiben von HELP e.V. an Regierenden Bürgermeister von Berlin Diepgen vom 30.03.1998, SWFKB, GBM, Nr. K17. 423 Schreiben von Klaus E. an Versöhnungsgemeinde vom 21.04.1998, SWFKB, GBM, Nr. K17. 424 Dies führte in logischer Konsequenz dazu, dass das fachwissenschaftlich erarbeitete Rahmenkonzept ebenfalls nicht akzeptiert wurde, vgl. Schreiben des Kreises der Opfer und der Hinterbliebenen der Opfer der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze vom März 1998, SWFKB, GBM, Nr. K17.
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Zwar traf die Feststellung zu, dass die Verantwortlichen in den vergangenen Jahren unfähig gewesen waren, einen vernünftigen Umgang mit den Resten der Berliner Mauer zu finden, jedoch lief die Annahme vollkommen fehl, dass man dieses Problem lösen könne, indem man das Erinnern und Gedenken allein den ehemaligen Opfern und ihren Vertretungen überlassen müsse, widersprach dies doch der weltgeschichtlichen Dimension des historischen Ortes. Die zuständigen Stellen ließen sich von diesem massiven Protest der ehemaligen Opfer im April 1998 beeinflussen. So schlug die SenKult dem BMI (welches den Kohlhoff-Entwurf schließlich finanzierte und damit auch Mitbestimmungsrechte bezüglich der Inschrift erwarb) plötzlich unterschiedliche Textvarianten vor, in denen die Opfer nicht mehr als Opfer der deutschen Teilung definiert wurden.425 Es orderte eine Textfassung, die konform mit den Forderungen der Opfervertreter lief und aus dem »Gedenken der Opfer der deutschen Teilung« ein »Gedenken der Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft« machte.426 Entsprechend lautete nun die Ende Mai seitens der SenKult bevorzugte Volltextversion der für die Gedenkstätte Berliner Mauer vorgesehenen Inschrift: »Gedenkstätte Berliner Mauer ⎜ in Erinnerung an die Teilung der Stadt ⎜ vom 13. August 1961 bis zum 9. November 1989 ⎜ und zum Gedenken an die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft ⎜ errichtet durch die ⎜ Bundesrepublik Deutschland und das Land Berlin.«427 Auf die textlichen Ergänzungsvorschläge aus Berlin ließ sich das BMI trotz der Forderungen von Opferseite nicht ein und lehnte eine antikommunistische Botschaft in Zusammenhang mit der Gedenkstätte zunächst ab.428 Der vorläufig nicht mitgetragene Zusatz »kommunistischer Gewaltherrschaft« wurde erst einmal nicht
425 Schreiben der SenKult an BMI vom 28.04.1998, SWFKB, GBM, Nr. K17; Schreiben der SenKult an BMI vom 20.05.1998, SWFKB, GBM, Nr. K17. 426 Handschriftliche Ergänzung auf Anlage des BMI (o.D.) zum Schreiben der SenKult an BMI vom 20.05.1998, SWFKB, GBM, Nr. K17. Darauf eine handschriftliche Ergänzung der Inschrift. Diese aufgezählten Ergänzungswünsche konnten nicht das verhehlen, was auch seitens der SenStadtUm im Laufe des Jahres 1998 zunehmend scharf kritisiert wurde, nämlich die im Zuge der Errichtung der Gedenkstätte erfolgende »Verfremdung« der historischen Anlage. Die Auffassung der SenStadtUm, das Gelände sei maßstäblich verniedlicht worden und erleide einen immensen Bedeutungsverlust, lief dabei mit den Klagen der Opfervertreter konform. Ähnlich wie diese äußerte sich auch SenStadtUm abschätzig über schlecht erfolgte Restaurierungen, die überdies eher einen »Neuwert« geschaffen und den Dokumentarwert vollkommen aufgehoben hätten, vgl. Schreiben der SenStadtUm StS Stimmann an SenKult StS von Pufendorf vom 02.06.1998, SWFKB, GBM, Nr. K17. Auch scheute sich die SenStadtUm nicht, sogar mit einer Aufhebung des Denkmalschutzes für den gesamten Grenzstreifen zu drohen, werde seine geschichtliche Bedeutung weiterhin derart untergraben und komme es weiterhin nicht zur Mauerlückenschließung, der Gemeinde wie Landeskirche zwischenzeitlich zugestimmt habe, vgl. ebd.; SenKult: Vermerk vom 12.06.1998, SWFKB, GBM, Nr. 20. 427 Ebd. 428 Handschriftliche Ergänzung des BMI (via Fax) zu Inschriftentwurf-Anlage des Schreibens der SenKult an BMI vom 20.05.1998, SWFKB, GBM, Nr. K17.
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umgesetzt und der Ursprungstext ohne diese Ergänzung Anfang Juni 1998 in die Stahlwände graviert.429 Auf den anschließenden Vorschlag der SenKult, die Gravur »kommunistischer Gewaltherrschaft« wenigstens im Nachhinein (durch Kostenübernahme des BMI) hinzuzufügen, wurde seitens des BMI ebenfalls erst einmal nicht reagiert.430 Dies entsprach auch der Haltung der Architekten. Sie vertraten den Standpunkt: »Über diese Entwicklung sind wir besorgt. […] Allein der Begriff Gewaltherrschaft passt sicher für den Stalinismus und kommunistische Regime andernorts, aber nicht unbedingt für das Spitzelregime oder Grenzregime in der späten DDR. […] Eine Gedenkstätte für die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft war weder die Wettbewerbsaufgabe, noch kann die Gedenkstätte Berliner Mauer diesem nachträglich übergestülpten Sinn gerecht werden.«431
Zur gestalterischen Interimslösung »aufgeklebte Platte« kommentierten die Architekten: »Aus gestalterischen Gründen lehnen wir diese Lösung ab.«432 Nur vier Wochen später änderte sich dies. Das BMI stimmte dem Vorstoß der SenKult zu. Bei einer gemeinsamen Begehung zwischen Bund und Land wurde nun festgelegt, dass eine Stahlblechtafel mit neuer Gravur hergestellt werde, die zur Eröffnung am 13. August 1998 auf die bereits bestehende als Provisorium aufgeschraubt werden sollte.433 Die inzwischen bestehende Inschrift »Gedenkstätte Berliner Mauer ⎜ in Erinnerung an die Teilung der Stadt ⎜ vom 13. August 1961 bis zum 9. November 1989 ⎜ und zum Gedenken an die Opfer« sollte ersetzt werden.434 Obwohl die Architekten Kohlhoff und Z. weiterhin eine Änderung der Inschrift ablehnten,435 wurde eine neue Tafel in Auftrag gegeben und eine weitergehende öffentliche Debatte um die Einwände der Opferverbände unterbrochen.436 Damit folgte auch das BMI den Vorstellungen der Opfer und ihrer Hinterbliebenen.437 Das bedeutete aber auch eine gezielte antikommunistische Abwendung der Gedenkstätte von bisherigen, vermeintlich »unpolitischeren« Lösungen. Wenn es der SenKult schon nicht gelang, eine gerade Linie zu fahren bezüglich der Spezifizierung »Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft«, versuchte sie we-
429 Abgeordnetenhaus von Berlin, Mündliche Anfrage Nr. 16, 46. Sitzung vom 11.06.1998, Fraktion Bündnis 90/Grüne; SenKult: Antwort auf die Mündliche Anfrage Nr. 16 vom 16.06.1998. 430 SenKult: Vermerk vom 12.06.1998, SWFKB, GBM, Nr. 20. 431 Schreiben der Architekten Z. & Kohlhoff an SenKult vom 14.07.1998, SWFKB, GBM, Nr. K17. 432 Ebd. 433 BMI: Vermerk vom 10.07.1998, SWFKB, GBM, Nr. K17. 434 SenKult: Vermerk vom 03.07.1998, SWFKB, GBM, Nr. K17. 435 Ebd. 436 Schreiben der SenBau an Architekt Z. vom 14.07.1998, SWFKB, GBM, Nr. K17. 437 Schuller, Konrad: »An der Bernauer Straße wacht eine Sphinx mit Pferdefüßen über die Opfer des DDR-Regimes«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06.07.1998; Schreiben von Klaus E. an BMI vom 06.07.1998, SWFKB, GBM, Nr. K17.
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nigstens zu verhindern, dass die Sophiengemeinde auf die Nennung der »Opfer des 2. Weltkrieges« weiter bestand, obwohl dies immerhin noch der gültigen Vereinbarung zwischen Land und Gemeinde vom Oktober 1993 entsprach. Das gemeinsame Gedenken an Grenzregime und Weltkrieg lief, wie oben bereits beschrieben, Gefahr von Opfergruppen als Verharmlosung bzw. Relativierung des DDR-Regimes interpretiert zu werden. Dies wollte die SenKult vermeiden.438 Die Sophiengemeinde hingegen forderte in einem weiteren Kirchenbeschluss: »Der Gemeindekirchenrat nimmt mit Befremden zur Kenntnis, dass die an der Gedenkstätte angebrachte und in der Tagespresse mitgeteilte Inschrift sowie […] der neue Text nicht mit der in der Vereinbarung vom 20.10.1993 festgehaltenen Bezeichnung übereinstimmt.«439 Um diesen Konflikt zu lösen wurde von der SenKult eine juristische Prüfung in Auftrag gegeben. Als Ergebnis sprach diese der Sophiengemeinde schließlich das Recht der Namensgebung bezüglich der Kohlhoff-Gedenkstätte ab.440 Der Verweis auf die Opfer des 2. Weltkrieges hatte ja ohnehin seine substanzielle Basis spätestens nachdem keine noch vorhandenen Massen- und Kriegsgräber nachgewiesen werden konnten verloren. Damit war im Grunde genommen auch die Geschäftsgrundlage für die Vereinbarung vom 20. Oktober 1993 entfallen. Dies hatte konsequenterweise zur Folge, dass auch das friedhofgerechte Anlegen und Kennzeichnen der ehemaligen Kriegs- und Massengräber eigentlich keine Grundlage mehr hatten, schließlich konnten ja nicht Gräber gestaltet werden, wo gar keine mehr waren. Die SenKult empfahl daher grundsätzlich entweder eine Vertragsauflösung (wegen Wegfall des Vertragsgegenstandes) oder das Schließen eines Ergänzungsvertrages.441 Daneben ließ auch eine einvernehmliche Lösung bezüglich der Mauerlückenschließung auf sich warten. Die SenKult unternahm zwar noch kurz vor der Einweihung des ersten Teiles des Gedenkstättenensembles einen letzten Versuch, erinnerungspolitisch den Weg zu ebnen für einen Regierungsbeschluss, der die Gesamtumstände berücksichtigte und diesbezügliche Kontroversen beenden helfen sollte, die von der SenKult diesbezüglich vorgebrachte ATO-Besprechungsunterlage wurde jedoch am 04. August 1998 innerhalb des Mitzeichnungsverfahrens von der SenStadtUm zurückgewiesen. Stadtpolitisch und grundsätzlich, so die Meinung der SenStadtUm, müsse »[…] entschieden entgegengetreten werden, dass es tatsächlich einer Kirchengemeinde zu gelingen scheint, den erklärten Willen einer Landesregierung sowie der gewählten Volksvertretung mit Billigung politischer Repräsentanten zu unterlaufen.«442 Da die Sophiengemeinde jedoch zu keinerlei Konzessionen bereit war, empfahl die SenKult resigniert, die Lücken einfach zu
438 Vgl. hierzu auch Schuller, Konrad: : »An der Bernauer Straße«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06.07.1998. 439 Gemeindekirchenrat von Sophien: Beglaubigter Auszug des Gemeinderatsbeschlusses vom 20.07.1998, SWFKB, GBM, Nr. K17. 440 SenKult: Ergänzungsvermerk vom 22.06.1998, SWFKB, GBM, Nr. K11. 441 SenKult: Vermerk vom 27.07.1998, Bestand: GBM, Nr. K11. 442 Schreiben von SenStadtUm Senator Strieder an SenKult Senator Radunski vom 21.07.1998, SWFKB, GBM, Nr. K17.
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akzeptieren.443 Der Kultursenator machte deutlich, »[…] auch ich bedaure zutiefst, dass zwischen dem politisch Wünschenswerten und dem real Machbaren, immer wieder Diskrepanzen bestehen, wie es sich am Fall der Durchsetzbarkeit des Senatsbeschlusses vom 05.08.1997 deutlich zeigt«.444 Damit verstrich die letzte Senatssitzung vor der Gedenkstätteneinweihung ohne eine Lösung dieses Konfliktes. Damit bei der Einweihung am 13. August 1998 also – nachdem der Inschriftstreit überwunden schien – das »richtige politische Zeichen« gesetzt werde, unterbrach Diepgen hierfür sogar seinen Urlaub, wurden alle Betroffenenverbände zum Festakt geladen und erhielten sie die Möglichkeit, Geleitworte zu sprechen.445 Die provisorische Platte, mit der eingravierten Schlussfassung »Gedenkstätte Berliner Mauer ⎜ in Erinnerung an die Teilung der Stadt ⎜ vom 13. August 1961 bis zum 9. November 1989 ⎜ und zum Gedenken an die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft ⎜ errichtet durch die ⎜ Bundesrepublik Deutschland und das Land Berlin ⎜ Entwurf: Kohlhoff & Kohlhoff« wurde rechtzeitig fertig gestellt und angebracht, sodass die Architekten die gesamte Stahlwandkonstruktion termingerecht an die SenKult übergeben konnten.446 Die Presse berichtete skeptisch, so fragte die FAZ ihre Leser: »Gewiss, es gilt der Maueropfer zu gedenken, all derer, die auf der Flucht von Deutschland nach Deutschland ermordet oder verletzt wurden. Aber ist ihrem Andenken wirklich mit einem veredelten Schreibchen der Mauer gedient, dass nichts weiß von Bedrohung, Ödnis, Angst?«447 Und die FR resümierte, noch einmal anspielend auf den damaligen Wettbewerb und den Inschrift-Streit: »So gesehen erzählt auch dieses Denkmal mehr von den Mühen mit der deutschen Nachkriegsgeschichte als von der Sache selbst.«448 Die Süddeutsche Zeitung spann den Bogen zur Gegenwart und zur Zukunft, indem sie darauf hinwies, dass die Querelen noch kein Ende hätten, es sei nur Stückwerk übergeben worden, »[…] denn ausgerechnet der Senat hat seine Verpflichtungen nicht erfüllt«.449 Soweit die Presseresonanz zum Umgang mit der Berliner Mauer anlässlich der Eröffnung der Gedenkstätte. Aber auch aus den Reihen der Politik wurden zum Festakt erinnerungs- und geschichtspolitische Anklagen laut. So adressierte Diepgen in seiner Ansprache an die PDS: »Man könne nicht
443 SenKult: ATO-Besprechungsunterlage vom 10.07.1998, SWFKB, GBM, Nr. K17. 444 Schreiben der SenKult Senator Radunski an SenStadtUm Senator Strieder vom August 1998, SWFKB, GBM, Nr. K17. 445 Schreiben der MdB Lengsfeld an SenKult, SenStadtUm, SenBau vom 30.07.1998, SWFKB, GBM, Nr. K17; LPD: Veranstaltung zum 13. August: Einweihung der Gedenkstätte Berliner Mauer und Kranzniederlegung am Fechter-Denkmal vom 10.08.1998, SWFKB, GBM, Nr. K17. 446 SenBau: Übergabeprotokoll vom 13.08.1998, SWFKB, GBM, Nr. K16. 447 Wefing, Heinrich: »Pompeji der deutschen Teilung«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.08.1998. 448 Frings, Ute: »Plötzlich wollten alle die Mauer erhalten«, in: Frankfurter Rundschau vom 13.08.1998. 449 Heuwagen, Marianne: »Erinnerung in Fragmenten«, in: Süddeutsche Zeitung vom 13.08.1998.
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Walter Ulbricht als großen deutschen Staatsmann feiern und sich gleichzeitig von den Schrecken der Mauer distanzieren.«450 Und im Namen der Opfer richtete sich der Vorsitzende des Kreises der Maueropfer und ihrer Hinterbliebenen an die Bundesregierung, sie solle tunlichst auch den Aufbau des DZ fördern.451
3.7 D AS D OKUMENTATIONSZENTRUM B ERLINER M AUER 1999-2004 Erst im Frühjahr 1999 zeichnete sich ab, dass von der SenFin endlich Landesmittel in Höhe von insgesamt ca. 280.000 DM für das Jahr 1999 für das DZ zur Verfügung gestellt werden sollten. Konkret waren die Mittel jedoch nur vorgesehen für die Errichtung einer ersten Werkausstellung in Zusammenarbeit mit dem Museumspädagogischen Dienst Berlin, die Installation eines Zeitzeugenbüros sowie für den jeweils laufenden Geschäftsbedarf.452 Es waren reine »Bordmittel« der SenKult. Obwohl die Eröffnung des DZ am 09. November 1999 der einzige Berliner Beitrag für das 50-jährige BRD-Jubiläum und den 10. Jahrestag des Mauerfalls werden sollte, war das Projekt somit finanziell weiterhin nicht abgesichert. Aufgrund dieser vagen Zukunftsperspektive, wandte sich der Trägerverein direkt an Diepgen, er möge sich doch auch politisch zu dem Gedenkstättenvorhaben bekennen und langfristige Planungen auch fiskalisch ermöglichen.453 Im Gegenzug versprach der Verein: »Die Bernauer Straße wird eine wichtige Funktion in der reichen Berliner Erinnerungslandschaft übernehmen […] vorausgesetzt die Dokumentationsstätte wird in ihrer Bedeutung politisch erkannt, anerkannt und entsprechend gefördert.«454 Parallel wurde die SenKult in Kenntnis gesetzt, würde diese Förderung weiter unterbleiben, sei die Einrichtung der vorgesehenen Ausstellungs- und Informationsangebote nicht möglich.455 Trotz dieser prekären Situation unterblieb eine klare Positionierung der Regierung in dieser Frage noch kurz vor Eröffnung des DZ. Zwar hatte eine diesbezügliche Senatsvorlage der SenKult im Juni 1999 ausführlich und inklusive Kostenbedarf Bericht erstattet, jedoch beließ es der Senat bei einer nochmaligen Bestätigung des Beschlusses vom 05. August 1998, nämlich nur die heraus getrennten Mauertei-
450 Z.n. Heuwagen, Marianne: »Erinnerung an einen Tiefpunkt der Geschichte«, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.08.1998. 451 Ebd. 452 Schreiben der SenKult an den Vorsitzenden des Hauptausschusses vom 17.03.1999, SWFKB, GBM, Nr. 20; Verein Berliner Mauer: Sachstandsbericht vom 19.05.1999, SWFKB, GBM, Nr. K18. 453 Schreiben des Vereins Berliner Mauer an den Regierenden Bürgermeister Diepgen vom 25.05.1999, SWFKB, GBM, Nr. 20.1. 454 Ebd., S. 2. 455 Schreiben des Vereins Berliner Mauer an die SenKult vom 27.05.1999, SWFKB, GBM, Nr. K 6.
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le wieder zu ergänzen und zu sichern.456 Darüber hinausgehende Festlegungen wurden nicht getroffen, außer dass die Senatoren nochmals gebeten wurden, Gespräche mit den Beteiligten, insbesondere der Sophiengemeinde zu führen.457 Erst als im Rahmen der Empfehlungen des Bundes über eine Beteiligung an Gedenkstätten Hauptstadtkulturmittel bezüglich der Errichtung des DZ als Möglichkeit in Betracht gezogen wurden,458 kündigte Diepgen zumindest pro forma eine breitere Unterstützung als bisher an und beauftragte er seinen Kultursenator Radunski, auch von Landesseite diesbezüglich aktiv zu werden: »Wie ich jetzt erfahren habe, gibt es […] eine Finanzierungslücke […]. Ich möchte Sie daher bitten […] unter Beteiligung der Bauverwaltung alles zu tun, um eine Realisierung des DZ zu ermöglichen.«459 Trotz dieser klaren Aufforderung, versäumte es Berlin jedoch die für das DZ avisierten Hauptstadtkulturmittel für die Jahre ab 2000 offiziell zu beantragen.460 Der politische Wille schien offenbar doch noch nicht auszureichen, um wirklich Taten folgen zu lassen. Der Verein Berliner Mauer nutzte deswegen das Jubiläum zum Mauerbau am 13. August 1999 und die anstehende Landtagswahl, um auf diese politische Gleichgültigkeit gegenüber der Gedenkstätte weiterhin aufmerksam zu machen und Handlungsdruck zu erzeugen.461 Während der finanziellen Unklarheiten nur wenige Wochen vor Eröffnung des DZ stellte der Verein Berliner Mauer unter der Federführung von Camphausen das Rahmenkonzept für die erste Werkausstellung fertig, wurde mit der Versöhnungsgemeinde für das DZ ein Nutzungsvertrag abgeschlossen und entwickelte ein Ausstellungsgestalter ein erstes Gestaltungskonzept bzw. ein erstes Drehbuch.462 Und obwohl die Gelder für das DZ nicht zur Verfügung standen, wurde an einer Eröffnung am 10. Jahrestag des Mauerfalls am 09. November 1999 festgehalten: »Angesichts des politischen Stellenwerts des Jahrestages und der hohen, im Laufe des Jahres gestiegenen Erwartungen an die Ausstellung kann keine low-level-Ausstellung geboten werden. Die Mittel des Landes Berlin aber reichen nur für eine Grundausstattung.«463
456 SenKult: Tischvorlage für die Senatssitzung am 08.06.1999, SWFKB, GBM, Nr. 682. 457 SenKult: Vermerk vom 16.06.1999, SWFKB, GBM, Nr. 682. 458 Schreiben der SenKult an BKM vom 14.07.1999, SWFKB, GBM, Nr. 20.1; SenKult: Senatsvorlage Nr. /99 vom 17.08.1999, SWFKB, GBM, Nr. 20.1. 459 Schreiben des Regierenden Bürgermeisters Diepgen an SenKult Senator Radunski vom 29.06.1999, SWFKB, GBM, Nr. 682. 460 SenKult: Vermerk vom 12.08.1999, SWFKB, GBM, Nr. 20.1. 461 Repke, Irina: »Weg, weg, weg«, in: Der Spiegel 28 (1999); o.V.: »Wie der Senat die Reste der Berliner Mauer retten will«, in: Frankfurter Rundschau vom 13.08.1999. 462 Verein Berliner Mauer: Konzept für die Werkstatt-Ausstellung im November 1999, SWFKB, GBM, Nr. K18; Verein Berliner Mauer: Nutzungsvereinbarung vom 01.08.1999, SWFKB, GBM, Nr. K 6; gewerk: Gestaltungsentwurf der Gesamtkonzeption für das Dokumentationszentrum zur Geschichte der Berliner Mauer vom 31.08.1999, ArGBM, Geschäftsablage o. Sign. 463 Verein Berliner Mauer: Sachstandsbericht zur Beiratssitzung am 02.09.1999, SWFKB, GBM, Nr. K18.
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Damit balancierte die Gedenkstätte noch kurz vor der Einweihung weiter auf einem Drahtseil. Dieser Balanceakt hatte erst im September ein scheinbar vorläufiges Ende. So sah die am 27. September 1999 durch den BKM Michael Naumann vorgelegte Gedenkstättenkonzeption des Bundes offiziell eine Mitfinanzierung des DZ durch Mittel der Hauptstadtkulturförderung, unabhängig von der tatsächlichen Antragslage vor.464 Über die Höhe machte die Konzeption zwar keinerlei Angaben, auch ließ diese Förderung vollkommen offen, ob es sich dabei um eine dauerhafte hälftige Beteiligung des Bundes am laufenden Unterhalt des DZ handeln sollte, oder um reine Errichtungskosten. Mit einem Satz hieß es einfach: »Für das geplante DZ sollen Mittel aus der Hauptstadtkulturförderung eingesetzt werden.«465 Damit blieben die konkreten Planungsunsicherheiten bestehen. Dennoch wurden unter Hochdruck das Rahmen- und das Gestaltungskonzept nur binnen sechs Wochen umgesetzt, sodass zur Eröffnung eine multimediale Werkstatt-Ausstellung mit Informationsstelen, Hörstationen, Dokumentenmappen, ein Besucher-Archiv, ein Dokumentarfilm und herkömmlichen Ausstellungselemente präsentiert werden konnten.466 Der Regierende Bürgermeister sagte indes seine Teilnahme an der Eröffnung des DZ am 09. November 1999 kurzfristig ab, nicht einmal der Kultursenator Radunski erschien, einzige Politprominenz blieb der Staatssekretär des BMI, der das DZ mit ein paar Begleitworten feierlich einweihte.467 Die überraschende Abwesenheit der verantwortlichen Politiker war neben terminlichen Engpässen vor allem begründet mit politischen Unstimmigkeiten im Vorwege der Veranstaltung. So reichte die SenStadtUm, ohne Abstimmung mit der SenKult, nur einen Tag zuvor eine Besprechungsunterlage zum Thema »Gesamtkonzept zum Umgang mit den Mauerresten« ein, die entgegen aller bisherigen Verhandlungen und Verträge nun vorschlug, nicht nur die Mauerlücken zu schließen, sondern eine vollständige Tiefenstaffelung der Grenzanlage auf voller Länge wieder herzustellen.468 Ausdrücklich empfahl die SenStadtUm, aufwendige Rekonstruktionen, vollkommen gegensätzlich zum bisherigen Handeln. Des Weiteren schlug die SenStadtUm vor, die inhaltliche Federführung der geplanten, städtischen erinnerungskulturellen »Gesamtkonzeption Berliner Mauer« der SenKult zu entziehen und dem Trägerverein Berliner Mauer zu übertragen, wurde diese Institution für sachgerecht genug gehalten.469 Die SenKult lehnte diesen Alleingang der SenStadtUm ab, zumal sie im gleichen Schritt auf der finanziellen Verantwortung für Errichtung, Unterhalt und Pfle-
464 Dt. BT , Drs. 14/1569 vom 27.07.1999. 465 Ebd., S. 24, vgl. auch Dt. BT: Bericht der Bundesregierung über die Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland, 1999, S. 57, ArGDT, Finanzierungskonzepte, AZ: 11333-9.2.1. 466 Verein Berliner Mauer: Sachstandsbericht zur Beiratssitzung am 02.11.1999, SWFKB, GBM, Nr. K18. 467 Ebd. 468 SenStadtUm: Neufassung. Besprechungsunterlage vom 03.11.1999, S. 5, SWFKB, GBM, Nr. 682. 469 Ebd., S. 6.
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ge des Areals sitzen bleiben sollte.470 An die SenFin erging die Bitte, Finanzierungsmodelle zu prüfen. Trotz Unstimmigkeiten und Ablehnung durch SenKult, schloss sich der Senat am 10. Jahrestag des Mauerfalls tags drauf, der Senatsvorlage der SenStadtUm an, beschloss die Rekonstruktion der Grenzanlage auf voller Länge inklusive Tiefenstaffelung und forderte er, das gesamte Areal sei möglichst in den Zustand von 1989 zurück zu versetzen. Der Kirchengemeinde sollte hierfür ein neuer Nutzungsvertrag angeboten werden, der sie im Austausch gegen die Duldung des gesamten Grenzkomplexes von jeglichen Unterhaltskosten befreite.471 Um dieses Konzept zu verwirklichen, gab der Senat schließlich zu bedenken, »[…] dass bei einer weiterhin ablehnenden Haltung der Kirchengemeinde diese Gefahr laufe, dass auch mögliche Schritte in Richtung einer Enteignung geprüft werden müssten, um das Konzept zu verwirklichen«.472 Zur Finanzierung wurde jetzt sogar der Gesamtsenat in die Verantwortung gezogen. Damit hatte sich zur Eröffnung des zweiten Elementes des GedenkstättenEnsembles, genau zehn Jahre nach dem Fall der Mauer, im Grunde genommen die ursprüngliche dreigliedrige Gedenkstättenidee von 1990, nämlich Erhalt bzw. Rekonstruktion der historischen Grenzanlage auf voller Länge, Denkmal und begleitende Ausstellung durchgesetzt. Das zunehmende Bekenntnis zu einer notwendigen Gesamtkonzeption zum Mauergedenken und zu einem notwendigen Erhalt der historischen Grenzanlagen war unmittelbares Ergebnis einer sich am Ende der 90er Jahre langsam durchsetzenden Einstellung, dass dem Erinnern und Gedenken und der historischen Auseinandersetzung mit diesem Teil deutscher Geschichte mehr Wert beizumessen sei als verkehrspolitische, lokalpolitische und sonstige Partikularinteressen. Bis zu einem realpolitischen »Programm« zum umfassenden Mauergedenken und zur langfristigen finanziellen Sicherstellung der Gedenkstättenarbeit in der Bernauer Straße war es aber noch ein steiniger Weg und die Politik von Senator Strieder bzw. des Senats nur ein allererster Anfang. So musste der Verein Berliner Mauer bereits wenige Monate nach Eröffnung des DZ wieder um die Übernahme der Betriebskosten kämpfen, stellte sich doch heraus, dass die Hauptstadtkulturfördermittel nur für die Errichtungsmaßnahmen in 1999 und in 2000 vorgesehen und größtenteils aus Mangel an Verständigung zwischen Bund und Land noch nicht bewilligt waren. Zudem weigerte sich die SenKult, die im Herbst 1999 kurzfristig zugesicherte Übernahme der Bewirtschaftung zu leisten.473 Es drohte dem DZ daher nur wenige Monate nach Eröffnung bereits wieder das Aus.474 »Das Land Berlin hat so gar keine Einstellung zum DZ, das
470 Senatskanzlei: Protokoll Staatssekretärskonferenz vom 08. November 1999, SWFKB, GBM, Nr. 682. 471 SenStadtUm: Pressemitteilung vom 09.11.1999, SWFKB, GBM, Nr. 682. 472 Regierender Bürgermeister von Berlin, Protokollauszug aus der 177. Senatssitzung vom 10.11.1999, SWFKB, GBM, Nr. 682. 473 Verein Berliner Mauer: Beiratssitzungsprotokoll vom 17.03.2000, SWFKB, GBM, Nr. K18. 474 SenKult: Vermerk vom 19.01.2000, SWFKB, GBM, Nr. 682.
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scheint niemanden zu interessieren. Einerseits wurde es eröffnet und unterstützt, sein Ausbau steht auch in der neuen Koalitionsvereinbarung, aber wir haben keine Planungssicherheit. Da fehlt der politische Wille, das macht mich fassungslos«, urteilte die Vorsitzende Camphausen in der Presse.475 Sie baute durch den Gang an die Medien einen derartigen Druck auf, dass die SenKult sich schlussendlich gezwungen sah, die Mittelverweigerung für die reinen Betriebskosten zumindest vorübergehend auszusetzen.476 Parallel zur Presse wandte sich der Verein u.a.a. an den BKM Naumann, um – Bezug nehmend auf die Empfehlungen der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages477 und den Bericht zur Gedenkstättenkonzeption des Bundes – dort eine hälftige Kofinanzierung für Forschung, Zeitzeugenarbeit, Besucherbetreuung usw. zu bewirken.478 Die Festlegungen in der Gedenkstättenkonzeption sahen vor, dass die Gedenkstätte Bernauer Straße in Zukunft einerseits dem Gedenken der Opfer der SED-Diktatur an der Berliner Mauer gewidmet sein sollte, andererseits diese zu ergänzen sei durch eine wissenschaftlich fundierte Dokumentation, finanziert über Hauptstadtkulturmittel.479 Doch sowohl die Berliner SenKult als auch der BKM ließen verlauten, das DZ solle sich langfristig selber tragen, zusätzliche Bundesmittel des BKM seien nicht vorgesehen, schließlich warte man ab, ob es die Hauptstadtkulturfördermittel gebe, obwohl die Chancen hierfür plötzlich als schlecht eingestuft wurden, sei doch am Ende »[…] Ausbau und Betrieb des Dokumentationszentrums […] nunmehr eine Aufgabe des Landes Berlin.«480 Damit stellte der BKM, obwohl eine Empfehlung der Enquete-Kommission vorlag und die Gedenkstätte aufgenommen war in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes, inzwischen eine paritätische finanzielle Unterstützung plötzlich nicht mehr in Aussicht. Folglich wurden auch die erhofften Hauptstadtkulturfördermittel ohne Begründung unerwartet nicht bewilligt.481
475 O.V.: »Geldalarm in der Bernauer Straße«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.01.2000. 476 Verein Berliner Mauer: Beiratssitzungsprotokoll vom 17.03.2000, SWFKB, GBM, Nr. K18. 477 Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien, Band 6 (1999), S. 641. 478 Verein Berliner Mauer: Beiratssitzungsprotokoll vom 17.03.2000, SWFKB, GBM, Nr. K18. Sogar der Bezirk Berlin-Wedding setzte sich beim BKM für eine Bundesfinanzierung ein, vgl. Schreiben des Bezirkes Berlin-Wedding Bezirksbürgermeister an BKM vom 01.04.2000, SWFKB, GBM, Nr. 682. 479 Deutscher Bundestag: Bericht der Bundesregierung über die Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland, 1999, S. 57, ArGDT, Finanzierungskonzepte, AZ: 11333-9.2.1. 480 Schreiben des BKM an Bezirk Berlin-Wedding vom 18.04.2000, SWFKB, GBM, Nr. 682; Greis, Friedhelm: Die Berliner mauern, in: Süddeutsche Zeitung vom 27.03.2000, o.V.: »Kein Geld für Erichs Erbe«, in: Süddeutsche Zeitung vom 07.04.2000. 481 Senatskanzlei: Protokoll Staatssekretärskonferenz vom 10. April 2000, SWFKB, GBM, Nr. 682. Die offizielle Ablehnung erfolgte erst am 16. Mai 2000, vgl. SenKult: Vermerk vom 17.05.2000, S. 5, SWFKB, 682.
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Während die CDU wiederum diese Alleinverantwortung des Landes Berlin ablehnte und gleich ganz darauf bestand, das DZ müsse sich auf Dauer selber tragen, forderten SPD, Grüne und PDS, dass sich eine solche Einrichtung nicht von alleine finanzieren könne, es sei durch Rückzug des Bundes nun erst Recht eine Berliner Aufgabe, das DZ zu betreiben.482 Da die SenKult kaum über Möglichkeiten zur Finanzierung der Maßnahme in 2000 verfügte, wurde das Problem direkt an den Senat übergeben.483 Dieser entschied in seiner 17. Sitzung, kurzfristig 200.000 DM bereit zu stellen.484 Mit Bereitstellung dieser Sofortmittel war immerhin eine kurzfristige Lösung gefunden.485 Bis Juni 2000, so wurde prognostiziert, reichten diese Sofortmittel gerade eben noch. Deutlich war daher, dass es einer Grundsatzentscheidung des Senats bedurfte.486 Der Nachfolger von Kultursenator Radunski und der nur kurz amtierenden Senatorin Christa Thoben, Christoph Stölzl (vom DHM), verhielt sich in seiner Unterstützung der Gedenkstätte Berliner Mauer allerdings ebenfalls zurückhaltend. Nicht nur lehnte er es ab, dass dem Verein Berliner Mauer die Gesamtverantwortung – wie es der Senatsbeschluss vom 09. November 1999 vorsah – für die in der Stadt noch bestehenden Mauerreste zu übertragen seien, sondern er verzichtete gleich ganz darauf, Kosten für das Gedenkstättenensemble für 2001 bei der SenFin anzumelden.487 Zur Lösung des Finanzierungsdilemmas brachte die SenKult für die Senatssitzung am 04. Juli 2000 stattdessen eine Vorlage ein, die klar bezifferte, dass es an Unterhalt in Höhe von 518.000 DM für das Jahr 2000, sowie in Höhe von 396.000 DM für die Jahre ab 2001 sowie an Investitionen in Höhe von insgesamt 3,5 Millionen DM generell mangelte und die SenKult nicht bereit sei, diesen Bedarf alleine zu schultern.488 Drei alternative Lösungsvorschläge wurden unterbreitet: Erstens, eine hälftige Finanzierung über EU-Mittel, kombiniert mit einem plafondübergreifenden Landeszuschuss, zweitens, eine senatsverwaltungsübergreifende Finanzierung und drittens, die sofortige Schließung des DZ mit einem Verzicht auf
482 Abgeordnetenhaus von Berlin, Inhaltsprotokoll der 5. Sitzung vom 10.04.2000, Ausschuss für Kulturelle Angelegenheiten. 483 SenKult: Vermerk vom 11.04.2000, SWFKB, GBM, Nr. 682. 484 Regierender Bürgermeister von Berlin: Protokollauszug vom 14.04.2000. SWFKB, GBM, Nr. 682. 485 Schreiben Verein Berliner Mauer an SenKult Senator Stölzl vom 20.04.2000, SWFKB, GBM, Nr. 682. 486 Abgeordnetenhaus von Berlin, Mündliche Anfrage Nr. 16, 10. Sitzung vom 10.05.2000, Fraktion der PDS; SenKult: Antwort auf die Mündliche Anfrage Nr. 16 vom 23.05.2000. 487 SenKult: Vermerk vom 24.05.2000, SWFKB, 682. Grundsätzlich befürwortete der Kultursenator statt des vorgefundenen Ensembles grundsätzlich eher die vom DHM seinerzeit vorgeschlagene Lösung einer Mauerrekonstruktion auf ganzer Länge mit allem Drum und Dran, und zeigte sich auch öffentlich einer rein künstlerischen Verarbeitung des Themas gegenüber höchst skeptisch, vgl. Ensikat, David: »Auf, auf zur Bernauer Straße«, in: Der Tagesspiegel vom 18.12.2000. 488 SenKult: Senatsvorlage vom 28.06.2000, S. 7-8, SWFKB, GBM, Nr. 682.
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Umbauten und Besucherplattform. Von Stölzl wurde die zweite Variante bevorzugt.489 Der Senat entschied sich für keine der vorgeschlagenen Lösungen. Stattdessen wurde die bis dato praktizierte »Hinhaltepolitik« fortgeführt. Es gab keine Grundsatzentscheidung, lediglich wurde angekündigt, das Land bemühe sich nunmehr um Mittel aus dem Mauergrundstückfonds und stelle für 2001 zumindest eine anteilige Landesmittelfinanzierung sicher.490 Erst im Frühjahr 2001 sollte von den Finanzministern über durch den Mauergrundstücksfonds zu fördernde Projekte entschieden werden. Bis dahin wurde politisch jede weitere Festlegung zum DZ ausgesetzt.491 Da das politische Abwarten und Zögern für den Verein Berliner Mauer zunehmend zur Hängepartie wurde, wandte sich der Verein an die neu gegründete Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und bat er ihren Vorsitzenden Rainer Eppelmann, der doch 1990 in seiner damaligen Funktion als letzter Minister des MfAuV der DDR den rasanten Abriss des Berliner Mauer-Abschnitts in der Bernauer Straße entgegen aller Denkmalschutz- und DHM-Initiativen verantwortete, die Förderung des Gedenkstättenensembles in der Bernauer Straße durch den Bund zu unterstützen. Der Verein appellierte an Eppelmann: »Entweder die politische Führung will und finanziert diese Informationsstätte oder sie verneint die Notwendigkeit des DZ und zieht die entsprechenden Konsequenzen. Die politische Linie des ›Kochens auf kleiner Flamme‹ ist der Thematik und der Aufgabe nicht würdig, den Mitarbeitern nicht länger zumutbar […].«492
Eppelmann kam der Bitte zu intervenieren nach und wandte sich mit unmissverständlichen Worten an den Kultursenator: »Antitotalitäre Geschichtsarbeit benötigt eine sorgfältige Ausstattung und Pflege durch verantwortliche politische Verwaltung.«493 Er erreichte, dass seitens des Landes und des Bundes (über den BKM) nun
489 Ebd., S. 9. 490 SenKult: Vermerk vom 07.07.2000, SWFKB, GBM, Nr. 682; vgl. auch SenKult: Antwort auf Mündliche Anfrage Nr. 18 vom 13.07.2000. 491 SenKult: Senatsvorlage vom 14.09.2000, SWFKB, GBM, Nr. 682. Während dies für den Verein Berliner Mauer bedeutete, weiter abzuwarten, eröffnete am 39. Jahrestag des Mauerbaus und 15 Jahre nach der Sprengung der Versöhnungskirche im Grenzstreifen die an dieser Stelle neu errichtete »Kapelle der Versöhnung«. Damit war neben der provisorischen Ausstellung im DZ und neben der errichteten KohlhoffGedenkstätte auch das dritte Element des Gedenkstättenensembles fertig gestellt, vgl. Heinke, Lothar: Die Versöhnungskirche ist wiederauferstanden, in: Der Tagesspiegel vom 09.11.2000. 492 Schreiben des Vereins Berliner Mauer an Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur Vorsitzender Eppelmann vom 13.11.2000, StAufarb, Bernauerstraße (Geschäftsablage, o. Sign.). 493 Schreiben Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur an SenKult Senator Stölzl vom 01.12.2000, StAufarb, Bernauerstraße (Geschäftsablage, o. Sign.).
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endlich Betriebs- und Projektmittel für eine Ausstellung anlässlich des 40. Jahrestages des Mauerbaus im Jahr 2001 zur Verfügung gestellt wurden.494 Infolge konnte ein Gestaltungsbüro im Auftrag des Vereins Berliner Mauer endlich mit dem Entwurf einer Sonderausstellung zum 13. August 1961 beginnen.495 Bezüglich der Mauerlückenschließung herrschte unterdessen Stillstand bzw. arrangierten sich die Senatsverwaltungen. So empfahl die SenStadtUm nunmehr einfach alles so zu belassen wie es sei, als Ausdruck des Umgangs mit der historischen Masse nach 1990. Sie riet außerdem, die Lücken als Dokument der Gedenkstättenauseinandersetzung zu behandeln und schlug vor, sie mit einer 1m über dem Boden schwebenden Mauer zu schließen.496 Auf diese Weise sollte vermieden werden, dass die Mauer auf den ehemaligen Kriegsgräbern lastete.497 Zum 40. Jahrestag des Mauerbaus, wurde die öffentliche Aufmerksamkeit für die Berliner Mauer kurzweilig größer. Die Zeitungen berichteten ausführlich über die Feierlichkeiten.498 Die Parteien CDU, SPD und Grüne forderten die PDS auf, sie solle sich endlich ihrer eigenen Verantwortung für die Diktatur stellen.499 Ansonsten ging das Jahr 2001 ruhig und für den Verein Berliner Mauer ungewiss zu Ende. Erst Ende Februar 2002 erhielten die Gedenkstätte und das DZ Berliner Mauer erstmals seit ihrem Bestehen eine mittelfristige Planungssicherheit. Der Haushaltsausschuss des Bundestages bewilligte endlich die vom Trägerverein ersehnten 3,4 Millionen Euro aus dem Mauergrundstücksfonds bis zum Jahresende 2006. Aus diesem Fonds sollte der Verein Berliner Mauer nun jährlich 316.000 Euro zur Finanzierung des gesamten Betriebes erhalten. Das übrige Geld wurde bereitgestellt für Investitionen.500 Durch diese mittelfristige Lösung hatten sich Bund und Land gleichzeitig immerhin fünf Jahre Luft verschafft für das Finden einer längerfristigen Finanzierungsmöglichkeit. Damit endeten vorübergehend die Auseinandersetzungen und Kämpfe bezüglich der Gedenkstätte und des DZ Berliner Mauer. Der Verein betrieb die folgenden Monate bzw. Jahre das DZ, baute seine Zeitzeugen- und Archivarbeit aus und das DZ um, und
494 Schreiben der SenKult an Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur vom 30.01.2001, StAufarb, Bernauerstraße (Geschäftsablage, o. Sign.), Bebenburg, Pitt von: »Am Tag des Mauerbaus wollte die PDS einmal ›leise Dinge tun‹«, in: Frankfurter Rundschau vom 14.07.2001. 495 Der Entwurf lag am 15.03.2001 vor, vgl. gewerk: Gestaltungsentwurf »13. August 1961« vom 15.03.2001, ArGBM, Geschäftsablage o. Sign. 496 SenStadtUm: Vermerk vom 03.07.2001, StAufarb, Bernauerstraße (Geschäftsablage, o. Sign.). 497 SenStadtUm: Vermerk vom 01.08.2001, StAufarb, Bernauerstraße (Geschäftsablage, o. Sign.). 498 U.a. o.V.: »Niemand hat die Absicht, diese Mauer zu vergessen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.08.2001; Wedel, Matthias: »Wie gut, dass es die Mauer gibt«, in: Frankfurter Rundschau vom 13.08.2001; o.V.: »Gedenken an die Mauer-Opfer«, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.08.2001. 499 Bölsche, Jochen: »August 2001«, in: Der Spiegel 53 (2001), S. 227. 500 Aulich, Uwe: »Mauermuseum ist für die nächsten fünf Jahre gesichert«, in: Berliner Zeitung vom 20.02.2002.
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errichtete 2003 schließlich den Aussichtsturm.501 Auch kurzweilige Planungen zur Straßenbahnführung in der Bernauer Straße und die damit verbundenen Schwierigkeit, dass das gesamte Verkehrskonzept wieder einmal das Bestehen der Gedenkstätte vollkommen ignorierte, konnten im Laufe des Jahres 2004 im Sinne der Gedenkstätte erfolgreich abgewendet werden.502 Erst nachdem die Berliner Landesregierung aus SPD und PDS bestätigt wurde, sich zudem der Fall der Berliner Mauer zum 15. Mal jährte, das Mauermuseum am Checkpoint Charly aus diesem Anlass einen Vorstoß in Richtung zentrales Mauerpfergedenken wagte und sich parallel der Druck erhöhte, mit Ablauf des Jahres 2005 für die Gedenkstätte Berliner Mauer eine langfristige Planungssicherheit zu finden, brachen die erinnerungs- und geschichtspolitischen Konflikte wieder auf und es begannen die seit Errichtung der Kohlhoff-Gedenkstätte diesbezüglich schärfsten Auseinandersetzungen um das Gedenken an die Berliner Mauer und die Opfer der deutschen Teilung. Da diese Auseinandersetzungen stark flankiert wurden durch bundespolitische Erinnerungsdiskurse, wird auch hierauf im Folgenden näher einzugehen sein.
3.8 D AS G ESAMTKONZEPT
ZUM
M AUERGEDENKEN
Wie an anderer Stelle bereits ausführlich dargestellt, hatte die Bundes-CDU im Mai 2004 in einem Antrag an den Deutschen Bundestag gefordert, dass es ein neues Gesamtkonzept geben müsse bezüglich der Förderung von Gedenkstätten zur Diktaturgeschichte in Deutschland.503 Der Antrag konstatierte, dass dem Unrecht in der SBZ und in der DDR und ihren Opfern noch nicht genügend gedacht werde und sich dies entschieden ändern müsse. Durch eine Aufwertung der Gedenkstätten, die sich mit der SED- und der DDR-Diktatur befassten, und zu denen auch die Gedenk-
501 Aulich, Uwe: »Aussichtsturm für die Mauer«, in: Berliner Zeitung vom 09./10.11.2002. 502 Vgl. hierzu die Schreiben zwischen der SenStadtUm und dem Verein Berliner Mauer. Die SenStadtUm-Straßenbahnplanungen sahen beispielsweise vor, dass die Fahrleitmasten direkt in der Sichtachse zwischen Aussichtsturm des DZ und der Gedenkstätte liegen sollten, die touristische Nutzung des Gedenkstättenensembles wurde beim Parkraumkonzept überhaupt nicht berücksichtigte und insgesamt sah die Planung nicht vor, dass die Baumaßnahmen zur Straßenbahnerweiterung auch Auswirkungen hatten auf die Informationsangebote auf dem Gedenkstättengelände; vgl. Schreiben der SenStadtUm an Verein Berliner Mauer vom 15.04.2004, SWFKB, K11; Schreiben des Verein Berliner Mauer an SenStadtUm vom 19.04.2004, SWFKB, GBM, Nr. K11; Schreiben des Vereins Berliner mauer an SenKult vom 25.05.2004, SWFKB, GBM, Nr. K11; Schreiben der SenKult an Verein Berliner Mauer vom 21.06.2004, SWFKB, GBM, Nr. K11; Schreiben der SenKult StS Kisseler an Bezirksamt Mitte Bezirksbürgermeister Zeller vom 13.08.2004, SWFKB, GBM, Nr. K11. 503 Dt. BT, Drs. 15/3048 vom 04.05.2004. Der strittige Arbeitstitel lautete: Antrag über die Förderung von Gedenkstätten zur Diktaturgeschichte in Deutschland – Gesamtkonzept für ein würdiges Gedenken aller Opfer der beiden deutschen Diktaturen.
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stätte Berliner Mauer gehöre, solle dieses Ungleichgewicht zwischen NS- und SBZ/DDR-Gedenkstätten austariert werden und der Bund stärker den Fokus auf die »zweite deutsche Diktatur« legen.504 Für die Gedenkstätte Berliner Mauer sah der Bundestagsantrag der CDU vor, diese gemäß ihrer herausragenden überregionalen Bedeutung zu einer nationalen Gedenkstätte aufzuwerten und sie in die langfristige Bundesförderung zu übernehmen.505 Ohne an dieser Stelle auf die eklatanten sich anschließenden erinnerungs- und geschichtspolitischen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit diesem Antrag konkret einzugehen, sensibilisierte dieser Antrag die Berliner Verwaltung dafür, sich zunehmend mit der Frage einer Gesamtlösung in Sachen Mauergedenken in Berlin zu beschäftigen.506 Die Öffentlichkeit und das Berliner Parlament hingegen erkannten die Notwendigkeit eines Gesamtkonzeptes zum Mauergedenken erst, als Alexandra Hildebrandt vom Mauermuseum im Herbst 2004 auf einem Privatgelände Ecke Friedrichstraße/Zimmerstraße beim ehemaligen Checkpoint Charly ohne Genehmigung eine künstliche weiße Berliner Mauer aufstellte und dazu dort über tausend Mauerkreuze installierte, die an die Mauertoten erinnern sollten. Die Fraktionen der CDU und der Bündnisgrünen brachten daraufhin am 11. November 2004 Anträge ins Berliner Parlament ein, die sich mit der Frage befassten, wie in Berlin 15 Jahre nach dem Fall der Mauer das Erinnern und Gedenken zu gestalten sei.507 Die Fraktion der CDU forderte, dass ein Berliner Gesamtkonzept vorgelegt werden solle bezüglich aller Berliner Stätten »zur Gewaltherrschaft beider deutscher Diktaturen«, und dass markante historische Orte wiederherzustellen sowie Dokumentationszentren zu erweitern seien. Begründet wurde der Antrag mit der Stärkung des antitotalitären Konsenses.508 Die Bündnisgrünen forderten hingegen lediglich ein »Gesamtkonzept zum Berliner Mauergedenken« und verlangten eine Aufwertung des DZ, die bauliche Sicherung der Eastside-Gallery sowie die Kennzeichnung des Mauerverlaufs und der Opferorte. Begründet wurde dieser Antrag mit einem allgemeinen Bedürfnis, sich würdevoll mit der Vergangenheit auseinandersetzen zu müssen, seien doch viele Probleme Berlins auf die Teilung der Stadt zurückzuführen und schulde man dies den Opfern und Nachgeborenen. 509 Während die Opposition aus CDU, FDP und Bündnisgrünen unter Federführung der CDU auf die aktuellen Mängel beim Mauergedenken im Stadtbild und in der politischen Bildungsarbeit durch die Berliner Regierung abhob und die Gedenkstätte Berliner Mauer abqualifizierte als eine »uninspirierte Anlage, die nicht im Entferntesten ihre Aufgabe erfüllen kann, nämlich an den Schrecken der Grenzanlagen, die sich
504 Ebd., S. 5. 505 Ebd. 506 Vgl. Abgeordnetenhaus von Berlin, Plenarprotokoll 15/67 der 67. Sitzung vom 28.04.2005. 507 Regierender Bürgermeister von Berlin: Information vom 08.11.2004, SWFKB, GBM, Nr. KC 2, Band 1. 508 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 15/3378 vom 11.11.2004, Dringlichkeitsantrag der Fraktion der CDU. 509 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 15/3379 vom 11.11.2004, Dringlichkeitsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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quer durch Deutschland zogen, zu erinnern,« wiesen die Regierungsparteien SPD und PDS diesen Vorwurf zurück mit dem Hinweis, dass dieser desolate Zustand der Erinnerungslandschaft in erster Linie Folge der Vorgängerregierungen unter dem CDUVorsitz Diepgens gewesen sei.510 In ihren Augen war die Gedenkstätte Berliner Mauer der einzige Ort, an dem überhaupt ein nationales Gedenken an die Berliner Mauer stattfinde.511 Entsprechend äußerte sich der PDS-Kultursenator Flierl: »Ich möchte darauf hinweisen, dass die auf einmal so unbefriedigend empfundene Situation nicht das Ergebnis einer rückwärtsgewandten PDS-Kultursenators ist, sondern Ergebnis [ist] der Politik vieler derer, die sich heute mit einem Ruf nach einem Gesamtkonzept [profilieren], das sie in ihrer politischen Verantwortung offenbar nicht haben erstellen können.«512
Als der Sprecher der CDU-Fraktion schließlich dem Regierenden Bürgermeister Wowereit völliges Versagen und dem amtierenden PDS-Kultursenator Flierl völlige Überforderung unterstellte, und zudem noch konstatierte, dass man es ja schließlich auch nicht der NPD überlassen würde, ein würdiges Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus zu gestalten, eskalierte die parlamentarische Debatte im Berliner Abgeordnetenhaus anlässlich des 15. Jahrestages des Mauerfalls endgültig.513 Der Sprecher der PDS wies den Beitrag als Schwarzweißmalerei und jeglichen Vergleich mit der NPD, der DVU und sonstigen rechtsextremen Parteien zurück, betonte stattdessen die Aufrichtigkeit der PDS im Umgang mit der eigenen Vergangenheit und forderte – unterstützt durch die SPD – dass die Auseinandersetzung über den Umgang mit der Teilung nicht vom ideologischen Raster des Kalten Krieges geprägt sein möge: »[…] der Kalte Krieg – hoffe ich – mit Blick auf einige Redebeiträge – ist endgültig zu Ende«.514 Die Fraktion der Bündnisgrünen pflichtete der PDS und der SPD insbesondere bezüglich der Verantwortung für den z.T. prekären Zustand der Gedenklandschaft zur Berliner Mauer bei und betonte: »Fehler zu machen ist schlimm, aber noch schlimmer ist es, aus den Fehlern nicht zu lernen.«515 Die FDP-Fraktion, deren Sprecher den Regierenden Bürgermeister aufforderte, seinen PDS-Kultursenator endlich aus dem Senat zu werfen und der Berliner SPD vorwarf, sie habe 1989 ganz unpatriotisch nicht hinter der Wiedervereinigung gestanden, unterstützte hingegen die Linie der CDU-Fraktion, die sich wiederum im weiteren Verlauf der Debatte immer wieder als Partei der Deutschen Einheit zu profilieren versuchte.516
510 Abgeordnetenhaus von Berlin, Plenarprotokoll 15/59 der 59. Sitzung vom 11.11.2004, S. 4925. 511 Ebd., S. 4927. 512 SenKult: Material zur Aktuellen Stunde des Parlaments vom 11.11.2004, SWFKB, GBM, Nr. KC 2, Band 1. 513 Abgeordnetenhaus von Berlin, Plenarprotokoll 15/59 der 59. Sitzung vom 11.11.2004, S. 4925-4926. 514 Ebd., S. 4928. 515 Ebd., S. 4929. 516 Ebd., S. 4930.
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Zum Schluss positionierte sich der Regierende Bürgermeister Wowereit. Er sprach sich klar für die Stärkung der Gedenkstätte Berliner Mauer, für eine bessere Vernetzung der Erinnerungsorte und gegen blinden Aktionismus (in Anspielung auf die Aktion am Checkpoint Charly) aus.517 So formulierte er abschließend als Auftrag an die eigene Regierung: »Eine Kultur des Gedenkens zu entwickeln, ist eine bleibende, eine tägliche Aufgabe«, und wies damit den Vorwurf der Opposition, die rot-rote Koalition vernachlässige die Erinnerung, vollständig zurück.518 Nur wenige Tage später fand – diesem Auftrag entsprechend – die konstituierende Sitzung einer von SenKult berufenen »AG Mauergedenken« unter der Teilnahme von Vertretern des BKM, der SenStadtUm, der SenKult sowie von auf diesem Gebiet ausgewiesenen Experten (u.a. Nachama von der Topographie des Terrors, Jarausch vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam sowie Camphausen vom Verein Berliner Mauer) am 29. November 2004 statt.519 Dort wurde als Vorbereitung einer Gesamtkonzeption zum Mauergedenken zunächst einmal eine bereits im Sommer 2004 durch die SenKult beauftragte Übersicht über den Bestand und den Bedarf bzw. mögliche Handlungsfelder gegeben und ein erster Maßnahmenkatalog erarbeitet.520 Nachdem das Abgeordnetenhaus von Berlin am 11. November 2004 den Auftakt machte zu einer breiten erinnerungs- und geschichtspolitischen Debatte um das Mauergedenken in Berlin, führten auch die Fachausschüsse diese Debatte in ihren Sitzungen im Zusammenhang mit einem von der SPD und der PDS eingebrachten Änderungsantrag fort. Der Änderungsantrag war eine Beauftragung des Senats mit der Entwicklung eines Gesamtkonzeptes zum Mauergedenken.521 In der Auseinandersetzung um den Änderungsantrag der SPD/PDS verband sich die Frage nach einem Gesamtkonzept Mauergedenken dabei immer enger mit der Frage der Errich-
517 Ebd., S. 4932f. 518 Ebd., S. 4934. Zur Debatte siehe auch Zawatka-Gerlach, Ulrich: »Gedenkstätten sollen besser zusammenarbeiten«, in: Der Tagesspiegel vom 12.11.2004; Hintzmann, Karsten: »Geschichtspfad durch Berlin«, in: Die Welt vom 12.11.2004. Unterstützung erfuhr die Initiative der Bündnisgrünen und der Regierung durch den Bezirk Mitte von Berlin, der sich per Beschluss den Forderungen der Fraktion der Bündnisgrünen aus dem Abgeordnetenhaus anschloss, vgl. Bezirksverordnetenversammlung Mitte von Berlin, Drs. 1558/II vom 19.11.2004. 519 SenKult: Einladung zur AG Mauergedenken vom 12.11.2004, SWFKB, GBM, Nr. KC 2, Band 1. 520 Ebd.; vgl. auch Berliner Forum für Geschichte und Gegenwart: Empfehlungen zur Aufwertung des Mauergedenkens, November 2004, SWFKB, GBM, Nr. KC 2, Band 1; Berliner Forum für Geschichte und Gegenwart: Handlungsfelder. Maßnahmenkatalog. Prioritätenplan einschließlich Zeitrahmen. Konzeption für die Erinnerung an die Berliner Mauer, November 2004, SWFKB, GBM, Nr. KC 2, Band 1; Berliner Forum für Geschichte und Gegenwart e.V.: Protokoll vom 04.05.2005, SWFKB, GBM, AG Mauergedenken, AG Sitzungen. 521 Abgeordnetenhaus von Berlin, Beschluss-Protokoll 15/48 der 48. Sitzung vom 08.12.2004, Ausschuss für Stadtentwicklung und Umweltschutz.
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tung eines zentralen Denkmals in der Nähe des Brandenburger Tores zur Erinnerung der deutschen Teilung, ihrer Opfer sowie der deutschen Einheit, als langfristiger Ersatz für die Hildebrandt’sche Checkpoint Charly-Installation, wie es ein fraktionsübergreifender Antrag des Deutschen Bundestages auf Initiative des Abgeordneten Hilsberg (SPD) vorschlug.522 Für ein solches zentrales Denkmal an dieser prononcierten Stelle wurde dort angeführt: »Mehr […] steht jedoch das Gelände um das Brandenburger Tor für die Teilung Berlins, Deutschlands, Europas und der Welt sowie für deren friedliche Überwindung. […] Das Bedürfnis der Menschen, sich an zentraler Stelle an die Mauer zu erinnern und sich mit ihren Folgen auseinander zu setzen, ist anzuerkennen. […] Kein Ort der Welt stand so für die Teilung Deutschlands und der Welt wie das Brandenburger Tor inmitten von Mauer, Stacheldraht, Wachtürmen und Todesstreifen. […] Geschichte muss an diesem zentralen Ort erfahrbar werden, damit sich diese Geschichte nicht wiederholt und damit nie wieder Willkür und Ideologie über Menschenrecht und Menschenwürde gestellt werden.«523
Der Antrag empfahl daher neben einer Aufwertung des Dokumentationszentrums Berliner Mauer auch die Errichtung einer zentralen Informationsstätte am Brandenburger Tor. In der Ausschussdebatte positionierten sich die einzelnen Fraktionen ähnlich wie bereits in der großen Runde im Abgeordnetenhaus. Die CDU unterstützte die Installation am Checkpoint Charly und erwartete zugleich ein zentrales Gedenken an prominenter Stelle am Brandenburger Tor. Die FDP unterstützte die CDU, indem die Bernauer Straße als nicht wirkungsvoll genug eingestuft wurde. Lediglich bezüglich der Vernetzung der dezentral gewachsenen Erinnerungslandschaft zur Berliner Mauer (East-Side-Gallery, Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde, Erinnerungsstele für Chris Gueffroy, usw.) machte die FDP den Regierungsparteien Zugeständnisse. Die Vertreter der Grünen votierten ebenfalls für eine Förderung der besseren Zusammenarbeit zwischen verschiedenen bereits existierenden Einrichtungen, allerdings auch für die empfohlene Aufwertung der Gedenkstätte Berliner Mauer zum zentralen Gedenkort für die Erinnerung an die Opfer von Mauer und Teilung. Die SPD wie auch die Bündnisgrünen wiesen ein zentrales Mauergedenken am Brandenburger Tor zurück, gebe es doch bereits genug Mahnmale und vermisse man dort gänzlich materielle Zeugnisse der Teilung. Die PDS hingegen hielt sich zurück mit der Begründung, über das Gesamtkonzept werde auf anderer Ebene bzw. im Kulturausschuss zu entscheiden sein.524 Trotz aller Differenzen einigten sich die Fraktionen auf den Beschluss, den Senat aufzufordern ein
522 Dt. BT, Drs. 15/ vom 09.12.2004, Fraktion der FDP, der SPD, der Bündnisgrünen und der CDU. Der Titel hieß: »Antrag über Gelände um das Brandenburger Tor als Ort des Erinnerns an die Berliner Mauer, des Gedenkens an ihre Opfer und der Freude über die Überwindung der deutschen Teilung.« 523 Ebd. 524 Abgeordnetenhaus von Berlin, Inhaltsprotokoll 15/48 der 48. Sitzung vom 08.12.2004, Ausschuss für Stadtentwicklung und Umweltschutz.
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Gesamtkonzept der Dokumentation der Berliner Mauer zu entwickeln und darüber bis zum 30. April 2005 zu berichten. Sie nahmen damit den Änderungsantrag der SPD/PDS an.525 Der Ausschuss segnete somit ein bereits begonnenes Projekt ab. Erste Überlegungen zum Umgang mit der Geschichte und den Relikten der Berliner Mauer in der Stadt Berlin lagen bereits durch Mitglieder der AG Mauergedenken wenige Tage später und damit noch vor Ablauf des Jahres vor.526 Das Problemfeld (mangelnde Vernetzung der Orte, noch nicht genug öffentliche Akzeptanz der Gedenkstätte Berliner Mauer sowie fehlende Informationswege) sowie der Status quo der dezentralen Erinnerungslandschaft war ermittelt,527 sodass von dort ausgehend nun die eigentliche Konzeptionsphase des Gesamtkonzeptes begann, getragen von der grundsätzlichen Fragen: Sollte es ein zentrales oder ein dezentrales Mauergedenkkonzept werden? Sollte das Mauerkonzept überhaupt ein zentrales nationales Denkmal an prominenter Stelle einbeziehen oder diese Frage auslassen? Sollte eher Bestandsschutz betrieben oder neue Orte mittels Rekonstruktionen geschaffen werden? Was musste das Land, was der Bund für eine Gesamtkonzeption Mauergedenken leisten?528 Zur Klärung dieser Grundsatzfragen wurde die AG Mauergedenken nun offiziell vom Kulturausschuss beauftragt und eine Expertenanhörung für Anfang Februar 2005 angesetzt.529 Kurz vorher, am 28. Januar 2005 brachten die Bundestagsabgeordneten Hilsberg, Thiele, Kuhn und Eichstädt-Bohling einen überarbeiteten überfraktionellen Antrag in den Bundestag ein, der die Forderung nach einem zentralen Erinnerungs- und Informationsort am Brandenburger Tor, die Entwicklung eines Gesamtkonzeptes zur Berliner Mauer und die Aufwertung des DZ Berliner Mauer erneut bekräftigte und nun die Unterstützung fand von über 100 Bundestagsabgeordneten (namentlich gelistet).530 Trotz dieser politischen Kulisse hielt die SenKult bei der Anhörung am 02. und 03. Februar 2005 an ihrem Vorschlag fest, auf einen weiteren zentralen Erinne-
525 Abgeordnetenhaus von Berlin, Beschluss-Protokoll 15/48 der 48. Sitzung vom 08.12.2004, Ausschuss für Stadtentwicklung und Umweltschutz. 526 Camphausen, Gabriele: Überlegungen zum »Umgang mit der Geschichte und den Relikten der Berliner Mauer« vom 12.12.2004, SWFKB, GBM. 527 Ebd., S. 3-4, 6-7. 528 SenKult: Vorbereitung AG Mauergedenken vom 15. Dezember 2004, SWFKB, GBM; Berliner Forum für Geschichte und Gegenwart e.V.: Protokoll vom 05.01.2005, SWFKB, GBM, AG Mauergedenken, AG Sitzungen. 529 Da der Bund zum fraktionsübergreifenden Antrag zur Erinnerung an die Berliner Mauer so kurzfristig keinen Beschluss gefasst hatte und der Bundestag dementsprechend den BKM noch nicht beauftragt hatte, ein Gesamtkonzept Berliner Mauer aktiv zu unterstützen, beteiligten sich die Vertreter des BKM zunächst nur als stille Beobachter, vgl. Berliner Forum für Geschichte und Gegenwart e.V.: Protokoll vom 05.01.2005, S. 2-3, SWFKB, GBM, AG Mauergedenken, AG Sitzungen; o.V.: »Bundestagsabgeordnete für Mauer-Gedenkstätte«, in: Die Welt vom 12.01.2005. 530 Dt. BT, Drs. 15/4795 vom 27.01.2005, Fraktionen der FDP, der SPD, der Bündnisgrünen und der CDU.
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rungsort, noch dazu in unmittelbarer Nähe zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas, zu verzichten und verlangte sie stattdessen (und hierin durchaus kongruent zur Bundespolitik), die Bernauer Straße zu stärken, die dezentrale Erinnerungslandschaft besser zu vernetzen und mehr Informationsangebote anzubieten. Die von den Bundestagsabgeordneten favorisierte (Re-)Konstruktion am Brandenburger Tor und die Installation am Checkpoint Charly wurden hingegen von der SenKult als nicht angemessen eingestuft, stattdessen das Schaffen einer Art »Mauer-Agentur« (Infopoint) und die Erarbeitung von »Geschichtspfaden« bzw. die Fortführung der Mauerkennzeichnung und Markierung des Mauerverlaufs empfohlen.531 Speziell für die Situation in der Bernauer Straße forderte die AG Mauergedenken, dass sich der Bund und das Land Berlin politisch klar zur Gedenkstätte Berliner Mauer und zum DZ bekennen solle, u.a. durch eine dauerhafte finanzielle Absicherung der Einrichtung. Es wurde vorgeschlagen, die Angebote dort insgesamt zu verbessern, die Biographieforschung auszubauen, das Gedenkstättenareal an der Bernauer Straße auf gesamter Länge des ehemaligen Grenzstreifens auszuweiten, die Grenzsituation für Besucher erfahrbar zu machen sowie die vorhandenen Mauerlücken als Dokument des Umgangs mit der Mauer nach 1990 auf angemessene Weise einzubeziehen.532 Diese Forderungen der SenKult und der AG Mauergedenken und die darin zum Ausdruck kommende erinnerungspolitische Grundtendenz wurden von allen geladenen Experten unterstützt.533 Pfarrer Manfred F. von der Versöhnungsgemeinde erweiterte die Forderung der AG Mauergedenken sogar stellenweise, indem er die Idee einbrachte, das Erinnerungs- und Gedenkgelände von der Brunnenstraße bis zum Nordbahnhof (Gartenstraße) hin auszudehnen.534 Leo Schmidt, Sachverständiger aus Cottbus, resümierte: »Der primär sich anbietende Ort für alle diese Aktivitäten liegt in der Bernauer Straße: hier gibt es den geschlossenen Bestand an authentischen Resten der Grenze; hier gibt es das DZ; es gibt die künstlerische Fassung des Mauerthemas als Gedenkstätte, und es gibt die Kapelle der Versöhnung als Ort des geistlichen und psychologischen Trostes.«535
Grundsätzlich herrschte allgemeiner Konsens unter den Sachverständigen über die herausragende Rolle der Gedenkstätte und des DZ in der Bernauer Straße, über den denkmalpflegerischen Erhalt bestehender stadtweiter Zeugnisse der deutschen Tei-
531 SenKult: Thesenpapier vom 20.01.2005, SWFKB, GBM, Nr. KC 2, Band 1. 532 Camphausen, Gabriele: Handlungsfelder Gedenkstätte und Dokumentationszentrum Berliner Mauer vom 21.01.2005, SWFKB, GBM, KC 2, Band 1. 533 Unter ihnen Camphausen (Verein Berliner Mauer), Demps (Humboldt-Universität), DolffBonekämper (TU Berlin), Eckert (Zeitgeschichtliches Forum Leipzig), Jarausch (Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam), Kaminsky (Stiftung zur Aufarbeitung der SEDDiktatur), Nachama (Stiftung Topographie des Terrors), Potratz (Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn). 534 Berliner Forum für Geschichte und Gegenwart e.V.: Anhörungsprotokoll vom 11.02.2005, S. 6, SWFKB, GBM, Nr. KC 2, Band 2. 535 Ebd., S. 3.
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lung sowie über ein besseres Informationsgeflecht innerhalb der dezentralen Erinnerungslandschaft. Neben diesem klaren Votum für ein Gedenken und Erinnern in der Anlage Bernauer Straße und deren Stärkung bzw. Ausweitung, sprachen sich die Experten einhellig gegen ein zentrales Mauergedenken am Brandenburger Tor aus und widersprachen damit der wesentlichen Forderung des überfraktionellen Bundestagsantrages.536 Eine Reduktion des Brandenburger Tores auf die deutsche Teilung und deren Überwindung hielten die Sachverständigen für zu eindimensional. Auch wiesen sie auf die Gefahr hin, durch die räumliche Nähe zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas, die verschiedenen Verbrechenskomplexe zu nivellieren, den Genozid gar zu relativieren. Annette Kaminsky von der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur lehnte es zudem ab, einem etablierten Gedenken in der Bernauer Straße unnötige Konkurrenz zu verschaffen. Rainer Eckert stellte grundsätzlich die Notwendigkeit eines weiteren Denkmals in Frage. 537 Man einigte sich darauf, die Frage der Errichtung eines Denkmals zum allgemeinen Gedenken der Opfer der SED-Diktatur separat von der Frage des Umgangs mit der deutschen Teilung in Berlin zu behandeln.538 Zur Lösung der als unbefriedigend empfundenen Situation am Checkpoint Charly wurde vorgeschlagen, dort ggf. ein »Museum des Kalten Krieges« zu installieren, als Alternative zum Haus am Checkpoint Charly und zur Vervollständigung der Erinnerungslandschaft um die internationale Dimension der deutschen Teilung.539 Als Zwischenergebnis der ersten Anhörung und eines Anfang März anberaumten Experten-Colloquiums, berichtete die SenKult dem Senat: »Das Problem liegt weniger in der Quantität, sondern in der unbefriedigenden thematischen und inhaltlichen Verknüpfung sowie in der Frage der Konzentration auf besonders aussagefähige Orte« und bat für die Entwicklung der Gesamtkonzeption um Fristverlängerung bis zum 31. Oktober 2005.540 Dieser Bitte wurde stattgegeben.541 Auf Basis der Prämissen, die dezentral gewachsene Erinnerungslandschaft zu erhalten, historische Überlieferungen zu sichern und zu schützen, die Orte besser zu kennzeichnen, zu erläutern und zu vernetzen sowie das Erinnern und Gedenken in der Bernauer Straße zu stärken bzw. auszuweiten, wurde unter Hinzuziehung weiterer Expertisen542 und nun auch unter Einbindung der Opfervertreter und ihrer Orga-
536 537 538 539 540 541
Ebd., S. 5f. Ebd., S. 8. Ebd., S. 9. Ebd., S. 14. SenKult: Senatsvorlage Nr. 2448/05 vom 08.03.2005, SWFKB, GBM, KC 2, Band 2. Regierender Bürgermeister von Berlin: Senatsbeschluss Nr. 2448/05 vom 22. März 2005, SWFKB, GBM, KC 2, Band 2. 542 SenKult: Überlegungen für ein Konzept zum Mauergedenken in Berlin vom 08.03.2005, SWFKB, GBM, Nr. KC 2, Band 2; Jarausch, Konrad H./Sabrow, Martin/Hertle, Hans-Hermann: Die Berliner Mauer – Erinnerung ohne Ort? Memorandum zur Bewahrung der Berliner Mauer als Erinnerungsort vom 09.03.2005, SWFKB, GBM, Nr. KC 2, Band 2.
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nisationen am 18. April 2005 ein vorläufiges Gesamtkonzept öffentlich zur Diskussion gestellt.543 Erinnerungspolitisch zielte es »[…] 1. auf die Sicherung vorhandener Orte und Spuren, 2. auf die Benennung und Überwindung von Informationsdefiziten an den jeweiligen Orten sowie 3. auf die Stärkung des topographischen und Bedeutungszusammenhangs der Orte in ihrer jeweiligen Spezifik«.544 Konzeptionell setzten die Verfasser dabei voraus, dass widerstreitende Interessen und konträre Anliegen aufzugreifen und miteinander in Einklang zu bringen seien.545 Als Konsenslösung wurde vorgeschlagen, einen größeren Grenzsicherungsabschnitt in der Bernauer Straße erfahrbar zu machen, die Bernauer Straße zum zentralen Ort des Gedenkens zu unterhalten (d.h. auf konkurrierende Orte des Gedenkens zu verzichten), die dezentrale Erinnerungslandschaft zu respektieren und durch »Mauerwege«, Kennzeichnungen und Markierungen zu vernetzen. Dem Wunsch des Deutschen Bundestages, im Bereich des Brandenburger Tores ein zusätzliches Denkmal zu errichten, wurde nicht entsprochen, stattdessen wurde empfohlen, es möge dort, wenn überhaupt, ein Denkmal entstehen zur deutschen Teilung und ihrer Überwindung im Allgemeinen und nicht zur Berliner Mauer im Besonderen. Zusätzlich wurde die Errichtung eines »Museums des Kalten Krieges in Europa« für den Bereich am Checkpoint Charly empfohlen, um die dortige Situation zu korrigieren und eine Lücke in der Berliner Mauer-Topographie zu schließen.546 Damit trug das Konzept erinnerungspolitisch die deutliche Handschrift des Vereins Berliner Mauer und des Zentrums für Zeithistorische Forschung, d.h. der beiden Einrichtungen, die durch die institutionellen Planungen und damit verbundene Projekte deutlich von der Umsetzung eines solchen Konzeptes profitierten. So wurde an die Idee von Pfarrer Manfred F. aufgenommen und für die Bernauer Straße vorgeschlagen, dass das Gedenkstättengelände sich künftig vom Bahnhof Nordbahnhof einen Kilometer entlang der Bernauer Straße bis hin zum Mauerpark erstrecken sollte. Bezüglich des DZ wurde empfohlen, die Biographieforschung und Zeitzeugenarbeit zu etablieren sowie die Ausstellung insgesamt zu ergänzen um die Themen Wehrdienst in der DDR und Lebenswelten/Alltag in der geschlossenen Gesellschaft. Die für die Ausweitung des Gedenkareals notwendige Einigung mit der Sophiengemeinde und der Erwerb der Grundstücke, die sich nicht mehr in Landes- oder Bundesbesitz befanden, wurden als möglich dargestellt.547 Diese Openair-Museums- und Gedenkstättenplanungen gingen topographisch und inhaltlich weit über die ursprünglichen Planungen des DHM zu Beginn der 90er Jahre hinaus. Hatte sich die Regierung zunächst auf eine Minimallösung eingelassen und wurde diese bis zum Ende der 90er Jahre ausgeweitet auf ein mittleres Maß, so wurde im Zuge des Gedenkkonzeptes Berliner Mauer jetzt eine Maximallösung gewagt.
543 SenKult: Gedenkkonzept Berliner Mauer. Bestandsaufnahme und Handlungsempfehlungen vom 18.04.2005, PA Berlin. 544 Ebd., S. 5. 545 Ebd., S. 15. 546 Ebd., S. 16-18. 547 Ebd., S. 19.
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Geschichtspolitisch unterstrich das vorläufige Gedenkkonzept den Repressionscharakter der Berliner Mauer und seine Symbolhaftigkeit für politische Unterdrückung in der DDR und im gesamten Ostblock. Es grenzte sich explizit ab von den groben Fehlern der Vorgängerregierungen: »Die heutigen Orte der Erinnerung an die Berliner Mauer und des Gedenkens an die Opfer im Berliner Stadtraum, ebenso wie die derzeitige Situation der Gedenkstätten zur Erinnerung an die politische Unterdrückung in SBZ/DDR, sind das Ergebnis einer Politik, die mehr als ein Jahrzehnt auf Landes- und Bundesebene von der CDU dominiert wurde.«548
Der nahezu vollständige Abriss der Berliner Mauer wurde als Symbol der neuen deutschen Einheit interpretiert,549 die Geschichte der Gedenkstätte und des DZ Berliner Mauer überaus kritisch skizziert als eine Geschichte des erinnerungspolitischen Versagens.550 Die Stellungnahmen zu diesem ersten Entwurf fielen erwartungsgemäß vielschichtig aus. Die Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft e.V. begrüßte zwar die Dezentralität und die maximale Ausdehnung des Gedenkens an der Bernauer Straße, aber sie wünschte sich vor allem eine sichere Zukunft der Hildebrandt’schen Installation am Checkpoint Charly. Die Union forderte außerdem: »Die jetzige offizielle Gedenkstätte Bernauer Straße, das Meisterwerk eines Star-Architekten, muss verschwinden.«551 Die Berliner Zeitung ging gar nicht erst auf die Vorschläge im Detail ein, sondern kritisierte vor allem, dass das Gedenkkonzept weitgehend »SED-frei« sei und unterstellte dem »Flierl-Konzept« damit PDS-Lastigkeit. Lediglich das Bekenntnis zum Ort Bernauer Straße wurde begrüßt, obschon auch gleich wieder eingeschränkt: »Durch ein schriftliches Bekenntnis zur Bernauer Straße allein wird sich […] kaum der erkennbar starke Wunsch vieler Bundestagsabgeordneter neutralisieren lassen, am symbolträchtigen Brandenburger Tor neben Fototafeln in einem U-Bahntunnel auch überirdisch, vielleicht vor einer Bronzetafel mit den […] Namen der Mauertoten Kränze niederzulegen.«552
Messerscharf kritisierte sie zudem, dass der Checkpoint Charly nicht allein auf den Kalten Krieg reduziert werden könne, seien dort auch Flucht und Einzelschicksale thematisiert, und dass hinsichtlich der Grundstückfrage an der Bernauer Straße aufgrund von Supermarkt- und Wohnhausplanungen höchste Eile geboten sei.553
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Ebd., S. 1, S. 5. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft: Überlegungen zum Gedenkkonzept der Berliner Mauer vom 18.04.2004, PA Berlin. 552 Rogalla, Thomas: Stellungnahme zum »Gedenkkonzept Berliner Mauer« des Senators für Kultur vom 18.04.2005, S. 2, PA Berlin. 553 Ebd., S. 3, 4. Bzgl. der Grundstücke konnte Rogalla nicht wissen, dass der Chef der Senatskanzlei Berlin die Oberfinanzdirektion bereits im Dezember 2004 angewiesen
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Klaus-Dietmar Henke von der TU Dresden hingegen stufte das Konzept – trotz aller Defizite – insgesamt immerhin als einen ersten Schritt in die richtige Richtung ein: »Das vorliegende ›Gedenkkonzept Berliner Mauer‹ eröffnet […] zum ersten Mal seit dem Fall des Monstrums die realistische Chance, tatsächlich auf ein Niveau zu kommen, das bei einem Erinnerungsensemble von einer derart universellen historisch-politischen Symbolik unabdingbar ist.«554 Auch Henke beanstandete, dass das Konzept zu »SED-frei« sei und monierte, dass der Freiheitsaspekt insgesamt etwas zu kurz käme: »Man muss bei der Erarbeitung […] unter dem einen Arm den Stadtplan Berlins tagen, unter dem anderen aber das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Die Mauer symbolisiert eben nicht nur Teilung […], sondern eben auch Unterdrückung in Europa.«555 Den vorgefundenen Vorschlägen zur Bernauer Straße pflichtete er daher besondere Bedeutung bei: »Nur die Präparierung einer massiven historischen Achse im Stadtraum längs der Bernauer Straße kann einer teilweise ja schon blühenden dezentralen Erinnerungslandschaft zur Berliner Bauer den nötigen Halt geben. […] Das vorgelegte Konzept bietet richtigerweise Konzentration ohne Zentralisation.«556
Geschichtspolitisch war Henke das Konzept nicht weit genug gegen die SBZ und gegen die DDR gerichtet, d.h. es war ihm zu harmlos. Deshalb plädierte er dafür, die »Bernauer Straße« mehr noch zu einem Ort umzuwandeln, an dem das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit bzw. Demokratie und Unfreiheit bzw. Diktatur manifester zu veranschaulichen wäre. Noch stärker gefärbt fiel die anschließende Debatte am 25. April 2005 im Kulturausschuss aus. Die CDU hob nicht nur auf die weitgehend »SED-freien« Formulierungen ab, sondern stellte erneut die Legitimation des Kultursenators als Mitglied der PDS-Fraktion für die Entwicklung eines Gedenkstättenkonzeptes gänzlich in Frage: »Weder Ihre Vergangenheit noch Ihre gegenwärtige Politik legitimieren Sie [Flierl] ein Konzept mit zu gestalten und Maßstäbe vorzugeben, die mit Erinnerungen an eine gescheiterte Diktatur zusammenhängen. […] meiner Ansicht nach sind Sie [Flierl] ein Fremdkörper, wenn es um die Aufarbeitung Ihrer Diktatur und deren Folgen geht. […] Sie sind nicht der Gärtner für eine neue Erinnerungslandschaft, die in Berlin endlich gepflegt werden muss.«557
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hatte, keine weiteren ehemaligen Grenzflächen zu veräußern bzw. Mauergrundstücke zu vergeben, ehe nicht eine Gesamtkonzeption vorliege, vgl. Schreiben der Senatskanzlei Chef der Senatskanzlei Schmitz an Oberfinanzdirektion Präsidenten Leitschuh vom 22.12.2004, SWFKB, GBM. Henke, Klaus-Dietmar: Gedenkkonzept Berliner Mauer vom 18.04.2005, PA Berlin. Ebd., S. 3. Ebd., S. 2. Abgeordnetenhaus von Berlin, Wortprotokoll 15/58 der 58. Sitzung vom 25.04.2005, Ausschuss für Kulturelle Angelegenheiten, S. 4.
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Zusätzlich wurde Kritik geübt am Verfahren, man habe das Abgeordnetenhaus nicht rechtzeitig einbezogen und die Opferverbände seien unberücksichtigt geblieben usw.558 Schließlich forderte die CDU nun zusätzlich die Errichtung eines europäischen Freiheitsmuseums (»für die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus«559), die stärkere Visualisierung der Brutalität der Mauer und eine stärkere Einbeziehung des Hauses am Checkpoint Charly.560 »Auch eine ›Meile des Grauens‹ Unter den Linden wäre insofern von besonderer Bedeutung«, konstatierte ein Sprecher der CDU-Fraktion.561 Die Zweifel der CDU-Fraktion an der Legitimität des Kultursenators räumte der Kultursenator persönlich aus, er konterte: » […] [Ich] habe die Legitimation, mich mit Geschichtspolitik auseinanderzusetzen. Der Versuch der Opposition, einzelne Themen für sich zu reklamieren, muss fehl gehen […]. Wenn es im Parlament und über diese demokratisch legitimierte Regierung nicht gelingt, Probleme der Zeitgeschichte zu thematisieren, und wenn wir nicht unsere Biographien und Perspektiven einbringen können, dann spalten Sie […]. Sie haben mich aufgefordert, meine Verantwortung aufzugeben, das werde ich nicht tun, auch nicht für diesen Punkt, sondern ich werde mich auch Ihren Fragen stellen, wenn es Fragen und keine denunziatorischen Unterstellungen sind.«562
Inhaltlich nutzte Flierl nochmals die Gelegenheit deutlich zu machen, dass es bei der Gedenkstättenausweitung in der Bernauer Straße nicht um monströse Rekonstruktionen gehe, sondern um eine seriöse wissenschaftliche Dokumentation: »Man wird keine Hunde hinstellen wollen. Man wird auch nicht über Lautsprecher Hunde assoziieren wollen und ähnliche Dinge. […] was man eigentlich damit will und was die Botschaft und die Gliederung des Geländes ist, das muss in der nächsten Phase untersucht werden. […] Klar ist aber, dass es keine mehrere hundert Meter oder kilometerlange Rekonstruktion von Grenzanlagen geben wird.«563
Die FDP, die SPD, die PDS und die Fraktion der Bündnisgrünen befürworteten den vorgelegten ersten Entwurf eines Gedenkkonzeptes und die darin beschriebene Grundrichtung. Die Verwandlung der Stadt in ein eindimensionales Gruselkabinett wurde einhellig abgelehnt und die Beauftragung des Senats zur weiteren Gestaltung des Gedenkkonzeptes Berliner Mauer – trotz aller Vorbehalte der CDU und gleichziehend mit dem Ausschusses für Stadtentwicklung und Umweltschutz – einstimmig angenommen.564
558 559 560 561 562 563 564
Ebd., S. 12. Ebd., S. 19. Ebd., S. 3, 16. Ebd., S. 18. Ebd., S. 13. Ebd., S. 14. Ebd. S. 25; Abgeordnetenhaus von Berlin, Beschluss-Protokoll 15/58 der 58. Sitzung vom 25.04.2005, Ausschuss für Kulturelle Angelegenheiten.
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Damit war die parlamentarische Debatte jedoch noch lange nicht an ihrem Endpunkt, im Gegenteil. Am 28. April 2005, d.h. nur drei Tage nach der Ausschussdebatte, kochte die geschichtspolitisch motivierte Diskussion im großen Haus wieder hoch, als die CDU in der aktuellen Stunde einen Antrag mit dem Titel »Berliner Gedenkstättenkonzept ›Deutsche Teilung‹ richtig machen – Vorschläge von Kultursenator Flierl gehen an Opfern, Parlament und Öffentlichkeit vorbei« einbrachte und in einer öffentlichen Erklärung hierzu monierte, die rot- rote Regierung dürfe keine Deutungshoheit über das Thema Deutsche Teilung beanspruchen.565 Nun wurde seitens der CDU, neben der mittlerweile obligatorischen Denunziation des Kultursenators und der ritualisierten Aufforderung, er solle das Zepter abgeben, auch inhaltlich ausführlich Kritik gegenüber dem »rot-roten« Konzept öffentlich vorgebracht. So forderte die Berliner CDU nun offensiv: »Hände weg von den letzten Mauerresten, von den verbliebenen Wachtürmen. Hände weg vom Mauermuseum am Checkpoint Charly […].«566 Die Bernauer Straße wurde als zu stark an der Randlage gelegen für einen würdigen Ort des Erinnerns und Gedenkens abqualifiziert. Der Gegenvorschlag der Union lautete stattdessen, ein »Museum der europäischen Freiheit und Einheit« zu errichten (vorzugsweise am Brandenburger Tor oder am Checkpoint Charly) und reklamierte für sich doch die Partei der deutschen Einheit zu sein.567 Die FDP unterstützte die CDU mit ihrer Kritik an der vermuteten »Autorschaft« des Papiers und attestierte dem Konzept entgegen ihres Votums im Kulturausschuss jetzt ebenfalls PDS-Lastigkeit und eine Neigung zum Relativieren der SEDDiktatur: »Der Geist, der in diesem Gedenkstättenkonzept vorherrscht, ist sehr wohl zu erkennen.«568 Dass dieser Geist allerdings eher dem Ansatz der Historiker und Sachverständigen Nachama, Jarausch und Camphausen sowie einiger Vertreter des BKM entsprang, und mitnichten dem des Senators Flierl persönlich, konnte die FDP-Fraktion in Unkenntnis der Vorarbeiten nicht ahnen. Die Errichtung eines Museums des Kalten Krieges wurde von der FDP nun außerdem begrüßt. Anders als die CDU-Fraktion lehnte die FDP allerdings eine »Vermahnmalung« des Brandenburger Tores zu einer »Meile des Grauens« ab: »Ich möchte dort […] nicht die Möglichkeit haben, innerhalb von zehn Minuten aller möglichen Toten zu gedenken und es damit abzuhaken.«569 Die SPD wies die persönliche Kritik der CDU am PDS-Senator und an der rotroten Regierungskoalition mit den Worten: »Sie wollen ständig den Kalten Krieg ausgraben«570 wiederholt zurück und forderte inhaltlich – ohne den von der Union kritisierten SED-freien Blick – »[…] darf auch der Blick auf die Täter nicht fehlen, auf Grenztruppen, Mauerschützen und die politischen Verantwortlichen, und ich
565 Abgeordnetenhaus von Berlin, Plenarprotokoll 15/67 der 67. Sitzung vom 28.04.2005, S. 5644, 5650. 566 Ebd., S. 5644. 567 Ebd. 568 Ebd., S. 5649. 569 Ebd., S. 5650. 570 Ebd., S. 5645.
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finde, es kann einen auch richtig gruseln«.571 Das »selbstgebastelte Disneyland des Schreckens« durch Frau Hildebrandt am Checkpoint Charly wurde dabei weiterhin als nicht adäquat zurückgewiesen.572 Insofern forderte die SPD in der Summe eine schonungslose Darstellung des Grauens der Grenze, aber auf höherem Niveau als dem in der Friedrichstraße/Ecke Zimmerstraße, und argumentierte inhaltlich konform mit dem Konzept-Entwurf. Die PDS kritisierte insgesamt alle Versuche, die Thematik politisch zu instrumentalisieren. Sie wies zudem zurück, dass das Konzept ausschließlich ein Werk des PDS-Senators sei und verwies in diesem Zusammenhang u.a. auf die Koalitionsvereinbarung mit der SPD aus dem Jahre 2001, in der ein solches Projekt als Anliegen der gesamten Regierung bereits fixiert wurde.573 In Richtung CDUFraktion hob die PDS darüber hinaus diverse erinnerungskulturelle Projekte hervor, die in ihrer Regierungszeit umgesetzt wurden, wie z.B. die Errichtung der Erinnerungs-Stele in 2003 für Chris Gueffroy (dem letzten Maueropfer im Jahr 1989) und die Eröffnung der Ausstellung in der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde in 2005. »Rot-rot hier Untätigkeit oder Alleingänge zum Zweck ›des Umschreibens der Geschichte‹ vorwerfen zu wollen […] ist eine unverschämte Unterstellung und zeugt nur davon, dass es in einigen politischen Kreisen in der Hauptstadt eine höchst selektive Wahrnehmung dessen gibt, was in dieser Stadt tatsächlich passiert. […] Dasselbe trifft auf das Konzept zum Umgang mit der Berliner Mauer in ihrer Gesamtheit zu. Auch hier hatte die Berliner CDU mit Ausnahme billiger Sonntagsreden jahreslang nichts anderes zu tun, als eben nichts zu tun.«574
Schließlich machte die PDS der CDU unmissverständlich deutlich: »Ihr eigentliches Problem, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, besteht darin, dass ein Jahrzehnt lang von ihrer Seite nichts erfolgte und es tatsächlich erst eines rot-roten Senats und eines PDS-Senators bedurfte, um das Thema Umgang mit den Resten der Berliner Mauer ernsthaft und mit der gebotenen Sachlichkeit angehen zu können.«575
Das Plädoyer der PDS für ein Konzept konformes Mauergedenken endete mit den nicht minder geschichtspolitisch aufgeladenen Worten: »Für ideologische Grabenkämpfe auf dem Niveau eines Zehlendorfer CDU-Ortsvereins ist der Umgang mit den Relikten der Mauer und dem immer noch tief wirkenden Leid ihrer Opfer das untaugliche Objekt.«576 In einer persönlichen Ansprache des Senators legte Senator Flierl nach:
571 572 573 574 575 576
Ebd. Ebd., S. 5646. Ebd., S. 5647. Ebd., S. 5648. Ebd., S. 5649. Ebd.
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»Fast zehn Jahre hatten Sie [die CDU] Zeit, mit Ihrem Regierenden Bürgermeister, mit Ihren Bau- und Stadtentwicklungssenatoren und mit Ihren Kultursenatoren ein Mauergedenkkonzept vorzulegen. Soll ich Ihnen sagen, was unter Ihrer Verantwortung passiert ist? Darf ich Sie an die Weisung von Senator Hassemer erinnern, der […] veranlasst hat, keine weiteren Teile unter Denkmalschutz zu stellen? […] Heute sucht die ganze Welt nach authentischen Spuren. Darf ich Sie daran erinnern, dass es ein CDU-Senator war, der die öffentliche Förderung für das Haus am Checkpoint Charly beendet hat? Darf ich Sie daran erinnern, dass nicht dieser Senat und nicht ich es war, der die Grundstücke am Checkpoint Charly an einen Investor verkauft hat, der erst ein American-Business-Center versprach, dann Pleite ging und nun statt Welthandel Trödel mit Politkitsch und schauspielerischen Mummenschanz an den Ort zog?«577
Die Fraktion der Bündnisgrünen blieb ihrer bisherigen Auffassung – jenseits jeglicher parteipolitischen Kämpfe – treu und erwartete, und darin durchaus unterstützt vom Senator Flierl, zusätzlich nur noch das zukünftige auch konzeptionelle Einhalten einer strikten Trennung von Opfergedenken und Gedenken an die Freiheit und Einheit.578 Entsprechend lehnte sie das von der CDU erneut beantragte zentrale Gedenken am Brandenburger Tor weiterhin ab. Damit sind die einzelnen politischen Positionen im Landesparlament umrissen, die sich bis zur Vorlage der Abschlusskonzeption im Sommer 2006 auch nicht mehr änderten. In den Monaten zwischen April 2005 und Juni 2006 wurde akribisch das Konzept weiterentwickelt und wurden sukzessive weitgehend die bundespolitischen, finanziellen und liegenschaftlichen Voraussetzungen geschaffen für eine inhaltliche Umsetzung des Gedenkkonzeptes.579 So wurden die Installation eines Infoportals bzw. -pavillons am Nordbahnhof als eine Art »Empfangshalle« und das Aufstellen eines Wachturmes auf dem Gelände frühzeitig in die weiteren Planungen zum Gedenkensemble in der Bernauer Straße einbezogen. Auch wurde ein Informationsleitsystem für das weitläufige Denkmal- und Gedenkstättenareal sowie eine Rahmenkonzeption für die OpenairAusstellung für die Bernauer Straße zwischen Garten- und Brunnenstraße entwickelt. Für die weitere Gestaltung der Freiflächen wurde ein Wettbewerb für Sommer 2006 anvisiert. Im Sinne des Opfergedenkens wurde eine »verräumlichtes Totenbuch« als Bildergalerie« bzw. als Photoband an der dem Sophienfriedhof zugewandten Seite der Stahlwand der Kohlhoff-Installation konzipiert.580
577 Ebd., S. 5651. 578 Ebd., S. 5653. 579 Hiervon zeugen die diversen Ergebnisvermerke der Sitzungen der AG Mauergedenken und der AG Bernauer Straße., auch diverse Schreiben des BKM, der SenStadtUm und der SenKult aus der SWFKB liegen vor. 580 U.a. Verein Berliner Mauer: Ergebnisprotokoll vom 10.09.2005, SWFKB, GBM, Neues Mauerkonzept Band 3; Verein Berliner Mauer: Ergebnisprotokoll vom 08.07.2005, SWFKB, GBM, Neues Mauerkonzept Band 3; SenKult: Kurzprotokoll vom 12.07.2005, SWFKB, GBM, AG Mauergedenken, AG Sitzungen.
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»Um eine Sentimentalisierung des Gedenkens zu vermeiden, sollen Photographien verwendet werden, die die Toten in Alltagssituationen zeigen, und durch Namen, Geburts- und Totesdaten ergänzt werden. Das kollektive Gedenken an der Gedenkstätte wird somit durch die Möglichkeit des individuellen Gedenkens erweitert«,581
schlug die AG Mauergedenken hierfür vor. Als Standort für den Wachturm wurde ein Grundstück neben der Gartenstraße 86 als sinnvoll erachtet, denkmalpflegerische Zweifel blieben dabei zunächst außen vor. Die Versöhnungsgemeinde bot ab dem 13. August 2005 ihrerseits in ihrer Kapelle mittäglich fortan Opferandachten mit biographischen Bezügen zu einzelnen Maueropfern an.582 Bereits am 29. Juli 2005 konnte die SenKult dem Senat intern einen ersten ausführlichen Zwischenbericht zum Gedenkkonzept vorlegen.583 Bis zum Jahresende 2005 folgten zwei weitere Zwischenberichte.584 Die bundespolitischen und finanziellen Voraussetzungen wurden zunächst geschaffen, indem der Bundestagsausschuss für Kultur und Medien das Gedenkkonzept Berliner Mauer sowohl bei seiner eigenen Konzeption eines »Geschichtsverbundes SED-Diktatur« als auch beim Beschluss über ein Denkmal am Brandenburger Tor weitgehend berücksichtigte bzw. bestätigte.585 Am 30. Juni 2005 beschloss der Deutsche Bundestag die zwei Anträge, die sich auf Initiativen am Brandenburger Tor bzw. im Umfeld des Reichstagsgebäudes bezogen. Hierbei wurde die Anregung Berlins aufgenommen, im U-Bahnhof des Brandenburger Tores ausführlich über die wechselseitige Geschichte des Tores zu berichten und eine Information für die Teilungs- und Grenz-Orte in Berlin einzurichten. Auf die Errichtung einer weiteren Denkmal- und Museumsanlage sollte verzichtet werden. Die Federführung sollte das Land Berlin übernehmen.586 Eine hälftige Beteiligung des Bundes an der
581 Verein Berliner Mauer: Ergebnisprotokoll vom 15.07.2005, S. 3, SWFKB, GBM, Neues Mauerkonzept Band 3. 582 U.a. Verein Berliner Mauer: Ergebnisprotokoll vom 15.07.2005, SWFKB, GBM, Neues Mauerkonzept Band 3; SenKult: Ergebnisvermerk vom 21.09.2005, SWFKB, GBM, AG Mauergedenken, AG Sitzungen; Abgeordnetenhaus von Berlin: Drs. 15/4597 vom 22.12.2005. 583 SenKult: Senatsvorlage Nr. 15/3920 vom 29.07.2005, SWFKB, GBM, AG Mauergedenken, AG Sitzungen. Am 07.10.2005 erfolgte der erste offizielle Zwischenbericht als Fristverlängerung bis zum 30.12.2005, vgl. Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 15/4315 vom 07.10.2005. 584 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 15/4315 vom 07.10.2005; Abgeordnetenhaus von Berlin: Drs. 15/4597 vom 22.12.2005. 585 Schreiben der BKM Christina Weiss an SenKult Senator Flierl von 12.05.2005, SWFKB, GBM, Nr. KC2, neues Mauerkonzept Band 2; Deutscher Bundestag, Drs. 15 (21) 178 vom 15.06.2005, Ausschuss für Kultur und Medien; Dt. BT, Wortprotokoll 15/60 der 60. Sitzung vom 15.06.2005, Ausschuss für Kultur und Medien; SenKult: Kurzprotokoll vom 12.07.2005, SWFKB, GBM, AG Mauergedenken, AG Sitzungen. 586 SenKult: Kurzprotokoll vom 12.07.2005, SWFKB, GBM, AG Mauergedenken, AG Sitzungen; Abgeordnetenhaus von Berlin: Drs. 15/4597 vom 22.12.2005, S. 3.
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Finanzierung der Bernauer Straße wurde mit dem Auslaufen der Mittel des Mauergrundstücksfonds ab 2007 in Aussicht gestellt.587 Da diesen Empfehlungen bis zum März 2006 jedoch keinerlei Taten folgten (für die Haushaltsjahre 2006 und 2007 wurde kein Etat für das Gesamtkonzept Berliner Mauer eingeplant), fand nur wenige Wochen vor Fertigstellung der Gesamtkonzeption am 30. März 2006 ein Klärungsgespräch zwischen dem Land Berlin, dem BKM und den kulturpolitischen Sprechern der Fraktionen statt. Hierbei stellte sich heraus, dass das Konzept bundesseitig zwar inhaltlich vom BKM und von den Vertretern des Bundestages unterstützt wurde (lediglich CDU- und FDP-Vertreter forderten beständig ein bisschen mehr »Brutalität und Unmenschlichkeit der Mauer«), sich de facto jedoch die Beteiligung allein auf den U-Bahnhof »Brandenburger Tor«, das Einbringen der Mauergrundstücke an der Bernauer Straße sowie auf beratende Tätigkeiten des HdG bei der Ausstellungskonzeption beschränkte.588 Dieser finanzielle Schwebezustand änderte sich erst als am 15. Mai 2006 die vom BKM einberufene Expertenkommission um Martin Sabrow vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam ihre Empfehlungen zur Schaffung eines Geschichtsverbundes »Aufarbeitung der SED-Diktatur« vorstellte. Dort schloss sich die Kommission ausnahmslos dem »Gesamtkonzept Berliner Mauer« des Landes Berlin an. Dem Gedenkensemble in der Bernauer Straße wurde sogar eine organisatorische und koordinierende Schlüsselrolle für alle bundesweiten Museen und Gedenkstätten zu Teilung und Grenze eingeräumt. Dementsprechend eröffnete die Kommission die Perspektive: »Die Gedenkstätte [Berliner Mauer] selbst böte auf der Basis einer dauerhaften institutionellen Bund-Land-Finanzierung die Perspektive sich in vergleichsweise kurzer Zeit zu einer Ausstellungs- und Forschungseinrichtung auf dem Gebiet der innerdeutschen und europäischen und Grenzziehung zu entwickeln.«589 Diese dauerhafte Bund-Land-Finanzierung – so sah das Papier vor – sollte über den Wechsel der Trägerschaft in eine Stiftung (zusammen mit der Gedenkstätte Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde) erfolgen. 590 Bezüglich der Grundstücksfragen in der Bernauer Straße wurden die Verhandlungen mit der Sophiengemeinde, mit privaten Eigentümern, mit dem Bezirk Mitte
587 SenKult: Senatsvorlage vom 29.07.2005, S. 14, SWFKB, GBM, AG Mauergedenken, AG Sitzungen. 588 SenKult: Ergebnisvermerk vom 07.04.2006, S. 2, SWFKB, GBM, AG Mauergedenken, AG Sitzungen. 589 Sabrow, Martin (u.a.): Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes »Aufarbeitung der SED-Diktatur« vom 15.06.2006, S. 20; Sabrow, Martin (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? (2007), S. 17ff. 590 Ebd. Diese Vorschläge stießen bei der Presse und bei den Gutachtern, die für die öffentliche Anhörung am 06. Juni 2006 im Marie-Elisabeth-Lüdershaus um Stellungnahme gebeten wurden, stellenweise auf Kritik. So wurde die nachrangige Behandlung anderer Teilungsgedenkstätten und die Fokussierung auf die Bernauer Straße als problematisch eingestuft, könne die Bernauer Straße eben die innerdeutsche Teilung nicht in ihrer Gesamtheit repräsentieren. Zur Debatte hierzu siehe Sabrow, Martin (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? (2007), S. 119.
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und mit den Liegenschaftsfonds (Bund und Land) aufgenommen.591 So galt es einerseits, konkrete Bauvorhaben – wie u.a. den Bau eines Supermarktes und eines Wohnhauses auf dem Gelände – (z.B. durch Grundstückstausch) weiterhin zu verhindern, andererseits war abzusichern, dass Bund und Land ihre jeweiligen Flächen in das Gedenkkonzept an der Bernauer Straße einbrachten. 592 Am 27. September 2005 wurden hierfür im Einvernehmen mit dem Bezirk und dem Rat der Bürgermeister die Mauergrundstücke an der Bernauer Straße zu einem Gebiet außerordentlicher stadtpolitischer Bedeutung erklärt – und mit der Veröffentlichung dieses SenStadtUm-Beschlusses im Amtsblatt am 14. Oktober 2005 erstmals seit 1990 ein stadtentwicklungspolitisches Bekenntnis im Sinne des ausgedehnten Gedenkstättenensembles in der Bernauer Straße abgegeben. Damit war ein rechtsförmiges Verfahren in Gang gesetzt, das nun die Grundlage schaffte für die Umwandlung eines weitläufigen Areals in der Bernauer Straße zu einem Ort der historisch-politischen Bildungsarbeit.593 Als Übergangslösung für die unbefriedigende Situation am Checkpoint Charly und zur Abmilderung von negativen Reaktionen in der Öffentlichkeit bei der Räumung der dortigen, nicht genehmigten Hildebrandt-Installation, sah die SenKult an Ort und Stelle eine Openair-Ausstellung am Bauzaun sowie ein 180 Grad-Panorama als zwei erste Stufen eines Dreistufen-Konzeptes bis zu einer endgültigen Einrichtung eines »Museums des Kalten Krieges« vor.594 Mit dem Entwurf einer Museumskonzeption wurden die Historiker Jarausch, Vorsteher, Jahn und Helmut Trotnow beauftragt.595 Die Bauzaun-Ausstellung konnte durch die geringe Unterstützung des privaten Grundstückeigentümers schließlich in 2005 nicht mehr realisiert werden und wurde alternativ ins Internet gestellt.596 Da die Sabrow-Konzeption vom Mai 2006 wie bereits dargestellt beim BKM auf Zurückhaltung stieß,597 und um den Teufelskreis »keine Unterstützung ohne
591 SenKult: Ergebnisprotokoll vom 19.05.2005, SWFKB, GBM, Nr. KC2, neues Mauerkonzept Band 2; SenKult: Ergebnissvermerk vom 14.06.2005, SWFKB, GBM, AG Mauergedenken, AG Sitzungen; Schreiben der SenKult an SenStadtUm vom 18.06.2005, SWFKB, GBM, Nr. Neues Mauerkonzept Band 3. 592 SenKult: Ergebnisvermerk vom 01.08.2005, S. 2, SWFKB, GBM, AG Mauergedenken, AG Sitzungen; SenKult: Ergebnisvermerk vom 12.01.2006, S. 3, SWFKB, GBM, AG Mauergedenken, AG Sitzungen. 593 Abgeordnetenhaus von Berlin: Drs. 15/20617 vom 27.10.2005, Nicht behandelte Mündliche Anfrage Nr. 11, Fraktion der CDU. 594 LPD: Erinnerung an den historischen Ort und Gedenken an die Maueropfer vom 06.07.2005, SWFKB, GBM, Neues Mauerkonzept Band 3; Verein Berliner Mauer: Pressemitteilung vom 05.07.2005; SenKult: Kurzprotokoll vom 12.07.2005, SWFKB, GBM, AG Mauergedenken, AG Sitzungen. 595 SenKult: Ergebnisvermerk vom 21.09.2005, S. 3, SWFKB, GBM, AG Mauergedenken, AG Sitzungen. 596 SenKult: Ergebnisvermerk vom 12.01.2006, S. 4, SWFKB, GBM, AG Mauergedenken, AG Sitzungen. 597 Der BKM nahm das Konzept an, Taten folgten in den folgenden Monaten nicht.
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schlüssiges Konzept, kein beschlussreifes Konzept ohne Mitfinanzierungszusage« zu durchbrechen, wurde von Seiten des Landes Berlin ein Senatsbeschluss herbeigeführt, in dem die Position des Landes an eine Gegenfinanzierung durch den Bund geknüpft wurde, unabhängig von einem »Geschichtsverbund Aufarbeitung der SED-Diktatur« und den Anschlussplanungen des BKM nach der Sabrow-Kommission.598 Hierfür wurde das »Gesamtkonzept zur Erinnerung an die Berliner Mauer: Dokumentation, Information und Gedenken« (so der offizielle Titel des über 100-seitigen Papiers) am 12. Juni veröffentlicht und am 20. Juni 2006 dem Senat zum Beschluss vorgelegt. Wie bereits der erste Entwurf vom 18. April 2005, definierte es als höchste Priorität: »[…] die Gedenkstätte und das DZ Berliner Mauer an der Bernauer Straße in ihrer Arbeitsfähigkeit zu stärken, weitere Orte, insbesondere im Umkreis des Deutschen Bundestages und am Brandenburger Tor, in ein solches Konzept einzubeziehen und die Vernetzung und Vermittlung der Informationsangebote auf eine neue Grundlage zu stellen.«599
Ein »Einheits-Denkmal« war prinzipiell nicht mehr ausgeschlossen, allerdings als nachrangig bewertet. Als zweite Priorität wurden vielmehr die historische Aufklärung der Taten und das Erinnern der Opfer in der Bernauer Straße hervorgehoben. Für die Gedenkstätte und das DZ Berliner Mauer sah die Konzeption deshalb eine ganze Reihe grundlegender erweiternder Maßnahmen vor. Die authentischen Relikte der früheren Grenze sollten in deren gesamten Verlauf bewahrt, Grenzsicherungsanlagen zwischen Garten- und Strelitzerstraße (aufgrund der höchsten Spurendichte als Kerngebiet I bezeichnet) für Besucher erfahrbar gemacht und die Kohlhoff-Gedenkstätte zum zentralen Ort des Opfergedenkens in Berlin aufgewertet werden.600 Das gesamte Museums- und Gedenkstättenareal sollte sich zwischen Nordbahnhof und Mauerpark erstrecken. Im Nordbahnhof sollte für die ankommenden Gäste eine Ausstellung zu Geisterbahnhöfen angeboten werden. Im gegenüber gelegenen Infopavillon sollten sich Besucher allgemein über deutsche Teilung, die Systemkonkurrenz zwischen Westen und Osten sowie über den Berliner Mauerbau informieren und in einem dort angelegten Filmraum eine Einführungssequenz sehen können. In diesem Begrüßungsportal sollte es neben etablierten Serviceeinrichtungen (z.B. Buch-Shop) ebenfalls Informationen über das zu erwartende Gedenkstättenensemble geben sowie zu anderen Erinnerungsorten im Stadtgebiet. Das Portal sollte zudem Ausgangspunkt für Führungen sein. Zwischen Garten- und Ackerstraße wurde eine Openair-Ausstellung in Form von zurückhaltenden Beschilderungen des Geländes vorgesehen. Auch an eine Installation der historischen weißen Mauerkreuze auf dem Gelände wurde gedacht. An der Ecke Bernauer/
598 SenKult: Ergebnisvermerk vom 27.01.2006, S. 2, SWFKB, GBM, AG Mauergedenken, AG Sitzungen. 599 SenKult: Gesamtkonzept zur Erinnerung an die Berliner Mauer: Dokumentation, Information und Gedenken vom 12.06.2006, S. 14, PA Berlin. 600 Ebd., S. 18.
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Ackerstraße sollte die Kohlhoff-Gedenkstätte ergänzt werden durch ein »verräumlichtes Totenbuch«. Das DZ sollte seine Ausstellungsarbeit und die politische Bildungsarbeit auf vertiefende Informationen zu einzelnen Mauerbiographien, Lebensalltag an und mit der Mauer, Fluchten etc. vertiefen. Für den Kernbereich II zwischen Strelitzer Straße und Brunnenstraße wurde eine Freilichtausstellung »Materialisierung der Mauer« geplant, die die verschiedenen Mauergenerationen und -situationen zu dokumentieren hatte. Zwischen Brunnenstraße und Mauerpark wurden der zusätzliche Erhalt von Sachzeugnissen und die Begehbarkeit des Kolonnenweges, die Kennzeichnung besonderer, durch die Mauer bedingter Bauten, d.h. eine Art archäologische Spurenmarkierung vorgesehen.601 Insgesamt sollte für das gesamte Areal der Grundsatz gelten, »[…] die überlieferte Geschichtslandschaft nicht zu überformen, sie in behutsamer und unaufwändiger Gestaltung verständlich zu machen und die inhaltlichen Angebote klar zu gliedern und historisch präzise zu platzieren«.602 Der Senat nahm die vorgelegte Gesamtkonzeption Berliner Mauer am 20. Juni 2006 zur Kenntnis, unter der Voraussetzung, »dass sich der Bund zumindest um 50% an den Kosten der noch nicht finanzierten Maßnahmen des Gesamtkonzeptes zur Erinnerung an die Berliner Mauer beteiligt«. 603 Insofern wunderte es niemanden, dass in der Debatte im Kulturausschuss am 26. Juni 2006 zwar punktuell noch »antikommunistische Reflexe« (insbesondere durch Vertreter der CDU-Fraktion) verbal ausgelebt wurden, insgesamt jedoch dem Papier mehrheitlich zugestimmt wurde.604 Die Fraktion der CDU sah sich mit ihrer Beurteilung, die »konkrete emotionale Abscheu« fände sich in dem Papier nicht wieder und es handle sich eher um ein »Disneyland der Diktatur«, am Ende auf verlorenem Posten.605 Die »instrumentalisierte Inbesitznahme der Perspektive der Opfer« durch die Christdemokraten wurde vom Senator Flierl – unterstützt durch die Fraktionen SPD und PDS – zurückgewiesen, und auch die oppositionellen Fraktionen der Bündnisgrünen und der FDP schlossen sich den Regierungsparteien an.606 Gleiches galt für das Berliner Parlament, das nur drei Tage später – nach obligatorischem Schlagabtausch zwischen CDU und PDS – die Umsetzung des Konzeptes unter der Voraussetzung, der Bund beteilige sich, verabschiedete.607 Die Presseöffentlichkeit kommentierte diesen Schritt der Berliner Landesregierung: »Es wird Streit geben um das Papier, aber es wird sich, seiner Gründlichkeit und seines aufgeklärten Pragmatismus wegen, durchsetzen. Das ist kein kleiner
601 602 603 604
Ebd., S. 20ff. Ebd., S. 22. Abgeordnetenhaus von Berlin, Drs. 15/5308 vom 21.06.2006. Bisky, Jens: »Schrecken und Trauer«, in: Süddeutsche Zeitung vom 21.06.2006; Abgeordnetenhaus von Berlin, Inhaltsprotokoll 15/79 der 79. Sitzung vom 26.06.2006, Ausschuss für Kulturelle Angelegenheiten. 605 Ebd., S. 3, 4. 606 Ebd., S. 6, 9. 607 Abgeordnetenhaus von Berlin, Plenarprotokoll 15/88 der 88. Sitzung vom 29.06.2006.
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Fortschritt für die auch geschichtspolitisch zerklüftete Stadt.« 608 Damit ging – zumindest vorerst – eine weitere Phase der von starken erinnerungs- und geschichtspolitischen Extremen geprägten Auseinandersetzung um ein Aufarbeiten, Erinnern und Gedenken der deutschen Teilung, der Berliner Mauer und ihrer Opfer in der Bernauer Straße zu Ende.
3.9 Z USAMMENFASSUNG : G EDENKSTÄTTE B ERLINER M AUER 1989-2009 Mit der Öffnung der innerdeutschen Grenze in der Nacht vom 09. auf den 10. November 1989, war die Berliner Mauer obsolet geworden. Im letzten Jahr der DDR bis zu ihrem Beitritt setzten sich nur wenige für ihre historische Bewahrung ein, wurden doch vielmehr der Durchbruch und die demonstrative Demontage zum Symbol ihrer Überwindung. Die Notwendigkeit, an einigen prononcierten Stellen in der vormals geteilten Stadt, Spuren für ein zukünftiges Dokumentieren, Musealisieren und Aufarbeiten deutsch-deutscher Nachkriegsgeschichte zu konservieren, erkannte lediglich das DHM, das Ostdeutsche MfDG, die Versöhnungskirchengemeinde und die Ostberliner Magistratsverwaltung. Die Versuche, in der Bernauer Straße Mauerabschnitte zu retten und unter Denkmalschutz zu stellen, waren durch die Geschwindigkeit, in der die Abrisskommandos die Mauer abbrachen, häufig vergeblich. In der Bernauer Straße wurde lediglich für einen 210m langen Grenzabschnitt im August 1990 der »Denkmalverdacht« ausgesprochen. Er wurde im September 1990 dem DHM unterstellt, da das DHM bereits so frühzeitig einen ersten Gedenkstättenentwurf vorgelegt hatte. Dieser sah u.a. vor, den Grenzabschnitt in ein großes Freilichtmuseum mit Ausstellungen und Denkmal zu verwandeln, zeitweilig sogar von einer Glaskuppel überdacht. Diese Planungen wurden in den Jahren nach 1990 erinnerungspolitisch stringent von der Berliner CDU-Regierung herausgezögert und zurückgestutzt, eingedampft und bekämpft. Regelmäßig zum 09. November oder zum 13. August gefasste Senatsbeschlüsse können nicht darüber hinweg täuschen, dass die Berliner CDURegierung mehr dafür tat, eine würdige Gedenkstätte zu verhindern, als sie zu fördern. Die Beschlüsse blieben oft Lippenbekenntnisse, Taten folgten selten bis nie, und wenn doch, dann im »Schneckentempo«. So wurde der Erhalt der denkmalgeschützten Anlage auf ganzer Länge unaufhörlich abgelehnt und dem DHM Stück für Stück die Zuständigkeit entzogen. Zudem bevorzugte der Berliner Senat jahrelang eher den sechsspurigen Ausbau der Bernauer Straße, und minimalisierte er bestehende Konzepte derart im Interesse der benachbarten Sophiengemeinde, dass der übrig gebliebene Mauerrest in der Bernauer Straße zunehmend drohte, auf eine Friedhofsmauer oder Lärmschutzwand reduziert zu werden. Zusätzlich wurden Verträge abgeschlossen, die stärker die Partikularinteressen von Anliegern berücksichtigten, als die eigene gesellschaftliche Verantwortung, die Berliner Mauer auch für zukünftige Generationen uneingeschränkt erfahrbar zu machen. Der Abriss des
608 Bisky, Jens: »Schrecken und Trauer«, in: Süddeutsche Zeitung vom 21.06.2006.
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Wachturms und der Hinterlandmauer sowie der durch Vandalismus und mangels Konservierungsmaßnahmen fortschreitende Verfall wurden stillschweigend toleriert. Als es schließlich doch zu einem künstlerischen Wettbewerb kam, einigte man sich auf die Kohlhoff & Kohlhoff-Minimallösung, deren Umsetzung wiederum weitere vier debattenreiche Jahre brauchte. Appelle der SPD, der Bündnisgrünen und der FDP, in der Bernauer Straße einen würdigen Ort des Erinnerns und Gedenkens zu schaffen, verhallten. Und obwohl nach anfänglicher Indifferenz sogar die PDS eine solches Projekt dem Grunde nach für wichtig genug einstufte, unterstützte die Berliner CDU-Regierung bis zum Ende der 90er Jahre die Gedenkstättenbemühungen in der Bernauer Straße immer nur soweit, wie tatsächlich Aussicht darauf bestand, dass das Land selbst von jeglicher (insbesondere finanzieller) Verantwortung weitgehend befreit blieb und der Bund die Hauptlast trägt. Erst als die Sophiengemeinde Eigentumsrechte geltend machte und durch das Schaffen zweier eklatanter Lücken in der Vorderlandmauer massiv in die Denkmalsubstanz eingriff, und erst als der neue Berliner Stadtentwicklungssenator forderte, gänzlich auf die Kohlhoff-Gedenkstätte zu verzichten, stattdessen die Mauer ohne künstlerische Überformung in seinem miserablen Zustand zu belassen, zeigte sich die Berliner Regierung ab 1997 erinnerungspolitisch gewillt, sich mehr für eine Gedenkstätte Berliner Mauer zu engagieren und die noch vorhandene Maueranlage großflächig zu schützen. Hinzu kam, dass die Empfehlungen der zweiten EnqueteKommission des Deutschen Bundestages die Berliner Politik dafür sensibilisierte, sich stärker für das Errichten von Erinnerungszeichen zur DDR-Geschichte einzusetzen. Hinzu kam aber auch, dass die Neufassung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes hierfür sogar eine finanzielle Bundesbeteiligung in Aussicht stellte. Dieser erinnerungspolitische Wandel vollzog sich nicht schlagartig, sondern allmählich. Er ging auch nur soweit, wie er für die Berliner Regierung »kostenneutrale« Lösungen einschloss. Nur weil der Bund bereit war, den Bau der Gedenkstätte vollständig zu finanzieren und radikale Planungsalternativen inzwischen auf allgemeinen breiten Widerstand stießen, kam es 1998 zur Umsetzung einer »Kohlhoff-plus«-Variante aus Bundesmitteln und zum Betrieb des »ungeliebten Kindes« Dokumentationszentrum Berliner Mauer aus Mitteln des Mauergrundstücksfonds. Ein echter erinnerungspolitischer Paradigmenwechsel setzte erst ab 2001 ein. Nicht nur als Reaktion auf einen Vorstoß der CDU-Bundestagsfraktion, hinsichtlich eines Gesamtkonzepts zum Erinnern und Gedenken der Opfer »beider deutscher Diktaturen«, sowie nicht nur als Antwort auf die im Zusammenhang mit der Hildebrandt’schen Installation am Checkpoint Charly aufgeworfene Frage, wie zukünftig insgesamt mit der Berliner Mauer und der deutschen Teilung in der Hauptstadt umgegangen werde, sondern v.a. anknüpfend an die erinnerungspolitischen Prämissen aus Oppositionszeiten, forcierte gerade die Berliner SPD/PDS-Regierung ein Gesamtkonzept zum Mauergedenken. Dieses Gesamtkonzept beinhaltete eine umfassende Absicherung, Aufwertung und Ausweitung des bisherigen Mauergedenkens u.a. in der Bernauer Straße. Es grenzte sich deutlich ab von Planungen der CDU, das Brandenburger Tor zum zentralen Ort des Berliner Mauergedenkens zu machen. Es sorgte stattdessen dafür, dass die Gedenkstättenanlage in der Bernauer Straße die Dimension erhalten sollte, die bereits 1990 vom DHM angestrebt worden war. Als auch der Bund grundsätzlich dem museologischen und topographischen
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Ausbau der Gedenkstätte Berliner Mauer mit dem Dokumentationszentrum in der Bernauer Straße zustimmte, die vom BKM eingesetzte Expertenkommission um Sabrow im Juni 2006 eine dauerhafte Bund-Land-Finanzierung in Aussicht stellte und schließlich außerdem empfahl, es bundesweit zur führenden Einrichtung zum Thema Teilung und Grenze aufzuwerten, hatte sich der erinnerungspolitische Paradigmenwechsel bezüglich des Mauergedenkens in der Bernauer Straße endgültig vollzogen. Geschichtspolitische Auseinandersetzungen um das Erinnern und Gedenken der Berliner Mauer und ihrer Opfer gab es im Vergleich zu erinnerungspolitischen Streitigkeiten insgesamt weniger. Geschichtspolitische Angriffe der Sophiengemeinde gegen eine Mauergedenkstätte an Ort und Stelle hatten hauptsächlich zum Ziel, die ehemaligen Kirchengrundstücke zurück zu gewinnen, – dies galt auch für die geschichtspolitisch ins Feld geführten Argumente, man schände dort Gräber von Kriegstoten des Zweiten Weltkrieges und die Kohlhoff-Gedenkstätte sei daher ein »Denkmal im NVA-Stil«. Die Ablehnung der Gedenkstätte durch die Sophiengemeinde verfolgte nicht das Ziel die DDR-Geschichte zu nivellieren, sondern bezweckte, das Gebiet wieder als Friedhof nutzbar zu machen und einen Vorkriegszustand wiederherzustellen. Da zudem verschiedene Anlieger befürchteten, der Blick auf die Mauer höre im Falle einer Gedenkstätte nie auf, wurde dem Gedenken an Kriegstote Vorzug gegeben gegenüber dem Gedenken an die Teilung und ihre Folgen. Eine Bagatellisierung der DDR und der deutschen Teilung ging mit diesen geschichtspolitischen Auseinandersetzungen nicht einher. Selbst die eigenmächtige Aufstellung eines Gedenksteines zur Erinnerung der Opfer des Zweiten Weltkrieges durch die Sophiengemeinde war nicht als Ersatz einer Mauergedenkstätte intendiert, sondern eher als Reklamation. Aus anderer Richtung wurde hingegen geschichtspolitisch massiv Einfluss genommen auf die Gedenkstätte. Im Zuge heftiger Auseinandersetzungen um mögliche Inschriften zwischen den Architekten, der Politik und Verwaltung sowie Opfervertretern, setzte sich eine konservative Leseart der Berliner Mauer durch. Der seitens der Opfervertreter als pure Verharmlosung empfundene Inschrifttext »[…] zum Gedenken an die Opfer der deutschen Teilung« wurde –gegen den Willen der Architekten – geändert in ein »[…] Gedenken an die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft«. Auf eine unabhängige, historische Einbettung in geschichtliche Gesamtzusammenhänge (Nachkriegszeit, Besatzungspolitik, innerdeutsche Teilung usw.) wurde verzichtet, die Mauer vielmehr schon rein begrifflich auf einen kommunistischen Terrorakt reduziert. So suggerierte die Inschrift, dass es 1961 und die Jahre danach eine »kommunistische Gewaltherrschaft« gegeben habe wie zu Stalins Zeiten, und der Mauerbau steinernes Zeugnis dafür sei. Die Gedenkstätte erhielt auf diese Weise ein deutliches antikommunistisches Vorzeichen. Der Versuch der CDU-Bundestagsfraktion, die »zwei deutschen Diktaturen« gleichzusetzen und dementsprechend auch erinnerungskulturell ähnlich zu behandeln, u.a. durch die Idee, das Brandenburger Tor – als Gegenstück zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas – zur zentralen Erinnerungsstätte der deutschen Teilung und ihrer Überwindung umzuwidmen, scheiterte vorerst am Gesamtkonzept Berliner Mauer. Dies umfasste, anknüpfend an die Ideale der »demokratischen Erinnerungskultur« der zweiten Enquete-Kommission, ein differenziertes und mul-
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tiperspektivisches Erinnern und Gedenken der Berliner Mauer an verschiedenen Stellen in der Stadt. Statt eines zentralen Gedenkens, setzte sich vorerst die Verbesserung bzw. der Ausbau der gewachsenen dezentralen Erinnerungslandschaft zur Berliner Mauer durch. Das Gesamtkonzept Berliner Mauer richtete sich gezielt gegen ein relativierendes, zentrales Gedenken und empfahl vielmehr Kooperationen zwischen verschiedenen Einrichtungen, die die Berliner Mauer sowie die innerdeutsche Teilung und ihre Opfer zum Gegenstand hatten. Die Berliner SPD/PDSRegierung verfolgte damit in viel stärkerem Maße ein umfassendes Aufarbeiten der Berliner Teilungsgeschichte als die konservativen Vorgängerregierungen. Indem wissenschaftliche Begründungen undifferenzierte totalitarismustheoretische Instrumentalisierungen zunehmend unmöglich machten, wurde mitnichten eine Geschichtspolitik des Vergessens und Nivellierens verfolgt, sondern nun eher eine Geschichtspolitik ohne »antikommunistische Reflexe«.
4. Die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn (GDT) mit dem Grenzdenkmal Hötensleben (GDH)
Im Unterschied zur Gedenkstätte Berliner Mauer hatten es Gedenkstätten zur Deutschen Teilung in der Fläche gelegen ungleich schwerer sich zu etablieren. Während die »Berliner Mauer« bereits vor ihrem Fall ein weltweites zentrales Symbol der Deutschen Teilung war und an diese Symbolik auch erinnerungskulturell sowie politisch angeknüpft werden konnte, war die Erfahrung der Grenze zwischen Ostund Westdeutschland außerhalb Berlins noch nicht versymbolisiert, was das Errichten und Erhalten von Erinnerungszeichen und Gedenkorten vor besondere Herausforderungen stellte.
4.1 R ETTUNGSVERSUCHE UND H ÖTENSLEBEN
IN
M ARIENBORN
Die Geschichte der Gedenkstätten zur deutschen Teilung in Sachsen-Anhalt beginnt nicht am Tag der Grenzöffnung am 09. November 1989 am Grenzübergang Marienborn, sondern mit der Öffnung des Grenzübergangs in Hötensleben (Bezirk Magdeburg) am 19. November 1989.1 Zwar hatten bereits in den ersten 10 Tagen über eine Million Menschen die Grenzübergangsstelle (GÜSt) Marienborn passiert (ost- wie westwärts), wodurch sie zur meist frequentierten GÜSt nach der Grenzöffnung avancierte, Überlegungen zur Umwandlung in eine Gedenkstätte gab es jedoch zunächst kaum, wurde der Grenzbetrieb dort doch erst am 30. Juni 1990 um 24 Uhr nachts eingestellt.2 Anders verhielt es sich im benachbarten Ort Hötensleben, wo sich aus den Reihen des örtlichen Armaturenwerkes einzelne Mitarbeiter politisierten und
1
2
Vgl. Auszug aus Manuskript von Achim Walther, o.T., o.D., ArGDH, Bestand: gD6 Grenzöffnung Wende, Presse vor 89-91[gD6]; Ministerium des Innern der DDR: Information der operativen Führungsgruppe vom 20.11.1989, S. 2, BStU Zentralarchiv, MfS HA VII/AKG ZMA Nr. 7195 (Kopie ArGDH, gD6). Kultusministerium Sachsen-Anhalt (Hg.): Gedenken, Nach-Denken (2000), S. 67.
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frühzeitig den Erhalt der Grenzanlage für eine spätere Gedenkstätte betrieben. Aus ihren Reihen wurde zu diesem Zweck eine AG Denkmalpflege gegründet und Achim Walther zum Kreisdenkmalpfleger ernannt. Bereits am 12. Januar 1990 beantragte ein Mitglied des vor Ort stationierten Grenzregiments über die Abteilung Kultur des Rates des Kreises Oschersleben beim Rat des Bezirkes die Aufnahme des Grenzabschnittes Hötensleben in die Bezirksdenkmalliste: »Wir stellen hiermit in Absprache mit der Bürgermeisterin und auf Antrag der AG Denkmalpflege Hötensleben den Antrag, ein Stück Grenzsicherheitsanlagen als ›Mahnmal‹ oder ›Technisches Denkmal‹ in die Bezirksdenkmalliste aus unserem Kreis aufzunehmen.«3 Von dort kam wenige Tage später die Bestätigung, dass eine Überarbeitung der Bezirksdenkmalliste erfolge und dabei das Anliegen berücksichtigt werde. Es wurde empfohlen, den Kontakt zum Landesinstitut für Denkmalpflege in Halle aufzunehmen und eine Unterschutzstellung auf Kreisebene vorzunehmen.4 Parallel brachte Walther als Mitglied des »Runden Tisches« das Grenzdenkmalvorhaben beim örtlichen »Runden Tisch« vor. Ein Beschluss, einen Teil der Grenzanlagen (200m) und Wachtürme unter Denkmalschutz zu stellen sowie im Führungsturm ein Grenzmuseum einzurichten, wurde auf diese Weise schon am 07. Februar 1990 gefasst.5 Damit war der Denkmalverdacht ausgesprochen und es durften (lt. Denkmalpflegegesetz der DDR vom 19. Juni 1975, §13) nun offiziell keinerlei Veränderungen mehr am Gesamtobjekt erfolgen, hierzu zählten v.a. Abrisse bzw. Abbauten von Teilen der Gesamtanlage.6 Darüber setzten sich jedoch die mit dem Abbruch der Grenzanlagen durch das MfAuV beauftragten Grenztruppen hinweg. Legitimiert vom Ministerrat der DDR wurden die Abrisse der Hötenslebener Anlagen weiter in Betracht gezogen. Auch eine Ortsbegehung am 14. Februar 1990, bei der den Grenztruppen der Denkmalstatus der Grenzanlage erläutert wurde, brachte kaum Erfolg. Der Bitte der Denkmalschützer und der Bürgermeisterin, den Abbau von Anlagen zu stoppen, wurde nicht gefolgt.7 In einem Schreiben des Chefs der Grenztruppen hieß es hierzu: »Übereinstimmend wird eine Erhaltung von Grenzsicherungsanlagen an mehreren Orten als nicht zweckmäßig und realisierbar eingeschätzt. Weiterhin muss ich darauf hinweisen, dass
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Schreiben des Rates des Kreises Oschersleben Abteilung Kultur an Rat des Bezirkes Abteilung Kultur vom 12.01.1990, ArGDH, Bestand: Dd Denkmalpflege [Dd]. Schreiben des Rates des Bezirkes Abteilung Kultur an Rat des Kreises Oschersleben Abteilung Kultur vom 05.02.1990, ArGDH, Dd. Information vom 2. Runden Tisch Hötensleben vom 07.02.1990, ArGDH, gD6; Schreiben des Rates der Gemeinde Hötensleben an Kommando der Grenztruppen vom 20.02.1990, ArMI LSA, 11331-8-3, Band 1. Hierüber wurde das Kommando der Grenztruppen in Kenntnis gesetzt, vgl. ebd. Auch die Bürger von Hötensleben wurden hierzu angehalten, vgl. Informationen vom 4. Runden Tisch Hötensleben vom 07.03.1990, ArGDH, gD6. Walther, Achim: Die Entstehung des Grenzdenkmals Hötensleben, Hötensleben 1994, S. 3, ArGDH, lose Blattsammlung.
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bis zum Zeitpunkt der Feststellung der Denkmaleigenschaft […] die Demontage der Grenzsicherungsanlagen nicht ausgesetzt werden kann.«8
In seiner Funktion als neuer Fraktionsvorsitzender der SPD unternahm Walther nach Einstellung des Grenzbetriebes Ende Juni einen weiteren Versuch, die Grenzanlage in Hötensleben als Denkmal auf politischem Wege abzusichern. Unterstützung fand er erneut beim Landesinstitut für Denkmalpflege und in seinem ehemaligen Armaturenwerkskollegen Dieter B., der mit der Märzwahl als Kandidat der CDU das Amt des Bürgermeisters von Hötensleben übernahm. Der im Juli 1990 gestellte SPD-Antrag über die denkmalpflegerische Unterschutzstellung der Anlage im Ortsbereich wurde von der Gemeinde angenommen.9 Der Hauptkonservator des Instituts für Denkmalpflege, Gotthard Voß, begrüßte das Vorhaben, bestätigte die Formulierung des Denkmalverdachtes und kündigte eine Begutachtung an, die quasi eine Unterschutzstellung bedeutete.10 Daraufhin wandte sich die Gemeinde ein zweites Mal an das MfAuV, mit der Bitte um Verzicht auf Abrisse in dem als Denkmal anvisierten Gebiet.11 Gleichzeitig sorgte Voß bei einem gemeinsamen Termin beim Rat des Bezirkes Magdeburg mit der Autobahnmeisterei und den Grenztruppen zudem für einen vorläufigen Demontage- und Baustopp für das gesamte Gelände der nur 12 km entfernten GÜSt Marienborn, die ihren Betrieb offiziell zum 01. Juli 1990 eingestellt hatte.12 U.a. inspiriert durch die denkmal- und geschichtspflegerischen Entwicklungen in unmittelbarer Nachbarschaft (Hötensleben auf sachsenanhaltinischer und Helmstedt auf niedersächsischer Seite), wurde dort erstmals festgelegt, dass für die GÜSt Marienborn eine zukünftige museologische Nutzungskonzeption erarbeitet werde und die Einrichtung einer Dokumentation beabsichtigt sei: »In einem der Gebäude wird ein Museum entstehen.«13 Das gesamte Areal wurde vom Landeskonservator Sachsen-Anhalt als Flächendenkmal vorläufig unter Denkmalschutz gestellt. Dies verhinderte weder Zerstörungen und Schwund durch Vandalismus, noch die unmittelbar anschließende Demontage von Ein-
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Schreiben des Ministerrates der DDR, Ministerium für Abrüstung und Verteidigung Chef der Grenztruppen der DDR an den Rat der Gemeinde Hötensleben vom 27.03.1990, ArGDH, Dd. Gemeinde Hötensleben, Antrag vom 26.06.1990, SPD-Fraktion, ArGDH, Dd. Schreiben des Landesinstituts für Denkmalpflege Halle an die Gemeindeverwaltung Hötensleben vom 09.08.1990, ArGDH, Dd. Schreiben der Gemeinde Hötensleben an das Ministerium für Abrüstung und Verteidigung vom 28.09.1990, ArMI LSA, 11331-8-3, Band 1. Schreiben des Landesinstituts für Denkmalpflege Halle an das Institut für Denkmalpflege Niedersachsen vom 12.07.1990, ArMI LSA, 11333-5-1, Band 1; Voß, Gotthard: »Die innerdeutsche Grenze«, in: Deutsche Stiftung Denkmalschutz (Hg.): Verfallen und vergessen (Band 51, 1995), S. 92. Schreiben des Landesinstituts für Denkmalpflege Halle an das Institut für Denkmalpflege Niedersachsen vom 12.07.1990, ArMI LSA, 11333-5-1, Band 1.
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fahrtstoren, Beschauerbrücken und Schrankenanlage sowie der gesamten Sicherheitstechnik in der Folgezeit.14 Die Überprüfung bzw. Begutachtung des Denkmalschutzcharakters beider Anlagen, GÜSt Marienborn und Grenzanlage Hötensleben, wurde – obwohl teils vergebens – also weit vor Beitritt der DDR zur BRD als Grundlage für jedwede spätere Nutzung als Gedenkstätte eingeleitet.15 Die Idee, sachsenanhaltinische Grenzanlagen zur Geschichtsaufarbeitung und zur Erinnerung an die deutsche Teilung zu erhalten, entstand also zuerst in Hötensleben, nämlich dort bereits unmittelbar nach der Grenzöffnung. Die denkmalpflegerische Bewahrung der Anlage in Hötensleben wurde zugleich Vorbild für die Erhaltung der Großanlage GÜSt Marienborn für historische Zwecke, unmittelbar nach dem Ende des Grenzbetriebes auch dort. Während sich in Hötensleben einzelne Bürger engagierten, ging bei der GÜSt Marienborn die Initiative vor allem vom Landesinstitut für Denkmalpflege aus.16 Insgesamt waren auf diese unterschiedlichen Arten und Weisen bis zum 03. Oktober 1990 die Optionen für beide Grenzareale gegeben, zu Gedenkstätten bzw. Orten der Erinnerung an die deutsche Teilung zu werden. Das denkmalpflegerische Prüfungsverfahren bzgl. der Anlage in Hötensleben und der GÜSt Marienborn wurde unmittelbar nach dem Beitritt der DDR zur BRD fortgeführt. In Folge einer Vor-Ort-Besichtigung der Grenzanlage in Hötensleben am 09. Oktober 1990 wurde auch diese in ihrem Denkmalwert, zumindest im Hinblick auf den nördlichen Teil der Straße nach Schöningen, uneingeschränkt durch das Landesdenkmalamt bestätigt.17 Dies hielt jedoch einzelne Zivilpersonen, aber auch Firmen weiterhin nicht davon ab, sich an dem bis dahin geretteten Grenzdenkmal gratis zu bedienen. Innere Mauern, Panzerhöcker, Drahtzäune und dergleichen wurden – als sei die ehemalige Grenze eine Art Selbstbedienungsladen für Baustoffe – einfach demontiert und abtransportiert. Diese Situation dauerte die Folgemonate an.18 Am 17. Oktober 1990 legte das neu gegründete Landesamt für Denkmalpflege des Landes Sachsen-Anhalt (LfD LSA) ein umfangreiches denkmalpflegerisches Gutachten zur GÜSt Marienborn vor, das bereits erste konzeptionelle Ideen mit Blick auf eine künftige Gedenkstätte einbrachte, aber gezielt noch keine Auswahl
14 Voß, Gotthard: »Die innerdeutsche Grenze«, in: Deutsche Stiftung Denkmalschutz (Hg.): Verfallen und vergessen (Band 51, 1995), S. 92. 15 Schreiben des Landesinstituts für Denkmalpflege Halle an die Gemeindeverwaltung Hötensleben vom 09.08.1990, ArGDH, Dd; Schreiben des Landesinstituts für Denkmalpflege Halle an Autobahndirektion Sachsen-Anhalt vom 06.09.1990, ArMI LSA, 11333-5/1, Band 1. 16 Dass die Idee einer Gedenkstätte auf dem Gelände der ehemaligen GÜSt Marienborn nicht NLfD kommt, konnte im Zuge der Recherchen über das Niedersächsische Landesamt für Denkmalpflege (NLfD) bestätigt werden, vgl. Gespräch mit dem NLfD am 02.02.2007. 17 Institut für Denkmalpflege: Bericht vom 22.10.1990, S. 3, ArGDH, Dd. 18 Walther, Achim: Die Entstehung des Grenzdenkmals Hötensleben, Hötensleben 1994, S. 4, ArGDH, lose Blattsammlung.
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hierfür zu erhaltender Gebäude bzw. Anlagen traf. Als größter und bedeutendster ehemaliger innerdeutscher Grenzübergang außerhalb Berlins sollte dieser insgesamt als ein groß angelegtes Flächendenkmal in all seinen Bestandteilen erhalten bleiben: »Die Monumentalität des Komplexes sowie die fast festungsartige Sicherung […] dokumentieren anschaulich den Unterdrückungscharakter des beseitigten Systems mit seinen stalinistisch geprägten Machtstrukturen. […] Eine Beseitigung dieses Denkmals wäre nicht gerechtfertigt, da hier ein beredtes Zeugnis […] erhalten wird, das als warnendes Beispiel eines undemokratischen, diktatorischen Machtstrebens einen hohen erzieherischen Wert besitzt und in seiner Materialisierung von nicht unterschätzter emotionaler Wirkung ist«,19
forderte das Gutachten. Als Ziel der denkmalpflegerischen Unterschutzstellung wurde definiert: »[…] den nachfolgenden Generationen dieses einzigartige Dokument […] als Zeugnis einer Politik der Unterdrückung und Unfreiheit der Menschen durch ein Staatssystem zu erhalten, zu dokumentieren und in gewisser Weise nachvollziehbar zu gestalten. Als abschreckendes Beispiel einer undemokratischen Entwicklung verkörpert diese Anlage einen hohen erzieherischen Wert und soll auf seine Art und Weise dazu beitragen, das Bewusstsein für Demokratie und Toleranz zu befördern.«20
Nur eine Woche später veranlasste das Landesdenkmalamt die Bezirksverwaltungsbehörde Magdeburg mit der Einleitung diesbezüglicher weiterer Schritte.21 Trotz dieser seitens der Denkmalverwaltungen eindeutigen Beschlusslage, kämpften sowohl die Unterstützer eines Grenzdenkmals in Hötensleben (GDH) als auch die Befürworter einer künftigen Gedenkstätte auf dem Gelände der GÜSt Marienborn in den folgenden drei Jahren wie Don Quijote gegen die Windmühlen.
4.2 K ONZEPTIONEN GDH UND GDT
DER
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Die Gemeinde Hötensleben legte sich bereits unmittelbar nach dem Beitritt zur BRD frühzeitig darauf fest, dem denkmalpflegerischen Gutachten des Landesdenkmalamtes zu folgen. Es sollte maßgeblich der nördliche Teil zur Straße nach Schöningen auf einer Strecke von 350m für ein Grenzdenkmal geschlossen erhalten bzw. wieder hergestellt werden. Im angrenzenden südlichen Gebiet sollte lediglich ein 15m langes Mauerstück, der Kolonnenweg und die Beleuchtung bewahrt wer-
19 Landesamt für Denkmalpflege Halle: Denkmalpflegerisches Gutachten zur Grenzübergangsstelle Marienborn vom 17.10.1990, S. 10, ArMI LSA, 11333-5-1, Band 1. 20 Ebd., S. 11. 21 Schreiben des Landesdenkmalamtes Sachsen-Anhalt an die Bezirksverwaltungsbehörde Magdeburg Abt. Museen und Denkmalpflege vom 24.10.1990, ArMI LSA, 11333-5-1, Band 1.
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den.22 Bereits im Februar 1991 wurde ein entsprechendes Grenzdenkmal – auch vor dem Hintergrund, den Ort für auswärtige Besucher und Investoren attraktiv zu machen – von der Gemeindeversammlung mit 21 zu 2 Stimmen mehrheitlich beschlossen.23 Trotz dieser fortgeschrittenen Reife des Projektes und der Anerkennung als Flächendenkmal, blieb die Unterstützung des Projektes durch das Land SachsenAnhalt und seitens des Bundesministeriums für Verteidigung (BMV) gering. So wurde durch Angehörige der Bundeswehr der B11-Turm abgerissen und konnte am 06. März 1991 gerade noch der Abtransport von Panzerhöckern verhindert werden.24 Ein Bittgesuch des Kreises Oschersleben an die Landesregierung SachsenAnhalt vom 18. März 1991, fortwährende Abrisse verhindern zu helfen, blieb fast zwei Jahre, nämlich bis Februar 1993 unbeantwortet.25 Ein weiterer Antrag an das BMV am 20. März 1991 und an die Wehrbereichsleitung Straußberg am 13. Oktober 1992, auf den Abbau des betreffenden Grenzabschnittes zu verzichten und die Anlagen für ein Grenzdenkmal zu belassen,26 wurde (wie bereits durch das MfAuV zu DDR-Zeiten) im Juli 1992, d.h. 16 Monate später endgültig abgelehnt.27 Seitens des Bezirkes Magdeburg und seitens des BMV wurde dem Hötenslebener Antrag jeweils mit fast wortgleicher Begründung beharrlich nicht entsprochen. »Von den Grenzbefestigungsanlagen gehen nicht unerhebliche Gefahren für die Bevölkerung aus; sie müssen daher vollständig entfernt werden«, lehnte die Wehrbereichsverwaltung den Antrag ab.28 Nur im Falle einer Klärung der herrschenden Eigentumsverhältnisse auf dem ehemaligen Grenzstreifen und bei Vorliegen der Zustimmung der vorgefundenen Grundeigentümer zu einem Projekt »Grenzdenkmal«, könne der Antrag zumindest geprüft werden, stellte die Bezirksregierung Magdeburg in Aus-
22 Gemeinde Hötensleben: Protokoll vom 18.01.1991, ArGDH, Dd. 23 Walther, Achim: Konzept zur Verteidigung des Grenzdenkmalvorhabens vor der GVSitzung am 20. Februar 1991, ArGDH, Dd; Gemeinde Hötensleben: Protokoll vom 25.02.1991, ArGDH, Dd. Der genaue Wortlaut des Beschlusses Nr. 44 – 7 (I)/91 lautet: »Die Gemeinde Hötensleben beschließt das vorgelegte Konzept von Herrn Walther zum Erhalt eines Teiles der Mauer als Grenzdenkmal«, ebd., S. 2. 24 Schreiben des Landkreises Oschersleben an das Bundesministerium für Verteidigung (BMV) vom 20.03.1991, S. 3, ArMI LSA, 11331-8-3, Band 1. 25 Vgl. Kreisverwaltung Oschersleben: Problemsituation zur Schaffung eines Grenzdenkmals in Hötensleben vom 18.03.1991, ArGDH, Dd; Schreiben der Bezirksregierung Magdeburg an die Kreisverwaltung Oschersleben vom 03.02.1993, ArGDH, Dd. 26 Schreiben des Landkreises Oschersleben an das BMV vom 20.03.1991, ArMI LSA, 11331-8-3, Band 1; Schreiben des Landkreises Oschersleben an das BMV vom 05.06.1991, ArGDH, Dd; Schreiben des Landkreises Oschersleben an die Wehrbereichsleitung VII vom 13.10.1992, ArGDH, Dd. 27 Schreiben der Wehrbereichsverwaltung VII an den Landkreis Oschersleben vom 23.07.1992, ArGDH, Dd. 28 Schreiben der Wehrbereichsverwaltung VII an den Landkreis Oschersleben vom 23.07.1992, ArGDH, Dd.
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sicht.29 Lediglich eine Unterbrechung der Abrissarbeiten während des Prüfverfahrens des Hötenslebener Bittgesuches konnte ab Mai 1991 erwirkt werden. Dies betraf u.a. den Abbruch der Grenzanlagen im Bereich des Schützenplatzes, südlich der Straße zum benachbarten Schöningen.30 Die Bemühungen der Kreisverwaltung Oschersleben, das Projekt Hötensleben anderweitig voranzubringen, blieben ebenfalls nahezu vergeblich. So unternahm die Verwaltung erfolglos den Versuch, das GDH an das niedersächsische Projekt Grenzmuseum Helmstedt/Schöningen anzubinden.31 Und auch eine zum Zwecke der langfristigen Absicherung im Laufe des Jahres 1992 angeregte enge Zusammenarbeit mit der GÜSt Marienborn unterblieb.32 Eine mögliche Assoziation der Anlagen GÜSt Marienborn und GDH wurde – entgegen der Auffassung des Landesdenkmalamtes und des Landkreises Oschersleben – von der Bezirksregierung Magdeburg einfach ignoriert.33 Auf Veranlassung der oberen Denkmalschutzbehörde bzw. des LfD LSA wurde lediglich im Juli 1992 für das Jahr 1993 ein einmaliger Landesmittelzuschuss in Höhe von 40.000 DM als Komplementärmittel von der Bezirksregierung bewilligt.34 Diese Landesmittel waren allerdings an die Bedingung geknüpft, dass der Kreis 50.000 DM und die Kommune weitere 44.500 DM für 1993 bereitstellen. Dieser Auflage wurde mit einstimmigem Gemeindebeschluss Nr. 188-22 (I)/92 vom 15. Juli 1992 entsprochen.35 Eine langfristige Planungssicherheit erhielt das GDH dadurch nicht, dies war seitens der Bezirksregierung zu diesem Zeitpunkt offenbar auch nicht gewollt. Die Bezirks- und Landesregierungen konzentrierten sich inzwischen stattdessen – wenn überhaupt – ausschließlich auf die ehemalige GÜSt Marienborn. Dies bedeutete allerdings keinesfalls, dass eine Gedenkstätte auf dem Gelände der GÜSt Marienborn uneingeschränkt die volle politische Unterstützung genoss. Im Septem-
29 Ebd.; Schreiben der Bezirksregierung Magdeburg an die Kreisverwaltung Oschersleben vom 03.02.1993, ArGDH, Dd. 30 Schreiben des BMV an den Landkreis Oschersleben vom 17. Mai 1991, ArGDH, Dd; Schreiben des Auflösungskommando der ehemaligen Grenztruppen Dienststelle Stendal an den Landkreis Oschersleben vom 03.07.1991, ArGDH, Dd. Zum Problem der Zuständigkeiten in Hötensleben vgl. auch Noske, Henning: »Abbau der Grenze im Zuckeltrab«, in: Braunschweiger Zeitung vom 08.08.1991. 31 Schreiben der Kreisverwaltung Oschersleben an Landesregierung Sachsen-Anhalt Ministerium für Bundes- und Europaangelegenheiten vom 03.05.1991, ArGDH, Bestand: Dü Marienborn, HE, Gedenkstättenfrage, AK Höt-Mb [Dü]; Schreiben der Gemeinde Oschersleben an die Bezirksregierung Magdeburg vom 14.10.1992, ArMI LSA, Bestand: 11338-1/GD Hötensleben, Band 1 [11338-1/GDH]. 32 Ebd. 33 Vgl. Schreiben des LfD LSA an das Landratsamt Oschersleben Untere Denkmalschutzbehörde vom 09.11.1992, ArGDH, Dd. 34 Gemeinde Hötensleben: Protokoll vom 15.07.1992, ArGDH, Dd; Lampadius, Martin: Walther will Erinnerungen schärfen, in: Braunschweiger Zeitung vom 22.07.1992. 35 Gemeinde Hötensleben: Protokoll vom 15.07.1992, ArGDH, Dd; o.V.: »Die Brutalität der Grenze soll sichtbar werden«, in: Helmstedter Blitz vom 29.12.1992.
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ber 1991 lag zwar für das ABM-Projekt »Konzipierung, Planung und Aufbau einer Gedenk- und Begegnungsstätte ›Deutsche Teilung‹ « immerhin eine Befürwortung seitens der Bezirksregierung vor,36 im Februar 1992 – nur drei Monate nachdem für das gesamte Marienborner Gelände der Denkmalschutz ausgesprochen wurde – beschloss das Landeskabinett allerdings: »Bei den zuständigen Stellen soll darauf hingewirkt werden, dass es zügig zu einem Abbau eines überwiegenden Teils der Grenzanlagen in Marienborn kommt.«37 D.h., Ausstattungen und Bauten, die theoretisch zur Gedenkstätte hätten gehören können, und zu diesem Zweck unter Denkmalschutz gestellt worden waren, sollten nun dem Denkmalstatus wieder enthoben und weiträumig geschliffen werden. Die Pläne des LfD LSA wurden damit erheblich durchkreuzt und die Denkmalschutzerklärung vom 14. November 1991 quasi für ungültig erklärt.38 Hieß es im Hinblick auf die zukünftige Rolle der GÜSt als historischer Ort bzw. Gedenkstätte im Bericht des LfD LSA noch abschließend: »Es ist wichtig, dass eine eindeutige Verantwortung für die Erhaltung der festen und der beweglichen Teile, […], für die Dokumentation der GÜSt, ihre zukünftige Verwaltung als Museum u.a. festgelegt wird«,39 und fand der 1990 ausgesprochenen Denkmalverdacht bzw. das damalige denkmalpflegerische Gutachten bzgl. der Unterschutzstellung des gesamten Areals der GÜSt Marienborn von Seiten der Denkmalpflege uneingeschränkte Bestätigung, verfolgte die Landesregierung doch mittlerweile eine entgegen gesetzte Politik. Nicht der Erhalt, sondern der weitflächige Abriss eines Großteils der Grenzanlage bzw. des Flächendenkmals wurde von der Regierung beschlossen. Diese geringe landespolitische Unterstützung kommt auch in einem Schreiben des kunstgeschichtlichen Seminars der Universität Göttingen zum Ausdruck, in dem es mit der Bitte um Förderung des Ge-
36 Schreiben der Bezirksregierung Magdeburg an die Gesellschaft für Arbeits- und Berufsförderung vom 30.09.1991, ArMI LSA, 11333-5/1, Band 1. 37 Staatskanzlei Land Sachsen-Anhalt (StkLSA): Niederschrift über die 56. Sitzung des Landeskabinetts am 28.01.1992 vom 10.02.1992, ArMI LSA, 11333-6/3, Band 1. 38 Vgl. Schreiben des Instituts für Denkmalpflege Halle an das Autobahnbauamt Halle vom 08.10.1991, ArMI LSA, 11333-5/1, Band 1; Schreiben des LfD LSA an das Ministerium für Finanzen des Landes Sachsen-Anhalt vom 14.11.1991, ArMI LSA, 11331-8-3, Band 1. Die Erklärung wurde vom Landesamt für Denkmalpflege später noch ergänzt mit einer bau- und kunstgeschichtlichen Stellungnahme, vgl. LfD LSA: Stellungnahme zum Denkmalwert der ehemaligen Grenzübergangsstelle Marienborn aus bau- und kunstgeschichtlicher Sicht vom 16.02.1992, ArMI LSA, 11333-5/1, Band 1. Eine Bestätigung der Unterschutzstellung des gesamten Areals ist ebenfalls durch ein diesbezügliches Schreiben an die Gesellschaft für Arbeits- und Berufsförderung mbH belegt, vgl. Schreiben des Landesamtes für Denkmallpflege Sachsen-Anhalt an die Gesellschaft für Arbeits- und Berufsförderung mbH vom 20.02.1992, ArMI LSA, 11333-5/1, Band Darin heißt es: »Hiermit bestätigen wir Ihnen, dass wir entsprechend dem Denkmalschutzgesetz des Landes Sachsen-Anhalt vom 21.10.1991, die ehem. GÜSt Marienborn insgesamt unter Denkmalschutz gestellt haben.« 39 Schreiben des LfD LSA an das Ministerium für Finanzen des Landes Sachsen-Anhalt vom 14.11.1991, ArMI LSA, 11331 8-3, Band 1, S. 2.
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denkstättenvorhabens an die Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth lautet: »Während des eingangs zitierten Lokaltermins gewann ich den Eindruck, dass die zuständige Denkmalbehörde in ihrem Bemühen, das genannte Areal als Denkmal zu definieren, vor großen Durchsetzungsschwierigkeiten steht.«40 Hauptgrund hierfür waren die seit Frühjahr 1992 forcierten Planungen des Ministeriums für Wirtschaft, Technologie und Verkehr des Landes SachsenAnhalt (MWTV LSA), die ehemalige GÜSt Marienborn im Zuge des 6-spurigen Autobahnausbaus der A2 umzunutzen als Tankstelle oder Rasthof.41 Dementsprechend fanden die Anregungen des LfD LSA zur Ausweitung der ABMMaßnahme »Gedenk- und Begegnungsstätte Deutsche Teilung« nur zögerlich Anklang.42 Das durch die ABM-Maßnahme von der Gesellschaft für Arbeits- und Berufsförderung erstellte und im April 1992 vorgelegte erste umfangreiche Gedenkstätten-Grobkonzept wurde nun sogar vom LfD LSA als politisch nicht gewollt, und entsprechend als nicht realisierbar abgelehnt.43 Es war der Regierung zu riesig dimensioniert, da es u.a. die Einrichtung eines Schullandheimes im ehemaligen Verwaltungskomplex (westlich des Kernbereiches der GÜSt) und eine großzügig angelegte Gedenkstättenanlage bzw. eine Art »Geschichtspark« mit angeschlossenem Museumspfad inkl. einer europäischer Begegnungs- und Bildungsstätte und verschiedensten Freizeitangeboten (Openair-Konzerte, Diskothek, Rundflüge, Sportanlagen usw.) vorsah.44 Die mit diesem GedenkstättenGrobkonzept ebenfalls kalkulierten absehbaren hohen Kosten der Gesamtanlage (die Instandsetzung wurde mit ca. vier Millionen DM, die Unterhaltungskosten wurden mit ca. 540.000 DM pro Jahr angegeben) begünstigten zudem die Überlegungen der Politik, eine ökonomischere bzw. verkehrspolitische Nutzung einer rein erinnerungskulturellen vorzuziehen.45 Regierungsseitig wurde inzwischen also eher die Errichtung eines LKW-Parks anstatt eines »Geschichtsparks« begrüßt.46
40 Vgl. Schreiben der Georg-August Universität Göttingen Kunstgeschichtliches Seminar an die Präsidentin des Deutschen Bundestages Rita Süßmuth vom 27.02.1992, ArMI LSA, 11333-5/1, Band 1. 41 Kultusministerium Sachsen-Anhalt (MK LSA): Vermerk vom 06.03.1992, ArMI LSA, 11333-5/1, Band 1; Schreiben des MK LSA an das MI LSA vom 11.03.1992, ArMI LSA, 11333-5/1, Band 1. 42 LfD LSA: Bericht über Beratungen und Besichtigungen am 26.02.1992 vom 28.02.1992, ArMI LSA, 11331 8-3, Band 1. 43 Schreiben des LfD LSA an die Gesellschaft für Arbeits- und Berufsförderung mbH vom 06.04.1992, ArMI LSA, 11333-5/1, Band 1. 44 Gesellschaft für Arbeits- und Berufsförderung mbH: Errichtung einer Gedenk- und Begegnungsstätte »Deutsche Teilung« auf der ehemaligen Grenzübergangsstelle (GÜSt) Marienborn (-Helmstedt), Frühjahr 1992, ArGDT, Bestand: 11333, 8. Konzeptionen (8.18.5) [11333, 8]. 45 Ebd. 46 Vgl. hierzu auch Noske, Henning: »›Der letzte macht das Licht aus‹. Manchmal spukt’s am alten Grenzübergang«, in: Braunschweiger Zeitung vom 11.04.1992.
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Neben diesen von politischer Seite vorgebrachten ökonomischen Sachzwängen, sah sich die Landesregierung aber auch vertraglich zu Alternativplanungen animiert. So war es der damaligen Autobahndirektion der DDR noch vor Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gelungen, mit dem Bundesverkehrsministerium Verträge über die Nutzung dieser GÜSt als Autobahnnebenbetrieb abzuschließen. Da die zugrunde liegende Nebenbetriebskonzeption (vermutlich in Unkenntnis der gleichzeitigen Gedenkstättenplanungen) nach dem 03. Oktober 1990 vom Bundesverkehrsministerium bestätigt wurde und auch das Bundesfinanzministerium für die Anlagen kein Bedarf anmeldete, lieferten diese Verträge der Landesregierung fortan genug Argumente, um die erinnerungskulturelle Nutzung zu minimieren und das groß angelegte Gedenkstättenkonzept zu kippen.47 Das MWTV LSA verteidigte ihre Pläne überdies mit dem Argument, die Versorgung der zukünftigen Autobahnbenutzer sei zu gewährleisten, obwohl in unmittelbarer Nachbarschaft zur GÜSt Marienborn doch bereits zwei große Raststätten- und Tankstellenbetriebe vorgehalten wurden (Schöningen und Helmstedt). Schließlich wurde die Realisierung einer Gedenkstätte sogar von der klaren räumlichen Abgrenzbarkeit von Nebenstellenbetrieb und Museum abhängig gemacht, frei nach der Devise, nur solange der Autobahnbetrieb nicht beeinträchtigt werde, könne es eine Gedenkstätte geben. 48 Um für die Gedenkstätte das »richtige Maß« zu finden und zur Koordinierung der verschiedenen Nutzungsansprüche, wurde seitens der Landesregierung schließlich eine interministerielle Arbeitsgruppe mit Vertretern des Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt (MK LSA), des Ministerium des Innern Land SachsenAnhalt (MI LSA), des MWTV LSA, der sachsenanhaltinischen Landeszentrale für politische Bildung (LfPB) sowie unter Hinzuziehung eines Ingenieurbüros gebildet.49 Bezüglich der bisherigen Gedenkstättenentwürfe hielt das noch im Sommer 1992 als Arbeitsergebnis vorlegte Nutzungskonzept als Zwischenergebnis fest: »Auf dieser Arbeitsebene wurde Einvernehmen darüber erzielt, auf dem Gebiet der ehemaligen GÜSt Marienborn eine modernen Erfordernissen gerecht werdende Tankstellen- und Raststättenanlage zu errichten, an die sich die schlichte Gedenkstätte anschließt […]. [Herv. i.O.]«50 D.h., die Gedenkstättenidee wurde klar der Tankstellen- und Raststättenlösung untergeordnet, der Autobahnbetrieb erhielt höchste Priorität, vom »Geschichtspark« wurde weitgehend Abstand genommen. Präzise bedeutete dies: für die Gedenkstätte sollten maximal einige Abfertigungsstrecken, die Montagehalle, das Dienstgebäude (als Museumsbau) und höchstens noch ein weiteres Gebäude (als Kapelle zum Gedenken der Opfer der deutschen Teilung) bereitgestellt werden. Alle weiteren Anlagen (ca. 90%) wurden als verzicht- und demontierbar eingestuft.51
47 Schreiben des MWTV LSA an die Oberfinanzdirektion Magdeburg vom 21.04.1992, ArGDT, 11333, 8. 48 Ebd. 49 Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt (u.a.): Nutzungskonzept für die ehemalige Grenzübergangsstelle (GÜSt) Marienborn, Sommer 1992, ArGDT, 11333, 8. 50 Ebd., S. 2. 51 Ebd., S. 3.
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Obwohl das Nutzungskonzept die Bedeutung des historischen Ortes und seine Funktion als Gedenkstätte grundsätzlich anerkannte und sich in diesem Sinne auch gegen Marienborn als »Vergnügungspark« aussprach, war damit die Weiche gestellt für ein anderes Extrem, für eine Kleinstlösung, nämlich eine Gedenkstätte, die den eigentlichen repressiven Charakter konsequent minimierte, den sie eigentlich repräsentieren sollte. Die Dimension der Sicherheitsanlagen, die Unmöglichkeit für Ostdeutsche, ohne Ausreisegenehmigung die Grenze zu überwinden, sprich, die Erfahrbarkeit der systematischen Unfreiheit wurde reduziert auf die Vermittlung bloßer Schikanen von Westdeutschen bei ihrer Einreise in die DDR. Hatte das ABMGrobkonzept die Tendenz, die historische Dimension des Ortes durch die Errichtung eines »Geschichtsabenteuerparks« zu konterkarieren, tendierte die interministerielle Nutzungskonzeption geschichtspolitisch vor allem in Richtung einer »Verkleinerung« und perspektivischen Verengung des DDR-Grenzregimes. Die Gefahr, dass die gesamte Anlage – entgegen ihrer eigentlichen historischen Bedeutung – dann mehr gemeinsam haben würde mit herkömmlichen Grenzkontrollpunkten als mit dem eigentlichen DDR-Grenzregime im Besonderen, wurde billigend in Kauf genommen. Ein politisches Zugeständnis zu dieser geschichtspolitisch verharmlosenden Appendix-Lösung wurde nur insofern gemacht, als dass die Gedenkstätte bei einer vorgesehenen Gesamtkonzeption zur Landesförderung der Gedenkstätten des Landes Sachsen-Anhalt berücksichtigt werden sollte, im Unterschied beispielsweise zum Grenzdenkmal Hötensleben. So wurde immerhin eine Finanzierung einer klein gearteten Gedenkstätte Marienborn über Landesmittel (ggf. sogar über komplementäre Bundesmittel) in Aussicht gestellt.52 Diese Kleinstlösung der Gedenkstätte wurde noch im Frühjahr 1992 in einem Bericht über das Nutzungskonzept dem Landeskabinettkabinett zur Entscheidung vorgelegt 53 und im Zuge des Kabinettsbeschlusses vom 23. Juni 1992, bei dem auch die Zuständigkeit über Gedenkstätten neu geregelt wurde, angenommen.54 Obwohl sich das MI LSA als nunmehr federführendes Ministerium ernsthaft bemühte, das Gedenkstättenprojekt weiterhin grundsätzlich zu realisieren, ging es zunächst nicht so weit, einer Gedenkstätte Marienborn höhere Priorität einzuräumen als einer Raststätte. An der Reihenfolge – erst Tankstelle, dann Gedenkstätte – wur-
52 Ebd., S. 4. 53 Ministerium des Innern Sachsen-Anhalt (MI LSA): Bericht des Ministerium des Innern über ein Nutzungskonzept für die ehemalige Grenzübergangsstelle (GÜSt) Marienborn, Frühjahr 1992, ArGDT, 11333, 8. 54 Siehe hierzu u.a. Schreiben der StkLSA an das Niedersächsische Ministerium für Bundes- und Europaangelegenheiten vom 30.04.1992, ArMI LSA, 11330-1, Band 1; StkLSA: Kabinettsvorlage vom Mai 1992, ArMI LSA, 11330-1, Band 1; Kultusministerium Sachsen-Anhalt: Vermerk vom 08.05.1992, ArMI LSA, 11330-1, Band 1; MI LSA: Vermerk vom 11.05.1992, ArMI LSA, 11330-1, Band 1; StkLSA: Niederschrift über die 74. Sitzung des Landeskabinetts am 23.06.1992 vom 29.06.1992, ArGDT, 11333, 8; Beschluss der Landesregierung über die Zuständigkeiten von Gedenkstätten in: Ministerialblatt LSA Nr. 30/1992, S. 804. Ab dem 23.06.1992 war das MI LSA für das Gedenkstätten-Ressort zuständig, vgl. ebd.
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de festgehalten. Für das Grenzdenkmal in Hötensleben zeigte sich das MI LSA erst gar nicht zuständig.55 Entsprechend blieb die Durchsetzung der Gedenkstättenvorhaben auf Regierungsebene erschwert, es dominierten Parallelinteressen. Am Nutzungskonzept, das den Schwerpunkt auf eine Raststätten- und Tankstellen-Nutzung legte, wurde auch dort festgehalten. Die Stellungnahme zum Antrag der CDU- und FDP-Fraktionen zum Aufbau einer Mahn- und Gedenkstätte Deutsche Teilung im Landtag Sachsen-Anhalt fiel – trotz einer erstmaligen öffentlichen Anerkennung der historischen Symbolhaftigkeit des Ortes – daher weiterhin im Sinne der Tankstellen- und Raststättenanlage aus.56 So hieß es zwar einerseits in der Stellungnahme: »Dieses Zeitdokument muss als Beispiel eines undemokratischen, diktatorischen Machtstrebens erhalten bleiben. Mit seiner abschreckenden Wirkung ist es ein Symbol für eine Epoche unserer gemeinsamen deutschen Geschichte, in der Freiheit und Menschenrechte oft missachtet wurden«,57 andererseits wurde die Landesregierung nicht müde zu betonen: »Grundsätzlich wird ein solches Denkmal nur durch eine entsprechende Nutzung angemessen erhalten werden können. Aus diesem Grund sieht das […] bereits vorliegende Nutzungskonzept vor, […] eine […] Tankstellen- und Raststättenanlage zu errichten […]. Dies bedingt, dass der größere Teil der ehemaligen GÜSt Marienborn nach Aufhebung des Denkmalschutzes abgebaut werden muss. […] Bei der vorgesehenen Nutzung ist davon auszugehen, dass die Raststätte Marienborn gerade wegen der nebengelegenen Gedenkstätte eine besondere Anziehungskraft haben wird.«58
Zwar traten die Widersprüchlichkeiten (»Erhalt aufgrund hoher historischer Symbolkraft« versus »Abrisspläne«, »Raststätte finanziert Gedenkstätte« versus »Raststätte profitiert von Gedenkstätte«) in der Argumentation offen zu Tage, eine Bereitschaft zu alternativen Lösungen, jenseits von »Geschichtserlebnispark« und »Billiglösung« zeigte sich nicht. Die Reduktion auf das Minimum wurde stattdessen zur Prämisse für konkretere Planungen und zur Bedingung für die Errichtung einer Gedenkstätte Deutsche Teilung (GDT) erhoben.59 Der Landtagsbeschluss vom 18. September 1992, durch den erstmals der Aufbau einer Gedenkstätte politisch entschieden wurde, legte entsprechend die von der Regierung empfohlene Appendix-Variante zugrunde.60 Die
55 Vgl. MI LSA: Unterrichtung über Vorhaben im Arbeitsgebiet »Gedenkstätten« vom 15.07.1992, ArMI LSA, 11331-2, Band 1 56 Landtag Sachsen-Anhalt, Drs. 1/1802 vom 10.09.1992, Antrag der Fraktionen der CDU und FDP. 57 Landesregierung Sachsen-Anhalt: Stellungnahme der Landesregierung »Aufbau einer Mahn- und Gedenkstätte Deutsche Teilung« vom 11.12.1992, ArGDT, 11333, 8 sowie ArMI LSA, 11333-6/3, Band 1; s.a. Landtag Sachsen-Anhalt, Drs. 1/2242 vom 20.01.1993, S. 5. 58 Ebd., S. 2. 59 Vgl. auch Lampadius, Martin: Lüdgemeier: »›Wir wollen keinen Erlebnispark‹«, in: Braunschweiger Zeitung vom 12.09.1992. 60 Landtag Sachsen-Anhalt, Plenarprotokoll 1/36 der 36. Sitzung vom 18.09.1992.
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Landesregierung wurde per Beschluss allerdings nun immerhin erstmals aufgefordert, allgemein »Maßnahmen zum Aufbau einer Mahn- und Gedenkstätte Deutsche Teilung auf dem Gebiet der ehemaligen Grenzübergangsstelle Marienborn zu ergreifen«.61 Damit wurde – ebenfalls im Sinne der Gedenkstätte – auch eine mögliche Verankerung dieser zukünftigen Gedenkstätte in die Gedenkstättenkonzeption des Landes Sachsen-Anhalt, d.h. ihre Aufnahme in die Liste der vom Land geförderten Einrichtungen, weiterhin zumindest in Aussicht gestellt.62 Um diesem Ziel etwas näher zu kommen, definierte das MI LSA in einem seinem Gedenkstättenbericht an die Regierung die geplante Gedenkstätte Marienborn als sinnvolle Ergänzung zur allseits anerkannten Stasi-Gedenkstätte Moritzplatz in Magdeburg. Für beide Gedenkstätten wurde zweifelsfrei die Landesträgerschaft empfohlen.63 Um Marienborn innerhalb der Gedenkstättenlandschaft in SachsenAnhalt zusätzlich mehr Gewicht zu verleihen und aufgrund der Unterstützung, die das Grenzdenkmal Hötensleben durch das LfD LSA bzw. die Bezirksregierung Magdeburg erhielt, tauchten im Herbst 1992 innerhalb des MI LSA zudem erstmals ernsthafte Überlegungen auf, das Grenzdenkmal Hötensleben der Gedenkstätte Marienborn anzuschließen bzw. es bei zukünftigen Planungen zur Gedenkstätte Deutsche Teilung stärker zu berücksichtigen: »Es werde seitens des MI erwogen, dass aufgrund der Lage zueinander […] beide Vorhaben organisatorisch zu einem Gesamtvorhaben zusammenzufassen.«64 Einen politischen Dämpfer erhielt das MI LSA nur wenige Wochen später, als in der Antwort auf die Große Anfrage der SPD Drs. 1/1732, die Landesregierung plötzlich wieder hinter den Beschluss vom 18. September 1992 zurückruderte, in dem es plötzlich nur noch von »Überlegungen zur möglichen Einrichtung einer Gedenkstätte ›Deutsche Teilung‹« sprach und eine Landesmittelförderung – wegen gemutmaßter mangelnder landespolitischer Bedeutung – bzgl. Marienborn nicht einmal mehr erwähnte, von der Berufung einer Sachverständigenkommission zur weiteren Gedenkstättenplanung ganz zu schweigen.65 Auch seitens der Bezirksregierung Magdeburg und seitens des LfD LSA schwand langsam die Unterstützung, wurde der ehemalige Führungsturm (vormals fester Bestandteil des Nutzungskonzeptes) plötzlich für verzichtbar erklärt und fand sich das Landesamt zunehmend mit dem Abriss des Großteils des Areals und dem sechsspurigen Ausbau der Autobahn A2 ab.66 Den Abrissen der Einzelteile des Geländes wurde immer häufiger
61 Landtag Sachsen-Anhalt, Drs. 1/36/1802 B vom 18.09.1992. Bestätigt wurde dieser Beschluss ebenfalls durch die Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage Drs. 1/1963 vom 29.10.1992, S. 29 u. S. 60; vgl. Landtag Sachsen-Anhalt, Drs. 1/1963 vom 29.10.1992, Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage Drs. 1/1732. 62 Vgl. MI LSA: Sachstandsbericht vom 08.10.1992, ArMI LSA, 11331-2, Band 1. 63 Ebd., S. 9. 64 MI LSA: Protokoll vom 29.10.1992, S. 2, ArMI LSA, 11331-2, Band 2. 65 Landtag Sachsen-Anhalt, Drs. 1/1963 vom 29.10.1992, Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage Drs. 1/1732, S. 29, 60. 66 Schreiben der Bezirksregierung Magdeburg an das MI LSA vom 07.12.1992, S. 3-4, ArMI LSA, 11331-8-3, Band 1.
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zugestimmt, rechtfertigte das Denkmalamt nun einen Erhalt der Einzelteile nur bei Erhalt des Gesamtareals. Dies entsprach quasi einem Freibrief für flächendeckende Abräumung des Gebietes und bedeutete de facto eine Aufhebung des Bestandsschutzes insgesamt. Da das MI LSA zunehmend die Möglichkeit einer reinen Landesmittelfinanzierung für die zukünftige Gedenkstätte Deutsche Teilung angesichts der geringen landespolitischen Unterstützung in Frage stellen musste, und da wiederum auf Bundesebene (im Zuge der Planungen zur Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten in Ostdeutschland) die Förderung von Gedenkstätten mit gesamtstaatlicher Bedeutung in Aussicht gestellt wurde, reichte das MI LSA zwei Tage vor Jahresende 1992 beim Bundesministerium des Innern einen Antrag zur Beteiligung des Bundes an der Errichtung einer Gedenkstätte auf einem Teilgebiet des ehemaligen Grenzübergangs Marienborn ein.67 Damit der Bund sich beteiligt, wurde die Gedenkstätte kurzerhand zum Projekt von »zentralstaatlicher Bedeutung« erhoben, obwohl auf landespolitischer Ebene noch nicht einmal Einhelligkeit darüber bestand, dass es sich um ein Projekt von landesweiter Bedeutung handelte.68 Der Antrag an das BMI ließ die Raststättenplanung selbstverständlich nicht unerwähnt und erhob diese geradezu zum Kernbestandteil und Hauptbezugspunkt der zu errichtenden Gedenkstätte: »Bei der stattdessen zu errichtenden Tankstellen- und Raststättenanlage […] können dann alle Möglichkeiten freundlicher Gestaltung ausgeschöpft werden, um ein positives Gesamtbild von Raststätte und Gedenkstätte zu erhalten. Dabei ist davon auszugehen, dass die Raststätte gerade wegen der nebengelegenen Gedenkstätte Anziehungskraft haben wird.«69
Die Gedenkstätte wurde somit zum »Aushängeschild« bzw. »Werbeträger« der Raststätte umfunktioniert, der Raststätte wurde wiederum die Funktion eines verschönernden »Accessoires« zugeschrieben, die eine positive Identifikation des Besuchers mit diesem Gelände und seiner Einreise ins Land Sachsen-Anhalt ermöglichen sollte. Die Betonung der Gedenkstätte wurde auf das Erlebnis der Wiedervereinigung gelegt, die Negativität des Ortes auf die Einreiseschikanen für Reisende von West nach Ost reduziert. Auch wenn auf eine museologische Dokumentation nicht gänzlich verzichtet werden sollte, sollte die Anlage schließlich insgesamt aber doch durch die ästhetisch willkommenere, neu zu schaffende Tank- und Rastsituation »neutralisiert« werden.70 Im Grunde genommen wurde somit faktisch Geld beantragt für eine Tank- und Raststätte als Verschönerungsmaßnahme der historisch verbrämten Landesgrenze.
67 Schreiben des MI LSA an das Bundesministerium des Innern (BMI) vom 29.12.1992, ArMI LSA, 11333-6, Band 1. 68 Ebd., S. 4-5 [gemeint war wohl »gesamtstaatliche Bedeutung«]. 69 Ebd., S. 3. 70 Ebd.; Schreiben des Ministeriums des Innern Sachsen-Anhalt an das BMI vom 06.07.1993, ArMI LSA, 11333-1, Band 2.
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Das BMI gab dem Antrag auf Bundesmittel nur bedingt statt. Eine Beteiligung an der Errichtung der Gedenkstätte wurde vorerst ausgeschlossen, lediglich ein Zuschuss für die Kosten einer einzusetzenden Sachverständigenkommission wurde gewährt, unter der Voraussetzung, dass die Kommission auch einen Beauftragten des Bundes unter den Sachverständigen finde.71 Mit dem Einsetzen einer Sachverständigenkommission sollte wenigstens eine Grundvoraussetzung für eine mögliche Beteiligung des Bundes an der Gedenkstätte Marienborn erfüllt werden sowie die Förderbereitschaft des Bundes für die Errichtung einer Gedenkstätte und deren Unterhalt erzeugt werden. Bis dahin blieb das BMI zurückhaltend.72 Damit hatte das MI LSA immerhin erreicht, dass das Land Sachsen-Anhalt schon mal die Sachverständigenkosten erstattet bekam. Wenngleich sich das LfD LSA zunehmend dem wirtschafts- und verkehrspolitischen Willen der Landesregierung im Hinblick auf das Ausmaß der Gedenkstätte Marienborn beugte, so versuchte es parallel, ggf. auch als Maßnahme, die Erinnerung an der Grenze nicht vollends gegenläufigen Interessen zu opfern, das Grenzdenkmal Hötensleben stärker in die landes- und bundespolitische Verantwortung einzubinden. In seinem Zwischenbericht, der auch als Fachgutachten zur Gedenkstättenkonzeption des Landes Sachsen-Anhalt hinzugezogen wurde, wurde das Grenzdenkmal Hötensleben dem Grenzübergang Marienborn in seiner landespolitischen Bedeutung gleichgestellt: »Geschützt werden müssen Bereiche der ehem. Grenze, die weitgehend erhalten sind und in ihrer Gesamtheit einen Eindruck von der Organisiertheit, Brutalität und Raffinesse der Sperranlagen bieten. Das sind in Sachsen-Anhalt bisher nur zwei Denkmalbereiche: GÜSt Marienborn (A2), Mauerabschnitt Hötensleben (Landkreis Oschersleben).«73
Gleichzeitig wandte sich das LfD LSA nach Vorlage einer ersten von Achim Walther gefertigten, umfassenden Denkmalpflegerischen Zielsetzung74 auch an Mitglieder des Bundestages (MdB), um auch in den Bundestag hinein für den Erhalt des GDH und eine Kooperation zwischen GDH mit der geplanten Gedenkstätte Ma-
71 Schreiben des BMI an das MI LSA vom 16.02.1993, ArMI LSA, 11333-6, Band 1; Schreiben des Ministeriums des Innern Sachsen-Anhalt an das BMI vom 06.07.1993, ArMI LSA, 11333-1, Band 2; Schreiben des BMI an das MI LSA vom 17.09.1993, ArMI LSA, 11333-1, Band 2. 72 Siehe handschriftlicher Hinweis auf MI LSA: Vermerk vom 19.08.1993, ArMI LSA, 11333-6, Band 1. 73 Schreiben des Landesamtes für Denkmalpflege Sachsen-Anhalt an die Bezirksregierung Magdeburg, Zwischenbericht vom 02.02.1993, ArMI LSA, 11331-8-3, Band 1. 74 Walther, Achim: Grenzdenkmal Hötensleben. Denkmalpflegerische Zielstellung – Entwurf vom Januar 1993, ArGDH, Dd. Die Zielsetzung umfasste eine ausführliche historische und denkmalpflegerische Dokumentation des Grenzabschnittes in Hötensleben auf über 50 Seiten. Sie war damit einem umfassendere Bestandsaufnahme und Gedenkstättenkonzeption als die zu der geplanten Gedenkstätte Marienborn.
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rienborn sowie um Landes- und Bundesbeteiligung zu werben.75 In einem diesbezüglichen Gutachten hierzu hieß es sogar: »Denkmalwert besitzen nur diejenigen ehem. Grenzbereiche, die die Perfektion der Grenze […] dokumentieren. Und das ist in Sachsen-Anhalt nur in Hötensleben der Fall, vermutlich einzigartig im Verlauf der gesamten 1600 km ehem. DDR-Grenze. Hier hat die Gemeinde Hötensleben vorbildlich eine Dokumentationspflicht übernommen, die finanziell von Bund und Land unterstützt werden muss.«76
Ungeachtet dessen blieb Hötensleben fortan mehr und mehr von Landes- und Bundesseite bei konkreten Planungen unberücksichtigt.77 Das Angebot von Achim Walther, sich persönlich aufgrund seiner Funktion als Leiter der unteren Denkmalschutzbehörde und aufgrund einer möglichen Kooperation zwischen Marienborn und Hötensleben als Sachverständiger an der Konzeption von Marienborn beteiligen zu können, wurde ignoriert. Das MI LSA animierte Hötensleben zwar, es müsse eine sehr enge Beziehung zur sich in Planung befindlichen Gedenkstätte Marienborn aufbauen, befördernde Maßnahmen seitens des Landes in diese Richtung unterblieben allerdings.78
75 Schreiben des Landesamtes für Denkmalpflege Sachsen-Anhalt vom 21.08.1992 vom 22.04.1993, ArMI LSA, 11333-6, Band 1. 76 Landesamt für Denkmalpflege Sachsen-Anhalt: Zum Denkmal der deutschen Geschichte Hötensleben, DDR-Mauer vom 21.04.1993, ArGDH, Dd. 77 Gemeindeverwaltung Hötensleben: Protokoll vom 01.03.1993, ArGDH, Bestand: De1 Eigentumsfrage Land Kreis [De1]. Mangels landespolitischer Unterstützung als Grundvoraussetzung einer Bundesförderung (vgl. Schreiben des MdB Eberhard B. an die Untere Denkmalschutzbehörde Achim Walther vom 11.03.1993, ArGDH, Bestand: De2 Eigentumsfrage, Kataster, Bund [De2]), empfahl der MdB Eberhard B. daher u.a. die Gründung eines vom Projekt Marienborn unabhängigen Trägervereins und eine stärkere Zusammenarbeit mit der LfPB LSA, vgl. Walther, Achim: Vermerk vom 23.02.1993, ArGDH, De2. Bis zum April 1993 gelang es der Gemeinde Oschersleben nur von Seiten der Bezirkregierung Magdeburg sowie von Seiten des Kreistages, die volle Unterstützung bei der Gestaltung und Pflege des Denkmals zugesagt zu bekommen, vgl. Gemeindeverwaltung Hötensleben: Protokoll vom 01.03.1993, ArGDH, De1; Büro des Kreistages: Protokoll vom 21.04.1993, ArGDH, De1; Kreistag Oschersleben: Erklärung des Kreistages Oschersleben vom 05.05.1993. Darin hieß es: »Die Abgeordneten des Kreistages Oschersleben geben ihrem gemeinsamen Willen Ausdruck […] aus den Resten der Grenzsicherungsanlagen in Hötensleben ein gesamtdeutsches Grenzdenkmal zu schaffen.« Die Erklärung wurde einstimmig verabschiedet, siehe Landkreis Oschersleben: Protokoll vom 10.05.1993, ArGDH, De1. 78 Schreiben Untere Denkmalschutzbehörde Achim Walther an Landesregierung SachsenAnhalt Kultusministerium vom März 1993, ArGDH, Dü; Schreiben des Landkreises Oschersleben an die Landesregierung Sachsen-Anhalt Innenministerium vom 31.03.1993, ArGDH, Dü.
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Als Mitglieder der vom Bund geförderten Sachverständigenkommission für die Errichtung einer Gedenkstätte Marienborn wurden eher Universitätsprofessoren, der Leiter der LfPB LSA, der Direktor der Magdeburger Museen, ein Oscherslebener Superintendent, ein Magdeburger Architekt sowie Mitglieder des MI LSA, des LfD und ein ehemaliges Mitglied des Bundesministeriums für innerdeutsche Angelegenheiten, nicht aber Achim Walther aus Hötensleben berufen.79 Als Projektbeauftragter der Landesregierung wurde ein Bundeswehrgeneralmajor a.D. ernannt. Diese Besetzung drückte aus, dass eine vom LfD LSA und von Vertretern des GDH angeregte organisatorische Zusammenarbeit zwischen GDH und Gedenkstätte Marienborn zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht mehr ernsthaft verfolgt wurde und eine umfassende, kritische sowie differenzierte Aufarbeitung der Teilungs- und Grenzgeschichte als zentrales Element einer zukünftigen Gedenkstätte in Marienborn ebenfalls weiterhin nicht im Vordergrund stand. Die konstituierende Sitzung erfolgte am 06. Mai 1993. Vor dem Hintergrund, bei baldiger Vorlage eines schlüssigen Konzeptes die begehrte Bundesgedenkstättenförderung erhalten zu können, wurde die Sachverständigenkommission beauftragt, bis zum Ende des Jahres 1993 ein entsprechendes Papier vorzulegen.80 Dass die Sachverständigenkommission zum damaligen Zeitpunkt eher »Scheincharakter« besaß, und inhaltlich kaum mehr neue Ideen zu einer Gedenkstätte Marienborn entwickelt werden konnten, lässt sich nicht nur aus der Expertenbenennung ableiten, sondern auch aus den inhaltlichen Vorgaben, die beim »neuen Konzept« zu berücksichtigen waren. Die Vorgaben (Abriss von 90% der Grenzanlage, Bau einer Raststätte und Tankstelle, Beschränkung auf ein Dokumentationszentrum im ehemaligen Stabsgebäude, Fokus auf Westeinreise und Wiedervereinigung, usw.) engten den Gestaltungsspielraum der Sachverständigenkommission derart ein, dass das »neue« Gedenkstättenkonzept eigentlich nur noch eine jetzt von erklärten Sachverständigen legitimierte Wiederholung des bereits bestehenden, interministeriellen Nutzungskonzeptes darstellte.81 So wurden folgende, bereits auf Arbeitsebene »nicht-kontrovers« definierten Rahmenbedingungen vorgegeben: Beseitigung der Unansehnlichkeit, Beschränkung auf den südlichen Teil der Bundesautobahn, Schaffung einer erkennbaren Ordnung, Beseitigung des für die Gedenkstätte nicht erforderlichen Teilbereiches, Vordringlichkeit der Raststätten- und Tankstellenanlage (»Objektverwirklichung«).82 Der Bundeswehrgeneralmajor schlug hierzu sogar eine Vorabentscheidung über die für die Gedenkstätte nicht erforderlichen bzw. verzichtbaren Teile vor, um zügig mit Abbruch- und Aufräumarbeiten beginnen zu können.83 Der In-
79 MI LSA: Mitglieder der Sachverständigenkommission »Gedenkstätte Marienborn«, Anlage zum Schreiben des Ministeriums des Innern Sachsen-Anhalt an Grosche vom 12.03.1993, ArMI LSA, 11333-1, Band 1. 80 O.V.: »Wo die Stasi kontrollierte entsteht eine Raststätte«, in: Magdeburger Volksstimme vom 16.04.1993. 81 Ebd.; siehe v.a. MI LSA: Vermerk vom 10.05.1993, ArMI LSA, 11333-1, Band 1. 82 Ebd., S. 1-2. 83 Ebd., S. 3.
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nenminister Hartmut Perschau selbst fasste das zu erreichende Ziel der Kommission zusammen mit den Worten: »[...] im Ergebnis eine informative, würdig gestaltete und zur Einkehr aufrufende Gedenkstätte zu schaffen (›entweder gut oder gar nicht‹)«.84 Es sollte ein attraktiver, einladender Ort werden. Der offizielle Auftrag lautete dementsprechend: »Es ist zu untersuchen, wie die noch vorhandene Einrichtung der ehemaligen Grenzübergangsstelle MARIENBORN auf der Südseite der Bundesautobahn als Gedenkstätte Zeugnis des geteilten Deutschlands […] gestaltet werden kann. Die räumliche und konzeptionelle Anlage der Gedenkstätte soll sich harmonisch in die vorgesehene Bauplanung einer Tank- und Raststättenanlage an/-einfügen. Das Ergebnis ist in einer Kurzstudie vorzulegen. [Herv. i.O.]«85
Die historische Bedeutung des Ortes rangierte in der Wichtigkeitsskala weit hinten, die Priorität wurde überdeutlich auf die nichtgedenkstättenspezifische Nutzung gelegt.86 Im Grunde genommen diente die Fachkommission damit eigentlich ausschließlich der vermeintlich fachlichen Absegnung bereits getroffener gedenkstätten- bzw. vor allem wirtschafts- und verkehrspolitischer Entscheidungen. Aber auch die Einordnung der zukünftigen Gedenkstätte in die landesspezifische Gedenkstättenlandschaft entbehrte ernsthafter fachlicher Beratung bzw. Planung und wurde – dem anti-partizipatorischen Prinzip folgend – auf anderer Ebene verhandelt, nämlich direkt zwischen dem Ministerpräsidenten Münch, dem Innenminister Perschau und dem Projektbeauftragten General a.D. So wurde bei einem Gespräch unter sechs Augen vorab festgelegt, dass dem Vorschlag des MI LSA politisch gefolgt werde, in Sachsen-Anhalt insgesamt sieben Gedenkstätten zu halten, davon zwei von nationaler (u.a. Marienborn), zwei von regionaler und drei von lokaler Bedeutung nach dem Prinzip »2+2+3«. Hötensleben blieb gänzlich unerwähnt, nicht einmal als eine Einrichtung von lokaler Bedeutung wurde das Grenzdenkmal in Betracht gezogen.87 Für das MI LSA bedeutete diese unkonventionelle Verabredung gleichwohl endlich die erhoffte absehbare politische Anerkennung der GÜSt Marienborn als Ort von landesweiter Bedeutung. Dies gewann besonders dann an Relevanz für das Gelingen des gesamten Projektes, als das BMI sich Ende Mai 1993 gegen die Aufnahme Marienborns und des GDH in die Liste der mit Bundesmitteln zu fördernden Gedenkstätten entschied.88
84 Minister des Innern Hartmut Perschau z.n. Ebd., S. 2. 85 MI LSA: Auftrag und Auftragsanalyse an die Sachverständigenkommission, in: MI LSA: Tagesordnung für die konstituierende Sitzung der Sachverständigenkommission beim Minister des Innern des Landes Sachsen-Anhalt vom 06.05.1993, ArMI LSA, 11333 -1, Band 1. 86 Ebd. 87 MI LSA: Vermerk vom 17.05.1993, ArMI LSA, 11333-1, Band 1. Später zog die Gedenkstätte »Roter Ochse« in Halle als achte durch das Land zu fördernde Einrichtung nach. 88 Vgl. Schreiben des Mitgliedes des Deutschen Bundestages (MdB) Vergin an den MdB Bericht vom 25.05.1993, ArMI LSA, 11333-6, Band 1.
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Die ersten Stellungnahmen der Sachverständigenkommission und der erste Zwischenbericht fielen entsprechend der Auftragslage dürftig aus. Der Superintendent schlug vor, man möge doch zusätzlich auf dem Gelände einen Raum der Besinnung schaffen, eine Art Kapellen-Neubau, der dem Besucher »Gelegenheit zur Meditation, zur Verinnerlichung, zum Gespräch und zum Gebet gibt«. 89 Des Weiteren setzte er den Schwerpunkt thematisch weiterhin auf die »Grenzschließung«, die zudem als »nötig geworden« bewertet wurde. Des Weiteren sollte der Reisestrom von West nach Ost im Mittelpunkt stehen. »Dass dabei die PKW-Ausreise […] möglicherweise zur Disposition gestellt werden kann, sei dem Gespräch in der Beratergruppe anheim gestellt«, so endete das dreiseitige Kirchen-Papier.90 Dass mit diesem Vorschlag eigentlich das Wesentliche zur Disposition gestellt wurde, worum es bei dem Grenzübergang eigentlich ging, nämlich eine unüberwindbare Hürde zu sein und Sinnbild des Eingesperrtseins von 16 Millionen Menschen, wurde nicht bedacht. Der Direktor der Magdeburger Museen empfahl für ein einzurichtendes Dokumentationszentrum im ehemaligen Stabsgebäude, es solle den Gang durch die Grenzanlagen vor- und nachbereiten, die Geschichte und Funktionsweise der GÜSt sowie den politisch-historischen Hintergrund dokumentieren, »da die GÜSt ein Ergebnis der Blockbildung nach dem 2. Weltkrieg darstellt und nicht umgekehrt. Nur wer über die Blockbildung, den Kalten Krieg, die Teilung Deutschlands und seine Ursachen und Entwicklung in der DDR informiert ist, wird die Grenzsicherungsanlagen verstehen können«, hieß es darin.91 Die Teilung und das Grenzregime wurden somit auch in diesem Papier nicht als Repressionsmittel gegen die eigene Bevölkerung bzw. als Begleiterscheinung des SED-Regimes und ihrer Verantwortlichen definiert, sondern stattdessen als alternativlose Folge der Blockkonfrontation quasi entschuldigt.92 Lediglich das Gutachten des konsultierten Magdeburger Architekten wich gravierend von den politischen Vorstellungen und Vorgaben ab und bescheinigte den guten Zustand der baulichen Anlagen und die Notwendigkeit ihres weitgehenden Erhaltes bzw. sogar ihrer Rekonstruktion (im Fall vorangegangener Zerstörung) für Museumszwecke. So empfahl der Architekt vor allem die Lichtmasten, die Dachlandschaft und den Turm – und nicht nur das Stabsgebäude – aufgrund ihrer Signalwirkung zu erhalten und die zukünftigen Nutzungen darin weitgehend zu integrieren (»Warum sollten PKW-Parkplätze nicht überdacht sein?«).93 Nur die Nebenanlagen konnten seiner Empfehlung nach punktuell für den Abriss und für
89 Günther H.: Vorlage an die Sachverständigenkommission vom 26.05.1993, ArMI LSA, 11333, Band 1. 90 Ebd., S. 3. 91 Matthias P.: Überlegungen zum Aufbau eines Dokumentationszentrums innerhalb der GÜSt Marienborn und eines Stellenplans für die Mahn- und Gedenkstätte Marienborn, Mai 1993, ArMI LSA, 11333-1, Band 1. 92 Ebd. 93 Götz G.: Mahn- und Gedenkstätte Marienborn vom 10.06.1993, S. 5, ArMI LSA, 11333-1, Band 1.
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Rekultivierungsmaßnahmen freigegeben werden.94 Der Gedenkstättenidee, die den Erhalt umfassender authentischer Bautzen und Anlagen zur Voraussetzung hatte, wurde hier am konsequentesten gefolgt. Weitgehend analog dem Nutzungskonzept von 1992 sowie nahtlos anschließend an die Verabredung zwischen Ministerpräsident, Innenminister und dem Generalmajor a.D. – d.h. die Stellungnahmen der Sachverständigen ignorierend – wurde am 01. Juni 1993 vom MI LSA für die Landes-Gedenkstättenkonzeption im Hinblick auf die GÜSt Marienborn weiterhin im Gedenkstättenbericht an die Regierung vorgeschlagen, »ein positives Gesamtbild von Raststätte und Gedenkstätte zu erhalten« und hierfür den nördlichen Bereich (inkl. Beobachtungsturm) komplett zu schleifen.95 Die Errichtung einer Gedenkstätte auf dem dann nur noch verbleibenden Restgelände wurde maßgeblich begründet mit einem vermeintlich hohen Identifikationsfaktor »für Menschen aus den alten Bundesländern, weil sie selbst früher die Grenze im Berlin-Transit oder bei der Einreise in die DDR passiert haben und damit persönliche Erinnerungen verbinden, und für Menschen aus den jungen Ländern, weil mit der Gedenkstätte die Überwindung der Grenze symbolisiert wird.«96 Die fast 30-jährige ostdeutsche Realität des Eingesperrtseins vor der Grenzöffnung 1989 wurde weiterhin als von anscheinend zu geringer Bedeutung konzeptionell ausgespart. Der Gedenkstättenbericht des MI LSA wurde dem Kabinett am 24. Juni 1993 übergeben, zusammen mit einer Kostenübernahmeerklärung des Finanzministeriums Sachsen-Anhalt, in 1994 für die erforderliche Substanzerhaltung/Sanierung/ Bauunterhaltung sowie für Aufräumarbeiten für Marienborn 2,5 Millionen DM zur Verfügung zu stellen.97 Der Beschlussvorschlag lautete: »1. Das Kabinett nimmt den Bericht […] sowie die beabsichtigte Finanzierung zustimmend zur Kenntnis. 2. Das Kabinett bittet den Kultusminister, für eine sofortige Aufhebung des Denkmalschutzes für die Mauer und den ehemaligen Wachturm auf der Nordseite der Bundesautobahn auf dem Gelände der ehemaligen Grenzübergangsstelle Marienborn Sorge zu tragen.«98
Der Beschlussvorschlag wurde am 13. Juli 1993 vom Kabinett angenommen.99 Die Regierung hatte damit nicht nur die landesweiten Gedenkstättenvorhaben zur Kenntnis genommen, sondern – vollkommen untypisch – zugleich den weitreichenden Abriss eines Flächendenkmales angeordnet. Weil der Abriss zur Voraussetzung
94 Ebd.; siehe auch MI LSA: Vermerk zum 14.06.1993, S. 2ff, ArMI LSA, 11333-1, Band 1. 95 MI LSA: Bericht über die Gedenkstätten der Opfer von Gewaltherrschaft in SachsenAnhalt vom 01.06.1993, S. 13, ArMI LSA, 11331-2, Band 1. 96 Ebd., S. 14. 97 Schreiben des Ministeriums des Innern Minister des Innern Perschau an die StkLSA Ministerpräsident des Landes Münch vom 24.06.1993, ArMI LSA, 11331-2, Band 1. 98 Ebd., S. 2-3. 99 StkLSA: Niederschrift über die 119. Sitzung des Landeskabinetts am 13.07.1993 vom 19.07.1993, Ar MI LSA, 11333-5-1, Band 1.
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der Gedenkstätte Marienborn wurde, war sie die einzige Gedenkstätte, die im Kabinettsbeschluss gesonderte Erwähnung fand. Die nicht zu demontierenden Bereiche des Denkmales Marienborn wurden mit dem Gedenkstättenkonzept zugleich erstmals in den Rang einer zentralen und vom Land Sachsen-Anhalt zu fördernden Gedenkstätte erhoben. Die offizielle landespolitische Anerkennung Marienborns als Gedenkstätte von landesweiter und gesamtstaatlicher Bedeutung war ausschließlich von der Annahme geleitet, die Gedenkstätte würde auf diese Weise doch noch die begehrte Bundesförderung erhalten.100 So war es auch zu erklären, dass das Grenzdenkmal Hötensleben mit keiner einzigen Silbe (nicht einmal als Ort von regionaler Bedeutung) erwähnt wurde, geradeso als hätte dieser Grenzort, der im Gegensatz zu Marienborn maßgeblich die Ost-Erfahrung des Grenzsystems repräsentierte, gar nicht erst existiert. Eine Gedenkstätte, die die ostdeutsche Erfahrung der innerdeutschen Grenze verkörperte, war nicht gewollt, nicht in Marienborn und schon gar nicht in Hötensleben. Zur gleichen Zeit als der Gedenkstättenbericht des MI LSA vom Landeskabinett abgesegnet wurde und gedenkstättenpolitische Tatsachen geschaffen wurden, reifte bei den Teilnehmern der Sachverständigenkommission mehr und mehr die Gewissheit, dass es sich bei Marienborn nicht nur aus rein finanzpolitischen Erwägungen heraus um einen Ort von landesweiter, sondern von nationaler bzw. gesamtstaatlicher Bedeutung handelt. Angeregt bzw. gestärkt durch die Vorschläge des Magdeburger Architekten und des Münsteraner Gutachters Jacobsmeier, der schon früh die Betonung auf den repressiven Charakter des Grenzregimes legte, plädierten sie zunehmend für den weitgehenden Erhalt der Anlagen (Lichtmaste, Dachkonstruktionen, sämtliche Anfertigungshäuschen, Beobachtungs- und Überwachungsturm), ja sogar für die Ergänzung bereits demontierter Anlagen, so z.B. die Passlaufbänder.101 Am 24. Juni 1993, also am gleichen Tag als auch die Regierung die Abrisse in Marienborn per Regierungsbeschluss anordnete, wurde bei der 4. Kommissionssitzung gegenteilig der Beschlusslage festgelegt, dass nur noch das ehemalige Servicegebäude und die LKW- und PKW-Ausreise aufgegeben werden dürfe.102 Trotz des restriktiven Kabinettsbeschlusses verlagerte die Sachverständigenkommission in der Folgezeit die Priorität also immer stärker in Richtung Gedenkstätte, sodass die Planungen zum Nebenbetrieb nach und nach denen zur Gedenkstätte untergeordnet wurden und nicht umgekehrt. So wurden beispielweise schon im Juli Verhandlungen um die Anzahl der zu erhaltenden Abfertigungshäuschen sowie um die Dachkonstruktion, die Anpassung der Parkplätze an die Rasterung der Grenzanlage bzw. der Lichtmasten, die Höhe des Raststättengebäudes usw. aufgenommen.103 Lediglich die Vertreter des Bundesverkehrsministeriums (BVM) und der Gesellschaft für Nebenbetriebe (GfN) taten sich damit offenkun-
100 Vgl. hierzu auch Schreiben des Ministeriums des Innern Sachsen-Anhalt an den MdB Eberhard B. vom 20.07.1993, ArMI LSA, 11333-6, Band 1. 101 MI LSA: Vermerk zum 14.06.1993, S. 2ff, ArMI LSA, 11333-1, Band 1. 102 MI LSA: Vermerk vom 06.07.1993, ArMI LSA, 11333-1, Band 2. 103 Ebd.
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dig schwer und betonten die seitens der zukünftigen Tankstellen- und Raststättenbetreiber geforderte klare Trennung von Gedenkstätte und Autobahnnebenbetrieb, die eine Integration der Anlagen ausschloss sowie der Rentabilität der Tankstellenanlage den Vorrang gab.104 Nichtsdestotrotz gelang es, die Raststätten-Architekten Schritt um Schritt von den Gedenkstättenplanungen zu überzeugen, und so wurde erreicht, dass mehr und mehr Abfertigungshäuschen stehen bleiben konnten und die Konstruktion der Raststätte auf das Gedenkstättenvorhaben abgestimmt wurde (Erhalt von acht Abfertigungshäuschen und von 75% des Daches der PKW-Einreise, etc.).105 Am 25. August 1993 übergab die Sachverständigenkommission ihren Abschlussbericht offiziell dem Innenminister Perschau.106 Das Gutachten wich in seiner Schwerpunktsetzung von den ursprünglichen politischen Vorgaben und in entscheidenden Punkten vom bisher gültigen Nutzungskonzept sowie dem Zwischenbericht des MI LSA weitgehend ab. Unter der Federführung der Sachverständigen Jacobsmeyer (Universität Münster), Puhle (Magdeburger Museen) und Grosche (Architekt) sprach sich die Kommission nunmehr dafür aus, dass die Gedenkstätte vielmehr aus einem »Erlebnisraum« und aus einem »Dokumentationszentrum« bestehen solle. Der »Erlebnisraum« wurde definiert als ein Gebiet das unter »Wahrung größtmöglicher Authentizität durch Erhalt und Einbeziehung der für die Gedenkstätte vorgeschlagenen Fläche, Gebäude und Anlagen« sowohl den Kommandoturm als auch Teile der »Abfertigungsanlagen mit ihren Dächern« umfassen sollte.107 Lediglich die PKW-Ausreise-Anlagen und das Servicegebäude sollten zugunsten einer auf die Gedenkstätte architektonisch abgestimmten Raststätte und Tankstelle weichen. Es wurde festgelegt, dass die GfN der Gedenkstättenkonzeption Rechnung trägt: »Die Tankstelle und die Raststätte dürfen die Wirkung der zu erhaltenden Teile der ehemaligen GÜSt nicht beeinträchtigen.«108 Deutlich nachgeordnet wurde die bisherige Prämisse: »Sie [Tankstelle und Raststätte] sollten ein freundliches Gegenbild zu den eher düsteren Teilen der ehemaligen GÜSt abgeben und auf diese Weise dazu beitragen, dass Sachsen-Anhalt sich an dieser sensiblen Stelle keinesfalls in überwiegend negativer Weise präsentiert.«109
104 Ebd., S. 3; vgl. hierzu auch Kultusministerium Sachsen-Anhalt: Vermerk vom 25.06.1993, ArMI LSA, 11333-5-1, Band 1. 105 MI LSA: Vermerk vom 19.07.1993, ArMI LSA, 11333-1, Band 2; MI LSA: Vermerk vom 09.09.1993, ArMI LSA, 11333-1, Band 2. 106 Siehe hierzu v.a. Noske, Henning: »Das waren die Schleusen der Angst«, in: Braunschweiger Zeitung vom 26.08.1993; Semkat, Ute: »Nadelöhr des Kalten Krieges«, in: Die Welt vom 27.08.1993. 107 MI LSA: Pressemitteilung 119/93, Innenminister Perschau stellt auf der künftigen Gedenkstätte »Deutsche Teilung« in Marienborn das Gedenkstättenkonzept des Landes Sachsen-Anhalt vor vom 25.08.1993, S. 6, ArMI LSA, 11333-2, Band 1. 108 Sachverständigenkommission beim Minister des Innern des Landes Sachsen-Anhalt: Gedenkstätte »Deutsche Teilung« Marienborn. Arbeitsergebnisse und Empfehlungen, August 1993, S. 14, ArMI LSA, 11333-1, Band 2. 109 Ebd.
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Weit über die bisherige, eher neutralisierende und vornehmlich aus westdeutscher Perspektive gefassten Beurteilungen hinausgehend wurde der ehemalige Grenzübergang nun auch von seiner historischen Bedeutung her inhaltlich neu bestimmt: »An diesem Ort kann die Gewalttätigkeit und der Überwachungswahn des DDR-Regimes, aber auch vor allem dessen Schwäche und Unsicherheit in ganz besonderer Weise dokumentiert und nachvollzogen werden. […] durch die hermetische Abriegelung und Aussperrung der Bürger vom Zugang zum ›kapitalistischen, feindlichen Ausland‹ stellt sie die innere Hilflosigkeit des sozialistischen Systems dar. Die lückenlose Kontrolle […] war integraler Bestandteil des gewollten Einschüchterungs-, Sperr-, Kontroll- und Abschottungssystems.«110
Die Anlage wurde erstmals als »Nadelöhr« und »Schleuse der Angst« für West- wie auch für Ostdeutsche definiert und nicht nur verharmlost als Ort schikanöser Reiseabenteuer. Diese Bedeutungsöffnung spiegelte sich auch in der thematischen Breite wieder, die anhand der historischen Flächenexponate (die Relikte der ehemaligen Grenzanlage selbst) und in Form von Ausstellungen sowie Angeboten der politischen Bildungsarbeit abgedeckt werden sollten. So wurde vorgeschlagen, die Funktionen der GÜSt, das Grenzsicherungs- und -sperrsystem der DDR insgesamt, die vielfältigen historischen Hintergründe und die weltpolitische Dimension der Grenze aufzuzeigen.111 Dass diese vorgeschlagene Themenbreite jedoch teilweise »authentischer« Elemente entbehrte, die wiederum ein Grenzdenkmal Hötensleben hätte kompensieren können, sowie die Vorstellungen des LfD, beide historischen Orte aufgrund ihrer räumlichen und inhaltlichen Bedeutung und Nähe zusammenzufassen, blieb im Abschlussbericht der Sachverständigenkommission weiterhin außen vor. Eine diesbezüglich von Achim Walther erstellte eigene Gedenkstättenkonzeption floss – obwohl insbesondere der Direktor der Magdeburger Museen und der Landeskonservator ein solches Vorhaben unterstützten – nicht ein.112 Stattdessen wurde das GDH – zugunsten der GÜSt Marienborn – als eine Anlage von rein »örtlicher Bedeutung« herabgestuft.113 Diese Herabstufung war nicht ansatzweise denkmalpflegerisch begründet, sondern resultierte allein aus der Tatsache, dass v.a. einzelne Hötenslebener das Grenzdenkmal kategorisch ablehnten. Bei ihnen überwog vor allem das kommerzielle Interesse an Grund und Boden. Daneben herrschte ohnehin Überdruss an Grenze und Stacheldraht und schließlich blieb manchen der Sinn eines solchen Denkmals zunächst verborgen. Kurz: Weil das Denkmal nicht durchweg auf Ak-
110 Ebd., S. 9. 111 Ebd., S. 10. 112 Walther, Achim: Das Grenzdenkmal Hötensleben. Entwicklung – Konzept – Vergleich vom 02.06.1993, ArMI LSA, 11338-1/GDH. 113 Sachverständigenkommission beim Minister des Innern des Landes Sachsen-Anhalt: Gedenkstätte »Deutsche Teilung« Marienborn. Arbeitsergebnisse und Empfehlungen, August 1993, S. 11, ArMI LSA, 11333-1, Band 2.
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zeptanz vor Ort stieß, genoss es wenig Unterstützung, ganz gleich, welchen historischen Zeugniswert es tatsächlich besaß.114 Die Missachtung der Bedeutung von Hötensleben und seine mangelnde konzeptionelle Berücksichtigung wurden von den Unterstützern des GDH stark kritisiert. Gegen die Konzeption einer Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn (GDT) erhoben sie Einspruch: »An der GÜSt Marienborn haben 2 Generationen Westdeutscher ihre Erfahrungen mit der Diktatur gemacht. Hier wurden sie schikaniert, hier passierten sie die ›Schleusen der Angst‹. Daran erinnert die Gedenkstätte Marienborn. Die Ostdeutschen kannten das nur aus dem Fernsehen. […] Die Lebenswirklichkeit von 2 Generationen Ostdeutscher ist zutiefst geprägt worden von der Grenze selbst, die sie zu Gefangenen und Ausgelieferten machte. Diese Grenze zwang sie, mit der Diktatur zu leben. Daran erinnert das Grenzdenkmal Hötensleben. Damit hat es […] ein gleiches Recht auf staatliche Anerkennung.«115
Die mangelnde landespolitische Unterstützung zwang die Vertreter zur Suche nach Alternativen. So wurde noch am 15. Dezember 1993 der Grenzdenkmalverein Hötensleben e.V. gegründet, um das Projekt am Überleben zu halten.116 Mit Blick auf eine zukünftige Beteiligung des Bundes an den entstehenden Kos117 ten sowie in bewusster Abgrenzung zum GDH, wurde die Gedenkstätte Marienborn nun hingegen erstmals fachlich und inhaltlich (und nicht nur aus rein finanzpolitischen Überlegungen heraus) begründet und aufgewertet zum einzigen Ort von nationaler und gesamtstaatlicher Bedeutung in diesem ehemaligen Grenzgebiet. Entsprechend fiel die Empfehlung der Sachverständigenkommission aus, der Bund möge Marienborn in die Gedenkstättenkonzeption, d.h. in seine finanzielle Förderung aufnehmen.118 Nur so werde die Zukunft einer würdigen Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn gewährleistet, lautete der unmissverständliche Appell an Land und Bund.
114 Auf vereinzelte Reaktionen der Bevölkerung in Hötensleben im Zusammenhang mit dem Grenzdenkmal kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Die Presseberichterstattung über die Akzeptanz vor Ort liegt zwar nahezu lückenlos vor, jedoch lässt eine erste Auswertung die Schlussfolgerung zu, dass es entgegen des Eindruckes, den die skandalträchtige Berichterstattung in der Lokalpresse erweckt, insgesamt doch mehr Befürworter des Grenzdenkmales gab als Gegner, vgl. ArGDH, Bestand: Da1 Akzeptanz Presse allgemein 1991-1997 [Da1]. 115 Schreiben des Landkreises Oschersleben an das Landesamt für Denkmalpflege vom 02.09.1993, ArMI LSA, 11338-1/GDH; s.a. Semkat, Ute: »Mahnmal der Deutschen Teilung«, in: Die Welt vom 02.11.1993, S. 1. 116 Grenzdenkmalverein Hötensleben e.V.: Satzung vom 15.12.1993, ArGDH, Geschäftsablage o. Sign. 117 Sachverständigenkommission beim Minister des Innern des Landes Sachsen-Anhalt: Gedenkstätte »Deutsche Teilung« Marienborn. Arbeitsergebnisse und Empfehlungen, August 1993, S. 15, ArMI LSA, 11333-1, Band 2. 118 MI LSA: Pressemitteilung 119/93 vom 25.08.1993, S. 7, ArMI LSA, 11333 -2, Band 1; Sachverständigenkommission beim Minister des Innern des Landes Sachsen-Anhalt:
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ANERKENNUNG
Wie bereits dargestellt, zielte die Einsetzung der Expertenkommission von landespolitischer Seite her in erster Linie auf die Aufnahme in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes, um die finanzielle Belastung des Landeshaushaltes hierfür gering zu halten. In zweiter Linie sollte der Interessenkonflikt zwischen Gedenkstättenbefürwortern sowie Tankstellen- und Raststättenplanern im Sinne letzterer gelöst werden. Dieser Widerspruch – einerseits die Gedenkstätte im Sinne der Verkehrsplanungen klein halten und andererseits eine zentrale Gedenkstätte konzipieren, die noch bedeutend genug wäre, um vom Bund gefördert zu werden – wurde von der Sachverständigenkommission durch die Vorlage ihres Gutachtens zugunsten der Bedeutung des historischen Ortes aufgelöst. Autobahngerechte Konzeptionen und die mit ihnen einhergehenden denkmalpflegerischen Fragen gerieten in den Hintergrund, während erinnerungspolitische Initiativen für eine Bundesbeteiligung an der Gedenkstätte Marienborn in den Folgemonaten zum Dreh- und Angelpunkt wurden. Ließ sich eine solche Gedenkstätte schon nicht gänzlich durch Demontage, Abriss und Autobahnplanung verhindern, dann sollte die Eigenleistung des Landes Sachsen-Anhalt wenigstens so gering wie möglich ausfallen, lautete fortan die Prämisse der sachsenanhaltinischen Gedenkstättenpolitik. Schon bevor der Abschlussbericht der Sachverständigen offiziell der Regierung vorlag, wurden intensive Verhandlungen in Richtung Bundesbeteiligung an der Gedenkstätte zwischen BMI und MI LSA wieder aufgenommen. Am 28. Juni 1993 räumten die von der Bundesregierung eingeschalteten Wissenschaftler schließlich eine erneute Begutachtung und dann auch die Besichtigung der Gedenkstättenanlage ein.119 Das im August veröffentlichte Konzept (Abschlussbericht) zur GDT wurde als weitere Entscheidungsgrundlage Mitte September an das BMI zur Prüfung weitergeleitet.120 Schließlich wurde die finanzielle Beteiligung des Bundes auch auf die Agenda des Gespräches zwischen Bundeskanzler Kohl und Ministerpräsidenten Münch am 23. September 1993 gesetzt.121 Dort erhoffte sich das Land SachsenAnhalt, die bisherige Skepsis seitens des Bundes gegenüber dem Projekt ausräumen zu können und die Unterstützung »von ganz oben« für das Vorhaben zu gewinnen, »[…] zumal die bisherigen Signale aus dem BMI auf eine Förderbereitschaft des Bundes noch nicht schließen lassen«.122 Die Förderbereitschaft des Bundes hielt sich zu diesem Zeitpunkt auch deshalb noch in Grenzen, weil die landespolitische Unterstützung bis dato noch marginal
119 120
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Gedenkstätte »Deutsche Teilung« Marienborn. Arbeitsergebnisse und Empfehlungen, August 1993, S. 7, ArMI LSA, 11333-1, Band 2. Schreiben des BMI Bundesinnenminister Manfred Kanther an das MI LSA Innenminister Hartmut Perschau vom 06.10.1993, ArMI LSA, 11331-10, Band 1. Schreiben des Ministeriums des Innern LSA Minister des Innern Perschau an das BMI Bundesminister Kanther vom 14.09.1993, ArMI LSA, 11333-6, Band 1; MI LSA: Vermerk vom 19.08.1993, ArMI LSA, 11333-6, Band 1. Ebd., S.2. Handschriftliche Ergänzung in ebd.
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ausfiel: Die Sachverständigenkommission war über 18.000 DM Sondermittel des Bundes finanziert worden,123 das Land erwartete zudem eine kostenlose Übereignung der für die Gedenkstätte benötigten Grundstücke und Liegenschaften vom Bundesvermögen auf das Land Sachsen-Anhalt,124 schließlich waren die im Juli 1993 durch das Landeskabinett beschlossenen Mittel zum Aufbau der GDT für das Jahr 1994 Mitte September noch nicht für den Haushalt des Folgejahres angemeldet, sprich gar nicht erst vorhanden.125 Die Oberfinanzdirektion Magdeburg bewilligte für das Jahr 1993 lediglich noch einen zweckgebundenen Betrag in Höhe von 120.000 DM für erste Sanierungsmaßnahmen.126 Entsprechend wurde dem Abschlussbericht als Konzept einer Gedenkstätte Deutsche Teilung vom Landeskabinett erst zugestimmt, als eine Bundesbeteiligung unmittelbar greifbar schien, d.h. zeitgleich zum Anfang November erwarteten positiven Votum des BMI.127 Perschaus Vorschlag für den Landeskabinettsbeschluss drang dabei nicht nur auf eine zustimmende Kenntnisnahme des Gedenkstättenkonzeptes zur GDT, sondern auch auf die Bereitstellung der bereits im Juli zugesagten 2,5 Millionen DM für Substanzerhaltung und Bauunterhalt in 1994 sowie zusätzliche 491.092 DM für Personal- und Sachkosten für erste Gedenkstättenarbeiten (z.B. eine Werkausstellung). 128 In der Hoffnung, es würde durch die erwartete Bundesbeteiligung von bis zu 50% weitgehend bei diesem Etat bleiben, nahm das Landeskabinett Sachsen-Anhalt den Beschlussvorschlag in seiner Sitzung am 09. November 1993 an,129 der Ausschuss für Inneres bestätigte die damit verbundene Feststellung im Haushaltsplan nur drei Tage später am 12. November 1993.130 Damit war die GDT endgültig beschlossen und das Land Sachsen-Anhalt die Verpflichtung eingegangen, die GDT in dem von der Sachverständigenkommission konzipierten Umfang umzusetzen. Dass sich das BMI, d.h. die Sachverständigen des Bundes – entgegen der Annahme des Landes Sachsen-Anhalt – allerdings bereits einen Tag vor dem Regierungsbeschluss des LSA, also am 08. November 1993 wiederholt gegen eine Unterstützung der GDT ausgesprochen hatten, war der Landesregierung zum Zeitpunkt
123 Schreiben des BMI an das MI LSA vom 17.09.1993, ArMI LSA, 11333-1, Band 2. 124 MI LSA: Vermerk vom 31.08.1993, S. 3, ArMI LSA, 11333-8/2, Band 1; Landtag Sachsen-Anhalt: Niederschrift über die 71. Sitzung des Ausschusses für Inneres am 20.10.1993, ArMI LSA, 11333-6/3, Band 1; MI LSA: Projektskizze vom 20.06.1994, ArMI LSA, 11333-6, Band 1. 125 MI LSA: Vermerk vom 17.09.1993, ArMI LSA, 11333-8/2, Band 1. 126 Schreiben der Oberfinanzdirektion Magdeburg an das Staatshochbauamt Halberstadt vom 03.09.1993, ArMI LSA, 11333-8/2, Band 1. 127 Schreiben des BMI Bundesinnenminister Manfred Kanther an das MI LSA Innenminister Hartmut Perschau vom 06.10.1993, ArMI LSA, 11331-10, Band 1. 128 Schreiben des Ministeriums des Innern Sachsen-Anhalt Innenminister Perschau an die StkLSA Ministerpräsident Münch vom 11.10.1993, ArMI LSA, 11333-6/3, Band 1. 129 StkLSA: Niederschrift über die 131. Sitzung des Landeskabinetts am 09.11.1993 vom 18.11.1993, ArMI LSA, 11333-6/3, Band 1. 130 Landtag Sachsen-Anhalt: Protokoll vom 14.12.1993, ArMI LSA, 11333-6/3, Band 1.
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ihrer Kabinettssitzung noch unbekannt. Dies kam damit fast einer Tragödie gleich. Als das Land Sachsen-Anhalt sich trotz (und gerade wegen) angespannter Haushaltslage für eine große, zentrale Gedenkstätte von gesamtstaatlicher Bedeutung an der ehemaligen GÜSt Marienborn und damit gegen die Bevorzugung einer Tankstelle- und Raststätte entschied (fest davon ausgehend, dass sich der Bund an einer derart dimensionierten Einrichtung schon beteiligen werde) und dafür sogar andere Einrichtungen – wie z.B. Hötensleben – vernachlässigte, waren die Bundessachverständigen übereingekommen: »Eine Bundesförderung der Einrichtung wird nicht befürwortet; allenfalls käme hierfür die Verwaltung der Gesellschaft für Nebenbetriebe der Autobahnen in Betracht.«131 Wenn es zunächst den Anschein hatte, man wolle seitens des Bundes nicht unter dem Deckmantel »Gedenkstätte« einen Raststättenneubau finanzieren, stellte sich dies bei nachgelieferter Begründung als Trugschluss heraus. Tatsächlich sei die Entscheidung gegen die GDT vor allem eine Entscheidung für das Teilungsmuseum Mödlareuth und für die Gedenkstätte Berliner Mauer gewesen, wurde bei einer Sitzung des Bundesratsausschusses Deutsche Einheit nachträglich durch den Staatssekretär des BMI erklärt: »Im Gegensatz zu Ihrer Ansicht, […], dass es auf diesem Sektor [Teilungsgedenkstätten] möglicherweise kaum Interessenten gibt, kann ich Ihnen eine Vielzahl nennen. Die Sachverständigenkommission hatte nämlich über Anträge in Richtung Grenzmuseum Herleshausen, Grenzmuseum Bad Sooden/Allendorf, Regenbogenprojekt, Duderstadt, Gifhorn/Klötze, Marienborn und Mödlareuth zu befinden gehabt. […] Die Sachverständigenkommission hat sich für Mödlareuth entschlossen – ich werde auch sagen, warum –, weil das ein kleiner Übergang ist, der in dieser Geschlossenheit dann tatsächlich auch eine solche Gedenkstätte werden kann, während alles andere Großeinheiten sind, in denen es sich von vornherein […] verbietet, sie zur Gedenkstätte zu machen, bei der man sich beschränken muss, und dann ist es eben nicht mehr das Ganze. […] Wir haben dennoch noch nichts für Mödlareuth im Haushalt. […] Im Haushalt für das kommende Jahr haben wir nur die Gedenkstätte Berliner Mauer.«132
Diese Worte ließen das Dilemma noch deutlicher zu Tage treten. Die mittlerweile größer angelegte Planung der GDT, die durch ihre Dimension nun fachlich anerkannte gesamtstaatliche Bedeutung besaß, sollte nun gerade wegen ihrer Größe nicht mehr gesamtstaatlich gefördert werden können. Weder personell noch materiell wurde das Projekt als realisierbar und sinnvoll eingeschätzt.133 Aber auch eine kleinere »Sparausgabe« der Gedenkstätte wurde abgelehnt, würde sie damit doch gänzlich ihren Wert als Gedenkstätte verlieren. Im Klartext bedeuteten diese Ausführungen die überschaubare Wahl zwischen »keine Gedenkstätte – weil zu groß« oder »keine Gedenkstätte – wenn zu klein«.
131 BMI: Ergebnisvermerk vom 09.11.1993, ArMI LSA, 11333-6/3, Band 1. 132 Bundesrat Ausschuss Deutsche Einheit: Niederschrift der 26. Sitzung des Ausschusses Deutsche Einheit des Bundesrates am 16.12.1993, D 404 – Nr. 26/93, S. 29, ArMI LSA, 11331-10, Band 1. 133 Vgl. hierzu auch MI LSA: Vorlagennotiz vom 01.02.1994, ArMI LSA, 11333-6, Band 1.
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Obwohl das persönliche Einwirken des Ministerpräsidenten Münch beim Bundeskanzler Kohl erfolglos geblieben war und die Entscheidung des Bundes gegen die GDT feststand, engagierte sich das MI LSA in den kommenden Monaten ehrgeiziger als je zuvor um Aufnahme in die Gedenkstättenkonzeption. Damit verband sich jetzt das Gelingen oder Scheitern des Projektes im Ganzen. Hierzu wandte sich der Innenminister Perschau persönlich mit der Bitte um Unterstützung in diversen Schreiben an unterschiedliche Mitglieder des Bundeshaushaltsausschusses134 und des Bundesrates.135 Dem Ausschuss Deutsche Einheit schlug er sogar einen Beschlusstext vor: »Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, das Vorhaben des Landes Sachsen-Anhalt, auf dem Gelände der ehemaligen Grenzübergangsstelle Marienborn eine Gedenkstätte zu errichten, in die Förderung im Rahmen der Gedenkstättenkonzeption des Bundes einzubeziehen.«136 Die Durchsetzung dieses Beschlussvorschlages gelang zwar nicht, allerdings rang der mit der Gedenkstättenfrage betraute Ministerialdirigent dem Staatssekretär des BMI am Rande der 26. Sitzung dieses Bundesratsgremiums immerhin das Angebot ab, dass sich die Sachverständigenkommission des Bundes nochmals gründlich mit Marienborn befassen werde: »Das ist das, was ich Ihnen anbieten kann. Mehr beim besten Willen nicht.«137 Parallel bat auch der Nachfolger von Perschau, Innenminister Walter Remmers, über den neu gewählten Ministerpräsidenten LSA Christoph Bergner (CDU) den Bundeskanzler um eine nochmalige Prüfung: »Ich halte deswegen neben den Bemühungen auf Arbeits- und Ministerebene ein Vorbringen dieses Anliegens beim Herrn Bundeskanzler für angezeigt, um dem Antrag zum Erfolg zu verhelfen.«138 Diesem Gesuch folgend appellierte Ministerpräsident Bergner am 27. Januar 1994 ein weiteres Mal an den Bundeskanzler: »Das Unrecht des SED-Staates, das sich in besonderem Maße in seinem menschenverachtenden Grenzsperrsystem manifestierte, darf nicht vergessen werden. Das Gedenken daran darf auch nicht allein auf die beiden Geschichtsmuseen in Berlin und Bonn beschränkt bleiben. Ich vertraue deshalb darauf, dass Sie sich, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, ebenfalls dafür
134 Vgl. u.a. Schreiben des Ministeriums des Innern Sachsen-Anhalt Innenminister Perschau an Susanne Jaffke MdB vom 01.12.1993, ArMI LSA, 11333-6, Band 1. 135 Schreiben des Ministeriums des Innern Innenminister Perschau an den Vorsitzenden des Ausschusses Deutsche Einheit des Bundesrates vom 08.12.1993, ArMI LSA, 11331-10, Band 1. 136 Ebd. 137 Bundesrat Ausschuss Deutsche Einheit: Niederschrift der 26. Sitzung des Ausschusses Deutsche Einheit des Bundesrates am 16.12.1993, D 404 – Nr. 26/93, S. 29, ArMI LSA, 11331-10, Band 1. Handschriftlich ist darauf zudem vermerkt, dass der Staatssekretär einen zweiten Besuch der Kommission zusagte. 138 Schreiben des MI LSA Innenminister Walter Remmers an die StkLSA Ministerpräsident Christoph Bergner vom 12.01.1994, ArMI LSA, 11333-6, Band 1.
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einsetzen, dass der Bund seinen angemessenen Beitrag für die Errichtung der Gedenkstätte Marienborn leistet.«139
Um den Eindruck abzuwenden, das Land Sachsen-Anhalt wolle die Einrichtung auf den Bund abwälzen, und Bezug nehmend auf den Kabinettsbeschluss vom 09. November 1993, versicherte Bergner dem Bundeskanzler im Gegenzug zur geforderten Bundesbeteiligung: »Auch ist Sachsen-Anhalt selbstverständlich bereit, einen erheblichen Teil der Kosten zu tragen.«140 Gleichzeitig versuchte das MI LSA auf Staatssekretärsebene eine Zusage von ca. drei Millionen DM Bundesmittel als Komplementärmittel zu den von Seiten des Landes zur Verfügung gestellten knappen drei Millionen DM direkt zu erreichen.141 Dies gelang erwartungsgemäß nicht auf Anhieb. Als dann auch noch ein Mitglied der Bundesjury signalisierte, er wisse nichts von einer erneuten Prüfung des Vorhabens Marienborn, blieb nur noch eines, nämlich den Impuls »von oben«, d.h. des Kanzlers persönlich abzuwarten.142 Der kam wenige Wochen später im März 1994. Im Gegenzug dafür, dass das Land sich mit einer einmaligen Bundesförderung zufrieden gebe und auf eine ständige Unterhaltung mit Bundesmitteln verzichten werde (so der Vorschlag des MI LSA), machte das BMI durch entsprechende Weisung nun das Zugeständnis, es werde in seiner Stellungnahme zum Marienborner Projekt »bemüht sein, konstruktiv zu antworten«.143 Wenige Tage später bestätigte der Chef des Kanzleramtes das nun entgegengebrachte Wohlwollen: »Ich würde es sehr begrüßen, wenn es dem Land Sachsen-Anhalt doch noch gelingen könnte, die Errichtung der Gedenkstätte ›Deutsche Teilung‹ in Marienborn zu ermöglichen.«144 Damit wurde die vollkommene Konzentration des Landes Sachsen-Anhalt auf das Marienborner Projekt auch bundespolitisch de facto bestätigt. Hatten sich die Betreiber des GDH unabhängig von der GDT seit Sommer 1993 um eine langfristige Landes- und Bundesfinanzierung bemüht,145 bedeutete die nun im Frühjahr 1994 in Aussicht gestellt Unterstützung der GDT durch den Bund, dass das GDH auch bundespolitisch endgültig den Kürzeren zu ziehen hatte und nur noch als kommunale Einrichtung wahrgenommen wurde.146 Sowohl auf landespolitischer Ebene (wie v.a. ge-
139 Schreiben der StkLSA Ministerpräsident Christoph Bergner an das Bundeskanzleramt Bundeskanzler Helmut Kohl vom 27.01.1994, S. 3, ArMI LSA, 11333-6, Band 1. 140 Ebd., S. 2. 141 MI LSA: Vermerk vom 19.01.1994, ArMI LSA, 11333-6, Band 1. 142 MI LSA: Vorlagennotiz vom 01.02.1994, S. 2, ArMI LSA, 11333-6, Band 1. Handschriftlich hieß es wortwörtlich: »Wir warten auf einen Impuls des Bundeskanzlers.« 143 MI LSA: Vermerk vom 08.03.1994, ArMI LSA, 11333-6, Band 1. 144 Schreiben des Bundeskanzleramtes Chef des Bundeskanzleramt Friedrich Bohl an die StkLSA Ministerpräsident Christoph Bergner vom 15.03.1994, S. 2, ArMI LSA, 113336, Band 1. 145 Schreiben des Landkreises Oschersleben Landrat Walker an das Bundeskanzleramt vom 06.07.1993, ArMI LSA, 11338-1/GDH; Schreiben des Landkreises Oschersleben an die Landesvertretung des Landes Sachsen-Anhalt in Bonn vom 08.11.1993, ArGDH, De2. 146 Und das, obwohl der Bund Haupteigentümer des Hötenslebener Grenzareals war.
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schehen im Gedenkstättenkonzept zur GDT) als auch auf bundespolitischer Ebene wurde dem GDH die gesamtstaatliche Bedeutung und bundespolitische Zuständigkeit aberkannt, das Argument »Ohne Hötensleben ist Marienborn ein Torso«, verhallte ungehört.147 Seitens des GDH e.V. wurde deshalb ein Strategiewechsel – zur zukünftigen Finanzierung des GDH – dringend erforderlich.148 Ab Frühjahr 1994 verfolgten Vertreter des GDH fortan das Ziel, das GDH in die staatliche Trägerschaft des GDT zu überführen, um auf diesem Wege eine Förderung durch Landes- und Bundesmittel zu erreichen: »Der Grenzdenkmalverein Hötensleben bittet den Landtag SachsenAnhalt, seine Position zum Gedenkstättenkonzept ›Grenze‹ in diesem Sinne zu überprüfen und an einer Überarbeitung mitzuwirken.«149 Dass der Landtag einer solchen Notlösung auch vor dem Hintergrund der ersehnten Bundesbeteiligung nicht abgeneigt war, drückte sich in den Gesuchen und folgenden Bemühungen der einzelnen Fraktionen an das MI LSA aus150 und fand sich schließlich auch im fraktionsübergreifenden Landtagsantrag vom 27. April 1994 wieder, in dem es – mit Blick auf die inzwischen wieder in Aussicht gestellten Bundesgelder für die GDT – hieß: »Ein besonderer Schwerpunkt wird […] künftig durch die Gedenkstätte Marienborn gesetzt. Hier soll die deutsche Teilung mit allen Aspekten dargestellt werden. In diesem Zusammenhang ist es im Hinblick auf die überregionale Bedeutung und Einzigartigkeit des Zeugnisses geboten, das Grenzdenkmal Hötensleben besonders zu berücksichtigen und zu fördern.«151
Die Fraktionen schlugen vor, Hötensleben in das Marienborner Projekt als sinnvolle Ergänzung einzubeziehen, um die GDT noch zusätzlich aufwerten zu können zu einer Gedenkstätte von nationaler Bedeutung. Gleiches galt für den Vorschlag, ein länderübergreifendes Konzept für das GDH, die GDT und das Zonengrenzmuseum Helmstedt zu erarbeiten.152 Beide Vorschläge, die schon am 26. Mai 1994 vom Landesparlament angenommen wurden, dienten unmittelbar
147 Achim Walther z.n. Nitschke, Markus: »Der Wahrheit dienen, am Denkmal verdienen«, in: Braunschweiger Zeitung vom 22.12.1993. 148 Dem GDH e.V. fehlten mittlerweile 300.000 DM zur Sanierung und zur Sicherstellung des Betriebes des GDH als Gedenkstätte. 149 Schreiben des GDH e.V. an den Landtag Sachsen-Anhalt vom 30.03.1994, ArGDH, De1; Schreiben des GDH e.V. an das Landratsamt Oschersleben vom 17.03.1994, ArGDH, Dü; s.a. Lampadius, Martin: »Dem Dokument der Teilung geht das Geld aus«, in: Braunschweiger Zeitung vom 23.04.1994. 150 Schreiben der FDP-Fraktion Fraktionsvorsitzender an das MI LSA Innenminister Remmers vom 07.04.1994, ArMI LSA, 11338-1/GDH; Schreiben der SPD-Fraktion an GDH e.V. Vorsitzender Achim Walther vom 12.04.1994, ArGDH, De1; Gemeindeverwaltung Hötensleben: Protokoll zum 12.04.1994, ArGDH, De1. 151 Landtag Sachsen-Anhalt: Drs. 1/3667 vom 27.04.1994. 152 Landtag Sachsen-Anhalt: Niederschrift über den nichtöffentlichen Teil der 71. Sitzung des Ausschusses Recht und Verfassung am 16.05.1994; Landtag Sachsen-Anhalt: Drs. 1/3711 vom 18.05.1994, Beschlussempfehlung zu Drs. 1/3667.
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dem Zweck, unbedingt in die begehrte Gedenkstättenkonzeption des Bundes aufgenommen zu werden.153 Dass mit einer potentiellen Unterstützung des Bundes, bei Vorliegen einer positiven Stellungnahme durch die Bundeskommission, frühestens 1996 zu rechnen war, erfuhr das MI LSA bereits bei einem Abstimmungsgespräch Anfang Mai 1994.154 Die eigentliche Begehung und erneute Begutachtung der Gedenkstättenanlage GDT erfolgte durch die Bundeskommission schließlich am 20. Juni 1994. Als zusätzliche Entscheidungsgrundlage lieferte das MI LSA eine Projektskizze, die inhaltlich eine Mischung darstellte aus dem Gedenkstättenkonzept der Sachverständigenkommission von August 1993 und dem längst ad acta gelegten Nutzungskonzept von 1992. Nach der Besichtigung der ehemaligen GÜSt Marienborn besuchte die Kommission in Begleitung der Landesvertreter auch das GDH als denkbare Ergänzung der GDT, um zusätzlich die gesamtstaatliche Bedeutung der GDT zu unterstreichen. Eine ernst- und dauerhafte Berücksichtigung des GDH bei der Mittelverwendung wurde von Seiten des Landes jedoch dort weiterhin abgelehnt.155 Mit dem Rückgriff auf das Papier von 1992 signalisierte das MI LSA der Bundeskommission wie gewünscht, dass das Land Sachsen-Anhalt an einen großflächigen Erhalt des Areals nun doch nicht mehr dachte und das Gedenkstättenkonzept von 1993 nur noch in begrenztem Umfang Gültigkeit besaß. Der Großlösung – die ja bei der ersten Begutachtung durch die Bundeskommission moniert wurde – wurde damit zumindest auf dem Papier abgeschworen, das Gedenkstättenkonzept »Deutsche Teilung« Marienborn quasi »auf Bestellung des Bundes« wieder verkleinert. Bei genauerer Betrachtung der Projektskizze war diese Begrenzung jedoch lediglich vorgetäuscht, hielt das MI LSA doch an allen Anlagen, Gebäuden und Elementen und deren Nutzung als »Erlebnisraum« und »Dokumentationszentrum« für die Gedenkstätte Marienborn fest, so wie es am 09. November 1993 vom Landtag beschlossen worden war.156 Entsprechend breit angelegt blieb dann auch das im Oktober 1994 vom MI LSA ergänzend zur Projektskizze vorgelegte überarbeitete Nutzungskonzept zur GDT, das zum Selbstverständnis der Gedenkstätte grundlegend festlegte: »Der konzeptionelle Ansatz für die Gedenkstätte ist gesamtdeutsch. Ihre Errichtung und Gestaltung liegt in überregionalem, gesamtstaatlichem Interesse und trägt zur Aufarbeitung dieses Teilabschnittes jüngster Geschichte sowie zur Förderung freiheitlich rechtsstaatlichen
153 Landtag Sachsen-Anhalt: Plenarprotokoll 1/62 der 62. Sitzung vom 26.05.1994. Zusätzlich wurden für Hötensleben 50.000 DM für das Jahr 1995 beschlossen, vgl. Landtag Sachsen-Anhalt: Drs. 1/62/3711 B vom 26.05.1994. Dieser Zuschuss wurde vom GDH e.V. als Anfang der Zusammenarbeit bewertet, vgl. o.V.: »Gesamtkonzept soll Grenzwirklichkeit zeigen«, in: Braunschweiger Zeitung vom 11.06.1994. 154 MI LSA: Vermerk vom 09.05.1994, ArMI LSA, 11333-6, Band 1. 155 MI LSA: Projektskizze zur Errichtung einer Gedenkstätte auf einem Teilgebiet der ehemaligen Grenzübergangsstelle (GÜSt) Marienborn vom 20.06.1994, ArMI LSA, 11333-6, Band 1. 156 Ebd., S. 4, 6.
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Denkens und Handelns bei. […] Die Gedenkstätte Deutsche Teilung wird durch die Einmaligkeit ihrer Anlage einen spezifischen Beitrag zur Veranschaulichung, Erinnerung und Mahnung an einen bedeutenden Zeitabschnitt deutscher Nachkriegsgeschichte an einem Ort des Geschehens leisten.«157
Der Umfang der niedergelegten Nutzung deckte sich weitgehend mit dem 93erKonzept und präzisierte außerdem die Punkte Ausstellung und Bildungsarbeit durch die Bundesgutachter »in die Feder diktiert«. So berücksichtigte das neue Nutzungskonzept eins zu eins die Erfordernisse, die die Bundesgutachter in ihren Stellungnahmen zur Bedingung einer Bundesförderung machten. Entsprechend wurden u.a. die Themen der zukünftigen Ausstellung und das Spektrum der politischen Bildungsarbeit darlegt.158 Ein weiteres wichtiges Entgegenkommen stellte das Angebot des Landes an die begutachtende Bundeskommmission dar, für den zukünftigen Unterhalt der Gedenkstätte alleine aufkommen zu wollen. Die Bundesbeteiligung sollte sich nur noch auf die Investitionskosten beziehen. Auf eine Beteiligung des Bundes am laufenden Gedenkstättenbetrieb wurde stattdessen großzügig verzichtet.159 Damit verpflichtete sich das Land Sachsen-Anhalt, die GDT zukünftig ausschließlich mit Landesmitteln zu bestreiten.160 Dass der Besuch der Kommission insgesamt eher eine Formalität darstellte und im Grunde genommen bereits vorher »die Würfel gefallen waren«, belegen nicht nur die oben bereits näher ausgeführten Absprachen zwischen Gutachtern und den Gedenkstättenbeauftragten des MI LSA, den Staatssekretären, Ministern und schließlich zwischen dem Ministerpräsidenten Sachsen-Anhalt und dem Bundeskanzler, sondern auch Hinweise in zwei Bundestagsdrucksachen, die noch vor dem Vorliegen aller Kommissionsgutachten auf ein positives Votum in Sachen Bundesförderung schließen ließen.161 Darin hieß es vorwegnehmend: »Zurzeit wird die Beteiligung an zwei Projekten geprüft. Es handelt sich um DeutschDeutsches Museum Mödlareuth (Grenzmuseum) sowie Grenzübergangsstelle Marienborn. […] Mit diesen für eine Grenzbefestigungsanlage bzw. für eine Grenzübergangsstelle exemplarischen Einrichtungen erschöpfen sich die Möglichkeiten des Bundes im Rahmen der vorgesehenen Gesamtkonzeption.«162
Daher war es auch keine Überraschung, dass alle drei Stellungnahmen der Bundeskommission schließlich und endlich doch im Sinne einer Bundesbeteiligung bei den
157 MI LSA/Miehe, Lutz: Konzeption zur Nutzung der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn vom 07.10.1994, ArGDT: Bestand: 11333, 8. 158 Ruhr-Universität Bochum: Stellungnahme zu dem Vorhaben der Errichtung einer Gedenkstätte auf einem Teilgebiet der ehemaligen Grenzübergangsstelle (GÜSt) Marienborn vom 28.06.1994, ArGDT, 11333, 8. 159 BMI: Ergebnisvermerk vom 22.06.1994, S. 2, ArMI LSA, 11333-6, Band 1. 160 Vgl. auch Dt. BT, Drs. 12/7834 vom 09.09.1994, S. 9. 161 Dt. BT, Drs. 12/8376 vom 16.08.1994; Dt. BT, Drs. 12/7834 vom 09.09.1994. 162 Dt. BT, Drs. 12/8376 vom 16.08.1994, S. 6.
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Errichtungskosten ausfielen und die inhaltlichen sowie gestalterischen bzw. baulichen Bedingungen, die für eine Bundesförderung durch die Gutachter an die zukünftige Gedenkstätte vorausgesetzt wurden, sich deckten mit dem bereits überarbeiteten Nutzungskonzept des MI LSA.163 So empfahl die Stellungnahme der Ruhr Universität Bochum deckungsgleich mit der Projektskizze und dem neuen Nutzungskonzept: »Tankstelle und Raststätte […] müssen in ihrer baulichen Gestaltung eingepasst werden. […] Durch eine zu starke Verknappung der Fläche und der Anlagen darf nicht der Eindruck entstehen, als sei das ganze Ensemble gar nicht so bedeutend […]. Es sollte […] dafür gesorgt werden, dass in der Gedenkstätte selbst eine Art Geschichtswerkstatt geschaffen wird […].«164
Bei Vorlage eines baulichen und inhaltlichen Konzeptes (beides lag bereits vor) und bei ersten erkennbaren Schritten einer länderübergreifenden Zusammenarbeit mit dem Land Niedersachsen (auch dies war u.a. durch den Landtagsbeschluss vom 26. Mai 1994 bereits auf den Weg gebracht),165 »dürfte einer positiven Entscheidung nichts im Wege stehen, zumal das Land Sachsen-Anhalt finanzielle Vorleistungen erbracht hat […] und die Folgekosten nach dem Ausbau der Gedenkstätte tragen wird«.166 Das Institut für Zeitgeschichte bescheinigte ebenfalls schon kurze Zeit nach der Vor-Ort-Besichtigung, dass die neue Skizze nun ausreichend auf einen Teil der Anlagen verzichten würde (was im direkten Vergleich zum 93er-Konzept ja tatsächlich nicht stimmte) und eine Beteiligung an den Investitionskosten nunmehr befürwortet werde. Zusätzlich führte der Gutachter begründend an: »Gegenüber der Situation vom Herbst 1993 hat sich die Ausgangslage insofern grundsätzlich geändert, als alle anderen Grenzübergangsstellen gänzlich beseitigt wurden und es daher nur noch in Marienborn möglich ist, einen deutsch-deutschen Grenzübergang als Symbol der Teilung und der daraus resultierenden Auswirkungen […] für die Nachwelt zu erhalten.«167
Obwohl auch dieses Argument angreifbar war, zählte für die GDT am Ende das getroffene Gesamturteil, »[…] dass eine Gedenkstätte Marienborn am Ort der Haupt-
163 MI LSA/Miehe, Lutz: Konzeption zur Nutzung der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn vom 07.10.1994, ArGDT: Bestand: 11333, 8. 164 Ruhr-Universität Bochum: Stellungnahme zu dem Vorhaben der Errichtung einer Gedenkstätte auf einem Teilgebiet der ehemaligen Grenzübergangsstelle (GÜSt) Marienborn vom 28.06.1994, ArGDT, 11333, 8. 165 Auch Schreiben an die Niedersächsische Staatskanzlei hatte es in diesem Zusammenhang bereits im Juni und im August gegeben, vgl. Schreiben des Ministeriums des Innern an die StkLSA vom 02.08.1994, ArMI LSA, 11338-1/GDH; MI LSA: Vermerk vom 25.08.1994, ArMI LSA, 11338-1/GDH. 166 Ebd., S. 2. 167 Institut für Zeitgeschichte: Gutachten zur Errichtung einer Gedenkstätte auf einem Teilgebiet der ehemaligen Grenzübergangsstelle (GÜSt) Marienborn vom 24.06.1994, ArGDT, 11333, 8.
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übergangsstelle vom freiheitlich-demokratischen Westen in den kommunistischdiktatorischen Osten von nationaler, wenn nicht internationaler Bedeutung ist«.168 Das Deutsche Historische Museum, als Drittgutachter schloss sich auf 15 Zeilen kurz und knapp dieser Auffassung an.169 Mit diesem Gesamturteil, das für den weiteren erinnerungs- und gedenkstättenpolitischen Umgang wesentlich wurde, wurde zugleich eine deutliche geschichtspolitische Aussage gemacht. So wurde der Grenzübergang Marienborn plötzlich von seiner historischen Bedeutung her so behandelt, als sei er die international bedeutendste Schnittstelle zwischen dem gesamten Ost- und Westblock zwischen 1945 und 1989 gewesen. Dass die ehemalige GÜSt mitnichten die einzige wichtige Drehscheibe zwischen dem Osten und dem Westen war, sondern beispielsweise auch jeder inner- und außereuropäische Flughafen (z.B. der Moskauer Airport), und dass Marienborn nie einen derartigen solitären Rang innerhalb des internationalen Grenzverkehrs besessen hatte, ließ die historische Einordnung der Grenzanlage vermissen. Neben dieser internationalen Überhöhung der GÜSt schimmerten im Gesamturteil zudem solche Vergangenheitsinterpretationen durch, die den Osten en bloc als kommunistische Diktatur definierten und diesbezüglich auf zeitliche und territoriale Differenzierungen weitgehend verzichteten. Nur mittels solcher Einordnungen der GÜSt ließ sich eine gesamtstaatliche Bedeutung der Anlage untermauern und eine Förderung des Projektes bundespolitisch durchsetzen. Bis auf die Absegnung dieser Empfehlungen durch den Bundeshaushaltsausschuss, der bereits im vornherein durch das MI LSA in dieser Angelegenheit positiv gestimmt wurde, sowie bis auf erfolgreiche Verhandlungen mit dem Land Niedersachsen (im Hinblick auf den Wunsch der Kommission, Marienborn in ein länderübergreifendes Konzept einzubinden), schien einer Bundesbeteiligung an den Errichtungskosten ab Herbst 1994 nichts mehr im Wege zu stehen.170 Die Bundesförderung galt als absolut sicher, die Ausgangsposition des Landes Sachsen-Anhalt und der GDT für eine derartige umfangreiche Bundeszuwendung war zweifelsfrei so günstig wie nie mehr danach.
4.4 D AS S CHEITERN
DER A UFNAHME IN DIE INSTITUTIONELLE B UNDESFÖRDERUNG
Mit dem Ziel, ein länderübergreifendes Gesamtkonzept für die Grenzorte Marienborn, Hötensleben und Helmstedt (v.a. auch im Sinne einer Beteiligung des Bundes und Niedersachsens) zu entwickeln, wandte sich Sachsen-Anhalt während des Prüfverfahrens der Bundeskommission zweimal schriftlich an die niedersäch-
168 Ebd. 169 Schreiben des Deutschen Historischen Museums an das MI LSA vom 15.09.1994, ArGDT, 11333, 8. 170 In einem handschriftlichen Vermerk hierzu heißt es hierzu: »Hr. Sch. ist überzeugt, dass eine Bundeszuwendung bewilligt werden wird.« Vgl. MI LSA: Vermerk vom 28.10.1994, ArMI LSA, 11333-6, Band 1.
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sische Staatskanzlei.171 Sachsen-Anhalt ging es dabei in erster Linie um Entlastung bei den zu erwartenden Betriebskosten der GDT. Das LSA hoffte, wenn der Bund die Errichtungskosten hälftig übernähme, könne sich Niedersachsen ebenso hälftig beim Unterhalt einbringen. Unter dieser Voraussetzung erklärte sich das LSA sogar bereit, auch das GDH im Rahmen der Gedenkstättenkonzeption des LSA zu fördern. Dass es dabei wahrlich nicht um die »Rettung« des GDH ging, belegt eine handschriftliche Notiz auf einen Vermerk des MI LSA, die da lautet: »In der Sache Hötensleben sollten wir uns möglichst wenig hinauslehnen. Die Gemeinde hat die Trägerschaft. Die Sache ist im kommunalen Raum nach wie vor umstritten.« 172 Das Thema wurde schließlich auf die Tagesordnung einer gemeinsamen Kabinettsitzung der Länder Niedersachsen und Sachsen-Anhalt am 22. November 1994 gesetzt.173 Im Wissen, dass sich Niedersachsen höchstens personell (in Form von Verwaltungshilfe) und ideell in ein länderübergreifendes Konzept einbringen würde,174 bereitete das MI LSA für die gemeinsame Kabinettsitzung den Beschlussvorschlag vor: »Die Landesregierungen beider Länder stimmen überein, dass die Errichtung der Gedenkstätte Deutsche Teilung auf dem Gelände der ehemaligen Grenzübergangsstelle (GÜSt) Marienborn von nationaler Bedeutung ist. Das Land Niedersachsen wird das Land Sachsen-Anhalt in seinen Bemühungen gegenüber der Bundesregierung unterstützen, sich finanziell im Rahmen der Gesamtkonzeption zur Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland an der Errichtung der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn zu beteiligen.«175
Nur geringfügig abgeändert, wurde dieser Beschlussvorschlag von der niedersächsischen Staatskanzlei akzeptiert,176 und ging er in dieser Form als Verhandlungsgrundlage177 in die vorbereitende Landeskabinettsitzung am 08. November 1994 ein.178
171 MI LSA: Vermerk vom 25.08.1994, ArMI LSA, 11338-1/GDH. 172 MI LSA: Vermerk vom 26.10.1994, ArMI LSA, 11338-1/GDH; Drieschner, Frank: »Die Mauer muss bleiben«, in: Die Zeit vom 04.11.1994, S. 77; Landtag SachsenAnhalt, Drs. 2/308 vom 04.11.1994, S. 6. 173 Ebd., S. 5. 174 Schreiben der Niedersächsischen Staatskanzlei an das MI LSA vom 18.10.1994, ArMI LSA, 11333-6, Band 1. 175 Schreiben des Ministeriums des Innern Sachsen-Anhalt an die Niedersächsische Staatskanzlei vom 19.10.1994, ArMI LSA, 11333-6, Band 1. 176 Schreiben der Niedersächsischen Staatskanzlei an das MI LSA vom 25.10.1994, ArMI LSA, 11333-6, Band 1. Die Änderungen umfassten eine Durchnummerierung der Sätze, sowie die Ersetzung des letzten Satzes durch die Formulierung: »Das Land Niedersachsen wird das Land Sachsen-Anhalt in seinen Bemühungen gegenüber der Bundesregierung um finanzielle Förderung für die Errichtung der ›Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn‹ im Rahmen der Gesamtkonzeption zur Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland unterstützen.«
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Entgegen allen bisherigen Absprachen und auch entgegen allen bisherigen Forderungen beschloss die Landesregierung LSA in Vorbereitung für die länderübergreifende Sitzung überraschend jedoch nicht den mit Niedersachsen abgestimmten Beschlussentwurf, sondern eine vollkommen neue Version in der es plötzlich hieß: »1. Die Landesregierungen beider Länder stimmen überein, dass es sich bei dem ehemaligen Autobahngrenzübergang Marienborn an der früheren innerdeutschen Grenze um ein Denkmal von nationaler Bedeutung handelt. Die Verantwortung für den Ausbau, dessen Finanzierung und die Unterhaltung der Anlage liegt daher ausschließlich beim Bund. 2. Die Länder Niedersachsen und Sachsen-Anhalt fordern den Bund auf, die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen, um seiner Verantwortung gerecht zu werden.«179
Damit hatte die Landesregierung nichts Geringeres beschlossen, als eine 100%ige Übernahme der GDT in die Bundesträgerschaft, obwohl dies das Gesetz über die Beteiligung des Bundes an Mahn- und Gedenkstätten per se ausschloss und obwohl von vornherein immer nur eine Beteilung von maximal 50%, und im Fall der GDT sogar beschränkt auf die Investitionskosten, in Aussicht gestellt worden war. Weshalb die Landesregierung plötzlich die Komplettübernahme der GDT forderte, kann abschließend nicht geklärt werden. Eventuell war es die Unwissenheit der frisch gewählten und neu amtierenden Kabinettsmitglieder, gegebenenfalls war es auch eine Kurzschlussreaktion, nachdem Niedersachsen als Zuwender der GDT ausfiel. Fakt ist, dass sowohl das MI LSA als auch die Staatskanzlei selbst alarmierend vor den Problemen warnte, die dieser Regierungsbeschluss verursachte, sollte er vor der länderübergreifenden Sitzung nicht rückgängig gemacht werden. So wies das MI LSA eindringlich darauf hin, dass der Bund nach Vorliegen des positiven Votums der Fachwissenschaft sich maximal mit 50% an der Errichtung beteiligen werde und der Weg bis dorthin bereits steinig genug gewesen sei. Allerhöchstens könne vom Bund verlangt werden, dass die bisher vom Land erbrachte Leistung bei der Bemessung der Höhe der Bundesbeteiligung berücksichtigt werde.180 Hierbei bezog sich das MI LSA auf das mittlerweile vorliegende Schreiben des BMI, aus dem hervorging, dass dem wohlwollenden Gesamturteil der Bundessachverständigenkommission gefolgte werde und dem Bundeshaushaltsausschuss eine anteilige Bundesförderung vorgeschlagen werde.181 Die Staatskanzlei warnte überdies:
177 Schreiben des Ministeriums des Innern Sachsen-Anhalt Minister des Innern Manfred Püchel an die StkLSA Ministerpräsident Reinhard Höppner vom 03.11.1994, ArMI LSA, 11333-6/3, Band 1. 178 StkLSA: Niederschrift über die 16. Sitzung der Landesregierung am 08.11.1994 vom 08.11.1994, ArMI LSA, 11333-6/3, Band 1. 179 Ebd. 180 MI LSA: Vermerk zum 15.11.1994, ArMI LSA, 11333-6, Band 1; MI LSA: Vermerk vom 15.11.1994, ArMI LSA, 11333-6, Band 1. 181 Schreiben des BMI an das MI LSA vom 15.11.1994, ArMI LSA, 11333-6, Band 1; BMI: Vermerk vom 15.11.1994, ArMI LSA, 11333-6, Band 1.
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»Aber auch eine Vollfinanzierung durch den Bund erscheint nicht durchsetzbar. […] Vor diesem Hintergrund sollte es bei dem von MI in der Vorlage vom 03.11.1994 vorgeschlagenen Votum bleiben. Ein gemeinsames Schreiben der MP [Ministerpräsidenten] Sachsen-Anhalt und Niedersachsen an den Bundeskanzler in Richtung einer weitergehenden Bundesbeteiligung sollte derzeit nicht angestrebt werden.«182
Trotz dieser Einsprüche und Warnrufe wurde der Regierungsbeschluss des Landes Sachsen-Anhalt mit seiner Forderung, der Bund möge die ausschließliche Verantwortung für den Ausbau und den Unterhalt der GDT allein übernehmen, bei der länderübergreifenden Sitzung am 22. November 1994 als Beschlussvorschlag für eine weitere, sich anschließende länderübergreifende Sitzung am 13. Dezember akzeptiert. Und obwohl sowohl das MI LSA als auch die Staatskanzlei SachsenAnhalts selbst wiederholt massive Versuche unternahmen, den Beschlussvorschlag noch rechtzeitig abzuwenden, wurde er ohne Rücksicht auf seine fatalen Folgen am 13. Dezember 1994 von beiden Ländern angenommen und die den Ministerpräsidenten nahe gelegten Neuformulierungsvorschläge von Staatskanzlei und MI LSA abgelehnt.183 Dass dies in letzter Konsequenz einen erheblichen politischen Prestigeverlust bedeutete (da das Land nun jegliche Verantwortung für die GDT auf den Bund abwälzte), und somit die Gefahr drohte, dass der Bund sich gänzlich von einer Beteiligung zurückziehen werde und wiederum bei Wegfall der Träger (Land und Bund) die GDT insgesamt an ihr Ende kommen würde (Verfall der Anlagen usw.), schien die Mitglieder der Länderkabinette nicht zu interessieren. Eine diesbezügliche Auflistung des MI LSA wurde ignoriert.184 Stattdessen wurde ergänzt: »Die Ministerpräsidenten werden sich dazu gemeinsam an den Bundeskanzler wenden. Die Federführung übernimmt Sachsen-Anhalt.«185 Damit wurde das Unmögliche gefordert: die alleinige Trägerschaft des Bundes. Nur eine Woche später schickte der Chef der sachsenanhaltinischen Staatskanzlei seinem niedersächsischen Kollegen einen ersten Briefentwurf, mit der Bitte um Billigung.186 Am 31. Januar 1995 wurde das Schreiben, unterzeichnet vom Ministerpräsidenten Sachsen-Anhalt, Reinhard Höppner (SPD), und vom niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder (SPD), an Bundeskanzler Kohl abgeschickt. Darin hieß es, gemäß dem gemeinsam gefassten Kabinettsbeschluss:
182 StkLSA: Vermerk vom 11.11.1994, S. 2, ArMI LSA, 11333-6/3, Band 1. 183 MI LSA: Vermerk vom 08.12.1994, ArMI LSA, 11333-6, Band 1; MI LSA: Vermerk vom 09.12.1994, ArMI LSA, 11333-6, Band 1; StkLSA: Vermerk zum 13.12.1994, ArMI LSA, 11333-6, Band 1; StkLSA: Ergebnisprotokoll der Gemeinsamen Kabinettssitzung der Länder Sachsen-Anhalt und Niedersachsen am 13.12.1994 in Magdeburg, ArMI LSA, 11333-6/3, Band 1. 184 MI LSA: Vermerk vom 09.12.1994, ArMI LSA, 11333-6, Band 1. 185 Ebd. 186 Schreiben der StkLSA Chef der Staatskanzlei an die Niedersächsische Staatskanzlei Chef der Staatskanzlei vom 20.12.1994, ArMI LSA, 11333-6, Band 1, darin: Entwurf Schreiben der Ministerpräsidenten des Landes Sachsen-Anhalt und des Landes Niedersachsen an das Bundeskanzleramt Bundeskanzler Helmut Kohl.
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»Die Landesregierungen beider Länder stimmen überein, dass es sich bei dem ehemaligen Autobahngrenzübergang Marienborn an der früheren innerdeutschen Grenze um ein Denkmal von nationaler Bedeutung handelt. Die Verantwortung für den Ausbau, dessen Finanzierung und die Unterhaltung der Anlage liegen daher ausschließlich beim Bund. Die Landesregierung Sachsen-Anhalts fordert daher die Bundesregierung auf, die entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen, um dieser Verantwortung gerecht zu werden. Die Landesregierung Niedersachsen unterstützt dieses Anliegen.«187
Die Reaktionen auf dieses Schreiben entsprachen den Befürchtungen des MI LSA und der Staatskanzlei. Das Ministerium der Finanzen LSA stoppte sofort die Finanzierung weiterer Baumaßnahmen mit dem Argument, ist der Ausbau der GÜSt zur Gedenkstätte ausschließlich Angelegenheit des Bundes, solle dieser ihn auch finanzieren.188 Sämtliche Bauunterhaltungsmaßnahmen wurden sofort eingestellt, das »Provisorium« wurde eingefroren.189 Der Bundeskanzler selbst ließ über seinen Chef des Bundeskanzleramtes ausrichten, das Schreiben der Ministerpräsidenten Höppner und Schröder hätte Irritationen ausgelöst. Die Aufforderung der Ministerpräsidenten, ausschließlich der Bund solle die Verantwortung über die Errichtung der Gedenkstätte Deutsche Teilung übernehmen, wurde folgerichtig interpretiert: »Die Landesregierung von Sachsen-Anhalt gibt damit zum Ausdruck, dass ihr Interesse an der Gedenkstätte weggefallen ist. Dies kann aber nicht zur Konsequenz haben, dass der Bund […] zu 100% für diese Kosten eintritt. […] Ohne die Übernahme der Trägerschaft durch das jeweilige Sitzland und ohne Übernahme von mindestens 50% der Finanzierung kommt eine Beteiligung des Bundes nicht in Betracht.«190
Der Bundeskanzler hatte keinerlei Verständnis für die Erwartungshaltung der Länder Sachsen-Anhalt und Niedersachsen. Umgesetzt wurde dieser angedrohte Rückzug schließlich durch das BMI, das im Juni 1995 erklärte: »Zu meinem Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, dass auf absehbare Zeit keine Bundesmittel für die Förderung der Gedenkstätte Deutsche Teilung zur Verfügung stehen.«191 Die 50%ige Beteiligung des Bundes, die sich bereits im Herbst 1994 angebahnt hatte, wurde nun resolut abgelehnt. Als Begründung führte das BMI an, der Kulturhaushalt sei bis 1998 plafondiert.192 Damit blieb Sach-
187 Schreiben des Ministerpräsidenten Sachsen-Anhalt Reinhard Höppner und des Ministerpräsidenten Niedersachsen Gerhard Schröder an das Bundeskanzleramt Bundeskanzler Helmut Kohl vom 31.01.1995, ArMI LSA, 11333-6, Band 1. 188 Schreiben des Ministeriums der Finanzen Sachsen-Anhalt an das Staatshochbauamt Halberstadt vom 01.02.1995, ArMI LSA, 11333-8/2, Band 1. 189 Arbeitsgruppe »GÜSt« des Regierungspräsidiums Magdeburg: Protokoll der 7. Sitzung am 01.03.1995, ArMI LSA, 11333-8/2, Band 1. 190 Ebd. 191 Schreiben des BMI an das MI LSA vom 27.06.1995, ArGDT, 11333, 8. 192 Ebd.
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sen-Anhalt das einzige neue Bundesland, das vorerst keine Bundesförderung im Gedenkstättenbereich erhielt.193 Dies bedeutete für die GDT, dass bis zum Ende der Legislaturperiode mit keinerlei Unterstützung seitens des Bundes mehr zu rechnen war. Die Ministerpräsidenten Höppner und Schröder hatten Bundeskanzler Kohl mit ihrer Forderung derart verstimmt, dass sie unter seiner Regierung in Bezug auf Marienborn nichts mehr erreichen konnten. Verzweifelte Versuche, den Bund milder zu stimmen, scheiterten. So war der Versuch ebenfalls erfolg- und aussichtslos, den ehemaligen Ministerpräsidenten Sachsen-Anhalts und Parteikollegen von Kohl, Christoph Bergner, vermittelnd einzuschalten.194 Auch bei ihm stieß der Chef der Staatskanzlei Sachsen-Anhalts auf Unverständnis: »Wenn nun die Landesregierungen […] sich zu Lasten des Bundes darauf verständigt haben, dass […] die Verantwortung für den Ausbau, dessen Finanzierung und die Unterhaltung der Anlage ausschließlich beim Bund liege, so steht diese Vereinbarung nicht in der Kontinuität jenes Landtagsbeschlusses [vom 18. September 1992].«195
Daraufhin ordnete der Ministerpräsident Sachsen-Anhalt an, bei der Gedenkstätte Marienborn müsse nun eine möglichst Kosten sparende Variante für Ausstattung und Betrieb realisiert werden.196 Dies bedeutete in letzter Konsequenz, fortan wurde nun wieder – ganz im Sinne bisheriger Regierungspolitik – eine »Minimallösung« angestrebt. Der einzige Unterschied zu den Vorjahren bestand diesmal darin, dass Kritikern nun mit dem Argument begegnet werden konnte: der Bund sei an allem schuld, schließlich wolle er nicht zahlen.
4.5 K URSWECHSEL UND N EUKONZEPTION DER GDT 1995-1996 Die Aktivitäten des BMI und der Staatskanzlei konzentrierten sich in den Folgemonaten bzw. -jahren ausschließlich darauf, alternative und vor allem »günstige« Lösungen für das Projekt zu akquirieren. Hierzu wurden verschiedenste Finanzierungs- und Trägerschaftsmodelle herangezogen und verworfen, jeweils immer mit der Vorgabe, das Land Sachsen-Anhalt solle so wenig wie möglich in die Pflicht genommen werden. Zwar war das Gelände, auf dem sich die ehemalige GÜSt be-
193 MI LSA: Vermerk vom 07.07.1995, ArMI LSA, 11333-8/2, Band 1. 194 Schreiben der StkLSA Chef der Staatskanzlei an den Vorsitzenden der CDU-Fraktion Landtag Sachsen-Anhalt Christoph Bergner vom 13.02.1995, ArMI LSA, 11333-6, Band 1; Schreiben des Vorsitzenden der CDU-Fraktion Landtag Sachsen-Anhalt Christoph Bergner an die StkLSA Chef der Staatskanzlei Wolfgang Gerhards vom 23.02.1995, ArMI LSA, 11333-6, Band 1. 195 Ebd. 196 Schreiben der StkLSA Chef der Staatskanzlei Gerhards an das MI LSA Staatssekretär Schneider vom 30.03.1995, ArMI LSA, 11333-6, Band 1.
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fand, mit dem 11. April 1995 dem Land als Eigentum vom Bund übertragen worden, großzügige und der historischen Bedeutung des Ortes angemessene Planungen wurden jedoch umgehend verworfen, die Verantwortung des Landes als Eigentümerin auf ein Mindestmaß zurückgeschraubt.197 Politisch wurde dieses Vorgehen abgesegnet durch einen weiteren Kabinettsbeschluss am 20. Juni 1995, der sowohl das Finanzministerium Sachsen-Anhalt wieder in die Lage versetzte (entgegen dem länderübergreifenden Beschluss vom 13. Dezember 1994), eine reduzierte Fassung der Gedenkstätte finanzieren zu können, als auch zurückkehrte zu den Beschlüssen vom 18. Februar 1992, 13. Juli und 09. November 1993, in denen sich das Land für die Errichtung einer landeseigenen Gedenkstätte ausgesprochen hatte. In punkto Bundesförderung legte der JuniBeschluss ebenfalls abweichend vom 13.-Dezember-Beschluss fest, das Land werde sich weiterhin um eine Bundesförderung bezüglich der Investitionskosten sowie um Beteiligung bei den Bewirtschaftungskosten bemühen, jedoch nur noch in Höhe von maximal 50%.198 Damit erkannte die sachsenanhaltinische Landesregierung grundsätzlich ihre Mitverantwortung und ihren unerlässlichen Beitrag zur Umsetzung des Gedenkstättenvorhabens an, wenngleich der tatsächliche Mitteleinsatz klein bleiben sollte. Das »Referat 44 [des MI LSA] wird Stellung nehmen, inwieweit wir die Gedenkstätte gegenständlich noch reduzieren oder zeitlich strecken können, » lautete die neue Devise.199 Eine räumliche Reduzierung wurde von Seiten des Regierungspräsidiums Magdeburg als kaum mehr realisierbar eingeschätzt: »Das Gedenkstättenareal ist auf 1/3 des ursprünglichen Volumens ›geschrumpft‹ und hat damit die untere vertretbare Grenze erreicht. Weitere Einsparungen sollten hier nicht in Kauf genommen werden, wenn die Gedenkstätte als Mahnmal für den Besucher noch erlebbar sein soll.«200 Der Regierungspräsident empfahl stattdessen, nicht minder dramatisch für das gesamte Projekt, eine weitgehende zeitliche Streckung, die Herabstufung der Stellendotierungen und die vollständige Halbierung der Personalstellen sowie Bauvorhaben: »Im Gedenkstättengebäude sollten lediglich im Bereich des Erdgeschosses ein Ausstellungsraum, ein Versammlungsraum (70 Plätze) und die sanitären Einrichtungen für die Besucher erstellt werden. […] Der Einbau einer vollständigen Heizungsanlagen kann kurzfristig zurückgestellt werden […] Die Räume sollten nur mit Regalen ausgestattet werden. […] Das Sparkassengebäude sollte vorerst nur gesichert und für Publikumsverkehr nicht mehr zugänglich werden. […] Die Einschränkung der baulichen Maßnahmen auf reine Erhaltung erstreckt
197 Schreiben des Ministeriums der Finanzen Sachsen-Anhalt an das MI LSA vom 05.05.1995, ArMI LSA, 11333-8/2, Band 1. 198 Schreiben des Ministeriums des Innern Sachsen-Anhalt Minister des Innern Manfred Püchel an die StkLSA Ministerpräsident Reinhard Höppner, S.4-6, ArMI LSA, 113336/3, Band 1 (Kabinettsvorlage); StkLSA: Niederschrift über die 43. Sitzung der Landesregierung am 20.06.1995 vom 20.06.1995, ArMI LSA, 11330-2, Band 1. 199 MI LSA: Vermerk vom 07.07.1995, S. 2, ArMI LSA, Bestand: 11333-8/2, Band 1. 200 Regierungspräsidium Magdeburg: Vermerk vom 10.07.1995, ArGDT, 11333, 8.
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sich auch auf den Kontrollturm, die Brücke, die Veterinärstation, LKW-Einreise, den Garagenkomplex, das Heizhaus und den überwiegenden Teil der PKW-Einreise. Diese Gebäude müssten aus der Besucherkonzeption herausgelöst werden.«201
Von der »Hauptübergangsstelle vom freiheitlich-demokratischen Westen in den kommunistisch-diktatorischen Osten« sollte baulich ein kümmerlicher Gedenkstätten-Rest übrig bleiben. Bezogen auf seine historische Aussagekraft schrumpfte Marienborn ebenfalls zusammen, sodass es ab dann nur noch als Symbol der deutschdeutschen Teilung von rein nationalem Wert behandelt wurde.202 Gegen diese radikalen Kürzungen und Minimalisierungsversuche des Regierungspräsidiums argumentierte das MI LSA: »Es handelt sich um eine Gedenkstätte, die in einem Baudenkmal eingerichtet wird, das der Eigentümer […] auch ohne den Betrieb der Gedenkstätte erhalten muss. […] Eine Kostenreduzierung, die auf das Herauslösen weiterer Teile der ehemaligen GÜSt aus dem Bereich der Gedenkstätte abstellte, würde das Projekt vollständig verstümmeln.«203
Deswegen bemühte sich das MI LSA in den Folgemonaten verstärkt darum, es zu der befürchteten Verstümmelung des Gesamtprojektes nicht kommen zu lassen und die Voraussetzungen für eine spätere Bundesförderung weiterhin zu erhalten. Während die Landesregierung bei der Generalkommissarin der Expo2000 ein vorerst letztes Mal für das Marienborner Vorhaben warb,204 wurde die GDT von Seiten des Innenministeriums vorgeschlagen als Empfängerin eines Teils des für Sachsen-Anhalt vorgesehenen SED-Vermögens,205 wurde Niedersachsen ein weite-
201 Regierungspräsidium Magdeburg: Minimalkatalog GÜSt Marienborn vom 10.07.1995, ArGDT, 11333, 8; Schreiben des Regierungspräsidiums Magdeburg Regierungspräsident Böhm an das MI LSA Staatssekretär Schneider vom 11.07.1995, ArGDT, 11333, 9.1/2. 202 Institut für Zeitgeschichte: Gutachten zur Errichtung einer Gedenkstätte auf einem Teilgebiet der ehemaligen Grenzübergangsstelle (GÜSt) Marienborn vom 24.06.1994, ArGDT, 11333, 8. 203 MI LSA: Vermerk vom 14.07.1995, ArMI LSA, 11333-6/7, Band 1. 204 »Ich möchte Sie deshalb sehr herzlich darum bitten, dass Sie sich im Rahmen der Gesamtkonzeption der EXPO 2000 mit dafür einsetzen, dass dieses für Deutschland so bedeutende Symbol der 40-jährigen Teilung erhalten und zu einer Gedenkstätte ausgebaut werden kann. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie sich gegenüber den Verantwortlichen bei der Bundesregierung und auch der niedersächsischen Landesregierung für eine angemessene Beteiligung an den finanziellen Lasten verwenden würden«, lautete die Bitte des Ministerpräsidenten, vgl. Schreiben der StkLSA Ministerpräsident Reinhard Höppner an die Generalkommissarin der EXPO2000 vom 16.08.1995, ArMI LSA, 11333-6/7, Band 1. 205 Gedenkstättenbeirat des Landes Sachsen-Anhalt: Beschlüsse vom 03.08.1995, ArMI LSA, 11332-4, Band 1; MI LSA: Vermerk vom 11.08.1995, S. 2, ArMI LSA, 113336/7, Band 1.
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res Mal (immer noch erfolglos) gebeten, sich am Vorhaben zu beteiligen,206 und unternahm Sachsen-Anhalts Innenminister Manfred Püchel (SPD) den kühnen Versuch, bei den Haushaltsverhandlungen des Bundes eine Umschichtung der Mittel zugunsten der GDT zu erreichen.207 »Wir streben bei den Haushaltsberatungen im Bundesrat an, dass für 1996 und 1997 rund 3,5 Millionen für Marienborn zur Verfügung gestellt werden», kündigte der Innenminister sogar öffentlich an.208 Erst als all diese Versuche scheiterten begab sich das Ministerium schließlich auf die Suche nach einem Trägermodell, das es ermöglichte, Dritt- und später auch Bundesmittel zu akquirieren. Besonders ein länderübergreifendes Konzept schien hierfür geeignet. Die Idee der Gründung einer landeseigenen Gedenkstättenstiftung wurde angedacht, jedoch zugunsten der Gründung eines länderübergreifenden Arbeitskreises bzw. eines Vereines wieder verworfen. Entsprechend engagierte sich das MI LSA für ein von Helmstedter Seite vorgeschlagenes Vereinsprojekt, das die Einrichtungen Grenzmuseum Helmstedt, GDH und GDT miteinander auf Arbeitsebene verbinden sollte.209 Hiermit war mitnichten ein Interesse des Landes gemeint, das GDH nun doch noch der GDT anzubinden. Von einer Übernahme der GDH in die Landesträgerschaft war Sachsen-Anhalt zu diesem Zeitpunkt immer noch weit entfernt. Eher das Gegenteil wurde verfolgt, nämlich die resolute Entlassung der Teilungsgedenkstätten aus alleiniger Landesverantwortung und ihre Rückführung in die niedersächsische bzw. kommunale Mitverantwortlichkeit.210 Dementsprechend schlug das MI LSA vor, es könne daran gedacht werden, die Verwaltung der GDT der Stadt Helmstedt (vergleichbar der Gedenkstätte »Roter Ochse« in Halle) zu übertragen.211
206 Schreiben der Niedersächsischen Staatskanzlei an die StkLSA vom 02.08.1995, ArMI LSA, 11333-6/7, Band 1. 207 MI LSA: Antrag des Landes Sachsen-Anhalt zum Entwurf eines Gesetzes für die Feststellung des Haushalsplans für das Haushaltsjahr 1996, o.D., ArMI LSA, 11333-6/7, Band 1. 208 Innenminister Püchel z.n. Schulz, Wolfgang: »Bonn gibt keinen Pfennig für nationale Gedenkstätte«, in: Braunschweiger Zeitung vom 07.09.1995. 209 MI LSA: Vermerk vom 13.09.1995, ArMI LSA, 11333-6/6, Band 1. 210 Diese Politik entsprach auch der Einschätzung des MI LSA, dass die dem GDH e.V. zugesagten 50.000 DM einmalig bleiben sollten, um nicht zum Präzedenzfall zu werden. Weiteren Förderanträgen des GDH e.V. sollte zukünftig nicht mehr entsprochen werden, vgl. MI LSA: Vermerk vom 22.09.1995, ArMI LSA, 11331-2, Band 2. Die Einmaligkeit wurde auch damit begründet, dass es sich beim GDH nicht um eine Gedenkstätte, sondern um ein Denkmal handle, sodass das Kultusministerium für allein zuständig erklärt wurde, vgl. Schreiben des Ministeriums des Innern Sachsen-Anhalt an das Kultusministerium Sachsen-Anhalt vom 26.01.1995, ArMI LSA, 11338-1/GDH, Band 1. Das Kultusministerium hingegen befürwortete eine Mitbetreuung des GDH durch die GDT, vgl. Schreiben des Kultusministeriums Sachsen-Anhalt an das MI LSA vom 29.08.1995, ArMI LSA, 11338-1/GDH 211 MI LSA: 1. Entwurf Gedenkstätte Deutsche Teilung. Verwaltungsvereinbarung zwischen dem Land Sachsen-Anhalt und der Stadt Helmstedt, Niedersachsen vom 26.10.1995,
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Als Alternative wurde sogar eine Übertragung an den Bördekreis in Erwägung gezogen: »In diesem Falle wäre aber sicherzustellen, dass eine klare konzeptionelle Abgrenzung zum Grenzdenkmal Hötensleben besteht.«212 D.h., während der GDH e.V. sich kontinuierlich um überregionale Anerkennung, um Landesträgerschaft und demzufolge sich um Eingliederung in die GDT bemühte, plante das Land im Sinne einer kostenreduzierten Lösung das Abschieben der GDT auf die kommunale Ebene. Denkmalpflegerisch äußerte sich dieser Bedeutungsverlust in den fortschreitenden, z.T. seitens des Landesamtes für Denkmalpflege und seitens des Kulturministeriums stark kritisierten Abrissen einzelner Elemente der Anlage. So wurden z.B. prompt die gesamten LKW-Überdachungen und eine Reihe an Abfertigungshäuschen demontiert. »Der Verlust des Denkmals und der Rückzug lediglich auf ein Museum wird immer spürbarer. Wir sind über diese Entwicklung sehr beunruhigt«, kommentierte das LfD LSA diese Aktivitäten.213 Erst Ende September lenkte das Kulturministerium und die Denkmalpflege nach »zähen Verhandlungen« ein und akzeptierten sie »die Interpretation der Kabinettsbeschlüsse, nach der die Sachverständigengutachten des MI nicht ausdrücklich als erhaltenswert bezeichneten Objekte abzureißen sind«.214 Nachdem sich die Landkreise und Kommunen außerstande erklärten, sich in vom Land gewünschter Weise für die GDT zu verwenden, konkretisierte das MI LSA im Herbst 1995 die Planungen zu einem Förderverein, der u.a. die Mitgliedschaft der musealen und denkmalpflegerischen Grenzeinrichtungen sowie deren jeweilige Sitzländer, Landkreise bzw. Kommunen/Städte vorsah.215 Dabei ging die
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ArMI LSA, 11333-6/6, Band 1. Während die Stadt Halle sich nur mit 5% an den Verwaltungskosten beteiligte, war für die Stadt Helmstedt eine Verzehnfachung des Beitrages auf 50% vorgesehen, vgl. ebd. S. 3 sowie MI LSA: 1. Entwurf Gedenkstätte »Roter Ochse« Halle/Saale. Verwaltungsvereinbarung zwischen dem Land Sachsen-Anhalt und der Stadt Helmstedt, Niedersachsen vom 26.10.1995, ArMI LSA, 11333-6/6, Band 1. MI LSA: Vermerk vom 22.09.1995, S. 5, ArMI LSA, 11331-2, Band 2. Schreiben des Landesamtes für Denkmalpflege an das Evangelische Konsistorium Magdeburg vom 22.08.1995, ArMI LSA, 11333-5/1, Band 1; vgl. ebenfalls Schreiben des Kulturministeriums Sachsen-Anhalt an das MI LSA vom 05.09.1995, ArMI LSA, 11333-5/1, Band 1; MI LSA: Vermerk vom 27.09.1995, ArMI LSA, 11333-8/2, Band 1. Im Oktober 1995 erteilte das Regierungspräsidium eine denkmalrechtliche Abrissgenehmigung, vgl. Schreiben des Regierungspräsidiums Magdeburg an das Ministerium für Wohnungswesen, Städtebau und Verkehr vom 05.10.1995, ArMI LSA, 11333-5/1, Band 1. MI LSA: Vermerk vom 27.09.1995, ArMI LSA, 11333-8/2, Band 1. MI LSA: 1. Entwurf Satzung Förderverein Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn vom 27.10.1995, ArMI LSA, 11333-6/6. Zwischenzeitlich wurde für diesen Verein der Name »Das Nadelöhr zwischen Ost und West« angedacht, jedoch zugunsten des Namens »Grenzenlos e.V.« wieder verworfen, vgl. MI LSA: 2. Entwurf Satzung für den Trägerverein der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn, o.D., ArMI LSA, 11333-
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Frage, ob es ein Förder- oder ein Trägerverein werden solle, während der Planungen fortlaufend durcheinander, lediglich der Vereinszweck blieb Konsens: »Vereinszweck ist die Förderung – der Dokumentation und Information in der Region Helmstedt-Marienborn über die Spaltung Deutschlands im Gefolge des 2. Weltkrieges und des Kalten Krieges sowie über die Wiedervereinigung, – der Darstellung des Unterdrückungsregimes der DDR, – des Gedenkens an die Opfer der Teilung Deutschlands, – der Erziehung zur Demokratie und zur Verteidigung der Menschenrechte.«216
Der vereinsbezogene Zusammenschluss war vorgesehen sowohl als Koordinierungsstelle (im Hinblick auf Werbung, Marketing, Forschung und Publikationen) als auch als eigenständiger zuschussfähiger Kulturbeitrag zur Expo2000 (quasi als Zweckverband).217 Vollkommen kritikfrei in den eigenen Reihen blieb der MI LSA-Entwurf zur Vereinssatzung nicht. Dem Gedenkstättenreferat des MI LSA war sie zu »Helmstedt-lastig« und zu kommerziell bzw. tourismusorientiert.218 Darüber hinaus stufte auch der Haushaltsbeauftragte einen Trägerverein als höchst problematisch ein und riet er aus haushaltsrechtlichen und finanzstrategischen Gründen in seiner Stellungnahme noch im Frühjahr 1996 dem Kabinett dringend von einer solchen Lösung ab. Höchstens als Arbeitskreis – nicht aber als Träger einer Gedenkstätte vom Ausmaß der GDT – käme der Verein in Frage.219 Auf kosten- und mitgliedschaftsbezogene Anfragen beim Land Niedersachsen, beim Deuregio Ostfalen e.V., bei den betreffenden Landkreisen, den Regierungspräsidien, den Kirchen usw. (in Vorbereitung für eine Ausschusssitzung am 29. April 1996, bei der die Entscheidung über eine Trägervereinsgründung anstehen sollte)220 wurde überwiegend zurückhaltend bzw. ablehnend reagiert.221 So erklärte
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6/6, Band 1 sowie MI LSA: 3. Entwurf Satzung für den Trägerverein der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn vom 05.01.1996, ArMI LSA, 11333-6/6, Band 1. Ebd., S. 1. Ebd., S. 2. MI LSA: Vermerk vom 14.11.1995, ArMI LSA, 11333-6/6, Band 1. MI LSA/Der Beauftragte für den Haushalt: Stellungnahme zum Entwurf Ihrer Kabinettsvorlage zu den landeseigenen Gedenkstätten in Sachsen-Anhalt vom 20.03.1996, ArMI LSA, 11333-6/7, Band 1. U.a. setzte die die Gründung eines Trägerverein voraus, dass dem Trägerverein die gesamte Liegenschaft übertragen hätte werden müssen. U.a. Schreiben des Ministeriums des Innern Sachsen-Anhalt Minister des Innern Manfred Püchel an das Niedersächsische Kultusministerium Kultusminister Rolf Wernstedt vom 03.04.1996, ArMI LSA, 11333-6/7, Band 1; Schreiben des Ministeriums des Innern Sachsen-Anhalt Minister des Innern Manfred Püchel an Deuregio Ostfalen e.V. vom 12.04.1996, ArMI LSA, 11333-6/7, Band 1; Schreiben des Ministeriums des Innern Sachsen-Anhalt Minister des Innern Manfred Püchel an den Landkreis Helmstedt Oberkreisdirektor vom 12.04.1996, ArMI LSA, 11333-6/7, Band 1. Landtag Sachsen-Anhalt: Niederschrift über die 9. Sitzung des Ausschusses für Bundesund Europaangelegenheiten am 29.04.1996, S. 7; Schreiben des Deuregio Ostfalen e.V.
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der Oberkreisdirektor des Landkreises Helmstedt, von dem die Idee einer Kooperation zwischen GDT, GDH und dem Grenzmuseum Helmstedt ursprünglich stammte, dass es lediglich eine ideelle Unterstützung und Kooperation seitens seines Landkreises geben könne. Eine kostenmäßige Beteiligung an GDT und GDH, gar eine Übernahme sei ausgeschlossen.222 Der Bördekreis, die Stadt Helmstedt und die Gemeinde Hötensleben schlossen sich dieser Einschätzung an, die Trägerschaft der GDT würde die Möglichkeiten der Kommunen übersteigen, denn dies sei eine reine landes- und bundesspezifische Aufgabe.223 Im Rahmen eines Arbeitskreises seien zwar inhaltlicher Austausch und entsprechende Abstimmungen möglich, dies »könne jedoch nicht soweit gehen, dass Helmstedt die Gedenkstätte Marienborn konzipiere« wurde moniert.224 D.h., auch seitens der potenziellen Mitglieder eines möglichen Trägervereins wurde die Variante Arbeitsgemeinschaft ohne kostenmäßige Verpflichtungen begrüßt, für den Bau und Unterhalt aber wurden das Land und der Bund verantwortlich gemacht. Nach heftigem Schlagabtausch einigten sich die Ausschüsse für Bundes- und Europaangelegenheiten der Länder Sachsen-Anhalt und Niedersachsen schließlich auf eine gemeinsame Entschließung, die im Kern die vorangegangenen Beschlüsse über die Errichtung der GDT bestätigte, darüber hinaus aber auch die Gründung eines Trägervereins unterstützte, ohne dass das Land und der Bund aus ihrer finanziellen Verantwortung für die GDT entlassen wurden.225 Auf Basis dieser Entschließung erfolgte schließlich die Gründung des Vereins mit dem Namen »Grenzenlos – Wege zum Nachbarn« im Magdeburger Landtag am 06. November 1996, der sich jedoch nicht als Träger der GDT, sondern von vornherein lediglich als Kooperationsgremium verstand.226
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226
an das MI LSA vom 05.08.1996, ArMI LSA, 11333-6/6, Band 1. Lediglich die Kirchen zeigten sich auch im Punkt finanzieller Pflichten zumindest verhandlungsbereit, vgl. Schreiben der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Braunschweig an das MI LSA vom 05.07.1996, ArMI LSA, 11333-6/6, Band 1. Landtag Sachsen-Anhalt: Niederschrift über die 9. Sitzung des Ausschusses für Bundesund Europaangelegenheiten am 29.04.1996, S. 7. Ebd. Ebd. Ebd., S. 13; Landtag Sachsen-Anhalt: Entschließung der Ausschüsse für Bundes- und Europaangelegenheiten der Landtage Niedersachsens und Sachsen-Anhalts vom 29.04.1996, ArMI LSA, 11332-4, Band 1; Schulz, Wolfgang: »Bonn und Brüssel sollen für alte ›Schreckensburg‹ zahlen«, in: Magdeburger Volksstimme vom 30.04.1996. Arbeitskreis »Aufarbeitung in Sachsen-Anhalt« (Hg.): Gedenken, Nach-Denken, Voraus-Denken. Gedenkstätten, Dokumentationszentren und andere Einrichtungen, Halle 1999, S. 67.
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4.6 GDT
UND GDH UND DIE ZWEITE E NQUETE -K OMMISSION
Im Hauruckverfahren und trotz starkem Gegenwind seitens einiger Vertreter der rot-grünen Regierungskoalition, trotz angespannter Landeshaushaltslage und trotz mangelnder Unterstützung seitens des Landes Niedersachsen, der Kommunen und Kirchen, strebte das MI LSA bis zum Herbst 1996 an, die GDT als work in progress zu eröffnen.227 Es sollte eine »Gedenkstätte im Entstehen gezeigt werden, die den Prozess des Wandels der Reste der ehemaligen Grenzübergangsstelle (GÜSt) zur Gedenkstätte Deutsche Teilung durchaus zum Thema macht«, lautete nun die Devise des MI LSA.228 Die erste Ausstellung und die Verwaltung bzw. das Personal sollte hierzu provisorisch im Sparkassengebäude untergebracht werden; Unterstützung zum Herrichten des Geländes erhielt das MI LSA durch die Bewilligung von 15 ABM Kräften.229 Die 100.000 DM, die Innenminister Püchel mühsam aus seinem Etat hierfür zusätzlich aufbrachte, sollten zumindest ein Anfang sein.230 Hintergrund dieser neuen Anstrengungen war – neben einer »good-will-Erklärung« des BMI am Rande einer Kanzleramtsrunde – vor allem die allmählich zurückkehrende Hoffnung des MI LSA, es könne durch die inzwischen sich mit der Gedenkstättenfrage befassende zweite Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der Deutschen Einheit« doch noch die Möglichkeit für die GDT bestehen, in die Gedenkstättenförderung des Bundes aufgenommen zu werden.231 Eine Aufnahme im Zuge der Empfehlungen der Enquete-Kommission setzte jedoch ein deutliches Signal des Landes voraus, es sei inzwischen tatsächlich gewillt, einen erheblichen Eigenanteil zur GDT zu leisten. Die Eröffnung der GDT am 13. August 1996 durch den Ministerpräsidenten Höppner sowie die ad hoc-Bereitstellung von einer Million DM Landesmittel für den Bauunterhalt sollte ein solches Signal sein.232 Daneben erklärte die Landesre-
227 Kreibich, Harald: »Marienborn bröckelt der Zukunft entgegen«, in: Mitteldeutsche Zeitung vom 17.01.1996; Pötzsch, Birgit: »Grenzdenkmal ohne gesicherte Zukunft«, in: Bremer Nachrichten/Weser Kurier vom 19.02.1996; Pötzsch, Birgit: »Am Nadelöhr des Kalten Krieges nagt längst der Zahn der Zeit«, in: Magdeburger Volksstimme vom 21.02.1996. 228 MI LSA: Vermerk vom 16.02.1996, ArMI LSA, 11331-9/2. 229 Ebd.; Schreiben des Ministeriums für Arbeit, Soziales und Gesundheit Sachsen-Anhalt an das MI LSA vom 26.03.1996, ArMI LSA, 11333-6/7, Band 1. 230 Dietrich, Stefan: »An der Grenzübergangsstelle Marienborn betrat man den Willkürstaat«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.08.1996. 231 MI LSA, Vermerk vom 09.04.1996, ArMI LSA, 11333-6/7, Band 1; Wermelskirchen, Axel: »›Die hätte nicht einmal ein Panzer geschafft‹. Wider das Vergessen: Warum die ›GÜSt‹ Marienborn Gedenkstätte werden muss«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 02.05.1996. 232 O.V.: »Erinnerung an die Schleusen der Angst«, in: Süddeutsche Zeitung vom 13.08.1996; Semler, Christina: »Marienborner Elegie«, in: Taz vom 13.08.1996; Diet-
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gierung gegenüber dem Bund: »Hinsichtlich einer Förderung der Gedenkstätten in Sachsen-Anhalt durch den Bund favorisiert das Land die Gedenkstätte ›Deutsche Teilung‹.«233 Hieraus ging zweifelsfrei hervor, dass das Land jetzt mehr als bereit war, alle anderen Gedenkorte zurückzustellen. Die Intention war fortan also nicht mehr die Konfrontation mit Forderungen, sondern mittels freundlicher Diplomatie das BMI zu bewegen, seine Mittel ausschließlich zugunsten Marienborns umzuschichten.234 Hierzu gehörte u.a.a. die Einladung des Bundesinnenministers Kanther zu einem Besuch der frisch eröffneten GDT.235 Diese wiederholte gedenkstättenpolitische Konzentration auf Marienborn, die von der Presse zynisch kommentiert wurde mit den Worten »was in diesem Marienborner Freilichtmuseum bedient wird, ist der schiere elegische Wessi-Blick«, hatte auf das GDH gravierende Folgen.236 Die Übernahme in eine Landesträgerschaft wurde weiterhin konsequent verweigert. Dies galt auch für eine vom Bund bereits im Laufe des Jahres 1995 angebotene Eigentumsübertragung auf das Land: »Da bereits Marienborn kaum zu finanzieren ist, weiteres Objekt ablehnen!«, lautete hier die übergeordnete Prämisse.237 Lediglich wurden für die Jahre 1996 und 1997 obligatorische 50.000 DM (wie in 1995) in den Landeshaushalt eingestellt.238 So wurde allein aufgrund haushaltspolitischer Erwägungen wiederholt die Chance verpasst, das GDH als Symbol der Undurchdringlich- und Unüberwindbarkeit der innerdeutschen Grenze sowie als Relikt der ostdeutschen Erfahrung der deutschen Teilung dem GDT als sinnvolle Ergänzung anzubinden. Und auch die ins Leben gerufene Kooperation »Grenzenlos« zwischen GDH, GDT und Grenzmuseum Helmstedt brachte für Hötensleben nicht die gewünschte institutionelle Anbindung ans GDT und schon gar nicht die erhoffte inhaltliche Ausgewogenheit der Perspektiven, aus denen heraus die Teilungsgeschichte nachzuvollziehen war, von der angestrebten überregionalen Anerkennung ganz zu schweigen. Schließlich versuchten die Förderer des GDH ab Frühjahr 1996, losgelöst von der GDT die landes- und bundespolitische Anerkennung und die daran gebundene Unterstützung zu erhalten,239 indem sie sowohl gegenüber dem Land als auch vor
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rich, Stefan: »An der Grenzübergangsstelle Marienborn betrat man den Willkürstaat«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.08.1996; Kilian, Gunnar: »Der Übergang Marienborn – ein Ort der Erinnerung«, in: Helmstedter Blitz vom 21.08.1996; Schreiben des Ministerium der Finanzen Sachsen-Anhalt an das MI LSA vom 11.12.1996, ArMI LSA, 11333-8/2, Band 1. Schreiben des MI LSA an die SPD-Fraktion Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur« vom 18.03.1996, ArMI LSA, 11331-9/2. MI LSA, Vermerk vom 09.04.1996, ArMI LSA, 11333-6/7, Band 1. Schreiben des MI LSA an die StkLSA vom 05.09.1996, ArMI LSA, 11333-6/3, Band 1. Semler, Christina: »Marienborner Elegie«, in: Taz vom 13.08.1996. MI LSA: Vermerk vom 16.08.1995, ArMI LSA, 11338-1/GDH. Schreiben des MdL E. an den GDH e.V. vom 15.12.1995, ArGDH, De2. Hierzu sind diverse Briefwechsel zwischen dem MdB Monika B., dem MdB Eberhard B. und dem Vorsitzenden des GDH e.V. Achim Walther überliefert, u.a. Schreiben des GDH e.V. an das MdB Monika B. vom 22.12.1995, ArGDH, De2; Schreiben des GDH
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allem gegenüber dem Bund beharrlich auf Anerkennung der überregionalen Bedeutung des GDH als Repräsentant der ostdeutschen Teilungsgeschichte (im Gegensatz zu Marienborn) bestanden und zudem beklagten, der Bund käme als Teileigentümer nicht seinen Erhaltungs-, Unterhalts- und Verkehrssicherungspflichten nach: »Ich [1. Vorsitzender des GDH e.V.] möchte Sie […] deshalb bitten, eine Klärung in dem Sinne herbeizuführen, dass sich der Bund zur Eigentümerschaft am GDH bekennt und es im Rahmen des Gedenkstättenkomplexes GÜSt-Marienborn/GDH als Gedenkstätte von gesamtstaatlicher Bedeutung anerkennt. [Herv. i.O.]«240
Zwar war die Gemeinde Hötensleben am 13. Mai 1993 eine Verwaltungsvereinbarung mit der zuständigen Bundeswehrverwaltung Stendal eingegangen, die den Verbleib der Grenzanlagen bzw. des Grenzdenkmals in Kommunalverwaltung regelte,241 eine sich daraus ableitende alleinige Verantwortung (inkl. Ausübung der Eigentümerpflichten) wurde allerdings mit Verweis auf den Bundesgrundbesitz und die gesamtstaatliche Bedeutung des Areals von der Gemeinde bestritten: »Auch wenn Sie und Ihr Haus […] möglicherweise die Bedeutung des Grenzdenkmals Hötensleben anders einschätzen, so bleibt dennoch als Tatsache, dass der Bund als (Teil)Eigentümer der Denkmalflächen nach dem Denkmalschutzgesetz von Sachsen-Anhalt verpflichtet ist, sich an der Unterhaltung des Denkmals zu beteiligen. Dazu fehlt aber offensichtlich nach wie vor die Einsicht und Bereitschaft.«242
e.V. an den MdB Eberhard B. vom 30.01.1996, ArGDH, De2; Schreiben des GDH e.V. an das MdB Monika B. vom 25.01.1996, ArGDH, De2. Zudem zeugen die zahlreichen Versuche des GDH e.V. über die Petitionsausschüsse des Deutschen Bundestages und des Landtages Sachsen-Anhalt die gesamtstaatliche Anerkennung des GDH zu erreichen vom langen Weg der erinnerungspolitischen Akzeptanz, vgl. u.a. Schreiben des GDH e.V. an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages vom 19.04.1996, ArGDH, De2; Schreiben des MdB Monika B. an den Petitionsausschuss des Landes Sachsen-Anhalt vom 23.04.1996, ArGDH, De2; MI LSA: Stellungnahme des Ministeriums des Innern des Landes Sachsen-Anhalt zur Petition Nr. 2-I/459 der Frau MdB Monika B. vom 23.04.1996, o.D., ArMI LSA, 11338-1/GDH; Schreiben des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages Vorsitzende Nickels an den Landtag SachsenAnhalt Vizepräsident vom 10.06.1996, ArGDH, De2; Schreiben des BMI an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages vom 18.06.1996, ArGDH, De1. 240 Schreiben des GDH e.V. an das MdB Monika B. vom 25.01.1996, S. 2, ArGDH, De2. 241 Verwaltungsvereinbarung über die Zuführung von ehemaligen Grenzsicherungsanlagen zwischen der Bundeswehrverwaltung und der Gemeinde Hötensleben vom 13.05.1993, ArGDH, De2. 242 Schreiben des GDH e.V. an das BMI Bundesminister des Innern Manfred Kanther vom 29.10.1996, ArGDH, De2. Später stellte das Bundesfinanzministerium klar, dass sich nur ein Sechstel des GDH-Grundstückes in Bundesbesitz befand, der übrige Teil Privateigentümern zugeordnet werden konnte, vgl. u.a. Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) an den Deutschen Bundestag Petitionsausschuss vom 24.07.1997,
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Bezüglich der Forderung der Anerkennung der ostdeutschen Perspektive auf die deutsche Teilung argumentierte der Vorsitzende des GDH e.V.: »Wenn die Bedeutung der Sperrlinie von der Landesregierung weiterhin zweitrangig eingestuft wird, komme ich mir als Ostdeutscher, der die SBZ/DDR von Anfang an mitgemacht hat und davon 16 Jahre lang im Sperrgebiet lebte, schroff brüskiert vor […]« und warf die durchaus geschichtspolitische Frage auf: »Was kann die Regierung eines ostdeutschen Bundeslandes bewegen, diese Opfer ihrer eigenen Bevölkerung als zweitrangig zu deklassieren?«.243 Zunehmend gewann daher auch für das GDH die zweite Enquete-Kommission an Relevanz, bot sich hier – vermittelt über Bundestagsabgeordnete sowohl der CDU- als auch der SPD-Fraktion – wie auch für die GDT die Möglichkeit, die gewünschte Bundesunterstützung doch noch zu erhalten.244 Zwar verwehrte das BMI noch im Februar 1996 dem GDH jegliche überregionale Bedeutung, mit dem Hinweis »im übrigen hat das Landesinnenministerium Sachsen-Anhalt das Grenzdenkmal Hötensleben nicht in das Gedenkstättenkonzept des Landes aufgenommen, da es nur von örtlicher Bedeutung sei«, so mussten sowohl das Land SachsenAnhalt als auch das BMI und die Mitglieder des Deutschen Bundestages im Laufe der Zeit akzeptieren, dass fachlich das Gegenteil der Fall war, und die örtliche Herabsetzung des GDH allein Ergebnis (vorübergehender) landespolitischer Interessenlage war.245 Die CDU-Bundestagsabgeordnete Monika B. brachte es schließlich auf den Punkt: »Das Argument des Landesinnenministeriums, dass das Grenzdenkmal nicht in das Gedenkstättenkonzept des Landes passe, da es nur regionale Bedeutung habe, und man andererseits dann vom Bund entsprechende Hilfen erwartet, widerspricht jeder Logik.«246
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ArGDH, De1. Zwar verringerte sich somit die Größe des Gebietes der Verantwortlichkeit, aus einer generellen Verantwortlichkeit war der Bund damit allerdings noch nicht entlassen. Schreiben des GDH e.V. an den MdL Sch. vom 12.05.1997, ArGDH, De1. Schreiben des MdB Monika B. an den GDH e.V. Vorsitzenden vom 02.02.1996, ArGDH, De2. Schreiben des BMI an den MdB Eberhard B. vom 22.02.1996, ArGDH, De2; Dt. BT, Drs. 13/3935 vom 01.03.1996. Der SPD-Abgeordnete Eberhard B. ließ nicht locker und appellierte daraufhin: »Ich fordere von der Bundesregierung, dass sie ihre Bekenntnisse zur Notwendigkeit des Aufklärens und Erinnerns an das Töten an der innerdeutschen Grenze in Übereinstimmung bringt mit ihrem praktisch-politischem Handeln«, vgl. Eberhard B.: Pressemitteilung vom 13.03.1996, ArGDH, De2. Schreiben des MdB Monika B. an den Petitionsausschuss des Landes Sachsen-Anhalt vom 23.04.1996, ArGDH, De2; o.V.: »Das Land Sachsen-Anhalt sprach von ›nur örtlicher Bedeutung‹!!!«, in: Bördespiegel vom 08.05.1996. Bezug nahm die Abgeordnete dabei auf ein Schreiben des Vizepräsidenten des Landtages Sachsen-Anhalt, in dem explizit auf die deutschlandweite Bedeutung des GDH abgehoben wurde; vgl. Schreiben des Vizepräsidenten des Landtages Sachsen-Anhalt an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages vom 29.04.1996.
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War noch im April 1996 das BMI der Auffassung: »Der Bund wird die ihm als Eigentümer obliegenden Verpflichtungen erfüllen. Dies beinhaltet aber nicht die Finanzierung einer auf Initiative der Gemeinde als Gedenkstätte wieder aufgebauten Grenzsicherungsanlage, für die grundsätzlich das Sitzland zuständig ist«, und verweigerte es noch am Ende des Jahres 1996 beharrlich die Unterstützung des GDH.247 Dies unter anderem mit dem Verweis, das Land sei nicht bestrebt, das GDH als Voraussetzung für jegliche Bundesförderung in die landeseigene Konzeption aufzunehmen und es sei kein denkmalpflegerisches Zeugnis von herausragender nationaler Bedeutung.248 Dennoch kam auf verschiedenen parlamentarischen Ebenen auf Landes- als auch auf Bundesebene Bewegung in die Angelegenheit und die Zahl der Befürworter wuchs in diesen politischen Reihen fortwährend. So räumte der Präsident des Landtages Sachsen-Anhalt nur wenige Monate später ein: »Ich verhehle nicht, dass ich den Einwänden des Grenzdenkmalvereins ein gewisses Verständnis entgegenbringen kann und bitte Sie [den Ministerpräsidenten Sachsen-Anhalt] um freundliche Prüfung des Anliegens.«249 Und SPD-Abgeordnete des Landtages brachten umgehend eine parlamentarische Initiative über die Aufnahme des GDH in die Gedenkstättenkonzeption des Landes auf den Weg.250 Ein SPD-Abgeordneter appellierte sogar an seinen Parteikollegen und Innenminister Püchel persönlich: »Die Argumentation, dass es sich bei dem Grenzdenkmal Hötensleben lediglich um eine Gedenkstätte von regionaler Bedeutung handelt, ist sowohl sachlich als auch politisch nicht nachvollziehbar und bedarf dringend einer Korrektur, vor allem auch vor dem Gesichtspunkt, dass wir den Bund hinsichtlich der finanziellen Mitverantwortung ansonsten schwer in die Pflicht nehmen können.«251
»Bei meinem Besuch der Gedenkstätte im August [1997] habe ich jedoch den Eindruck gewonnen, dass eine Zusammenarbeit zwischen Gedenkstätte deutsche Tei-
247 Schreiben des BMI an den MdB R. vom 18.04.1996, S. 2, ArGDH, De2. 248 Schreiben des BMF an das MdB R. vom 25.11.1996, ArGDH, De2; Schreiben des BMF an den Deutschen Bundestag Petitionsausschuss vom 17.12.1996, ArGDH, De2; Schreiben des BMI an den GDH e.V. vom 02.12.1996, ArGDH, De2. 249 Schreiben des Präsidenten des Landtages Sachsen-Anhalt Keitel an die StkLSA Ministerpräsident Höppner vom 30.07.1996, ArMI LSA, Bestand: 11338-1/GD Hötensleben, Band 2 [11338-1/GDH/2]. 250 Landtag Sachsen-Anhalt: Niederschrift über die 58. Sitzung des Ausschusses für Petitionen am 11.09.1996, S. 13; Schreiben des Landtages Sachsen-Anhalt Petitionsausschuss an das MdB Monika B. vom 09.10.1996, ArGDH, De2; Landtagsfraktion der SPD Sachsen-Anhalt: Gemeinsamer Antrag der Arbeitskreise Inneres und Kultur und Medien zur Einstufung des Grenzdenkmals Hötensleben als eine Gedenkstätte der deutschen Teilung von überregionaler Bedeutung vom 26.09.1997, ArGDH, De2 251 Schreiben der Landtagsfraktion der SPD MdL Sch. an das MI LSA Minister des Innern Püchel vom 23.05.1997, ArMI LSA, 11338-1/GDH/2.
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lung Marienborn und dem Grenzdenkmal Hötensleben sinnvoll wäre«, empfahl schließlich sogar der Parlamentarische Staatssekretär des BMI wenig später, zusammen mit einer grundsätzlich möglichen einmaligen Projektförderung in Höhe von bis zu 50.000 DM, und regte – gegen den Willen der Landesregierung – das Finden eines geeigneten Trägermodells hierfür an.252 Während das GDH e.V. bis auf die eigene Kommune weitgehend auf sich gestellt um überregionale Anerkennung rang, hatte es die GDT leichter.253 Da EUFördermittel für Marienborn ausgeschlossen waren, konzentrierte sich die Landesregierung Sachsen-Anhalt vor allem darauf, über die zweite Enquete-Kommission in den Katalog der durch Bundesmittel geförderten Gedenkstätten aufgenommen zu werden.254 Während der GDH e.V. dies auf eigene Faust über Lobbyarbeit bzw. durch direkten Kontakt zu einzelnen Abgeordneten versuchte, wurde die Landesregierung in Bezug auf die GDT vor allem symbolpolitisch aktiv.255 So initiierte die Landesregierung u.a. ein länderübergreifendes Treffen, an dem am 08. Januar 1997 die Ausschüsse für Bundes- und Europaangelegenheiten der Länder Berlin, Brandenburg, Hessen, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt SchleswigHolstein und Thüringen eine gemeinsame Erklärung abgaben, die die gesamtdeutsche sowie europäische Bedeutung der ehemaligen Grenzorte als Orte der Erinnerung hervorhob und sich für die Integration der GDT, des GDH und des Zonengrenzmuseum Helmstedt in ein gemeinsames Gedenkstättenkonzept sowie die Aufnahme der GDT in die Gedenkstättenförderung des Bundes aussprach.256 Eine ergänzende landesübergreifende Bestätigung dieses Vorhabens erhielt das Land Sach-
252 Schreiben des BMI Parlamentarischer Staatssekretär an das MI LSA StS Sch. vom 10.09.1997, ArMI LSA, 11338-1/GDH/2; Schreiben des BMI an das MdB Monika B. vom 19.09.1997, ArGDH, De2. 253 Der Bördekreis hatte zur Unterstützung der nationalen Anerkennung des GDH beispielsweise eine Erklärung beschlossen, in der die Landesregierung aufgefordert wurde, den landesweiten und nationalen Charakter der GDH anzuerkennen und es in diesem Sinne in das Gedenkstättenkonzept GDT zu integrieren, vgl. Landkreis Bördekreis: Appell des Kreistages des Bördekreises an den Petitionsausschuss des Landtages vom 26.02.1997, in: Schreiben des Landkreises Bördekreise an den Landtag von SachsenAnhalt Petitionsausschuss vom 11.03.1997, ArMI LSA, 11338-1/GDH/2. 254 MI LSA: Vermerk vom 08.07.1997, ArGDT, Bestand: 11333, 9. Finanzierungskonzepte 9.1 Haushalt 9.2 Drittmittel (9.2.1-9.2.5) [11333, 9.1/2]; Schreiben des Regierungspräsidiums Magdeburg an das MI LSA vom 28.07.1997, ArGDT, 11333, 9.1/2. 255 So schaffte es der GDH e.V. über den Kontakt zum MdL Sch. beispielsweise eine SPDLandtagsinitiative für das GDH im Sommer 1997 auf den Weg zu bringen, vgl. Schreiben des GDH e.V. an den MdL Sch. vom 12.05.1997, ArGDH, De1. Darin hieß es u.a.: »Die Gedenkstätte Deutsche Teilung ist erst komplett, wenn das GDH gleichrangiger Bestandteil davon ist.« Einige MdB wandten sich gleich direkt an den Bundesinnenminister, vgl. Schreiben der MdB Monika B. an das BMI Bundesinnenminister Manfred Kanther vom 24.06.1997, ArGDH, De2. 256 Gemeinsame Erklärung zur Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn vom 08.01.1997, StAufarb, Enquetekommission (13.WP), SED 65.
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sen-Anhalt vom Land Berlin, dessen Abgeordnetenhaus am 13. Februar 1997 auf Antrag aller Fraktionen diese Erklärung nochmals parlamentarisch per Beschluss (bei Enthaltung der PDS-Fraktion) absegnete.257 Auf diese Weise gelang es dem Land Sachsen-Anhalt symbolpolitisch, alle ehemaligen Grenzländer (bis auf den Freistaat Bayern) hinter sich zu vereinen und bekam es von diesen Fürsprache für das eigene Gedenkstättenprojekt GDT. Dem Bund wurde damit signalisiert, dass all diese das GDT-Vorhaben unterstützen und dafür sogar eigene Projekte zurückzustellen bereit waren. Das Land Berlin vermittelte durch seinen zusätzlichen Parlamentsbeschluss, dass es zwischen seinem Gedenkstättenvorhaben in der Bernauer Straße und dem in Marienborn keine Konkurrenz sehe. Ein weiterer Erfolg in diese Richtung gelang, als das Bundespräsidialamt einen Besuch des Bundespräsidenten sowohl in Marienborn als auch in Hötensleben für das Jahr 1998 in Aussicht stellte.258 Neben dieser Symbolpolitik waren aber auch realpolitisch die »Marienborner Erklärung« sowie der Berliner Landtagsbeschluss eine konkrete länderübergreifende Aufforderung an das Land SachsenAnhalt, eine projektübergreifende befriedigende Lösung für das GDH und Helmstedt zu finden, und eine Aufforderung an den Bund, sich dieser Lösung dauerhaft finanziell anzunehmen und die gesamtstaatliche Bedeutung anzuerkennen. Als die zweite Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages den Minister des Innern des Landes Sachsen-Anhalts aufforderte, im Sinne einer Neufassung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes Vorschläge für Sachsen-Anhalt zu unterbreiten,259 war es dem Innenminister LSA möglich, auf diese länderübergreifenden symbolpolitischen Stützen zurückzugreifen und sich so mit Nachdruck für die Förderung der Errichtung und des langfristigen Unterhaltes der GDT anteilig durch den Bund einzusetzen: »Es sei mir an dieser Stelle, sehr geehrter Herr Vergin, gestattet zu betonen, dass ich eine Förderung des Aufbaus und des Betriebes der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn durch den Bund für angemessen und geboten halte. […] Ich möchte Sie daher herzlich bitten, sich dafür einzusetzen, dass die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn in die Liste der vom Bund zu fördernden Einrichtungen aufnimmt.«260
257 Abgeordnetenhaus von Berlin: Drs. 13/1333 vom 01.02.1997; Abgeordnetenhaus von Berlin: Plenarprotokoll vom 13.02.1997, S. 1717/1741. 258 Schreiben des Bundespräsidialamtes an den Präsidenten des Niedersächsischen Landtag Horst Milde vom 29.01.1997, ArGDH, De2. 259 Schreiben des Deutschen Bundestages Vorsitzender der Enquete-Kommission »Überwindung und Folgen der SED Diktatur im Prozess der deutschen Einheit« Siegfried Vergin an das MI LSA Minister des Innern Manfred Püchel vom 10.03.1997, ArMI LSA, Bestand: 11331-9/2/Enquete-Kommission, Band 1 [11331-9/2]. 260 Schreiben des MI LSA Minister des Innern Sachsen-Anhalt Püchel an den Deutschen Bundestag Vorsitzender der Enquete-Kommission »Überwindung der folgend der SEDDiktatur im Prozess der deutschen Einheit« Siegfried Vergin, Az 44.2-11331/7.1, S. 2, StAufarb, Enquetekommission (13. WP), SED 65.
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Darauf spekulierend, dass der Bund – trotz Plafondierung des Bundeskulturhaushaltes bis 2000 – einen Großteil der großen Baumaßnahmen der GDT nach Aufnahme in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes schultern werde, wurden diese parallel zu den bundespolitischen Bemühungen des MI LSA und der Landesregierung bis auf weiteres erst einmal unterbrochen.261 Ein Ausbau des Stabsgebäudes zu Ausstellungs- und Verwaltungszwecken der Gedenkstätte wurde zurückgestellt, bis Bundesmittel hierfür fließen könnten. So lange sollte Vorlieb genommen werden mit dem 1995 angeordneten Provisorium.262 Aus den gleichen finanzpolitischen Erwägungen heraus wurde auch die Landesträgerschaft des GDH solange vom Innenministerium vehement abgelehnt und lediglich die obligatorischen 50.000 DM in den Landeshaushalt eingestellt, bis sich eine tatsächliche Bundesbeteiligung auch für das GDH abzeichnete.263 Bis dahin galt trotz aller politischen Flankierung innerhalb des MI LSA: »Die Anlage [das GDH] ist ein Denkmal, keine Gedenkstätte. Es ist auch nicht beabsichtigt, sie zu einer solchen – entweder isoliert oder etwa als Teil der Gedenkstätte Marienborn umzuwidmen.«264 An anderer Stelle heißt es hierzu: »Eine Trägerschaft für das Grenzdenkmal Hötensleben durch das Land steht zurzeit aus finanziellen Gründen nicht zur Diskussion und wurde vom Innenminister Püchel eindeutig verworfen.«265 Als schließlich am 17. Juni 1998, am 45. Jahrestag des Volksaufstandes von 1953, im Plenum des Deutschen Bundestages der Schlussbericht der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit« offiziell übergeben wurde, erfolgte erstmals auf bundespolitischer Ebene die Anerkennung der gesamtdeutschen Bedeutung der GDT und des GDH. Im Bericht der Enquete-Kommission hieß es hierzu unmissverständlich: »Von herausragender historischer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn einzustufen, die bislang allein vom Land Sachsen-Anhalt finanziert wird. In Marienborn wird neben der Gesamtdarstellung der größten innerdeutschen und alliierten Grenzübergangsstelle künftig auch die Bedeutung der Grenze im Transit nach West-Berlin sowie im deutsch-deutschen Reiseverkehr dokumentiert. Dazu gehört zudem die Darstellung der Grenzabsperrung im Umfeld von Marienborn und Helmstedt durch den Grenzdenkmalverein Hötensleben.«266
261 Schreiben des BMI an das MdB Monika B. vom 19.09.1997, ArGDH, De2. 262 MI LSA: Vermerk vom 12.03.1997, ArMI LSA, 11333-8/2, Band 1; Staatshochbauamt Halberstadt: Besprechungsprotokoll vom 16.05.1997, ArMI LSA, 11333-8/2, Band 1. 263 MI LSA: Vermerk vom 24.06.1997, ArMI LSA, 11338-1/GDH/2; Schreiben des MI LSA Minister des Innern Sachsen-Anhalt Püchel an den MdL Sch. vom 09.07.1997, ArGDH, De2; Schreiben des Landtages Sachsen-Anhalt Petitionsausschuss an den Landkreis Bördekreis vom 09.10.1997, ArGDH, De1. 264 Schreiben des Ministeriums des Innern Sachsen-Anhalt an den GDH e.V. vom 21.10.1997, ArMI LSA, 11338-1/GDH/2. 265 Regierungspräsidiums Magdeburg: Protokoll vom 20.05.1998, ArGDH, De1. 266 Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (Band 1, 1999), S. 613.
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Auf Basis dieser gesamtdeutschen Anerkennung sowohl der GDT als auch des GDH empfahl die Enquete-Kommission, beide sollten in Verbindung miteinander in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes aufgenommen und so dauerhaft institutionell gefördert werden. Damit wurde Marienborn als ehemaliges »Nadelöhr« der deutsch-deutschen Teilung und Hötensleben als bauliches Monument der Undurchdringlich- und Unüberwindbarkeit der DDR-Grenze als Kandidaten für die institutionelle und dauerhafte Bundesförderung erstmals uneingeschränkt befürwortet.267 Das seit 1992 lange verfolgte Ziel beider Einrichtungen und ihrer Förderer schien erreicht, nämlich beide Gedenkorte als überregional bedeutende Zeugnisse der jüngeren Zeitgeschichte in der Erinnerungslandschaft bestätigt und auf Bundesebene verankert zu wissen.
4.7 D AS »AUFBAUPROGRAMM «
UND DIE
GDT
Nachdem der Schlussbericht der zweiten Enquete-Kommission vorlag, und darin ohne Zweifel die gesamtstaatliche Bedeutung von GDT und GDH bestätigt wurde, bemühte sich das MI LSA und die Landesregierung in der Folgezeit nochmals gezielter um die Akquirierung von Bundesmitteln. So ergriff das MI LSA ab Frühjahr 1999, nachdem sich die neuen Regierungen in Bund und in Sachsen-Anhalt einigermaßen etabliert hatten, wieder verstärkt die Initiative in diese Richtung. Neue zusätzliche Förderprogramme des Bundes erhöhten die Aussicht, tatsächlich Unterstützung für die GDT zu erhalten. Im Wissen, dass der Kulturetat des Bundes und damit auch die Gedenkstättenkonzeption – trotz der Empfehlungen der EnqueteKommission – kaum Spielräume für zusätzliche dauerhafte institutionelle Gedenkstättenbeteiligungen zuließ, und die Chancen für eine Aufnahme der GDT gering blieben, schien nun das Aufbauprogramm des Bundes »Kultur in den neuen Ländern« eher geeignet, Gelder für Marienborn bereitzustellen.268 So wurde am 20. April 1999 der Kabinettsbeschluss gefasst, dass das Kulturministerium SachsenAnhalts die Bundesförderung über das Aufbauprogramm unterstützen solle269 und
267 Ebd., S. 638. 268 Die Laufzeit des Aufbauprogramms »Kultur in den neuen Ländern« wurde auf 19992003 festgelegt. In dieser Zeit stellte der Bundesbeauftragte für Kultur und Medien (BKM) einmalig Bundesfördermittel in einer Gesamthöhe von 240 Millionen DM für Kulturprojekte in den neuen Bundesländern zur Verfügung. 1999 wurden 90 Millionen ausgeschüttet, 2000 60 Millionen und in den Jahren 2001-2003 jeweils 30 Millionen DM; vgl. Schreiben des Beauftragten der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien (BKM) an das Kulturministerium des Landes Sachsen-Anhalt vom 05.08.1999, ArGDT, 11333, 9.1/2; Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: Pressemitteilung Minister unterzeichnet »Aufbauprogramm Kultur« in den neuen Ländern vom 10.09.1999, ArGDT, 11333, 9.1/2. Vgl. Schreiben des Regierungspräsidiums Magdeburg an das MI LSA vom 20.05.1999, ArGDT, 11333, 9.1/2. 269 StkLSA: Kabinettsbeschluss 11.6. Gedenkstätte Marienborn vom 20.04.1999, ArStkLSA.
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schon Anfang Juni wurde ein entsprechender Antrag über das Kulturministerium Sachsen-Anhalt an den Kulturbeauftragten der Bundesregierung gestellt.270 In der Prioritätenliste für das Aufbauprogramm rangierte die GDT gleich hinter der Stiftung Luthergedenkstätten an zweiter Stelle, sodass die beantragten Mittel gesichert schienen.271 Eine Bewilligung in voller Höhe erfolgte am 10. September 1999 zusammen mit der offiziellen Unterzeichnung des Aufbauprogramms durch die jeweiligen Landesminister und den Staatsminister für Kultur und Medien des Bundeskanzleramtes.272 Während einzelne Bundestagsabgeordnete und ehemalige Mitglieder der Enquete-Kommission sich weiterhin auf bundespolitischer Ebene für die Aufnahme der GDT in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes stark machten (u.a. die Abgeordnete Monika B.),273 setzte das MI LSA also inzwischen erfolgreich auf alternative Fördertöpfe.274 Damit war für die Gedenkstätte (die Errichtung und der Unterhalt) zumindest mittelfristig (bis 2003) gesorgt. In Bezug auf die inhaltliche Fortentwicklung der Gedenkstättenarbeit in der GDT, flossen die Empfehlungen der Enquete-Kommission direkt in die Neukonzeption der GDT ein. So legte der seit Oktober 1996 berufene Leiter der Gedenkstätte, Joachim Scherrieble, im Mai 1999 ein auf die Ergebnisse und Empfehlungen der Enquete-Kommission abgestimmtes neues Gedenkstättenkonzept vor.275 Dieses nahm die Ergebnisse der Sachkommission von 1993 auf und ergänzte die dort entwickelten Leitgedanken um die Empfehlungen der Enquete-Kommission. Beispielsweise sollte nun an einer prononcierten Stelle durch das Aufstellen eines Mahnmals zum Gedenken der Opfer des Grenzregimes ein Ort des Gedenkens geschaffen werden.276 Auch sollte dem Erhalt der historischen Bausubstanz nun mehr Gewicht verliehen werden, indem jeweils eine Funktionseinheit des ehemaligen
270 Schreiben des Kulturministeriums Sachsen-Anhalt an den BKM vom 03.06.1999, ArGDT, 11333, 9.1/2. 271 Ebd., Anlage S. 1. 272 Schreiben des BKM an das MI LSA vom 10.09.1999, ArGDT, 11333, 9.1/2; Presseund Informationsamt der Bundesregierung: Pressemitteilung Minister unterzeichnet »Aufbauprogramm Kultur« in den neuen Ländern vom 10.09.1999, ArGDT, 11333, 9.1/2; o.V.: »Bündnis für Geld«, in: Süddeutsche Zeitung vom 11.09.1999; o.V.: »Sachsen-Anhalt unterstützt die Bundesregierung«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.09.1999. 273 Landesverband Sachsen-Anhalt: Vermerk zum 26.02.1999, S. 3, ArMI LSA, 11331-10, Band 1; Dt. BT, Drs. 14/656 vom 16.03.1999; Schreiben des Beauftragte der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien Michael Naumann an den MdB R. vom 21.06.1999, ArGDH, De2. 274 Hierzu zählten u.a. Lotterie-Mittel. 275 Regierungspräsidium Magdeburg Joachim Scherrieble: Die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn. Konzeptionelle Eckpunkte vom 03.05.1999, StAufarb, Gedenkorte Sachsen-Anhalt, Marienborn – Q (Geschäftsablage, o. Signatur). 276 Ebd., S. 19; Schilder, Peter: »Erinnerung und gedenken, warum und wie? Nach 10 Jahren beleuchten die Scheinwerfer in Marienborn ein Holzkreuz«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.03.1999.
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Grenzübergangs so authentisch wie möglich denkmalgerecht wieder hergerichtet werden sollte.277 Dem Aspekt »Forschen und Lernen« sollte die GDT gerechter werden durch einen stärkeren bildungspolitischen Fokus auf Begegnung, Dialog, Perspektivwechsel und Überwindung der Teilung »in den Köpfen«.278 Nur die von der Enquete-Kommission empfohlene Verbundlösung zwischen GDT und GDH fand in dem neuen Gedenkstättenkonzept der GDT keine Unterstützung. Das Kriterium, dass die GDT nur zusammen mit dem GDH vom Bund gefördert werden solle, wurde stattdessen durch die gemeinsame Mitgliedschaft in der Arbeitsgemeinschaft Grenzenlos als bereits verwirklicht betrachtet. D.h., eine darüber hinaus gehende Einbindung des GDH in das GDT-Ensemble und eine damit einhergehende Übernahme des GDH in die Landesträgerschaft wurde – obwohl dies durch Nichtnennung des Zonengrenzmuseums in Helmstedt offenkundig die Intention der Enquete-Kommission war – zunächst noch ignoriert. Entsprechend lautete eine diesbezügliche Einschätzung: »Über […] ›Grenzenlos – Wege zum Nachbarn e.V.‹ ist die geforderte ›Verbindung‹ der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn mit dem Grenzdenkmal Hötensleben gegeben.«279 Für das GDH bedeutete die Fortführung der bisherigen Landespolitik, d.h. das Fortbestehen der Konzentration auf die GDT ohne das GDH: ob überregionale Anerkennung oder nicht, an eine Übernahme der Lasten durch das Land wurde vorerst weiterhin nicht gedacht. Während bei der GDT die auf Eis gelegten Maßnahmen im Sommer 1999 mit Blick auf die Expo2000 und durch die guten Chancen auf die beantragten Aufbauprogramm-Mittel nach Jahren des Stillstandes wieder aufgenommen wurden, musste das GDH weiterhin um Anerkennung kämpfen.280 An die Öffentlichkeit appellierten die Mitglieder des GDH e.V. daher beharrlich: »Hier bewegt man sich am Rande zur staatlich finanzierten Geschichtsklitterung. […] Die Landesregierung wäre in ihrem Einsatz für die Zeugnisse der deutschen Teilung glaubwürdiger, wenn sie ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf einen Übergang richten würde.«281
277 Regierungspräsidium Magdeburg Joachim Scherrieble: Die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn. Konzeptionelle Eckpunkte vom 03.05.1999, S. 7, 10, StAufarb, Gedenkorte Sachsen-Anhalt, Marienborn – Q (Geschäftsablage, o. Signatur). 278 Ebd., S. 6, 8. Siehe zur gedenkstättenspezifischen und konzeptionellen »Verwertung« der Ergebnisse der Enquete-Kommission u.a.a. Scherrieble, Joachim: Die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn im Spiegel des Berichtes der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der Deutschen Einheit« vom 19.06.1999, ArGDH, Dü; Mischke, Roland: »Die Kontrolleure hatten keinen Namen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.11.1999. 279 Schreiben des Regierungspräsidiums Magdeburg an das MI LSA vom 21.09.1998, ArMI LSA, 11331-9/2. 280 Gröne, Gerhard: »Nadelöhr zwischen den Welten«, in: Braunschweiger Zeitung vom 08.07.1999; Schreiben des Kulturministeriums Sachsen-Anhalt an das MI LSA vom 12.08.1999, ArGDT, 11333, 9.1/2; MI LSA: Vermerk vom 13.08.1999, ArGDT, 11333, 9.1/2. 281 Schreiben des GDH e.V. Joachim B. an die Braunschweiger Zeitung vom 09.07.1999, ArGDH, Dü.
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Da die Errichtung und der vorläufige Unterhalt der GDT lediglich mittelfristig gesichert waren, bemühte sich die Landesregierung weiterhin um die dauerhafte Gedenkstättenbeteiligung des Bundes. In Vorbereitung auf ein am 28. September 1999 angesetztes Treffen zwischen Bund und Ländern282 fassten die Landesregierungen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen am 21. September 1999 hierfür den gemeinsamen Kabinettsbeschluss: »Die Landesregierungen setzen sich für eine Aufnahme der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn in die Liste jener Einrichtungen ein, die im Rahmen des Gedenkstättenkonzeptes des Bundes dauerhaft gefördert werden. Für den Fall der Unterstützung durch den Bund sind die Landesregierungen prinzipiell bereit, das Projekt ebenfalls zu befördern.«283
Mit diesen Worten war der Beschluss de facto das Gegenteil des landesübergreifenden Beschlusses vom 13. Dezember 1994.284 Statt einer ausschließlichen Übernahme durch den Bund, erklärten sich nun sogar beide Länder grundsätzlich bereit, die Kofinanzierung der GDT anteilig zu übernehmen.285 Vor allem die Bereitschaft Niedersachsens, sich ebenfalls im Falle einer institutionellen Bundesförderung pekuniär einzubringen, glich einer späten Wiedergutmachung. Hatte der damalige niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder seinerzeit unterstützt, dass die fast erreichte 50%ige Bundesbeteiligung durch die überzogene Forderung nach 100%-Bundesübernahme komplett scheiterte, nutzte sein Parteikollege und Nachfolger Siegmar Gabriel nun die Gelegenheit – zumal Gerhard Schröder jetzt selbst Bundeskanzler war und das Ressort Kultur und Medien direkt dem Kanzleramt unterstellt war –, diesen politischen Fehler in gewisser Weise politisch zu berichtigen. Doch die Hoffnungen der beiden Landesregierungen wurden enttäuscht. Bis auf die Aufbauprogramm-Mittel gelang es nicht, die GDT in dauerhafte finanzielle Förderprogramme wie die Gedenkstättenkonzeption einzubringen. Anders als vermutet, setzte der amtierende Bundeskanzler Schröder sein höchstes politisches Amt nicht ein, um Entscheidungen aus seiner Landesregierungszeit zu korrigieren oder gar die damalige Gedenkstättenforderungen nun mittels Regierungsmacht durchzusetzen. Die Forderungen des MI LSA und der Landesregierungen verhallten.286 Mit der Bewilligung der Aufbauprogramm-Mittel zur Finanzierung der Bau- und Sanierungsmaßnahmen, der Dauerausstellung, des Besucherleitsystems, der auf Sammlungsbestände bezogenen Maßnahmen und der gesamten museologischen und bildungspolitischen Gedenkstättenarbeiten, konnten keine weiteren Bundesmittel akquiriert werden. Das MI LSA erklärte daher im Frühjahr 2000, »[…] dass das Land
282 MI LSA: Vermerk vom 27.08.1999, ArMI LSA, 11331-2, Band 2. 283 StkLSA: Kabinettsbeschluss vom 21.09.1999, ArStkLSA. 284 StkLSA: Ergebnisprotokoll der Gemeinsamen Kabinettssitzung der Länder SachsenAnhalt und Niedersachsen am 13.12.1994 in Magdeburg, ArMI LSA, 11333-6/3, Band 1. 285 StkLSA: Kabinettsbeschluss vom 21.09.1999, ArStkLSA. 286 Schreiben des MI LSA an das Ministerium der Finanzen Sachsen-Anhalt vom 07.04.2000, ArGDT, 11333, 9.1/2.
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Sachsen-Anhalt […] keinen erneuten Antrag auf Aufnahme der Einrichtung in das Gedenkstättenprogramm des Bundes zu stellen braucht«.287 Die Bilanz bezüglich der konkreten Auswirkungen der Empfehlungen der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages auf die GDT fiel somit negativ aus. Obwohl nichts mehr gegen eine Bundesbeteiligung sprach, gelang die Einbindung in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes nicht. Der GDT blieb lediglich die Aussicht auf Projektförderung mit ungewisser Zukunft. Aber auch für das GDH änderte sich nichts. Da die Landesregierung mit keinerlei institutioneller Förderung seitens des Bundes zu rechnen hatte und damit in Sachen GDT von Mehrausgaben ohne Entlastung ausgehen musste, zog es die Anbindung des GDH an die GDT bis ins Frühjahr 2000 weiterhin nicht in Betracht. »Das Land ist nicht bereit, die Trägerschaft über das Grenzdenkmal zu übernehmen. Das Land ist der Auffassung, dass die Trägerschaft vor Ort sein sollte«, erklärte ein Vertreter des Regierungspräsidiums Magdeburg noch im April des Jahres anlässlich eines Vor-Ort-Besuches des Grenzdenkmals.288 Ein Aufruf des GDH e.V. im August 1999 an die Landtagsabgeordneten, die lokale Einstufung des GDH rückgängig zumachen, um die empfohlenen Bundesmittel zumindest beantragen zu können, blieb dennoch nicht vollkommen ungehört.289 So unterstützten inzwischen immer mehr politische Vertreter im Landtag SachsenAnhalt die Belange des GDH bzw. wurde innerhalb der Parlamentsreihen der Ruf nach Anerkennung des GDH als überregional bedeutsame Einrichtung immer lauter. Anders als 1996, als sich nur vereinzelt Abgeordnete mit wenig Erfolgsaussicht für das GDH einsetzen, bemühten sich die Parlamentarier nun überfraktionell um eine Aufwertung des GDH und kritisierten, dass es bisher als kommunale Angelegenheit abgetan worden war. Diese parlamentarische Neubewertung der GDH bewirkte, dass auch die Regierungsebene sich mehr und mehr mit dem GDH als überregional bedeutsame Einrichtung befasste. Dem CDU-Antrag über einen Besuch des Grenzdenkmals und eine Selbstbefassung des Innenausschusses mit der Frage der Zukunft des GDH wurde stattgegeben.290 Bei einer Besichtigung des GDH am 12. April 2000 bewertete der Innenausschuss jetzt geschlossen das GDH als eine Einrichtung von überregionaler Bedeutung und räumte ein, dass die Gemeinde auf Dauer den Unterhalt nicht mehr alleine tragen könne, weshalb neue Voraussetzungen für eine bleibende Existenz des GDH geschaffen werden müssten.291 Alle anwesenden Landtagsabgeordneten sprachen
287 Regierungspräsidium Magdeburg: Vermerk vom 23.02.2000, ArGDT, 11333, 9.1/2. 288 Landtag Sachsen-Anhalt: Niederschrift über die 29. Sitzung des Ausschusses für Inneres am 12.04.2000, S. 8, Parlamentsarchiv Landtag Sachsen-Anhalt (PA LtLSA). 289 GDH e.V.: Aufruf an die Abgeordneten des Landtags von Sachsen-Anhalt vom 29.08.1999, ArGDH, De1. 290 Landtagsfraktion der CDU Sachsen-Anhalt: Antrag an den Ausschuss für Inneres im Rahmen des Selbstbefassungsrechts über Auswärtige Sitzung am Grenzdenkmal Hötensleben, o.D., PA LtLSA. 291 Landtag Sachsen-Anhalt: Niederschrift über die 29. Sitzung des Ausschusses für Inneres am 12.04.2000, S. 5, PA LtLSA.
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sich zudem nun für eine ausschließlich überkommunale Lösung aus. Die Abgeordnete der SPD plädierte für eine Einbindung des GDH in die Landesgedenkstättenkonzeption, der CDU-Abgeordnete regte darüber hinaus an: »Daher sei zu überlegen, das Grenzdenkmal der Gedenkstätte Marienborn als Außenstelle zuzuschlagen.«292 Der Abgeordnete der FDP schloss sich den Vertretern der großen Fraktionen ausnahmslos an. Und auch der Vertreter der PDS brachte im Rahmen des Außentermins keinen einzigen Grund gegen eine Anbindung des GDH an die GDT vor.293 Ein entsprechend ausgerichteter Antrag wurde nur wenige Tage nach dem Besuch des Innenausschusses in Hötensleben durch die CDU-Fraktion ins Parlament eingebracht. Die CDU-Fraktion forderte darin die Landesregierung auf, »[…] den Erhalt des Grenzdenkmals Hötensleben langfristig zu sichern. Das Land sollte dazu selbst ggf. in gemeinsamer Verantwortung mit dem Bund die Trägerschaft übernehmen oder andere für die Zukunft tragfähige Lösungen (z.B. Einrichtung einer Stiftung) anstreben«.294 Es wurde darüber hinaus empfohlen: »Wegen der räumlichen und inhaltlichen Nähe wäre es sinnvoll, das Grenzdenkmal Hötensleben in die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn zu integrieren.«295 Da die GDT sich auf Transitverkehr, Kontrolle und erschwerte Durchlässigkeit spezialisieren müsse, wurde das GDH als sinnvolle Ergänzung betrachtet, an deren Beispiel die Undurchlässigkeit, die Abschottung und das Abwehrsystem veranschaulicht werde.296 Unterzeichnet war der Antrag vom Fraktionsvorsitzenden Christoph Bergner, der sich bis 1994 in seiner Funktion als damaliger Ministerpräsident Sachsen-Anhalts noch für eine Konzentration auf die GDT ausgesprochen und großes Gewicht auf die damaligen dortigen Planungen zum Autobahnnebenbetrieb gelegt hatte. Es setzte sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass die GDT in ihrer Vermittlung des Grenzregimes nicht ausreiche und es auch einen Ort geben müsse, an dem die alltägliche »Grenzerfahrung« der Ostdeutschen sich wiederfindet. Verstärkt fanden so die jahrelang durch den GDH e.V. vorgebrachten Argumente, dass die GDT lediglich die Schikanen gegenüber den Westdeutschen und den eher untypischen »Austausch« repräsentierte und nur das GDH den repressiven Charakter gegen die eigene Bevölkerung zeige, plötzlich Fürsprecher. So betonte besonders die Vertreterin der CDU-Landtagsfraktion im Laufe der Parlamentsdebatte, dass die ehemalige GÜSt Marienborn nur eine kleine Öffnung gewesen sei, die die meisten DDR-Bewohner außerhalb des 5 km-Schutzgürtels nie zu Gesicht bekommen hätten. Im Gegensatz zu allen bisherigen politischen Einstellungen in dieser Frage hieß es nun: »Marienborn ist nicht das, was wir der Jugend vermitteln müssen, wozu Staaten bzw. Regierungen in der Lage gewesen sind.«297 Damit hatte sich das Blatt sowohl erinnerungs- als auch geschichtspolitisch um 180 Grad gewendet.
292 293 294 295 296 297
Ebd., S. 9. Ebd., S. 10. Landtag Sachsen-Anhalt, Drs. 3/3038 vom 26.04.2000, Antrag der Fraktion der CDU. Ebd., S. 2. Ebd. Landtag Sachsen-Anhalt: Plenarprotokoll 3/39 vom 04.05.2000, PA LtLSA.
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Unterstützung erhielt die CDU besonders durch den rechtkonservativen Flügel der Parlamentsbank, nämlich der DVU, die mit antikommunistischem Unterton vorbrachte, am GDH könne man besonders deutlich zeigen, »[…] zu welchen Untaten das kommunistische Herrschaftssystem in der ehemaligen DDR fähig war«.298 Aber auch bei den Liberalen fand der Antrag volle Zustimmung. Die FDP hob hervor, dass der langfristige Erhalt des GDH allein am Geld nicht scheitern dürfe: »Wir wollen auch nicht abwarten, bis in 100 oder mehr Jahren die Betonbrocken womöglich aus dem Boden geklaubt werden müssen, um dann ein neues Denkmal zu schaffen, weil Bund oder Land sich aus finanziellen Gründen – ideologische kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen – nicht über Trägerschaft […] einigen können.«299
Schließlich ließ auch die SPD die Ausführungen der Regierung (vorgebracht durch die Justizministerin), dass es zweckmäßiger sei, aus Gründen des Fortbestands des bürgerschaftlichen und gemeindlichen Engagements alles beim Alten zu belassen, nicht gelten und brachte den bereits durch die CDU am 12. April formulierten Vorschlag ein, Marienborn und Hötensleben institutionell zusammenzufassen.300 Lediglich die PDS distanzierte sich von ihrer vorherigen Unterstützung mit dem Argument, das Land könne sich schließlich nicht um alle in Nöte geratenen Vereine kümmern. Zudem beschwor der Sprecher der PDS nun: »Wenn wir aber an einer Stelle anfangen, weitere Trägerschaften des Landes anzunehmen, werden wir einen Stein ins Rollen bringen, der möglicherweise eine Lawine auslöst.«301 Diesen abwegigen Analogieschluss ließen die Abgeordneten der anderen Parteien natürlich nicht unkommentiert. Mit dem Hinweis, beim GDH e.V. handle es sich eben nicht um jeden x-beliebigen Taubenzüchterverein, wurde der Antrag der CDU auf Antrag von FDP und SPD daher zur weiteren Behandlung in den Innenausschuss überwiesen.302 Während also auf parlamentarischer Ebene die Bedeutung des GDH für die Teilungserinnerung und die Aufarbeitung der Teilungsgeschichte insgesamt stieg, und die GDT dort zunehmend als »unvollständig« und als zu stark auf die westliche Perspektive fixiert wahrgenommen wurde, liefen die Vorbereitungen zur Eröffnung einer Dauerausstellung in der GDT auf Hochtouren, die gerade diesen ausschließlichen Westblick nicht abbilden wollte. Bei der Eröffnung am 30. Juni 2000, dem 10. Jahrestag der Schließung der ehemaligen GÜSt, wurde durch den Innenminister Sachsen-Anhalts, Manfred Püchel, der Öffentlichkeit daher ein Dokumentationszentrum übergeben, das sich dem eigenen Anspruch nach gezielt mit den verschiedenen Perspektiven und Grenzregimeerfahrungen auseinandersetzte und sowohl die west- als auch die ostdeutsche Sicht auf die gemeinsame Geschichte bediente und
298 299 300 301 302
Ebd., S 2765. Ebd., S. 2766. Ebd., S. 2764-2766. Ebd., S. 2765. Ebd., S. 2767.
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kritisch hinterfragte.303 D.h., der Vorwurf bzw. Verdacht, die GDT würde die ostdeutsche Teilungserfahrung nicht thematisieren können und sie sei eine reine Westdeutsche bzw. Westberliner Gedenkstätte, lief plötzlich ins Leere.304 Zwar mangelte es der GDT gezwungenermaßen weiterhin an einem authentischen Stück Grenze in der Fläche, dennoch wurde die GDT dem gedenkstätten- und bildungspolitischen Anspruch gerecht, verschiedenste Ebenen und Blickwinkel auf die deutsche Teilung zu öffnen bzw. ermöglichen. Neben der öffentlichen landesparlamentarischen Kritik an der bisherigen Haltung der Landesregierung gegenüber dem GDH und der GDT äußerte sich im Laufe des Jahres 2000 nun auch zunehmend Kritik aus den Reihen der Bundestagsabgeordneten. Besonders diejenigen Bundestagsmitglieder, die sich im Zuge der Enquete-Kommission für eine gesamtstaatliche Anerkennung von GDT und GDH und ihre Aufnahme in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes eingesetzt hatten, äußerten offen ihren Unmut darüber, dass die Landesregierung seit dem Abschlussbericht der Enquete-Kommission in diese Richtung kaum aktiv geworden war. Der Vorwurf lautete zum einen, dass nicht ein einziger Antrag für die Gedenkstätten in Sachsen-Anhalt durch die Landesregierung gestellt wurde für Fördermittel aus dem Budget der Gedenkstättenkonzeption des Bundes (obwohl bis zum September 2000 noch etwa zwei Millionen DM nicht vergeben waren), zum anderen wurde beklagt, das Land habe sogar darauf verzichtet, das GDH ebenfalls für das »Aufbauprogramm Kultur in den neuen Ländern« vorzuschlagen.305 So beschwerte sich der Abgeordnete Hartmut B.: »[…] bei zwei Besuchen […] habe ich ein klares Fehlverhalten der Landesregierung feststellen können. Die gerade auch aufgrund meiner Initiative vorgenommene Einordnung der Gedenkstätte in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes blieb bisher vom Land Sachsen-Anhalt gänzlich ungenutzt. […] Auch die mögliche Einordnung des Grenzdenkmals Hötensleben in die Bundesförderung wurde bisher vom Land Sachsen-Anhalt nicht wahrgenommen.«306
Als daraufhin auch die CDU-Fraktion des Landtages die Regierung fragte, weshalb zwar für die GDT, nicht aber für das GDH Aufbaumittel beantragt und bewilligt wurden,307 argumentierte die Landesregierung: erstens, seit Sommer 2000 gäbe es Gewissheit darüber, dass der Bund definitiv die GDT weiterhin nicht institutionell
303 O.V.: »GÜSt Marienborn: Bollwerk, Nadelöhr, Seismograph«, in: Börde Volksstimme vom 29.06.2000; Schweingel, Rainer: »Für Ostdeutsche ein Bollwerk, für Westdeutsche ein Nadelöhr«, in: Börde Volksstimme vom 01.07.2000; Holz, Peter: »Gummistiefel und Rohkaffee im Glas«, in: Mitteldeutsche Zeitung vom 01.07.2000. 304 Vgl. Rolfs, Martina: »Sowohl Denkmal als auch Erinnerungsort«, in: Börde Volksstimme vom 01.07.2000. 305 Schreiben des MdB Hartmut B. an die StkLSA Ministerpräsident Reinhard Höppner vom 17.08.2000, ArGDH, De1. 306 Schreiben des MdB Hartmut B. an den Landtag Sachsen-Anhalt CDU Landtagsfraktion vom 21.09.2000, ArGDH, De1. 307 Landtag Sachsen-Anhalt, Drs. 3/3587 vom 06.09.2000, PA LtLSA.
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sondern lediglich projektbezogen fördern werde und zweitens, es habe keinerlei Antrag auf Aufbaumittel durch den GDH e.V. vorgelegen.308 Damit wälzte die Regierung die Verantwortung einfach auf den nahe liegenden Träger ab, obwohl normalerweise die Anträge über das Land zu gehen hatten. »Die fehlende Beantragung für eine Bundesbezuschussung auf den Träger des Grenzdenkmals zu schieben, ist zumindest sehr einfach«, brachte es der Bundestagsabgeordnete Hartmut B. auf den Punkt,309 und setzte in einem weiteren Brief an den Ministerpräsidenten nach: »Es ist mehr als frustrierend, wenn man die finanziellen Fördermöglichkeiten für das eigene Heimatland nachdrücklich zu verbessern hilft und das Land nimmt diese Chancen nicht wahr.«310 Hinzu kam, dass der GDH e.V. jegliche Trägerschaft über das Grenzdenkmal aus Kostengründen von jeher ablehnte und sich satzungsgemäß lediglich als Förderverein verstand, weshalb er sich ja überhaupt um eine dauerhafte Klärung der Trägerschaft durch den Innenausschuss des Landtages bemühte und auf eine schnelle politische Entscheidung drängte. Erst zum Jahresanfang 2001 setzte sich auch auf ministerialer Ebene die Erkenntnis durch, dass die einzige Möglichkeit zur langfristigen Rettung des GDH und für eine mittelfristige Bundesunterstützung nur in einer Übernahme der Einrichtung in die Landesträgerschaft bestand. So wurde die Auffassung: »Es wird geprüft inwieweit es zu einer stärkeren organisatorischen Zusammenarbeit zwischen der GDT Marienborn und den Verantwortlichen für das Grenzdenkmal Hötensleben kommen kann. […] Eine (totale) Fusion beider Einrichtungen, etwa in Landesträgerschaft, ist derzeit nicht beabsichtigt«,
korrigiert durch die handschriftliche Randnotiz, dass das Hötenslebener Grenzdenkmal ab 2003 in Landesbesitz überführt werden könne, die Auswirkungen auf den Haushalt sowie die Klärung des Grundstückeigentums hierfür zu ermitteln und entsprechende Vorbereitungen zu treffen seien.311 Die Auffassung, dass Hötensleben und Marienborn historisch eine Einheit bilden und deshalb auch in eine gemeinsame Trägerschaft gehören, fand also nun auch die volle Unterstützung der zuständigen Abteilung innerhalb des MI LSA.312 Entsprechend trug der Vertreter des Regierungspräsidiums Magdeburg bei der Sitzung des Innenausschusses des Landtages Sachsen-Anhalt zu diesem Tagesordnungspunkt vor, dass es
308 Landtag Sachsen-Anhalt: Plenarprotokoll 3/42 vom 14.09.2000, S. 3010, PA LtLSA; Schreiben der StkLSA Ministerpräsident Reinhard Höppner an den MdB Hartmut B. vom 29.09.2000, ArGDH, De1. 309 Schreiben des MdB Hartmut B. an den Bürgermeister von Hötensleben Dieter B. vom 21.09.2000, ArGDH, De1. 310 Schreiben des MdB Hartmut B. an die StkLSA Ministerpräsident Reinhard Höppner vom 04.10.2000, ArGDH, De1. 311 MI LSA: Vermerk vom 29.01.2001, ArMI LSA, 11338-1/1/GD Hötensleben, Band 1. 312 Siehe hierzu v.a.a. die handschriftliche Notiz auf dem Schreiben des Regierungspräsidiums Magdeburg an den Landtag Sachsen-Anhalt vom 21.08.2001, ArMI LSA, 113381/1/GD Hötensleben, Band 1.
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bezüglich der Trägerschaft nunmehr nur noch darum ginge, die Eigentumsverhältnisse an Grund und Boden zu klären.313 Zusätzlich wurden bereits für 2001 für Sanierung und Unterhalt des GDH insgesamt 100.000 DM in den Haushalt eingestellt.314 Noch offizieller wurde der politische Sinneswandel ein knappes halbes Jahr später, als das MI LSA bei einer Zuarbeit zur Klausurtagung des Arbeitskreises Inneres der SPD-Landtagsfraktion bzgl. einer möglichen Zusammenarbeit zwischen GDT und GDH einräumte: »Dabei wird auch über eine vollständige Einbeziehung des Grenzdenkmals Hötensleben in die Gedenkstätte Marienborn diskutiert.«315 Am 17. Oktober 2001 bei der Sitzung des Innenausschusses sprach sich schließlich sogar der Innenminister dafür aus, dass das Grenzdenkmal Außenstelle von Marienborn werden solle.316 In einem Vermerk hierzu hieß es: »Der Innenminister sei nicht gegen einen Anschluss des Grenzdenkmals an die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn. Er bot an, sich persönlich in die noch mit den Eigentümern wegen der Abtretung der Grundstücke notwendigen Gespräche einzuschalten.«317 Auf diese Weise war die Bresche zur Landesregierung endlich geschlagen. Die Anbindung des Grenzdenkmals stieß auf wachsende Sympathie. Bereits Ende Oktober 2001 wurde dem Minister ein entsprechender Vorschlag zur Zustimmung unterbreitet. Dabei wurde nun hervorgehoben, dass Hötensleben inhaltlich eine sinnvolle Ergänzung zum GDT sei, konkurrierende Veranstaltungen und die direkte Förderung des GDH e.V. dafür zukünftig entfielen.318 Am 21. November 2001 legte der Innenausschuss laut Ersetzungsantrag der SPD-Fraktion (über den Innenminister) einstimmig die Beschlussempfehlung vor: »Die Landesregierung wird aufgefordert, sich für die Klärung der Eigentumsverhältnisse des Grenzdenkmals Hötensleben einzusetzen, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, das Grenzdenkmal als Außenstelle der Gedenkstätte Marienborn in die Landesträgerschaft zu übernehmen.«319 Dieser wurde schließlich am 13. Dezember 2001 im Parlament zur Debatte gestellt. Die SPD, auf die der neue
313 Landtag Sachsen-Anhalt: Niederschrift über die 39. Sitzung des Ausschusses für Inneres am 31.01.2001, S. 49, PA LtLSA. 314 Ebd., S. 50. Die Mittel stammten vorwiegend aus dem Mauergrundstücksfonds, vgl. Schreiben des Regierungspräsidiums Magdeburg an den Landtag Sachsen-Anhalt vom 21.08.2001, ArMI LSA, 11338-1/1/GD Hötensleben, Band 1. 315 MI LSA: Zuarbeit für die Klausurtagung des AK Inneres der SPD-Landtagsfraktion vom 01.06.2001, S. 5, ArMI LSA, 11331-2, Band 3. 316 MI LSA: Vermerk vom 18.10.2001, ArMI LSA, 11338-1/1/GD Hötensleben, Band 1. 317 Regierungspräsidium Magdeburg: Vermerk vom 17.10.2001, ArMI LSA, 113381/1/GD Hötensleben. 318 MI LSA: Vermerk vom 30.10.2001, S. 3, ArMI LSA, 11338-1/1/GD Hötensleben, Band 1. 319 Landtag Sachsen-Anhalt: Niederschrift über die 49. Sitzung des Ausschusses für Inneres am 21.11.2001, S. 48, PA LtLSA; Landtag Sachsen-Anhalt: Drs. 3/5154 vom 28.11.2001, PA LtLSA; Schweingel, Rainer: »Innenausschuss: Denkmal soll in Landesträgerschaft«, in: Börde Volksstimme vom 26.11.2001.
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Beschlussentwurf zurückging, brachte den erstmals konsensfähigen politischen Sinneswandel dabei mit den unmissverständlichen Worten zum Ausdruck: »Das Land verpflichtet sich, zügig an der Klärung der Eigentumsverhältnisse mitzuwirken, um dann die Trägerschaft des Grenzdenkmals Hötensleben als Außenstelle von Marienborn zu übernehmen. Das ist schließlich sinnvoll; denn so wichtig Marienborn als Gedenkstätte auch ist, so war Marienborn doch eher die Stätte, mit der die westdeutschen Ein- und Ausreisenden konfrontiert wurden. Für die Ostdeutschen war die Grenze hingegen höher und unüberwindbarer als die chinesische Mauer. Dafür steht heute symbolisch das Grenzdenkmal Hötensleben. […] Hötensleben steht als ein Mahnmal für Freiheitsberaubung, für politischen Mord, für familiäre Tragödien und für die Entmündigung eines ganzen Volkes.«320
Ein Vollzug der Übernahme des GDH durch die GDT wurde für den 01. Januar 2003 angekündigt, damit »[…] eine noch bessere und vor allem kontinuierliche Präsentation des Denkmals erreicht« werde, so der Innenminister in seinem Plädoyer.321 Der Empfehlung des Innenausschusses folgte der Landtag daraufhin über die Fraktionsgrenzen hinaus einstimmig.322 Auf diese Weise war die Eingliederung des Grenzdenkmals in die GDT, seine Übernahme in die Landesträgerschaft und seine damit verbundene überregionale Anerkennung endlich Wirklichkeit geworden. Voraussetzung für die Aufwertung des GDH und seine Anbindung an die GDT war vor allem der veränderte Blickwinkel, mit dem die Teilungsgeschichte betrachtet wurde. Die rein westdeutsche Wahrnehmung der ehemaligen DDR-Grenze trat in den Hintergrund, die ostdeutsche Erfahrung der deutsch-deutschen Teilung und des Grenzregimes hingegen gewann zunehmend an Bedeutung. Das Bewusstsein, dass die GDT nur bedingt das gesamte Grenzregime in der Fläche abbilden könne, wuchs mit der Bereitschaft, vor allem die Orte anschaulich hinzuzuziehen und hierfür politische Verantwortung zu übernehmen, die besonders den DDR-Alltag im Grenzgebiet ausmachten. Die Politik bekannte sich durch die Übernahme des Grenzdenkmals in die Landesträgerschaft daher nun geschichtspolitisch zu einer historischen Aufarbeitung, die die ostdeutsche Repressionserfahrung an den Orten des Geschehens stärker berücksichtigte und sich offensiv gegen das Schleifen bzw. Nivellieren dieses Aspekts der deutsch-deutschen Geschichte richtete. Teilweise wurde dem Grenzdenkmal gerade deshalb sogar mehr Bedeutung für die Aufarbeitung der deutsch-deutschen Teilungserfahrungen zugeschrieben als der lange Jahre zunächst politisch bevorzugten GDT. Erinnerungspolitisch begünstigte die Übernahme des GDH die Aufnahme des Ensembles in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes bzw. die Möglichkeit von Bundeszuschüssen für Instandsetzung und Unterhaltung. Gleichwohl gewann das
320 Landtag Sachsen-Anhalt: Plenarprotokoll 3/66 vom 13.12.2001, S. 4751, PA LtLSA. 321 Ebd., S. 4750. 322 Landtag Sachsen-Anhalt, Drs. 3/66/5154 B vom 13.12.2001, PA LtLSA; Döring, René: »12 Jahre nach dem Mauerfall sagt das Land ›ja‹ zum Grenzdenkmal«, in: Magdeburger Volksstimme vom 15.12.2001.
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Land Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung des GDH, bei fortlaufender ideeller Förderung des GDH durch den Grenzdenkmalverein. Die Anbindung des GDH erzielte somit fast schon erinnerungs- bzw. gedenkstättenpolitische Synergieeffekte.323 Die Projektförderung wurde kostenneutral in eine institutionelle Förderung umgewandelt, der GDH e.V. führte seine Arbeiten fort, bei gleichzeitiger Erhöhung der Chancen auf zusätzliche Bundesförderung. Am 01. Januar 2004 waren die Übernahme des GDH in die Landesträgerschaft und ihr Betrieb als Außenstelle der GDT abgeschlossen.324 Anders als vom GDH e.V. erwartet, wurde das GDH aber nicht mit dem GDT auf gleicher Stufe bzw. ebenbürtig behandelt, sondern eben nur als Appendix. Die Wünsche des Vereins, man möge Hötensleben beim Namen der Gedenkstätte berücksichtigen bzw. die GDT umbenennen in »Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn/Hötensleben«, und die Forderung, nicht nur der nördliche Grenzdenkmalbereich sondern auch der südliche Bereich (ehemaliger Schützenplatz) möge in die Trägerschaft aufgenommen werden, wurden nicht erfüllt.325 Die Aufspaltung des Denkmals und das damit verbundene Risiko, nicht mehr als denkmalpflegerisch umfassend erhaltenes Zeugnis von gesamtstaatlicher Besonderheit anerkannt werden zu können, ging die Landesregierung ein.326 Die Befürchtung des GDH e.V., »[…] der Bereich Hötensleben darf eben nicht als Anhängsel von Marienborn behandelt werden, wie ja auch die Sperrlinie nicht etwa nur ein Anhängsel der Grenzübergänge war […]«, trat ein.327
323 Regierungspräsidium Magdeburg: Materielle und personelle Voraussetzungen für die Eingliederung des Grenzdenkmals Hötensleben vom 17.12.2001, ArMI LSA, 113381/1/GD Hötensleben, Band 1. 324 Die Verzögerung um ein Jahr resultierte vornehmlich aus Schwierigkeiten der Grundstückszuordnungen. Erst nachdem die Grundbücher von Helmstedt und Hötensleben bereinigt waren, konnte eine offizielle Übernahme ins Landeseigentum erfolgen, vgl. Landtag Sachsen-Anhalt: Drs. 3/5337 vom 28.02.2002, S. 23, PA LtLSA; Schreiben des Regierungspräsidiums Magdeburg an das MI LSA vom 24.10.2002, ArMI LSA, 113381/1/GD Hötensleben, Band 1; MI LSA: Vermerk vom 18.11.2002, ArMI LSA, 113381/1/GD Hötensleben, Band 1; Landtag Sachsen-Anhalt: Niederschrift über die 16. Sitzung des Ausschusses für Inneres am 05.09.2003, S. 23, PA LtLSA. 325 Schreiben des GDH e.V. an den Landtag Sachsen-Anhalt vom 16.07.2003, ArGDH, De1; Schreiben des Regierungspräsidiums Magdeburg an das MI LSA vom 23.07.2003, ArMI LSA, 11338-1/1/GD Hötensleben, Band 1; Schreiben des Regierungspräsidiums Magdeburg an das MI LSA vom 23.07.2003, ArMI LSA, 11338-1/1/GD Hötensleben, Band 1; GDH e.V.: Vermerk vom 17.03.2004, ArGDH, Dü; Landesverwaltungsamt Magdeburg: Protokoll über Gespräch am 16.03.2004 vom 26.03.2004, ArGDH, De1; Landtag Sachsen-Anhalt: Niederschrift über die 61. Sitzung des Ausschusses für Inneres am 09.11.2005, S. 6ff, PA LtLSA. 326 Schreiben des GDH e.V. an den Landtag Sachsen-Anhalt vom 09.05.2004, ArGDH, De1. 327 Schreiben des GDH e.V. an den Landtag Sachsen-Anhalt vom 16.07.2003, S. 2, ArGDH, De1.
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Trotz dieser Abstriche hatte der GDH e.V. insgesamt sein Ziel erreicht, nämlich eine langfristige Lösung für das Grenzdenkmal zu finden. Als zum 09. November 2004 auch die Sanierungs- und Umbauarbeiten aus Mitteln des Aufbauprogramms und des Mauergrundstücksfonds auf dem Gelände der ehemaligen GÜSt und in Hötensleben vorübergehend abgeschlossen werden konnten und zum 15. Jahrestag des Mauerfalls weitgehend alle Ausstellungseinheiten fertig gestellt und das Besucherleitsystem vervollständigt waren, war das Gedenkstättenvorhaben Deutsche Teilung als Gesamtensemble schließlich vollzogen.328
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UND DIE NEUE
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Nach der »Fusion« von GDT und GDH in 2004, standen beiden vormals getrennten Einrichtungen in den Folgejahren nur noch zwei wichtige Schritte bevor, nämlich ihre Eingliederung in eine noch zu gründende Stiftung Gedenkstätten-SachsenAnhalt (StGLSA) und die dauerhafte institutionelle Beteiligung des Bundes im Zuge einer neuen Gedenkstättenkonzeption des BKM. Ideengeber und Förderer einer Landesstiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt war der Sohn des ehemaligen KZ-Häftlings und Politikers Ernst Reuter, Ezard Reuter, der im Januar 2004 bei einer Ansprache im Rahmen eines Besuches der KZGedenkstätte Schloss Lichtenburg in Prettin (Landkreis Wittenberg) eine solche Dachorganisation für die Gedenkstätten in Sachsen-Anhalt forderte.329 Auslöser war der desolate Zustand, in dem sich die KZ-Gedenkstätte Schloss Lichtenburg befand, in dessen Lager sein Vater während der NS-Zeit inhaftiert gewesen war.330 Mit diesem Appell an die Regierung von Sachsen-Anhalt verband Reuter die Hoffnung, das Land würde mit einer Stiftungsgründung die Situation der einzelnen Gedenkstätten – so auch die Lichtenburg – erheblich verbessern. Während 2004 erhielt das MI LSA unterdessen die Gewissheit, dass die Projektförderung von Gedenkstätten des Bundes reduziert werden sollte zugunsten einer Ausweitung der institutionellen Förderung (als Folge des Antrages der CDUBundestagsfraktion im Frühjahr 2004 und einer Expertenanhörung am 16. Februar 2005), und dass diese Ausweitung der institutionellen Förderung in Sachsen-Anhalt nicht den Gedenkstätten der Zeit nach 1945 zugute kommen würde, wurden diese doch dort größtenteils ausschließlich projektbezogen unterstützt. Das MI LSA befürchtete eine absehbare Verschlechterung der Situation für die landeseigenen Ge-
328 Schreiben des Regierungspräsidiums Magdeburg an das MI LSA vom 29.09.2003, Anlagen, ArGDT, 11333, 9.1/2; Schoof, Rony: »Gedenkstätte erinnert an Fluchtschicksale«, in: Braunschweiger Zeitung vom 11.11.2003; StkLSA: Kabinettsbeschluss 7. Fonds zur Förderung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Projekte in den neuen Ländern vom 31.08.2004, ArGDT, 11333, 9.1/2; Engels, Alexander: »Vergessene Grenze. Wie Marienborn und Hötensleben an jenen Todesstreifen erinnern, der das Land in Ost und West zerschnitt«, in: Märkische Allgemeine vom 30.10.2004. 329 Landtag Sachsen-Anhalt: Plenarprotokoll 4/50 vom 12.11.2004, PA LtLSA. 330 Ebd.; Landtag Sachsen-Anhalt: Plenarprotokoll 4/60 vom 27.05.2005, PA LtLSA.
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denkstätten. Die Verwaltung erkannte, dass die Gründung einer öffentlichrechtlichen Stiftung dem entgegenwirken und zugleich eine neue institutionelle Voraussetzung schaffen würde für eine langfristige institutionelle Förderung durch den Bund. »Überdies besteht auf Grund der Überlegungen des Bundes, seine Gedenkstättenförderung neu auszurichten, die Möglichkeit, dass sich der Bund an der Stiftung finanziell beteiligt«, verkündete das MI LSA in seiner Kabinettsvorlage an den Ministerpräsidenten zuversichtlich.331 Die Fürsprache eines Prominenten bzw. Reuters Vorstoß kam dem MI LSA also durchaus entgegen und erleichterte das Einfädeln eines diesbezüglichen positiven Regierungsbeschlusses. Bereits am 12. November 2004 nahm der Landtag die Absicht der Landesregierung, eine Gedenkstättenstiftung zu errichten, zustimmend zur Kenntnis.332 Schon ein halbes Jahr später, am 26. April 2005 beschloss die Landesregierung die prinzipielle Gründung einer Gedenkstättenstiftung, in die Gedenkstätten in Landesträgerschaft zu überführen seien.333 Wenige Monate später legte das MI LSA den ersten Entwurf eines Errichtungsgesetzes zur Landesgedenkstättenstiftung (Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt, StGLSA) vor, der am 13. Dezember 2005 – nach heftigen geschichtspolitischen Debatten – schließlich vom Kabinett abgesegnet wurde.334 Die geschichtspolitischen Auseinandersetzungen kreisten dabei – dem Streit über das Stiftungsgesetz in Sachsen ähnlich – vor allem um die Gewichtung der unterschiedlichen Verfolgungsperioden bzw. Unrechtssysteme (jene vor und nach 1945) und die jeweilige Berücksichtigung der verschiedenen Opfergruppen in den dafür vorgesehenen Stiftungsgremien. Bei der Nachgründung der seit 1994 arbeitenden sächsischen Gedenkstättenstiftung (StSG) waren die verschiedenen Opfergruppen (per Errichtungsgesetz vom Februar 2003) in einen gemeinsamen Opferbeirat zusammengeführt worden.335 Dies führte rechnerisch dazu, dass die Verbände
331 MI LSA: Kabinettsvorlage vom 26.04.2005, S. 3, ArGDT, Geschäftsablage o. Sign. Zu den Folgen der bundespolitischen Stoßrichtung für die Gedenkstättenpolitik des LSA, s.a. Landesverwaltungsamt Magdeburg: Aktuelle Entwicklung der bundesdeutschen Gedenkstättenlandschaft und Vorschläge für die weitere Strategie des Landes SachsenAnhalt, März 2005, ArGDT, Geschäftsablage o. Sign. 332 MI LSA: Kabinettsvorlage vom 26.04.2005, ArGDT, Geschäftsablage o. Sign. 333 StkLSA: Kabinettsbeschluss vom 26.04.2005, ArStkLSA. Zur anschließenden Plenardebatte und Weiterbehandlung, siehe Landtag Sachsen-Anhalt: Plenarprotokoll 4/60 vom 27.05.2005, S. 4366, PA LtLSA. 334 StkLSA: Kabinettsbeschluss vom 13.12.2005, ArStkLSA; Landtag Sachsen-Anhalt: Drs. 4/2552 vom 22.12.2005. 335 Gesetz zur Errichtung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft (Sächsisches Gedenkstättenstiftungsgesetz – SächsGedenkStG) vom 28.02.2003, ArStSG, Bestand: Landtagsdrucksachen 1991-2004 [LtDrs.]; Sächsische Staatskanzlei (Hg.): Sächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt vom 14.05.2003, S. 107.
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der NS-Opfer ein Gremienmitglied einbüßten.336 Insbesondere seitens der NSOpfervertreter löste diese neue Konstellation öffentlich herbe Kritik am Gesetzeswerk aus. Sie hegten den Verdacht, ein derart verfasstes Stiftungsgesetz stärke bewusst ausschließlich die SBZ/DDR-Aufarbeitung und intendiere eine Gleichmacherei bzw. Analogisierung von NS und SBZ/DDR. Das käme einer Relativierung der NS-Verbrechen gleich.337 Eine solche Entwicklung lehnten sie kategorisch ab, mit der Konsequenz, dass der damalige Vizepräsident des Zentralrates der Juden, Salomon Korn, ein Dreivierteljahr nach Inkrafttreten des Stiftungsgesetzes338 sein Amt innerhalb der StSG niederlegte.339 Ihm folgte der Bundesvorsitzende der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz, Ludwig Baumann, nur einen Tag später.340 Innerhalb der politischen Reihen reagierte vor allem die PDS. Sie brachte sofort einen Antrag ins Parlament ein, der eine sofortige Überarbeitung des Stiftungsgesetzes verlangte, u.a. mit dem Ziel einer strikten Trennung der Opfergruppen und einer Stärkung der NS-Aufarbeitung innerhalb der StSG.341 Zu einer solchen Gesetzesnovellierung kam es vorerst nicht. Diesen Eklat um die StSG wollte das LSA von vornherein durch Teilung der Opfergruppen nicht wiederholen. Allerdings wurde auch die Alternative, nämlich das Einführen zweier Opferbeiräte, im Fall der Gründung der StGLSA wiederum von einem Teil der Opfervertreter nicht als adäquat eingeschätzt. Die Vertreter der VOS, des Vereins Zeitgeschichte in Halle und der Vorsitzende des Stiftungsbeirates
336 Zekri, Sonja: »Bis hierhin und nicht weiter. Salomon Korn, Zentralrats-Vizepräsident, über das sächsische Gedenkstätten-Desaster«, in: Süddeutsche Zeitung vom 23.01.2004, S. 12. 337 Sächsischer Landtag: Stenographisches Protokoll zur Anhörung »Gesetz zur Errichtung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft (Sächsisches Gedenkstättenstiftungsgesetz – SächsGedenkStG)« vom 16.01.2003, darin u.a. die Stellungnahmen der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz, des Verbandes der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten e.V. im Freistaat Sachsen. Aber auch unabhängige Sachverständige, so der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Peter Steinbach, lehnte die »potenzielle Dominanz« von Verbänden der Opfer des SED-Staates ab, vgl. ebd. 338 Sächsische Staatskanzlei (Hg.): Sächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt vom 14.05.2003, S. 107. 339 Zekri, Sonja: »Geteiltes Leid«, in: Süddeutsche Zeitung vom 22.01.2004, S. 13; o.V.: »Zentralrat verlässt Sachsen-Stiftung«, in: Taz vom 22.01.2004; Zekri, Sonja: »Bis hierhin und nicht weiter«, in: Süddeutsche Zeitung vom 23.01.2004. 340 O.V.: »Sächsische Stiftung leert sich«, in: Taz vom 23.01.2004; Burger, Reiner: »Opferkonkurrenz«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.01.2004. 341 Sächsischer Landtag: Drs. 3/10185 vom 29.01.2004, ArStSG, LtDrs.; Sächsischer Landtag: Drs. 4/0073 vom 20.10.2004; o.V. : »Schwarze Löcher in der Seele«, in: Der Spiegel 12 (2004), S. 44; Schreiben der StSG an das SMWK vom 12.05.2004, ArStSG, LtDrs.; Sächsischer Landtag: Stenographisches Protokoll zur Anhörung »Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft« vom 28.05.2004, ArStSG, LtDrs.
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der StSG (der bereits als Vorstandsmitglied des Leipziger Bürgerkomitees im Zuge des StSG-Streites öffentlich für eine konsequente Anwendung und Stärkung des totalitären Konsenses in Form eines gemeinsamen Beirates eingetreten war), sprachen sich im Fall der Errichtung der StGLSA beharrlich gegen eine künstliche Opferkonkurrenz durch getrennte Beiräte aus.342 Und auch einzelne Vertreter des MI LSA hatte hinsichtlich eines gemeinsamen Beirates zunächst wenig Bedenken, fand eine diktaturübergreifende Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Opfergruppen in Sachsen-Anhalt ja bereits seit Juni 1995 in Form des Gedenkstättenbeirat des Landes Sachsen-Anhalt in der Praxis längst statt.343 Nur der Zentralrat der Juden, der Bund der Antifaschisten und die PDS hielten erwartungsgemäß weiterhin an getrennten Opferbeiräten auch in der StGLSA als Ausdruck einer unterschiedlichen Beurteilung von NS- und SBZ/DDR-Regime fest: »Ein Zeitbogen von 1933 bis 1989, die Herstellung eines solchen Kontinuums, verbietet sich aus der Sicht des Zentralrates. […] Eine Identität von Diktaturen festzustellen und unter diesem Dach Weltkrieg und Völkermord zu ignorieren, sie mit stalinistischen Gesellschaftsverbrechen austauschbar zu deklarieren […] stellen deshalb ›abstruse Verharmlosungen‹ dar und offenbaren eine Tendenz zu einem revisionistischen Geschichtsverständnis«,
warnte der Vertreter des Zentralrates der Juden anlässlich der öffentlichen Anhörung zum Gesetzesentwurf der StGLSA am 01. Februar 2006.344 Die NS-Opfervertreter und NS-Verfolgtenverbände setzten sich angesichts des sächsischen Skandals wohl auch mit Blick auf die begehrte Bundesförderung innerhalb der Landesregierung durch. Die offizielle Begründung lautete, dass eine Anerkennung der Singularität der NS-Verbrechen für die Regierungsbank einen gemeinsamen Beirat mit den Opfern der Zeit nach 1945 ausschloss.345 Im Frühjahr 2006 wurde die Schlussfassung des Errichtungsgesetzes zur StGLSA angenom-
342 Schreiben (Offener Brief) des Archivs Bürgerbewegung Leipzig e.V., des Bürgerkomitees Leipzig e.V. und der Umweltbibliothek Großhennersdorf e.V. an den Zentralrat der Juden in Deutschland Salomon Korn vom 30.01.2004, PrEM; Landtag Sachsen-Anhalt: Niederschrift über die 67. öffentliche Sitzung des Ausschusses für Inneres am 01.02.2006, PA LtLSA, S. 16ff. 343 Der allen Opfervertretern besetzte Gedenkstättenbeirat wurde per Regierungsrunderlass vom 27.05.1994 und 25.01.1995 eingerichtet und tagte ab Juni 1995 regelmäßig als beratendes Organ zu Fragen der Gedenkstättenarbeit in Sachsen-Anhalt; vgl. Schreiben der StkLSA an das MI LSA vom 13.01.1995, ArMI LSA, 11332-3, Band 1; MI LSA: Vermerk vom 19.06.1995, ArMI LSA, 11330-2, Band 1; MI LSA: Vermerk vom 27.08.1999, ArMI LSA, 11331-2, Band 2. 344 Landtag Sachsen-Anhalt: Niederschrift über die 67. öffentliche Sitzung des Ausschusses für Inneres am 01.02.2006, S. 10, PA LtLSA. 345 Landtag Sachsen-Anhalt: Drs. 4/2603 vom 08.02.2006, PA LtLSA; Landtag SachsenAnhalt: Plenarprotokoll 4/73 vom 16.02.2006, S. 5207ff, PA LtLSA.
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men.346 Mit Stiftungsgründung am 01. Januar 2007 wurden alle Gedenkstätten, die sich bis zu diesem Zeitpunkt in Landesträgerschaft befanden, in die StGLSA eingegliedert. Das GDH wurde dabei als Teil der GDT und nicht mehr als gesonderte Einrichtung behandelt.347 Die Errichtung einer StGLSA war für alle Gedenkstätten, so auch die GDT mit dem GDH, ein klares gedenkstättenpolitisches Zeichen, die Gedenkstättensituation insgesamt verbessern und stabilisieren zu wollen sowie eine dauerhafte Unterstützung – unabhängig von Meinungsschwankungen und wechselnden politischen Mehrheiten – zu gewährleisten. Der Bestand der Gedenkstätten und die Kontinuität der Gedenkstättenarbeit sollten auf diese Weise langfristig ausgebaut sowie gesichert werden.348 Zum wiederholten Mal wurde auf diese Weise zudem die Möglichkeit einer zukünftigen Beteiligung des Bundes an den landeseigenen Gedenkstätten in Sachsen-Anhalt geschaffen. Dies galt auch und vor allem mit Blick auf die langfristige Finanzierung der GDT mit dem GDH. Die institutionelle Entwicklung der GDT und des GDH hatte mit ihrer Fusion in 2004 und mit der erinnerungs- und gedenkstättenpolitischen Entscheidung des Landes Sachsen-Anhalt, eine Landesstiftung zu gründen, somit Ende 2006 ihr vorläufiges Ziel erreicht. Eine stabile Zukunft für beide Einrichtungen unter einem Dach war mit der Einbindung in die StGLSA zumindest greifbar nahe. Von den geschichtspolitischen Auseinandersetzungen, die mit der Fassung des Errichtungsgesetzes einhergingen, waren die GDT und das GDH nur indirekt betroffen. Ihr jeweiliger wichtiger Beitrag für die Aufarbeitung der deutschen Teilungsgeschichte und die Anerkennung der Grenze als Symbol von DDRUnrecht hatte sich inzwischen endgültig etabliert. Wenngleich die StGLSA durch ihre Gremienbesetzungen nicht vollkommen »unpolitisch« geführt wurde,349 und die Arbeit der StGLSA weiterhin von Meinungsverschiedenheiten begleitet wurde und das Einführen zweier getrennter Opferbeiräte geschichtspolitischen Auseinandersetzungen nicht gänzlich vorzubeugen half, so bestand dennoch grundsätzlich die Hoffnung, dass alle landeseigenen Gedenkstätten, so auch GDT und GDH, durch ihre Einbindung in die StGLSA fortan weniger stark Spielball haus-
346 Gesetz über die Errichtung der »Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt« vom 22.03.2006, in: GVBl. LSA Nr. 10/2006 vom 28.03.2006, PA LtLSA. 347 Ebd. 348 Schreiben des MI LSA an die StkLSA vom 26.04.2005, S. 3, ArGDT, Geschäftsablage o. Signatur; o. V: »Künftig in öffentlich-rechtlicher Hand«, in: Generalanzeiger vom 11.01.2006. 349 Neben den Vertretern der Ministerien des Innern, der Finanzen, der Justiz und der Kultur wurde zusätzlich auch jeweils ein Vertreter der einzelnen Landtagsfraktionen durch den Landtag in den Stiftungsrat gewählt. Darüber hinaus sollte ein Vertreter des Bundes bei Bundesbeteiligung in den Stiftungsrat aufgenommen werden und wurde der LStU LSA dauerhaftes Mitglied, vgl. Gesetz über die Errichtung der »Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt« vom 22.03.2006, in: GVBl. LSA Nr. 10/2006 vom 28.03.2006, PA LtLSA.
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haltspolitischer Verhandlungen bzw. parteipolitischer Reibereien werden würden.350 Obwohl die historische Bedeutung der GDT und des GDH insgesamt nicht mehr in Frage gestellt wurde, erreichte die GDT gegenüber anderen Teilungsgedenkstätten auf Bundesebene bis zur Neuordnung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes im Juni 2008 kaum entsprechende Anerkennung und Förderung. Im Gegenteil. Ezard Reuters Versuch, den Bundesfinanzminister Eichel am Rande einer Preisverleihung im Frühjahr 2005 persönlich von einer institutionellen Bundesförderung der sachsen-anhaltinischen Gedenkstätten zu überzeugen, gelang nicht.351 Im Bericht der Sabrow-Kommission vom 15. Mai 2006 wurde die GDT nur beiläufig erwähnt und erfolgte eine klare Privilegierung der Gedenkstätte Berliner Mauer. Ihr wurde – im Gegensatz zur GDT – innerhalb des Aufarbeitungsschwerpunktes »Teilung und Grenze« eine Schlüsselrolle zugewiesen. Lediglich »eine kooperative Verbindung der Gedenkstätte Berliner Mauer mit der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn und weiteren Grenzmuseen«, empfahl das Sabrow-Papier.352 Dies bedeutete nichts Konkretes und (im Hinblick auf eine Bundesfinanzierung) auch nichts besonders Förderliches. Die im Rahmen der öffentlichen Anhörung am 06. Juni 2006 geäußerte scharfe Kritik an der vorgefundenen Hauptstadtzentriertheit und am Sabrow-Papier innewohnenden Widerspruch, Leitinstitutionen definieren und gleichzeitig an einer dezentralen Erinnerungslandschaft festhalten zu wollen, vorgebracht vom Leiter der GDT, Joachim Scherrieble, blieb ungehört.353 Sein Appell an die Politik, der Bund sei eben nicht gleich Berlin, und gerade deshalb seien die Einrichtungen in der Fläche nun erst Recht stärker vom Bund zu fördern, statt dass die bisherige Dauerbevorzugung der Berliner Einrichtungen fortgeführt werde, zeigte wenig Wirkung.354 So verwundert nicht, dass auch das vom Bund in Auftrag gegebene Gesamtkonzept zum Mauergedenken des Berliner Senats, das wenige Tage später, am 20. Juni 2006 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, durch die Fokussierung auf die Gedenkstätte Berliner Mauer eher für eine Manifestierung der Randlage der GDT und ihrer untergeordneten Rolle sorgte.355 Versuche, ihre Position innerhalb der bundesweiten Erinnerungslandschaft zu verbessern, blieben also zunächst weiterhin erfolglos, die bundespolitische Wetterlage bzgl. Marienborn und Hötensleben blieb seit 1995 damit vorerst nahezu unverändert, positiv formuliert – entwicklungsfähig.
350 Landtag Sachsen-Anhalt: Drs. 4/2603 vom 08.02.2006, PA LtLSA; Landtag SachsenAnhalt: Plenarprotokoll 4/73 vom 16.02.2006, S. 5207ff, PA LtLSA. 351 Landtag Sachsen-Anhalt: Plenarprotokoll 4/60 vom 27.05.2005, S. 4364, PA LtLSA. 352 Sabrow, Martin (u.a.): Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes »Aufarbeitung der SED-Diktatur« vom 15.06.2006, S. 20; Sabrow, Martin (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? (2007), S. 40. 353 Sabrow, Martin (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? (2007), S. 118-119. 354 Ebd., S. 120. 355 SenKult: Gesamtkonzept zur Erinnerung an die Berliner Mauer: Dokumentation, Information und Gedenken vom 12.06.2006, www.parlament-berlin.de/[...]/d15-5295.pdf
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Für die GDT war es daher in gewisser Weise »Glück im Unglück«, dass der BKM Bernd Neumann (CDU) als Nachfolger von Christina Weiss (SPD), den unter seiner Vorgängerin in Auftrag gegebenen Sabrow-Bericht nur zurückhaltend entgegennahm, löste er doch zum x-ten Male eine breite öffentliche Debatte um die Zukunft des Gedenkens und Erinnerns in Deutschland aus.356 Neumann zurrte das Sabrow-Konzept nicht fest, sondern nutzte die folgenden zwei Jahre Regierungszeit dazu, auf Basis der politischen Forderungen zwischen 2005-2007357ein neues Konzept zur Beteiligung des Bundes an den Gedenkstätten in Deutschland zu entwickeln. Hierzu hatte sich die Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD im Koalitionsvertrag vom 11. November 2005 schließlich verpflichtet, »mit dem Ziel der angemessenen Berücksichtigung der beiden Diktaturen in Deutschland« fortzuschreiben.358 Dies bot der GDT eine einmalige Chance, mit dem BKM über eine institutionelle Bundesförderung intensiv neu zu verhandeln. Am 18. Juni 2008, also genau zwei Jahre nach der Sabrow-Kommission, legte Neumann seine neue Gedenkstättenkonzeption vor.359 Sie wich in ihrer Gewichtung von NS- und SBZ/DDR-Zeit sowie in ihrer Programmatik deutlich von den Empfehlungen der Sabrow-Kommission ab. Für die GDT mit dem GDH war dies von entscheidendem Vorteil. Der neuen Prämisse folgend: »Die Aufarbeitung der Diktatur in der SBZ und in der DDR sowie das Gedenken an ihre Opfer will die Bundesregierung verstärken«,360 legte das Neumann-Konzept jetzt und im Sinne der GDT fest: »Wegen ihrer weit überregionalen Ausstrahlung soll auch die Gedenkstätte Deutsche Teilung in Marienborn, die seit ihrer Eröffnung mehr als 1,5 Mio. Menschen besucht haben, vom Bund institutionell gefördert werden. Diese Maßnahmen ergänzen die bereits bestehende institutionelle Bundesförderung für das Deutsch-Deutsche Museum Mödlareuth. [Herv. i.O.]«361
Die Begründung lautete: »Da nicht nur Berlin, sondern ganz Deutschland gespalten war, bietet sich eine vertiefte Zusammenarbeit auch mit Einrichtungen entlang der früheren, fast 1400 Kilometer langen innerdeutschen Grenze an […].«362 Diese Wortwendungen sowie die Platzierung dieser Empfehlung innerhalb des Gesamttextes, nämlich inmitten der Ausführungen zur Gedenkstätte Berliner Mauer, deuten daraufhin, dass die Appelle der GDT schließlich wohl doch noch Gehör
356 Ausführlich dokumentiert ist diese Debatte in: Sabrow, Martin (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? (2007), S. 185ff. 357 So die Anträge der CDU-Fraktion im Deutschen Bundestag zur Schaffung eines Geschichtsverbundes SED-Diktatur, zur Errichtung einer Bundesgedenkstättenstiftung sowie zur Errichtung eines Freiheits- und Einheitsdenkmals, s.o. 358 Koalitionsvertrag z.n. BKM: Verantwortung wahrnehmen (2008), S. 5. 359 Ebd. 360 Ebd., S. 3. 361 Ebd., S. 16. 362 Ebd.
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gefunden hatten. Damit war erstmals eine dauerhafte hälftige Beteiligung des Bundes an der GDT beschlossene Sache. Die projektbezogene Gedenkstättenförderung, die zwischen 1999-2003 über die Mittel des Aufbauprogramms und zwischen 20032007 nur sporadisch für Planungssicherheit gesorgt hatte, konnten jetzt umgewandelt in eine kontinuierliche institutionelle Gedenkstättenförderung. Nach insgesamt dreizehn Jahren wurde die ehemalige GÜSt Marienborn als Einrichtung von gesamtstaatlicher Bedeutung, mit allem was dazu gehört anerkannt. Dieses erinnerungs- und geschichtspolitische Ziel, was 1995 bereits zum Greifen nahe war, wurde nun in 2008 erreicht und zur lang ersehnten Wirklichkeit.
4.9 Z USAMMENFASSUNG : GDT UND GDH 1989-2009 Anders als im Fall der Gedenkstätte Berliner Mauer, hatten es die Einrichtungen in der Fläche bedeutend schwerer, von der zuständigen Verwaltung und Politik unterstützt zu werden. Die Anerkennung des Grenzdenkmals in Hötensleben und des ehemaligen Grenzübergangs in Marienborn, als Orte von herausragender gesamtstaatlicher Bedeutung für die der Bund sich auch finanziell verantwortlich zeigt, dauerte tatsächlich bis 2008. So ist es in erster Linie einzelnen Denkmalpflegern zu verdanken, dass sowohl in Hötensleben als auch in Marienborn überhaupt noch Relikte der innerdeutschen Grenze existieren. Durch frühzeitige Unterschutzstellungen, die bereits vor dem Beitritt der DDR zur BRD initiiert wurden, erreichten die Denkmalschützer, dass beide Anlagen später grundsätzlich auf die politische Agenda gesetzt werden konnten. Rettungsversuche in Hötensleben und vergleichbare Aktivitäten in Helmstedt (auf niedersächsischer Seite) inspirierten das LfD LSA, dass sich ein Erhalt der ehemaligen GÜSt Marienborn als Flächendenkmal zum Zwecke der historischen Aufarbeitung des Grenzregimes lohnen könne. Diesen Bemühungen zum Trotz, mangelte es jahrelang auf Seiten der zuständigen Verwaltungen und auf Seiten der Politik an einer uneingeschränkten Befürwortung der Gedenkstätten- und Grenzdenkmalvorhaben. Jahrelang wurde mehr Wert auf den sechsspurigen Ausbau der Autobahn A2 zwischen Braunschweig und Magdeburg (im Fall Marienborn) und auf die Reprivatisierung (im Fall Hötensleben) gelegt, als auf die Einhaltung von Denkmalschutzbestimmungen. Große Bereiche und Teile der unter Schutz gestellten Anlagen fielen dem Abriss zum Opfer, um u.a. Platz zu machen für eine Tankstelle und Raststätte. Diese Prioritätensetzung bestand bis 1993. Selbst eine 1992 vom MI LSA einberufene Sachverständigenkommission, die nur zum Zwecke der Erhöhung der Chancen auf Bundesbeteiligung einberufen wurde, hielt zunächst an einer Unterordnung gedenkstättenpolitischer Belange und an der Begünstigung verkehrpolitischer Überlegungen fest. Und da das LSA auch im Fall Hötensleben die Planung einer Gedenkstätte nur so lange zuließ, wie dafür Aussicht auf Bundesförderung bestand, blieb das Grenzdenkmal in Hötensleben ebenfalls auf der Strecke, wurde ihm doch jahrelang nur eine örtliche Bedeutung zugeschrieben. Während das LSA in der Aufwertung der ehemaligen GÜSt und ihrer Aufnahme in eine Gedenkstättenkonzeption des Landes vornehmlich den Vorteil sah, diese
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Gedenkstätte dem Bund zumindest in Teilen aufbürden zu können, entdeckten die Sachverständigen zunehmend die tatsächliche überregionale Bedeutung der Anlage. Mit dieser Neubewertung Marienborns verband sich auch eine Öffnung des Blickwinkels auf den ehemaligen Grenzübergang. War er in den Jahren zuvor vornehmlich aus westdeutscher Perspektive betrachtet worden, d.h. als Ort schikanöser Reiseabenteuer – sodass vorübergehend der Eindruck erweckt wurde, die Gedenkstätte verharmlose das DDR-Grenzregime –, wurde die ehemalige GÜSt Marienborn nun zunehmend als integraler Bestandteil des »gewollten Einschüchterungs-, Sperr-, Kontroll- und Abschottungssystems« der DDR wahrgenommen.363 Wegen der aufgrund des Bedeutungswandels inzwischen vom MI LSA und den Sachverständigen groß dimensionierten Gedenkstättenanlage, lehnte der Bund eine Beteiligung an der GDT 1993 ab, und das nur einen Tag vor dem Regierungsbeschluss des LSA über die Errichtung einer GDT. Erst als das LSA dem Bund glaubhaft machte, es wolle sich bei der GDT auf ein Minimum beschränken und die GDT werde – der Finanzierbarkeit halber – entsprechend »verkleinert«, rückte eine Beteiligung des Bundes an der GDT im Laufe des Jahres 1994 wieder in greifbare Nähe. Das GDH fiel unterdessen endgültig aus den Planungen heraus, gab es unter den Landespolitikern nur wenig Verständnis dafür, dass gerade das GDH die ostdeutsche Erfahrung des Grenzregimes verkörperte. Es bleibt bis heute ein Rätsel, weshalb der Ministerpräsident des LSA, Reinhard Höppner, zusammen mit dem Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen, Gerhard Schröder, entgegen allen Warnrufen im Januar 1995 plötzlich eine vollständige Übernahme der GDT in die Bundesträgerschaft forderte. Fakt ist, dass diese Forderung im Ergebnis dazu führte, dass der GDT und dem GDH bis 2008 jegliche institutionelle Bundesförderung verwehrt blieb. Erst die neue Gedenkstättenkonzeption des Bundes, unter Federführung des BKM Neumann, regelte 13 Jahre später, dass die GDT zusammen mit dem GDH die begehrte dauerhafte Bundesbeteiligung zugesichert bekam. Nach dem gedenkstättenpolitischen Misserfolg von 1995, ging das Land in den Folgejahren ganz unterschiedlich mit den Orten zur Erinnerung der innerdeutschen Teilung um. Nachdem zunächst der Versuch, die GDT zu Kommunalisieren, scheiterte, erfolgte ihre Errichtung in 100%iger Landesträgerschaft im »HauruckVerfahren« sowie als Minimallösung (auf nur 7,5 ha von den ursprünglich 35 ha Flächendenkmal). Anlagen, die bis dahin noch nicht abgerissen waren, wurden in der Folgezeit demontiert, bis auf Stabsgebäude, wenige überdachte Abfertigungsbaracken (LKW- und PKW-Einreise in die DDR), Heizhaus, Sparkasse, Veterinärstation, Leichenhalle, ein Passlaufband und vereinzelte Garagen bzw. Buden. Ab 1999 wurde die Arbeit immerhin vorübergehend wieder bundespolitisch unterstützt mit Mitteln aus dem Aufbauprogramm »Kultur in den neuen Ländern.« Währenddessen ebbte der langjährige Widerstand gegen eine überregionale Anerkennung des GDH langsam ab. Schließlich mehrten sich sogar die Befürworter
363 Sachverständigenkommission beim Minister des Innern des Landes Sachsen-Anhalt: Gedenkstätte »Deutsche Teilung« Marienborn. Arbeitsergebnisse und Empfehlungen, August 1993, S. 14, ArMI LSA, 11333-1, Band 2.
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einer Anbindung des GDH an die GDT innerhalb der Regierungsreihen, sodass einer Übernahme des GDH in die Gedenkstättenkonzeption des LSA ab 2001 nichts mehr im Wege stand. Damit erfüllte sich endlich der seit 1993 vorgebrachte Wunsch des GDH e.V., sowie die 1998 von der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages ausgesprochene Empfehlung, das Grenzdenkmal langfristig mit der Gedenkstätte in Marienborn zu einer sich sinnvoll ergänzenden Einheit zusammenzuführen. Geschichtspolitisch setzte sich auf der Regierungsbank spätestens mit der Anbindung des GDH an die GDT (vollzogen 2004) und mit ihrer Einbindung in die StGLSA die Auffassung durch, dass sowohl die GDT als auch das GDH Orte von gesamtstaatlicher und überregionaler Bedeutung seien. Vorübergehende Überhöhungen und einseitige Perspektiven auf das Grenzregime legten sich, von anfänglichen Verharmlosungstendenzen und der Neigung zum Schleifen der Geschichte ganz zu schweigen. Von den geschichtspolitischen Auseinandersetzungen, die mit der Fassung des StGLSA-Errichtungsgesetzes einhergingen, waren die GDT und das GDH daher nicht mehr betroffen. Ihr jeweiliger wichtiger Beitrag für die Aufarbeitung der deutschen Teilungsgeschichte und die Anerkennung der Grenze als Symbol von DDR-Unrecht hatte sich, dies sei an dieser Stelle nochmals wiederholt, inzwischen endgültig durchgesetzt.
Resümee
Wem gehört »1989«? fragt Martin Sabrow in seinem kürzlich veröffentlichten Aufsatz.1 Seine Antwort fällt kritisch aus und weicht ab von den dominierenden Erinnerungs- und Geschichtsnarrativen. Sein Urteil ist hart: Regimegegner wie auch -anhänger seien vom Umsturz überrascht worden, keine einzige Oppositionsgruppe hätte das Ende der DDR und die Abschaffung des Sozialismus angestrebt. Die »Abstimmung mit den Füßen« sei vor allem Ausdruck für den unerschütterlichen Glauben am Fortbestand der DDR gewesen. Ja, und sogar das Regime selbst habe sich auf den Weg der Normalisierung geglaubt, die Öffnung der Mauer und Gewährung von Reisefreiheit seien hiervon Ausdruck gewesen.2 Diese Feststellungen haben wenig gemeinsam mit vorherrschenden Geschichtskonstruktionen zu 1989.3 Doch was sind die Geschichtsbilder, die die Erinnerungs- und Geschichtsnarrative bis heute prägen? Die Analyse zur Politik mit der Vergangenheit der SBZ und DDR zwischen 1989 und 2009 kommt zu folgenden drei zentralen Thesen: (1) Der Prozess der Aufarbeitung von Zeitgeschichte sowie das Erinnern und Gedenken waren wie nie zuvor geprägt vom politischen Imperativ. Es galt das Primat der Politik. (2) Konservative, Opfervertreter und ehemalige Bürgerrechtler bzw. Oppositionelle hatten in den ersten zwei Jahrzehnten Deutungshegemonie. Dies führte zunächst zu einer Fokussierung der Geschichtsaufarbeitung auf den Repressions- und Unrechtscharakter und sorgte bisweilen für eine Dominanz undifferenzierter totalitarismustheoretischer Auslegungen der SBZ- bzw. der DDR-Geschichte sowie des »antitotalitären Konsens« innerhalb des Erinnerungsdiskurses. (3) Die »Friedliche Revolution« ist ebenfalls Ergebnis des von ehemaligen Bürgerrechtlern und Oppositionellen dominierten Erinnerungsdiskurses. Sie hat so, wie es die den Diskurs anführenden Akteure des Herbstes 89’ behaupteten, insbesondere in Bezug auf das Ende des MfS und dessen museologische Aufarbeitung nicht stattgefunden. 1 2 3
Sabrow, Martin: »Wem gehört ›1989‹?«, in: ders. (Hg.): Bewältigte Diktaturvergangenheit? (2010), S. 9-20. Ebd., S. 10-12. Ebd.; Segert, Dieter: »Der Traum vom ›Dritten Weg‹ in die Zukunft«, in: ebd., S. 103; Sabrow, Martin: »Der vergessene ›Dritte Weg‹«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 11 (2010), S. 6ff; Großbölting, Thomas: Die DDR im vereinten Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 25-26 (2010), S. 36.
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Zu (1): Nach 1989 kam es zu einer »Politisierung der Erinnerungsfrage«. In einem Ausmaß wie nie zuvor wurde um die Definition deutscher Vergangenheiten und um die Frage nach dem diesbezüglichen kulturellen Umgang gestritten. Auf verschiedenen zeitlichen und gesellschaftlichen Ebenen wurde »politisiert«. Vor allem war die »Politik mit der Vergangenheit« Element des Auflösungsprozesses der DDR selbst. Die politische Delegitimation erfolgte Hand in Hand mit dem Niedergang der DDR. Sie war der Abschaffung der SED-Diktatur immanent. Nur so erklären sich die frühen, hoch ambitionierten Aufarbeitungsinitiativen, bürgerschaftlich aber auch staatlich zugleich, wie z.B. in der »Runden Ecke« Leipzig und im Haus 1 in der Normannenstraße. Historische Aufklärung wurde zum Gegenstand der (Selbst-) Auflösung der Staatssicherheit und der (Selbst-)Abwicklung des Regimes. Aber auch bei den Haftanstalten Bautzen und Hohenschönhausen sowie bei den Relikten der innerdeutschen Grenze waren bereits zwischen dem 09. November 1989 und dem 03. Oktober 1990, d.h. während des Fortbestehens der DDR wesentliche Koordinaten für die historische Aufarbeitung des unterzugehenden Staates abgesteckt. Dort gab es ebenfalls frühe Einbeziehungen der zuständigen Verwaltungen und Bemühungen einzelner Politiker, es gab Denkmalschutzinitiativen, es gab Aktivitäten von staatlichen Museen (sowohl des Museums für Deutsche Geschichte der DDR wie auch seitens des Deutschen Historischen Museums der BRD), es gab Eigeninitiativen von Opfervertretern, sogar erste Konzepte über das Erinnern und Gedenken lagen schon vor dem 03. Oktober 1990 zur Entscheidung vor. Mit dem Beitritt endete die Politik mit der Vergangenheit nicht. Im Gegenteil. Zu keiner anderen Zeit befassten sich der deutsche Bundestag und Bundesregierung derart intensiv mit dem Errichten von Erinnerungs- und Gedenkzeichen, mit dem Aufbau von Gedenkstätten und dem Setzen von Denkmälern wie nach 1990. Dass sich die Bundespolitik über viele Jahre mit deutscher Zeitgeschichte bis 1989, wie ihrer zu gedenken und sie dauerhaft aufzuarbeiten sei, beschäftigte, stellt ein Novum dar. Bei den zwei Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages, die sich zwischen 1992 und 1998 mit der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit befassten, ging es dabei nicht mehr nur um eine Instrumentalisierung der Vergangenheit für tagespolitische, parteipolitische Interessen, sondern vielmehr um das Etablieren eines allgemeinen Rahmens, um die Implementierung von Kriterien und um grundlegenden Inhalte von »demokratischer Erinnerungskultur« in der BRD nach 1990. Die Erinnerungspolitik, das Befassen mit Erinnerungszeichen und -symbolen im öffentlichen Raum, war zugleich eng mit geschichtspolitischen Deutungskämpfen verbunden. Ob, was, wie zu erinnern sei, wurde Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Gedenkstättenpolitik hatte so in nie zuvor dagewesenem Maße Konjunktur und wurde so zum Gradmesser eines gesamtdeutschen Geschichtsbewusstseins nach 1990. Da die Bundestagsabgeordneten dabei unweigerlich nicht an der Aufarbeitung der Vorgeschichte der SBZ und DDR, d.h. nicht an der NS bezogenen Erinnerungskultur vorbeikamen, setzten sich Parlamentarier über den Umweg SBZ/DDRAufarbeitung erstmals auch mit der NS-Gedenkstättenlandschaft auf dem Gebiet der alten BRD auseinander. Zudem trat der seltene Fall ein, dass ein für die ostdeutschen Bundesländer entwickeltes »Modell« schließlich auch auf die alten Bundesländer übertragen wurde. Durch die Notwendigkeit, eine tragende Lösung für die
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ehemaligen zentralstaatlich geführten Mahn- und Gedenkstätten der DDR zu finden, waren es auch die im Bundesparlament geführten Auseinandersetzungen über die ostdeutschen Aufarbeitungslandschaft und das Erinnern an die SBZ und DDR nach 1990, die 1999 und 2008 in die Gedenkstättenkonzeptionen des Bundes mündeten, von denen sukzessive dann auch einzelne NS-Gedenkstätten in Westdeutschland profitierten. Die Gedenkstättenpolitik in Bezug auf die ostdeutschen Gedenkstätten brachte also zwangsläufig auch Neuregelungen für die westdeutschen Gedenkstätten und Aufarbeitungsinitiativen, bzw. erst durch das Aufwerfen der Gedenkstättenfrage in Ostdeutschland wurden Gedenkstätten auch in Bezug auf den Nationalsozialismus Gegenstand des Bundestages.4 Es kann daher begründet von einem Paradigmenwechsel und von einem Funktionswandel der Geschichts- und Erinnerungspolitik sowie von einem Beginn einer umfassenden Gedenkstättenpolitik als Teil staatlichen symbolpolitischen Regierungshandelns nach 1990 gesprochen werden. Der geschichtspolitische Disput hatte auf Bundesebene zwischen 1992 und 1995 seine »heiße Phase«. Die Analyse der Auseinandersetzungen innerhalb der ersten Enquete-Kommission belegt, dass in Kontinuität zu den bundesrepublikanischen 80er Jahren (insbesondere der 1986/1987 geführte Historikerstreit) bei der Bundes-CDU totalitarismustheoretische und antikommunistische Argumente auf eine vollständige Delegitimierung der DDR abzielten. Die PDS versuchte dieser Delegitimierung mit geschichtsrevisionistischen Argumenten und ihrer Forderung nach einer Entkriminalisierung der DDR entgegenzuwirken. Vor allem die SPD und SPD-nahe Vertreter in der Enquete-Kommission bemühten sich, die Kontroverse durch Versachlichung und Differenzierung abzumildern, zu entpolitisieren. Ihre »neue Geschichtspolitik«, die sie entgegen der bisherigen mit ihrem Regierungsantritt 1998 umzusetzen versuchte, zielte ab auf eine Entideologisierung, Differenzierung, Multiperspektivität und Pluralismus. Hiermit verbanden sich erinnerungspolitisch Forderungen nach Professionalisierung, Verwissenschaftlichung und einer institutionellen Absicherung der Aufarbeitungsszene. Die politischen Vertreter von Bündnisgrün und FDP schwankten. Zwischen 1995 und 2005 traten geschichtspolitische Auseinandersetzungen auf Bundestagsebene in den Hintergrund. In den Vordergrund traten stattdessen vermehrt erinnerungs- bzw. gedenkstättenpolitische Debatten. Die Erinnerungskultur, ja die Gedenkstätten selbst wurden nun Objekte der politischen Auseinandersetzungen innerhalb der zweiten Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages. Diese erinnerungs- und gedenkstättenpolitischen Auseinandersetzungen mündeten auf Bundesebene in die Gründung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SEDDiktatur sowie in die Neufassung der Gedenkstättenförderung 1999. Es wurden Instrumente geschaffen, deren Hauptziel die Sicherstellung der zivilgesellschaftlichen und dezentral gewachsenen Erinnerungslandschaft in Ost wie West war. Sowohl die Gründung einer solchen Bundesstiftung als auch das Fassen von Gedenkstätten fördernden Gesetzen bzw. Regularien war auf Bundesebene ohne Vergleich.
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Morsch, Günter: »Die Bedeutung«, in: Gause, Detlev/Schomaker, Heino (Hg.): »Das Gedächtnis« (2001), S. 26.
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Mit der Rückkehr der Regierungsverantwortung der Konservativen 2005, auch das konnte die Analyse belegen, kehrte das totalitarismustheoretische Muster, das bereits in den Anträgen der Bundes-CDU 2003 und 2004 eingeflossen war, in die Politik mit der Vergangenheit der SBZ und DDR zurück. Die Ausgewogenheit der »demokratischen Erinnerungskultur« wurde durch eine Renationalisierung des Gedenkens und durch Stärkung einer kommunismuskritischen bis hin zu einer antikommunistisch ausgerichteten, nationalen Gedenkkultur unterminiert, u.a. durch das Forcieren eines Freiheits- und Einheitsdenkmales in der Nähe des Brandenburger Tores sowie durch eine Neuauflage der Gedenkstättenkonzeption des Bundes. Das Neumann-Konzept von 2008, die SBZ/DDR definierend als Kontinuum einer »kommunistischen Terrorherrschaft« zwischen 1945-1990, die der »ersten deutschen Diktatur« zwischen 1933-1945 einfach gefolgt sei, bedeutete in gewisser Weise ein »roll back« und Rechtsruck gegenüber den Ergebnissen der zweiten Enquete-Kommission. Neben der bundespolitischen Bühne ging das Errichten von Gedenkstätten, Gedenkzeichen und von Landesgedenkstättenstiftungen aber auch mit heftigen geschichts- und erinnerungspolitischen Kontroversen und Auseinandersetzungen auf anderen Ebenen (Landes-, Kommunal- und Verbands-/Vereinspolitik) einher. Dies betraf die Auseinandersetzungen innerhalb des Berliner Parlaments in Bezug auf das Mauergedenken, die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen und das Haus 1. Das betraf aber auch die Manöver der Landesregierungen in Sachsen-Anhalt und Sachsen bezüglich der Gedenkstätten »Runden Ecke«, Bautzen und Deutsche Teilung Marienborn. Nicht zuletzt blieben auch die Landesstiftungen und die Trägervereine nicht frei von geschichtspolitischem Gerangel. Sachsen-Anhalts Regierungsaktivitäten unter CDU und SPD bestanden bis weit nach 2000 lediglich in Versuchen, die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn und das Grenzdenkmal Hötensleben zunächst zu marginalisieren, um sie dann – nach später Anerkennung ihrer historischen Bedeutung und zeitgeschichtlichen Relevanz – an den Bund abzuschieben. Nur in Bezug auf das Schaffen eines Pendants zu Buchenwald und Sachsenhausen engagierte sich die sächsische CDU-Regierung für eine Gedenkstätte Bautzen, wenn auch halbherzig und auch dort mit dem Ziel, der Bund solle zahlen. Um den Bund in die Finanzverantwortung für Gedenkstätten zu nehmen, gründete die Staatsregierung Sachsens durch Anregung des BautzenKomitee e.V. sogar per Dekret »von oben« eine Landesstiftung, die aufgrund der Zusammenlegung der NS- und SBZ/DDR-Opferbeiräte nach ihrer Neugründung 2003 und 2004 zu Eklats auf NS-Opfer-Seite führte. Die Landesregierung SachsenAnhalts nahm sich daran ein Beispiel. Ihre bewusste Separierung der Opferbeiräte bei Gründung einer eigenen Landesstiftung 2007 sorgte für den nächsten Skandal, diesmal auf SBZ/DDR-Opferseite. Und für Berlin galt, die CDU-Regierung tat auch dort – trotz grundsätzlich konservativer, antilinksgerichteter Politik – jahrelang nur das Nötigste für das Erinnern, Gedenken und Aufarbeiten der SBZ/DDR. Ambitionen in Richtung einer Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen verfolgten auch dort das Ziel, die Gedenkstätte dem Bund, so z.B. der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur bzw. der BStU abzutreten. Erst unter einer rot-roten Regierung sowie befördert durch touristische Nachfrage wurde ein Gesamtkonzept zur Berliner
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Mauer erarbeitet und in einem Ausmaß wie nie zuvor der Auf- und Ausbau der SBZ/DDR-Gedenkstättenlandschaft in Berlin betrieben. Zu (2): Die geschichtspolitischen Auseinandersetzungen um die Vergangenheit der SBZ/DDR verliefen zwischen konkurrierenden und z.T. ideologisch gefärbten Interpretationen der SBZ/DDR. Der Konflikt kreiste um die Bewertung des totalitären Charakters der SBZ/DDR im Vergleich zum totalitären Charakter des Dritten Reiches. Opfervertreter, Bürgerrechtler und Oppositionelle unterschiedlichster Partei-, Verbands- und Vereinszugehörigkeit steuerten einen erheblichen Beitrag zu diesen geschichtspolitischen Debatten bei. Sie reklamierten für sich Deutungshoheit und setzten nicht selten ihre Geschichtsbilder aus subjektiver Betroffenenperspektive bzw. aus der Perspektive der »Helden des Herbstes 89’« durch. Bereits bis zum Beitritt der DDR zur BRD hatten sie als Mitakteure der Geschichtsaufarbeitung die drei thematischen Säulen »DDR-Staatssicherheit« und »politische Haft« etabliert, indem sie sich frühzeitig an diesen Orten der Repression für das Errichten von Erinnerungszeichen engagierten. Hierdurch verengte sich der Blick schnell auf eine Aufarbeitung der Repressions- und Herrschaftsgeschichte der SBZ/DDR. Unterstützung erhielten sie von vorwiegend konservativen gestimmten Historikern. Die nach dem Historikerstreit tot geglaubte Totalitarismustheorie erfuhr so unerwartete Hochkonjunktur. Im Erinnerungsnarrativ zwischen 1990 und 2009 dominierten folglich eine undifferenzierte totalitarismustheoretische Auslegung des »antitotalitären Konsenses« sowie die Einordnung der SBZ/DDR als eine »kommunistische Terrorherrschaft«. Auch in diesem Punkt wurden konservativ geneigte Historiker zu Anwälten der häufig antikommunistisch gestimmten Opfervertreter und Systemgegner. Bei aller verbalen Betonung der Singularität der im NS verübten Verbrechen, tendierte also ein eher konservative »Aufarbeitungslager«, zu dessen Sprachrohr häufig die CDU wurde, während der Debatten im Bundesparlament aber v.a.a. in Bezug auf einzelne Gedenkstätteninitiativen zu undifferenzierten totalitarismustheoretischen Interpretationen. Ihre »Leitideologie« war ein verschieden ausgeprägter Antikommunismus. Dies belegen die Analysen sowohl zur Bundespolitik als auch zu den einzelnen Gedenkstätten. So sorgten ihre »antikommunistischen Reflexe« dafür, dass keine NS-Analogien gescheut, Opferzahlen hochgeschraubt, Geschichten verdreht wurden: In Bautzen wurden aus mehr als 3200 Toten über 16.000 Opfer der sowjetischen »Vernichtungspolitik«, die Zentrale MfS-Untersuchungshaftanstalt wurde zum »Dachau des Kommunismus«, das Haus 1 zum »kommunistischen Reichssicherheitshauptamt« und der Kommunismus selbst zum »rot angestrichenen Holocaust«. Und aufgrund der gesellschaftlichen Durchdringung wurde das MfS gegenüber der Gestapo als ungleich monströser dargestellt. Gedenkstättenkonzepte in dieser Handschrift (z.B. »Topographie der zweiten deutschen Diktatur«, »Topographie der Repression«, »Menschenrechtsmuseum«), der Streit um Inschriften im Fall der Gedenkstätte Berliner Mauer und BerlinHohenschönhausen, der Dissens um Haus 1 und die »Runde Ecke« Leipzig zeugen davon. In der Gedenkstätte »Runde Ecke« Leipzig und in der Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße wurde das MfS zur tragenden Säule und zum Inbegriff der »kommunistischen Gewaltherrschaft«. Sie weigerten sich, Erinnerungsorte
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zweiten Ranges zu sein und versuchten sich als Orte des Widerstandes innerhalb der zeitgeschichtlichen Aufarbeitungslandschaft besonders emporzuheben. An den ehemaligen politischen Haftorten wiederum bestimmten die ehemaligen Häftlinge und ihre Interessenorganisationen das Erinnerungs- und Geschichtsnarrativ. In Abgrenzung zu den ehemals »antifaschistisch« und weiterhin »antinationalsozialistisch« ausgerichteten NS-Gedenkorten, waren Bautzen und Hohenschönhausen vor allem »antikommunistisch«. Sie wurden von den Interessenverbänden ehemaliger politischer Häftlinge frühzeitig zu »Gegenstücken« von Sachsenhausen und Buchenwald. Was den NS-Opfern »Sachsenhausen« und »Buchenwald« bedeutete, war den SBZ/DDR-Opfern »Bautzen« und »Hohenschönhausen«. Ein nicht unerheblicher Motor für die Heftigkeit der geschichtspolitischen Auseinandersetzungen um den Umgang mit den ehemaligen Speziallagern und ihren Opfern war auch der Wunsch der ehemaligen Speziallager-Inhaftierten und ihrer Hinterbliebenen nach einer späten politischen, öffentlichen wie auch materiellen Anerkennung erlittenen Unrechts. Sie weigerten sich vehement »Opfer 2. Klasse« zu sein und wollten den NS-Opfern nicht nachstehen. Die Deutungshoheit über die verschiedenen Vergangenheiten Hohenschönhausens und Bautzens lag damit eine zeitlang weniger in den Händen von Historikern als vielmehr in den Händen Betroffener und ihrer organisierten Vertreter. Die Gedenkstätten gaben demgemäß zunächst weniger ein differenziertes Geschichtsbild wieder, als vielmehr die subjektiv und z.T. ideologisch geprägten Vorstellungen der Opfer. Im Fall der Gedenkstätte Bautzen gelang eine Verwissenschaftlichung der Gedenkstättenarbeit zum Ende der 90er Jahre. Bei der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen gelang dies nicht. Stattdessen »solidarisierte« sich der wissenschaftliche Leiter dort mit den Opfervertretern. Bis heute dominieren in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen Opfernarrative und betreibt die Gedenkstätte pro-aktiv eine antikommunistisch gefärbte Geschichtspolitik. Während die ehemaligen Haft- und MfS-Orte in der öffentlichen Wahrnehmung gerade aufgrund ihrer erhöhten geschichtspolitischen »Temperatur« als Erinnerungszeichen früh in Betracht kamen, hatten es die Gedenkzeichen zur innerdeutschen Grenze aufgrund des Schleifens und der z.T. peripheren Lage ungleich schwerer, grundsätzlich als bedeutsam und von erinnerungskulturellen Wert anerkannt zu werden. Dennoch läst sich feststellen, dass sich auch in Bezug auf die Grenz- und Mauer-Gedenkstätten eine antikommunistisch geprägte wie auch eine fast schon deutsch-nationale Lesart zwischen 1990 und 2009 etablierte. Die innerdeutsche Grenze bzw. Berliner Mauer verwandelte sich – wenn auch mit erheblicher Verspätung gegenüber den ehemaligen Haft- und MfS-Orten – auf Drängen der Opfervertreter nämlich nicht nur zu einem Mahnmal kommunistischer Gewaltherrschaft, sondern wurde als Relikt »Deutscher Teilung« überdies zum zentralen Symbol des Verlustes der deutschen nationalen Einheit und ihrer Wiedererlangung. Dem »konservativen Aufarbeitungslager« gegenüber stand ein »linkes Aufarbeitungslager«, bestehend aus Sozialdemokraten, meist westdeutschen Wissenschaftlern, Interessenvertretern der NS-Aufarbeitung sowie ab dem Ende der 90er Jahre zunehmend auch Linkspartei/PDS-Angehörigen mit einer abgemilderten, differenzierenden Kommunismuskritik. Auch gehörten hierzu einzelne ehemalige
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DDR-Bürgerrechtler, die sich zunächst in der SDP tummelten und später der SPD nahe standen. Dieses »linke Aufarbeitungslager« drang auf Entsubjektivierung und Entpolitisierung des Diskurses und auf eine Versachlichung und historischwissenschaftliche Professionalisierung der Aufarbeitung. Um die beiden »Lager« zu »versöhnen«, führte Jürgen Habermas – in Anlehnung an den Historikerstreit 1986/1987 – den Begriff »antitotalitärer Konsens« als Minimalkonsens in den Diskurs ein. Der »antitotalitäre Konsens« sollte der kleinste Nenner sein, auf den sich die Diktaturenkritiker einigen sollten. Daher sollte er eine universalistische, auf Menschen- und Bürgerrechte begründete Abkehr von jeglichen totalitären Systemen und eine Hinwendung zur Demokratie sein. Im Sinne einer differenzierten Anwendung des Totalitarismusbegriffs, verband das »linke Lager« mit dem »antitotalitären Konsens« demgemäß das Herausarbeiten von Strukturen und von Unterschieden bzw. sogar Gegensätzlichkeiten zwischen Nationalsozialismus, Stalinismus und Staatssozialismus.5 Doch der Habermas’sche Minimalkonsens verfehlte sein Ziel. Der vom »linken Lager« vertretene »antitotalitäre Konsens«, der ja dazu dienen sollte gerade die Gleichsetzung von Stalinismus und Nationalsozialismus zu überwinden, Relativierungen und einer Abschwächung der Singularitätsthese vorzubeugen, sorgte beim »konservativen Lager« umgekehrt eher für eine Permanenz undifferenzierter totalitarismustheoretischer Deutungen. Letztere addierten der nationalsozialistischen Diktatur einfach eine kommunistische Diktatur hinzu, ihre Simplifizierung »kommunistische Gewaltherrschaft« unterschied zwischen Stalinismus, Poststalinismus, Staatssozialismus und autoritärer Parteidiktatur weiterhin nicht. Auf diese Weise ging es dem »konservativen Lager« darum, unbeeinträchtigt alle linksgerichtete Politik zu delegitimieren. Im Ergebnis setzte sich der »antitotalitärer Konsens« daher nur als ein Korrektiv dominierender konservativer Deutungen und »antikommunistischer Reflexe« durch. Zu (3): Selbstverständlich hat es Massenflucht, Demonstrationen und Bürgerbeteiligung bei der Abwicklung des DDR-Staates gegeben, aber, war das Ende der DDR wirklich ausschließlich Ergebnis von Massenflucht, Demonstrationen und Bürgerrechtsbewegungen? In Anbetracht der politischen und ökonomischen Instabilität der osteuropäischen Staaten 1989, im Wissen um die Handlungsoptionen und Reaktionen der DDR-Regierung sowie in Kenntnis der Reformforderungen und tatsächlich Handlungsspielräume der Herbstbewegten, tauchen Zweifel auf. Die Detailanalyse zum Ende und zur Auflösung des MfS verstärkt sie. Die »Friedliche Revolution« und die damit einhergehenden Heldengeschichten der Bürgerrechtsbewegungen erscheinen in Anbetracht auch dieser durchgeführten, historischwissenschaftlichen Tiefenbohrungen, doch eher vom Ende der DDR her gedacht und wenig übereinstimmend mit den rekonstruierbaren historischen Abläufen. Ursprünglich sollte der Untergang des dogmatischen Sozialismus nämlich zu einem Neuanfang eines aufgeklärten, demokratischen Sozialismus innerhalb der
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Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien (1995), S. 744-745; Faulenbach, Bernd: »Die Verfolgungssysteme des Nationalsozialismus und Stalinismus«, in: Gedenkstättenrundbrief 86 (1995), S. 3ff.
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DDR führen, d.h. zu einer sozialistischen Alternative zur BRD. Dies war die zentrale Forderung der Herbstes 89’.6 Sie wurde von reformwilligen Mitgliedern der SED geteilt, die sich mit der Neugründung der SED als PDS am 09. Dezember 1989 unter dem neuen Vorsitz von Gregor Gysi innerhalb der Partei wohl Gehör verschafften.7 Und auch die Umwälzung der Eigentumsverhältnisse, immerhin ein wesentliches Merkmal einer Revolution, gehörte nicht zu den Herbstforderungen der »friedlichen Revolutionäre«. Die Herbstbewegten waren im Vergleich zu ihren politischen Vertretern in diesem Punkt sogar eher »anti-revolutionär«. Sie hielten nämlich an der sozialistischen Alternative fest. Eine substanzielle Wirtschaftsreform in Richtung einer Einführung marktwirtschaftlicher Prinzipien strebten stattdessen überwiegend nur die Reformer innerhalb der SED-PDS und Vertreter von Demokratie Jetzt in Form eines »Dritten Weges« noch bis zur Volkskammerwahl an.8 Streng genommen sorgten dann die überwiegend nicht-oppositionellen DDRBürger für ein Scheitern der Reformen dieser »Revolutionäre«, in dem sie im März 1990 die CDU, und somit den schnellen Beitritt zur BRD mit erwartetem materiellen Segen wählten.9 Es wäre zumindest in anschließenden, weiterführenden wissenschaftlichen Untersuchungen noch zu klären, ob die DDR-Regierung mit der weitgehenden Kanalisierung der Herbstforderungen, mit umfassender Reformpolitik, mit dem Gründen der Treuhandgesellschaft per Verabschiedung des Treuhandgesetztes vom 17. Juni 1990 sowie durch das vorzeitige und folgenschwere Einführen der D-Mark nicht doch für die eigentliche »Revolution«, jedoch »von oben« sorgte.10 Auch wäre die revolutionäre Rolle der BRD zu untersuchen, hatte der Bundeskanzler doch mit seinem 10-Punkte-Programm vom 28. November 1989 sowie mit dem vorgezogenen Staatsvertrag zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialreform eine sozialistischen Alternative, einen Dritten Weg, eine Reform innerhalb der DDR abgewendet und somit unter Umständen eine weitere »Revolution von oben« vollzogen. Die »Friedliche Revolution«, die im Erinnerungs- und Geschichtsnarrativ dominiert, ist als eine »Revolution von unten« schon allein in Anbetracht dieser Überlegungen doch erheblich in Frage zu stellen. Am Beispiel der Auflösung der Staatssicherheit lassen sich einstweilen schon konkretere Belege für ein stärkeres Maß an politischer Steuerung bzw. für eine »Revolution von oben« finden, als es der Erinnerungs- und Geschichtsdiskurs bisher offenbart. Die Errungenschaften der Stasi-Auflöser, die das Bild der »Friedliche
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Sabrow, Martin: »Der vergessene ›Dritte Weg‹«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 11 (2010), S. 7-8. 7 Segert, Dieter: »Der Traum vom ›Dritten Weg‹ in die Zukunft«, in: Sabrow, Martin (Hg.): Bewältigte Diktaturvergangenheit? (2010), S. 103. 8 Seibel, Wolfgang: »Die gescheiterte Wirtschaftsreform«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 11 (2010), S. 35ff 9 Sabrow, Martin: »Der vergessene ›Dritte Weg‹«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 11 (2010), S. 10 10 Seibel, Wolfgang: »Die gescheiterte Wirtschaftsreform«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 11 (2010), S. 40
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Revolution« im Zuge der 90er Jahre für sich vereinnahmen, erweisen sich bei näherer Betrachtung tatsächlich doch eher als ein Konglomerat aus Staatstreue und Folgsamkeit, schließlich Selbstmythologisierung als Überlebensstrategie. Weder gab es einen Sturm auf die »Runde Ecke« noch einen durch sie initiierten auf die MfS-Zentrale. Im Gegenteil. Die »Revolutionäre« taten sogar alles dafür, um eine Revolution und das Erstürmen der »MfS-Burgen«, und damit ein Ende der DDR abzuwenden. Sowohl in Leipzig als auch in Berlin war dies der Fall. So schützten am 04. Dezember Bürgervertreter das Leipziger MfS. Sie übernahmen bereits am Nachmittag gerade kein waffenstarres Gebäude, sondern bekamen Einlass in ein kampfunwilliges, ja ein auf Auflösung vorbereitetes Amt. Für sie galt es, einen Sturm auf die »Runde Ecke« im Zuge der Montagsdemonstration, einen Umsturz und das Ende der DDR zu verhindern. Das Ende des MfS war zu diesem Zeitpunkt politisch schon längst unter Modrow und Schwanitz entschieden. Die Köpfe vom MfS und von Schalck-Golodkowski mussten »rollen«, um die DDR zu reformieren und zu stabilisieren. Der Schutz der MfS-Beschäftigten, ihre Reintegration in die DDR-Gesellschaft sollte gelingen, hierzu brauchte es Sicherheitspartnerschaft und Gesetzte, die dann ja auch folgten. Selbst die Räumung der »Runden Ecke« sowie die Übergabe der Leipziger MfS-Gebäude an den Rat der Stadt war bereits am 03. Dezember 1989, also einen Tag vor dem verhinderten Sturm festgelegt worden. Es gab den Bürger- und Staatswillen die Fehlentwicklungen auch dort gewaltfrei abzuschütteln und die Gesellschaft auch im Bereich der Sicherheitspolitik zu reformieren. Die Tür zur BRD zu öffnen, stand noch nicht auf dem Programm, eher es ihr nachzumachen, durch das Gründen eines Verfassungsschutzes und eines Nachrichtendienstes. Fest steht, die Politik lenkte diesen Prozess. Ohne Zweifel reagierte sie auf die Demonstranten, aber sie reagierte, um zu kanalisieren, um abzuschwächen und vollzog damit vielleicht auch hier eher eine »Revolution von oben« als Reaktion auf den Reformdruck »von unten«. Noch bis Anfang Januar 1990 halfen die Bürgerkomitees beim Errichten der MfS-Nachfolgeeinrichtungen nach BRD-Vorbild. Ihre Aufarbeitung blieb auf die »falsche Sicherheitspolitik« des MfS beschränkt. Sie fungierten als Reformhelfer, von einem Sturz des Staates waren sie immer noch weit entfernt. Parallel war ihr Handlungsspektrum minimal, behielten doch die Auflöser aus den eigenen MfSReihen den Daumen drauf. Der Beschluss des Ministerrates vom 13. Januar sorgte für ein Ende der Pläne über MfS-Nachfolgeeinrichtungen. Der entscheidende Bericht der Regierung zur Inneren Sicherheit wurde verfasst, noch vor dem »Sturm der MfS-Zentrale« am 15. Januar entschieden und veröffentlicht. Er ging über die Forderungen der Bürgervertreter hinaus. Weder die Bürgerkomitees der Bezirke, noch das Berliner Auflösungskomitee, maximal die AG Sicherheit des Zentralen Runden Tisches in Berlin hatten in dieser entscheidenden Phase Einfluss auf die Regierungsentscheidungen gehabt. Hatte die Politik nicht erneut ohne die »StasiAuflöser« gehandelt? Trotz dieser Beschlusslage versuchten die Vertreter der Bürgerkomitees eher kontrarevolutionär als revolutionär auch den Sturm auf die Berliner Zentrale zu verhindern, der im Zuge der Demonstration des Neuen Forums am 15. Januar 1990 drohte. Es ist allgemein bekannt, dass die Akten auch nach dem 15. Januar im Zuge der Auflösung des MfS »unter Bürgerkontrolle« in Berlin und andernorts – mit
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Ausnahme in Leipzig – ungehindert weiter vernichtet wurden. Die Auflöser arbeiteten unterdessen für eine DDR-Regierung, die ihrerseits die Aufarbeitung der eigenen Geschichte bis zum 03. Oktober steuerte, die Entwicklungen zum Haus 1, zur »Runden Ecke« und zu Höhenschönhausen bis zum Beitritt zeugen davon. Die später projektierte Staatsferne traf also sowohl auf das Leipziger Bürgerkomitee als auch auf die Antistalinistische Aktion in Berlin, wie insgesamt auf die Geschichtsaufarbeitung der ersten Stunde nicht zu. Die ASTAK und das Bürgerkomitee Leipzig arbeiteten aufs Engste und z.T. in Personalunion mit den vom MfS eingesetzten Operativstäben, den Staatlichen Komitees und den städtischen Gremien zusammen, unterstützten auch in diesem Sinne die staatlich gelenkte Selbstauflösung der DDR-Staatssicherheit. Die ASTAK ging sogar aus Vertretern des MfS und des staatlichen Auflösungskomitees selbst hervor, das erste und bis 1992 einzige, umgesetzte Konzept der Gedenkstätte stammte aus der Feder von Günter Eichhorn und stand in der Tradition eines DDR-Museums, das eher ein revisionistisches Bild der DDR zeigte und nur das MfS als sozialistische Fehlbildung brandmarkte. Die Richtung bestimmten bis 1992 Heinz M., der sich schon am 13. Januar bei Modrow um die Stelle eines Museumsleiters im Haus 1 beworben hatte, und Heinz K., ehemaliger MfS-Mitarbeiter. Das Geld kam (u.a. auf Initiative Eichhorns) vom Ministerium für Kultur der DDR und von der PDS. Soweit die wenig ruhmreiche Gründungsgeschichte der Gedenkstätte Normannenstraße. Die maßgeblich durch den Bezirk finanzierte Ausstellung des Bürgerkomitees blieb dagegen eher zufällig in der »Runde Ecke«. Das Gründen eines Sonderdepots bzw. Dokumentationszentrums sollte die Mitglieder über Wasser halten. Am Ende wurde das Zufallsprodukt zum sicheren »Museumshafen«. Erst Ende der 90er Jahre entdeckte das Bürgerkomitee seinen Symbolwert. Die eigene Rolle bei der Auflösung wurde umgeschrieben, die Erzählung von einer »spontanen Besetzung der Runden Ecke von friedlichen Montagsdemonstranten« und die Selbststilisierung zu Revolutionären wurde Legitimationsmasse zur Verteidigung der Hausrechte gegenüber dem bzw. der BStU. Dies galt bis heute vor allem auch für das Haus 1. Ungeachtet der Tatsache, dass die Gedenkstätte im Haus 1 streng genommen auch DDR-staatlichen Ursprungs war, die »Revolutionäre« und ehemaligen Oppositionellen zudem erst allmählich ins Haus 1 einzogen, diente das Argument »Häuserstürmer ließen sich nicht auf die Straße setzen« bis heute dazu, den Verbleib der Bürgerinitiativen im Haus 1 gegen die BStU zu verteidigen.11 Versuche, sowohl das Haus 1 als auch die »Runde Ecke« in Koexistenz zur BStU zu bringen, das Haus 1 gar zu integrieren, scheiterten am Vorwurf, dies sei eine »Vernichtung von oben«. Offenkundig ist, die Durchsetzung des Geschichtsnarrativ einer »Friedlichen Revolution von unten« diente – und dies mag in der Tat ein positiver Effekt gewesen sein – vor allem den MfS-Opfern, Bürgerrechtlern und Oppositionellen einer überfälligen, öffentlichen Anerkennung sowie ihrer existenziellen Absicherung. Sie schrieben die Geschichte selbst und sie warfen ihre symbolischen Pfunde immer dann in die Waagschale, wenn es darum ging, das eigene Fortbestehen zu verteidi-
11 Hollersen, Wiebke: »Mielkes verlassene Stadt«, in: Der Spiegel 22 (2010), S. 40-42
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gen und öffentlich Gehör zu finden. Ein anderes Narrativ, wie das einer »Revolution von oben«, konnte sich erinnerungskulturell bislang nicht durchsetzen.12 Einseitige Lesarten des Herbstes 1989 und das häufige Dominieren antikommunistischer Stimmen standen einer ideologiefreien und komplexen Darstellung des Endes der DDR vielerorts entgegen. Vielschichtigere (Eigen-)Dynamiken und synchrone Handlungsstränge harren noch der weiteren historisch-wissenschaftlichen Verifizierung. In einem Punkt nur scheint historische Gewissheit: die Politik mit der Vergangenheit der SBZ und DDR hat die zeitgeschichtlichen Betrachtungen sowie das Erinnern und Gedenken wesentlich geprägt. Wie rund 20 Jahre nach dem Ende der DDR der Opfer der SBZ und DDR sowie dem Herbst 1989 erinnert und gedacht wird, wie Deutsche ihrer Zeitgeschichte begegnen, ist mehr als weniger ein erinnerungs- und geschichtspolitisches Produkt.
12 Templin, Wolfgang: »Das unselige Ende der DDR«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 11 (2010), S. 3-5
Quellen
AUSGEWERTETE ARCHIVBESTÄNDE ArASTAK Arbeitsgemeinschaft Gedenkstätten zur Diktatur in SBZ und DDR [AG SBZ/DDR] BStU Gauck BStU Gauck ab 01.01.1999 [BStU 1999] Geschichte Verein, Vorstandssitzung, Ablage 1990-1995 [Verein] ArBK DEMAG Lose Blattsammlung Parlamentarischer Gefängnisausschuss der SVV Bautzen [PGA SVV BZ] Vorgründungsdokumente Veranstaltungen II 1992 [Veranstaltungen II] Veranstaltungen 1993 1994 Grabpflege Karnickelberg ArBKL Ausstellungsbetrieb Arbeitskräfte Ausstellungserhalt, Baumaßnahme durch BStU – Schriftverkehr 1995/1996 [BStU 1995/1996] Ausstellungserhalt, Baumaßnahme durch BStU – Schriftverkehr 1997 [BStU 1997] Ausstellungserhalt, Baumaßnahme durch BStU – Schriftverkehr 1998 I [BStU 1998 I] Ausstellungserhalt, Baumaßnahme durch BStU – Schriftverkehr 1998 II [BStU 1998 II] Ausstellungserhalt, Baumaßnahme durch BStU – Schriftverkehr 1999 [BStU 1999]
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Ausstellungserhalt, Baumaßnahme durch BStU – Schriftverkehr 1999 II und 2000 [BStU 1999/2000] BKL Stelen BKL Stelen 2004 Heute vor 10 Jahren, Zusammenarbeit mit der Stadt [Heute vor 10, Stadt] Heute vor 10 Jahren, 4. Dezember [4. Dezember] Finanzen 1992-1995, Zuwendungen Stadt Leipzig institutionelle Förderung [Finanzen 1992-1995] Finanzen 1996-1997, Zuwendungen Stadt Leipzig institutionelle Förderung [Finanzen 1996-1997] Finanzen 1998-1999, Zuwendungen Stadt Leipzig institutionelle Förderung [Finanzen 1998-1999] Finanzen 2000-2002, Unterstützung Stadt Leipzig [Finanzen Lpz.] Finanzen 2000-2002, Unterstützung Freistaat Sachsen StSG [Finanzen StSG] Finanzen 2000-2002, Unterstützung Freistaat Sachsen [Finanzen Sachsen] Finanzen 2000-2002, Unterstützung Freistaat Sachsen/Landtag [Finanzen SächsLt] Finanzen 2000-2002, Unterstützung BR Deutschland [Finanzen BRD] Finanzen 2000-2002, Unterstützung BR Deutschland/Bundestag [Finanzen Dt. BT] Finanzen Bund/Land institutionelle Förderung 2002 [Finanzen 2002] Finanzen Bund/Land institutionelle Förderung 2003 [Finanzen 2003] Finanzen Bund/Land institutionelle Förderung 2004 [Finanzen 2004] Finanzen, Zuwendungen Kulturraum Leipziger Land 2003-2005 [Finanzen 2003-2005] Finanzen, Zuwendungen Landratsamt MTL 2003-2008 [Finanzen 2003-2008] Finanzen, Zuwendungen Gemeinde Machern [Finanzen Machern] Geschäftsablage o. Sign. ABL 1.26 4. 4.1 4.2 4.23 4.24 4.26 4.28 4.29 16. 16.1 16.2 16.4
Ereignisse in Leipzig September bis Dezember [1.26] Aufbau demokratischer Strukturen [4.] Runder Tisch der Stadt Leipzig [4.1] Runder Tisch Leipzig (Provenienz Frank Pörner) [4.2] Bürgerkomitee Leipzig e.V. [4.23] Bürgerkomitee der Stadt Leipzig (Provenienz Frank Pörner und Roland Mey) [4.24] Rat der Stadt Leipzig 1989-1990 [4.26] Neues Forum (Bestand Geschäftsstelle des Neuen Forums) September 1989-1991 [4.28] Neues Forum (von Bündnis 90/Grüne übergeben, Bestand Geschäftsstelle des Neuen Forums) September 1989-1991 [4.29] Ministerium für Staatssicherheit [16.] Ministerium für Staatssicherheit Abteilung XX [16.1] MfS Abt. XX [16.2] MfS-Auflösung [16.4]
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16.5 16.6
AfNS [16.5] Sicherheitspolitische Lage Herbst 89 (16.6.1-16.6.4) [16.6]
ArJVA BZ Lose Blattsammlung Sonderband Bautzen II/Außenstelle 530 E-50 [BZ II 530 E-50] 127 E 68-134, Band 2 [127 E] ArGBM H-16/1 Geschäftsablage o. Sign. ArGBZ Historische Pressesammlung, Band 2 1956-1990 [HP, Band 2] Historische Pressesammlung, 1991-2002 [HP, 1991-2002] Historische Pressesammlung, Anhang I Bautzen in den Medien 2000 [HP, Anhang I] Grabungsbericht Karnickelberg Dokumentation [GKD] Konzepte Bautzen [Konzepte] Speziallager Totenbuch [Totenbuch] ArGDH Da1 Akzeptanz Presse allgemein 1991-1997 [Da1] Da2 Akzeptanz Volksstimme – 1997 Funkmedien Zuschriften [Da2] Dd Denkmalpflege [Dd] De1 Eigentumsfrage Land Kreis [De1] De2 Eigentumsfrage, Kataster, Bund [De2] Dü Marienborn, HE, Gedenkstättenfrage, AK Höt-Mb [Dü] gD6 Grenzöffnung Wende, Presse vor 89-91 [gD6] Lose Blattsammlung ArGDT 11333, 8. Konzeptionen (8.1-8.5) [11333, 8] 11333, 9. Finanzierungskonzepte 9.2 Drittmitteleinwerbung 9.2.1/1-9.2.1/1-4 [11333, 9.2.1/1-4] 11333, 9. Finanzierungskonzepte – 9.1 Haushalt, 9.2 Drittmittel (9.2.1-9.2.5) [11333, 9.1/2] Geschäftsablage o. Sign.
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ArLStU Arbeitskreis ehemaliger politischer Häftlinge in der SPD [Arbeitskreis] Archiv 15. Januar Landesarchiv Archiv ASTAK Bestand Geschichte [ASTAK] ASTAK Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße [FOGE] BArch DO 104, 1-9 BArch DO 104, 10-13, 17-19, 24-26 BArch DA 1 17477 Deutscher Bundestag Enquete-Kommission, 15. Sitzung Berichterstattergruppe »Gedenkstätten« [Enquete-Kommission] Fachkommission Haus 1 Normannenstraße / Berlin-Lichtenberg Band 1 [FK, Band 1] Fachkommission Haus 1 Normannenstraße / Berlin-Lichtenberg Band 2 [FK, Band 2] Fachkommission Haus 1 Normannenstraße / Berlin-Lichtenberg Band 3 [FK, Band 3] Fachkommission Haus 1 Normannenstraße / Berlin-Lichtenberg Band 4 [FK, Band 4] Fachkommission Haus 1 Normannenstraße / Berlin-Lichtenberg Ablage [FK] Gedenkstätten SBZ/DDR Berlin, Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen [Gedenkstätten SBZ/DDR] 1989/90: Auflösung der DDR-Staatssicherheit 51.1 ASTAK e.V., BSV, Hauptausschuss (Finanzen) [51.1] 67.21 April 1995-Ende 2000, Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen [67.21 1995-2000] 67.21 Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen [67.21] Margitta Hinze MDA ASTAK MDA Bestand Gill RH/NF 024 1989/90: Auflösung der DDR-Staatssicherheit [1989/90] Geschäftsablage o. Sign. ArMI LSA 11330-1, Band 1 11330-2, Band 1 11331, Band 1 11331-2, Band 1 11331-2, Band 2 11331-2, Band 3 11331-8-3, Band 1 11331-9, Band 1 11331-9/1/Enquete-Kommission, Band 1 [11331-9/1] 11331-9/2/Enquete-Kommission, Band 1 [11331-9/2]
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11331-10, Band 1 11332-1, Band 1 11332-3, Band 1 11332-4, Band 1 11333, Band 1 11333-1, Band 1 11333-1, Band 2 11333-2, Band 1 11333-3, Band 1 11333-5/1, Band 1 11333-6, Band 1 11333-6/3, Band 1 11333-6/6, Band 1 11333-6/7, Band 1 11333-8/2, Band 1 11338-1/1/GD Hötensleben, Band 1 [11338-1/GDH/1] 11338-1/GD Hötensleben, Band 1 [11338-1/GDH] 11338-1/GD Hötensleben, Band 2 [11338-1/GDH/2] Geschäftsablage o. Sign. ArRHG
ArStkLSA ArStSG 2. Grundsätzliches Verträge, 2.1-2.2 [Grundsätzliches] 3. Gremien 1996, 3.1-3.3 [Gremien] 4. Sitzungen 1994-1995, 4.1-4.3 [Sitzungen] 5.1 Schriftverkehr Bautzen II 1991-1995 [5.1 BZ II 1991-1995] 5.1 Gedenk- und Begegnungsstätte Bautzen II 1996 [BZ II 1996] 6.6 Kabinettsangelegenheiten 6.5 Landtag 1995-1996 [Kabinett] 9. Presseveröffentlichungen 1992-1995 [Presse] Landtagsdrucksachen 1991-2004 [LtDrs.] Kabinettsvorlage Gremien 3. 1996, 3.1-3.3 Geschäftsablage o. Sign. BArch DA 1/17476 DA 1 17477 DC 20 I/3-2952 DO 104, 1-9 DO 104, 10-13, 17-19, 24-26
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BStU MfS HA VII/AKG ZMA Nr. 7195 PA Berlin
PA Dt. BT PA LtLSA PA SächsLt Privatbesitz Benno von Heynitz (PrBvH) Unterlagen über die Gründungsphase des BK 1990, I. Januar-Juni 1990 [Gründungsphase I] Unterlagen über die Gründungsphase des BK 1990, II. Juli-Dezember 1990 [Gründungsphase II] Unterlagen über die Gründungsphase, III. Anlagen [Gründungsphase III] Mitgliederinformation des BK 2001-1990, I. 2001-1994 [Mitgliederinformation I] Mitgliederinformation des BK 2001-1990, II. 1993-1990 [Mitgliederinformation II] Privatbesitz Eberhard Mundra (PrEM) Privatbesitz Günter Mühle (PrGM) Privatbesitz Winfried H. (PrWH) SächsStAL BDVP Leipzig 24.1, Nr. 1587 BDVP Leipzig 24.1, Nr. 2842 SED-Bezirksleitung, Nr. 1815 SED-Bezirksleitung, Nr. 1816 Bezirkstag und Rat des Bezirkes Leipzig, Nr. 21313 [BBLpz., Nr. 21313] Bezirkstag und Rat des Bezirkes Leipzig, Nr. 31253 [BBLpz., Nr. 31253] Bezirkstag und Rat des Bezirkes Leipzig, Nr. 31255 [BBLpz., Nr. 31255] Bezirkstag und Rat des Bezirkes Leipzig, Nr. 31256 [BBLpz., Nr. 31256] Bezirkstag und Rat des Bezirkes Leipzig, Nr. 31263 [BBLpz., Nr. 31263] StArL StVuR (1), Nr. 17720 StVuR (1), Nr. 17721 StVuR (2), Nr. 2192 StVuR (2), Nr. 2197 StVuR (2), Nr. 2199 StVuR (2), Nr. 2200 StVuR (2), Nr. 2203 StVuR (2), Nr. 2211 StVuR (2), Nr. 2212
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RTSL, Nr. 1-13 RTSL, Nr. 44 RTSL, Nr. 21 ZR (2), Nr. 11517 ZR (2), Nr. 11517, Band 2 ZR (2), Nr. 12689 StAufarb
Bernauerstraße Enquete-Kommission, 13. WP, SED 65 Enquete-Kommission, 13. WP, SED 146 Gedenkstätte Normannenstraße Gedenkstätte Hohenschönhausen, Veranstaltungen, Presse, Infomaterial [HSH Veranst.] Gedenkstätte Hohenschönhausen, Allgemeines, Briefwechsel [HSH Allg.] Gedenkorte Sachsen-Anhalt, Marienborn – Q Gedenkorte Sachsen, Leipzig Geschäftsablage o. Sign. Markus Meckel, Nr. 121 SWFKB Bericht der Bundesregierung 1997, Bericht der Enquete-Kommission 98’, Nr. 28 [Nr. 28] GBM, Nr. 20 GBM, Nr. 20.1 GBM, Nr. 463 GBM, Nr. 464 GBM, Nr. 465 GBM, Nr. 466 GBM, Nr. 467 GBM, Nr. 468 GBM, Nr. 469 GBM, Nr. 479 GBM, Nr. 480 GBM, Nr. 481 GBM, Nr. 682 GBM, Nr. 683 GBM, Nr. 685 GBM, Nr. K6 GBM, Nr. K11 GBM, Nr. K12 GBM, Nr. K15 GBM, Nr. K16 GBM, Nr. K17
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GBM, Nr. K18 GBM, Nr. KC 2, Band 1 GBM, Nr. KC 2, Band 2 GBM, Nr. KC 2, Band 3 GBM, AG Mauergedenken, AG Sitzungen GBM, Geschäftsablage o. Sign. Haus 1, ASTAK, Nr. 29.6 [Nr. 29.6] Haus 1, Nr. 29 [Nr. 29] Haus 1, Nr. 29.1 [Nr. 29.1] Haus 1, Nr. 29.2 [Nr. 29.2] Haus 1, Nr. 29.2.1 [Nr. 29.2.1] Hohenschönhausen, JVA, Genslerstr. 66 [Genslerstr. 66] Gedenkstätte Bericht der Bundesregierung/Enquete-Kommission, Nr. 22 [Enquete, Nr. 22] Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Bau, PBA, AG Evaluierung [Bau] Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Bedarfsprogramm Stand 05.07.2005 [Bedarf] Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, I-Planung 2002-2003 [2002-2003] Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, I-Planung 2004, 2005, 2006, 2007 [2004-2007] Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Haushalt 1995, 1996, 1997, Nr. 8.2 [Nr. 8.2] Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Haushalt 1997/1998 [Haushalt 1997-1998] Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Haushalt 1998/1999, Nr. 8.3 [Nr. 8.3] Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Nr. 14 [Nr. 14] Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Nr. 18 [Nr. 18] Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Nr. 19 [Nr. 19] Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Nr. 20 [Nr. 20] Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Nr. 21 [Nr. 21] Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Nr. 22 [Nr. 22] Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Nr. 31 [Nr. 31] Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Nr. 36 [Nr. 36] Geschäftsablage o. Sign. Grabungen in HSH, Konzeptionelle Vorgehen in HSH 1994, 1995, 1996, Allgem. Schriftverkehr [Konzeption 1994-1996] KA finanzielle Forderung der Gst HSH 1995/1996 [Finanzen 1995-1996] »U-Boot«, AG Hohenschönhausen, ABS Brücke, Nr. 28.1 [Nr. 28.1] »U-Boot«, Grundstücksangelegenheiten, Nr. 13 [Nr. 13] »U-Boot« Hohenschönhausen 1991-1994 Band 1, Nr. 5 [Nr. 5] »U-Boot«, Kommission, Nr. 9 [Nr. 9]
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AUSGEWERTETE P RESSEORGANE (1989-2008) Aus Politik und Zeitgeschichte Bautzener Bote Berliner Morgenpost Berliner Zeitung Bild Bild am Sonntag Blätter für deutsche und internationale Politik Bördespiegel Börde Volksstimme Braunschweiger Zeitung Bremer Nachrichten/Weser Kurier Das Parlament Der Sonntag Der Spiegel Der Stacheldraht Der Tagesspiegel Deutschland Archiv Die Brücke Die Freiheitsglocke Die Kirche Die neue Gesellschaft Die Tageszeitung Die Union Die Welt Die Zeit Dresdner Morgenpost Dresdner Neueste Nachrichten Focus Frankfurter Allgemeine Frankfurter Hefte Frankfurter Neue Presse Frankfurter Rundschau Freie Presse Gedenkstättenrundbrief Generalanzeiger Geschichte und Gesellschaft Hannoversche Allgemeine Zeitung Helmstedter Blitz Hilferufe von drüben Horch und Guck Junge Welt Konkret Lausitzer Rundschau
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Leipziger Volkszeitung Lettre International Magdeburger Volksstimme Märkische Allgemeine Märkische Zeitung Mitteldeutsche Zeitung Monumente Neues Deutschland Neue Zeit Oberlausitzer Kurier Sächsische Neueste Nachrichten Sächsische Zeitung Süddeutsche Zeitung Taz Thüringer Tageblatt Welt am Sonntag Westfälische Rundschau Wochenspiegel Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat Zeitschrift für Geschichte Zeitthemen
I NTERVIEWS /G ESPRÄCHE 22.04.2004 12.05.2004 12.05.2004 14.05.2004 11./12.01.2006 16.03.2006 12.01.2006 13.01.2006, 02./16.02.2006 01./15.02.2006 15.03.2006 15.03.2006 16.03.2006 17.03.2006 04.05.2006, 19.06.2006 31.05.2006 31.05.2006, 15.06.2006 29.06.2006 20.07.2006, 27.-28.09.2006
Maria Nooke (GBM), Berlin Mechthild Günther (HSH), Berlin Gabriele Camphausen (BStU, GBM), Berlin Pfarrer Manfred F. (Versöhnungsgemeinde), Berlin Jörg Morré (GBZ), Dresden/Bautzen Michael Beleites (LStU Sachsen), Dresden Norbert Haase (StSG), Dresden Burghard J. (JVA Bautzen), Bautzen Eberhard Mundra (Bautzen-Komitee), Bautzen Silke Klewin (GBZ), Bautzen Elisabeth Stange (Bautzen-Komitee), Bautzen Irmtraut Hollitzer (»Runde Ecke«, BKL), Leipzig Manfred Matthies (OFD), Bautzen Joachim Scherrieble (GDT), Marienborn Achim Walther (GDH), Hötensleben Thomas Veil, Rüdiger Thiele (MI LSA), Magdeburg Rüdiger Thiele (MI LSA), Magdeburg
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12.05.2004, 21.08.2006, 06.09.2006, 24.-25.01.2007 12.09.2006, 07.-08.02.2007 02.-03.04.2007, 20.04.2004, 13./20.09.2006 29.09.2006 12.05.2004, 15.01.2007 31.01.2007 14.03.2007 19.-21.03.2007
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Martin Gutzeit (LStU Berlin), Berlin Tobias Hollitzer (»Runde Ecke«, BKL), Leipzig Jörg Drieselmann (ASTAK), Berlin Lutz Miehe (Landesverwaltungsamt Magdeburg), Magdeburg Rainer Klemke (SWFKB), Berlin Wolfgang Mittlmeier (NLfD), Hannover Uwe Schwabe (ZFL, ABL), Leipzig Tanja Gottschalk (SWFKB), Berlin
I NTERNET www.blogs.uni-erlangen.de/News/stories/3468/ www.parlament-berlin.de/[…]/d15-5295.pdf www.havemann-gesellschaft.de/info219.htm (07.06.2006) www.havemann-gesellschaft.de/info222.htm (07.06.2006) www.stiftung-hsh.de (07.06.2006)
Literatur
Ash, Timothy Garton: Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, München 1995 Ash, Timothy Garton: »Diktatur und Wahrheit. Die Suche nach Gerechtigkeit und die Politik der Erinnerung«, in: Lettre International 40 (1998) Ash, Timothy Garton: »Zehn Jahre danach«, in: Institut für die Wissenschaften vom Menschen (Hg.): Transit. Europäische Revue 18 (1999) Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999 Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006 Assmann, Aleida/Harth, Dietrich (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a.M. 1991 Assmann, Aleida/Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit den deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999 Assmann, Jan: »Die Katastrophe des Vergessens. Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik«, in: Assmann, Aleida/Harth, Dietrich (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a.M. 1991 Assmann, Jan: »Erinnern, um dazuzugehören. Kulturelles Gedächtnis, Zugehörigkeitsstruktur und normative Vergangenheit«, in: Platt, Kristin/Dabag, Mihan (Hg.): Generation und Gedächtnis. Erinnerung und kollektive Identitäten, Opladen 1995 Assmann, Jan: »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, in: Assmann, Jan/Hölscher, Tonio: Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1988 Assmann, Jan: »Kollektives und kulturelles Gedächtnis. Zur Phänomenologie und Funktion von Gegen-Erinnerung«, in: Borsdorf, Ulrich/Grütter, Heinrich Theodor (Hg.): Orte der Erinnerung. Denkmal, Gedenkstätte, Museum, Frankfurt a.M./New York 1999 ASTAK e.V. (Hg.): Die Zentrale. Das Hauptquartier des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg, Berlin 2003 ASTAK e.V. (Hg.): Wegweiser durch die Ausstellungen der Forschungs- und Gedenkstätte im Haus I des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, Berlin 2003
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Camphausen, Gabriele: Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Geschichte des Geländes, in: Gedenkstätte Hohenschönhausen (Hg.): Informationen zur Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Die ehemalige MfS-Untersuchungshaftanstalt, 3. Aufl., Berlin 1998 Dalos, György: Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa, München 2009 Danyel, Jürgen (Hg.): Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten, Berlin 1995 Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (Hg.): Anatomie der Staatssicherheit. Geschichte, Struktur. Methoden. Die Organisationsstruktur des Ministeriums für Staatssicherheit 1989, Berlin 1996 Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung der Geschichte und Folgen der SED-Diktatur«, Baden-Baden 1995 Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit«, Baden-Baden 1999 Deutscher Bundestag (Hg.): Zwischenbericht der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit«, Bonn 1997 Diner, Dan: Kreisläufe. Nationalsozialismus und Gedächtnis, Berlin 1995 Drechsler, Ingrun/Faulenbach, Bernd/Gutzeit, Martin/Meckel, Markus/Weber, Herrmann: Getrennte Vergangenheit, gemeinsame Zukunft (=Das SED-Regime in vergleichender Perspektiven und die Bedeutung seiner Aufarbeitung, Band 4), München 1997 Drechsler, Ingrun: »Erfahrungen, Erkenntnisse und Empfehlungen der EnqueteKommission«, in: dies./Faulenbach, Bernd/Gutzeit, Martin/Meckel, Markus/Weber, Herrmann: Getrennte Vergangenheit, gemeinsame Zukunft (=Das SED-Regime in vergleichender Perspektiven und die Bedeutung seiner Aufarbeitung, Band 4), München 1997 Eckert, Rainer: »Straßenumbenennungen. Revolutionsforderung oder Ausdruck westlicher Kolonisierung«, in: Striefler, Christian/Templin, Wolfgang (Hg.): Von der Wiederkehr des Sozialismus. Die andere Seite der Wiedervereinigung, Berlin 1996 Eik, Jan: »Zur Topographie und Geschichte des Lichtenberger Stasi-Komplexes«, in: ASTAK e.V. (Hg.): Die Zentrale. Das Hauptquartier des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg, Berlin 2003 Elm, Ludwig: Das verordnete Feindbild. Neue Geschichtsideologie und »antitotalitärer Konsens«, Köln 2001 Elm, Ludwig: »DDR und ›Drittes Reich‹ im Vergleich. Kritische Anmerkungen zur Instrumentalisierung des Totalitarismustheorems«, in: Butterwegge, Christoph (Hg.): NS-Vergangenheit, Antisemitismus und Nationalismus in Deutschland. Beiträge zur politischen Kultur der Bundesrepublik und zur politischen Bildung, Baden-Baden 1997 Elm, Ludwig: »›Zwei Diktaturen‹ – ›Zwei totalitäre Regimes‹? Die EnqueteKommissionen des deutschen Bundestages und der konservative Geschichtsre-
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Huber, Wolfgang: Die Mauer ist weg, Frankfurt a.M. 2009 Ide, Robert: Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, in: Die neuen Architektenführer, Nr. 43, Berlin 2003 Jarausch, Konrad/Sabrow, Martin (Hg.): Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt/New York 2002 Jesse, Eckhard: Vergangenheitsbewältigung, Berlin 1997 Jesse, Eckhard: »War die DDR totalitär?«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 40 (1994) Kaminsky, Annette (Hg.): Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR, Leipzig 2004 Kaminsky, Annette: »Gedenkstätten für die Opfer des Stalinismus als ›Stiefkinder‹ der deutschen Erinnerungskultur?«, in: Faulenbach, Bernd/Jelich, Franz-Josef (Hg.): »Asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte?«, Essen 2005 Kirsch, Jan-Holger: Wir haben aus der Geschichte der DDR gelernt. Der 8. Mai als politischer Gedenktag in Deutschland, Köln/Weimar/Wien 1999 Kleßmann, Christoph/Misselwitz, Hans/Wichert, Günter (Hg.): Deutsche Vergangenheiten – eine gemeinsame Herausforderung. Der schwierige Umgang mit der doppelten Nachkriegsgeschichte, Berlin 1999 Kleßmann, Christoph: »Das Problem der doppelten Vergangenheitsbewältigung«, in: Die Neue Gesellschaft38 (1991) Kleßmann, Christoph: »Die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR – Erfolgcontra Misserfolgsgeschichte?«, in: Faulenbach, Bernd/Jelich, Franz-Josef (Hg.): »Asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte?«, Essen 2005 Klotz, Johannes/Schneider, Ulrich (Hg.): Die selbstbewusste Nation und ihr Geschichtsbild. Geschichtslegenden der Neuen Rechten – Faschismus. Holocaust. Wehrmacht, Köln 1997 Knabe, Hubertus: Die Täter sind unter uns. Über das Schönreden der SED-Diktatur, Berlin 2008 Knabe, Hubertus: »Das Haus des Terrors. Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen«, in: ders.: Stätten der DDR-Diktatur, Berlin 2004 Knigge, Volkhard/Mählert, Ulrich (Hg.): Der Kommunismus im Museum, Köln/Weimar/Wien 2005 Kocka, Jürgen: »Chance und Herausforderung. Aufgaben der Zeitgeschichte beim Umgang mit der DDR-Vergangenheit«, in: Faulenbach, Bernd/Meckel, Markus/Weber, Herrmann (Hg.): Die Partei hatte immer Recht – Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur, Augsburg 1994 König, Frank: Die Gestaltung der Vergangenheit. Zeithistorische Orte und Geschichtspolitik im vereinten Deutschland, Marburg 2007 König, Helmut/Kohlstruck, Michael/Wöll, Andreas (Hg.): Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Opladen/Wiesbaden 1998 Kowalczuk, Ilko-Sascha: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009 Krause-Vilmar, Dietfried: Zu den Aufgaben lokaler und regionaler Gedenkstätten. Beiträge für die Gegenwart und Zukunft. Statement auf der Fachtagung zur Standortbestimmung der Gedenkstättenarbeit am 12. und 13. Juni 1999, Weimar 1999
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Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt (Hg.): Gedenken, Nach-Denken, Voraus-Denken. Gedenkstätten, Dokumentationszentren und andere Einrichtungen, Magdeburg 2000 Langner, Hans-Ulrich: Das singende Pferd, in: Horch und Guck 23 (1998) Lipinsky, Jan: »Akten aus deutschen und sowjetischen Archiven. Neue Erkenntnisse über die sowjetischen Speziallager in Deutschland. Beispiel Bautzen«, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Die Akten der kommunistischen Gewaltherrschaft – Schlussstrich oder Aufarbeitung?. Dokumentation 5. Bautzen-Forum, Leipzig 1994 Lipinsky, Jan: »Häftlingsstruktur im Speziallager Bautzen aus sowjetischer Sicht«, in: Plato, Alexander von/Niethammer, Lutz (Hg.): Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945-1950, Berlin 1998 Loewy, Hanno: Holocaust. Grenzen des Verstehens, Reinbek 1992 Mählert, Ulrich: Kleine Geschichte der DDR, München 2004 Maier, Charles S.: »Zu einer politischen Typologie der Aussöhnung«, in: Institut für die Wissenschaften vom Menschen (Hg.): Transit. Europäische Revue 18 (1999) März, Peter/Veen, Hans-Joachim (Hg.): Woran erinnern? Der Kommunismus in der deutschen Erinnerungskultur, Köln/Weimar/Wien 2006 Maser, Peter: »Interview mit Eppelmann. Wirklichkeit und Wahn des ›Realen Sozialismus‹. Zur Aufarbeitung der SED-Diktatur durch eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages«, in: CDU/CSU-Bundestagsfraktion (Hg.): Zeitthemen 3 (1993) Meckel, Markus: »Demokratische Selbstbestimmung als Prozess«, in: Faulenbach, Bernd/Meckel, Markus/Weber, Herrmann (Hg.): Die Partei hatte immer Recht – Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur, Augsburg 1994 Morré, Jörg/Liebold, Cornelia: Totenbuch. Speziallager Bautzen 1945-1956, Bautzen 2004 Morré, Jörg/Liebold, Cornelia: Totenbuch. Speziallager Bautzen 1945-1956, Bautzen 2005 Morré, Jörg: »Das Speziallager Bautzen als Instrument sowjetischer Herrschaftssicherung«, in: Behring, Rainer/Schmeitzner, Mike (Hg.): Diktaturdurchsetzung in Sachsen. Studien zur Genese der kommunistischen Herrschaft 1945-1952, Köln 2003 Morsch, Günter: »Die Bedeutung kleinerer Gedenkstätten für die Erinnerungskultur in der Bundesrepublik Deutschland«, in: Gause, Detlev/Schomaker, Heino (Hg.): Das Gedächtnis des Landes. Engagement von BürgerInnen für eine Kultur des Erinnerns, Hamburg 2001 Moser, Thomas: »Hausbesitzer und Hausbesetzer – Oder: Wem gehört die StasiZentrale. Eine Dokumentation«, in: Horch und Guck 42 (2003) Mühlberg, Dietrich: »Vom langsamen Wandel der Erinnerung an die DDR«, in: Jarausch, Konrad H./Sabrow, Martin (Hg.): Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt a.M./New York 2002 Neubert, Ehrhard/Eisenfeld, Bernd (Hg.): Macht Ohnmacht Gegenmacht, Bremen 2001
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Neubert, Ehrhard: Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/1990, München 2009 Nevermann, Knut: »Holocaust-Mahnmal und Gedenkstätten als Kristallisationspunkte für die Erinnerungskultur in Deutschland«, in: Stiftung Topographie des Terrors (Hg.): Gedenkstättenrundbrief 96 (2000) Nooke, Günter: »Aufklärung und Verklärung«, in: Striefler, Christian/Templin (Hg.): Von der Wiederkehr des Sozialismus. Die andere Seite der Wiedervereinigung, Berlin 1996 Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990 Peschel-Gutzeit, Lore-Maria/Geigle, Birgit: »Die Bedeutung des Nürnberger Juristenprozesses für die justizielle Bearbeitung der DDR-Vergangenheit«, in: König, Helmut/Kohlstruck, Michael/Wöll, Andreas (Hg.): Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Opladen/Wiesbaden 1998 Pethes, Nicolas/Ruchatz, Jens (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung, Reinbek 2001 Plato, Alexander von/Niethammer, Lutz (Hg.): Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945-1950, Berlin 1998 Platt, Kristin/Dabag, Mihan (Hg.): Generation und Gedächtnis. Erinnerung und kollektive Identitäten, Opladen 1995 Pollack, Detlef: »Was ist aus den Bürgerbewegungen und Oppositionsgruppen der DDR geworden?«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 40-41 (1995) Probst, Lothar: »Deutsche Vergangenheiten – Deutschlands Zukunft. Eine Diagnose intellektueller Kontroversen nach der Wiedervereinigung«, in: Deutschland Archiv 2 (1994) Rauschenbach, Brigitte: Politik der Erinnerung, in: Rüsen, Jörn/Straub, Jürgen (Hg.): Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewusstsein, Frankfurt a.M. 1998 Reichel, Peter: Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, Frankfurt a.M. 1999 Reichel, Peter: Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, München 2001 Reichling, Norbert: »Erinnerungsorte der SBZ- und DDR-Geschichte«, in: Deutschland Archiv 5 (2002) Richter, Michael: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen, Göttingen 2009 Richter, Michael: Die Staatssicherheit im letzten Jahr der DDR, Weimar/Köln/Wien 1996 Rödder, Andreas: Deutschland einig Vaterland, München 2009 Rudnick, Carola: »Doppelte Vergangenheitsbewältigung«, in: Fischer, Torben/Lorenz, Matthias (Hg.): Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2007 Rüsen, Jörn/Straub, Jürgen (Hg.): Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewusstsein, Frankfurt a.M. 1998 Rüsen, Jörn: »Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art über Geschichte nachzudenken«, in: Füßmann, Klaus/Grütter, Heinrich Theodor/ders.: Historische Faszination. Geschichtskultur heute, Köln 1994
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Sabrow, Martin (Hg.): Bewältigte Diktaturvergangenheit? 20 Jahre DDRAufarbeitung, Leipzig 2010 Sabrow, Martin/Eckert, Rainer (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, Göttingen 2007 Sabrow, Martin (Hg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte, München 2003 Sabrow, Martin: »Wem gehört ›1989‹?«, in: ders.: Bewältigte Diktaturvergangenheit? 20 Jahre DDR-Aufarbeitung, Leipzig 2010 Sabrow, Martin: »Der vergessene ›Dritte Weg‹«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 11 (2010) Schabowski, Günter: Wir haben fast alles falsch gemacht. Die letzten Tage der DDR, Berlin 2009 Schneider, Ulrich: »Rolle rückwärts – vom politischen Gebrauch der Geschichte«, in: Klotz, Johannes/Schneider, Ulrich (Hg.): Die selbstbewusste Nation und ihr Geschichtsbild. Geschichtslegenden der Neuen Rechten – Faschismus/ Holocaust/ Wehrmacht, Köln 1997 Schöne, Jens: Erosion der Macht. Die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin, Berlin 2004 Schönfelder, Jan (Hg.): Das Wunder der Friedlichen Revolution, Leipzig 2009 Schönhoven, Klaus: Geschichtspolitik: Über den öffentlichen Umgang mit Geschichte und Erinnerung, Bonn 2003 Schraten, Jürgen: Die kollektive Erinnerung von Staatsverbrechen. Eine qualitative Diskursanalyse über die parlamentarische Bewertung der SED-Diktatur, BadenBaden 2007 Schweizer, Katja: Täter und Opfer in der DDR. Vergangenheitsbewältigung nach der zweiten deutschen Diktatur, Münster 1999 Segert, Dieter: »Der Traum vom ›Dritten Weg‹ in die Zukunft«, in: Sabrow, Martin (Hg.): Bewältigte Diktaturvergangenheit? (2010) Seibel, Wolfgang: »Die gescheiterte Wirtschaftsreform in der DDR 1989/1990«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 11 (2010) Siegmund, Jörg: Opfer ohne Lobby? Ziele, Strukturen und Arbeitsweise der Verbände der Opfer des DDR-Unrechts, Berlin 2002 Smolar, Aleksander: »Vergangenheitspolitik nach 1989. Eine vergleichende Zwischenbilanz«, in: Institut für die Wissenschaften vom Menschen (Hg.): Transit. Europäische Revue 18 (1999) Spreen, Dirk: »Schamkultur und Bußgemeinschaft. Die deutsche Erinnerungskultur ist nicht zeitgemäß«, in: Frankfurter Hefte 12 (2001) Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: 1. Tätigkeitsbericht, Berlin 2002 Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (Hg.): Tätigkeitsbericht 1998-2001, Berlin 2002 Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Geschichte des Speziallagers Bautzen. 1945-1956. Katalog zur Ausstellung der Gedenkstätte Bautzen, Dresden 2004 Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Hunger – Kälte – Isolation. Erlebnisberichte und Forschungsergebnisse zum sowjetischen Speziallager Bautzen 19451950, Dresden 1997 Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Spuren Suchen und Erinnern. Gedenkstätten für die Opfer politischer Gewaltherrschaft, Dresden 1996
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Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.): Stasi-Gefängnis Bautzen II. 1956-1989. Katalog zur Ausstellung, Dresden 2008 Striefler, Christian/Templin, Wolfgang (Hg.): Von der Wiederkehr des Sozialismus. Die andere Seite der Wiedervereinigung, Berlin 1996 Strotmann, Michael: »Die Last der Vergangenheit. Zum Umgang mit den StasiAkten«, in: Deutschland Archiv 12 (1993) Sühl, Klaus (Hg.): Vergangenheitsbewältigung 1945 und 1989. Ein unmöglicher Vergleich?, Berlin 1994 Süß, Walter: Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern, Berlin 1999 Templin, Wolfgang: »Der 15. Januar 1990«, in: ASTAK e.V. (Hg.): Die Zentrale. Das Hauptquartier des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg, Berlin 2003 Thaysen, Uwe: Der Zentrale Runde Tisch der DDR: Wortprotokoll und Dokumente, Band 1-5, Wiesbaden 2000 Thierse, Wolfgang et al.: »Tribunal als Forum der Aufklärung«, in: Deutschland Archiv 2 (1992) Troebst, Stefan: »Jalta versus Stalingrad, GULag versus Holocaust. Konfligierende Erinnerungskulturen im größeren Europa«, in: Faulenbach, Bernd/Jelich, FranzJosef (Hg.): »Transformationen« der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989, Essen 2006 Trotnow, Helmut: »Der historische Rückblick macht die Gegenwart verständlich. Die Bernauer Straße und die Gedenkstätte Berliner Mauer«, in: Verein »Berliner Mauer – Gedenkstätte und Dokumentationszentrum« (Hg.): Berliner Mauer. Gedenkstätte, Dokumentationszentrum und Versöhnungskapelle in der Bernauer Straße, Berlin 1999 Ullrich, Maren: Geteilte Ansichten. Erinnerungslandschaft deutsch deutsche Grenze, Berlin 2006 Verein »Berliner Mauer – Gedenkstätte und Dokumentationszentrum« (Hg.): Berlin. 13. August 1961. Werkschau des Dokumentationszentrums, Berlin 2001 Verein »Berliner Mauer – Gedenkstätte und Dokumentationszentrum« (Hg.): Berliner Mauer. Gedenkstätte, Dokumentationszentrum und Versöhnungskapelle in der Bernauer Straße, Berlin 1999 Verein »Berliner Mauer – Gedenkstätte und Dokumentationszentrum« (Hg.): Die Berliner Mauer. Ausstellungskatalog Dokumentationszentrum Berliner Mauer, Berlin 2002 Verein »Berliner Mauer – Gedenkstätte und Dokumentationszentrum« (Hg.): Grenzblicke. Werkschau des Dokumentationszentrums, Berlin 1999 Vergin, Siegfried: »Auftrag und Arbeit der Enquete-Kommission ›Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit‹ für den Gedenkstättenbereich«, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Erinnern, Aufarbeiten, Gedenken. 1946-1996. 50 Jahre kommunistische Machtergreifung in Ostdeutschland. Widerstand und Verfolgung. Mahnung gegen das Vergessen. Dokumentation 7. Bautzen-Forum, Leipzig 1996
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| DIE ANDERE HÄLFTE DER ERINNERUNG
Vergin, Siegfried: »Wende durch die ›Wende‹. Der lange kurze Weg zur Gedenkstättenkonzeption des Bundes«, in: Stiftung Topographie des Terrors (Hg.): Gedenkstättenrundbrief 100 (2001) Vorstand der SPD (Hg.): SOPADE Denkschriften 2/55: Die Straflager und Zuchthäuser der Sowjetzone. Gesundheitszustand und Lebensbedingungen der politischen Gefangenen, Bonn 1955 Voß, Gotthard: »Die innerdeutsche Grenze als Problemfall der Denkmalpflege. Beispiele aus Sachsen-Anhalt«, in: Deutsche Stiftung Denkmalschutz (Hg.): Verfallen und vergessen oder aufgehoben und geschützt? Architektur und Städtebau der DDR. Dokumentation (Band 51), Berlin 1995 Walther, Achim/Bittner, Joachim: Heringsbahn. Die innerdeutsche Grenze im Raum Hötensleben/Offleben/Schöningen 1945-1952, Braunschweig 2001 Weber, Hermann: Geschichte der DDR, München 2003 Weber, Hermann/Mählert, Ulrich (Hg.): Jahrbuch für historische Kommunismusforschung, Berlin 2007 Weber, Hermann: »Historische DDR-Forschung vor und nach der deutschen Einheit«, in: Deutschland Archiv 6 (2002) Weidenfeld, Werner (Hg.): Deutschland. Eine Nation – doppelte Geschichte, Köln 1993 Weidenfeld, Werner/Korte, Karl-Rudolph (Hg.): Handbuch zur deutschen Einheit, Bonn 1996 Wielenga, Frieso: »Schatten der deutschen Geschichte. Der Umgang mit der Naziund DDR-Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland«, in: Deutschland Archiv 10 (1994) Wilke, Manfred: »Berlin und das Erinnern an zwei Diktaturen. Zum Aufbau der Gedenkstätte Hohenschönhausen«, in: Süß, Werner (Hg.): Hauptstadt Berlin. Metropole im Umbruch (Band 3), Berlin 1996 Wilke, Manfred: »Die deutsche Einheit und die Geschichtspolitik des Bundestages«, in: Deutschland Archiv 4 (1997) Wilke, Manfred: »Wenn wir die Partei retten wollen, brauchen wir Schuldige. Der erzwungene Wandel der SED in der Revolution 1989/90«. Interview mit Wolfgang Berghofer, in: Weber, Hermann/Mählert, Ulrich (Hg.): Jahrbuch für historische Kommunismusforschung, Berlin 2007 Wolfrum, Edgar: Die Mauer. Geschichte einer Teilung, München 2009 Wolfrum, Edgar: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948-1990, Darmstadt 1999 Wolle, Stefan: DDR, Frankfurt a.M. 2004 Young, James E.: Formen des Erinnerns. Gedenkstätten des Holocausts, Wien 1997 Young, James E.: »Die Textur der Erinnerung. Holocaust-Gedenkstätten«, in: Loewy, Hanno: Holocaust. Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung von Geschichte, Reinbek 1992 Zimmer, Hasko/Flesser, Katja/Volmer, Julia: Der Buchenwald-Konflikt. Zum Streit um Geschichte und Erinnerung im Kontext der deutschen Vereinigung, Münster 1999
Histoire Thomas Etzemüller Die Romantik der Rationalität Alva & Gunnar Myrdal – Social Engineering in Schweden 2010, 502 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1270-7
Bettina Hitzer, Thomas Welskopp (Hg.) Die Bielefelder Sozialgeschichte Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Programm und seinen Kontroversen 2010, 464 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1521-0
Anne Kwaschik, Mario Wimmer (Hg.) Von der Arbeit des Historikers Ein Wörterbuch zu Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft 2010, 244 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1547-0
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Histoire Alexander Meschnig Der Wille zur Bewegung Militärischer Traum und totalitäres Programm. Eine Mentalitätsgeschichte vom Ersten Weltkrieg zum Nationalsozialismus 2008, 352 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-955-8
Stefanie Samida (Hg.) Inszenierte Wissenschaft Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert Juli 2011, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1637-8
Achim Saupe Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman 2009, 542 Seiten, kart., 44,80 €, ISBN 978-3-8376-1108-3
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Histoire Nicole Colin, Beatrice de Graaf, Jacco Pekelder, Joachim Umlauf (Hg.) Der »Deutsche Herbst« und die RAF in Politik, Medien und Kunst Nationale und internationale Perspektiven
David Kuchenbuch Geordnete Gemeinschaft Architekten als Sozialingenieure – Deutschland und Schweden im 20. Jahrhundert
2008, 232 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-89942-963-3
Timo Luks Der Betrieb als Ort der Moderne Zur Geschichte von Industriearbeit, Ordnungsdenken und Social Engineering im 20. Jahrhundert
Claudia Dittmar Feindliches Fernsehen Das DDR-Fernsehen und seine Strategien im Umgang mit dem westdeutschen Fernsehen 2010, 494 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1434-3
Thomas Etzemüller (Hg.) Die Ordnung der Moderne Social Engineering im 20. Jahrhundert 2009, 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1153-3
Petra Hoffmann Weibliche Arbeitswelten in der Wissenschaft Frauen an der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1890-1945 April 2011, ca. 442 Seiten, kart., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1306-3
Alexandra Klei, Katrin Stoll, Annika Wienert (Hg.) Die Transformation der Lager Annäherungen an die Orte nationalsozialistischer Verbrechen Februar 2011, 318 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1179-3
2010, 410 Seiten, kart., 37,80 €, ISBN 978-3-8376-1426-8
2010, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1428-2
Stefanie Michels Schwarze deutsche Kolonialsoldaten Mehrdeutige Repräsentationsräume und früher Kosmopolitismus in Afrika 2009, 266 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1054-3
Nina Möllers Kreolische Identität Eine amerikanische ›Rassengeschichte‹ zwischen Schwarz und Weiß. Die Free People of Color in New Orleans 2008, 378 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1036-9
Thomas Müller Imaginierter Westen Das Konzept des »deutschen Westraums« im völkischen Diskurs zwischen Politischer Romantik und Nationalsozialismus 2009, 434 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1112-0
Massimo Perinelli Fluchtlinien des Neorealismus Der organlose Körper der italienischen Nachkriegszeit, 1943-1949 2009, 380 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1088-8
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