Die DDR nach der DDR. Ostdeutsche Lebenserzählungen [1. ed.] 9783837931617, 9783837978575


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German Pages 314 [317] Year 2022

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Table of contents :
Inhalt
Abkürzungen
Einleitung
Entwertung(en)
Die Trauer um den dritten Weg
Ungerechte Urteile
Zweimal Opfer?
Arbeitslosigkeit als neuer sozialer Tatbestand
Biografische Brüche und Korrekturen
Orientierungsverlust
Die Veränderungen im Kunstbereich
Vertrauensverlust
Wiederaneignung(en)
Das Gefühl eines kollektiven »Wir«
Der Antifaschismus
Die Frage der Freiheit
Die Wut über vorschnelle Urteile
»Deutschland hat die Mauer durch eine gesellschaftliche Kluft ersetzt.«
Das Wahlverhalten
Das künstlerische Erbe der DDR
Aufwertung(en)
Dafür oder dagegen
Die deutsche Identität: Nach dem Untergang
Ein alternatives Gesellschaftsmodell
Erziehung
Die Rolle des Staates im Kulturbereich
Feminismus und Geschlechtergerechtigkeit
Die Heimat
Die DDR als Erbe
Entteufelung?
Das Paradigma des Totalitarismus
Alltagsgeschichte und Nachdenken über den »Eigen-Sinn«
Die »Diktatur der Grenzen«
Festhalten an Vorurteilen und Öffnungsversuche
Seit 2015: Ein neuer Blick?
Schlussbemerkung
Anhang
Biografische Interviews
Die lebensgeschichtlichen Interviews
Biografien der interviewten Personen
Chronologie
Literatur
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Die DDR nach der DDR. Ostdeutsche Lebenserzählungen [1. ed.]
 9783837931617, 9783837978575

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Agnès Arp, Élisa Goudin-Steinmann Die DDR nach der DDR

Forum Psychosozial

Agnès Arp, Élisa Goudin-Steinmann

Die DDR nach der DDR Ostdeutsche Lebenserzählungen Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Psychosozial-Verlag

Titel der französischen Originalausgabe: La RDA après la RDA. Des Allemands de l'Est racontent © Nouveau Monde éditions 2020 Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert im Rahmen des Programms »NEUSTART KULTUR« aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Deutsche Erstausgabe © 2022 Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG, Gießen [email protected] www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: Franz Wilhelm Seiwert, Der deutsche Bauernkrieg, 1932 Umschlaggestaltung und Innenlayout nach Entwürfen von Hanspeter Ludwig, Wetzlar ISBN 978-3-8379-3161-7 (Print) ISBN 978-3-8379-7857-5 (E-Book-PDF)

Inhalt

Abkürzungen

7

Einleitung

9

Entwertung(en) Die Trauer um den dritten Weg Ungerechte Urteile Zweimal Opfer? Arbeitslosigkeit als neuer sozialer Tatbestand Biografische Brüche und Korrekturen Orientierungsverlust Die Veränderungen im Kunstbereich Vertrauensverlust

27 28 32 42 47 53 67 72 82

Wiederaneignung(en) Das Gefühl eines kollektiven »Wir« Der Antifaschismus Die Frage der Freiheit Die Wut über vorschnelle Urteile »Deutschland hat die Mauer durch eine gesellschaftliche Kluft ersetzt.« Das Wahlverhalten Das künstlerische Erbe der DDR

87 88 94 104 114

Aufwertung(en) Dafür oder dagegen Die deutsche Identität: Nach dem Untergang Ein alternatives Gesellschaftsmodell

151 152 157 160

121 128 138

5

Inhalt

Erziehung Die Rolle des Staates im Kulturbereich Feminismus und Geschlechtergerechtigkeit Die Heimat Die DDR als Erbe

169 178 185 199 205

Entteufelung? Die DDR im Spiegel der wissenschaftlichen Forschung Das Paradigma des Totalitarismus Alltagsgeschichte und Nachdenken über den »Eigen-Sinn« Die »Diktatur der Grenzen« Festhalten an Vorurteilen und Öffnungsversuche Seit 2015: Ein neuer Blick? Schlussbemerkung

211 212 215 219 227 229 235

Anhang Biografische Interviews Die lebensgeschichtlichen Interviews Biografien der interviewten Personen

247 247 251

Chronologie 1961–2022

273

Literatur

293

6

Abkürzungen

ABM: BStU:

Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR DFD: Demokratischer Frauenbund Deutschlands (DDR-Frauenorganisation) EOS: Erweiterte Oberschule (9. bis 12. Klasse, Abitur) FDGB: Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (Einheitsgewerkschaft der DDR) FDJ: Freie Deutsche Jugend (Jugendbewegung der DDR) IM: Inoffizieller Mitarbeiter (der Staatssicherheit) LPG: Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (entsprach dem russischen Kolchos) MfS: Ministerium für Staatssicherheit NDPD: National-demokratische Partei Deutschlands (Blockpartei in der DDR) NVA: Nationale Volksarmee (der DDR) PDS: Partei des demokratischen Sozialismus (Nachfolgepartei der SED, 1990–2007) POS: Polytechnische Oberschule (1. bis 10. Klasse) RAF: Rote-Armee-Fraktion SED: Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (Staatspartei der DDR) VEB: Volkseigener Betrieb (staatlicher Betrieb in der DDR)

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Einleitung

Die 40 Jahre der Deutschen Demokratischen Republik1 wurden seit ihrem Ende ideengeschichtlich, wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch ausführlich analysiert. In jüngster Zeit konzentriert sich die Forschung immer mehr auf das Private. Der Historiker Yuri Slezkine schreibt in seinem Buch Das Haus der Regierung, die Gründer der Sowjetunion hätten die Welt verändern wollen, »das sowjetische Zeitalter freilich währte nicht länger als ein Menschenleben«.2 Es erscheint deshalb sinnvoll, dieses Zeitalter im Hinblick auf das Individuum und sein Alltagsleben zu betrachten. Wie aber findet man Zugang zu den Emotionen3 und Vorstellungen der Menschen? Wie, mit welchen Quellen lässt sich die Schwelle zum Privaten überschreiten, an der die Sozialwissenschaften oft scheitern, erst recht bei einer Gesellschaft, die einen radikalen politischen, administrativen, kulturellen und gesellschaftlichen Wandel erlebt hat? Zur Gründung der DDR führten verschiedene historische Faktoren. Unter anderem war sie das Projekt engagierter Kommunisten4, die in der Weimarer Republik politisiert worden waren und gegen Hitler gekämpft hatten. Sie träumten davon, der Welt zu zeigen, dass Deutschland nicht nur das Land der NSDAP und der Shoah war, sondern auch der erste westeuropäische Staat, in dem der Sozialismus und die klassenlose Gesellschaft triumphieren würden. Im Zeitraum von nur drei Generationen hat sich diese 1 Wie auch der anderen Volksdemokratien und die 70  Jahre seit der Oktoberrevolution 1917. 2 Yuri Slezkine, 2018, S. 1167. 3 Die Emotionsgeschichte hat sich besonders zu Beginn der 2000er Jahre in Deutschland als Forschungsgebiet der Geschichtswissenschaft weiterentwickelt, der Ansatz ist aber nicht neu. Siehe dazu Lucien Febvre, 1941, S. 5–20. 4 Um die Lesbarkeit des Textes zu vereinfachen, beschränken wir uns auf das generische Maskulinum.

9

Einleitung

Sehnsucht jedoch verbraucht. Die übergroße Mehrheit der DDR-Bürger5 freute sich über den Fall der Berliner Mauer. Heute, 30 Jahre später, wird die DDR je nach dem Prisma, durch das man blickt, sehr ambivalent entweder als Heimat, also als Land, in dem man aufgewachsen ist und dem man verbunden bleibt, oder als der Staat, durch den und in dem man gelitten hat, wahrgenommen. Gleichgültig lässt die DDR ihre früheren Bürger jedenfalls nicht. Die Vielzahl wissenschaftlicher Artikel und Sachbücher, das Phänomen der Ostalgie und ihre Vermarktung, die Berlin-Safaris im Trabant, die Spielfilme über die DDR und den Mauerfall zeugen auf ganz unterschiedliche Art und Weise vom großen Interesse für die sozialistische Erfahrung der DDR. Bei der Betrachtung der Geschichte der DDR-Bürger haben Rainer Gries und Thomas Ahbe sechs Generationszusammenhänge idealtypisch skizziert.6 Wir fassen sie hier kurz zusammen: Zu erwähnen sind zunächst die beiden ersten DDR-Generationen der »misstrauischen Patriarchen« und der »Aufbau-Generation«, die zwischen 1885 und 1935 geboren sind. Beiden sind die Erfahrungen des Krieges, der Gewalt, der Armut und der Niederlage gemeinsam.7 Sie erlebten noch die wichtige Rolle der Kommunisten in der Weimarer Republik und wuchsen unter dem Nationalsozialismus auf. Oft entschieden sie sich nach 1945 ganz bewusst für die spätere DDR, um am Aufbau des Sozialismus teilzunehmen. Das trifft z. B. auf den Theaterautor Bertolt Brecht (1898 geboren) zu. Der Dichter Franz Fühmann (1922 geboren) fasste die Überzeugung dieser Personen sehr gut zusammen, als er auf die Verantwortung der Deutschen vor der Geschichte hinwies, nach dem Ende des Dritten Reichs zu beweisen, dass ein echter Sozialismus existiere. Der Antifaschismus war maßgeblich für ihre Entscheidung, in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und späteren DDR zu leben, der sie angesichts des Traumas der deutschen Geschichte fest verbunden blieben: Persönlichkeiten wie die Schriftstellerinnen Anna Seghers und Christa Wolf sind nur zwei Beispiele.8 Die noch lebenden Vertreter 5 So hießen die Bewohner der DDR offiziell, das Wort »deutsch« kam in ihrer Bezeichnung nicht vor. 6 Zu den Generationen in der DDR siehe Thomas Ahbe, Rainer Gries & Annegret Schüle, 2006. 7 Für einen guten Überblick dazu und zur Definition von Generation und Generationszusammenhängen siehe Thomas Ahbe, 2020, S. 38–43. 8 Anna Seghers, 1900 geboren, entstammte einer jüdisch-orthodoxen Familie. Sie trat 1928 in die Kommunistische Partei Deutschlands ein. Ihre Bücher wurden von den Nazis verbrannt.

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Einleitung

dieser beiden Generationen erlebten den Prozess der Vereinigung sehr ambivalent. Natürlich hatten sie sich nicht alle frei entschieden, sich in der DDR niederzulassen und dort zu bleiben. Viele fühlten sich durch die Mauer, die in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 gebaut wurde, eingesperrt. Doch im Großen und Ganzen war für diese Menschen, die den Nationalsozialismus und den antifaschistischen Widerstand erlebt hatten, der Aufbau eines »besseren Deutschlands« Konsens und verdiente Unterstützung.9 Die beiden nächsten Generationen unterscheiden sich hauptsächlich dadurch, dass sie im realsozialistischen System aufwuchsen und all seine Etappen durchlebten: Sie sind zwischen 1935 und dem Ende der 1950er Jahre geboren und werden als »funktionierende Generation« und »integrierte Generation« definiert.10 Für viele von ihnen begann nach der Revolution von 1989 eine zunächst schwierige Zeit, denn mit 30 bis 50 Jahren kann ein persönlicher und beruflicher Neuanfang schwierig bis unmöglich werden. Menschen aus der »integrierten Generation« standen in beiden Systemen am längsten im Erwerbsleben und gehören zu den Hauptprotagonisten der Transformationszeit ab 1989. Zu den letzten beiden Generationen schließlich gehören die in 1960er Jahren geborenen Personen der »entgrenzten Generation« und die Generation der Wendekinder (ab 1970 geboren), die Jana Hensel in ihrem Roman Zonenkinder anschaulich beschreibt. Der Roman erzählt DDR-typische Kindheitserinnerungen, thematisiert das Leben in der Pionierorganisation, die Jugendweihe11 und andere Gemeinschaftserlebnisse. Diese Menschen waren noch jung, als die Mauer fiel; sie wurden mehr durch die nun folgenden Jahre der sozialen Unsicherheit ihrer Familie Sie ging ins Exil und ließ sich nach Kriegsende in Ostberlin nieder, trat der SED bei und wurde Präsidentin des Schriftstellerverbands der DDR. Christa Wolf, 1929 geboren, wuchs in Preußen auf. Vor der näher rückenden Roten Armee floh die Familie 1945 nach Mecklenburg. Wolf trat 1949 in die SED ein und blieb bis Juni 1989 Mitglied. 9 Siehe dazu das sehr gut dokumentierte Buch von Sonia Combe, 2022. 10 Siehe die sehr feinfühlige Untersuchung der 1949 Geborenen von Dorothee Wierling, 2002. 11 1955 fand in Ostberlin zum ersten Mal eine Jugendweihe statt. Ab 1958 wurde sie de facto Pflicht. Wer sich weigerte, am sozialistischen Ritual der Aufnahme in die Reihen der Erwachsenen teilzunehmen, und eine religiöse Zeremonie vorzog, musste mit Repressalien rechnen und durfte kein Abitur machen. In den 1970er und 1980er Jahren nahmen 97 Prozent der Jugendlichen an der Jugendweihe teil.

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Einleitung

und der Gesellschaft als durch das System der Vereinheitlichung durch die DDR-Gesellschaft geprägt, obwohl die Älteren schon in der Schule verschiedene Formen von politischem Druck begegnet waren (»Soll ich in die SED12 eintreten, damit ich studieren kann?«; »Wie kann ich dem dreijährigen Militärdienst entgehen?«; »Wie weit reichen meine Kompromisse mit dem System?«). Später, im vereinigten Deutschland, mögen sie ein schlechtes Gewissen gehabt haben. Sie fühlten sich als Überläufer, die ihre eigene Vergangenheit oder die ihrer Eltern verraten hatten, und meinten, ihrem ersten Leben noch etwas schuldig zu sein, weshalb sie keinen Schlussstrich ziehen konnten. Vielleicht gibt es deshalb so viele Romane der Wendeliteratur, die Bruchstücke einer glücklichen Kindheit in einem verschwundenen Land darstellen. Andere, wie Andrea Hanna Hünniger, geboren im Oktober 1984, befassen sich mit den Jahren unmittelbar nach dem Mauerfall.13 Hünniger veröffentlichte 2011 Das Paradies. Meine Jugend nach der Mauer, einen bissigen, ironischen Bericht über ihre Kindheit in Weimar und das Aufwachsen in den Ruinen des Sozialismus.14 Die große Gemeinsamkeit dieser Generationen bleibt die Erfahrung eines tiefen Bruchs am Ende der 1980er Jahre, der im Rückblick unweigerlich jede ostdeutsche Biografie in ein »Vorher« und ein »Nachher« spaltet. Das »Vorher« und die früheren Erfahrungen wurden hinweggefegt und von einem »Nachher« infrage gestellt, das Rechtfertigung, Diskussion und Anpassung verlangte und zugleich vielversprechend und voller neuer Möglichkeiten war. Eine Vereinigung15 der Bundesrepublik 12 Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, Regierungspartei in der DDR, hervorgegangen aus der Zwangsvereinigung zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten am 21. April 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone. 13 Sozialwissenschaftler lieferten vor ein paar Jahren eine interessante Nuancierung und sprechen von den Generationen der »Wendejugend« (1971 bis 1980) und der »Wendekinder« (1981 bis 1989). Siehe dazu Adriana Lettrari, Christian Nestler & Nadja Troi-Boeck, 2016. 14 Siehe Andrea Hanna Hünniger, 2011. 15 Neben dem Begriff »Vereinigung« findet man in den Medien oft den Begriff »Wiedervereinigung«. Genau genommen ist es falsch, von »Wiedervereinigung« zu sprechen, weil die Ostgebiete nach 1945 verlorengegangen sind. Manche behaupten deshalb, Deutschland sei nach dem Zweiten Weltkrieg nicht in zwei, sondern in drei Teile gespalten worden: Bundesrepublik, DDR und verlorene Gebiete. Abgesehen von Positionen im Bereich rechtsextremer Strömungen ist es heute Konsens, dass diese Gebiete nie mehr deutsch sein werden und dass die Bundesrepublik kein Anrecht mehr auf sie hat. Berücksichtigt man diese historische Realität, so ist der Begriff »Vereinigung« zutreffender

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Einleitung

mit der DDR, die Möglichkeit, dass die DDR verschwinden könne, blieb lange unvorstellbar. Ende der 1980er  Jahre öffneten sich in der DDR streng überwachte Freiheitsräume; immer deutlicher wurde das Gefühl, dass der Staat nur noch eine Fassade sei und dass selbst diese Fassade einzustürzen beginne. Es gibt zahlreiche ostdeutsche Romane, die diesen schmerzhaften Verfall der Gesellschaft im letzten Jahrzehnt der DDR beschreiben, einer der ersten war 1982 Der fremde Freund von Christoph Hein.16 Obwohl die Logik des Staates für einen sehr großen Teil seiner Bevölkerung zunehmend ihren Sinn verlor, rechnete niemand mit seinem so schnellen Zusammenbruch.17 Eine 40-jährige politische und gesellschaftliche Erfahrung wurde in nur wenigen Monaten zunichte gemacht. Die Heftigkeit, mit der man die Geschichte erlebte, findet sich in den Bezeichnungen des Ereignisses wieder, die sich je nach vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen sehr unterscheiden: Manche sprechen von »Wende«, andere von »friedlicher Revolution«, »Befreiung«, »Wiedervereinigung« oder »Einigung«, wieder andere von »Umsturz«, »Gegen-Revolution«, »Zusammenbruch«, »Beitritt« oder gar »feindlicher Übernahme«.18 Die »Wende«19, so der bis heute in der Umgangssprache am häufigsten gebrauchte Ausdruck, bezeichnet den Zeitraum vom Herbst 1989 bis zum Beginn der 1990er Jahre. Die zeitliche Begrenzung dieses historischen Moments wird unterschiedlich erlebt und bezeichnet nicht für alle dieselben Daten.

16 17 18

19

als »Wiedervereinigung«. 1990 benutzten die politischen Parteien der Bundesrepublik unterschiedliche Begriffe: Die CDU sprach von »Wiedervereinigung« und »Beitritt«, die FDP von »Vereinigung« und die SPD von »Einigung«. Die Grünen, die PDS und ein Teil der Bürgerbewegungen sprachen hingegen von »Vereinnahmung«, »Einverleibung« und »Ausverkauf der DDR«. Siehe dazu Michael Kaufmann, 1994, S. 177–190. Siehe z. B. Jens Bisky, 2004, Lutz Seiler, 2014, Regina Scheer, 2014 oder Uwe Tellkamp, 2008, unter vielen anderen Romanen. Siehe unter anderem Agnès Arp & Annette Leo, 2009. Siehe Agnès Arp, 2011, S. 106–115, und 2010, S. 221–233. Das letzte Buch von Ilko-Sascha Kowalczuk heißt Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde, 2019. Am 18. Oktober 1989 sprach Egon Krenz zum ersten Mal davon, dass eine »Wende« eingeleitet sei. Damit meinte er jedoch interne Reformen zum Erhalt der DDR. Siehe dazu Eckhard Jesse, 2007.

13

Einleitung

»Der Fall der Mauer im November 1989 und die deutsche Vereinigung im folgenden Jahr durch die Ausweitung des westdeutschen Modells auf die zusammengebrochene DDR sind symbolträchtige Momente der europäischen Zeitgeschichte oder der neueren und neuesten Geschichte und entziehen sich der üblichen Einordnung. Ein Zeichen für diese Unsicherheit bzw. dieses Zögern ist, dass die Bezeichnung Revolution, die damals weit verbreitet war, sehr schnell dem Begriff Wende weichen musste, also einem neutralen, rein deskriptiven Begriff ohne jeden analytischen oder normativen Wert.«20

Viele ehemalige DDR-Bürger beschreiben das Gefühl eines Abgrunds, der sich unter ihren Füßen auftat, sprechen von Erstaunen und Angst angesichts der plötzlichen Unvorhersehbarkeit, die den starren Strukturen der DDR folgte. Obwohl sich die Anhänger politischer Veränderung in den 1980er Jahren größere Freiräume erkämpft hatten, schien der sozialistische deutsche Staat für seine Bewohner bis zum Ende unerschütterlich. Heute, 30  Jahre nach dem Ende der DDR, hat die Mehrheit der ostdeutschen Bürger wieder Fuß gefasst und ein enormes Anpassungs- und Resilienzvermögen bewiesen. 1989 hat sich alles sehr schnell aufgelöst, ohne Gewalt und ohne sowjetische Panzer, deren Einsatz vor allem Michail Gorbatschow gegen den Willen einiger Mitglieder seiner Regierung verhinderte. Gestärkt durch den Sieg der Allianz für Deutschland bei den Wahlen in der DDR am 18. März 1990 traf der westdeutsche Bundeskanzler Helmut Kohl die Entscheidung, keinen neuen Staat mit einer neuen Verfassung zu gründen, sondern einen Grundgesetzartikel anzuwenden, der den Anschluss eines neuen Bundeslandes an die Bundesrepublik vorsah.21 Die Bundesrepublik hat also nie aufgehört zu existieren, sie hat die fünf neuen Länder in atemberaubendem Tempo »geschluckt«, »zurückgeholt«.22 Zweifellos wurde in diesem Moment eine Gelegenheit vertan, gemein20 Étienne François, 1999, S. 331. 21 Siehe die Chronologie am Ende des Buches. 22 Zahlreiche Wissenschaftler, Geografen, Historiker und Ökonomen hatten zwischen 1952 und 1975 in einem »Forschungsbeirat zur Wiedervereinigung Deutschlands«, der sich mit der Eventualität einer Wiedervereinigung befasste, Strategien entwickelt, um die Vereinigung unter guten Voraussetzungen zu begleiten und durchzuführen. Die Ergebnisse dieser Studien wurden 1990 ignoriert. Siehe dazu Agnès Arp, 1999.

14

Einleitung

sam über die Grundlagen eines neuen deutschen Staates nachzudenken. Wenn die Bürger beschlossen hätten, gemeinsam eine neue Verfassung zu schreiben, hätten sie sich mit den Unterschieden zwischen den beiden Systemen auseinandersetzen müssen und das Nationalitätenrecht (Abstammungsprinzip, wie in der Bundesrepublik, oder Geburtsortprinzip, wie in der DDR), das im Osten liberalere Abtreibungsrecht oder das in der DDR gesetzlich garantierte Recht auf Wohnung und Arbeit angleichen müssen. Vielleicht hätte sich so die Möglichkeit eröffnet, positive Aspekte der Sozialpolitik der DDR zu übernehmen. Das ist nicht geschehen, die DDR durfte nichts als Mitgift einbringen.23 Die einzige Reform, über die nicht verhandelt werden durfte, war die Bodenreform, die gleich nach dem Krieg noch in der sowjetischen Besatzungszone durchgeführt worden war, um die Großgrundbesitzer zu enteignen und ihr Land nach dem Vorbild der sowjetischen Kolchose zu kollektivieren. Diese Bedingung stellte Gorbatschow als unabdingbar für seine Unterschrift unter den Einigungsvertrag. Insgesamt wurde die Vereinigung so schnell vollzogen, dass es die früheren DDR-Bürger oft wie einen Dammbruch empfanden. Sie bewahren bis heute das Gefühl einer erbarmungslosen Radikalität der Ereignisse und zugleich ihrer Zufälligkeit. Zwischen 1990 und 2003 zogen zwei Millionen Ostdeutsche nach Westdeutschland, davon 1,4 Millionen in den ersten vier Jahren nach der Vereinigung. Das ist bei einer Bevölkerung von 16 Millionen eine große Zahl. Die frühere Bezirkshauptstadt Suhl im Süden des Bundeslandes Thüringen verlor 38 Prozent ihrer Einwohner. Heute liegt der Anteil der Unter-18-Jährigen bei 12,3 Prozent (1991: 23,9 Prozent) der Gesamtbevölkerung, bei den Über-40-Jährigen sind es 68,1 Prozent (1991: 41,7 Prozent).24 Die demografische Entwicklung innerhalb Deutschlands war seit dem 19.  Jahrhundert immer wieder von starken Bevölkerungsbewegungen geprägt. Die letzten 30  Jahre stellen keine Ausnahme dar: Zwischen 1991 und 2017 zog insgesamt ein Viertel der ostdeutschen Bevölkerung (3,68 Millionen Personen) in die alten Bundesländer. Die 2,45 Millionen Umzügler in die entgegengesetzte Richtung glichen diesen Verlust nicht aus. Die bevorzugten Ziele der Ostdeutschen lagen im Süden der alten Bundesrepublik. Der Zustrom qualifizierter Arbeitskräfte führte in 23 Wir verweisen hier auf eine kontrafaktische Betrachtung der Geschichte; siehe dazu unsere Schlussfolgerung am Ende des Buches. 24 Siehe Christian Bangel et al., 2019.

15

Einleitung

manchen westdeutschen Städten zu einem wahren Wirtschaftsboom.25 Die Ostdeutschen, die in den Westen gingen, waren jung, mehrheitlich weiblich und auf der Suche nach einer besseren Arbeit oder überhaupt Arbeit, einer Ausbildung oder einem Studienplatz. Erst seit 2017 verschiebt sich der Migrationssaldo zugunsten des Ostens. 2019 gab es 4.000 mehr Zuwanderer als Auswanderer in den fünf neuen Bundesländern. Zum Vergleich: 1991 wanderten 229.210 Ostdeutsche in den Westen ab, während nur 63.820 Westdeutsche in die neuen Länder kamen.26 Die Umkehr erklärt sich durch die gesunkene Arbeitslosigkeit und die gewachsenen Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten. Die ostdeutschen Universitäten in Leipzig, Dresden, Rostock, Jena, Potsdam oder Erfurt ziehen inzwischen Studierende aus ganz Deutschland an, die Vorteile im Hinblick auf die Lebensqualität sind beachtlich: ein viel besseres Netz von Kinderkrippen als Erbe der Sozialpolitik der DDR, tendenziell günstigere Mieten und für jene, die in ihre Herkunftsregion zurückkehren, die Nähe der Familie. Von dieser Entwicklung profitieren allerdings nur größere Städte. Leipzig gehört heute zu den dynamischsten Städten Deutschlands, seine Bevölkerung dürfte in den kommenden Jahren weiter wachsen. Jena behält seinen Inselstatus wirtschaftlicher Prosperität, während sich in den ländlicheren Regionen der demografische Rückgang und die dramatische Landflucht fortsetzen. Aus der Erfahrung der erbarmungslosen, radikalen Ereignisse, die das Leben auf den Kopf stellten, ist eine gewisse DDR-Nostalgie entstanden, die in den Erinnerungen vieler Ostdeutscher spürbar wird. Dieses Phänomen der Ostalgie, das in den 1990er und 2000er Jahren sehr ausgeprägt war, nimmt inzwischen ab. Es war Gegenstand zahlreicher Forschungsarbeiten, Artikel und Dokumentarfilme.27 Heute drückt es vor allem das Bedürfnis aus, die DDR-Gesellschaft aufzuwerten, gerade weil sie nicht die Überfülle an Konsumgütern kannte. Das Verlangen, sich von der Konsumgesellschaft zu distanzieren, gekoppelt mit einer zunehmenden Wachstumskritik, geht mit dem Wunsch nach anderen Leistungskriterien als dem Bruttoinlands25 Die Städte Erding und Freising im Norden von München erlebten ab 1992 einen außergewöhnlichen Boom und die stärkste Zuwanderung von Ostdeutschen. 27.000 Menschen ließen sich dort nieder, das entsprach einen Bevölkerungswachstum von etwa sechs Prozent in den beiden Städten. Siehe ebd. 26 Schon zu DDR-Zeiten ist die DDR-Bevölkerung von 18,89 Millionen Einwohner 1949 auf 16,62 Millionen Einwohner 1989 zurückgegangen. Siehe Statistisches Amt der DDR, 1963–1990. 27 Siehe Thomas Ahbe, 2013, S. 27–58, 2016, 2018, S. 14–22, und 2019, S. 10–17.

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Einleitung

produkt und nach einer gerechteren Verteilung des Reichtums einher. Dieses Umdenken passt zu den aktuellen gesellschaftlichen Themen wie z. B. der Notwendigkeit, die wirtschaftliche Entwicklung zu bremsen, um die Erde vor der Klimakatastrophe zu bewahren und das Rennen um ein »Immer-Mehr« und »Immer-Schneller« zu unterbrechen. In weiten Teilen der Bevölkerung wächst die Einsicht, dass man dem Streben nach Wachstum, selbst wenn es ein »grünes Wachstum« wäre, zu vieles, sogar Freiheit und Menschenwürde opfert. Es ist also sinnvoll, danach zu fragen, was die DDR heute darstellt, die wir »die DDR nach der DDR« nennen. »Solange die Hasen keine Historiker haben, wird die Geschichte von den Jägern erzählt«, schreibt Howard Zinn in seiner 1980 erschienenen Geschichte des amerikanischen Volkes.28 Darin geht es um die Rolle von Sklaven, Arbeitern, Gewerkschaftern und Einwanderern in der amerikanischen Geschichte von 1492 bis in die 1970er Jahre – all jenen also, die historisch kaum wahrgenommen wurden, obwohl sie die Geschichte der USA mitgeschrieben haben. Ein neuer Blick trifft gegenwärtig auch die DDR: Die Wissenschaftler interessieren sich für die Mehrheit ihrer Bürger, der »normalen« Menschen fern der Macht. Um zu verstehen, wie sich diese »DDR nach der DDR« heute darstellt, führten wir lebensgeschichtliche, narrative Interviews, um drei Aspekte zu vertiefen: 1. Zuerst geht es um die »DDR nach der DDR«, wie sie in den Erinnerungen fortbesteht, je nach Generation und Geschichte, die in der Familie erzählt wird: Wie wird die DDR 30 Jahre nach ihrem Verschwinden erzählt? 2. Der zweite Aspekt betrifft die »DDR nach der DDR«, wie sie heute im gesellschaftlichen Umgang spürbar ist: z. B. in Formen der Solidarität, in der Wahrnehmung bestimmter Berufe, vor allem im künstlerischen Bereich, oder auch bei den Wahlen, deren Ergebnisse sich zwischen Ost und West auf allen Ebenen deutlich unterscheiden. Dafür gibt es historische Gründe, aber auch Faktoren, die von der aktuellen Situation beeinflusst werden: Wie lässt sich eine lebendige Geschichte der DDR anders darstellen, als es in Medien, Museen29 und Geschichtsbüchern geschieht? 28 Siehe Howard Zinn, 2007. 29 In ihrem 2016 erschienenen Roman Familie der geflügelten Tiger beschreibt Paula Fürstenberg ihren Besuch im DDR-Museum in Berlin und ihre Fassungslosigkeit: »[U]nd bei nichts

17

Einleitung

3.

Schließlich richtet sich der Fokus auf die »DDR nach der DDR« in der wissenschaftlichen Forschung: Zahlreiche Historiker, Soziologen und Politikwissenschaftler beschäftigen sich mit der DDR und verzahnen heute Alltagsperspektiven (z. B. Quellen zu Gewerkschaften, Massenorganisationen, Amateursport oder Laienkunstgruppen in den Betrieben) und offizielle Quellen (Ministerium für Staatssicherheit, SED, andere Ministerien und Ämter): Was erfahren wir mit Blick auf die Fortschritte der Geschichtsforschung?

Die 30 lebensgeschichtlichen Interviews, die wir 2018 und 2019 in den neuen Bundesländern geführt haben, um diesem Buch die unverzichtbare biografische Dichte zu geben, umfassen eine breite Palette von Erinnerungen und Erfahrungen.30 Sie stimmen darin überein, dass niemand die Mauer wieder aufbauen möchte. Die Interviewten kommen aus ganz unterschiedlichen sozialen und Bildungsschichten. Bis auf zwei Männer, einen früheren Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, und ein Stasi-Opfer, das in seiner Jugend die staatliche Willkür in voller Wucht erfuhr, haben wir darauf geachtet, Aussagen von »normalen« Bürgerinnen und Bürgern zu sammeln, die weder Oppositionelle noch Funktionäre des Staates waren. Sie standen dazwischen – da, wo man sich irgendwie mit der Staatsmacht arrangierte, zugleich aber auch kritisch gegenüber dem Einfluss war, den die Politik im Alltag ausübte, und sich das bewahrte, was der Historiker Alf Lüdtke als »Eigen-Sinn« bezeichnet hat.31 Wir folgen ihren Lebenswegen und begeben uns auf eine Entdeckungsvon alldem kam Erinnerung auf, Erinnerung an eine Erzählung meiner Mutter oder an ein Foto von damals. […] Hier werden künstliche Erinnerungen fabriziert. Für Menschen, die nicht dabei waren« (S. 106f.). Siehe auch Carola Hähnel-Mesnard, 2020, S. 60. 30 Zu der Beschreibung der Interviews siehe das Kapitel im Anhang. Diese qualitative Methode erhebt natürlich kein Anspruch auf Repräsentativität. Wichtig wäre es noch, die Perspektive von Westdeutschen und von Personen mit Migrationshintergrund, die in die DDR gekommen sind, in die Auswertung zu integrieren, was uns aus zeitlichen Gründen leider nicht möglich war. 31 Wir wollen diejenigen anhören, die manchmal als die »schweigende Mehrheit« bezeichnet werden, Personen, die sich in keiner Richtung hervorgetan haben. Deshalb haben wir darauf verzichtet, aktive Mitglieder der Opposition, Dissidenten und Halb-Dissidenten zu befragen, aber auch Parteimitglieder aus Opportunismus, die auf ihre Karriere oder andere Vorteile bedacht waren. Wir legen den Schwerpunkt auf den »Eigen-Sinn« »einfacher Normalbürger«. Auf diese Konzepte kommen wir im vierten Kapitel zurück.

18

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reise durch die »DDR nach der DDR«. Dabei bleiben wir ganz nah an der von den Bürgern heute und damals erlebten Realität. Das erscheint uns aus mindestens einem entscheidenden Grund wichtig: Wir leben in einer Welt, in der wir ständig mit talking points, Werbung, Verschwörungstheorien, Sensationen und Fake News konfrontiert werden. Die Sozialwissenschaften müssen sich dazu positionieren, indem sie den Entstehungsprozess von Erkenntnissen sichtbar machen und versuchen, so konkret wie möglich die Realität des subjektiven Erlebten darzustellen, ohne darüber den kritischen Blick zu vernachlässigen. Die französische Historikerin Muriel Blaive schrieb im September 2017 in einem Artikel in Le Monde, dass fast 30 Jahre nach dem Ende des kommunistischen Systems die Wahrnehmung dieser Vergangenheit in Mitteleuropa immer noch von einem Schwarz-Weiß-Denken geprägt sei.32 Viele Beispiele belegen, dass Historiker, die nicht in den allgemeinen Chor einstimmen, in der Geschichtsschreibung an den Rand gedrängt werden. Ein extremes Beispiel ist der amerikanische Historiker polnischer Herkunft Jan Thomasz Gross, dem 2016 in Polen seine Auszeichnungen aberkannt wurden.33 Ihm droht dort eine Gefängnisstrafe, weil er anhand von Quellen belegt hat, dass im Zweiten Weltkrieg auch die Polen Pogrome gegen die Juden durchführten. Gleichzeitig versuchte die machthabende PiS-Partei, die Sammlungen des Museums des Zweiten Weltkriegs in Gdansk zu instrumentalisieren. Mit politischem Druck und mit Drohungen wurde es zu einer heroischen Darstellung der polnischen Geschichte genötigt. Der Direktor Paweł Machcewicz wurde entlassen, daraufhin kündigten mehrere Mitarbeiter, um ihre Unterstützung für ihn zu zeigen. Ungarn, ein Anhänger der »illiberalen Demokratie«, steht nicht besser da. Unverhohlen nutzt die Regierung das Gedenken an den antikommunistischen Aufstand von 1956 für ihre Zwecke. Dort wollte man 2002 ein »Haus des Schreckens, eine Art Spukschloss des totalitären Grauens [eröffnen], das die New York Times als Geschichtsmarketing bezeichnete«, schreibt Muriel Blaive.34 Dieser Versuch, die Geschichte und die Erinnerungen des ungarischen Volkes zu beschlagnahmen, dient in den Augen der aktuellen Regierung der »patriotischen Wahrheit«.35 32 33 34 35

Siehe Muriel Blaive, 2017. Siehe Sabine Adler, 2016. Muriel Blaive, 2017. Ebd. Auch in Albanien bietet sich heute ein tragisches Bild: Wissenschaftler, die sich mit dem Regime Enver Hodschas beschäftigen, werden zu personae non gratae erklärt,

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Angesichts dieser besorgniserregenden Entwicklungen erscheint es uns 30 Jahre nach dem Ende der DDR wichtig, über diese DDR zu sprechen und zu zeigen, was die Menschen erzählen, die ihr Leben hier verbracht haben, wie bestimmte gesellschaftliche Verhaltensweisen das Ende der DDR überlebt haben und welche grundlegende Rolle die Sozialwissenschaften spielen, um zu erfassen, wie die DDR-Erfahrung in der individuellen und kollektiven Erinnerung noch wirkt. Die Lebensberichte der in der DDR sozialisierten Menschen, gelangen in den öffentlichen Raum und können sich – hoffentlich – in ein kollektives und gemeinsames Gedächtnis integrieren.36 Der Begriff »Ostdeutsche« sagt eigentlich nicht viel aus und bezeichnet mehr eine Relation als eine Identität. Er schließt auch diejenigen ein, die in der DDR großgeworden und in den Westen geflüchtet sind, oder die zwischen 1949 und 1989 den umgekehrten Weg eingeschlagen haben, aber auch jene, die nach der Vereinigung geboren sind, aber im Osten in einer Familie leben, die ihnen von der DDR erzählt. Vielleicht sollte man diese Bezeichnung nicht verwenden, denn sie birgt die Gefahr, eine Identität zuzuschreiben und Klischees zu verfestigen, die eine Tendenz verstärken, die Deutschen zwischen Ost und West, zwischen neuen und alten Bundesländern zu »klassifizieren«. Der Begriff »ostdeutsch« ist ohnehin ein Konstrukt, das ausschließlich mit der DDR verbunden ist. Goethe hat in Leipzig studiert und in Weimar gelebt, aber soweit wir wissen, hat niemand Goethe je als »Ostdeutschen« bezeichnet. Trotzdem erfüllt der Begriff einen Sinn, denn die ostdeutsche Gesellschaft unterscheidet sich bis heute vom Rest der deutschen Gesellschaft: Die Kinder werden häufiger in Gemeinschaftseinrichtungen betreut, Männer und Frauen sind gleichberechtigter in den Arbeitsmarkt integriert, manche erhalten Morddrohungen (Janina Godole, 2021, S. 293–312). Brisant ist auch das Ende der im Dezember 2021 verbotenen Menschenrechtsorganisation Memorial, die seit 1989 Staatsverbrechen und politische Verfolgung in der Sowjetunion dokumentiert und publik gemacht hatte, und zwar von der Oktoberrevolution 1917 und bis zum letzten Tag der Sowjetunion 1991 − damit kein Opfer vergessen bleibt, so das große Ziel. Die »Internationale Gesellschaft Memorial« wurde vom Obersten Gericht Russlands mit dem Urteil vom 28. Dezember 2021 »liquidiert« – so der Wortlaut des offiziellen Dokuments. Am Tag darauf wurde vom Moskauer Stadtgericht außerdem das Menschenrechtszentrum »Memorial«, ein weiterer wichtiger Bestandteil der NGO, »liquidiert« (Anna Schor-Tschudnowskaja, 2022). 36 Siehe Agnès Arp & Annette Leo, 2009.

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die Wohlstandsunterschiede zwischen den Privathaushalten sind deutlich geringer. Es gibt auch überraschende Unterschiede: Die Mädchen im Osten weisen z. B. bessere Leistungen in Mathematik auf. Wir werden darauf zurückkommen. Diese Unterschiede sind erstaunlich hartnäckig. Der Titel eines im September 2018 erschienenen Buches von Jana Hensel und Wolfgang Engler lautet: Wer wir sind, die Erfahrung, ostdeutsch zu sein.37 Sie erklären in ihrem Dialog, dass ihnen die Gefahr bewusst sei, man könne ihnen vorwerfen, auf künstliche Art für alle Ostdeutschen zu sprechen, ein »Wir« zu konstruieren, das tatsächlich viel komplexer ist, als es auf den ersten Blick scheint. Was von der DDR heute bleibt, was die Erfahrung ausmacht, heute ostdeutsch zu sein, ist nicht nur das, was man in der DDR erlebt hat. Es sind auch die Erfahrungen nach dem Mauerfall, in den 1990er Jahren, als die DDR delegitimiert und auf eine Diktatur reduziert wurde, die die ganze Gesellschaft umklammerte und sich nur dank der Militärmacht der Sowjetunion halten konnte. Bis Anfang der 2000er Jahre wurden in Deutschland mehrere Erhebungen zur persönlichen Identifikation auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene durchgeführt. Fühlen sich die Befragten in erster Linie als Münchner, Sachsen, Deutsche oder Europäer? Die Umfragen ergaben, dass sich eine ständig wachsende Zahl der Befragten in den neuen Ländern vor allem als »Ostdeutsche« bezeichneten und damit auf eine Einheit bezogen, die weder politisch, noch ökonomisch oder administrativ definiert war, zugleich aber als Europäer. Die Zahl solcher Antworten stieg mit jedem Jahr. Diese Identifikation hat sich nach 1990 entwickelt, vor allem mit der Verbreitung von Klischees wie den »Jammer-Ossis« und als Reaktion auf vereinfachende, abwertende Urteile. Ihr Ursprung liegt in dem Umstand, dass sich eine Reihe sozialer Gewohnheiten, Neigungen und Verhaltensweisen im Umgang miteinander tatsächlich von denen der »Westdeutschen« unterschied. Das Gefühl einer gemeinsamen Zugehörigkeit ist auch aus der geteilten Erfahrung einer existenziellen wirtschaftlichen Krise nach der Vereinigung entstanden, die in verschiedener Hinsicht deutlich größer war als in den anderen Volksdemokratien, mit Ausnahme von Bosnien-Herzegowina. Das lässt sich an einer einzigen Zahl ablesen: 1994 sank die Geburtenrate in der Ex-DDR auf 0,77 Kinder pro Frau. In keinem anderen Staat der Welt (abgesehen vom Vatikan) und zu keiner Zeit wurde eine so niedrige Ge37 Siehe Wolfgang Engler & Jana Hensel, 2018.

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burtenrate registriert.38 Man plante keine Kinder mehr, weil die Zukunft zu ungewiss, zu prekär und vor allem das Tempo der Veränderung zu hoch war. Das ganze Wirtschafts- und Sozialversicherungssystem, ja das ganze politische System wurde auf einen Schlag radikal über den Haufen geworfen. In wenigen Monaten wurde die gesamte Elite ausgetauscht, wurden fast alle Gesetze, alle Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens geändert. Kein Wunder also, dass man die Folgen dieser Änderungen bis heute spürt. In La fille qui venait d’un pays disparu erzählt die aus der DDR stammende Französin Saskia Hellmund, dass bei Formularen, die im Internet auszufüllen sind, die DDR als mögliches Geburtsland fehlt. Sie muss also immer Deutschland als Geburtsland angeben, was historisch nicht exakt ist. Saskia Hellmund schreibt: »Angesichts der tiefen Krise der freien Marktwirtschaft könnten die Erfahrungen und das Wissen der Menschen, die mehr als ein Gesellschaftsmodell erlebt haben, wieder wichtig werden. Wenn man ihnen zuhört, werden sie sagen, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen das Wichtigste sind. Sie werden erzählen, dass man ohne Konsum glücklich sein kann. Sie werden sagen, dass der Staat die Ökonomie wenigstens teilweise kontrollieren und nach den Bedürfnissen der Bevölkerung planen und investieren muss.«39

Der DDR-Staat hat durchaus nicht immer auf Basis der »Bedürfnisse der Bevölkerung« investiert. Hellmund verbindet in ihrer Erinnerung die DDR mit dem höheren Stellenwert der zwischenmenschlichen Beziehungen, obwohl man vor dem Westfernsehen von der Konsumgesellschaft träumte, weil man sich ein völlig falsches Bild von dieser »Überflussgesellschaft« machte. Die Erfahrung des Zusammenbruchs ist eine ostdeutsche Erfahrung geblieben und kein Teil einer gemeinsamen Geschichte beider deutscher Staaten. Jana Hensel erzählt, dass sie die Fernsehserie Weissensee, von der wir noch sprechen werden, gesehen habe und froh gewesen sei, diesen Umbruch »nur« als Jugendliche erlebt zu haben.40 Deshalb war die Umstellung für sie leichter. Unzweifelhaft drängt die Erfahrung der Fragilität bei 38 Siehe ebd., S. 68. 39 Siehe Saskia Hellmund, 2015, S. 64f. 40 Siehe Wolfgang Engler & Jana Hensel, 2018, S. 69.

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einigen Bürgern Ostdeutschlands die Erfahrung der Demokratie in den Hintergrund. Nach 1945 hat sich die Demokratie in der Bundesrepublik mit Wirtschaftswunder, Vollbeschäftigung und Wiederaufbau des Wohlfahrtsstaates etabliert. 1990 kam sie in die DDR mit dem unaufhaltsamen Übergang zur Globalisierung und der Arbeit der Treuhandgesellschaft, die den Auftrag hatte, die »volkseigenen« Betriebe zu privatisieren, was letztlich zur Massenarbeitslosigkeit führte. Das macht einen sehr großen Unterschied im Leben der Menschen. Die ehemaligen DDR-Bürger erkämpften sich politische und zivilgesellschaftliche Rechte, doch anstelle des Wohlfahrtsstaates bekamen sie eine neue soziale, wirtschaftliche, manchmal existenzielle Unsicherheit.41 Um es klar auszusprechen: Die Begegnung mit der »rheinischen« parlamentarischen Demokratie wurde vom Kampf um das wirtschaftliche Überleben überschattet. Das Paradox dieser Erfahrung der Fragilität 1989/1990 ist der gewaltige Moment der Freude über die erste Revolution ohne Tote auf deutschem Boden. Auch sonst gab es in Europa nicht viele Revolutionen ohne Gewalt. Herbst und Winter 1989 waren eine Zeit unglaublicher kollektiver Begeisterung, aber auch großer Ängste, ein Tanz auf dem Vulkan, eine ganz besondere Atmosphäre, sehr fröhlich und sehr angespannt, mit einer gewaltigen Hoffnung, die anfänglich mit großer Furcht vor Repressionen einherging. Die Mehrheit der DDR-Bürger wünschte sich den politischen Wandel, weshalb die Formulierung »Zusammenbruch der DDR« nicht der aktiven Rolle gerecht wird, die die Bürger während der Revolution spielten. Diese Formulierung war sehr beliebt in den westdeutschen Medien und bei allen, die nicht an dieser Revolution teilgenommen hatten, die sie nur von außen verfolgten, beobachteten und stärker den Zusammenbruch eines Staates wahrnahmen als den Kampf der Bürger gegen das SED-Regime und die Staatssicherheit, gegen Unterdrückung und Willkür. Die Formulierung ist problematisch, weil sie den kollektiven Mut verschweigt, der nötig war, um die Veränderungen in Gang zu setzen, die zum Mauerfall führten. Im Juni 1989, nur wenige Monate zuvor, das dürfen wir nicht vergessen, hatte man in China, einem anderen kommunistischen Land, Panzer eingesetzt, um die Demonstrationen auf dem Tian’anmen-Platz in Peking blutig zu beenden. Es ist immer schwierig, die Dynamik einer Revolution im Nachhinein zu rekonstruieren. In der DDR spielten mehrere Faktoren eine Rolle, darunter die Situation in der Sowjetunion, der 40. Jahrestag der DDR und der 41 Siehe dazu Marcus Böick & Christoph Lorke, 2022.

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Besuch Gorbatschows in Berlin zu diesem Anlass. Es steht aber fest, dass die Friedensbewegung unter dem Dach der evangelischen Kirche und das Engagement der Bürgerrechtler, um ihr Land zu reformieren, die Montagsdemonstrationen und die Provokationen gegen die Staatsmacht eine entscheidende Rolle gespielt haben, ohne die Ausreiseströme von Menschen zu unterschlagen, die ihre Zukunft außerhalb der DDR sahen. Die DDR war zwar ziemlich am Ende, aber sie fiel nicht zusammen wie ein Kartenhaus. Im Hinblick auf dieses Engagement war der Herbst  1989 besonders bewegt: Eine ständig zunehmende politische Mobilisierung führte zur Bildung von Bürgerbewegungen. Man unterzeichnete Manifeste, gründete Runde Tische und entwarf Programme – kurz gesagt, man versuchte, eine neue Welt zu erfinden, indem man über die Zukunft der DDR nachdachte. Deshalb fühlten sich viele Menschen von der weiteren Entwicklung überrumpelt und hatten das Gefühl, von einer Ideologie, dem Sozialismus, direkt zu einer anderen, dem Wirtschaftsliberalismus, der Allmacht der Marktwirtschaft, der Unterordnung der Politik unter das Wachstumsstreben, zu wechseln. Vielleicht wird deshalb seit ein paar Jahren wieder so viel über die DDR gesprochen und nicht nur, weil die Jubiläen von Vereinigung und Mauerfall immer Anlass sind, Bilanz zu ziehen. Sie wird wieder zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen, weil sie in einer Zeit, in der der Kapitalismus für die wachsende Ungleichheit, den Klimawandel und internationale Spannungen verantwortlich gemacht wird, als alternatives Gesellschaftmodell erscheint, das einiges zu bieten hatte, auch wenn wir die diktatorischen Aspekte keinesfalls relativieren wollen. Manche Journalisten sprechen von einer Westalgie, nicht direkt als Äquivalent zur Ostalgie, sondern eher als unabhängiges Phänomen, das mit den jüngsten Entwicklungen der westdeutschen Gesellschaft zu tun hat, vor allem mit dem Feminismus, der Zuwanderung, der Bewusstwerdung der Grenzen des Kapitalismus – mit Bewegungen, die die gesellschaftliche Debatte verändern. Der Journalist Christian Bangel vergleicht das Phänomen in der ZEIT mit der Verzweiflung eines Vaters, der allmählich die Kontrolle über seine heranwachsenden Kinder verliert: »Erst wollen die Frauen mitreden, dann die Moslems, dann die Transgender-Leute, jetzt auch noch die Ossis.« Die Eliten der früheren Bundesrepublik hätten Mühe loszulassen, zu akzeptieren, dass sie ihre Autorität verlieren, dass sie nicht mehr entscheiden können, wer benachteiligt ist und wer nicht. Diese Wehmut 24

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nach einer »scheinbar geordnete[n] Vergangenheit, hier ohne Neonaziossis und Heimatdebatten, dort ohne Veganer, #metoo und Deutschtürken, die Bücher schreiben«,42 ist natürlich ein gesellschaftliches Konstrukt. Das Problem ist, dass sich diese Westalgie gern hinter der Sorge um die Demokratie versteckt, sich damit gewissermaßen unangreifbar macht und suggeriert, dass das andere Deutschland auch noch 30 Jahre nach dem Mauerfall in seinem Wesen eine Bedrohung für die demokratische Ordnung darstellt. So besteht also 30 Jahre nach der Vereinigung eine Bruchlinie fort, beide Deutschlands bleiben einander fremd, auch wenn alles gleich ist. Die Beziehung zur DDR ist im vereinigten Deutschland nicht ungetrübt. Das zeigt sich im Alltag der Westdeutschen, die sich in den neuen Ländern niedergelassen haben: in Ostberlin, Brandenburg, Thüringen, Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt. Es zeigte sich auch 2004 in der Diskussion über die Zukunft des Palastes der Republik, einem symbolträchtigen Bauwerk der DDR. Er wurde abgerissen und durch das Schloss der Hohenzollern ersetzt, um Berlin sein früheres Gesicht zurückzugeben, nachdem die DDR-Bürger von den SED-Funktionären immer wieder gehört hatten, dieses Schloss habe den Adel und den preußischen Militarismus symbolisiert. Im Juli 2021 eröffnete das neue Schloss seine Tore. Wir schlagen also eine Bestandsaufnahme der »DDR nach der DDR« vor: Was ist die DDR heute? Wie zeigt sich das politische und historische Erinnerungsobjekt im kollektiven Gedächtnis, in den Medien, in den Haltungen der politischen Verantwortlichen und in der wissenschaftlichen Forschung? Anders gesagt: Quo vadis, DDR heute? Wir betrachten eine Entwicklung, die mit der kollektiven Erfahrung von massiven biografischen Entwertungen begann, und die heute, nach einer Phase der kollektiven und individuellen, meist schüchternen und lautlosen Wiederaneignung, zu einer Aufwertung der Vergangenheit und der gemachten Erfahrungen führt. Wir beschäftigen uns mit so vielfältigen Themen wie Erziehung, Pflege, Arbeitslosigkeit, beruflicher Entwicklung, Antifaschismus, Freiheit, Konsum, Erbe, Vertrauen, Vaterland, Individualismus, dem Aufstieg der extremen Rechten oder der Stellung der Frau. Das letzte Kapitel über die DDR in der wissenschaftlichen Forschung unterstreicht die Entwicklung des Blicks, mit dem Wissenschaftler auf dieses »andere« Deutschland schauen. Nachdem dieses Buch, das wir bewusst für eine breitere, außerakade42 Christian Bangel, 2019.

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mische Leserschaft geschrieben haben, bei den französischen Lesern auf ein überraschend großes Interesse gestoßen ist, freuen wir uns darauf, nun Leser sowohl in den neuen als auch (und vielleicht vor allem) in den alten Bundesländern zu gewinnen. Mit diesem Buch möchten wir Menschen erreichen, die in der Geschichte der ostdeutschen Lebenswege mehr als eine bloße DDR-Geschichte sehen.43 Dieses Buch wäre ohne das Vertrauen und die Bereitschaft unserer Interviewpartnerinnen und -partner, uns ihr Leben zu erzählen, nicht zustande gekommen. Wir möchten uns ganz herzlich bei ihnen bedanken. Schließlich sind wir für die intensive und produktive Zusammenarbeit mit unserer Übersetzerin Claudia Steinitz sehr dankbar, die auch ihre eigene Geschichte und ihre Erinnerungen in die Arbeit eingebracht hat.

43 Viele in den alten Bundesländern sozialisierte Deutsche betrachten die Geschichte der DDR und der neuen Bundesländer immer noch als die Geschichte eines anderen Landes. Eine solche Externalisierung ist auf emotionaler Ebene gefährlich und auf sachlicher Ebene auch falsch, da die deutsche Vereinigung nicht nur die neuen Bundesländer in einen Anpassungsprozess an westdeutsche Standards zwang, sondern das vereinte Deutschland als Ganzes eine »Ko-Transformation« (Philipp Ther) erlebte, die sich auf vielen Ebenen in den alten Bundesländern niederschlug.

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Der ostdeutsche Schriftsteller Christoph Hein macht keinen Hehl aus seiner Bitterkeit über die Vereinigung, die er in einer seiner 28 autobiografischen Anekdoten aus dem Band Gegenlauschangriff – Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege als »Schrottgewehrheirat«44 bezeichnet. In der Anekdote »Verwachsen« erzählt er die folgende Szene: Bei einer Kur im badischen Bad Rappenau lernte eine Freundin von ihm zwei Damen kennen, die aus Baden-Württemberg stammten. Die eine war Buchhändlerin, die andere leitete einen Lesekreis. Die Freundin des Autors fragte sie, ob sie auch ostdeutsche Autoren lesen würden. Die Damen schüttelten den Kopf und erwiderten, »so etwas« interessiere sie nicht. Treffender, so Christoph Hein, lasse sich der gegenwärtige Zustand des deutsch-deutschen Verhältnisses kaum auf den Punkt bringen. Während die DDR-Literatur internationale Anerkennung genießt und mehrere Autoren, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden, internationale Literaturpreise45 erhalten haben, kennt eine Westdeutsche, die sich als Literaturliebhaberin vorstellt, keinen einzigen ostdeutschen Autor. Die Geschichten, die 30 Jahre später im Familienkreis erzählt werden, hängen natürlich davon ab, wie sehr der Mauerfall das Familiengleichgewicht und die Lebensläufe der Angehörigen beeinflusst hat. Je nach Generation und Familie, in der man aufgewachsen ist, kann die Erinnerung an die DDR ganz unterschiedliche Formen annehmen. Der erste wesentliche Punkt im Rahmen dieser Erinnerung ist das Thema der Entwertung. Die DDR-Bürger mussten sich mit der weitreichenden Diskreditierung des Staates auseinandersetzen, in dem sie aufge44 Christoph Hein, 2019, S. 78. 45 Der angesehene bundesdeutsche Büchner-Preis ging 1980 an Christa Wolf und 1985 an Heiner Müller – zwei wichtige Protagonisten der DDR-Literatur.

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wachsen waren, gearbeitet und gelebt, mit dem sie sich manchmal identifiziert hatten. Die Spuren dieser Auseinandersetzung sind heute noch sichtbar. Beginnen wir also mit dem Begriff der Entwertung und ihren Folgen für das Leben der Ostdeutschen.

Die Trauer um den dritten Weg Die DDR hatte einige Besonderheiten gegenüber den anderen sozialistischen Ländern: Aus Deutschland stammten wichtige Persönlichkeiten der Arbeiterbewegung, angefangen bei Karl Marx, deshalb bewahrte sie ein kostbares Erbe des Sozialismus, das seit dem 19. Jahrhundert von der deutschen Sozialdemokratie verkörpert wurde. Lange vor den Bruderkämpfen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten während der Weimarer Republik entstand eine sehr reiche Arbeiterkultur, deren Erbe in der DDR aufgenommen, teilweise aber auch entstellt wurde. Dieses Erbe drückt der Diskussion über eine notwendige andere Geschichtsschreibung für die DDR ihren Stempel auf. Bei allen Betrachtungen der Geschichte der DDR, die es nicht verdient hat, so entwertet und von außen delegitimiert zu werden, muss die Möglichkeit eines dritten Wegs mitbedacht werden. Zwischen den ersten Protesten gegen Wahlfälschungen bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 und den Wahlen im März 1990 gab es nämlich mehrere Szenarien, die sich unter dem Begriff »dritter Weg« zusammenfassen lassen. Gemeint ist der Fortbestand einer unabhängigen, demokratischen und sozialen DDR, die Gründung einer »Konföderation« mit der Bundesrepublik oder einen allmählichen Weg hin zu einer Vereinigung, die zu einem neuen Staat hätte führen können, der Elemente beider Staaten vereint. Diese verschiedenen »nicht-eingetretenen Möglichkeiten«46 haben einen Vorläufer, den man nicht vergessen darf: Zwischen 1945 und 1946 gab es in der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, eine Koexistenz der Kommunisten in der KPD und der Sozialdemokraten in der SPD, die sich ebenfalls neu aufstellten. Die Sozialdemokratie im Osten war grundsätzlich radikaler als im Westen, trat aber entschieden für einen Pluralismus ein. Viele Sozialdemokraten wollten zum Reformismus der Sozialdemokratie von vor 1914, also vor dem »Verrat« der Zustimmung für 46 Quentin Deluermoz & Pierre Singaravélou, 2016.

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Die Trauer um den dritten Weg

die Kriegskredite,47 zurückkehren. Die historisch in Thüringen verwurzelte SPD holte ihre früheren Anhänger zurück und prangerte auch die Gewalt der sowjetischen Besatzung an. Sie hatte viele aktive Mitglieder und genoss im Osten eine größere Beliebtheit als die KPD. In dieser Hinsicht war der historische Kontext für einen dritten, sozialistischen und pluralistischen Weg recht günstig. Wer darauf hoffte, hatte allerdings nicht mit der Entschlossenheit der von Walter Ulbricht geführten Gruppe kommunistischer Remigranten aus Moskau gerechnet, die unter allen Umständen die »Einheit der antifaschistischen demokratischen Kräfte« durchsetzen wollte. Erst danach würde der Sozialismus entstehen. Wolfgang Leonhard, der zu den Moskau-Heimkehrern gehörte, aber im März 1949 mit dem Kommunismus brach, beschreibt sehr genau die Tage und Wochen bis zur (Zwangs-)Vereinigung von KPD und SPD am 21. April 1946 in der sowjetischen Besatzungszone. Die deutschen Kommunisten der Ulbricht-Gruppe konnten bei ihrer Offensive gegen die Mitglieder der SPD auf die Unterstützung der Sowjetunion zählen.48 Es gab starke innere Widerstände, denen jedoch auch die weitverbreitete Überzeugung entgegenstand, dass die Vereinigung der Arbeiterbewegung angestrebt werden müsse. Nach einigen Monaten legte die Sowjetunion angesichts wachsender internationaler Spannungen und des beginnenden Kalten Kriegs den Kurs der aus der Vereinigung entstandenen Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) fest. Das war das Ende der Hoffnungen auf einen »dritten Weg« und der Beginn der SED-Herrschaft. Die Fortsetzung ist bekannt: politische Säuberungen, die Niederschlagung des Arbeiteraufstands von 1953, das Verbot jeder politischen Opposition und mehrere Jahrzehnte Polizeistaat. Das sozialistische Ideal wurde weitgehend entstellt. Im Januar 1988 nutzten verschiedene Oppositionelle die traditionelle staatliche Gedenkdemonstration für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, um die SED-Funktionäre mit Zitaten der 1918 ermordeten sozialistischen Politiker über die freie Meinungsäußerung zu konfrontieren. Dass sie sich auf diese beiden nicht-leninistischen Politiker beriefen, war natürlich kein Zufall. 47 Am 4. August 1914 stimmte die SPD-Fraktion im Reichstag den Kriegskrediten für den Ersten Weltkrieg zu und stellte sich damit an die Seite Wilhelms II. Viele sahen darin einen nie dagewesenen Verrat der SPD an ihren eigenen Prinzipien. Rosa Luxemburg erklärte, am 4. August 1914 habe die deutsche Sozialdemokratie abgedankt und gleichzeitig sei die sozialistische Internationale zusammengebrochen. 48 Siehe Wolfgang Leonhard, 1955, Kapitel VIII.

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Im 2004 erschienenen Buch Auf der Suche nach einem Dritten Weg zitiert der Historiker Christof Geisel Friedrich Schorlemmer, protestantischer Pfarrer und prägende Figur der DDR-Opposition: »Als ich im Sommer 1989 in Polen und mit Polen diskutiert habe, habe ich mich fast lächerlich gemacht damit, dass ich wirklich was vom Sozialismus halte.«49 Während im November 1988 tausende polnische Arbeiter auf den Werften in Gdansk Margaret Thatcher zujubelten, schauten die Menschen in der DDR weniger nach London oder Washington als nach Moskau. In keinem anderen »Satellitenstaat« hatte Gorbatschows Perestroika so viele Anhänger wie in der DDR. Zwischen 1987 und 1989 ging eine wahre Welle der Sowjetliebe über das Land hinweg, denn viele sahen in Gorbatschows Reformen den ersten Schritt zu einem neuen Sozialismus. Die unter DDRBürgern verbreitete »Gorbimanie« war im Ostblock einzigartig. Die Begeisterung ging so weit, dass die SED, die jede politische Veränderung ablehnte, im Oktober 1988 die auf deutsch erscheinende sowjetische Zeitschrift Sputnik verbot, die den Reformgeist der Perestroika abbildete. Am Ende empfand die DDR-Führung – und das war das größte Zeichen der Schwäche  – ihren engsten Verbündeten und Beschützer, den »großen Bruder« Sowjetunion, als Gefahr. Der Gedanke der demokratischen Erneuerung, den die Perestroika verkörperte, prägte die Bewegung Demokratischer Aufbruch (DA), die in ihren Anfängen sehr antikapitalistische Töne anschlug. Auch das Neue Forum, die größte Bürgerbewegung im Herbst 1989, lehnte am 26. Oktober 1989 ab, »die Bundesrepublik kopieren zu wollen«: »Wir sind uns im Neuen Forum […] einig, dass wir die sozialistische Tradition fortsetzen wollen.«50 Demokratie Jetzt und die Initiative Frieden und Menschenrechte um Wolfgang Templin lagen auf derselben Linie: Sie traten für das Ende der Einparteienherrschaft ein, nicht aber für den Kapitalismus, wie er die Bundesrepublik prägte.51 Doch die Geschwindigkeit, mit der die KohlRegierung die Vereinigung vorantrieb, wurde für die Bürgerbewegungen zur Falle. Bis Mitte Januar war es ihnen nicht gelungen, einen Alternativvorschlag zur Vereinigung zu formulieren. Dann war es zu spät. Am 7. Feb49 Christof Geisel, 2005, S. 66. 50 Sebastian Pflugbeil, 1989, S. 26. 51 Nicht ohne Grund vereinigten sich die Grünen 1993 mit Bündnis 90, in dem sich 1990 die drei wichtigsten Bürgerbewegungen, Neues Forum, Initiative für Frieden und Menschenrechte und Demokratie Jetzt, zusammengeschlossen hatten.

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Die Trauer um den dritten Weg

ruar 1990 erfuhr der im November 1989 von der DDR-Volkskammer zum Regierungschef ernannte Hans Modrow aus dem Fernsehen vom Plan der Bundesregierung für eine Währungsunion.52 Fortan stand die Vereinigung im Zentrum, die Runden Tische leerten sich, sie hatten ihren Sinn verloren, die Idee, eine neue Verfassung zu schreiben, war hinfällig. Der Zug war abgefahren. Niemand konnte mehr einsteigen. So erklärt sich, dass die Vereinigung dann als triumphale Annäherung an die »Werte des Westens« gefeiert wurde, obwohl sich ein großer Teil der Intellektuellen, aber nicht nur sie, in dieser Sichtweise überhaupt nicht oder nur zum Teil wiederfanden. Für viele, die sich in den Protestbewegungen engagiert hatten, war die Bundesrepublik, das rheinische Deutschland mit seinem patriarchalischen und unsozialen Gesellschaftsmodell, überholt. Ihrem Kampf für mehr Freiheit und Pluralismus in der DDR bereitete das Angebot einer raschen Vereinigung durch Helmut Kohl, die den Sehnsüchten vieler DDR-Bürger entsprach, ein vorschnelles Ende. Man darf tatsächlich nicht vergessen, dass die von Kohl verheißene Vereinigung gewählt wurde, denn am 18. März 1990 stimmte eine Mehrheit für die Partei, die ihnen versprach, schnell Bürger der Bundesrepublik zu werden. Vielleicht unterstützten sie diese erneute Wende, um einem weiteren politischen Experiment zu entgehen. Nach der Erfahrung des Sozialismus erschien ihnen die Vereinigung als Verheißung. Es bleibt die Frage, ob sie überhaupt Gelegenheit hatten, sich ein gründliches Urteil darüber zu bilden, was der Vorschlag von Kanzler Kohl konkret bedeutete. Sieben Jahre später warfen deutsche Intellektuelle in ihrer im Januar 1997 verbreiteten Erfurter Erklärung dem Kanzler seinen »kalten Krieg gegen den Sozialstaat« vor. Die Titel der ersten kritischen Publikationen, die Mitte der 1990er Jahre eine Wirtschaftsbilanz der Vereinigung zogen, sprechen für sich: Der frühere Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer nannte sein Pamphlet gegen das Modell, das 16 Millionen Verlierern der Geschichte aufgezwungen wurde, Eisige Zeiten53; von HansJochen Misselwitz erschien Nicht länger mit dem Gesicht nach Westen.54 Diesen und anderen Werken ist gemeinsam, das sie einen kritischen Blick auf die ökonomische Umsetzung der Vereinigung werfen und die sozialen, individuellen und kollektiven Folgen für die Bewohner der ehemaligen 52 Siehe Oliver Dürkop & Michael Gehler, 2018. 53 Siehe Friedrich Schorlemmer, 1996. 54 Siehe Hans-Jochen Misselwitz, 1996.

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Entwertung(en)

DDR anprangern. Daniela Dahn, 1989 Mitbegründerin des Demokratischen Aufbruch, erklärte in ihrem ebenfalls 1996 erschienenen Buch Westwärts und nicht vergessen. Vom Unbehagen in der Einheit: »Die Erfahrung der Zweitrangigkeit von Geld ist unser Kapital.«55 Sie meinte, die Basisdemokratie sei verschwunden, abgelöst von den Immobilien- und Marketinghaien. Die Bitterkeit war umso größer, weil sie nicht für dieses kapitalistische System gekämpft hatte. Der Titelheld des Romans Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst56 von Ingo Schulze verbrennt am Ende das, was für ihn der Ursprung aller Übel der heutigen Gesellschaft ist: das Geld. »Dreckiges« Geld, das korrumpiert und »völlig überflüssig« ist und sogar die Kunst zur Ware macht, muss zerstört werden. In einer Parodie auf die Subversion der Happening-Künstler, die selbst nur dem Kapitalismus als Alibi dienen, organisiert er in der Kunstgalerie seiner Schwester Olga eine »kreative Zerstörung« des Geldes durch das Feuer. In unserem Interview drückte die 1964 geborene Schriftstellerin Sylke Jahn57 ein Gefühl aus, das dem von Daniela Dahn sehr ähnlich ist: Bitterkeit und Frust bei der Feststellung, dass sie gegen ein System gekämpft haben, das sie reformieren wollten, das aber am Ende von einem anderen System ersetzt wurde, das weit von ihren Zielen entfernt war.

Ungerechte Urteile Moralische Ungerechtigkeiten

Die Ungerechtigkeit bei der Entschädigung für Personen, die Gewalt und Willkür durch die SED und die Staatssicherheit erlitten haben, springt ins Auge und lässt sich leicht nachweisen. 1992 und 1994 wurden zwei wichtige Gesetze beschlossen. Das erste betrifft Personen, die in der DDR wegen oppositioneller Tätigkeit, versuchter Republikflucht oder als Opfer politisch-motivierter Urteile im Gefängnis waren.58 Hans Buche, mit dem wir ein Interview geführt haben, wurde als 19-Jähriger von der Stasi ver55 56 57 58

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Daniela Dahn, 1996, S. 9. Siehe Ingo Schulze, 2017. Siehe ihre Biografie im Anhang. Siehe das erste SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, bestehend aus dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG).

Ungerechte Urteile

haftet, weil er ein in der DDR verbotenes Buch, 1984 von George Orwell, geschenkt bekommen, gelesen und weitergegeben hatte. Als 1992 das erste SED-Unrechtsbereinigungsgesetz in Kraft trat, beantragte Hans Buche die strafrechtliche Rehabilitierung, die im Frühjahr 1993 bewilligt wurde. Drei Jahre später wurde er auch beruflich rehabilitiert, nachdem 1994 das zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz über die berufliche und verwaltungsrechtliche Rehabilitierung59 in Kraft getreten war, um Ungerechtigkeiten im beruflichen oder verwaltungsrechtlichen Bereich zu berücksichtigen. Es betrifft z. B. Personen, die nicht studieren durften oder sich beruflich wegen ihrer (ganz unterschiedlichen) Opposition gegen den Staat nicht weiterentwickeln konnten. Um die symbolische Tragweite dieser beiden Gesetze zu verstehen, ist ein grundlegender Punkt zu beachten: Der Gesetzgeber orientierte sich dabei nicht am Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, kurz Bundesentschädigungsgesetz (BEG). Dieses seit 1956 in der Bundesrepublik geltende Gesetz ist Teil der deutschen Reparationspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg und verpflichtet die Bundesrepublik Deutschland, Verantwortung gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus wahrzunehmen.60 Es gewährt Personen, die im »Dritten Reich« aus politischen, rassistischen, religiösen oder ideologischen Gründen verfolgt wurden, eine finanzielle Entschädigung und dient vor allem der Wiedergutmachung des Unrechts in Form von Naturalrestitution. Das bedeutet, dass sich die Bundesrepublik historisch und juristisch als Nachfolgestaat des nationalsozialistischen Staates betrachtete. Die beiden SED-Unrechtsbereinigungsgesetze zur Rehabilitierung von Opfern der SED-Diktatur orientieren sich hingegen am Bundesversorgungsgesetz (BVG) für die Opfer des Zweiten Weltkriegs, das seit 1950 in der Bundesrepublik gilt. Das BVG regelt das Angebot, das der Staat den Opfern macht, und nimmt sozusagen die Logik des Häftlingshilfegesetzes61 auf. Es sieht eine finanzielle Entschädigung für Personen deutscher 59 Das zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz besteht aus dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz (BerRehaG) und dem Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (VwRehaG). 60 Siehe Wilhelm Tappert, 1995, S. 74–83. 61 Das Häftlingshilfegesetz (HHG) bzw. das Gesetz über Hilfsmaßnahmen für Personen, die aus politischen Gründen außerhalb der Bundesrepublik Deutschland in Gewahrsam genommen wurden, trat 1955 in Kraft.

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Nationalität sowie ihre Angehörigen vor, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus politischen Gründen in der sowjetischen Besatzungszone, im sowjetischen Sektor Berlins, in der DDR oder in den Ostblockstaaten inhaftiert waren. Dieses Gesetz zog die Hilfe bei der sozialen Eingliederung gegenüber der Anerkennung einer politischen Verfolgung für die Opfer vor.62 Die beiden SED-Unrechtsbereinigungsgesetze zeichnen sich also durch Festlegungen zum Recht auf soziale Absicherung aus und orientieren sich an unzureichenden materiellen Mitteln zum Leben. Die in der DDR erlittenen realen, moralischen und psychologischen Schäden stehen nicht im Vordergrund. Um Ausgleichsleistungen zu erhalten, müssen sich die Verfolgten des SED-Regimes außerdem diversen administrativen Überprüfungen unterwerfen und ihre Bedürftigkeit beweisen, wozu sie bei ihrer Sozialversicherung und der Bundesagentur für Arbeit vorstellig werden müssen. Dort haben sie mitunter mit Sachbearbeitern zu tun, die nichts über die psychischen Folgen einer Haft in der DDR oder der Maßnahmen zur psychologischen Destabilisierung, sogenannte »Zersetzungsmaßnahmen«63 der Staatssicherheit, wissen. Schlimmstenfalls müssen sie sich vor Personen rechtfertigen, die das SED-Regime unterstützt haben. Dass diese Begegnungen für manche Opfer retraumatisierend sein können, ist bekannt. So haben die Verfolgten des Regimes nicht mit einer Behörde zu tun, die auf die Rehabilitierung politischen Unrechts spezialisiert ist, sondern mit einem Amt, das die Anträge von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern bearbeitet. Zudem offenbart ein Vergleich der Gesetze für die Wiedergutmachung die Tendenz, dass den Opfern des Nationalsozialismus höhere Leistungen gewährt werden als den Opfern der SED.64 Es dauerte Jahre, bis in die SED-Unrechtsbereinigungsgesetze drei Sachverhalte aufgenommen wurden, die zahlreiche Menschen traumatisiert 62 Siehe Ulrike Guckes, 2007. 63 Der Begriff »Zersetzung« bezeichnet eine von der Staatssicherheit ab 1976 entwickelte Technik, um vermutliche oder tatsächliche politische Oppositionelle im Rahmen von »operativen Vorgängen« zu bekämpfen. Diese Maßnahmen zur Manipulation und Zerstörung haben oft sehr schwere psychische Spuren bei den Betroffenen hinterlassen, die zuweilen bis heute kein normales Leben mehr führen können. Siehe dazu Jens Gieseke, 2001, S. 186–195. 64 Es gibt zahlreiche Kategorien, die nacheinander und in unterschiedlichem Rhythmus anerkannt wurden. Siehe dazu Rolf Gröschner & Oliver W. Lembcke, 2008.

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haben: Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze (1952 wurden Grenzanwohner per Zwang umgesiedelt), Zersetzungsmaßnahmen der Staatssicherheit, die am wenigsten sichtbare, in den 1980er Jahren praktizierte Form der Unterdrückung, und schließlich die politische Kriminalisierung von Personen, die in der DDR wegen ihrer Lebensweise als »asozial« bezeichnet wurden. Sie bilden eine beträchtliche Gruppe stigmatisierter Personen. Der Begriff der »Asozialen« ist den früheren Sozialarbeitern, die wir interviewt haben, sehr vertraut. Gemeint waren die »Aussteiger«, diejenigen, die sich nicht in das Bild integrierten, das die SED von der sozialistischen DDR-Gesellschaft geben wollte.65 Bei ihnen reichten die juristischen Maßnahmen von Geldstrafen über das zeitlich begrenzte Verbot, den Wohnort zu verlassen, bis hin zu jahrelanger Haft. Wissenschaftler haben sich in jüngster Zeit mit Kindern beschäftigt, die ihren Müttern weggenommen wurden, weil sie als »asozial« galten, und ins Heim kamen oder zur Adoption freigegeben wurden.66 Die Forschung kann noch keine endgültigen Ergebnisse liefern, aber es gibt durchaus Vermutungen, dass der Entzug des Sorgerechts in einigen Fällen politisch motiviert war und nicht dem Kindeswohl diente. Dieses Phänomen muss noch gründlich erforscht werden. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die politische Rehabilitierung der Verfolgten der Diktatur auf verschiedenen Wegen erfolgte. Auf juristischem Weg gab es die Rehabilitierung einer Person in einem Gerichtsprozess (die älteste und klassische Form); auf legislativem Weg gab es eine materielle Entschädigung der Opfer von Staatsverbrechen nach genauen Kriterien, z. B. den in Haft verbrachten Tagen (seit 2019 beträgt das Minimum 90 Tage im DDR-Gefängnis, und nicht mehr 180, wie es 2007 festgesetzt wurde) oder wegen langfristiger beruflicher oder psychischer Folgeschäden. Die gesetzlichen Maßnahmen sehen weiterhin finanzielle Ausgleichsleistungen sowie eine eher symbolische »Rehabilitierung« vor, also die Annullierung der unter der Diktatur ausgesprochenen Strafen und Sanktionen. Guillaume Mouralis weist darüber hinaus darauf hin, dass die Opfer des SED-Staates keine hohen Strafen für die Täter,67 sondern viel65 Siehe Inga Markovits, 2001, S. 549–552. 66 Siehe Agnès Arp et al., 2018, sowie Christian Sachse, 2015, S. 13–27. 67 Nach der Vereinigung wurde gegen 110.000 Personen (Täter) ermittelt – eine sehr hohe Zahl, vor allem, wenn man sie mit dem vergleicht, was nach 1945 geschehen ist. Davon wurden mehr als 1.500 Personen im Laufe der 1990er Jahre tatsächlich verurteilt. Siehe dazu Guillaume Mouralis, 2008.

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Entwertung(en)

mehr Aufklärung (z. B. mit der Öffnung der Archive) und Entschädigungen forderten.68 Unter dem Druck der Opferverbände wurde 2019 eine wichtige Maßnahme ergriffen, um die Bearbeitung der noch anstehenden Fälle zu garantieren, die Entfristung der Rehabilitierungsanträge für die Opfer der SEDDiktatur und die Streichung aller Verjährungsfristen. Ein Grund dafür ist, dass viele Stasiakten immer noch nicht zugänglich sind und das strafrechtlich relevante Material, das sie enthalten, womöglich weitere Rehabilitierungsforderungen rechtfertigen könnte. Der berühmte Satz der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley, »Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat!«, legt den Finger in die Wunde. 1991 erklärte Bohley: »Unser Problem war ja nicht, den westlichen Rechtsstaat zu übernehmen, unser Problem war, dass wir Gerechtigkeit wollten. Und insofern haben wir natürlich dem Westen unsere Probleme vor die Füße gekippt in der Hoffnung, dass mit dem westlichen Rechtsstaat auch Gerechtigkeit in die neuen Länder kommt. Aber es sieht ja so aus, als ließe diese Gerechtigkeit lange auf sich warten.«69

Ökonomische Ungerechtigkeiten

Die Vermögensfrage und die Durchführung der Rückgabe von Eigentum trugen in den 1990er Jahren dazu bei, das Gefühl von Willkür zu nähren. Rolf Schubert, einer unserer Interviewpartner, schildert den Fall einer Bekannten seines Bruders. Der Vater, ein Bäcker, war im »Dritten Reich« in der SA. 1945 wurde ihm seine Bäckerei von der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) weggenommen. Nach 1989 klagte dessen Tochter auf Rückgabe, bekam das Grundstück und das Haus zurück und war plötzlich reich. Rolf Schubert war schockiert, dass die Tochter eines »SA-Schlägers« ihr Eigentum zurückerhielt:

68 Siehe Guillaume Mouralis, 2009a, S. 53–67, 2009b, S. 123–132. 69 Aus der Rede von Bärbel Bohley beim Ersten Forum des Bundesministers für Justiz am 9. Juli 1991 (zit. n. Ulrich Karpen, 1992, S. 31). Siehe darüber hinaus auch Mouralis, 2008, S. 5.

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Ungerechte Urteile

»Die Frau, die Tochter hat das wiedergekriegt nach ’89, weil sie auf Rehabilitation geklagt hat. Die Verurteilung als SA-Schläger war rechtens, aber die Vermögenseinziehung war unrecht, so. Was meinen Sie, was für ein Geld die plötzlich hatte, als sie das Grundstück und das Haus zurückgekriegt hat?«

Er erwähnt in diesem Zusammenhang Rentenzahlungen der Bundesrepublik an ehemalige Nazis in anderen Ländern,70 was in der DDR undenkbar gewesen sei. Die ostdeutsche Journalistin Daniela Dahn nennt hingegen mehrere Beispiele für das Zweiklassensystem, das die Ostdeutschen fast systematisch benachteilige. Sie zitiert den Fall von Walter Kaufmann: Der Schriftsteller aus Ostberlin beantragte 1990 die Rückgabe einer Villa in Duisburg im Rheinland – das Haus seiner jüdischen Eltern, die von den Nazis ermordet worden waren. Sein Antrag kam zu spät, ähnlich wie der vieler anderer Ostdeutscher: Die Frist war 1990 lange verstrichen.71 Insgesamt wurden 2,2 Millionen Rückübertragungsanträge von westdeutschen Bürgern angenommen – aber kein einziger von ostdeutschen Bürgern.72 Ein großer Teil der Bitterkeit, die mit dem Gefühl der Ungerechtigkeit verbunden ist, betrifft eine Institution, die traurige Berühmtheit erlangt hat: die Treuhand, deren Arbeit bis heute sehr kritisiert wird. Sie wurde am 1. März 1990 gegründet und sollte alle staatlichen Betriebe73 in die Marktwirtschaft überführen, also privatisieren, oder stilllegen. Sie verfolgte nur ein Ziel: schnell privatisieren, wo immer es möglich war, getreu dem Slogan: »Eine schnelle Privatisierung ist die beste Sanierung.« Nach dieser Devise wurden alle 8.500 VEB von der Treuhand behandelt. Der größte Teil wurde an Privatinvestoren verkauft oder geschlossen, wenn sich kein Interessent fand. In sehr wenigen Fällen wurden öffentliche Mittel in Betriebe investiert, um sie vor der Privatisierung zu modernisieren und wettbewerbsfähig zu machen. 70 Nach einem Gesetz der Bundesrepublik von 1951 bekamen verschiedene Personen vor allem in Frankreich oder Belgien eine von der Bundesrepublik bezahlte Rente als Kriegsopfer. Theoretisch konnten nur von Invalidität betroffene Personen, die nicht wegen Kriegsverbrechen verurteilt waren, diese Pension erhalten, aber das wird bestritten. 71 Dabei handelt es sich nicht um dasselbe Gesetz, das in dem von Rolf Schubert genannten Beispiel der Rückerstattung der Bäckerei angewandt wurde. 72 Siehe Daniela Dahn, 1996, S. 13. 73 Man sprach in der DDR von Volkseigenen Betrieben (VEB), obwohl sie dem Staat gehörten, nicht dem Volk.

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Diese Privatisierungen hatten den Verlust sehr vieler Arbeitsplätze zur Folge. Anfang der 1990er Jahre zeigten Demonstranten gegen die Treuhand Schilder mit einem ironischen Dank für die »aktive Sterbehilfe« der Arbeitsplätze der DDR. Gewerkschaften, Kommunen und die Regierungen der neuen Länder hatten kein Mitspracherecht. Alles ging sehr schnell. War das unvermeidbar? Wäre ein anderer Umgang mit den VEB denkbar gewesen, der dieses Desaster für die Arbeitnehmer gemindert hätte? Es ist zwar schwierig, die Geschichte umzuschreiben, um diese Frage zu beantworten, aber es fällt auch eine andere Tatsache auf: Ostdeutsche Bewerber erhielten bei diesen Unternehmensverkäufen fast nie den Zuschlag, weil ihre Zahlungsfähigkeit nicht gesichert war. Deshalb gingen fast alle ehemaligen volkseigenen Betriebe an Bewerber aus dem Westen, die sie oft eilig liquidierten, um die Konkurrenz auszuschalten. Obwohl die Treuhand die Entstehung einiger stabiler und leistungsstarker ostdeutscher Unternehmen ermöglicht hat, war der Transfer des Reichtums von Ost nach West enorm: 80 Prozent der von ihr verwalteten Industriebetrieben fielen in die Hände von Westdeutschen. Überdies gab es großzügige Steuergeschenke für die westdeutschen Käufer. Heute gehört ein großer Teil des Grunds und Bodens und der Immobilien auf dem Gebiet der DDR Westdeutschen. In seinem Buch Die große Enteignung. Wie die Treuhand eine Volkswirtschaft liquidierte74 zählt der Journalist Otto Köhler die Posten verschiedener Leitungskader der Treuhand in den Vorständen westdeutscher Firmen auf. Seine Studie nährt die Vermutung, die Treuhand habe nur den Interessen des westdeutschen Kapitals gedient, und die ostdeutschen Unternehmen oft einzig mit dem Ziel zerlegt, potenzielle Konkurrenten zu beseitigen75 – eine weitverbreitete Überzeugung. Rolf Schubert, bis 1990 MfS-Offizier, fand eine Stelle als Wachmann im Gebäude des einstigen Luftfahrtministeriums von Hermann Göring, in dem die Treuhand ihre Büros hatte. Er blickte hinter die Kulissen der Treuhand, die seiner Meinung nach die DDR einfach »verramscht« hat. Manchmal lagen Akten, die nicht zu Ende sortiert waren, auf Schreibtischen herum, darin gab es Listen, auf denen z. B. Immobilien mit ihrem Wert standen, die für wenig Geld verkauft wurden. In einer Bilanz las er, »dass die DDR gegenüber von anderen Ländern, die Sowjetunion vorneweg, Forderungen in Milliardenhöhe hatte, die noch nicht beglichen waren«. Er ist überzeugt, dass die 74 Siehe Otto Köhler, 1994. 75 Siehe Marcus Böick, 2018.

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DDR keineswegs pleite war. Im Rückblick ist es natürlich unmöglich, die Echtheit dieser Quellen zu prüfen. Deutlich wird aber sein großer Ärger über die Behauptung, dass die Bundesrepublik die DDR gerettet habe: »Ich hätte alles kopieren müssen, ich hätte es veröffentlichen können.« Zudem gab es eine ganze Reihe Skandale um die Treuhand im Zusammenhang mit zweifelhaften Käufern, die nur investierten, um Subventionen einzustreichen,76 und die Unternehmen dann stückweise weiterverkauften. Grundsätzlich verkaufte die Treuhand die Unternehmen der DDR nicht an den Meistbietenden, sondern  – zumindest offiziell  – an diejenigen, die die besten Garantien für die Fortführung des Unternehmens und den Erhalt von Arbeitsplätzen boten. Damit berief sie sich auf Kriterien einer subjektiven Auswahl, die ihre Entscheidungen undurchschaubar machten, wie der Ökonom Klaus-Dieter Schmidt zeigt: »Die Treuhandanstalt trifft ihre Entscheidungen zumeist hinter verschlossenen Türen. Sie sind daher nur schwer zu überprüfen. Warum sie einen bestimmten Bewerber einem anderen vorzieht, weiß häufig nur sie allein. […] Die Treuhandanstalt entscheidet nach freiem Ermessen. Gründe für eine Ablehnung braucht sie nicht zu nennen.«77

Später, 1994, monierte auch der Treuhanduntersuchungsausschuss des Bundestages die fehlende Transparenz.78 80 Prozent der Dokumente, die das Finanzministerium auflistete, trugen den Vermerk »Staatsgeheimnis« und konnten vom Untersuchungsausschuss nicht eingesehen werden, wie ihr Vorsitzender Otto Schily (SPD) beklagte. All diese Missstände kamen nicht sofort ans Tageslicht, es dauerte eine Weile, bis sich die Wissenschaftler damit beschäftigten. Ein vielsagender Zwischenfall störte jedoch die Freude, bevor die Vereinigung überhaupt vollzogen war: Am 15. August 1990, also sechs Wochen vor Inkrafttreten des Einigungsvertrags, demonstrierten in Berlin 250.000  ostdeutsche Bauern gegen die Treuhand und die Gleichgültigkeit ihrer Vertreter gegenüber der ostdeutschen Landwirt76 Das bekannteste Beispiel sind die 850 Millionen D-Mark Fördermittel, die die EU-Kommission für die Vulkan-Werft in Mecklenburg-Vorpommern gezahlt hat. Sie wurden vom Vorstand der westdeutschen Mutterfirma unterschlagen und tauchten nie mehr auf. 77 Klaus-Dieter Schmidt, 1993, S. 232. 78 Siehe zu den Details der Unterschlagungen durch Treuhand-Mitarbeiter Valéry Denoix de Saint Marc, 1995, S. 212–227.

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schaft. Sie ahnten sehr schnell, welches Schicksal sie erwartete und was die Folgen der Privatisierung durch die Treuhand sein würden. Dabei sollte der Agrarsektor eine Ausnahme bilden. Wie in der Industrie war die Produktion bald zu teuer, um wettbewerbsfähig zu bleiben, aber die Besonderheit der Landwirtschaft in der DDR wurde völlig ignoriert. In der DDR hatten die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG)79 Kredite für Projekte erhalten, die nichts mit der landwirtschaftlichen Produktion selbst zu tun hatten, z. B. für den Bau neuer Straßen, die Sanierung der Wasserleitungen in den umliegenden Gemeinden, die Lieferung von Mittagessen an Senioren oder den Bau von Krippen80 – eine Vielzahl von Aufgaben also, die in den westlichen Ländern den Kommunen obliegen. Die Treuhand wollte diese grundlegende Besonderheit der Abrechnung nicht berücksichtigen; plötzlich sollten die LPGs die oft fiktiven Kredite in D-Mark zurückzahlen. So galten sie als überschuldet, was ihre Liquidation rechtfertigte. Diese Liquidation, das ist also klar, war nicht Ausdruck einer kritischen wirtschaftlichen Situation des Agrarsektors der DDR, sondern beruhte auf einem grundlegenden Unterschied in der Abrechnung, der nicht berücksichtigt worden war. Die Treuhand wollte Schnelligkeit, Effizienz und sozialen Frieden verbinden – aber diese drei Ziele waren unvereinbar. Hinzu kommen zahlreiche Kritiken an ihrer Arbeitsweise. Sie bestand nur zwischen 1990 und 1994, wobei zahlreiche Experten beauftragt wurden, die Arbeit fortzusetzen. Sie sollten auch kontrollieren, dass die zwischen der Treuhand und den Käufern geschlossenen Verträge wirklich eingehalten wurden. Die Treuhand sollte die Privatisierung und industrielle Neuordnung der DDR durchführen, also rund 8.500 Betriebe neu ordnen oder privatisieren und 1,7 Millionen Hektar landwirtschaftliche Flächen und Wälder verkaufen. 1990 hatte Treuhandpräsident Detlev Rohwedder die zu erwartenden Einnahmen aus dem Verkauf dieses ostdeutschen Staatsbesitzes auf 600 Milliarden D-Mark geschätzt. Am Ende waren es nur 73 Milliarden. Wenn man das Geld berücksichtigt, das in die Transformation investiert wurde, gab es insgesamt sogar ein Defizit von 270 Milliarden D-Mark zu Lasten des Staates. Das liegt zum Teil am schlechten Zustand vieler Betriebe, die die Treuhand übernommen hatte. Sie waren oft überbewertet, aber erst durch die Währungsunion am 1. Juli 1990 wirklich erledigt. 79 Diese waren das ostdeutsche Äquivalent zum sowjetischen Kolchos. 80 Juli Zeh schreibt darüber in ihrem Roman Unterleuten von 2016.

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Die von Kanzler Kohl getroffene Entscheidung, im Juli in der DDR die D-Mark einzuführen und die DDR-Mark abzuschaffen, führte zu einem gewaltigen Zusammenbruch der DDR-Ökonomie. Der Wechselkurs wurde für Löhne, Renten, Mieten und einen Teil der Ersparnisse auf 1:1 festgelegt, auf 2:1 für Kredite und andere Verpflichtungen der Betriebe und des Staates. Die Frage des Wechselkurses war ein hartes Kräftemessen zwischen Bundesbank und Bundesregierung. Zwei Standpunkte standen gegeneinander: die ökonomische Logik der Bundesbank, die den Abstand zwischen beiden Volkswirtschaften berücksichtigen wollte, und die politische Logik des Bundeskanzlers, der einen Kurs von 1:1 durchsetzen wollte, um den Eindruck zu vermeiden, dass die Ostdeutschen nur die Hälfte ihrer Mitbürger wert seien. Die politische Logik siegte, auch in diesem Punkt setzte sich Helmut Kohl durch.81 Die politische Brisanz dieser Entscheidung ist verständlich. Man stellte die Ostdeutschen symbolisch ihren Landsleuten gleich und garantierte den Erhalt ihrer Kaufkraft. Aber die Experten schätzen, dass die damit einhergehende brutale Geldaufwertung in der DDR ungefähr 300 Prozent betrug. Sie verschärfte das ohnehin schon große Ungleichgewicht zwischen der westdeutschen Lok und dem schweren Zug der ostdeutschen Wirtschaft, der an sie angehängt wurde.82 Von einem Tag auf den anderen machte die Einführung der D-Mark die Produkte der früheren Staatsbetriebe für ihre traditionellen Märkte in den Ostblockstaaten unbezahlbar. Wegen der Konkurrenz der westdeutschen Unternehmen war es aber auch schwierig, wenn nicht gar unmöglich, sofort neue Märkte zu finden. Die Einführung der D-Mark hatte auch in der Landwirtschaft verheerende Folgen. Millionen Arbeitsplätze gingen verloren. Helmut Kohl hat Politik und Ökonomie offenbar radikal getrennt. Er soll Edgar Most (dem letzten Vizepräsidenten der Staatsbank der DDR) gesagt haben, er sei ein Politiker und treffe deshalb politische Entscheidungen, und Ökonomen wie Most würden bestimmt die geeigneten Lösungen finden …83 Mit Blick auf all diese Elemente kommt Petra Köpping, Staatsministerin für Soziales und gesellschaftlichen Zusammenhalt in Sachsen, in ihrer Analyse der Situation in den Neuen Ländern (Integriert doch erst mal uns! Eine 81 Mit dem Umtauschkurs 1:1 konnten die Ostdeutschen ihre Bankguthaben bis zu einer Schwelle von 6.000 DDR-Mark umtauschen, darüber galt ein Kurs von zwei DDR-Mark für eine D-Mark. 82 Siehe Jean-Michel Hauteville, 2019. 83 Siehe Edgar Most, 2009.

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Streitschrift für den Osten) zu der Einschätzung, dass die Wahrheit über das Vorgehen der Treuhand in konkrete Maßnahmen wie die Schaffung eines Gerechtigkeitsfonds münden müsse, um dessen Auswirkungen zu korrigieren. Durch eine solche Maßnahme ließe sich eine gewisse Gerechtigkeit in den Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands herstellen und so zumindest teilweise die Asymmetrie korrigieren, die durch die Handlungsweise der Treuhand erzeugt wurde.84 Ein Begriff steht stellvertretend für diesen Prozess der Stilllegung, Zerstörung und Zerschlagung der ostdeutschen Wirtschaft: Abwicklung. Man benutzt ihn allgemeiner auch für die systematische Evaluierung der politischen Redlichkeit der Ostdeutschen zu Beginn der 1990er Jahre und ihre Entlassung zugunsten von westdeutschen Nachfolgern, die sich im Osten niederließen. Das betraf verschiedene berufliche Bereiche und führte zu vielen ungerechten Entscheidungen.

Zweimal Opfer? Die Hoffnung auf eine schnelle Erholung der Wirtschaft und der Industrie in Ostdeutschland nach 1989/1990 ruhte zum Teil auf der Rolle, die den früheren Eigentümern kleinerer und mittlerer Unternehmen zugedacht war. Die 1972 unter Erich Honecker verstaatlichten Privatunternehmer sollten die Vorhut einer unabhängigen Unternehmerschaft bilden und die Transformation zur Marktwirtschaft beschleunigen.85 Tatsächlich ging es damals auch darum, die Kombinate86 zu zerschlagen, um kleine und mittlere Unternehmen in den neuen Ländern entstehen zu lassen.87 Eine Studie des Instituts für Mittelstandsforschung sah in den 12.000 bis 13.000 Betrieben, die für eine Reprivatisierung geeignet waren, ein beträchtliches Potenzial der Erneuerung und eine Möglichkeit, Prinzipien und Praktiken, die für eine Marktwirtschaft in den neuen Bundesländern wichtig waren, neu zu beleben.88 Trotz der Ausgrenzung und der Zerstörung des früher bestehenden Netzes von kleinen und mittleren Industriebetrieben in der DDR waren die Ausgangsbedingungen nicht schlecht. 84 85 86 87 88

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Siehe Petra Köpping, 2018, S. 158. Siehe Friedrich Kaufmann, 1997, S. 2. Zusammenschlüsse mehrerer Industriebetriebe zu einem großen Unternehmen. Siehe Klaus Semlinger, 1997, S. 30–38, und Martin Brussig et al., 1997. Siehe Friedrich Kaufmann, 1997, S. 1.

Zweimal Opfer?

Die Vielzahl von Restitutionsanträgen früherer Eigentümer der 1972 verstaatlichten Unternehmen ab Dezember 1989, also noch vor der Schaffung entsprechender Gesetze, nährte diese Hoffnung. Zu den Prioritäten der am 18. November 1989 gebildeten neuen ostdeutschen Reformregierung unter Hans Modrow, deren 28 Mitglieder der SED und den Blockparteien angehörten, gehörte die Notwendigkeit von Wirtschaftsreformen, die unverzüglich beginnen sollten. Wirtschaftsministerin Christa Luft bildete die Arbeitsgruppe »Wirtschaftsreform«: »Die Reformen empfahlen vor allem die Orientierung der Produktion an der Nachfrage, den Respekt der Marktgesetze, die Anerkennung des Profits als wichtigstes Kriterium für die Effizienz.«89 Privatisierungen in großem Maßstab waren noch nicht vorgesehen. Vielmehr konzentrierte man sich auf kleine und mittlere Unternehmen, ihre Neugründung, ihre Ausgliederung aus den zerschlagenen Kombinaten oder Rückgabe an die alten Eigentümer. Die notwendigen Verfahren, um die Unternehmen zurückzuerhalten, sollten sich für die Unternehmer der DDR aber als sehr lang und mühsam erweisen. Was man damals »Reprivatisierung« nannte, betraf die früheren Eigentümer, die ihr Eigentum zurückbekamen. Das war ein politischer Akt, der unter der Modrow-Regierung in Angriff genommen und unter Lothar de Maizière, dem einzigen demokratisch gewählten Ministerpräsidenten der DDR,90 fortgesetzt wurde. Hans Modrow galt als Hoffnung für die Erneuerung innerhalb der Partei und des Staates. Seine sozialistische Regierung hoffte auf einen Aufschwung der Produktion, vor allem bei den Konsumgütern. Das von der Modrow-Regierung beschlossene Gesetz vom 7. März 199091 billigte die »Reprivatisierung« aller Kommanditgesellschaften und aller 1972 verstaatlichten Privatbetriebe und Betriebe mit staatlicher Beteiligung, natürlich nur unter der Bedingung, dass jemand sich bereiterklärte, sie zu übernehmen.92 Das Gesetz legte fest, dass die Anträge auf Rückkauf der Unternehmen bis zum 16. September 1990 bei den Räten der Bezirke 89 Brigitte Lestrade, 1998, S. 244. 90 Lothar de Maizière (CDU) wurde nach der ersten freien Wahl vom 18. März 1990 in der Volkskammer der DDR am 12. April 1990 zum Ministerpräsidenten der DDR gewählt. 91 Gesetz über die Gründung und Tätigkeit privater Unternehmen und über Unternehmensbeteiligungen (Reprivatisierungsgesetz). Ein Bericht über seine Folgen ist in einer Publikation des ostdeutschen Wirtschaftsministeriums, Abteilung für Mittelstandspolitik, nachzulesen (siehe Wirtschaftsministerium, 1990). Fast drei Viertel der 1972 verstaatlichten Betriebe waren Industriebetriebe. 92 Siehe dazu den Fall von Hans Dona in Agnès Arp, 2005b.

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gestellt werden mussten. Diese kurze Frist ließ wenig Zeit, die notwendigen Dokumente beizubringen, um einen Eigentumsanspruch zu beweisen. Manchen Alteigentümern wurde von der amtierenden Betriebsführung der Zugang zu den Akten ihrer 1972 enteigneten Firmen verwehrt. Insgesamt ließ das Gesetz eine Vielzahl Fragen offen, vor allem zum Problem der Entschädigung.93 Die juristische Verwirrung durch dieses hochpolitische Problem der Entschädigung für enteignete Unternehmen stand im Zentrum der politischen Diskussionen der Wendejahre. Im Oktober 1990 wurden 2.976 von 11.262 Anträgen auf Reprivatisierung genehmigt, das war ungefähr ein Viertel aller Unternehmen, die einen Antrag auf Reprivatisierung gestellt hatten. 80 Prozent der Anträge betrafen Industriebetriebe mit durchschnittlich 50 Beschäftigten, also rund 120.000 Arbeitsplätze. In fast der Hälfte der reprivatisierten Unternehmen übernahmen Nachkommen der früheren Eigentümer (jeder zweite war unter 50)94 den Betrieb und setzten so die Familientradition fort. Diese Unternehmer waren echte »Pioniere« im Wortsinne, aber nicht im Schumpeter’schen Sinne eines Neuerers auf dem Markt. Sie übernahmen das Familienunternehmen unter sehr schwierigen Bedingungen. Sie mussten sich dem Markt und dem harten Wettbewerb stellen, aber auch Altschulden, die Übernahme des Staatsanteils und einen Ausgleichsbetrag für die Wertsteigerung des Unternehmens zwischen 1972 und 1990 finanzieren. 60 Prozent der damals vom Institut für Mittelstandsforschung befragten Unternehmer empfanden die Produktionstechnologie als Hemmschuh und Belastung für ihre Wettbewerbsfähigkeit; Maschinen, Gebäude, Produktpalette – alles war in erbärmlichem Zustand. 53 Prozent klagten vor allem über die Absatzprobleme für ihre Waren.95 Der Einigungsvertrag, der am 31.  August 1990 zwischen der DDR und der Bundesrepublik abgeschlossen wurde, erklärt die »Gemeinsamen Erklärung zur Regelung offener Vermögensfragen«, die zwischen rückübertragbaren und nicht-rückübertragbaren Gütern unterscheidet, zum Bestandteil des Vertrags. »Rückübertragbar sind demnach – wenn möglich direkt oder, wenn dies nicht möglich ist, durch Entschädigung oder Ausgleichzahlung – die in der DDR zwischen ihrer Gründung am 7. Oktober 1949 und dem 18. Oktober 1989 durchgeführten Enteignun93 Siehe Friedrich Kaufmann & Axel Schmidt, 1992, S. 16. 94 Siehe Horst Albach, 1991, S. 1–29, hier S. 3. 95 Siehe ebd.

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gen.«96 Die Komplexität der Rückübertragungsanträge erklärt sich darüber hinaus durch die unterschiedlichen Bedingungen, unter denen die Enteignung erfolgte, ihren Zeitpunkt (unter Hitler, zwischen 1945 und 1949 oder nach 1949), ihr Ausmaß oder ihre Folgen für die Eigentümer (die in den Westen flohen oder blieben). Hinzu kam der Verlust juristischer und administrativer Urkunden in den Jahren des Sozialismus oder deren vorsätzliche Zerstörung durch Funktionäre, die ihren ganzen Eifer darauf verwandten, das Privateigentum in ihrem Land zu beseitigen.97 Die juristischen Unklarheiten hatten unter anderem beträchtliche Konsequenzen für die Investitionen und den Neustart der Unternehmen in den neuen Ländern, z. B., wenn ein Baugrundstück nicht genutzt werden konnte, weil der Eigentümer nicht imstande war, alle von den Ämtern verlangten Dokumente beizubringen. Der Einigungsvertrag enthält Bestimmungen über den Umgang mit dem Eigentum. Später folgten andere Gesetze und Novellierungen, darunter das erste Vermögensrechtsänderungsgesetz vom 18. April 1991 und das zweite Vermögensrechtsänderungsgesetz vom 14.  Juli 1992. Sie bildeten ein »komplexes, undurchsichtiges System, bei dem nicht sicher ist, ob es wirklich die Investitionen förderte, die es begünstigen sollte«.98 Die Antragstellung für Rückübertragungen sollte bis zum 1. Januar 1991 möglich sein; die Regierung de Maizière verkürzte die Frist auf den 13. Oktober 1990. Der Sturm auf die Ämter führte zu einer unvorstellbaren Überlastung der Bearbeiter. Bis zum 30. Juni 1992 waren nur 8,4 Prozent der 2,2 Millionen Anträge auf Rückübertragung von Privateigentum erledigt. In den neuen Ländern fehlten 2.000 Richter und 2.500 juristische Berater, sowie 2.500 Personen, die sich mit Eigentumsfragen auskannten. Von 18,8 Prozent der Fälle, die Betriebe betrafen, erfolgten 8,8 Prozent Rückübertragungen.99 Ohne diesen Punkt weiter zu vertiefen, erscheint es uns hier wichtig, die hohe Komplexität dieses Aspekts im Alltag vieler Familien in den neuen Ländern während der 1990er und sogar bis zum Ende der 2000er Jahre darzustellen. Das Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen ersetzte sozusagen 96 Anne Dumasy, 1998, S. 283. 97 Siehe Florent Gerbaud, 1991, S. 29. 98 Anne Dumasy, 1994, S. 4. Die Autorin behandelt das juristische Problem, das die Enteignungen während der sowjetischen Besatzungszeit von 1945 bis 1949 darstellten. 99 Siehe François Bafoil, 1992, S. 57.

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das Reprivatisierungsgesetz, das bereits bei der Währungsunion im Juli 1990 verändert worden war. Am Ende konnten die Unternehmer zwischen Rückübertragung und Ausgleichszahlung wählen, wobei das Gesetz aus ökonomischen Gründen die Rückübertragung bevorzugte. Die betroffenen Personen hatten allerdings nicht die notwendigen Informationen, um in Kenntnis der Sachlage zu wählen: Die Höhe der Ausgleichszahlung wurde erst im Nachhinein festgelegt.100 Insgesamt hofften viele ostdeutsche Unternehmer, sie könnten vom Wohlwollen des neuen deutschen Staates profitieren, weil dessen demokratische Prinzipien die erzwungene Verstaatlichung zu DDR-Zeiten als verfassungswidrig einstuften. Wegen der Ablehnung von Rückübertragungen oder Streitfällen gab es dennoch viele langwierige Gerichtsprozesse. Inzwischen sank der ökonomische Wert der betroffenen Unternehmen und konnte nach der endlich erfolgten Rückübertragung oft ganz verschwunden sein. Nehmen wir das typische Beispiel von Simone Colbe (Pseudonym): Ihr Textilbetrieb war in ein Kombinat integriert worden. Bei dessen Entflechtung wurde ihr früherer Betrieb durch einen Fehler der Treuhand der neuen Direktorin des privatisierten Unternehmens, das aus dem Kombinat hervorgegangen war, zugesprochen. Als diese Direktorin 1996 Konkurs anmeldete, meldete sich ein Anwalt bei Simone Colbe und informierte sie über die Geschäftsaufgabe ihres einstigen Textilbetriebs. Simone Colbe, die 1990 einen Rückübertragungsantrag gestellt hatte, war sehr erstaunt. Sie beschloss daraufhin, mit ihren beiden Kindern einen Antrag auf Entschädigung zu stellen, was nunmehr möglich war, nachdem sie fünf Jahre lang vergeblich versucht hatte, die Immobilien ihres Betriebs zu verkaufen. Man antwortete ihr, die Ausgleichszahlung werde nicht vor 2005 erfolgen. Das war im Jahr 1997. Sie fragte sich, ob sie bei der Auszahlung noch am Leben sein würde, und unternahm die gesetzlich vorgesehenen Schritte. Nun begann der Kampf mit dem Amt zur Regelung offener Vermögensfragen. Erst nach zwei Jahren erhielt sie das offizielle Antragsformular, nach dem die Schätzung der Ausgleichszahlung auf einem Einheitswert des Betriebs im Jahr 1935 beruht. 2000 konnte sie das Formular endlich abgeben, im März 2003 erhielt sie die Antwort, dass sie 58.000 Euro er100 Das dazu nötige Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz wurde erst im September 1994 publiziert. Siehe dazu Anne Dumasy, 1994, S.  11–14, 1998, S. 283 zur Priorität für Investitionen.

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Arbeitslosigkeit als neuer sozialer Tatbestand

halten würde, genauer gesagt: jährlich fünf Prozent von 58.000 Euro, und das solange, bis die Gesamtsumme an die drei Anspruchsberechtigten für den Betrieb (Simone Colbe, ihre Tochter und ihre Nichte, da ihr Sohn inzwischen gestorben war) ausgezahlt sei. Der Betrieb umfasste eine Fläche von 4.000 Quadratmetern, ein Bankier hatte alles zusammen auf 1,2 Millionen D-Mark geschätzt, das Grundstück allein auf 450.000 D-Mark. So viel hatten Simone Colbe und ihre Tochter nicht erwartet, dennoch waren sie enttäuscht von der Endsumme. Ihre Tochter erklärte, die Abwertung und Missachtung des Familienunternehmens ihrer Mutter seien für eine alte Frau schwer zu ertragen gewesen, die ihr ganzes Leben in den Erhalt und den Erfolg dieses Unternehmens gesteckt hatte.101

Arbeitslosigkeit als neuer sozialer Tatbestand Das Erste, was den meisten früheren DDR-Bürgern einfällt, wenn man über die wirtschaftliche Situation in Ostdeutschland nach der Vereinigung spricht, ist bis heute die Arbeitslosigkeit. Die Zahl der Arbeitsplätze hat sich auf dem Gebiet der DDR zwischen Ende 1989 und Ende 1992 halbiert. Hinzu kam der Wegfall vieler staatlicher Subventionen des alltäglichen Lebens, weshalb vor allem die Kosten für Lebensmittel und Mieten auf ein Mehrfaches stiegen. Die ersten Obdachlosenheime öffneten ihre Türen. Nach Christoph Lorke, der über die Armut im Osten und im Westen geforscht hat, wurde die Zahl der Wohnungslosen in den neuen Länder Anfang 1993 auf 200.000 geschätzt102 – eine gewaltige Zahl, zumal das Phänomen für die ehemaligen DDR-Bürger völlig neu war. Die Medien erklärten die Misere zur Erblast der Sozial- und Wirtschaftspolitik der DDR: marode Infrastrukturen, industrielle Rückständigkeit, geringe Produktivität der Beschäftigten. Wie Lorke zeigt, wurde gern von »echter« und »unechter« Arbeitslosigkeit berichtet und damit die bekannte neoliberale Metaphorik von Hängematte und Schmarotzern reaktiviert. Der Kündigungsschutz wurde gelockert, die Dauer der Zahlung von Arbeitslosengeld gekürzt und die Beschäftigungsverhältnisse flexibilisiert. In Städten wie Chemnitz, Jena oder Brandenburg waren in den Monaten oder Jahren unmittelbar nach der Vereinigung 30 bis 40 Prozent der 101 Siehe Agnès Arp, 2005b, S. 402–404. 102 Siehe Christoph Lorke, 2019.

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arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitslos – für diese Menschen eine bislang unvorstellbare und besonders schmerzhafte Situation, denn die DDR-Gesellschaft war sehr stark vom Arbeitsethos geprägt. Die Arbeit zu verlieren, hieß, in eine soziale Isolation verbannt zu werden, umso schmerzhafter, als sie in der DDR verpönt war. Die Arbeit strukturierte einen Großteil des sozialen Lebens durch die Brigade, das Kollektiv, gemeinsame Besuche im Theater oder Laienspielgruppen in den Betrieben – viele Elemente, die Solidarität und gesellschaftlichen Zusammenhalt schufen. Man freundete sich mit den Arbeitskollegen an und traf sich in der Freizeit, es gab Betriebskindergärten, Sportgruppen und gemeinsame Ausflüge und Geburtstagsfeiern. Hannelore Rotbusch (1941 geboren), hat in einem Krankenhaus gearbeitet: Sie erinnert sich mit Wehmut an die engen Beziehungen zu ihren Kolleginnen, mit denen sie sich bis heute, 15 Jahre nach Beginn der Rente, trifft. Einmal im Monat besuchen sie sich reihum zu Kaffee und Kuchen, jedes Mal geben sie sich Mühe, etwas Leckeres zu backen und die anderen zu überraschen. Sie spricht von der Leichtigkeit, mit der man in die Privatsphäre der Kolleginnen aufgenommen wurde, als etwas, das für die DDR-Zeiten charakteristisch war und die Vereinigung kaum überlebt hat. Die Nähe zu den Kollegen, die Treffen nach der Arbeit, die gemeinsamen Konzertbesuche, die Freundschaft zwischen den Kindern – das alles ist im Laufe der Zeit weniger geworden. Hannelore erinnert sich an ihre ersten Kontakte mit westdeutschen Kolleginnen: Schon 1990 erhielt jedes Krankenhaus ein Partnerkrankenhaus im Westen zugewiesen. Weil das Geld fürs Hotel fehlte, wurden die Gäste, die gute Ratschläge mitbrachten, um den Übergang zur Marktwirtschaft zu erleichtern, kurzerhand zu Hause aufgenommen. Was aber für die Ostdeutschen selbstverständlich war, war den Kollegen aus dem Westen etwas peinlich, es war ihnen unangenehm, bei Leuten zu übernachten, die sie nie zuvor gesehen hatten. Dann kam der Moment, als ihre Station ins westdeutsche Partnerinstitut fuhr, und die westdeutschen Kollegen sie »aufnehmen mussten«. Sie gibt zu verstehen, dass sie es nicht gerade »leichten Herzens getan haben«. Die Unterschiede in den zwischenmenschlichen Beziehungen nennt sie »massiv«. Sie ist die Einzige aus ihrem Institut, die noch Kontakt zu der westdeutschen Kollegin hat, bei der sie übernachtet hatte. Ruth Hahnemann, ebenfalls 1941 geboren, betont vor allem, dass die Trennlinie zwischen beruflicher Tätigkeit und Privatleben in der DDR sehr durchlässig war. Als sie bei der Jugendhilfe arbeitete, hatte sie oft Kinder ohne Familie, um die sie sich beruflich kümmerte, am Wochenende oder in 48

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den Ferien bei sich zu Hause. Vielleicht haben deshalb ihre beiden Töchter die soziale Ader geerbt und arbeiten in der Alten- und Krankenpflege bzw. im Kinderheim. In der Kindheit waren sie es gewohnt, ihr Spielzeug und ihre Mama am Wochenende zu teilen. Auch der Bericht der 70-jährigen Erika Horn ist sehr aufschlussreich. In der DDR arbeiteten Erika und ihr Mann in einem großen Kombinat. Sie verloren gleichzeitig die Arbeit, gleich nach der Vereinigung: »Mein Mann hat den einen Tag so beschrieben: ›Ja, hier habe ich jahrelang gearbeitet, habe als Handwerker alles aufgebaut. Und jetzt muss ich das alles wieder abreißen.‹ Der hat geweint.« Ein Unternehmen, das man mit aufgebaut hatte, abbauen zu müssen, ist für viele die Metapher für die Wende. Nach zwei Jahren bekam Erika eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM). Sie kehrte auf die Schulbank zurück, mit Mathe, Deutsch und allem, was man sich vorstellen kann. Sie lernte Nähen, Kochen und sogar Säuglingspflege. Diese Ausbildung aber nützte ihr nichts, dann absolvierte sie eine zweite als Lageristin und machte sogar einen Gabelstaplerführerschein. Die kleine Frau lacht, während sie diese Episode ihres Lebens erzählt, die damals so bitter war. Dann sagt sie einen interessanten Satz, um diesen Abschnitt ihrer Biografie zusammenzufassen: »Ja, so habe ich mich so über die Zeit, bis 2000 hingehangelt.« Dann wurde es noch schwerer für sie. Bei ihr wurde Brustkrebs diagnostiziert, sie konnte ihre früheren Berufe nicht mehr ausüben. Als sie dem Rat ihres Onkologen folgte, die Erwerbsunfähigkeit zu beantragen, war sie Anfang 50. Sie hat also nie mehr Arbeit gefunden. Vielen Vertretern ihrer Generation ist es trotz vieler Umschulungsmaßnahmen ebenso ergangen. Ihrer Meinung nach waren diese Maßnahmen nur dazu gut, die Arbeitslosenstatistik zu senken. Trotz all der Schicksalsschläge hat ihr Mann das Ganze schwerer ertragen als sie: »Er konnte sich nicht vorstellen, dass so ein Betrieb so einfach kaputt gehen kann. Dass er keinen Wert mehr hat. Und ich habe ja auch selber miterlebt, wie hochwertig mit Devisen eingekaufte Materialien einfach in die Tonne geknallt wurden. Und das hat er eben überhaupt nicht verkraftet. Und dann das Zuhause-Sein.«

Er wurde Alkoholiker. Die Arbeitslosigkeit wird oft als völlige Enteignung erlebt, das hören wir in vielen Interviews, die die Folgen des Arbeitsplatzverlustes jenseits der rein wirtschaftlichen Frage zeigen. 49

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Arbeitslosigkeit war für die Ostdeutschen nicht nur der Verlust der Arbeit, sondern auch eine Erschütterung ihres sozialen Lebens. Auch diejenigen, die ihr entgangen sind, haben brutale Formen der Entwertung ihres sozialen Kapitals erlitten. Auf ihren Reisen durch die sächsischen Städte hat Petra Köpping dutzende Geschichten früherer Bauingenieure gehört, die im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Hilfsarbeiten auf Baustellen annehmen mussten. Diese Entwertung der beruflichen Qualifikation findet man in allen Bereichen. So hatte eine Biologin das »Privileg«, vom neuen italienischen Chef, der ihr Labor von der Treuhand gekauft hatte, als Medikamentenvertreterin wieder eingestellt zu werden. In der DDR hatte sie in der Forschung gearbeitet. Damals hatte sie einen Beruf, jetzt hat sie einen Job.103 Solche Lebensläufe, denen man sehr oft begegnet, sind immer schmerzhaft. Grundsätzlich wurde ein ganzes Wertesystem brutal infrage gestellt, was schreckliche psychische Folgen hatte:104 »Gestern noch Helden der Arbeit, sind der Bergmann und der Stahlkocher von einem Tag auf den anderen ›Verschmutzer‹ geworden und schuld an der Zerstörung der Umwelt.«105 Eine soziologische Forschungsgruppe hat Ostdeutsche mit Migranten verglichen: Das Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung hat 2019 die Studie »Ostmigrantische Analogien I. Konkurrenz um Anerkennung«106 herausgegeben. Für die sehr umstrittene Studie wurden 7.200 Personen telefonisch befragt. Sie zeigt, dass es Analogien zwischen Ostdeutschen und Migranten gibt: Selbstwahrnehmung als »Bürger zweiter Klasse« im Vergleich zu den Westdeutschen, geringeres Lohnniveau, höhere Arbeitslosigkeit und/oder häufigere Erfahrung mit verschiedenen Formen identifikatorischer und kultureller Abwertung im Alltag. Das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, finden wir auch in den Äu103 Siehe Daniela Dahn, 1996. 104 Es gab zahlreiche Selbstmorde, die meist durch Depressionen ausgelöst wurden. Andere Risikofaktoren waren schwere, unheilbare Krankheiten, soziale Isolierung, der Verlust eines Angehörigen oder finanzielle Probleme. Mehr als 70 Prozent der Selbstmorde wurden von Männern begangen. Bis Mitte der 1990er Jahre war die Selbstmordrate in den neuen Ländern doppelt so hoch wie in den alten. Dann sank sie bis 2007, und die Kurven haben sich angeglichen. Siehe dazu Statistisches Bundesamt, 1998, 2009 sowie https://www.gbe-bund.de/gbe/ (20.05.2022). 105 Jean Mortier, 2019. 106 Siehe Naika Foroutan, Frank Kalter & Mara Simon Coşkun Cana, 2019.

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ßerungen von Rolf Schubert wieder. Sie machen verständlich, wie die nach 1989 erlebten beruflichen Demütigungen durch die rückblickende Hervorhebung des Stolzes auf den Sinn der getanen Arbeit verstärkt werden. Rolf Schubert hat 1960 beim MfS angefangen. Für ihn diente seine Arbeit der Verteidigung des Sozialismus. Mehrere Jahre lang überwachte er die Protestbewegungen in den Kirchen. Er »führte« eine Reihe von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM), die er als »fortschrittlich« bezeichnet. Er kümmerte sich auch um »Fehlentwicklungen von Jugendlichen«: »Es waren keine Feinde, aber die neigten zu kriminellen Handlungen, Arbeitsbummelanten, Sachbeschädigung unter Alkoholeinfluss und Ähnliches.« Er versuchte, unter diesen Jugendlichen neue IM zu werben, was ihm zweioder dreimal gelang. Er engagierte sich für den Bau eines Jugendclubs, wo sie »sich selbst ihre Freizeit gestalten konnten«. Dann wurde er krank und, als er die Arbeit wieder aufnahm, versetzte man ihn in die Landwirtschaft: »Auch so eine Idiotie. Wie kann man einen jungen Menschen, der keine Ahnung von der Landwirtschaft hat, zu so einer Sache einsetzen?« Er musste darüber wachen, dass die LPG die Anbaupläne erfüllte. Damals habe Nikita Chruschtschow gesagt: »Das ist die Wurst am Stängel. Mais muss man anbauen.«107 In Schuberts Bericht mischt sich die Erinnerung an absurde Details mit der Überzeugung, dass seine Arbeit sinnvoll war: Ihre Legitimität lag im Gesamtprojekt des Sozialismus und in seiner persönlichen Rolle darin, auch wenn immer wieder lächerliche Kleinigkeiten und unnötige Hindernisse dazwischenfunkten. Rolf Schubert heiratete eine Kollegin. Weil Ehepaare nicht in einer Dienststelle arbeiten durften, wurde er in eine andere Kreisdienststelle versetzt: »Dort kriegte ich wieder die Linie, damals umbenannt in Linie XX, Staatsapparat und Politische Ideologische Diversion.« Er kümmerte sich um den Beat-Krieg: »Von Ulbricht gibt’s doch diesen Ausspruch, dieses yeah yeah yeah kann er nicht mehr hören.« Es ging um eine Reihe von Musikgruppen, die keine staatlichen Lizenzen für öffentliche Auftritte hatten und – so Schubert – »auch keine musikalische Ausbildung«. Trotzdem gibt er zu, dass es in der Bevölkerung Unterstützung für diese »Langhaarigen« gab, aber »die sind von der Straße weggefangen worden«. Seine 107 Chruschtschows Leidenschaft für den Maisanbau ist zwar bekannt und ging so weit, dass er mit aller Macht durchzusetzen versuchte, im Norden der Sowjetunion gegen jede Wahrscheinlichkeit Mais anzubauen. Das Zitat kennen die Historiker allerdings nicht.

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Aufgabe bestand nicht darin, die Konzerte zu genehmigen oder zu verbieten, sondern »das Rowdytum, das damit verbunden war, zu unterbinden«. Dabei wurde erstmal sortiert: »Kriminelle, die Rowdys, die praktisch keine Arbeit nachweisen konnten, oder … Na ja, Schieffiguren will ich mal so sagen, die auf der Straße rumgelungert sind. Die wurden weggenommen und wurden zur Arbeit in den Braunkohletagebau geschickt (lacht) … Eine Maßnahme … und die Haare wurden abgeschnitten (lacht).«

Das Lachen, das die beiden etwas zusammenhanglosen Sätze unterbricht, verrät ein gewisses Unbehagen. »Auf der Straße rumlungern«, asozial sein, keine Arbeit nachweisen können – das alles ist in seinen Augen eindeutig problematisch, jeder sollte durch seine Arbeit zum Wachstum der Produktion beitragen. Wer in der DDR nicht arbeitete, kam in große Schwierigkeiten oder gar ins Gefängnis. Schubert gibt zu, dass Unschuldige unter Zwang ins Bergwerk geschickt wurden, dass sie »nicht so tiefgründig geprüft« wurden, sieht aber nicht das Problem für die Anderen, die in seinen Augen offenbar verdient haben, was ihnen angetan wurde, weil ja auch die Bergwerke Arbeitskräfte brauchten. Dank der Überzeugung, dass man die »Asozialen« in zwei Gruppen trennen konnte, kann er rechtfertigen, wie er mit seinen Leuten »die Spreu vom Weizen getrennt« hat. Die grundsätzliche Legitimität der Arbeit der Staatssicherheit findet sich in all seinen Äußerungen. Er spricht oft kritisch über konkrete Ausführungen oder manche Absurditäten im Alltag bei der Erfüllung der Aufträge, die ihm erteilt wurden. Er erzählt Geschichten von DDR-Bürgern, die versucht haben, illegal über die Grenze zu kommen, und dabei ihre Kinder in Gefahr brachten, wenn sie »mit einem Kleinkind durch die Donau schwimmen« oder ihm ein Schlafmittel gaben, damit es unbehelligt in einem Kofferraum über die Grenze geschleust werden konnte. Er ist erbarmungslos gegenüber allen, die versuchten, in den Westen zu fliehen, und wiederholt die Phrasen der Partei, die diese »Republikflucht« zu einem schweren Verbrechen erklärte, für das man mit mindestens 18 Monaten Gefängnis bestraft wurde. Zuhause durfte er nicht über seine Arbeit sprechen, nicht einmal mit seiner Frau. Rolf Schubert blieb bis zum Ende beim MfS, dann sind seine Kollegen »auseinandergelaufen wie eine Herde Schafe«. Seine berufliche Zukunft sah sehr schlecht aus. Trotz seines Jura-Diploms durfte er nicht Rechtsan52

Biografische Brüche und Korrekturen

walt werden, weil er an der Juristischen Hochschule des MfS studiert hatte. Im Januar 1990 nahm er einen Pförtnerposten im Großhandelbereich an – ein »demütigender« Posten, den er mit früheren Kollegen teilte: Die Kraftfahrer, die den Einzelhandel belieferten, grüßten ihn mit »Heil Mielke!« In der Kantine rückten alle weg, wenn er sich an den Tisch setzte. Ein paar Monate später, bei den ersten Entlassungen, kamen dieselben Leute zu ihm und wollten Ratschläge. »Ja. Wie kommt man mit diesem Chaos klar?«, fragt er. »Gar nicht.  […] Mich ärgert es noch heute. Viele halten den Mund.« Besonders wütend wird er, wenn er Vergleiche zwischen der DDR und dem Nationalsozialismus hört. Die Vergleiche zwischen Stasi und KGB hält er hingegen für gerechtfertigt: »Und wenn man von Strukturen eines Geheimdienstes spricht, die sind in der ganzen Welt wahrscheinlich ähnlich, ja.« Schubert spricht auch davon, dass die DDR Waren unter Wert exportiert hat, wozu sie gezwungen war, um überhaupt Exporterlöse zu erzielen und Devisen zu erhalten. Später fand er einen Posten als Pförtner und nach ein paar Monaten in einem Ausländerwohnheim, wo er krank wurde. Schließlich wechselte er zum Gebäude des ehemaligen Zentralkomitees der SED. Wegen seiner Gesundheitsprobleme wurde er Invalidenrentner. Heute erhält er 900 Euro im Monat – eine Rente, die wie bei den anderen früheren MfS-Mitarbeitern nach der Zahl der Jahre im Dienst und dem Durchschnittslohn der DDR-Bürger berechnet wurde.

Biografische Brüche und Korrekturen Die persönlichen Schicksale angesichts des wirtschaftlichen Zusammenbruchs der DDR sind sehr vielfältig. Die einen erlebten die Transformation als unverhoffte Chance, für andere stellte sie auch jenseits der beruflichen Tätigkeit jede Lebensplanung infrage. Einige biografische Momentaufnahmen offenbaren die tiefgehenden Veränderungen, die wir uns schwer vorstellen können, auch wenn ein Ereignis wie die durch das Corona-Virus ausgelöste menschliche, gesundheitliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise eine Ahnung vermittelt: Ganz plötzlich, von einem Tag auf den anderen wird das, was absolut undenkbar war, 2020 möglich: Ausgangsverbot, Unterbrechung des öffentlichen Verkehrs, Schließung der Grenzen, der Schulen, der Unternehmen, Homeoffice oder Homeschooling – Maßnahmen, zu denen sich ein Gefühl der Ohnmacht und die allgemeine Ungewissheit gesellen, wie man aus dieser Krise herauskommen soll. 53

Entwertung(en)

Sven Coldewey, 1968 geboren, erinnert sich, wie Anfang der 1990er  Jahre am Universitätsklinikum, wo er arbeitete, Oberärzte von einem Tag auf den anderen ohne Erklärung verschwanden. Sie wurden sofort verdächtigt, für die Stasi gearbeitet zu haben. Aber er hat sich keine großen Gedanken gemacht. Das interessierte ihn nicht besonders, er hat »persönlich nie so richtig Nachteile spüren müssen«, denn er hat sich nicht politisch engagiert. 1991 konnte er im Rahmen eines Austauschprogramms als Krankenpfleger in einem Krankenhaus der Partnerstadt in Bayern arbeiten. Dort lernte er seine künftige Frau kennen, eine Französin, was er oft so kommentierte: »Wir sind hier die beiden Ausländer.« Er meint, dass ganz am Anfang der 1990er Jahre niemand in Bayern Kontakt zum Osten hatte, er erinnert sich, »ein Exot« gewesen zu sein. Doch für ihn ist die Bilanz dieser Jahre positiv: Er konnte sich sehr schnell und sehr gut auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt integrieren, er hat Freunde gefunden und Verbindungen geknüpft, die bis heute bestehen. Er betont die positiven Seiten der Veränderungen, die schnelle Verbesserung in der ostdeutschen Infrastruktur, die neuen Straßen, die erneuerten Baudenkmäler, alles dank westdeutscher Investitionen. In seinen Augen waren die »Einheimischen« »sehr offen«, in seinem Beisein sagte niemand etwas Negatives über die Wiedervereinigung. Sein vier Jahre älterer Bruder hingegen, Kellner in einer Bar, durchlebte Höhen und Tiefen und hatte große Schwierigkeiten, beruflich Fuß zu fassen. Karin Günther (1970 geboren) hatte im Gegensatz zu Sven Coldewey Anpassungsschwierigkeiten, als sie 1990 in den Westen kam. Ihre Ausgangsbedingungen waren allerdings ganz anders. 1989 beschloss sie, ihren Eltern ins hessische Offenbach zu folgen, was sie heute allerdings bedauert. Sie machte die Erfahrung totaler Entwurzelung und starker sozialer Isolierung, zudem musste sie finanziell für ihre Eltern aufkommen, die lange arbeitslos blieben. In ihren Erinnerungen sieht sie eine Sackgasse, sie spricht immer wieder von der Enge der Wohnung, des Lebens und der Träume. Sie erinnert sich auch, dass die Ostdeutschen »wie Migranten« wahrgenommen wurden. Außerdem musste sie den Alkoholismus ihres Vaters ertragen, der wahrscheinlich außerstande war, unter diesen neuen Bedingungen zu leben. Er war als Polier restlos überfordert, was im Westen bedeutete, »du kriegst ein Auto, du musst flexibel sein, du musst in die Führungsetage gehen. Im Osten gab es eine ganz vorgegebene Struktur. […] Er war eigentlich ein Mensch, der die Dinge vorgegeben braucht, in denen er sich bewe-

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Biografische Brüche und Korrekturen

gen sollte. Und das hat er nicht geschafft, da war er nicht stark genug zu, und daran ist er letztlich auch kaputtgegangen. Ich möchte behaupten, diese Generation hatte sowieso schon ein Alkoholproblem, was im Osten, glaub ich, sehr verbreitet war.«

Es gab viele Pegeltrinker, die bis mittags ihr drittes Bier brauchten, dann funktionierten sie. »Und das ist natürlich im Westen nicht möglich gewesen, mit dem Auto fahren. Es war ja bei uns in der Kleinstadt mit dem Fahrrad alles zu machen.« Natürlich könnte man ihr entgegenhalten, dass auch Fahrradfahren im betrunkenen Zustand gefährlich ist, dass man oft mehr als zehn Jahre warten musste, um ein Auto zu bekommen, dass Fahrräder auch im Westen sehr verbreitet waren. Ihr Bericht hilft zu verstehen, wie unterschiedlich die Anpassungsfähigkeit, das Bedürfnis nach Stabilität, Routine und Struktur, der Wunsch nach Planbarkeit und Vorhersagbarkeit waren. Waren diese Bedürfnisse sehr ausgeprägt, so lief man Gefahr, den Wandel der 1990er Jahre als tiefe persönliche Entwertung zu erleben. Wenn man entweder weniger qualifiziert war oder die Abschlüsse in der Bundesrepublik nicht anerkannt wurden, hatte man oft größere Probleme, Flexibilität zu zeigen oder sein Können, seine Fähigkeiten anerkennen zu lassen. Für Karins Vater war der Westen »eine völlig andere Welt. Er wollte eigentlich im Prinzip, dass alles so bleibt, wie es ist.« Auch aus den Worten seiner Tochter spricht eine gewisse Melancholie. Der Westen wird nicht als ein Land, ihr Land wahrgenommen, sondern als »eine Welt« – eine andere Welt, eine feindliche Welt, eine Welt, die man erobern müsste, wenn man die richtigen Waffen dafür hätte. Das Auseinanderbrechen ihrer Familie 1999 und der endgültige Bruch mit dem Vater haben für Karin Günther mit der deutschen Vereinigung zu tun, die das empfindliche Gleichgewicht, in dem sie lebten, zerstörte. Bei Arno Wellenborn (geboren 1967) war es anders. Er lernte seine westdeutsche Frau 1988 im Rahmen einer Städtepartnerschaft unter der Ägide der katholischen Kirche kennen. Nach der Öffnung der ungarischen Grenzen fuhr er am 6.  November 1989 mit drei Freunden im Trabant los, besuchte sie unangekündigt in Bayern und erlebte dort den Mauerfall. Wenig später ließ er sich mit ihr im Westen nieder. Als Werkzeugmacher hatte er keine Schwierigkeiten, Arbeit zu finden. Von 1992 bis 1995 machte er eine Berufsausbildung zum Holzbildhauer, dann studierte er in Nürnberg Bildende Kunst und erfüllte sich damit einen alten Traum: Da er in einer praktizierenden katholischen Familie aufgewachsen war, hatte 55

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er kein Abitur ablegen und deshalb nicht Kunst studieren dürfen, was er immer gewollt hatte. Der Alltag im Westen war nicht immer einfach, er hatte eine Zeit lang den Eindruck, die Bayern würden ihn verachten, das Gefühl, ein »Bürger zweiter Klasse« zu sein, immer netter, immer besser sein zu müssen als die anderen. Als er 2001 in seine Heimatstadt zurückkehrte, hatte er Mühe, sich wieder in der Stadt seiner Kindheit einzugewöhnen. Nun wurde er manchmal als »Wessi« wahrgenommen, seine Freunde waren weg, er musste wieder von vorn anfangen. Susan Süß (ebenfalls 1967 geboren) durchlebte die Zeit der Instabilität in einer kurzen Phase der Arbeitslosigkeit, kam aber schnell wieder auf die Füße. Ihr Vater war Fußballtrainer, ihre Mutter Krankenschwester bei einer Athletikmannschaft. Ihre Eltern und Großeltern waren überzeugte Kommunisten und SED-Mitglieder. Dank ihrer Beziehungen in der Welt des Sports genossen sie gewisse Privilegien. Susan studierte Außenhandel und Ökonomie in Berlin und wohnte in einer kleinen Wohnung in Marzahn. Sie hielt sich von den Montagsdemonstrationen fern und gibt zu, im Herbst 1989 Angst vor unvorhersehbaren Ausschreitungen gespürt zu haben. Als sie 1991 ihr Diplom in der Tasche hatte, war sie arbeitslos und beschloss, in ihre Heimatstadt zurückzugehen. Ihre Tante vermittelte ihr eine Stelle beim Arbeitsamt, dort machte sie Karriere. Ihre Familie hat die »Wende« gut überstanden. Sie sind sich bis heute sehr nah, ihre Eltern wohnen in derselben Straße wie sie, ihr Bruder im selben Viertel. Ihre Leidenschaft für Fußball ist ungebrochen, sie spielt seit 30 Jahren im selben Verein. Seit 1990 trugen sie auch Turniere gegen westdeutsche Mannschaften aus. Dabei konnte sie schnell Kontakt mit Westdeutschen knüpfen und sich an die neue Welt gewöhnen. Sie erinnert sich an einen einzigen unangenehmen Zwischenfall: In einem Trainingslager wollte ein westdeutscher Trainer mit ihr und anderen Frauen ihrer Mannschaft ein kleines Geschäft mit gefälschten Lacoste-Poloshirts aufziehen, die sie zu Hause verkaufen sollten. Insgesamt hat es Susan Süß geschafft, sich an die neuen Codes zu gewöhnen, sich die Umgangsformen der westdeutschen Gesellschaft anzueignen. Das ist vielleicht gar nicht so paradox: Gerade systemtreue Personen beherrschten das Gesellschaftsspiel und konnten sich deshalb leichter an die neuen Regeln anpassen. Susan trauert der DDR nicht nach, betont aber, dass sie in der DDR schöne Jahre verbracht hat. Das trifft auch auf Markus und Franz Creutzer zu (1962 und 1967 geboren), die in ihrer beruflichen Entwicklung von den Veränderungen in den 1990er Jahren sehr profitierten. Markus hatte Ende der 1970er Jahre 56

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Abitur gemacht und wollte Journalist werden, aber ein Redakteur des Neuen Deutschland – ein Bekannter seines Vaters – riet ihm entschieden davon ab. Er war der Abteilungsleiter Landwirtschaft und musste ständig neue Rekordernten melden. Markus vermutet, dass sein autoritärer und paternalistischer Vater, Oberarzt in einem Bezirkskrankenhaus, das Gespräch herbeigeführt hat, um ihn zu desillusionieren und ihn zugleich auf den vorgezeichneten Weg zur Medizin zu bringen. Das aber wollte Markus auf keinen Fall. Er entschied sich für ein Jurastudium. In der DDR brauchte man dafür »Lebenserfahrung«, die weiblichen Bewerber mussten erstmal in der Produktion oder in der Landwirtschaft arbeiten. Seine erste Frau hat zwei Jahre Butter abgepackt, ehe sie Jura studieren durfte. Markus musste sich noch der Bedingung für männliche Studienbewerber in der DDR beugen: dem dreijährigen Militärdienst anstelle der 18  Monate Grundwehrdienst. Wie viele junge Männer seiner Generation hat Markus während dieser drei Jahre schwierige und schmerzhafte Erfahrungen gemacht, es war »wie ein großes schwarzes Loch«.108 Das war Anfang der 1980er Jahre, als eine neue Eiszeit im Kalten Krieg begann. Am Ende der Dienstzeit arbeitete er im Kulturhaus seiner Kaserne. Das heiß ersehnte Jurastudium gefiel ihm, obwohl es sehr SED-nah und politisch und die Teilnahme an den Vorlesungen obligatorisch war. Er wollte aber weder Notar noch Richter werden, das eine war zu staubig, das andere zu staatsnah. Anwalt? Keine Chance. In den 1980er Jahren gab es in der ganzen DDR nur 600 Anwälte (zum Vergleich: in München waren es im selben Zeitraum zehnmal so viel), und »man brauchte eigentlich keine Anwälte in der DDR«. Er bewarb sich also um eine Doktorandenstelle, die er erhielt, obwohl er kein Parteimitglied war. Nach einem Jahr warf die Wende seine Pläne über den Haufen. Die Furcht, man werde die DDR-Juristen nach der Vereinigung nicht benötigen, und die bevorstehende Geburt seines Sohnes brachten ihn dazu, die Richtung zu ändern (»Ein Plan B war immer wichtig«) und vorübergehend zum Journalismus zurückzukehren. Das Ende der DDR befreite ihn, er schrieb begeistert Reportagen. Auch als junger Jurist fasste er schnell Fuß, denn »ein Diebstahl ist ein Diebstahl, das ist im Westen nicht anders als im Osten«. Markus bekam ein Angebot von einem Forschungsinstitut in Bayern, das er trotz der damit verbundenen Trennung von seiner Familie annahm. Er blieb nicht lange dort, sondern 108 Siehe auch den autobiografischen Roman Geboren am 13. August 1961 von Jens Bisky, 2004.

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begann in Ostdeutschland eine Laufbahn als Staatsanwalt. Zwischenzeitlich wechselte er zu einem Ministerium und arbeitete später als juristischer Berater in einer ehemaligen Sowjetrepublik. Seine erste Frau hatte größere Schwierigkeiten, ihren Platz zu finden. Sie war SED-Mitglied und wollte Richterin werden, wurde aber 1988 wegen ihrer Unterstützung für Glasnost und Perestroika nicht zur Richterin gewählt. Vor den Sommerferien 1989 in Ungarn (in diesem Jahr fuhren sie in einem fast leeren Zug zurück, der bei der Hinfahrt überfüllt gewesen war, weil alle über Ungarn in den Westen wollten) kapitulierte und kündigte sie. Ihr Traum zerbrach. Vier Jahre später wurde sie wegen dieser Kündigung rehabilitiert und 1993 zur Richterin ernannt. Doch nun hatte sie ein kleines Kind und schaffte es nicht, die für einen erfolgreichen Wechsel ins nun gesamtdeutsche Recht nötigen Weiterbildungen zu absolvieren. Wegen all dieser Faktoren musste sie in der Probezeit aufgeben. Trotz allem Eifer, die neuen Gesetze zu erlernen, war der Rückstand zu groß. Das war eine gewaltige Schmach. Dann bot ihr eine Kölner Kanzlei eine Stelle an. Ein Anwalt der Kanzlei verliebte sich in sie. »Außerdem war er aus dem Westen und sah auch noch aus wie Kennedy junior!« 1993 verließ sie Markus. Sie beschlossen, ihr Kind fortan paritätisch im Wechselmodell zu betreuen, was damals noch sehr selten war und ihnen selbst von ihren Verwandten viel Kritik einbrachte. Franz, Markus jüngerer Bruder, wollte in den 1980er Jahren NahostWissenschaften studieren, er interessierte sich für die religiösen Konflikte im Nahen Osten, scheiterte jedoch an der Voreignungsprüfung. Anders als sein Bruder hatte er keinen Plan B. Dann schlug ihm sein Vater vor, Informatik zu studieren, und vermittelte ihm einen Besuch an der Akademie der Wissenschaften in Adlershof, um sich zu informieren. Das war damals für ihn eine »andere Galaxie«. Eltern und Lehrer redeten ihm zu, drei Jahre zur Armee zu gehen, als FDJ-Sekretär seiner Klasse sollte er Vorbild sein. Er weigerte sich und musste sich vor der Schuldirektorin rechtfertigen. Die Aussicht, von seiner damaligen Freundin getrennt zu werden, gab ihm den Mut, nein zu sagen. Er leistete nur den Grundwehrdienst von 18 Monaten. Diese Zeit nennt er eine »relativ verschenkte Zeit.« Als er 1988 sein Informatikstudium begann, war Glasnost im Fachbereich spürbar, »es passierte ganz viel«. Auch an der Universität bewegte sich etwas, er lernte den Theologen Heinrich Fink kennen, der 1990 zum Rektor ernannt wurde (»eine verrückte Sache«), und die Studenten bekamen ein Mitspracherecht. Der Mauerfall war ein magischer Moment. 58

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Am Abend des 9.  November 1989, dem Vortag seines 22. Geburtstags, saß Franz im Zug und hörte im Radio live die Pressekonferenz von Günter Schabowski. Er dachte, er habe falsch verstanden. Mit der Familie feierte er fern der jubelnden Menge in Berlin seinen Geburtstag. »Dann riefen meine Kommilitonen an und sagten, dass sie im Westen wären.« Als er am Montag wieder in die Uni kam, saßen Studenten in der Vorlesung und lasen die BILD-Zeitung, das konnte er kaum fassen. Auch er beschreibt eine Erstarrung und zugleich das Gefühl einer rasenden Beschleunigung. Anfang 1990 ging er auf Wohnungssuche. Die Situation war günstig, viele Ausgereiste hatten leere Wohnungen zurückgelassen. Auf der Straße traf er eine Studentin, die er an ihrem forschenden Blick als Wohnungssuchende erkannte. »Ich sehe mich noch die Straße langgehen, nach Wohnungen gucken, wo kein Licht brennt.« Im Scheunenviertel, einem alten Viertel in Ostberlin (heute im Bezirk Mitte), betraten sie eine dieser Wohnungen ohne Licht, deren Bewohner einige Wochen zuvor in den Westen gegangen waren. Er öffnete die Wohnung mit einem Dietrich, sie gefiel ihm nicht, aber die Studentin zog dort ein und erhielt später eine offizielle Genehmigung. »Das war verrückt.« Franz fand mit seinem Freund eine andere Wohnung im Hinterhaus, die Wohnung eines Polizisten, der in den Westen abgehauen war. Damals musste man nur zur Wohnungsverwaltung gehen und wurde zum offiziellen Mieter. »Man bekam Schlüssel und einen Mietvertrag. Alles!« Danach veränderte sich die Stadt Berlin sehr schnell und radikal. Insgesamt hatte Franz Glück, dass er sein Studium beenden und sich beruflich ohne Schwierigkeiten anpassen konnte. Das Studium finanzierte er als Taxifahrer im wiedervereinigten Berlin, dabei hatte er bald mehr Schwierigkeiten, sich in Ostberlin zurechtzufinden als in Westberlin. Mit dem Diplom in der Tasche begann er ein Pharmaziestudium. Franz sagt, dass er im Zuge der Wende »nur gewonnen, nichts verloren« hat. Er erlebte die 1990er Jahre in einer sehr positiven Dynamik ständiger Entdeckungen. Nie fühlte er sich als Bürger zweiter Klasse, immer privilegiert, und er gibt zu, dass er »viel Glück hatte, das war kein eigenes Verdienst«, und fragt sogar: »Wer hatte schon so viele Chancen wie ich?« Auch dem Sohn von Hannelore Rotbusch (1963 geboren) fiel der Übergang eher leicht. Er studierte in Berlin, war sehr sprachbegabt, lernte Englisch und Russisch, beendete das Studium kurz vor der Wende und fand schnell eine Stelle bei einer Firma im Westen. »Das war Glück, für diese Generation dann schon, ja.« Auch seiner Mutter brachte die Vereinigung positive berufliche Veränderungen. Sie machte eine Weiterbildung im Aus59

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land, was wenige Monate zuvor noch unvorstellbar gewesen war. »Vergesse ich nie, da bin ich mit dem Auto gefahren […] da wundere ich mich heute noch, wie man das gefunden hat ohne Navi.« Die einzige Unannehmlichkeit war, dass man die Ausbildung nun selbst bezahlen musste. In der DDR wurde alles staatlich finanziert. Die Schauspielerin Katrin Sass, seit der Hauptrolle in Good Bye, Lenin! in Deutschland wie im Ausland sehr bekannt, hat in Interviews erzählt, wie sie den Übergang erlebt hat. Sie betont zwar, dass sie der DDR keineswegs nachtrauert, erwähnt aber immer den radikalen Wandel ihrer Arbeitsbedingungen als Schauspielerin bei der DEFA, der einzigen Filmproduktion der DDR, zur gegenwärtigen Situation. In der DDR gab es 50 Drehtage, um 18 Uhr war Feierabend. Man musste sich nicht totarbeiten. Die DEFA war eine andere Welt.109 Auch die Bedingungen für die Regisseure, die in der DDR fest angestellt waren, und für die Zuschauer waren ganz anders. Ein Kinobesuch kostete fast nichts, meistens eine DDR-Mark. Ein Farbfernseher hingegen war absurd teuer, ungefähr 5.000 Mark. Bezogen auf ihr Schauspielerleben in der DDR erinnert sich Katrin Sass vor allem an die Vertrautheit mit dem Publikum, was auf James Scotts Konzept des »verborgenen Transkripts« verweist.110 Sie schwärmt von den flüchtigen Momenten, wenn den Schauspielern im Theater die verständnisvollen Blicke der Zuschauer zu verstehen gaben, dass ein Satz seine Wirkung gezeigt hatte, dass die politische Tragweite verstanden worden war.111 Sie meint, dass heute noch etwas von dieser gemeinsamen Erfahrung übrig ist. Wenn sie z. B. einen Unbekannten ihrer Generation auf der Straße in Berlin treffe, erkenne sie intuitiv auf den ersten Blick, ob er in der Bundesrepublik oder in der DDR aufgewachsen sei. Katrin Sass ist nach der Vereinigung in ein großes Loch gestürzt, sie erhielt drei Jahre lang kein Engagement mehr und verfiel dem Alkohol, dann ging es bergauf, und 2003 drehte sie Good bye, Lenin! Kurz nach der Öffnung der Archive der Staatssicherheit erfuhr sie, dass ihre beste Freundin sie jahrelang bespitzelt und Berichte über die privatesten Bereiche ihres Lebens geschrieben hatte – ein Schock, der sich nur schwer ermessen lässt. Wie viele Ostdeutsche erinnert sich auch Johann Meier (1951 geboren) sehr genau an den letzten Arbeitstag vor der Einheit. »Wir konnten 109 Siehe Thomas Wieder, 2019b. 110 Siehe James C. Scott, 1990. 111 Siehe Thomas Wieder, 2019b.

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alle Vordrucke, alles zerreißen ab 4. Oktober.« Er arbeitete wie seine Frau Anna im Bereich Adoption und Jugendhilfe. Am Abend des 2. Oktober sagte sein Chef: »So, das war es jetzt.« Das Ende der DDR war für Johann und Anna Meier der Beginn einer beruflichen Wende. Wie viele andere mussten sie sogenannte »Anpassungsqualifizierungen« machen, und sie wechselten sich ab, um am Wochenende ihre Kinder zu betreuen. Das war die Voraussetzung, um den Arbeitsplatz zu behalten. Sie empfanden es als sehr kränkend, weil sie jahrelang in der Jugendhilfe gearbeitet hatten und sich als durchaus qualifiziert ansahen. Trotzdem erkennen sie an, dass sie in der Bundesrepublik viel Neues und Spannendes gelernt haben, was für ihre Arbeit notwendig war, vor allem im Bereich der Kinderpsychologie. Ihre Stadt war die erste, in der eine Schulung für Pflege- und Adoptiveltern stattfand. So etwas gab es in der DDR nicht, und rückblickend verstehen Johann und Anna, wie sehr das fehlte. Unerträglich fanden sie hingegen, dass sie ständig verdächtigt wurden, das System, die Diktatur, aktiv unterstützt zu haben, vor allem, dass sie mehrmals überprüft wurden, ob sie etwas mit der Stasi zu tun hatten.112 Anna und Johann Meier sagen, dass die DDR ihre Heimat war, und »da fehlt einfach dann ein Stück«. Insgesamt hatten sie aber »keine Nachteile mit der Wende, eher Vorteile«, deshalb »spielt Ostdeutschland keine Rolle«. Ihre Aussagen zeigen allerdings, dass es durchaus Nachteile für sie gab, die sie jedoch für unerheblich halten. »Was Besseres könnte dem Land Deutschland nicht passieren, als dass wir wieder ein Volk sind.« Anna erinnert sich allerdings an die schwierige Zeit zwischen dem Mauerfall und der Vereinigung. »Ich wusste nicht, wo es hingeht, was wird jetzt aus uns.« Auch ihr Zeitgefühl änderte sich: »Das war schon auch so eine schnelllebige Zeit.« Die drei Stadtbezirke wurden aufgelöst, und sie wurden zu einem Jugendamt zusammengeführt. Anna kam in ein Büro, das sie nicht kannte, mit neuen Kollegen, es gab nicht einmal Möbel. »Da sind wir auf die Gänge und haben, wo ein Stuhl stand, einen Stuhl mitgenommen.« Das war natürlich nicht sehr beruhigend, nachdem man jahrelang eine sichere Stelle gehabt hatte. Das war »ehrlich gesagt schrecklich«. Nachdem Anna und ihr Mann dann aber erfahren hatten, dass sie ihre Arbeit behalten, wurde diese Periode eine der schönsten ihres Lebens. Die westdeutsche Partnerstadt lud sie in eine Jugendhilfeeinrichtung zur Fortbildung ein. Die westdeutschen Kollegen waren entgegenkommend und 112 Die Jugendfürsorger übten einen großen Einfluss auf die Familien aus.

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»topp nett«. Anna (genauso wie Hannelore) scheint nicht unter der Invasion westdeutscher Arbeitskräfte gelitten zu haben, die den Osten überschwemmten wie die Feuerwehr, die ein Feuer löschen will, das es nicht gibt. Anna Meier sagt nichts dergleichen, die Zusammenarbeit mit den Kollegen sei sehr gut gelaufen, ihre Ratschläge waren willkommen. Die einzige Ausnahme war ein Westdeutscher, ein total inkompetenter »arbeitsloser Erzieher«: »Der brachte nichts, der konnte nichts«, wurde aber zum Leiter des Jugendamtes ernannt. Die Präsenz der Westdeutschen hielt Anna für nützlich und wünschenswert, wenn es sich um kompetente Personen handelte. Sie kritisiert allerdings implizit, dass jemand Inkompetentes Chef werden konnte, nur weil er aus dem Westen war. Insgesamt aber verlief der Übergang für sie und ihren Mann relativ fließend. Menschen, die weniger stabil waren, hatten größere Schwierigkeiten, zu reagieren, als sie nach der Vereinigung mit abschätzigen Urteilen konfrontiert wurden. Die Geschichte von Dolly (1970 geboren) stellt dazu eine interessante, wohl aber auch extreme Illustration dar: Sie wuchs in einem Kinderheim auf, um vor elterlichem Missbrauch geschützt zu werden. Mit 16 beendete sie eine Ausbildung als Facharbeiterin für Zootechnik und Rinderproduktion und fand Arbeit in einer LPG in der Nähe von Eisenach. Ihr erstes Kind kam 1987 zur Welt, da war sie 17. Es wurde sechs Monate lang im Krankenhaus betreut, bis die Mutter volljährig war. Sie besuchte es oft, dann nahm sie es zu sich und erhielt vom Staat eine eigene Wohnung in einem Dorf im Bezirk Suhl. Sie nahm ihr Babyjahr113 in Anspruch, und als ihr Arbeitgeber sie entließ, fand sie nach wenigen Tagen eine neue Stelle in einer anderen LPG. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes im April 1989 ging sie wieder ins Babyjahr. Inzwischen wurde Deutschland vereinigt, die Treuhand hatte die LPG aufgelöst, und sie blieb bis 2006 arbeitslos. Während dieser 16  Jahre hatte Dolly diverse kleine, befristete und schlechtbezahlte Jobs als Putzfrau und arbeite nachts in einer Spielothek, um die Sozialhilfe aufzustocken. Außerdem nahm sie an verschiedenen Ausbildungen des Arbeitsamts teil, die sie als »absolute Zeitverschwendung« bezeichnet. 2006 fand sie endlich einem Ein-Euro-Job. Dieses in Frankreich unvorstellbare System sollte Langzeitarbeitslosen helfen (mit einer Arbeit, für die sie zusätzlich zur Sozialhilfe einen Euro pro Stunde erhielten), einen 113 1976 führte die DDR einen einjährigen bezahlten Mütterurlaub (das »Babyjahr«) ein, der anfänglich nur ab dem zweiten Kind genommen werden konnte, ab 1986 auch beim ersten. Darauf kommen wir im dritten Kapitel zurück.

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Fuß in die Tür des Arbeitsmarktes zu bekommen. Sie sagt aber, dass sie diese Arbeit in einem Waldkindergarten, wo sie später fest angestellt wurde, sehr gern ausübte. Seit Juni 2018 ist Dolly wieder ohne feste Anstellung und wird wegen psychischer Probleme behandelt. Ihr ganzer Lebensbericht ist von materiellen Sorgen geprägt, weil sie nie genug Geld hatte. Sie kritisiert das westdeutsche Sozialsystem, auch wenn ihr bewusst ist, was es ihr gebracht hat. Sie findet es kompliziert, alleinstehende Mutter zu sein und sich allein um die Erziehung ihrer Kinder kümmern zu müssen, während es so schwierig ist, sich auf dem Arbeitsmarkt durchzusetzen. Dolly gehört zu den Menschen, die besonders unter der Vereinigung gelitten haben: Ungelernte, Personen, darunter frühere Heimkinder, die oft keine Ausbildung abgeschlossen haben, und Opfer der Diktatur, die die Repressionen traumatisiert hatten und denen berufliche Möglichkeiten verwehrt blieben. Sie sagt, dass die psychologische Begleitung für sie sehr wichtig sei, um die Traumata ihrer Kindheit zu überwinden. Sie hat das Berufsleben in der DDR nicht lange erlebt, aber sie vermisst das Gefühl der Sicherheit, das Bewusstsein, dass man immer wieder auf die Beine kommen und arbeiten und zu etwas beitragen konnte. Sie vermisst auch den »Zusammenhalt«, der in ihren Augen die DDR-Gesellschaft kennzeichnete. Sie erinnert in verschiedener Hinsicht an die Personen in den Theaterstücken des ostdeutschen Dramatikers Oliver Bukowski, die das Ende der DDR nicht unbeschadet überstanden haben. Sie kommen oft aus benachteiligten sozialen Schichten. Vor allem im seinem Theaterstück Gäste von 1999 hat Oliver Bukowski auch das Lächerliche, das sie an sich haben, sehr genau erfasst. Andere wurden durch einen Bruch geprägt, der mit den Enthüllungen nach dem Untergang der Staatssicherheit zu tun hatte. Eine von ihnen ist Hannelore Rotbusch. Nach der Vereinigung stellte sich heraus, dass ein Kollege aus ihrem Institut ein Informeller Mitarbeiter (IM) der Stasi gewesen war, aber »man kann nicht sagen, dass der jemandem geschadet hat, denn bei uns spielte das Politische irgendwie gar keine große Rolle in dem Sinne«. Jeden Tag trank sie mit ihren Kollegen nach dem Mittag Kaffee, und sie haben »offen geredet«, sich kritische Witze erzählt. Dieser IM hat nichts weitergetragen, sonst hätten sie »da irgendwann mal was gehört oder so, ja«. Manche IM haben behauptet, ihre Spitzeltätigkeit habe eine Schutzfunktion gehabt.114 Der Film Gundermann (2018) von Andreas 114 Es ist grundlegend, die oft komplexen Gründe für eine Zusammenarbeit mit der Stasi zu verstehen. Diese Frage wird in der Öffentlichkeit und in manchen Forschungsarbei-

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Dresen über die ambivalente, vielschichtige und berührende Figur des gleichnamigen Sängers, Musikers, Dichters und Fahrers eines riesigen Abraumbaggers illustriert diesen Punkt sehr gut. Seine Vergangenheit als IM ging mit einem echten Engagement für den Sozialismus einher. Nachdem er wegen mangelnden ideologischen Gehorsams in Ungnade gefallen war, wurde er am Ende selbst von der Stasi observiert. Als Hannelores Mann in den 1980er Jahren ins westliche Ausland versetzt wurde, änderte sich ihr Leben als DDR-Bürgerin von Grund auf. Was für ein Privileg! Sie blieben ein paar Jahre, durften aber nicht herumreisen. Einmal machte sie mit der Frau eines Kollegen ihres Mannes, ebenfalls DDR-Bürger, heimlich einen Ausflug. Sie hatte Heimweh und sehnte sich nach der Familie, den Freunden. Hanelore bekam Arbeit in einer DDRDienststelle und freundete sich dort mit einem Kollegen an. Einmal musste sie, als er nicht da war, etwas aus seinem Aktenschrank holen, und entdeckte, dass er sie ausspionierte: Ganz hinten in einer Schublade stieß sie auf eine »Operative Einschätzung Kollegin Hannelore Rotbusch«. Sie erzählte ihrem Mann davon, der sich nicht weiter aufregte und nichts unternehmen wollte. Ein paar Monate später, im Februar 1989, verschwand ihr Mann: »Also erstmal wusste, konnte ich es gar nicht einordnen.« Hannelore durfte die Wohnung nicht verlassen, die Frau des Kollegen übernachtete bei ihr. Dann konnte sie gerade die nötigsten Sachen packen, wurde zum Flughafen gebracht und ausgeflogen. Nach der Landung wurde sie von Mitarbeitern der Dienstelle ihres Mannes abgeholt. Als sie aus dem Flugzeug stieg, konnte sie die ganze Situation immer noch »überhaupt nicht einordnen«. Sie durfte nicht in der Wohnung ihres Sohnes bleiben, sondern musste sofort nach Hause zurückfahren, wo sie am nächsten Tag »ein großes Verhör mit allen möglichen Leuten« über sich ergehen lassen musste. Aber sie wusste nichts. Die Stasi kam weiterhin zweimal in der Woche zu ihr und befragte sie. MfS-Mitarbeiter folgten ihr auf Schritt und Tritt: »Und die sind sogar zu meiner Schwester gekommen, als ich sie besuchte. […] Ich habe nichts gewusst. Die haben immer gedacht, ich weiß was. Aber ich wusste nichts. Ich habe nur geheult.« Die Stasi verdächtigte sie, zu wissen, wo sich ihr Mann aufhielt und wie er seine Flucht vorbereitet hatte. Rückblickend denkt sie, dass niemand wusste, wo er war, nicht mal die höchsten MfS-Offiziere. Eines Tages fand ten sehr vereinfacht dargestellt. Siehe dazu unter anderem Bettina Bock, 2013, und Thomas Großbölting & Sabine Kittel, 2019.

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sie sogar ein ausgerissenes Stück Zeitung in ihrem Briefkasten: »Liebst du dein Leben? Denke dran.« Einschüchterungen und Drohungen für den Fall, dass sie je mit ihren Freunden über diese Verhöre reden würde, hörten nicht auf. Sie hat sehr lange gebraucht, ehe sie wieder über diese Zeit ihres Lebens reden konnte. Im Sommer 1989 erlitt Hannelore einen Nervenzusammenbruch. Als sie wieder gesund war, fing sie wieder an, zu arbeiten. Eines Tages erhielt sie einen Anruf von Jugendfreunden aus der Bundesrepublik. Sie waren in der DDR und wollten sie besuchen. Das war nicht die vorgesehene Strecke, das war verboten, sie durfte keinen Kontakt mit diesen Freunden haben, mit denen sie in der Schulzeit jeden Nachmittag verbracht, in den Ferien verreist und zelten war. Sie wichen von der Transitstrecke ab, um sie abzuholen, und fuhren in einen Wald: »Und da habe ich erstmal alles erzählt, und das konnten sie nicht fassen. […] Und dann hat mein Schulfreund den westdeutschen Suchdienst eingeschaltet, aber da ist natürlich nichts rausgekommen.« Am nächsten Tag wusste die Stasi Bescheid, sie hatte das Telefon abgehört. Weil sie hofften, durch sie etwas zu erfahren, ließen sie die Freunde ungeschoren, obwohl sie vom Transitweg abgewichen waren. Das war im August 1989. Kurz danach begannen die Montagsdemonstrationen, und Hannelore nahm aktiv daran teil. Am 10. November 1989 erzählte ihr ein Kollege, den sie am Morgen traf, dass die Mauer gefallen sei. Sie raste nach Hause, schaltete den Fernseher ein: »Ich dachte, ich fasse es nicht. Dann kamen die Tränen.« Der Aufbruch in den Westen begann für sie mit einem Fehlstart: Mit Unterstützung einer anderen Jugendfreundin bewarb sie sich für eine Stelle in einem Institut in Westdeutschland. Kurz darauf rief ihre Freundin an: »Warum warst du nicht zum Vorstellungsgespräch?« Sie wusste nichts davon. Die Stasi hatte den Brief abgefangen. Im Nachhinein freut sich Hannelore, dass sie in ihrer Stadt geblieben ist. Neun Monate lang, von Februar bis November 1989 wusste sie nichts von ihrem Mann, der nicht einmal einen Abschiedsgruß hinterlassen hatte. Eines Tages erfuhr sie, dass er sich bei ihrem Sohn gemeldet hatte. Er war mit einer jüngeren Frau zusammen. »Dann kam die Scheidung, […] es war furchtbar, dem zu begegnen.« Kurz nach dem Mauerfall war die Stasi noch einmal bei ihr gewesen und hatte gesagt: »Nun hat es sich ja erübrigt.« Dann stellte sich heraus, dass ihr Ex-Mann selbst IM gewesen war. Ihr Sohn hat noch Kontakt zum Vater, aber sie spricht nie mit ihm darüber, auch nicht mit den Enkeln, das ist ein Tabu. Drei Wochen vor unserem Interview ist Hannelore zufällig ein Buch 65

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in die Hand gefallen, das Informationen über ihren Ex-Mann enthielt. Als sie es las, war es »wie ein Krimi«. Der Name ihres Ex und sein Deckname standen darin »schwarz auf weiß«. Er war IM und später sogar IME (IM im besonderen Einsatz) gewesen und hatte im Ausland für die Staatssicherheit gearbeitet. Das Unfassbare für sie ist, dass er schon sehr lange IM war. Sie hat nichts geahnt, nichts von seiner Spionagetätigkeit mitbekommen. »Gott sei Dank! Das war dann auch ein Schutz, dass ich wirklich nichts wusste. Das muss ich ihm zugutehalten.« Trotzdem fragt sie sich bis heute, wie es möglich ist, so viele Jahre allen etwas vorzumachen. »Das ist unfassbar.« »Der hat mit mir immer eine Show abgezogen.« Sie hat ihren Sohn informiert. »Ja, also es ist sein Vater und kein Kommentar, da äußert er sich nicht.« Hannelore beantragte Einsicht in ihre Stasiakte, aber viele Passagen waren geschwärzt. Hannelores Mann wurde darin als »Karrierist« beschrieben. »Also die haben ihn benutzt, er hat sie benutzt und ich bin von beiden benutzt worden.« Sie hat aus der Akte erfahren, dass sie überprüft wurde, bevor sie und ihr Mann ins Ausland fahren durften, wobei sehr persönliche Fragen gestellt wurden, die ohne direkten Zusammenhang zur Politik standen: Hat sie Verhältnisse mit Männern? Trinkt sie viel Alkohol? Ihr Chef hatte schriftlich bestätigen müssen, dass sie keinen »Unsicherheitsfaktor« für die DDR darstellte, wenn sie ins Ausland ging. Im Rückblick denkt sie heute, dass die Position ihres Mannes sie vor Schwierigkeiten bewahrt hat. Sie erinnert sich z. B., dass ein Kollege in den Westen ging. Sein Umzugswagen stand in der Straße, sie hatte sich gedacht: »Das ist mir jetzt egal, ich verabschiede mich jetzt, ich gehe hin.« Sie haben sich umarmt und wurden von der Stasi fotografiert, aber sie bekam keine Schwierigkeiten. Nach dem Mauerfall kamen ihre westdeutschen Jugendfreunde nach Magdeburg, um ebenfalls ihre Akten in den Archiven des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes zu lesen: »Da saßen sie in einem großen Saal und da waren Tische und da saßen ganz viele Leute. Manche haben geweint, weil sie so erschüttert waren, und sie haben ihre Akte gehabt und haben lachen müssen.« Als sie damals in die DDR kamen, wohnten sie in einer Wohnung in Dresden mit einem Balkon zum Fluss, auf dem frühmorgens Schiffe vorbeifuhren. Im Bericht eines Nachbarn stand: »Die Ehefrau des zu observierenden Objekts stand im Nachthemd auf dem Balkon und fotografierte« und »Sie ist immer schick gekleidet und freundlich und er eben nicht«. Diese Beschreibung hat die beiden sehr amüsiert, hinterließ aber auch ein bitteres Gefühl, wie eine Farce. Der Spitzel wusste offenbar nicht, was er über sie schreiben sollte. 66

Orientierungsverlust

Hannelore, die in dieser Tragödie sehr allein dastand, hatte Kontakt zu einem guten Bekannten gefunden, der sie 1989 sehr unterstützte. Nach dem Mauerfall stellte sich heraus, dass der Mann Doppelagent für den BND war, mit Wissen der Stasi. Trotz des Leids durch diesen Verrat von verschiedenen Seiten war für sie »die Wende eine Befreiung«. Sie konnte nach Asien fahren und freundete sich mit einer Niederländerin an, die mit einem Thailänder verheiratet war. Das wäre früher nicht möglich gewesen, wie sie immer wieder betont. Bis heute genießt sie die Reisefreiheit. Auch Franz Creutzer konnte nach 1990 endlich reisen, besuchte alle arabischen Staaten und arbeitete einige Wochen in einem israelischen Kibbuz. Diese Reisen verbinden sich für ihn mit der plötzlich wiedergewonnenen Freiheit und den ersten Kontakten mit der Funktionsweise echter Demokratie im Alltag des Kibbuz. Der Mauerfall hat mehr oder weniger große biografische Brüche ausgelöst und alle Lebensläufe der DDR-Bürger geprägt. Die Vielfalt der Erlebnisse ist ebenso wichtig wie die individuelle Fähigkeit, sich persönlich und beruflich neu zu erfinden. Beides ist mit den Erfahrungen verbunden, die alle in der DDR gemacht haben. Für manche war der Bruch so groß, dass es sich anfühlte, als verlören sie den Boden unter den Füßen, dass sie für die Welt und sich selbst zu Fremden wurden. Der Grund dafür war der Verlust von Orientierungspunkten, die immer unwandelbar schienen.

Orientierungsverlust Das Gefühl, dass »ein Teil von uns fremd wird«, erlebte Rolf Schubert in einem sehr speziellen Kontext, da er als MfS-Offizier nach dem Mauerfall mit einem brutalen Verlust jeder Orientierung konfrontiert war. Sehr früh, schon Anfang der 1980er Jahre, bemerkte er, »dass die Partei- und Staatsführung die Sache nicht mehr im Griff hatte«. Er wusste, dass die ökonomische Situation in der Sowjetunion, aus der die DDR die meisten Rohstoffe bezog, katastrophal war, und dass man »ohne Sowjetunion […] gar nicht existieren [konnte]«. Abgesehen von den anderen Ostblockstaaten war die DDR vom Weltmarkt abgeschnitten. Berichte von Schikanen, Absurditäten, »idiotischen« Aufträgen und grotesken Anekdoten würzen seine Erinnerungen und lassen einen gewissen Überdruss schon zu DDRZeiten erahnen. Er erinnert sich etwa daran, dass mehrere Abteilungen seines Ministeriums verpflichtet wurden, Fußballspiele des BFC Dynamo 67

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zu besuchen. »Oder die vielen Dinge, wenn Staatsbesuche waren, dass man da an der Strecke stehen musste«, obwohl sich niemand dafür interessierte. Nach dem Mauerbau am 13. August 1961 mussten sie wochenlang in der Dienststelle übernachten oder bei der Arbeit das Blauhemd, das FDJHemd, tragen. Kollegen von ihm stiegen auf Hausdächer, um »Fernsehantennen abzusägen«, damit die Leute kein Westfernsehen empfangen konnten. Er machte eine Funkerausbildung und musste Geheimcodes lernen: »Die habe ich noch heute im Kopf. So was vergisst man nicht.« Das Gefühl der Absurdität findet sich auch in einem Witz, den man sich zu DDR-Zeiten erzählte: »Drei politische Gefangene unterhalten sich über den Grund ihrer Verhaftung. Der erste sagt, er sei fünf Minuten zu spät zur Arbeit gekommen und wegen Sabotage verhaftet worden, weil er nicht genügend zum sozialistischen Wirtschaftswachstum beigetragen habe. Der zweite ist fünf Minuten zu früh zur Arbeit gekommen und wurde der Industriespionage für den Westen beschuldigt. Der dritte sagt, er sei genau pünktlich zur Arbeit gekommen und wegen ›kleinbürgerlichem Konformismus‹ eingesperrt worden.« Dieser Witz entlarvt die Willkür des Regimes, aber auch die Absurdität der SED-Phrasen und ihr Echo bei den Menschen, auch bei denen, die – wie Rolf Schubert– so sehr von dem Ziel überzeugt waren, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen, dass sie diejenigen, die dieses Ziel infrage stellten, ins Gefängnis steckten. Schubert findet, die Partei hätte 1989 bei den ersten Demonstrationen entschlossener reagieren müssen. Rückblickend bezeichnet er Honecker als »engstirnig, verbohrt, überzeugt davon, dass er es richtigmacht«. Er bedauert, dass Honecker immer alles allein entschieden hat, und gesteht ihm zu, dass er viele gute Ideen hatte, aber die Macht hätte teilen müssen. »Wir haben kampflos das Feld verlassen.« Er zieht eine Parallele zur Entscheidung während des Ersten Weltkriegs, die deutsche Flotte zu versenken, damit sie nicht dem Feind in die Hand fällt, aber er sagt auch, dass er nie auf das eigene Volk geschossen hätte. Aber wenn die anderen geschossen hätten, »na ja, dann hätten wir schon gekämpft«. Seine Beziehung zur friedlichen Revolution ist zwiespältig. In seinen Augen war die DDR »in gewissem Sinne ein demokratischer Staat« und ganz sicher kein »Unrechtsstaat«115 wie z. B. das Hitlerregime. Die Beschlagnahmung der SEDund MfS-Archive sowie ihre spätere Öffnung haben ihn zutiefst verärgert. 115 Über die DDR als Unrechtsstaat wurde viel geschrieben. Everhard Holtmann schreibt z. B.: »Die DDR wurde von den meisten ihrer Bürger als ein Despotismus mit fürsorglichem

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Orientierungsverlust

Zum 9. November 1989 sagt Rolf Schubert: »Das war einfach Chaos«: Die Mitglieder des Zentralkomitees hatten beschlossen, den Bürgern zu erlauben, einen Antrag auf Ausreise in den Westen zu stellen. Schabowski verkündete jedoch in einer live übertragenen Pressekonferenz, das trete »sofort in Kraft«, obwohl niemand Bescheid wusste – auch Schubert nicht. Für ihn war dieser Satz ein Fehler, er hätte sagen müssen: »Ab morgen sind solche Anträge möglich bei Dienststellen der Volkspolizei.« Er spricht von »Idiotie«. »Es hätte geordnet sein können«, behauptet er, und dass Schabowski die Leute bewusst so in die Irre geführt habe, »entweder aus Gründen, weil er die ganze Geschichte verraten hat, oder weil er es bis zum Stehkragen satthatte«. Insgesamt hätte man es anders machen müssen, ohne dass die Mauer zusammenfällt, ohne Chaos und Aufruhr. Danach war es nicht mehr möglich, die Gelegenheit war verpasst. Er ist überzeugt, dass die »Konterrevolution«, wie er sagt, hätte verhindern werden können und müssen, wenn der Staatsapparat nicht so unfähig gewesen wäre. Und er behauptet: »Die Mauer ist nicht gefallen.« In seinem Fall kann man ganz klar von Nostalgie für die DDR um ihrer selbst willen sprechen und von Wut darüber, dass ein ganzes gesellschaftliches System binnen weniger Wochen in die Mülltonne geworfen wurde, was für ihn zu einer Existenzkrise führte, von der er sich nie erholt hat. Nach dem 15.  Januar 1990 herrschte für alle MfS-Mitarbeiter das blanke Chaos. Er erinnert sich an die Menschenmenge vor der Zentrale in Hohenschönhausen. Drinnen warteten alle Mitarbeiter auf ihr Entlassungsschreiben – neun Etagen randvoll, Stufe für Stufe. Er selbst hat von 10 bis 18 Uhr darauf gewartet, sein Schicksal zu erfahren und zu hören, ob er weiter sein Gehalt bekommen würde. Wenn er mit seinen Kindern über diese Zeit spricht, bleiben die Verbrechen der Staatssicherheit unerwähnt. Er bedauert nichts von seinen Idealen: »Es war richtig, was wir getan haben.« Seine Frau und er haben keine westdeutschen Freunde, nur eine inzwischen gestorbene Tante aus der Familie seiner Frau. Ihre beiden Söhne leben im Westen, weil sie dort Arbeit gefunden haben. Karin Günther hat ihre Kindheit und Jugend südlich von Berlin verbracht. Sie erinnert sich auch an die Schwierigkeiten, als 1989/1990 alle Antlitz erfahren.« Damit träten die DDR-typischen sozialen Aspekte in den Vordergrund der Wahrnehmung, die jedoch nicht die Überwachung, Unterdrückung, Bevormundung usw. verbergen dürften. Dieses Konzept wird oft benutzt, um das Gesellschaftsmodell der DDR ganz und gar zu diskreditieren. Siehe Everhard Holtmann, 2010.

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Orientierungspunkte verschwanden. Angefangen hatte es schon kurz vor dem Mauerfall, als Menschen aus ihrem Umfeld von einem Tag auf den anderen verschwanden. Alle ahnten, dass sie wahrscheinlich in den Westen gegangen waren. Auch Karins Schwester verschwand mit ihrem Freund im August 1989 und ließ sie und ihre Eltern in großer Sorge zurück. Als sie die Schwester im Fernsehen in der Prager Botschaft sahen, beschloss der Vater, den Geburtstag einer Tante in Westberlin zu nutzen, um die DDR zu verlassen. Dann stellten Karin und ihre Mutter einen Antrag auf Familienzusammenführung.116 Karin, die gerade ihr letztes Lehrjahr begann, wurde sofort exmatrikuliert. Sie blieben allein in einer Wohnung zurück, die sie allmählich ausräumten. Alles, was sie nicht mitnehmen konnten, mussten sie zu Schleuderpreisen verkaufen. Karin erinnert sich, wie begeistert sich Nachbarn, Freunde und Bekannte auf ihre Sachen stürzten. Das hinterlässt bis heute einen bitteren Nachgeschmack. Dann erhielten Karin und ihre Mutter endlich die Genehmigung, Ende November auszureisen. Die Mauer fiel während ihrer letzten Vorbereitungen. Der Fernseher lief Tag und Nacht, alle gierten nach Nachrichten. Die schwierige Entscheidung (gehen oder bleiben?) war obsolet – jetzt konnten alle in den Westen, auch für einen Tag. Karin beschloss, nicht mehr zu warten, sie nahm ein Taxi und fuhr zu ihrer Schwester und ihrem Vater, die inzwischen in Offenbach am Main lebten. Sie hatte noch nie so viel DDRMark wie jetzt: Die 500  Mark für die Taxifahrt erschreckten sie nicht. Ihre Mutter folgte am 30. November 1989 mit dem Umzugswagen. Die Schwester zog nach Bayern und ließ den Vater ein weiteres Mal zurück. Die Familienkonflikte bestanden fort. Karin war fast 18, als die Mauer fiel. Sie glaubt, dass es schwieriger geworden wäre, wenn sie älter gewesen wäre und z. B. allein hätte wohnen wollen, denn in den 1980er Jahren war es immer noch schwer, eine Wohnung zu finden. Das Ende der DDR war für sie eine Zeit der Angst, aber 116 Auch nachdem Erich Honecker 1975 die KSZE-Schlussakte von Helsinki unterzeichnet hatte, die das Prinzip der Personenfreizügigkeit festschrieb, drohte Bürgern, die offiziell die Ausreise aus der DDR in die Bundesrepublik beantragten, Schikane durch die Staatsmacht. Wenn sie ausreisen durften, mussten sie meist ihre DDR-Staatsbürgerschaft aufgeben. Ihre Familien waren nach dem Prinzip der »Sippenhaft« Opfer von Repressalien. Offiziell gab es die Möglichkeit eines Antrags auf dauerhafte Ausreise in die Bundesrepublik gar nicht, dennoch konnte man so einen Antrag bei der Abteilung Inneres des Rates des Kreises oder Stadtbezirks, in dem man lebte, stellen. Diese Abteilungen arbeiteten eng mit der Stasi zusammen. Siehe dazu Renate Hürtgen, 2014.

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auch eine Phase sehr großer Freude über all das Neue. Ihr fehlte jedoch die Perspektive. In ihrer Erinnerung wollten alle weg, es gab keine Wurzeln mehr, und da hieß es, »der Letzte macht das Licht aus«. Was sollte man in den Westen mitnehmen? Würde die Rückkehr eines Tages möglich sein? Und wie würde das Leben dort sein? Fragen, die jedes Exil bestimmen, nur dass es sich hier um ihr eigenes Land handelte, das sich wiedervereinigte und de facto ein anderes Land wurde. Eine besondere Gruppe der Gesellschaft empfand diese Orientierungslosigkeit oft als sehr schmerzhaft. Das waren die Künstler der ersten und der zweiten Generation. Viele von ihnen verspürten eine doppelte Enttäuschung: Ihr Gesellschaftsprojekt wurde von der DDR-Bevölkerung als utopisch abgetan: Sobald die Möglichkeit einer Wiedervereinigung auftauchte, wollte niemand mehr etwas von ihren Vorschlägen für die Reform des Sozialismus hören. Außerdem konnten sie angesichts der Entwicklung in der DDR nur die Nutzlosigkeit ihres eigenen Opfers – das Leben unter der Diktatur – feststellen. Daniela Dahn hat die Ungerechtigkeit durch die systematische Entwertung der Ostdeutschen auch im Bereich Kultur und Forschung angeprangert. Sie hat öffentlich gemacht, dass in der Nähe von Leipzig im Sommer 1990 eine halbe Million druckfrischer Bücher auf Müllkippen entsorgt wurden. Pastor Martin Weskott aus Katlenburg in Niedersachsen hat einen Teil davon geborgen und in einer Scheune aufbewahrt.117 Darunter waren Klassiker, Noten von Bach, Bücher antifaschistischer Exilanten oder die Reden des westdeutschen Bundespräsidenten Weizsäcker – also keineswegs nur Werke, die man der ideologischen, realsozialistischen Literatur zuordnen könnte. Und dennoch war alles weggeworfen worden, weil jemand meinte, die Kunst der DDR, egal ob Malerei, Literatur oder Theater, sei jetzt nichts mehr wert. Diese Anekdote zeigt die Wahllosigkeit im Umgang mit dem gesellschaftlichen, kulturellen und symbolischen Erbe der DDR. Deshalb war es für Künstler und Intellektuelle oft schwierig, sich in der Bundesrepublik zu orientieren. Der Gegner, gegen den sie gekämpft hatten, nämlich die Willkür des Systems, war verschwunden und es war schwierig, sich zu positionieren. Maxim Leo spricht dieses Thema aus der Perspektive des 1970 geborenen Kindes an.118 Er beschreibt einen west117 Siehe Daniela Dahn, 2009, S. 70f. 118 Siehe Maxim Leo, 2011.

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deutschen Staat, der keine Bezugspunkte mehr bietet, um zu kämpfen, und das Fehlen einer gewissen Sicherheit, obwohl gerade sie früher »ein unerträglicher Panzer« gewesen war: »Der Westen hatte nichts Schneidendes, keinen Widerstand. Er konnte fortan machen, was er wollte, es gab keine Antwort, keine Reaktion. Dieses neue Land war wie ein Schaumgummiklumpen, man konnte hineinschlagen, ohne den geringsten Abdruck zu hinterlassen.«119 Natürlich gibt es auch in der westdeutschen Gesellschaft Ungerechtigkeit und Willkür, fehlt es nicht an Gründen, sich am Staat zu reiben, wenn man danach sucht. Aber diese Orientierungslosigkeit war ein ernstes Problem: Die Opposition zwischen zwei Ansichten war ein strukturbildendes Moment der DDR.

Die Veränderungen im Kunstbereich Ein Interview mit dem Maler Willi Sitte illustriert die Haltung vieler DDR-Künstler angesichts der westdeutschen Kritik. Er erklärt darin, warum er sich weigerte, weiterhin Arbeiter zu malen: »Das Thema ist für mich nicht mehr existent … Die Arbeiterklasse bietet uns die Voraussetzung, dass wir überhaupt künstlerisch arbeiten könnten! Ja, so habe ich gedacht, so habe ich geglaubt, denken zu müssen … Deswegen begriff ich nicht, wie sich diese Arbeiterklasse, der ich soviel Vertrauen entgegengebracht habe, bei der Wende verhielt. Das hat mich innerlich, auch als Marxist zutiefst verletzt.«120

In diesen Sätzen spürt man die Bitterkeit, die bei der Vereinigung viele Künstler empfanden, für die kulturelle Tätigkeit und Unterstützung des gesellschaftlichen Fortschritts untrennbar verbunden waren. Der Begriff der neuen Gesellschaftsordnung erschien rückblickend als Utopie und zugleich als Werkzeug der Diktatur der SED. Für diejenigen, die die DDR bewusst gewählt hatten, wurde das Ende dieses Staates als Ende des Humanismus wahrgenommen. Der ostdeutsche Schriftsteller und Essayist Peter Schneider fasst 1990 diese Idee folgendermaßen zusammen: Er verglich den 9. November 1989 119 Ebd., S. 267f. 120 Interview mit Willi Sitte, zit. n.  Eckhart Gillen, 1994, S. 139.

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mit Weihnachten in Kindertagen und sprach von einem Geschenk, das sich nicht mehr rückgängig machen lasse. »Wer diese unter Überdruck stehende Flasche einmal geöffnet hat, kriegt den Korken auf keine Weise mehr in den Flaschenhals zurück. Nur: Wer ist der Weihnachtsmann, wer sind die Beschenkten und um was für ein Geschenk handelt es sich eigentlich?«121 Die Antwort auf diese Fragen hängt natürlich von der politischen Perspektive ab, die man einnimmt. Doch sie sind typisch für die Ambivalenz, mit der die Vereinigung empfunden wurde: Sie brachte die ersehnte Freiheit für die Künstler und zerstörte den Rahmen, in dem sie tätig waren, den Spielraum, der ihre Inspirationsquelle in einem System war, das von Zensur und Propaganda dominiert wurde. Die Frage des zivilen Ungehorsams stellt sich in einer demokratischen Gesellschaft oder in einer Gesellschaft, die z. B. von staatlichem Rassismus geprägt ist, auf unterschiedliche Weise. Gegen wen soll man in einer Demokratie kämpfen? Kann man im Namen des Rechts das Recht brechen? Und wie? Welche Rolle kann und muss die Kunst in der Gesellschaft spielen? Was können wir darüber von der DDR lernen? Die erste Folge des Übergangs von einem sozialistischen Staat zu einem liberalen System ist das Ende der politischen Rolle der Künstler: Die Oppositionskunst verschwindet mit ihrem Objekt. Die Künstler, die in der DDR eine eindeutig politische Rolle spielten und sich nicht zuletzt durch das Bewusstsein ihrer Verantwortung gegenüber der DDR-Gesellschaft definierten, mussten einen Paradigmenwechsel vornehmen, eine neue Berechtigung für ihre Tätigkeit finden. Die Schwierigkeiten dieses Übergangs zu einem neuen Sinn der künstlerischen Tätigkeit kommen in zahlreichen Artikeln zur Sprache, die ostdeutsche Intellektuelle und Künstler nach der Vereinigung geschrieben haben. Die Staatsdiktatur schuf mit ihrem Verschwinden eine »Leere« für die meisten Akteure, deren Werk eng mit den Zwängen verbunden gewesen war. Paradoxerweise konnten viele Künstler, eben weil die Diktatur so präsent und im Alltag spürbar war, zwischen den Maschen der staatlichen Überwachung ein subversives Vorgehen entwickeln und eigene kreative Räume schaffen. Das trifft auf die berühmte Leipziger Schule in der Malerei ebenso zu wie auf die Pop-Art, der 2019 in Frankfurt an der Oder eine Ausstellung gewidmet war, die Werke aus der DDR und der Bundesrepublik zeigte und in einem Artikel mit dem Titel »Die Berliner Mauer in Rosa« besprochen wurde.122 Viele subversive Künstler wie Wasja 121 Peter Schneider, 1990, S. 9f. 122 Siehe Simone Reber, 2019.

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Götze oder Christa Dichgans waren dort ausgestellt. Bei der Musik denkt man sofort an Wolf Biermann, dessen kritische Liedtexte untrennbar mit dem strengen Staat als Quelle für Ironie und Inspiration verbunden waren, weshalb ihn die SED 1976 auswies. In der DDR traten auch Free-Jazz-Musiker auf,123 obwohl dieser avantgardistische Musikstil gar nicht zu den Prinzipien des sozialistischen Realismus passte.124 Ein interessantes Beispiel ist auch die Künstlerinnengruppe Erfurt, die nach 1989 in »Exterra XX« umbenannt wurde. Ihre Werke waren engagiert: Die Mitbegründerin Gabriele Stötzer gehört zu den Künstlern, die neue Themenfelder erschlossen haben, »die das Soziale und Politische im Ästhetischen mitdenken«,125 wie Beatrice Ellen Stammer feststellt. Die 1988 vom Schriftsteller und Verleger Gerhard Wolf, dem Mann von Christa Wolf, begründete Serie »Außer der Reihe« ist ein weiteres Beispiel unter vielen anderen.126 Darin veröffentlichte er Werke von Lyrikern und Dissidenten aus Prenzlauer Berg, dem Berliner Bezirk, der zur Metonymie für subversive Dichtung geworden ist. Viele Künstler in der DDR nutzten mehrere künstlerische Techniken, so die Mosaizistin und Malerin Magdalena Häfner, ihr Mann Eberhard, der Kunstschmied und Schriftsteller war, oder auch der Objektkünstler Reinhard Zabka.127 In allen Künsten machte die DDR ein Aufblühen der künstlerischen Tätigkeit und Gemeinschaft möglich, wie es sich nur in einer »durchherrschten Gesellschaft«128 entwickeln konnte. In dem Artikel »Fremd im eigenen Land« schreibt der Schriftsteller und Publizist Andreas H. Apelt über den Begriff der Autorität und ihre Auswirkungen auf die ostdeutsche Identität: »Was war normal in diesem Land? Um in DDR-Maßstäben zu denken, hieße dies geordnete Lebensverhältnisse, wobei die Betonung auf Ordnung 123 Zu ihnen gehörten Joachim Kühn (der die DDR 1966 verließ, obwohl er großen Erfolg hatte) und Ulrich Gumpert, der 1971 die Gruppe »SOZ« und 1973 »Synopsis« gründete, die sich 1983 in »Zentralquartett« umbenannte. Gumpert blieb bis zum Ende in der DDR und hatte ebenfalls großen Erfolg. 124 Siehe dazu Olivier Delaporte et al., 2019. 125 Beatrice Ellen Stammer, 2013, S. 19. 126 Siehe Paul Kaiser & Claudia Petzold, 1997. 127 Siehe Sibylle Goepper, 2017. 128 Jürgen Kocka erklärt mit diesem produktiven Begriff die komplexen Wechselwirkungen zwischen Alltag und Herrschaft im Leben der DDR-Bürger. Siehe dazu Jürgen Kocka, 1994, S. 547–554.

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lag.  […] Diese Ordnung hatte etwas Definitives, Vorherbestimmtes, Unentrinnbares, etwas von ferner Hand Gelenktes.  […] Hier blähte im Schatten der Gesellschaft eine eigene, menschliche Kultur, die möglicherweise nur unter Zwang gedeihen kann. Die freie Kunst in dunkle Hinterhöfe und auf Dachböden verbannt, in illegalen Zeitschriften geehrt und geheimen Lesungen gepriesen, war Teil dieser Alltagskultur.«129

Aus diesen Sätzen wird deutlich, wie sehr das Verschwinden der Oppositionskunst den Künstlern die Bezugspunkte genommen hat. Es gab eine reine Staatskunst, deren Ergebnisse nur selten interessant waren. Doch parallel dazu existierte auch eine künstlerische Praxis der Ablehnung, der Subversion, bei der die Künstler die Rolle von Volkstribunen für das allgemeine Bewusstsein einnehmen konnten. Die Eröffnung neuer Möglichkeiten nach 1990 hat manche Künstler paradoxerweise gelähmt. Was sollten sie jetzt gestalten, schaffen? Die Opposition, die Ironie, die Zweideutigkeit – all diese für das Verständnis der DDR-Kunst so wesentlichen Begriffe hatten in der Bundesrepublik kein Gewicht mehr. »Der Markt legte sich nach 1989 wie eine lähmende Glocke auf die DDRIntelligenz. Einige profitierten von ihm, indem sie die Befindlichkeitsliteratur geschickt vermarkteten. Nicht wenige zerbrachen an der Schwierigkeit, im pluralistischen Stimmengewirr eines Literatur- und Konsummarktes noch Gehör zu finden, weil der Oppositionswert der DDR-Provokationen in Westdeutschland offene Türen einrannte.«130

Für alle ostdeutschen Künstler stellte sich also nach der Vereinigung das Problem, dass die westdeutsche Gesellschaft weder Staatskünstler noch Dissidenten brauchte. Die Vorstellung eines Zusammengehörigkeitsgefühls, eines gemeinsamen Antriebs beim kreativen Prozess und eines politischen Aktivismus ist in der westdeutschen Gesellschaft weniger verbreitet, in der sich natürlich auch Künstler gegen die Konsumgesellschaft engagieren. »Niemand wäre in der alten Bundesrepublik auf die Idee gekommen, Bilder von Konrad Klapheck, Eugen Schumacher oder Georg Baselitz abzuhängen, 129 Andreas H. Apelt, 1994, S. 63–65. 130 Klaus von Beyme, 1998, S. 108.

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weil sie nicht gegen Globke oder den Koreakrieg in den 50er Jahren protestierten bzw. gegen den Vietnamkrieg in den 60er Jahren demonstrierten, wie es Andreas Hüneke im Fall Werner Tübkes indirekt fordert«131,

schreibt Eckhard Gillen. Die DDR-typische Oppositionskunst ist mit ihrem Gegenstand verschwunden und hat für die Ostdeutschen eine Leere hinterlassen, denen diese spezielle Form der Kunst vertraut war. Vielen bot sie eine Zuflucht, z. B. den Lesern literarischer Werke. Rolf Schneider hat erfasst, was der Verlust der Oppositionskunst bedeutete, weil sie weit über die pure politische Opposition zum Staat hinausging: »Derart wurde die Poesie zu einem Ersatz für alle öffentlich oder privat auszutragenden Konflikte mit sich selber oder mit der Umgebung. Sie war eine säkulare Theologie oder eine maskierte Psychotherapie. Die vom Staat verfügte Isolation der Bevölkerungsmehrheit führte auch dazu, dass man Auslandsreisen zu begehrten Zielen im europäischen Westen immer nur auf dem Papier unternehmen konnte, in den entsprechenden Erzählbüchern.«132

Theater, Kunst und Literatur haben also in der DDR vielfältige Aufgaben erfüllt: Sie waren »maskierte Psychotherapie«, aber auch eine Ausflucht für alle möglichen Konflikte und Formen der Freiheitsberaubung oder Instrumente der Sozialisierung. Nach der Vereinigung fehlte der Gegner. Diese Leere empfanden alle gesellschaftlichen, künstlerischen und kulturellen Akteure, ihnen fehlte die Wärme örtlicher Künstlerkreise und die Legitimierung durch den Protest. Viele bedauerten den Verlust der Utopie, der ihrer künstlerischen Tätigkeit die Daseinsberechtigung nahm. Die Beziehung zwischen künstlerischem Schaffen und Freiheit ist komplex. Fehlende Freiheit kann eine Quelle für Kreativität sein. Das erklärt die Vitalität der osteuropäischen Künstlerszenen, die relative Freiheit, die man in der DDR-Kunst, aber auch im russischen oder polnischen Film (man denke z. B. an Andrzej Wajda) beobachtete. Heute sieht man es beim iranischen Film, der sehr ähnliche Fragen stellt ( Jafar Panahi oder Asghar Farhadi sind gute Beispiele). Das ist vergleichbar mit dem, was in der DDR Anfang der 1960er Jahre mit der alternativen Künstlerszene in Ostberlin, Erfurt, Dresden und Leipzig begann und auf fast alle Großstädte übergriff. 131 Eckhart Gillen, 1994. 132 Rolf Schneider, 1994, S. 57.

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Aber es gibt noch andere Kriterien: In der DDR wurde die künstlerische Produktion nicht vom Markt bestimmt, sondern von Aufträgen des Staates oder der staatlichen Betriebe. Das kommerzielle Kulturangebot war auf ein Minimum reduziert. Der sozialistische Staat war praktisch der einzige Regulator des Kultur- und Kunstmarktes: »Damit die Kulturpolitik vermittelt und kontrolliert werden konnte, war die kulturelle Landschaft in der DDR von oben bis unten durchorganisiert«,133 erklären Anja Scholz und Cornelia Waldkircher-Heyne. Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) beschäftigte »Kulturobleute«, die für die Werktätigen Besuche in Museen, Theatern und Konzerten oder Ausstellungen organisierten. Hier erkennt man den Willen des Staates, Angebot und Nachfrage in der Kultur zu beeinflussen. Er begnügte sich nicht damit, den Rahmen und die Modalitäten festzulegen, nach denen sich die Kultur entfalten sollte, er organisierte auch die Begegnung des Publikums mit der Kunst des Landes. Dass nun der Markt an die Stelle der staatlichen Lenkung trat, hatte entscheidende Folgen. Der DDR-Staat hatte dem Kulturleben einen großen Stellenwert beigemessen, es sollte auch ein Schaufenster für das Ausland, vor allem die Bundesrepublik darstellen. Die staatlichen Ausgaben für Kultur und Kunst waren deshalb viel höher als die der Bundesrepublik. Die Vereinigung führte den freien Handel in Kultur und Kunst wieder ein und veränderte auch ihren Sinn, indem es die künstlerische Produktion einer kommerziellen Logik unterwarf und die großzügige finanzielle Unterstützung drastisch reduzierte. Dietrich Mühlberg analysiert die Anfänge der sozialistischen Kultur am Beispiel der Sowjetunion in den 1920er Jahren, was sich gut auf die DDR übertragen lässt. Er zeigt, wie Trotzki und Lenin auf die Rückständigkeit Russlands mit der von Staat und Partei organisierten »Kulturrevolution« reagierten: durch die »Verbreitung von Kulturtechniken im Volk«, die Förderung der Volkskunst einerseits, und durch die »Formung des neuen Menschen, fortschrittsorientiert, zeitbewusst und produktiv« andererseits. Die Rückstände im politischen Bewusstsein sollten durch Belehrung und Vorschriften aufgeholt werden, nicht durch frei gewählte kulturelle Betätigung im Alltag: »Bei der nun einsetzenden Formung des neuen Menschen wurde auch auf Bestände der Arbeiter- und der Reformbewegung des frühen 20. Jahrhunderts 133 Anja Scholz & Cornelia Waldkircher-Heyne, 1993, S. 54.

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zurückgegriffen: schreibende Arbeiter, Volkskunstförderung, […] Kritik der kulturellen Amerikanisierung. Das kulturelle Staatsmonopol hat aus solchen […] Vorschlägen und Haltungen Dogmen werden lassen.«134

Die so geschaffenen kulturellen Strukturen (festgelegte Direktiven, Verteidigung der Volkskunst gegen andere Formen des künstlerischen Ausdrucks, Ablehnung der westlichen Kultur usw.) erlaubten keinen freien Austausch, keine Entfaltung von freiem Angebot und Nachfrage. Mühlbergs Analyse berücksichtigt allerdings nicht die Freiräume am Rand des geschlossenen Systems, die man in der ostdeutschen Gesellschaft »Nischen« nannte, ein Begriff, den Günter Gaus verwendet, um den Rückzug auf sich, seine Familie und den Freundeskreis in der DDR in den 1970er und 1980er Jahren zu beschreiben.135 Die Analyse lässt aber zwischen den Zeilen erkennen, wie die staatliche Aufsicht in der Kultur jede Marktregulierung verhindert hat. Sehen wir uns die Kunstgalerien an: In der DDR stellten die Künstler ihre Werke neben den Museen in zahlreichen nationalen, regionalen oder kommunalen Einrichtungen aus. Die 40 Verkaufsgalerien136 des Staatlichen Kunsthandels der DDR, der das Monopol auf die kommerzielle Verbreitung hatte, unterstanden dem Ministerium für Kultur, das die Direktoren einsetzte. In diesen Galerien wurden überall im Land Werke von Künstlern ausgestellt, die Mitglieder des Verbands Bildender Künstler waren. Die Galerien organisierten Themenausstellungen über den Frieden, den Alltag der Arbeiter oder historische Sujets. Außerdem gab es kommunale Galerien, die den Städten und Gemeinden unterstanden. Das bekannteste Beispiel ist das Studio Bildende Kunst in Berlin. Es gab außerdem einige wenige private Galerien wie die von Judy Lybke in Leipzig, die Galerie Kühl in Dresden oder die Galerie Clara Mosch in Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz. Letztere sollte zwar ursprünglich ein Ort sein, der von den Bildhauern selbst geführt wird, aber sie konnten die relative Autonomie nicht lange aufrechterhalten. Bis zur Schließung am 27. November 1982 orga134 Dietrich Mühlberg, 1994, S. 41. 135 Siehe Günter Gaus, 1983, S. 154–167. Günter Gaus war der erste Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR von 1974 bis 1981. Die drei zentralen Kapitel des Buches sind sehr interessante Dokumente über das Leben der Ostdeutschen aus dieser Zeit. Er definiert die gesellschaftliche »Nische« als idealen Ort, an den sich die Ostdeutschen ins Privatleben, auf die Familie zurückziehen, um der Politisierung des öffentlichen Lebens zu entgehen. 136 Diese Zahl nennt Hartmut Pätzke, 1990, S. 57–62.

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nisierte sie 29 Ausstellungen, danach löste sich die Gruppe auf. Dem Staat war die Kontrolle über Angebot und Nachfrage wichtig. Die Begegnung zwischen der Nachfrage des Publikums auf der einen Seite und einem frei gewählten Angebot auf der anderen konnte nicht stattfinden, es gab in der DDR keinen Kunstmarkt. Die Vereinigung hat also die Marktwirtschaft im Kulturbereich eingeführt. Das über 40 Jahre hinweg durch massive Subventionen, Förderung und Unterstützung für Kultur und Kunst geformte System brach am Tag der deutschen Einheit zusammen. Marianne Beauviche stellt fest, dass die Folgen des Übergangs zum Kunstmarkt oft negativ waren: »Einige bildenden Künstler blieben außen vor«,137 erklärt sie, weil die gewaltige Veränderung überhaupt nicht vorbereitet war, denn selbst die wenigen privaten Kultureinrichtungen waren wie die Kunstgalerien de facto vom Staat kontrolliert worden. Man versteht, wie brutal die Vereinigung und der übergangslose Wechsel zum Kunstmarkt für die Künstler der DDR waren. Die Angst vor einer »kapitalistischen Kommerzialisierung« wurde oft als Entwertung der kulturellen Tätigkeit wahrgenommen, wie der Maler Eberhard Göschel schreibt: »Ich möchte gern im Westen ausstellen, aber ich will nicht das Gefühl haben, gekauft zu werden.«138 Diese Argumentation ist typisch für ein Kunstverständnis, das jedes Zugeständnis ablehnt und sich nicht auf eine kommerzielle Logik einlassen will. Diese Angst war von der Furcht vor einer intellektuellen Kolonisierung durch die Westdeutschen begleitet, die an die Praktiken des Kunstmarktes gewöhnt und damit im Vergleich zu den ostdeutschen Künstlern im Vorteil waren. Die Furcht vor einer westdeutschen Invasion bestätigte sich nicht, da sich im Osten »statt westdeutscher Galeriefilialen […] engagierte, ortsansässige Galeristen mit hoher Professionalität etablierten«,139 wie der Kunsthistoriker Eckhart Gillen schreibt. Trotzdem nährte das Misstrauen die Überzeugung, die Kommerzialisierung der Kunst komme ihrer Entwertung gleich, weil die künstlerische Tätigkeit im weitesten Sinne in den Augen vieler Ostdeutscher von vornherein inkompatibel mit den Prinzipien des Kapitalismus war. Einige äußerten grundsätzliche Vorbehalte gegen das kapitalistische System. Für andere war das Gesetz von Angebot und Nachfrage dem Kunstsektor fremd. 137 Marianne Beauviche, 1995. 138 Zit. n.  Eckhart Gillen, 1994, S. 141. 139 Ebd.

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So raubte der Übergang von einem durch den Staatssozialismus beherrschten System zu einem Kunstmarkt vielen ostdeutschen Bürgern und Künstlern die Orientierung. Die Vereinigung zwang sie zu einem Paradigmenwechsel: Wie sollte man die Idee aufgeben, dass der Markt nicht mit der Kunst zu vereinbaren war? Bei den Demonstrationen in Leipzig und der friedlichen Revolution spielten engagierte Bürger, Künstler und Intellektuelle eine entscheidende Rolle. Der Übergang zur Marktwirtschaft drängte sie jedoch an den Rand, in eine materiell oft schwierige Situation, weit weg von den Hoffnungen von 1989. Die große Demonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz wurde z. B. von Künstlern, Schauspielern und Intellektuellen mitorganisiert. Sie hatten in jenem Moment das Gefühl, dem Willen des Volkes Ausdruck zu verleihen und am ehesten zu dessen politischer Umsetzung beitragen zu können.140 Die Nähe zwischen den Künstlern und dem Rest der Bevölkerung hielt kaum einen Monat an – eine Erfahrung, die in der DDR-Gesellschaft das bittere Gefühl einer verpassten Chance und die wehmütige Erinnerung an intensive Begegnungen zwischen der Kultur und ihrem Publikum hinterlassen hat. Viele Künstler hatten große Mühe, in der neuen deutschen Gesellschaft ihren Platz zu finden. Der folgende Auszug aus einem Beitrag für die Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung von Wolfgang Kaschuba zeigt die Ambivalenz einer Rückwärtsgewandtheit bei manchen Künstlern als Reaktion auf ihre Ungewissheit und Unangepasstheit auf dem Kunstmarkt. »Ein wesentliches Charakteristikum des kulturellen Wandels in Ostdeutschland besteht für mich also darin, dass vielen kulturellen Praktiken des Alltags nicht nur die materiellen Ressourcen entzogen sind, sondern dass auch die ideellen Horizonte – und damit meine ich nicht: die ideologischen – keinen selbstverständlichen wie selbstverständigenden Ausblick auf eine zu bewältigende Gegenwart mehr möglich machen, bzw. dass es diese Horizonte gar nicht mehr gibt. So muss der Blick zwangsläufig zurückschweifen, muss Vergangenes sich neu sortieren, um wieder einen Standpunkt in sich selbst zu finden. Vielfach ist dieser aufzusuchende Ort wohl eine Art ›Post-DDRIdentität‹, die freilich kein politisches Zurück-Wollen bedeutet, sondern ein biografisches Zurück-Schauen. Es ist ein Blick, der nach Haltegriffen, nach Abgrenzungsmöglichkeiten, nach Elementen von Selbstdefinition sucht und 140 Siehe dazu Caroline Moine, Guillaume Mouralis & Laure de Verdalle, 2021.

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der es auch ermöglichen soll, Verlustbilanzen nicht als persönliches Scheitern, sondern als kollektiv erlittenes Unrecht zu deuten.«141

Ideale zu bewahren, ist das eine, aber wenn es »diese Horizonte gar nicht mehr gibt«, wird deutlich, dass der Versuch, ein nicht mehr vorhandenes Objekt innerhalb der heutigen deutschen Gesellschaft zu bewahren, eine Aporie darstellt. Dieser Blick auf die Vergangenheit ist in sich so widersprüchlich, wie die Position der Künstler in der DDR. Viele waren Dissidenten oder definierten sich als solche, manche profitierten auch von Privilegien, die ihnen die SED gewährte. Diese grundlegende Ambiguität, der man auch nach der Vereinigung unmöglich entkommen konnte, bestimmt das »Zurück-Schauen«, das Wolfgang Kaschuba beschreibt. Die Nostalgie ist nicht unbedingt Synonym für ein »Zurück-Wollen« oder für Nachsicht mit dem DDR-System, sondern enthält immer die Schwierigkeit, sich in den neuen gesellschaftlichen Strukturen zu orientieren, und den Wunsch, eine Erfahrung aufzuwerten. Dieses Gefühl teilen auch andere soziale Gruppen. Die Wahrnehmung einer kollektiv erlittenen Ungerechtigkeit, nicht eines persönlichen Scheiterns, charakterisiert jedoch vor allem die ostdeutschen Künstler und Intellektuellen als soziale Schicht, die die Veränderung mit den Demonstrationen bis zu einem gewissen Grad angestoßen und oft aktiv unterstützt hatte, in der Bevölkerung auf ein Echo stieß und sich nach der Vereinigung in der Gesellschaft an den Rand gedrängt und ohne politische Rolle wiederfand. Sie wollten das Regime verändern, die DDR demokratisieren, ohne über sie jedoch pauschal und nur negativ zu urteilen. Die jüngste DDR-Forschung betont diesen Aspekt: Es ist falsch, die DDR einseitig als Gesellschaft anzusehen, die zwischen Gegnern und Befürwortern des Regimes oder zwischen Beobachtern und Beobachteten gespalten war. Es gab unendlich viele Wege zwischen der radikalen, militanten und natürlich sehr gefährlichen Opposition und der uneingeschränkten Akzeptanz des Systems. Der Historiker Alf Lüdtke spricht in diesem Kontext von Eigen-Sinn – ein Konzept, das Oskar Negt und Alexander Kluge 1981 in einem Buch über Geschichte und Gedächtnis entwickelt hatten.142 Mit diesem Konzept lässt sich das individuelle Verhalten differenzierter er141 Wolfgang Kaschuba, 2005, S. 102, Kursivierung A. A. & É.G.-S. 142 Siehe Oskar Negt & Alexander Kluge, 1981, sowie unsere Erläuterungen dazu im Kapitel »Entteufelung? Die DDR in der wissenschaftlichen Forschung«.

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fassen als in der Täter-Opfer-Dichotomie. Es hilft dabei, die Sackgassen zu überwinden, in die das undifferenzierte Konzept von Mitmachen oder Widerstand führt. Man kann in der DDR nicht den vom Staat dominierten öffentlichen Raum und den privaten Raum gegenüberstellen, der von Familie, Freunden oder auch religiösen Gemeinschaften bewohnt wurde, als gäbe es eine undurchlässige Wand zwischen diesen Räumen. In der Realität waren die Verhältnisse viel komplexer. Deswegen lässt sich mit der Gegenüberstellung der Freiheit in der Bundesrepublik und der Unfreiheit in der DDR nicht gut arbeiten.

Vertrauensverlust Durch den Bericht von Anna Meier können wir uns eine Vorstellung von der Größe des Vertrauensverlusts und der Destabilisierung in den Jahren nach dem Mauerfall machen. Anna wurde 1951 in einer »typischen Arbeiterfamilie« geboren, wie sie sagt. Sie lernte Stenophonotypistin, entdeckte aber bald im Rahmen eines Berufspraktikums die Jugendhilfe für sich, in der sie den größten Teil ihres Berufslebens verbrachte. Anfang der 1990er Jahre musste sie sich mit ihren Kollegen um »Massen von Kindern« kümmern, deren überforderte Eltern, die mit ihrem eigenen Leben nicht mehr zurande kamen, sie zur Adoption freigaben. Ein solches Phänomen hatte Anna Meier zu DDR-Zeiten nie erlebt. 1992 und 1993 verschlimmerte sich die Situation, als es in der Umgebung nicht mehr genug Adoptiveltern gab: Sie mussten Adoptiveltern im Westen finden. Nie wird Anna Meier den Anblick der leeren Wohnungen vergessen, in denen sie wie viele ihrer Kollegen von der Jugendfürsorge nach zurückgelassenen Kindern suchte. »Die Eltern waren abgehauen, wussten nie, ob die Grenze auch wirklich offenbleibt. Und haben ihre Kinder hiergelassen. Wir haben die Kinder aus den Wohnungen herausgeholt und die Eltern waren fort.« Anna Meier vermittelte diese Kinder in eine Notunterbringung, später kamen sie in ein Heim oder eine Adoptivfamilie. Manche Eltern kamen natürlich zurück, aber diese spontanen Reaktionen haben Anna tief getroffen, sie war schockiert, dass Menschen, die vor dem Mauerfall nur kleinere Schwierigkeiten hatten, sich so hilflos und orientierungslos fühlten, dass sie derartig von der Geschwindigkeit der Veränderungen überrollt wurden. Zu DDR-Zeiten hatte sie nur mit Kindern von Leuten zu tun, die eine schwere Vergangenheit und wirklich große Probleme hatten, was manch82

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mal eine Adoption notwendig machte. Das änderte sich mit der Wende. Sie erzählt, wie überraschend und schwierig diese Erfahrung für sie war. »Also völlig normale Leute, die keine großen Probleme hatten, aber die aufgrund der Unsicherheit mit der Wende sich eigentlich ein zweites oder das erste Kind nicht anschaffen wollten und dann Kinder freigegeben haben.« Diese Zunahme von Adoptionen für Kinder aus relativ stabilen Familien sagt viel über die Schwierigkeiten, die viele nach der Vereinigung empfanden – finanziell, sozial, emotional und hinsichtlich der Ungewissheit, die besonders auf den Schultern der Schwächsten oder am schlechtesten Ausgebildeten lastete. »Aber die Angst war da.« Die größte Zahl der Adoptionsfreigaben aus ostdeutschen Familien gab es 1993, dann ging die Zahl bis 2012 kontinuierlich zurück und stagnierte.143 Binnen weniger Stunden wurden 1989 Dinge möglich, die 40 Jahre lang unvorstellbar gewesen waren. Was man für stabil und dauerhaft hielt, existierte nicht mehr. Der radikale Verlust des Vertrauens in die Zukunft hat viele Familien nachhaltig erschüttert. Von der Tiefe dieser Destabilisierung zeugt auch ein Beispiel aus einem anderen Interview. Die Autorin Sylke Jahn (1964 geboren) bekam ihr Kind 1989. Die anderen Kinder in ihrer Wohngemeinschaft, 1990 und 1992 geboren, gingen mit ihm in die Schule. Für den 1989 Geborenen gab es drei Parallelklassen, für die 1990 geborene Stiefschwester zwei und beim 1992 Geborenen nur noch eine Klasse für ihre Altersstufe. Deutlicher lässt sich der Geburtenrückgang in der DDR nach der Vereinigung und der Weggang der jungen Menschen in den Westen nicht illustrieren. Es ist gewiss kein Zufall, dass der Begriff der Geborgenheit mit all seiner Zwiespältigkeit  – der rückblickenden Wahrnehmung der DDR als geschützter Raum – häufig in den Aussagen auftaucht, die ein Geschichtslehrer144 in Sondershausen in Thüringen 2019 mit seinen Schülern gesammelt hat. Seine Schüler einer elften Klasse sollten Personen in ihrem Umfeld über ihre DDR-Vergangenheit befragen und die Ergebnisse zusammenfassen. So erklärte die Großmutter eines Schülers, sie habe sich in ihre Kindheit »behütet und beschützt« gefühlt, aber dieses Gefühl habe sich in der Jugend geändert. Dann fühlte sie sich eingeengt, sie hatte Lust zu reisen, war immer »auf der Suche nach Nischen von Freiheit«. Deshalb erlebte 143 Siehe Peter G. Kühn, 2014, S. 66–68, sowie Sandra Fendrich, 2005, S. 283–284. 144 Wir möchten uns bei ihm für die Überlassung der Ergebnisse seiner Schüler sehr herzlich bedanken.

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sie den Mauerfall als großartiges Ereignis: »Die Luft duftete nach Freiheit, die Ketten waren gesprengt und alles im Leben schien nun möglich zu sein.« Die Enttäuschung war umso größer: Während sie in der DDR als alleinstehende Mutter mit zwei Kindern gut zurechtgekommen war, wurde das Leben in der Bundesrepublik schwieriger. »Ein Nachteil der Wende war, dass die Frau ihren gesellschaftlichen Stellenwert und somit auch all ihre Errungenschaften verloren hat. Dieser Rückschritt war ein Gefühl, als hätte man Arme und Beine verloren.« Der Vertrauensverlust wird hier von Existenzangst begleitet. »In den Augen meiner Mama kann ich sehen, wie gern sie sich an die DDR-Zeit erinnert, und ich weiß, dass sie diese Erinnerungen immer im Herzen tragen wird«, erzählt eine andere Schülerin. Ihre Mutter berichtet von einem Lebensweg in der DDR ohne jede Schwierigkeit. In der Schule war sie in einem Rezitationszirkel und gewann eine Reise nach Moskau, »die schönste Reise meines Lebens«. Sie sagt, sie habe in der DDR nichts vermisst: »Man kann nichts vermissen, was man nicht wirklich kennt.« Und wie andere betont sie die Schwierigkeiten nach der Vereinigung: »Das Leben in der DDR hatte eine Leichtigkeit, die heute einfach verlorengegangen ist.« Ein Schüler fragte seinen Vater: »Warst du damals glücklich in der DDR?« Die Antwort war eindeutig: »Nein.« Seine Erinnerungen sind sehr ambivalent. »Sehr ungern erinnere ich mich an ein zweiwöchiges Lager, in welchem ich in Uniform zu Sport und Schießtraining antreten musste. Es gab eine Vielzahl von Freizeitangeboten. Dafür war ich sehr dankbar. Ich probierte mich in den Sportarten Boxen, Fußball und Tischtennis.«

Und trotz der Tatsache, dass er »nie in der Bundesrepublik hätte wohnen wollen«, antwortet er seinem Sohn, der ihn bittet, sein Leben in der DDR in einem Wort zu beschreiben, mit »ärmlich«. Als wäre sein Leben trotz der positiven Seiten, die er hervorhebt, trist, armselig, hinter seinen Erwartungen zurückgeblieben. Der Mauerfall war für ihn hingegen unbeschreiblich. »Als ich nach der Wende das erste Mal in die BRD reiste, konnte ich meine Emotionen kaum in Worte fassen. Ich lief staunend, mit offenem Mund umher und mir kam es vor, als sei das Gras dort grüner. Endlich fühlte ich mich komplett frei.«

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Eine Schülerin interviewte eine Person, die erklärte, es habe in der DDR einen stärkeren Zusammenhalt gegeben, da viel miteinander unternommen wurde, wie z. B. die Kartoffel- oder Rübenernte. Veranstaltungen im Ort wurden von fast allen Einwohnern besucht. Man konnte bedenkenlos draußen spielen, z. B. auf der Straße Schlitten fahren, weil es viel weniger Autos gab als heute. Deshalb kannte man sich auch besser. Ihrer Meinung nach war es »kaum möglich, einen Schritt zu machen oder ein Wort zu sagen, ohne dass die Staatssicherheit davon wusste«, doch für sie scheint dieses Gefühl nicht besonders problematisch zu sein. »Für jeden war das Leben in gewisser Weise vorbestimmt, wodurch es einem leichter fiel, Entscheidungen zu treffen.« Diese Feststellung muss man natürlich relativieren, viele mussten in der DDR sehr schwierige und schmerzhafte Entscheidungen treffen. Außerdem war die Staatssicherheit nicht so allgegenwärtig, sonst wäre die Gesellschaft wahrhaftig atomisiert und unfähig zu der kollektiven Mobilisierung gewesen, die Ende der 1980er Jahre stattgefunden hat. Auch in diesem Interview werden Vertrauen und Leichtigkeit als typisch für das Leben in der DDR dargestellt. Eine weitere von einem Schüler interviewte Person erklärt, sie könne nichts Negatives über ihr Leben in der DDR sagen. »Wir sind […] jedes Jahr in den Urlaub gefahren, und wir konnten es uns leisten. Das ist heute mitunter nicht mehr so. Was nützt mir die Reisefreiheit, wenn ich nicht genug Geld habe?« Wenn die Kaufkraft deutlich sinkt, wird auch die Richtigkeit der demokratischen Veränderungen infrage gestellt: Wie soll man dem neuen Staat vertrauen, in dem es unmöglich wird, zu verreisen? 30 Jahre nach der Vereinigung können wir auf die Beschreibungen von fortwährender Destabilisierung, Willkür, biografischen Brüchen und dem Verlust von Orientierung und Vertrauen nicht verzichten, auch wenn all das auf ganz unterschiedliche Weise wahrgenommen wurde. Die Erinnerungen an die DDR, die uns in den Berichten unserer Interviewpartner begegnen, gehen allerdings weit über diese negativen Erfahrungen hinaus. Seit einiger Zeit gibt es ein Phänomen der Wiederaneignung der Vergangenheit, den Wunsch, eine andere Geschichte der DDR zu vermitteln, die Erzählung über dieses Thema, die in den ersten Jahren nach dem Mauerfall von den Medien, den Lobbygruppen und den neuen westdeutschen Kollegen geprägt worden ist, wieder selbst zu formulieren. Insgesamt geht es darum, dass die Menschen ihr persönliches, individuelles und alltägliches Leben darstellen, um nicht Gefangene einer einzigen oder einseitigen Geschichte zu sein – einer Geschichte der DDR, die von anderen erzählt wird. 85

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Claudia Senik hat sich mit dem »Easterlin-Paradox«, dem berühmten Rätsel der »Glücksökonomie«, beschäftigt. Es lässt sich einfach zusammenfassen: In den 1970er  Jahren hat der amerikanische Demograf und Ökonom Richard Easterlin nachgewiesen, dass das starke Wirtschaftswachstum in den USA zwischen 1947 und 1970 nicht mit einem wachsenden Glücksgefühl der Amerikaner einherging. Er erklärt dieses überraschende Phänomen mit den negativen Auswirkungen des Konkurrenzdrucks: Entscheidend sei nicht das Glück an sich, man wolle vielmehr besser sein als die Referenzgruppe. Unter Berufung auf internationale Studien vor allem in den ehemaligen Volksdemokratien hat Claudia Senik in den 2000er Jahren eine etwas andere und deutlich optimistischere Lesart dieser sozialen Interaktion vorgeschlagen: »Die Erhöhung des Lebensniveaus in der Umgebung reduziert weder das Glücksgefühl noch nährt sie Ressentiments, sondern kann vielmehr Hoffnung wecken. Ich habe es in meinen Arbeiten über die Ostblockstaaten wissenschaftlich nachgewiesen: Die beneidenswerten Positionen der einen nähren die Pläne und die Mobilität der anderen. Ich habe dem Vergleichseffekt, den Easterlin entdeckt hatte, einen Effekt hinzugefügt, den ich ›Ansporn‹ genannt habe.«145

Für die DDR nach der Vereinigung gab es wahrscheinlich beide Effekte und sie wirkten gleichzeitig: Vergleich und Ansporn. Die Arbeiten von Claudia Senik passen zu den Theorien des amerikanischen Ökonomen Albert O. Hirschman, der eine Metapher aus dem Straßenverkehr nutzt. Steckt ein Autofahrer im Stau, freut er sich, wenn die 145 Zit. n. Anne Chemin, 2018. Siehe dazu auch Claudia Senik, 2014.

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Nebenspur langsam losfährt, weil er hofft, selbst auch bald voranzukommen. Bleibt seine Spur zu lange stehen, geht er womöglich unvernünftige Risiken ein, um die Spur zu wechseln. Dieser Mechanismus des sozialen Vergleichs wurde in verschiedenen Kontexten beobachtet, z. B. im Frankreich der 30 glorreichen Jahre des Wirtschaftsbooms zwischen 1945 und 1973. Claudia Senik hat ihn auch in den ehemaligen Ostblockstaaten entdeckt: Der Erfolg der einen kann für die anderen »die Verheißung einer gemeinsamen Welt« enthalten – natürlich nur, wenn sie greifbar ist. In gewisser Weise wurde diese »Verheißung einer gemeinsamen Welt« für die DDR nicht gehalten. Trotz der Reden von Kanzler Kohl, der vor den ersten (und letzten) freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990 »blühende Landschaften« versprach, führte die Vereinigung nicht zum Aufblühen des Wohlstands – ganz im Gegenteil. Zur Wirkungslosigkeit des Ansporn-Effekts kam für viele Ostdeutsche eine brutale Entwertung ihres symbolischen Kapitals. In Les pays disparu. Sur les traces de la RDA146 erzählt Nicolas Offenstadt, dass die Ostdeutschen ihm oft die Spuren ihrer Vergangenheit in Industriebrachen, leerstehenden Büros und Ruinen gezeigt haben, weil sie wollten, dass der Historiker ihnen hilft, ihre Vergangenheit vor dem Verschwinden zu bewahren.147 Sie wollten sich gewissermaßen ihre Vergangenheit wieder aneignen. Das geschieht in ihren Erzählungen auf ganz unterschiedliche Art und Weise.

Das Gefühl eines kollektiven »Wir« In den ostdeutschen Familienerinnerungen wird die DDR oft als Staat beschrieben, der sich vor allem durch ein anderes, solidarischeres Sozialverhalten definierte. Alle Ostdeutschen erwähnen unweigerlich diesen Aspekt des Alltags und bedauern den Verlust einer gewissen »Solidarität«, einer Art des Zusammenlebens und Zusammenseins, die sie als Bestandteil einer heute verlorenen Geborgenheit ansehen. Bei den bereits erwähnten Interviews der Schüler in Sondershausen fiel dem Lehrer auf, wie deutlich die Unterschiede zwischen den Generatio146 Siehe Nicolas Offenstadt, 2018. 147 Leonie Beiersdorf erläutert, dass sogar Straßen umbenannt wurden, die die Namen von Opfern des Faschismus trugen, relativiert jedoch die Behauptung, alle Spuren seien ausgelöscht worden. Siehe dazu Leonie Beiersdorf, 2015.

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nen sind. Eine Schülerin hatte eine 1953 geborene Frau befragt, die trotz ihres Glaubens und der Treue zur evangelischen Kirche ihr Abitur machen und studieren durfte, was in den 1960er Jahren kein Problem darstellte. Sie glaubt, dass es sicher nicht möglich gewesen wäre, wenn sie etwas später geboren wäre.148 Diese Frau hat ihren Glauben und die sozialistische Erziehung, die Konfirmation und deren sozialistisches Äquivalent, die Jugendweihe, miteinander vereint. Ende der 1970er Jahre entfernte sie sich immer mehr von der Kirche, um ihre Karriere nicht zu gefährden, und besuchte seltener den Gottesdienst, ohne jedoch – trotz ihrer SED-Mitgliedschaft – ganz mit der Kirche zu brechen. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen den Generationen: Als sie jung war, war es verboten, in Jeans herumzulaufen, die als westlich und dekadent galten, und als Junge lange Haare zu tragen, die »sozialistischen Schülern nicht würdig« seien. Auch das änderte sich später. Die Frau erinnert sich allerdings deutlich an das Gefühl einer inneren Spaltung, »wir wussten genau, was in der Öffentlichkeit gesagt werden durfte und was nicht«, und das ist bis zum Mauerfall so geblieben. Jüngere Zeugen beschreiben dasselbe Gefühl. Das erinnert an einen Witz, den man sich in der DDR erzählte: »Zwei Grenzsoldaten bewachen bei Sonnenuntergang die Mauer; fragt der eine den anderen: ›Woran denkst du?‹ – ›An dasselbe wie du.‹ – ›Du bist verhaftet!‹« Mit den vielen Witzen, die man sich in der DDR erzählte, konnte man Willkür, Zwang und den manchmal harten und schwierigen Alltag auf Distanz halten.149 Das Lachen hatte in der DDR eine soziale Funktion, wie überhaupt in jeder Gesellschaft, ob es ein autoritäres Regime ist oder nicht – wie Henri Bergson sagt: »Unser Lachen ist stets das Lachen einer Gruppe.«150 148 Sie machte ihr Abitur wahrscheinlich 1971. Grundsätzlich besuchten alle Schüler die zehnklassige Polytechnische Oberschule (POS). Die Erweiterte Oberschule (EOS) führte in vier Jahren (Klasse 9 bis 12) zum Abitur. Im Durchschnitt kamen nur zwei bis drei Schüler aus jeder achten Klasse an die EOS. Bevorzugt wurden neben den Schülern mit den besten Leistungen auch solche, die sich in der FDJ engagierten oder deren Eltern Privilegien genossen, die sich zu einer Offizierskarriere in der NVA oder für eine dreijährige Dienstzeit verpflichteten oder Pädagogik studieren wollten. Christliche Schüler, Kinder von Pazifisten, »Asozialen« oder Eltern, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten, durften nicht auf die EOS. Offiziell wurden auch Arbeiterkinder bevorzugt, das aber wurde zumindest ab den 1970ern nur noch halbherzig praktiziert. 149 Siehe Élisa Goudin-Steinmann, 2019b. 150 Henri Bergson, 1948, S. 9.

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Im Hinblick auf diesen inneren Zwiespalt wird das Westfernsehen von einer der Befragten als aufschlussreich beschrieben: »Letztlich war der größte Teil der DDR-Bürger überzeugt, dass die Berichterstattung der BRD-Medien über die DDR der Wahrheit wesentlich näherkam als die immer mehr zur Propaganda verkommene Berichterstattung in der DDRMedien.« Sie hatte eine »Antenne« dafür, wem sie vertrauen konnte, und glaubt, dass es vielen Bürgern ähnlich ging. Sie hat nicht persönlich unter der Stasi gelitten und sagt, sie habe trotz der Freiheitsbeschränkungen »ein erfülltes Leben« in der DDR geführt. Die Entschlossenheit, sich dieses »erfüllte Leben« wieder anzueignen, ist typisch für das Gefühl der Zusammengehörigkeit, eines »Wir«, das aus der Entwertung von Millionen Biografien und dem Wunsch resultiert, dieser Entwertung eine andere, nuanciertere Erinnerung entgegenzusetzen. Heute macht es die Befragte traurig, dass sie ohnmächtig dem Wachsen der AfD zusehen muss. Sie denkt, man hätte »das Schulsystem der DDR nach der Befreiung von der Ideologieüberfrachtung in vielen Bereichen übernehmen müssen«, da es nach ihrer Meinung qualitativ viel anspruchsvoller gewesen sei. Sie spricht von einer »Rasenmäher-Methode«, mit der auch in vielen anderen Bereichen bewährte Dinge abgeschafft wurden. Das Schulsystem der DDR gehört vor allem für die um 1950 geborene Babyboomer-Generation zu den Dingen, die man hätte bewahren sollen, anstatt das Kind mit dem Bade auszuschütten. Andere erinnern sich an die Solidarität, das Gesundheitswesen, die Tatsache, dass man »eine Familie gründen konnte und sicher war, sie ohne Probleme ernähren zu können«, wie es der Großvater eines anderen Schülers zusammenfasst. Es gab Subventionen für Kinderkleidung, Lebensmittel waren billig, es gab keine Arbeitslosigkeit. All das nährt ein Zusammengehörigkeitsgefühl: Wir haben etwas erlebt, was die anderen nicht verstehen, weil sie sich nicht dafür interessieren. Dabei wird der Fokus der vorherrschenden DDR-Darstellung verschoben, der sich allzu sehr auf die Staatssicherheit richtet und die DDR nur darauf reduziert. Der Einfluss der Stasi sei geringer gewesen, als man glauben könnte, betonen manche Zeitzeugen, die von den Schülern in Sondershausen interviewt wurden. Einer von ihnen hat seinen Vater befragt, der versicherte, seine Jugend sei »ruhig und wohlbehütet« gewesen, vom Polizei- und Kontrollapparat habe er nichts gemerkt. Seine Familie hat problemlos eine Neubauwohnung erhalten. »Wir konnten uns ein gutes Leben leisten und waren mit der Situation zufrieden.  […] Oft vermisse 90

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ich die ›alte Zeit‹. Ich gehöre nicht zu den Tätern oder Opfern, sondern schlichtweg zum zufriedenen Volk.« Der Großvater eines anderen Schülers erklärt, dass es »Schaufenstergenossen« gab, SED-Mitglieder, die unter Druck in die Partei eingetreten waren, aber »auch wenn das Leben in der DDR heute schlechter geredet wird, als es eigentlich war, hätte es mir nichts ausgemacht, dort bis an mein Lebensende zu leben.« Dieses Phänomen der Anpassung ist typisch für ein Leben in einer Zwangsgesellschaft, d. h. einer Gesellschaft, in der die Menschen Zwängen unterworfen sind, auch einer demokratischen. La stratégie de l’émotion von Anne-Cécile Robert beginnt mit einer aufschlussreichen Geschichte: »Mit der Demokratie ist es wie mit den Fröschen. Wird ein Frosch in kochendes Wasser geworfen, springt er mit einem Satz heraus; setzt man ihn in einen Topf mit kaltem Wasser, das man langsam erwärmt, lässt er sich widerstandslos kochen. […] Die meisten Brennstoffe, die das Feuer unter dem Topf nähren, wurden hinreichend beschrieben: Einschränkung der öffentlichen Freiheiten im Kampf gegen den Terrorismus, Gesellschaft des Spektakels, Explosion der Ungleichheit und so weiter.«151

Anne-Cécile Robert spricht nicht von einer Diktatur, sondern von unseren westlichen Demokratien, in denen wir immer mehr Einschränkungen der öffentlichen Freiheiten akzeptieren. Notgedrungen passten sich die DDRBürger den Zwängen der Diktatur an und entwickelten Umgehungsstrategien. Von diesen Erinnerungen an ein vergangenes Leben bleibt das »WirGefühl«, das auf anderen Formen des Zusammenseins beruhte, auf einer Gesellschaft, in der alle mehr oder weniger in einem Boot saßen, und wo es, wie sehr viele Personen bestätigen, mehr Solidarität gab. Für Cornelia Stieler haben die Ost-West-Unterschiede in der Arbeitswelt drei Jahrzehnte Einheit überlebt. »Wir haben sehr viel gearbeitet und weniger verdient als die Westdeutschen. Und wir haben erfahren, dass man im Westen ganz anders miteinander kommuniziert: im beruflichen Kontext deutlich oberflächlicher. In der DDR war man auf Arbeit eine Art Familie und blieb das auch in den ersten Jahren nach der Wende. Man hat sich nach der Arbeit nach Hause eingeladen, zum Grillen zum Beispiel, es wurden die Ehepartner und Kinder mitgebracht. 151 Anne-Cécile Robert, 2018.

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Das Leben und der Alltag wurden miteinander geteilt. Konkurrenz spielte eine sehr untergeordnete Rolle.«152

Was wir von Hannelore Rotbusch erzählt haben, stimmt voll und ganz mit diesem Gefühl überein. Die geradezu idealisierte Vision der DDR-Gesellschaft trifft auf Stielers deutliche Erinnerungen an den Empfang der ersten »West-Chefs«, die in den Osten kamen, um die Leitung der verkauften Betriebe zu übernehmen: »Die wurden so herzlich begrüßt, an den Abenden von Kollege zu Kollege gereicht, durften die Familien kennenlernen, wurden mit dem Osten vertraut gemacht.«153 Wie Hannelore und Ruth spricht auch Stieler von einer »unglaublichen Willkommenskultur«. Das passt zu der Zusammengehörigkeit und der Solidarität, die typisch für die DDR war und nach 1990 fortbestanden hat. Darüber hinaus gibt es auch eher anekdotische Unterschiede im gesellschaftlichen Umgang, die 30 Jahre Einheit überlebt haben. An jedem 8. März schenkt Franz Creutzer seinen Mitarbeiterinnen Blumen, wie es in der DDR üblich war. Der 8. März ist der Internationale Frauentag, der in der DDR gefeiert wurde. Er erinnerte an einen Streik von Textilarbeiterinnen in Petrograd (im heutigen Sankt-Petersburg) im Jahr 1917. Die Einführung eines Internationalen Frauentags hatte Clara Zetkin schon 1910 auf der Zweiten Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz angeregt. Damals hatte er vor allem eine revolutionäre Bedeutung. Der große Arbeiterinnenstreik von 1917 war eine Gelegenheit, um diese Idee umzusetzen. Christa Wolf erwähnt in einem Text von 1984 die Anekdote eines Taxifahrers, der ihr erzählte, »wie ungern er und seine Kollegen am Abend des 8. März Fahrdienst machen, wenn sie die ›außer Rand und Band‹ geratenen Frauen von ihren Frauentagsfeiern nach Hause fahren müssen.«154 Wenn das kein Schritt zur Emanzipation ist! Und er hat 30 Jahre Einheit überlebt. Franz bringt auch sein Erstaunen, als seine 20-jährige Tochter beschloss, weiter bei ihren Eltern zu wohnen, mit seiner DDR-Vergangenheit in Verbindung. Damals verließen die jungen Leute die elterliche Wohnung, sobald sie eine eigene fanden, was oft schwierig war. Für ihn ist die Entscheidung, bei den Eltern zu bleiben, wenn man schon lange erwachsen ist, 152 Cornelia Stieler, Jana Hensel & Hans Bartosch, 2018. 153 Ebd. 154 Christa Wolf, 1987, S. 733.

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ebenso erstaunlich, wie den 8. März nicht zu feiern – beides hatte er in der DDR anders erlebt. Auch mit Familienerinnerungen kann man sich gegen die brutale Entwertung der DDR-Lebensgeschichten verteidigen. In der Erinnerung, die in der Familie weitergetragen wird, ist der historische Hintergrund weder geradlinig noch lückenlos dargestellt. Oft werden Nebensächlichkeiten betont, die den Alltag geprägt haben. So haben Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall gezeigt, dass die Erzählung Freiräume lassen muss, damit die nachfolgenden Generationen sie sich aneignen können: »Sie muss Lücken und Leerräume beinhalten, die der Hörer mit Elementen aus seiner eigenen Vorstellungswelt und mit Fragmenten seines Wissens auffüllen kann. Erst dann kann er sich die erzählte Geschichte zu eigen machen.«155 Die Autoren sprechen von »kommunikativer Tradierung«. Bei der Anerkennung der Vergangenheit gebe es eine tiefe Spaltung zwischen öffentlicher und privater Sphäre, also zwischen dem, was man »historisches Wissen« nennen könnte, einerseits und der persönlichen Überzeugung, die von emotionalen Prozessen der Geschichtsaufarbeitung geprägt wird, andererseits. Ihre Analyse beruht auf einem Kategoriensystem von Jan Assmann, der zwischen »kulturellem Gedächtnis« und »kommunikativem Gedächtnis« unterscheidet.156 Daraus ergibt sich eine weitere Unterscheidung, auf der die Hauptthese ihres Buches beruht: die Unterscheidung zwischen dem erlernten Wissen über kollektive Geschichte und der Gewissheit hinsichtlich der Familienvergangenheit, auf die der Titel des Buches von Welzer, Moller und Tschuggnall, »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, verweist – eine Überzeugung, die trotz aller Beweise oft unerschütterlich bleibt. Ihre Studie entdeckt, isoliert und analysiert verschiedene Arten der Neuschreibung der Geschichte, durch die man sich vom akademischen historischen Wissen entfernt, um an familiären Gewissheiten festzuhalten, die manchmal im Widerspruch zum übermittelten Wissen stehen. Obwohl die Geschichte in der Schule gelehrt, in Museen und Filmen dargestellt wird, klammern sich die Menschen an Illusionen, sobald es um ihre Eltern geht, und distanzieren sich von der offiziellen, kollektiven Geschichte, um sich eine andere, oft dissonante zu erzählen. 155 Harald Welzer, Sabine Moller & Caroline Tschuggnall, 2012, S. 199. 156 Siehe Jan Assmann & Tonio Hölscher, 1988.

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Man kann – mutatis mutandis – davon ausgehen, dass ein ähnlicher Mechanismus auch bei der Erinnerungskonstruktion der Ostdeutschen am Werk ist, allerdings in einem ganz anderen Kontext. Angesichts der brutalen Entwertung ihrer Vergangenheit erzählen sie eine DDR-Geschichte jenseits des Unterdrückungsapparats. Sie leugnen die Tatsachen nicht, sondern stellen die Realität ihrer Erfahrung in den Mittelpunkt, gegen einen Diskurs, der diese Erfahrung oft nur unter dem Blickwinkel einer reduzierenden und monolithischen Interpretation wiedergibt. Die Familienerinnerung neigt dazu, die Geschichte umzuschreiben, um die Einheit der Familie zu bewahren – auch das ist ein Phänomen in Familien, die in der DDR sozialisiert wurden. Die Erinnerungskonstruktion der Ostdeutschen beruht zusätzlich auf dem Gefühl einer Besonderheit, einer anderen Beziehung zu den Mitmenschen, zur Gesellschaft, zum Frausein, zum Konsum oder zur Arbeit. Dieses Gefühl schafft eine gemeinsame Zugehörigkeit, die das »Wir« festigt. Das gilt vor allem für die Generation der heute 40- bis 50-Jährigen, die beim Mauerfall Kinder oder Jugendliche waren. Sie neigen dazu, das Bild ihrer Eltern und Großeltern zu schützen, deren Biografien stark entwertet wurde. Als Zeugen ihrer vorübergehenden oder anhaltenden Bedrängnis in der Zeit des gesellschaftlichen Übergangs sprechen sie oft vom Schweigen ihrer Eltern, die in einer gewissen Scham, in Unverständnis oder einer noch offenen Wunde gefangen waren und teilweise immer noch sind. Ihr Reflex, sie vor dem äußeren Urteil zu schützen, geht mit einer Selbstsicherheit einher, anders von der DDR zu sprechen, einer Sicherheit, die ihren Eltern fehlte.157

Der Antifaschismus Ein anderer wichtiger, wenngleich weniger zentraler Punkt in den Lebenserzählungen ist die Erinnerung an das in der DDR außerhalb der Familie von Schule und Gesellschaft vermittelte Wissen über die Vergangenheit. In den Lebensberichten vieler Ostdeutscher wird deutlich, dass die antifaschistische Erziehung eine sehr wichtige Rolle gespielt hat. In der DDR, so sagen viele, wurde deutlich ausgesprochen, dass der Zweite Weltkrieg von deutschem Boden ausgegangen ist und dass vor den Bomben auf Magdeburg und Dresden deutsche Bomben auf Rotterdam, Warschau und 157 Siehe Johannes Nichelmann, 2019, und darüber hinaus zur »dritten Generation Ost« Adriana Lettrari, Christian Nestler & Nadja Troi-Boeck, 2016, sowie Volker Benkert, 2017.

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andere europäische Städte gefallen waren. Der Antifaschismus gehörte von Anfang an zu den Grundlagen des Staates, der seine Legitimation darauf begründete und alle Schuld Westdeutschland zuwies. Die Mutter von Anna Meier, in den 1920er Jahren geboren, stand dem Nationalsozialismus sehr kritisch gegenüber, anders als die Mutter ihres Mannes Johann. Er hat in der DDR darunter gelitten und hätte gern eine Familie überzeugter Kommunisten gehabt. Doch nach der Vereinigung stellten Anna und Johann fest, dass er keineswegs ein Einzelfall war. »Wissen Sie, dass da ein ganz anderes Verständnis auch für unsere Eltern aufkam? Die ja alle im Krieg waren, unsere beiden Väter und nun gut, deine Mutter war dem Nazi-Regime sehr kritisch gegenübergestanden, meine Mutter nicht. […] Also dass die nicht im Widerstand waren und das hättest du dir so gewünscht als Kind am liebsten, dass sie große Kommunisten gewesen wären, jetzt im Nachhinein sagt man: Die waren auch in ihrer Zeit geboren und da war nun nicht jeder ein Held oder was. […] Wir können das ganz anders jetzt nachvollziehen.«

Die Darstellung, nach der die DDR die Heimat der Gegner des Nazi-Regimes war, wurde in den Familien angenommen, denn das Gefühl, auf der guten Seite, der Seite der Opfer zu stehen, war bequem. Die Folge, schreibt die Psychoanalytikerin Annette Simon in der ZEIT, war, dass es keine Auseinandersetzung mit den psychischen Dispositionen gab, die zum Faschismus führten, mit der »Anfälligkeit für Unterordnung und autoritäres Denken, Verachtung des Fremden und Schwachen«, die weiterhin da war.158 Eine Ausnahme bildeten Kunst und Literatur. Im Vordergrund stand die ständige Forderung, ein »neuer Mensch« zu sein, der mit der Vergangenheit gebrochen hat. Simon nennt als Beispiel den jährlich stattfindenden »Tag der Opfer des Faschismus«, an dem in ihrer Schule ein Fahnenapell abgehalten und das Lied von den Moorsoldaten159 158 Siehe Annette Simon, 2019. 159 Das Lied von den Moorsoldaten wurde von politischen Gefangenen des nationalsozialistischen Regimes im Konzentrationslager Börgermoor in Niedersachsen geschrieben. Die meisten waren Kommunisten, die nach dem Reichstagsbrand verhaftet worden waren. Der Titel spielt auf die Zwangsarbeit in den Mooren an. Das Lied wurde vor allem durch die deutschen Freiwilligen bekannt, die in den Internationalen Brigaden an der Seite der Republikaner im Spanienkrieg kämpften.

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gesungen wurde. Sie spricht jedoch von »aufgepfropftem« Antifaschismus, denn nur sehr wenige der Anwesenden konnten das Lied auf sich beziehen, »sie waren eben gerade nicht ›Moorsoldaten‹ also Verfolgte oder Widerstandskämpfer gewesen«. Diese Beschwörung war manipulativ, »am liebsten hätte ich geweint«, schreibt Simon, aber sie führte auch zur inneren Auflehnung gegen diese Heuchelei, die man in der DDR nicht äußern konnte. Der Antifaschismus, genauer gesagt: seine Ideologie, wird indirekt von Maxim Leo erwähnt, der von einer prägenden Diskussion mit seinem Großvater erzählt, als er etwa 14 war. »Ich machte mich darüber lustig, dass der sogenannte ›antifaschistische Schutzwall‹ nur DDR-Bürger daran hindert, in den Westen zu kommen, die angeblichen Faschisten aber zu uns kommen können, wann sie wollen. Da erzählte mir Gerhard die Geschichte von Michael und dem General Lammerding.160 Am Ende sagte Gerhard, er sei glücklich, dass es eine Mauer gibt, die ihm solche Verbrecher vom Leibe hält. Ich war so betroffen von dieser Erzählung, dass ich es nie wieder gewagt habe, in seiner Anwesenheit über die Mauer zu sprechen.«161

Was der Großvater nicht gesagt hat, war, dass auch in der sowjetischen Besatzungszone nach 1945 nicht alle Altnazis verfolgt wurden. Am 10. März 1948 wurde die Entnazifizierung auf Anweisung aus Moskau abgeschlossen – auch aus pragmatischen Gründen, in einem Land, das sich im Wiederaufbau befand und Arbeitskräfte brauchte. Das Ende der Verfolgung der Nazis, die die Militärbehörden in Speziallager steckten (120.000 Deutsche insgesamt),162 bedeutete jedoch nicht das Ende der Prozesse gegen sie. Bei der Staatssicherheit gab es weiterhin eine Ab160 General Lammerding war als Mitglied der Waffen-SS für mehrere Massaker verantwortlich, darunter das von Oradour-sur-Glane. Er wurde 1953 vom Gericht in Bordeaux als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt, aber die Bundesrepublik lieferte ihn nicht aus. Er hatte ein Bauunternehmen in Düsseldorf, das er bis zu seinem Tod unbehelligt leitete. 161 Maxim Leo, 2011, S. 133. 162 Dieses Thema war in der DDR ein Tabu. Die Erinnerung daran belastet manche Ostdeutsche bis heute. Im Speziallager Sachsenhausen waren zwischen 1946 und 1950 fast 60.000 Häftlinge eingesperrt, die meisten Männer zwischen 40 und 60, es gab viele Irrtümer und willkürliche Verhaftungen. 1948 wurden die Gefangenen entlassen, drei Lager bestanden noch zwei Jahre länger: Bautzen, Sachsenhausen und Buchenwald.

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teilung zur »Aufklärung von Nazi- und Kriegsverbrechen« (Abteilung IX/11).163 Viele frühere Widerstandskämpfer unterstützten die DDR wegen ihres erklärten Antifaschismus, viele liebten das Land, das so manchen später hat leiden lassen, weil sie an die Gründungsideologie glaubten, ein neues Deutschland als Gegenbild zu den Naziverbrechen aufzubauen, eine Gesellschaft ohne Klassen, ohne Ausbeutung, ohne Unrecht. Auch für den Kulturbereich hat der Antifaschismus vor allem in den ersten Jahren der DDR eine maßgebliche Rolle gespielt. Viele »Kulturschaffende«, wie sie in der DDR hießen, waren Gegner des Hitlerregimes, ihre Rückkehr in die sowjetische Besatzungszone und nicht in den Westen nach Krieg und Exil war eine bewusste Entscheidung.164 Sie teilten die Überzeugung, man müsse eine neue Gesellschaftsordnung schaffen, und sie könnten dazu beitragen. Viele Intellektuelle dachten, man würde in der Deutschen Demokratischen Republik bessere Lehren aus der Geschichte ziehen als in der Bundesrepublik. Auch die Beschwörung der Geburt eines wahrhaft neuen Deutschlands, das die DDR-Gründung begleitete, spielte eine Rolle. Künstler und Intellektuelle, die bewusst »das andere Deutschland« wählten, vertrauten diesen Diskursen über Antifaschismus und über den Aufbau  – oder eher die Verheißung  – eines neuen Deutschlands umso mehr, als sich die DDR-Führung ausdrücklich in der Tradition der republikanischen Opposition sah, die in der Geschichte Deutschlands fast immer von konservativen Kräften erstickt worden war. Diese republikanische Opposition war beim Bauernkrieg 1525 ebenso gescheitert wie bei den fehlgeschlagenen Revolutionen von 1848 und 1918/1919 und schließlich beim Aufstieg des Nationalsozialismus. Die Entscheidung für die DDR war also oft durch die Hoffnung beeinflusst, man werde diesen Kreis von Niederlagen durchbrechen. Die Bundesrepublik, die sich ausdrücklich als Erbin der Weimarer Republik und Fortsetzung des politischen Gebildes sah, das Deutschland bis zu Hitlers Machtergreifung dargestellt hatte, stieß deshalb auf wenig Gegenliebe. In der DDR wurde nicht nur die Erinnerung an die republikanische Opposition gepflegt, auch die revolutionären Bemühungen, Kämpfe und Opfer der Unterdrückten wurden mit Inbrunst gewürdigt. Auch diese Positionierung in der deutschen Geschichte war dazu angetan, viele deutsche 163 Siehe Roger Engelmann & Frank Jostel, 2016. 164 Siehe Sonia Combe, 2022.

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Künstler und Intellektuelle zu verführen, für die Bürgertum und Sozialdemokratie gescheitert waren. Nachdem die kapitalistische Demokratie zum »Dritten Reich« geführt hatte, entschieden sich die Künstler für die radikale Alternative zu Deutschland, wie es bisher bestanden hatte. So ließen sich – um nur einige aufzuführen – der Komponist Hanns Eisler, die Schriftstellerin Anna Seghers, der Dramatiker Bertolt Brecht, die Schriftsteller Ernst Bloch und Arnold Zweig nach dem Zweiten Weltkrieg in der späteren DDR nieder. Sonia Combe zeichnet in ihrem jüngsten Werk ihre Lebenswege, Träume und Beweggründe nach. Sie schreibt: »Die Idee, eines Tages die Geschichte dieser Generation und ihrer biologischen wie auch geistigen Nachkommen zu erzählen, die durch die Geschichte desillusioniert worden sind, diese Idee hat mich nie verlassen. Es geht nicht um die Geschichte der mittelmäßigen und gefürchteten Apparatschiks, auch nicht um diejenigen, die aus Konformismus, Gefolgschaft oder Opportunismus Parteimitglieder waren. Es geht vielmehr um die Geschichte derer, die geschwiegen haben, aber nicht etwa aus Angst oder Feigheit, sondern weil sie ihrem Ideal treu geblieben sind. Von dieser Loyalität um jeden Preis soll in diesem Buch erzählt werden.«165

Die überzeugten Kommunisten, die sich dafür engagierten, eine bessere Gesellschaft zu errichten, werden von der Autorin als Inbegriff der Loyalität dargestellt. Diese Loyalen, die die Blüte der ostdeutschen (manche auch der gesamtdeutschen) Kultur ausmachten, haben eine besondere Beziehung zum Schweigen (einem bestimmten Schweigen). Sie haben es gewählt, dann wurde es ihnen von den Siegern aus dem Westen aufgezwungen, oft auf brutale Weise.166 Das Buch von Sonia Combe erläutert sehr anschaulich das Schweigen dieser Männer und Frauen zu den Repressionen in den 1950er Jahren und zu den Widersprüchen eines Regimes, das mit Willkür herrschte, weil sie in der existenziellen Notwendigkeit gefangen waren, nach der Shoah eine andere Gesellschaft aufzubauen. Die ständige Berufung auf den Antifaschismus und die Vorstellung einer neuen Gesellschaftsordnung haben zu einem Missverständnis geführt. Der Antifaschismus als politisches Fundament der DDR verlangte von den Bürgern dieses Staates keineswegs eine persönliche Auseinander165 Ebd., S. 12. 166 Siehe ebd., sowie Jean Goldzink, 2019.

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setzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, sondern nur die Zustimmung zum dekretierten Antifaschismus. Da die Verbindung zwischen Kapitalismus und Faschismus allgemein anerkannt war – auf dieses Postulat bezieht sich die schon erwähnte Bezeichnung der Berliner Mauer als »antifaschistischer Schutzwall« –, konnte man die Verantwortung für die nationalsozialistische Vergangenheit ohne weitere Umstände einfach an die Bundesrepublik delegieren. Deshalb wurde die kollektive Verantwortung für den Nationalsozialismus in der DDR fast nie öffentlich diskutiert. Er war nichts, was einen persönlich betraf, wozu sich jeder positionieren musste, sondern einzig und allein ein Verbrechen, das der Bundesrepublik angelastet wurde, wo der Kapitalismus herrschte, der der Nährboden des Faschismus gewesen war. Weil die DDR in den Augen ihrer Führung den gesellschaftlichen Fortschritt verkörperte, wurden das Land und seine Bewohner von jeder Kritik freigesprochen.167 Die Dissertation von Katrin Hammerstein zeichnet mit der Methode der Verflechtungsgeschichte und einer transnationalen Perspektive nach, wie Bundesrepublik Deutschland, DDR und Österreich mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit umgegangen sind.168 Sie geht über die etwas zu starre und nicht sehr gut funktionierende Klassifizierung des Soziologen Rainer Lepsius hinaus, der die Erinnerung an den Hitlerfaschismus in Westdeutschland, der DDR und Österreich mit den Konzepten Internalisierung, Universalisierung und Externalisierung beschrieben hatte. Während die Bundesrepublik diese Vergangenheit akzeptiert und »internalisiert« habe, habe die DDR ausgehend von der Vorstellung einer intrinsischen Verbindung zwischen Faschismus und Kapitalismus den Nationalsozialismus »universalisiert« und aus ihrem Verantwortungsbereich verbannt. Österreich schließlich habe über den Umweg eines anderen Gründungsmythos, nämlich »Hitlers erstes Opfer« gewesen zu sein, den Nationalsozialismus als etwas ihm von Natur aus Fremdes »externalisiert«. Ralf Giordano sprach von der »zweiten Schuld«, um die Lücken dieser historischen Arbeit der Introspektion zum Thema kollektive deut167 Einige Wissenschaftler haben versucht, eine Kontinuität zwischen historischen Denkmodellen zu konstruieren, z. B. zwischen der Gewohnheit der Unterordnung, die das wilhelminische Preußen ebenso gekennzeichnet habe wie das nationalsozialistische Deutschland und das DDR-Regime. Sie behaupteten, diese Denkmodelle seien bei der Gründung der DDR nur mit einem neuen Inhalt aufgeladen worden. 168 Siehe Katrin Hammerstein, 2017.

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sche Verantwortung zu beschreiben. Vereinfacht lassen sich die Haltungen zum Nationalsozialismus nach Lepsius so zusammenfassen: österreichische Opfer, deutsche Widerstandskämpfer und westdeutsche Täter. Die detaillierte Arbeit von Katrin Hammerstein zeigt jedoch, dass sich die drei Staaten gegenseitig beeinflusst haben. Sie relativiert die oft als selbstverständlich angesehene Gegenüberstellung der Bundesrepublik, wo die Geschichtsaufarbeitung gelungen sei, mit der DDR und Österreich, wo diese Aufarbeitung wegen der Gründungsideologien nach 1945 nicht erfolgt sei. Ebenso lässt sich anhand der Studie auch die traditionelle Gegenüberstellung der Demokratien und der DDR als »zweite deutsche Diktatur« relativieren, denn es gibt in dieser Frage große Ähnlichkeiten zwischen der DDR und Österreich. In jedem Fall hat die Ideologie des Antifaschismus und eines »besseren Deutschlands«, das die Lehren aus der Vergangenheit gezogen und den Kampf der vom Kapitalismus und dann vom Faschismus unterdrückten Klassen fortgesetzt hat, die gesamte Geschichte der DDR begleitet. Aus gutem Grund wurde der Faschismus-Verdacht für die Bundesrepublik gepflegt. Die Erziehung des Volkes zu den Werten des Fortschritts und des Sozialismus blieb in der DDR eine tiefverankerte Utopie. Einige Autoren, wie Heiner Müller oder später Monika Maron in ihrer Rede über das eigene Land, haben auf Zivilisations- und Kulturkonzepte zurückgegriffen, um BRD und DDR einander gegenüberzustellen. So gilt die Bundesrepublik als fester Bestandteil der amerikanischen Zivilisation des Konsums, des Kapitalismus und des Materialismus, während die DDR als »das bessere Deutschland« und als Erbe des Humanismus wahrgenommen wird. Franz Fühmann ließ folgenden Spruch auf seinen Grabstein gravieren: »Ich grüße alle jungen Kollegen, die sich als obersten Wert ihres Schreibens die Wahrheit gewählt haben.«169 Während der Unterschied zwischen Bundesrepublik und DDR 1949 vor allem als der zwischen Faschismus und Sozialismus dargestellt wurde, diskutiert man heute eher über die Opposition zwischen Kapitalismus und Humanismus. Diese Haltung traf natürlich nicht auf alle ostdeutschen Künstler und Autoren zu, war aber sehr repräsentativ für diejenigen, die nach dem Krieg bewusst aus dem Exil nach 169 Dies berichtet Eckhart Gillen, 1994, S. 138. Der Schriftsteller Franz Fühmann wurde 1922 geboren, war begeisterter Wehrmachtsoldat und wurde in der Gefangenschaft in einer russischen Antifa-Schule zum Kommunisten, entschied sich, in der DDR zu leben, meldete sich zunehmend kritisch zu Wort und starb 1984 in Berlin.

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Ostdeutschland zurückgekommen sind – und für einige in den folgenden Generationen. Dieses »andere Deutschland«, die DDR, verkörperte die Vorstellung, eine Alternative zu dem Deutschland zu schaffen, das das »Dritte Reich« möglich gemacht hatte. Dieses Thema taucht bei Rolf Schubert immer wieder auf. Er wurde 1960 bei der Staatssicherheit eingestellt und durfte mit niemandem darüber reden. Er musste viel lesen, vor allem über die »Feindorganisationen«.170 Er musste auch auf sein Studium verzichten und – was noch schmerzhafter war – auf seine »erste große Liebe«. In diesem Moment begriff er, dass in seinem Leben nichts dem Zufall überlassen würde. Das letzte Opfer, das er bringen musste, war seine Leidenschaft für die Fliegerei, ein Amateursport, den Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, seinen Mitarbeitern verbot, um Fluchtversuche in den Westen zu verhindern. Trotz all dieser Opfer fand Rolf Schubert es richtig, für die Verteidigung der DDR zu kämpfen, das »bessere Deutschland«, mit dem er sich identifizierte. Dann wurde er in eine Kleinstadt nach Sachsen versetzt, wo er die »psychologische Kriegsführung gegen die DDR« bekämpfen sollte. Seine Mission bestand darin, verschiedene Formen »politisch-ideologischer Diversion« aufzudecken und auszuschalten, bevor sie das System gefährden konnten. Aber in der Region passierte fast nichts, »nur dass ab und zu mal ein paar Hakenkreuze geschmiert wurden, ab und zu mal paar kleine Losungen, keine großen Vorkommnisse«. Gelegentlich wurden Witze über den Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht erzählt. In der DDR gab es zwar Neonazis, aber sie blieben unter Kontrolle, sagt er: Die Stasi griff ein, sobald ein Hitlergruß gezeigt oder eine Parole geschrien wurde.171 Er denkt, dass sich heute alles radikalisiert, während zu DDR-Zeiten auf jede Straftat mit entsprechenden Maßnahmen gegen Neonazis reagiert wurde. Das stimmt nicht ganz, aber man sieht, dass der Antifaschismus eine Konstante der Selbstlegitimierung für ihn wie auch allgemein für das System bleibt. Ihn persönlich berührt es umso mehr, als er auch in der Abteilung für Nazi- und Kriegsverbrechen tätig war. Seine Aufgabe bestand darin, die 170 So lernte er die »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit«, eine in den 1950er Jahren sehr aktive antikommunistische Gruppe in Westberlin, den »Bund freiheitlicher Journalisten«, das Ostbüro der SPD, MAD, BND und den Verfassungsschutz kennen. 171 Diese Aussage ist mit Vorsicht zu genießen, wenn man weiß, dass unter anderem die Schändungen des Jüdischen Friedhofs in Weißensee in den 1980er Jahren nicht verfolgt wurden.

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früheren Nazis aufzuspüren – eine Aufgabe, der er sich mit ganzem Einsatz gewidmet hat, ein Thema, das ihn sein Leben lang begleiten sollte. Nach jahrelangen Ermittlungen, Verhören und Beobachtungen gelang es ihm, einen früheren Ghettokommandanten zu überführen.172 Es ist kein Zufall, dass er die Hakenkreuze erwähnt. In der DDR spielte der Antifaschismus auch bei der Begründung der angeblichen Schutzfunktion der Stasi für die Gesellschaft eine wichtige Rolle. Es war allerdings ein selektiver Antifaschismus, denn die nicht-kommunistischen, vor allem die jüdischen Opfer des Naziregimes wurden nur selten erwähnt. Trotzdem war er für viele Bürger sehr wichtig. Die DDR hat auch eine bedeutende Arbeit zum Erhalt der Gedenkstätten an den Orten der Naziverbrechen geleistet. In Ihrem Buch Ein Leben gegen ein anderes. Der »Opfertausch« im KZ Buchenwald und seine Nachgeschichte173 zeigt Sonia Combe im Abschnitt über den »politischen Gebrauch der Vergangenheit«, wie die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald zum idealen Ort der Erinnerung an den kommunistischen Widerstand gemacht und die Rolle der Kommunisten in diesem Lager glorifiziert wurde. Für Carola Hähnel-Mesnard ist die Analyse von Sonia Combe »auch wichtig wegen der kritischen Auseinandersetzung mit der Neubewertung des antifaschistischen Widerstands im wiedervereinigten Deutschland. Zwar war eine Überprüfung angesichts der ideologischen Aneignung des Lagers durch die DDR dringend notwendig, aber man hätte nicht der entgegengesetzten Übertreibung verfallen und das Widerstandsnetz der Kommunisten gänzlich als unrechtmäßig darstellen dürfen.«174 172 Zur Frage, welcher Staat bei der Entnazifizierung erfolgreicher war, siehe die Diskussion, die durch das Buch von Klaus Bästlein ausgelöst wurde (Klaus Bästlein, 2018, sowie Annette Weinke, 2018). Die einen behaupten, die Entnazifizierung sei in der DDR gründlicher und erfolgreicher durchgeführt worden. Dazu schreibt Sonia Combe: »Daniela Dahn erinnert daran, dass die Erinnerung an die Konzentrationslager in der BRD vernachlässigt wurde und dass, anders, als immer behauptet wird, die Judenverfolgung und die Shoah in der DDR keine Tabu-Themen waren. Sie erinnert auch daran, dass der erste Ehrendoktortitel der Humboldt-Universität nach der Wiedervereinigung dem früheren SS-Mann Wilhelm Krelle verliehen wurde, obwohl die Studenten dagegen protestierten. Sie hatten Günter Grass vorgeschlagen. Das war, bevor Grass seine SS-Mitgliedschaft (als 16jähriger) öffentlich machte« (Sonia Combe, 2019a). 173 Siehe Sonia Combe, 2017. 174 Carola Hähnel, 2017.

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In ihrem Buch erzählt Combe die Geschichte von Stefan Jerzy Zweig, dem »Kind von Buchenwald«, einem jüdischen Kind, das im Sommer 1944 mit seinem Vater nach Buchenwald kam und von den kommunistischen Häftlingen im Lager beschützt und gerettet wurde. Durch den 1958 erschienenen Roman Nackt unter Wölfen von Bruno Apitz wurde das Schicksal des Kindes für mehrere Generationen zum Symbol des antifaschistischen Widerstands. Eine Gedenktafel in Buchenwald erinnerte an die Geschichte seiner Rettung. 2000 wurde sie durch eine Tafel ersetzt, die erklärte, dass viele andere Kinder umkamen oder durch einen »Opfertausch« gerettet wurden – eine Praxis, die das Buch anhand von weiteren Opferberichten erklärt und analysiert. Viele Bürger waren entsetzt, als nach der Vereinigung zahlreiche Stelen, Gedenktafeln und Statuen aus dem öffentlichen Raum entfernt wurden. Einige wurden in Museen verbannt, Erinnerungen an aktive Kommunisten und Widerstandshelden wurden durch Tafeln zum Gedenken »an die Opfer von Faschismus und Diktatur« ersetzt,175 womit die beiden deutschen Diktaturen auf eine Ebene gestellt wurden, während die DDRBürger das Heldentum der kommunistischen Widerstandskämpfer gegen die Hitlerdiktatur im Kopf hatten. Der westdeutsch geprägte Totalitarismus-Diskurs nach 1990, der eine historische Parallelität zwischen Nationalsozialismus und kommunistischer Diktatur herstellte, ist stark anfechtbar. Nach 1990 wurden auch viele Straßen in der DDR, die Namen von Widerstandshelden oder kommunistischen Führern der »Bruderstaaten« trugen, umbenannt. Die Namen derjenigen, die in der DDR regiert hatten oder von denen man meinte, sie hätten als Kommunisten zum Sturz der Weimarer Republik beigetragen, wurden ersetzt. Das stieß bei vielen Bürgern auf Unverständnis, denn für sie war der Antifaschismus viel mehr als ein leerer Begriff.176 Das ist auch das Thema des Films Berlin is in Germany von Hannes Stöhr (2001), der die Geschichte von Martin Schulz erzählt. Schulz hat von 1989 bis 2000 im Gefängnis gesessen, weil er unter unglücklichen Umständen im Streit einen Mann getötet hatte, der seine Fluchtpläne verraten wollte. Nach seiner Entlassung wird er Taxifahrer in 175 Monika Zorn nannte ihr Buch über dieses Phänomen Hitlers zweimal getötete Opfer. Westdeutsche Endlösung des Antifaschismus auf dem Gebiet der DDR, 1994. 176 Siehe Anne-Marie Pailhès, 1998. Nicolas Offenstadt spricht von der »großen NamensSäuberung«, 2018, S. 166.

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Berlin, doch er kennt keine einzige Straße mehr. In dieser neuen deutschen Gesellschaft ist er völlig orientierungslos. Die Wiederaneignung der DDR-Geschichte besteht also auch in der Wiederaneignung der antifaschistischen Wurzeln dieses Staates. Eine weitere Frage, die in vielen Interviews immer wieder auftaucht, ist die Frage der Freiheit.

Die Frage der Freiheit Die ostdeutsche Zeitung Neues Deutschland, das einstige »Zentralorgan der SED«, hat den Mauerfall und sogar die Vereinigung überlebt. Im Dezember 1989 las man in der Zeitung die Warnung von Volker Braun vor den Gefahren einer zu schnellen Vereinigung ohne Berücksichtigung der Erfahrungen der DDR: »Wir kannten den Opportunismus der Macht; fürchten wir jetzt den Opportunismus der Freiheit.«177 Zum Jahrestag des Mauerfalls präsentierte das berühmte Ostberliner Theater Volksbühne 1997 das Theaterprojekt Freiheit macht arm. Regisseur Frank Castorf erklärte damals in einem Interview mit dem SPIEGEL: »Ja, ich glaube, dass man in diesem kollektiv Totalitären, in dem wir aufgewachsen sind, seine eigene Individualität und damit auch seine eigene Freiheit sehr viel radikaler finden konnte als in einer Gesellschaft, die eigentlich nur auf einem missverstandenen Individualismus beruht und das Kollektive verdammt. […] Man fühlt sich überflüssig, nicht frei.«178

Ein großer Teil der Ostdeutschen teilt die Überzeugung, dass die Marktwirtschaft auch die Freiheit einschränkt, dass sie ebenso einsperrt wie der Staatssozialismus, nur auf eine andere Art. In Starke Frauen kommen aus dem Osten179 haben Angelika Griebner und Scarlett Kleint Berichte von 177 Volker Braun, 1998, S. 25. Siehe auch den Appell vom 26. November 1989 »Für unser Land«, der unter anderem von Christa Wolf, Stefan Heym, Ulrike Poppe, Friedrich Schorlemmer und Konrad Weiss unterschrieben wurde. Dieser Text ist repräsentativ für die Haltung vieler Intellektueller aus der DDR, die sich eine sozialistische Alternative zur BRD wünschten (Christa Wolf et al., 1989). 178 Frank Castorf, 1996. 179 Siehe Angelika Griebner & Scarlett Kleint, 1995.

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Frauen gesammelt, die den Schock des Übergangs 1989/1990 überwinden konnten, indem sie ein eigenes Unternehmen gegründet, ein Filmdrehbuch geschrieben oder etwas anderes vollbracht haben. Auch die Autorinnen haben einen interessanten Lebensweg: Scarlett Kleint schrieb Liedtexte für die ostdeutsche Band City und wurde dann Drehbuchautorin; Angelika Griebner bekam als Journalistin zu DDR-Zeiten viele Steine in dem Weg gelegt. Nachdem sie den Geschmack der Freiheit als freie Journalistin gekostet hatten, äußern sich die beiden Autorinnen in einem Interview über ihr Buch sehr ernüchtert: »Das neue System ist ebenso repressiv wie das alte. Der Druck des Geldes hat den der Politik abgelöst. Die Zensur ist immer noch da. Die Wessis merken nicht einmal, wie wenig Freiheit ihnen bleibt. Sie tun alles, um ihren Vorgesetzten zu gefallen.«180 Das neue System ist sicher nicht so repressiv, wie sie behaupten. Die Kritik daran, dass die Freiheit zum obersten, unangreifbaren Prinzip erhoben wird, in dessen Namen man jedes Opfer akzeptieren müsse, findet sich allerdings in vielen Lebensberichten von Ostdeutschen wieder. Entweder relativieren sie diese Freiheit, wie wir im ersten Teil gezeigt haben, mit Äußerungen wie »Was nützt es dir, dass du reisen kannst, wohin du willst, wenn du 450 Euro im Monat verdienst?!«, oder sie bestreiten ihre Existenz und behaupten: »Es gibt immer noch eine sehr ausgeprägte Zensur, gegen linksextreme Ideen z. B., und politische Faktoren, die eine entscheidende Rolle beim Zugang zu Subventionen im Bereich der Kunst spielen«, wie der damalige Leiter der Berliner Brotfabrik, einem Kunst- und Kulturzentrum in Prenzlauer Berg, Jörg Fügmann, 2012 im Gespräch mit den Autorinnen erklärte.181 Karin Günther wiegt die durch die Vereinigung gewonnene Freiheit gegen die Möglichkeiten ab, die es in der DDR gab: »Wer ein gutes soziales Umfeld hatte, was in sich witzig war und neugierig, konnte ganz viel machen. Wer natürlich karriereträchtig war … das war mit Sicherheit schwierig.« Richtig Karriere zu machen, eine anspruchsvolle Stelle zu bekommen, war in der DDR fast nur möglich, wenn man Mitglied der SED wurde, nach außen ein den Normen angepasstes Leben führte und nicht davon abwich. Jugendliche konnten aus politischen Gründen kein Abitur ablegen, Andere wurden in ihrem Betrieb nicht befördert, weil sie sich den von der Partei verkündeten Prinzipien nicht vollständig unterwarfen. 180 Zit. n. Brigitte Pätzold, 1997, S. 12. 181 Siehe Interview mit Jörg Fügmann, Berlin, 17. Januar 2012.

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Im Gespräch mit Jörg Fügmann wurde die Relativierung der Freiheit sehr deutlich. Er betonte den Widerspruch zwischen der Selbstwahrnehmung als Gegenkultur und der Notwendigkeit, sich mit der Politik zu verständigen. Seiner Ansicht nach haben soziokulturelle Einrichtungen wie die Brotfabrik die Off-Kulturszene der DDR über den Übergang zur Sozialen Marktwirtschaft hinweggerettet.182 »Heute gibt es fast keine Gegenkultur mehr«, stellte er fest. Tatsächlich gibt es fast keine Freiräume mehr für solche kulturellen Experimente: Sehr viele Gebäude der Stadt wurden privatisiert. Fügmann erklärte, es sei notwendig, mit der Politik zu verhandeln und gute Beziehungen zu pflegen, was aber auch hieß, den Bereich der Gegenkultur aufzugeben und sich mit Haut und Haar auf eine Form der institutionalisierten Kultur einzulassen, die er »Establishment« nennt. Dazu müsse man sich den Forderungen des Marktes unterwerfen, und sei es nur, um das Personal oder die Rechte für die Filme zu bezahlen, die in der Brotfabrik gezeigt wurden. Die Zwänge der Marktwirtschaft seien eine Begrenzung der Freiheit für die alternative Kultur. Er sagte, er verbringe einen Großteil seiner Arbeitszeit mit Lobbying bei den politischen Entscheidungsträgern und bedauere, dass es ihm an Ressourcen fehle, um »den Staat auf Abstand zu halten«. Auch das Tacheles, einst Mekka der alternativen Kultur im Zentrum Berlins, entstand aus dem Wunsch, einen Ort der künstlerischen Tätigkeit aber auch einen Lebensort zu schaffen. Das Wort »Tacheles« bedeutet im Jiddischen »Klartext«. Anfang 1990 hatte sich eine Gruppe von DDR-Musikern diesen programmatischen Namen gegeben, weil sie freiere, offenere Ausdrucksweisen finden wollten. Das Tacheles sollte ein Kunstlabor und dabei Ort wie Inhalt des künstlerischen Schaffens sein. Dann wurde das Projekt immer größer und war Mitte der 1990er Jahre auch in der internationalen Künstlerwelt bekannt.183 Im Laufe der Jahre wurde das Kunsthaus Tacheles ein komplexes globales Kunstwerk und war weit über die Grenzen Berlins hinaus ein Symbol der Situation im wiedervereinigten Berlin und des Strebens nach einer neuen künstlerischen, weitgehend von marktwirtschaftlichen Erwägungen befreiten Präsenz. Das Tacheles hatte den Anspruch, einen Gegenpol zur etablierten und institutionalisierten Kultur zu bilden. Aber alle Bemühungen, es zu retten, sind gescheitert: Im September 2012 mussten die Künstler das Haus verlassen. Die Räumung 182 Siehe ebd. 183 Siehe Boris Grésillon, 2004.

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erfolgte unter Einsatz der Polizei. Der Druck der Immobilienbesitzer war zu groß, um diesen Experimentierort retten zu können.184 Im Gespräch mit Karin Günther wird verständlich, wie unterschiedlich die Frage der Freiheit (und der Preis für diese Freiheit) individuell wahrgenommen wird. Für sie bleibt der Übergang zur BRD in dieser Hinsicht zwiespältig. Sie hat die Zeit nach der friedlichen Revolution im Herbst 1989 auch als eine Periode wahrgenommen, in der man auf einen Schlag viel Geld machen konnte, was zur Folge hatte, dass in dieser Gesellschaft des »sinnlosen Konsums« nichts mehr Wert besaß. Sie selbst fühlt sich vom Kaufrausch, den sie seit 30 Jahren beobachtet, kaum betroffen, sie denkt nicht »Ich könnte das alles besitzen«, und relativiert die Kauffreiheit. Rolf Schubert ist natürlich von seiner Erfahrung als früherer MfS-Offizier beeinflusst, was die neue Freiheit durch die Wende 1989, die »Konterrevolution«, wie er sagt, angeht. Für ihn war das Hauptproblem, dass Gorbatschows Reformen, die auf größere Freiheit abzielten, »nichts gebracht, nichts bewegt haben«. Wir erinnern uns an den berühmten Satz von Kurt Hager, Mitglied des Politbüros der SED und Chefideologe der Partei, in einem Interview für die westdeutsche Zeitschrift Stern: »Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?«185 Mit diesem Satz bestätigte er, dass weder Glasnost noch Perestroika, die Reformen in der Sowjetunion für größere Offenheit, Transparenz und Liberalisierung, Auswirkungen auf die DDR haben würden. Sie blieb bis zum Schluss neben Albanien der stalinistischste unter den Ostblockstaaten. Deshalb erinnert sich Rolf Schubert, dass er von den Montagsdemonstrationen und dem Mauerfall nicht wirklich überrascht war. Er urteilt, dass die Partei unfähig war, geeignete Maßnahmen gegen die Massenflucht, den Sturm auf die Botschaften in Prag und Budapest und die Öffnung der Grenze zwischen Ungarn und Österreich zu ergreifen. Stattdessen erhielten die Stasi-Offiziere z. B. den Befehl, die von den DDR-Bürgern auf der Flucht stehengelassenen Autos zurückzubringen. »Teilweise waren die schon halb kaputt, mussten sie erstmal repariert werden an Ort und Stelle, hat Geld, viel Geld gekostet. […] Und die DDR184 Das Tacheles wurde 2014 verkauft. Bis 2022 entstehen dort Büros, Eigentumswohnungen, Geschäfte und vielleicht ein Museum für Fotografie. 185 Kurt Hager, 1987.

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Bürger, die zurückkamen […][,] da wurden keine Ermittlungsverfahren eingeleitet gegen die Leute [,][…] und die kriegten ihre Autos wieder! Wer sich solchen Blödsinn einfallen lassen hat.«

Neben der Absurdität mancher Anweisungen, die die SED im Herbst 1989 gab, hinterlässt vor allem die Auflösung seines Ministeriums, das von der Partei total im Stich gelassen wurde – bei Schubert eine bittere Erinnerung. Heute versteht er immer noch nicht so richtig, warum so viele Menschen weggegangen sind. Er spricht von der »Sucht nach dem besseren Lebensstandard«, und die Partei hatte »den Kontakt zur Bevölkerung verloren«. Die Frage der Freiheit taucht bei ihm nicht auf. Er versucht vielmehr, durch eine narrative Rekonfiguration die Kontinuität in seinem durch einen brutalen Bruch geprägten Leben wiederherzustellen. Deshalb stellt er auch die undemokratische DDR nicht der demokratischen BRD gegenüber, sondern betont die Lücken der westdeutschen Demokratie und die Vorteile des Gesellschaftsmodells der DDR. Es war schwer für ihn, in der westdeutschen Gesellschaft, bei den Feinden von gestern, eine persönliche und berufliche Stabilität zu finden. Seine Aussagen erinnern in gewisser Hinsicht an die Laufbahn von Offizieren der NVA, der Armee der DDR, von denen manche zwar ihre Arbeit behalten konnten und in die Bundeswehr integriert wurden, aber viele Mühe hatten, an der Seite der »alten Feinde« zu arbeiten.186 Dolly, die in den 1980er Jahren als Kind in einem Kinderheim lebte, fühlte sich genauso wenig betroffen: »Freiheit hat’s uns überhaupt nicht gebracht.« Es fehlte ihr an Geld, um die Freiheit zu genießen, die ohne Geld ein abstraktes Konzept bleibt. Sie ist seit vielen Jahren SPD-Mitglied und lehnt jede Form von Populismus ab. In der Zuwanderung sieht sie eine Bedrohung für die schwächsten Bürger, die der Staat im Stich gelassen habe, aber eine Partei wie die AfD ist für sie überhaupt keine Lösung. Sie hat versucht, als DDR-Heimkind eine Entschädigung zu erhalten, aber der lange bürokratische Prozess des Antragsverfahrens hat ihre Wunden wieder aufgerissen und zu einem psychischen Zusammenbruch geführt.187 Der Bericht von Barbara Sengewald188 illustriert die Frage der Bezie186 Siehe Nina Leonhard, 2006, S. 143–164. 187 Siehe Agnès Arp, 2015, S. 41–51. 188 Barbara Sengewald erzählte ihre Erfahrungen vom Ende der DDR vor Studenten bei einem Seminar über den zivilen Ungehorsam der Universitäten Sorbonne-Nou-

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hung zur Freiheit auf ganz andere Weise. Sie wurde 1953 in einer christlichen Familie geboren und lebte in der DDR bis zu deren Ende. Sie gehört also zu den Babyboomern, die man manchmal als »Generation der Hineingeborenen« oder »Generation Eins« bezeichnet, für die die DDR das Einzige war, was sie kannten. Sie erinnert sich deutlich an die Kluft zwischen dem offiziellen Diskurs und dem, was tatsächlich geschah, vor allem politisch. Mit 15 erlebte sie den Prager Frühling und den Einmarsch der sowjetischen Truppen, die die Hoffnung vieler Vertreter ihrer Generation auf eine baldige Liberalisierung in der DDR zunichte machten. Das war ihre »politische Initiation«, von da an wusste sie, dass sie in der DDR-Gesellschaft immer »anecken« und in Opposition sein würde. Sie behauptet, sie habe in der Schule immer frei ihre Meinung gesagt, aber das blieb nicht ohne Folgen: Trotz der guten Noten auf dem Abiturzeugnis  1971 durfte sie nicht studieren. Deshalb begann sie neben ihrer Arbeit in einem FDGB-Heim ein Fernstudium. Später bekam sie andere Schwierigkeiten und musste kündigen. Da es in der DDR eigentlich keine Arbeitslosigkeit gab, gab es auch keine Unterstützung. Sie galt fortan als »asozial«, weil sie sich weigerte, sich zu integrieren, und fühlte sich »in die Enge getrieben«, was einen »großen Frust« auslöste. Sie hatte verschiedene Hilfsjobs und sah ihre Freunde in die Bundesrepublik auswandern. Einige waren politische Gefangene, die von der westdeutschen Regierung »freigekauft« wurden. Das war ein einträgliches Geschäft für die DDR, die dringend Devisen brauchte. Nach Schätzungen von Historikern wurden zwischen 1964 und 1989 33.755  Personen für insgesamt 8 Milliarden DM freigekauft.189 Barbara Sengewald fühlte sich allein und »glaubte gar nicht mehr daran«, sagt allerdings nicht, woran. Sie setzte ihren Kampf gegen die Macht der SED fort und bewahrte ihren Mut, obwohl sie bei jeder Demonstration fürchtete, verhaftet und von ihrer Tochter getrennt zu werden. Erst nach dem 7. Oktober hat die »Kraft der Gemeinschaft die Angst gemildert«. Angesichts der Vielzahl der Demonstranten schwand die Furcht vor einer Verhaftung. Auch vor den Kampfgruppen, den militärischen Einheiten der Betriebe, hatte sie keine Angst mehr. Als sie erzählt, wie in der Kirche in Erfurt die Leute nach vorn zum Mikrofon gingen und ihre Namen nannten, wiederholt sie mehrmals »aufvelle – Paris 3 und Erfurt und der Deutsch-Spezialklasse des Lycée Monet in Paris im Oktober 2018. 189 Siehe Jan Philipp Wölbern, 2014.

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recht« und beginnt zu weinen. »Aufrecht erzählten wir alles, was uns nicht gefiel, aufrecht, dann ging jeder zu seinem Platz zurück.« Vorher hatte sie eine Freundin gebeten, ihre Tochter großzuziehen, wenn ihr etwas geschehen sollte, und ihr eine schriftliche Vollmacht erteilt. Ihre Tochter durfte nie allein zu Hause bleiben. Oft fragte sie sich: »Bin ich bereit, alle Konsequenzen in Kauf zu nehmen?« Die ständige Angst, obwohl sie nicht zur aktiven Opposition gehörte, war ein Aspekt des Alltags in der DDR und nährte sich aus den Einschüchterungen und der Drohung, man werde ihr das Sorgerecht für die Kinder entziehen.190 Manchmal drohte man sogar mit Folter. Der Auslöser für Barbara Sengewalds Engagement war ihre »christliche Erziehung«, die Überzeugung, dass »vor Gott alle Menschen gleich sind«, und die Nächstenliebe. Nach außen unterstützte ihr Vater das Regime, war »systemkonform«. Er »heulte mit den Wölfen«, aber zu Hause war er anders. Wie viele lebte er in einer Art Schizophrenie, aber Barbara wollte diese Gespaltenheit nicht. Deshalb schloss sie sich der Initiative für Frieden und Menschenrechte (IFM) an. In Erfurt »kannten sich alle Oppositionellen« und bildeten seit den 1970er Jahren einen kleinen Kreis. Als sie der nach der Invasion der Sowjetunion in Afghanistan 1979 aufgefordert wurde, im Betrieb »Appelle zu unterschreiben, dass wir das alles gut und richtig finden« (was in der DDR sehr üblich war), weigerte sie sich. Daraufhin wurde sie zum Parteisekretär und zum Chef gerufen und »bearbeitet«, aber sie gab nicht nach … und ihr passierte nichts! Es war »nur« eine Einschüchterung. In den 1980er Jahren war sie Abteilungsleiterin und musste jede Woche während der Arbeitszeit eine »Agitationsveranstaltung« durchführen. Der Begriff »Agitation« war in der DDR positiv besetzt, gemeint war ein öffentliches Werben für die sozialistischen Ziele bei den »Massen« in der Tradition der Arbeiterbewegung. Sie fand in Gestalt von Diskussionen, Lehrveranstaltungen, Filmen oder Reden statt. Barbara zitierte jedes Mal Gorbatschow, was nicht gern gesehen wurde. Aber die Sowjetunion war der »große Bruder«, deshalb konnte man es ihr schlecht vorwerfen. Trotzdem lud die »Konfliktkommission« sie vor und machte ihr Vorwürfe. Sie 190 Die Fürsorger in der DDR konnten sich auf das Familiengesetzbuch der DDR berufen, um den Eltern das Sorgerecht zu entziehen, wenn sie das Kindeswohl gefährdet sahen. Siehe die Arbeiten über die Jugendhilfe in der DDR und die Erziehung in Kinderheimen von Christian Sachse, 2010, und die von der deutschen Regierung in Auftrag gegebene Studie, Agnès Arp et al., 2018.

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musste ihren »Fehler« zugeben und rechtfertigen. Nach einem halben Jahr wurde sie davon krank und kündigte. »Mit den Frauen waren sie besonders hart, viele wurden zerstört«. Erich Honecker und Erich Mielke weigerten sich, Gorbatschows Programm auf die DDR zu übertragen. Sie erstarrten geradezu, waren wie eingefroren. Wenn man anfinge, die offizielle Parteidoktrin zu lockern, würde man Energien freisetzen, die schnell unkontrollierbar werden würden. 1989 wurden sie von den Bürgerbewegungen überrannt, die sich nicht mehr in dem Zeitlupentempo bewegten, das die sozialistischen Rituale und Gedenkfeiern prägte. Schon Halbwachs schrieb in Das kollektive Gedächtnis: »Es gibt keine universelle und einheitliche Zeit, sondern die Gesellschaft zerfällt in eine Vielheit von Gruppen, von denen jede ihre eigene Zeitdauer hat.«191 Man könnte die Bewegungen im Oktober und November 1989 als Kollision von zwei Zeitlichkeiten ansehen – die eine erstarrt, die andere in Bewegung. Die DDR-Bürger empfingen Gorbatschow am 6. Oktober 1989 (er war zu den Feierlichkeiten des 40. Jahrestags der DDR am 7. Oktober gekommen) mit »Gorbi, Gorbi, hilf uns!«-Rufen. Zum ersten Mal wurde so deutlich hör- und sichtbar, wie massiv die Haltung Honeckers, der sich jeder Reform widersetzte, abgelehnt wurde. Der Philosoph Ernst Bloch hat das Konzept der »Ungleichzeitigkeit« entwickelt, um darzustellen, dass wir alle in der Gegenwart sind, aber nicht immer dieselbe Zeit teilen. In den Jahren der Opposition und der Suche nach Wegen, um den Staat zu Reformen wie in der UdSSR zu zwingen, habe sich die Frage der Gewalt niemals gestellt, sagt Barbara Sengewald: »Das erste Gebot lautete: ›keine Gewalt‹.« So formulierte es die evangelische Kirche. Das erste »Friedensgebet« (ein Treffen in der Kirche, bei dem es Fürbitten für politische Häftlinge gab, die Friedensbewegung zu Wort kam und Kritik am Staat übte192) fand in ihrer Heimatstadt Erfurt statt, nicht in Leipzig, das den Staffelstab übernahm und im kollektiven Gedächtnis die Stadt der Friedensgebete geblieben ist. In Erfurt fanden sie ab 1978 jeden Donnerstag statt – und es gibt sie bis heute, um den Geist der Oppositionsbewegungen wachzuhalten, die die letzten zehn Jahre der DDR geprägt haben. 191 Maurice Halbwachs, 1985, S. 122. 192 Die evangelische Kirche der DDR folgte darin dem Beispiel Polens, wo die katholische Kirche an der Spitze des Kampfes für Freiheit stand. Die jeden Montag stattfindenden »Friedensgebete« mündeten in die Montagsdemonstrationen.

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Im Verlauf der 1980er Jahre nahmen immer mehr Menschen daran teil, »also haben wir mehrere Friedensgebete in mehreren Erfurter Kirchen organisiert«. Für Barbara Sengewald wurden während der Wende viele Forderungen nach Pressefreiheit, Meinungsfreiheit und Menschenrechten durchgesetzt. Sie war an der Gründung der Partei Bündnis 90 der ostdeutschen Bürgerrechtler beteiligt, die sich später mit den Grünen zusammenschloss. Insgesamt zieht sie eine positive Bilanz aus diesen gemeinsamen Erfahrungen: »Wir wussten, dass das, was wir erreichen würden, immer zu wenig sein würde, also mussten wir immer mehr verlangen. Wir wollten das System vor Ort verändern und gleichberechtigt sein«, auf einer Ebene mit der BRD. Heute bezeichnet sie das als Utopie, denn »die DDR war am Ende«. Sie bedauert, dass weder eine neue Nationalhymne, noch eine neue Verfassung entstanden sind. An einer solchen hatte das Neue Forum gearbeitet und Elemente der Sozial- und Familienpolitik der DDR darin aufgenommen, aber das Grundgesetz der Bundesrepublik hat gesiegt. Grundsätzlich hängt die Haltung zu dieser neuen »Freiheit« sehr davon ab, ob die Ostdeutschen nach der Vereinigung wieder auf die Beine gekommen sind oder nicht, und wie sie auf ihre Biografie zurückschauen. Sehen wir uns die Geschichte von Ines Geipel an. In der DDR war sie Leistungssportlerin, Staffelläuferin. Seit sie 14 war, nahm sie ohne ihr Wissen an einem Dopingprogramm teil, mit dem sie zum Champion und bei internationalen Wettkämpfen zum Aushängeschild der DDR gemacht werden sollte. Anfang 1984 verliebte sie sich in einem Trainingslager in Mexiko zur Vorbereitung auf die Olympischen Spiele in Los Angeles in einen mexikanischen Sportler und beschloss, die Olympischen Spiele in Los Angeles zu nutzen, um die DDR zu verlassen. Ihr Plan wurde von einem Freund verraten, außerdem boykottierten die Ostblockstaaten die Spiele in Los Angeles. Jahre später las sie in ihrer Stasiakte, dass das Regime alles unternommen hatte, damit sie diese Beziehung vergaß, und sogar einen Mann für sie suchte, der ihrem mexikanischen Liebsten ähnlich sah. Als sie sich weigerte, für die Stasi zu arbeiten, wurde ihre Situation schwierig. Bei einer Blinddarmoperation wurde sie sogar vorsätzlich verstümmelt, vermutlich auf Befehl der Stasi, aber das entdeckte sie nur zufällig und viel später, 2004, bei einer weiteren Operation wegen chronischer Bauchschmerzen.193 Die Öffnung der Stasiarchive war ein dramatischer Moment, sie erfuhr, dass die Freiheitsberaubung in der DDR viel weiter ging, als sie vermutet hatte. 193 Siehe Ines Geipel, 2020, S. 218ff.

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Hans Buche, 1939 im Sudetenland geboren, wurde auch von der Stasi verfolgt, als er noch sehr jung war. Er wurde mit 19 Jahren von seinem Schwager denunziert, der für das MfS arbeitete. Ein Freund hatte ihm das Buch 1984 von George Orwell geborgt, er wusste nicht, dass es in der DDR verboten war. Er wurde nach § 15, »Sammlung von Nachrichten«, d. h. Übermittlung nicht-geheimer Mitteilungen, und § 19 »Staatsgefährdende Propaganda und Hetze« verurteilt. Sein westdeutscher Brieffreund wurde als »Helfer westdeutscher Agentenorganisationen« eingestuft, dem er »Nachrichten« zuschickte. Die Beschuldigungen entbehrten jeder Grundlage, aber er wurde gezwungen, das vorformulierte Geständnis zu unterschreiben, und hatte keinen Anwalt. Er bekam drei Jahre und drei Monate Gefängnis. Die Härte des Urteils und die Jahre in Gefangenschaft führten in der Zeit nach der Entlassung zu psychischen Störungen. Bis 1990 lebte er in der beständigen Angst, einen Fehler zu machen und erneut im Gefängnis zu landen. Der Mauerfall war für ihn eine riesige Erleichterung und bot ihm die Chance, wieder auf die Beine zu kommen. Die Staatsicherheit konnte aber die Bevölkerung nicht immer so überwachen und indoktrinieren, wie sie es sich wünschte. Deshalb gab es trotz der beschriebenen Repressionen Freiräume in zuweilen überraschenden Gebieten. Ein gutes Beispiel dafür ist die Informatik. Die DDR wusste, was für ein Abgrund sie auf dem Gebiet der Mikrocomputer und Videospiele von der Bundesrepublik trennte. Seit den 1970er Jahren versuchte sie, diese Lücke zu schließen. 1979 wurde die erste, noch etwas rudimentäre Spielkonsole gebaut. 1986 folgte der Videospielautomat Poly-Play, der acht Spiele enthielt (die beliebtesten waren Abfahrtslauf und Hirschjagd). Auf diesem Weg wollte die SED vor allem die junge Bevölkerung an die Informatik heranführen, damit die DDR wettbewerbsfähig blieb. Deswegen wurden Informatikclubs gegründet, der größte im Berliner Haus der jungen Talente, in denen auch westliche Rechner sowie bestimmte, unter politischem Gesichtspunkt »harmlose« Spiele (Schach u.ä.) aus dem Westen geduldet wurden. Doch bald wurden in diesen Clubs ganz andere Spiele gespielt, die unter der Hand getauscht und auf Disketten kopiert wurden. Es gab kein Gesetz zum Kopierschutz, deshalb war das nicht direkt illegal. Oft waren es Kriegsspiele (Commando, Blue Max, Rambo usw.), in denen heldenhafte englische oder amerikanische Soldaten gegen vietnamesische oder russische Feinde kämpften: »Das schlimmste war Raid over Moscow von 1984. Der Spieler schlüpft in die Rolle eines amerikanischen Piloten, der in Richtung UdSSR fliegt und das Ziel hat, den Kreml zu zer113

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stören.«194 Die Stasi versuchte vergebens, die Clubs zu unterwandern. Die Agenten, die vor Ort das Ausmaß der Bedrohung erkunden sollten, begnügten sich damit, die Namen der Anwesenden zu notieren, denn sie hatten zu wenig Ahnung und waren selbst keine Spieler, weshalb sie kaum etwas mitbekamen. Die Staatssicherheit erwies sich in diesem Bereich als total überfordert, und so konnten sich in diesen Clubs unerwartete Freiräume entwickeln. Die Beziehung zur Freiheit ist vielschichtig. Man kann sich die DDRVergangenheit sogar wieder aneignen, indem man die Freiheit für das vereinigte Deutschland relativiert. Auf jeden Fall können sich die Ostdeutschen ihre Vergangenheit nur dann wieder aneignen, wenn man nicht länger Freiheit oder Unfreiheit, »Rechtsstaat« oder »Unrechtsstaat« gegeneinanderstellt, um der DDR die Legitimität abzusprechen – egal, ob sie unter fehlender Freiheit gelitten haben oder nicht.

Die Wut über vorschnelle Urteile Die Wiederaneignung der Vergangenheit ist untrennbar mit der Wut über oft vorschnelle, verzerrte, absurde Urteile verbunden. Mehrere Jahre lang galt der Ärger der Ostdeutschen einem Phänomen, das ihre Landsleute, die ehemaligen DDR-Bürger betraf. Überall schimpfte man auf die »Wendehälse«, überzeugte Genossen, die nach dem Mauerfall ihr Mäntelchen nach dem Wind hängten. Sie wurden binnen kürzester Zeit zu glühenden Anhängern der Marktwirtschaft und der neoliberalen Gesellschaft. In den Jahren des Wandels der ostdeutschen Gesellschaft gab es auch unschöne Abrechnungen zwischen DDR-Bürgern und Verleumdungen von Nachbarn oder Kollegen, die durch Eifersucht, Rachsucht oder Karrierismus motiviert waren. Erika Horn und ihre früheren Kindergärtnerkolleginnen erinnern sich gut daran. Eine von ihnen, Gisela, erzählt: »Das war das Schlimmste nach der Wende. Da konnte jeder jedem was nachsagen. Dass da plötzlich Dinge aufgebauscht wurden, die gar nicht wahr waren. Die haben gedacht, ich war bei der Stasi. War ich ja nie, aber das war einfach so, wie es dann so ist. Das geht dann plötzlich rum und jeder ver194 William Audureau, 2019.

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sucht, dich irgendwie zu meiden. Das war ganz komisch. Und ich wäre ja nicht bei der Stadt geblieben, wenn ich es gewesen wäre. Weil die ja jahrelang noch gesucht haben und gesucht. Und dann habe ich sogar meinen Persilschein gekriegt, dass ich nicht dabei war. Trotzdem sind mir Jahre aberkannt worden. Meiner Tätigkeit. Sieben Jahre sind mir aberkannt worden. Weil vermutet wird, dass … Und das kann ich nicht verstehen, bis heute nicht.«

Auch Anna und Johann Meier, in der DDR Jugendfürsorger, sprechen von einer schmerzhaften Erinnerung, die nicht weggeht: In den Wochen nach dem Mauerfall wurden sie als Personen wahrgenommen, die für den »Staatsapparat« gearbeitet hatten, also fast wie IM. Die Feindseligkeit der Nachbarn zeigte sich unverhohlen. Sie ließen sie sogar an ihrem neuen Auto aus. Die Ablehnung zeigte sich auch in der Schule, wo ihr Sohn zur Zielscheibe des Spotts wurde, vielleicht auch, weil er ein guter Schüler war. Schließlich entschlossen sie sich umzuziehen. Diese Anekdote wirft ein Schlaglicht auf einen Aspekt der Vereinigung, der in der Öffentlichkeit meist verschwiegen wird: Das Unverständnis zwischen West- und Ostdeutschen genießt eine hohe Aufmerksamkeit, doch auch Ostdeutsche haben sich untereinander zerfetzt und mit der Vergangenheit ihrer eigenen Landsleute gehadert. Anna und Johann Meier, die ihren Beruf in der Jugendfürsorge liebten, sagen, dass sie sich von der Politik immer ferngehalten haben. Deshalb sind sie bis heute fassungslos und verletzt. »Wir haben ja nichts Böses gemacht, aber woher wollen denn die Leute das wissen?« Sie fühlten sich als Opfer eines vorschnellen Urteils, weil sie für den Staat gearbeitet haben, zumal Anna selbst einen Anwerbeversucht erlebt hatte, der sie sehr verunsicherte: In den 1980er  Jahren wollten zwei Stasioffiziere sie als IM gewinnen. Zuerst hatte es ihr große Angst gemacht und Verzweiflung ausgelöst, dann fand sie einen Weg, um sich einer Zusammenarbeit zu entziehen: Sie »dekonspirierte« sich, d. h., sie erzählte einer Arbeitskollegin davon, was sie in ihrer Akte viele Jahre später auch nachlesen konnte. Durch diese Erfahrung ist sie verständnisvoller und nachsichtiger mit denen, die sich auf eine Zusammenarbeit mit der Stasi einließen. Der psychologische Druck war so stark, dass man für die Ablehnung gewaltige Kraft aufbringen musste, die manche nicht hatten. Solche Beschuldigungen konnten ganz konkrete Auswirkungen auf die Karriere haben. So wurden z. B. 60 Prozent aller Professoren, Assistenten und Oberassistenten an den Ostdeutschen Universitäten entlassen, auch 115

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wenn bei vielen die fachliche Kompetenz im Abwicklungsverfahren anerkannt wurde, das die Wissenschaftler überprüfen sollte, um diejenigen zu entlarven, die mit der Stasi zusammengearbeitet hatten oder ihre Karriere dem Engagement in der SED verdankten.195 In dieser Säuberungslogik gab es unzählige Lücken: Mit zweifelhaften Mitteln wurden viele Personen trotz ihrer Kompetenz kaltgestellt. Der westdeutsche Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Jürgen Mittelstrass empörte sich darüber und überzeugte den Berliner Senat, der Humboldt-Universität mehr Mittel zur Verfügung zu stellen, weil in den Jahren nach dem Mauerfall das intellektuelle Kapital der DDR vor allem in den Human- und Sozialwissenschaften durch die BRD weitgehend delegitimiert worden sei.196 In den sogenannten »exakten« Wissenschaften war es etwas weniger schlimm, auch in Bereichen wie Agrarwissenschaften, Pflanzen- und Tierkunde und Lebensmitteltechnologie.197 Als der Berliner Kultursenator Flierl (PDS) 2004 vorschlug, Christoph Hein zum Direktor des Deutschen Theaters zu ernennen, sprach die westdeutsche Presse dem Schriftsteller jede Kompetenz für diesen Posten ab. Dabei galt Christoph Hein vor dem Mauerfall als bedeutender, innovativer Autor, vor allem nach der Veröffentlichung von Der fremde Freund 1982. Seine mutigen Stellungnahmen gegen die in der DDR herrschende Zensur brachten ihm damals den Ruf eines engagierten, freigeistigen Autors ein. 2004 stellte man ihn plötzlich als beliebigen Schriftsteller aus dem Osten dar, der sich nicht von dem politischen System distanziert habe, in dem er einen Teil seiner Schriftstellerlaufbahn absolviert hatte. Gleichzeitig verbreitete die westdeutsche Presse falsche Informationen über die Bevorzugung Ostdeutscher in den ostdeutschen Medien und kulturellen Einrichtungen. Christoph Hein warf schließlich das Handtuch – durchaus verständlich, dass diese ungleiche Behandlung Frust ausgelöst hat.198 195 Siehe Peer Pasternack, 2020. 196 Für den Verlauf der Abwicklung siehe das Kapitel »Entwertung(en)«. 197 In Potsdam hat etwa das Deutsche Institut für Ernährungsforschung seinen Sitz, die Direktoren dieser Forschungsinstitute aber kommen sehr oft aus dem Westen. 198 Den jüngsten Fall, dass jemand aus politischen Gründen beschuldigt wurde, IM zu sein, stellt Andrej Holm dar: 1970 geboren, hatte er seinen Militärdienst in einem Stasi-Regiment begonnen, bei dem er fünf Monate war. Dann wurde er ein anerkannter Sozialwissenschaftler mit Schwerpunkt Stadtgestaltung an der Humboldt-Universität. Seine Ernennung zum Staatssekretär für Stadtentwicklung beim Berliner Senat löste eine Diffamierungskampagne aus. Seine Entlassung von der Humboldt-Universität wurde später zurückgenommen.

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Es gab viele ähnliche Geschichten. Wolfgang Engler verurteilt mit scharfen Worten den Ansturm von Westdeutschen, die in Ostdeutschland die Leitung von Unternehmen, Kulturbetrieben oder Forschungsinstituten übernahmen, der zu einer ungerechten und unnötigen Abwertung von Lebensläufen und Kompetenzen der ostdeutschen Bürger geführt habe. Die 2018 durchgeführte Initiative gegen die Ernennung von Chris Dercon zum neuen Direktor der Volksbühne, einem berühmten Theater in Ostberlin, war für ihn deshalb ein echter Akt des Widerstands.199 Die Petition erhielt 40.000 Unterschriften. Der Belgier Chris Dercon, früher Direktor der Tate in London, hatte einen ganz anderen kulturellen Hintergrund und wusste nichts von der ostdeutschen Problematik. Er blieb nur eine Spielzeit und musste dann kündigen. Den Protestierenden ging es um die Verteidigung des Repertoires, das durch die großen Buchstaben an der Theaterfassade symbolisiert wurde: OST. Im November 1994 sollte der DDR-Schriftsteller Stefan Heym als Alterspräsident im neugewählten Bundestag eine Rede halten. Der 81-Jährige genoss internationale Anerkennung. Plötzlich kam das Gerücht auf, er sei ein geheimer Mitarbeiter der Stasi gewesen. Fast die gesamte CDU-Fraktion weigerte sich, nach seiner Rede aufzustehen und zu applaudieren, einige taten so, als würden sie während seiner Rede Zeitung lesen. Stefan Heym hat später Anzeige erstattet, denn die Anschuldigungen waren unbegründet. Die Presse verschwieg den Zwischenfall weitgehend. Ohne jeden Grund wurde also nur wenige Jahre nach der Vereinigung ein international anerkannter Mann vom deutschen Parlament herabgesetzt und angeprangert. Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Auch der Publizist Markus Ziener erzählt eine interessante Anekdote: »›Mann, isses da noch ostig‹, sagte neulich eine Freundin, als sie von einem Wochenende in der sächsischen Schweiz zurückkehrte. ›Ostig?‹, fragte ich. ›Was meinst Du damit?‹. Ich stellte mich dumm. Natürlich wusste ich, was sie meinte. Aber ich wollte es von ihr hören. Ich wollte, dass sie es ausbuchstabierte. O-s-t-i-g. Und ich wollte Sylvia ein wenig ärgern. ›Na Du weißt schon, was ich meine‹, antwortete sie. Ich schüttelte den Kopf.«

Ziener hofft auf die jüngere Generation, um die Vorurteile zwischen Ost und West zu überwinden.200 Er ist der Meinung, dass die Deutschen in 199 Siehe Wolfgang Engler & Jana Hensel, 2018, S. 104f. 200 Siehe Markus Ziener, 2020.

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Ost-und West-Klischees erstarrt seien. Seit fast 30 Jahren liegen die Ostdeutschen, so Jana Hensel, »auf der Couch«, müssen sich also ständig erklären oder gar rechtfertigen. Da die DDR nach Ansicht des Westens ein Unrechtsstaat war, seien all seine Einwohner, kollektiv und individuell, mehr oder weniger Komplizen gewesen. »Wie konntet ihr denn ein richtiges Leben im falschen führen?«, lautet die häufige und verletzende Frage an viele Ostdeutsche, die sich »nichts zuschulden kommen« ließen und das Gefühl hatten, ein »richtiges Leben« zu führen. Das wäre noch zu definieren. Die Grundfrage ist tatsächlich, nach welchen Kriterien ein »normales Leben« definiert wird. Ist es der Blick zurück, der vom »normalen Leben« sprechen lässt? Dann würde man im Vergleich zu heute urteilen. Wenn die Menschen in der DDR glücklich gelebt haben, widerspricht das der Vorstellung, das Leben in der DDR sei grau, repressiv und traurig gewesen. Doch was sind die gesellschaftlichen Bedingungen für das individuelle Glück? Es würde implizit bedeuten, dass man ohne Demokratie und ohne Konsumgesellschaft nicht glücklich sein kann. Das ist ein ideologisches Konzept von Glück, dem sich die einfache Feststellung entgegenhalten lässt, dass auch Konsum zu Entfremdung und Unzufriedenheit führen kann. Wenn man in einer Realität verwurzelt lebt und ein Vergleich schwierig oder gar unmöglich ist, fühlt man sich nicht unglücklich und ist es auch nicht. Natürlich haben sich die DDR-Bürger verglichen, und die kapitalistische Konsumgesellschaft der Bundesrepublik erschien ihnen als Himmelreich. Wenn die Interviewten sagen, sie hätten ein »normales Leben« geführt, wollen sie damit vielleicht auch ausdrücken, dass dieses Leben sehr viel freier war, als man sich heute vorstellt. Es war ein Paradox: Gerade weil der monolithische politische Diskurs so viel Raum einnahm, wollte man sich ihm so weit wie möglich entziehen und sich größere Freiräume schaffen, damit er nicht alles ausfüllte – den Alltag entpolitisieren, nicht, weil man keine Meinung hatte, sondern aus gesundem Menschenverstand. Da war es am einfachsten, einen unpolitischen Raum des sozialen Lebens zu definieren. Diesen Raum nennt man rückblickend »normales Leben«. Große Wut richtet sich im Osten heute gegen die kategorischen und übereilten Urteile vieler Westdeutscher. Die Wahlerfolge der Rechtsextremen im Osten sind ein Lieblingsthema des lautstarken Diskurses gegen die ehemalige DDR, deren Erfahrungen global abgelehnt werden und die angeblich bis heute im vereinigten Deutschland eine unheilvolle Rolle spielt. 118

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Christian Pfeiffer, Kriminologe und Jurist, war Gast vieler Medien, als er 2000 behauptete, es gebe im Osten mehr Skinheads als im Westen, weil die Kleinkinder in der Krippe alle gleichzeitig aufs Töpfchen gesetzt wurden.201 Seiner Meinung nach erklärte diese Kollektiverziehung die Neigung zur Gewalt; die Militarisierung des DDR-Regimes habe die Individualität unterdrückt. Die Geschichte brachte ihm den Spitznamen »TöpfchenPfeiffer« ein. Diese Anekdote zeigt die Absurdität der Klischees, auf die man zurückgreift, um die ostdeutsche Gesellschaft abzuwerten, und die Macht vorschneller Verallgemeinerungen und Vereinfachungen gegenüber den Ostdeutschen. Nach dieser Logik hätten die Ostdeutschen auch den Jugoslawienkrieg 2000, den ersten Krieg mit deutscher Beteiligung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, stärker unterstützen müssen als die Westdeutschen. Umfragen zeigten aber, dass sie die Militärintervention mit großer Mehrheit ablehnten. Die von den Ostdeutschen erzählten Erinnerungen zeigen uns, dass die DDR nicht nur der DDR-Staat und die politische Unterdrückung war. Wollte man die Geschichte der Bundesrepublik nur als Geschichte der Bonner Regierung, des Bundesgerichtshofs, der Polizei und der Verfolgung der Rote-Armee-Fraktion (RAF) erzählen,202 wäre die Empörung groß: »Ja, sicher, aber die Bundesrepublik war nicht nur das!« Wenn man das monolithische DDR-Bild, das nur die Institutionen, die Unterdrückung und die Opfer darstellt, erweitern will, muss man den anderen Erinnerungen der DDR zuhören. Natürlich darf man die Opfer nicht vergessen, ihr Leiden und die unerbittliche und willkürliche Unterdrückung nicht unterschätzen. Um zu illustrieren, wie sehr ein politischer Erinnerungsdiskurs individuelle Lebenserzählungen behindern kann, verweisen wir hier auf ein Oral-History-Projekt über den Alltag in der DDR, das 2008 im Rahmen eines Seminars am Institut für Geschichte der Friedrich-SchillerUniversität Jena durchgeführt wurde. Die biografischen Interviews sollten anlässlich des 20.  Jahrestags des Mauerfalls von der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen veröffentlicht werden. Nachdem deren Di201 Siehe Ansgar Siemens, 2015. 202 Denken wir nur an die von Polizeigewalt geprägte Realität, die die Filme von Rainer Werner Faßbinder widerspiegeln, und an den Roman Die verlorene Ehre der Katharina Blum von Heinrich Böll über terroristische Gewalt und polizeiliche Gegengewalt in den 1970er Jahren, den Volker Schlöndorff verfilmte.

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rektor das Manuskript erhalten hatte, untersagte er die Publikation unter dem Vorwand, die Interviewten würden sich zu nuanciert über das Leben in der DDR und im vereinigten Deutschland äußern. Er fand, ihre Aussagen machten nicht hinreichend die unbestreitbare Überlegenheit des politischen Systems im vereinigten Deutschland deutlich. Es waren ihre Erinnerungen, ihre Geschichten, aber sie wurden en bloc abgelehnt.203 Auch die Medien neigen dazu, die DDR als ideologische Blase darzustellen, die geplatzt sei. Die Erinnerungen der Menschen erzählen etwas ganz anderes. Sie wollen die DDR nicht auf die Dichotomie zwischen Tätern und Opfern, zwischen Beobachteten und Beobachtern reduzieren. Oft betonen sie die soziale Komponente und die geringe Rolle, die der Konsum in der DDR spielte. Heutzutage finden nicht nur Ostdeutsche, dass das Streben nach Wachstum um jeden Preis und die Zunahme der Ungleichheit durch den Rückzug des Staates an Grenzen stoßen. Daniela Dahn schreibt in Anspielung auf eine Aussage von Heiner Müller: »Löwe frisst Antilope. Was komischerweise niemand erwartet hat: Sie ist unverdaulich. Bald nach ihr krepiert auch er.«204 Hinter dieser Unverdaulichkeit stecken auch Zweifel an der Effizienz und Unfehlbarkeit der Bundesrepublik, mit denen die Erinnerungen an die DDR uns heute konfrontieren. Um alle Aspekte des kollektiven Gedächtnisses an die DDR und ihre Folgen noch 30 Jahre nach ihrem Ende zu verstehen, muss man die Ambivalenz aushalten. Manchmal hört man die bissigen Urteile auch von ehemaligen DDR-Bürgern selbst. Anfang 1990 nahm Barbara Sengewald an einem großen Frauentreffen in Berlin teil. Die Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Frauen empfand sie als sehr groß, obwohl sie das Gefühl der Fremdheit nicht erklären konnte. Ihre Erinnerungen an die DDR sind insgesamt außerordentlich negativ. Sie behauptet, dass sie »absolut nichts« aus dieser Zeit vermisst. Sie betont auch, dass sie sich nicht nach dem Krippensystem zurücksehnt, das die Kinder hütete, während die Frauen arbeiteten, denn in den Krippen gab es für sie »eigentlich nur Kriegsspielzeug«. Ebenso wie manche nur positive Erinnerungen haben, ist auch die Tatsache, keine einzige positive Erinnerung an die DDR-Zeit zu haben, ein Symptom der selektiven Erinnerung. Barbara Sengewald denkt z. B. nicht an die niedrigen Mieten, obwohl sie die heutigen Probleme mancher Be203 Siehe Agnès Arp, 2010. 204 Daniela Dahn, 2009, S. 14.

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rufstätiger und Rentner erwähnt, eine Wohnung zu finden. Außerdem neigt sie dazu, die Unterdrückung zu generalisieren. In der Post in Erfurt gab es einen Extraraum für Briefe und Pakete aus dem Westen. Sie erinnert sich, dass alles geöffnet, kontrolliert und Geld immer einbehalten wurde. Die Briefe wurden unter Dampf geöffnet, aber die Empfänger ließen sich nicht täuschen.205 Während der Übergangszeit hatte Barbara Sengewald ein überraschendes Erlebnis. Mit einigen anderen Oppositionellen gelang es ihr, einen Artikel des DDR-Arbeitsrechts geltend zu machen, nachdem ein Angestellter das Recht hatte, drei Monate von der Arbeit freigestellt zu werden, um »gesellschaftliche Aufgaben« zu erledigen. Der Bürgermeister von Erfurt erteilte diese Genehmigung, sodass sie bei der Auflösung der MfS-Bezirksverwaltung in Erfurt mitarbeiten konnte. Sie wurde drei Monate lang bezahlt, um diese »gesellschaftliche Aufgabe« zu erledigen. Das empfand sie als total paradox.

»Deutschland hat die Mauer durch eine gesellschaftliche Kluft ersetzt«206 Ein Witz mokiert sich über die westdeutsche Gesellschaft, in der nur der schöne Schein herrsche – anders als bei den Ostdeutschen, die bescheiden und ehrlich seien: »Warum gehen die Wessis 13 Jahre zur Schule und nicht zwölf ? Weil sie ein Jahr lernen, Theater zu spielen!« Er zeigt auch, wie die Ossis die Dominanz der Westdeutschen durchschauten. Leitungsposten im Osten sind in der Regel bis heute von Westdeutschen besetzt, kein Wunder also, dass sich viele Ostdeutsche fremd fühlen und das Gefühl haben, in der Bundesrepublik nicht wirklich willkommen zu sein. In einem Interview für die spanische Zeitung El País sagte Günter Grass: »Deutschland hat die Mauer durch eine gesellschaftliche Kluft ersetzt.« Der Schriftsteller bezog sich auf die Verschärfung der Unterschiede und der Ungleichheit seit der Vereinigung. Diese »gesellschaftliche Kluft« nimmt verschiedene Formen an. Ein 1999 gestartetes Projekt des Jugendamts in Berlin sollte Begegnungen zwischen Schülerinnen und Schülern der neunten Klasse aus den Stadtbezirken Lichtenberg (früher Ostberlin) 205 Die Stasi hatte eine Abteilung, die sich ausschließlich um die Kontrolle der Post kümmerte (Abteilung M). 206 Günter Grass, 1992.

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und Neukölln (früher Westberlin) organisieren. Die beiden Bezirke liegen nicht weit voneinander, durch die Spree getrennt, aber 98  Prozent der Lichtenberger Schüler und 85 Prozent der Neuköllner hatten bis dahin keinen persönlichen Kontakt mit der anderen Seite – und das zehn Jahre nach der Vereinigung. Dank zahlreicher Projekte hat sich diese Kluft inzwischen verkleinert.207 Die Annäherung ist unverzichtbar, geschieht aber nicht von allein. Die »gesellschaftliche Kluft« zeigt sich auch auf höchster Ebene. Die Schnelligkeit des Vereinigungsprozesses hat zu vielen blinden Flecken geführt, die bis heute fortbestehen. So gibt es z. B. nur eine sehr geringe Zahl von ehemaligen DDR-Bürgern bzw. Ostdeutschen in der Regierung: Seit 1991 gab es höchstens drei Ostdeutsche pro Regierung, meistens war es ein einziger: Zwischen 1998 und 2002 führte in der Schröder-Regierung Christine Bergmann (SPD) das wenig angesehene Ministerium für Senioren, Familie, Frauen und Jugend. Zwischen 2002 und 2005 war Manfred Stolpe (SPD) der einzige Ostdeutsche in der Regierung und leitete das Ministerium für Verkehr, Bau und Wohnungswesen. Zwischen 2009 und 2013 gab es keinen ostdeutschen Minister, wohl aber die ostdeutsche Kanzlerin Angela Merkel. In der letzten Regierung von 2018 bis 2021 war die einzige aus der DDR stammende Ministerin Franziska Giffey. Sie war die jüngste Ministerin (39 Jahre bei Amtsantritt) und führte das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Matthias Höhn (Linke) fragte im Bundestag nach der Gesamtzahl der in der DDR geborenen Referatsleiter in den Bundesministerien und im Kanzleramt: 2018 gab es 217, ungefähr zwölf Prozent, wobei die neuen Länder 17 Prozent der deutschen Bevölkerung ausmachen.208 Heute, 2022, gibt es in der neunten gesamtdeutschen Regierung seit dem 8. Dezember 2021 zwei Ministerinnen, die in der DDR geboren sind: Klara Geywitz, Bundesministerin für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, und Steffi Lemke, Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz. Auch Carsten Schneider, geboren 1976 in Erfurt, der Ostbeauftragte der neuen Regierung, und Michael Kellner, 1977 in Gera geboren, parlamentarischer Staatssekretär im Ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz stammen aus der DDR. Reem Alaali-Radovan, Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration, wurde 1990 in Moskau geboren und 207 Siehe Ursula Schirmer et al., 1999. 208 Siehe zu diesem Punkt die detaillierte Studie von Andreas Apelt, 2017.

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wanderte 1996 mit ihren Eltern nach Mecklenburg-Vorpommern ein. Von 54 Ämtern gingen nur fünf an Ostdeutsche. Dies entspricht einer Quote von knapp unter zehn Prozent.209 Wie lässt sich diese weitgehende Abwesenheit von Vertretern der neuen Länder in der Bundesregierung erklären? Hier gibt es verschiedene Hypothesen. Wolfgang Thierse (SPD), der eine Ausnahme darstellt, weil er lange Abgeordneter und von 1998 bis 2005 Bundestagspräsident war, erklärte gegenüber den Autorinnen, dass der Übergang wegen des Idealismus der Ostdeutschen oft schmerzhaft gewesen sei. Sie hätten sich für die Politik interessiert und sich ein perfektes demokratisches System ohne jede Einschränkung der Freiheit gewünscht. Lange Zeit, vor allem Ende der 1980er Jahre, als man in der DDR in privaten Kreisen oder unter dem Dach der Kirche schon etwas mehr sagen durfte, hätten sie eine neue Welt erschaffen, sich Reformen ausgedacht, die dem Kommunismus sein »menschliches Gesicht« wiedergeben würden, also von einer perfekten Gesellschaft geträumt, in der die Gerechtigkeit ebenso respektiert würde wie die Rechte und Freiheiten jedes Einzelnen. Nach dem Sturz der Mauer sei die Euphorie schnell einer bitteren Einsicht gewichen: Um in der Politik etwas zu erreichen, müsse man Kompromisse eingehen, kleine Schritte tun, auf manche Projekte verzichten. Diese Generation habe die Kompromisse als unzumutbar empfunden, deshalb hätten sich viele zurückgezogen. Thierses Erklärung würde auch verständlich machen, weshalb es im Osten viel weniger Mitglieder in Parteien gibt als im Westen. Hinzu kommt der Altersfaktor: Die Generation der DDR-Vertreter, die sich nach der »Friedlichen Revolution« engagiert und Ministerämter wahrgenommen hatten, wie Manfred Stolpe oder Wolfgang Tiefensee, ist heute in Rente. Ein anderer Schlüssel zum Verständnis liegt in der Art, wie die deutsche Vereinigung organisiert wurde. Wir haben gesehen, dass am 3. Oktober 1990 lediglich eine territoriale Vergrößerung der Bundesrepublik stattfand, die fünf neue Bundesländer aufnahm, aber als derselbe Staat weiterbestand. Es wurde kein neuer Staat mit einer neuen politischen Ordnung 209 Siehe Denis Huschka, 2022. In der vierten Merkel-Regierung hatte man sich mit knapp 14 Prozent Ostdeutschen bei den (durch Wechsel innerhalb der Wahlperiode) 58 Besetzungen der 52 Spitzenposten zumindest an den ostdeutschen Bevölkerungsanteil (knapp 16 Prozent) angenähert.

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und einer neuen Verfassung gegründet.210 Der französische, sehr germanophile Schriftsteller Michel Tournier hatte sich im Januar 1990 in einem Interview mit dem SPIEGEL sehr deutlich für einen dritten Weg ausgesprochen: »Es wäre verrückt und tieftraurig, wenn die DDR restlos von der BRD verschluckt würde und es schließlich nur noch eine größere BRD gäbe. Die DDR existiert, sie hat ihre Persönlichkeit. Wenn eine Wiedervereinigung kommt, muss das ganze Deutschland eine qualitative Änderung erfahren.«211 Anfang 1990 war die Situation für viele westdeutsche Politiker, vor allem für Kanzler Helmut Kohl, sehr heikel. Wie lange würde sich Gorbatschow an der Macht halten? Würde sich im Fall eines Umsturzes das Zeitfenster schließen, das eine Vereinigung erhoffen ließ? Es musste schnell gehen. Der Einigungsvertrag wurde bei mehreren Treffen zwischen den früheren Alliierten und den beiden deutschen Staaten (»Zwei-plusvier-Vertrag«) auf der Grundlage des Anschlusses der DDR an die BRD ausgehandelt. Rechtlich möglich wurde er durch Artikel 23 des Grundgesetzes, der ursprünglich den Beitritt des Saarlands ermöglichen sollte, das bis 1956 unter französischer Besatzung stand. Mit Inkrafttreten des Einigungsvertrags wurde dieser Artikel aus dem Grundgesetz gestrichen, um deutlich zu machen, dass die Bundesrepublik Deutschland keine andere Erweiterung anstrebt. Der politische Preis dieser Eile ist hoch. Die Deutschen haben nie gemeinsam über eine neue Verfassung nachgedacht, um miteinander eine neue Seite ihrer Geschichte aufzuschlagen.212 Es wurde nicht einmal in Erwägung gezogen, dass die DDR etwas beizutragen hätte, dass Elemente der gesellschaftlichen Erfahrung der DDR es verdient hätten, berücksichtigt, angepasst und in das neue Deutschland übernommen zu werden. Zu diesen Erfahrungen gehören die Demokratiebewegung der Wendejahre, die guten kulturellen Beziehungen zu Ost- und Mitteleuropa, die Bedeutung der Kultur im Berufsleben, das Bodenrecht für den Erwerb der Staatsbürgerschaft, das Recht auf Wohnraum, die Strukturen für Kinderbetreuung – nichts davon wurde bei der Vereinigung bewahrt. Deshalb hatten viele DDR-Bürger das Gefühl, dass sie vor der Tür der westdeutschen Gesellschaft stehen und »keinen Eintritt erhalten, obwohl sie eine Eintritts210 Siehe Rachel Knaebel & Pierre Rimbert, 2019, S. 1, 14f. 211 Michel Tournier, 1990. 212 Anfang bis Mitte 1990 formulierten die Gegner ihren Slogan nach einer Telefonansage: »Artikel 23: Kein Anschluss unter dieser Nummer«. Siehe Daniela Dahn, 2019, S. 43–47.

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karte vorzeigen können«, wie es eine Ostberliner Teilnehmerin an einem Symposium von Germanisten 1991 in Manchester zum Thema »Germany, one year after unity« beschrieb.213 In den Medien wird oft mit Stereotypen erklärt, weshalb die Ostdeutschen unfähig seien, zur politischen, ökonomischen oder künstlerischen Elite zu gehören.214 Ein Artikel der konservativen Tageszeitung WELT vom 28. Dezember 2018 trug den Titel »Fehlt den Ostdeutschen das Leadership-Gen?«,215 illustriert durch das vielsagende Foto eines Mannes, der die Ärmel seines weißen Hemds zurückschiebt. Der Artikel enthielt im Wesentlichen die Botschaft, die Ostdeutschen müssten endlich die Ärmel hochkrempeln. Hier dient der Osten als Negativ zum Westen oder, um ein anderes Bild aus dem Wortfeld der Fotografie zu verwenden, er ist das Entwicklerbad, das die Qualitäten des Westens sichtbar macht, ein Verfahren, um den Fokus von den Schwächen der westdeutschen Gesellschaft abzulenken. Auch an der Spitze der großen deutschen Unternehmen gibt es nur sehr wenige aus der DDR stammende Personen. Dieses Thema wurde 2018 beim Ostdeutschen Wirtschaftsforum (eine Art ostdeutsches Davos) im Brandenburgischen Bad Saarow diskutiert. Unter den 500 reichsten Familien war 2020 keine ostdeutsche. In den einflussreichsten »großen« Medien wie auch unter den deutschen Unternehmen mit dem größten Profit sind die Ostdeutschen auf den Führungspositionen kaum vertreten. So schreibt die Journalistin des oben erwähnten WELT-Artikels, Sandra Papst, »Je höher die Position, desto weniger Ostdeutsche«. Das Problem ist, dass sie sich auf »Wissenschaftler« beruft, ohne sie zu zitieren. Sie behauptet, die Ostdeutschen würden vor allem auf Sicherheit und weniger auf Risiko setzen, was sie daran hindere, erfolgreiche Unternehmer zu werden. Ein Problem sei weiterhin, dass »viele Ostdeutsche nicht glauben, dass man die Ziele, die man für sich definiert, auch verwirklichen kann«. Diese Abwertung, die nicht nur auf einer Verallgemeinerung und unbegründeten Behauptungen beruht, sondern auch auf der Unterschätzung historischer Faktoren, wird der Geschichte nicht gerecht: Dass es in Deutschland im Jahr 2018 keine ostdeutsche Familie unter den 500 reichsten Familien Deutschlands gibt, liegt auch und vor allem daran, dass es in 213 Siehe Udo Bartsch, 1994, S. 27–36. 214 Siehe auch Strobel et al., 2021. 215 Siehe Sandra Pabst, 2018.

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der DDR für die große Mehrheit der Bevölkerung schwierig, ja unmöglich war, reich zu werden, ein Vermögen aufzubauen und es seinen Kindern zu vererben. Die Eigentümer kleiner und mittlerer Unternehmen wurden spätestens 1972 enteignet. Unter ihnen gab es industrielle Dynastien, deren Erben 1989 nur noch einen Namen und bestenfalls einen guten Ruf weitergeben konnten.216 Was die Medien anbelangt, gibt es ebenfalls offenkundige historische Gründe. Die Frage nach dem »Leadership-Gen« ist nicht nur absurd, sondern verleugnet diese historischen Gegebenheiten. Einige Meinungsmacher verbreiten regelmäßig Klischees über die fehlende Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der Ostdeutschen. Die Statistiken und die Lebensberichte, die wir gesammelt haben, sagen jedoch das Gegenteil. Trotz der zahlreichen Schwierigkeiten haben sich die Ostdeutschen angepasst und die meisten Hindernisse überwunden. Doch verschiedene Entscheidungen nach 1990 im Sinne westdeutscher Interessen zeigen bis heute Auswirkungen. Die Vereinigung war durch eine weitgehende gesetzliche Leere geprägt, die oft den großen westdeutschen Konzernen nutzte. Das Fehlen von neuen Ideen und Einfallsreichtum lässt sich also auch als fehlender politischer Willen deuten, den Übergang zu gestalten. Die notwendigen gesetzlichen Maßnahmen, um das Überleben kultureller Institutionen in Ostdeutschland zu sichern, blieben aus. Die Unternehmer aus dem Westen nahmen der Politik die Zügel aus der Hand. Studien begründen überzeugend die weitgehende Abwesenheit von Ostdeutschen in der Journalistenelite. Die Kommunikations- und Medienwissenschaftlerin Beate Schneider führte z. B. 1991 bis 1992 im Auftrag des Innenministeriums eine Untersuchung durch.217 Sie gelangte zu eindeutigen Schlussfolgerungen über den Zustand des ostdeutschen Pressemarktes: In den neuen Ländern war ein sehr konzentrierter Markt ohne echten Wettbewerb entstanden, der von der konservativen Presse dominiert wurde.218 Zuvor, zwischen November 1989 und Anfang 1990, waren alle ostdeutschen Chefredakteure, vor allem der Zeitung Neues Deutschland und der Publikationen der Massenorganisationen, ausgetauscht worden. Das fehlende Kapital und die in der DDR angesammelten Schulden führten zu finanziellen Problemen und 216 Siehe Agnès Arp, 2006a. 217 Siehe Beate Schneider, 1992. 218 Siehe Walter A. Mahle, 1992, S. 39.

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»Deutschland hat die Mauer durch eine gesellschaftliche Kluft ersetzt«

einem dringenden Investitionsbedarf für alle ostdeutschen Zeitungen. Deshalb mussten sie mit großen westdeutschen Konzernen Partnerschaftsverträge abschließen.219 1990 wurde die Treuhand Eigentümerin der früheren SED-Zeitungen und versuchte, sie so schnell wie möglich zu verkaufen und dabei so viele Arbeitsplätze wie möglich zu erhalten. Beate Schneider zeigt, dass diese Verkaufspolitik der Treuhand zur Deformation der ostdeutschen Medienlandschaft führte. Sie legt dar, dass die Hauptinformationsquelle der Ostdeutschen zum Zeitpunkt der Vereinigung die Berliner Tageszeitungen waren, deren Chefredakteure aus den alten Ländern kamen. Natürlich gilt das nicht für alle Städte. In Leipzig hat etwa die Leipziger Volkszeitung bis heute eine große Leserschaft. Sie ist die älteste deutsche Tageszeitung, gegründet 1894 als sozialdemokratische Zeitung, von den Nationalsozialisten verboten und ab 1946 SED-Organ für den Bezirk Leipzig. Ihre schon zu DDR-Zeiten große Leserschaft konnte sie trotz einer sehr schwierigen Phase zwischen 1990 und 1992 halten. Der neue Chefredakteur war der ostdeutsche Journalist Wolfgang Thiedke, der ein Forschungsstudium in der Sektion Journalistik an der Karl-Marx-Universität Leipzig absolviert hatte und in dieser Universität zu DDR-Zeiten Dozent war. Er versuchte, die »sozialistische« Grundhaltung der Zeitung zu bewahren. 1991 wurde die Leipziger Volkszeitung vom Niedersächsischen MADSACK-Pressekonzern gekauft. MADSACK ersetzte Thiedke durch einen neuen Chefredakteur aus dem Westen, Hartwig Hochstein, der versuchte, aus der Zeitung die »Süddeutsche Zeitung des Ostens« zu machen. Beide Versuche scheiterten, auch wenn nicht feststeht, ob die zu linke Orientierung oder das zu hohe intellektuelle Niveau wirklich die Gründe für den sinkenden Absatz waren. Zu DDR-Zeiten waren Zeitungen fast gratis, es gab keine Werbung und sie wurden viel gelesen. Heute ist die Leipziger Volkszeitung nicht sehr politisch, man könnte sie als »mitte-links« bezeichnen. Zu DDR-Zeiten unterschied sie sich von den anderen Zeitungen durch etwas größere Offenheit, was sich unter anderem mit der Buchmesse und den Industriemessen in Leipzig erklären lässt, die der Stadt eine internationale Öffentlichkeit verschafften. Alle Untersuchungen des Pressemarkts in den neuen Ländern nach der Vereinigung sind sich darüber einig, dass es an Vielfalt auf dem Markt fehlte. 219 Für eine detailliertere Analyse dieses Übergangs siehe Wolfgang Hoffmann-Riem, 1991. Siehe darüber hinaus auch Günter Herkel, 1990.

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»Medienpolitisch ist das Ergebnis eindeutig: Die Presselandschaft der Ex-DDR bleibt fast so einfarbig wie vor der Wende, nur diesmal schwarz statt rot. Von Rostock bis Leipzig dominieren konservative Erwerber. […] Das ist sicher kein Zufall. Helmut Kohls Bundeskanzleramt hat […] von Anfang an Einfluss auf den Umgang der Treuhand mit den Regionalzeitungen genommen […].«220

Die rechtliche Leere, die die Vereinigung im Bereich der Presse kennzeichnete, führte also zu einer Zerschlagung der ostdeutschen Strukturen, wovon sehr oft die großen Konzerne aus den alten Bundesländern profitierten. Im oben zitierten SPIEGEL-Artikel vom April 1991 erklärt Karl Bever, Chefredakteur der Schweriner Volkszeitung, »Wir fühlen uns wie beim Pferdemarkt«, und beschreibt, wie sich die großen westdeutschen Konzerne nach der Vereinigung bei der ehemaligen SED-Zeitung umsahen wie Pferdehändler, die einem nach dem anderen »das Maul aufklappen und nachsehen, wie die Zähne sind«, bevor sie sich auf die Partnerschaft mit den ostdeutschen Zeitungen einließen.221 Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Da es keinen politischen Willen gab, den Übergang zur Marktwirtschaft zu gestalten, führte die Regulierung durch den Markt zu einer starken Konzentration anstatt zur erhofften Vielfalt. Die Frage der fehlenden Ostdeutschen an führenden Positionen in Politik, Ökonomie und Medien muss also ins Verhältnis zu rechtlichen Entscheidungen gesetzt werden, die bei der Vereinigung getroffen wurden. Als wichtige Erklärung fungieren aber auch soziohistorische Gegebenheiten, die Klischees und pseudopsychologische Erklärungen allzu oft ignorieren. Die rationalen Faktoren wieder ins Zentrum der Erklärungen und einer gründlichen Analyse zu rücken, ist eine Form der Wiederaneignung der Vergangenheit und widerlegt den Drang, die Unterschiede beim Zugang zu den höchsten Positionen der Gesellschaft auf einen einzigen Grund zu reduzieren.

Das Wahlverhalten Es gibt noch einen Bereich, bei dem die Unterschiede zwischen Ost und West bis heute sehr groß sind: die Wahlergebnisse der politischen Parteien, 220 O.V., 1991. 221 Ebd.

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insbesondere der Rechtsextremen. Die Bundestagswahlen am 24. September 2017 zeigten ein deutliches Erstarken der Rechtsextremen vor allem in den neuen Bundesländern.222 Die AfD erhielt 12,6 Prozent der Stimmen, ein Anstieg um 7,9 Prozent gegenüber den letzten Wahlen 2013. Dieses Ergebnis übertraf die pessimistischsten Voraussagen und brachte der AfD 94 Bundestagsmandate ein. Das war eine Premiere: Durch die Fünf-Prozent-Hürde, die 1949 eingeführt worden war, um die Lehren aus dem Untergang der Weimarer Republik zu ziehen, kommt eine Partei nur in den Bundestag, wenn sie fünf Prozent aller Stimmen oder drei Direktmandate erhält. Bis zu jenem 24. September 2017 waren diese Kriterien noch nie von einer rechtsextremen Partei erfüllt worden. Ihr Einzug in den Bundestag hat unter anderem finanzielle Folgen: Anhand der Abgeordnetenzahl berechnet sich die Parteienförderung. Schaut man sich das Ergebnis der AfD 2017 näher an, springt der Unterschied zwischen den neuen und den alten Bundesländern ins Auge. Im Osten haben 19,1 Prozent der Bürger für sie gestimmt, im Westen waren es »nur« 8,2. In Sachsen wurde die AfD mit 24,6  Prozent sogar die stärkste Partei und lag mit wenigen Stimmen vor der regierenden CDU. 2019 haben die Landtagswahlen das Gewicht der AfD im Osten bestätigt. Im September 2019 erhielt sie 27,5 Prozent in Sachsen und 23,5 Prozent in Brandenburg, im Oktober 2019 23,4 Prozent in Thüringen. Dort gab es am 5. Februar 2020 ein politisches Erdbeben bei der Wahl des Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich (FDP). Er erhielt die Stimmen aller AfD-Abgeordneten und der meisten CDU-Parlamentarier und damit eine Stimme mehr als der bisherige Ministerpräsident Thüringens Bodo Ramelow von der Linken, der von SPD und Grünen unterstützt wurde. Ramelow hatte damit gerechnet, an die Spitze einer linken Minderheitsregierung gewählt zu werden, weil sich CDU und FDP an ihre Parteibeschlüsse halten würden, nicht mit der AfD zu stimmen. Die Empörung auf lokaler und nationaler Ebene war groß und zwang Kemmerich, zwei Tage später seine Wahl abzulehnen. Dieser Vorgang war ein großer Schock für Thüringen und Deutschland. Umfragen zeigen, dass die AfD Wähler von allen anderen Parteien gewinnt. Der größte Anteil kommt jedoch von bisherigen Nicht-Wählern. Die AfD hat 1,2 Millionen Bürger überzeugt, die vorher nicht gewählt hatten und sich bei der Bundestagswahl 2017 zum ersten Mal beteiligten, 222 Siehe Élisa Goudin-Steinmann, 2017.

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vor allem in der Gruppe der 35- bis 44-Jährigen und bei Arbeitslosen, Arbeitern und Angestellten. Die AfD verkündete im Mitteldeutschen Rundfunk, diese Wahlen seien nur ein erster Schritt auf dem Weg, der sie bei den nächsten Wahlen 2021 an die Macht bringen würde. Das ist ihr, wie wir wissen, nicht geglückt. Die verfügbaren Studien zur sozialen Struktur der AfD-Wählerschaft kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Deshalb reichen einseitige Erklärungsversuche wohl nicht aus. Weder die hohe Arbeitslosenquote noch ein wachsender Ausländeranteil können allein die AfD-Stimmen erklären. Im Westen hat die AfD vor allem Erfolg, wenn die Wähler ein Haushaltseinkommen unter dem Durchschnitt haben und/oder in der Industrie arbeiten. Im Osten ist sie in den ländlichen Gegenden stark, die an Landflucht leiden und fürchten, wirtschaftlich zurückzubleiben. Arbeiter und Arbeitslose wählen mehrheitlich AfD, aber sie machen nur ein Viertel ihrer gesamten Wählerschaft aus, die anderen drei Viertel sind Angestellte, Beamte und Selbstständige.223 Ein klareres Profil zeichnet sich ab, wenn man die Gründe für das Wahlverhalten betrachtet. AfD-Wähler zeigen viel größere Unzufriedenheit als alle anderen Wähler und größere Nähe zu rechtsextremen Ideen, ebenso wie die PEGIDA-Bewegung, die auch eine »Anti-Establishment-Bewegung« sein möchte. Sehr deutlich unterscheidet sich die AfD von den anderen Parteien bei der Migrations- und Flüchtlingspolitik: Die strikte Ablehnung der Migrationspolitik von Angela Merkel wird nahezu einstimmig von ihren Wählern geteilt.224 Und schließlich erreichte die AfD bei den Bundestagswahlen 2017 besonders gute Ergebnisse in Regionen und Städten, deren Bevölkerung seit 1991 stark zurückgegangen ist.225 Der aus dem Erzgebirge stammende Großvater eines Freundes sagte, die Wahl der AfD sei seine persönlich Rache an einer CDU, die am wirtschaftlichen Desaster seiner Region schuld sei. Dabei zeichnete sich der Wahlkampf der AfD durch unzählige revisionistische und zutiefst beleidigende Provokationen aus. So erklärte Alexander Gauland (damaliger Spitzenkandidat neben Alice Weidel) auf dem Kyffhäuser-Treffen der AfD am 2.  September 2017, Deutschland habe das Recht, »stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei 223 Siehe Oskar Niedermayer & Jürgen Hofrichter, 2016, S. 267. 224 Siehe Verena Hambauer & Anja Mays, 2018. 225 Siehe Christian Bangel et al., 2019.

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Weltkriegen«.226 Darüber hinaus erklärte einem Journalisten in Bezug auf den deutschen Nationalspieler Jérôme Boateng: »Die Leute finden ihn als Fußballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben.«227 Er empfahl bei einer Wahlkampfveranstaltung in Thüringen, die sozialdemokratische Staatsministerin für Integration, Aydan Özoguz, »in Anatolien zu entsorgen«. Beatrix von Storch, Vizepräsidentin der AfD, schrieb auf Facebook, deutsche Polizisten sollten an den Grenzen auf Flüchtlinge schießen, auch auf Kinder. Das ist nur ein Ausschnitt. Gemeinsam ist all diesen unerträglichen Äußerungen unter anderem eine unbefangene Beziehung zur nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands. Die wachsende Ausländerfeindlichkeit, die so oft dem Osten vorgeworfen wird, ist auch im Westen zu beobachten. Auch der wiedererwachende Antisemitismus, den man nur im Osten sehen möchte, sollte im Westen untersucht werden. Die Amadeu-Antonio-Stiftung, die sich gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus engagiert, hat Untersuchungen im Osten durchgeführt, nicht jedoch im Westen, wo das Klima nach einer Untersuchung des SPIEGEL von 1992 deutlich besorgniserregender sei: »Durchgängig äußern sich Ostdeutsche weniger antisemitisch, rechtsradikal und ausländerfeindlich als die Westdeutschen.«228 Ohne wirklich vergleichen zu können, ist es nicht legitim, das DDR-Bildungswesen anzuklagen, was jedoch ständig gemacht wird. Lukas Rietzschel hat 2018 den Roman Mit der Faust in die Welt schlagen geschrieben, die Geschichte von zwei Brüdern, die in Ostsachsen leben und sich radikalisieren. Bei öffentlichen Lesungen im Westen sprechen die Leser jedes Mal über ihr Unverständnis angesichts des Vormarschs der Rechtsextremen im Osten. Es scheint ihnen schwerzufallen, die Perspektive der Ostdeutschen einzunehmen und ihre Empfindungen zu verstehen.229 Tatsächlich gibt es durchaus Erklärungen dafür, dass die AfD in der Ex-DDR ihre besten Ergebnisse erzielt. Wir beschränken uns auf vier Gründe. Erstens sind Arbeitslosigkeit und prekäre Jobs dort weiter verbreitet als im Westen. Zweitens gibt es historische Ursachen: Die sowjetische Militärverwal226 227 228 229

Alexander Gauland, 2017. Alexander Gauland, 2016. O.V., 1992. Siehe Maximilian König, 2019.

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tung hatte die Entnazifizierung in der sowjetischen Besatzungszone offiziell am 26. Februar 1948 beendet und die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NDPD) gegründet, die bis 1990 existierte. Sie war eine der sogenannten »Blockparteien«, die einen Pluralismus vortäuschen sollten, den es angesichts der de-facto-Einparteienherrschaft der SED nicht gab. Die NDPD wurde mit dem Ziel gegründet, die früheren Funktionäre der NSDAP, frühere Wehrmachtsoffiziere und Kriegsgefangene, die in die DDR zurückgekehrt waren, aufzunehmen. Sie hatte 52  Volkskammerabgeordnete, ihren eigenen Verlag (Die Nation) und sogar eine gleichnamige Zeitschrift, die alle zwei Monate erschien. Auch in der SED gab es frühere NSDAP-Funktionäre. Das rechtsextreme Gedankengut hat also in der DDR niemals aufgehört zu existieren.230 Der offizielle Antifaschismus entsprach keiner gelebten Realität. Der blinde Fleck innerhalb der DDRGesellschaft machte es möglich, dass die rassistisch tradierten Denkweisen konserviert und immer wieder erneuert wurden. Außerdem war die Würdigung der kommunistischen Helden im antifaschistischen Widerstand ein Fundament des Staates, aber es wurde keine umfassende Aufarbeitung des Nationalsozialismus unternommen. Allerdings gab es bei dieser fehlenden Auseinandersetzung wichtige Ausnahmen, vor allem dank der evangelischen Kirche, die sich um eine selbstkritische Vergangenheitsbewältigung bemüht hat. Wie in der BRD wurde diese Arbeit auch von Schriftstellern und Künstlern geleistet (etwa von Christa Wolf, Jurek Becker und Franz Fühmann im Osten, Heinrich Böll, Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger im Westen). Dennoch hatten die zu schnell beendete offizielle Entnazifizierung in der sowjetischen Besatzungszone und die sehr spezielle Positionierung der DDR hinsichtlich der nationalsozialistischen Vergangenheit (»wir haben nichts damit zu tun, wir waren als Kommunisten die Avantgarde des antifaschistischen Widerstands«)231 Folgen, deren Tragweite wir heute zu spüren bekommen. Eng damit verbunden ist der dritte Faktor: Jana Hensel, geboren 1976, erzählt in ihrem Buch Zonenkinder,232 dass sie einige Jahre nach dem Mauerfall bei einem Abendessen mit westdeutschen Studenten zusammensaß. Sie erzählten von Großeltern, einem Großonkel oder Nachbarn, die Mit230 Für eine Synthese der verfügbaren Archive zu dieser Frage siehe Walter Süß, 1993. 231 Siehe dazu die sogenannte »Zwei-Linien-Theorie« bei Ilko-Sascha Kowalczuk, 1997, S. 320. 232 Siehe Jana Hensel, 2003.

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glieder der NSDAP gewesen waren. Dabei sei ihr bewusst geworden, dass sie mit ihren Freunden und in ihrer Familie nie darüber gesprochen hatte und nicht wusste, ob in ihrer Familie, in der Nachbarschaft oder in den Familien ihrer Schulfreunde die Großeltern Nazis gewesen waren.233 Es konnte nicht sein, dass es unter ihnen keine Nazis gegeben hatte. In der DDR war es ein absolutes Tabu, dass natürlich ein Teil der Bevölkerung dem Nationalsozialismus zugejubelt hatte. Nehmen wir Siegfried Hübner: 1925 geboren, 1943 zur Waffen-SS eingezogen, bis 1945 an der Ostfront. Von dort floh er, um der Gefangenschaft zu entgehen. Seine Vergangenheit als junger SS-Soldat bleibt in seiner Familie ein Thema, das nicht ausführlich besprochen wurde. Wenn ihn sein 1979 geborener Enkel danach fragte, erzählte er nur ein paar lustige, ausweichende und nicht-kompromittierende Anekdoten. Unser Gespräch begann so: »Gut, fangen wir an […] bei dem …, bei meiner Schulzeit am besten. Ich habe ein paar Jahre Gymnasium besucht. Als Bauernjunge ist das ja sowieso eine Seltenheit gewesen. Und ich bin dann ’43, bin ich eingezogen worden zur, zu einer Einheit, die nach ’45 nicht sehr angesehen war, zur WaffenSS.  Und ich war zwei Jahre an der Ostfront in der Totenkopf-Division und bin zweimal verwundet worden. Aus dem Krieg bin ich in Gefangenschaft gewesen. Als die Amerikaner in Österreich an meinen Auszeichnungen rumfummelten, habe ich die Nase so voll gehabt, dass ich abgehauen bin mit einem Kumpel. Und bin nach 14 Tagen, also am 8. Mai war das, nach 14 Tagen war ich in Zwickau. Und in Zwickau haben wir gesessen und hatten natürlich nichts, nichts zu essen. Und da bin ich zu einem Bauer als Kutscher.«

Siegfried Hübner hat auch uns nicht erzählt, was er in der Waffen-SS erlebt hat.234 Die fehlende kritische Selbstbefragung findet gegenwärtig auch in Westdeutschland kaum noch statt.235 Die Kanzlerschaft von Angela Merkel seit 233 Siehe ebd., S. 110ff. 234 Anzumerken ist, dass sich Siegfried Hübner nachdrücklich von der AfD distanziert. 235 In den 1990er Jahren erlebte die Aufarbeitung einen wahren Boom: Die Wehrmachtausstellung 1995 zeigte, dass die deutsche Armee vor allem an der Ostfront ähnlich schlimme Verbrechen begangen hatte wie die SS. Auch das 1996 auf Deutsch erschie-

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2005 verstärkt diesen Eindruck. Da sie mit den Sozialdemokraten in einer großen Koalition regierte, konnte die Rechts-Links-Debatte, die für eine Demokratie wesentlich ist, nicht mehr frei geführt werden. Die große Koalition regierte bis 2009 und ab 2013 und schuf eine Leerstelle für radikale Positionen wie die der AfD, die vor allem die notwendige Erneuerung forderte und behauptete, alle traditionellen Parteien hätten im Grunde das gleiche Programm.236 Wolfang Engler und Jana Hensel erklären in ihrem vieldiskutierten Buch,237 dass die Erfahrung, ostdeutsch zu sein, vor allem darauf beruhe, wie die Vereinigung durchgeführt wurde, indem man ein Land mit allen Bezugspunkten verschwinden ließ, als würde es niemanden mehr interessieren. Das ist die vierte Erklärung für die AfD-Stimmen im Osten. Engler und Hensel vermuten, das Gefühl von Unrecht und Frust, das Bedürfnis, sich die eigene Geschichte wieder anzueignen, wirke sich auch auf das Wahlverhalten aus. Das gilt übrigens nicht nur für die AfD. Schon der Wahlkampf im März 1990 entwickelte eine Dynamik, die sich allmählich bei den ostdeutschen Wählern ausbreitete. Steffen Mau beschreibt am Beispiel von Lütten Klein die neuen unabhängigen Parteien in der DDR, die vor und während der Wende gegründet wurden, sich aber auf dem politischen Schachbrett der alten Länder nicht durchsetzen konnten. Der Versuch, die sozialistische Gesellschaft zu reformieren, war zum Scheitern verurteilt. Die meisten Wahlkampfredner kamen aus dem Westen. Heute fällt auf, dass auch die AfD-Kader alle in der Bundesrepublik geboren sind.238 Zum Orientierungsverlust ostdeutscher Wähler trägt außerdem bei, dass die einstigen Helden des antifaschistischen Widerstands heutzutage meist darauf reduziert werden, dass sie Kommunisten waren, was sie wiederum mit der SED-Diktatur in Verbindung bringt, die unweigerlich mit der nationalsozialistischen Diktatur verglichen wird. Darüber schreibt die Historikerin Sonia Combe in einem Artikel für Le Monde unter der Überschrift »Die DDR auf eine Diktatur wie Nazideutschland zu reduzieren, nene Buch Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust von Daniel Goldhagen löste in Deutschland zahlreiche Debatten aus, wie auch schon die Öffnung der Stasi-Archive 1990. 236 Die große politische Stabilität der BRD ist unbestreitbar und größer als in jedem anderen europäischen Land: Kohl war 14 Jahre Kanzler, Merkel 16 Jahre Kanzlerin. 237 Siehe Wolfgang Engler & Jana Hensel, 2018. 238 Siehe Steffen Mau, 2019, S. 122.

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fördert den Rechtsextremismus«.239 Darin erzählt sie, dass am 14.  Februar 2019 bei einem von der Amadeu-Antonio-Stiftung organisierten Treffen folgende Frage gestellt wurde: »Gibt es eine Verbindung zwischen dem zunehmenden Rechtsextremismus und der Kriminalisierung der DDR?« Diese Frage wurde bisher wenig diskutiert. Die historische Vereinfachung, die darin mündet, die früheren Helden als Schurken darzustellen, hat natürlich Verunsicherung geschaffen und stärkt die AfD, die sich der traditionellen Rhetorik der Rechtsextremen bedient: Opposition gegen das »System«, ohne dass man genau weiß, was damit gemeint ist, Misstrauen gegen die Elite und die Intellektuellen, Kritik an den Medien, während man diese für seine Zwecke nutzt (BILD publiziert immer wieder Fake News über angebliche sexuelle Übergriffe gegen junge blonde Frauen durch Asylbewerber, die – wenn überhaupt – in der folgenden Ausgabe in winziger Schrift dementiert werden). Im bereits zitierten ZEIT-Artikel über die Vereinigung und die möglichen Gründe des wachsenden Rechtsextremismus im Osten vermutet Annette Simon, dass viele DDR-Bürger die Angst davor verdrängt hatten, was die Stasi ihnen oder ihren Familien antun konnte oder hätte antun können. Diese Angst hole sie jetzt ein, wie Simon selbst es bei der Lektüre ihrer Stasiakte erlebt habe. Angst sei ein nützliches Gefühl, aber Simon fragt, ob diese verdrängte Angst, die sich lange nicht äußern konnte, heute »in der Angst vor dem Fremden nachgeholt« werde. Es stelle sich die Frage, ob es die Rhetorik der Rechten befördern könne: »Wird die eigene Fremdheit in der neuen Kultur und das Sich-ihr-nicht-gewachsen-Fühlen auf die Migranten projiziert, bei ihnen verortet und dann dort verachtet und bekämpft?« Annette Simon vermutet, derselbe Mechanismus trete bei den Rechtsextremen gegen die Eliten und die »Lügenpresse« zutage: Das heute lautstark geäußerte Misstrauen in die Eliten überhaupt wäre gegenüber den DDR-Machthabern mehr als berechtigt gewesen. Auch das wirkt auf sie wie ein nachträgliches Abreagieren. Zahlreiche Ungerechtigkeiten sind mit dem schlechten Umgang mit der DDR-Vergangenheit nach 1990 verbunden: »In der Berliner S-Bahn kann es einem ehemaligen Häftling, der wegen Republikflucht einsaß, heute passieren, dass sein ehemaliger Verhörer ihm gegenübersitzt und dass er zusammen mit ihm  […] über den ehemaligen 239 Siehe Sonia Combe, 2019b.

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Mauerstreifen fährt. Falls sie beide inzwischen Rentner sind, kann man fast sicher sein, dass der einstige Verhörer eine höhere Rente bekommt als der Ex-Häftling.«240

Menschen, die in irgendeiner Form Unrecht erfahren haben, erhalten heute meist geringere Renten, weil sie während der Gefangenschaft keinen Beitrag zahlen konnten oder beruflich zurückgestuft wurden – eine häufige Unterdrückungsmaßnahme in der DDR.241 Seit der »Flüchtlingskrise« von 2015 konzentriert sich der aggressive Diskurs der AfD auf die Islamophobie. Sie stellte eine Wende für die Partei dar, die 2013 als erzkonservative wirtschaftsliberale und euroskeptische Partei gegründet worden war und dann immer weiter nach rechts abdriftete, wie die FPÖ in Österreich. Die 2014 von Lutz Bachmann gegründete islamfeindliche PEGIDA-Bewegung brachte der AfD weiteren Zulauf. In Dresden, dem Zentrum von PEGIDA, versammelten sich jeden Montag Tausende nach dem Vorbild der Montagsdemos 1989 in der DDR; aber sie riefen die Losung »Wir sind das Volk« nicht, um demokratische Reformen einzufordern, sondern um ihre Ausländerfeindlichkeit kundzutun.242 Alice Weidel, Verteidigerin reaktionärer Werte an der Spitze der AfD-Wahlkampagne, äußerte in der Bundestagsdebatte im Juni 2017 ihre entschiedene Ablehnung der Ehe für alle, obwohl sie selbst mit einer Frau zusammenlebt (einer Schweizerin mit sri-lankischen Wurzeln), mit der sie zwei adoptierte Kinder großgezogen hat. Für sie ist dies kein Widerspruch: »Über die ›Ehe für alle‹ zu debattieren, während Millionen von Muslimen illegal ins Land einwandern, ist ein Witz«, verkündete sie auf Facebook. Hier findet sich ein häufig wiederkehrendes Element der AfD-Rhetorik: der Versuch, den Islam als antiquiert und homophob darzustellen. Petra Köpping nimmt in ihrem bereits erwähnten Buch Integriert doch erst mal uns!243 den Slogan der PEGIDA-Demonstranten auf. Sie ist in der DDR geboren, SPD-Mitglied und war von 2014 bis 2019 Ministerin für 240 Annette Simon, 2019. 241 Siehe Rolf Gröschner & Oliver Lembcke, 2008, Arp et al., 2008, S. 67–114, sowie Arp et al., 2022. 242 2019 waren weniger als fünf Prozent der Bevölkerung der neuen Bundesländer ausländischer Abstammung, das ist die geringste Quote in Deutschland. Siehe https:// www.deutschlandatlas.bund.de/DE/Karten/Wer-wir-sind/033-Auslaenderanteil.html (29.04.2022). 243 Siehe Petra Köpping, 2018.

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Gleichstellung und Integration in Sachsen. PEGIDA fordert, Deutschland solle sich um das Schicksal der Ostdeutschen kümmern, bevor man darüber nachdenke, Geflüchtete zu integrieren. Das »Uns« ist eindeutig, gemeint sind die Bürger der neuen Länder, von denen viele immer noch nicht das Gefühl haben, in das »neue« Deutschland integriert zu sein, auch wenn sie offiziell seit 30 Jahren dazugehören. Sie fühlen sich nicht als Mitbürger der Westdeutschen mit denselben Möglichkeiten. Viele sind überzeugt, dass der westliche Teil Deutschlands die katastrophale Situation der DDR nach dem Fall der Mauer ausgenutzt und sich auf ihre Kosten bereichert hat. Petra Köpping sieht ebenso wie Wolfgang Engler und Jana Hensel in den ausländerfeindlichen Kundgebungen, der Ablehnung der Demokratie und der politischen Institutionen durch die Ostdeutschen ein Ventil für die in den Jahren des Übergangs erlittenen Demütigungen und Ungerechtigkeiten. Ihre »Streitschrift für den Osten« (so der Untertitel ihres Buchs) will auf keinen Fall eine undifferenzierte Anklage gegen diejenigen sein, die die Vereinigung durchgeführt haben. Sie leugnet weder deren Notwendigkeit noch ihre positiven Aspekte. Köpping erklärt, warum die Unterschiede bei den Wahlergebnissen nicht die Folge aus der DDR ererbter Gewohnheiten sind, sondern die Folge dessen, was nach 1990 geschehen ist. Sie hat zahlreiche Mails von Männern erhalten, die in kleinen sächsischen Städten leben, wo der Männerüberschuss groß ist, nachdem viele Frauen aus beruflichen Gründen in den Westen gezogen sind. Einer schrieb: »Besorgen Sie mir eine Flüchtlingsfrau, dann brauch ich nicht zu PEGIDA gehen.«244 Das ist keine Ausländerfeindlichkeit im eigentlichen Sinne, sondern ein allgemeines, aber auch ein soziales, ökonomisches, emotionales und wahrscheinlich sexuelles Unbehagen. Hier zeigt sich auch, dass die wichtigsten Gründe für die AfD-Wähler im Osten nichts mit der DDR zu tun haben, sondern mit den ökonomischen und sozialen Entscheidungen nach der Vereinigung. Diese düstere Feststellung darf aber nicht vergessen lassen, dass 87 Prozent der deutschen Wähler gegen die AfD gestimmt haben. Zwischen den zwei Wahlgängen der französischen Präsidentenwahl von 2017 war die Angst, Marine Le Pen könnte gewählt werden, in Deutschland sehr präsent, vielleicht größer als in Frankreich. Es gibt also Anlass zur Hoffnung, dass diese Bresche 244 Diese Anekdote erzählen Sören Kittel und Diana Zinkler in ihrem Zeitungsartikel »Der enttäuschte Ost-Mann«, 2019.

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im Konsens über die Grundwerte der deutschen Verfassung, den Kampf gegen Rassismus und die Verteidigung des Asylrechts eine Randerscheinung bleibt, dass sich die AfD nicht am Ende in der politischen Landschaft festsetzt wie die FPÖ in Österreich, dass sich diese Wiederaneignung der persönlichen und der gesellschaftlichen Vergangenheit nicht mehr auf den Hass auf die »Anderen« konzentriert, sondern sich zu einem echten Dialog zwischen den beiden Teilen Deutschlands entwickelt.

Das künstlerische Erbe der DDR Wenn man sich für die Wiederaneignung der DDR-Vergangenheit interessiert, kann die Frage nach der Kunst der DDR nicht unerwähnt bleiben. Wie ist man nach der Wende mit dem künstlerischen Erbe der DDR umgegangen, was ist aus den Werken geworden? Kann man von einer Musealisierung sprechen oder im Gegenteil von einer Renaissance der DDR-Kunst 30  Jahre nach dem Mauerfall? Was versteht man 2020 unter »DDRKunst«? Es gibt eine Diskussion über die Verwendung des Wortes »Kunst« hinsichtlich des künstlerischen Erbes der DDR. Einige westdeutsche Kritiker gehen so weit, den künstlerischen Gehalt der Werke aus der DDR anzuzweifeln. Die Diskussion nach der Vereinigung war Teil der globalen Strategie zur Delegitimierung der DDR. 1983 begrüßte der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Johannes Rau, die Gründung des Ludwig-Instituts für Kunst der DDR in Oberhausen. Dort waren etwa 260  Werke aus der DDR zusammengetragen worden. Damals reagierte niemand negativ darauf, dass man von »DDRKunst« sprach, es schien selbstverständlich. Johannes Rau erklärte sogar, er hoffe, dass diese DDR-Kunst zu den Bürgern Westdeutschlands sprechen werde. Nach dem Mauerfall änderte sich der Ton brutal. Einige westdeutsche Kritiker, die im öffentlichen Raum sehr hörbar waren, behaupteten, nichts, was in der DDR auf künstlerischem Gebiet produziert worden sei, könne als Kunst bezeichnet werden. Der Maler Johannes Heisig erinnert sich, dass die DDR-Künstler »im Westen gefragte Gesprächspartner waren, solange das Land noch geteilt war. […] Nach der Wiedervereinigung erlosch das Interesse an den Ost-

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lern schlagartig. […] Die große Chance, die es für kurze Zeit gegeben hat, mit derselben Sprache die so unterschiedlichen Entwicklungen gemeinsam aufzuarbeiten, ist komplett verpasst worden.«245

Der Bruch zwischen Ost und West ist also kein Ergebnis der 40-jährigen Trennung der beiden deutschen Staaten, er erfolgte nach der Vereinigung. Deshalb sind der Vereinigungsprozess und die Entwicklung in den 1990er Jahren entscheidend, um den Bruch zu verstehen. »Mit der Wahl des Titels Kunst in der DDR für die erste Retrospektive ostdeutscher Kunst versuchten Eugen Blume und Roland März  im Jahr 2003 den Bann über dieser künstlerischen Produktion aufzuheben«, schreibt Jean Mortier in seinem Blog »Regard sur la RDA et les nouveaux Länder«. »Sie erbrachten mit 400  ausgestellten Werken von 130  Künstlern den Beweis, dass sich die ostdeutsche Kunst nicht auf eine offizielle und unterwürfige Kunst reduzieren ließ, die allein dem ästhetischen Kanon der Machthabenden entsprach. Die Persönlichkeiten und die Formen waren vielmehr reich und vielfältig. Die Ausstellung zeigte, dass in den 1970er und 80er Jahren und auch vorher, zur Zeit des strengsten sozialistischen Realismus, nicht wenige Künstler sich bereits von dieser Bevormundung befreit und eine schöpferische Freiheit entwickelt hatten, die sich nicht um die Einhaltung vorgegebener Normen scherte, ja diese geradezu herausforderte. Blume und März wollten dieser Kunst trotz allem, was sie von der künstlerischen Produktion des Westens – zumindest der, die Galerien, Ausstellungen und Museen bevorzugten und hervorhoben – unterscheiden mochte, ihren Platz in der Geschichte der zeitgenössischen deutschen Kunst geben, indem sie die historisch falsche und sterile Opposition zwischen figurativer und abstrakter Kunst aufhoben. Die Aufgabe hat sich als schwierig erwiesen. 28 Jahre nach dem Mauerfall ist die Partie noch keineswegs gewonnen.«246

Die Frage der Museen und Ausstellungen über DDR-Kunst ist auch im Hinblick auf die globale Entwertung der DDR sehr aufschlussreich. Was für Fragen lösen die ostdeutschen Werke aus, abgesehen von denen nach der Beziehung zum diktatorischen Staat? Die Methode des Urteilenden 245 Michael Hametner, 2017, S. 55f. 246 Jean Mortier, 2018.

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beeinflusst das Urteil: Die Klassiker studierten die Werke, um sie zu imitieren, ihre Textanalyse diente der Produktion neuer Texte. Zur Zeit der Scholastik hingegen entwickelte sich die Tradition der Kommentare zu den heiligen Texten. Das Ziel war die Suche nach dem Sinn, nicht die Beispielhaftigkeit der Form. Diese Beispiele illustrieren, wie eng die Frage »Wie erkläre ich?« mit der Frage »Warum erkläre ich?« verbunden ist. Übertragen auf das kulturelle Erbe der DDR hängt das Ergebnis der Analyse eines Werks stark von der Analysemethode ab. Will man von vornherein den Einfluss des sozialistischen Realismus auf die DDR-Kunst beweisen oder sie gar mit der nationalsozialistischen Kunst vergleichen, werden die Fragen an die Werke von dieser Haltung beeinflusst. Die Bewertung des kulturellen Erbes der DDR im vereinigten Deutschland macht eine häufige Schwierigkeit bei der Analyse von Kunstwerken sichtbar: Ein Werk ist zugleich Vergangenheit und Gegenwart, es ist ein historisches und zugleich ein ästhetisches Objekt. Diese Regel gilt auch für das künstlerische Erbe der DDR. Symptomatisch für das Vorgehen der Kritik war die Verurteilung des Werks Was bleibt247 von Christa Wolf. Die Autorin rief der Allgemeinheit mit ihrer Position ins Bewusstsein, dass Opposition zur DDR nicht unbedingt Zustimmung zur Bundesrepublik bedeutete. Ein Teil der DDRIntelligenz fand, dass vieles aus der DDR bewahrt werden sollte. Die Vorstellung, man könne den real existierenden Sozialismus in der DDR auf der Grundlage sozialistischer Ideen kritisieren und viele Künstler und Intellektuelle würden sich weiterhin den Triumph dieser Ideen mit einer humanistischen Perspektive wünschen, war in der Bundesrepublik der 1990er Jahre schwer zu ertragen, weil sie dem allgemeinen Konsens über die Vereinigung widersprach. Die Abwertung des gesamten ostdeutschen kulturellen Erbes und vor allem der Literaturstreit um das Werk von Christa Wolf führen zu einer grundsätzlichen Frage: Wie kann man die künstlerische Qualität eines Werkes unabhängig von dem Kontext bewerten, in dem es entstanden ist? Im Frühjahr 1994 gab es eine vielschichtige Debatte über die Kunstwerke der DDR, die in der Berliner Nationalgalerie aufgehängt werden sollten. Die vor allem im Westen bekanntesten Künstler aus dem Osten waren Mitglieder des Verbands Bildender Künstler gewesen, der mit dem Staatlichen Kunsthandel der DDR den internationalen und den gesamten 247 Siehe Christa Wolf, 1990.

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nationalen Handel mit Kunstwerken kontrolliert hatte. Gehörte man ihm nicht an, war man im Nachteil, denn man hatte größere Schwierigkeiten, seine Werke zu exportieren, also ein internationales Publikum zu erreichen. Die Organisatoren der ständigen Ausstellung der Nationalgalerie wählten bevorzugt bekannte Kunstwerke aus. Die Künstler der sogenannten »Viererbande« illustrieren am besten, wie viel die Bekanntheit im Ausland mit der Kompromissbereitschaft der Künstler zu tun hatte. Zu der Gruppe gehörten die drei Leipziger Maler Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer und Werner Tübke, sowie der Hallenser Willi Sitte. Durch ihre Teilnahme an der sechsten Documenta 1977 in Kassel erregte die DDR-Kunst zum ersten Mal internationales Interesse, und dieses Interesse blieb bis zum Mauerfall bestehen. Diese vier Künstler gehörten allerdings zur ostdeutschen Nomenklatura. Die inhaltliche Orientierung ihrer Arbeit wird ihnen heute vorgeworfen und als Zustimmung zum DDR-Staat gedeutet. Sie stehen für die Künstler, die sich entschieden, trotz fehlender Freiheit in der DDR zu bleiben und sich anzupassen.248 Die lauteste Kritik an der Auswahl der Nationalgalerie kam von ostdeutschen Künstlern, die in die Bundesrepublik gegangen waren. Unter ihnen war der Maler und Bildhauer Georg Baselitz, der behauptete, in der DDR seien »die Künstler zu reinen Propagandisten der Ideologie verkommen«.249 Von ihm stammt auch der folgende Satz, der traurige Bekanntheit erlangt hat: »Es gibt keine Künstler in der DDR, alle sind weggegangen.«250 Dieser Gedanke findet sich auch bei dem für dieses Buch befragten Künstler Arno Wellenborn, der sich jedoch nuancierter äußert. Mit 16 durfte er nicht auf die Oberschule, um das Abitur zu machen. Er musste eine Lehre als Werkzeugmacher absolvieren, obwohl er Künstler werden wollte. Er fühlte sich in der DDR zunehmend beengt, und die Begegnung mit seiner späteren Frau 1988 bei einem Treffen im Rahmen der Partnerschaft der katholischen Kirche ihrer Heimatstädte war entscheidend für ihn. Sie trafen sich gelegentlich, bis der Mauerfall sie vereinte. Heute lebt er nach großen Schwierigkeiten von seiner Kunst und ist 248 Auch der Dichter Johannes R. Becher, eine Ikone der Revolutionsdichtung, Autor der Nationalhymne der DDR und ab 1954 Kulturminister der DDR, ist typisch für diese Haltung gegenüber dem DDR-System und die Entscheidung, Bürger dieses Staates zu bleiben. 249 Anja Tack, 2021. 250 Georg Baselitz, 1990, S. 66.

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Wiederaneignung(en)

überzeugt, dass sein künstlerischer Werdegang in der DDR absolut unmöglich gewesen wäre, weil er die fehlende Freiheit als lähmend empfand. Die Radikalität in der Diskussion über die DDR-Kunst lässt sich damit erklären, dass sich die beiden Optionen ausschließen: Entweder verließ man die DDR, weil man es für unmöglich hielt, in einer »durchherrschten Gesellschaft«, die die Individuen formen und einschränken will, ein Künstlerdasein zu führen; oder man machte geltend, dass die Kunst der letzte Ort sei, der in einem von der SED dominierten Staat eine gesellschaftliche Utopie darstellen könne, weshalb sie eine subversive Dimension habe, und blieb in der DDR. Die Kunst in der DDR sollte also Aufgaben erfüllen, die in der Bundesrepublik durch die Opposition wahrgenommen wurden. Eckhart Gillen analysiert diesen Widerspruch für die Malerei.251 Nach der naturalistisch-klassizistischen Malerei der 1950er, die vorrangig der Erziehung gedient habe, sei man zunehmend zur dialektischen Methode des Offenlegens und Sichtbarmachens von Widersprüchen zurückgekehrt, wie sie die Generation der kommunistischen Künstler noch gekannt habe, die in der Weimarer Republik aufgewachsen seien und den Nachkriegsaufbau erlebt hätten. Seit Mitte der 1960er Jahre setze sich das Simultanbild, später das »dialogische Bild« mit offenem Schluss durch. Sie ersetzten ironische Anspielungen und die komplizierte Metaphorik belehrender Eindeutigkeit. Einige Bilder, besonders die der Leipziger Schule, thematisierten zwar gesellschaftliche Konflikte im »real existierenden Sozialismus«, doch sie »neutralisierten« das Sujet zugleich durch Verschlüsselung und Verrätselung.252 Schließlich nahm auch das DDR-System diese neuen Tendenzen zur Kenntnis und akzeptierte ab 1971 auch offiziell verschiedene Schulen der Malerei, die bis dahin verboten gewesen waren, um die strikte Beschränkung auf figurative Kunst durchzusetzen. So fanden Expressionismus, Surrealismus und die Neue Sachlichkeit ihren Platz, da eine Erweiterung und größere Vielfalt durch die »festen Positionen des Sozialismus« in der DDR möglich geworden seien.253 Heute schlägt Eckhard Gillen rückblickend vor, die Bilder als »seismographische Aufzeichnungen der Beben, die die geräuschlose Implosion des Systems 1989 anzeigten«254 zu deuten. Die Abweichungen zu den von 251 252 253 254

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Siehe Eckhart Gillen, 1994. Siehe Jean Mortier, 2010. Siehe Dieter Lehmann, 1987. Eckhart Gillen, 1994, S. 144.

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oben diktierten Prinzipien, die Versuche, Formen in der Malerei zu erneuern, zeigen, dass es in der DDR ganz offensichtlich andere Werke gab als nur das, was man der Kategorie »Staatskunst« zuordnen könnte: »Zum Bild der Staatskunst will nicht der tiefe Pessimismus, die Fortschrittsfeindlichkeit, die Düsternis und der oft apokalyptische Furor der DDR-Kunst passen.«255 Man müsste eine weitere Kategorie hinzufügen, um das Bild der DDRKunst zu vervollständigen: die Werke, die in der DDR nie erschienen sind. Vor allem einige literarische Werke hatten keine Chance, in der DDR veröffentlicht zu werden. Die erste Publikation von Wolfgang Hilbig war z. B. der Gedichtband Abwesenheit bei S. Fischer in Frankfurt am Main. Auch das ist eine Alternative zur Staatskunst, die jedoch durchaus zur »Kunst der DDR« gehört.256 Die Bücher waren nicht geheim, die SED wusste, dass sie existierten, aber sie waren in der DDR verboten. Wir können also zusammenfassen, dass es offensichtlich falsch wäre, die Kunst der DDR einzig mit den Bedingungen gleichzusetzen, unter denen sie entstand. Nur ein differenziertes Urteil kann eine gewisse Objektivität für sich beanspruchen. Die radikale und globale Kritik des kulturellen Erbes der DDR in seiner Gesamtheit ist auch eine Form der Ideologie. Außerdem verkennt man mit diesem Blick die Realität des kulturellen Lebens der DDR, z. B. die Rolle der klassischen Kultur (das Verlagswesen der DDR war berühmt für seine Klassikerausgaben), die von dem Wunsch geleitet war, die Arbeiter an die Hochkultur vergangener Jahrhunderte heranzuführen, oder auch die relative Freiheit – viel größer, als man oft im Westen annimmt –, der Filme in den Kinos, für die man nur wenig Eintritt zahlte.257 Gewisse Kreise im Westen haben sich nach der Wende nur wenig in ihrem Verständnis entwickelt, was die sozialistische Gesellschaft wirklich war, sie sind bei dem Bild stehengeblieben, das sie zu Zeiten des Kalten Krieges von der DDR hatten. Nicht zufällig stehen Mitläufertum und Widerstand, Wahrheit und Lüge, aber auch Kunst und Moral sehr oft im Zentrum des Streits über 255 Ebd., S. 142. 256 Andere Vertreter dieser Literatur, die man als unabhängig bezeichnen könnte, sind Gert Neumann und Uwe Kolbe. 257 Manchmal musste man nach ihrer Uraufführung drei, vier Jahre warten, aber dann sah man in der DDR auch die Filme von Fellini, Antonioni, Chabrol, Bergman, Truffaut, Forman oder Saura. Siehe dazu Ralf Schenk, o. J.

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Wiederaneignung(en)

den Status der DDR-Künstler. Das erinnert an die Diskussionen zwischen Schriftstellern im Nachkriegsdeutschland, obwohl es sich um zwei ganz verschiedene Diktaturen handelt. Man denke z. B. an das harte Urteil von Thomas Mann über die Vertreter der »inneren Emigration«258, wie Walter von Molo und Frank Thiess. Im September 1945 schrieb Thomas Mann an Walter von Molo: »In meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos. […] Ein Geruch von Blut und Schande haftet an ihnen. Sie sollten alle eingestampft werden.«259 Das sind – mutatis mutandis – die gleichen Paradigmen, die heute in der Debatte über den Wert des kulturellen Erbes der DDR wiederkehren. Wenn Georg Baselitz behauptet, es habe in der DDR keine Künstler gegeben, alle seien weggegangen, übernimmt er in gewisser Weise die Position von Thomas Mann, denn für ihn hieß Künstler sein in Deutschland zwischen 1933 und 1945 zwangsläufig, das Verbrechen zu schmücken, zu verharmlosen – auf keinen Fall aber, es zu bekämpfen oder bloßzustellen. Für die DDR stellt sich die Frage des Rückhalts für ein kriminelles Regime oder sogar der Teilnahme daran auf andere Weise, denn zu keinem Zeitpunkt dachte man in der DDR daran, einen Teil der Menschheit durch eine »Endlösung« zu vernichten, sie hat nie den »totalen Krieg« propagiert und weiterhin den Humanismus verteidigt.260 Georg Baselitz aber spricht einem Maler wie Wolfgang Mattheuer das Künstlersein ab, weil die Künstler in der DDR nur Interpreten, Propagandisten der Ideologie gewesen seien und deshalb nur dazu beitragen konnten, sie zu unterstützen. Er ging davon aus, dass die Kunst der DDR, weil sie Staatskunst war, ästhetisch uninteressant und moralisch suspekt sei. Der einseitige Blick auf die Kunst, ganz so, als wäre sie aus einem Stück, spiegelt den, der allgemein auf das Leben der früheren DDR-Bürger geworfen wird: Wenn sie die Diktatur akzeptiert hatten, fehlte es ihnen an 258 Die innere Emigration bezeichnet die Haltung von Künstlern, Schriftstellern oder Journalisten, die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland blieben, aber Abstand vom Nationalsozialismus wahrten. Siehe dazu Valérie Robert, 2001, und Ralf Schnell, 1998, S. 120–160. 259 Siehe den Brief von Thomas Mann an Walter von Molo vom 28. September 1945, zit. n.  Eckhart Gillen, 1994, S. 145. 260 Hannah Arendt zeigte die tiefen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden totalen Systemen, dachte aber beim Vergleich der politischen Prozesse nur an den Stalinismus, nicht an die Volksdemokratien. Siehe dazu Hannah Arendt, 1955.

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Charakter! Man gesteht ihnen keinen Zweifel zu, ebenso, wie die ostdeutsche Kunst gelegentlich als uninteressant, weil rein ideologisch wahrgenommen wird. 2009 wurde verlangt, die Kunstausstellung zum 60. Jahrestag des Grundgesetzes dürfe kein DDR-Kunstwerk enthalten. Kanzlerin Angela Merkel, obwohl selbst aus der DDR, teilte diese Position.261 2013 fand wieder eine große Retrospektive von DDR-Kunst in Weimar statt, Abschied von Ikarus. Sie wurde von allen westdeutschen Politikern ignoriert. Die neue Leiterin der Galerie Neue Meister in Dresden, einem Museum von Weltrang, in dem die moderne und zeitgenössische Kunst ein Hauptgebiet ist, hat 2017 fast ihre ganze Sammlung DDR-Kunst in den Depots gelagert. Eine Ausnahme bildeten die Bilder von Gerhard Richter und Georg Baselitz, die beide in den 1930er Jahren in Sachsen geboren und schon vor 1961 in die Bundesrepublik gegangen waren. Die Problematik der »Gesinnungsästhetik« liegt darin, dass viele Künstler am Rand der offiziellen Kulturpolitik standen, sich aber wegen ihrer humanistischen Ideale vom Staat instrumentalisieren ließen. Auch das hat rückblickend zur allgemeinen Diskreditierung der Gesinnungsästhetik geführt. Die DDR-Künstler, die ihr künstlerisches Engagement mit der Notwendigkeit rechtfertigten, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen, die gerechter wäre als eine kapitalistische, werden heute wegen eben dieser Moral angefeindet. Die Gesinnungsästhetik beruhte auf der Auffassung, dass die Schönheit ihre Rechtfertigung in der Suche nach der Wahrheit finde. Die »Wahrheit« war allerdings in der DDR so definiert, dass ein Kunstwerk der Vollendung des Sozialismus diene. Die meisten westdeutschen Kritiker unterscheiden nicht zwischen der Unterstützung des Sozialismus und der Unterstützung des »real existierenden Sozialismus«, wie es in der DDR hieß, und seiner Auswüchse während der 40 Jahre DDR. Der Staat spielte in der DDR die Rolle des Mäzens und schützte alle Künstler vor der Konkurrenz. Im Gegenzug mussten sie der Staatsmacht einen gewissen Gehorsam entgegenbringen. Nun stellt sich die Frage, in welchem Moment das Minimum notwendigen Gehorsams in einen Opportunismus umschlägt, der jeden Kompromiss akzeptiert. Diese Frage zieht andere nach sich: Welches Maß an Zugeständnissen ist vertretbar? 261 Die Frage, weshalb Angela Merkel nicht widersprochen hat, ist interessant – als wäre das Kriterium für die Auswahl der Werke (eins für jedes der 60 Jahre Grundgesetz) der Respekt von Artikel 5, Absatz 3, der die Freiheit der Kunst sichert. Siehe dazu Marcus Jauer, 2009.

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Wiederaneignung(en)

War die Begünstigung und Protektion des Staates ohne die Zustimmung der allgegenwärtigen Stasi möglich? Haben manche Künstler gegen ihren Willen kooperiert? Wer war Opfer, wer war schuldig, wer war beides gleichzeitig? Die Ausstellung »Hinter der Maske«, die von 2017 bis 2018 in Potsdam stattfand, ist sehr aufschlussreich: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier unterstrich bei der Eröffnung den Wert der Kunst der DDR: »Wir können gerade hier in dieser Ausstellung vieles Kostbare vielleicht zum ersten Mal entdecken, das zu unserem gemeinsamen nationalen Erbe gehört.«262 Er verteidigte auch die Auftragswerke, die oft als politisch oder ideologisch motiviert gelten würden, und verglich die Tatsache, dass ein Künstler einen Auftraggeber hat, mit der Abhängigkeit vom Staat. Auch Michelangelos Sixtinische Kapelle sei Auftragskunst gewesen. Doch wer würde heute daran denken, es dem Künstler vorzuwerfen? Über die Masken, die im Zentrum der Ausstellung standen, schreibt Jean Mortier: »Es ist weniger so, dass sich der Künstler hinter ihnen verbergen will, wie der Titel der Ausstellung suggeriert, als dass er sich über seinen Platz in der Gesellschaft, die Zwiespältigkeit seiner Rolle, die Ambivalenz seiner Funktion und schließlich sich selbst befragt. Der Seiltänzer, 1984 von Trak Wendisch gemalt, verweist unzweifelhaft auf die Stellung des Künstlers. Wie dieser Akrobat, der den Hut des Häretikers und ein Gauklergewand trägt, balanciert auch der Künstler auf einem schwankenden Seil, als Rebell und Komödiant, riskiert er jederzeit, den Fuß falsch zu setzen oder dem Ruf von Leere und Nichts zu erliegen. Die Figur des Seiltänzers ist nach dem Mauerfall eine Konstante in der Vorstellungswelt und im künstlerischen Universum von Trak Wendisch geblieben. Das beweist, dass das Werk einen Sinn und eine Dimension besitzt, die weit über das Verständnis seines Ursprungs hinausreicht.«263

Ein Werk hat immer mehrere Lesarten, mehrere Spiegelungen, um das Bild des Kunstwerks als Spiegel aufzunehmen, das Stendhal schätzte.264 262 Frank-Walter Steinmeier, 2017. 263 Jean Mortier, 2018. 264 Stendhal legt die berühmte Formulierung »Ein Roman: das ist ein Spiegel, mit dem man einen Weg entlangspaziert«, am Beginn des 13. Kapitels von Rot und Schwarz Saint-Réal in den Mund.

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Die Spannungen zwischen den Künstlern der DDR und vielen Kritikern aus den alten Bundesländern sind aus diesen unterschiedlichen Interpretationen entstanden. Kommen wir auf die Diskussion um das Werk von Christa Wolf zurück, die ein Kondensat der radikalen Positionen über die Werke aus der DDR darstellt. In einem von der Konrad-Adenauer-Stiftung herausgegebenen Werk über das Thema der inneren Einheit wird die Tragweite dieses »Literaturstreits« so definiert: »Der Literaturstreit […] malte ein Bild von der Literatur aus der DDR, das kaum noch eine Unterscheidung zwischen den Autoren zuließ.«265 Christa Wolf war, zumindest nach dem Tod von Anna Seghers, die emblematische Figur der DDR-Literatur und wurde in der Bundesrepublik viel gelesen. Was bleibt, die 1979 geschriebene und nach dem Mauerfall überarbeitete Erzählung, beschreibt die Reaktionen der Erzählerin, deren Identität mit der Autorin vielfach angedeutet wird, als sie erfährt, dass sie auch von der Stasi überwacht wird. Diese Entdeckung löst bei ihr kein Gefühl der Auflehnung und Empörung aus, sondern eher eine melancholische Introspektion. Dieser fehlende Reflex des Widerstandes wurde von manchen als bewusste Entscheidung verstanden, für den Staatssozialismus Kompromisse einzugehen. Der Text erschien zum ungünstigsten Zeitpunkt, während die beiden deutschen Staaten ihren Einigungsvertrag aushandelten. Er prallte also frontal auf die neue politische Erfahrung, die die Bundesrepublik anbot. Jürgen Habermas prägte den Begriff des »DM-Patriotismus« für die plötzliche Begeisterung für die Marktwirtschaft und die Vereinigung. Deshalb fiel die Reaktion eines Teils der westdeutschen Literaturkritik auf den Text von Christa Wolf sehr negativ aus. Die Kritik hatte zwei Stoßrichtungen: Sich an das zu erinnern, was man erlitten habe, sei zu wenig (man hätte sich deutlicher wehren müssen) und komme zu spät, weshalb diesem Text der Autorin, deren Stellungnahmen es vor dem Mauerfall an Klarheit gefehlt habe, jede Glaubwürdigkeit abzusprechen sei. Christa Wolf wurde für ihren literarischen und politischen Opportunismus angegriffen. Dann war es nur ein Schritt bis zur Schlussfolgerung, sie sei immer eine Staatsschriftstellerin gewesen.266 Albrecht Betz zieht eine Parallele zwischen dem Richtungswechsel der westdeutschen Kritik und dem Abstieg der linken Parteien: 265 Günther Rüther, 1995, S. 46f. 266 Siehe auch Thomas Anz, 1991.

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Wiederaneignung(en)

»Der Richtungswechsel, der sich bereits in der westdeutschen Literaturkritik abgezeichnet hatte, trug dazu bei, die Debatten zu verwirren. Der zunehmende Verzicht auf »linke« Ideen und der Verlust von Perspektiven für gesellschaftliche Alternativen, für ein Gegenprojekt, das die bestehende Ordnung infrage stellen würde, hatten eine Leere geschaffen, die zunehmend von der Ästhetik ausgefüllt wurde. Die Diskussionen über das Sublime und das Ewige in der Kunst, über die Verteidigung dieser Sphären gegen die Angriffe der soziohistorischen Realität, das erneute Tuscheln über die Priester-Dichter und den Abstieg der gesamten ostdeutschen Literatur (und eines großen Teils der westdeutschen) in ein vorkünstlerisches »Meinungsstadium«, der Vorwurf an die westdeutsche Kritik, der Literatur der andern Seiten immer einen DDR-Bonus gewährt, sie also nicht mit kritischem Blick beurteilt zu haben – aus all diesen Zutaten setzt sich die Kontroverse um Christa Wolf zusammen.«267

Der Literaturstreit hat eine Opposition zwischen zwei Lagern der deutschen Intellektuellen sichtbar werden lassen: zwischen denjenigen, die das Vorgehen von Christa Wolf verurteilten und in der Sprache der Autorin das Abbild ihrer politischen Rolle in der Stasi suchten, und denjenigen, die sie trotz der gewährten Privilegien als Vertreterin der Opposition würdigten. Dieser radikale Gegensatz klingt wie ein Echo des ewigen Konflikts zwischen reiner und engagierter Kunst. Die »Gesinnungsästhetik«, die man als charakteristisch für den Ansatz der in der DDR gebliebenen Künstler ansehen kann, definiert sich durch den Ansatz, dass das Wesentliche bei einem künstlerischen Werk die Botschaft ist, die der Inhalt verbreitet. Nach dieser Sichtweise muss das Werk zu gesellschaftlichen Entwicklungen Stellung nehmen. Man könnte also eher von einer Ästhetik der Verantwortung als von einer Gesinnungsästhetik sprechen. Dieser Begriff würde die Position des Künstlers in der DDR besser beschreiben. Der westdeutsche Künstler hingegen übernimmt nur für das Kunstwerk Verantwortung, das er geschaffen hat. Als Beispiel dienen die folgenden Zeilen des DDR-Malers Wolfgang Mattheuer. Nach der Vereinigung erschien ein Band mit verschiedenen Texten von ihm und über ihn.268 Nachdem er den Kunstpreis der DDR erhalten hatte, wurde er am 15. August 1973 in der Leipziger Volkszeitung interviewt. Auf die Frage nach dem Surrealismus in seinem Werk, den man ihm im Westen unterstellte, verteidigte er sich dagegen, ein Vertreter dieser Strömung zu 267 Albrecht Betz, 1994, S. 73. 268 Siehe Wolfgang Mattheuer, 1990.

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Das künstlerische Erbe der DDR

sein: »Ein Surrealist kann ich gar nicht sein, denn ich suche ja den Sinn […] im Bild, so anspruchsvoll das auch sein mag. Auf jeden Fall geht es mir nicht um das Traumhafte, um das Irrationale oder das Unbewusste.«269 Mattheuer ging es um einen engen Kontakt zur Wirklichkeit. Der Wert eines Werks hänge nicht nur von seiner Beziehung zum künstlerischen Erbe, also zu anderen Werken ab,270 sondern von seiner Beziehung zur Wirklichkeit außerhalb des Kunstwerks, zu der Forderung nach Wahrheit, die, so Mattheuer, die Hand des Künstlers führen müsse. Er gab zu, einige Methoden des Surrealismus zu übernehmen, wie die »Gleichzeitigkeit von scheinbar Unvereinbarem«, aber sein Ziel sei ein ganz anderes, so gesehen sei seine Malerei das Gegenteil von Surrealismus. Die Überzeugung, dass ein Werk seinen Sinn nur in der Verbindung erhält, die es mit der Wirklichkeit eingeht, ist also ein wichtiger Gedanke, der zur Verteidigung und Rehabilitation der DDR-Werke dient, und zeigt, dass der Begriff der Gesinnungsästhetik, der verwendet wird, um sie zu delegitimieren, oft einfach falsch verstanden wurde. Angesichts der allgemeinen Tendenz zur Anklage durch einen großen Teil der westdeutschen Kritik bemühen sich jene, die diesen undifferenzierten Blick auf die DDR-Kunst als Unrecht empfinden, systematisch, das künstlerische Erbe der DDR zu verteidigen und es differenziert zu betrachten. Das ist ein wichtiges Element des Prozesses von Wiederaneignung der DDR-Vergangenheit. Es gibt also ganz unterschiedliche Elemente bei dieser Wiederaneignung der Vergangenheit: die Erinnerung an größere Solidarität und die Betonung eines stärkeren Wir-Gefühls, die Verteidigung des Gesellschaftsmodells der DDR und die Zweifel daran, wie die Vereinigung vollzogen wurden, der Fokus auf dem Antifaschismus, die Frage der Freiheit, die Wut über willkürliche Urteile, die Tatsache, dass »Deutschland die Mauer durch eine gesellschaftliche Kluft ersetzt hat«, der gerechte Umgang mit dem künstlerischen Erbe der DDR. All diese Elemente zeugen von dem Bemühen, sich die Erzählung der eigenen Geschichte wieder anzueignen. 269 Ebd., S. 33. 270 Eckhart Gillen spricht vom »ständigen Umgraben des kulturellen Humus«, um diese Sedimentierung zu beschreiben, also die Produktion von Kunstwerken, die zueinander in Beziehung stehen, ohne Bezug zu einer außerkünstlichen Realität, und zitiert einen Ausdruck von Boris Groys, um dieses Phänomen zu erfassen, die »Wiederaufbereitung des kulturellen Mülls«. Siehe dazu Eckhart Gillen, 1994, S. 149.

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Aufwertung(en)

Die Konsequenz aus der im letzten Kapitel dargestellten Tendenz der Wiederaneignung haben wir »Aufwertung« genannt. Wer sich seine Vergangenheit wieder aneignet, kann auch bestimmte Aspekte aufwerten, die zu Unrecht delegitimiert, tabuisiert oder einfach vergessen waren – Elemente, die heute im vereinigten Deutschland von Nutzen wären. Petra Köpping zählt eine ganze Reihe von Institutionen (medizinische, Schul- oder Vorschuleinrichtungen) auf, die sich in der DDR bewährt hätten und die man heute neu erfinde.271 So gab es in den ersten Schulklassen in der DDR z. B. den Unterricht in »Schönschreiben« oder »Schönschrift«. Experten fordern heute die Wiedereinführung dieses Fachs und mehr Leseübungen, weil Studien belegen, dass eine schlechte, unleserliche Schrift oder eine chaotische Form den schulischen Erfolg gefährden können. Eine wichtige Institution der DDR, die nach Jahren des Stillstands zu neuem Leben erwacht, ist das Funkhaus Berlin, ein riesiger Komplex mit Sauna, Friseur und Lebensmittelgeschäft, der ab 1951 gebaut wurde. Elisabeth Heller, von 1979 bis 1991 Musikredakteurin, erinnert sich an die Aufnahmestudios mit hervorragender, weltweit einzigartiger Akustik, die bei Musikern aus dem In- und Ausland sehr beliebt waren. »Ich bin Spotify gewesen, in DDR-Zeiten«, sagt sie von sich. Für sie kam nach dem Mauerfall eine Zeit großer Euphorie. Endlich konnte sie die Freiheit genießen, von der sie so lange geträumt hatte. Doch das Glück währte nicht lange: Am 31. Dezember 1991 wurden die Sender DDR1 und DDR2 abgeschaltet. »Als wir uns auf dem Höhepunkt unserer Freiheit befanden, sagte ein anderer, nein, es ist Schluss. Und das verkraftet keiner so richtig.«272 Heute wird das Gebäude wieder genutzt und die hervorragende Akustik gerühmt. 271 Siehe Petra Köpping, 2018, S. 85. 272 Elisabeth Heller, zit. n. Hélène Bigot, 2013.

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Aufwertung(en)

Ähnlich erging es dem riesigen Wandmosaik Die Beziehung des Menschen zu Natur und Kunst von Josep Renau. Nachdem es jahrelang in Containern gelegen hatte, wurde es restauriert und kehrte 2019 zwischen die Plattenbauten am Moskauer Platz in Erfurt zurück. Das farbenfrohe Mosaik ist mit 30 mal sieben Metern so groß, dass es ein ganzes Gebäude wie ein Band umschließt. Diese Beispiele zeigen, dass es nicht gerechtfertigt war, alles wegzuwerfen, was aus der DDR kam, und dass fast Vergessenes aus der DDR auf zuweilen unerwartete Weise wieder in den Blickpunkt rückt. Nach Verunglimpfung, Verschwinden und Untergang erleben wir die Rückkehr verschiedener Aspekte eines gesellschaftlichen Systems, die Aufmerksamkeit verdienen und eng mit der Aufwertung der Lebensläufe in der DDR verbunden sind.

Dafür oder dagegen Der erste Schritt zur Aufwertung besteht oft darin, sich beim Sprechen über den DDR-Alltag von der Vorstellung zu lösen, die DDR-Bürger seien entweder Mitläufer oder Dissidenten gewesen. Dieses Entweder-oder wird dem Leben in der DDR nicht gerecht, meistens war der Alltag der DDR-Bürger eine Mischung aus beidem. Das ist ein wichtiger Aspekt der Aufwertung. Der amerikanische Politologe James Scott beschreibt ein vergleichbares Phänomen mit dem Begriff der »Infrapolitik« der »normalen« Menschen. Sein Konzept macht eine Beherrschung ohne Entfremdung verständlich. James Scott bezeichnet individuelle, vor dem Blick der Machthabenden verborgene Widerstandsaktionen als »verborgenes Transkript« (hidden transcript) und meint damit alle gesellschaftlichen Praktiken und Diskurse, die sich unterhalb des Radars der Macht entwickeln. Sie tragen dazu bei, die Machthabenden hinters Licht zu führen, und stehen meistens im Gegensatz zum »öffentlichen Transkript« (public transcript), das die direkte Interaktion zwischen »Herrschenden« und »Beherrschten« bezeichnet.273 Die Sprachwissenschaftlerin Birgit Wolf-Beiß zeigt sehr anschaulich, wie sich in der DDR eine besondere Sprache herausbildete, die die offizielle und die private Wirklichkeit des realen Sozialismus widerspiegelte. 273 Siehe James C. Scott, 1990.

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Dafür oder dagegen

Neben Wortschöpfungen durch den Staat entstand auch im Alltag der Menschen ein kritisches und oft lustiges Vokabular. Es offenbarte die Kluft zwischen der gesellschaftlichen Realität und der strengen Reglementierung durch die offizielle, oft phrasenhafte Sprache. Als »blaue Fliesen« bezeichneten die DDR-Bürger z. B. die blauen 100-»Westmark«-Scheine und im weiteren Sinne alles, was auf dem Schwarzmarkt gehandelt wurde.274 Den wegen Devisenmangel mit Gerste gestreckten »Kaffee-Mix« taufte man in Anlehnung an »Jacobs Krönung« »Erichs Krönung«. Weit verbreitet war auch das »Tal der Ahnungslosen«, das Gebiete in der DDR bezeichnete, in denen man kein Westfernsehen empfangen konnte. In der offiziellen Sprache der Partei wurden neue Wörter hingegen geprägt, um Amerikanismen zu vermeiden (z. B. »Ketwurst« für »Hotdog«), andere sollten das Leben im realen Sozialismus beschreiben, z. B. »Arbeiterkorrespondent«.275 Die Sprache passt sich dem Alltag durch Handlungen von Mikro-Widerstand hinter dem Rücken der Macht an und verringert so den Zugriff des Unterdrückungsapparates. Ein DDR-Witz beschreibt die Grenzen dieses Phänomens: »Hast du schon gehört: In Dresden findet ein WitzWettbewerb statt!  – Ein Witz-Wettbewerb? Und was gibt es zu gewinnen? – Zehn Jahre Knast!« Scotts Begriff der Infrapolitik, der diese Aktionen des Mikro-Widerstands beschreibt, hilft zu verstehen, warum viele DDR-Bürger in der Rückschau das Gefühl haben, dass ihr Leben in der DDR völlig normal war, und sich nicht erinnern, unter der herrschenden Diktatur gelitten zu haben. Das gilt natürlich nicht für diejenigen, die verfolgt wurden. Johann Meier erzählt, er habe keine Berührungspunkte zum Westen gehabt. Das war sein Alltag und eigentlich normal. Nur einmal wurde er richtig wütend: Bei einer Stadtbesichtigung in Bratislava in den 1980er Jahren standen sie auf einem Turm, und ihre Reiseführerin zeigte ihnen den »Stefansturm« im nahen Wien, wohin sie nicht fahren durften. Meier erinnert sich, dass er empört war, aber nicht gewagt hat, seinen Ärger zu äußern: »Das kann doch wohl nicht wahr sein!« Dann gewann der Alltag wieder die Oberhand. Johann Meier hatte keine Verwandten im Westen, die Schließung der Grenzen berührte ihn weit weniger als z. B. 274 Siehe Birgit Wolf-Bleiß, 2010. Siehe dazu auch Hélène Camarade & Sibylle Goepper, 2019. 275 Siehe Gunhild Samson, 2006.

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Aufwertung(en)

einen Kollegen und guten Freund, dessen Frau regelmäßig dienstlich in den Westen fuhr, aber immer allein: Der Ehemann traute sich nicht, einen Reiseantrag zu stellen, aus Angst, seine Arbeit zu verlieren. Die meisten DDR-Bürger hatten die Grenze so sehr verinnerlicht, dass sie eine Vereinigung nicht für möglich hielten. Diese Haltung wurde von der Propaganda nach Kräften gefördert. Die DDR hat immer versucht, sich als Staatsneugründung zu präsentieren und Loyalitätsbeziehungen seiner Bürger aufzubauen. Der Begriff der »deutschen Nation« wurde in der Verfassung von 1974 endgültig gestrichen, in früheren Fassungen war die DDR »der sozialistische Staat deutscher Nation«. Viele Autorinnen und Autoren der in den 1970er Jahren geborenen Generation wie Saskia Hellmund, Jana Hensel, Julia Franck und Maxim Leo erzählen von dem Gefühl, ein völlig normales Leben geführt zu haben, und von der Mühelosigkeit, mit der sie in ihrer Kindheit und Jugend die DDR ausblenden konnten, bis das eines Tages, lange nach dem Mauerfall, nicht mehr möglich war. Oft beeinflusst der westdeutsche Blick auf die DDR nach 1989 die Sichtweise der früheren DDR-Bürger, sie ärgern sich, weil das meist sehr negative DDR-Bild, das ihnen gespiegelt wird, nicht mit ihrer Vorstellung von dem Land übereinstimmt, in dem sie gelebt haben. Doch das Gefühl, man habe ungestört vom Staat ein normales Leben geführt, ist zuweilen trügerisch. Die Creutzer-Brüder, in den 1960er Jahren geboren, sind sehr aufgewühlt, wenn sie erzählen, wie die Stasi ihre Biografien beeinflusst hat und ihre Beziehung zueinander lange belastete. Die Spannung zwischen Mitmachen und öffentlicher Kritik ging mitten durch ihre Familie: Als sie erfuhren, dass ihr Vater in die SED eingetreten war, wurde in der Familie kaum darüber gesprochen, obwohl die Söhne die Parteimitgliedschaft als Ausdruck des Opportunismus verstanden. Die abendlichen Familiengespräche über das politische Leben in der DDR und erst recht die SED waren immer sehr kritisch gewesen. Umso größer war dann die Überraschung, als sie lange nach der Wende von der IM-Tätigkeit des Vaters erfuhren. Die Entdeckung führte auch zwischen den vier Brüdern zu einem Riss. Franz fühlte sich von seinem Vater verraten, der sich in Schweigen einmauerte. Nach dem Tod des Vaters äußerte Markus den Verdacht, der Vater sei IM gewesen und öffnete damit »die Büchse der Pandora«. Er wollte diesem Verdacht aber nicht nachgehen. Als Udo, der Jüngste, einen Antrag auf Akteneinsicht stellen wollte, waren auch die anderen beiden Brüder da154

Dafür oder dagegen

gegen, mit der Begründung, der Vater habe es zu seinen Lebzeiten immer abgelehnt, über die von Markus geäußerten Vermutungen zu sprechen. Sie fürchteten sich vor der Auseinandersetzung mit diesem verbotenen und tabuisierten Teil seines Lebens. Doch Udo blieb hartnäckig und folgte seinem Bedürfnis nach Klarheit. Er ging allein ins Archiv des Staatssicherheitsdienstes, wo er erfuhr, dass es zwar eine Akte gab, aber die Berichte über die IM-Tätigkeit des Vaters verschwunden waren. Er erfuhr nur das Datum seiner Verpflichtung, erstaunlich früh, gleich nach dem Ende seines Studiums. Die Fragen bleiben. Im Alltag, in den Worten ihres Vaters war die Stasi ein verachtenswerter Verein, und trotzdem … Die Söhne empfinden es als schizophren, dass ihr Vater ihnen die Verachtung für Stasi-Zuträger vermittelte und den Kommunismus für eine »Utopie« hielt, weil es dafür, so meinte er, nicht die richtigen Menschen gebe. Als die Mauer fiel, war der Vater zunächst euphorisch gewesen, doch bald kam die Ernüchterung, weil es einfach zu schnell ging. Als Arzt sorgte er sich um seine Patienten, die wegen der Abwicklung ihrer Betriebe arbeitslos geworden waren. Die Stasiakten haben ihnen also nicht geholfen, das Puzzle zusammenzusetzen. Sie haben bis heute nur Mutmaßungen für die Entscheidungen ihres Vaters. Die Geschichte erwischte sie in einem Moment, als sie dachten, mit diesem Lebensabschnitt ihren Frieden gemacht zu haben. Für Markus, den Ältesten, stört das Wissen, dass sein Vater IM war, die Erinnerungen und Bilder, die er von ihm bewahrt hat. Er bedauert, dass er nicht mehr mit ihm reden kann. Nach der Vereinigung hatte der Vater die Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik infrage gestellt. Vielleicht erklärt sich nun die Unfähigkeit, sich den neuen Sitten anzupassen. Er war »immer in der Defensive«. Hier sollte man erwähnen, dass der Vater als Zwölfjähriger von seiner Mutter verlassen worden war. Sie war in den Westen gegangen und hatte die Familie zurückgelassen. Der Vater hat seinen Söhnen nie verraten, wo sie beigesetzt ist. Es gab in der Familie also viele Tabus, viel Unausgesprochenes, das mit der Spaltung Deutschlands und nicht nur mit der DDR-Diktatur zu tun hatte. Franz Creutzer bezeichnet seine Familie als »durch und durch unpolitisch« (was Markus bestreitet) und mit einer starken christlichen Prägung: katholisch durch die Mutter, evangelisch durch den Vater. Der Vater, ein angesehener Oberarzt, war ein Patriarch. Die Eltern sorgten sich ständig darum, dass ihre Kinder kein Abitur machen dürften, weil Arbeiterkinder bevorzugt wurden, sie aber aus einem intellektuellen Haushalt kamen. »Sie 155

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lebten noch in ihrem politischen Bewusstsein wie in den 60er Jahren.« Franz erinnert sich an eine Plastiktüte des KaDeWe, die er nicht mit in die Schule nehmen durfte. Seine Eltern dachten, man würde ihn sofort verhaften. Heute lachen sie darüber. Zuhause stand das Telefon aus unerfindlichen Gründen direkt neben der Wohnungstür, deswegen mussten alle leise sprechen. »Die Eltern waren geradezu paranoid«, sagt Markus. Wie man sich leicht vorstellen kann, gibt es in einer Familie, die durch die Mitarbeit von einzelnen Mitgliedern bei der Stasi gespalten ist, viele Missverständnisse. Die Trennlinien zwischen privat und öffentlich sind durchlässig, und für den Prozess der Aufwertung, der für eine unbefangenere Beziehung zur DDR-Vergangenheit nötig wäre, muss man sich dieser Durchlässigkeit bewusstwerden: Die Gesellschaft war nicht in Opfer und Täter gespalten. Die Verhältnisse waren komplex; Kritik üben und Mitmachen bildeten nicht zwangsläufig Gegensätze. Die von Franz aufgeworfene Frage der politischen Reife des Vaters ist interessant. Wie lässt sich erklären, dass er sich privat so kritisch gegen die SED äußerte und zugleich als IM das System stützte? Für die Psychologin Annette Simon liegt ein Grund für die zunehmende Radikalität im Osten in der schwach entwickelten politischen Reife unter anderem durch die paternalistische Rolle, die der Staat in der DDR spielte: Wenn sich die DDRJugendlichen vom Elternhaus emanzipieren wollten, trafen sie »auf eine Kultur, die sie erneut einbinden und auf sich kritiklos verpflichten wollten«. Die DDR »schrieb sich als eine Art Elterninstanz in die Seelen ein, die man dann auch jederzeit […] für sein eigenes Schicksal verantwortlich machen konnte. […] Besonders beliebt, ja ein geradezu weitverbreiteter Volkssport war es, die Gesetze des Staates mit klammheimlicher Freude hintenherum außer Kraft zu setzen […]«276

 – ebenso, wie ein Kind oder ein Teenager bei den Eltern, nur dass eine Emanzipation nicht möglich war. 1989 änderte sich das auf kollektiver Ebene, die DDR-Bürger wagten den frontalen Konflikt. Dieser politische Mut wird in der westdeutschen Gesellschaft nicht hinreichend anerkannt. Die Utopie der Demonstranten des Jahres 1989 in der DDR hieß »Wir sind das Volk« und lag in der Hoff276 Annette Simon, 2019.

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nung, dass endlich das Volk die Geschichte weiterschreiben und das kollektive Schicksal verändern werde. Aber dazu ist es nicht gekommen, denn die Handlungsfähigkeit wurde dem Volk der DDR sehr schnell genommen. Die Utopie-Träger waren leider immer eine Minderheit. Nach so vielen Jahren in einem Land, in dem Auflehnung schwerwiegende Konsequenzen hatte, in dem man seine Meinung nie zu offen sagen durfte, wo der stumme Widerstand zum gesellschaftlichen Repertoire gehörte, versuchten die Ostdeutschen, so vermutet Simon, nach 1990 ein weiteres Mal, sich anzupassen: »Sie versuchten nicht, sich in sie einzubringen und durch Mitwirken zu verändern beziehungsweise sich gegen einige der neuen Zumutungen zu wehren. Sondern sie versuchten erneut, sie mit passivem Widerstand zu umgehen.«277 In Bezug auf den Verlust der Utopie von 1989 schlussfolgert sie: »Die gerade mühsam erworbene Mündigkeit im politischen Handeln ging bei manchen wieder verloren in dem Gefühl, sich in der gemeinsamen Bundesrepublik eher wieder ohnmächtig neuen Strukturen und Zwängen ausgeliefert zu sehen.«278 Einige haben dennoch versucht, der Revolution von 1989 eine andere Fortsetzung zu geben, um die Vereinigung zu verhindern. Unter ihnen war die Mutter von Annette Simon, Christa Wolf. Um sie scharrten sich jedoch vor allem Intellektuelle und Künstler, ihr Versuch stieß in der ostdeutschen Bevölkerung zu jenem Zeitpunkt auf wenig Echo.279 Sie waren zu lange in einer Ethik des Schweigens und der Loyalität gefangen, obwohl sie in der DDR-Gesellschaft Einfluss hatten. Ihre Wortmeldung kam zu spät. Sie wurde vom Medienrummel um Kanzler Helmut Kohl hinweggeschwemmt, der den Menschen »blühende Landschaften« versprach, wenn sie in der DDR ein ihm ergebenes Parlament wählen würden.

Die deutsche Identität: Nach dem Untergang Zur Aufwertung gehört auch die Anerkennung der »ostdeutschen Identität«, von der in den Medien oft die Rede ist. Der Begriff muss jedoch definiert und hinterfragt werden. Unsere Gesprächspartner hatten alle eine Antwort auf die Frage »Was macht die ostdeutsche Identität aus?« – 277 Ebd. 278 Ebd. 279 Siehe den Appell »Für unser Land«, Christa Wolf et al., 1989.

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30 Jahre, nachdem die DDR als Staat verschwunden ist. Johann Meier sagt etwa: »Das wird Ihnen sicher häufig gesagt werden, es war ein anderer sozialer Zusammenhalt.« Eine Erklärung dafür könnte sein, dass abgesehen von der Nomenklatura die Einkommens- und Vermögensunterschiede in der DDR viel geringer waren. »Es hatten viele das Gleiche. Und es war nicht so diese Hass- und Neiddiskussion.« Dass es keinen Neid gab, ist sicher übertrieben, Johann Meier idealisiert im Rückblick die DDR und die zwischenmenschlichen Beziehungen. Der gesellschaftliche Zusammenhalt als wesentlicher Aspekt der ostdeutschen Identität findet sich allerdings in vielen Gesprächen. Das ist eine besondere Form der Ostalgie. Anfänglich bezeichnete dieses Wort eher eine Befindlichkeit, eine gewisse Wehmut beim Gedanken an die DDR und die Art, wie sie von der Landkarte ausradiert wurde. Inzwischen hat der Begriff mindestens drei Bedeutungen: ➣ Die Nostalgie im eigentlichen Sinne, also das Trauern um die »guten alten Zeiten« betrifft nur eine ganz kleine Minderheit der Menschen. Umfragen zeigen, dass niemand oder fast niemand die Mauer wiederhaben möchte, das hat sich seit der Vereinigung nicht geändert. ➣ Dann bezeichnet Ostalgie die Bindung an die eigene Vergangenheit, die Biografie, die Erinnerungen, den damit einhergehenden Wunsch nach Anerkennung, nach Würdigung der Werte, an die man geglaubt hat und immer noch glaubt. ➣ Und schließlich verwenden Historiker, Soziologen und Journalisten den Begriff auch, wenn sie versuchen, ein anderes Bild der DDR zu vermitteln als das einseitige, auf die Stasi konzentrierte, dem man in den westdeutschen Medien oft begegnet. Anfang der 2000er Jahre gab es zahlreiche Publikationen, die man dieser dritten Kategorie zuordnen kann. In einer Rezension sprach die Kulturjournalistin Birgit Walter in Bezug auf die Vielzahl von Büchern und Filmen über den Osten von »mehr oder weniger grässlichen Umarmungen«280. Heute, 30 Jahre nach der Vereinigung, hört man viel seltener »Zu DDRZeiten  …«, was die früheren DDR-Bürger lange wiederholten. In den Interviews für dieses Buch wurde deutlich, dass die DDR eine Referenz bleibt, die durch andere Aspekte wieder aktuell wird, wenn es um die Kritik der kapitalistischen Globalisierung und des Wirtschaftsliberalismus 280 Birgit Walter, 2004.

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oder um die wachsende Ungleichheit weltweit geht. Die Ostalgie hat also andere Formen angenommen. Das äußert sich in einem zwiespältigen Blick auf die Vereinigung und allgemein auf das Wirtschaftsmodell des Westens, der sein Versprechen von Schutz und Wohlstand, Glück und persönlicher Entwicklung nicht gehalten hat und nicht imstande ist, Gerechtigkeit in der Gesellschaft zu gewährleisten. Diese Ambivalenz äußerte sich in den Äußerungen des Schriftstellers Günter Grass bis zu seinem Tod 2015. Er ist ein Beispiel für die Schwierigkeiten bei der Definition einer neuen kulturellen deutschen Identität, die einzig und allein auf der wiedererlangten deutschen Einheit beruhen würde. Einige Stimmen warfen Grass vor, den Mauerfall nicht genutzt zu haben, um der große Schriftsteller eines neuen Deutschlands, ein Symbol der innerdeutschen Versöhnung zu werden. Sie meinten, die Vereinigung hätte den »Segen« von Schriftstellern wie Grass gebraucht, um ihre Legitimität bei ost- wie westdeutschen Intellektuellen zu festigen. Grass wurde vorgeworfen, seine ursprüngliche Position beibehalten zu haben, der Schriftsteller eines Konflikts geblieben zu sein, den manche gern durch die Vereinigung wie durch einen Zauber hätten verschwinden sehen. Das funktioniert aber nicht, die Vereinigung hat den Antagonismus zwischen den beiden Gesellschaftsmodellen nicht aufgehoben. Das Verschwinden des einen reicht nicht aus, um das andere endgültig zu akzeptieren. Dieser Antagonismus ist das Fundament der ostdeutschen Identität. Es lässt sich schwer sagen, wie sehr der Versuch, eine »DDR-Nation« zu schaffen, die ostdeutsche Identität beeinflusst hat. Wie bereits dargestellt, ist sie auch nach 1990 als Form der Verteidigung gewachsen, als Schutz vor den Enttäuschungen, die mit der Vereinigung einhergingen. Ist es heute die »Trotzidentität«, von der Jens Reich 1992 in einem SPIEGEL-Artikel sprach?281 Der Artikel ging davon aus, dass die deutsche Einheit gewissermaßen mangels geeigneter Strukturen und Organisationen der ostdeutschen Gesellschaft erfolgte. Aber eine Identität enthält immer den Bezug auf ein Gegenbild. Es gibt keine Identität an sich, sie entsteht immer im Bezug zum Anderen, also als Anderssein. Der Identifikationsprozess erfolgt notwendigerweise durch eine Differenzierung: »Die Kategorie der Kultur ist nur im Umweg über die Erfahrung einer Differenz zu konstruieren, der uns notwendigerweise von uns selbst entfremdet. […] Paradox ausge281 Siehe Jens Reich, 1992.

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drückt: Kulturelle Identität verschwindet in dem Augenblick, in dem sie geschaffen wird«,282 schreibt der Soziologe Heinz Bude. Die ostdeutsche Identität würde sich demnach im Umkehrschluss definieren, als negative Identität, als Zugehörigkeitsgefühl in Bezug auf eine Leerstelle, in Opposition zu dem, was westdeutsch ist. Doch unsere Interviewpartner sagen teilweise das Gegenteil. Im Herbst 2018, unmittelbar nach der tödlichen Hatz von Neonazis auf einen Afghanen in Chemnitz, waren Anna und Johann Meier auf einer Gruppenreise in Irland mit 34 Personen, davon 30 Westdeutsche. Nur sie und ein anderes Paar kamen aus dem Osten. »Wir trauen uns gar nicht, [zu sagen,] woher wir sind«, sagten sie zu den Mitreisenden, aber sie stellten schnell fest, dass die Westdeutschen sehr an dem interessiert waren, was sie von ihrem Leben in der DDR und ihren Erfahrungen nach der Vereinigung erzählten. Das überraschte sie, weil sie aus Erfahrung wussten, dass manche Westdeutsche, die sogenannten »Besserwessis«, gerne von oben herab belehren und eigentlich lieber nichts hören wollen. Die ostdeutsche Identität braucht immer die westdeutsche als Gegenbild, den Blick, den der andere auf einen richtet, den man oft undifferenziert wahrnimmt, manchmal auch, um sich gegen negative Urteile zu verteidigen. Aber die Aufwertung erfolgt auch grundsätzlich aus dem Wunsch, ein alternatives Gesellschaftsmodell zu präsentieren, das seine Vorteile hatte, die einem heute angesichts der Mängel des Wirtschafts- und Sozialsystems Westeuropas besonders bewusst werden.

Ein alternatives Gesellschaftsmodell In den persönlichen Erinnerungen finden sich zahlreiche Spuren der sozialen Errungenschaften der DDR. Hannelore Rotbusch war Medizinerin in einem Institut und hat nach der Vereinigung verschiedene Verschlechterungen in ihrem beruflichen Alltag festgestellt. Deshalb findet sie, dass das Gesundheitswesen der DDR eine Aufwertung verdient. Sie hat auch Veränderungen in den Krankheitsbildern ihrer Patienten festgestellt – Depressionen, die nicht »endogen« waren, sondern Reaktionen auf den Schock der Vereinigung, und mehr Drogenabhängige. Auch die Nachsorge war in der DDR anders. Damals wurden schizo282 Heinz Bude, 1999, S. 110.

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phrene Personen, die Sraftaten begangen hatten oder als »asozial« galten, in medizinischen Einrichtungen behandelt. Sie blieben so lange im Krankenhaus, bis ihre Integration in die Gesellschaft (Arbeit, Wohnung) gesichert war. Heute, sagt sie, ist es nicht mehr so, man lässt sie ohne jede weitere Betreuung gehen. Andererseits sagte man in der DDR, der Alkoholismus sei ein Überbleibsel der kapitalistischen Gesellschaft, das es in der sozialistischen Gesellschaft nicht mehr gebe. Diese Behauptung stimmte überhaupt nicht mit der Realität überein, die sie täglich erlebte. Es gab Entziehungskuren für Alkoholabhängige und Seminare für Angehörige über die Prävention und Behandlung von Alkoholabhängigkeit. Sie wurden von ihren Betrieben freigestellt, um daran teilnehmen zu können. Das zeigt, dass solche Probleme in den staatlichen Betrieben durchaus ernstgenommen wurden. Diese Hilfestrukturen sind seit der Vereinigung verschwunden. Dieselbe Feststellung macht Hannelore Rotbusch in Bezug auf Angestellte, deren Kinder psychisch erkrankt waren: Die Betriebe stellten die Eltern frei, damit sie an Seminaren teilnehmen konnten, um ihren Kindern besser helfen zu können. All das ist mit der Privatisierung der Unternehmen einfach verschwunden. Seit 1990 »regierte das Geld, muss man so sagen«. Nach der Privatisierung der Kliniken ging es nur noch um Verweildauer, Bettenbelegung, Geld. Hannelore Rotbusch spricht von einer »Drehtürpsychiatrie«, denn die Patienten müssen so schnell wie möglich entlassen werden. In der DDR hatte sie offiziell um 16 Uhr Feierabend, aber wenn ein Patient kurz vorher kam und noch ein Gespräch wollte, kümmerten sich die Mitarbeiter um ihn. »Da wurden keine Überstunden aufgeschrieben. Das gab es gar nicht, da ist keiner auf die Idee gekommen.« Heute werden sie viertelstundengenau berechnet. Darin sieht sie ein anderes Indiz dafür, dass das Geld seit der Privatisierung eine deutlich zentralere Rolle spielt. Sie erwähnt auch die geringere Kriminalitätsrate in der DDR, die nach der Vereinigung gestiegen sei, wobei die Statistiken zu DDR-Zeiten nicht zuverlässig waren.283 Viele Morde wurden unter der Decke gehalten. Sie selbst konnte nur im engen Freundeskreis über bestimmte Straftaten sprechen, die von Personen mit psychischen Erkrankungen begangen worden waren. 283 Es gibt einen Witz über die Statistik, der in der DDR sehr bekannt war: »Was sind die vier großen Probleme des RGW [Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe]? Die mongolische Mikroelektronik, die sowjetische Landwirtschaft, der polnische Arbeitseifer und die Statistiken der DDR.«

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Auch Sylke Jahn äußert sich sehr kritisch über die Entwicklung nach der Vereinigung und möchte gern bestimmte Aspekte des Sozialsystems der DDR hervorheben. Ihr Rückblick ist ambivalent, denn sie hat unter der Willkür des Staates gelitten, aber ihr ist bewusst, dass er auf vielen Gebieten, vor allem hinsichtlich der sozialen Systeme, große Sicherheit gewährleistet hat. Für sie bedeutete die Entscheidung, 1982 nach Berlin zu ziehen, vor allem mehr Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten. Heute findet sie das Leben im vereinten Deutschland unsicher und fürchtet, ihre Wohnung zu verlieren. Sie äußert sich zornig über die Gentrifizierung und »Ghettoisierung« von Berlin. Sie sorgt sich um die Finanzierung ihrer Rente, weil sie keinerlei Ersparnisse besitzt. Ihre Meinung über den Kapitalismus ist gnadenlos. Obwohl sie unter der Willkür des DDR-Staates gelitten hat, betont sie ihre Ablehnung der neoliberalen Gesellschaft, in der sie alt werden wird. 30 Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen, und dieser Zeitraum lässt für manche die unmittelbar politischen Fragen verblassen. Diese Feststellung machten die Germanistinnen Sibylle Goepper und Cécile Millot kürzlich in ihrem Buch Lyrik nach 1989. Gewendete Lyrik. Es entstand aus zwei Serien von Interviews mit Autoren und Dichtern aus der DDR, die im Abstand von 15 Jahren geführt wurden.284 Durch diesen Abstand werden die Veränderungen im Diskurs der interviewten Autoren im Laufe der Zeit deutlich. Er mildert die Erinnerung an den Unterdrückungsapparat und die Grenzen, die die Diktatur ihnen setzte. Heute haben sie sich angepasst und gehen oft denselben Fragen nach wie ihre Kollegen im Westen. Unmittelbar politische Themen treten weniger hervor. »Bei den meisten bemerkt man einen Rückzug aus der Politik oder zumindest eine Abschwächung der Antagonismen und Konfrontationen.«285 Wenn die politischen Fragen in den Hintergrund treten, gewinnen Fragen der Lebensweise in unseren Gesellschaften die Oberhand. Das gilt auch für Karin Günther. Wenn man sie bittet, über ihre Kindheitserinnerungen in der DDR zu sprechen, beschreibt sie diese Zeit als »sorglos«, in einer modernen Wohnung mit Fernheizung und Balkon. Es war ein Plattenbau, wie es vor allem in den Städten tausende gab, in großer Zahl aneinandergereihte Fertigteilhochhäuser. Der Bau dieser Viertel begann 1955 im Zuge der neuen, von Chruschtschow in der Sowjetunion 284 Siehe Sibylle Goepper & Cécile Millot, 2016. 285 Daniel Argelès, 2016, in einer Rezension zum vorgenannten Werk.

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lancierten Wohnungspolitik nach der Parole »Besser, schneller und billiger bauen«, und wurde unter Honecker in den 1970er Jahren beschleunigt. Das Wohnungsprogramm war das Herz der Industrialisierung der DDR durch die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik: Die industrielle Produktion sollte den Wohlstand der Bevölkerung mehren, indem sie Konsumgüter herstellte und vor allem Wohnungen baute, die in der DDR fehlten. In dem Plattenbau, in dem Karin aufgewachsen ist, spielten alle Kinder auf dem gemeinsamen Hof und alle kannten sich, erzählt sie. Sie hatte »ganz viele Freundschaften«, die Wohnblöcke waren wie eine kleine Welt, wo man sich vom Hof zum Fenster im dritten Stock unterhielt. Überall gab es organisierte »Hausgemeinschaften«. Die Unterschiede in der Lebensweise waren nicht groß.286 Jeder wusste, wenn jemand seinen Urlaub z. B. in Bulgarien verbrachte. Viele Eltern waren befreundet, sie waren alle jung – in der DDR bekam man sehr früh Kinder.287 Karin erinnert sich an das Gefühl von Wärme und Sicherheit und erwähnt den politischen Unterdrückungsapparat nur, um zu erklären, dass er sie nicht betraf: »Mit Politik, mit Verboten hatte ich ja nun nichts zu tun.« Diese für eine heile, normale Kindheit typischen Gefühle stehen in ihrer Erinnerung in direktem Bezug zum Schutz, den der Staat durch Wohnraum und Arbeit für alle gewährte. Dieses Gefühl von Sicherheit und Sorglosigkeit ist oft der Kindheit eigen, aber nicht nur.288 Es ist auch eine vielleicht unbewusste Reaktion auf das fürsorgliche Gesicht des Sozialsystems der DDR. Der Historiker Konrad H. Jarausch hat diesen 286 Trotz der offiziellen Proklamationen über die soziale Vielfalt im Plattenbau waren die Siedlungen mehrheitlich von Arbeitern bewohnt, eine Ausnahme bildeten Großstädte wie Berlin, Leipzig oder Dresden, wo ein beträchtlicher Anteil gebildeter Berufsgruppen mit den Facharbeitern zusammenwohnten. Dort war es nicht unnormal, dass ein Ingenieur neben einem Arbeiter wohnte. 287 Das Durchschnittsalter der Mütter bei der Geburt des ersten Kindes schwankte in der DDR zwischen 22,1 und 23,2 Jahren. Siehe dazu Informationen der Bundeszentrale für politische Bildung, beruhend auf Statistiken des Statistisches Bundesamts, https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61556/alter-der-muetter (02.05.2022). 288 Der 1999 erschienene Roman Geschichte vom alten Kind von Jenny Erpenbeck erzählt die Geschichte einer Frau, die sich in eine Jugendliche verwandelt und in einem Kinderheim lebt. Wie Carola Hähnel-Mesnard zeigt, kann man diesen Roman als Parabel der Wende lesen: über Veränderungen, Anpassungsschwierigkeiten und den Traum, das sichere Universum der Kindheit wiederzufinden. Siehe dazu Carola Hähnel-Mesnard, 2020, S. 57, sowie Jenny Erpenbeck, 1999.

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in der DDR sehr präsenten Aspekt mit dem Konzept der »Fürsorgediktatur«289 beschrieben. Susan Süß, einige Jahre älter als Karin, schildert eine ähnliche Kindheit: Sie ist mit ihren Eltern ebenfalls in einem Neubauviertel aufgewachsen. Die große Vertrautheit zwischen den Bewohnern des Viertels und eine enorme Freiheit beim Spiel mit den Nachbarkindern sind in ihrer Erinnerung sehr präsent. Das deckt sich zum Teil auch mit den Aussagen von Franz Creutzer: Sein Vater war Arzt, seine Mutter Apothekerin, aber er wohnte wie Karin und Susan in einem Hochhaus mit Nachbarn aus unterschiedlichen sozialen Schichten. Bergleute wohnten neben Ärzten, es gab keine großen Einkommensunterschiede. Er spricht von »sozialer Nivellierung«. Der Plattenbau funktionierte wie »ein Dorf in der Stadt«, die Eltern halfen sich gegenseitig, passten auf die Kinder der anderen auf. »Jeder kannte jeden.« Sein Vater verdiente nicht sehr viel mehr als die Arbeiter oder Handwerker im Haus. Für die Kinder war es gut, »es gab keine sonderliche Distinktion«, »wir waren alle gleich«, »sozial war es nicht schlecht«.290 Dennoch bestand der Freundeskreis seiner Eltern zu 90 Prozent aus Arztfamilien, und sein Vater legte Wert drauf, dass seine vier Söhne Medizin studieren. Zwei folgten dem Wunsch des Vaters. Hier werden die Grenzen dieser Durchmischung sozialer Schichten deutlich. Die Wohnungspolitik der DDR hat nicht verschwinden lassen, was der französische Soziologe Pierre Bourdieu als »Reproduktion« bezeichnet. Markus, 1962 geboren, wuchs drei Jahre bei seinen Großeltern auf, weil seine noch sehr jungen Eltern damals studierten und in einer zu kleinen Wohnung lebten. Das war damals üblich. Die Großeltern zogen weiter weg, und er sah seine Eltern monatelang nicht. Markus weiß, dass man so eine Entscheidung heute vielleicht nicht mehr treffen würde, weil man mehr über die Bindung der Kinder an ihre Eltern weiß. Rückblickend glaubt er, dass es wahrscheinlich keine Alternative gab. Später kam er zu seiner Familie zurück, die Trennung von den Großeltern war schmerzhaft. Als 1969 der jüngste der vier Söhne geboren wurde, zog die Familie in eine Wohnung in einem neu errichteten Viertel, näher am Arbeitsort des Vaters. Markus hatte nie das Gefühl, während seiner Kindheit etwas vermisst zu haben, er fühlte sich »sehr behütet«. 289 Siehe Konrad H. Jarausch, 1998, S. 33–46. 290 In einigen osteuropäischen Städten besteht diese soziale Vielfalt in den Plattenbauten fort. In der bulgarischen Hauptstadt Sofia z. B. gibt es ganze Stadtviertel, die noch die alten Namen tragen: »Jugend 1«, »Jugend 2« usw.

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Dieses Fürsorgesystem umfasste neben Arbeit und Wohnen auch die Gesundheit und Hilfe für Familien in Schwierigkeiten. Für Anna Meier waren die ersten Jahre nach der Vereinigung in beruflicher Hinsicht schwierig. In der DDR hatte sie sich um Familien gekümmert, die trotz Schwierigkeiten das Sorgerecht behielten und die sie regelmäßig besuchte. Im neuen System fehlte ihr die Zeit dazu, und wenn sie später diese Familien traf, hörte sie immer: »Da kommt wohl jetzt gar niemand mehr, warum kommt denn da jetzt niemand mehr?« Diese Familien hatten sich an die Besuche der Fürsorgerin gewöhnt. Das gab ihnen eine Struktur, erklärt Anna, sie konnten sich aussprechen, »haben mal die Wohnung aufgeräumt«, dann ist das alles nahezu verschwunden. Außerdem fiel die Nachmittagsbetreuung in den Schulen aus. In der DDR endete der Unterricht gegen 14 Uhr und die Kinder wurden bis 17 Uhr in der Schule betreut. Es gab Pioniernachmittage und verschiedene Arbeitsgemeinschaften, die allen Kindern, auch Kindern aus benachteiligten Familien, einen Rahmen gaben, sodass sie beschäftigt waren, wenn die Schule schon früh am Nachmittag endete. Nach 1990 wurde das westdeutsche System eingeführt, in dem die Kinder am Nachmittag mehr oder weniger sich selbst überlassen werden. Anna und Johann Meier erinnern sich, dass sie sich nach der Vereinigung Aktivitäten ausdenken und ein System entwickeln mussten, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken und die Kinder sinnvoll zu beschäftigen. Dieser Aspekt wird auch bei der Frau von Franz Creutzer deutlich, die seit 1988 Geschichtslehrerin war. Sie sagt, dass sie Glück hatte, noch ein Jahr in der DDR zu unterrichten. Als Klassenleiterin war sie verpflichtet, alle »Elternhäuser« zu besuchen. Jeder Besuch ging »nicht unter drei Stunden« und endete »mitunter auch mit ’nem Schnäpschen«. Er hatte auch eine Kontrollfunktion, die Lehrerin musste sich vergewissern, dass es dem Kind gutging, es nicht vernachlässigt wurde. Das schuf, so meint sie, eine Nähe zu den Familien und zwischen Schule und Privatleben. Die Schüler waren den ganzen Tag versorgt, alle kannten sich. Franz hat in seiner Jugend manchmal unter dieser Nähe gelitten, die er als fehlende Anonymität empfand, »auch als ich verliebt war«. Dem Wunsch, die DDR durch die Kritik am bundesdeutschen Sozialsystem aufzuwerten, begegnen wir auch bei Ruth Hahnemann. Ihr Urteil über die DDR ist widersprüchlich. Die fehlende Freiheit und die Intoleranz gegenüber der Kirche haben sie dazu veranlasst, im Herbst 1989 demonstrieren zu gehen. Sie war von Kind an eng mit der evangelischen Kirche verbunden und identifiziert sich mit dem christlichen Glauben und 165

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seinen Werten. Wegen ihres Engagements in der Kirche durfte sie nicht Grundschullehrerin werden und machte eine Ausbildung zur Kindergärtnerin. Das hindert sie jedoch nicht daran, die vom DDR-Staat vorgegebene Ordnung zu loben, heute ist ihr alles »zu konfus und lodderig«, denn »eine gewisse Diktatur ist gut für’s Land«, und: »Es müssten von dem Staat aus Grenzen gesetzt werden, bei der Erziehung und der gesellschaftlichen Ordnung insgesamt.« Letztlich sind ihre Argumente ziemlich eklektisch, sie beschreibt die Grenzen der Demokratie, ohne ihre Überlegungen zu vertiefen. Die Vereinigung habe in ihrem Leben nicht viel geändert, sagt Ruth Hahnemann, und sie nicht groß interessiert. Sie behauptet, sie sehe keinen großen Unterschied zwischen ihrem heutigen Leben und ihrem Leben in der DDR mit Ausnahme der Umschulung. Sie war in der DDR Jugendfürsorgerin, nach der Wende konnte sie ihren Traum erfüllen, sich um Menschen mit Behinderung zu kümmern. Ohne den Mauerfall wäre diese berufliche Neuorientierung wohl nicht möglich gewesen. Sie hat Recht, denn die Hilfe für Menschen mit Behinderung war in der DDR kaum vorhanden. Die staatlichen Strukturen reichten nicht aus, um die Betroffenen zu betreuen, denen manchmal die evangelische Kirche half.291 Es gab auch Fälle von Misshandlung durch Betreuer. Immer wieder wird die DDR heute in vielen Interviews als Alternative zur Konsumgesellschaft und zur Allmacht des Geldes dargestellt. Tatsächlich gab es in der DDR einen regen Tauschhandel, z. B. bekam man einen früheren Arzttermin im Tausch gegen Dachziegel. So versorgte man sich ohne die Mechanismen der Marktwirtschaft mit Gütern oder Dienstleistungen. Die Erinnerung an eine Alternative zur neoliberalen Gesellschaft passt zu den sehr aktuellen Themen, die die heutigen Alltagssorgen der Bürger widerspiegeln. Karin Günther spricht von der »Kaufhalle um die Ecke« und beklagt, dass heute viel zu viel in den Regalen steht. »Oft weiß ich überhaupt nicht, was ich alles möchte«, sagt sie und »Ich war, glaube ich, vom Überangebot sowieso geflasht«. Sie nimmt das Beispiel des unglaublichen Joghurt-Angebots und versteht nicht, wozu so eine Auswahl 291 Siehe dazu das berührende Leben von Matthias Vernaldi, geboren 1959 in der DDR, der eine körperliche Behinderung hatte und sich sein ganzes Leben für bessere Lebensund Behandlungsbedingungen für Behinderte eingesetzt hat, in einem Nachruf der taz (https://taz.de/Nachruf-auf-Matthias-Vernaldi/!5668601/ [02.05.2022]). Matthias Vernaldi ist am 9. März 2020 gestorben; sein Nachlass befindet sich im Thüringer Archiv für Zeitgeschichte, Jena.

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gut sein soll: »Warum muss es von einer Sorte bitteschön zwanzig geben?« In ihrer Erinnerung überwiegt nicht die Tatsache, dass man in der DDR jahrelang auf ein Auto warten oder in den Geschäften Schlange stehen und sich mit einer Mangelwirtschaft arrangieren musste,292 sondern vielmehr ihr Schwindel angesichts des Überflusses der Konsumgesellschaft nach dem Mauerfall und die teilweise absurde Vielfalt bei manchen Waren. Im Theaterstück Iphigenie in Freiheit von Volker Braun (1992) kommen Orest und Pylades nach Tauris, um Iphigenie in den Westen zurückzubringen, der nichts anderes ist als ein riesiger Supermarkt.293 Das Gefühl, sich angesichts eines zu großen Angebots zu verlieren, erklärt die Rückkehr zu Konsumgewohnheiten aus der Vergangenheit, die man vielleicht etwas vorschnell der Ostalgie zuschreibt. Nachdem die Ostdeutschen zunächst nur auf Westprodukte geschworen hatten, ist der Verkauf einiger aus der DDR vertrauter Produkte plötzlich wieder in die Höhe geschossen: Club Cola, Rondo Kaffee, F6 Zigaretten, Ketchup aus Werder, Pfeffis, Nudossi usw.294 Auf der (inzwischen geschlossenen) Webseite des Ladens Ostpaket spottete Bianca Schäler über das negative Image, das diese Produkte anfänglich genossen: »Wir haben auch mit Messer und Gabel gegessen!« Der Name des Ladens, der von 2013 bis 2016 in Berlin zwischen Rotem Rathaus und Hackeschem Markt bestand, war eine Anspielung auf die berühmten Westpakete, die viele DDR-Bürger von ihrer Westverwandtschaft bekamen. Dort wurden Ostprodukte an Touristen, Neugierige und Nostalgiker verkauft, denen man »diesen Teil von sich selbst« gestohlen hat. Den Wunsch, eine andere DDR-Geschichte zu präsentieren, die eine Aufwertung ermöglicht, ist auch bei Melanie Pohl zu spüren, die ihrem 1988 geborenen Sohn viel davon erzählt hat. Melanie Pohl wurde 1955 in einer Arbeiterfamilie geboren. Ihre Eltern kamen 1961, dem Jahr des Mauerbaus, aus dem Westen, dann »konnten nicht wieder zurück«. Sie hatte keine Mühe, sich anzupassen, und betont, dass die Wende sie nicht 292 In einem DDR-Witz ging es um die Mangelwirtschaft: »Ein Mann kommt in ein Kaufhaus und fragt: ›Haben Sie hier keine Schuhe?‹ Die Verkäuferin antwortet: ›Keine Schuhe haben wir eine Etage tiefer, hier haben wir keine Hosen.‹« 293 Siehe Volker Braun, 1992. 294 Auch die Doppelgänger von Honecker und Ulbricht hatten Ende der 1990er Jahre wieder viel zu tun. Sie wurden zu Demonstrationen, Festen und Werbeveranstaltungen eingeladen.

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allzu sehr erschüttert habe. Sie hat vor allem die Möglichkeiten gesehen, die sich für sie auftaten. Mehrere Jahre nach der Vereinigung hat sie oft mit ihrem Sohn über die DDR gesprochen. »Und der sagt immer zu mir: Du hat mir so komische Sachen erzählt. Der Geschichtslehrer erzählt das ganz anders.« Ihr Sohn warf ihr vor, dass ihre Erinnerungen »nicht stimmen«. Aber dann, in Laufe der Zeit, merkte er, dass sie »eigentlich belogen werden schon in der Schule«. Da ging es nur um die Allgegenwart der Stasi und um Folter. Und eines Tages hat er behauptet, wenn er selbst Kinder habe, werde er sehr Acht geben, ihnen die Geschichte selbst zu erklären! Sie erinnert sich, dass sie schmunzeln musste, als er das Radio der Oma aufheben wollte, weil es viel länger halte. Vielleicht werden ihre künftigen Enkel mit dem DDR-Spielzeug spielen, das sie aufgehoben hat? Rolf Schubert für seinen Teil behauptet, ihm habe in der DDR nichts Besonderes gefehlt, er erinnert sich nur an bestimmte Möbel, auf die man manchmal lange warten musste. Außerdem fand er die Preispolitik völlig absurd, er fragt sich, wie Brot, Gemüse und Obst so billig sein konnten, aber er vermisst es auch. Natürlich waren die Preise wegen der staatlichen Subventionen sehr niedrig. So konnte man das Fehlen von anderen Lebensmitteln leichter akzeptieren, die manchmal schwer zu bekommen waren. Berlin war in vielem eine Ausnahme. Ein typischer DDR-Witz illustriert den Mangel sehr anschaulich: »Das Thema für das Abitur in Geschichte war immer nach folgendem Muster formuliert: Was hat sich seit der Oktoberrevolution 1917 auf dem Gebiet … verändert? Das Gebiet änderte sich jedes Jahr. In jenem Jahr hieß das Thema: ›Was hat sich seit der Oktoberrevolution 1917 im Fleischhandel verändert?‹ Die richtige Antwort war: ›Früher war es ein individualistischer und elitärer Kleinhandel mit dem Namen des Eigentümers über dem Schaufenster und Fleisch im Laden. Heute ist es ein Laden für alle mit Neonlicht über dem Schaufenster und dem Fleischer drinnen, aber ohne Fleisch!‹«

Was Rolf Schubert heute fehlt, ist eine »ordentliche Rente« und eine »ordentliche Gesundheitspolitik«. Die Regierungspolitik bezeichnet er als »unmöglich«. Seiner Meinung nach war das Gesundheitssystem in der DDR viel besser, obwohl sein Diabetes vom Betriebsarzt der Staatssicherheit nicht erkannt wurde. Er spricht auch von der Geselligkeit und Solidarität zwischen den Bewohnern eines Hauses, vielen Festen, gemeinsamen Spielen der Kinder, vielen Angeboten zur Freizeitgestaltung für die Jüngs168

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ten – das gebe es alles nicht mehr. Er fühlt sich seiner Vergangenheit, seiner Gewohnheiten beraubt. Er bedauert auch, dass er seinen Schrebergarten nicht mehr hat, den er zu DDR-Zeiten mit seiner Frau bewirtschaftete, wie viele andere DDRBürger, denn das Obst- und Gemüseangebot war zwar sehr billig, aber nicht sehr abwechslungsreich. Durch das »ulkige« Anpassungsgesetz mussten die gepachteten Grundstücke an die Eigentümer von vor 1945 zurückgegeben werden. So hat er seinen Garten 2015 verloren, obwohl er ihn mit seiner Familie erst urbar gemacht hat. Heute liegt das Grundstück brach und fehlt ihm sehr. Er wertet die DDR auf, indem er die sozialen Ungerechtigkeiten anprangert, die das gegnerische Modell aufweist.

Erziehung Manchmal ist es nicht leicht, den Sinn der neu zu lernenden Codes zu erkennen oder neue Regeln zu respektieren. Dann wird das Gesellschaftsmodell der DDR verteidigt, weil es eine ganze Reihe sozialer Fortschritte und mehr Gleichheit zwischen den Geschlechtern und den sozialen Schichten bot. Ein Teil dieser Fortschritte zeigt noch 30 Jahre nach dem Ende der DDR Wirkung. Die Ökonomen Quentin Lippmann und Claudia Senik haben die Teilung Deutschlands gleichsam als Labor genutzt, um die Ungleichheit zwischen Jungen und Mädchen in Mathematik zu analysieren.295 Sie stellten fest, dass die Mathematik-Leistungen der Mädchen in den neuen Ländern deutlich besser sind als in den alten. Außerdem wiesen sie nach, dass dieser Unterschied nicht durch ökonomische oder pädagogische Faktoren zu erklären ist, sondern durch die Haltung der Mädchen. Im Vergleich zu ihren Altersgenossinnen im Westen haben die Mädchen im Osten im Durchschnitt viel größeres Vertrauen in ihre mathematischen Fähigkeiten und zeigen mehr Wettbewerbsgeist. Außerdem wird sichtbar, dass diese Überlegenheit der Mädchen in Mathematik nicht auf Kosten der Lesefähigkeit besteht. Schließlich erweitern Lippmann und Senik den Fokus und stellen fest, dass diese Erkenntnisse nicht nur für Deutschland gelten. Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern beim Erfolg im beruflichen Leben ist heute in allen Ländern des ehemaligen Ostblocks geringer als im Rest Europas oder gar kaum vorhanden. 295 Siehe Quentin Lippmann & Claudia Senik, 2018.

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Für diesen Unterschied in der Haltung der Mädchen gegenüber der Mathematik liefert die Studie eine institutionelle Erklärung: In der DDR wären ihre Leistung in Mathematik besser gewesen, weil die Institutionen grundsätzlich versucht hätten, die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zu reduzieren.296 Wie in anderen Ostblockstaaten wurde die Berufstätigkeit auch in der DDR zu einem allgemeingültigen Recht, aber auch zu einer Pflicht erhoben. So wurden viele Maßnahmen ergriffen, um das Berufsleben mit dem Familienleben in Einklang zu bringen, damit die Frauen sich ebenso ihrem beruflichen Alltag und einer Karriere widmen konnten wie die Männer. Diese Politik führte langfristig zu einer Veränderung der Vorstellung von der gesellschaftlichen Rolle der Geschlechter. Zur gleichen Zeit wurde in der Bundesrepublik das Bild des Mannes als Ernährer der Familie durch seine Arbeit verstärkt und eine Politik betrieben, die den Frauen den Eintritt ins Berufsleben und eine Karriere erschwerte. In der Bundesrepublik durften Frauen bis 1958 ohne die Erlaubnis ihres Mannes weder arbeiten noch ein Bankkonto eröffnen. Bis zur Verabschiedung des Gesetzes zur Reform des Ehe- und Familienrechts 1977 durfte eine Frau in der Bundesrepublik nur arbeiten, wenn das »mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar« war, wie es im Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau von 1958 heißt. Bis dahin oblagen Haushalt und Kindererziehung der Frau. Lippmann und Senik wollen nicht beweisen, dass das sowjetische Modell grundsätzlich besser für die Frauen war, aber sie kommen zu zwei wichtigen Schlussfolgerungen: Zum einen stecken hinter den unterschiedlichen Leistungen von Jungen und Mädchen in Mathematik Geschlechterstereotype, zum anderen können die Institutionen diese Stereotype ändern.297 Interessant ist dabei, dass die aus 40 Jahren DDR geerbten Unterschiede noch bei einer Generation sichtbar sind, die lange nach dem Ende des Staates geboren ist. Das ist vielleicht das erstaunlichste Ergebnis dieser Studie. Die DDR war ein alternatives Modell, bei dem die Wahrscheinlichkeit, unabhängig vom Geschlecht gute Leistungen in Mathematik zu erbringen, größer war als im Westen, und das wirkt noch 30 Jahre nach. Sport, Kunst, Freizeitbeschäftigungen, Arbeit – der Alltag der Bürger wurde von den meisten Historikern lange ignoriert. Dabei sind oft das die 296 Siehe Ainara Gonzalez de San Roman & Sara de la Rica, 2012, sowie darüber hinaus auch Luigi Guiso et al., 2008. 297 Siehe Martin Anota, 2018.

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Aspekte, die die Erinnerungen der DDR-Bürger prägen. Maxim Leo erzählt z. B., dass er während seiner Schulzeit jede Menge Tabellen auswendiglernen musste: »Die drei Bestimmungsfaktoren einer revolutionären Situation, zehn Gründe für die Überlegenheit des Sozialismus, die fünf wichtigsten Punkte des ersten Parteiprogramms der SED. Lustlose Lehrer schrieben die Tabellen an die Tafel, lustlose Schüler schrieben sie in ihre Hefte, lustlose Eltern zeichneten die Klassenarbeiten ab. Das war der Sozialismus, der bei mir angekommen ist. Phrasen in Tabellenform.«298

Doch diese sinnlose bürokratische Lustlosigkeit reicht nicht aus für die Schlussfolgerung, dass die Schule in der DDR schlecht war. Die PISAStudie von 2008, die vor allem den naturwissenschaftlichen Fächern galt, zeigte, dass das Bundesland Sachsen deutschlandweit an der Spitze lag.299 Dort war auch der Zusammenhang zwischen Schulerfolg und sozialer Herkunft am geringsten. Es lässt sich nur schwer mit Gewissheit sagen, ob das eine Spätfolge des Schulsystems der DDR ist, aber die Hypothese ist erlaubt, auch wenn niemand weiß, welches Ziel Sachsen 2008 erzielt hätte, wenn es zwischen 1949 und 1989 im Westen gelegen hätte. Wir wissen jedoch, dass alle Kinder, Jungen und Mädchen den sogenannten »Polytechnischen Unterricht« besuchten, weil, wie es damals hieß, auch ein künftiger Philosoph imstande sein müsse, einen Nagel in die Wand zu schlagen. Von 1949 bis in die 1970er Jahre gab es in der DDR eine weitgehende Erneuerung der Elite. Das war unverzichtbar, weil die nationalsozialistische Elite zum größten Teil ersetzt wurde. Zudem gab es eine massive Abwanderung in den Westen. An den 1949 gegründeten Arbeiter- und Bauernfakultäten wurden die Kinder von Arbeitern und Bauern auf ein Studium vorbereitet. Im Ergebnis dieser Förderung studierten viel mehr Arbeiterkinder als im Westen. Heute, 30 Jahre nach der Vereinigung, ist festzustellen, dass der Anteil von Arbeiterkindern in der Hochschulbildung in Deutschland geringer ist als in anderen Industrieländern und weiter schrumpft. Es ist also kein Zufall, dass das Schulsystem in den Gesprächen häufig zum Vergleich herangezogen wird. Ähnlich ist es mit der Kinderbetreu298 Maxim Leo, 2011, S. 187. 299 Siehe Olaf Köller, 2011, oder Jochen Leffers, 2008.

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ung. In der DDR war es selbstverständlich, dass eine junge Mutter einige Monate bis ein Jahr nach der Geburt ihres Kindes wieder arbeitete.300 Die Betreuung der Babys, Kleinkinder und der Schüler der unteren Klassen war Teil der Sozialleistungen der DDR, anders als in den alten Bundesländern, wo die Mütter bis heute in manchen Städten Mühe haben, eine Betreuung für ihre Kinder oder einen Hort zu finden, um wieder Vollzeit arbeiten zu können.301 Die westdeutsche Gesellschaft förderte stattdessen das traditionelle Mutterbild der hingebungsvollen Ehefrau und Mutter. Wenn sie arbeitete, wurde sie als »Rabenmutter« beschimpft – ein Begriff, der ganze Generationen in der Bundesrepublik geprägt hat und den Frauen galt, die Karriere machten, weil das angeblich nur auf Kosten der Beziehung zu ihrem Kind möglich sei. Auch wenn sich die Sitten geändert haben, sind die Spuren dieses konservativen Bildes durchaus noch vorhanden. Eine solche Wahrnehmung der Rolle und des Platzes einer Mutter bei ihrem Kind in den ersten Lebensjahren existierte in der DDR nicht. Anna Meier unterstreicht dies: »[E]inen Kindergärtenplatz kriegen oder so, das war nie Diskussion bei uns […][,] das war kein Problem, und wir hatten auch sehr gute Kindergärtnerinnen.« Auch die Wahl der passenden Schule kommt ihr heute kompliziert vor, wobei sie sich auch bewusst ist, dass das Angebot Vorteile für die Familien bringt. »Solche Gedanken mussten wir uns ja nie machen, also es gab die Schule und gut.« In der DDR war die Schule vor allem Gemeinsamkeit mit anderen Kindern, nicht vergleichbar mit der heutigen Konkurrenz. Allerdings war die Schule in der DDR auch ein Ort der politischen Exklusion und der ideologischen Bestrafung, wenn der Zugang zum Abitur willkürlich verwehrt wurde oder die Nicht-Mitgliedschaft in der FDJ – der Jugendorganisation der DDR – zu Nachteilen führte. Anna Meier sieht darüber hinaus nicht den Vorteil der Vielfalt pädagogischer Angebote, zwischen denen man heute für sein Kind wählen kann. Sie hält die vielen Möglichkeiten für verwirrend, weil sie nicht die notwendige Stabilität gewährleisten. Ihrer Tochter ist es gelungen, ihre beiden Kinder an der einzigen Schule in ihrer Stadt anzumelden, wo die Kinder von der ersten bis zur zehnten Klasse zusammen lernen. Noten gibt es erst ab der achten Klasse, die Schüler haben weniger Stress. Ihr anderer Enkel geht in eine normale 300 Die meisten Mütter arbeiteten in Vollzeit und die Kinder wurden schon vor der Einschulung betreut. 301 Siehe Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, 2019.

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Grundschule, hat ständig Leistungskontrollen und muss sich anstrengen, damit er auf das Gymnasium kommt. Hier zeigt sich ein gewisses Paradox: Anna kritisiert die neuen, im westdeutschen System angebotenen pädagogischen Formen, sagt aber gleichzeitig, dass sie den Stress verringern, weil es weniger Leistungskontrolle gibt. Seit der Vereinigung gibt es mehr Freiheit bei der Auswahl des Schulmodells, es gibt alternative Schulformen, die im Westen bereits bestanden und jetzt auch im Osten existieren. Aber Anna findet, sie würden auch die Entscheidungen für die Eltern erschweren, die jetzt um einen Platz in einem bestimmten Kindergarten oder in einer besonderen Schule kämpfen müssen. Tatsächlich gab es in der DDR immer genug Krippenplätze für alle Kinder, auch Wochenkrippen, aus denen sehr kleine Kinder nur am Wochenende nach Hause kamen. Die Gründe waren sowohl ökonomisch (damit alle Frauen arbeiteten und produktiv sein konnten) als auch ideologisch (um von frühester Kindheit an die Werte des Sozialismus zu vermitteln). In den meisten Fällen erinnern sich heute die Personen, die mit sehr kleinen Kindern arbeiteten, dass ihre berufliche Tätigkeit weitgehend unpolitisch war, außer wenn sie Berichte ausfüllen mussten. Luise Daimer302 hat ab 1986 für das Kulturhaus Mitte in Ostberlin gearbeitet. Sie leitete die Abteilung Feiern und Volksfeste, ihre Kollegin Erika Schmidt war für die »pädagogische Kulturarbeit mit Kindern« verantwortlich. Beide sagen, dass die Kinderveranstaltungen »auf keinen Fall vom Sozialismus geprägt« waren und die politische Pädagogik letztlich nur eine kaum wahrnehmbare Rolle im Alltag spielte, dass die Veranstaltungen vor allem spielerisch und unpolitisch waren. Beide unterstreichen die Differenz zwischen dem offiziellen Diskurs (den Berichten, die sie schreiben mussten und für die es einen speziellen Jargon gab, der von der Partei erwartet wurde) und dem Alltag der Arbeit mit den Kindern. Ruth Hahnemann, die einen Kindergarten leitete, sagt genau das gleiche über die Freiheit, die sie sich gegenüber dem Rat des Kreises nahm. »Meine Meinung, die hab ich eigentlich immer geäußert. Und Gott sei Dank hatte ich Kollegen um mich, die in meine Fußstapfen getreten sind. Wir mussten zum Beispiel in einem Kindergarten Militärspielzeug aufbauen. […] Dadurch, dass ich Betriebskindergarten war, hatte ich die Handwerker an der Hand, die haben mir so ein Regal gebaut. Und darauf haben 302 Luise Daimler und Erika Schmidt haben wir 2012 in Berlin interviewt.

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wir unser Militärspielzeug aufgebaut. Aber nur wenn ich wusste, Kontrolle kommt. […] Da habe ich meine Kollegen gesagt, die kommen zu der und der Uhrzeit, stellt das Zeug hin. Und wenn die zur Tür raus sind, nehmt ihr es wieder runter. Ging alles.«

Auch Hannelore Rotbusch hat sehr gute Erinnerungen an die Schule und das Schulsystem insgesamt: Schwimmen, Tennis, Freundeskreis, Pioniere, FDJ. »Es lief alles glatt.« 1960 machte sie ihr Abitur. Einige ihrer Freunde gingen kurz vor dem Mauerbau in den Westen, sie ist mit ihnen in Kontakt geblieben, hat sie aber erst nach Jahrzehnten wiedergesehen. Sie hatte keine Probleme, einen Studienplatz zu bekommen, obwohl ihre Eltern keine Arbeiter waren, ihr Vater war Ingenieur. Aber auch in ihren Antworten findet sich die Ambivalenz der Sozialpolitik der DDR zwischen Fürsorge und Freiheitseinschränkung. Hannelores Pläne wurden in ihrer Jugend nicht vom Staat behindert. Die Bilanz, die sie von der DDR zieht, ist deshalb eher positiv: »Im Freundeskreis tauschen wir schon öfter aus, was wir damals gemacht haben. Da waren viele Dinge, an die wir uns erinnern und auch gut erinnern.« Im Sommer z. B. arbeitete sie in einer LPG, dort amüsierten sie sich gemeinsam über die politischen Slogans. »Also man könnte sich heute kaputtlachen: ›Jede Kartoffel ein Schlag gegen die Bonner Kriegstreiber.‹« An einem Augusttag 1961, sie waren gerade bei der Ernte, kam die Meldung: Berlin ist zu, eine Mauer trennt DDR und Bundesrepublik. »Das war schon ein Schreck, weil wir ja auch noch rüberfuhren. Wir fuhren nach Westberlin, mit der S-Bahn. […] Geld hatten wir nicht, wir haben einfach nur mal so geguckt.« Das Sozialsystem der DDR zu loben und zugleich mit Ironie und kritischer Distanz über dieses System zu sprechen, ist nicht inkompatibel, viele DDR-Bürger teilen diese kollektiven Erfahrungen, die in der Schule, bei den Pionieren anfingen, und bewahren in ihren Erinnerungen die schönen, lustigen Aspekte. Auch Franz Creutzer war mit seinen Brüdern in den Jugendorganisationen aktiv. Die vier Kinder haben »das ganze DDR-Paket mitgenommen«, Pioniere, FDJ usw. Franz hatte anfangs Ämter bei den Jungpionieren und Thälmannpionieren303, in der fünften Klasse bekleidete 303 Nach drei Jahren als »Jungpionier« wurden man »Thälmannpionier«, benannt nach dem kommunistischen Widerstandshelden Ernst Thälmann, den alle Kinder in der DDR kannten.

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er das höchste Pionieramt der Schule als Freundschaftsratsvorsitzender. Er gab die Kommandos beim Schulappell und ließ jeden Morgen die Fahne hissen. »400 Schüler machen, was du befiehlst.« Und er weiß heute noch nicht, wie er sich für dieses Amt qualifiziert hatte. Er war ein guter Schüler, Klassenbester, aber er glaubt, dass es auch mit seiner Familie zu tun hatte. Er erwähnt den Opportunismus seiner Eltern, ihre Anpassung als »Bürgerliche«, als Angehörige der sogenannten »Intelligenz«, an ein System, das sich als »Diktatur der Arbeiter und Bauern« verstand. Dahinter stand die Sorge um die eigene Sicherheit, die vor allem für seinen Vater sehr wichtig war, der aber auch Karriere machen und weder sich noch seine Familie gefährden wollte. 1979, zum 30. Jahrestag der DDR, war Franz mit einer Gruppe von Pionieren aus der ganzen Republik bei der Eröffnung des Pionierpalastes in Berlin. Er stand neben Sigmund Jähn, ein unglaubliches Ereignis für den Jungen, der den ersten deutschen Kosmonauten, der 1978 in den Weltraum geflogen war, als Helden ansah. Jähn war eine allgegenwärtige Identifikationsfigur.304 Bei all diesen Erfahrungen, sowohl der Reise als auch dem Alltag in der Schule und bei den Pionieren, spielte das Kollektiv eine entscheidende Rolle. Auch Rolf Schubert hatte gute Noten in der Schule und wollte studieren, aber sein Vater meinte, »meine Kinder haben einen Beruf zu lernen, müssen Geld verdienen«. Also begann er eine Lehre in der Metallindustrie, »weil mir nichts Besseres eingefallen ist«, wie er zugibt. Aber der körperlich anstrengende Beruf gefiel ihm nicht. Er meldete sich an der Abendschule an, um neben der Arbeit das Abitur zu machen. Mit 16, 17 kam er deshalb spät nach Hause, war kaum vor 24 Uhr im Bett und musste früh aufstehen und arbeiten gehen. Seine Eltern waren Mitglied der SED und »gesellschaftlich immer involviert […][,] aber keine großen Funktionen«. Sie haben wenig Zeit für ihre Kinder »aufgewendet«, »wir waren uns sehr selbst überlassen«. Rolf bekam als Lehrling 100 Mark, das war viel, aber seine Mutter nahm ihm 50 Mark für Essen und Wäsche ab. Der Rest ging in den Kauf von Büchern für die Volkshochschule, wo er sein Abitur machte. Schon als Kind hatte er auch in den Ferien bei der Kartoffel- oder Rübenernte Geld verdient. Trotz alledem erinnert sich Rolf Schubert vor allem an die Vorteile des Systems. Eines Tages kam seine Mutter mit einem Fragebogen nach Hause und sagte, er solle ihn ausfüllen. Als er fragte, was das sei, sagte sie: »Das 304 Siehe Sigmund Jähn, 1983.

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wirst du schon noch erfahren.« Da er »gehorsam« war, füllte er den Fragebogen aus und wurde 14 Tage später in der Berufsschule von »zwei Herren« zu einer Aussprache bestellt. Sie sprachen über seine Verpflichtung zur Armee und fragten ihn nach seinen Plänen. Rolf erklärte, er wolle das Abitur machen, um Medizin oder Chemie zu studieren. Ein paar Tage später kamen sie wieder und sagten, sie hätten »etwas Besonderes« mit ihm vor, wenn er zum Ministerium für Staatssicherheit käme. Nach den Berichten eines Freundes seines großen Bruders, MfS-Offiziersschüler an der juristischen Hochschule in Potsdam, war Rolf Schubert beeindruckt von der abenteuerlichen Seite des Lebens als Spion. Deshalb nahm er das Angebot an. »Ich sah mich als der Kriminalist, der Verbrecher jagt.« Er war gerade 18 geworden, und beim Wort »Besonderes« »hat’s geklingelt in den Ohren«. Außerdem war es eine Möglichkeit, von zu Hause wegzukommen und unabhängig zu sein. In der DDR konnte er sich entfalten, und das Gesellschaftsmodell gefiel ihm. Mit seinem Eintritt beim MfS war er bereit, die »Staatsfeinde« zu verfolgen, die er »Verbrecher« nennt. Für ihn ist es selbstverständlich, die DDR aufzuwerten, denn die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik findet er viel problematischer mit der Ungerechtigkeit, den Einkommensunterschieden und den sozioökonomischen Verfehlungen, die sie in seinen Augen begeht. Noch ein anderes Thema taucht in den Interviews häufig auf: die Aufteilung des Reichtums und die soziale Gerechtigkeit, die eng mit der schon erwähnten Wohnungsfrage verbunden ist. So erinnern sich Anna und Johann Meier, dass es »in der DDR mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt« gab. Heute z. B. wohnen ihre Nachbarn, Zahnärzte von Beruf, in einem Haus, das sich kein Maurer leisten könnte. Die unterschiedlichen sozialen Schichten haben nicht mehr so viel Kontakt wie früher. Das Privateigentum, das mit der Restitution von in der DDR oder unter dem Nationalsozialismus geraubtem Eigentum zurückgekehrt ist, hat zu einer deutlichen räumlichen Segregation geführt. Die Vereinigung hat die Wohnungspolitik radikal verändert und die soziale Gerechtigkeit verdrängt. So haben fast alle Kollegen von Hannelore Rotbusch das Plattenbauviertel verlassen, wo sie früher wohnten, um sich in den 1990er Jahren ein Haus bauen zu lassen. Weil sie sich allein und zu alt fühlte, blieb sie in ihrer Wohnung aus DDR-Zeiten. Aber das ist eine Ausnahme. Hinzu kommt, dass viele DDR-Bürger nach der Wende ihre Wohnungen verlassen mussten, weil der Alteigentümer seine Immobilie zurückerhielt oder weil die Mieten stiegen. Das wurde, wie wir gesehen haben, oft als tiefe Ungerechtigkeit empfunden. 176

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Das Wohnungsthema kommt auch im Familienroman In Zeiten des abnehmenden Lichts von Eugen Ruge zur Sprache, wo es über Irina, die Mutter des Erzählers, heißt: »Irina spreizte ein paarmal die Finger und erinnerte sich an ihren Vorsatz, heute nicht an das alles zu denken – ein Vorsatz, der nicht leicht zu erfüllen war, wenn man schon morgens mit einem unguten Gefühl im Bauch zum Briefkasten ging und die Post zuerst daraufhin überprüfte, ob ein gerichtliches Schreiben dabei war … Dumm, ja natürlich! Dumm war es gewesen, das Haus nicht zu kaufen. Andererseits: Wer weiß, ob die Kommunale Wohnungsverwaltung das Haus überhaupt verkauft hätte? Hätte sie fragen sollen? Niemand hatte gefragt. Alle Häuser in der Umgebung hatten der Kommunalen Wohnungsverwaltung gehört und kein Mensch (außer diesem merkwürdigen Harry Zenk) war auf die Idee gekommen, das Haus, in dem er wohnte, auch noch zu kaufen: Wozu, wenn man irgendwelche hundertzwanzig Mark Miete bezahlte?«305

Die Wohnungsfrage wurde nach der Vereinigung zum Kristallisationspunkt eines starken kollektiven Ungerechtigkeitsgefühls. Wolfgang Engler formuliert es so: »Da muss man Zähne zeigen, die Wurzeln […] ausgraben und skandalisieren, und ja, die geheiligten Rechte des Eigentums profanieren, sich an der Systemfrage vergreifen. […] Dann mobilisiert man Menschen, die nie auf die Idee kämen, links zu wählen. Weil es jetzt um mehr geht, als um defensive Ziele, um zu bewahren, zu retten, was zu retten ist vom Wohlfahrtsstaat.«

Dann greift er ein bekanntes Marx-Zitat auf und sagt, linke Politiker, die diesen Namen verdienten, müssten die »Expropriation der Expropriateure«306 fordern. Die Aspekte der Aufwertung sind also sehr vielgestaltig. Sie enthält ganz unterschiedliche Elemente wie das Schulsystem, das Gesundheitswesen oder das Wohnen. All diese Themen tauchen in unseren Interviews immer wieder auf. Sie werden als gut für den gesellschaftlichen Zusammenhalt beschrieben, weil sie die in der Konsumgesellschaft herrschende Ungleich305 Eugen Ruge, 2011, S. 352. 306 Wolfgang Engler & Jana Hensel, 2018, S. 248f.

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heit und soziale Ausgrenzung vermindern. Diese Aspekte beschreiben eine andere Gesellschaft als die der Bundesrepublik 2020 – eine Gesellschaft, in der Chancengleichheit, Generationengerechtigkeit und Gesundheitsfürsorge größere Anerkennung genießen und besser gefördert werden.

Die Rolle des Staates im Kulturbereich Zur Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts in der DDR sollte auch die Kultur eine Rolle spielen. Die Vereinigung hat die Rolle der Kultur in den staatlichen Betrieben völlig neu definiert. Zu DDR-Zeiten erhielten die Betriebe von den Kommunen einen Zuschuss entsprechend der Mitarbeiterzahl. Es gehörte zu ihren Aufgaben, die Kultur zu fördern. Das war also keine freiwillige Teilnahme oder Investition, sondern eine gesetzliche Verpflichtung der Betriebe der DDR: Nach dem Arbeitsgesetz waren die Unternehmen gezwungen, kulturelle Einrichtungen zu fördern, zu vergrößern und effizient zu nutzen.307 Der Auftrag der Kulturförderung ging mit einem Publikumsinteresse einher, das anders strukturiert war als in der alten Bundesrepublik. Die DDR hatte mehr Theater als die Bundesrepublik, aber sie waren im Durchschnitt kleiner, die Zahl der Plätze pro Einwohner deshalb ähnlich. Die DDR-Bürger gingen öfter ins Theater als die Westdeutschen: Es gab neun Millionen Theaterbesuche 1989 in der DDR, 23,1 Millionen in der Bundesrepublik bei 16,4 bzw. 61,6 Millionen Einwohnern. Noch deutlicher ist der Unterschied bei Konzertbesuchen: 1989 gab es in der DDR 3,5 Millionen Besuche, in der Bundesrepublik nur 2,1 Millionen. Auch die Zahl der Museumsbesuche ist aufschlussreich: 35,4  Millionen in der DDR, 66,4 Millionen in der Bundesrepublik. In der DDR liehen 1989 4,9 Millionen Bibliotheksbenutzer 112 Millionen Bücher aus, die 8,4 Millionen Leser in der Bundesrepublik 267 Millionen.308 Das ist der einzige Sektor, wo der Unterschied zwischen Ost und West weniger auffällt. Das mag überraschen, weil die DDR oft als »Leseland« bezeichnet wurde. Allerdings waren Bücher in der DDR sehr billig. Die Wissenschaftlerin Eva-Maria Eisold erläutert, dass das Angebot an Büchern nie die Nachfrage deckte. 1949 erschienen in den Verlagen der SBZ bzw. DDR 1.998 Titel mit einer 307 Siehe Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, 1979, S. 762. 308 Siehe Anja Scholz & Cornelia Waldkircher-Heyne, 1993.

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Die Rolle des Staates im Kulturbereich

Auflage von 33,4 Millionen Exemplaren. 1989 erschienen 6.073 Titel, zeitgenössische und klassische Literatur deutscher und ausländischer Autoren in 137 Millionen Exemplaren.309 Das waren mehr als acht Bücher pro Kopf und Jahr in der DDR, einer der höchsten Werte weltweit. Die globale Tendenz war also eine deutlich höhere Nutzung kultureller Einrichtungen als in der Bundesrepublik, was vermuten lässt, dass die DDR-Kultur sich nicht nur monolithisch auf die sozialistische Ideologie beschränkte. Diese sehr unterschiedlichen statistischen Angaben für Ost und West muss man allerdings relativieren, denn die von der DDR veröffentlichten Zahlen über die Nutzung kultureller Einrichtungen sind nicht immer zuverlässig. Zum einen enthielten die Statistiken nur die offizielle Kultur, zum anderen wurde das tatsächliche kulturelle Angebot und das Interesse in den Berichten oft übertrieben. Es kam z. B. vor, dass ein DDR-Bürger ein Theaterabonnement kaufte, das von seinem Betrieb bezahlt wurde, aber zu keiner einzigen Vorstellung ging. Nach der Vereinigung wurden die Freizeitangebote schnell vielfältiger, die Preise für Theater- und Konzertkarten schossen in die Höhe, während die Kollektivbesuche nicht mehr stattfanden. Deshalb ging die Nutzung deutlich zurück, viele Einrichtungen mussten schließen. Dadurch wandelten sich auch die sozialen Bedingungen für die künstlerische Tätigkeit tiefgreifend, viele Angestellte im Kulturbereich, unter ihnen zahlreiche Künstler, verloren ihre Stelle. Der klassische Weg eines DDR-Künstlers sah so aus: Studium an einer Kunsthochschule, nach dem Abschluss automatische Mitgliedschaft in einem Künstlerverband. Für die Vollmitgliedschaft in den einzelnen Sektionen war eine einstimmige Entscheidung nötig. Autodidakten mussten eine Aufnahmeprüfung ablegen, nur wenige wurden aufgenommen. Die Verbände funktionierten wie die Zünfte im Mittelalter, die den Arbeitsplatz garantierten und nach Berufsgruppen gegliedert waren. Es gibt keine zuverlässigen Angaben über die Zahl der Künstler in der DDR, man schätzt, dass es 1987 und 1988 rund 38.000 waren.310 Wer Mitglied eines Künstlerverbandes war, konnte von seiner selbstständigen Arbeit leben. Künstler zahlten außerdem nur sehr niedrige Steuern und profitierten vom Staatsmonopol im Kunstsektor, weil die Aufträge des Staates, der Kommu309 Siehe Eva-Maria Eisold, 1992, S. 307–328. 310 Siehe Angabe der Expertengruppe III der deutsch-deutschen Kulturkommission, zit. n. Anja Scholz & Cornelia Waldkircher-Heyne, 1993, S. 4.

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nen oder der Betriebe an Künstler gingen, die Mitglied eines Verbandes waren. Es gab also kein Problem mit dem Absatz, da der Staat den gesamten Kunsthandel kontrollierte und auch beim Verkauf das Monopol besaß. Nach der Einführung der sozialen Marktwirtschaft schossen die Arbeitslosenzahlen im Kunstsektor nach oben. Die staatliche Infrastruktur in der DDR wurde völlig zerstört. Im Juni 1992 gab es 11.800 arbeitslose Angehörige künstlerischer Berufe in den neuen Bundesländern.311 Diese Zahl des Zentrums für Kulturforschung berücksichtigt nicht die Künstler, die Anfang der 1990er Jahre in den Westen gegangen waren. Eine statistische Untersuchung desselben Zentrums über Kunststudenten, die 1990 ihr Studium beendeten, gibt einen weiteren Hinweis auf die sozialen Verwerfungen:312 Die Hälfte der Absolventen gab an, sie würden, anders als bei der Perspektive, die sich in der DDR geboten hätte, wahrscheinlich nicht von ihrer künstlerischen Tätigkeit leben können. An dieser Untersuchung sieht man deutlich die Ambivalenz des Vereinigungsprozesses, der eine Vielzahl neuer Möglichkeiten eröffnete aber zugleich große Unsicherheit für die materiellen Lebensbedingungen der Künstler brachte. Diese Ambivalenz findet man in einer Äußerung des letzten Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière, der, so erzählt es Wolfgang Schäuble, einmal davon gesprochen habe, »dass das alte System im Grunde strafende und schützende Hand zugleich gewesen sei«.313 Um die brutale Prekarisierung der Künstler abzufedern, öffnete die Bundesrepublik die 1983 gegründete Künstlersozialkasse für die neuen Länder, aber das zeigte nur wenig Wirkung. Es war sehr schwierig, den durch den Rückzug des Staates ausgelösten Schock abzumildern. Kultur- und Sozialhistoriker entwickelten nach der Vereinigung Konzepte wie die Fürsorgediktatur314 oder die »konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR«,315 um den gleichermaßen schützenden und strafenden Staat zu beschreiben. In der DDR wurde die Kultur von vielen Akteuren als Werkzeug für 311 312 313 314 315

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Siehe Zentrum für Kulturforschung, 1990. Siehe Bärbel Mann & Bea Wölfing, 1992. Wolfgang Schäuble, 1994, S. 11. Siehe Konrad H. Jarausch, 1998. Siehe Detlev Pollack, 1998, S. 110–131. Detlev Pollack versucht, die Geschichte der DDR in die langfristige Geschichte einzuordnen, und zeigt die Elemente, die an eine Renaissance des preußischen paternalistischen und Polizeistaates denken lassen.

Die Rolle des Staates im Kulturbereich

die Veränderung der Gesellschaft, als Raum der kritischen Reflexion und der Entwicklung eines öffentlichen Gegen-Lebens wahrgenommen. In ihrem Artikel »Es gab durchaus ein richtiges Leben im falschen« zitiert Ellen Lissek-Schütz ostdeutsche Kulturarbeiter: »Wir sind keine Kulturverwalter, wir sind Idealisten und Einzelkämpfer«,316 und sie fährt fort: »Dieses abgrenzende und auch selbstkritisch formulierte berufliche Selbstverständnis ostdeutscher Kulturarbeiter ist nicht nur Ausdruck eines Unbehagens in der Kultur. Kulturarbeit wird vor allem als eine Aufgabe verstanden, die persönliches und politisches Engagement erfordert, nicht als Stelle im öffentlichen Dienst oder gar als Job.«317

Diese Sichtweise passt zu den Äußerungen von Sylke Jahn. Auch sie hat das Verschwinden der DDR mit Unbehagen erlebt und ist sehr kritisch gegenüber dem neuen System, das die Entfaltung einer wirklich freien Kultur nicht erlaubt, weil es am Geld fehlt. In den Augen der Ostdeutschen bedeutet die Dezentralisierung, die ein entscheidendes Element bei der Übernahme des föderalistischen Systems der Bundesrepublik war, oft den Rückzug des Staates aus der Verantwortung im Kulturbereich. Sie haben das Gefühl, die Föderalisierung habe dazu beigetragen, Kultur und Politik zu trennen, auf Bundesebene werde die Kultur zur Randerscheinung und verliere so ihre politische Dimension. Das ist eine typisch ostdeutsche Darstellung des Übergangs zum Föderalismus im Kulturbereich. Der Auftrag, die Kultur zu unterstützen, wurde mit der Vereinigung nicht fakultativ. Auch die Gesetze der Bundesländer schreiben den Gemeinden vor, einen Teil ihres Budgets für Kultur, zum Erhalt der kulturellen Infrastruktur oder für Kunstförderung auszugeben. Es ist jedoch unbestreitbar, dass die Vereinigung zum Rückzug des Staates aus dem Kunstsektor geführt hat. Die Wiederaneignung der DDR-Erfahrung erfolgt hier durch die Kritik an der Trennung von Kultur und Politik. Der Brief einer früheren Bibliothekarin in der DDR, der 1992 als Leserbrief in der FAZ erschien, illustriert die Bitterkeit, die aus der Aufgabe des DDR-Fördersystems in der Kultur zugunsten des Systems der alten Bundesrepublik entstanden ist: 316 Ellen Lissek-Schütz, 1994, S. 110. 317 Ebd.

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»Ich passe nicht in die Marktwirtschaft; ich kann meine 40 Jahre DDR-prägung nicht abstreifen wie eine Schlangenhaut. Auch wenn ich belächelt und niedergepfiffen werde, bekenne ich, während der DDR-Zeiten nicht pausenlos gelitten zu haben. […] Meinen Beruf als Bibliothekarin habe ich geliebt. Für mich war Literatur keine ›Marktware‹, sondern etwas Lebendiges, gebündelte Lebenserfahrungen. Die zahlreichen Schriftstellerbegegnungen und -gespräche zu DDR-Zeiten belegen dies. Allerdings bin ich auch einem Phantom hinterhergerannt: Ich wollte die Menschheit besser machen mit Literatur. Der schlimmste Augenblick meines Lebens war, als ich ›meine‹ Zehntausend-Bände-Bibliothek, die ich zuvor in 15 Jahren mühselig und in guter Qualität aufgebaut hatte, auf den Müll schmeiße sollte. Das tat ich natürlich nicht. Unser sehr gutes, jedoch zentralistisches Bibliothekssystem ist recht schnell nach der Wende zerstört worden. Nun kommen erst einmal die Defizitstrecken zu ihrem Recht. […] So mit Literatur gelebt wird wohl nie wieder. Als Bibliothekarin werde ich nicht mehr gebraucht. […] Das Wort Existenzangst habe ich recht schnell buchstabieren gelernt.«318

Eine Studie, die Hans-Georg Soeffner 1988, also vor der Vereinigung, veröffentlichte, unterstreicht die Folgen einer plötzlichen Veränderung der Prinzipien für die politische Verwaltung der Kultur für den Alltag der Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft. Soeffner zeigt, dass der Begriff der Kultur vor allem den Zugang zu den Mitmenschen und seiner Umgebung umfasst: »Wir bewohnen sie (die Kultur) als einen bedeutsamen Raum unserer Welt, sie ist Teil von uns, unser ›Zuhause‹, und kann uns dennoch jederzeit ›fremd‹ werden.«319 Diese Wahrnehmung der Kultur als etwas Vertrautes erklärt das von der Bibliothekarin beschriebene Phänomen. Die lebendige Beziehung zur Literatur war Teil ihres Alltags und verdient deshalb eine Aufwertung. Dass sie im Moment der Vereinigung brutal ihre bisherigen Werte aufgeben sollte, war für sie völlig sinnlos. Die Einführung der westdeutschen Strukturen der Kulturpolitik hat ihre Gewohnheiten im Alltag entwertet, was sie als willkürlich und ungerechtfertigt empfindet. Werfen wir noch einen Blick auf das Kabarett: In der DDR gab es viele Kabaretts, die kurze Sketche präsentierten, in denen man sich über Bürokratie, Egoismus oder »kleinbürgerliche Engstirnigkeit« lustigmachte. Diese Kabaretts hatten eine Ventilfunktion und verloren mit der Vereini318 Elisabeth Pfestorf, 1992. 319 Hans-Georg Soeffner, 1988, S. 3.

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Die Rolle des Staates im Kulturbereich

gung ihre Berechtigung. Viele verschwanden.320 Aus finanziellen Gründen musste die Zahl der subventionierten Theaterensembles reduziert werden, was die Möglichkeiten weiter einschränkte. Man musste auf die kleinen Bühnen, die für die DDR der 1980er Jahre typischen Experimentaltheater verzichten, obwohl es so etwas auch in der Bundesrepublik gab. »Man spielte ›unterm Dach‹, ›auf der Treppe‹, ›im Foyer‹ oder schlicht ›auf der Probebühne‹ oder ›im Keller‹, […] aus den einstigen Improvisationsobjekten wurden feste Spielstätten, die sich den Ruf alternativer Kulturzentren erwarben«,321 berichtet Eva-Maria Eisold. Die Künstler konnten sich nicht länger als Erben der progressiven deutschen Kunst im Unterschied zu den Künstlern des anderen deutschen Staates definieren. Der SED-Diskurs über die DDR-Identität als Synthese aller progressiven Strömungen der deutschen Kulturgeschichte hatte eine performative Funktion: Dieses Erbe, so verkündeten sie, sei das Fundament einer sozialistischen Kultur. Dieser Diskurs taucht auch im Nachdenken über die veränderte Rolle des Künstlers nach der Vereinigung wieder auf. Eisold beschreibt, wie sich die ostdeutschen Künstler, zu denen sie gehört, während der Teilung sahen: als »Hüter der Kultur« gegen die »Amerikanisierung« des kulturellen Lebens im westlichen Teil Deutschlands. Ihre Äußerungen zeigen, dass diese Sichtweise heute noch besteht. Sie verweist z. B. auf die Begeisterung der Bürger für die 10. Kunstausstellung der DDR in Dresden 1987 und 1988, wo die Werke der neuen Generation von DDR-Malern gezeigt wurden. Eine Million Besucher sahen die Ausstellung, eine beeindruckende Zahl. Für sie hatte dieser Erfolg mit dem Sinn des künstlerischen Schaffens in der DDR zu tun, der heute verschwunden ist: »Dieses Interesse an der zeitgenössischen bildenden Kunst war keineswegs künstlich erzeugt. Es reflektierte das Gefühl eines großen Teils der Bevölkerung, das in den Kunstwerken etwas zum Ausdruck gebracht wurde, was sonst nirgendwo anzutreffen war.«322 Dieser Ansatz, der die Bedeutung des Kunstwerks für die Gesellschaft hervorhebt und apolitische Kunst ablehnt, hat die Künstler und Intellektuellen in der DDR, aber auch viele Bürger stark geprägt. Für sie waren das Theater, die Kabaretts, die bildenden Künste Orte der Erarbeitung einer Alternative zur Bevormundung der Individuen durch die DDR. Man 320 Siehe Jacques Poumet, 1996. 321 Eva-Maria Eisold, 1992, S. 315. 322 Ebd., S. 313.

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sagt, der Nationalsport in der DDR sei es gewesen, zwischen den Zeilen zu lesen. Eine zweideutige Äußerung oder Figur in einem Theaterstück zu entschlüsseln, war als Aufgabe für die Zuschauer schon in der Inszenierung angelegt. Im vereinten Deutschland mussten die ostdeutschen Künstler die Beziehung zwischen der künstlerischen Tätigkeit und ihrer politischen und gesellschaftlichen Wirkung, also des Aspekts der Subversion, neu definieren. Die Mission der Kunst in der DDR war klar, Verbote, Zensur und Repressionen trugen paradoxerweise dazu bei, das Spiel mit den Grenzen dieser Verbote zu fördern. So ist auch die Formulierung des jungen Dichters Uwe Kolbe am Grab des Schriftstellers Franz Fühmann zu verstehen: »[w]ie die hemmende Angst zu einer treibenden sich auswächst«.323 Man kann leicht daraus schlussfolgern, dass das Verschwinden der »hemmenden Angst« auch die »treibende« geraubt habe. Eva MariaEisold verwendet eine interessante Metapher: »Neben der breiten Rollbahn zum Kommunismus sollte es wenigstens eine Gasse geben, in der es sich selbstgeplant leben ließ.«324 Man sollte jedoch hinzufügen, dass diese Gasse nur Sinn hatte, weil die »breite Straße« existierte. Außerhalb des allgemeinen Rahmens, den die große Straße vorgab, hätte die Gasse keine Daseinsberechtigung, keine Substanz gehabt. Hier liegt der Ursprung der Ungewissheit für den Beruf der Künstler seit der Vereinigung: Der Begriff »subversiv« hat nicht mehr denselben Sinn, die Spielräume der Nischen innerhalb eines abgeschlossenen Systems dienen nicht mehr dazu, der kulturellen Tätigkeit des Landes Impulse zu verleihen. In seinem Buch mit dem vielsagenden Titel Plötzlich war alles anders schreibt Olaf Georg Klein über die Unmöglichkeit, Freiheit und Repression undifferenziert gegeneinanderzustellen: »Jetzt, in der offenen Gesellschaft mit den unterschiedlichsten politischen Überzeugungen, ist alles viel differenzierter und schwieriger. Damals konnte die Kirche zum Beispiel sehr einfach Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit einklagen, heute muss man viel genauer beschreiben, was man damit eigentlich meinte.«325 Es ist also für einen Künstler komplizierter geworden, zu bestimmen, worin heute die Legitimität seines Tuns liegt und worauf sie beruht. Das ist der Sinn der folgenden Grundfrage: 323 Uwe Kolbe, 1988. 324 Eva-Maria Eisold, 1992, S. 307. 325 Olaf Georg Klein, 1994, S. 247.

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»Was zählt noch von den angeeigneten Kenntnissen, den erworbenen Überzeugungen, den erarbeiteten Erfahrungen, den erzwungenen Verhaltensmustern? Mit dem Tempo und der Totalität des Wechsels konnten und können Denken und Fühlen nicht Schritt halten.  […] Wir bedürften – ist das schon wieder DDR-Nostalgie, jammernde Sentimentalität? – der Momente der Vertrautheit, der Menschlichkeit und Brüderlichkeit, wie sie sich in finsteren Zeiten in den Nischen entfaltet hatten.«326

Feminismus und Geschlechtergerechtigkeit In der aktuellen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der Neubewertung der DDR-Erfahrungen ist auch die Stellung der Frau in der Gesellschaft ein wichtiger Aspekt. Das Thema taucht in mehreren Gesprächen auf, alle kritisieren die Veränderungen in den Beziehungen zwischen Frauen und Männern durch die Vereinigung. Waren die Frauen die großen Verliererinnen der Vereinigung? Wie ist die Leistung der DDR in puncto Geschlechtergerechtigkeit zu bewerten? Beruf und Familie unter einen Hut bringen

Anna und Johann Meier, die wir in einem gemeinsamen Gespräch befragt haben, erwähnen eine Talkshow mit Sandra Maischberger über die Gleichberechtigung der Frauen in Deutschland, die sie im Herbst 2018 gesehen hatten. Dabei berichteten Frauen, dass sie in den 1950er Jahren die Erlaubnis ihres Mannes brauchten, um zu arbeiten oder ein Konto zu eröffnen.327 Die Fassungslosigkeit der Meiers äußerte sich in einem Satz: »Und wir fanden wieder nicht statt, die DDR.« Kein einziges Wort über die Frauen aus der DDR. All diese Äußerungen über Frauen waren ihnen total fremd: »Unser Lebenslauf findet oft nicht statt in den Medien.« 1979 veröffentlichte Maxie Wander ein Buch mit biografischen Interviews von Frauen, das in der DDR sehr berühmt war: Guten Morgen, du Schöne. Im Vorwort erklärte die Autorin ihre Vorstellung von Feminismus, wie er sich in der DDR entwickeln sollte: »Nicht gegen die Männer 326 Marion Dönhoff et al., 1992, S. 65. 327 Siehe auch die Fernsehserie Ku’damm 59 von Sven Bohse aus dem Jahr 2018.

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können wir uns emanzipieren, sondern nur in der Auseinandersetzung mit ihnen. Geht es uns doch um die Loslösung von den alten Geschlechterrollen, um die menschliche Emanzipation überhaupt.«328 Christa Wolf, die eine Einleitung für die erste westdeutsche Ausgabe schrieb, vertrat einen ähnlichen Standpunkt, der sich von den Feministinnen im Westen abgrenzte: »Ich halte es für falsch, alle Frauen zu einer ›Klasse‹ zu erklären, wie manche Feministinnen es tun.«329 Die Frauenfrage wurde also als Aspekt der sozialen Frage wahrgenommen: Mit der Emanzipation der Frauen wird die Emanzipation des Menschen angestrebt. Am 3. Dezember 1989 gründeten Frauen aus der Bürgerbewegung den Unabhängigen Frauenverband (UFV), um vor allem über die Probleme der Frauen nachzudenken, z. B. Quoten für verantwortliche Posten in Politik und Wirtschaft festzulegen. Schon im März 1989 hatte die Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in der DDR einen »Brief an die Jugend« verfasst, um die Aufmerksamkeit der Jugend auf die Beziehungen zwischen Männern und Frauen zu lenken: »Eine Demokratie kann sich nur dann als solche bezeichnen, wenn die patriarchalischen Normen und das damit einhergehende Verhalten im Interesse einer gleichberechtigten Beteiligung von Frauen und Männern überwunden werden.«330 Im Fokus der Arbeit des UFV standen zunächst geschlechterrelevante Themen in der DDR, später der Wandel im demokratischen Umbruch und vor allem die Sorge, dass sich die Vereinigung negativ auf die wirtschaftliche Unabhängigkeit der DDR-Frauen auswirken könnte. Anders als bei Maxie Wander wurde die Frage nach dem Platz der Frauen in der Gesellschaft als eigenständige Frage gestellt und nicht als Element des allgemeinen Engagements für die Emanzipation des Individuums im Rahmen des Klassenkampfes. Die patriarchalischen Normen wurden als das wahrgenommen, was sie waren: ein Hindernis für echte Demokratie. Kommen wir zu Guten Morgen, du Schöne zurück: Es handelt sich um eine Sammlung von 19  langen Interviews, die die Autorin in den 1970er Jahren in der DDR geführt hat. Sie zeigen, dass das Patriarchat in der DDR natürlich nicht überwunden war. Doris war 30, als sie interviewt 328 Maxie Wander, 1977, S. 11. 329 Das Vorwort schrieb Christa Wolf für die westdeutsche Ausgabe, 1979, S. 15. 330 Anne-Marie Corbin, 2014, S. 99, Änderungsvorschläge zum Programm des Demokratischer Aufbruch durch die Frauengruppe, RHG, CZ 02, Kok. 32, ohne Datum, aber vermutlich aus dem November 1989.

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wurde. Sie hatte sich für den Marxismus entschieden, obwohl sie aus einer christlichen Familie kam. Das prägendste Ereignis ihres Lebens war eine platonische Liebesgeschichte mit einem Tschechen, als sie verheiratet war: Sie wollte zu diesem Tschechen gehen, aber ihr Mann handelte schneller und schloss sie in der Wohnung ein. Ihr bliebt nichts anderes übrig, als auf das Taxi hinunterzublicken, das ohne sie davonfuhr … Im Nachhinein weiß sie nicht, ob das gut oder schlecht war. Sie hält also für möglich, es könnte gut gewesen sein, dass ihr Ehemann sie mit Gewalt daran gehindert hatte, zu demjenigen zu gehen, den sie liebte. Dennoch zeigt ihr Lebensweg ihren Mut und ihre Hartnäckigkeit: Nach der Geburt des ersten Kindes nahm sie ihr Lehrerstudium wieder auf, obwohl sie aus einer sehr bildungsfernen Familie stammte. Sonia Combe und Antoine Spire schreiben zu diesem Thema: »Was war verlockender für junge Frauen, vor denen sich die Türen der Universitäten und die Aussicht auf ein Berufsleben öffneten, in das sie sich voller Leidenschaft stürzten? Der Staat hielt sein Versprechen jedoch nur halb: Gleichberechtigung, das würden sie bald erfahren, heißt nicht Emanzipation. Noch lag ein weiter Weg vor ihnen.«331

Die Vorstellung, die DDR hätte echte Emanzipation für alle Frauen und Harmonie zwischen den Geschlechtern ermöglicht, muss relativiert werden. Es gab zwar in der DDR viele Faktoren, die die Emanzipation und die Unabhängigkeit der Frauen förderten, Überreste des Patriarchats waren jedoch im Alltag deutlich spürbar. »Also ich meine, erstens mussten wir arbeiten, die Frauen, weil der Mann nicht genug Geld nach Hause  …  – war einfach so«, sagt Anna Meier. Man musste fit sein und oft früh aufstehen. Aber man musste nicht befürchten, sein Gehalt nicht zu bekommen oder entlassen zu werden. »Aber ich hätte auch nicht Hausfrau sein wollen«, fügt sie noch hinzu. In der DDR hatte seit Mitte der 1960er Jahre jedes Kind Anrecht auf einen Krippenplatz. Deshalb stellte sich die Frage nach Vereinbarkeit von Beruf und Kindern auf der praktischen Ebene nicht. Auch der gleiche Lohn für gleiche Arbeit war in Artikel 24, Absatz 1 der DDR-Verfassung für Frauen und Männer garantiert. Schon in der ersten Fassung von 1949 hieß es in Artikel 7: »Mann und Frau sind gleichberechtigt. Alle Gesetze und Be331 Sonia Combe & Antoine Spire, 2017, S. 67.

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stimmungen, die der Gleichberechtigung der Frau entgegenstehen, sind aufgehoben.« Seit Anfang der 1960er  Jahre wurden effiziente Qualifizierungsmaßnahmen speziell für Frauen eingeführt. Ab 1972 hatten die Frauen Anspruch auf ein Jahr bezahlten Mütterurlaub. Eine weitere Besonderheit: Die Frauen hatten ihre eigene Vereinigung, den Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD), der in der Volkskammer, dem Parlament der DDR, vertreten war. In der Volkskammer saßen also viele Frauen (1986: 32,2 Prozent), allerdings hatten sie ebenso wenig tatsächliche Macht wie die Männer, weil es keine Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative und keine echte Opposition gab. Bei jeder Wahl wurde über eine einzige Einheitsliste abgestimmt.332 Unsere Interviews zeigen, dass die Frauen in der DDR den größten Teil bei Kindererziehung, Einkauf, Haushalt, Küche, kurz: alle Alltagsarbeiten übernahmen. Barbara Sengewald hält die DDR-Gesellschaft für sehr geschlechtergeprägt. Bei der Übergabe der Diplome am Studierende war alles maskulin (Ökonom, Wirtschaftskaufmann usw.). Wahrscheinlich beeinflussen die aktuellen Debatten über den patriarchalischen Charakter der Gesellschaft ihre Rückschau, denn weder in der Bundesrepublik noch in Frankreich wurde in den 1960er und 1970er Jahren gegendert. Dennoch zeigen ihre Erinnerungen an den stärkeren Einsatz der Frauen für Haushalt und Familie eine geschlechterspezifische Rollenverteilung. Wenn Hannelore Rotbusch das Leben der Frauen in der DDR mit ihrer heutigen Situation vergleicht, findet sie, dass es für die Frauen früher einfacher war. Sie selbst wurde Anfang der 1960er  Jahre schwanger, als sie gerade ihr Medizinstudium aufgenommen hatte. Daraufhin heiratete sie und zog um. Sie unterbrach ihr Studium für zwei Jahre, was nicht üblich war. Damals gab es nach der Geburt eines Kindes keine Mütterzeit. Nach den zwei Jahren wollte sie ihr Studium fortsetzen, fand aber nur einen Studienplatz in einer anderen Stadt. Für Hannelore war es trotz persönlicher Schwierigkeiten im DDR-System einfacher, Familienleben und Studium zu vereinbaren. Für Studentinnen mit Kind wurde viel getan. »Da gab es im Studentenwohnheim auch Zimmer für die Kinder und Tagesbetreuung.« Im Leben von Ricarda Schönherr nahm die Mutterschaft einen ähnli332 Die Wahl (keine offizielle Wahlpflicht, aber sehr starker gesellschaftlicher Druck) bestand für die DDR-Bürger darin, das Blatt mit den Namen der Kandidaten zu falten, ohne die Wahlkabine zu betreten, und es in die Urne zu stecken.

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chen Platz ein. Sie wurde 1969 schwanger. 20 Wochen nach der Geburt ihres Sohnes nahm sie ihre Arbeit als Krankenschwester in Teilzeit wieder auf. Sie fing sehr früh am Morgen an und arbeitete nur in der Frühschicht. Ihre Schwiegermutter kümmerte sich um den Kleinen, der bald in die Krippe ging. Bei ihrem zweiten Sohn nahm sie die Arbeit nach dem Babyjahr333 wieder auf und hatte wie beim Ersten große emotionale Schwierigkeiten, ihn in die Krippe zu geben. Rückblickend denkt sie, dass sie nicht genug Zeit für ihre Kinder hatte. Sie äußert sich kritisch über das Betreuungssystem in der DDR, das auch Wochenkrippen anbot, was nach ihrer Meinung die Bedürfnisse der Kinder nicht berücksichtigt. Das ist die Kehrseite der Vereinbarkeit von Beruf und Familie für die Mütter. Ricarda Schönherr kommt mehrfach auf die Entwicklung der Gesetze über Schwangerschaftsabbruch und Verhütung zurück. Schwangerschaftsabbrüche wurden in der DDR schon ab März 1972, vier Jahre früher als in der Bundesrepublik, in den ersten zwölf Wochen erlaubt und die Frau durfte allein die Entscheidung treffen,334 was für Ricarda Schönherr sehr wichtig war. Ihrer Meinung nach hatten die Frauen in der DDR also mehr Recht über ihren Körper als in der Bundesrepublik. Die Wirkung dieser Gesetze nahm sie unmittelbar wahr, als sie mit Frauen in Notlagen arbeitete. Als sie 1975 zehn Tage bei ihrem Vater in Westdeutschland war, kam sie zu dem Schluss, dass es den Frauen in der DDR im Großen und Ganzen besser ging, und sie freute sich, dort zu leben, Arbeit und materielle Unabhängigkeit zu genießen. Kurz nach der Geburt ihres ersten Kindes 1969 riet ihr ihre Chefin von der Hebammenausbildung ab, weil die häufigen Nachtdienste unvereinbar mit einem kleinen Kind seien. Sie verzichtete darauf, Hebamme zu werden, was sie bis heute bedauert. Ansonsten zieht sie eine sehr positive Bilanz ihres Lebens, das nach ihren Plänen abgelaufen sei. Sie machte eine Ausbildung zur Gesundheitsfürsorgerin und bekam eine Stelle bei der Schwangerenberatung, die sie 18 Jahre lang, bis zum Mauerfall, behielt. Sie arbeitete sehr autonom und zugleich in einer kollegialen Atmosphäre und absolvierte mehrere Praktika. Sie hat nie daran gedacht, mit ihren beiden 333 Das DDR-Babyjahr wurde mit der Wiedervereinigung abgeschafft; »[a]nderthalb Jahrzehnte später kehrte es in etwas abgewandelter Form als Instrument ›schwedischer‹ Familienpolitik nach Deutschland zurück« (Felix Berth, 2021). 334 Die Frage der Regelung für Schwangerschaftsabbrüche löste im Rahmen der Verhandlungen um den Einigungsvertrag eine heikle Debatte aus.

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Kindern zu Hause zu bleiben oder Hausfrau zu werden. Sie wollte auch nicht in die SED eintreten und argumentierte damit, sie würde schon genug für die Gesellschaft tun, indem sie sich um Schwangere und junge Mütter kümmere. Die Frauenfrage war für die SED ausschließlich Teil der sozialen Frage. Nach dem Ende des Kapitalismus, im »real existierenden Sozialismus«, galt sie als gelöst. Wie wir gesehen haben, existierten bestimmte Strukturen patriarchalischer Dominanz weiter. Das Patriarchat zeigte sich auch im politischen Leben. Es gab niemals eine Frau im Politbüro, keine Frau an der Spitze eines Kombinats.335 Der Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit war also deutlich sichtbar. Einen wichtigen Faktor darf man jedoch nicht unterschätzen: Mehr als 90 Prozent der Frauen waren berufstätig, was ihnen ein Leben in der Gesellschaft und finanzielle Unabhängigkeit, Ausbildungsmöglichkeiten, Zugang zu einer Wohnung und die Möglichkeit sicherten, die finanziellen Folgen einer Scheidung zu tragen.336 All das wurde nach 1990 infrage gestellt, vor allem für die Frauen, die arbeitslos wurden und ihre finanzielle Unabhängigkeit verloren. Deshalb spielt der Platz der Frauen in der Gesellschaft eine wichtige Rolle im Prozess der Aufwertung der Sozialpolitik der DDR. Die beschriebene Ambivalenz bei der Frauenfrage in der DDR wird im Gespräch mit Melanie Pohl sehr deutlich. Sie war in ihrer Jugend Tänzerin und erinnert sich, dass sie während der »Weltfestspiele der Jugend und Studenten« 1973 »vor Erich Honecker getanzt hat«. Später heiratete sie und bekam eine Tochter, aber ihr Mann war krankhaft eifersüchtig, gewalttätig und wurde Alkoholiker. In der DDR gab es keine Frauenhäuser. »Da wurde weggeschaut.« Das war sehr hart. Ihre Tätigkeit an der Universität rettete sie gewissermaßen: Sie machte sie unabhängig, sie hatte sympathische Kollegen, bei denen sie ab und zu mit ihrer Tochter übernachten konnte, wenn sie Zuflucht suchte. Nicht nur in der DDR war die Arbeit Ort und Förderer der Emanzipation, und es ist unbestreitbar, dass die größere Gleichheit in der Arbeitswelt und das Nicht-Vorhandensein der Arbeitslosigkeit nicht alle Probleme der Frauen in der DDR gelöst haben. Aber sie ermöglichten eine größere Autonomie der Frauen, das findet sich in vielen Gesprächen wieder. 335 Es gab allerdings Frauen an der Spitze von kleineren oder mittleren Unternehmen. Siehe dazu Agnès Arp, 2006a. 336 Zu Scheidungen in der DDR siehe Anja Schröter, 2018.

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Auch Sylke Jahn spricht darüber: Sie ist 1964 geboren und hat mit ihrer Schwester und ihren Eltern in einer »toleranten und liebevollen Familie« eine glückliche Kindheit verbracht. Ihre Schulzeit verlief problemlos, sie übernahm Ämter in der FDJ. Als sie anfing zu studieren, engagierte sie sich in der Jugendhilfekommission in ihrem Kiez. Sie betont, wie wichtig ihr ehrenamtliches Engagement war. Sie konnte »zerrütteten« Familien helfen und ein solidarisches Konzept der Gesellschaft umsetzen.337 Die Menschen, die sie damals getroffen hat, haben sie sehr geprägt. Als sie 1988 schwanger wurde, hörte sie mit der Arbeit in der Kommission auf. Sie zog in einer solidarischen Frauen-WG in Berlin um, wo sie mit ihrem Sohn später lebte. Sylke Jahn hat sich sehr in der Frauenbewegung im Osten engagiert, die oft unter dem Dach der Kirche stattfand, auch in der Lesbenbewegung.338 Einige Mitglieder dieser Gruppe nahmen 1989 am Runden Tisch teil, der Reformen ausarbeiten sollte, um die DDR demokratischer zu machen, aber dabei ihre sozialen Vorzüge vor allem bei den Frauenrechten zu bewahren. Die Wahlen am 18. März 1990 waren für sie eine bittere Niederlage, weil die von Helmut Kohls CDU maßgeblich unterstützte Allianz für Deutschland einen deutlichen Sieg davontrug. Dieses Wahlergebnis hat den Prozess der Vereinigung beschleunigt, weil es dem Kanzler freie Hand gab und die ostdeutsche Bürgerbewegung zum Schweigen brachte. Sie verschwand bald darauf aus den Medien und vom politischen Schachbrett, hatte keine Stimme mehr, das war schwer zu ertragen. Sylke spricht von einer »persönlichen Niederlage«. Wie die Vereinigung abgelaufen ist, entsprach überhaupt nicht ihren Erwartungen. Zu dem Gefühl, infantilisiert zu werden, kam die Feststellung, dass »diese Revolution überhaupt keine Rolle mehr spielte«. Dann wurde das Leben schwieriger für Alleinerziehende. Das Geld spielte plötzlich eine viel größere Rolle als vorher und die finanzielle Unabhängigkeit der Frauen im Osten geriet ins Wanken. Nach dem Mauerfall war Sylke Jahn in Berlin an der Gründung des Unabhängigen Frauenverbands beteiligt. Heute ist sie Autorin, engagiert sich aber immer noch für die Emanzipation der Frauen. Sie findet, dass die 337 In der DDR existierte ein Netz von ehrenamtlichen Jugendhelfern, die von amtlichen Jugendfürsorgern organisiert und geleitet wurden. Dieses Netz war relativ einflussreich und verfügte über eine gewisse Entscheidungsmacht. 338 Für den Forschungsstand zur Lesbenbewegung in der DDR siehe Daniela Zocholl & Susanne Diehr, 2015, darin vor allem der Artikel von Maria Bühner, S. 110–120.

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Frauen, die ihre Kinder allein großzogen, im Osten viel weniger stigmatisiert wurden als im Westen. Der Staat brauchte alle Arbeitskräfte und tat deshalb alles, um die Frauen zum Arbeiten zu bringen. Das war die Logik der Emanzipation von oben. Oft holten die Eltern ihre Kinder erst am Abend aus der Krippe oder dem Kindergarten ab. Wenn sie Schichtarbeit machten, war sogar eine Nachtbetreuung gesichert. Sylke erwähnt die Wochenkrippen, die es vor allem in den 1960er Jahren gab339 und in denen die Eltern ihre Babys wie in Internaten montags abgaben und freitags abholten. Sylke erinnert sich an eine dieser Wochenkrippen, die zu einem Schwermaschinenbau-Kombinat gehörte, in einem neuen Gebäude und sehr gut ausgestattet. Eine Frau, die ihr Kind dort hatte, sagte später, das sei das Schlimmste ihres Lebens gewesen, ihr Kind habe ihr später Vorwürfe gemacht. Diese Wochenkrippen für sehr kleine Kinder in den Betrieben standen im Widerspruch zum gesetzlichen Mütterjahr, weil es der Nähe von Eltern und Kind ein jähes Ende setzte, nachdem sie ein Jahr lang rund um die Uhr zusammen gewesen waren.340 Dieses Thema wurde lange verdrängt, die wissenschaftliche Aufarbeitung hat erst vor einigen Jahren angefangen und spricht jetzt zunehmend über die Mütter oder über Kinder, die an Bindungsstörungen leiden.341 Sylke bestätigt im Nachhinein, dass die Erwachsenen und vor allem die Mütter in der DDR wenig Zeit für ihre Kinder hatten. Viele wurden später schon jung Großeltern, weil sie jung, oft sehr jung, Eltern geworden waren. Als sie in Rente gingen, stellten manche fest, dass sie bei ihren eigenen Kindern etwas verpasst hatten. Karin Günther verweist auf einen schmerzhaften Punkt im Leben vieler Frauen, die vor den 1970er Jahren geboren sind, wenn sie erklärt, wie sehr sich die Familienbeziehungen in der DDR von den heutigen unterschieden. Ihre Mutter sagt, in der DDR mussten die Frauen auf allen Gebieten stark sein und entscheiden, was sie mit ihrem Leben anfingen. Aber das hatte seinen Preis. Karin fragt sich, ob sich ihre persönliche Erfahrung verallgemeinern lässt. Ihre Eltern haben sich weniger um die Sorgen der Kinder ge339 Damalige Beobachtungen und Forschungen führten zu dem Ergebnis, dass die Entwicklung der Kinder, die in Wochenkrippen und Dauerheimen untergebracht waren, mitunter erhebliche Rückstände aufwiesen. Siehe dazu Eva Schmidt-Kolmer, 1959, 1977. 340 Siehe dazu Hans-Joachim Laewen & Beate Andres, 1993. 341 Siehe etwa http://wochenkinder.de/ (02.05.2022), und Ute Stary, 2018. Zu diesem Thema wird zunehmend geforscht.

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kümmert, die viel Zeit im Kindergarten verbrachten, und nicht so oft und intensiv mit ihnen geredet. Die Beziehung war weniger emotional, es gab grundsätzlich weniger Austausch zwischen Erwachsenen und Kindern. Dann fügt sie hinzu, um den Einfluss der DDR zu relativieren: »So eine Beziehung, wie wir heute zu unseren Kindern führen, ihnen zuzuhören und tatsächlich emotionales Interesse zu haben, ›Was treibt dich um? Was hast du für Sorgen?‹, viel reden, verstehen, daran kann ich mich nicht erinnern.« Ebenfalls wichtig ist, dass die Frauen, weil sie ihr ganzes Leben gearbeitet hatten, eine Rente erhielten, was besonders für geschiedene Frauen sehr wichtig war. Diese Rente war zwar oft nicht sehr hoch, sicherte ihnen aber finanzielle Unabhängigkeit. Auch für Männer waren die Renten nicht sehr hoch. Dazu passt der folgende Witz: »Walter Ulbricht verhört persönlich Leute, die verhaftet wurden, weil sie Witze über ihn erzählt haben. Der erste ist ein Rentner aus Gera, und Ulbricht fragt vorwurfsvoll: ›Sag mal, Genosse, warum erzählst du gemeine Witze über mich? Das ist nicht nett. Dabei geht es dir doch gut in der DDR, nicht wahr? Du bekommst eine gute Rente, nicht wahr?‹ Der Rentner: ›Moment mal, Genosse Ulbricht, der Witz, den Sie mir da erzählen, ist aber nicht von mir!‹«

Nach der Vereinigung machten manche Frauen die Erfahrung, dass auch das DDR-Rentensystem Tücken aufwies, wenn sie nicht aufgepasst hatten. Hannelore Rotbusch wurde nicht darüber informiert, wie sie ihre Auslandsjahre für die Rente anerkennen lassen sollte. Im vereinigten Deutschland wurde diese Zeit nicht berücksichtigt, und als ihr das bewusst wurde, konnte sie wegen Verjährung nicht mehr klagen. Verbittert erinnert sie an die ehemaligen MfS-Offiziere, die vor den Gerichten ihre Dienstjahre anerkannt bekamen. »Und da sind die jubelnd im Gerichtssaal aufgesprungen, die ganzen StasiLeute […][,] die zum Teil auch heute noch sagen, na ja, es war doch klar, wenn einer heimlich die Grenze übertreten will, wird geschossen. Da hat er’s eben riskiert, sein Leben.«

Grundsätzlich machte man sich in der DDR viel weniger Gedanken um die Rente als heute in den neuen Ländern, wo vielen Menschen, die keine Ersparnisse haben, die Altersarmut droht. 193

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Bleibt etwas von der Rolle der Frauen in der DDR im heutigen Deutschland? Grundsätzlich haben Ostdeutsche weniger wichtige Positionen auf Bundesebene (Aufsichtsräte in großen Unternehmen, führende Gewerkschaftsfunktionäre, Universitätsrektoren oder -präsidenten, Verfassungsrichter, Abgeordnete usw.) als Westdeutsche. Eine kürzlich erschienene Studie wirft jedoch ein neues Licht auf die Frage der Gleichberechtigung der Geschlechter:342 Unter den Ostdeutschen mit wichtigen Posten sind mindestens 40 Prozent Frauen – in vielen Bereichen sogar mehr als 50 Prozent –, der Anteil westdeutscher Frauen ist im Vergleich viel geringer. Zusammenfassend kann man also sagen, dass 30 Jahre nach dem Mauerfall die Ostdeutschen auf wichtigen Posten immer noch unterrepräsentiert sind, hierbei die Frauen aber sehr präsent.343 Und je höher der Leitungsposten eines Ostdeutschen ist, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau ihn einnimmt. Nach 2000 ist der Anteil der Frauen in vielen Bereichen gestiegen, bei den ostdeutschen stärker als bei den westdeutschen Frauen. Sieht man sich z. B. die DAX-Unternehmen an, findet man nur vier Ostdeutsche in den Verwaltungsräten, davon sind aber drei Frauen, während es bei den Westdeutschen nur zehn Prozent sind. Nimmt man, um den Fokus zu erweitern, die 100 größten westdeutschen Unternehmen, findet man nur zwei Prozent Frauen in den Verwaltungsräten, bei den 100 größten Unternehmen in den neuen Ländern sind es 25 Prozent. Die Studie belegt es für alle Bereiche: Der Anteil der Frauen unter den Ostdeutschen in den Arbeitgeberverbänden beträgt 50 Prozent, bei den Westdeutschen sind es acht Prozent. An den Spitzen der politischen Parteien ist das Verhältnis 73 zu 27 Prozent, und bei den Rektoren und Präsidenten der größten Hochschulen Deutschlands sogar 100 zu 20  Prozent. Während die westdeutschen Frauen in keinem Bereich 50 Prozent erreichen, gehen die ostdeutschen Frauen oft darüber hinaus. In den Grenzen der allgemeinen Unterrepräsentiertheit der Ostdeutschen in wichtigen gesellschaftlichen Funktionen in Deutschland ist die Geschlechtergerechtigkeit also für die ostdeutschen Frauen viel weiter fortgeschritten. 342 Siehe Michael Schönherr & Olaf Jacobs, 2019. 343 In einigen Bereichen gibt es auf regionaler oder kommunaler Ebene keine Statistiken über die Zahl der Personen, die aus dem Westen bzw. dem Osten stammen, aber es gab Zahlen über den Frauenanteil, und auch da lässt sich feststellen, dass deren Anteil im Osten deutlich höher ist.

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Gesellschaft und Intimleben unter einen Hut bringen

Und wie steht es um die Sexualität? Wenn Ingrid Sharp von der Universität Leeds die deutsche Vereinigung auf dem Gebiet der Sexualität analysiert, spricht sie vom »kalten Krieg«, bei dem »das Orgasmus-Potenzial das atomare ersetzt«.344 Sie betont die Asymmetrie der Vorstellungen in Ost und West zwischen Männern und Frauen: Während ostdeutsche Frauen die westdeutschen Männer zum Träumen bringen, weil sie bei ihnen eine größere Offenheit vermuten, genießen ostdeutsche Männer in den Augen westdeutscher Frauen gesellschaftlich wie sexuell kein großes Ansehen. Woher kommt die Vorstellung von der größeren sexuellen Freiheit der ostdeutschen Frauen? Lässt sie sich wissenschaftlich belegen – und wenn ja, warum war die erotische Temperatur auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs höher? Kurt Starke war Sexualwissenschaftler in der DDR und wurde später als »DDR-Sexpapst« bezeichnet, weil er lange über die Jugend und die Sexualität geforscht hat. Für ihn war die körperliche Liebe einer der großen Verlierer der Vereinigung. Starke geht davon aus, dass man in der DDR keine Angst vor Kindern und deshalb ein entspannteres Verhältnis zur Sexualität hatte (obwohl es die Verhütung natürlich auf beiden Seiten der Mauer gab). Im Osten bekamen Studentinnen öfter Kinder als heute. Das lag vor allem an der Sozialpolitik der DDR, die eine Betreuung der Kinder anbot, sodass Studium oder Berufsleben der jungen Eltern nicht gestört wurden. Auch die Großeltern konnten sich vom Betrieb freistellen lassen, wenn die Enkel krank waren. In den 1990er Jahren haben Fahrräder die Kinderwagen vor den Universitäten und Studentencafés ersetzt. 1972 wurde der Schwangerschaftsabbruch in der DDR legalisiert.345 Danach trat ein millionenschweres Programm in Kraft, das unter anderem Studentinnen mit Kindern förderte. Anders als damals im Westen üblich, bedeutete auch die Ehe nicht, dass die Frau zu Hause blieb. In der DDR heiratete man oft sehr jung, um Anrecht auf eine Wohnung zu erhalten. In den 1970er und 1980er Jahren waren rund 50 Prozent der Studenten 344 Siehe Ingrid Sharp, 2004, S. 348–365. 345 Hinzuweisen ist dabei auf ein in der DDR-Geschichte einmaliges Vorkommnis: Das Gesetz über den Schwangerschaftsabbruch wurde nicht einstimmig angenommen: 14 Abgeordnete der Volkskammer stimmten aus religiösen Gründen dagegen, acht enthielten sich.

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verheiratet und 40 Prozent Eltern.346 Kinder von jungen Paaren um die 20 waren keine Ausnahme und wurden vom Staat ausdrücklich gefördert. Kurt Starke sagt, dass nach der Vereinigung Elternschaft als soziales Risiko galt, vor allem für die Frauen. In der Marktwirtschaft ist es schwierig, ein Hochschulstudium zu absolvieren, wenn man ein kleines Kind hat. In der DDR war das möglich, weil der Staat sich um die finanziellen und praktischen Probleme kümmerte, aber auch, so Starke, »weil alle mitziehen, vom Kindesvater über den mitschreibenden Kommilitonen […] bis zu den Hochschullehrern. Also im Grunde die ganze Gesellschaft.«347 Das Szenario, das man manchmal im Westen findet – ein Mann macht Karriere, seine Frau erzieht die Kinder, und sobald sie aus dem Haus sind, lässt er sich scheiden, heiratet eine Jüngere und lässt seine 50-jährige Frau mittellos zurück –, war in der DDR schwer vorstellbar. »Da fehlte die Attraktion des Geldes«, erklärt Starke. Deswegen ließ sich kaum eine Frau von einem älteren Mann verführen. Für die Frauen im Osten war es selbstverständlich, zu arbeiten und sich beruflich wie sexuell als gleichberechtigt anzusehen. Die Verteilung des Geldes hat eine Auswirkung auf die Verteilung der Macht. Die männliche Dominanz war also weniger stark als im Westen, ja sie wurde oft als widersinnig angesehen. In einem Artikel mit dem vielsagenden Titel »Der planwirtschaftliche Orgasmus« schreibt die Journalistin Nicole Althaus: »Nur wer die Kontrolle über sein Leben hat, kann die Kontrolle im Bett aufgeben.«348 Die liberale SED-Politik in Fragen der Sexualität hatte jedoch durchaus Grenzen. Die Wissenschaftlerin Josie McLellan untersucht die Beziehung zwischen Demokratie und sexueller Revolution349 und hebt dabei andere maßgebliche Faktoren wie Urbanisierung, Wohlstand, Säkularisierung und soziale Sicherheit für eine breitere sexuelle Revolution in Europa, Ost wie West, am Ende der 1960er Jahre hervor. Sie benennt auch die typisch ostdeutschen Aspekte wie das ungezwungene Gespräch über dieses Thema in der DDR und die materiellen Bedingungen, die sich von denen in Westeuropa unterschieden. Die DDR hatte ein »geburtenförderndes und heteronormatives« Programm und war sehr liberal, was z. B. die Freikörperkultur anging, aber sehr repressiv gegenüber Pornografie und bei der Überwachung der Homosexuellen. 346 347 348 349

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Siehe Kurt Starke, 2019. Ebd. Nicole Althaus, 2017. Siehe Josie McLellan, 2019.

Feminismus und Geschlechtergerechtigkeit

Hannelore Rotbusch hatte die Gelegenheit, in den Ferien im westlichen Ausland einen relativ bekannten DDR-Schauspieler zu erleben, der schwul war und Treffpunkte von Homosexuellen aufsuchte, wovon sie noch nie gehört hatte, weil das in der DDR völlig unbekannt war. Bei diesem Aufenthalt dachte Hannelore über die Unsichtbarkeit der Homosexuellen und die homophobe Haltung in der DDR nach, die sich allerdings nicht von der Situation im Westen zu dieser Zeit unterschied. Die Straffreiheit für Homosexualität ab 21 Jahren wurde in der DDR 1957 beschlossen, 1986 wurde das Alter auf 18  Jahre herabgesetzt.350 Trotzdem erlebten Homosexuelle, Männer wie Frauen, Homophobie (die manchmal sogar, wie Josie McLellan zeigt, auf der Vorstellung beruhte, Homosexualität sei eine Krankheit351) und wurden oft von der Stasi überwacht. Jens Bisky erzählt in seiner Autobiografie, dass Homosexuelle bei der Armee schikaniert wurden, weshalb er sich hütete, sich dort zu outen. Josie McLellan relativiert die Spaltung zwischen Ost und West und verweist auf Kontakte über die Grenze hinweg, mit deren Hilfe Texte über Homosexualität (Romane, Zeitschriften, Zeitungsartikel usw.) in den Osten gelangten. Zugleich betont sie die Besonderheiten der ostdeutschen Schwulenbewegung und schlussfolgert, dass das Schweigen über dieses Thema nicht nur zur Bildung aktiver Schwulengruppen führte, sondern auch zu einem größeren Zusammenhalt und einer weniger fragmentierten Szene als im Westen. Erst Anfang der 1980er Jahre gab es unter dem Dach der evangelischen Kirche erste Homosexuellen-Arbeitskreise. 1985 gründete sich an der Humboldt-Universität ein Arbeitskreis »Homosexualität«, aus dem der »Sonntagsclub« entstand, die erste offizielle, vom Staat akzeptierte Organisationsform für Schwulen und Lesben. Der Staat konnte nicht mehr leugnen, dass es in der DDR Homosexuelle gab. Gegen Ende der 1980er Jahre häuften sich die Ausreiseanträge von Männern und Frauen, die als Begründung angaben, sie könnten ihre Homosexualität nicht ausleben. Das ist interessant, weil sie offiziell nicht verboten war. Es war nicht antisozialistisch, schwul oder lesbisch zu sein. Bekämpft wurde nur die Abweichung von der heterosexuellen Norm. Deshalb war die Homosexualität in den 1980ern viel politisierter als im Westen.352 Die Ironie der Geschichte wollte es, dass 350 Die Gesetzgebung war fortschrittlicher als in der Bundesrepublik, wo Homosexualität ab 21 Jahren 1969 und ab 18 erst 1973 straffrei wurde. 351 Siehe Josie McLellan, 2019, S. 222. 352 Siehe Jürgen Lemke, 2013.

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Aufwertung(en)

der erste DEFA-Film über dieses Thema, Coming Out von Heiner Carow, am Abend des 9. November 1989 ins Kino kam. Kristen R. Ghodsee untersucht die in den sozialistischen Ländern durchgeführte Forschung über die Gleichberechtigung von Frauen und Männern hinsichtlich der Sexualität.353 Sie zeigt uns ein anderes Beispiel für die Asymmetrie zwischen Ost und West in der Geschlechterfrage. Schon 1952 begannen tschechoslowakische Sexualwissenschaftler ein staatlich finanziertes Forschungsprogramm über den weiblichen Orgasmus. Katerina Liskova, Professorin an der Masaryk-Universität in Brno, stellte ab 1961 Ergebnisse dieser Studie in einer Vorlesungsreihe über die weibliche Lust vor. Im Westen gab es zu jener Zeit nichts Vergleichbares. Die Frage der Geschlechtergerechtigkeit in der Sexualität bleibt ein komplexes Thema, bei dem auch der feministische Charakter der DDRGesellschaft etwas relativiert werden muss. Josie McLellan unterstreicht, dass sogar das sexuelle Verlangen vom Staat reguliert und oft kontrolliert wurde, um den Erwartungen der Partei zu entsprechen. Am Beispiel der Fotos in der Zeitschrift Das Magazin zeigt sie, dass trotz feministischer und emanzipatorischer Parolen die Frauen dem männlichen Blick ebenso als Sexualobjekte dargeboten wurden wie im Westen. Insgesamt waren die Frauen dennoch unabhängiger als in der Bundesrepublik. Ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit hatte natürlich soziale und auch sexuelle Auswirkungen, sie erleichterte die »erotische Selbstbestimmung«, von der McLellan spricht. Zudem war die Pille in der DDR ab 1966 kostenlos verfügbar und die Gesetzgebung für Schwangerschaftsabbrüche – wie erwähnt – sehr liberal. Ein Volk ohne politische Freiheit suchte vielleicht eine Ausflucht in der Sexualität. In der DDR gab es nicht den ständigen Konsumdrang, es gab einen verbreiteten Rückzug ins Privatleben, möglicherweise auch in Richtung Sex. Man kann also die Hypothese aufstellen, dass Sexualität und Sozialismus von Natur her gut zusammenpassen. Die folgende Kleinanzeige aus der Berliner Zeitung vom 10. November 1989 könnte das illustrieren: »Einsamer Kater, 28/1,78, dunkelblond, sportl. Fig., sucht nettes, schlankes Schmusekätzchen pass. Alters u. Größe (Bedingung m.-l. WA).« Die Abkürzung »m.-l. WA« für »marxistisch-leninistische Weltanschauung« fand sich während der Honecker-Ära in vielen Kontaktanzeigen, wie die Ausstellung »Liebe, Sex & Sozialismus« im DDR-Museum in Berlin 2019 zeigte. 353 Siehe Kristen R. Ghodsee, 2017, 2019.

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Die Heimat

Es ist schwierig, eine eindeutige Bilanz für das Verhältnis zwischen Frauen und Männern und die Rollenverteilung zwischen ihnen in der DDR zu ziehen. Die Vielfalt der Situationen und Erfahrungen und die Frage nach den Leistungen der DDR in Sachen Gleichberechtigung führt zu zahlreichen Widersprüchen wie dem zwischen realer Emanzipation, vor allem durch die Arbeit, und der Fortdauer des Patriarchats oder zwischen Lohngleichheit und der Reduktion der Frauenfrage auf eine Klassenfrage, was ein eindeutiges Urteil schwierig macht. Es gibt keine endgültige Antwort auf die Frage, ob die DDR-Gesellschaft feministischer als die der Bundesrepublik war. Ein Punkt findet sich jedoch in mehreren Interviews mit Frauen wieder: die Überzeugung, dass die Frauen in der DDR, vor allem Geschiedene und alleinerziehende Mütter, alles in allem ein einfacheres Leben hatten.

Die Heimat Worin unterscheiden sich die Ostdeutschen von ihren Mitbürgern im Westen? Was ist ihre Besonderheit, ihre kulturelle Identität? Was macht 30 Jahre nach dem Mauerfall ihre Gemeinsamkeit aus? Die Frage der Gemeinsamkeit ist vielschichtiger, als man annehmen könnte. Man hört oft, es habe keine territoriale Kohärenz oder Logik für die Grenzen der DDR gegeben. In den westlichen Geschichtsbüchern wird sie als »Teilstaat« in den Grenzen der sowjetischen Besatzungszone präsentiert, wie sie nach dem Krieg zwischen den Alliierten festgelegt worden war. Die DDR-Bürger hatten eine weniger belastete Beziehung zu ihrer Nationalität als die Westdeutschen, die durch die 68er-Bewegung und die Diskussionen über die kollektive Verantwortung für den Nationalsozialismus geprägt waren. Das Konzept der DDR beruhte trotz des von der SED gepredigten Internationalismus im Rahmen der weltweiten kommunistischen Bewegung auf der Vorstellung einer nationalen Identität: Man war DDR-Bürger, man lebte im »ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden«.354 Es ist kein Zufall, dass das Wort »Heimat« in den Gesprächen oft auf354 Das erklärt der Soziologe Steffen Mau sehr gut in seiner autobiografischen Studie über den Rostocker Vorort, in dem er aufgewachsen ist. Siehe dazu Steffen Mau, 2019.

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Aufwertung(en)

taucht. Heimat bezeichnet sowohl das Land, in dem man lebt, wo man »daheim« ist, also auch das Dorf, in dem man geboren und aufgewachsen ist, manchmal auch nur das Elternhaus. Und es wird oft als Synonym für ein Gefühl der Entfaltung, des Glücks, der Erfüllung, der Vertrautheit, des Wohlbehagens verwendet. Wenn man fern der Heimat ist, empfindet man deshalb »Heimweh«. »Heimat« ist kein politisches Konzept wie »Vaterland«, die »Heimat« hat keine Fahne, keine Regierung, keinen Präsidenten, keine Hauptstadt, keine nationalen Symbole. Sie ist gewissermaßen das Land, das man in sich hat. Viele Ostdeutsche benutzen diesen Begriff rückblickend, um ihre Bindung an die DDR zu beschreiben, ein Land, das sie in sich tragen, vor allem, seitdem sie es verloren haben. Die Journalistin Maike Nedo beschreibt dieses Gefühl sehr anschaulich: Der Bahnhof des Dorfes in Sachsen, in dem sie aufgewachsen ist, von dem sie in ihren Kinderträumen aufbrechen wollte, um ihrem Leben entgegenzufahren, existiert nicht mehr.355 Der Roman Das Provisorium von Wolfgang Hilbig erzählt vom Heimweh derer, die wie Nedo Ostdeutschland verlassen haben, um im Westen zu leben. Der Roman hat sie sehr berührt. »Ich las den Roman in nur einer einzigen Nacht vom Anfang bis zum Ende. So wie man ein Glas eiskaltes Wasser in sich hineinstürzt, wenn man fast am Verdursten ist.«356 Karin Günther denkt, wenn ihre Eltern in der DDR geblieben wären, hätte sie »vielleicht auch eine Jugend gehabt«. Stattdessen war sie im Westen ständig damit beschäftigt, vorauszuplanen, voranzugehen, sich einen Platz zu suchen. Das Gefühl der Entwurzelung hat sie nie verlassen. Sie spricht wie andere vom Verlust ihrer Heimat, der ständigen Traurigkeit und der Sehnsucht nach ihrem Leben und ihren Freunden im Osten: »Ich hatte Freundinnen, die dort geblieben sind.« Sie haben viel telefoniert. Wenn Karin den Alkoholismus ihres Vaters und den endgültigen Bruch mit ihm erwähnt, fragt sie sich, ob das alles ohne die Wende oder wenn sie alle in der DDR geblieben wären einen anderen Verlauf genommen hätte. Sie gibt der Vereinigung eine Mitschuld an der Auflösung ihrer Familie. Anfang der 1990er kam sie mit ihrem Freund zurück in die Stadt, in der sie aufgewachsen war. Das war eine große Erleichterung, das Gefühl, in bekanntes und vertrautes Territorium zurückzukehren, Menschen zu treffen, die man sofort versteht, »da gibt es Erlebnisse, die man gemeinsam 355 Siehe Maike Nedo, 2018. 356 Ebd.

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hat, über lange Jahre hinweg«. Für sie ist der Ostdeutsche jemand, der die Dinge spürt, der sich durchschlägt, aber oft unentschlossen ist, was ihn vom Westdeutschen unterscheidet. Hier erkennt man deutlich den Versuch, zu verallgemeinern, sich zu unterscheiden, sich gegen eine Art von Persönlichkeit zu definieren, die den Anderen, den Westdeutschen, zugeschrieben wird. Mit ihrer Rückkehr fand sie ihre Heimat wieder, wie sie mehrmals sagt. Aber die Solidarität unter Ostdeutschen hatte auch ihre Grenzen. Als sie die DDR verließ, hatte die Familie alles zurücklassen müssen und viel an Freunde und Bekannte »verhökert«. Als sie vier Jahre später zurückkam, war niemand bereit, ihr irgendetwas zurückzugeben. Trotzdem war die DDR so organisiert, dass sie die Solidarität zwischen den Bürgern förderte, um durch gegenseitige Hilfe die Macht des Staates im Alltag zu begrenzen, aber auch weil alle DDR-Bürger gehalten waren, sich ehrenamtlich zu engagieren. Diese Erfahrung hat Ricarda Schönherr gemacht: Sie war 16 Jahre lang Mitglied der Jugendhilfekommission und des Jugendhilfeausschusses ihrer Stadt. Diese Tätigkeit empfand sie als sehr befriedigend, sie war begeistert davon, was sie dort für die Jugendlichen tun konnte. Außerdem konnte sie damit ihr mangelndes politisches Engagement rechtfertigen. Man kann vermuten, dass die ehrenamtliche Tätigkeit den gesellschaftlichen Zusammenhalt und letztlich auch die Identifikation mit dem Staat als Heimat gestärkt hat. Die Wochenzeitung DIE ZEIT titelte am 5. Juli 2018: »Viele fühlten sich heimatlos«. Im dazugehörigen Artikel befragte Jana Hensel die Wirtschaftsmediatorin und Biografietrainerin Cornelia Stieler und den Seelsorger Hans Bartosch. Cornelia Stieler erzählt darin, dass die Wende eine außerordentlich schwierige Zeit für sie war, eine »sehr gewaltige Erfahrung«. Ihre Klienten sind oft frühere DDR-Bürger, die immer noch mit den Entwertungserfahrungen aus dieser Zeit hadern. »Ich stoße immer wieder auf unverarbeitete Wende- und Nachwendeerlebnisse.« Die Schwierigkeiten gehen bis heute weiter. Bei vielen führt die Ablehnung des heutigen Deutschlands zu einer Identifikation mit der Heimat DDR, wo das Leben rückblickend einfach gewesen zu sein scheint. Cornelia Stieler hat wie ausnahmslos alle ihre Freunde nach dem Mauerfall ihre Arbeit verloren, »da blieb kein Stein auf dem anderen«, der Umbruch war brutal. Später musste sie »fünf- oder sechsmal neu anfangen«, sich ständig neu erfinden, infrage stellen und an Arbeitsstellen gewöhnen, die ihr weniger gefielen und die nicht mehr ihrer Qualifizierung entsprachen. Der psychische Druck war groß. 201

Aufwertung(en)

Eine der schmerzlichsten Erfahrungen machte sie, als sie eine Stelle in Bayern annehmen musste. Sie arbeitete in München und kam am Wochenende nach Hause, wie es bis in die 2000er Jahre in den neuen Ländern sehr häufig der Fall war. Ihre beiden kleinen Kinder und ihr nach einem schweren Unglück arbeitsunfähiger Mann blieben die ganze Woche allein. Diese Situation war belastend, und die fehlende Empathie der Westdeutschen für ihre persönliche Situation kränkte sie sehr. Einmal sagte eine Münchner Kollegin, die erfahren hatte, dass sie nicht bei ihren Kindern lebte: »Ja, bei uns san die Familien noch in Ordnung.« Da musste Cornelia Stieler tief Luft holen. Hier finden wir das Thema der Rabenmutter wieder. Heute ist ihr bewusst, wie sehr diese Haltung, diese Kränkungen, diese Demütigung sie jahrelang belastet haben. Als Coach versteht sie sehr gut, was ihre Klienten empfinden, wenn sie von den ständigen Entwertungen, die sie erlebt haben, und vom Gefühl der Heimatlosigkeit sprechen. Die Enttäuschung ging mit der Vertiefung des Ost-West-Grabens einher. Heute, sagt sie sich, dass diese Erfahrungen sie zu der gemacht haben, die sie ist. Auch Hans Bartosch erzählt, dass er viele Krisenmomente erlebt hat. Er stammt aus Westdeutschland. Nach einer Weiterbildung 2011 in Brandenburg bewarb er sich auf eine Stellenausschreibung in Magdeburg. Einer der Ost-West-Unterschiede, die ihm täglich ins Auge gesprungen sind, war die Fähigkeit der Ostdeutschen, einfach etwas Neues anzufangen, ohne lange nachzudenken, weil sie dazu gezwungen waren, es nach dem Verlust ihrer Heimat ein erstes Mal zu tun. Sie haben also die Überzeugung, dass die Dinge sind, wie sie sind, aber jederzeit verschwinden können. Die Erfahrung des Westdeutschen im Osten interessiert uns besonders unter dem Aspekt der Wahrnehmung der DDR als Heimat. Bei einer Weiterbildung vor seiner Tätigkeit in Magdeburg machte er den Fehler, ältere Frauen zu fragen, ob sie berufstätig waren. Sie hatten ihm einfach nicht geantwortet, denn in der DDR war es klar, dass sie arbeiteten. Bevor er nach Magdeburg zog, hatte er in Düsseldorf gearbeitet, und er erinnert sich, dass man ihn »mit einer Mischung aus Bewunderung und Mitleid« anschaute, als er beschloss, in Sachsen-Anhalt als Seelsorger zu arbeiten. »Hat der es wirklich nötig, in den Osten zu gehen?«, fragte man sich. Die Ostdeutschen gingen wiederum davon aus, dass er im Westen gescheitert sei. Er findet die Ostdeutschen grundsätzlich »geschmeidig und viel unkomplizierter als viele Westdeutsche«. Als Seelsorger vertraut man ihm regelmäßig schmerzhafte Geschichten an, wie ein Bauarbeiter, dem »sein ganzes Leben binnen weniger Monate zusammengeschmolzen« sei. Er gibt 202

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zu, dass er sich den radikalen Umbruch der Vereinigung in den Biografien nur sehr abstrakt vorstellen kann, dann versucht er, einfach nur den Berichten zuzuhören, in denen Arbeitslosigkeit, Entwertung der Berufslaufbahn, nicht-anerkannte Diplome und das Verschwinden bestimmter Berufe auftauchen. Bald 30 Jahre nach der Vereinigung ist er immer noch fasziniert von der Fähigkeit der Ostdeutschen, binnen Sekunden zu erkennen, dass er »ein Wessi« ist: »Ein Freund von mir sagt, wegen meiner Brille, aber ich bin mir da nicht sicher. Die Leute merken es einfach. Bestimmte Worte, eine bestimmte Haltung. Keine Ahnung. Sofort ist es klar.« Sie spüren, dass er nicht zu ihrer Heimat gehört. Bei Hannelore Rotbusch ist der Begriff »Heimat« nicht direkt mit der DDR verbunden, sondern eher mit ihrer familiären Herkunft. Nach dem Tod ihrer Mutter 2000 fuhr Hannelore in ein Dorf in der Nähe von Ratibor, woran sie noch Kindheitserinnerungen hatte. Das protestantische Dorf war 1742 Preußen zugesprochen worden und 1922 wieder polnisch geworden. Das Haus ihrer Großeltern war nicht mehr da, aber eine Frau nahm sie mit in ihr Elternhaus. »War alles noch da. Runtergekommen, verkommen, alles, ganz schlechter Zustand.« Am Anfang hatten die Polen Angst, die Deutschen würden kommen, um Ansprüche zu stellen. Trotzdem wurden sie sehr herzlich empfangen. Am Tag ihrer Ankunft wurde in der neuen katholischen Kirche des Dorfes für sie eine Messe gelesen. »Das war berührend.« Hannelore hat etwas Erde vom Grundstück ihrer Großeltern mitgenommen, um sie auf das Grab ihrer Eltern zu legen. Sie spricht von diesem Dorf als ihrer Heimat. Zu DDR-Zeiten hätte sie nie daran gedacht, die Reise zu machen, erst später, in den 1990ern, hat sie das Bedürfnis verspürt. Grundsätzlich wurden alle Lebensläufe der Ostdeutschen durch das historische Ereignis der Vereinigung tief erschüttert, anders als bei den Westdeutschen, die für die Umwälzungen der letzten 30 Jahre oft völlig unempfänglich sind. Neben den normalen Schmerzen und Freuden eines jeden Lebens erklärt dieser Zugriff der Geschichte, »die dich dahinführt, wo sie will«, um Hannelores Satz aufzunehmen, das Gefühl der Entwurzelung und des Verlustes der Heimat. Vielleicht ist das ein Grund für den späteren Erfolg der Serie Weissensee, die in den 1980er und 1990er Jahren in Ostberlin spielt. Die Fernsehserie erzählt sehr realistisch vom Alltag der DDRBürger. Als 2010 in der ARD die erste Folge lief, gab es wenige Zuschauer, vielleicht war es noch zu früh. In der ersten Staffel lernt man das Leben der Familien Kupfer und Haus203

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mann Anfang der 1980er Jahre kennen. Bei den Kupfers arbeiten Vater Hans und Sohn Falk für die Staatssicherheit, der andere Sohn Martin für die Volkspolizei. In der Familie Hausmann singt die Mutter Dunja kritische Lieder und will ihre Tochter Julia zu einer freien und unabhängigen Frau erziehen, die sich nicht um die Bevormundung durch den Staat schert. Als sich Martin und Julia kennenlernen und verlieben, geraten die Gewissheiten der beiden Familien ins Wanken. Hans offenbart eine neue Seite, wird menschlicher und empathischer, anders als sein Sohn Falk, der gegen alle und jeden intrigiert, um Karriere zu machen. Hans und Dunja waren vor langer Zeit ein Paar, seither schützt Hans Dunja vor den Schikanen der Stasi. Falk ist zerrissen zwischen seiner Loyalität gegenüber dem Staat und seinem Bruder. Julia wird schwanger, sie wird wegen Landesverrat verhaftet, verliert ihr Kind bei der Geburt im Gefängnis und sieht Martin nicht wieder. Die zweite Staffel (2013) spielt 1987. Dunja arbeitet inzwischen mit der Stasi zusammen, um ihrer Tochter zu helfen. Martin ist dank der Stellung seines Vaters dem Gefängnis entgangen, aber er hat mit seiner Familie gebrochen und versucht verzweifelt, Julia wiederzusehen. Hans befürwortet Gorbatschows Reformen, anders als seine Frau Marlene und sein Sohn Falk. Julia kommt traumatisiert aus dem Gefängnis zurück und nimmt ihre Beziehung zu Martin wieder auf. Eines Tages trifft sie in einer Wäscherei zufällig die Gynäkologin, die sechs Jahre zuvor bei der Todgeburt ihres Kindes dabei war. Die Frau offenbart ihr, dass das Kind gelebt hat, weigert sich aber aus Angst vor der Stasi, ihr mehr zu erzählen.357 Als Julia ihr bis nach Hause folgt, um sie zu zwingen, ihr alles zu sagen, ist Falk schon informiert und erwartet sie. Nach einem heftigen Streit wird sie von einem Lastwagen überfahren und stirbt im Krankenhaus. Ihre Mutter und Martin sind verzweifelt. Bei der Beisetzung fotografieren zwei Stasi-Informanten die Anwesenden, was eine Gewaltspirale auslöst. Durch die Darstellung des Alltags, des gesellschaftlichen Umgangs, aber auch der Risse, die während der Diktatur durch viel Familien gingen, hat Weissensee bei vielen Zuschauern die Bindung an die DDR als Heimat gestärkt. Die Serie hat die Erfahrungen der DDR-Bürger dargestellt und damit bei vielen eine Katharsis ermöglicht, die an die Gefühle von Entwurzelung und Heimatverlust anknüpft, die viele Ostdeutsche erlebt haben.358 357 Zu politisch motivierten Adoptionen siehe Arp et al., 2018. 358 Der Berater der Serie war Ilko-Sascha Kowalczuk.

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Der Untertitel des Romans Der Zimmerspringbrunnen von Jens Sparschuh, 1995 erschienen, lautet »Heimatroman«.359 Der Roman erzählt von den Enttäuschungen eines Arbeitslosen, der schließlich in einer Firma eingestellt wird, die Zimmerspringbrunnen herstellt: Zunächst will keine der ostdeutschen Familien, die er aufsucht, einen Brunnen kaufen. Erst als er anfängt, Brunnen mit den Umrissen der DDR zu bauen und einen Miniatur-Fernsehturm, Symbol des früheren Ost-Berlins, aufstellt, explodiert der Verkauf. Der Autor zeigt amüsant, wie man sich an Symbole der Heimat klammert, um der Angst vor dem Unbekannten zu begegnen.

Die DDR als Erbe Die Diskussionen um das DDR-Bild tauchen auch 30  Jahre nach dem Mauerfall immer wieder auf, wenn eine Polemik im Osten als Provokation empfunden wird. Das trägt zur Neubewertung der Vergangenheit und der Neudefinition der DDR als Erbe bei. In Leipzig gab es 2018 eine lebhafte und kontroverse Diskussion. Wie in vielen deutschen Rathäusern gibt es auch dort eine Galerie mit Porträts »aller demokratisch gewählten Leipziger Oberbürgermeister« bzw. derer, die von der Stadt als solche angesehen werden. Die 2018 vom sozialdemokratischen Bürgermeister Burkhard Jung eingeweihte Galerie zeigt die Porträts von sieben Bürgermeistern, die zwischen 1877 und 1937 und zwischen 1990 und 2005 im Amt waren. Anne-Marie Pailhès verweist in einem Artikel über diese Galerie auf die Inkohärenz bei der Definition von »Demokratie«, die man der DDR abspricht, nicht aber der Zeit, in der die Frauen kein Wahlrecht besaßen und die Reichsten bevorzugt wurden: »So wird das Datum für den Beginn der Demokratie auf 1877 festgesetzt, also im Bismarckschen Deutschen Reich, als die Stadt zum ersten Mal den Status einer Großstadt erhielt und von einem Oberbürgermeister regiert wurde. Er war zwar gewählt, aber nach dem Mehrklassenwahlrecht, wodurch die reichen Bürger stärker vertreten waren. […] Die heutige Stadtregierung (an deren Spitze noch nie eine Frau stand) sah offenbar im Ausschluss der 359 Siehe Jens Sparschuh, 1995.

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halben Wählerschaft, der Soldaten und der Bedürftigen, die von der Wohlfahrt lebten, keine Einschränkung der Demokratie. Deshalb hängt das Porträt von Otto Georgie am Anfang der ›demokratischen‹ Galerie.«360

Es wurde beschlossen, die Porträts der Bürgermeister während des »Dritten Reichs« nicht aufzuhängen, mit der bemerkenswerten Ausnahme des konservativen Monarchisten Carl Friedrich Goerdeler, der von 1930 bis 1937 Oberbürgermeister von Leipzig war. Er hatte das nationalsozialistische Regime zunächst unterstützt und war dann in den zivilen Widerstand gegangen. Zunächst traf er eine ganze Reihe von Entscheidungen zugunsten des Regimes, wie die Benennung einer Straße als »Hitlerstraße« und die Beseitigung aller Straßennamen, mit denen in der Weimarer Republik sozialdemokratische Persönlichkeiten wie Karl Liebknecht und August Bebel geehrt worden waren. Schon 1933 würdigte Leipzig – unter seiner Führung – verschiedene Naziführer mit Straßennamen. Später distanzierte er sich von der Hitlerdiktatur, trat 1937 zurück und schloss sich dem Widerstand an – eine mutige Entscheidung, die ihn das Leben kostete. 1945 wurde er in Berlin hingerichtet. Dieser Persönlichkeit kann man also im Lichte seiner späteren Entwicklung frühere Fehler verzeihen. Für die Leipziger Oberbürgermeister während der DDR-Zeit gilt das allerdings nicht. »Nun ist es offenbar möglich, die Augen vor dieser zwiespältigen Vergangenheit zu verschließen, während eine ›rote Vergangenheit‹ immer noch nicht durchgeht. Der Vergleich der Diktaturen, den man beendet glaubte, wird wieder aktuell. Die Bürgermeister der DDR sind also nicht präsentabel, sie werden in den Erklärungen des heutigen Bürgermeisters mit den NaziBürgermeistern gleichgesetzt.«361

Vor allem um eine Persönlichkeit wurde gestritten: Der Sozialdemokrat Erich Zeigner war von 1945 bis 1949 Oberbürgermeister von Leipzig, also während der Zwangsvereinigung der SPD mit der KPD zur SED in der sowjetischen Besatzungszone. Zeigner war in der Weimarer Republik und nach 1945 stets für die Annäherung an die Kommunisten eingetreten. Kaum aus dem Konzentrationslager Buchenwald befreit, ernannte ihn der sowjetische Militärkommandant 1945 zum Bürgermeister, 1946 wurde 360 Anne-Marie Pailhès, 2018. 361 Ebd.

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er durch eine Wahl bestätigt. Bei den Leipzigern war er sehr beliebt. »Er genoss bei der Bevölkerung hohes Ansehen und mehrere öffentliche Plätze sind nach ihm benannt. Bis heute gibt es in seinem Wohnhaus ein kleines Museum.«362 Natürlich spaltete der Streit um seinen Ausschluss aus der Galerie Linke und Rechte. Die Linke verlangte, er müsse aufgenommen werden, während CDU und FDP entschieden dagegen waren und die Linke als SED-Erben beschimpften. Diese Debatte hat mehr als nur anekdotischen Wert, sie zeigt, dass sich an der Bewertung der DDR-Vergangenheit bis heute die Geister scheiden. Man möchte mit dieser Vergangenheit Tabula rasa machen, indem man an der Parallele zwischen nationalsozialistischer und kommunistischer Vergangenheit festhält, anstatt ihre Legitimität in der deutschen Geschichte zu akzeptieren. Eine ähnliche Frage stellte sich bei der Diskussion um die Zukunft des Palastes der Republik in Berlin. Vor einigen Jahren haben wir die Ergebnisse einer Studie über Flugblättern zu Verteidigung des Gebäudes präsentiert.363 Darin erklärten wir, dass das Gebäude ohne großen architektonischen Wert in der DDR als Sitz der Macht ein eher negatives Image hatte, seine Symbolik sich jedoch stark gewandelt hat, bis es zum Emblem des Widerstandes gegen eine Vereinigung wurde, die für manche den Interessen der DDR-Bürger widersprach. Diese Bedeutungsverschiebung364 war möglich, weil der Palast der Republik auch Kunstgalerie und Veranstaltungsort war, nach dem Vorbild der Volksheime, wie sie die Arbeiterbewegung Mitte des 19. Jahrhunderts gründete. In der Diskussion um seinen Abriss wurde er zum Monument, in dem sich Architektur und Erinnerung auf ganz spezielle Weise vereinten. Ab 2004 gab es Theatervorstellungen und künstlerische Events (z. B. die Fahrt durch den gefluteten Palast in Schlauchbooten oder ein Theaterstück von Frank Castorf mit Fassadenprojektionen als »vierte Wand«), Infragestellungen des Konsenses um den notwendigen Abriss, dem die Wiedererrichtung des alten Berliner Schlosses folgen sollte, auf dessen Ruinen er 1976 errichtet worden war. Man denkt an den Satz von Pierre Chaunu: »Gegen das Vergessen empört sich mein ganzes Sein.«365 Hier kommt noch eine weitere Dimension ins Spiel, nämlich der Kampf gegen die Abschaffung, nicht nur gegen 362 363 364 365

Ebd. Siehe Élisa Goudin-Steinmann, 2014, S. 75–86. Siehe Amelie Deuflhard et al., 2006. Paul Veyne & Ivan Jablonka, 2014.

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das Vergessen. Der Beschluss, das einstige Hohenzollernschloss anstelle des Palastes der Republik wieder aufzubauen, war ein historisches Hin-undHer. Am 4. Juli 2011 beschloss der Haushaltsausschuss des Bundestages ohne die Vertreter der Linken die Freigabe von insgesamt 595 Millionen Euro für den Wiederaufbau des Berliner Schlosses, das 1950 auf Befehl der Ulbricht-Regierung abgerissen worden war, weil es als Symbol des Adels, der Hohenzollern-Dynastie und des militaristischen Preußens galt, das Deutschland in die Katastrophe des Nationalsozialismus geführt hatte. Die Arbeiten begannen am 12. Juni 2013.366 Der Abriss des Palastes der Republik lässt sich wie eine Metonymie der Diskussion über die Vereinigung selbst lesen. Während sein Abriss als Zeichen seiner Bedeutungslosigkeit für manche selbstverständlich schien, sahen andere darin das absolute Desinteresse an der DDR. In der Bundesrepublik wurde die Vereinigung allgemein als Entscheidung gegen den Sozialismus verstanden, und diese Logik findet man in gewisser Weise in der Entscheidung für den Wiederaufbau des Schlosses wieder: die DDR abreißen und zur Vergangenheit zurückkehren, auch wenn diese Vergangenheit Preußen, den Adel, das Kaiserreich und den Militarismus symbolisiert. Für Claire Colomb ist dieses Projekt eine symbolische Rache am SED-Regime: »Viele westdeutsche Politiker wollen die Auslöschung aller Zeichen der DDR-Ära aus der städtischen Landschaft, die unerwünschte Symbole einer ›Abweichung‹ in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands repräsentieren.«367 Durch diese besondere Lesart wird der Palast der Republik zum Monument, zum unschuldigen Opfer der Geschichte. Dieses architektonische Erbe der DDR zu retten, hieß für seine Verteidiger, den Platz der DDR in der Geschichte Deutschlands anzuerkennen, zuzugeben, dass sie wirklich existiert hatte. »Eine Stätte haben heißt, stattgefunden haben«, schrieb der Autor und Psychoanalytiker Gérard Wajcman. Dabei fehlte es nicht an Ideen und Entwürfen, um dem Palast der Republik neues Leben einzuhauchen. Der New Yorker Architekt Gordon Matta-Clark entwickelte z. B. das Projekt Slice der Republik. Er schlug 2009 vor, den Palast der Republik zu erhalten, ihn aber diagonal zur Straße Unter den Linden in drei Teile zu zerschneiden, das Mittelstück herauszu366 Nach dem Einzug der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und der Humboldt-Universität sowie der Landes- und Zentralbibliothek Berlin wurde das Schloss im Juli 2021 eröffnet. 367 Amelie Deuflhard et al., 2006, S. 144.

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lösen und es ein Stück weiter auf den Marx-Engels-Platz zu verschieben. Diese Teilung sollte den Abschnitt der deutschen Geschichte symbolisieren, den man zu verleugnen suchte, indem man das Monument abriss. Eine Botschaft dieses Projekts lautete, man muss nicht zerstören, um etwas Neues zu gestalten, man muss nicht Tabula rasa mit dem Erbe der DDR machen, um die Grundlagen einer neuen Gesellschaft zu errichten. Durch die Radikalität und Brutalität der Zerstückelung betonte Gordon MattaClark, wie sehr sich eine Gesellschaft selbst verleugnet, wenn sie einen Teil ihrer Geschichte zu verschweigen sucht. Im Winter 2000 installierten zwei Künstler, Victor Kégli und Filomeno Fusco, ein vergängliches Werk vor den Überresten des Palastes der Republik. Sie stellten 104 Waschmaschinen auf und die Berliner wurden eingeladen, jeden Samstag im öffentlichen Raum ihre schmutzige Wäsche zu waschen.368 Das Happening war als Metapher dafür gedacht, wie das neue, aus der Vereinigung hervorgegangene Deutschland seine Geschichte von allen Erinnerungen »reinigt«, die es für störend und unerwünscht hält. Solche Kunstaktionen sollten dazu beitragen, eine herabgesetzte, ausgegrenzte Geschichte und den Palast der Republik als Erbe anzuerkennen. Für viele Ostdeutsche ist der Palast der Republik das, was Pierre Nora als »Erinnerungsort« bezeichnet. In seinem Beitrag über das »kollektive Gedächtnis«, der Ende der 1970er Jahre in der Zeitschrift La Nouvelle Histoire erschien, schrieb er bereits, dass »die Geschichte fortan unter dem Druck des kollektiven Gedächtnisses geschrieben wird, das die historische soziale Entwurzelung und die Angst vor der Zukunft durch die Aufwertung einer Vergangenheit zu kompensieren sucht, die bis dahin nicht so empfunden wurde«.369 Genau das ist mit dem Palast der Republik geschehen, dem sich die Ostdeutschen erst verbunden fühlten, als die Diskussion um seinen Abriss begann. Plötzlich wurde er zum Symbol des Widerstands gegen die politische Alphabetisierung durch die Westdeutschen. Der Plan der Zerstörung durch den Staat hat das Gebäude für einen Teil der Bürger als Erbe und Symbol der DDR »aktiviert«. Beide Ereignisse, Abriss des Palastes und Neubau des Schlosses, können im Sinne Paul Ricœurs als »überdefiniert« angesehen werden.370 Angesichts der De368 Siehe dazu https://www.tagesspiegel.de/berlin/weiss-104-letzte-chance-schmutzige -waesche-zu-waschen/169414.html (03.05.2022). 369 Pierre Nora, 1978, S. 398. Siehe darüber hinaus auch Heinrich Wefing, 2009. 370 Siehe Paul Ricœur, 1991, S. 52.

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Aufwertung(en)

montage des Gebäudes haben viele Ostberliner bedauert, dass ein Stück Geschichte und Erinnerung verschwand. Für sie verkörperte das Gebäude ein verschwundenes Dasein, Denken, Sein, eine bestimmte Form des Sozialverhaltens. Er war mit positiven Erinnerungen an Konzerte, Jugendweihefeiern, Abende im Restaurant oder andere Alltagserfahrungen, an ein kulturelles und soziales Leben verbunden, symbolisierte also weit mehr als nur die Volkskammer der DDR, die darin tagte. Auf der Facebook-Seite des Stadtschlosses schrieb jemand als Reaktion auf einen Eintrag über den Besuch des früheren Bundespräsidenten Gauck auf der Baustelle: »Die DDR hat das Schloss abgeschafft, nun wird im Schloss-Neubau die Abschaffung der DDR gefeiert. – Ironie der Geschichte!« Lange nach dem Ende der DDR wurde der Palast der Republik zur Verkörperung der Utopie, der Hoffnung auf eine Alternative zum westdeutschen System. Vom 26. Januar bis 10. Mai 2005 installierte der norwegische Künstler Lars Ramberg auf dem Dach des Palastes das Wort »ZWEIFEL« in mehr als sechs Meter hohen Neonbuchstaben, um den geplanten Aufbau des Schlosses infrage zu stellen. Die Architekten rechtfertigten ihr Projekt als Renaissance eines zu Unrecht zerstörten Erbes. Dieses Beispiel beweist, dass das Erzählen von Geschichte immer damit verbunden ist, eine besondere Rezeption, eine besondere Deutung der Geschichte nahezulegen. Das gilt auch beim Städtebau. Das Storytelling (hier die Geschichte der historischen Kontinuität über den Einschub des Palastes der Republik hinweg) wurde zur ethischen Frage beim Kräftemessen zwischen dem Staat und einer Gruppe von Bürgern, die eine andere Lesart des Erbes durchsetzen wollten. Heute ist seit der Vereinigung bald ebenso viel Zeit vergangen, wie die DDR existiert hat. Obwohl die Vergangenheit fern, teilweise ausgelöscht ist, geht die Bewegung der Aufwertung auf verschiedensten Gebieten weiter: alternatives Gesellschaftsmodell, Bildung, Rolle des Staates für die Kultur, Feminismus und Gleichberechtigung der Geschlechter, Sexualität usw. Aus all dem ist eine andere Beziehung zur Heimat und zur DDR als kollektive Erfahrung entstanden. Die Ostdeutschen wollen nicht mehr Gefangene einer einzigen Geschichte, einer einseitigen Erzählung sein, die nicht dem entspricht, was sie erlebt haben.

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Entteufelung? Die DDR im Spiegel der wissenschaftlichen Forschung

In der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Geschichte der DDR vollzieht sich eine ähnliche Entwicklung, wie wir sie in den letzten Kapiteln dargestellt haben, wobei wir versucht haben, die Grundzüge von Akzeptanz und Ablehnung der DDR-Gesellschaft nachzuzeichnen. In der Forschung wurde das Bild der DDR nach 1989 bzw. 1990 stark entwertet.371 Zu Beginn der Nuller Jahre gab es einen Richtungswechsel. Die bisherigen Forschungsarbeiten wurden differenzierter betrachtet, die Erfahrungen der Menschen neu bewertet. Der Wechsel wurde durch die Wiederaneignung der individuellen Lebensläufe möglich, vor allem durch das Gespräch mit Zeitzeugen und den Blick auf die Alltagsgeschichte. In den 1990er Jahren war die DDR-Forschung von Wissenschaftlern und Fördergeldern und -programmen aus dem Westen geprägt. Sie zeigte eine im Griff des totalen, repressiven Staats erstarrte Gesellschaft. Inzwischen wurde ausführlich beschrieben, dass diese Geschichtsschreibung auf einzelne Aspekte reduziert und vereinfacht wurde, indem man sich mehr für Strukturen als für Individuen interessierte. Die Erforschung der Alltagsgeschichte, die in den 1990er Jahren noch nicht sehr präsent war und um ihre Finanzierung kämpfen musste, hat sich im Laufe der Jahre allmählich durchgesetzt. Heute haben sich viele Wissenschaftler vom epistemologischen Dogma des Totalitarismus emanzipiert und halten den Rückgriff auf biografische Interviews für unverzichtbar, um die ostdeutsche Vergangenheit zu erforschen. Historiker, Sozialwissenschaftler, Germanisten und Politikwissenschaftler nutzen seit über 15  Jahren neue Quellen und Erkenntnisse. 371 Siehe zur Recherche über die DDR vor 1989 Rainer Eppelmann, Bernd Faulenbach & Ulrich Möhlert, 2003, Sandrine Kott, 2001, sowie Michel Christian & Emmanuel Droit, 2005, S. 118–133.

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Die gegenwärtige Forschung versucht, den persönlichen Bereich zu durchdringen, und konzentriert sich auf Quellen »von unten« (Gewerkschaft, Laienkunstgruppen, Jugendorganisationen, Schul- und Erziehungsakten, Frauengruppen usw.), anstatt der Quellen »von oben« (SED, Zentralkomitee, Ministerien, Polizei, Volkseigene Betriebe usw.). Wir wollen diese historiografische Entwicklung und ihre wichtigen Folgen für die Erinnerung an die DDR nach 30 Jahren nur in groben Zügen nachzeichnen. Dabei wollen wir drei Momente hervorheben: die Öffnung der Archive der DDR 1992, die Ergebnisse der Sabrow-Kommission 2007 und schließlich die Ausschreibung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung 2017, die der DDR-Forschung neuen Anschub gegeben hat.

Das Paradigma des Totalitarismus In den 1990er Jahren war die Forschung über die Deutsche Demokratische Republik stark von ihrem Ende, also vom Zusammenbruch des sozialistischen Systems geprägt. 2006 schrieben Sandrine Kott und Martine Mespoulet: »Der Kommunismus kann nicht als Vorspiel zum Postkommunismus analysiert werden.«372 Die Forschung ging jedoch genau in diese Richtung. Als 1992 die Archive der DDR-Institutionen und vor allem der Staatssicherheit geöffnet wurden, erwachte die Faszination der Historiker für das neue Forschungsobjekt. Étienne François stellte schon sehr bald zu Recht fest, wie sehr diese Flut von Forschungsarbeiten auf Grundlage der Stasi-Archive, also der Beobachtungen von Stasi-Offizieren und Inoffiziellen Mitarbeitern, dazu beitrug, die Wirklichkeit zu verzerren.373 Die außergewöhnliche, bislang völlig unerreichbare Quelle war plötzlich für Opfer, Wissenschaftler und Journalisten zugänglich, sie alle waren von der Suche nach einer Wahrheit getrieben, die diese Akten enthalten sollten. Die Forschung befasste sich damals mit den Unterdrückungsmethoden des MfS, dem Vergleich der sozialistischen und der nationalsozialistischen Diktatur oder der Planwirtschaft in der Ökonomie. Durch die rasche Öffnung der Archive konnten sich die Historiker also 372 Sandrine Kott & Martine Mespoulet, 2006, S. 8. 373 Siehe Étienne François, 1995, S. 145–151, sowie Agnès Bensussan, Dorota Dakowska & Nicolas Beaupré, 2003, S. 4–32.

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Das Paradigma des Totalitarismus

begeistert an die Eroberung dieser unzähligen Akten machen, die eine nie dagewesene Forschungsbaustelle eröffneten. 1999 beobachtete Jay Rowell eine sehr einseitige Lesart der gesellschaftlichen Realität der DDR: »Die Geschichtsschreibung über die DDR zeichnet sich durch den massiven Rückgriff auf eine totalitäre Lesart des Systems aus. Dieses Raster hat sich verändert und ist keineswegs einhellig akzeptiert. Es bildet dennoch das konzeptuelle Prisma für die Betrachtung nicht nur der politischen Geschichte der DDR, sondern auch der administrativen und gesellschaftlichen Veränderungen, die sich in den neuen Ländern vollziehen. Wie lässt sich die erstaunliche Rückkehr eines alten, bereits disqualifizierten Paradigmas erklären? Die Gründe liegen wohl weniger in der Neuentdeckung der Realität des ostdeutschen Systems, die zunehmend verschleiert wurde, als darin, dass sich die Bedingungen für die Produktion gelehrter Diskurse über die DDR grundlegend verändert haben und der Wettbewerb zwischen sozialwissenschaftlichen Disziplinen neu organisiert wurde.«374

Es war ein sehr spezieller Kontext, der das Paradigma des Totalitarismus als Kategorie der Analyse hervorbrachte. Nach 1990 wurden viele DDR-Historiker aus den akademischen Einrichtungen entlassen. Sie erzählen heute von der Schwierigkeit, sich Gehör zu verschaffen, und erinnern sich, wie der Prozess der Delegitimierung ihrer Forschung sie zum Schweigen verurteilte. Viele wurden entlassen oder abgewickelt, nur wenige konnten sich wieder im Forschungsbetrieb etablieren. Auch die wirtschaftlichen und administrativen Veränderungen durch die Vereinigung wurden als experimentelle Situation für die Sozialwissenschaften wahrgenommen. Der Deutsche Bundestag ermunterte die Wissenschaft, die notwendigen Reformen nicht nur zu dokumentieren, sondern mitzugestalten.375 Die Gründung des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung in Dresden376 ist nur ein Beispiel neben anderen Großprojekten wie der Publikation des Berichts der Enquete-Kommission zur Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in 374 Jay Rowell, 1999, S. 132. 375 Siehe Bernhard Giesen & Claus Leggewie, 1991. 376 Das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (HAIT) wurde 1993 an der TU Dresden gegründet. Es vereinigt interdisziplinäre Forschung über die DDR-Zeit und den Nationalsozialismus.

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Deutschland.377 Auch private Einrichtungen wie die Volkswagen-Stiftung fördern bis heute Forschungen zum Vergleich der beiden deutschen Diktaturen im 20. Jahrhundert. Wie Jay Rowell zeigt, verlangten all diese privaten und staatlichen Forschungsaufträge ausdrücklich die Rückkehr zur Terminologie des Totalitarismus. Das springt besonders ins Auge, wenn man den Bericht der Enquete-Kommission des Bundestages liest, der sich in seinen 16 Bänden fast vollständig den repressiven und ideologischen Aspekten des DDR-Staates widmet. Die an dieser Studie beteiligten Wissenschaftler analysierten die DDR-Geschichte ausschließlich unter dem Blickwinkel des Totalitarismus, auch wenn es um andere Aspekte als die Funktionsweise des Staates ging. Deshalb nahmen SED und Stasi in fast allen Artikeln den ersten Platz ein. Jay Rowell zeigt, dass die Wissenschaftler, die den Begriff »Totalitarismus« verwenden, von bestimmten Voraussetzungen ausgehen und sich auf die radikale Opposition verschiedener Konzepte stützen: Zentralismus – Föderalismus, Politisierung – Professionalisierung, Inkompetenz – Kompetenz, Autonomie – Abhängigkeit, Rechtsstaat – Diktatur. Die Parallele zwischen DDR und NS-Regime suggeriert eine Gemeinsamkeit zwischen linkem und rechtem Totalitarismus. Ein solcher Ansatz wurde dadurch gestärkt, dass man das Ende der DDR als ein Nachholen der Demokratisierung des Westens nach dem Zweiten Weltkrieg mit 45-jähriger Verspätung wahrnahm.378 Er wurde durch mehrere Historiker und Journalisten unterstützt. Dahinter verbarg sich die Vorstellung, durch die Vereinigung könnte die Bundesrepublik die Nachgiebigkeit gegenüber dem nationalsozialistischen Regime symbolisch wiedergutmachen. Aber »vergleichen« heißt nicht, »auf eine Stufe stellen«, wie Alfred Grosser immer wieder sagte, und der synchronische Vergleich zwischen zwei aufeinanderfolgenden Systemen darf nicht zu übereilten Schlussfolgerungen über ihre gemeinsamen Grundlagen führen. Eine solche Parallele zeichnet die DDR als Struktur, die seit 1949 mehr oder weniger erstarrt war, aber wir wissen heute, dass dieses Postulat keinerlei wissenschaftliche Gültigkeit hatte. Aus dem Ansatz, der sich auf den Totalitarismus konzentrierte und der von deutschen Historikern wie Horst Möller in München, Klaus Schrö377 Siehe Deutscher Bundestag, 1995. 378 Siehe Horst Möller, 1996. Das Buch, in dem der Beitrag zu finden ist, wurde von der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung finanziert.

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Alltagsgeschichte und Nachdenken über den »Eigen-Sinn«

der379 in Berlin oder Sigrid Meuschel380 vertreten wurde, entstand eine politisch und ökonomisch monolithische DDR-Geschichte. Die Allgegenwart der SED bei der Regelung politischer, wirtschaftlicher, sozialer, bildungspolitischer und materieller Fragen im Alltag der Menschen verhinderte jedoch nicht die Volksbewegung im Herbst 1989, die Montagsdemonstrationen und die Gründung von Oppositionsgruppen Ende der 1980er Jahre. Wenn die Gesellschaft so streng von der SED kontrolliert und unterdrückt wurde, so erstarrt war, wie lässt sich dann die kollektive Handlungsfähigkeit der Bürger in diesem entscheidenden Moment erklären? Die 1990er Jahre waren durch einen historiografischen Kampf zwischen zwei Wahrnehmungen der ostdeutschen Gesellschaft geprägt. Es wurde also immer dringender nötig, die Interaktion zwischen Partei und Gesellschaft zu erforschen und besser zu verstehen. Die Beziehungen zwischen staatlichem Handeln auf einer Seite und dem, was die Partei »die Massen« nannte, also der Bevölkerung, auf der anderen, stehen heute bis auf wenige Ausnahmen im Zentrum aller Untersuchungen.

Alltagsgeschichte und Nachdenken über den »Eigen-Sinn« Heute interessiert sich die Forschung über die DDR immer mehr für Menschen, die nicht zur Staatsgewalt gehörten, die aber auch die DDR ausmachten. Dieser Ansatz steht im Widerspruch zu der vom Positivismus ererbten Vorstellung, es gebe Zeiten, Personen und Handlungen, die historischer seien als andere. Die Verkleinerung des Maßstabs, um sich auf die staatsfernen Individuen und das Alltagsgeschehen zu konzentrieren, ist deshalb wesentlich. Aber sie ist nicht neu. Schon Mitte der 1970er Jahre hatte Carlo Ginzburg die Fruchtbarkeit dieses Ansatzes gezeigt, indem er das »Leben eines Müllers um 1600« durch »den Käse und die Würmer« untersuchte, wie es im Untertitel heißt.381 Dieser Ansatz der Historiker richtet sich auf ganz unterschiedliche Objekte, wie vertraute Orte oder Gegenstände, die Spuren der Berliner Mauer,382 die Linie  B der Pariser 379 380 381 382

Für eine politische Interpretation siehe Klaus Schröder, 1998. Für eine eher soziologische Interpretation siehe Sigrid Meuschel, 1993a, S. 5–14. Siehe Carlo Ginzburg, 1979. Siehe Marc Augé, 2001, S. 4, sowie Raphaël Bessis, 2004.

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Stadtbahn RER383 oder ländliche Gemeinden, die neue Formen des Zusammenlebens erproben.384 Das verstärkte Interesse für die Alltäglichkeiten der Geschichte löste in Deutschland eine Debatte aus. Im Oktober 1984 wurde die Alltagsgeschichte beim 35. Historikertag in Berlin heftig kritisiert. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler nannte sie »wissenschaftlich wertlos« und »vergänglich«.385 Viel wurde geschrieben über diese Diskussion zwischen den Anhängern der Alltagsgeschichte und denen, die von »Pseudorealismus«, »Neohistorismus« oder »Barfußhistorikern«386 sprachen. Doch was versteht man unter Alltagsgeschichte? Ein beispielhaftes Werk für die Alltagsgeschichte ist ein Buch von Dorothee Wierling über Dienstmädchen.387 Während die Dienstmädchen in der traditionellen Geschichtsschreibung nur als privilegierte Aussichtsposten auf die Welt des Bürgertums, sozusagen die Rückseite des Spiegels, als Objekte von Fantasien und Ausgrenzungs- oder auch Integrationsstrategien gesehen wurden, hat sich Dorothee Wierling für sie als gesellschaftlichen Gruppe interessiert, die sonst nie zu Wort kommt. Wierlings Ziel bestand darin, durch biografische Interviews, die sie mit mehreren um die Jahrhundertwende geborenen Dienstmädchen führte, ihre Welt zu rekonstruieren, und den Außenblick, der sie immer beherrschte, zu verlassen. Dorothee Wierling definiert Alltagsgeschichte als »Geschichte einer spezifischen sozialen Erfahrung und einer subjektiven Perspektive«.388 In derselben Logik warnt der Historiker Lutz Niethammer vor der »Gefahr, diejenigen, die von früheren gesellschaftlichen Machtverhältnissen als Objekte definiert wurden, in ihrem Objektstatus zu belassen, anstatt ihre Subjektivität zu rekonstruieren«.389 Aus diesem Grund sind Alltagsgeschichte390 und Mentalitätsgeschichte miteinander verknüpft. 383 384 385 386 387 388 389 390

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Siehe François Maspero, 2004. Siehe Anne-Marie Pailhès, 2019. Siehe dazu Volker Ullrich, 1984. Ebd. Siehe darüber hinaus auch Hans-Ulrich Wehler, 1998, S. 188–194, und Sandrine Kott, 2011, S. 25–31. Siehe Dorothee Wierling, 1987. Dorothee Wierling, 1989, S. 169. Lutz Niethammer, 1980, S. 7. Die Alltagsgeschichte hat viele Gemeinsamkeiten mit der Tradition der Annalen: zahlreiche Bezüge zu französischen Autoren, ähnliche Themen usw. Siehe dazu Alf Lüdtke, 1989. Im Unterschied zu den Annalen konzentriert sich die Alltagsgeschichte auf die zeitgenössische Geschichte.

Alltagsgeschichte und Nachdenken über den »Eigen-Sinn«

Ein Paradebeispiel für die Alltagsgeschichte ist die Studie von Alf Lüdtke über die Passivität der Arbeitermilieus unter dem Nationalsozialismus.391 Der Historiker konzentriert sich auf die Erfahrung der persönlichen Zufriedenheit, die die Arbeiter unter dem Nationalsozialismus empfanden, und deren Auswirkungen auf ihre politische Sensibilität, indem er sich den Blickwinkel der Arbeiter zu eigen macht, ihre Welt und ihren Alltag rekonstruiert. Er versucht, die Geschichte aus dem Blickwinkel der Namenlosen zu schreiben, um zugleich die gesellschaftlichen Mechanismen der Unterstützung der NSDAP und später der SED zu verstehen. Die Frage der Gefügigkeit, des Gehorsams, ist schwierig und man kann sie nur beantworten, wenn man eine Perspektive von unten einnimmt, indem man z. B. zeigt, wie das Lob der Arbeit in der Nazipropaganda – wie anhand zahlreicher symbolischer Würdigungen und dem 1. Mai als Feiertag sichtbar wird –, die Arbeiterklasse zu jener Zeit ansprach. Alf Lüdtke ließ sich für diese Untersuchung vom fruchtbaren Konzept des Eigen-Sinns lenken und übernahm es für die historische Forschung. Er verwendet es in einer Studie über das Proletariat im 19. Jahrhundert, die darin mündet, dass er die Wahrnehmung des Proletariats als homogene Klasse infrage stellt.392 »Der Eigen-Sinn beschreibt ein nichtintegriertes Verhalten in einem funktionalen System. Der Begriff bezeichnet zwei vermeintlich widersprüchliche Fähigkeiten: auf der einen Seite Hartnäckigkeit und Dickköpfigkeit, auf der anderen (bewusste oder unbewusste) Distanzierung, Autonomie, Undiszipliniertheit oder Disziplinlosigkeit, die nicht nur den Individualismus betrifft, weil sie ein System sozialer Beziehungen innerhalb von Institutionen infrage stellt, die von der Schule bis zur Fabrik reichen.«393

Das Konzept des Eigen-Sinns ist kein Synonym für subversives Verhalten oder offene Opposition gegen den Staat. Es versucht zu erklären, wie die Bürger die Zwänge des Systems annehmen und ihren Bedürfnissen anpassen, um sie besser zu ertragen. Da sie nicht frei von den aufgezwungenen Normen leben können, entwickeln sie Handlungsweisen, um die Regeln zu umgehen und dadurch besser zu ertragen, indem sie deren Macht im Alltag 391 Siehe ebd., S. 224–283. 392 Siehe Alf Lüdtke, 2000. 393 Jacques Revel, 2000, S. 13.

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reduzieren. So kann »der Eigen-Sinn, der in gewisser Hinsicht die Legitimität des Systems untergräbt, auch dazu beitragen, es zu stabilisieren«.394 Für die Alltagshistoriker ist es schwierig, den Begriff »Eigen-Sinn« (oder »Eigensinn«) genau zu definieren. Zu lange hat man versucht, die Motive und Überzeugungen der Individuen unter großen Begriffen wie »Revolution«, »Wirtschaftswunder«, »Krieg«, »Industrialisierung« zu subsumieren, obwohl diese großen Schemata nicht geeignet waren, die Realitäten, die dahintersteckten, oder das, was die Individuen im Alltag erlebten, zu erfassen. Ein westdeutscher Bauer in den 1960er Jahren hätte sicher nicht von sich behauptet, er lebe in der Zeit des Wirtschaftswunders. Das Konzept des Eigen-Sinns wurde gelegentlich mit einer Art Garderobenständer verwechselt, an dem man alle Verhaltensweisen der Anpassung, des Rückzugs ins Private, oder jede Form von politischem Opportunismus hängen konnte, die alle sozialen Schichten betrafen. Thomas Lindenberger schreibt dazu: »Dennoch wäre es irreführend, ›Eigen-Sinn‹ mehr oder weniger umstandslos als Sammelbegriff für Anpassung, Mitmachen und Opportunismus aufzufassen. Das Konzept bezeichnet auch nicht ein neutrales Weder-Noch, das auf einer zwischen den Extremen vorbehaltloser Unterstützung = +1 und kompromisslosem Widerstand = -1 irgendwo in der Nähe des Nullpunkts zu verorten wäre.«395

Das Konzept geht eher von der Feststellung aus, dass eine Diktatur, auch eine totalitäre, niemals genau so funktioniert, wie es sich der Diktator wünscht. Der Eigen-Sinn erlaubt die Vorstellung des Nebeneinanderbestehens und der Verbindungen zwischen scheinbarer Anpassung an die Erwartungen des Systems und dem, was im Privaten praktiziert wird, also der kritische, individuelle Rückzug, die täglichen Arrangements, um die Lücken des Systems auszunutzen, ungehorsam zu sein, ohne deswegen in Totalopposition zu sein: Man untersucht z. B., wie man die Vorschrift des Mindestanteils von Ost-Musik in den Diskotheken umging, wie man die Direktiven der SED abwandelte, um unpolitische künstlerische Tätigkeit in den Betrieben oder bei den Pioniernachmittagen zu gestalten. Mit dem Konzept des Eigen-Sinns können wir verstehen, dass der 394 Ebd. 395 Thomas Lindenberger, 2014.

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Die »Diktatur der Grenzen«

Hiatus zwischen Innen und Außen in der DDR die Norm und nicht die Ausnahme war. Wir können nach den Grenzen der Staatsmacht fragen, die Gesellschaft zu ersticken. Ab Mitte der 1990er Jahre nutzten Alf Lüdtke und Thomas Lindenberger dieses Konzept sehr fruchtbar, um die DDRGeschichte zu studieren.396 Alf Lüdtke hat dazu eine Darstellung der Probleme verfasst, die bei der Forschung zur DDR-Geschichte aufgeworfen werden, je nachdem, ob sie von Historikern aus dem Osten oder dem Westen durchgeführt wird; andere Trennlinien betreffen die unterschiedlichen Thesen über den politischen Charakter und die Identität der DDR als Staat oder Gesellschaft (totalitärer Staat, Polizeistaat, Nischengesellschaft397, politisierte Gesellschaft usw.).

Die »Diktatur der Grenzen« Seit 1994 das erste Buch über die Sozialgeschichte der DDR erschienen ist,398 werden verstärkt die verschiedenen sozialen Gruppen untersucht, wobei man sich von dem Analyseraster löst, das bei der Studie einer »politischen Diktatur« eingesetzt wird, um die Praktiken und die Erfahrung der Machtausübung ins Zentrum zu stellen. Wir wissen inzwischen, dass die Diktatur des Partei-Staates nicht total war, weil sie es nie geschafft hat, eine Gesellschaft zu formen, die vollständig »durchherrscht«399 gewesen wäre, um den Begriff von Jürgen Kocka aufzunehmen, und dass deshalb die Überzeugung falsch ist, die DDR wäre eine von der Macht gelähmte und erstickte Gesellschaft gewesen.400 Man muss jedoch zwischen der stalinistischen Periode bis zum Tod Stalins 1953 und der Zeit danach unterscheiden. Wie die anderen Volksdemokratien, aus denen später Protest kam (Budapest  1956, Prag  1968 usw.), hat auch die DDR den Stalinismus nur einige Jahre erlebt, der in 396 Siehe Alf Lüdtke & Peter Becker, 1997, Thomas Lindenberger, 1999, sowie Alf Lüdtke, 1998, S. 3–39. 397 Der Begriff »Nischengesellschaft« betont den »idyllischen« Aspekt und gibt nicht die Verflechtung zwischen privater und öffentlicher Sphäre im Alltag wieder. Er drückt jedoch den Rückzug auf sich selbst und die Familie aus, mit dem sich die Ostdeutschen dem Zugriff der Politik entzogen. 398 Siehe Hartmut Kaelbe, Jürgen Kocka & Hartmut Zwar, 1994. 399 Siehe Jürgen Kocka, 1994, S. 547–554. 400 Siehe Sigrid Meuschel, 1993b.

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der UdSSR über Jahrzehnte wütete. Zwar steht der Diktatur-Charakter der DDR außer Frage, doch unter dem Einfluss der Berichte früherer DDRBürger veränderten die Wissenschaftler ihre Hypothesen. Diese Zeugnisse unterscheiden sich in der Darstellung des politischen Terrors von Partei und Stasi, von dem bisher behauptet wurde, er habe den ganzen Alltag verdorben und geprägt. Die Wirklichkeit ist viel komplexer. Heute wissen wir, dass die Bürger in einem gewissen Maße die Möglichkeit hatten, die Direktiven der SED hier und da zu umgehen. Nehmen wir das Beispiel der Rockmusik: Anfang der 1950er Jahre hat die SED sie mit aller Macht diskreditiert, verboten und den Fans von Elvis Presley, den Rolling Stones und den Beatles nachgestellt. In den 1960er Jahren änderten sie ihre Position, weil sie feststellten, dass das Interesse der Jugend nicht nachließ.401 Nun versuchte sie, den Ostrock zu fördern, was nur mäßigen Erfolg hatte.402 Immerhin wurde die Anti-Rock-Position der 1950er Jahre aufgegeben. Ein 2011 erschienener Sammelband mit Erinnerungen, Texten und Interviews von zwei Ex-Punks zeigt, wie zu DDR-Zeiten alles unternommen wurde, um das Freiheits-Ideal zu unterdrücken, das sie verbreiten wollten. In dem Buch geht es auch um die Zeit nach 1990, nach der Öffnung der Stasiakten, aus denen die Unterwanderung des Punk-Milieus durch Stasispitzel deutlich wurde.403 Auf dem Gebiet der Kultur wurde die Verbindung zwischen den Kulturfunktionären und den Bürgern im Laufe der Jahre immer flexibler und komplexer. »Kulturobleute« gab es in allen DDR-Betrieben, die groß genug waren, um Laienkunstgruppen aufzubauen. Um nicht den Ärger der Angestellten zu provozieren, verringerten sie den politisch-ideologischen Anteil, den diese Gruppen haben sollten, ab Mitte der 1970er Jahre und mehr noch in den 1980ern. So erlaubte man den Chören, weniger politische und mehr populäre Volkslieder zu singen. Man durfte auch etwas anderes malen als strahlende, die Zukunft aufbauende Arbeiter. Die Funktionäre waren also nicht nur Marionetten des Systems, sondern hatten einen Handlungsspielraum, den sie gut ausnutzten. Das Volk 401 Siehe Michael Rauhut, 1993. Siehe darüber hinaus auch Olaf Leitner, 1983, und Gerd Dehnel & Christian Hentschel, 2008. 402 Hatte eine Beatband hingegen zu viel Erfolg bei der Jugend, wie z. B. die 1963 gegründete Rock-Band Sputniks, wurde sie sofort als eine Gefahr betrachtet und verboten. Die Sputniks wurden 1966 unter dem Druck der SED aufgelöst. 403 Siehe Michael Boehlke & Henryk Gericke, 2007.

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konnte die Vorgaben des Staates umgehen und sich ihnen punktuell auch widersetzen. Diese Feststellung geht weit über die Kultur hinaus. Jeffrey Kopstein hat sich z. B. mit dem Widerstand der Arbeiter in den Betrieben beschäftigt. Das NÖS (das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung) sah 1963 vor, eine größere Selbstständigkeit der Volkseigenen Betriebe einzuführen, um die Produktivität der Arbeiter zu erhöhen. Aufgegeben wurde die NÖS wegen Uneinigkeit innerhalb der SED-Führung, aber auch wegen des Widerstands der großen Mehrheit der Arbeiter, dieses Reformprogramm in ihrem Betrieb umzusetzen.404 Unmittelbarer Anlass des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 waren Normerhöhungen, die noch vor dem Ausbruch zurückgenommen wurden. Es gibt zahlreiche Geschichten von Politbüromitgliedern oder Parteifunktionären, die sich auf Kompromisse eingelassen und Lösungen gesucht haben, um einen erneuten 17. Juni zu verhindern, der sie tief erschüttert hatte. Im Hinblick auf die traditionellen sozialen Gruppen (Arbeiter, Bauern, Lehrer usw.) haben sich die Wissenschaftler also auf deren Alltag konzentriert und die »Grenzen« einer angeblich totalitären Macht über die Gesellschaft sichtbar werden lassen. Neben den »externen« Grenzen (dem historischen Erbe, das sich der Macht des Staates entzieht), und den geopolitischen (der Rolle der DDR zwischen den Nachbarländern, die Abhängigkeit von der UdSSR) verweisen Richard Bessel und Ralf Jessen405 auf die »internen« Grenzen.406 Sie stehen für eine Verhaltensweise, die darin bestand, sich von den Erwartungen der Partei und des Staates zu distanzieren und sich vor allem auf persönliche Bedürfnisse und Interessen zu konzentrieren. Daher rührt die Rolle der Nischen wie Familie, Freundeskreis, Freizeit- oder Sportverein. Auch die Kirchen boten bis zum Mauerfall relativ autonome Räume, die dazu beigetragen haben, das Überleben des Staates zu verlängern. Dem Widerstand begegnet man auch in bestimmten sozialen Gruppen wie Ärzten oder Wissenschaftlern an den Universitäten, auch den letzten Vertretern des Bürgertums. Natürlich sind die auffälligsten Grenzen des Systems »diejenigen, die mit dem Funktionieren des Systems selbst zu tun haben. Das Versagen der Planwirtschaft ist das 404 Siehe Jeffrey Kopstein, 1997. 405 Siehe Ralph Jessen & Richard Bessel, 1996, sowie Ralph Jessen, 1995, S. 96–110. 406 Sandrine Kott fasst die Debatte über die Anwendung der beiden Konzepte für die Sozialgeschichte einer politischen Diktatur zusammen. Siehe dazu Sandrine Kott, 2001.

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offenkundigste Beispiel, es führte zur Entstehung einer Parallelwirtschaft. Sie sicherte das Überleben des Systems, das sie aber per definitionem nicht kontrollierte«,407 erklärt die Historikerin Sandrine Kott. Hinzu kommen die Grenzen einer totalen Kontrolle der Gesellschaft, die auch auf der Beteiligung der Kontrollierten beruht: »Trotz ihres Wesens als Diktatur […] brauchte man für den Aufbau, die Entfaltung und die Erhaltung des Herrschaftssystems eine subjektive Bereitschaft der Beherrschten zusammenzuarbeiten.«408 Dorothee Wierling analysiert auch die Dimension der »Liebe« der Untergebenen zum Staat als Fundament seiner Stabilität.409 In eine ähnliche Richtung gehen die Arbeiten von Ralf Jessen über das Universitätsmilieu, die den Spielraum sichtbar gemacht haben, über den man gegenüber der SED verfügte.410 Er zeigt, dass sich Professoren und Wissenschaftler besonders in Disziplinen wie Medizin und Naturwissenschaften eine gewisse Autonomie bei den Einstellungsverfahren bewahren konnten, indem sie ihre technische oder wissenschaftliche Kompetenz in die Waagschale warfen. Die Forschungen von Peter Hübner über die Arbeiter in der Industrieregion Niederlausitz411 offenbarten die Unfähigkeit der SED und der Einheitsgewerkschaft FDGB, gegen den hartnäckigen Widerstand der Arbeiter Produktionssteigerungen, geringere Prämien und Löhne oder einen Stücklohn durchzusetzen. Unter den zahlreichen Studien wären zudem die vom Soziologen Michael Vester geleiteten Arbeiten über das Arbeitermilieu in Leipzig und Neubrandenburg anzuführen.412 Darin wird analysiert, welche Mittel und Wege die Arbeiter fanden, um sich zu wehren oder mit der SED oder der Gewerkschaft Kompromisse auszuhandeln. In Frankreich forschte die Historikerin und Osteuropa-Spezialistin Sonia Combe, die selbst von 1984 bis 1989 häufig in der DDR war, seit Mitte der 1990er Jahre mit einem sozialhistorischen Ansatz in den Akten des Staatssicherheitsdienstes. Ihr roter Faden war die Frage, »warum sich ein so ausgefeilter Polizeiapparat, dessen Personalbestand ständig stieg, der immer mehr Bürger in die Kontrolle der Gesellschaft einbezog und seine 407 408 409 410 411 412

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Ebd., S. 15. Thomas Lindenberger, 1998, S. 120f. Siehe Dorothee Wierling, 2000, S. 236–263. Siehe Ralf Jessen, 1998, S. 91–117. Siehe Peter Hübner, 1994, 1995. Siehe Michael Vester, Michael Hofmann & Irene Zierke, 1995.

Die »Diktatur der Grenzen«

Techniken perfektionierte, so schnell geschlagen gab«.413 Im Herbst 1989 hatte die Stasi 80.000 Hauptamtliche Mitarbeiter. Fast 170.000 Inoffizielle Mitarbeiter lieferten Informationen an ihre Führungsoffiziere. Wenn man diese Zahlen in Prozentangaben umrechnet, wurden in einem Land von 17 Millionen Einwohner 99 Prozent der Bevölkerung von einem Prozent überwacht. Une société sous surveillance von Sonia Combe gehört zu den neueren Untersuchungen über die politische Polizei und die Geheimdienste in den früheren Volksdemokratien nach der teilweisen oder vollständigen Öffnung ihrer Archive. Das Buch enthält aber auch einen Aspekt, der bisher nur selten dargestellt wurde. Es geht über die Beschränkung auf die Strukturen hinaus und vereint in einer Analyse Makro- und Mikroebene, die Einführung von Gesetzen einer Polizeigesellschaft und ihre Akzeptanz.414 Inspiriert von der Sozialgeschichte des Politischen415 und von den Arbeiten von Michel Foucault über Macht und Herrschaft416 hat die Sozialhistorikerin Sandrine Kott den Alltag in den VEB der DDR untersucht und eine scharfe Analyse des Betriebs als idealen Beobachtungsposten der deutschen Diktatur präsentiert.417 Diese Perspektive hat sich als sehr fruchtbar für die französische DDR-Forschung erwiesen.418 Andere Arbeiten beleuchten die Biografien von Privateigentümern kleiner und mittlerer Unternehmen in der Industrie, einer sozialen Gruppe, deren Existenz in 413 Sonia Combe, 1999, S. 48. 414 Siehe Rezension von Stéphane Dufoix, 2002, S.  1131–1128. Thomas Lindenberger (2003) konzentriert sich auf die Figur des Polizisten in der DDR; Michel Christian und Thomas Klein (2002) beschäftigen sich mit den SED-Mitgliedern und studieren die Partei aus deren Perspektive, nicht mehr mit einem makrohistorischen Ansatz. Siehe darüber hinaus auch Michel Christian, 2016. 415 Siehe Gérard Noiriel, 2001, S. 25–44. 416 Es lohnt sich, Michel Foucault wiederzulesen, wenn er schreibt (2013, S. 38): »Das Studium dieser Mikrophysik setzt nun voraus, dass die darin sich entfaltende Macht nicht als Eigentum, sondern als Strategie aufgefasst wird, dass ihre Herrschaftswirkungen nicht einer ›Aneignung‹ zugeschreiben werden, sondern Dispositionen, Manövern, Techniken, Funktionsweisen […]. Diese Macht richtet sich nicht einfach als Verpflichtung oder Verbot an diejenigen, welche ›sie nicht haben‹; sie sind ja von der Macht eingesetzt, die Macht verläuft über sie und durch sie hindurch; sie stützt sich auf sie, ebenso, wie diese sich in ihrem Kampf gegen sie darauf stützen, dass sie von der Macht durchdrungen sind.« 417 Siehe Sandrine Kott, 2001. 418 Siehe Sandrine Kott & Emmanuel Droit, 2006.

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der DDR wenig bekannt ist.419 Mit der Verstaatlichung der letzten privaten Produktionsmittel 1972 verschwanden die kleinen und mittleren Unternehmer nicht. Dank ihrer Widerstands- und Überlebensfähigkeit haben einige es geschafft, im Zuge der Reprivatisierung ab 1990 ihre Betriebe wieder zu übernehmen. Ihre Geschichte erfasst alle Widersprüche, die für den Alltag in der Diktatur typisch sind.420 Auch auf dem Gebiet der Kulturpolitik konnten diese Widersprüche sichtbar gemacht werden. Studien über die Rolle des MfS in den Schulen421 zeigen, dass ab 1957, als Erich Mielke die Führung der Stasi übernahm, deren Funktion sich zu wandeln begann und auch erzieherische Maßnahmen umfasste.422 Die Stasi entwickelte sich zum Erzieher der DDR-Gesellschaft und versuchte, die Selbstdisziplin der neuen Generationen zu fördern, vor allem bei denen, die nicht von der nationalsozialistischen Ideologie befallen waren, also formbarer und empfänglicher für die Ideologie der SED sein sollten. Hier werden nicht mehr die SEDDiktatur selbst und ihre Strukturen untersucht, sondern die »Diktaturerfahrung«423, d. h. die Erfahrung der Diktatur im Alltagsleben, um den wichtigen Begriff von Konrad H. Jarausch aufzunehmen. Genau so wird eine »von unten« geschriebene Geschichte der DDR verstanden. Dieser Ansatz versucht, persönliche Erfahrungen darzustellen, das Sich-Arrangieren und die Anpassung im Alltag zu erklären, aber auch die Resistenz,424 also die nicht-frontale Opposition, um sich im Alltag einer feindlichen Umgebung anzupassen. In einer Untersuchung über die Klinik für Psychiatrie und Neurologie der Berliner Charité ließen sich anhand von Patientenakten ebenfalls bestimmte Spannungen innerhalb der DDR-Gesellschaft erfassen, wie innere Konflikte bei Personen, die vom Marxismus überzeugt waren, aber der SED kritisch gegenüberstanden, oder die psychiatrischen Delirien einzelner Patienten über den Westen als Bedrohung.425 Die Psychiatrie ist naturgemäß ein Gebiet, wo das Wort weniger kontrollierbar ist als sonst in 419 Siehe Agnès Arp, 2005b, 2006a. 420 Siehe Agnès Arp, 2000, 2006b, S. 111–129, 2005a, S. 160–180. 421 Siehe Emmanuel Droit, 2009, sowie auch Caroline Moine, 2014, und Guillaume Mouralis, 2008. 422 Siehe Emmanuel Droit, 2009, S. 99. 423 Konrad H. Jarausch, 1999. 424 Siehe Dietrich Staritz, 1998, S. 35–52, sowie Ehrhart Neubert, 1997. 425 Siehe Fanny Le Bonhomme, 2016.

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Die »Diktatur der Grenzen«

der Gesellschaft, weshalb der mikrohistorische Ansatz all seine Relevanz gewinnt und imstande ist, die Kluft zwischen dem Diskurs der SED und seiner tatsächlichen Wahrnehmung in der Öffentlichkeit zutage zu fördern. Auch in den USA haben sich Wissenschaftler mit der DDR befasst und für diese Themen interessiert: Ihre Arbeiten offenbaren die Ambivalenz des Alltags von DDR-Ingenieuren426 zwischen den Hindernissen bei der Ausübung ihres Berufs und der relativen Freiheit, die sie dank ihrer technischen Kompetenz genossen. All diese Arbeiten zeigen das individuelle Verhalten gegenüber der Diktatur im Geiste des Eigen-Sinns. Sie zeigen die Pluralität und die Verflechtung verschiedener Faktoren, anhand derer man sie jenseits der traditionellen Dichotomie von Staat und Privatleben analysieren kann, wie der amerikanische Wissenschaftler Andrew Port betont.427 Natürlich duldete die offizielle Rhetorik in den höchsten Kreisen der Macht keinen Widerspruch, aber es gab auch Räume, wo das Wort freier war und wo die Direktiven der Partei flexibler umgesetzt wurden. Um sie zu erkunden, empfiehlt es sich, die Untersuchungsskala zu ändern und ein kleineres Analyseobjekt zu wählen als den Staat, etwa eine Stadt oder sogar ein Stadtviertel. In Bezug auf das gesellschaftliche Bewusstsein wurde das Wohnungsproblem der DDR am Beispiel der Bewohner des Berliner Stadtbezirks Marzahn untersucht, einem riesigen Stadtviertel, das in Plattenbauweise errichtet wurde.428 Eli Rubin nutzt urbane, architektonische, ökologische, kulturpolitische und sogar technologie-historische Aspekte, um den Alltag der Bewohner zu beschreiben. Das Viertel wurde gemäß der sozialistischen Utopie einer neuen Gesellschaft errichtet, die sich deutlich von der städtebaulichen Praxis unterschied, die Berlin im Laufe seiner Geschichte erlebt hatte. Können die Bewohner nach einer radikalen räumlichen und materiellen Veränderung auf ihre bisherige Lebensgeschichte verzichten? Kann diese Veränderung zu einem neuen sozialistischen Bewusstsein beitragen, das sich einzig in die Zukunft richtet? Das waren seine Ausgangsfragen. 426 Siehe Dolores L. Augustine, 1997, S. 173–191. 427 Siehe Andrew Port, 2007. 428 Siehe Eli Rubin, 2016, 2008. Eli Rubin analysiert darin, wie die SED den Alltag prägte und wie die Bürger die Grenzen des Systems ausreizten. Es geht vor allem um die Rolle von »Plaste« (DDR-Wort für »Plastik«) im Alltag und darum, wie es der DDR gelang, es trotz Erdölknappheit und fehlender Technologie zu produzieren.

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Durch die Beschäftigung der Wissenschaftler mit einzelnen Berufsgruppen oder die Beschreibung anonymer Lebenswege429 im Rahmen begrenzter Studien verstehen wir besser, wie die DDR-Gesellschaft funktionierte. Diese Arbeiten gehen mit einem mikrohistorischen Ansatz sowohl der Frage nach, wie die Partei und der Staat die Gesellschaft durchdrungen haben, als auch der, wo die Grenzen ihrer Macht über die Bürger lagen. Diese Studien von unten, also über die Rolle der Zivilgesellschaft in der DDR, wurden Ende der 1990er  Jahre durchgeführt und waren damals noch in der Minderheit. Insgesamt zeigen sie, dass die SED-Politik eher einer permanenten Krisenbewältigung als der Umsetzung eines klaren, eindeutigen, vorgefassten Programms der Sowjetisierung der ostdeutschen Gesellschaft glich. Diese Schlussfolgerungen widersprechen den Überzeugungen, auf denen frühere Arbeiten beruhen, die vom Paradigma des Totalitarismus ausgehen und nur die engen Grenzen betonen, die die politische Diktatur der Autonomie der Individuen und Gruppen und der Äußerung von Partikularinteressen setzte. Die Strömung, auf die wir hier verweisen, kehrt diese Perspektive um und betont nicht nur die »Diktatur der Grenzen«, sondern auch die »Grenzen der Diktatur«430, um den Ausdruck von Thomas Lindenberger aufzunehmen. Aus diesem längst nicht erschöpfenden Überblick über den Forschungsstand, bei dem wir auf die Erwähnung vieler wichtiger Studien über die DDR verzichten mussten, behalten wir den Gedanken, dass in verschiedenen Bereichen wie der Kulturpolitik, der Sozialpolitik, dem Sektor der kleinen und mittleren Unternehmen mit Staatsbeteiligung, der Freizeitgestaltung, der Betreuung der Arbeiter in den Betrieben und selbst dem Alltag der SED-Mitglieder die Direktiven der Partei ständigen Korrekturen und Kompromissen unterworfen waren. Sie trugen den Interessen der Mehrheit und der normalen Bürger und den Reaktionen der hohen oder mittleren Parteikader Rechnung. Eine sorgfältige Forschung, die auf den Alltag und seine Komplexität bedacht ist und auf unterschiedlichen, einander ergänzenden Quellen beruht, zeigt, dass die Interessen der Basis das Verhalten der politischen Akteure auf unterschiedlichen Ebenen weit mehr beeinflussen, als man mit dem Modell des Totalitarismus abbilden und fassen kann. 429 Siehe auch Edith Sheffer, 2011 – eine hervorragende Studie über den Alltag an der Mauer. 430 Thomas Lindenberger, 1999b, 2016.

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Festhalten an Vorurteilen und Öffnungsversuche

Festhalten an Vorurteilen und Öffnungsversuche Bei vielen Wissenschaftlern hat sich also die Sichtweise geändert. Davon ist in der Politik bisher wenig zu spüren. In ihrem Buch über die Kontroversen um die Interpretation der DDR schrieb Pamela Heß 2014: »Außerdem fehlt den öffentlichen Erinnerungen größtenteils eine dezidierte Diskussion des DDR-Alltags.«431 Anhand von biografischen Interviews und statistischen Studien über die lokale und regionale Presse zeigte sie, dass die öffentliche Erinnerung an die DDR fast ausschließlich auf den Mechanismen der Diktatur basiert und dass für die Ostdeutschen keine Identifikation, also auch kein Konsens über eine gemeinsame, geteilte Erinnerung an die DDR möglich ist. Sie weist nach, dass die häufigsten Schlüsselbegriffe in diesen schriftlichen und mündlichen Quellen aus dem Wortfeld der staatlichen Herrschaft kommen: »Inhaftierung«, »Diktatur«, »Herrschaftsmechanismen und -instrumente«, »Mauer«, »Flucht«, »Opfer«. Es folgen Bezüge auf den Themenblock um die Opposition wie »antifaschistischer Widerstand« und »friedliche Revolution«. Der Alltag und alles, was mit dem Leben der Bürger zu tun hat, taucht noch seltener auf: Die Begriffe »Kindererziehung« und »Kinderkrippe« tauchen in den von Pamela Heß gewählten Kategorien erst an 22. Stelle der Häufigkeit auf, die »soziale DDR« teilt sich mit anderen Begriffen den 24. und letzten Platz. Für den Historiker Thomas Ahbe lässt sich diese Feststellung mit der staatlichen Geschichtspolitik erklären, die durch eine einseitige Darstellung auffällt und die DDR auf die Diktatur, die Stasi, die Unterdrückung der Opposition und die körperliche und psychische Gewalt gegen die Opfer reduziert.432 Mehrere Artikel von Ilko-Sascha Kowalczuk zu diesem Thema haben eine interessante Diskussion angestoßen.433 Nachdrücklich fordert er eine andere Beziehung zur Vergangenheit der DDR und eine Pluralisierung der Forschung, die dem Opportunismus mancher Historiker ein Ende setzen würde, welche die DDR nur unter dem Aspekt von Diktatur und Unterdrückung wahrnehmen. Er beklagt auch die Hegemonie einer DDR-Forschung, deren einziges Ziel darin bestehe, die neue Berliner Republik zu rechtfertigen (»Zweckdienlichkeit der 431 Pamela Heß, 2014, S. 195. 432 Siehe Thomas Ahbe, 2015. 433 Siehe Ilko-Sascha Kowalczuk, 2015.

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Geschichte«).434 Kowalczuk betont, dass es inzwischen eine großzügige Finanzierung für das Studium der DDR-Geschichte gibt. Die Behörde des Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen dient als ein Modell. Außerdem gibt es zwei Kommissionen im Bundestag, zahlreiche Vereine zur Vertretung der politischen Opfer und seit 1998 die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Die Bilanz dieses Aufwands ist jedoch zwiespältig. Für Kowalczuk befindet sich die DDR-Forschung in einer »Insellage«435. Es gibt tatsächlich in Deutschland eine Diskussion um die DDRGeschichte,436 der eine »Verinselung« droht, also eine zunehmende Isolierung innerhalb der deutschen Geschichtsforschung. Ihr fehlt eine universitäre Verankerung: Es gibt keine Lehrstühle, die auf DDR-Forschung spezialisiert sind, und oft werde diese Forschung, so Kowalczuk, von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur monopolisiert, also von nicht-universitärem Personal mit politischen Zielen. Kowalczuk spricht von »Geschichtspolitikern am Werk«. Die Folge sei, dass sich die DDR-Forschung nur um ihren »volkspädagogischen Auftrag«437 drehe, weil das Verständnis der Diktaturen die Identifikation der Deutschen mit der Demokratie und ihr Engagement dafür verstärken könne. Es ist jedoch offensichtlich, dass diese Verbindung nicht automatisch funktioniert, und selbst wenn es so wäre, müsste man zugeben, dass man gescheitert ist. Nationalismus, Rassismus und Homophobie nehmen heute trotz dieser »pädagogischen« Bemühungen in den neuen Ländern weiter zu. Die jüngsten Erfolge der AfD im Osten bestätigen das leider. Viele Untersuchungen über die DDR, die durch von Kowalczuk genannte Institutionen gefördert wurden, dienen dem politischen Ziel der Legitimierung der Berliner Republik durch eine sehr einseitige Lektüre der gesellschaftlichen Realität der DDR. Kowalczuk kommt zwar das Verdienst zu, mit diesem Artikel für Aufsehen gesorgt zu haben, aber er ist nicht ganz vollständig, denn neben 434 Siehe ebd. 435 Ebd. 436 Hier sei vor allem auf Frank Möller & Ulrich Mählert, 2008, sowie auf Ulrich Mählert, 2016, verwiesen. 437 Ilko-Sascha Kowalczuk, 2015. Kowalczuk verwendet den sehr polemischen Begriff der Aufarbeitungsindustrie, um die Arbeit über die SED-Diktatur zu beschreiben, deren Ergebnis zu einem seiner Meinung nach sehr einseitigen DDR-Bild führt.

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der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gibt es noch andere Forschungszentren wie das Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und einige deutsche zeitgeschichtliche oder soziologische Lehrstühle in Berlin, Jena, Erfurt, Magdeburg, Rostock oder das HannahArendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden, und das Zentrum Marc Bloch für Sozial- und Geisteswissenschaften in Berlin.

Seit 2015: Ein neuer Blick? Das Jahr 2015 stand in mehrfacher Hinsicht für eine Erneuerung der wissenschaftlichen Ansätze. Es ist zwar noch zu früh, um deren Wirkung auf die ostdeutsche Erfahrung und ihre Übertragung in einen kollektiven Diskurs zu bewerten, aber wir erkennen drei Punkte, die diese Veränderung im Blick auf die DDR kennzeichnen. Die Öffnung der DDR-Forschung profitiert zum einen vom Beitrag der postkolonialen Studien, die auch in der Transformationsforschung in den osteuropäischen Ländern immer häufiger zum Tragen kommen. Für Deutschland besteht weiterhin das Risiko, die Polemik über die Kolonisierung Ostdeutschlands durch die Bundesrepublik anzufachen, auch wenn der postkoloniale Ansatz nicht das Geringste mit dieser Polemik zu tun hat. Für die französische Forschungsperspektive kommt ein zweiter Aspekt hinzu: Die Verwendung des Begriffs »postkolonial« ist in Frankreich oft ganz anders als im angelsächsischen Raum, denn es gibt ein tiefes Missverständnis über die Bedeutung des Begriffs. Postkoloniale Studien, postcolonial studies, haben sich in den letzten 30 Jahren zuerst in den USA, dann im gesamten angelsächsischen Sprachraum entwickelt. Ebenso wie der Begriff »Postmodernismus«, eine kritische Strömung, auf die die postcolonial studies zurückgehen, meint das »Post« nicht ein »Danach«, wie man es in Frankreich gern interpretiert, sondern ein »Darüber hinaus«, einen radikalen Bruch mit der linearen, chronologischen und fortlaufenden Lesart der Geschichte. Um neue Perspektiven zu eröffnen, muss der Historizismus als Schema eines konstanten, linearen Fortschritts, das aus dem Übergang des Kommunismus zum Postkommunismus einen Schritt dieser linearen Geschichte machen würde, infrage gestellt werden. Bei den postkolonialen Studien geht es nicht um einen anderen Blick auf die Kolonialherrschaft, der die frühere Peripherie ins Zentrum stel229

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len würde, sondern um den Verzicht auf das koloniale Paradigma. So lässt sich erklären, warum die postkolonialen Studien nicht nur eine Disziplin, sondern auch eine Methode sind. Ihr theoretischer Beitrag zur Forschung über die DDR und die anderen Ostblockstaaten richtet den Fokus auf das Postulat, dass der Kommunismus nicht allein mit den Analysekategorien der Bundesrepublik und der liberalen Demokratie erfasst werden kann. Stattdessen sind eigenen Maßstäbe und Charakteristika heranzuziehen, um unabhängig vom Übergang zur Vereinigung, der auf den Mauerfall folgte, über ihre Geschichte und Soziologie nachzudenken. Seit dem Herbst 2015 und der Ankunft vieler Geflüchteter genießt die Migrationsforschung in Deutschland wachsendes Interesse. Eine im Januar 2019 erschienene Studie438 über die gesellschaftliche Situation in Ostdeutschland übernimmt Kategorien der Migrationsforschung für die Erfahrungen der Ostdeutschen nach 1989 bzw. 1990 auf dem Gebiet der neuen Länder. Die Ergebnisse sind zwar umstritten, aber sie haben das Verdienst, eine Diskussion über die kollektive ostdeutsche Erfahrung auszulösen.439 Das Jahr 2015, in dem hunderttausende Geflüchtete nach Deutschland kamen und die ausländer- und islamfeindliche PEGIDA-Bewegung gewaltigen Auftrieb erhielt, war ein interessantes Jahr bezüglich der Entwicklung der DDR-Geschichtsforschung und deren Blickrichtung auf die Biografien der früheren DDR-Bürger. Die Hypothese, der starke Aufschwung der PEGIDA-Bewegung im Osten lasse sich damit erklären, dass sich die Ostdeutschen nicht gehört fühlen, verdient zumindest Beachtung. Zum anderen scheint die Geschichtsforschung endlich bereit, die individuellen Erfahrungen zu analysieren, die die Ostdeutschen seit mehr als 30 Jahren gesammelt haben. Wenn sich die Forschung nun den Lebensläufen und der Rolle des Zeitzeugen in der Geschichtsschreibung zuwendet, geht es nicht nur um eine methodologische Entscheidung, sondern um eine Positionierung.440 Bereits 2006 lenkten der Historiker Martin Sabrow und die von ihm geleitete Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbunds »Aufarbeitung der SED-Diktatur« die Aufmerksamkeit auf die »konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR«441 und die Tatsache, 438 Siehe Naika Foroutan, Frank Kalter & Mara Simon Coşkun Cana, 2019. 439 Siehe unter anderem Steffen Mau, 2019, S. 215–218, und Patrice Poutrus, 2019. 440 Dies ist eine Entwicklung, die durchaus von einem Generationswechsel unter den Wissenschaftlern profitiert. 441 Siehe Martin Sabrow, 2007, sowie Klaus Christoph, 2013.

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dass es unverzichtbar sei, den repressiven Aspekt des Staates zu definieren, also die Leiden und die Opfer zu nennen, die das System gefordert habe. Aber die Kommission betonte auch – zu Recht – die Wichtigkeit, sich mit ganz unterschiedlichen »Bindungskräften« an das System zu beschäftigen, die sich nicht auf eine Täter-Opfer-Beziehung reduzieren ließen. Vielmehr muss man verstehen und erklären, warum und wie diese mehr oder weniger stabile Diktatur so lange bestanden hat. Natürlich sind die Mauer und die Sowjetunion wichtige Elemente der Antwort, aber sie genügen nicht, um die Langlebigkeit zu erklären. Und es genügt auch nicht mehr, zu sagen, dass Polizeikontrolle und Unterdrückung mit den Jahren wuchsen, denn am Ende dieser immer größeren Kontrolle brachen die SED-Führung und der Staat zusammen. Wie wir gesehen haben, war dieser Ansatz sehr umstritten. Elf Jahre später, 2017, schrieb das Ministerium für Bildung und Forschung eine unerwartete und umfangreiche Fördermaßnahme für die DDR-Forschung aus. »Die DDR bildet bis heute – oft unbewusst – einen Fixpunkt in den Auseinandersetzungen um das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland. Sie scheint auf in Debatten um Macht und Herrschaft, in Diskursen über Gerechtigkeit, Recht und Unrecht, im Misstrauen gegen etablierte Medien und Journalismus, im Streit um die öffentliche Rolle von Religionen, im Umgang mit Migration, dem Familienbild und der Vereinbarkeit von Elternschaft und Beruf sowie nicht zuletzt in Erwartungen an den Staat. Obwohl Wissenschaft und Forschung viele Kenntnisse und Einsichten über das Funktionieren der DDR-Gesellschaft erarbeitet haben, ist das Wissen über die DDR in weiten Teilen der Bevölkerung gering. Zudem bestehen getrennte Erinnerungskulturen in Ost und West auch mehr als 25 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung. Besonders an Universitäten ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der DDR und dem SED-Unrecht nur schwach entwickelt. Die Erforschung des Unrechts bleibt eine wichtige Aufgabe – auch als Dienst der Wissenschaft an den Opfern der DDR-Diktatur.«442

Dieses Forschungsvorhaben war ein Anschub, um den Opfern der SED einen Platz in der deutschen Gesellschaft zu geben und die Biografien der Ostdeutschen ebenso zu berücksichtigen wie die der Westdeutschen: 442 Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2017.

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»Zentrales Ziel ist eine stärkere strukturelle Verankerung der DDR-Forschung in der deutschen Hochschul- und Forschungslandschaft. Von großer Bedeutung hierfür ist die stetige und umfassendere Bearbeitung des Themas an den Universitäten, deren Förderung im Fokus dieser Maßnahme steht. Zugleich wird die Möglichkeit geschaffen, die Kompetenzen der außeruniversitären Forschungsinstitute für eine Stärkung der DDR-Forschung an den Universitäten zu nutzen. Gleiches gilt für die Kompetenzen von Gedenkstätten, Opferverbänden, Museen und weiteren relevanten Einrichtungen (z. B. Stiftungen, Bundesarchiv etc.). Diese dritte Gruppe soll gleichermaßen als Forschungs- wie auch als Transfer- und Bildungspartner einbezogen werden können.«443

Das Ministerium stellte 40 Millionen Euro zu Verfügung, um bis zu sechs Jahre 14 Forschungsgruppen aus mehr als 30 Instituten zu finanzieren. »Zu den Forschungsfragen gehören das begangene Unrecht in Haftanstalten, Erziehungsheimen, im Gesundheitswesen sowie gegen Ausreisewillige, aber auch Modernisierungsblockaden in Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein weiterer Fokus lag auf den Nachwirkungen der DDR und des Transformationsprozesses nach 1989/90 auf aktuelle Entwicklungen.«444

In Jena bzw. Erfurt umfasst das Projekt »Diktaturerfahrung und Transformation. Biografische Verarbeitungen und gesellschaftliche Repräsentationen in Ostdeutschland seit den 1970er Jahren« die 20 Jahre vor dem Mauerfall.445 Andere Projekte betrachten psychosoziale Aspekte unter verschiedenen Blickwinkeln. In der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie des Universitätsklinikums Leipzig geht es um »Sexuelle Gewalt und traumatische Erfahrungen in DDR-Kinderheimen«.446 Hier werden die Bedingungen und Folgen der Unterbringung in 443 Ebd. 444 Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2018. Forschungsministerin Karliczek (CDU) hat 2018 erklärt, es sei ihr besonders wichtig, »dass die Forschungsergebnisse in die Gesellschaft getragen« würden. Unter dem im Literaturverzeichnis angegebenen Link findet man auch die Liste der 14 Projekte. 445 Siehe zum Thema Transformationsgeschichte auch das Verbundprojekt »Das umstrittene Erbe von 1989« in Leipzig und Freiburg. 446 Das Projekt »Seelenarbeit im Sozialismus«, das am Institut für Psychosoziale Medizin, Psychotherapie und Psychoonkologie des Universitätsklinikum Jena koordiniert wird,

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Kinderheimen und Jugendwerkhöfen aus der Sicht der Heiminsassen und des medizinischen Personals erforscht. Zwischen 1949 und 1989 lebten fast eine halbe Million Kinder und Jugendliche in Heimen. Das Projekt bietet darüber hinaus psychologische Hilfe für Betroffene an. In Berlin arbeitet ein anderer Forschungsverbund an der »Erfassung und Analyse der politischen Repression in der SBZ und der DDR« unter anderem an einer Datenbank in Anlehnung an die für die Opfer der Shoah in der Gedenkstätte Yad Vashem, in der alle Opfer der nationalsozialistischen Judenvernichtung und -verfolgung mit ihrem Namen und wenn möglich ihrer Biografie, einem Foto, wichtigen Dokumenten und einem Interview hinterlegt sind. Mit dem Projekt sollen auch die Spätfolgen für die Gesundheit der Opfer der Verfolgung zu DDR-Zeiten sowie die rechtlichen Grundlagen von Haft und Verfolgung erforscht werden. Als letztes Beispiel verweisen wir auf das Projekt »Menschen mit Behinderung in der DDR«, das von den Historikern der Universität Kiel koordiniert wird. Es will »bestehende Forschungslücken zur Alltags- und Kulturgeschichte von Menschen mit Behinderung in der DDR« schließen. Außerdem soll es die Lehre der DDR-Geschichte an dieser westdeutschen Universität fördern. Es fällt auf, dass zahlreiche geförderte Teilprojekte auf narrative Interviews zurückgreifen, manche auch auf eine Oral-History-Forschung. Da die Rechtsextremen im Osten deutlich an Macht gewinnen, ist die Einbeziehung der Forschung, um Erklärungen zu finden und sich dieser Entwicklung entgegenzusetzen, unverzichtbar.447 Können wir noch neue Erkenntnisse aus den Lebenserzählungen der Menschen, die in der DDR gelebt haben, ziehen? Ließe sich das globale Bild der DDR und der neuen Länder somit allmählich verändern?448 Das Wort zu ergreifen, ist nicht neutral. Das lässt sich mit Blick auf das zitierte Buch von Jana Hensel und Wolfgang Engler feststellen. Es hat eine Diskussion darüber ausgelöst, was beschäftigt sich mit der ambivalenten Rolle der Psychotherapie, Psychiatrie und Psychologie in der DDR. 447 Siehe unter anderem die neuesten lokalen Recherchen für den Fall Erfurt, die unveröffentlichten Masterarbeiten von Max Zarnojanczyk (2020) und Alexandra Petri (2021) und das Forschungsprojekt von Franka Maubach über Rostock-Lichtenhagen (https:// www.verbund-dut.de/teilprojekte/umbruch/ [04.05.2022]). 448 An der Universität Erfurt am Lehrstuhl Neuere und Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik, Christiane Kuller, wird unter diesem Postulat seit Herbst 2021 eine Oral-HistoryForschungsstelle zur ostdeutschen Erfahrung aufgebaut (https://www.uni-erfurt.de/ forschung/forschen/forschungsprojekte/oral-history-forschungsstelle [04.05.2022]).

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es heißt, ostdeutsch zu sein, was diese Erfahrung für den Einzelnen bedeutet. In den letzten 30 Jahren wurden viele Bücher über die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR geschrieben, doch bleiben zur Geschichte der deutschen Vereinigung noch viele Fragen offen. In den Diskussionen der 1990er Jahre ging es vor allem um die Mängel dieser Vereinigung. Heute erleben wir eine Historisierung der Jahre der Vereinigung und einen Versuch, die individuellen Erfahrungen zu analysieren. Der Begriff der »Transformation« hat den der »Wende« in der wissenschaftlichen Forschung ersetzt. Immer mehr kommunale und regionale Archive werden geöffnet, die Historiker verweisen darauf, dass die Geschichte der DDR nicht als Sackgasse in die Geschichte der Vereinigung führen kann. »Die symbolische Gewalt der Nicht-Anerkennung, die auf Ostdeutschland lastet«, ist zum Teil »der Gleichgültigkeit und Unwissenheit«449 geschuldet, der Tatsache, dass sich die Westdeutschen von dieser Geschichte nicht betroffen fühlen. Der Zorn der Ostdeutschen macht allmählich einer Besänftigung Platz, die vom aufmerksamen Zuhören ihrer im Osten gemachten Erfahrungen begleitet werden muss. Heute ist die Verbindung zwischen individueller Erfahrung und kollektivem Handeln ein Thema der Geschichtsschreibung geworden. Heute ist es Zeit, die deutsche Vereinigungsgeschichte als eine deutsch-deutsche Geschichte von unten zu denken und zu erzählen, wobei westdeutsche Erfahrungen in die Erzählung der ostdeutschen Horizonte einzubeziehen sind. Wenn man vom individuellen Verhalten ausgeht, will man nicht nur einen »Wirklichkeitseffekt« erzielen, sondern das globale Funktionieren der Gesellschaft verstehen und die Mikrobeziehungen der Macht berücksichtigen. Hinsichtlich der Geschichte der früheren sozialistischen Staaten, darunter der DDR, fangen wir gerade erst an zu realisieren, was eine Oral History beitragen kann.450 Es ist wichtig, mündliche Lebenserzählungen zu sammeln, um ein facettenreiches, gleichwohl kritisches Bild der Vergangenheit zu ermöglichen. Dieses Buch beruht auf biografischen Interviews mit früheren DDR449 Carola Hähnel-Mesnard, 2020. 450 Das erste große Oral-History-Projekt in der DDR fand 1987 und 1988 statt; siehe dazu Lutz Niethammer, Alexander von Plato & Dorothee Wierling, 1991. Siehe zur Oral History in Osteuropa auch Agnès Arp, 2017, das Bulletin 45 über Rumänien (https://journals.openedition.org/afas/3275 [04.05.2022]) sowie Julia Obertreis & Anke Stephan, 2009.

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Schlussbemerkung

Bürgerinnen und -Bürgern. Wir wollen der DDR-Geschichte ihre Unausweichlichkeit nehmen, denn nichts hatte sie dazu bestimmt, am Ende in der Bundesrepublik aufzugehen. Ohne die Lücken, Schwächen und repressiven Strukturen des sozialistischen Systems zu verbergen, will es eine andere Beziehung zur Erinnerung an die DDR vorschlagen, die nicht mehr nur als kurzer, schnell vergessener Einschub in der deutschen Geschichte wahrgenommen wird.

Schlussbemerkung In der Einleitung einer Zusammenstellung von Artikeln deutscher Historiker über die DDR, »Weder Ost noch West. Ein Themenschwerpunkt über die schwierige Geschichte der Transformation Ostdeutschlands«, von 2019 findet sich folgende interessante Bemerkung: »Wo kommen Sie eigentlich her? Diese Frage kennen vermutlich alle, die zu Ostdeutschland forschen. Als ob wir als Historiker*innen in der Antike gelebt haben müssten, um zur Antike zu forschen.«451 In anderen Forschungsgebieten stellt sich diese Frage nicht. Osteuropa-Forscher sehen die DDR nur selten als ihr Forschungsthema. Wegen der Teilung und der Vereinigung war ihr ein besonderes Schicksal bestimmt. Aber zum Westen gehört sie auch nicht richtig, ist also gewissermaßen nicht westlich genug für den Westen und nicht östlich genug für den Osten. Die eine große Erzählung der DDR gibt es nicht. Wenn man über den Platz der DDR im Alltag und die Erinnerungen der Ostdeutschen schreibt, muss man sich auf Nuancen einlassen, graduelle Unterschiede und Abstufungen jeder Art mögen. Deshalb kann man unmöglich auf die zahlreichen – und manchmal gegensätzlichen – Geschichten darüber verzichten, wie der biografische Bruch erlebt wurde, den es durch das Verschwinden der DDR in allen ostdeutschen Biografien gab. Während manche das Gefühl hatten, ihnen wüchsen neue Flügel, fühlten sich andere wie amputiert. Die Erfahrung tiefer Destabilisierung und Verunsicherung angesichts rasanter Entwicklungen und diverser Verluste – Orientierungspunkte, Alltagsgewohnheiten, Feinde, Beziehungen – stand neben dem Gefühl von Freiheit, Öffnung für die Welt und irgendwann dem Gefühl, dass man das 451 Marcus Böick & Kerstin Brückweh, 2019.

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verlorene Land mehr vermisste, als man erwartet hatte. Vielleicht wählte Christine de Mazières für Trois jours à Berlin, dessen Handlung vom 8. bis 10. November 1989 spielt, deshalb die Form eines vielstimmigen Romans, in dem sie zeigte, wie verschiedene Personen auf den Mauerfall reagierten, sodass man aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf das Ereignis blicken kann.452 Einer der Protagonisten heißt übrigens Cassiel, wie der Engel in Wim Wenders’ Film Der Himmel über Berlin, der von oben auf die Bewegungen der Menge und die Vielfalt individueller Verhaltensweisen sieht.453 Niemand wird bestreiten, dass die 40 Jahre DDR prägende Spuren hinterlassen haben und dass sich ihre Bürger nach 1989 bzw. 1990 neu erfinden mussten. Die amerikanische Anthropologin Daphne Berdahl, die sich viel mit der ostdeutschen Gesellschaft nach der Vereinigung beschäftigt hat, beschreibt das Phänomen mit einer amüsanten Anekdote: Ein junger Angestellter zerbricht sich vor seinem ersten Arbeitstag in einem westdeutschen Unternehmen den Kopf, ob der Hemdkragen über oder unter dem Pullover getragen werden muss. Berdahl beschreibt, wie er »mit sich ringt, um seine Position im neuen, feindlichen, sozial und kulturell ungeduldigen Deutschland zu definieren«.454 Die vermeintlich harmlose Geschichte sagt für die Anthropologin viel über die Bewusstwerdung der Ostdeutschen. Nur sie mussten die neuen Codes erlernen und sich anpassen, nicht aber die Westdeutschen. Plötzlich sahen sie sich genötigt, Strategien zu entwickeln, um sich zu integrieren. Der Mann aus der Anekdote entschied sich am Ende, einen Kragenzipfel über und den anderen unter dem Pullover zu tragen! Die Interviews, die wir für dieses Buch geführt haben, illustrieren die Vielfalt, mit der die Ostdeutschen mit der Distanz von 30 Jahren auf den Mauerfall zurückblicken. Es gibt keine automatische Kausalität. Der Rückblick unterscheidet sich je nach der Generation, zu der sie gehören, der Familie, in der sie aufgewachsen sind, den Berufen, die sie ausgeübt haben, ihrer Nähe zur Macht und den politischen Überzeugungen, die sie vertraten. Die Vielfalt der biografischen Konstellation gibt das Bild von Franz Wilhelm Seiwert, das wir für den Bucheinband ausgewählt haben, sehr schön wieder. Die Assoziationen unserer ostdeutschen Freunde zu diesem Bild liefen darauf hinaus, dass die Menschen in eine Reihe gestellt, in eine Gruppe verpflanzt wurden. Einheit, Gleichheit, Dumpfheit. Jede(r) hat in 452 Siehe Christine de Mazières, 2019. 453 Cassiel bleibt Engel, während Damiel aus Liebe zu einer Trapezkünstlerin Mensch wird. 454 Daphne Berdahl, 2009, S. 207.

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Schlussbemerkung

eine andere Richtung geschaut, in die falsche, in die richtige, in seine eigene, hat hingeschaut, weggeschaut, die Augen zugemacht oder besonders weit auf … Und trotzdem sind fröhliche Farben als Ausdruck für Lebensfreude sichtbar, im Gegensatz zum grauen Alltag in der DDR. Kunterbunt sollte der Sozialismus sein, vielseitig, lebensbejahend, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit  … Die Komposition, der Bildaufbau des Gemäldes erinnerte einige unserer Freunde auch an die Wandgestaltung im Kulturhaus, in der Mensa, der Kantine, im Treppenhaus des Krankenhauses usw. Man redet heimlich, in kleinen Gruppen, zu zweit, zu dritt, zwei Personen beeinflussen eine dritte. Oder eine redet, die andere hört zu, die dritte (be)lauscht.455 Die von uns gesammelten Berichte zeigen, dass beträchtliche Unterschiede zwischen Ost und West fortbestehen und 30 Jahre Einheit überlebt haben, z. B. bei der Form von Solidarität, der Definition bestimmter Berufe, der Idee eines dritten Wegs, der Wahrnehmung der Rolle des Staates oder auch an ganz unerwarteter Stelle wie dem Leistungsniveau bei Mädchen in Mathematik. Es war interessant, Erklärungen für diese Langzeitwirkungen über mehrere Jahrzehnte zu untersuchen, die kein Wissenschaftler vorhergesagt hatte. Was die ehemaligen DDR-Bürger, die wir befragt haben, eint, ist das Gefühl einer unwiderruflichen Abwesenheit, die der verschwundene, von einem anderen geschluckte Staat hinterlässt, unabhängig davon, ob diese Abwesenheit als positiv oder negativ wahrgenommen wird, sowie die von allen – bis auf eine Person – geteilte Meinung, dass es gut ist, dass es die DDR nicht mehr gibt. Sie freuen sich vor allem über die Freiheit, die sie durch die Vereinigung gewonnen haben, relativieren sie allerdings im Hinblick auf die wachsende Ungleichheit, die deren Wahrnehmung im Alltag beschränkt. So bleibt die Reisefreiheit abstrakt, wenn man arbeitslos ist und Mühe hat, mit dem Geld über die Runden zu kommen. Andere betonen die Erleichterung, nicht mehr in einer Diktatur zu leben, nicht mehr unter den bürokratischen Schikanen zu leiden und die ständige Verpflichtung zu verspüren, sich in der sozialistischen Gesellschaft zu engagieren. Doch all das ändert nichts am Gefühl einer Abwesenheit. Die meisten Frustrationen und die Wut sind nicht nur mit der Zeit in der DDR verbunden, sondern auch mit dem, was nach 1990 stattgefunden hat. Die Ostalgie als Beschreibung der gefühlten Abwesenheit ist also vor allem eine Reak455 Wir bedanken uns hier bei unserem Freund Martin, der als Künstler und Puppenspieler sein Publikum immer wieder verzaubert, für seine inspirierenden Worte!

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tion auf die Art, wie die Einheit vollzogen wurde und nicht der Wunsch, die alte Gesellschaft wiederherzustellen. Der Film Der Kontrolleur, 1994 gedreht und 1995 bei einem Filmfestival in Ludwigsburg als bester Spielfilm ausgezeichnet, erzählt das Leben von Hermann Hoffstedt, der 30 Jahre lang Grenzsoldat in der DDR war. Als unmittelbare Folgen des politischen Umbruchs verliert er seine Arbeit, später dann seine Frau und sein Haus. Er weigert sich, die Realität anzuerkennen, und geht jeden Morgen in das verödete einstige Grenzgebiet, das er als seinen Arbeitsplatz ansieht. Er macht alles wie früher, die gleichen Gesten, die gleichen Parolen, er spricht mit den Gespenstern seiner Vergangenheit, spricht den ganzen Tag mit ihnen, bis er nach Hause geht. Mit diesen Ritualen will er – wie jedes Gespenst, das etwas auf sich hält! – eine Anwesenheit in der Abwesenheit neu erschaffen. Dieser Idee folgte auch die Künstlerin Sophie Calle, die sich immer für die Anonymen, die zufälligen Begegnungen interessiert hat. Ende der 1970er Jahre kehrt sie von einer Weltreise nach Paris zurück und beschließt, Unbekannten auf der Straße zu folgen, einem Mann folgt sie sogar bis nach Venedig. Dieses Abenteuer erzählt sie in 55 Fotos in Suite vénitienne. Für das Projekt Fantômes, das sie zwischen 1989 und 1991 im Musée d’Art moderne de la Ville de Paris realisierte, bat sie das Personal, ihr vor dem Platz des vorübergehend abgehängten Gemäldes von Bonnard Weiblicher Akt in der Badewanne das Bild zu beschreiben und es zu zeichnen. Das verschwundene Bild wurde zur Erinnerung, und Sophie Calle aktualisierte das Gedächtnis derer, die es kannten, es vor dem leeren Platz wiederbelebten, in einer sehr speziellen Form von Anwesenheit und Abwesenheit. Die Texte und Zeichnungen wurden ein neues Werk, ein »Gespenst-Werk«, in das jede(r) seine Träume, sein Vergessen, manchmal seine Gleichgültigkeit, seine oft verzerrten Erinnerungen projizieren kann.456 Es ist vielleicht kein Zufall, dass sich Sophie Calle auch für Ostberlin nach der Vereinigung interessiert hat: »1996 schlug mir ein Berliner Galerist eine Ausstellung vor und beschloss, mir von seiner Stadt zu erzählen, bis meine Inspiration käme. Es hat funktioniert … ich bin zum ersten Mal im Leben nach Berlin gekommen und dem Verschwinden bestimmter politischer Symbole nachgegangen.«457 456 Siehe Anne Sauvageot, 2007, S. 49–53. 457 Sophie Calle, 1999. Siehe darüber hinaus auch Sonia Combe & Thierry Dufrêne, 2009.

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Schlussbemerkung

Calle fuhr also nach Berlin, um die Spuren verschwundener Symbole zu fotografieren und Passanten, die sie bei ihren Stadtwanderungen traf, nach ihren Erinnerungen zu fragen. Daraus wurde die Installation Die Entfernung/The Detachment mit riesigen Fotos und den Texten der gesammelten Erinnerungen. Das Werk wurde in einem Gebäude des Deutschen Bundestags ausgestellt und als Buch publiziert.458 Der Titel Entfernung meint sowohl das Wegnehmen, Eliminieren dieser Symbole als auch den Abstand, den man räumlich oder zeitlich auffassen kann. Die DDR ist heute, nach 30  Jahren, ein zeitlich wie auch räumlich weit entferntes Objekt. Viele Symbole und Orientierungspunkte wurden entfernt, manche ganz bewusst wie die Straßennamen und die meisten Denkmäler, manche einfach durch die Zeit, die verlangt, dass Gebäude renoviert, Stadtviertel umgestaltet, Straßen modernisiert werden. Die heutige Suche nach dem, was von der DDR bleibt, lässt sich wie ein Abenteuer lesen, wie der Versuch, eine vergangene Zeit festzuhalten, von dem man weiß, dass er scheitern muss. Sie gleicht der Eroberung einer Vergangenheit, einer rückwärtsgewandten realen Zeitlichkeit, die jedoch allzu oft, vor allem in den Medien, vereinfacht als linearer Fortschritt dargestellt wird. Doch das Leben in der DDR wird auch deshalb wieder interessant, weil sie uns etwas über mögliche Alternativen zur Konsumgesellschaft beibringen kann und weil sie in den Erinnerungen der Menschen nie aufgehört hat zu existieren, egal, ob sie sie 40 Jahre lang, ein paar Monate oder gar nicht erlebt haben. Der aus der DDR stammende Historiker Gerd Dietrich, der nach der Vereinigung weiter gelehrt hat, erklärte seinen Studenten gern, es sei absurd, von der »ehemaligen DDR« zu sprechen: Man nenne seinen verstorbenen Großvater nicht »ehemaliger Großvater«, sondern Großvater und spreche in der Vergangenheit von ihm. Auch der Begriff »Unrechtsstaat« erschien ihm gefährlich: Im Kaiserreich hätten die Herrschenden die Sozialdemokraten verfolgt, einen Genozid an den Hereros in Namibia begangen und einen Weltkrieg verschuldet. Dennoch rede man nicht vom wilhelminischen »Unrechtsstaat«, das sei keine wissenschaftliche Kategorie, sondern ein Kampfbegriff.459 Diese sprachlichen Elemente sind aufschlussreich. Die DDR ist sowohl eine kollektive Geschichte als auch die Summe persönlicher Lebensläufe. In der Graphic Novel Such dir was aus, aber beeil dich! Kindsein in 458 Siehe Sophie Calle, 1996. 459 Siehe die Erinnerungen seines Doktoranden Karsten Krampitz, 2019.

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zehn Kapiteln erzählt Nadia Budde von ihrer Kindheit in Ostberlin. Sie beschreibt, was es in ihrer Kindheit an Universellem gab: »Kindheit war: hinfallen, im Tunnel schreien, Läuse haben, Brille kriegen, Schlüssel verlieren, aus der Zahnlücke Blut saugen.«460 Sie beschreibt auch die Ferien im kleinen Dorf ihrer Eltern, sie fielen »dort auf dem Land nicht besonders auf. Vielmehr schien das Dorf fast ausschließlich von Großeltern-Land bevölkert zu sein.« Manche Anekdoten lassen jedoch erkennen, dass es sich um die DDR handelt: Sie traut sich nicht, ihrer Freundin am Telefon von der Serie Starsky und Hutch zu erzählen, weil »man nie weiß, wer mithört«, wie ihr Papa sagt, sie beschreibt den Plattenbau, in dem sie wohnte, und den Müllschluckerschacht, wo der Müll unten mit lautem Krachen aufschlug, die Kinder, die alle gleich angezogen waren, den »Westbesuch«, den man anmelden musste. Und das Transparent aus hartem Pappkarton, das die Gemeinde am Haus ihrer Großeltern angehängt hatte, auf dem die Losung der Pioniere »Für Frieden und Sozialismus immer bereit«, stand, und aus dem der Großvater dann Eierlegeboxen baute: Vielleicht legten die Hühner in den folgenden Wochen sogar mehr Eier. Die Kindheitserinnerungen bringen sie zu einem Gedanken über die Zeit, den Nadia Budde so zusammenfasst: »Zeit ist ein Pilzwald. Mit Messer und Korb irrt man zwischen den Bäumen herum und fängt mit dem Gesicht Spinnweben ein.«461 Diesen Bezug zur vergehenden Zeit finden wir in verschiedenen Berichten von DDR-Bürgern: Die DDR ist weit weg! Aber manchmal fängt das Gesicht eine Erinnerung, einen Geruch, einen Reflex, eine Gewohnheit ein und weckt eine unerwartete Sehnsucht, manchmal wird sie ganz konkret im Kontext der sozialen Sackgassen der heutigen Gesellschaft geäußert. Die deutsche Vereinigung verlief friedlich und ohne Tote, vor allem dank der Rolle Gorbatschows, der nicht auf einige Mitglieder seines Politbüros hörte, die schon im Oktober 1989 militärisch eingreifen wollten, aber auch, weil Deutschland große politische Reife, Mut und staatsbürgerliches Engagement bewies, das in großem Maß von den Ostdeutschen getragen wurde: Anders als bei Bismarck 1871 erfolgte die Einigung nicht mit »Blut und Eisen«, sondern durch Telefon und Scheckheft. Der friedliche Charakter der Vereinigung zeigt, dass sich die beteiligten Kräfte, vor allem die Bürgerbewegungen und die ostdeutschen Intellektuellen mit ihrer Forderung nach Gewaltlosigkeit durchsetzen konnten. Bedauerlich 460 Nadia Budde, 2009. 461 Ebd.

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Schlussbemerkung

ist nur, dass sie im öffentlichen Raum schon sehr bald nicht mehr zu vernehmen waren. Die friedliche Vereinigung ist das Zeichen der unbestreitbaren Reife Deutschlands am Ende des 20. Jahrhunderts.462 30 Jahre nach dieser positiven Bilanz gibt es jedoch Grund zu der Annahme, dass diese politische Reife nicht immer zu den richtigen Entscheidungen geführt hat. Wie bereits beschrieben, war die deutsche Vereinigung keine Vereinigung an sich, da die DDR einfach in der Bundesrepublik aufgegangen ist. Das Tempo der Veränderungen und der Infragestellung eines ganzen Wertesystems war für viele Bürger brutal. Ist dieses Land also ein Ganzes oder wird es ewig gespalten bleiben? 1990 haben die Ostdeutschen pro Kopf dreimal mehr Müll produziert als die Westdeutschen.463 Sie wollten alles wegwerfen, sich der DDR entledigen, wie einem lästigen Objekt. Nicht umsonst war Berlin in den 1990er Jahren das Ziel vieler Künstler aus der ganzen Welt. Man besetzte eine Wohnung und holte sich die ausrangierten Möbel von der Straße. 30 Jahre später stellt man fest, dass vielleicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wurde und dass nicht alles in der kollektiven Erfahrung, die die DDR darstellte, wertlos war. In den Interviews tauchen immer wieder Überlegungen auf, ob die Vereinigung unbedingt so stattfinden musste, wie sie abgelaufen ist, Gedanken über eine ungeschehene Zukunft, und die Chancen einer Vergangenheit, die nicht verwirklicht wurden. Und wenn die Geschichte einen anderen Verlauf genommen hätte? Das nennt man »kontrafaktische Betrachtung«. Quentin Deluermoz und Pierre Singaravélou haben sich theoretisch mit diesem Instrument der Reflexion über die Vergangenheit befasst und die vielfältige Verwendung kontrafaktischer Analysen, von den verrücktesten und irrealsten Alternativweltgeschichten bis zu den seriösesten Hypothesen, betrachtet. »Durch eine Untersuchung der Möglichkeiten kann der Eindruck vermieden werden, das Geschehene sei unvermeidlich gewesen.«464 Sie plädieren dafür, das Kontrafaktische in den Werkzeugkasten 462 Siehe Hélène Miard-Delacroix, 2007. 463 Ostdeutsche, die etwas Geld hatten, nutzten ihre 1990 eins zu eins in DM umgetauschten Ersparnisse, um neue Möbel und Haushaltsgeräte zu kaufen und alles zu entsorgen, was aus der DDR stammte. Deshalb war das Müllaufkommen 1990 so viel höher als im Westen. Das hat sich jedoch schnell angeglichen. 464 Quentin Deluermoz & Pierre Singaravélou, 2016, S. 279–280. Siehe darüber hinaus auch Alexander Demandt, 1986.

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des Historikers aufzunehmen und den Moment zu untersuchen, in dem der Lauf der Geschichte gekippt ist.465 So könne man sich daran erinnern, dass nichts naturgegeben und unvermeidbar sei, dass es in der Geschichte keinen Determinismus gebe.466 Im Grunde enthält jede Analyse gesellschaftlicher Veränderungen eine kontrafaktische Komponente. »Wenn wir die Zukunft der Vergangenheit neu öffnen, verstärken wir unsere Handlungsfähigkeit in der Gegenwart«,467 schreiben Deluermoz und Singaravélou. Genau das tun viele Menschen, deren Berichte wir hier zusammengefasst haben: Sie stellen sich eine andere mögliche Zukunft der DDR-Vergangenheit vor. Sie erinnern sich an den Moment, in dem die Geschichte zu kippen schien, an die Wochen vor und nach dem Mauerfall, an Entscheidungen, die getroffen wurden, und stellen sich andere Möglichkeiten vor, die nicht eingetreten sind. Damit setzen sie nach dem Moment der Eröffnung und zugleich des Endes der Möglichkeiten die Dynamik der Revolution von 1989 fort. Um den Moment 1989 als historische Situation besser zu verstehen, lohnt es sich, diese von den Bürgern selbst präsentierten kontrafaktischen Überlegungen und die Art und Weise, wie diese Zukunft der Vergangenheit sie manchmal geleitet haben, zu berücksichtigen, weil man damit die Ungewissheiten von damals spürbar machen kann, ohne die DDR von ihrem Ende her zu interpretieren.468 Deluermoz und Singaravélou zeigen anhand der Beispiele einer ungeschehenen Zukunft der französischen Revolution, die für die Revolutionen von 1830, 1848 und 1871 maßgeblich waren, dass die ungeschehene Zukunft nicht einfach verschwindet. Man könnte diese Überlegung auf die Revolution von 1989 in der DDR anwenden, sich diese mögliche Zukunft der Vergangenheit vorstellen. Durch diese kontrafaktischen Darstellungen kann man die Verästelungen der revolutionären Entwicklungen wiederfinden und Raum für die Wünsche, die Fantasien und die Befürchtungen der Bürger schaffen, die sich anders nur schwer erfassen lassen. Die Wissenschaftler haben die Aufgabe, »die Kon465 Siehe dazu auch Quentin Deluermoz & Pierre Singaravélou, 2012, und Hélène Camarade, 2021, S. 147–192. 466 Der Historiker Walter Rodney war einer der ersten, der 1972 mit Afrika – die Geschichte einer Unterentwicklung diese kontrafaktische Methode nutzte, um zu beweisen, dass Sklavenhandel und Kolonisierung die »normale« historische Entwicklung Afrikas auf den Kopf gestellt haben. 467 Quentin Deluermoz & Pierre Singaravélou, 2016, S. 118. 468 Siehe Hélène Camarade, 2021, S. 147–192.

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tinuität mit dem Imaginären zu unterlaufen«.469 Damit stellt sich die entscheidende Frage der Kausalität: Die Entwicklung war nicht naturgegeben, die Geschichte der DDR hätte anders enden können, die Vereinigung hätte die Gründung eines neuen Staates ermöglichen können. Diese kontrafaktischen Überlegungen sind interessant, um die Träume der Bürger zu verstehen, aber auch, weil die Utopie ein wertvoller Motor für gesellschaftliche Veränderungen ist, wie René Char wunderbar sagt: »Das Unvollendete summt vor Wesentlichem.«

469 Quentin Deluermoz & Pierre Singaravélou, 2016, S. 123.

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Anhang

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Die lebensgeschichtlichen Interviews Hier wollen wir noch kurz auf unsere Interviewmethode eingehen. Die Methode der Oral History, um lebensgeschichtliche Interviews zu führen, wird seit den 70er Jahren in Deutschland angewendet und hat sich über die Zeit professionalisiert.470 »Oral History« bedeutet wörtlich übersetzt »mündliche Geschichte«; am besten umschreiben lässt sich der Ansatz mit »mündliche Überlieferung« oder »erinnerte Geschichte«.471 Die Gesprächsführung lehnt sich an die narrative Interviewmethode nach dem Soziologen Fritz Schütze an und besteht aus drei Phasen. 1. Die erste Phase wird durch einen einzigen Satz des Historikers eröffnet, der eine Erzählaufforderung enthält, in unserem Fall die Frage, ob die Person uns ihr Leben erzählen möchte. Darauf folgt ein narrativer und völlig offener, einzig von der interviewten Person gestalteter Bericht. 2. In der zweiten Phase werden immanente Nachfragen gestellt, die sich aus dem Gesagten ergeben, um Unklarheiten zu beseitigen. 3. In der dritten Phase folgen schließlich exmanente Fragen, die bisher unerwähnt gebliebene Aspekte ansprechen, die sich auf das Forschungsprojekt beziehen. Ein lebensgeschichtliches Interview dauert drei bis sieben Stunden.472 In der Oral-History-Forschung reden wir von »Interviewpartnern« und 470 Siehe Annette Leo & Franka Maubach, 2013. 471 Siehe Felicitas Söhner, 2021. 472 Die Archivierung der Interviews ist an der Oral-History-Forschungsstelle der Universität Erfurt geplant.

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Biografische Interviews

»Interviewpartnerinnen«, die mit dem Interview eine neue historische Quelle schaffen, anstatt von »Zeitzeugen und Zeitzeuginnen«, die nicht nur ein Ereignis, sondern zugleich die Deutung des Ereignisses bezeugen.473 »Unstrukturierte narrative Interviews bringen genau […] Verwebungen zum Vorschein, da die Interviewpartner als Experten des eigenen Lebens eben nicht nur ihre Geschichte erzählen, sondern auch die Bezüge zu Ereignissen, Personen aus anderen Altersgruppen und Diskursen herstellen. Schließlich setzen sie sich auf mit dem eigenen Leben so wahrheitsgetreu, wie es ihnen möglich ist, auseinander.«474

Für unser Buch haben wir versucht, die große Dichte der Interviews und Lebensdaten in eine für den Leser genießbare Form zu gießen, ohne die verschiedenen Etappen der Auswertung offen darzustellen. Elemente, die die Erinnerung der Akteure oder die Interpretation der Autorinnen verzerren oder beeinflussen könnten, haben wir nicht systematisch wiedergegeben, auch nicht die Interaktion mit den Interviewerinnen.475 Die Fragen, die wir unseren Gesprächspartnern gestellt haben, hatten das Ziel, sie von ihrem Leben in und nach der DDR erzählen zu lassen, wie sie noch in ihren Erinnerungen existierte, abhängig von ihrer Generationszugehörigkeit und den Geschichten, die in ihrer Familie erzählt werden. Unsere Hypothesen gingen dahin, dass die Familienerinnerungen nicht mit den Bildern und Meinungen übereinstimmen, die in der Öffentlichkeit vorhanden sind, von den Medien verbreitet oder auch in den Schulgeschichtsbüchern gelehrt werden.476 Wir wollten wissen, wie stark, wie wichtig die persönliche Beteiligung am Projekt einer sozialistischen Ge473 Siehe Dorothee Wierling, 2014. 474 Volker Benkert, 2020a, S. 61. 475 Zur Selbstreflexion mit dem Interviewmaterial siehe unter anderem Niethammer, von Plato & Wierling, 1991. 476 Siehe zu biografischen Erfahrungen und deren transgenerationeller Weitergabe das aktuelle Forschungsprojekt von Christiane Kuller und Patrice Poutrus, »Diktaturerfahrung und Transformation: Biographische Verarbeitungen und gesellschaftliche Repräsentationen in Ostdeutschland seit den 1970er Jahren«, an der Universität Erfurt (https://verbund-dut.de/teilprojekte/familienerinnerung/ [04.05.2022])  – ein Projekt, das den Ansatz der »partizipativen Forschung« ernstnimmt und verfolgt.

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Die lebensgeschichtlichen Interviews

sellschaft war und wie schwer es gerade denjenigen fiel, eine Heimat verschwinden zu sehen, die nach dem Trauma des Nationalsozialismus große Hoffnung auf den Sozialismus gesetzt hatten. Viele fühlten sich zutiefst verantwortlich, der Welt zu zeigen, dass nach der Shoah nur der Sozialismus ein legitimes Gesellschaftsmodell war, das auf dem Antifaschismus beruhte und mit dem sie sich identifizierten. Es erschien uns wesentlich, Erinnerungen zu so unterschiedlichen Themen wie Alltagsleben, Formen von Solidarität und tatsächlichen oder eingebildeten Beziehungen zur Bundesrepublik zu sammeln. Dann fragten wir nach prägenden Ereignissen auf persönlicher Ebene in den 1980er Jahren: Wo waren sie, als die Mauer fiel? Was war die erste Reaktion? Und schließlich ließen wir unsere Gesprächspartner über die 1990er bis 2010er Jahre sprechen und versuchten, die Erinnerungen zu differenzieren, die einen Zeitraum mit oft verschwommenen Grenzen betrafen. Die Fragen nach der Sozialisierung, dem beruflichen Werdegang, der Entwicklung des Privatlebens, persönlichen Wendungen, Überzeugungen von damals und heute und den Gefühlen, die sie mit Vergangenheit und Gegenwart verbinden, dem Bedauern und der Freude, bilden das Rückgrat der Interviews. Wie unterscheiden unsere Gesprächspartner z. B. ihre Erfahrungen der »Wende« von denen ihrer Kinder oder Eltern? Fühlen sie sich im vereinigten Deutschland als »Menschen zweiter Klasse«? Wie bedeutend waren die Ereignisse von 1989 und 1990 für ihr heutiges Leben? Welche Veränderungen sind ihrer Meinung in der heutigen Gesellschaft im Vergleich zu damals besonders wichtig? Die sogenannten »Bilanzierungsfragen« schlagen den Befragten vor, zum Abschluss noch einmal hervorzuheben, was sie positiv wie negativ besonders geprägt hat. Wir haben erfahren, dass die Wende für einige mehr als zehn Jahre mühevoller Anpassung an die neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung brachte. Andere hingegen haben sich im neuen Deutschland sofort ein anderes Leben aufgebaut, für sie endet die Wende Anfang der 1990er Jahre. Das Verschwinden der DDR und die Entstehung eines neuen Landes hatte je nach Möglichkeiten und kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Ressourcen, abhängig von Alter, Geschlecht und Bildungsgrad sehr unterschiedliche Wirkungen auf die Menschen, die es betraf. Je nach Altersgruppe sind die oben genannten Parameter zum Zeitpunkt der sozio-ökonomischen Transformation wichtig, um zu verstehen, auf welche Weise Ereignisse wie der Erhalt des Arbeitsplatzes, der Anfang der Lang249

Biografische Interviews

zeitarbeitslosigkeit oder die Möglichkeit, sich selbstständig zu machen, die Biografien geprägt haben. Die Generation der »Wendekinder«477, die beim Mauerfall neun bis 18 Jahre alt waren (1971 bis 1980 geboren), erlebte eine völlige Umwälzung ihrer Lehr- und Studienpläne, auch ihrer Ausbildung, zugleich aber bislang undenkbare, unverhoffte neue Möglichkeiten.478 Viele von ihnen bekamen die Ungewissheiten und Unsicherheiten ihrer Eltern und ihrer Familie heftig zu spüren. Heute sind sie so alt wie ihre Eltern zum Zeitpunkt des Mauerfalls, erleben einen vergleichbaren Alltag, jonglieren zwischen Arbeit und Kindern und blicken mit anderen Augen auf die Erfahrungen der Eltern. Es ist frappierend, wie sehr diese Kohorte bis heute die älteren Generationen verteidigt und wie schwer sie sich tut, über die Erfahrungen und die Erinnerungen der Eltern und Großeltern offen zu reden. Die unangenehmen Fragen werden wohl erst ihre Kinder stellen. Die in den 1960er Jahren geborene »Entgrenzte Generation«, 1989 zwischen 19 und 29 Jahre alt, war sehr stark von den Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt betroffen. »Da sie jung genug und ohne Schwellenangst vor dem Westen waren, traten sie nach 1990 ohne Anpassungsprobleme im vereinigten Deutschland ins Berufsleben ein, schlossen ihre Ausbildung schon nach Weststandards ab oder begannen sogar eine neue.«479 Im besten Fall haben sie sich prosperierenden und neuen Wirtschaftszweigen zugewandt, noch einmal studiert oder sind ausgewandert, um ihr Leben woanders neu aufzubauen. Die »Integrierte Generation«, in den 1950ern geboren, 1989 zwischen 29 und 39, erlebte den Mauerfall in der Mitte ihres Lebens. »Viele von ihnen wurden zu Protagonisten einer ostdeutschen Gründerwelle. Diese Generation ist die einzige, die in beiden Systemen längere Zeit im Erwerbsleben stand.«480 Sie hielt sich relativ stabil auf dem Arbeitsmarkt, aber auch in der Langzeitarbeitslosigkeit, wenn diese sie Anfang der 1990er Jahre traf. Schließlich haben wir Menschen aus der »Funktionierenden Generation« (etwa 1945 bis 1935 geboren), 1989 zwischen 44 und 54. Sie ist am meisten durch die ostdeutsche und sozialistische Sozialisierung, teilweise 477 Siehe Annegret Schüle, Thomas Ahbe & Rainer Gries, 2006. 478 Bernd Lindner (2006, S. 93–112) spricht von der Generation der »Unberatenen« und betont das Fehlen von Autoritätspersonen für die Jugendlichen in dieser Periode. 479 Ahbe, 2020, S. 41. 480 Ebd.

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noch durch den Krieg und den Nationalsozialismus geprägt. Sie hatte große Mühe, ihren Platz in der Arbeitswelt zu behaupten. »Auch die Transformation der 1990er-Jahre gingen sie – nun schon im fünften oder sechsten Lebensjahrzehnt stehend – wie die übrigen Herausforderungen und Chancen ihres Lebens an: Nicht reden, sondern handeln, nicht moralisieren, sondern Tatsache schaffen, hieß ihre Devise, der sie bis heute treu geblieben sind.«481

Sie alle sind sich jedoch einig, wie weit weg diese Periode heute ist. Sie haben das Bedürfnis, mit der Vergangenheit der 1990er Jahre und den existenziellen Unsicherheiten, die diese Zeit für ihre Familien bedeutet hat, ihren Frieden zu machen.

Biografien der interviewten Personen Zwischen Juli  2018 und September  2019 haben wir zur Vorbereitung dieses Buches viele ehemalige DDR-Bürger, die heute in den neuen Bundesländern leben, getroffen. Ihre vielfältigen, oft gegensätzlichen Stimmen bilden die entscheidende Grundlage für dieses Buch. Wir haben 30 Personen getroffen und ihnen zugehört. Die Interviews dauerten im Durchschnitt dreieinhalb Stunden. 20 Interviews wurden teiltranskribiert und in das Buch aufgenommen. Es waren gleichviele Frauen und Männer, sie waren 2019 zwischen 40 und 94 Jahre alt und stammen aus unterschiedlichen Städten. Sie arbeiten oder arbeiteten, wenn sie bereits im regulären oder vorgezogenen Ruhestand sind, in den unterschiedlichsten Bereichen wie Jugendhilfe, Medizin, Psychologie, Kunst, Bildung, Produktion, Recht, Handel, Sekretariat, Coaching, Verwaltung, selbstverwaltete Ökonomie. Wir stellen diese 20 Personen im Folgenden mit einer kurzen Biografie vor. Alle zitierten Personen haben ein Pseudonym erhalten.482

481 Ebd., S. 40. 482 Darüber hinaus verzichten wir auf nähere Informationen, die die Anonymität der interviewten Personen gefährden könnten.

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Sigmund Hübner (*1925)483

Sigmund Hübner wurde 1925 in einer Bauernfamilie im Sudetenland geboren. Nach der Wahl von Edvard Beneš zum zweiten Präsidenten der ersten tschechoslowakischen Republik im Dezember 1935 war seine Jugend von der wachsenden Intoleranz gegen Deutschstämmige geprägt. Nach dem Münchner Abkommen, das die Tschechoslowakei zur Abtretung des Sudentenlands an Deutschland zwang, trat Beneš am 5. Oktober 1938 zurück. Im März 1939 annektierte Deutschland die Tschechoslowakei und errichtete das Protektorat Böhmen und Mähren und die Slowakische Republik. Der junge Sigmund wollte sich für die von den Tschechen erlittenen Demütigungen rächen. Er engagierte sich begeistert in der nationalsozialistischen Bewegung und mit siebzehneinhalb Jahren in der Waffen-SS. Er kam an die Ostfront und kämpfte in der SS-Panzer-Division Totenkopf. Er spricht wenig vom Krieg, betont, dass er blind war vor Hass auf die Tschechen und ihre Diskriminierung. Sein Engagement bei der SS bezeichnet er als Jugendirrtum. Er wurde zweimal verwundet, floh im Mai 1945 aus amerikanischer Gefangenschaft und kam erst nach Sachsen, dann nach Thüringen. Sein Vater nahm sich im Mai 1945 das Leben, seine Mutter musste das Sudetenland verlassen und floh 1946 in die sowjetische Besatzungszone. Sigmund kümmerte sich bis zu ihrem Tod 1955 um sie. Er besuchte ein Jahr die pädagogische Fachschule und arbeitete als Geschichtslehrer und an einer Arbeiter- und Bauernfakultät (ABF), studierte nebenbei und promovierte bei einem »bürgerlichen« Professor. Wegen seiner SS-Vergangenheit war ihm eine Universitätskarriere verwehrt, weshalb er sich dem Studium des Marxismus-Leninismus zuwandte. Parallel zu seiner Arbeit als Lehrer vertiefte er sich in die Schriften von Karl Marx und durfte für seine Recherchen sogar nach Amsterdam ins Archiv des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte fahren. Er heiratete, 1951 wurde seine Tochter geboren. Im Juli 1989 ging Sigmund mit 65  Jahren in Rente. Er findet es unerträglich, wie die DDR von der Bundesrepublik »annektiert« wurde, und kritisiert die Politik der Westdeutschen scharf, weil sie die Schwierigkeiten der Ostdeutschen, sich an das neue System anzupassen, nicht begriffen hätten. Für ihn ist der Aufstieg der Rechtsextremen mit der Af D eine Folge 483 Herr Hübner ist unser einziger Interviewpartner aus der »Aufbau-Generation«.

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dieses willkürlichen und schlecht durchdachten Prozesses. Er redet immer noch sehr bitter darüber, wie Deutschland die Vereinigung vollzogen hat. Seit 30 Jahren lebt er zurückgezogen mit seinen Büchern und seiner Familie. Ilse und Volker Leander (*1936 und 1940)

Ilse Leander, 1936 geboren, wuchs mit ihren Eltern und ihrer Schwester auf. Die Arbeit als Industriekauffrau erfüllte sie nicht, weshalb sie 1963 mit einer Freundin ein Lehrerstudium an der Volkshochschule begann. Dort traf sie ihren künftigen Mann; sie war 27 und lebte noch bei ihren Eltern, denn Wohnungen für eine Person waren damals ein großer Luxus. Nachdem sie 1966 ihr Diplom als Erzieherin erhalten hatte, zog sie mit ihrem Mann um und bekam eine Stelle als Lehrerin. Sie freundete sich sehr schnell mit ihren Kolleginnen an, es herrschte eine solidarische Atmosphäre. Neben dem Schulalltag begleitet sie Wandertage und arbeitet mit der »Patenbrigade« der Pioniere ihrer Schulklasse. 1978 bekam sie eine Tochter und beschloss, drei Jahre zu Hause zu bleiben, was in der DDR sehr selten war. 1981 nahm sie die Arbeit gern wieder auf. Nach der Vereinigung wurden das Fürsorge- und das Schulsystem umgekrempelt. Ilse wurde in eine andere Grundschule versetzt. Die ersten vier Jahre in dieser Schule waren die schwierigsten in ihrem Berufsleben. Jeden Tag wurden Stellen gestrichen, die Angst vor der Entlassung ließ sie nicht los. Die Lehrprogramme waren neu, man musste alles nachlesen, vergleichen, infrage stellen. Manche Kinder kamen nicht mehr zur Schule. Auch die Solidarität zwischen den Kolleginnen verschwand angesichts der drohenden Entlassung, die jüngeren gingen davon aus, dass die älteren zuerst gehen müssten. Ilse wurde von der Schuldirektorin unterstützt und konnte bleiben, bis sie 1996 in Rente ging. Sie betont, dass sie Glück hatte, vor dem Beginn einer »schwierigen Periode« gegangen zu sein, als die Lehrer oft in Teilzeit arbeiten oder kündigen mussten. Die sinkenden Schülerzahlen erklären diese Entwicklung nur zum Teil, manche Lehrer mussten auch das Fach wechseln, weil z. B. Russisch nicht mehr unterrichtet wurde. Ihr Mann Volker, der in der DDR in einem Kombinat als Ingenieur arbeitete, gab seine Stelle rechtzeitig vor der letzten Entlassungswelle im Dezember 1991 auf und fand eine Arbeit in einem ganz anderen Bereich, aber 253

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mit unbefristetem Vertrag. Er arbeitete im Städtischen Müllentsorgungsunternehmen. Die ersten beiden Jahre waren schwierig, er hatte Mühe, sich an die neuen Gerüche zu gewöhnen, die er abends nicht mit nach Hause nehmen wollte. Er vertiefte sich in die Lektüre von Klassikern der Marktwirtschaft. Außerdem ließ sich das Paar regelmäßig von westdeutschen Familienmitgliedern beraten, um nicht in die Fallen der Banker, Versicherer und Vertreter zu tappen. 2005 ging Volker Leander in Rente. Insgesamt urteilen beide, dass die DDR sie tief geprägt hat, und sagen, dass sie heute sehr zufrieden mit ihrem Leben sind. Sie machen keinen Unterschied zwischen Westdeutschen und Ostdeutschen und schätzen die Beziehung zu den westdeutschen Verwandten. Ihre Tochter lebt mit ihrem Mann aus Westdeutschland und ihren Kindern in einer Gemeinschaft auf dem Land, die weitgehende Selbstversorgung betreibt. Hans Buche (*1939)

Hans Buche wurde 1939 im Sudetenland geboren. Von 1955 bis 1958 absolvierte er eine Druckerlehre. Am 13. Januar 1959 wurde der 19-Jährige vom MfS an seinem Arbeitsplatz, einer Druckerei, verhaftet. Ein Buch, das ihm sein westdeutscher Brieffreund geschickt hatte, zerstörte seine Jugend. Sein Schwager, der als Inoffizieller Mitarbeiter für die Stasi arbeitete, hatte seinem Führungsoffizier erzählt, dass Hans ihm ein in der DDR verbotenes Buch geborgt habe: 1984 von George Orwell. Während seiner Untersuchungshaft beschuldigte man ihn im Verhör, er habe für den Westen spioniert und wolle eine Widerstandsgruppe aufbauen. Das waren völlig absurde Anschuldigungen. Im Gefängnis diktierte ihm ein Beamter ein Geständnis, das er unterschreiben musste. Man verweigerte ihm einen Anwalt. Während der achtstündigen Verhandlung brach Hans immer wieder in Tränen aus, womit er den Ärger des Richters auf sich zog. Er wurde dann nach § 15 »Sammlung von Nachrichten« und § 19 »Staatsgefährdende Propaganda und Hetze« zu drei Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt. Das Gerichtsurteil beschrieb Hans Buche als »Feind des Sozialismus, der DDR und der Partei«. Er saß von 1959 bis 1961 im Gefängnis Waldheim. Wegen seines Berufes wurde er mit hundert anderen Gefangenen im »Intelligenzsaal« des ehemaligen Stadtschlosses untergebracht. Dort befand sich die Druckerei, in der Hans Buche täglich acht Stunden arbeitete. Ältere Mitgefangene nahmen ihn unter ihre Fitti254

Biografien der interviewten Personen

che. Seine Eltern durften ihn abwechselnd alle drei Monate für eine halbe Stunde besuchen. Nach seiner Entlassung 1961 zog er wieder zu seinen Eltern und arbeitete bis 1964 als Buchdrucker in Saalfeld. In diesen Jahren litt er an psychischen Störungen, die sich in Weinkrämpfen und der Angst vor Gewitter und Uniformen äußerten. Er war drei Monate in psychiatrischer Behandlung, ohne dort seine Gefängniszeit zu erwähnen. 1964 heiratete er und ließ sich in Jena nieder, wo er eine Stelle in einer großen Druckerei erhielt. 1970 wechselte er den Bereich und begann im Bezirkskabinett der Kulturarbeit in Gera zu arbeiten. Seine Kinder wurden in den 1970er Jahren geboren. Hans lebte bis 1990 mit der ständigen Angst, einen Fehler zu machen, der ihn erneut ins Gefängnis bringen könnte. Das Jahr 1990 war für ihn eine unermessliche psychische Entlastung und der Beginn einer neuen Ära, der Demokratie. Es war auch ein Jahr der Veränderung in seiner beruflichen Entwicklung. Das Bezirkskabinett der Kulturarbeit in Gera wurde aufgelöst und durch eine Einrichtung zur Pflege und Erforschung der Thüringer Folklore ersetzt, in der er bis 1991 arbeitete. Dann folgte eine Weiterbildung zum Referenten für Werbung, Marketing und Öffentlichkeitsarbeit. Bis zu seiner Rente 2004 arbeitete Hans Buche im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bei einem künstlerischen Verein und einem Verein zur Integration von Ausländern in Jena. Er engagierte sich in diversen ehrenamtlichen Projekten und lokalen Geschichtsvereinen. 1990 wurde Hans von der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge in Bonn als politischer Häftling anerkannt und 1991 vom Bezirksgericht Gera rehabilitiert. Für seine Haftzeit bekam er eine Entschädigung von 16.000 DM. Nachdem er 1993 seine Stasiakte gelesen hatte, beschloss er, eine Autobiografie zu schreiben, die er fünf Jahre später veröffentlichte. Seitdem hält er regelmäßig Vorträge in Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen, wo er von seiner Haft und den verschiedenen Formen politischer Verfolgung in der DDR spricht. Ruth Hahnemann (*1941)

Ruth Hahnemann wurde 1941 geboren, sie war Einzelkind. Ihr Vater, Feinmechaniker, fiel 1943. Er hatte seine Tochter nur ein einziges Mal gesehen, als sie anderthalb war. Sie besitzt noch Briefe, die er ihr von der Front ge255

Biografische Interviews

schrieben hatte. Ihre Mutter, die nie wieder geheiratet hat, zog Ruth mithilfe der Großmutter väterlicherseits auf. Sie arbeitete in Heimarbeit für verschiedene Textilbetriebe. Ruth Hahnemann spricht von einer behüteten Kindheit. Nachdem Ruth die Schule abgeschlossen hatte, machte sie eine dreijährige Ausbildung als Kindergärtnerin. Anschließend arbeitete sie zehn Jahre als Gruppenleiterin und später Leiterin eines Kindergartens. Ab 1975 engagierte sie sich ehrenamtlich in der Jugendhilfekommission. 1981 wurde sie Fürsorgerin in einem Jugendwohnheim für Mädchen. Ruth war seit ihrer Kindheit in der evangelischen Kirche aktiv. Sie sang im Kirchenchor und betont ihren Glauben und ihre christlichen Werte. Sehr jung bekam sie Anfang der 1960er Jahre zwei Töchter mit ihrem ersten Ehemann. Die Ehe dauert nicht lange. Anfang der 1980er heiratete sie einen Mann, mit dem sie heute noch sehr glücklich lebt. Sie kümmert sich viel und gern um ihre fünf Enkelkinder und ihren Urenkel. Ein häufig wiederkehrendes Thema in ihrem Bericht ist das Interesse für Bildung, Pflege und Hilfe für Kinder und für die Schwachen, sowohl im Berufsleben als auch in der ehrenamtlichen Tätigkeit. Manchmal nahm sie am Wochenende oder in den Ferien Kinder mit zu sich, um die sie sich bei der Arbeit kümmerte. Ruth Hahnemann beschreibt sich mehrfach als sehr direkt und mit klaren Meinungen. Auf der einen Seite künden ihre Erklärungen von einer starken Bindung an zentrale Werte der DDR-Ideologie, besonders die soziale Struktur und das staatlich kontrollierte Bildungssystem. Sie hält zu viel Demokratie für problematisch, ein bisschen Diktatur sei gut, um das Funktionieren einer Gesellschaft zu sichern. Andererseits behauptet sie, ohne näher darauf einzugehen, dass sie mit bestimmten Aspekten des Lebens in der DDR unzufrieden war. Nach der Vereinigung erfüllte sich Ruth Hahnemann ihren Traum: Sie gründete eine Werkstatt für Personen mit Behinderung. In ihrem Privatleben sieht sie heute eigentlich keine Unterschiede zwischen vor und nach 1990. In ihrem Bericht gibt es einige Widersprüche und überraschende Behauptungen über das Leben in der DDR, die vielleicht damit zu tun haben, dass alles durch die Abwesenheit ihres Vaters überdeterminiert zu sein scheint, dass ihr Weg aber das soziale Engagement als Leitlinie hatte. Sie sehnt sich nicht nach der DDR zurück, betont aber, dass das Leben »früher« auch gute Seiten hatte.

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Hannelore Rotbusch (*1941)

Hannelore Rotbusch wurde 1941 geboren. 1944 ließ sich ihre Familie bei den Großeltern mütterlicherseits in Sachsen-Anhalt nieder. In Ihrer Jugend war Hannelore sportlich und interessierte sich für Kunst und Kultur. Sie war Mitglied der Pionierorganisation und später der FDJ. Mit 16 traf sie ihren künftigen Ehemann, der zwei Jahre älter war als sie. 1960, nach dem Abitur, absolvierte sie ein praktisches Jahr im Krankenhaus, die Voraussetzung für das Medizinstudium, das sie 1961 begann. Ihr Mann fand Arbeit in einem großen Kombinat, das ihm eine moderne Wohnung mit Zentralheizung zur Verfügung stellte. Nachdem sie zwei Jahre mit ihrem Sohn zu Hause gewesen war, setzte Hannelore ihr Studium fort. Sie machte mehrere Praktika in einem Institut, in dem sie dann ihre erste Stelle bekam. Dort arbeitete sie viele Jahre und belegte zahlreiche interessante Weiterbildungen. Nur einmal forderte man sie auf, in die Partei einzutreten, darauf antwortete sie, sie fühle sich noch nicht reif, sie müsse darüber nachdenken, »und dabei blieb es dann«. Niemand hat sie wieder gefragt. 1983 erhielt ihr Mann einen Posten im kapitalistischen Ausland. Das Paar verbrachte dort schöne Jahre mit vielen Privilegien, die nur von der Anweisung überschattet waren, keinen Kontakt mit Westeuropäern zu unterhalten. Anfang 1989 verschwand ihr Mann von einem Tag auf den anderen und ohne jede Vorwarnung. Hannelore war verzweifelt und verrückt von Sorge. Sie kam in die DDR zurück und wurde immer wieder von der Stasi verhört. Erst nach dem Mauerfall erfuhr Hannelore die Wahrheit. Ihr Mann hatte für die Stasi gearbeitet. 1989 hatte er Geld veruntreut und war mit einer anderen Frau untergetaucht. Nachdem die Mauer gefallen und die Stasi entmachtet war, musste er keine Verhaftung mehr fürchten und tauchte im März 1990 wieder auf. Hannelore war wegen einer tiefen Depression bis Oktober 1990 krankgeschrieben und hat deshalb nur bruchstückhafte Erinnerungen an die Ereignisse, die für ihre Mitbürger so prägend waren. Die Wendezeit fiel in ihrer persönlichen Biografie mit einer traumatischen Phase zusammen, die sie vom Rest der Welt abschnitt. Dann nahm sie ihre Arbeit wieder auf, ließ sich scheiden und baute sich ein neues Leben auf. Hannelore ist seit 2005 in Rente und verbringt ihr Leben halb in Deutschland, halb in Italien, reist viel mit ihren Freundinnen und liebt die Kultur. Heute hat sie mit der Vergangenheit ihren Frieden gemacht. 257

Biografische Interviews

Rolf Schubert (*1942)

Rolf Schubert wurde 1942 als zweites von vier Kindern in einer sozialdemokratischen Familie geboren. Seine ersten Erinnerungen haben mit dem Krieg und seinem Vater zu tun, der in amerikanischer Kriegsgefangenschaft war und 1946 heimkehrte. Rolf Schubert glaubt, sich an die Bombenalarme mit Sirenengeheul im letzten Kriegsjahr erinnern zu können. Mit dem Großvater und seiner Mutter musste er dann bis zur Entwarnung im Keller sitzen, und der Großvater spielte mit ihm. Sein 1944 geborener Bruder wurde in einem Kissen von der Mutter in den Keller getragen. Rolf erzählt, dass sich sein Vater, der vor der Machtergreifung Hitlers in der Wehrorganisation der SPD, dem Reichsbanner, aktiv war, vor der Verhaftungswelle der Nazis nach dem Reichstagsbrand im Garten des Großvaters im Brunnenschacht versteckte. Nach dem Krieg traten seine Eltern in die SED ein. Beide waren in der DDR gesellschaftlich sehr aktiv, beteiligten sich am Wiederaufbau und überließen ihre Kinder oft unter Aufsicht des ältesten Sohnes sich selbst. Rolf Schubert beschreibt den typischen Weg eines Kindes von Eltern, die in der DDR gesellschaftlich sehr engagiert waren: Er war Pionier, lernte gut, war FDJ-Mitglied und Funktionär. Die Familie lebte in finanziell und materiell bescheidenen Verhältnissen, beide Eltern waren berufstätig. Rolf musste nach dem Willen seines Vaters trotz sehr guter Leistungen auf den Besuch der Oberschule mit Abitur verzichten, besuchte die Mittelschule und erlernte den Beruf eines Formers in der Gießerei, eine körperlich sehr schwere Arbeit. Nebenher holte er das Abitur an der Abendschule nach (vier Tage wöchentlich). Als Jugendlicher hatte er wenig Freizeit. Schon seit seiner Kindheit und durch die Erziehung im Elternhaus, Schule und Lehre war ihm klargeworden, dass es nie wieder Faschismus und Krieg geben dürfte: Er verpflichtete sich zum Dienst in der Nationalen Volksarmee der DDR. Darauf kamen zwei MfS- Offiziere zurück, die den damals 17-Jährigen beim Wort nahmen und ihn für den Dienst im MfS warben – wie er später erfuhr, zum dreijährigen Dienst beim Wachregiment. Weil jedoch seine Abendschulausbildung zum Abitur noch nicht zuende war, wurde er als 18-Jähriger in einer Bezirksverwaltung im operativen Dienst ausgebildet. Seinen Studienwunsch musste er aufgeben. Weil er keine Westverwandtschaft bzw. Verbindungen haben durfte, trennte er sich schweren Herzens von seiner Freundin, die solche hatte. Er begriff nun, dass nichts in seinem 258

Biografien der interviewten Personen

Leben mehr dem Zufall überlassen sein würde. Alle Beziehungen zu weiblichen Personen mussten der Überprüfung standhalten. Das bedeutete Zurückhaltung in allen Beziehungen. Rolf Schubert arbeitete in verschiedenen Diensteinheiten und wurde dann als 25-Jähriger Unterleutnant nach Berlin in die Hauptabteilung »IX/ Untersuchung, Abteilung für die Bearbeitung von Ermittlungsverfahren gegen Nazi- und Kriegsverbrecher« als Untersuchungsführer bzw. Vernehmer versetzt. Nach relativ zügiger Einarbeitung musste er bald eigenständig ein Ermittlungsverfahren gegen einen »Gestapo-Mörder« im Warschauer Ghetto bis zur Anklagerhebung bearbeiten. Es folgte die erfolgreiche Bearbeitung weiterer derartiger Verfahren, und er absolvierte gleichzeitig ein Fernstudium als Diplomjurist. Das Thema hat ihn angesichts des Ausmaßes dieser Verbrechen sein ganzes bisheriges Leben begleitet. Mit der SED wurden auch das MfS und die DDR aufgelöst. Die »Konterrevolution«, wie er sie nennt, siegte in seinen Augen kampf- und gewaltlos, auch angesichts der Zurückhaltung der Angehörigen des MfS, als dessen Mitarbeiter er im Januar 1990 würdelos und schmählich »entsorgt« wurde. Für ihn war die »Wende« ein brutaler beruflicher Absturz, der Demütigung, Berufsverbot und Aberkennung erworbener Qualifikationen, Ausschluss und schließlich auch Krankheit zur Folge hatte. Bis zum Erhalt der Schwerbehindertenrente durfte er einige Jahre unter wie er sagt »entwürdigenden Bedingungen« als schlechtbezahlter Wachmann bei privaten Sicherheitsunternehmen arbeiten. Er erhält eine Strafrente, mit der er und seine Frau bescheiden, aber auskömmlich leben. Erika Horn (*1948)

In der DDR arbeiteten Erika Horn und ihr Mann, beide 1948 geboren, als Facharbeiter im selben großen Betrieb. Sie wohnten mit ihren Kindern in einem Neubau. Erika, die zuerst Krankenschwestern gelernt hatte, pflegte engen Kontakt mit ihren Kollegen und traf sich oft mit ihren Freundinnen. Die Ereignisse 1989 machten ihr Hoffnung auf eine Erneuerung für ihre Kinder. Sie ging mit ihrem Mann zu den Demonstrationen und freute sich über den Mauerfall. Schon im Sommer 1990 traf sie die große Entlassungswelle in ihrem Betrieb. Dass sie ein Unternehmen abbauen mussten, an dessen Aufbau 259

Biografische Interviews

sie beteiligt waren, erscheint ihnen wie eine Metapher für die Wende. Ihr Mann verkraftete den Schock nicht, er ergab sich dem Alkohol und wurde krank. Erika erlebte eine schwierige Zeit, hatte mehrere Jobs ohne Zukunft, machte eine Umschulung nach der anderen und litt unter dem herablassenden Blick mancher Westdeutscher. Außerdem wurde sie zu Unrecht verdächtigt, für die Stasi gearbeitet zu haben. Diese Unterstellung verletzte sie tief. Trotz all dieser schmerzhaften Jahre schaut sie heute friedlich auf die Vergangenheit zurück und betont, wie sehr sie ihre glücklichen Kinder und Enkel von den Leiden der brutalen Gesellschaftstransformation in den 1990er Jahren geheilt haben. Ihre Kinder haben Arbeit, ihre Enkel wachsen in einem demokratischen Staat auf. Sie sind alle gesund. Heute lebt sie immer noch in derselben Wohnung, allein mit ihrer Schildkröte, die sie noch in der DDR gekauft hat. Sie kümmert sich um ihre Enkel und trifft sich einmal im Monat mit ihren früheren Kolleginnen und langjährigen Freundinnen. Ricarda Schönherr (*1948)

Ricarda Schönherr wurde 1948 geboren; sie hat zwei Schwestern. Sie erzählt von einer schönen Kindheit bis zur Scheidung ihrer Eltern 1956, als die Mutter mit den Töchtern zu ihrem neuen Partner zog. Sie war Hausfrau, was in der DDR selten war. Ricarda erzählt lange von ihrem Vater, einem Fleischermeister, der 1945 mit nur einem Bein aus dem Krieg nach Hause kam. Nach der Trennung der Eltern wohnte der Vater drei Jahre lang in derselben Straße wie seine Ex-Frau und kümmerte sich sehr um seine Töchter. 1959 beschloss er jedoch, die DDR zu verlassen und nach Westdeutschland zu gehen. Die Töchter blieben in brieflichem Kontakt mit ihm, sahen ihn aber erst acht Jahre später wieder (Ricarda war 16), als ihm nicht mehr die Verhaftung durch die DDR-Polizei drohte. Fortan kam der Vater einmal im Jahr zur Leipziger Messe in die DDR und verbrachte die Ferien mit seinen Kindern. Als er 1975 krank wurde, durfte Ricarda ihn besuchen und war zehn Tage bei ihm in der Bundesrepublik. Dort erlebte sie die westdeutsche Lebensweise, traf Frauen in ihrem Alter und stellte fest, dass ihr Leben als berufstätige Frau in der DDR viel befriedigender war. Ricarda arbeitete im sozialen Bereich. Schon sehr jung engagierte sie sich ehrenamtlich in einer Sanitätergruppe, dann wurde sie Mitglied des Ju260

Biografien der interviewten Personen

gend-Rotkreuz. Während der Schulferien arbeitete sie in einem Krankenhaus. Nachdem sie 1965 die zehnte Klasse abgeschlossen hatte, begann sie eine Ausbildung zur Krankenschwester und wollte Hebamme werden. Sie traf ihren künftigen Ehemann und wurde 1969 schwanger, weshalb sie die Hebammenausbildung nicht beginnen konnte. Sie heirateten schnell, und ihr erster Sohn wurde geboren. Nach fünf Monaten Mutterschutz begann sie wieder, in Teilzeit zu arbeiten, ihr Sohn wurde von der Schwiegermutter betreut, bis er zwei Jahre alt war. Zu ihrem großen Bedauern musste sie die Hebammenausbildung aufgeben, weil dieser Beruf zu viel Flexibilität verlangte. Bei der beruflichen Neuorientierung half ihr ihr Mann. Sie fand eine Stelle in der Schwangerenberatung und begann eine Ausbildung zur Gesundheitsfürsorgerin. Nach deren Abschluss wechselte sie in eine feste Stelle mit regelmäßiger Arbeitszeit bei der Mütterberatung, die sie 18 Jahre bis zur Wende ausübte. In dieser Zeit kam Ricarda Schönherr in Kontakt mit Fürsorgern, wurde ehrenamtliches Mitglied der Jugendhilfekommission und des Jugendhilfeausschusses, wo sie 16  Jahre blieb. Mit dieser ehrenamtlichen Tätigkeit konnte sie ihr fehlendes politisches Engagement rechtfertigen. Sie lehnte jede Aufforderung ab, in die SED einzutreten. Ihre Arbeit und die vielfältigen Weiterbildungsmöglichkeiten mochte sie sehr. Da ihr Beruf mit der Vereinigung verschwand, machte Ricarda eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin und kümmerte sich um Kinder, die in Pflegefamilien vermittelt oder zur Adoption freigegeben wurden. Die Bilanz ihres Berufslebens ist sehr positiv. Sie betont, dass sie ihre Aufgaben mit viel Freude und Engagement erfüllt hat. Sie hat gute Beziehungen zu ihren Kollegen. 1993 begann sie eine Zusatzausbildung als Sozialarbeiterin und erreichte später die Nachdiplomierung. Diese Entscheidung entsprach dem Gefühl der Unterlegenheit gegenüber den Kollegen aus dem Westen und dem Wunsch, sich mehr Wissen anzueignen. Sie kritisiert das System der Kinderbetreuung in der DDR, vor allem die Wochenkrippen für Kleinkinder, weil sie nicht dem Kindeswohl dienten. Als ihr Mann krank wurde, beschloss sie, in den Vorruhestand zu gehen. Ihr Mann absolvierte ein Studium zum Diplom-Ingenieur und war in der Klimatechnik tätig; er war auf die Klimatisierung von Tierproduktionsanlagen spezialisiert. Er reiste deshalb häufig ins Ausland und hatte Anfang der 1990er Jahre kein Problem, Anschluss in den alten Bundesländern als Ingenieur zu finden. Er wurde in seiner Heimatstadt vom westdeutschen Betrieb übernommen. Ihre beiden Söhne gründeten eine Fami261

Biografische Interviews

lie und leben und arbeiten zu Ricardas großer Freude in derselben Stadt wie ihre Eltern. Insgesamt blickt Ricarda glücklich und zufrieden auf ihr Leben, sie betont, wie sehr ihr Beruf sie erfüllt hat, trotz der Probleme und der traurigen Schicksale, denen sie begegnete und die sie begleitete. Ihre Ehe und die Familie waren eine wertvolle Unterstützung, um in den 1990er Jahren die Konflikte und die unsicheren Zeiten durchzustehen. Anna und Johann Meier (beide *1951)

Anna Meier wurde 1951 geboren. Sie wuchs mit ihren Geschwistern in einer »typischen Arbeiterfamilie« auf. Ihr Vater war Maurer und ihre Mutter bei der Post, später Verkäuferin in einem Zeitungskiosk. Nach dem Abschluss der zehnten Klasse machte Anna eine Ausbildung als Stenotypistin. Bei einem Praktikum kam sie in Kontakt mit der Jugendhilfe. Nach einem Jahr Arbeit als Stenotypistin bewarb sie sich als Sekretärin im Rat der Stadt, wo sie fast anderthalb Jahre arbeitete und berufsbegleitend eine pädagogische Ausbildung zur Erzieherin absolvierte. Gleich nach deren Abschluss bot man ihr eine Stelle an. 1976 setzte sie mit ihrem ersten Kind ein Jahr aus, dann machte sie ein einjähriges Fernstudium. Vier Jahre später, 1980, bekam sie das zweite Kind. Nach der deutschen Vereinigung spezialisierte sie sich auf Adoptionen. 2012 ging sie in Rente. Ihr Mann Johann, ebenfalls 1951 geboren, war der jüngste Sohn eines Veterinäringenieurs und einer Sekretärin. Er begann nach der zehnten Klasse eine Ausbildung als Schaufensterdekorateur. Gesundheitsprobleme zwangen ihn, sich dem Bildungssektor zuzuwenden. Er machte eine dreijährige Erzieherausbildung. Dann arbeitete er mit Hingabe in einem Kinderheim und begann ein Studium als Jugendfürsorger. Dort traf er seine künftige Frau. Nach dem Abschluss arbeitete er als Jugendfürsorger. Er spricht begeistert und engagiert über seinen Beruf. Nach der Vereinigung spezialisierte er sich wie seine Frau auf Adoptionen und darüber hinaus im Bereich des Pflegekinderdienstes. 2012 ging er in Rente. Das Ehepaar Meier folgte also parallelen Berufswegen, ihre Kompetenzgebiete waren eng verbunden, und sie beschreiben diese berufliche Nähe als absolutes Plus für den Erfolg mit den Familien, die sie begleitet haben. Sie haben immer viel über ihre Arbeitsprobleme gesprochen, was ihnen auch Anfang der 1990er Jahre sehr half, als sie tiefgreifende Veränderungen in 262

Biografien der interviewten Personen

ihrem Bereich erlebten. Heute wohnen sie in einem großen Haus, das sie in den 1990er Jahren gebaut haben. Ihre Tochter ist in ihre Fußstapfen getreten und arbeitet als Sozialarbeiterin für Jugendliche und junge Erwachsene mit Problemen. Manchmal betreut sie Personen, um die sich schon ihre Eltern gekümmert haben. Melanie Pohl (*1955)

Melanie Pohl wurde 1955 in einer kinderreichen Arbeiterfamilie geboren. Ihre Eltern arbeiteten beide in einem Kombinat, die Mutter als Optikerin, der Vater in der Chemieabteilung. Melanie erinnert sich an eine schöne Kindheit. Sie hatte ein enges Verhältnis zum Vater, und die Scheidung ihrer Eltern prägte sie sehr. Als junges Mädchen kam sie zum berühmten Fernsehballett der DDR, wo sie ein paar Jahre blieb und großen Erfolg hatte. Gleichzeitig machte sie eine Ausbildung als Stenotypistin. Mit Anfang 20 brachte sie ihr erstes Kind zur Welt, gab die Karriere als Tänzerin auf und bekam ihre erste Stelle an einer Universität. Wegen der Gewalttätigkeit und der Eifersucht ihres Mannes wurde ihre Ehe bald zum Albtraum. 1987 beantragte sie die Scheidung, aber 1988 wurde sie wieder schwanger. Sie wartete die Geburt des zweiten Kindes ab, dann verließ sie die gemeinsame Wohnung und zog in die Wohnung eines Paares, das in den Westen ausgereist war. Nach der Vereinigung erfuhr sie, dass ihr Mann und ihr Vater als IM für die Stasi gearbeitet hatten. Daraufhin beantragte sie Akteneinsicht und stellte fest, wie intensiv sie beobachtet wurde, ohne den Grund zu verstehen. Sie gehört zu den vielen Ostdeutschen, für die die Lektüre ihrer Akte ein großer emotionaler Schock war. Melanies Bericht ist durchzogen von Gewalterfahrungen mit ihrem ExMann und nach der Vereinigung mit ihrem ersten westdeutschen Chef, einem Professor, der eine tyrannische Macht über sie ausübte. Ihre Erinnerungen an die 1990er Jahre sind geprägt von den Umwälzungen und »Säuberungen«, die sie an der Universität erlebte. Sie selbst blieb verschont und entging der Arbeitslosigkeit. Nachdem sie sich von ihrem Mann befreit hatte, bewältigte sie ihren Alltag als alleinstehende Mutter und nutzte die neuen Möglichkeiten, die sich ihr boten. Ihre Kinder gewöhnten sich sehr schnell an das neue Schulsystem. Die Fragen nach dem Grund für die Stasi-Mitarbeit ihres Vaters, der zu früh gestorben war, um ihr Erklärungen zu geben, und die Jahre der Gewalt mit ihrem Mann sind 263

Biografische Interviews

für sie weit schmerzhafter als die persönliche und berufliche Anpassung nach 1990. Heute ist sie sehr kritisch gegenüber der Entwicklung der Gesellschaft, der Digitalisierung, dem übermäßigen Konsum, der Globalisierung und der Geschwindigkeit des Lebens. Sie beobachtet mit kritischem Blick, wie sich ihre Kinder in dieser Gesellschaft entwickeln, ist aber froh, dass sie in einem demokratischen Land erwachsen geworden sind, in dem die Menschenrechte respektiert werden. Sylke Jahn (*1964)

Sylke Jahn kam 1964 zur Welt und wuchs mit ihrer drei Jahre jüngeren Schwester auf. Sie beschreibt eine glückliche, tolerante und solidarische Familie, in der sie lebte, bis sie 18 war. Ihr Vater arbeitete als Ingenieur und engagierte sich als Vertreter der Blockpartei im Stadtparlament. Er setzte sich sehr für die Interessen von Menschen mit sozialen Problemen ein. Während der Schulzeit hatte Sylke Funktionen in der FDJ und fühlte sich schon früh verantwortlich. Als sie älter wurde, wurde sie etwas kritischer, sie fing an zu schreiben, vor allem politische Gedichte, die bei ihren Lehrern auf Unverständnis trafen. Sie zog den Zorn der Behörden auf sich, und man drohte ihr mit einem Schulverweis. Dem entging sie am Ende dank der Unterstützung des Schriftstellerverbands und weil sie einwilligte, zu einer psychiatrischen Beratung zu gehen. Sie sagt jedoch, dass sie »immer größere Lust hatte«, die Jugendorganisation zu verlassen. Zunächst tat sie es nicht, um ihre Chancen für ein Universitätsstudium nicht zu gefährden. Die Arbeit für die Stasi, die sie als IM anwerben wollte, lehnte sie ab. Nach dem Abitur arbeitete Sylke ein Jahr als Souffleuse in einem Theater, dann bekam sie einen Studienplatz für Germanistik. Weil sie nicht in der FDJ aktiv sein wollte, begann sie ehrenamtlich in einer Jugendhilfekommission zu arbeiten. 1989 wurde ihr Sohn geboren. Sylke Jahn lebte mit ihm in einer solidarischen Frauen-WG. Sie beteiligte sich aktiv an der Gründung des Unabhängigen Frauenverbands und blieb ein aktives Mitglied der Frauenbewegung. Dann zog sie sich allmählich aus dem politischen Engagement zurück, um als Autorin zu arbeiten. Sie beschreibt die DDR als restriktiv und willkürlich, obwohl die soziale Sicherheit stärker war als heute im vereinigten Deutschland. Sie kritisiert die gesellschaftliche Entwicklung der letzten 30 Jahre, die Folgen der neo264

Biografien der interviewten Personen

liberalen, kapitalistischen Ordnung für den Wohnungsmarkt, die Gentrifizierung, die Ghettoisierung und die prekären Lebensbedingungen. Sie hat keine finanziellen Rücklagen und sorgt sich um ihre materielle Situation im Alter. Markus und Franz Creutzer (*1962 und 1967)

Markus und Franz Creutzer kommen aus einer Familie mit vier Söhnen, der Vater war Oberarzt, die Mutter Apothekerin. Markus, der Älteste, machte Ende der 1970er Jahre Abitur. Er wollte Journalist werden, entschied sich dann aber für Jura, nachdem er drei Jahre in der NVA gedient hatte. Von seinen Erfahrungen bei der Armee sprach er nicht. Der Mauerfall eröffnete ihm ungeahnte Möglichkeiten, obwohl er Anfang der 1990er Jahre zahlreiche Schwierigkeiten hatte, vor allem in seiner Ehe. Die Zeit der Transformation überforderte die Beziehung, 1993 wurde sie geschieden. Er wurde Staatsanwalt, kümmerte sich jede zweite Woche um seinen Sohn und erhielt Anfang der 2000er Jahre einen Posten in einem Landesministerium in den neuen Ländern, als ein aus dem Osten stammender Jurist gefunden werden musste. Die Justiz und ihre Verwaltung waren in seinen Augen damals weitgehend vom Westen geprägt. Markus musste seine berufliche Strategie mehrfach ändern, sich anpassen, umsatteln, hatte aber das Glück, immer wieder auf die Füße zu fallen. Franz wollte in den 1980er Jahren Nahost-Wissenschaften studieren, er interessierte sich für die religiösen Konflikte im Nahen Osten. Nach dem Militärdienst studierte er stattdessen Informatik. Das war die Zeit der Perestroika, »eine aufregende Zeit«. Am Abend des 9. November 1989, einem Donnerstag, hörte er mit seinem Walkman die Pressekonferenz von Günter Schabowski live und konnte es kaum glauben. Als er am Montag wieder in die Uni kam, lasen Studenten in der Vorlesung die BILD. Auch er beschreibt seine Fassungslosigkeit und das Gefühl einer gewaltigen Beschleunigung. Insgesamt hatte Franz Glück, er konnte sein Studium beenden und sich beruflich ohne Schwierigkeiten anpassen. Nachdem er das InformatikStudium abgeschlossen hatte, um seinem Vater eine Freude zu machen, studierte er Pharmazie und hatte keine Probleme, sich im vereinigten Deutschland sein Leben aufzubauen. Er zog nach Berlin und gründete mit einer Geschichtslehrerin eine Familie. Anfang der 2000er Jahre eröffnete er eine Apotheke, was zu finanziellen Sorgen führte, die er überwand. 265

Biografische Interviews

Heute haben die Brüder viel über ihre Lebenswege nachgedacht. Fast 20 Jahre nach dem Mauerfall erfuhren sie, dass ihr Vater als IM für die Stasi gearbeitet hatte. Zwischen den Brüdern öffnete sich eine Kluft, 30 Jahre nach dem Verschwinden der DDR spaltet die Stasimitarbeit ihres verstorbenen Vaters die Familie in zwei Lager. Arno Wellenborn (*1967)

Arno Wellenborn wurde 1967 als jüngstes von drei Kindern in einer katholischen Familie geboren. Die Mutter, Säuglingsschwester, und der Vater, Chemiker, erzogen ihre Kinder im christlichen Glauben. Mit 16 begann Arno, der nicht auf die Oberschule durfte, eine Ausbildung als Werkzeugmacher. Mit 18 begann er zu arbeiten, aber die Tätigkeit langweilte ihn bald und er träumte davon, Musik zu studieren. Er scheiterte bei der Aufnahmeprüfung und fühlte sich in der DDR, die ihm nicht die erträumten Perspektiven bot, zunehmend beengt. Bei einem Austausch der katholischen Kirche seiner Stadt mit der westdeutschen Partnergemeinde lernte er 1988 eine Frau kennen, die daraufhin regelmäßig in die DDR kam. Sie verliebten sich, ohne zu ahnen, dass die Geschichte sie wenige Monate später vereinen würde. Arno nutzte die Öffnung der ungarischen Grenze, um ihr mit zwei Freunden einen Überraschungsbesuch abzustatten und seinen zweiwöchigen Urlaub mit ihr zu verbringen. Sie fuhren am 6. November 1989 los und kamen nach einer Irrfahrt in ihrem VW-Käfer und langen Warteschlangen an den Grenzübergängen spätabends bei ihr an. Die Freude war groß und noch größer das Glück, zwei Tage später den Mauerfall zu erleben! Arno fuhr zurück und nahm seine Arbeit wieder auf, kündigte aber im Winter 1990. Das junge Paar beschloss, sich in Bayern niederzulassen, wo Arno problemlos eine Stelle als Werkzeugmacher fand. Von 1992 bis 1995 machte er eine Ausbildung als Holzbildhauer und studierte bis 2001 Bildhauerei und Kunst im öffentlichen Raum in Nürnberg. Der Alltag war nicht immer leicht, das Gefühl, ein Bürger zweiter Klasse zu sein, wurde durch unangenehme Erlebnisse und eine gewisse Arroganz der Bayern ihm gegenüber verstärkt. Er hatte ständig das Gefühl, sich beweisen zu müssen, höflicher und besser sein zu müssen als die anderen. Ende der 1990er Jahre beschloss seine Lebensgefährtin, beruflich ihr Glück in den neuen Bundesländern zu suchen. Sie ließ sich dort nieder und gründete ein Unternehmen, das sich bis heute positiv entwickelt. Arno 266

Biografien der interviewten Personen

folgte ihr endgültig 2001, erlebte unerwartete Anpassungsschwierigkeiten und hatte Mühe, sich als Künstler einen Namen zu machen. Er wurde nun als Westdeutscher wahrgenommen und musste wieder seinen Platz finden, was ihm schließlich gelang. 2008 erfolgte ein wichtiger Durchbruch für seine Karriere. Heute lebt er als Bildhauer und Musiker, und ist überzeugt, dass seine künstlerische Laufbahn in der DDR unmöglich gewesen wäre. Susan Süß (*1967)

Susan Süß wurde 1967 geboren. Sie hat einen fünf Jahre jüngeren Bruder. Ihr Vater, Jahrgang 1943, war Fußballtrainer, ihre Mutter, im selben Jahr geboren, Krankenschwester für eine Athletikmannschaft. Beide Eltern entstammten kommunistischen Familien, waren Mitglieder der SED und genossen dank der Beziehungen in der Welt des Wettkampfsports gewisse Privilegien. Susann trat 1985 mit 18 in die SED ein. Sie machte eine Ausbildung in Ökonomie/Außenhandel und arbeitete dann ein Jahr in der Außenhandelsabteilung eines Kombinats. Ermutigt von ihrer Tante studierte sie drei Jahre, bis Dezember 1990, Außenhandel und Ökonomie an der Fachschule für Außenwirtschaft. Sie wollte es ihrer Tante gleichtun, die im Außenhandel der DDR tätig war. In Berlin konzentrierte sie sich auf ihr Studium und empfand bei den Demonstrationen im Herbst 1989 Angst und Sorge. Sie wohnte in Marzahn und betrachtete die Ereignisse distanziert und skeptisch. Von den Demos hielt sie sich fern. 1991 fand sie in Berlin keine Stelle und zog wieder in ihre Heimatstadt. Ihre Tante, die früh gespürt hatte, dass sich der Wind drehte und dass es Massenentlassungen geben würde, gab ihre Stelle in einem Betrieb auf und ging zum Arbeitsamt, das rasant wuchs. Deshalb schlug sie ihrer Nichte vor, sich dort zu bewerben. Susan Süß arbeitet bis heute bei der Agentur für Arbeit, im Laufe der Jahre hat sie ihren Aufgabenbereich erweitert und ist mehrfach befördert worden. Susans Familie hat die 1990er Jahre ohne Arbeitslosigkeit und finanzielle Probleme überstanden. Ihre Kinder sind zwischen 1995 und 2005 geboren. Dank ihrer Großmutter und ihrer Mutter, die sich viel um die drei Kinder kümmerten, konnte sie Vollzeit arbeiten und ihrer Leidenschaft für den Fußball nachgehen, die sie seit der Kindheit begleitet. Sie ist ihrer Frauenmannschaft treu geblieben, die in den 1990er Jahren eine der wenigen war, die gegen westdeutsche Teams spielten. Am Rande dieser Spiele hat Susan 267

Biografische Interviews

viel über den Alltag und das Leben der Frauen im Westen erfahren. Sie sagt, dass sie großes Glück hatte, das zu erleben. So hat sie Freundschaften mit Westdeutschen geknüpft, was damals nicht selbstverständlich war. Sven Coldewey (*1968)

Sven, 1968 in einer Pfarrerfamilie geboren, wuchs mit seinem älteren Bruder auf. Er erinnert sich an eine humanistische und musikalische Erziehung. Als Jugendlicher versuchte er, auf eine Musikschule zu kommen, scheiterte jedoch, was seine musikalischen Projekte in keiner Weise bremste. Die Musik war das Universum, in das er während seiner Jugend entfloh. Das Ende der DDR kam, während er seine Ausbildung zum Krankenpfleger machte. Misstrauisch beobachtete er die Veränderungen im Universitätsklinikum, in dem er arbeitete. Manche Ärzte verschwanden, andere wurden beschuldigt, IM gewesen zu sein. Eines Tages wurde eine Stelle als Krankenpfleger in der westdeutschen Partnerstadt angeboten. Dort setzte er seine Ausbildung fort, lernte seine künftige Frau, eine Französin, kennen und kehrte mit ihr in seine Geburtsstadt zurück, um eine Familie zu gründen. Sie zogen zusammen mit Svens Eltern in ein großes Haus, Anfang der 2000er Jahre wurden ihre beiden Töchter geboren. Sven Coldewey zieht eine positive Bilanz dieser Jahre des Wandels. Er hat sich als Krankenpfleger sehr schnell und gut auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt integriert und problemlos Freunde gefunden. Er erzählt, dass die Veränderungen für seine Eltern schwer zu ertragen waren. Erst vor Kurzem haben sie erfahren, dass ein Freund der Familie viele Jahre als IM für die Staatssicherheit tätig war, was seine Mutter erschüttert hat. Sven war jung, als die Mauer fiel, er hat sich in ein völlig neues Leben gestürzt, das ihm nicht vorherbestimmt war: eine Französin heiraten, westdeutsche Freunde haben – zu DDR-Zeiten unvorstellbar. Karin Günther (*1970)

Karin Günther wuchs mit ihrer Schwester, ihrer Mutter, stomatologische Schwester, und ihrem Vater, Maurer, auf. Mit 18 begann sie eine Ausbildung als stomatologische Schwester, mehr aus Langeweile und fehlenden Ideen als aus wirklichem Interesse. 268

Biografien der interviewten Personen

Im Sommer  1989 geriet ihr Leben ins Wanken, als plötzlich ihrer Schwester verschwand. Ihre Familie hatte eine Woche keine Nachricht, dann rief die Schwester endlich an. Sie war mit ihrem Freund über Ungarn in den Westen geflohen, ohne jemandem etwas zu sagen, um ihren Plan und ihre Nächsten nicht zu gefährden. Nach dieser Flucht war das Leben der Familie nicht mehr wie vorher. Besessen von der Angst, seine Tochter nie wiederzusehen, beschloss der Vater kurzerhand, ihr zu folgen. Auch seine Flucht war ein Risiko, und er wollte unbedingt alleine gehen, um eine Wohnung für seine Familie zu finden und Frau und jüngere Tochter nachzuholen. Über die Prager Botschaft und das Notaufnahmelager Gießen gelangte er endlich zu seiner Tochter und schlug seine Zelte zunächst in Hessen auf. Inzwischen warteten Karin und ihre Mutter, die lieber offiziell die Ausreise beantragen wollten, auf die Erlaubnis der DDR-Behörden. Diese ließ auf sich warten und sie durften nicht mehr arbeiten bzw. ihre Ausbildung fortsetzen. Auch Karins Freund beschloss, die DDR illegal zu verlassen und zu Karins Vater zu fahren. Nach dem 9. November reiste sie ihm endlich nach, die Mutter folgte wenige Tage später. Der Herbst 1989 war für sie eine Zeit der Ungewissheit, der Unsicherheit und des Verlusts. Mit gerade 19 Jahren fand sich Karin plötzlich ohne jeden Abschluss im Westen wieder, gefangen in einem schwierigen Alltag mit ihren arbeitslosen Eltern und einem Freund, der durch die ganz neue Kultur aus dem Gleichgewicht geraten war. Sie nahm ihre Lehre wieder auf und begann, in einer Zahnarztpraxis zu arbeiten. Sie allein sorgte finanziell für ihre Familie (für sich, ihren Freund und ihre Eltern) und fühlte sich zunehmend von der Gesellschaft und ihren Altersgefährten abgekoppelt. Ihr Freund kam nicht zurecht und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf sie, die ungewollt und widerwillig zum Dreh- und Angelpunkt der Familie wurde. Das Gefühl, alles verloren zu haben, quälte sie. Karin hatte Heimweh und kehrte mit ihrem Freund 1992 in ihre Heimatstadt zurück. Inzwischen hatten sich ihre Eltern scheiden lassen, ihr Vater war Alkoholiker geworden. Die Schwester, die nach Berlin gezogen war, hat ihnen nie von ihrer Flucht erzählt. Karin weiß nur, wie schwierig die ersten Monate materiell wie emotional für sie waren. Karin gründete mit ihrem Freund eine Familie, baute sich ein Haus und fand eine feste Arbeit als Zahnarzthelferin. Der Vater zog in ihre Nähe, aber sein Zustand verschlimmerte sich, er vergrub sich in seiner Opferrolle und erholte sich nicht vom Auseinanderbrechen der Familie. 1999 musste sie den Kontakt zu ihm abbrechen. 269

Biografische Interviews

Heute hat Karin eine Arbeit, die ihr großen Spaß macht, sie ist geschieden und lebt glücklich in einer neuen Beziehung. Sie sehnt sich nicht nach der DDR zurück, wohl aber nach bestimmten Aspekten des Lebens dort. Ihre Wendeerfahrung war schwierig, im Gegenstrom zu dem, was die Mehrheit ihrer Freunde und Altersgefährten erlebten. Ihr Blick auf die Konsumgesellschaft ist kritisch und sie wünscht sich tiefgreifende Veränderungen der Gesellschaft. Dolly (*1970)

Dolly wurde 1970 in einer kinderreichen Familie geboren. Ihre Kindheit war geprägt von Gewalt, dem Missbrauch durch Vater und Halbbruder und wiederholten Aufenthalten im Kinderheim. Mit 14 hatte sie nach Jahren des Leidens und der Misshandlung das Glück, in ein neues Heim zu kommen, dessen Direktor sie unter seine Fittiche nahm. Er bot ihr auch eine berufliche Perspektive. Dolly machte in Weimar eine Lehre als Rinderzüchterin, die sie 1986 abschloss. Sie bekam problemlos eine Stelle in einer LPG. 1987 wurde nach einer kurzen Beziehung ihre erste Tochter geboren. Weil Dolly noch minderjährig war, bekam sie einen Betreuer. Mit 18 zog Dolly mit ihrer kleinen Tochter in eine eigene Wohnung, die ihr von der Jugendhilfe zugewiesen wurde. Sie lernte den Vater ihrer zweiten, 1989 geborenen Tochter kennen, mit dem sie bis 1996 zusammenlebte. Nach dem Ende der Mütterzeit war ihr Betrieb von der Treuhand abgewickelt worden. Dolly bekam zunächst Arbeitslosengeld und lebte dann zehn Jahre lang von Sozialhilfe, während sie verzweifelt nach Wegen suchte, nicht in Armut zu versinken. Sie verdiente etwas Geld als Putzfrau. Zwischendurch war sie Teil verschiedener Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. 2003 lernte sie einen neuen Mann kennen und zog mit ihm zusammen, aber die Beziehung verschlechterte sich schnell. Die Töchter gingen ihrer eigenen Wege, beide hatten Schwierigkeiten in der Schule. 2006 bekam Dolly vom Jobcenter einen Ein-Euro-Job in einem Kindergarten, der für sie sehr bereichernd und erfüllend war. Nach dem Ende der sechsmonatigen Jobcenter-Maßnahme wurde sie fest eingestellt. Sie wurde sehr gut integriert und geschätzt. Als 2017 eine neue Leiterin kam, musste sie kündigen, weil sie sich nicht mit ihr verstand. Seit Juni 2018 ist Dolly arbeitslos und wohnt mit ihrem Freund und ihren beiden Hunden in Weimar. Sie macht eine Psychotherapie, um die Folgen ihrer Kindheit zu verarbeiten. 270

Biografien der interviewten Personen

Wegen ihrer Instabilität und dem fehlenden kulturellen, emotionalen und sozialen Kapital wurde Dolly von den Folgen der Vereinigung hart getroffen. Sie beschreibt den Prozess um die Entschädigung als früheres Heimkind als traumatisierend. Sie trauert der Sicherheit des Arbeitsplatzes, die sie in der DDR erlebt hat, ebenso nach wie dem viel leichter zu bewältigenden Alltag. Sie hat kein Geld, um die größeren Freiheiten zu genießen, die ihr die Marktwirtschaft verschafft hat. Sie wählt die SPD, verfolgt die politische Entwicklung in Deutschland sehr aufmerksam und ist skeptisch wegen der Entwicklung der Weltpolitik und dem Aufstieg der Rechtsextremen.

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Chronologie 1961–2022

Der Mauerfall am 9. November 1989 war ein einzigartiges historisches Ereignis in Deutschland, das vor allem in den folgenden elf Monaten, bis zum 3. Oktober 1990, tiefgreifende Veränderungen in allen Lebensbereichen der DDR-Bürger zur Folge hatte. Die schnelle Aufeinanderfolge politischer Ereignisse nach der Öffnung der Mauer im November 1989 wie die ersten freien Wahlen in der DDR im März, die Währungsunion im Juli und die Vereinigung im Oktober, dann die ersten Bundestagswahlen für alle Deutschen im Dezember 1990 markierten den grundlegenden Wandel der Gesellschaft. Für die Bewohner Ostdeutschlands brachte der politische Umsturz Meinungs- und Reisefreiheit, ein besseres Angebot an Konsumgütern und ein höheres Lebensniveau. Zugleich wurde ihnen jedoch eine enorme Anpassungsfähigkeit abverlangt. Wir haben einige Ereignisse für das Jahr 1990 festgehalten, um zu veranschaulichen, wie die große Geschichte und die politischen Entscheidungen die individuellen Biografien prägen. Die Chronologie der Monate vor und nach dem Sturz der Berliner Mauer und der deutschen Vereinigung wird um einige grundlegende, ausgewählte Daten von 1961 bis 2022 ergänzt. Mit dieser Chronologie wollen wir den politischen und gesellschaftlichen Kontext einer historischen Periode darstellen, die über die elf Monate atemberaubender Veränderungen eines ganzen Systems hinausgeht. Schlüsselereignisse der 1980er Jahre zeigen, dass der Zusammenbruch der DDR lange vor 1989 begonnen hat. Und schließlich erweitern wir den Blick bis in die Jetztzeit, wobei wir uns auf die Ereignisse fokussieren, die die Sorgen und Unsicherheiten in der ostdeutschen Bevölkerung bis Ende der 2010er Jahre nachvollziehbar machen.484 484 Siehe Hans-Georg Lehmann, 2001, Ilka-Sascha Kowalczuk, 2009, Werner Mittenzwei, 2001.

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Chronologie

7. Oktober 1949

Die DDR wird gegründet. 12.–13. August 1961

Die SED lässt die Armee, die Kampfgruppen und das Ministerium für Staatssicherheit über Nacht die Berliner Mauer errichten. 1971–1989

Erich Honecker ist Generalsekretär der SED und Vorsitzender des Staatsrats der DDR. 1977–1987

1977 stationiert die Sowjetunion ihre SS-20-Raketen, der Westen reagiert am 12.  Dezember 1979 mit dem NATO-Doppelbeschluss. In beiden deutschen Staaten erfährt die Friedensbewegung einen Aufschwung. 1981 beginnen Verhandlungen zwischen den USA und der UdSSR, sie werden 1983 unterbrochen, als die NATO gegen die Forderungen der Friedensdemonstrationen ihre eigenen Raketen (Pershing II) stationiert. Die Verhandlungen werden im März 1985 wieder aufgenommen und Ende 1986 abgeschlossen. Die Krise endet im Dezember 1987 mit der Unterzeichnung des INF-Vertrags über nukleare Mittelstreckensysteme durch Ronald Reagan und Michail Gorbatschow. 1981–1989

1981 beginnen die Friedensgebete von Oppositionsgruppen in der DDR, an denen auch immer mehr Nicht-Christen teilnehmen. Ab 1985 erleben sie einen Aufschwung, ab 1988 organisiert die Opposition Demonstrationen gegen die SED-Regierung.

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1982–1998

1982 wird Helmut Kohl Bundeskanzler. Er wird 1986, 1990 und 1994 wiedergewählt. 1983

Die finanzielle Situation der DDR ist besonders prekär, dem Land droht die Pleite, da von der Sowjetunion keine Hilfe kommt. Vermittelt vom Bayerischen Ministerpräsidenten Franz-Josef-Strauß (CSU), einem überzeugten Gegner der Entspannungspolitik, gewährt die Bundesrepublik der DDR am 23. Juni einen Kredit von einer Milliarde DM. Im Gegenzug fängt die DDR an, die Selbstschussanlagen entlang der innerdeutschen Grenze abzubauen und die Kontrollen der Westdeutschen an der deutschdeutschen Grenze zu erleichtern. Auch Ausreisen und Familienzusammenführungen sollen vereinfacht werden. Mehrere CSU-Abgeordnete treten aus Protest aus der Partei aus und gründen im November die rechtsextremen Republikaner. 1984

In diesem Jahr gibt es eine nie dagewesene Zunahme von Anträgen auf Ausreise in die Bundesrepublik. Die Zahl der von der DDR genehmigten Ausreisen vervierfacht sich gegenüber 1983 von 6.700 auf 29.800 (bei 50.600 Anträgen). Am 20. Januar dringen sechs DDR-Bürger in die Botschaft der USA in Berlin ein, um ihre Ausreise in den Westen zu erreichen. Zum ersten Mal wird in den Ostmedien von einem solchen Ereignis berichtet. Am 26. Juni versucht ein junger Mann, sich vor der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik zu verbrennen. Er wollte die DDR verlassen. Er wird mit 50 anderen DDR-Bürgern, die das gleiche Ziel haben, in der Vertretung untergebracht. Der Leiter der Ständigen Vertretung, Hans-Otto Bräutigam, muss die Vertretung wegen Überfüllung vorübergehend schließen. Nach schwierigen Verhandlungen mit den DDR-Behörden willigen die DDR-Bürger ein, die Vertretung zu verlassen, weil ihnen zugesichert wird, ihre Ausreiseanträge rasch zu behandeln. 275

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Am 4. Oktober wird die BRD-Botschaft in Prag wegen Überfüllung geschlossen. Viele DDR-Bürger hatten dort Zuflucht gesucht. Auch in Warschau, Bukarest und Budapest sind DDR-Bürger, allerdings viel weniger zahlreich, in die Botschaften geflüchtet. Am 13.  Dezember treten 40 der verbliebenen 68  DDR-Flüchtlinge in der Prager Botschaft in einen Hungerstreik. Die DDR muss ihnen die schnelle Behandlung ihrer Anträge versprechen, bevor sie im Januar 1985 nach Hause geschickt werden. Insgesamt dürfen 1984 mehr als 200 Personen, die in Botschaften geflüchtet waren, nach ihrer Rückkehr in die DDR legal ausreisen. 1985–1991

Michail Gorbatschow ist Staatschef der UdSSR. Er kündigt grundlegende Reformen des Landes mit seinem politischen Programm von Glasnost und Perestroika an. 6. Mai 1986

Ein innerdeutsches Kulturabkommen wird unterzeichnet. Der Vertrag war seit 1972 verhandelt worden, um die Zusammenarbeit auf dem Gebiet von Kultur, Kunst, Bildung und Wissenschaft zu verbessern. 7.–9. September 1987

Es kommt zum deutsch-deutschen Gipfeltreffen in der Bundesrepublik. Dies knüpft an die beiden Begegnungen zwischen Willy Brandt und Willi Stoph 1970 und Helmut Schmidt und Erich Honecker 1981 an. Honecker bleibt fünf Tage in der Bundesrepublik. Er wird mit allen Ehren als Staatschef empfangen. Mit Bundeskanzler Kohl einigt er sich auf Vereinfachungen für Besuche zwischen West- und Ostdeutschen. Er beharrt jedoch darauf, dass der Grundwiderspruch zwischen den beiden deutschen Staaten fortbesteht und macht seinen berühmten Ausspruch: »Sozialismus und Kapitalismus lassen sich ebenso wenig vereinigen wie Feuer und Wasser«. 276

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1988

Am 15. Januar nehmen mehr als 120 Vertreter der Opposition in Ostberlin an der Liebknecht-Luxemburg-Gedenkdemonstration teil und zeigen ein Transparent mit der Aufschrift »Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden« von Rosa Luxemburg. Sie verlangen Meinungs- und Reisefreiheit. Viele von ihnen werden vor laufenden westlichen Kameras verhaftet. In den folgenden Tagen finden in Berlin weitere Verhaftungen statt. Immer häufiger kommt es zu Solidaritätskundgebungen mit den Verhafteten, obwohl die SED sie zu ersticken sucht. Am 2. Februar werden 54 der Verhafteten von der DDR in die Bundesrepublik entlassen. Am 19. Juli findet in Ostberlin ein Konzert von Bruce Springsteen statt: ein unvergessliches Ereignis für die 160.000 Zuschauer, das größte Konzert in der Geschichte der DDR. Am 18.  November verbietet die SED-Führung die sowjetische, auf deutsch erscheinende Zeitschrift Sputnik, mit deren Entwicklung sie überhaupt nicht einverstanden ist. Die Artikel stellen den offiziellen Blick auf Stalin infrage, der in der DDR nur als erbitterter Gegner der NS-Diktatur dargestellt wurde. Als der Sputnik einen kritischen Artikel über den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 24. August 1939 veröffentlicht, wird er in der DDR verboten. Am 2. Dezember bekräftigt Erich Honecker bei der 7. Tagung des Zentralkomitees seine Ablehnung der Reformpolitik Gorbatschows. Die Hoffnung vieler DDR-Bürger, Glasnost und Perestroika auch in ihrem Land zu erleben, wird zerstört. Honecker weigert sich, in seinem Land Reformen durchzuführen. 1989

Am 19. Januar versichert Honecker: »Die Mauer wird so lange bleiben, wie die Bedingungen nicht geändert werden, die zu ihrer Errichtung geführt haben. Sie wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt sind.« Am 5.  Februar wird der 20-jährige Chris Gueffroy bei dem Versuch, über die Berliner Mauer zu fliehen, erschossen. Sein Begleiter Christian Gaudian wird schwer verletzt. Die Bundesminister Helmut Haussmann und Oscar Schneider sagen ihre vorgesehenen offiziellen Besuche bei der 277

Chronologie

Leipziger Messe ab. Im Gegenzug sagen zwei DDR-Minister ihre Bundesrepublik-Besuche ab. Am 4.  April erhalten die Grenztruppen der NVA den Befehl, nicht mehr auf Flüchtlinge zu schießen. Am 2. Mai beginnt Ungarn mit dem Abbau der Grenzbefestigungen an der Grenze zu Österreich. Am 7. Mai finden Kommunalwahlen statt. Oppositionelle stellen gravierende Wahlfälschung fest. Zum ersten Mal in der Geschichte der DDR reichen Bürgerrechtler eine Klage gegen die Fälschung der Wahlergebnisse ein. Die Klage wird abgewiesen, doch dem Geheimdienst gelingt es nicht, die Bewegung zu unterdrücken. Die Bürgerrechtler treffen sich fortan an jedem siebten Tag des Monats, um gegen die Fälschung zu protestieren. Am 24.  Juni beginnen Reformen in der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei. Im Juli und August wird die Ausreisewelle, die schon 1988 wieder zugenommen hatte, immer stärker. Tausende fliehen in westdeutsche Botschaften, kein Vergleich mit 1984. Im Juli und August verlassen mehr als 50.000 Menschen die DDR. Am 19. August nutzen mehr als 600 DDR-Bürger ein von ungarischen Oppositionellen organisiertes »Paneuropäisches Picknick« an der ungarisch-österreichischen Grenze für die Flucht. Am 4.  September findet die erste Montagsdemonstration in Leipzig statt. Nach einem »Friedensgebet« in der Nikolaikirche versammeln sich 1.000 Personen. Trotz brutaler Polizeiaktionen sind es am 25. September schon 8.000. Am 10. und 11. September öffnet Ungarn ohne vorherige Absprache mit der DDR die Grenze nach Österreich. 10.000 DDR-Bürger fliehen, drei Tage später folgen weitere 5.000. Am 27.  September beginnt eine politische Krise in Jugoslawien, die Kommunistische Partei wird aufgelöst, es gibt freie Wahlen. Am 30. September teilt Außenminister Hans-Dietrich Genscher den 7.000  DDR-Flüchtlingen in der BRD-Botschaft in Prag mit, dass ihre Ausreise genehmigt ist. Seine Worte sind in die Geschichte eingegangen: »Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …« Der Rest geht in den Freudenschreien der Geflüchteten unter, die am 4. Oktober ausreisen. Die Fahrt der verschlossenen Züge von der CSSR durch die DDR in die Bundesrepublik ist für die DDR-Bürger, die sie vorbeifahren sehen, ein einprägsames Bild. 278

Chronologie

Am 7. Oktober feiert die DDR in Berlin ihren 40. Jahrestag. Michail Gorbatschow ist zu Gast und fordert die Führung zu Reformen auf. In zahlreichen Städten der DDR werden bei Demonstrationen für Meinungsfreiheit und Reformen mehr als 1.000 Personen verhaftet. In Ungarn wird die Sozialistische Arbeiterpartei aufgelöst. Am 9. Oktober demonstrieren in Leipzig 70.000 Menschen friedlich für eine demokratische Erneuerung der DDR. Die Sicherheitskräfte greifen nicht ein. Aus ihrer Losung »Wir sind das Volk« wird wenige Wochen später die Parole der Einheit »Wir sind ein Volk«. Am 16. Oktober verlangen in Leipzig mehr als 120.000 Menschen Reformen und eine demokratische Erneuerung, auch diesmal greifen die Sicherheitskräfte nicht ein. Am 18.  Oktober tritt Erich Honecker »aus gesundheitlichen Gründen« zurück. Egon Krenz wird neuer Generalsekretär des Zentralkomitees der SED. Er kündigt Reformen in der Politik der SED an und verwendet als Erster den Begriff »Wende«, der zum Schlüsselbegriff wird. Am 23. Oktober demonstrieren in Leipzig 300.000 Menschen. Ende Oktober bzw. Anfang November beginnen Demonstrationen in Erfurt, Jena, Gera und Eisenach in Thüringen. In immer mehr Städten gibt es spontane Kundgebungen. Am 4. November demonstrieren mehr als eine Million Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz für Demokratie in der DDR. Das ist die erste genehmigte Demonstration und die erste, die live im DDR-Fernsehen übertragen wird. Dieses Datum ist entscheidend, um die Forderungen und Enttäuschungen der Reformbewegung in der DDR zu verstehen. Auch in vielen anderen Städten finden Demonstrationen statt. Am 7. November tritt die gesamte DDR-Regierung zurück. Am 9. November um 23 Uhr wird nach einer missverständlichen Äußerung von Günter Schabowski die Mauer geöffnet. Nacheinander öffnen sich die Grenzübergänge entlang der 1.378 Kilometer langen innerdeutschen Grenze. In vier Tagen besuchen vier Millionen DDR-Bürger nur mit ihrem Personalausweis Westberlin oder die Bundesrepublik. Jeder DDRBürger erhält 100 D-Mark Begrüßungsgeld. Am 10. November beginnt eine tiefgehende Erneuerung in Bulgarien. Ab dem 17. November gibt es Massendemonstrationen in der Tschechoslowakei. Am 18. November wird eine neue Regierung unter Führung von Hans Modrow eingesetzt, die meisten Minister sind SED-Mitglieder. 279

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Am 24. November tritt die tschechoslowakische Regierung zurück. Am 28.  November präsentiert Helmut Kohl ein Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas. Das Ziel ist die Wiedervereinigung Deutschlands, auch wenn vorerst nur von einer Konföderation zwischen zwei Staaten die Rede ist. Am 3. Dezember treten Zentralkomitee und Politbüro der SED zurück. Drei Tage später tritt Egon Krenz von seinem Posten als Staatsratsvorsitzender zurück. Hunderttausende bilden eine Menschenkette durch die DDR und fordern eine demokratische Erneuerung. Am 4.  Dezember besetzen Bürgerkomitees die Bezirksverwaltung der Staatssicherheit in Erfurt und verhindern damit die Vernichtung der Akten. In den Bezirken Gera und Suhl wird die Bezirksverwaltung bis zum 5. Dezember besetzt. Viele andere Städte folgen. Am 7. Dezember trifft sich der Zentrale Runde Tisch, an dem SED und Blockparteien mit der Opposition diskutieren, zum ersten Mal in Berlin. Am 9. Dezember wird der Grenzübergang im Dorf Mödlareuth geöffnet, das seit 41 Jahren geteilt war.485 Am 11. Dezember taucht bei der Leipziger Montagsdemonstration mit mehr als 100.000 Teilnehmern ein neuer Slogan auf: »Deutschland einig Vaterland«. In Bulgarien wird die Kommunistische Partei aufgelöst. In Rumänien dankt die Kommunistische Partei ab. Am 19. und 20. Dezember führen in Dresden Kanzler Kohl und Ministerpräsident Modrow Verhandlungen über den Abschluss eines Abkommens über die künftige »Vertragsgemeinschaft«. Am 22. Dezember wird das Brandenburger Tor als Grenzübergang geöffnet. Am 25. Dezember werden in Rumänien Nicolae und Elena Ceaușescu erschossen. Am 29. Dezember wird Václav Havel Präsident der Tschechoslowakei. 1990

Am 3. Januar erklärt Christa Luft, Wirtschaftsministerin in der Regierung Modrow, die Verschuldung der DDR erreiche 20 Milliarden Dollar. 485 Siehe dazu https://www.arte.tv/fr/videos/106160-000-A/little-berlin/ (06.05.2022).

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Am 8. Januar sieht man bei der Montagsdemonstration in Leipzig vor allem Losungen für die Wiedervereinigung. Am 13.  Januar erscheint die Thüringer Allgemeine in Erfurt als erste unabhängige Tageszeitung der DDR. Sie ist aus der Zeitung der SED-Bezirksleitung Das Volk hervorgegangen. Am 15. Januar besetzen mehr als 1.000 Demonstranten die Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße. Bis heute gibt es Zweifel hinsichtlich des Verlaufs dieses Tages, der Rolle der SED und der Stasi.486 Am 21. Januar fordert der stellvertretende Parteivorsitzende und Dresdener Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer die Auflösung der SED. Die Partei hat fast die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Hans Modrow und Gregor Gysi plädieren dafür, die Partei zu reformieren. Frühere Führungspersonen werden aus der Partei ausgeschlossen, darunter Egon Krenz, Kurt Hager, Joachim Herrmann, Heinz Keßler, Erich Mückenberger, Günter Schabowski und Gerhard Schürer. Am 28. Januar wird durch die Vertreter des Runden Tisches und die Regierung der DDR eine »Regierung der nationalen Verantwortung« gebildet. Am 4. Februar beschließt ein weiterer Sonderparteitag die Umbenennung der SED in »Partei des Demokratischen Sozialismus«. Neue Mitgliedsausweise werden ausgegeben. Am 7. Februar bilden Neues Forum, Demokratie jetzt und die Initiative Frieden und Menschenrechte eine Koalition und präsentieren die Liste Bündnis 90 für die Wahlen am 18. März. Am 8. Februar wird das Ministerium für Staatssicherheit offiziell aufgelöst. Am 10. Februar gibt der Staatspräsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher seine Zustimmung für die Vereinigung Deutschlands. Am 13.  Februar beginnen die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zwischen den beiden deutschen Staaten und den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs (UdSSR, USA, Großbritannien und Frankreich). Nach 1945 war wegen des beginnenden Kalten Krieges kein Friedensvertrag geschlossen worden, nun müssen noch die außenpolitischen Aspekte der Vereinigung wie z. B. der sowjetische Truppenrückzug ausgehandelt werden. 486 Siehe Hans Michael Kloth, 2010, oder Klaus Bästlein, 2017.

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Am 1. März wird die Treuhand gegründet, die die DDR-Betriebe und Kombinate privatisieren soll. Am 2. März wird in der DDR zum ersten Mal ein Arbeitslosenverband gegründet. Am 12. März findet in Leipzig die letzte Montagsdemo mit ungefähr 40.000 Teilnehmern und in Berlin die letzte Sitzung des Runden Tischs der DDR statt. Am 18. März finden die ersten und letzten freien Wahlen zur Volkskammer der DDR statt. Die Wahlbeteiligung liegt bei 93,4 Prozent. Die Allianz für Deutschland (CDU, DA, DSU) siegt mit 48 Prozent der Stimmen. Der Sieg der CDU-nahen Allianz, die für eine schnelle Einheit eintritt, gibt Helmut Kohl die Legitimität, schnell zu handeln. Lothar de Maizière, CDU, wird Ministerpräsident der DDR, Markus Meckel, SPD, Außenminister und Rainer Eppelmann, DA, Minister für Verteidigung und Abrüstung. Diese Wahl ist die erste freie Wahl auf dem Gebiet der DDR seit den Reichstagswahlen vom 6. November 1932. Am 16. April wird die Sektion Marxismus-Leninismus der HumboldtUniversität zu Berlin geschlossen. Am 23.  April stimmt die Bevölkerung von Karl-Marx-Stadt für die Rückkehr zum alten Namen Chemnitz. Am 8.  Mai verkündet Estland seine Unabhängigkeit und verlässt die UdSSR. Am 9. Mai kündigt der allmächtige Freie Deutsche Gewerkschaftsbund seine Auflösung bis Herbst 1990 an. Am 15.  Mai bestätigt Kohl, dass es vor Jahresende gesamtdeutsche Wahlen geben werde. Am 16. Mai wird der Fonds »Deutsche Einheit« für Finanzhilfen zum Wiederaufbau der DDR gegründet. Am 17. Mai öffnet die erste Filiale der Postbank in Berlin auf dem Alexanderplatz. Am 19. Mai lehnt die SPD vor allem aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen dem mit der DDR unterzeichneten Staatsvertrag ab. Oskar Lafontaine fürchtet den Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft und die unvermeidlichen sozialen Folgen. Am 23. Mai tagt in Bonn zum ersten Mal der Ausschuss zur deutschen Einheit des bundesdeutschen Parlaments und der Volkskammer. Am 28. Mai verkündet der Minister für Arbeit und Soziales der DDR, es gebe 100.000 Arbeitslose in der DDR. 282

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Am 7. Juni wird Joachim Gauck mit der Leitung des Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung der Staatssicherheit betraut. Am 13. Juni beginnt der Abriss der Berliner Mauer. Am 1.  Juli findet die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mit einem umstrittenen Eins-zu-Eins-Kurs statt. Die Mark der DDR wird durch die D-Mark ersetzt. Eine Filiale der Deutschen Bank am Alexanderplatz gibt schon um Mitternacht die ersten DM-Scheine aus. In den Tagen darauf werden die Läden in Westberlin und den grenznahen Städten Westdeutschlands von Kunden aus der DDR gestürmt. Am 2. Juli erklären Slowenien und der Kosovo ihre Unabhängigkeit. Am 4. Juli erklärt Kroatien seine Unabhängigkeit. Am 5. Juli wird Václav Havel als Präsident der Tschechoslowakei wiedergewählt. Am 8. Juli wird Deutschland mit einer gemeinsamen Mannschaft Fußball-Weltmeister. Im Juli muss die Produktion von Konsumgütern gestoppt werden, denn die die kleinen und mittleren Unternehmen und die großen Industriekombinate erleben eine nie dagewesene Rezession, weil die DDR-Bürger die ostdeutschen Produkte boykottieren. Am 16. Juli sprechen Helmut Kohl und Michail Gorbatschow im Kaukasus darüber, unter welchen Bedingungen das wiedervereinigte Deutschland in der NATO bleiben kann, was für Kohl und die USA nicht verhandelbar ist. Gorbatschow garantiert Deutschland volle Souveränität. Am 4. August schließen sich die CDU der DDR und Demokratischer Aufbruch zusammen. Am 7. August ist die Arbeitslosenzahl auf mehr als 530.000 gestiegen. Am 8. August lehnt die Volkskammer den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik ab. Am 14. August nimmt die DDR bei den westdeutschen Banken einen Kredit von acht Milliarden D-Mark auf. Am 19. August kommt es zu einer Regierungskrise in der DDR. Die SPD beschließt, ihre Minister und Staatssekretäre aus der Regierung abzuziehen. Am 20. August tritt Treuhanddirektor Rainer Gohlke nach nur fünf Monaten wegen interner Konflikte zurück. Sein Nachfolger Detlev Rohwedder wird am 1. April 1991 von der RAF ermordet. Am 23. August beschließt die Volkskammer den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990. 283

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Am 31. August wird der Einigungsvertrag von den beiden deutschen Regierungen unterzeichnet. Am 6. September beschließt die Volkskammer ein Gesetz zur Rehabilitierung der Opfer der SED-Diktatur. Am 12. September wird in Moskau der Zwei-plus-Vier-Vertrag unterzeichnet. Am 15. September wird ein jüdischer Friedhof in Ostberlin geschändet, solche Taten gab es seit 1988 häufig. Am 20. September wird der Einigungsvertrag vom deutschen Bundestag ratifiziert. Seit Jahresbeginn bis zum 30. September haben fast 300.000 Menschen die DDR verlassen. Am 3.  Oktober treten die fünf neuen Länder der ehemaligen DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland bei. Deutschland erhält nach 41  Jahren Trennung seine volle Souveränität zurück. Der 3. Oktober wird zum Nationalfeiertag erklärt. Ab 1.  November können die Einwohner der neuen Länder für ihre Autos neue Nummernschilder nach dem Muster der westdeutschen Autokennzeichen beantragen. Am 2. Dezember finden die ersten gesamtdeutschen Wahlen seit 1932 statt. Die CDU siegt mit 43,8 Prozent und setzt die Koalition aus CDUCSU und FDP fort. Die SPD erhält 33,5 Prozent. Am 15. Dezember wird die DDR-Nachrichtensendung Aktuelle Kamera zum letzten Mal ausgestrahlt. Am 21. Dezember öffnet der erste ostdeutsche McDonald’s in Plauen, Sachsen. 1991–1993

Die Ausländerfeindlichkeit nimmt zu, die gut organisierten rechtsextremen Bewegungen der alten Bundesländer verbünden sich mit den unorganisierten Neonazis aus den neuen Ländern. Besonders brutale Angriffe gibt es in Hoyerswerda (1991), Rostock, Solingen und Mölln (1992). Aber es gibt auch Demonstrationen gegen die Neonazi-Gewalt. Bis zu 450.000 Menschen bilden in verschiedenen Städten Lichterketten. 1991 wird ein Solidaritätszuschlag beschlossen, um den »Aufbau Ost« zu finanzieren. Dies schließt wirtschaftspolitische Maßnahmen, mit dem 284

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Ziel, die wirtschaftlichen Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern an die alten Bundesländer anzupassen, ein. Er wird zunächst von den Westdeutschen gezahlt, ab 1994 von allen Deutschen. Am 1. Januar 1991 erhält das DDR-Territorium wieder die Struktur, die es bis 1952 hatte. Nun besteht die Bundesrepublik aus 16 Bundesländern, fünf neuen und elf alten. Am 20. Juni 1991 stimmt der Bundestag für den Umzug der politischen Hauptstadt von Bonn nach Berlin. Binnen kurzer Zeit (bis 1992) werden mehr als eine Million Menschen in Ostdeutschland arbeitslos. »Das Ausmaß der Unterbeschäftigung in Ostdeutschland, also das Defizit regulärer Beschäftigung, liegt 1991 jahresdurchschnittlich bei rd. 3,157 Millionen (Bundesanstalt für Arbeit 1992, 781) und war deutlich höher als es die Arbeitslosenstatistik der Bundesanstalt für Arbeit abbildete.«487 Am 3. November 1992 tritt das Erste Gesetz zur Bereinigung des SED-Unrechts, das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG) in Kraft. 1994

Am 29. Mai stirbt Erich Honecker in Chile. Am 23.  Juni treten das zweite Gesetz zur Bereinigung des SED-Unrechts, das Verwaltungsrechtliche Rehabilitierungsgesetzes (VwRehaG) und das Berufliche Rehabilitierungsgesetzes (BerRehaG) in Kraft. Am 31. August verlassen die letzten russischen Truppen das Territorium der ehemaligen DDR. Am 31. Dezember stellt die Treuhand, die für die Privatisierung der ehemaligen DDR-Unternehmen verantwortlich war, ihre Arbeit ein. 1995

Am 1. Januar tritt der 1993 beschlossene Solidarpakt in Kraft, mit dem die teilungsbedingten Unterschiede beseitigt werden sollen. Am 13. November beginnt der sogenannte »Politbüroprozess«, unter anderem gegen Egon Krenz, der 1997 wegen Totschlags zu sechs Jahren 487 Siehe die gute Übersicht in Silke Röbenack, 2020.

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und sechs Monaten Haft verurteilt wird, weil er für den Tod von vier Personen verantwortlich gemacht wird, die beim Versuch, die Berliner Mauer zu überwinden, von DDR-Grenzsoldaten erschossen wurden. Zwischen 1997 und 2006 wird ein Fünftel der Ostdeutschen im erwerbsfähigen Alter arbeitslos.488 1998 verliert die CDU die Bundestagswahl gegen die SPD und Gerhard Schröder wird Bundeskanzler. Hauptgrund für Kohls Niederlage ist die Rekordarbeitslosigkeit von vier Millionen mit einer Quote von zehn Prozent in den alten und 20 Prozent in den neuen Bundesländern. Kanzler Schröder führt an der Spitze einer Koalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit der Agenda 2010 eine Reform des Sozialstaats durch. Im Sommer 1999 wird Berlin, seit der Vereinigung deutsche Hauptstadt, Regierungssitz. Zehn Jahre nach dem Mauerfall wechseln die Regierung und ein großer Teil der Ministerien von Bonn nach Berlin. Schröder zieht in das neugebaute Kanzleramt. Die Jahre 1998 bis 2005 sind geprägt durch den Machtwechsel von der CDU zur SPD, die Umsetzung wirtschaftsliberaler Maßnahmen und den Willen Deutschlands, seinen Einfluss bei der Lösung internationaler politischer Konflikte zu vergrößern. Innenpolitisch will die Regierung eine neue Phase der deutschen Geschichte einleiten und die Zivilgesellschaft stärken. Es wird eine Schlussstrichdebatte über die deutsche Schuld geführt. Man spricht von der »Berliner Republik«.489 2005

Am 1.  Januar tritt das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt in Kraft (»Hartz IV«), in Kraft, das die Arbeitslosenhilfe ersetzt, die bisher an Arbeitslose gezahlt wurde, wenn ihr Arbeitslosengeld auslief: Nach einem Jahr vergeblicher Arbeitssuche erhält ein Arbeitslo488 Siehe ebd. 489 Siehe dazu Frank Brunssen, 2002.

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ser nur noch das Existenzminimum als Sozialhilfe. Damit soll er gedrängt werden, jeden Job anzunehmen. Gegen diese liberale Wirtschaftspolitik des sozialdemokratischen Kanzlers werden neue Montagsdemos organisiert. Am 18.  September wird zum ersten Mal eine Frau Bundeskanzlerin. Angela Merkel, die aus der DDR stammt, führt eine große Koalition aus CDU/CSU und SPD. Die 2010er Jahre sind geprägt von rechten Anschlägen, dem Anwachsen des Rassismus und der Angst vor der Klimakatastrophe und den immer lauter kritisierten Folgen der Globalisierung. Am 30. August 2010 erscheint ein Buch, das die Nation spaltet: Deutschland schafft sich ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen vom früheren Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin löst eine kontroverse Debatte über die Integration aus. Am 4. November 2011 werden bei einer Routinekontrolle die Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt entdeckt und nehmen sich vor ihrer Verhaftung das Leben. In zehn Jahren haben sie mit ihrer Partnerin Beate Zschäpe zwölf Personen ermordet. Alle drei sind in den 1970er Jahren in Jena geboren. Am 18. März 2012 wird Joachim Gauck, SPD, früher Pastor und Oppositioneller in der DDR, dann Direktor der Bundesbehörde für Stasi-Unterlagen, zum Bundespräsidenten gewählt. 2013

Am 14. April findet in Berlin der Gründungsparteitag der AfD statt. Die Partei fordert den Austritt aus dem Euro und die Rückkehr zur D-Mark. Bernd Lucke, Frauke Petry und Konrad Adam, alle Westdeutsche, werden zu Sprechern der Partei gewählt. Parteigründer Bernd Lucke provoziert mit rechten Parolen und spricht von einer »entarteten Demokratie«. Zwei Jahre später wird ihn seine Partei aufs Abstellgleis schieben. Am 22. September erhält die CDU bei der Bundestagswahl ihr bestes Ergebnis unter Angela Merkel mit 41,5  Prozent. Die AfD verfehlt mit 4,7 Prozent knapp den Einzug in den Bundestag. Seit 2013 entwickelt sie 287

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sich von einer eurokritischen zu einer populistischen und rechtsextremen Partei. Die SPD erhält 25,7 Prozent. Trotz einer mathematischen Mehrheit für Rot-Rot-Grün entscheidet sie sich für die zweite große Koalition in zehn Jahren. 2014

Am 31. August zieht die von Frauke Petry geführte AfD in Sachsen mit 9,7 Prozent zum ersten Mal in einen Landtag ein. Am 14. September wird zum ersten Mal ein Mitglied der Linken Ministerpräsident eines Bundeslandes. Der Westdeutsche Bodo Ramelow bekommt in Thüringen 28,2 Prozent und bildet eine rot-rot-grüne Regierung. Die AfD mit Bernd Höcke (auch aus Westdeutschland) an der Fraktionsspitze erhält 10,6 Prozent. Bei den Landtagswahlen in Brandenburg erhält die AfD 12,2 Prozent. 2015

Am 15. Februar zieht die AfD mit 6,1 Prozent in die Hamburgische Bürgerschaft ein. Am 2. September kentert ein Flüchtlingsboot im Mittelmeer. Das Foto des zweijährigen Alan Kurdi, der tot am Strand liegt, geht um die Welt. »Wir schaffen das«  – Angela Merkel öffnet die Grenze für die in Ungarn festsitzenden Geflüchteten. Die AfD stürzt sich auf das Thema, die Zustimmung für sie steigt in den Umfragen. Am 31. Dezember werden zahlreiche Frauen auf dem Domplatz in Köln von Männern aus Nordafrika belästigt und angegriffen. Die Öffentlichkeit ist tief schockiert. 2016

Im Januar löst Frauke Petry mit Kommentaren über einen möglichen Waffeneinsatz gegen Geflüchtete an den Grenzen Deutschlands Empörung aus. Die Abgeordnete der AfD im Europaparlament Beatrix von Storch schließt auch »Frauen mit Kindern« ein. 288

Chronologie

Am 13. März wird die AfD bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt mit 24,3 Prozent zweitstärkste Partei hinter der CDU. In Baden-Württemberg erreicht sie 15,1, in Rheinland-Pfalz 12,6 Prozent. Im April beschließt die AfD drei Jahre nach ihrer Gründung ihr erstes Programm, mit dem sie einen eindeutig islamophoben Weg einschlägt. Am 4. September erhält die AfD bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern 20,8 Prozent. Am 18. September erhält die AfD bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus 14,2 Prozent. Am 19.  Dezember kommt es zu einem islamistischen Anschlag im Herzen der Hauptstadt. Ein Lastwagen rast in die Menge auf dem Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz, tötet zwölf Personen und verletzt mehr als 50. Am 24. September 2017 findet eine in verschiedener Hinsicht historische Bundestagswahl statt. CDU und SPD verlieren massiv Stimmen. Die FDP schafft es wieder in den Bundestag. Ende des Jahres beginnen CDU und SPD endlich Koalitionsverhandlungen, die die SPD zunächst abgelehnt hatte und bilden erneut eine große Koalition. Mit der AfD kommt zum ersten Mal eine rechtsradikale Partei in den Bundestag, sie erhält 12,6 Prozent und verdreifacht damit das Ergebnis der NPD von 1969 (4,3 Prozent). Das ist das beste Resultat, das eine rechtsextreme Partei seit 1945 erreicht hatte. In Ostdeutschland (auch in Ostberlin) erhält die AfD im Durchschnitt doppelt so viele Stimmen wie im Westen. In absoluten Zahlen entfallen bei der Bundestagswahl 2017 dennoch fast zwei Drittel der AfD-Stimmen auf die alten Bundesländer.490 2018

Die SPD gerät in eine tiefe Krise. Dazu kommt es zum Konflikt mit dem Chef der Jusos Kevin Kühnert. Am 25.  August wird in Chemnitz ein aus Afghanistan stammender Mann von einer Gruppe Rechtsextremer getötet.

490 Siehe dazu Frank Decker, 2020.

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2019

Das Programm Aufbau Ost endet. Bei Landtagswahlen erhält die AfD in Sachsen 27,5 Prozent, in Brandenburg 23,5, in Thüringen 23,4 und in Bremen 6,1 Prozent. Inspiriert von der Schwedin Greta Thunberg verweigern Millionen Schüler ab Anfang des Jahres jeden Freitag den Schulbesuch und streiken im Namen des Klimaschutzes. Am 2. Juni wird der Regierungspräsident von Kassel Walter Lübcke von Rechtsradikalen ermordet. Er war CDU-Mitglied und bekannt für sein Engagement für Geflüchtete. Am 30. September beteiligen sich in ganz Deutschland mehr als 1,4 Millionen Menschen an der Demonstration von Fridays for Future. Am 9. Oktober wird ein rechtsextremer Anschlag auf eine Synagoge in Halle verübt. Am 29. November tritt das »Gesetz zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR und zur Änderung des Adoptionsvermittlungsgesetzes« und der Aufhebung der Antragsfristen in Kraft. »Vom Rückgang der Arbeitslosigkeit profitierten in den vergangenen Jahren alle Personengruppen in Ost- und Westdeutschland. Bis auf die Gruppe der 15- bis unter 25-Jährigen, sie waren im November  2019 in Ostdeutschland noch immer überproportional arbeitslos (6,7 Prozent), ist die Struktur der Arbeitslosigkeit nach Personengruppen in Ost- und Westdeutschland inzwischen vergleichbar: Die Arbeitslosenquoten der Frauen lagen in beiden Landesteilen knapp unter denen der Männer. Die Arbeitsmarktlage der Älteren hat sich ebenfalls verbessert, ihre Arbeitslosenquoten waren nur minimal höher als der jeweilige Durchschnitt (4,9 Prozent gegenüber 4,5  Prozent in Westdeutschland und 6,5  Prozent gegenüber 6,0 Prozent in Ostdeutschland). Gesunken ist auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen in Deutschland – von 1.326.540 Millionen im Jahr 2008 (rd. 40 Prozent aller Arbeitslosen) auf 698.344 im November 2019 (32,0 Prozent aller Arbeitslosen). Der Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland ist minimal, dafür ist die Differenz zwischen den Bundesländern erheblich. Ausländer konnten in beiden Landesteilen nicht im selben Maß vom Rückgang der Arbeitslosigkeit profitieren wie Deutsche, sie waren im November 2019 etwa dreimal so häufig arbeitslos wie Deutsche. Mit mehr

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als 45 Millionen Erwerbstätigen ist Deutschland eine Arbeitsgesellschaft mehr denn je.«491

2020

Am 28. Januar wird in Deutschland der erste Fall einer Ansteckung mit dem neuartigen Corona-Virus bestätigt. Anfang Januar hatte sich in der chinesischen Stadt Wuhan zum ersten Mal ein Mensch mit dem Virus infiziert. Am 5. Februar löst die Wahl von Thomas Kemmerich (FDP) zum Ministerpräsidenten von Thüringen mit den Stimmen von AfD, FDP und CDU eine Protestwelle in der Thüringer Bevölkerung und bundesweit tiefe Zerwürfnisse innerhalb der Parteien aus. Eine provisorische Regierung wird gebildet. Kemmerich wird zum Rücktritt gezwungen. Der Vorgang führt zu einer nationalen politischen Krise wegen des Aufstiegs der AfD und der Angst, sie könne sich dauerhaft etablieren und Regierungsverantwortung erhalten. In vier der fünf ostdeutschen Länder ist die AfD zweitstärkste Partei mit Werten von 18,6 bis 22,7 Prozent, in Sachsen, wo sie auch drei Direktmandate erhält, sogar die stärkste vor der CDU mit 27 Prozent. Im Westen erreicht die AfD ihre besten Ergebnisse in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen. Am 19. Februar fordert ein rassistisches Attentat in Hanau zehn Tote, junge Erwachsene aus der Türkei, Bosnien, Rumänien und Bulgarien. Der Täter ist ein 42-jähriger Deutscher. Am 3. März triumphiert Joe Biden bei den Vorwahlen der US-Demokraten am legendären Super Tuesday. Am 4. März bildet die Linke in Thüringen eine Minderheitsregierung mit Grünen und SPD. Am 16. März beginnt der Lockdown wegen Covid-19 in Deutschland. Schulen, Kindergärten, Geschäfte und Kultureinrichtungen werden geschlossen. An den Grenzen zu Frankreich, Österreich, Luxemburg, Dänemark und der Schweiz setzt die Bundesregierung umfassende Kontrollen und Einreiseverbote in Kraft. Am 18.  März wendet sich Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Fernsehansprache an die Bevölkerung und appelliert an ein »gemeinsames 491 Silke Röbenack, 2020.

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solidarisches Handeln«. Sie spielt in ihrer Rede auf ihre Jahre in der DDR an, um zu erklären, dass sie die Freiheiten, vor allem die Reisefreiheit, so wenig wie möglich einschränken möchte.492 Am 29. August protestieren in Berlin Tausende gegen die Corona-Maßnahmen. Die Bandbreite reicht von Anthroposophen über Verschwörungstheoretiker bis zu Rechtsextremen. Im Zuge der Demonstration durchbrechen mehrere hundert Menschen die Absperrung zum Reichstag und stürmen die Stufen, man sieht viele Reichsflaggen. Die Demonstration löst eine breite Debatte über Rechtsextremismus aus. Am 15.  September findet der sechste globale Klimastreik unter dem Motto »Kein Grad weiter« statt. Aufgerufen hat die Bewegung »Fridays for Future«. Am 3. Oktober gibt es in Potsdam wegen der Corona-Beschränkungen nur reduzierte Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag der Deutschen Einheit. Am 2.  November beginnt in Deutschland der nächste Lockdown. Die Kontakte werden eingeschränkt, Gastronomie und Kulturstätten müssen erneut schließen. Die Geschäfte, Schulen und Kitas bleiben diesmal geöffnet. Am 7. November beteiligen sich Tausende an der »Querdenker«-Demonstration in Leipzig. Es kommt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Medienschaffende werden angegriffen. 2021

Am 6. Januar stürmen Anhänger des noch amtierenden, aber bereits abgewählten US-Präsidenten Donald Trump das Kapitol in Washington, D. C. Am 26.  September wird der 20.  Deutsche Bundestag gewählt. Mit 25,7 Prozent erringt die SPD deutlich mehr Stimmen als die zweitplatzierte CDU, die 18,9 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereint. Dahinter folgen die Grünen (14,8 Prozent), die FDP (11,5 Prozent), die AfD (10,3 Prozent) und die CSU (5,2 Prozent). Wegen Ausnahmeregelungen von der Fünfprozenthürde ziehen auch die Linke (4,9 Prozent) und der SSW (0,1 Prozent) in den Bundestag ein. CDU/CSU und SPD erreichen ihre besten Werte im Westen, während AfD und die Linke höhere Ergebnisse im Osten erzielen. 492 Zu interessanten Parallelen zwischen Kaltem Krieg und Corona-Pandemie siehe Malte Thießen, 2021, S. 169–171.

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Psychosozial-Verlag Bernhard Strauß, Rainer Erices, Susanne Guski-Leinwand, Ekkehardt Kumbier (Hg.)

Seelenarbeit im Sozialismus

Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie in der DDR

Das Gesundheitssystem galt in der DDR als Vorzeige-Errungenschaft des Sozialismus. Gleichzeitig betrachtete die Staatsführung bestimmte Disziplinen aber auch argwöhnisch als Orte von kritischem Denken und möglichem Widerstand. Insbesondere Psychiatrie, Psychotherapie und Psychologie hatten eine ambivalente Position zwischen Unterdrückung und Autonomieförderung inne. Welche Rolle spielten diese Disziplinen? Und warum scheiterte das staatliche Fürsorgeversprechen insbesondere im Hinblick auf die psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung? Diesen und weiteren Fragen gehen die Beiträgerinnen und Beiträger auf den Grund. 2022 · 275 Seiten · Broschur ISBN 978-3-8379-3152-5

Eine systematische Aufarbeitung der »Fürsorgediktatur« in der DDR

Mit Beiträgen von Agnès Arp, Christof Beyer, Stefan Busse, Rainer Erices, Inge Frohburg, Adrian Gallistl, Michael Geyer, Hans J. Grabe, Susanne GuskiLeinwand, Hariet Kirschner, Ekkehardt Kumbier, Andreas Maercker, Thomas R. Müller, Manuel Rauschenbach, Maike Rotzoll, Annette Simon, Monika Storch und Bernhard Strauß

Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 [email protected] · www.psychosozial-verlag.de

Psychosozial-Verlag Karl-Heinz Bomberg

Seelische Narben

Freiheit und Verantwortung in den Biografien politisch Traumatisierter der DDR

Gedanken zur Bewältigung und Akzeptanz dessen, was bleibt.

2021 · 156 Seiten · Broschur ISBN 978-3-8379-3125-9

Karl-Heinz Bomberg spürt der Bedeutung von Freiheit und Verantwortung nach, in seiner eigenen wie auch in den Biografien anderer politisch Verfolgter der DDR. In den Fokus rücken persönliche Erfahrungen aus Kindheit und Jugend wie auch des Erwachsenenalters – bis in die Gegenwart, mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall. Eingebettet in theoretische Grundlagen der psychoanalytischen Traumatherapie kommen viele Betroffene zu Wort, denen der Autor auch zuvor schon eine Stimme gab, und die nach den Spätfolgen und Bewältigungsformen politischer Traumatisierung nun einen Blick auf ihren Umgang mit Freiheit und Verantwortung gewähren – gerade auch in Zeiten einer Pandemie. Wie lautet in dieser Langzeitdokumentation die Antwort auf die Frage: Bin ich mit mir versöhnt?

Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 [email protected] · www.psychosozial-verlag.de