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German Pages XIV, 264 [271] Year 2020
Medien · Kultur · Kommunikation
Stephan Niemand
Alltagsumbrüche und Medienhandeln Eine qualitative Panelstudie zum Wandel der Mediennutzung in Übergangsphasen
Medien • Kultur • Kommunikation Reihe herausgegeben von Andreas Hepp, FB 9, ZeMKI, Universität Bremen, Bremen, Deutschland Friedrich Krotz, FB 9, ZeMKI, Universität Bremen, Bremen, Deutschland Waldemar Vogelgesang, Ralingen, Rheinland-Pfalz, Deutschland Maren Hartmann, Universität der Künste (UdK), Berlin, Deutschland
Kulturen sind heute nicht mehr jenseits von Medien vorstellbar: Ob wir an unsere eigene Kultur oder ,fremde‘ Kulturen denken, diese sind umfassend mit Prozessen der Medienkommunikation verschränkt. Doch welchem Wandel sind Kulturen damit ausgesetzt? In welcher Beziehung stehen verschiedene Medien wie Film, Fernsehen, das Internet oder die Mobilkommunikation zu unterschiedlichen kulturellen Formen? Wie verändert sich Alltag unter dem Einfluss einer zunehmend globalisierten Medienkommunikation? Welche Medienkompetenzen sind notwendig, um sich in Gesellschaften zurecht zu finden, die von Medien durchdrungen sind? Es sind solche auf medialen und kulturellen Wandel und damit verbundene Herausforderungen und Konflikte bezogene Fragen, mit denen sich die Bände der Reihe „Medien • Kultur • Kommunikation“ auseinandersetzen. Dieses Themenfeld überschreitet dabei die Grenzen verschiedener sozial- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen wie der Kommunikations- und Medienwissenschaft, der Soziologie, der Politikwissenschaft, der Anthropologie und der Sprach- und Literaturwissenschaften. Die verschiedenen Bände der Reihe zielen darauf, ausgehend von unterschiedlichen theoretischen und empirischen Zugängen, das komplexe Interdependenzverhältnis von Medien, Kultur und Kommunikation in einer breiten sozialwissenschaftlichen Perspektive zu fassen. Dabei soll die Reihe sowohl aktuelle Forschungen als auch Überblicksdarstellungen in diesem Bereich zugänglich machen.
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12694
Stephan Niemand
Alltagsumbrüche und Medienhandeln Eine qualitative Panelstudie zum Wandel der Mediennutzung in Übergangsphasen
Stephan Niemand Institut für Kommunikations wissenschaft, Universität Münster Münster, Deutschland Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades Dr. phil. im Fachbereich Erziehungswissenschaft und Sozialwissenschaften der Westfälischen WilhelmsUniversität in Münster = D 6
ISSN 2524-3160 ISSN 2524-3179 (electronic) Medien • Kultur • Kommunikation ISBN 978-3-658-30737-0 ISBN 978-3-658-30738-7 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30738-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Dank
Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Februar 2020 an der Universität Münster erfolgreich verteidigt habe. Auf dem Weg dorthin haben mich viele Menschen unterstützt und begleitet. Ihnen gilt mein herzlicher Dank! Allen voran gilt mein tiefster Dank meiner Frau Sarah für den inspirierenden Austausch und die Erweiterung meiner Gedanken, für die intensive Lektüre und die Verbesserung des Manuskripts sowie ganz besonders für den nie enden wollenden Zuspruch und das unendliche Maß an Verständnis. Die zahlreichen Übergangsphasen, die wir gemeinsam durchschritten haben, haben mir dabei geholfen, das Thema dieses Buches autoethnografisch zu durchdringen. Nun freue ich mich auf die nächsten gemeinsamen Übergänge und auch auf etwas Kontinuität. Maßgeblichen Anteil an der Entstehung dieses Buches hatte Jutta Röser als Erstbetreuerin. Ihr gebührt mein aufrichtiger Dank für ihre motivierende und herzliche Betreuung, für die überaus konstruktiven Diskussionen und im Besonderen für das intensive Mitdenken. Auch Armin Scholl danke ich für die hilfsbereite und wertvolle Zweitbetreuung. Herzlich bedanken möchte ich mich auch bei den Paaren, die uns in ihrem Zuhause empfangen und in den Interviews erhellende Einblicke in ihren Medienalltag gewährt haben. Nur durch ihr Mitwirken wurde die Durchführung dieser Studie erst möglich. Ein besonderer Dank gilt auch dem wunderbaren Projektteam um Kathrin F. Müller und Raik Roth für die vielen Denkanstöße und die wertschätzende Zusammenarbeit, den studentischen Mitarbeiterinnen Hannah Wobig und Jacqueline Reimer für ihre zuverlässige Hilfe bei der Erstellung des Manuskripts sowie meinem Bruder Christian für die kreative Unterstützung bei der Gestaltung der Abbildungen.
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Dank
Danken möchte ich auch meiner Familie für ihren großartigen Beistand. Sie war und ist für mich stets ein Ort des Rückhalts und der Geborgenheit. Schließlich danke ich den Reihenherausgeber*innen für die Aufnahme dieses Buches, dem Verlag Springer VS für die Begleitung im Veröffentlichungsprozess, der DGPuK-Fachgruppe Soziologie der Medienkommunikation für die Verleihung des Dissertationspreises, den Mitgliedern und besonders dem Nachwuchs des DFG-Schwerpunktprogramms „Mediatisierte Welten“ für den anregenden Austausch sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Förderung der Projektreihe.
Inhaltsverzeichnis
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Einleitung: Wieso Alltagsumbrüche und Medienhandeln erforschen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Ziele, Fragestellungen und Anknüpfungspunkte. . . . . . . . . . . . . . 2 1.2 Theoretische Bezüge und Aufbau dieser Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . 4
Teil I Theoretische Perspektiven 2
Mediatisierung: Zur Beziehung von Gesellschaft, Alltag und Medien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.1 Durchdringung des Alltags mit neuen Formen kommunikativen Handelns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.2 Mediengesellschaftlicher Wandel als Zusammenspiel von Dynamik und Beharrung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.3 Bedürfnisse als zentrale Antriebsfaktoren von Mediatisierungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.4 Zwischenfazit: Einsichten aus dem Mediatisierungsansatz. . . . . . 18
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Domestizierung: Eine kommunikationswissenschaftliche Perspektive auf die Verwobenheit von Alltagshandeln und Medienhandeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3.1 Zur Entwicklung des Domestizierungsansatzes. . . . . . . . . . . . . . . 21 3.2 Medienhandeln im Kontext des (häuslichen) Alltags: Kernideen von Domestizierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 3.2.1 Aneignungsorientierte Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3.2.2 Blick auf das gesamte Medienrepertoire. . . . . . . . . . . . . . 27 3.2.3 Verständnis von Domestizierung als offener, prinzipiell endloser Prozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
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3.3
3.2.4 Fokussierung auf die häusliche Sphäre als Mikrokosmos der Gesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 3.2.5 Wechselbeziehung zwischen medialem und nicht-medialem Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Zwischenfazit: Einsichten aus dem Domestizierungsansatz. . . . . 34
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Alltägliche Lebensführung: Eine Spezifizierung des diffusen Begriffs Alltag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 4.1 Zur Entwicklung des Konzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 4.2 Gesamtheit des Alltags: Kernideen der alltäglichen Lebensführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 4.2.1 Aufbau der Lebensführung: Lebensbereiche und ihre Strukturdimensionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 4.2.2 Lebensführung als Handlungssystem und aktive Konstruktionsleistung zwischen Struktur und Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 4.2.3 Gestaltungsprinzipien und Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 4.2.4 Zwischen Stabilität und Wandel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 4.3 Zwischenfazit: Einsichten aus dem Konzept der alltäglichen Lebensführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
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Alltagsumbrüche als Transitionsprozesse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 5.1 Exkurs: Beschleunigung und Vervielfältigung der Lebensverlaufsmuster – Anzeichen für eine Erosion des Normallebenslaufs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 5.2 Alltagsumbrüche als komplexe Prozesse: Eckpunkte des Transitionskonzepts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 5.2.1 Transitionen als soziale Prozesse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 5.2.2 Kompensation von Verlusten und Wiedergewinnung von bereits Erreichtem. . . . . . . . . . . . . 61 5.2.3 Transitionen überlagern und beeinflussen sich wechselseitig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 5.2.4 Einbettung individueller Transitionen in gesellschaftliche Umbruchphasen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 5.2.5 Situationsdeutungen sind entscheidend verlaufsrelevant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 5.2.6 Korrekturen von Relevanzlinien und Entstehung neuer Daseinsthematiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 5.3 Zwischenfazit: Einsichten aus dem Transitionskonzept . . . . . . . . 64
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Zusammenführung: Alltagsveränderungen als Antriebsfaktoren für Dynamik im Medienrepertoire – Prinzipien für die empirische Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
7 Forschungsstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 7.1 Studien zum Zusammenhang von Alltagsumbrüchen und Medienhandeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 7.2 Alltagsbezogene und biografische Medienstudien: Implizite Befunde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 7.3 Diskussion und Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Teil II Empirische Studie 8
Methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 8.1 Zur empirischen Grundlage und zum Hintergrund dieser Studie: Das Projekt „Das mediatisierte Zuhause“. . . . . . . . . . . . . 89 8.2 Differenzierung der Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 8.3 Sample: Paarhaushalte aus der breiten Mittelschicht. . . . . . . . . . . 94 8.4 Datenerhebung: Medienethnografische Miniaturen im Paneldesign . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 8.5 Auswertungsverfahren: Das medienethnografischorientierte Porträt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
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Alltagsumbrüche und ihr Einfluss auf das häusliche Medienhandeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 9.1 Übersicht über die Verteilung der Alltagsumbrüche im Sample. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 9.2 Elternschaft und Veränderung des Medienhandelns . . . . . . . . . . . 117 9.2.1 Charakteristika von Elternschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 9.2.2 Fallbeispiel Elternschaft: Das Paar Trautwein. . . . . . . . . . 118 9.2.3 Fallvergleichende Analyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 9.2.4 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 9.3 Auszug der Kinder und Veränderung des Medienhandelns. . . . . . 140 9.3.1 Charakteristika vom Auszug der Kinder . . . . . . . . . . . . . . 140 9.3.2 Fallbeispiel Auszug der Kinder: Das Paar Weinert . . . . . . 141 9.3.3 Fallvergleichende Analyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 9.3.4 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
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9.4
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Trennung, neue Partnerschaft und Veränderung des Medienhandelns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 9.4.1 Charakteristika von Trennung und neuer Partnerschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 9.4.2 Fallbeispiel Trennung und neue Partnerschaft: Das Paar Flick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 9.4.3 Fallvergleichende Analyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 9.4.4 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Umzug und Veränderung des Medienhandelns. . . . . . . . . . . . . . . 184 9.5.1 Charakteristika von Umzügen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 9.5.2 Fallbeispiel Umzug: Das Paar Markuse. . . . . . . . . . . . . . . 187 9.5.3 Fallvergleichende Analyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 9.5.4 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Weitere Alltagsumbrüche im Sample. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 9.6.1 Verlust des Partners und Veränderung des Medienhandelns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 9.6.2 Renteneintritt und Veränderung des Medienhandelns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 9.6.3 Berufliche Veränderungen und Wandel des Medienhandelns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 9.6.4 Gesundheitliche Veränderungen und Wandel des Medienhandelns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
10 Transitionsübergreifende Auswertung: Eine mehrdimensionale Analyse alltagsspezifischer Antriebsfaktoren für Dynamik im Medienrepertoire. . . . . . . . . . . . . 217 10.1 Zeit und Dynamik im Medienrepertoire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 10.2 Inhaltliche Tätigkeiten und Dynamik im Medienrepertoire. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 10.3 Raum und Dynamik im Medienrepertoire. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 10.4 Soziale Beziehungen und Dynamik im Medienrepertoire. . . . . . . 220 10.5 Emotionen und Dynamik im Medienrepertoire. . . . . . . . . . . . . . . 222 10.6 Sinnhafte Orientierung und Dynamik im Medienrepertoire. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 10.7 Materielle Ressourcen und Dynamik im Medienrepertoire. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 10.8 Körper und Dynamik im Medienrepertoire. . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
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Teil III Resümee 11 Reflexion des methodischen Vorgehens: Ansprüche und Umsetzung der empirischen Studie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 12 Diskussion der Befunde und theoretischer Ertrag. . . . . . . . . . . . . . . 233 12.1 Vorgehen in dieser Arbeit und zentrale Leistung. . . . . . . . . . . . . . 233 12.2 Ausblick und theoretisches Konzept: Zur Verwobenheit von Alltagsumbrüchen und Medienhandeln . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
Abbildungsverzeichnis
Abb. 2.1 Abb. 6.1 Abb. 7.1 Abb. 8.1 Abb. 8.2 Abb. 8.3 Abb. 8.4 Abb. 8.5 Abb. 9.1 Abb. 9.2 Abb. 9.3 Abb. 9.4 Abb. 9.5 Abb. 9.6
Stufen der Mediatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Analysemodell: Dynamik im Medienrepertoire im Zuge von Alltagsumbrüchen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Verwobenheit von Lebenssituation, Zeiterleben und Fernsehnutzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Das Sample nach soziodemografischen Merkmalen: Panel Stand 2008. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Methodeneinsatz in den einzelnen Erhebungsphasen . . . . . . . . 98 Dimensionen der Leitfäden der Panelstudie von 2008 und 2013. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Subdimensionen im Leitfaden 2013 zum Analysefeld Alltagsumbrüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Themen- und Leitfragenkatalog der Porträts zum Alltagsumbruch Trennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Alltagsumbrüche im Sample zwischen 2008 und 2013: Übersicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Verteilung der Alltagsumbrüche im Sample nach Alter und Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Themen- und Leitfragenkatalog der Porträts zum Alltagsumbruch Elternschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Dynamik im Medienrepertoire durch Elternschaft: Übersicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Themen- und Leitfragenkatalog der Porträts zum Alltagsumbruch Auszug der Kinder. . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Dynamik im Medienrepertoire nach dem Auszug der Kinder: Übersicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
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Abb. 9.7 Abb. 9.8 Abb. 9.9 Abb. 9.10 Abb. 9.11 Abb. 9.12 Abb. 9.13 Abb. 10.1 Abb. 12.1 Abb. 12.2
Abbildungsverzeichnis
Beziehungsphasen in Paarkonstellationen. . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Themen- und Leitfragenkatalog der Porträts zum Alltagsumbruch Trennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Dynamik im Medienrepertoire nach einer Trennung: Übersicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Dynamik im Medienrepertoire mit neuer Partnerschaft: Übersicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Wanderungshäufigkeit über Gemeindegrenzen nach Alter und Geschlecht in Deutschland, 2016 . . . . . . . . . . . 186 Themen- und Leitfragenkatalog der Porträts zum Alltagsumbruch Umzug. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Dynamik im Medienrepertoire nach einem Umzug: Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Antriebsfaktoren für Dynamik: Transitionsübergreifende Auswertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Antriebsfaktoren für Dynamik im Medienrepertoire: Gesamtübersicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Analyseraster: Konstitution der Sinnhaftigkeit des Medienhandelns im Zuge eines Alltagsumbruchs. . . . . . . . 239
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Einleitung: Wieso Alltagsumbrüche und Medienhandeln erforschen?
Was wäre, wenn tiefgreifende Alltagsveränderungen im Leben eines Menschen das Medienhandeln stärker verändern würden als die Aneignung medientechnologischer Entwicklungen? Die kommunikationswissenschaftliche Rezeptionsforschung müsste sich in ihrer Forschung zwingend diesem Themenfeld widmen. Umso überraschender ist es, dass es bislang kaum Studien gibt, die die Auswirkungen von Alltagsumbrüchen wie Elternschaft, Berufseinstieg oder neue Partnerschaft auf die Nutzung von Medien systematisch untersucht haben. Während in anderen wissenschaftlichen Fachgebieten wie der Soziologie oder der Entwicklungspsychologie die Bedeutung von Alltagsumbrüchen für ihre Disziplin längst erkannt wurde (im Sinne von Lebenskrisen, Übergangsphasen oder Wendepunkten), so fehlt in der Kommunikationswissenschaft bislang ein Bezug zu den Auswirkungen von Alltagsumbrüchen auf das Medienhandeln. Dabei zeigt sich in den wenigen Studien, die dem Themenfeld Alltagsumbrüche und Medienhandeln zugeordnet werden können, dass solche einschneidenden Lebensereignisse mit (weitreichenden) Veränderungen des Medienhandelns einhergehen. Gauntlett und Hill (1999) zeigen beispielsweise – wenn auch wenig systematisch –, wie die Studienteilnehmer*innen ihre Fernsehnutzung nach spezifischen Umbrüchen an die neue Lebenssituation anpassen. Eine Rolle spielt dabei zum Beispiel die Einsamkeit nach einem Umzug oder zusätzlich zur Verfügung stehende Zeit durch Arbeitslosigkeit. Mit dem Fokus auf digitale Medien zeigt Augustin (2015), dass das Führen eines Weblogs im Kontext eines Auslandsaufenthalts im Studium wichtig sein kann, um den Kontakt zu Familie und Freunden zu halten. Nach der Rückkehr verliert das Weblog hingegen seine Bedeutung, weil das soziale Umfeld nun wieder auf anderem Wege erreicht wird. Auch wenn sich in diesen exemplarisch genannten Studien die Relevanz tiefgreifender Alltagsveränderungen für den Wandel des Medienhandelns andeutet, so fehlt bislang © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Niemand, Alltagsumbrüche und Medienhandeln, Medien • Kultur • Kommunikation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30738-7_1
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1 Einleitung: Wieso Alltagsumbrüche und Medienhandeln erforschen?
ein umfassendes Verständnis über die Hintergründe und Prozesse, inwiefern sich verschiedene Alltagsumbrüche auf die Nutzung unterschiedlicher Medien auswirken. Um diesen blinden Fleck in der kommunikationswissenschaftlichen Rezeptionsforschung überwinden zu können, brauchte es offensichtlich die Aussagen von Mediennutzer*innen, die auf diesen Zusammenhang nachdrücklich aufmerksam machten. Denn das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit, inwiefern Alltagsumbrüche die Mediennutzung verändern, entstand induktiv aus dem Material der DFGgeförderten qualitativen Panelstudie „Das mediatisierte Zuhause“ (vgl. Röser et. al. 2019). In der ersten Erhebungswelle 2008 wurde in dieser Studie insbesondere die Verhäuslichung des Internets von 1997 bis 2007 rekonstruiert. Etwas überraschend zeigte sich hier, dass die Veränderungen im Medienrepertoire, die wir im Zuge der Aneignung des Internets vermuteten, eher gering ausfielen. Im Kontrast zu diesen Beharrungsmomenten berichteten die Interviewten, die beispielsweise Eltern wurden oder bei denen sich berufliche Veränderungen ergaben, von einer hohen Dynamik in ihrem Medienrepertoire. Tiefgreifende Veränderungen des Alltags waren also mit einem weitreichenden Wandel des Medienhandelns verbunden. Diese interessante und vielversprechende Spur griffen wir im Rahmen der Panelstudie auf und erweiterten das Erkenntnisinteresse auf die Fragestellung, inwiefern Alltagsumbrüche die Nutzung von Medien verändern. Konkret begannen wir ab der zweiten Erhebungswelle 2011 damit, Umbrüche im Alltag explizit in den Interviews zu thematisieren und im Zusammenhang mit Veränderungen des Medienhandelns zu analysieren. So konnten wir durch die vergleichende Analyse der Mediennutzung zwischen 2008 und 2011 erstmals strukturierte Befunde dazu generieren. Diese Einsichten nutzten wir, um den Zusammenhang in der dritten Erhebungswelle 2013 tiefgehender und systematischer zu untersuchen. Zudem haben wir 2016, in der vierten und letzten Phase, weitere Daten mittels schriftlicher Befragung erhoben. Auf diese Weise konnten umfassende Befunde zu diesem Analysefeld generiert werden.
1.1 Ziele, Fragestellungen und Anknüpfungspunkte Die Ziele dieser Arbeit lassen sich auf zwei wesentliche Aspekte zuspitzen, die eng miteinander zusammenhängen. Erstens zielt die Arbeit darauf ab, zu ermitteln, wie und warum Alltagsumbrüche wie eine Trennung, ein Umzug oder der Tod eines Partners Veränderungsprozesse im Medienrepertoire der Menschen anstoßen. Da in dieser Analyseperspektive unweigerlich die Verwobenheit zwischen Alltags- und Medienhandeln adressiert wird, sollen zweitens durch die
1.1 Ziele, Fragestellungen und Anknüpfungspunkte
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Analyse der Alltagsumbrüche Einsichten generiert werden, inwiefern sich die Beziehung zwischen Lebensführung und Mediennutzung theoretisieren lässt. Im Zentrum dieser Arbeit steht daher die übergeordnete Fragestellung: Inwiefern dynamisieren Alltagsumbrüche das häusliche Medienhandeln und welche Aussagen können anhand dieser Analysen zur Beziehung zwischen alltäglicher Lebensführung und Medienhandeln getroffen werden? Es handelt sich bei dem Dissertationsprojekt also um keine rein medienbezogene Arbeit. Vielmehr werden die vielschichtigen Beziehungen und Zusammenhänge, die es zwischen der Lebensführung eines Menschen und seiner Mediennutzung gibt, aneignungsorientiert herausgearbeitet. Das alltägliche Handeln wird somit als relevanter Kontext der Mediennutzung berücksichtigt. Die Analyse entlang von Alltagsumbrüchen ist deswegen so vielversprechend, weil die Alltagsveränderungen im Zuge des Umbruchs systematisch mit dem Wandel des Medienhandelns in Beziehung gesetzt werden können. Es geht also um die Phasen, in denen die habitualisierte und ritualisierte Mediennutzung infrage gestellt wird. Was bedeutet es zum Beispiel für die Nutzung von Medien, wenn nach der Geburt eines Kindes die Betreuung des Babys ins Zentrum des Alltags rückt? Inwiefern verändert sich Mediennutzung nach einer Trennung und spiegeln sich die Konflikte des Paares vor der Auflösung der Beziehung in ihrem Medienhandeln wider? Welche Bedeutung kommt Medien zu, wenn die Kinder aus dem Elternhaus ausziehen und wie werden die neuen Freiräume genutzt? Mit welchen Folgen für die Mediennutzung ist ein Umzug verbunden, wenn sich danach zum Beispiel die Distanz zum Freundes- und Bekanntenkreis verändert? Dies sind nur einige exemplarische Fragestellungen, die in dieser Arbeit beantwortet werden sollen. Auf diese Weise sollen die Hintergründe identifiziert werden, warum sich die Mediennutzung im Laufe eines Lebens verändert. Entgegen der Analyse des Wandels von Alltag und Medienhandeln durch die Aneignung einer neuen Medientechnologie wird hier also die Veränderung der Lebenssituation als Ausgangspunkt für den Wandel des Medienhandelns fokussiert. Dabei – und dies ist eine wesentliche Besonderheit dieser Arbeit – wird der Anspruch verfolgt, sowohl die Lebensführung als auch das Medienhandeln aus einer ganzheitlichen Perspektive zu untersuchen. Zum einen soll explizit keine Einzelmedienforschung betrieben werden, sondern es gilt, die Gesamtschau der im häuslichen Alltag genutzten Medien zu fokussieren. Zum anderen sollen möglichst alle relevanten Aspekte der alltäglichen Lebensführung wie Tagesrhythmen, soziale Konstellationen oder inhaltliche Aufgabenfelder berücksichtigt werden. Zentrales Ziel ist dabei die Theoretisierung der Verwobenheit zwischen Lebensführung und Medienhandeln.
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1 Einleitung: Wieso Alltagsumbrüche und Medienhandeln erforschen?
1.2 Theoretische Bezüge und Aufbau dieser Arbeit Als besondere Herausforderung dieser Arbeit kristallisierte sich heraus, dass es bislang kein theoretisches Konzept für die Analyse von Alltagsumbrüchen und Medienhandeln gibt. Daher wurden nach einer ausgiebigen Recherche verschiedene theoretische Konzepte gesichtet, die einen aussichtsreichen Zugang versprachen, um sich diesem Zusammenhang anzunähern. Als besonders instruktiv erwiesen sich vier theoretische Perspektiven: die Ansätze Mediatisierung (vgl. u. a. Krotz 2007) und Domestizierung (vgl. u. a. Röser 2007b) sowie die Konzepte alltägliche Lebensführung (vgl. Voß 1991) und Transitionsprozesse (vgl. Welzer 1993a).1 Diese ließen sich fruchtbar miteinander verbinden, wie in Kapitel 2 bis 5 gezeigt wird. Mit den Ansätzen Mediatisierung und Domestizierung konnte im Speziellen das Verhältnis zwischen Alltag und Medienhandeln aus einer gesellschafts- und handlungstheoretischen Perspektive konzeptualisiert werden. Das Konzept der alltäglichen Lebensführung zielte vorwiegend darauf ab, die in der Kommunikationswissenschaft oftmals diffus verwendete Kategorie ‚Alltag‘ zu systematisieren und das Transitionskonzept lieferte zentrale Einsichten zur Struktur und zum Verlauf von Alltagsumbrüchen. Im Allgemeinen wird bei der Analyse der Verwobenheit von Lebensführung und Medienhandeln im Kontext von Alltagsumbrüchen eine sozialkonstruktivistische Perspektive eingenommen. Damit ist gemeint, dass sowohl die Lebensführung als auch das darin eingelagerte Medienhandeln als aktive Konstruktionsleistungen der Menschen verstanden werden. In diesem Sinne fungieren gesellschaftliche Verhältnisse und Medienumgebungen zwar als Rahmenbedingungen für die Lebensführung und das Medienhandeln, determinieren beides aber nicht. In Kapitel 6 mündet die theoretische Fundierung in einer Zusammenführung, in der die Beziehung zwischen Alltagsumbrüchen und den dynamischen Veränderungsprozessen des Medienhandelns modellhaft dargestellt wird. Zudem werden fünf Prinzipien entwickelt, die Orientierung für die Umsetzung von empirischen Analysen geben.
1Gesichtet
wurden zudem die folgenden handlungstheoretischen und kontextorientierten Aneignungstheorien: • Strukturanalytische Rezeptionsforschung (vgl. Neumann-Braun 2005) • Kontextuelles Verstehen der Medienaneignung (vgl. Schorb/Theunert 2000) • Praktischer Sinn (vgl. Weiß 2000) • Mediennutzungssituationen als Rahmungen (vgl. Deterding 2013) • Ansatz der kontextuellen Mediatisation (vgl. Kutschera 2001) • Praxeologische Mediensozialisationsforschung (Paus-Hasebrink et al. 2014)
1.2 Theoretische Bezüge und Aufbau dieser Arbeit
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Angeschlossen an die theoretischen Ausführungen wird in Kapitel 7 der Forschungsstand aufgearbeitet. Hier zeigt sich noch einmal sehr deutlich, dass es nur wenige Studien gibt, die sich explizit der Erforschung von Alltagsumbrüchen und ihren Folgen für die Mediennutzung gewidmet haben. Es kann also von einem Desiderat der kommunikationswissenschaftlichen Rezeptionsforschung gesprochen werden. Besonders auffallend ist, dass – anders als in dieser Arbeit – vorwiegend spezifische Alltagsumbrüche sowie einzelne Medien erforscht wurden. Dies ist insofern problematisch, weil – so soll gezeigt werden – auf diese Weise blinde Flecken zur Verwobenheit von Lebensführung und Medienhandeln produziert werden. Kapitel 8 widmet sich der empirischen Studie dieser Arbeit. Dabei wird zunächst das Verhältnis zur DFG-geförderten Panelstudie „Das mediatisierte Zuhause“ erläutert, denn das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit machte einen wichtigen Teilaspekt dieser Studie aus (siehe Abschnitt 8.1). Weiterführend erfolgt in Abschnitt 8.2 eine differenzierte Formulierung der Forschungsfragen, die auf Basis der qualitativen Panelstudie mit 25 ungleichgeschlechtlichen Paarhaushalten untersucht wurden. Die Paare wurden im Rahmen von medienethnografischen Miniaturen zu mehreren Zeitpunkten (2008, 2011, 2013 und 2016) mit einem vielschichtigen Methodensetting befragt (siehe zur Samplebildung Abschnitt 8.3 sowie zur Datenerhebung Abschnitt 8.4). Ausgewertet wurden die Daten mit medienethnografischen Porträts, einem Verfahren, as explizit für die Datenanalyse der Studie „Das mediatisierte Zuhause“ entwickelt wurde, um eine gegenstandsangemessene Auswertung von ethnografisch-orientiertem und damit komplexem Material zu ermöglichen (siehe Abschnitt 8.5). Die Befunde der empirischen Studie werden in Kapitel 9 und 10 präsentiert. Zunächst wird erläutert, welche Alltagsumbrüche sich in den Haushalten im Untersuchungszeitraum ereigneten und wie sich diese im Sample verteilen (siehe Abschnitt 9.1). Anschließend folgt für jeden Alltagsumbruch eine ausführliche Analyse, inwiefern diese Dynamik im Medienrepertoire anstoßen (siehe Abschnitt 9.2 bis 9.6). Die spezifischen Alltagsveränderungen eines jeden Umbruchs, wie beispielsweise veränderte Zeitsouveränitäten, emotionale Krisen oder ein Wandel der Arbeitsteilung werden hier definiert als alltagsspezifische Antriebsfaktoren für Dynamik im Medienrepertoire. Diese alltagsspezifischen Antriebsfaktoren werden in Kapitel 10 unabhängig vom einzelnen Umbruch und damit übergreifend systematisiert, um so darzulegen, auf wie vielfältige Art und Weise Veränderungen des Medienhandelns angestoßen werden können.
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1 Einleitung: Wieso Alltagsumbrüche und Medienhandeln erforschen?
Der Abschluss dieser Arbeit wird eingeleitet mit einer Reflektion des methodischen Vorgehens, in dem Stärken, Potenziale und Limitationen diskutiert werden (siehe Kapitel 11). Zu guter Letzt wird – nachdem in Abschnitt 12.1 das Vorgehen und die zentrale Leistung dieser Arbeit rekapituliert wurde – im abschließenden Abschnitt 12.2 der theoretische Ertrag mit einem Ausblick verknüpft. Indem die Einsichten aus Theorie und Empirie im Konzept zur Verwobenheit von Alltagsumbrüchen und Medienhandeln zusammengeführt werden, geht diese Arbeit deutlich über die bloße Beschreibung von zusammenhanglosen Einzelphänomenen hinaus. Dies lässt sich als ein besonderer Ertrag herausstellen, denn das Konzept liefert ein heuristisches Handwerkszeug, mit dem die Verwobenheit von Lebensführung und Medienhandeln systematisch erfasst werden kann und mit dem die von verschiedenen Alltagsumbrüchen angestoßenen Prozesse erklär- und interpretierbar werden. Ein darin enthaltenes Analyseraster gibt zudem Auskunft darüber, inwiefern Medien aus Nutzerperspektive sinnhaft in Beziehung zur Lebensführung gesetzt werden: nämlich in Form eines komplexen Zusammenspiels aus lebenssituationsspezifischen Entfaltungschancen, Zwängen und Erwartungen sowie Bedürfnissen und Daseinsthematiken.
Teil I Theoretische Perspektiven
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Mediatisierung: Zur Beziehung von Gesellschaft, Alltag und Medien
„Nicht die Medien […] verändern Kultur, Gesellschaft und gesellschaftliche Kommunikation, sondern die Menschen bedienen sich der Medien auf spezifische Weise in Abhängigkeit von ihren Bedürfnissen, eignen sie sich an, indem sie ihre Potenziale aufgreifen, die ihnen erkennbar und zielführend erscheinen, und sie ggf. weiter ihren Interessen anpassen.“ (Krotz 2007 S. 35–36)
Einen zentralen Ausgangspunkt, um sich der Verwobenheit von Alltag und Medien anzunähern, bietet der Mediatisierungsansatz (vgl. Krotz 2001, 2007).1 Der Prozess der Mediatisierung vollzieht sich – folgt man der Argumentation von Krotz – seit Beginn der symbolischen Kommunikation und ist prinzipiell nie abgeschlossen (vgl. Krotz 2012). Krotz betrachtet Mediatisierung als „Metaprozess“ (Krotz 2007, S. 11), der mit anderen Metaprozessen wie Globalisierung, Individualisierung und Kommerzialisierung verbunden ist und „gesellschaftliche bzw. kulturelle Langzeitentwicklungen“ (Krotz 2015a, S. 440) erfassen will. Das obige Zitat deutet bereits an, dass in dem Ansatz technikdeterministische Annahmen, die technologische Entwicklungen als wesentliche Ursache für einen Wandel der Gesellschaft ausmachen, zurückgewiesen werden (vgl. dazu auch MacKenzie und Wajcman 1999). Vielmehr wird davon ausgegangen, dass der Medienwandel in einer komplexen Wechselbeziehung mit gesellschaftlichen Entwicklungen steht und durch das Handeln der Menschen angestoßen wird. Mit
1Bei
der Konzeption des Mediatisierungsansatzes greift Krotz sowohl auf kommunikationswissenschaftliches Wissen wie die Mediumstheorie von McLuhan und Meyrowitz zurück, als auch mit dem symbolischen Interaktionismus (in Anlehnung an Mead) und dem Ansatz der Cultural Studies auf zwei sozialwissenschaftliche Grundlagentheorien. Ein weiterer Baustein ist die Zivilisationstheorie von Norbert Elias (vgl. Krotz 2001: 37).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Niemand, Alltagsumbrüche und Medienhandeln, Medien • Kultur • Kommunikation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30738-7_2
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2 Mediatisierung: Zur Beziehung von Gesellschaft, Alltag und Medien
einer solchen handlungstheoretischen Perspektive werden die Zusammenhänge zwischen sozialem Wandel einerseits und dem Medienwandel im Kontext der Veränderung des kommunikativen Handelns andererseits in den Fokus gerückt (vgl. Hepp et al. 2010, S. 223). Der Mediatisierungsansatz trägt der gewachsenen Bedeutung von Medien Rechnung (vgl. z. B. Livingstone 2009) und liefert eine Alternative zu linearen Medienentwicklungstheorien, die beispielsweise von einer zielgerichteten Entwicklung im Sinne eines stetigen Fortschritts der Medienlandschaft ausgehen (vgl. zur Medienevolutionstheorie z. B. Scolari 2013), sowie zu Vorher-Nachher-Dichotomien, wie sie beispielsweise in den Begriffen der Informationsgesellschaft oder Wissensgesellschaft (vgl. Kübler und Elling 2004) zum Ausdruck kommen (vgl. Krotz 2001, S. 36). Medien sind im Mediatisierungsansatz insofern von Interesse, als dass sie „Bedingungen für Kommunikation herstellen.“ (Krotz 2007, S. 47) Der Ansatz beinhaltet somit einen sehr weit gefassten Medienbegriff. Konkret muss ein Medium die folgenden vier Spezifikationen aufweisen, damit von einem Medium gesprochen werden kann: „So gesehen sind Medien dann einerseits strukturell bestimmt als (1) Technologien bzw. technische Apparate sowie (2) zugleich als gesellschaftlich etablierte Institutionen. Andererseits haben Medien daneben auch eine situative Praxisdimension, sie dienen zugleich als (3) Produktionsapparate und Inszenierungsmaschinen und zudem den Nutzern als (4) Erlebnisräume.“ (Krotz 2012, S. 29–30)
Ein Medium umfasst demnach sowohl situative Kommunikationspraxen (3 und 4) als auch gesellschaftliche und technisch-institutionelle Strukturen und Prozesse (1 und 2). Durch Anstöße aus diesen unterschiedlichen Spezifikationsebenen kann sich die Form sowie die Art und Weise der Nutzung eines Mediums stets verändern, weil z. B. die Technologie weiterentwickelt wird, neue Inszenierungspraktiken entstehen oder neue gesetzliche Rahmenbedingungen verabschiedet werden (vgl. Krotz 2015b). Ein Medium ist also nicht etwa eine abgeschlossene unveränderliche Technologie, sondern etwas Prozesshaftes, über dessen Bedeutung auf verschiedenen Ebenen entschieden wird. Die Kernideen des Mediatisierungsansatzes, die sich für diese Arbeit und damit für den Zusammenhang zwischen Alltagsumbrüchen und Medienhandeln als besonders relevant erweisen, lassen sich auf drei wesentliche Aspekte zuspitzen. Mediatisierung zeichnet demnach aus: 1. Die zunehmende Durchdringung des Alltags mit Medienkommunikation und mit neuen Formen kommunikativen Handelns wird in ihrer Prozesshaftigkeit erfasst (siehe Abschnitt 2.1).
2.1 Durchdringung des Alltags mit neuen Formen …
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2. Der Zusammenhang zwischen medialem und gesellschaftlichem Wandel wird als Zusammenspiel von Dynamik und Beharrung greifbar (siehe Abschnitt 2.2). 3. Als Antriebsfaktoren von Mediatisierungsprozessen werden Veränderungen in den sozialen und kulturellen Lebensbedingungen ausgemacht (siehe Abschnitt 2.3). Entlang dieser Aspekte wird im Folgenden der Mediatisierungsansatz erläutert, um seinen Wert für die Analyse des Zusammenhangs zwischen Alltagsumbrüchen und dem Wandel des Medienhandelns aufzuzeigen.
2.1 Durchdringung des Alltags mit neuen Formen kommunikativen Handelns Im Zuge von Mediatisierungsprozessen kommt es zu einer tieferen Durchdringung verschiedener gesellschaftlicher Bereiche mit neuen Formen medienbezogener Kommunikation. Dieser Prozess bleibt nicht folgenlos für den Alltag der Menschen, für soziale Beziehungen sowie für Gesellschaft und Kultur (vgl. Krotz 2007; ferner Hepp 2010; Krotz 2015a). Ein Ausgangspunkt für die Entwicklung des Mediatisierungsansatzes liegt in der Beobachtung der Entgrenzungsprozesse einzelner Medien: „Traditionell ist jedes einzelne Medium an übliche und ‚normale‘ Zeitphasen, an spezifische Orte, spezifische soziale Zwecke und soziale Bedingungen, insgesamt an festgelegte Situationen und klar abgegrenzte Kontexte und Sinnzusammenhänge gebunden gewesen, für die es produziert und in denen es genutzt wurde.“ (Krotz 2001, S. 20)
Nun aber habe sich die Bedeutung von Medien in zeitlicher, räumlicher, sozialer und sinnbezogener Weise verändert. Medien seien nun zu allen Zeitpunkten (zeitlich) und an immer mehr Orten (räumlich) verfügbar und würden in immer mehr Situationen und Kontexten mit vielfältigen Absichten und Motiven verwendet (sinnhaft). Zudem seien soziale Beziehungen immer häufiger durch Medien vermittelt (sozial) (vgl. Krotz 2001, S. 21). „Alte wie neue Medien beziehen sich dabei und deshalb auf immer mehr Lebensbereiche der Menschen, auf Arbeiten und Lernen, auf Freizeit, Hobby und selbst ‚Nichtstun‘ ist üblicherweise heute von Medienrezeption begleitet.“ (Krotz 2001, S. 21)
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2 Mediatisierung: Zur Beziehung von Gesellschaft, Alltag und Medien
Aus einer historischen Perspektive lassen sich mit Blick auf große Zeiträume verschiedene Meilensteine von Mediatisierungsprozessen ausmachen. Je nach eingenommener Perspektive kommen dabei verschiedene Autor*innen zu unterschiedlichen Diagnosen. Zwei wesentliche Systematisierungen werden im Folgenden skizziert. So machen beispielsweise Hepp et al. (2017, S. 84) die Mechanisierung, Elektrifizierung und Digitalisierung als wichtige Meilensteine von Mediatisierungsprozessen aus und charakterisieren diese auf übergeordneter Ebene als Mediatisierungsschübe. Als Konsequenz solcher Mediatisierungsschübe kommt es zu einer tiefgreifenden Transformation der medienkulturellen Umgebungen. Gegenwärtig befindet sich die Gesellschaft nach Couldry und Hepp (2017, S. 53–56) in einer „deep mediatization“, die sich durch eine radikal wachsende Ausdifferenzierung, Omnipräsenz, Konnektivität, Datafizierung und Innovationsgeschwindigkeit der Medien auszeichnet. Steinmaurer (2013) hingegen identifiziert unter einem medium-theoretischen Blickwinkel vier Mediatisierungsstufen (siehe Abb. 2.1). Ausgehend von der Durchsetzung der Drucktechnologie (Stufe 1) ist auf der gegenwärtigen vierten Stufe „eine fortgeschrittene Form von Dauervernetztheit des Individuums“ (Steinmaurer 2013, S. 8) erreicht, weil Medien nun tendenziell ubiquitär und zeitlich unbegrenzt verfügbar sind.
Abb. 2.1 Stufen der Mediatisierung. (Quelle: Steinmaurer 2013, S. 5)
2.1 Durchdringung des Alltags mit neuen Formen …
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Unabhängig von der Systematisierung einzelner Mediatisierungsschübe oder- stufen und ihren Folgen für den Alltag der Menschen lässt sich allgemein konstatieren, dass sich die Verwobenheit von Alltag und Medien stets im Wandel befindet und je nach historischem Zeitpunkt ein anderes Niveau aufweist. Zwar lässt sich im Sinne einer ‚deep mediatization‘ oder einer ‚kommunikativen Dauervernetzung‘ (vgl. auch Vorderer 2015) gegenwärtig erkennen, dass die Verwobenheit des Alltags mit Medienkommunikation ein besonders hohes Niveau aufweist, es handelt sich dabei aber keineswegs um einen festen unveränderlichen Zustand, vielmehr muss dieses Verhältnis als Prozess gedacht werden. Für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit heißt das, dass Alltagsumbrüche je nach historischem Zeitpunkt in unterschiedlicher Weise einen Wandel des Medienhandelns anstoßen, weil bestimmte Alltagshandlungen je nach Zeitpunkt mediatisiert ausgeführt werden oder eben (noch) nicht. Im historischen Verlauf variiert beispielsweise die Möglichkeit, nach einer Trennung medial unterstützt eine neue Beziehung einzugehen. Zunächst standen dafür keine Mediendienste zur Verfügung, dann kamen Partnerbörsen in Tageszeitungen hinzu und gegenwärtig zusätzlich zahlreiche Dating-Apps. Mediatisierungsprozesse definieren also gewissermaßen, welche Alltagshandlungen mit Medien ausgeführt werden (können) und wie wir in unterschiedlichen Alltagssituationen miteinander kommunizieren. So hat sich im Zuge der Verbreitung oben genannter Mediendienste gleichsam ausdifferenziert, in welcher Art und Weise wir Beziehungen kommunikativ anbahnen; man denke zum Beispiel an die Partnersuche mit Tinder per Wischgeste durch das Bewerten von Bildern (vgl. Oswald 2019) oder an die Rolle von Algorithmen bei der Partnersuche mit Dating-Apps. Mediatisierung meint daher nicht die schlichte (Bedeutungs-)Zunahme von Medien, sondern beschreibt immer eine Modifizierung des kommunikativen Handelns der Menschen, das über die Entwicklung und Verbreitung von Medientechnologien realisiert wird. Den historischen Ausdifferenzierungsprozess von Kommunikation rekapitulierend, unterscheidet Krotz idealtypisch drei grundlegende Typen medienbezogener Kommunikation (vgl. Krotz 2012, S. 31–33)2: 1. Die interpersonale Kommunikation von Mensch zu Mensch, die nicht face-toface, sondern über Medien wie Briefe, Messenger-Dienste, dem Telefon usw. stattfindet. 2Die
drei Typen medienbezogener Kommunikation können sich durchaus in onlinebasierten Mediendiensten wie sozialen Medien vermischen, wenn beispielsweise auf Facebook ein Artikel von einem Nachrichtenanbieter mit Freunden geteilt und kommentiert wird: „Dabei heißt mischen zunächst, dass unterschiedliche Kommunikationstypen an einem Gerät abwechselnd oder gleichzeitig stattfinden können.“ (Krotz 2001, S. 24).
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2 Mediatisierung: Zur Beziehung von Gesellschaft, Alltag und Medien
2. Die Produktion oder Rezeption von standardisierten, allgemein adressierten Kommunikaten, mit der die klassische Massenkommunikation wie Radio, Fernsehen, Zeitung, Kunstbilder und ihre onlinebasierten Entsprechungen gefasst wird. 3. Die Kommunikation mit interaktiven Systemen wie Navigationsgeräte, Computerspiele oder Roboter. Dieser Ausdifferenzierungsprozess des kommunikativen Handelns ist immer mit Ungleichzeitigkeiten verbunden. Denn: Obwohl die oben genannte Systematisierung in Mediatisierungsschübe und -stufen suggeriert, es gebe den einen Mediatisierungsprozess, der alle Menschen gleichermaßen betrifft, wird genau diese Annahme im Mediatisierungsansatz zurückgewiesen. Es wird vielmehr betont, dass es verschiedene Pfade der Entwicklung von Mediatisierung gibt, weil sich der Prozess auf verschiedenen Handlungsfeldern und in verschiedenen Sozialwelten jeweils auf eine spezifische Weise vollzieht (vgl. Krotz 2017a, S. 349–354). „Stattdessen ist es eher plausibel zu sagen, dass es für jedes Individuum und jede Gruppe zu jedem Zeitpunkt kulturell, sozial, medial definierte Pfade gibt, auf denen eine Ingebrauchnahme eines bestimmten Mediums zu einem bestimmten Zeitpunkt für bestimmte Zwecke sinnvoll sein mag oder nicht.“ (Krotz 2007, S. 288)
Aus Sicht dieser Arbeit lässt sich entsprechend ableiten: Je nachdem in welchen „Handlungsfeldern und Sozialwelten“ (Krotz 2014: 14) oder synonym dazu in welchen Lebensbereichen sich ein Mensch in seinem Alltag bewegt und wie er darin agiert, ist der Gebrauch von bestimmten Medien sinnvoll (oder nicht) beziehungsweise sind unterschiedliche Formen des kommunikativen Handelns von Bedeutung. So ist es zum Beispiel für die Medienkommunikation in einer Beziehung relevant, ob ein Paar eine Fernbeziehung führt oder ob es in einem gemeinsamen Haushalt lebt. Während im Fall der Fernbeziehung Videotelefonie elementar für das Beziehungsmanagement sein kann, kann dies nach dem Zusammenziehen des Paares durch die gestiegene Ko-Präsenz seine Bedeutung verlieren. Auch je nach Erwerbssituation variieren die Mediendienste, die für die jeweilige Tätigkeit genutzt werden (müssen). So kann zum Beispiel mit Studienbeginn die Nutzung digitaler Lernplattformen nötig werden oder es können durch Arbeitslosigkeit berufliche Mediendienste wegfallen. In beiden Fällen ändert sich das kommunikative Handeln der Person. Es ließen sich noch zahlreiche weitere
2.2 Mediengesellschaftlicher Wandel als Zusammenspiel …
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Beispiele heranziehen, aber es sollte deutlich geworden sein: Welche Mediendienste aus der bestehenden Medienumgebung ausgewählt werden und für welche Zwecke sie zum Einsatz kommen steht immer in unmittelbarem Zusammenhang mit der spezifischen Lebenssituation. Insofern ist für die Art und Weise der Mediennutzung relevant, welchen Pfad ein Mensch im Laufe seines Lebens einschlägt und wie er in der jeweiligen Lebenssituation seine Lebensführung mit Medien gestaltet. An dieser Stelle zeichnet sich auch bereits ab, dass Alltagsumbrüche eine vielversprechende Analysekategorie für den Wandel des Medienhandelns darstellen, weil so in den Blick gerät, inwiefern Lebensbereiche neu gestaltet werden, oder wo Grenzübertritte in neue Handlungsfelder stattfinden und mit welchen Folgen dies für das kommunikative Handeln verbunden ist. Gewinnbringend lassen sich diese Wandlungsprozesse als Zusammenspiel von Dynamik und Beharrung analysieren.
2.2 Mediengesellschaftlicher Wandel als Zusammenspiel von Dynamik und Beharrung Die zunehmende Durchdringung des Alltags der Menschen mit neuen Medientechnologien bedeutet keineswegs, dass bereits etablierte Medien rasant an Bedeutung verlieren; vielmehr verlaufen solche Wandlungsprozesse weitaus weniger radikal, als dies in öffentlichen Diskursen nahegelegt wird (vgl. Hepp und Röser 2014; Röser et al. 2019, S. 30). Mediatisierungsprozesse lassen sich in diesem Zusammenhang auf Nutzerebene als ein Wechselspiel zwischen Dynamik und Beharrung begreifen. Während der Begriff Dynamik auf die „fortlaufende, zeitweise und auch schubhafte Veränderung im […] Medienhandeln“ abzielt, wird kontrastierend dazu mit dem Begriff der Beharrung „das Festhalten an bewährten Medienpraktiken, zum Beispiel durch das Im-Spiel-Halten der alten (analogen) Medien“ gefasst (Röser et al. 2017, S. 140–141). Dynamik auf Ebene der Person entsteht beispielsweise, wenn Nutzer*innen ein Smartphone in ihr Medienrepertoire integrieren, nicht mehr auf lineares Fernsehen, sondern auf Streamingangebote zugreifen oder damit beginnen, soziale Medien zu nutzen und in diesem Zusammenhang ihr kommunikatives Handeln verändern. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene äußern sich diese Dynamiken dann in der Durchsetzung und Verbreitung der entsprechenden Medienangebote und -technologien und in der Art zu kommunizieren. Da die Aneignung neuer Medienpraktiken aber stets in Beziehung zum bereits bestehenden Medienrepertoire erfolgt, ist es naheliegend, dass dynamische Prozesse stets mit
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2 Mediatisierung: Zur Beziehung von Gesellschaft, Alltag und Medien
Momenten von Beharrung verbunden sind. Denn: Nutzer*innen halten im Zuge der Integration von neuen Mediendiensten in ihr Medienrepertoire auch an bestehenden Medienpraktiken fest, solange sie für ihre Alltagsgestaltung als sinnvoll empfunden werden (vgl. Röser et al. 2019, S. 30–32). So kann – trotz der Anschaffung eines Streaminganbieters wie Netflix und einer damit verbundenen deutlich größeren Angebotspalette – der wöchentliche Fernsehabend mit dem Tatort weiterhin ein zentraler Bestandteil des Alltags sein, weil er zum Beispiel für die Kommunikationskultur der Familie eine wichtige Bedeutung besitzt. Beharrung meint daher, dass „Menschen ihr kommunikatives Handeln in Teilbereichen nicht oder nur wenig verändern, obwohl medientechnologische oder inhaltliche Potenziale dies erlauben würden“ (Röser et al. 2017, S. 142). Gleichwohl kann die Praxis des Tatort-Schauens auch dynamischen Prozessen unterliegen, wenn beispielsweise der Krimi per Second Screen während der Rezeption mit Freunden über WhatsApp diskutiert wird (vgl. Müller und Röser 2017). Beharrungstendenzen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene äußern sich darin, dass neue Medien sich stets in bestehenden Medienumgebungen durchsetzen müssen und zumeist mit den etablierten Mediendiensten eine Koexistenz eingehen. „Dies führt zu der Einsicht, dass Beharrungsmomente nicht Gegensatz, sondern Teil von Wandel sind, Mediatisierung also – auf konkreten Feldern betrachtet – immer von Momenten der Dynamik und der Beharrung geprägt ist, die zusammen Wandel konstituieren.“ (Röser et al. 2017, S. 143) Im Kontext des Erkenntnisinteresses dieser Arbeit ist zu erwarten, dass Alltagsumbrüche Dynamik im Medienrepertoire und damit schubhafte Veränderungen im Medienhandeln in Gang setzen, weil durch die Alltagsveränderung bisher genutzten Mediendienste ihren Sinn verlieren können, während andere bedeutsam werden. Ein einfaches Beispiel: Eine Trennung kann dazu führen, dass neuerdings Onlinepartnerbörsen genutzt werden, während der gemeinsame Fernsehabend aufgrund von vermehrten außerhäuslichen Aktivitäten wegfällt. Der Fokus dieser Arbeit liegt damit auf der dynamisierenden Triebkraft von Alltagsumbrüchen und auf den Veränderungen im Medienrepertoire, die durch die Alltagsveränderungen angestoßen werden.3 In Form der Bedürfnisse, die Menschen an Medientechnologien herantragen, liefert der Mediatisierungsansatz bereits erste Hinweise zu den Antriebsfaktoren von Dynamik nach einem Alltagsumbruch.
3Gleichwohl
ist eine interessante (in dieser Arbeit aber nicht primär verfolgte) Fragestellung, welche Mediennutzungsmuster trotz einschneidender Alltagsveränderungen stabil bleiben und damit eine hohe Beharrungskraft aufweisen.
2.3 Bedürfnisse als zentrale Antriebsfaktoren …
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2.3 Bedürfnisse als zentrale Antriebsfaktoren von Mediatisierungsprozessen „Als Ursache von Mediatisierung [wird] nicht unbedingt ein Wandel der Medien angenommen, sondern nach sich verändernden sozialen Lebensbedingungen gesucht, die sich dann in sich verändernden Bedürfnissen und Bedarfen ausdrücken, zu deren Befriedigung auch neue Medien gesellschaftlich institutionalisiert werden können.“ (Krotz 2012, S. 28–29)
Mediatisierungsprozesse werden also nicht durch technologische Entwicklungen determiniert, sondern durch neue oder veränderte gesellschaftliche Bedürfnisse angetrieben.4 Mediatisierung richtet sich damit explizit gegen einen technischen Determinismus, bei dem Medien als alleinige Ursache für Kultur und Gesellschaftswandel angesehen werden. Das Verständnis von gesellschaftlichen Bedürfnissen ist im Mediatisierungsansatz allerdings weder empirisch validiert noch theoretisch ausformuliert. Gleichwohl lässt sich ausgehend von der Einsicht, dass gesellschaftliche Bedürfnisse als Antriebsfaktoren von Mediatisierung fungieren, eine Verbindung zum Erkenntnisinteresse dieser Arbeit herstellen. Denn letztlich müssten gesellschaftlichen Bedürfnisse auch im kommunikativen Handeln der Menschen und damit auf Ebene des Subjekts als individuelle Bedürfnisse, Motive und Sinnzuschreibungen für die Zuwendung zu Medien sichtbar sein. Besonders in den Blick gerät diese Sinndimension im Zuge eines Alltagsumbruchs, weil sich beim Übergang von einer Lebenssituation in eine andere zeigt, aufgrund welcher neuen oder veränderten Bedürfnisse, Motive oder Sinnzuschreibungen die Mediennutzung einem Wandel unterliegt. Wenn nach dem Eintritt in ein neues Handlungsfeld (z. B. nach dem Berufsbeginn) oder durch die Umstrukturierung eines Lebensbereichs (z. B. durch eine neue Partnerschaft) neue Formen der Medienkommunikation in den Alltag integriert werden, dann lassen sich die damit verbundenen Bedürfnisse, Motive und Sinnzuschreibungen als Hintergründe und Erklärungszusammenhänge für die Veränderung des Medienhandelns herausarbeiten. Die nach einem Alltagsumbruch neu entstandenen Bedürfnisse fungieren in diesem Zusammenhang als alltagsspezifische Antriebsfaktoren für den Wandel des Medienhandelns. So müsste
4Auf
eine Unterscheidung in Bedürfnisse und Bedarfe wird in dieser Arbeit verzichtet. Im gängigen Verständnis wird ein Bedürfnis zum Bedarf, wenn dieses durch die eigenen finanziellen Mittel gedeckt werden kann. Der empirische Mehrwert dieser Differenzierung kann für das Interesse dieser Arbeit aber nicht überzeugen, zumal sich ein Bedarf stets auf ein Objekt bezieht und der Begriff somit Bedürfnisse jenseits der Konsumwelt ausblendet.
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2 Mediatisierung: Zur Beziehung von Gesellschaft, Alltag und Medien
sich ein tieferes Verständnis entwickeln lassen, wie Medientechnologien in die Lebenssituation passen und in welcher Form sie für die Lebensführung nützlich sind. Gleichzeitig wird dabei wie unter einem Brennglas sichtbar, inwieweit diese Handlungsfelder und Lebensbereiche mediatisiert sind, d. h. welche Formen der Medienkommunikation sich auf diesen Feldern etabliert haben. In anderen Worten: Wie sich die Mediennutzung im Zuge bestimmter Alltagsumbrüche verändert, hängt immer damit zusammen, inwieweit der mediengesellschaftliche Wandel auf den einzelnen Feldern (Beruf, Partnerschaft usw.) fortgeschritten ist. Vor dem Hintergrund dieser Argumentation scheint es vorerst nahezuliegen, zur näheren Analyse des Wandels der Mediennutzung im Zuge von Alltagsumbrüchen, den Uses-and-Gratification-Approach (vgl. u. a. Rubin 1984; Palmgreen und Rayburn 1985) als weiteren Analyserahmen heranzuziehen. Dieser stellt Bedürfnisse als Triebkräfte des Medienhandelns ins Zentrum der Analyse. In dem Ansatz werden Nutzer*innen als aktiv handelnde Individuen konzipiert, die sich Medien aufgrund verschiedener Bedürfnisse zuwenden. Die Bedürfnisse und Handlungsentscheidungen sind – so zumindest in den theoretischen Überlegungen formuliert – geprägt durch soziale und kulturelle Kontextfaktoren (vgl. Sommer 2019: 14–15). In der empirischen Forschung findet aber gerade der soziale Kontext als Ort der Bedürfnisgenese kaum Berücksichtigung (vgl. Swanson 1977). Vielmehr verbleibt die Forschung, so die Kritik, vorwiegend auf Ebene des einzelnen Akteurs, indem die Bedeutung von individuellen Bedürfnissen bei der Analyse der Mediennutzung überbetont wird (vgl. Ruggiero 2000). Ein tieferes Verständnis über die Hintergründe, wie diese Bedürfnisse entstehen, wie sie sich im Zuge eines Alltagsumbruchs unter Umständen verändern und aufgrund welcher Einschränkungen bestimmte Bedürfnisse möglicherweise nicht ausgelebt werden können, lässt sich so kaum entwickeln. Gerade an diesen Fragestellungen ist diese Arbeit aber interessiert. Als ein vielversprechenderer Zugang hat sich daher der Domestizierungsansatz erwiesen, der Medienhandeln als situativ in den Alltag eingebettet versteht, insbesondere die sozialen Konstellationen in den Fokus rückt und somit genau die oben betonten Aspekte berücksichtigt (siehe Kapitel 3).
2.4 Zwischenfazit: Einsichten aus dem Mediatisierungsansatz Auf Basis der obigen Ausführungen lassen sich im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit vier wesentliche Einsichten generieren. Erstens ist der Alltag der Menschen im Zuge von Mediatisierungsprozessen zunehmend von Medien durchdrungen. Je nach historischem Zeitpunkt ist das kommunikative
2.4 Zwischenfazit: Einsichten aus dem Mediatisierungsansatz
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Handeln der Menschen im Alltag auf unterschiedliche Art und Weise mit Medien verwoben, denn der Zusammenhang zwischen Alltagshandeln und Medienhandeln befindet sich stets im Wandel. Während in der Vergangenheit zahlreiche Alltagshandlungen ohne Medienbezug stattgefunden haben, lassen sich gegenwärtig neue Formen und ein besonders hohes Niveau mediatisierter Alltagspraktiken ausmachen. Je nach Mediatisierungsgrad des Alltags stoßen Alltagsumbrüche daher auch Veränderungen des Medienhandelns in divergierender Form und Intensität an, weil die Nutzung von Medien in unterschiedlicher Ausprägung mit der Alltagsveränderung in Zusammenhang steht. Zweitens lässt sich der Wandel des Medienhandelns im Zuge von Alltagsumbrüchen als Zusammenspiel von Dynamik und Beharrung beschreiben. Während Alltagsveränderungen schubhafte Neuerungen des Medienhandelns und damit dynamische Prozesse auslösen können, verlieren in diesem Prozess nicht sämtliche Medienpraktiken im Medienrepertoire an Bedeutung. Vielmehr beharren die Nutzer*innen auf bewährten Medienpraktiken, solange diese für sie im Alltag Sinn ergeben. Drittens können Bedürfnisse eines Menschen, die sich im Zuge von Alltagsumbrüchen verändern, als ein zentraler – wenn auch nicht als einziger – Antriebsfaktor für Dynamik im Medienrepertoire ausgemacht werden. Anstelle einer Engführung auf individuelle Bedürfnisse gilt es allerdings auch, die sozialen Konstellationen der Lebensführung als bedeutsame Kategorie des Medienhandelns in den Blick zu nehmen. Insofern soll in dieser Arbeit danach gefragt werden, inwiefern Medien in einer spezifischen Lebenssituation sinnhaft für die Nutzer*innen sind, wie sich dieser Sinn nach einem Alltagsumbruch verändert und aus welchen lebensweltlichen Gründen bestimmte Bedürfnisse möglicherweise nicht ausgelebt werden (können). Viertens ist – so die Argumentation hier – die Lebensführung der Menschen ein zentraler Pfad, auf dem über die Bedeutung von Medien im Alltag entschieden wird, denn je nach Lebenssituation können unterschiedliche Mediendienste bei der Alltagsgestaltung Relevanz entfalten. Konkretere Prozesse, wie sie sich im Alltag der Menschen vollziehen, werden im Mediatisierungsansatz allerdings eher vernachlässigt. Genau hierauf richtet sich aber das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit. Der Domestizierungsansatz liefert als Spezialperspektive von Mediatisierung einen wichtigen Zugang, um solche Prozesse in den Blick zu nehmen. Auf seiner Basis sollen im Folgenden zentrale Einsichten zur Verwobenheit von Alltagshandeln und Medienhandeln entwickelt werden.
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Domestizierung: Eine kommunikationswissenschaftliche Perspektive auf die Verwobenheit von Alltagshandeln und Medienhandeln
„Medienhandeln ist immer auch Alltagshandeln und umgekehrt erfolgt Alltagshandeln vielfach mediatisiert.“ (Röser 2007a, S. 7)
Mit diesem Zitat bringt Röser eine wesentliche Grundannahme des Domestizierungsansatzes zum Ausdruck, die auch eine zentrale Prämisse dieser Arbeit darstellt: Medienhandeln ist immer in spezifische Alltagssituationen eingebettet, sodass angenommen wird, dass aus den Veränderungen der Alltagsstruktur auch Veränderungen der Mediennutzung folgen. Welche Einsichten der Domestizierungsansatz für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit liefert, wird im Folgenden ausgeführt. Dazu werden zunächst Schlussfolgerungen zur Verwobenheit von Alltagshandeln und Medienhandeln aus Perspektive der Cultural Studies erläutert, aus der auch der Domestizierungsansatz hervorgegangen ist (siehe Abschnitt 3.1). Daran angeschlossen werden in Abschnitt 3.2 entlang der fünf zentralen Prämissen des Domestizierungsansatzes seine Grundannahmen beschrieben, bevor die Einsichten dieser theoretischen Perspektive in einem Zwischenfazit zusammengeführt werden (siehe Abschnitt 3.3).
3.1 Zur Entwicklung des Domestizierungsansatzes Bereits 1983 hat der Kulturwissenschaftler und Ethnologe Hermann Bausinger anhand eines fiktiven Fallbeispiels der deutschen „Familie Meier“ auf den Zusammenhang zwischen Alltagshandeln und Medienhandeln hingewiesen (vgl. Bausinger 1983). Insbesondere durch die anschauliche Beschreibung der Mediennutzung von Herrn Maier wird das „Spannungsfeld zwischen seinen individuellen Medieninteressen, den häuslichen Alltagsroutinen und den familiären Inter© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Niemand, Alltagsumbrüche und Medienhandeln, Medien • Kultur • Kommunikation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30738-7_3
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3 Domestizierung: Eine kommunikationswissenschaftliche Perspektive …
aktionen“ deutlich (Röser und Großmann 2008, S. 92). Verkürzt dargestellt beschreibt Bausinger wie Herr Maier an einem Wochenende seinem Interesse an Sport durch die Rezeption verschiedener Zeitungen und Fernsehsendungen nachgeht; wie er versucht die Radionutzung seines Sohnes über die LiveBerichterstattung der Bundesliga-Spiele zu umgehen, um die Spannung über die Ergebnisse für die Sportschau zu behalten; wie die Mediennutzung Anschlusskommunikation mit den Familienmitgliedern ermöglicht; aber auch wie Unternehmungen mit der Familie die Mediennutzung einschränken oder wie Herr Maier von seinem Sohn für den Kauf der Bild-Zeitung gerügt wird und die Mutter die Sportschau – die sie nicht interessiert – mit ihrem Sohn ansieht, um Nähe herzustellen. Bausinger schlussfolgert aus seinen Ausführungen, dass sich die Bedeutung der Medienrezeption nur mit Blick auf das gesamte Medienrepertoire und in Rückbezug zum alltäglichen Kontext und den darin eingelagerten sozialen Prozessen verstehen lässt. Damit spricht er sich explizit gegen eine individualisierte und auf einfache Wirkungsmechanismen ausgerichtete Medienforschung aus (vgl. Bausinger 1983, S. 30–34). Dieser 1983 veröffentlichte Aufsatz erschien ein Jahr später in englischer Sprache unter dem Titel „Media, technology and daily life“ (Bausinger 1984) und hatte einen bedeutsamen Einfluss auf die in den 1980er Jahren beginnende britische Cultural-Studies-Forschung und im Besonderen auf die Entwicklung des Domestizierungsansatzes (vgl. Hartmann 2013, S. 39–40; Röser und Müller 2017, S. 157). Ganz im Sinne Bausingers wird Medienaneignung in den Cultural Studies in einer alltagsorientierten Perspektive erforscht. Grundlegend lässt sich die Medienaneignungsforschung der britischen Cultural Studies in zwei Forschungsperspektiven unterscheiden: die Analyse als innerer Prozess des Dekodierens einerseits und die Analyse als situatives Medienhandeln andererseits (vgl. Röser 2015, S. 131–132). In der erstgenannten Perspektive steht die Bedeutungszuschreibung und Interpretation von Medieninhalten in Abhängigkeit zur sozialen Positionierung des Subjekts – und damit in Beziehung zu seinen lebensweltlichen Erfahrungen – im Vordergrund. Als zentraler Startpunkt dieser Forschungsperspektive kann das aus überwiegend theoretischen Überlegungen hervorgegangene Encoding-Decoding-Modell von Stuart Hall (1980) angesehen werden, das die Forschung der Cultural Studies über viele Jahre hinweg inspirierte (vgl. ausführlicher dazu Hepp 2010, S. 86–87; Krotz 2009). Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit liegt aber weniger auf der Bedeutungsproduktion von Inhalten, sondern vielmehr auf der sinnhaften Aneignung von Medien im Rahmen der alltäglichen Lebensführung und ist daher vorwiegend in der zweitgenannten Perspektive verortet: der Medienaneignung
3.1 Zur Entwicklung des Domestizierungsansatzes
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als situativem Medienhandeln. Als ein wichtiger Kristallisationspunkt dieser Forschungsperspektive kann die Studie Family Television von David Morley (1986) angesehen werden, in der die Fernsehnutzung zuhause – und damit an ihrem tatsächlichen Nutzungsort – untersucht wurde. Die e thnografisch-orientierte Herangehensweise und damit die Analyse der Medienaneignung unter ‚realen‘ Alltagsbedingungen war auch eine Reaktion auf die experimentelle Medienforschung. Denn diese würde, so die Kritik, Nutzungsweisen untersuchen, die im Alltag faktisch nicht zu finden seien (vgl. Röser 2009, S. 281–282). Bei der Studie von Morley war hingegen eine leitende These, dass „verändernde Muster der Fernsehnutzung nur im Kontext von Familie und Freizeit verstanden werden können“ (Röser 2015, S. 129). Sowohl Bausinger als auch Morley lieferten damit wichtige Bezugspunkte für die Entstehung des Domestizierungsansatzes. Entwickelt wurde der Domestizierungsansatz im Rahmen des Projekts „The Household Uses of Information and Communication Technologies“ (HICT), das unter der Leitung von Roger Silverstone und unter Mitarbeit von David Morley von 1987 bis 1990 an der Brunel University durchgeführt wurde (vgl. Moores 1993, S. 98–102). Ziel war es, unter Verwendung von ethnografischen Methoden die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien kontextorientiert im Haushalt zu untersuchen: „Somit ging es […] auch um Dinge wie geschlechtsspezifische und generationsbedingte Unterschiede (und um Haushaltsstruktur sowie häuslichen Gewohnheiten), um die Art und Weise des Medienkonsums zu bestimmen.“ (Morley 2001, S. 20) Das HICT-Projekt selbst war Teil des übergeordneten „Programme on Information and Communication Technologies“ (PICT), das über einen Zeitraum von 1985 bis 1995 gefördert wurde und an dem mehr als 60 Forschungsprojekte an sechs verschiedenen Universitäten teilnahmen (vgl. Hartmann 2013, S. 46). In einer zweiten Phase von 1991–1994 wurden die inhaltlichen Leitlinien des HICT fortgeführt, wobei der Fokus auf der empirischen Umsetzung lag. Während David Morley aus dem Projekt ausschied, kam Leslie Haddon hinzu (vgl. Hartmann 2013, S. 49). Bei der empirischen Umsetzung wurde das Medienhandeln verschiedener Gruppen wie Teleworker (Haddon und Silverstone 1995a), Alleinerziehende (Haddon und Silverstone 1995b) oder junge Alte (Haddon und Silverstone 1996) untersucht. Weiterentwickelt wurde der Domestizierungsansatz im EU-weit geförderten Projekt „European Media, Technology and Everyday Life Network“ (EMTEL), das mit zehn Partnern aus acht europäischen Ländern von 1995–1998 durchgeführt wurde. Daran schloss das EMTEL 2 von 2000–2004 an, aus dem das bislang umfassendste Werk zum Domestizierungsansatz (vgl. Berker et al. 2006a) hervorging (vgl. Hartmann 2013, S. 39–51).
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3 Domestizierung: Eine kommunikationswissenschaftliche Perspektive …
3.2 Medienhandeln im Kontext des (häuslichen) Alltags: Kernideen von Domestizierung Im vorherigen Kapitel wurde bereits deutlich, dass die Perspektive des situativen Medienhandelns und darin speziell der Domestizierungsansatz hilfreich sind, um den Zusammenhang zwischen Alltagsveränderungen und dem Wandel der Mediennutzung theoretisch zu fundieren. Domestizierung beschreibt den Prozess, „wie Medien und Kommunikationstechnologien in die Wohnungen einziehen und im Aneignungsprozess Teil häuslicher Alltagsroutinen sowie Mittel sozialen Handelns werden. Gemeint ist also ein Prozess, in dem Medientechnologien durch die Nutzerinnen und Nutzer heimisch gemacht, ins Häusliche eingefügt werden.“ (Röser und Müller 2017, S. 156)
Damit eröffnet der Domestizierungsansatz den Blick auf den häuslichen Alltag als Kontext der Medienaneignung (vgl. Röser 2007b, S. 15) und konkretisiert auf diese Weise die Analyse von Mediatisierungsprozessen. Nach Röser und Müller lassen sich die Grundannahmen des Domestizierungsansatzes entlang der folgenden fünf Prämissen skizzieren (vgl. Röser und Müller 2017, S. 156–157). Den Ansatz zeichnet demzufolge aus: 1. Eine aneignungsorientierte Perspektive 2. Ein Blick auf das gesamte Medienrepertoire 3. Ein Verständnis von Domestizierung als offener, prinzipiell endloser Prozess 4. Eine Fokussierung auf die häusliche Sphäre als Mikrokosmos der Gesellschaft 5. Ein Interesse an der Wechselbeziehung zwischen medialem und nichtmedialem Handeln In den folgenden Ausführungen wird der Domestizierungsansatz entlang dieser Grundannahmen, die allesamt eine inhaltliche Nähe zueinander aufweisen, vorgestellt. Dabei werden auch die Kernpunkte des Ansatzes – die doppelte Bedeutung von Medien, die vier Dimensionen des Domestizierungsprozesses sowie das Konzept der moralischen Ökonomie des Haushalts – erläutert (vgl. vertiefend als Überblick Hartmann 2013, S. 21–28; Röser 2007b). Auf Basis dieser Ausführungen werden einerseits zentrale Einsichten zum Erkenntnisinteresse dieser Arbeit generiert, andererseits werden Lücken im Domestizierungsansatz identifiziert, die weiterführend für eine systematische Analyse von Alltagsumbrüchen und ihren Folgen für das Medienhandeln notwendig sind.
3.2 Medienhandeln im Kontext des (häuslichen) …
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3.2.1 Aneignungsorientierte Perspektive Der Ansatz nimmt eine aneignungsorientierte Perspektive auf Medienrezeption ein. Den Rezipienten wird eine aktive Rolle bei der Bedeutungskonstruktion von Medien zugeschrieben. Technikdeterministische Annahmen werden somit zurückgewiesen, vielmehr wird die Relevanz der individuellen Lebenssituation in den Vordergrund gestellt, weil sich Menschen Medien vor dem Hintergrund ihrer Alltagssituation und damit in einem spezifischen Kontext aneignen (vgl. Berker et al. 2006b; Röser et al. 2019, S. 16–19). Rezipienten werden daher weder als bloße Empfänger von Medienbotschaften angesehen noch sind sie passive Nutzer, die Medien ausschließlich in Form eines im Entwicklungsprozess vordefinierten Zwecks verwenden. Vielmehr konstruieren sie die Bedeutung, die Medientechnologien und Medieninhalte für sie besitzen, erst im Rahmen eines vielschichtigen und eigensinnigen Aneignungsprozesses. Wieso jemand sich bestimmten Medien zuwendet, andere ablehnt, welche Inhalte er auswählt und wie diese verarbeitet und gedeutet werden, wird erst durch den Rückbezug zum Alltag des jeweiligen Menschen erklär- und verstehbar: „Der Ausdruck Aneignen, wie er in den Medienstudien der Cultural Studies verwendet wird, steht demnach konträr zu dem Begriff der Rezeption, wie er in der kommunikationswissenschaftlichen Medienwirkungs- und Nutzungsforschung verwendet wird: Die aktive Konstruktion von Bedeutungen bei der Aneignung im Alltag lässt sich aus Sicht der Cultural Studies nicht mit einer eindimensionalen Wirkung, Gratifikation oder Manipulation begreifen.“ (Lingenberg 2015, S. 109)
Diese aneignungsorientierte Perspektive auf Medienrezeption äußert sich im Begriff des Medienhandelns: „Mit dem Begriff ‚Medienhandeln‘ wird hier der Fokus auf die Kommunikationspraktiken im Alltag zum Ausdruck gebracht und Medienrezeption in ihrer situativen und sozialen Kontextualisierung gefasst.“ (Röser 2007b, S. 16) Wenn im weiteren Verlauf dieser Arbeit von Medienhandeln (und zur sprachlichen Vielfalt auch von Mediennutzung) gesprochen wird, dann sind damit immer Kommunikationspraktiken in Beziehung zu den Alltagskontexten gemeint. Was aber versteht der Domestizierungsansatz unter einem Medium? Eine wichtige Besonderheit stellt die doppelte Bedeutung von Medien dar. So verweisen Silverstone und Haddon (1996, S. 62) neben anderen Autoren mit dem Konzept der „double articulation“ sowohl auf die inhaltliche als auch auf die materielle Ebene von Medien (vgl. Hartmann 2013, S. 24–27; Röser 2007b, S. 22). Auf der inhaltlichen Ebene werden Medien als Träger von symbolischen
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Bedeutungen konzeptualisiert. Das Erkenntnisinteresse liegt hier – analog zur Perspektive der Medienaneignung als innerer Prozess des Dekodierens (s. o.) – auf der Bedeutungsproduktion von Medientexten. Auf der materiellen Ebene hingegen werden Medien – analog zur Perspektive der Medienaneignung als situatives Medienhandeln (s. o.) – als technologische Artefakte gefasst. In dieser Forschungsperspektive wird danach gefragt, wie das Medium als Objekt in den häuslichen Alltag und damit in die Routinen und Gewohnheiten integriert wird und inwiefern daraus neue Routinen und Gewohnheiten entstehen. Wichtig ist, dass es sich bei dieser Differenzierung nur um eine analytische Trennung handelt, denn ohne die jeweils andere Ebene kann die Aneignung eines Mediums nicht gedacht werden, erst gemeinsam konstituieren die beiden den Medienaneignungsprozess. Haushaltsgeräte wie Waschmaschinen können deshalb auch nicht als Medium konzeptualisiert werden, weil ihnen die symbolische Ebene fehlt (vgl. Hartmann 2013, S. 25–26). Sowohl auf der symbolischen als auch auf der materiellen Ebene wird die Bedeutung eines Mediums aktiv von den Individuen konstruiert, d. h. weder ein Medientext noch eine Medientechnologie besitzt eine vorab feststehende Bedeutung. Damit distanziert sich der Domestizierungsansatz einerseits von einfachen Wirkungsannahmen im Sinne eines Stimulus-Response-Denkens und anderseits von einem technologischen Determinismus im Sinne einer a priori festgelegten Bedeutung einer Medientechnologie. Die Bedeutung, die ein Medium im Rahmen der Domestizierung erlangt, liegt aber nicht vollständig in der Handlungsmacht der Nutzer, sondern wird durch verschiedene Rahmenbedingungen eingeschränkt: „Die Einschränkungen resultieren (a) aus den Bedingungen, welche die Technologie mit sich bringt; (b) aus der Makro-Ebene der politischen Ökonomie bzw. den Bedingungen der Medienproduzenten; und (c) aus der jeweiligen Kultur der Nutzer, d. h. der Mikro-Ebene des Häuslichen und Alltäglichen.“ (Silverstone 1990, S. 174 zit. n. Hartmann 2013, S. 106)
Die Aneignung eines Mediums kann also nicht losgelöst von seinen technischen Affordanzen, von medieninstitutionellen Strukturen und gesellschaftlichen Diskursen sowie vom lebensweltlichen Hintergrund gedacht werden. Auf diese Weise versucht der Domestizierungsansatz, weder die Handlungsmacht der Nutzer bezüglich der Bedeutungsproduktion von Medien überzubetonen noch strukturelle oder technische Rahmenbedingungen als determinierend für das individuelle Handeln anzusehen. In den Cultural Studies machen dabei gesellschaftskritische Überlegungen einen zentralen Schwerpunkt aus, wenn de Certeau
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(1988) zum Beispiel untersucht, wie ‚vorgegebene‘ Produkte durch widerständige Taktiken kreativ und sinnhaft in den eigenen Alltag integriert werden. „Taktisches Handeln impliziert kein von vornherein zielgerichtetes Agieren, sondern versucht aus Vorgegebenem individuellen Nutzen zu ziehen, auch gegen allgemein gültige Konventionen, Intentionen, Normen und Werte“ (de Certeau 1988, S. 21 ff. zit. n. Mikos 2015, S. 220). Etwas allgemeiner und offener als aus einer solchen machtkritischen Perspektive, in der Fragen zur Entfremdung des Subjekts im Kontext der Medienaneignung gestellt werden, interessiert in dieser Arbeit, inwiefern Alltag und Medien miteinander verwoben sind oder in anderen Worten, von welchen alltagsspezifischen Kontextfaktoren der subjektive Sinn des Medienhandelns abhängt und inwiefern die Bedeutung von Medien nach Alltagsumbrüchen neu ausgehandelt wird.
3.2.2 Blick auf das gesamte Medienrepertoire Zentral verankert ist im Domestizierungsansatz die Anforderung, das gesamte Medienrepertoire (vgl. Hasebrink und Domeyer 2012) in den Blick zu nehmen (vgl. Röser und Müller 2017, S. 156). Dieser Anspruch speist sich zum einen aus der Einsicht, dass sich die Bedeutung der vorhandenen Medien verschiebt, wenn ein neues Medium domestiziert wird. Zum anderen beruht der Anspruch auf der schlichten Feststellung, dass sich die genutzten Medien von Haushalt zu Haushalt unterscheiden können, sodass die Bedeutung des Medienhandelns im Rahmen der alltäglichen Routinen erst durch eine ganzheitliche Perspektive auf das Medienrepertoire verständlich wird. Trotz des Anspruchs, das Miteinander von allen zuhause genutzten Medien zu untersuchen, lässt sich in der Forschung tendenziell eine Differenz zwischen Ambition und empirischer Umsetzung ausmachen, denn zahlreiche Domestizierungsstudien haben sich nur einem spezifischen Medium zugewendet (wie dem Fernseher, dem Computer oder dem Telefon) (vgl. als Überblick Haddon 2006). Die Gründe dafür mögen unterschiedlich sein, allerdings ist leicht nachvollziehbar, dass die Komplexität der Analyse steigt, je mehr Medien untersucht werden. Fragt man, wie in dieser Arbeit, nach den Dynamiken des Medienhandelns im Zuge von Alltagsumbrüchen, ist eine holistische Perspektive auf die genutzten Medien unerlässlich. Denn unterschiedliche Medien können für einen Menschen eine vergleichbare Bedeutung besitzen, weshalb ein spezifischer Alltagsumbruch je nach Person die Nutzung unterschiedlicher Medien beeinflussen kann. So kann sich beispielsweise – im Kontext von Zeitknappheit nach einem Berufsbeginn – die freizeitorientierte Medienrezeption reduzieren. Während dies für eine Person bedeuten kann, seltener fernsehen zu
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schauen, kann es für andere Person bedeuten, kaum noch Computergames zu spielen. Mit anderen Worten: Nur durch eine ganzheitliche Perspektive auf das Medienrepertoire ist gewährleistet, dass Einflüsse auf das Medienhandeln im Zuge der Alltagsveränderungen umfassend erfasst und verstanden werden können.
3.2.3 Verständnis von Domestizierung als offener, prinzipiell endloser Prozess Die Aneignung von neuen Medien wurde im Domestizierungsansatz in vier Dimensionen1 systematisiert (vgl. Silverstone et al. 1992, S. 20–26), die Röser und Müller treffend zusammenfassen (vgl. ausführlicher auch Hartmann 2013, S. 21–24): „(1) ‚Appropriation‘ bzw. „Commodification“, wie Silverstone (2006, S. 233) später als präziseren Begriff vorschlug, meint die Anschaffung und die Inbesitznahme der Technologie, ihre Überführung vom Außen ins Innen nach einem Entscheidungsprozess. (2) ‚Objectification‘ bezeichnet die Platzierung der Technologie im Haushalt und mögliche Veränderungen der Räume. (3) ‚Incorporation‘ zielt auf die Integration der Technologie in die zeitlichen und alltäglichen Routinen des Haushalts und seiner Mitglieder – eine zentrale Dimension mit vielfältigen Unterkategorien. (4) ‚Conversion‘ schließlich bezeichnet (etwas unscharf) den medieninduzierten Wandel der Beziehung des Haushalts zu anderen Sphären.“ (Röser und Müller 2017, S. 158 Herv. i. O.)
Die erste und vierte Dimension verweisen auf die Verbindung der häuslichen Sphäre zu anderen gesellschaftlichen Kontexten, wie der Produktion von Medieninhalten, der Technikentwicklung, dem Marketing oder gesellschaftlichen Diskursen. Diese Sphären stehen in einer wechselseitigen Verbindung, sodass Prozesse der Aneignung im Haushalt auch auf gesellschaftliche Entwicklungen zurückwirken (vgl. Silverstone 2006). In der zweiten und dritten Dimension werden hingegen die innerhäuslichen Prozesse fokussiert. Hier entscheidet der
1Zunächst wurde der Prozess der Domestizierung in Phasen systematisiert (vgl. Silverstone et al. 1992, S. 20–21). Da die Einteilung in Phasen dem Domestizierungsprozess aber den Eindruck eines linearen Ablaufs verlieh, wurde später – um die NichtLinearität zu unterstreichen – der Begriff der Phase durch den Begriff der Dimension ausgetauscht (vgl. Hartmann 2013, S. 21).
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Nutzer, „wo, wann und wie er die Technologie nutzt – und vor allem auf welche Art und Weise und zu welchem Zweck.“ (Hartmann 2013, S. 22) Leitende Fragen sind zum Beispiel: In welchen Räumen werden die Medien platziert und welchen Einfluss hat dies auf die Raumfunktion und die Kommunikationskultur? Inwiefern werden Medien in vorhandene Alltagsstrukturen integriert und wie verändern sich durch die Aneignung die Gewohnheiten, Rituale und Regeln des Alltags? Der Prozess der Domestizierung verläuft weder linear noch ist er zu einem bestimmten Zeitpunkt vollständig abgeschlossen. Im Gegenteil, in dem Prozess kann es jederzeit in jeder Dimension zu Veränderungen kommen: „It can be on-going if new circumstances, in whatever sense, mean that the role of an ICT has to be re-assessed.“ (Haddon 2003, S. 46) Zwar kann die Bedeutung von Medien in bestimmten Phasen eine gewissen Stabilität aufweisen, der „Prozess kann aber – angestoßen durch technologische, lebensweltliche oder gesellschaftliche Veränderungen – jederzeit wieder Fahrt aufnehmen.“ (Röser et al. 2017, S. 145) Mediennutzungsmuster bleiben über die Lebensspanne also niemals vollständig stabil, sondern sie unterliegen stetig Veränderungsprozessen. Im Fokus dieser Arbeit stehen als Antriebsfaktoren insbesondere lebensweltliche Veränderungen, während gesellschaftliche und technologische Veränderungen nur indirekt relevant sind. Zur Bedeutung von lebensweltlichen Veränderungen hat die Domestizierungsforschung an einigen Stellen aufgezeigt, dass einschneidende Ereignisse wie der Beginn der Telearbeit oder der Eintritt in die Rente Dynamik im Medienrepertoire anstoßen kann (vgl. Haddon 2003). Solche Veränderungsprozesse werden im Domestizierungsansatz mit den Begriffen „Re- and de-domestication“ (Berker et al. 2006b, S. 3) diskutiert. Insbesondere das Konzept der Re-Domestizierung ist für diese Arbeit weiterführend. Röser et al. verstehen darunter „eine veränderungsintensive Phase […], in der die Art und Weise der häuslichen Alltagsintegration eines oder mehrerer Medien neu verhandelt und gestaltet wird.“ (Röser et al. 2017, S. 146) Die Hintergründe für solche Neuaushandlungsprozesse sind wie oben erwähnt vielfältig. Technologisch kann eine veränderungsintensive Phase durch die Verbreitung und Aneignung einer neuen Medientechnologie angestoßen werden, wie beispielsweise durch das Smartphone oder den Internetfernseher. Peil und Röser (2007) beschreiben eine Re-Domestizierung des Fernsehers, die durch die Etablierung des dualen Rundfunksystems und somit durch gesellschaftliche Prozesse angestoßen wurde. Damit verbunden war eine Ausweitung der Sendezeit, eine Ausdifferenzierung und Formatierung des Programmangebots sowie die Durchsetzung von (neuen) technologischen Entwicklungen wie der Fernbedienung und dem Videorekorder (bzw. später dem DVD- und Festplattenrekorder), die insgesamt zu einer tieferen
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Integration des Fernsehers in den Alltag geführt haben. Während Peil und Röser den Re-Domestizierungsprozess des Fernsehers eher auf einer makrotheoretischen Ebene beschreiben, können sich Neuaushandlungen der Bedeutung von Medien im Sinne einer Re-Domestizierung aber auch auf der Mikroebene in konkreteren Prozessen vollziehen, wenn sich die Lebenssituation der Menschen verändert. Die Prozesse der Re-Domestizierung bleiben im Domestizierungsansatz allerdings relativ vage Beschreibungen für Neuaushandlungen der Mediennutzung. An dieser Lücke setzt diese Arbeit an. Dabei wird das Ziel verfolgt, den Verlauf von Re-Domestizierungsprozessen aufgrund von Alltagsumbrüchen empirisch nachzuzeichnen und zu theoretisieren.
3.2.4 Fokussierung auf die häusliche Sphäre als Mikrokosmos der Gesellschaft Die Domestizierungsforschung interessiert sich insbesondere für die Mediennutzung innerhalb der häuslichen Sphäre (vgl. Röser 2007b, S. 15). Zum einen, da die Mediennutzung in der Zeit der Entwicklung des Domestizierungsansatzes überwiegend zuhause stattfand (vgl. Röser und Peil 2012, S. 139), zum anderen, weil im Zuhause untersucht werden konnte, wie die häuslichen Alltagspraxen mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen interagieren. So konnte beispielsweise in vielen Domestizierungsstudien gezeigt werden, dass Geschlecht als gesellschaftliche Ordnungskategorie im häuslichen Medienhandeln eine wichtige Rolle spielt (vgl. Röser und Müller 2017 sowie Moores 1993; Röser 2007b). Beispielsweise interagiert die im Haushalt praktizierte geschlechtsgebundene Arbeitsteilung mit unterschiedlichen Mediennutzungsmustern und verschiedenen inhaltlichen Medieninteressen. Der häusliche Kontext ist im Domestizierungsansatz demnach ein Ort, an dem soziale und kulturelle Strukturen im Medienhandeln reproduziert, aber auch neu verhandelt und verändert werden. Röser bezeichnet das Zuhause in diesem Zusammenhang als „Mikrokosmos des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels durch Medien. Es ist in der Domestizierungsperspektive somit nicht Mikro- im Gegensatz zur Makroebene, vielmehr finden alle gesellschaftlichen und kulturellen Fragen der Medienkommunikation ihren Ausdruck (auch) im häuslichen Kontext und werden von hier aus beeinflusst.“ (Röser 2007b, S. 21)
In der Domestizierungsforschung besteht allerdings keine Einigkeit darüber, wo genau die Grenzen des Untersuchungsortes liegen (sollten). Im Zuge der
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Mobilisierung der Medientechnologien hat sich die Mediennutzung auf verschiedene Orte außerhalb des Zuhauses ausgeweitet. In diesem Zusammenhang wird diskutiert, ob das Zuhause über die geographischen Grenzen hinaus auch in einer symbolischen Bedeutung zu verstehen sei, wenn beispielsweise unterwegs der Kontakt zur Familie gepflegt wird und auf diese Weise Konnotationen des Zuhauses im öffentlichen Raum entstehen (vgl. Morley 2006). Darüber hinaus lässt sich die Relevanz des örtlich definierten Zuhauses grundsätzlich hinterfragen, wenn beispielsweise Menschen ihren Laptop als ihr Zuhause ansehen (vgl. Miller 2008, S. 68). Noch einen Schritt weiter gehen Überlegungen im Domestizierungsansatz, den Aspekt des Häuslichen außen vor zu lassen und die Prozesse der Aneignung als das zentrale Element zu betonen (vgl. z. B. HelleValle und Sletermaeas 2008). Im Kontrast dazu machen sich Röser und Peil (2014) dafür stark, den häuslichen Kontext im Fokus des Domestizierungsansatzes zu belassen. Sie führen drei Gründe an, um herauszustellen, dass das Zuhause auch in Zeiten von Mobilisierung und Digitalisierung eine hohe Bedeutung für das Medienhandeln besitzt: Erstens finde die Aneignung von Medien weiterhin wesentlich im häuslichen Kontext statt, zweitens sei Mobilkommunikation kein Gegensatz zur häuslichen Kommunikation, sondern eng damit verbunden und drittens sei das Zuhause ein zentraler Ort, an dem das Medienrepertoire gestaltet und das Verhältnis zwischen neuen und alten Medien stetig neu verhandelt wird. Das in dieser Arbeit verwendete Material der Gesamtstudie des mediatisierten Zuhauses untersuchte – entsprechend dieser Argumentation – Medienhandeln im häuslichen Kontext. Alltagsumbrüche haben aber ebenfalls Auswirkungen auf das Medienhandeln außerhalb der häuslichen Grenzen. Deshalb wird in dieser Arbeit grundsätzlich dafür plädiert, das Interesse des Domestizierungsansatzes auf die Mediennutzung im gesamten Alltag auszuweiten.
3.2.5 Wechselbeziehung zwischen medialem und n ichtmedialem Handeln Es sollte bereits deutlich geworden sein, dass sich der Domestizierungsansatz für die Verwobenheit von Alltags- und Medienhandeln bzw. für die Wechselbeziehung zwischen nicht-medialem und medialem Handeln interessiert. Rezipienten werden als aktiv handelnde und sinnproduzierende Subjekte verstanden, die sich Medien in der Semantik des Alltags aneignen: „Damit ist der Anspruch verknüpft, die konkreten Kontexte, also die Situationen, sozialen Konstellationen und räumlichen Arrangements, in den Blick zu nehmen, durch die das häusliche Medienhandeln geprägt ist.“ (Röser und Peil 2012, S. 140)
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Erst vor dem Hintergrund der alltäglichen Lebensführung lassen sich Medienaneignungsprozesse erklären und verstehen. Problematisch ist allerdings, dass der Alltagsbegriff im Domestizierungsansatz oft ungenau verwendet wird (vgl. zur Kritik Krotz und Thomas 2007, S. 31). Alltag wird zumeist gleichgesetzt mit dem Selbstverständlichen, dem Bekannten, dem Unhinterfragten oder dem Vertrauten und in diesem Zusammenhang auf die besondere Bedeutung von Habitualisierungen, Routinen oder Ritualen verwiesen: „For the most time, everyday life does go on, and it is sustained through the ordered continuities of language, routine, habit, the taken for granted but essential structures that, in all their contradictions, sustain the grounds for our security in our daily lives.“ (Silverstone 1994, S. 18–19)
Der Komplexität des Alltags wird ein solches Verständnis aber nicht gerecht. Dies ist mindestens aus drei Punkten problematisch: Erstens besitzt ein solches Begriffsverständnis kaum einen analytischen Mehrwert, zweitens leidet unter der diffusen Verwendung des Alltagsbegriffs die Vergleichbarkeit verschiedener Medienaneignungsstudien und schließlich erschwert es drittens den Zusammenhang zwischen Alltagshandeln und Medienhandeln zu theoretisieren, weil ja unklar ist, was den Alltag eigentlich ausmacht und inwiefern er mit der Mediennutzung zusammenhängt. Als ein theoretisches Kernkonzept bezüglich des Zusammenhangs zwischen nicht-medialem und medialem Handeln gilt im Domestizierungsansatz das Konzept der moralischen Ökonomie. Der Haushalt wird dabei als eine ökonomische Einheit konstruiert, die durch gemeinsame Erfahrungen entsteht. Diese Erfahrungen prägen die Gewohnheiten, Werte und Geschmäcker der Haushaltsmitglieder sowie die Wahrnehmung von Technologien und ihren Möglichkeiten (vgl. Silverstone et al. 1992, S. 16–20). Der Haushalt ist demnach eingebunden in die Produktion und den Austausch von Gütern (z. B. Medientechnologien) und ihren Bedeutungen. Die moralische Ökonomie eines Haushalts zielt darauf ab, die ontologische Sicherheit zu wahren: „Der Ausdruck der ‚ontologischen Sicherheit‘ bezieht sich auf das Zutrauen der meisten Menschen zur Kontinuität ihrer Selbstidentität und zur Konstanz der sie umgebenden sozialen und materialen Handlungsumwelt. Grundlegend für die Empfindungen der ontologischen Sicherheit ist ein Gefühl der Zuverlässigkeit von Personen und Dingen.“ (Giddens 1996, S. 188)
Dieses Streben nach ontologischer Sicherheit bzw. nach dem Erhalt einer bestehenden Ordnung prägt – nach Aussage des Konzepts der moralischen
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Ökonomie – das Medienhandeln der Menschen, weshalb die Aneignung neuer Medien eher in Form einer graduellen Anpassung an die eingelebte Alltagsstruktur als in Form einer radikalen Veränderung erfolgt (vgl. Hartmann 2013, S. 106–107). In der Tendenz sei daher ein gewisser Konservatismus im Sinne einer Bewahrung des Bestehenden zu erkennen: „As such, domestication is fundamentally a conservative process, as consumers look to incorporate new technologies into patterns of their everyday life in such a way as to maintain both the structure of their lives and their control of that structure.“ (Haddon und Silverstone 1996, S. 60)
Die Empirie scheint die These des Konzepts der moralischen Ökonomie tendenziell zu bestätigen, da sich im Prozess der Domestizierung die Bedeutung der Medien nicht vollständig verschiebt, sondern das Medienrepertoire eher graduell erweitert wird (vgl. Hartmann 2013, S. 107; Röser et al. 2019). Bakardjieva (2006) hält dem allerdings entgegen, dass sie in ihren Studien keine Form der stabilen moralischen Ordnung finden konnte, stattdessen waren die von ihr besuchten Haushalte permanent damit beschäftigt, sich mit den Veränderungen zu arrangieren, die fortlaufend auftraten. Werte des Haushalts, der “way of life” sowie seine Internetnutzung mussten fast täglich an neue Lebensbedingungen angepasst werden. Grundsätzlich bleibt das Konzept der moralischen Ökonomie meiner Einschätzung nach aus zwei Gründen unscharf: Erstens fehlt es an einem intersubjektiven Maßstab, der eine Einschätzung möglich macht, wann es sich um eine graduelle bzw. konservative und wann um eine radikale Veränderung der Mediennutzung handelt. Darüber hinaus ist unklar, in welchen Dimensionen der Grad der Veränderung zu beurteilen ist. Ist beispielsweise eine Veränderung der zeitlichen oder inhaltlichen Mediennutzung relevant oder geht es um die Veränderung des technologischen Gerätes? Oder müssen für eine Einschätzung die verschiedenen Dimensionen gemeinsam in den Blick genommen werden? Wenn beispielsweise eine Person ihre Nachrichten morgens nicht mehr in der Zeitung, sondern zur gleichen Zeit bei der Onlineversion des Zeitungsverlags auf dem Tablet liest, handelt es sich dann um eine konservative oder um eine radikale Veränderung? Zweitens ist die Schlussfolgerung, die moralische Ökonomie eines Haushalts sei davon geprägt, die bestehenden Moralvorstellungen und Alltagsstrukturen zu bewahren, diskussionswürdig, wenn nicht sogar kritisch zu beurteilen. Wie bereits oben erwähnt, zeigt die Empirie, dass Veränderungen des Medienhandelns und der Alltagsstrukturierung durch die Domestizierung neuer Medien eher graduell ausfallen. Das Konzept der moralischen Ökonomie
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3 Domestizierung: Eine kommunikationswissenschaftliche Perspektive …
sieht sich darin bestätigt und begründet dieses Phänomen mit einer konservativen Haltung der Haushaltsmitglieder, die – um die ontologische Sicherheit zu wahren – im Prozess der Integration des neuen Mediums alles daran setzen, die bestehenden Strukturen zu bewahren. Dass bei dem Aneignungsprozess auch bestehende Wertvorstellungen eine Rolle spielen, steht außer Frage. Diesen ‚Konservatismus‘ aber zu einem generalisierenden Prinzip der Medienaneignung zu machen, geht meiner Einschätzung nach an der sozialen Realität vorbei. Denn die Einsicht der graduellen Medienaneignung kann auch so gedeutet werden, dass es prinzipiell keinen Grund gibt, die Alltagsstruktur radikal zu verändern, solange die bisherige Strukturierung und damit eingeschlossen das bisherige Medienhandeln als sinnvoll empfunden wird. Im Sinne dieser Deutung wird also nicht mit aller Macht versucht, die bisherige Struktur zu bewahren, sondern die bisherige Alltagsstrukturierung wird durch die Aneignung des neuen Mediums gar nicht in Frage gestellt. Erst durch die Kontinuität des Alltags verlaufen demnach Medienaneignungsprozesse graduell. Eine entscheidende Frage im Prozess der Domestizierung wäre daher nicht, wie die Alltagsstruktur trotz der Aneignung eines neuen Mediums gewahrt bleiben kann (wie es die moralische Ökonomie suggeriert), sondern inwiefern sich das neue Medium als sinnvoll in die alltäglichen Lebensführung einfügt und welche Veränderungen daraus resultieren. Graduelle Veränderungen liegen demnach nicht an einer prinzipiell konservativen Medienaneignung, sondern die Medienaneignung führt vor dem Hintergrund eines stabilen Alltags prinzipiell nur zu einer graduellen Veränderung des Medienhandelns, da radikale Veränderungen des Medienrepertoires ‚nur‘ aufgrund der Bedeutsamkeit des neuen Mediums keinen Sinn im Rahmen der alltäglichen Lebensführung ergeben. Die bisher genutzten Medien bleiben tendenziell sinnvoll für die Alltagsgestaltung. Die Sinnhaftigkeit der Medien kann aber durch Alltagsumbrüche infrage gestellt werden, sodass ein Alltagsumbruch eine dynamische Veränderung im Medienrepertoire auslösen kann. Um das Verhältnis zwischen Alltagshandeln und Medienhandeln näher zu bestimmen, ist es daher zwingend erforderlich, ein theoretisch fundiertes Konzept von Alltag in den Domestizierungsansatz einzubringen.
3.3 Zwischenfazit: Einsichten aus dem Domestizierungsansatz Auf Basis der obigen Beschreibungen lassen sich im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit fünf wesentliche Einsichten generieren. Erstens muss Medienhandeln als Alltagshandeln verstanden werden, denn die Nutzer*innen
3.3 Zwischenfazit: Einsichten aus dem Domestizierungsansatz
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eignen sich Medien (im Sinne eines Trägers von symbolischen Bedeutungen sowie eines technologischen Artefakts) aktiv und eigensinnig vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Lebenssituation an, d. h. Medien werden erst bedeutsam, wenn sie im Kontext des Alltag als sinnvoll empfunden werden beziehungsweise ihnen ein subjektiver Sinn zugeschrieben wird. Technikdeterministische Annahmen werden somit zurückgewiesen, wenngleich die technischen Affordanzen eines Mediums im Aneignungsprozess nicht bedeutungslos sind. Der Medienaneignungsprozess verläuft zweitens diskontinuierlich und ist zu keiner Zeit vollständig abgeschlossen, d. h. er unterliegt – im Sinne der ReDomestizierung – stetig Wandlungsprozessen, die u.a. durch lebensweltliche Veränderungen ausgelöst werden können. Drittens speisen sich graduelle Veränderungen des Medienhandelns nicht aus einem Konservatismus im Sinne der Bewahrung des Bestehenden, sondern – so die These – aus der eingelebten Alltagsstrukturierung. Damit ist gemeint, dass die Mediennutzung für das Handeln in verschiedenen Lebensbereichen als sinnhaft empfunden wird. Alltagsumbrüche können diese Sinnhaftigkeit von Medien in einigen Lebensbereichen infrage stellen und somit Dynamik im Medienrepertoire auslösen, auch weil in der neuen Lebenssituation neue Medien(angebote) sinnhaft sein können. Es ist aber ebenfalls möglich, dass die Bedeutungen der Medien für andere Lebensbereiche durch die einschneidenden Alltagsveränderungen unberührt bleiben. In diesem Fall werden sie weiterhin als sinnhaft empfunden, weshalb es, trotz Alltagsumbruch, keinen Anlass für eine Veränderung der Mediennutzung gibt. Wann und wieso Alltagsveränderungen einen Wandel der Mediennutzung anstoßen und wann nicht, gilt es empirisch zu untersuchen. Dabei sollte viertens das gesamte Medienrepertoire in den Blick genommen werden, da andernfalls Antriebsfaktoren für einen Wandel der Mediennutzung im Zuge von Alltagsveränderungen ausgeblendet bleiben. Einzelmedienforschung gilt es demnach explizit zu vermeiden. Fünftens wird das Zuhause als Mikrokosmos der Gesellschaft verstanden, in dem alle gesellschaftlichen und kulturellen Fragen der Medienkommunikation verhandelt werden. An dieser Stelle sei nochmals angemerkt, dass im Domestizierungsansatz zwar das Medienhandeln im Zuhause fokussiert wird, es erscheint aber gleichwohl sinnvoll, die Analyseperspektive auf den gesamten Alltag auszuweiten. Einerseits, weil die Bedeutungskonstruktion von Medien mit vielfältigen Kontexten außerhalb der häuslichen Sphäre in Verbindung steht, und andererseits, weil es – mit Blick auf das Ziel Medienhandeln umfassend zu verstehen – wenig ratsam erscheint, Mediennutzungssituationen jenseits des Zuhauses von der Analyse auszuschließen (insbesondere vor dem Hintergrund von Mobilisierungs- und Digitalisierungstendenzen).
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3 Domestizierung: Eine kommunikationswissenschaftliche Perspektive …
Neben diesen Einsichten lässt sich im Domestizierungsansatz die diffuse Verwendung der Kategorie Alltag als zentrale Leerstelle ausmachen, die eine systematische Analyse von Alltagsumbrüchen und dem Wandel der Mediennutzung erschwert. Dieser Mangel kann – wie in Kapitel 4 gezeigt wird – mit dem Konzept der alltäglichen Lebensführung behoben werden. Auf diese Weise lassen sich auch Re-Domestizierungsprozesse, die im Domestizierungsansatz relativ vage als Neuaushandlungen der Mediennutzung beschrieben werden, erhellend in ihrem Verlauf analysieren.2
2Im
weiteren Verlauf der Arbeit wird anstelle von Re-Domestizierungsprozessen auch von der Neukonstitution der Sinnhaftigkeit des Medienhandelns gesprochen.
4
Alltägliche Lebensführung: Eine Spezifizierung des diffusen Begriffs Alltag
„Alltägliche Lebensführung: der Ort, wo alles zusammenkommt.“ (Jurczyk und Rerrich 1993)
In Kapitel 3 wurde entlang des Domestizierungsansatzes die Verwobenheit von Alltagshandeln und Medienhandeln beschrieben, um zu verdeutlichen, dass Veränderungen der Alltagsstruktur auch mit einem Wandel des Medienhandelns einhergehen. Es konnte zudem gezeigt werden, dass im Domestizierungsansatz ein systematisches und einheitliches Begriffsverständnis fehlt, was den Alltag genau auszeichnet und wie dieser strukturell aufgebaut ist. Nur dann aber lässt sich der Wandel der Alltagsstruktur systematisch analysieren und mit Veränderungen des Medienhandelns in Beziehung setzen beziehungsweise nur dann lassen sich die Mechanismen aufdecken, die zu einer Veränderung des Medienhandelns aufgrund eines Alltagsumbruchs führen. In anderen Worten: Ohne einen einheitlichen Alltagsbegriff lässt sich nicht klären, inwiefern Alltagsumbrüche mit dem Wandel der Mediennutzung in Verbindung stehen. Dieses Defizit soll im folgenden Kapitel mit dem gut elaborierten soziologischen Konzept der Alltäglichen Lebensführung (vgl. Voß 1991; 1995; 2001) gelöst werden. In dem obigen Zitat von Jurczyk und Rerrich wird bereits deutlich, dass dieses Konzept die Gesamtheit des Alltags und die damit verbundenen Organisationsleistungen fokussiert, eben den Ort, wo alles zusammenkommt. In Abschnitt 4.1 wird zunächst die Entwicklung des Konzepts skizziert. Anschließend werden die Kernideen des Konzepts der alltäglichen Lebensführung mit dem Erkenntnisinteresse dieser Arbeit in Beziehung gesetzt (siehe Abschnitt 4.2). In Abschnitt 4.3 werden schließlich die Einsichten in einem Zwischenfazit zusammengeführt.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Niemand, Alltagsumbrüche und Medienhandeln, Medien • Kultur • Kommunikation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30738-7_4
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4 Alltägliche Lebensführung …
4.1 Zur Entwicklung des Konzepts Das Konzept der alltäglichen Lebensführung wurde im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 333 „Entwicklungsperspektiven von Arbeit“ entwickelt. In dem Sonderforschungsbereich, eingerichtet an der Ludwig-Maximilians- Universität München und von 1986 bis 1996 von der DFG gefördert, wurde das komplexe und spannungsreiche Verhältnis zwischen Arbeit und Leben vor dem Hintergrund des sozialen und kulturellen Wandels in modernen Gesellschaften in den Blick genommen. Ausgangspunkt für die Entwicklung des Konzepts der alltäglichen Lebensführung war eine kritische Auseinandersetzung mit der Trennung von Arbeit und Leben. Einerseits werde, so die Kritik, in der Sphäre des Lebens auch gearbeitet und andererseits finde in der Sphäre der Arbeit ebenfalls ein substantielles Stück des sozialen Lebens eines Menschen statt. Als eine Leitlinie des Sonderforschungsbereichs erwies sich schließlich „die Frage nach einem nicht reduktionistischen, nicht auf Erwerbsarbeit beschränkten neuen Begriff von ‚Arbeit‘. […] [Es galt] das Leben nicht mehr als strukturell nachgeordnetes Residuum (als ‚Nicht-Arbeit‘, wie es soziologisch oft hieß) gegenüber der gesellschaftlich vermeintlich zentralen Sphäre der Arbeit zu betrachten, sondern als komplex strukturierten Bereich eigener Dignität.“ (Voß 1995, S. 25–26)
Dabei sollten sämtliche Tätigkeiten, die eine Person in den von ihr relevanten Lebensbereichen ausübt, tendenziell als Arbeit verstanden werden. Auf diese Weise wurde das Leben in seiner gesamten Breite in den Blick genommen. Die Organisation dieser Tätigkeiten wurde als aktive Konstruktionsleistung der Person konzipiert. Der Fokus richtete sich somit auf den Menschen und nicht, wie in der Soziologie geläufig, auf eine gesellschaftliche Arbeitsteilung, denn „personal muß [sic!] integriert werden, was sozial differenziert ist.“ (Voß 1991, S. 327) Die Entwicklung des Konzepts verlief auf zwei selbstständig arbeitenden, aber miteinander verschränkten Ebenen: einer explizit theoretischen Ebene, in der verwandte Konzepte und Forschungsstränge aufgearbeitet wurden1 und einer 1„Das
Spektrum reichte beispielsweise von der Biographieforschung, die explizit das ganze Leben (Kohli 1978) erfassen will, über die Zeitbudgetforschung und die Zeitgeographie, über soziologische und sozialpsychologische Konzepte zur personalen und sozialen Identität von Personen, über Konzepte in der Tradition des Husserlschen Begriffs Lebenswelt und der Schützschen Kategorie Alltag oder des mit Bordieu erneut in Konjunktur geratenen Begriffs Lebensstil bis zu Ansätzen, die mit den traditionsreichen Dichotomien von Arbeit und Reproduktion (Marx) oder Arbeit und Interaktion bzw. System und Lebenswelt (Habermas) operieren.“ (Voß 1995, S. 28) Zur ausführlichen theoretischen Auseinandersetzung vgl. Voß 1991, S. 19–203.
4.2 Gesamtheit des Alltags: Kernideen der alltäglichen Lebensführung
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empirisch ausgerichteten Ebene, die an der Theorieentwicklung orientiert war. Beide Ebenen wurden parallel zueinander bearbeitet und sollten sich wechselseitig befruchten und kritisieren. Unter Rückgriff auf die von Weber definierte Kategorie der methodischen Lebensführung entstand schließlich das Konzept der alltäglichen Lebensführung (zu näheren Ausführungen des Entstehungskontexts vgl. Voß 1995, S. 23–29). In dem von 1998–2005 von der DFG geförderten Forschungsprojekt „Neue Medien im Alltag: Von individueller Nutzung zu soziokulturellem Wandel“ war Voß zwar selbst aktiv beteiligt, allerdings fand dort das von ihm entwickelte Konzept der alltäglichen Lebensführung keine konkrete Anwendung. Aufgrund der thematisch und disziplinär vielfältigen Einzelprojekte und ihren unterschiedlichen Vorstellungen von ‚Alltag‘, wurden lediglich sieben konzeptionelle Eckpunkte des Alltagsverständnisses als forschungsleitender Orientierungsrahmen formuliert (vgl. dazu Voß 2000). Diese sollen und können allerdings „keine Definition und schon gar keinen entfalteten ‚Begriff‘ von ‚Alltag‘ im Sinne eines ausgearbeiteten Theoriekonzepts darstellen. […] Nach übereinstimmender Sicht in der Forschergruppe [ist dies] weder möglich noch sinnvoll“ (Voß 2000, S. 47). Die Komplexität des Konzepts der alltäglichen Lebensführung wurde demnach in dem medienbezogenen Forschungsprojekt „Neue Medien im Alltag“ nicht entfaltet. Eine kommunikationswissenschaftliche Anwendung des Konzepts der alltäglichen Lebensführung steht damit noch aus.
4.2 Gesamtheit des Alltags: Kernideen der alltäglichen Lebensführung Die Kernideen des Konzepts der alltäglichen Lebensführung, die sich für diese Arbeit als besonders relevant erweisen, lassen sich auf vier wesentliche Aspekte zuspitzen. Das Konzept zeichnet demnach aus, dass es… 1. Lebensführung in verschiedene Lebensbereiche und (analytische) Strukturdimensionen differenziert und somit das ganze Spektrum der alltäglichen Tätigkeiten fokussiert, 2. Lebensführung als integratives Handlungssystem und aktive Konstruktionsleistung zwischen Struktur und Handlung konzipiert, 3. verschiedene Gestaltungsprinzipien und Formen der Lebensführung unterscheidet sowie 4. Lebensführung als prinzipiell wandelbar anlegt.
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4 Alltägliche Lebensführung …
Entlang dieser Aspekte wird im Folgenden das Konzept der alltäglichen Lebensführung erläutert, um seinen Wert für die Analyse des Zusammenhangs zwischen Alltagsumbrüchen und dem Wandel des Medienhandelns aufzuzeigen.
4.2.1 Aufbau der Lebensführung: Lebensbereiche und ihre Strukturdimensionen In seinem Alltag bewegt sich ein Mensch in unterschiedlichen sozialen Lebensbereichen wie zum Beispiel innerhalb seiner Familie oder seiner Erwerbsarbeit. In jedem dieser Lebensbereiche sieht er sich mit unterschiedlichen Anforderungen bzw. Erwartungshaltungen konfrontiert, aber auch mit Entfaltungschancen (vgl. Voß 1991, S. 261). Je nachdem, in welcher Lebenssituation sich ein Mensch befindet, sind spezifische Lebensbereiche mehr oder weniger relevant. Das Konzept der alltäglichen Lebensführung fokussiert nun in besonderer Weise, wie das Bewegen in diesen unterschiedlichen Lebensbereichen koordiniert wird. Bezugspunkt ist damit der Querschnitt des Lebens und nicht die diachrone Dimension des Lebens, wie sie beispielswiese die Biografie- oder Lebenslaufforschung betrachtet. Gleichwohl stehen Biografie und Lebensführung in enger Verbindung: „Biographie als reflexiv gewordener Lebenslauf und Lebensführung als reflexiv gewordene Lebenspraxis konstituieren sich wechselseitig. Die individuelle Biographie wird im Medium alltäglichen Handelns und alltäglicher Erfahrung produziert und reproduziert, alltägliche Lebensführung gewinnt durch den biographischen Horizont Sinn und lebenszeitliche Perspektivität.“ (Kudera 2000, S. 121)
Im Allgemeinen stellen die Lebensbereiche das „soziale Bezugsterrain der Lebensführung“ dar (Voß 1991, S. 307). In der wissenschaftlichen Literatur herrscht allerdings keine Einigkeit über die Anzahl und den Aufbau sämtlicher Lebensbereiche. In Anlehnung an Voß lassen sich sechs Lebensbereiche ausmachen, die in dieser Arbeit als zentral für die Lebensführung angesehen werden können: • Privater Nahbereich2 wie die Familie, die Partnerschaft oder der engste Freundeskreis • Erweiterter Bekanntenkreis wie Nachbarn oder entfernte Bekannte
2Nah
bezieht sich hier nicht auf eine geographische Distanz, sondern auf eine gefühlte Nähe zu den Personen.
4.2 Gesamtheit des Alltags: Kernideen der alltäglichen Lebensführung
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• (Aus)Bildung und (Erwerbs)Arbeit wie die berufliche Tätigkeit, die schulische Ausbildung oder die Hausarbeit • Politische und kulturelle Teilhabe wie die Mitarbeit in politischen Parteien, Vereinstätigkeiten oder zivilgesellschaftliches Engagement • Güter- und Dienstleistungszirkulation wie der Kauf von Kleidung oder die Inanspruchnahme von Dienstleistungen • Freizeit und Hobbies im Sinne selbstverwirklichender Tätigkeiten Mit jedem dieser Lebensbereiche bildet ein Mensch eine Art Arrangement, wie darin gehandelt werden kann und soll. Diese Einzelarrangements führt er in der Konstruktion seiner Lebensführung zu einem Gesamtarrangement zusammen. „Durch die einzelnen Arrangements mit den verschiedenen Bereichen auf Basis dieser Dimensionen wird faktisch ein Arrangement des Gesamtspektrums der Lebenstätigkeiten, ein «Arrangement der Arrangements», geschaffen. Und umgekehrt ist es natürlich immer so, daß [sic!] die Einzelabstimmungen für die Bereiche nur in Bezug auf ein schon bestehendes Gesamtarrangement entwickelt werden. Man kann seine Bezüge zu den einzelnen Lebensbereichen nicht ohne Berücksichtigung der anderen Sphären herstellen.“ (Voß 1991, S. 262)
Hier deutet sich bereits an, dass die Lebensbereiche in einem komplexen Wechselverhältnis zueinanderstehen, weil in jedem Lebensbereich unterschiedliche Erwartungshaltungen an einen Menschen herangetragen werden, die es zu koordinieren gilt. Letztlich muss er selbst entscheiden, wie er mit dem komplexen Bündel von Einzelzielen umgeht und wie er sein Leben und damit seinen Alltag sinnhaft ordnet. Aus dieser Wechselbeziehung folgt auch: Zwar lässt sich ein Alltagsumbruch in der Regel einem spezifischen Lebensbereich zuordnen – wie ‚Arbeitslosigkeit‘ der Erwerbsarbeit oder eine ‚Trennung‘ dem privaten Nahbereich –, er löst aber immer eine Umgestaltung der gesamten Lebensführung aus. Eine Veränderung innerhalb der Erwerbsarbeit wie ein beruflicher Aufstieg bleibt beispielsweise nicht folgenlos für das Familienleben. Vorstellbar wäre z. B., dass das Familienklima und die Zeit für die Familie (wie z. B. der gemeinsame Fernsehabend) unter der erhöhten Arbeitsbelastung leiden, oder aber, dass durch das gestiegene Einkommen der Lebensstandard der Familie steigt (und sich dies z. B. auch in der technischen Ausstattung niederschlägt). Die Lebensbereiche sind – je nach Institutionalisierungsgrad – mehr oder weniger offen dafür, wie darin gehandelt werden kann. Je geringer der Institutionalisierungsgrad, desto mehr Gestaltungsfreiraum besitzt ein Mensch bei der Ausübung seiner Tätigkeiten. Während beispielsweise der Bereich der Familie
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4 Alltägliche Lebensführung …
in geringem Maße institutionalisiert ist und damit einen hohen Gestaltungsfreiraum gewährt, lassen andere Bereiche wie der Beruf aufgrund ihres prinzipiell hohen Institutionalisierungsgrad weniger Handlungsoptionen (vgl. Voß 1991, S. 307–308). Gerade in Lebensbereichen, die offen für Gestaltung sind, sind vielschichtige Aushandlungsprozesse notwendig; insofern ist es in unserem Fall besonders relevant, die Aushandlungsprozesse der Paare in Beziehung zu ihrem Medienhandeln vor und nach einem Alltagsumbruch in den Blick zu nehmen. In diesem Zusammenhang spricht Voß von kooperativer Lebensführung. Diese „beruht auf komplexen Abstimmungen und Aushandlungen, mehr oder weniger stabilen sozialen Routinen und Funktionsaufteilungen und impliziert eine große Zahl von Konfliktpotentialen und Regelungserfordernissen.“ (Voß 1991, S. 314) In letzter Instanz ist die Lebensführung zwar immer eine individuelle Konstruktionsleistung, sie entsteht aber stets in Abstimmung mit den im Alltag relevanten Personen: „Daher zählen nicht nur Aufgaben, die selbst erledigt werden, Lebensführung umfasst auch Formen der Delegation, der Kooperation und der Übernahme von Aufgaben für andere. Hier stellt sich die empirisch zu klärende Frage, wie weit die ‚Eigenlogik‘ der Lebensführung durch Bedürfnisse, Erwartungen und Interessen anderer beeinflusst wird und wie eine Verschränkung individueller Lebensführung auf der Basis verschiedener Formen von Arbeitsteilung aussieht.“ (Diezinger 2008, S. 222)
Daher müssen „bei der Analyse familialer Lebensführung gerade die alltäglichen Konstruktions- und Vermittlungsleistungen von und zwischen Personen in den Mittelpunkt der methodischen Konzeption gerückt werden.“ (Jürgens 2001, S. 48) Das Datenmaterial dieser Arbeit ist speziell auf diesen Aspekt ausgelegt, sodass hier vielversprechende Befunde zu erwarten sind. Eine zentrale Komponente des Konzepts der alltäglichen Lebensführung ist nun, dass sich das Gesamtkonstrukt Lebensführung im Sinne einer forschungsleitenden Heuristik in verschiedene Strukturdimensionen differenzieren lässt. „Die Form der Lebensführung einer Person besteht darin, zu welchen Zeitpunkten, an welchen Orten, in welcher inhaltlichen Form, in welchen sozialen Zusammenhängen und orientiert an welchen sozialen Normen, mit welchen sinnhaften Deutungen sowie mit welchen Hilfsmitteln oder Ressourcen und schließlich mit welchen emotionalen Befindlichkeiten eine Person im Verlauf ihres Alltags typischerweise tätig ist.“ (Voß 1995, S. 32, Herv. i. O.)
Die Lebensführung kann demnach in zeitlicher, räumlicher, inhaltlicher, sozialer, sinnhafter, emotionaler und materieller Hinsicht analytisch genau beschrieben
4.2 Gesamtheit des Alltags: Kernideen der alltäglichen Lebensführung
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werden. Damit erweist sich das Konzept der Lebensführung als eine fruchtbare Analyseperspektive auf den Gesamtzusammenhang von Alltagstätigkeiten und der darin eingelagerten Mediennutzung.3 Die Erwartungshaltungen und Zwänge sowie die Entfaltungschancen eines jeden Lebensbereichs lassen sich entlang dieser Dimensionierung beschreiben (vgl. Voß 1991, S. 309–310; Voß 2001, S. 205– 206). So legen die verschiedenen Lebensbereiche gewisse zeitliche Strukturen nahe, indem beispielsweise Zeiträume vorgegeben sind oder aber bestimmte Zeitsouveränitäten gewährt werden (wenn z. B. Arbeitszeiten flexibel gestaltbar sind oder eben nicht). In räumlicher Hinsicht interessiert beispielsweise, welche Orte relevant sind, wie diese erreicht werden und ob diese einen spezifischen Stil der Raumnutzung nahelegen. Inhaltlich differieren die Lebensbereiche danach, welche Anforderungen und Möglichkeiten es gibt, inhaltliche Tätigkeiten auszuüben. In sozialer Hinsicht sind die Lebensbereiche durch unterschiedliche Umgangsweisen und Erwartungshaltungen von den Personen geprägt, mit denen im Alltag interagiert wird. Hier interessiert beispielsweise auch die Frage nach der Arbeitsteilung. Sinnhaft stellen die Lebensbereiche Leitbilder und Orientierungsmuster wie Normen und Werte bereit. Mit der Analyse der konkreten alltagspraktischen Tätigkeiten wird daher auch erfasst, inwiefern Rollenerwartungen oder kulturelle Leitbilder in die eigene Lebensgestaltung überführt werden, d. h. mit welchen Motiven, Deutungen und Begründungen eine Person im Alltag tätig ist. Auch in emotionaler Hinsicht können sich die Tätigkeiten in den Lebensbereichen unterscheiden, d. h. mit welcher Gefühlslage die verschiedenen Phasen im Alltag erlebt werden. Auch dem Körper kommt für die Ausübung der Tätigkeiten in den jeweiligen Lebensbereichen eine wichtige Bedeutung zu. So können beispielsweise bestimmte motorische Fertigkeiten nötig sein oder Äußerlichkeiten Relevanz entfalten. Zudem ermöglichen es die Lebensbereiche, materielle Ressourcen wie Geld zu erwirtschaften oder bedürfen den Einsatz bestimmter (medialer) Ressourcen wie Medientechnologien. Diese Erwartungshaltungen, Zwänge und Entfaltungschancen eines jeden Lebensbereichs fungieren gewissermaßen als Rahmenbedingungen für die aktive Konstruktion der Lebensführung (vgl. Voß 1991, S. 309–310; Voß 2001, S. 205–206).
3Angemerkt
sei, dass diese Dimensionierung nicht den Anspruch erhebt, vollständig sowie völlig trennscharf zu sein (vgl. Voß 2001, S. 205). Die Lebensbereiche können sich nachvollziehbarerweise dimensional überschneiden, wenn zum Beispiel in der räumlichen Einheit ‚Betrieb‘ neben der Berufstätigkeit auch freundschaftliche Beziehungen zu Kollegen geführt werden oder wenn im Raum ‚Familie‘ zuhause gearbeitet wird (vgl. Voß 1991, S. 262).
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4 Alltägliche Lebensführung …
4.2.2 Lebensführung als Handlungssystem und aktive Konstruktionsleistung zwischen Struktur und Handlung Ein zentraler Grundgedanke des Konzepts ist, dass der Alltag aktiv von den Menschen gestaltet werden muss, ganz im Sinne der Überlegungen von Arnold Gehlen: Der Mensch „lebt nicht […] er führt sein Leben“ (Gehlen 1950, S. 204, Herv. i. O.). Wann und wie er innerhalb der für ihn relevanten Lebensbereiche agiert, wie er mit widersprüchlichen Erwartungshaltungen umgeht und welche Entfaltungschancen er wahrnimmt, stellt eine Aufgabe dar, die von ihm selbst geleistet werden muss. Die Entstehung der Lebensführung ist daher nicht einfach eine Folge sozialer Lebensbedingungen, sondern sie wird durch die Person unter aktiver Verarbeitung der Lebensumstände geschaffen. Die Lebensführung ist damit eine individuelle Konstruktion, die „einer eigenen Logik folgt.“ (Voß 1991, S. 200) Die sozialen Anforderungen sind demnach Bedingungen des individuellen Handelns, determinieren es aber nicht (vgl. Voß 1991, S. 265, 306). Lebensführung ist daher zwischen Struktur und Handlung angesiedelt, indem gezielt versucht wird, „vor allem am praktischen Handeln der Subjekte im Alltag […] anzusetzen und dabei aber systematisch den Bezug zu ‚objektiven‘ sozialen Randbedingungen und insbesondere auch zu gesamtgesellschaftlichen Strukturen zu erhalten.“ (vgl. Voß 2000, S. 38) In letzter Instanz wird die Lebensführung immer von dem Menschen selbst aktiv gestaltet und jeden Tag durch die Tätigkeiten reproduziert. In anderen Worten: Gleichgültig welchen gesellschaftlichen Zwängen oder (medialen) Rahmenbedingungen eine Person ausgesetzt ist, letztlich stellt die Lebensführung und das darin eingebettete Medienhandeln immer eine individuelle Leistung dar. Diese individuelle Leistung wird mit dem Konzept der alltäglichen Lebensführung theoretisch erfasst. Von Interesse ist dabei weder die isolierte Betrachtung von Einzelhandlungen noch die bloße Summe oder Abfolge der Tätigkeiten. Es geht vielmehr darum, wie sämtliche Alltagstätigkeiten zu einem Gesamtarrangement zusammengefügt werden. Lebensführung stellt demnach ein „System der alltäglichen Tätigkeiten einer Person“ dar (Voß 1995, S. 32), in dem vermittelt wird, inwiefern ein Mensch seine Tätigkeiten auf die verschiedenen Lebensbereiche verteilt: „Ist eine Person beispielsweise erwerbstätig, hat Familie, pflegt regelmäßig Kontakt zu Freunden und Verwandten, ist Mitglied in einem Verein und zudem in einem Verband, (etwa einer Gewerkschaft) tätig usw., dann bildet das, was wir Lebensführung nennen, einen strukturierenden und koordinierenden Rahmen für alle in diesen Feldern regelmäßig ausgeübten Handlungen.“ (vgl. Voß 2001, S. 204)
4.2 Gesamtheit des Alltags: Kernideen der alltäglichen Lebensführung
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In diesem Verständnis von Lebensführung als Handlungssystem der Alltagstätigkeiten meint ‚alltäglich‘ nicht, dass jeden Tag die gleiche Tätigkeit ausgeübt werden muss. Vielmehr wird damit erfasst, dass die Lebensführung eine integrative Struktur aufweist, die einen übergreifenden, orientierenden Handlungsrahmen für sämtliche Einzelhandlungen bietet. „Der Verweis auf die ‚Führung‘ soll keineswegs heißen, dass die Person dies vollständig bewusst oder gar systematisch reflexiv kontrolliert betreibt – aber es heißt sehr wohl, dass aus der Sicht des Konzepts eine Person die Strukturierung und Koordination ihrer alltäglichen Tätigkeiten in den verschiedenen Sphären ihres Lebens unausweichlich aktiv betreiben muß [sic!], um einen funktionierenden Alltag zu erhalten.“ (Voß 2001, S. 205)
Daran angeschlossen stellt sich nun die Frage, wie die Lebensführung und damit auch eine spezifische Form der Mediennutzung entsteht. Nach welchen Prinzipien wird sie konstruiert und welche Formen lassen sich unterscheiden?
4.2.3 Gestaltungsprinzipien und Formen Wie bereits oben erwähnt, ist die Lebensführung weder Folge sozialer Bedingungen (wie es strukturalistische Konzepte postulieren) (vgl. Voß 1991, S. 200), noch folgt sie einer universalen, situations-, kontext- und individuenübergreifenden Handlungstheorie, wie es z. B. die Theorie der rationalen Entscheidung (rational choice) nahelegt (vgl. Voß 1991, S. 273–274). Die fehlende Rückbindung an eine Handlungstheorie ist an dem Konzept bereits kritisiert worden (vgl. Evers 1993; Wirth 2015, S. 147), allerdings wird in dieser Arbeit der Auffassung gefolgt, dass die Gestaltung der Lebensführung derart komplexen Konstruktionsmechanismen unterliegt, als dass dies mit einem generalisierendem Handlungsprinzip empirisch wertvoll beschrieben werden könnte. Bei der Konstruktion der Lebensführung geht es für einen Menschen gerade darum, wie sich – aus seinem Blickwinkel – die Erwartungen, Zwänge und Entfaltungschancen verschiedener Lebensbereiche zur gesamten Lebensführung verhalten und wie er diese zu einem ihn zufriedenstellenden Gesamtkonstrukt verbindet (vgl. Voß 1991, S. 311–312). In diesem Zusammenhang erscheint es daher zielführender, die Konstruktionsprozesse der Lebensführung in Verbindung zu
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den Strukturdimensionen empirisch zu analysieren.4 Auf diese Weise lässt sich konkret beschreiben, wie und warum Menschen ihre Mediennutzung im Zuge von Alltagsumbrüchen verändern und in welchen Situationen sie Medien als sinnhaft empfinden und in welchen nicht. Der Wert des Konzepts liegt damit insbesondere in einer die Empirie systematisierenden Analyseperspektive. Gleichwohl lassen sich verschiedene Mechanismen identifizieren, inwiefern Menschen ihre Lebensführung strukturieren und stabilisieren (vgl. Voß 1991, S. 266–268). Routinen sind dabei von herausragender Bedeutung. Diese lassen sich entlang der Strukturdimensionen beschreiben. Dazu gehören Habitualisierung als fixierte Ablaufmuster von Tätigkeiten wie Körperhygiene (inhaltlich), Terminierung in Form von festen Zeitpunkten und Zeiträumen (zeitlich), Raumroutinen wie häufig benutzte Wege und Orte (räumlich), soziale Routinen wie Umgangsweisen, wechselseitig akzeptierte Tabuisierungen und Absprachen oder die Teilung von Aufgaben (sozial) sowie regelmäßig verwendete Deutungsschemata oder zentrale Lebensinteressen (sinnhaft). Darüber hinaus gehören zu den gängigen Mechanismen der Lebensführung die Planung in Form von Zielsetzungen, die Projektierung als zeitlich und inhaltlich befristetes Vorhaben oder das situative Strukturieren wie improvisieren oder sich treiben lassen. Sowohl bei der Planung als auch bei der Projektierung und der situativen Strukturierung können kleinere und größere sowie sinnhafte, reflexive und eher unbewusste Vorhaben als zentral angesehen werden, weil Menschen kontinuierlich eigensinnig und aus sich selbst heraus „Ziele suchen, definieren, verfolgen, erreichen oder auch nicht erreichen, verabschieden und wieder neu suchen“ (Wirth 2015, S. 235). Auf der Ebene der gesamten Lebensführung lassen sich drei Strategien unterscheiden: Die Segmentierung, d. h. die Abschottung von Lebensbereichen gegeneinander, wie sie z. B. für berufstätige Mutter mit strikter Trennung zwischen Beruf und Familie typisch ist. Die Integration, um einer als belastend empfundenen Segmentierung der Lebensbereiche entgegenzuwirken oder die Hierarchisierung bzw. Zentrierung, um Abstimmungsprobleme zwischen den Lebensbereichen durch Priorisierung zu regulieren.
42001
bezeichnet Voß dementsprechend die Dimensionierung der alltäglichen Lebensführung als „nicht mehr als eine forschungsleitende Heuristik“, vermutet jedoch, „dass sie zu einem geschlossenen Theorieelement für eine Handlungstheorie aus subjektorientierter Perspektive ausgebaut werden kann.“ (Voß 2001, S. 206) Dieses Vorhaben wurde meines Wissens bislang nicht umgesetzt.
4.2 Gesamtheit des Alltags: Kernideen der alltäglichen Lebensführung
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Die äußere Form der Lebensführung kann grundsätzlich darin unterschieden werden, auf welche Lebensbereiche sich ein Mensch im Laufe seines Alltags üblicherweise bezieht und in welcher Art und Weise er das tut (vgl. Voß 1991, S. 309). So kann die Lebensführung funktional oder multifunktional zentriert sowie funktional diffus oder funktional reduziert gestaltet werden (vgl. Voß 1991, S. 321–322). Eine funktionale Zentrierung liegt klassischerweise vor, wenn ein Lebensbereich wie der Beruf oder aber die Familie im Zentrum der Alltagsorganisation steht. Kontrastierend dazu ist die Lebensführung multifunktional zentriert, wenn einzelne Lebensbereiche wie der Beruf, die Familie und die kulturelle Teilhabe gleichermaßen wichtig sind. Eine funktional diffuse Lebensführung zeichnet sich durch ein dynamisches und kaum habitualisiertes Tätigkeitsspektrum aus. Funktional reduziert ist eine Lebensführung, wenn die Gestaltungsmöglichkeiten deutlich eingeschränkt sind, so z. B. im Rahmen eines Gefängnisaufenthalts oder einer Vormundschaft. Im Zuge von Alltagsumbrüchen kann sich die Bedeutung der Lebensbereiche verschieben, sodass sich in diesem Zusammenhang die Form der Lebensführung verändert. Ein Beispiel ist die Verschiebung der Lebensführung nach der Geburt eines Kindes von einer berufszentrierten hin zu einer berufs- und familienzentrierten Lebensführung. Diese Verschiebung bleibt sehr wahrscheinlich nicht folgenlos für die Mediennutzung. Idealtypisch wurden in dem Konzept zudem drei Konstruktionslogiken der Lebensführung differenziert, die sich in Form eines „modus operandi […] als Regelmäßigkeiten der alltäglichen Praxis“ beobachten lassen und die sich hinsichtlich ihrer Mechanismen in der Herstellung der Lebensführung unterscheiden (Voß 1991, S. 322–323). Dazu zählt erstens die traditionale Lebensführung, deren zentrales Merkmal die Selbstverständlichkeit der Alltagsstrukturierung ist und die sich durch Ordnung und Stabilität sowie eine präzise Vorstellung von einem guten Leben auszeichnet. Menschen, deren Lebensführung einer solchen Konstruktionslogik folgt, besitzen – gemäß der Typologie – eine begrenzte Fähigkeit mit Veränderung umzugehen. Zweitens steht demgegenüber die strategische Lebensführung, die sich in erster Linie auf die Berechenbarkeit und Planbarkeit der Lebensbedingungen stützt. Menschen mit einer solchen Konstruktionslogik zielen auf die laufende (zweckrationale) Optimierung ihrer Lebensführung ab; sie entsprechen damit am ehesten dem Weberschen Idealtypus der methodischen Lebensführung. Drittens kann die situative Lebensführung unterschieden werden, die sich durch eine ausgeprägte Flexibilität und Reagibilität auszeichnet. Diese Form kann nochmals in einen privilegierten und einen deprivierten Typ untergliedert werden. Während erstgenannter Typ durch eine hohe Kompetenz im Umgang mit Lebensveränderungen sowie eine Offenheit dafür gekennzeichnet ist, lässt sich der zweitgenannte Typ eher mit einer Reaktivität auf ständig
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4 Alltägliche Lebensführung …
wechselnde Lebensbedingungen beschreiben; das Leben wird hier besonders als von außen strukturiert erlebt. Mit den Worten von Voß sei aber nochmals angemerkt, dass einen „Zugang zu dieser Art von sozialen Formen von Lebensführung […] nur ein offener empirischer Weg ermöglichen [kann].“ (Voß 1991, S. 321)
4.2.4 Zwischen Stabilität und Wandel Für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit ist von besonderer Relevanz, inwiefern sich die Lebensführung eines Menschen zwischen Stabilität und Wandel bewegt, d. h. wie beständig sie sich darstellt und was Anlässe für Veränderungen sind. Grundsätzlich weist die Lebensführung – sofern sie erst einmal erschaffen und eingerichtet wurde – „durch das komplexe Geflecht von Arrangements (mit Betrieben, Familie, Freunden u.v.a.m.)“ eine relativ stabile Struktur auf (Voß 1991, S. 274). Zwar ist präzise kein Tag wie der andere, aber eine eingelebte Lebensführung kennzeichnet grundsätzlich eine konstante Anordnung und damit eher etwas Beständiges. Auf diese Weise gewährleistet sie zwei zentrale Funktionen, nämlich Handlungssicherheit und Handlungsentlastung (vgl. Voß 2001, S. 211–212). Im Falle einer eingelebten Lebensführung muss ein Mensch in wiederkehrenden Situationen nicht ständig neu entscheiden, wie er sich (angemessen) verhalten kann oder soll. Voß geht nun davon aus, dass diese Funktionen erst möglich werden, wenn die Lebensführung nicht mehr unbedingt als etwas Eigenes, sondern als etwas Fremdes, von der Person entäußertes, erlebt wird. Dann hat sich die Lebensführung „unabhängig vom Erzeuger verobjektiviert und wirkt nun auf ihn zurück. […] Es hat sich so eine Ordnung, eine emergente Struktur ergeben, die in der Regel niemand, zumindest nicht im Detail, so gewollt oder bewußt [sic!] hergestellt hat. Und doch ist es eine Konstruktion der Person, die diese Lebensführung lebt; eine Konstruktion, die sie so nicht beabsichtigt hat und die ihr vielleicht auch nicht bewußt [sic!] ist, aber die durch ihre Tätigkeiten und die Vermittlung der Tätigkeiten faktisch doch so erzeugt wird.“ (Voß 1991, S. 274)
In diesem Zusammenhang ist oft von ‚Alltagstrott‘‚ ‚Steuerungsverlust‘, ‚Trägheit‘ oder einer ‚Eigendynamik‘ die Rede. Erst über die Wahrnehmung der Lebensführung als Objekt (in Form einer erlebten Selbstentfremdung) und durch die anschließende aktive Wieder-Aneignung könne eine Lebensführung wirklich reflexiv gestaltet werden (vgl. Voß 2001, S. 212–213); erst dann – so die These
4.2 Gesamtheit des Alltags: Kernideen der alltäglichen Lebensführung
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des Konzepts – hat eine Person die Möglichkeit, sich ihrem Alltag wirklich bewusst zu werden und ihn aktiv zu steuern. Aus einer solchen (reflexiven und intendierten) Steuerung heraus, kann ein Wandel der Lebensführung in Gang gesetzt werden. Darüber hinaus kann Wandel auch durch äußere Faktoren entstehen. „Solche Veränderungen können im Prinzip aus jedem der in die Lebensstruktur eingebundenen Bereichen kommen.“ (Voß 1991, S. 357)5 Diese Veränderungen können mehr oder weniger außerhalb der Entscheidungsmacht der Person liegen und damit eher beabsichtigt oder eher unbeabsichtigt sein. In beiden Fällen kann es sich durchaus um ähnliche Ereignisse handeln: So kann beispielsweise die Auflösung der Partnerschaft absichtsvoll initiiert werden oder auch ohne eigene Absicht durch den Partner erfolgen. In dieser Arbeit interessieren prinzipiell beide Formen, sofern sie mit einem Alltagsumbruch und damit zusammenhängend mit einem Wandel der Mediennutzung einhergehen. Im Zuge solcher Umbruchphasen sind die Personen gefordert, ihren Alltag vor dem Hintergrund der neuen Lebenssituation neu zu strukturieren, denn zuvor eingerichtete und die Lebensführung stabilisierende Arrangements können (teilweise) nicht mehr wie bisher gelebt werden: „Die Personen entwickeln in Verarbeitung der Veränderungen andere Handlungsweisen und gegebenenfalls auch eine andere Tätigkeitsstruktur. Sie haben dabei mehr oder weniger große Spielräume oder Kontingenzen; aber ganz egal wie groß diese sind, die Neukonturierung ihres «Lebens» bleibt immer ihre Leistung, die ihnen niemand abnimmt.“ (Voß 1991, S. 358)
Wie die Lebensführung in einer neuen Lebenssituation organisiert wird und wie auf Veränderungen innerhalb der Strukturdimensionen des Alltags reagiert wird, kann also von Person zu Person unterschiedlich sein. Denn im Gegensatz zu einem Determinationsverständnis wird „Lebensführung als relativ autonome ‚Reaktion‘ von Personen“ (Voß 1995, S. 37) verstanden. Allgemein sind Alltagsumbrüche von einer relativ hohen Unsicherheit und einer erhöhten Anstrengung der Alltagsorganisation geprägt sowie mit neuen Entfaltungschancen und Zwängen verbunden.
5Der
von Voß vorgeschlagenen analytischen Unterscheidung für Auslösebedingungen von Wandel in endogene und exogene Faktoren (vgl. Voß 1991, S. 355–358) wird hier nicht vollends gefolgt, da die Unterscheidung von Welzer in (un)erwartete sowie (un)freiwillige Alltagsumbrüche (vgl. Welzer 1990, S. 43) (empirisch) mehr überzeugt (siehe auch Kapitel 5).
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4 Alltägliche Lebensführung …
4.3 Zwischenfazit: Einsichten aus dem Konzept der alltäglichen Lebensführung Auf Basis der obigen Beschreibungen lassen sich im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit sechs wesentliche Einsichten generieren. Im Zentrum steht dabei die Konkretisierung der Kategorie Alltag, um Veränderungen des Alltags systematisch mit dem Wandel der Mediennutzung in Verbindung bringen zu können. Erstens ist Alltag im Sinne von Lebensführung der Ort, wo alles zusammenkommt, deshalb gilt es, die gesamte Breite des Lebens und damit sämtliche Alltagstätigkeiten in den für eine Person relevanten Lebensbereichen in den Blick zu nehmen. Mit jedem dieser Lebensbereiche bildet eine Person ein Arrangement, wie darin gehandelt werden kann oder soll. Indem ein Mensch zweitens das komplexe Wechselverhältnis der verschiedenen Lebensbereiche in einem integrativen Gesamtarrangement für ihn sinnvoll koordiniert, konstruiert er aktiv seine Lebensführung. Dieser übergreifende Handlungsrahmen bietet gewissermaßen Orientierung für sämtliche Einzelhandlungen. Die Konstruktion der Lebensführung kann, muss aber nicht zielgerichtet und reflexiv erfolgen. Als Rahmenbedingungen fungieren dabei die Erwartungshaltungen, Zwänge und Entfaltungschancen eines jeden Lebensbereichs, d. h. die Lebensführung wird durch die Person unter aktiver Verarbeitung der Lebensumstände geschaffen. Die Lebensführung ist damit drittens zwischen Struktur und Handlung angesiedelt, denn soziale Anforderungen sind zwar Bedingungen des individuellen (Medien) Handelns, determinieren es aber nicht. Viertens lässt sich die Lebensführung in verschiedene (analytische) Strukturdimensionen wie zeitlich, räumlich, inhaltlich, sozial, emotional, materiell, sinnhaft oder körperlich differenzieren. Darin liegt ein zentraler Wert des Konzepts für diese Arbeit, denn diese Differenzierung ermöglicht eine fruchtbare Analyseperspektive auf den Gesamtzusammenhang von Alltagstätigkeiten und der darin eingelagerten Mediennutzung. Eine eingelebte Lebensführung weist fünftens durch das komplexe Geflecht von Arrangements eine relativ stabile Struktur auf und gewährt so Handlungssicherheit und Handlungsentlastung, kann aber sechstens ausgelöst durch Veränderungen innerhalb der einzelnen Lebensbereiche (wie in Form von Alltagsumbrüchen) einem Wandel unterliegen. Was solche Alltagsumbrüche kennzeichnet und welche zentralen Merkmale sie aufweisen, wird im Folgenden mit Bezug zum Transitionskonzept entwickelt.
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Alltagsumbrüche als Transitionsprozesse
„In der Feststellung nämlich, daß [sic!] es so etwas wie die Lebensereignisse, die Stressoren, die Transitionen, die Bewältigungsstile oder die soziale Unterstützung nicht gibt, weil gleiche Ereignisse keineswegs einheitliche Folgewirkungen zeitigen.“ (Welzer 1993a, S. 139)
Die vorliegende Arbeit, die sich dem Wandel des Medienhandelns vor dem Hintergrund von Alltagsumbrüchen zuwendet, muss sich die Frage stellen, was ein Alltagsumbruch genau ist und welche Merkmale ihn auszeichnen. Trivial formuliert lässt sich ein Alltagsumbruch als ein Lebensereignis beschreiben, das dazu führt, dass der Alltag nicht mehr wie bisher gelebt werden kann. In der wissenschaftlichen Literatur finden sich in unterschiedlichen Disziplinen (z. B. Psychologie, Entwicklungspsychologie, Sozialpsychologie und Soziologie) verschiedene Konzepte, in denen Alltagsumbrüche (zumindest im weitesten Sinn) und ihre Folgen im Fokus des Interesses stehen.1 Nach Auseinandersetzung mit Handbüchern, die sich aus unterschiedlichen Forschungsrichtungen mit dem Phänomen des Alltagsumbruchs auseinandersetzen, resümiert Welzer in dem obigen Zitat, dass der Umgang und die Bedeutung eines Übergangs von einer Lebenssituation in eine andere von Person zu Person variiert. Es gibt folglich keinen Determinismus, bei dem ein spezifisches Lebensereignis universal die
1Dazu
gehören: Das Konzept der Entwicklungsaufgaben (vgl. Havighurst 1972), das Konzept des Lebenszyklus (vgl. u. a. Erikson 1966), das Konzept des kritischen Lebensereignis (vgl. Filipp und Aymanns 2010), das Konzept der Krise (Ulich 1987), das Konzept der Übergangsriten (vgl. van Gennep 1909) und des Übergangs (vgl. u. a. Parkes 1974), das Konzept der Statuspassage (vgl. Glaser und Strauss 1971) sowie das Konzept der Transition (Welzer 1993a).
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Niemand, Alltagsumbrüche und Medienhandeln, Medien • Kultur • Kommunikation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30738-7_5
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5 Alltagsumbrüche als Transitionsprozesse
gleiche Wirkung erzielt und es ist keineswegs im Vorfeld festgelegt, auf welche Lebensbereiche und in welcher Art und Weise sich Alltagsumbrüche auf die individuelle Alltagsgestaltung auswirken. In der Zusammenschau der Handbücher entstehe vielmehr der Eindruck, so Welzer, als würden sich die Ereignisse unüberschaubar voneinander unterscheiden und als würde es unendlich viele Formen der Bewältigung geben. Als Reaktion auf diese hohe Varianz werde zu großen Teilen gar nicht mehr versucht, die Befunde in ein theoretisches Konzept zu überführen: „Man verzichtet inzwischen mehrheitlich auf ambitionierte theoretische Rahmenund Bedingungsmodelle für die fraglichen Prozesse und geht mehr und mehr zu einem phänomenologischen Forschungsstil über, der erst irgendwann in der Zukunft zur Konzept- und Theoriebildung führen soll.“ (Welzer 1993a, S. 14)
Nicht nur für Welzer ist dieses Vorgehen höchst unbefriedigend. Wie aber lässt sich theoretisieren, dass es nicht den Alltagsumbruch gibt und in Beziehung zur Fragestellung dieser Arbeit auch nicht die Folgen für das Medienhandeln? Nach Welzer liegt das Problem der Konzepte darin, dass sie implizit voraussetzen, dass „die Biographie des Übergängers, die Qualität des Ereignisses, die sozialen und materiellen Ressourcen für die Bewältigung etc. – für den Ablauf des Prozesses relativ gleichgültig sind.“ (Welzer 1993a, S. 21) Im Umkehrschluss bedeutet die kritische Einordnung, dass sich die Veränderungsprozesse nur umfassend verstehen und theoretisieren lassen, wenn die Bedeutung des Alltagsumbruchs durch einen ganzheitlichen und feingliedrigen Blick auf den Alltag und durch Einbezug der subjektiven Wahrnehmungsprozesse herausgearbeitet wird. Erst dann wird ersichtlich, warum Alltagsumbrüche nicht linear verlaufen und keine universellen Folgen aufweisen. Mit dem von ihm entwickelten Transitionskonzept versucht Welzer der Komplexität dieser Veränderungsprozesse gerecht zu werden (vgl. Welzer 1993a). Alltagsumbrüche werden dort als für die Biografie besonders zentrale Lebenssituationen verstanden, die sich durch eine hohe Intensität neuer Erfahrungen auszeichnen. Demzufolge beschäftigt sich die Transitionsforschung mit den „Wechseln von Individuen aus eingelebten Lebensabschnitten und -zusammenhängen in andere, also mit Wohnortwechseln, Partnerverlusten, Karrierebrüche.“ (Welzer 1993b, S. 137) In dieser Arbeit werden Alltagsumbrüche als Transitionsprozesse verstanden, die spezifisch den Wandel der alltäglichen Lebensführung im Zuge eines Übergangs in den Blick nehmen. Welzer unterscheidet Transitionen dahingehend, ob diese „vorhersagbar und freiwillig (z. B. Heirat), vorhersagbar und unfreiwillig (z. B. Hochschulabschluss und Erwerbslosigkeit), unvorhersagbar und freiwillig (z. B. Partnersuche per Inserat)
5.1 Exkurs: Beschleunigung und Vervielfältigung …
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oder unvorhersagbar und unfreiwillig (z. B. Autounfall) sind.“ (Welzer 1990, S. 43) Je nach Ereignis variiert das Erleben und die Möglichkeit, Bewältigungsanforderungen vorzubereiten. Im Vergleich zu anderen theoretischen Konzepten biographischer Wandlungsprozesse bietet das Transitionskonzept, so die Argumentation von Welzer, die Möglichkeit, näher an die empirische Wirklichkeit der Veränderungsprozesse heranzukommen (vgl. zur kritischen Einordnung anderer Konzepte Welzer 1993a, S. 13–38). In seinem Konzept entwickelt er neun Strukturmerkmale von Transitionen, von denen sich für diese Arbeit sechs als weiterführend erwiesen haben. Entlang dieser sechs zentralen Merkmale soll in Abschnitt 5.2 der Wert des Transitionskonzepts für den Zusammenhang von Alltagsumbrüchen und Veränderungen des Medienhandelns herausgearbeitet werden. Vorab soll aber in Abschnitt 5.1 der Wandel des Lebenslaufs in modernen westlichen Gesellschaften skizziert werden, denn erst vor dem Hintergrund dieser Entwicklung lässt sich die Stärke des Transitionskonzepts veranschaulichen und die Notwendigkeit aufzeigen, warum biographische Wandlungsprozesse als Transitionen konzipiert werden sollten.
5.1 Exkurs: Beschleunigung und Vervielfältigung der Lebensverlaufsmuster – Anzeichen für eine Erosion des Normallebenslaufs Transitionen lassen sich als Oberbegriff für normative und nicht-normative Lebensereignisse fassen (vgl. Welzer 1993a, S. 299). Normative Lebensereignisse wie die Einschulung, der Ausbildungsbeginn oder der Renteneintritt gelten in einem bestimmten Alter als normal, ihr Eintritt wird in einer bestimmten Altersphase gesellschaftlich erwartet. Nicht-normative Lebensereignisse wie eine schwere Krankheit in jungen Jahren oder Arbeitslosigkeit sind hingegen gekennzeichnet durch eine geringe Eintrittswahrscheinlichkeit; typischerweise ist in der entsprechenden Altersphase nur ein geringer Anteil von Menschen von diesem Ereignis betroffen. Zentral für die Kategorisierung in normative und nichtnormative Ereignisse ist demnach die Eintrittswahrscheinlichkeit in Verbindung mit dem Timing im Lebenslauf. Ob ein Lebensereignis ontime (also zu einem passenden Zeitpunkt) oder offtime (zu einem unpassenden Zeitpunkt) erfolgt, wird vielfach durch biologische und soziale Mechanismen definiert. Diese Erwartungshaltung spiegelt sich in sogenannten Altersnormen wider (vgl. Sackman 2007: 32–38). Ereignet sich ein Lebensereignis offtime, wie zum Beispiel der Tod des Partners im mittleren Lebensalter, oder tritt ein Lebensereignis nicht ein, obwohl
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es zu diesem Zeitpunkt normativ erwartet wird (wie z. B. im Falle von Erwerbsoder Kinderlosigkeit), kann sich aus dieser Erfahrung eine individuelle Krise entwickeln. Eine derartige Kategorisierung ist grundsätzlich ohne die Vorstellung eines ‚normalen Lebensverlaufs‘ nicht möglich. Sie wird gewissermaßen erst durch die Kontrastfolie eines standardisierten Lebensverlaufs vorstellbar (vgl. Kohli 1985, S. 24; Welzer 1993b, S. 138). In der Moderne hat sich nach Auffassung von Kohli (1985) ein solcher Normallebenslauf in Form der typischen Abfolge des Lebens in Vorbereitungs-, Aktivitäts- und Ruhephase herausgebildet. Diese drei Phasen sind um das Erwerbssystem herum organisiert und jeweils durch gesellschaftliche Institutionen legitimiert. Während in der Vorbereitungsphase (Kindheit und Jugend) das Bildungssystem prägend ist, ist in der Aktivitätsphase (Erwachsenenalter) der staatlich regulierte Arbeitsmarkt eine tragende Instanz. Die Ruhephase (hohes Alter) ist hingegen durch das Rentensystem abgesichert. Als Folge dieser Standardisierung entwickelte sich eine kollektiv geteilte Vorstellung eines Normallebenslaufs. Dieser ist als „klarer sozialer Erwartungsrahmen“ (Hurrelmann 2003, S. 117–118) für die zeitliche Abfolge bestimmter sozialer Positionen an das Lebensalter gebunden und wird durch wichtige Übergänge wie Schulabschluss, Berufsbeginn oder Renteneintritt strukturiert. Die Chronologisierung des Lebens in Form von Altersnormen ist demzufolge ein zentrales Merkmal des Normallebenslaufs: „Altersnormen, die das Timing von Lebensereignisse vorschreiben, sind entweder ausdrücklich definiert worden, oder sie haben sich auf der Grundlage faktischer Prozesse der Standardisierung immer mehr zu normativen Erwartungshorizonten verdichtet.“ (Konietzka 2010, S. 57) In diesem Sinne gilt eine Biografie als normal, wenn die Übergänge nach dem folgenden linear strukturierten Muster vollzogen werden: formelle Schulbildung, Ablösen vom Elternhaus, Eintritt ins Erwerbsleben, Familiengründung, Ausscheiden aus dem Erwerbsleben, Ruhestand. Diese lineare Strukturierung bot den Menschen Orientierung für ihre individuellen Lebensentwürfe und reduzierte Unsicherheit bei der Lebensplanung. Kohli konzipierte den Lebenslauf daher „(ähnlich wie Geschlecht) als eine soziale Institution […] im Sinn eines Regelsystems, das einen zentralen Bereich oder eine zentrale Dimension des Lebens ordnet“ (Kohli 1985, S. 1). Da der Normallebenslauf unverkennbar ein „Orientierungsmuster der Gesellschaftspolitik“ (Hurrelmann 2003, S. 117– 118) war und ist, sind normative Übergänge vielfach durch gesellschaftliche Institutionen und politisch-rechtliche Regelungen organisiert beziehungsweise abgesichert. Im Kontrast dazu sind nicht-normative Lebensereignisse „vielfach gerade durch ihre äußerst geringe soziale Regulierung gekennzeichnet und [weisen] einen geringen Grad an Institutionalisierung auf.“ (Welzer 1993a, S. 17)
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Aufgrund der geringeren Strukturierung ist der individuelle Bewältigungsaufwand daher grundsätzlich bei nicht-normativen Ereignissen höher. Ein Normallebenslauf im Sinne von Kohli lässt sich in der sozialen Realität allerdings zunehmend seltener vorfinden.2 Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklung seit den 1970er Jahren wird die nachlassende Gültigkeit des Normallebenslaufs mit Schlagworten wie Enttraditionalisierung, Individualisierung, Pluralisierung der Lebensformen, De-Institutionalisierung und De-Standardisierung diskutiert. Ulrich Beck (1986; 1996), Anthony Giddens (1996) oder auch Richard Sennett (1998) sehen in ihren Gesellschaftsanalysen die Menschen zunehmend mit Freisetzungs- und Flexibilisierungszumutungen konfrontiert. Veränderungen von wirtschaftlichen, sozialen und soziokulturellen Rahmenbedingungen wie dem Strukturwandel des Arbeitssektors, der nachlassenden Prägkraft des Herkunftsmilieus oder dem Wandel der Geschlechterbeziehungen haben dazu geführt, dass „die Biografie der Menschen aus vorgegeben Fixierungen herausgelöst, offen, entscheidungsabhängig und als Aufgabe in das Handeln jedes einzelnen gelegt wird“ (Beck 1986, S. 216). Diesen gesamtgesellschaftlichen Wandel versuchen Beck und Giddens mit dem Theoriemodell der reflexiven Modernisierung zu fassen. Grundsätzlich gehen sie in ihrem Theoriemodell davon aus, dass normativ vorgegebene Lebenslaufmodelle (und damit auch Altersnormen) sowie traditionelle Leitbilder an Bedeutung verlieren beziehungsweise vielfältiger und auch widersprüchlicher werden. Damit ist allerdings nicht die vollständige Auflösung beziehungsweise der vollständige Bedeutungsverlust von bisher wirkmächtigen Differenzkategorien und Traditionen gemeint. Diese prägen weiterhin die Biografien der Menschen (Beck und Beck-Gernsheim 1994, S. 179), Giddens geht aber davon aus, dass diese hinterfragt und diskursiv ausgehandelt werden (vgl. Giddens 1996, S. 190–191). Daraus folgt einerseits eine gestiegene Optionsvielfalt bei der eigenen Lebensgestaltung, anderseits aber auch die Notwendigkeit, die eigene Biografie aufgrund abnehmender eindeutiger Handlungsorientierungen selbstbestimmt planen und entwerfen zu
2Bei
dieser Feststellung muss allerdings berücksichtigt werden, dass sich der von Kohli konzipierte stabile Normallebenslauf „allenfalls beim männlichen Teil der westdeutschen Nachkriegsgeneration finden [ließ]. Die Berufsbiographien älterer wie jüngerer Alterskohorten sind ebenso wie die von Frauen allgemein von deutlichen Brüchen, mehrfachen Wechseln und Umorientierungen geprägt.“ (Welzer 1993a, S. 23–24) Welzer merkt daher kritisch an, dass sich die Feststellung einer zunehmenden Flexibilisierung von Lebensverläufen immer vor dem Hintergrund der impliziten Annahme vollzieht, frühere Lebensverläufe seien weniger diskontinuierlich verlaufen. Eine Annahme, die er – ohne sie weiter zu thematisieren – zumindest als historisch fragwürdig deklariert (vgl. Welzer 1993a, S. 23–24).
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müssen (vgl. Beck und Beck-Gernsheim 1994, S. 12). Indem Entwicklungsschritte wie die Berufs- oder Partnerwahl auch zurückgenommen werden können, zeigt sich in den Lebensverläufen eine ansteigende „Reversibilität“ (du Bois-Reymond, S. 313). Die eigene Lebensplanung wird so in zunehmendem Maße zur individuellen Leistung, denn in „posttraditionalen Kontexten haben wir keine andere Wahl, als zu wählen, wer wir sein und wie wir handeln wollen.“ (Giddens 1996, S. 142) Den Verlust bisheriger Strukturvorgaben und die dazugewonnene Entscheidungsvielfalt zur biographischen Lebensgestaltung sehen die Autoren ambivalent, denn damit ist eben auch die Anforderung verbunden, permanent Entscheidungen treffen zu müssen, obwohl die Konsequenzen dieser Entscheidungen nicht vollständig überblickt werden können. Die Kontingenz der eigenen Biografie nimmt auf diese Weise zu, denn es besteht keine „hinreichende Sicherheit, um vorhersagen zu können, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln“ (Giddens 1996, S. 317). Aufgrund der Notwendigkeit, aus unterschiedlichen Optionen zu wählen, wird bei Giddens (1993) die Politik der Lebensführung und das Prinzip der Reflexivität zu einem zentralen Aspekt der biografischen Lebensgestaltung (vgl. auch Berger 1995). Die Fähigkeit, persönliche Lebensziele zu entwickeln und verschiedene Optionen zu reflektieren, um die eigenen Lebensziele nach Möglichkeit zu verwirklichen, ist demnach in der reflexiven Moderne von entscheidender Bedeutung. Gerade in Lebensphasen, die von tiefgreifenden Alltagsumbrüchen beziehungsweise von Transitionsprozessen geprägt sind, ist Reflexivität in besonderem Maße erforderlich, um Kontinuität in der eigenen Lebensplanung zu wahren und um die Neukonzeption des Alltags zufriedenstellend zu bewältigen. Als Resultat dieses gesamtgesellschaftlichen Wandels und seiner Folgen für das Individuum lassen sich zwei für diese Arbeit wichtige Entwicklungen identifizieren. Erstens lässt sich die Vielfalt der Lebensverlaufsmuster nicht mehr angemessen mit Kohlis Normallebenslauf abbilden. Die Lebensverläufe der Menschen folgen nicht (mehr) einer universalistischen und linearen Abfolge des Lebens, wie sie der Normallebenslaufs noch postulierte. So lässt sich die Ausdifferenzierung der Lebensverläufe exemplarisch anhand der Lebensverhältnisse von Familien im 21. Jahrhundert beschreiben: „Eltern leben heute verheiratet oder nicht, gleichgeschlechtlich oder heterosexuell, in einer gemeinsamen Wohnung oder multilokal, als Zweitverdienerpaar oder im Alleinernährermodell, allein erziehend oder mit einem (neuen) Partner bzw. einer (neuen) Partnerin“ (Jurczyk et al. 2014, S. 8).
Im Zuge der Ausdifferenzierung sind die Lebensverläufe zweitens zunehmend von biografischen Brüchen und Diskontinuitäten und damit von einer Beschleunigung
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von Übergängen geprägt (vgl. Konietzka 2010, S. 68). Diese Beschleunigung der Lebensverläufe zeigt sich in verschiedenen Lebensbereichen wie dem Beruf oder der Partnerschaft und der Familie (vgl. Welzer 1993a, S. 23–24). So wechseln viele Menschen im Laufe ihres Lebens mehrmals den Arbeitgeber oder möglicherweise auch ihren Beruf, arbeiten in kurzfristigen Arbeitsverträgen oder in Zeitarbeit. Dies alles steht im Widerspruch zu einem ‚normalen‘ auf Dauer angelegten Arbeitsverhältnis in Vollzeitbeschäftigung. Im Bereich der Partnerschaft- und Beziehungsverläufe zeigen sich Erosionen des idealtypischen Familienzyklus, wie ihn Glick (1947) basierend auf der Vorstellung eines linear strukturierten Lebenslaufs formulierte. Den Zyklus einer Familie teilte er in einen 7-phasigen in sich geschlossenen Kreislauf ein, der durch die folgende Übergänge gekennzeichnet war: Eheschließung, Geburt des ersten Kindes, Geburt des letzten Kindes, erstes Kind verlässt elterlichen Haushalt, letztes Kind verlässt elterlichen Haushalt, Tod des ersten Ehepartners, Tod des zweiten Ehepartners. Aufgrund von Entwicklungen wie der abnehmenden Heiratsneigung, dem Anstieg der Kinderlosigkeit oder der zunehmenden Scheidungshäufigkeit wird der Familienzyklus für viele Menschen an verschiedenen Stellen immer häufiger unterbrochen (vgl. Huninik und Konietzka 2007, S. 40–41). Wann welche Übergänge im Laufe des Lebens vollzogen werden, ist also zunehmend der Politik der eigenen Lebensführung überlassen und damit eine reflexive Leistung des Individuums. In Beziehung zum Normallebenslauf im Sinne Kohlis erfordert diese Entwicklung nicht nur eine feinere Untergliederung des Lebenslaufs, wie zum Beispiel die Hinzunahme einer weiteren Phase (wie Postadoleszenz), sondern die Vorstellung eines Normallebenslaufs wird in seinem Kern angegriffen. Demzufolge muss sich von einer schematisierenden Vorstellung eines bis ins letzte Detail a priori strukturierten Lebenslaufs gelöst werden, denn Menschen befinden sich beispielsweise im gleichen Alter zunehmend in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen. Es wird somit auch unwahrscheinlicher, dass sich mit Differenzkategorien wie beispielsweise Alter oder Geschlecht typische Mediennutzungsmuster identifizieren lassen bzw. das Mediennutzungsverhalten präzise prognostiziert werden kann. Vielmehr kristallisiert sich aufgrund der Ausdifferenzierung und Beschleunigung der Lebensverläufe deutlich heraus, dass sich der Wandel des Medienhandelns in Verbindung mit dem eingeschlagenen Lebensweg nur nachvollziehen lässt, wenn der Fokus auf die Übergangsphasen selbst gerichtet wird, denn die Übergangsphasen sind die „wirklichen Veränderungsabschnitte“ (Welzer 1988, S. 197) und damit wichtige Eckpfeiler der Biografie eines Menschen. Durch sie werden Gewohnheiten und Rituale durchbrochen und es entstehen neue Bedürfnisse, Zwänge und Entfaltungschancen.
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Die Lebenssituation während und nach einem Übergang gibt gewissermaßen einen Rahmen vor, vor deren Hintergrund der Alltag neu strukturiert werden muss. An dieser Stelle setzt das Transitionskonzept von Welzer (1993a) an, das einer prinzipiellen Offenheit von biographischen Entwicklungsverläufen und einer reflexiv gesteuerten Lebensführung gerecht wird und wichtige Hinweise zur Erforschung des Zusammenhangs zwischen Alltagsumbrüchen und Medienhandeln liefert.
5.2 Alltagsumbrüche als komplexe Prozesse: Eckpunkte des Transitionskonzepts In seiner 1993 veröffentlichten Habilitationsschrift erarbeitete Harald Welzer ein Konzept zur Beschreibung von Transitionen auf der Mikroebene.3 Im Wesentlichen ist die Entwicklung seines Konzepts eine Antwort auf zwei zentrale Schwachstellen bereits vorliegender Konzepte zur Erforschung von biographischen Wandlungsprozessen (wie Entwicklung, Übergang oder Statuspassage). Erstens kritisiert Welzer die Linearität dieser Konzepte.4 Zweitens bemängelt er eine (überwiegend) individuenzentrierte Perspektive auf diese Prozesse, denn an einer Transition sind in der sozialen Realität, so Welzer, mehr Personen beteiligt als der Übergänger selbst. Es handele sich daher um einen sozialen Prozess, der entsprechend analysiert werden müsse (zur ausgiebigen kritischen Auseinandersetzung vgl. Welzer 1993a, S. 13–38). Im Allgemeinen versteht Welzer Transitionen als „sozial prozessierte, verdichtete und akzelerierte Phasen in einem in permanentem Wandel befindlichen Lebenslauf“ (Welzer 1993b, S. 146). Bei seinen theoretischen Überlegungen stützt er sich auf die Arbeiten von Mead, der die Entwicklung des symbolischen
3Es
sei zumindest angemerkt, dass sich Transitionsprozesse sowohl auf einer Makroebene (z. B. durch den Wechsel eines politischen Systems oder durch den Ausbruch eines Krieges) sowie auf einer Mesoebene (z. B. durch die Fusion zweier Unternehmen) als auch – dem Erkenntnisinteresse dieser Arbeit entsprechend – auf einer Mikroebene (z. B. durch den Eintritt in eine neue Lebenssituation aufgrund der Geburt eines Kindes) vollziehen können. 4Passend dazu: „Entwicklung, Übergang, Passage, Übergangsstadien usw. – sie alle unterstellen mit definierten Ausgangs- und Anfangspunkten eine Linearität, die gerade in sogenannten ‚flexibilisierten Biographiemustern‘ nicht oder jedenfalls immer weniger auszumachen ist.“ (Welzer 1993b, S. 138)
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Interaktionismus wesentlich angeregt hat, sowie auf die Figurationstheorie von Norbert Elias (vgl. Welzer 1993a, S. 39–59). Die empirische Umsetzung basiert auf dem Material des Projekts „Sozialer Wandel/Soziale Integration“, in dem die berufliche und soziale Integration von Menschen untersucht wurde, die kurz vor dem Mauerfall in die BRD geflohen waren. Mit ihnen wurde zu drei verschiedenen Zeitpunkten jeweils ein Leitfadeninterview geführt (vgl. Welzer 1993a, S. 60–99). Aufbauend auf seinen theoretischen Überlegungen und anhand der drei tiefgreifenden Einzelfallanalysen bestimmt Welzer neun Strukturmerkmale von Transitionen (vgl. Welzer 1993a, S. 284–307), die „heuristische Funktionen bei der Erforschung von Transitionen im Lebenslauf erfüllen“ (Welzer 1993a, S. 284). Insbesondere die folgenden sechs Merkmale des Konzepts sind für diese Arbeit weiterführend.5 So zeichnet das Transitionskonzept aus, dass es… 1. Transitionen als soziale Prozesse konzipiert, 2. die Verlusterfahrung als relevanten Kontext berücksichtigt, 3. die Gleichzeitigkeit verschiedener Übergangserfahrungen beachtet sowie die Offenheit der Transitionsverläufe betont, 4. das Wechselverhältnis von individuellem Handeln und gesellschaftlichen Strukturen einbezieht, 5. den Einfluss der subjektiven Wahrnehmungen und Deutungen mitberücksichtigt sowie 6. Korrekturen von Relevanzlinien und die Entstehung neuer Daseinsthematiken erfasst. Diese Merkmale werden im Folgenden näher erläutert, um ihren Wert für die Analyse des Zusammenhangs zwischen Alltagsumbrüchen und dem Wandel des Medienhandelns aufzuzeigen.
5Die
weiteren drei Merkmale sind: • Transitionen stellen sich als soziale Eingrenzungs- und Ausgrenzungserfahrungen dar • Individuelle Tranistionen können in gesellschaftliche Transitionsprozesse eingebettet sein • Die Bewältigung von Transitionen führt zu Linearisierungen und Umdeutungen der Vergangenheit Diese Merkmale haben sich speziell für die Fragestellung dieser Arbeit als weniger bedeutsam erwiesen, können in anderen Kontexten aber durchaus relevant sein.
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5.2.1 Transitionen als soziale Prozesse Mit diesem Merkmal betont Welzer, dass „Übergänger […] keine einsamen Wanderer zwischen in sich stabilen Welten [sind]“ (Welzer 1993a, S. 36). Durchläuft ein Mensch eine Transition, sehen sich sowohl der Übergänger selbst als auch die mit ihm verbundenen Menschen mit Veränderungs- und Bewältigungsanforderungen konfrontiert (vgl. Welzer 1993a, S. 284–286). Theoretisch bezieht er sich dabei auf Nobert Elias, der mit dem Begriff der Figuration beschreibt, dass jeder Mensch in ein Geflecht von sozialen Beziehungen eingebunden ist. Bei dem Figurationskonzept handelt es sich folglich um einen relationalen Ansatz, denn Elias rückt die funktionalen Interdependenzen zwischen den Menschen ins Zentrum des Interesses (z. B. Partner – Partnerin oder Vater – Mutter – Tochter). Die Beziehung zwischen Menschen sieht er dabei immer geprägt von Machtbalancen im Sinne von verteilten Chancen, seine Handlungen durchzusetzen. Daher bezeichnet Elias Machtdifferentiale als „Struktureigentümlichkeiten menschlicher Beziehungen“ (Elias 1970, S. 77), die aber immer auch veränderbar, also dynamisch sind. Vergangene Handlungen prägen somit die gegenwärtige Machtbalance zwischen den Menschen, weshalb Goudsblom pointiert feststellt, dass die Handlungsfolgen von gestern die Handlungsbedingungen von heute sind (Goudsblom 1977, S. 149 zit. n. Welzer 1993a, S. 50–51).6 „Diese Verwobenheit und Vernetzung von Beziehungen und damit von Handlungsbedingungen und -folgen ist dafür verantwortlich, daß [sic!] es so schwierig ist, innerhalb von menschlichen Handlungszusammenhängen Kausalbeziehungen festzuhalten. […] Nun liegt im Begriff der Beziehung, daß [sic!] das Ganze nicht in dem Sinne komplex ist, daß [sic!] man es mit einem unstrukturierten Gewirr von Handlungen und Handlungssträngen zu tun hätte: Gerade der Beziehungsbegriff verdeutlicht, daß die Handlungen interdependent gebunden sind.“ (Welzer 1993a, S. 51)
Eine einfache schematische Beschreibung wie Transition X führt zum Medienhandeln Y ist demnach nicht zielführend, vielmehr muss bei der Analyse anerkannt werden, dass das Individuum eine Transition innerhalb eines
6Transitionen
im Sinne von biografischen Erfahrungen lassen sich daher in Anlehnung an Hoerning (1989) in einer doppelten Perspektive konzeptualisieren. Einerseits verweisen sie auf den konkreten Prozess, in dem die neuen Erfahrungen gemacht werden, andererseits werden diese Erfahrungen zu biographischem Wissen, dass in neue Transitionsprozesse eingebracht werden kann.
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Beziehungsgeflechts durchläuft, das maßgeblich verlaufsrelevant ist. So ist zum Beispiel nach einer Trennung die Auswirkung auf das Medienhandeln einer Frau in einer traditionell geführten Partnerschaft – in der beispielsweise der Mann das Fernsehprogramm bestimmt hat – anders zu erwarten, als die Auswirkungen auf die Mediennutzung nach dem Ende einer egalitär geführten Beziehung. Es gibt daher keinen idealtypischen Ablauf einer Transition und damit auch keinen eindimensionalen Effekt auf das Medienhandeln, sondern das Konzept betont gerade die prinzipielle Offenheit des Transitionsverlaufs. Diese Offenheit ist aber nicht willkürlich, sondern wird maßgeblich durch die Machtbalancen der sozialen Beziehungen mitbestimmt. Die Beschreibung, in welches soziale Netz der Übergänger eingebunden ist und wie diese Beziehungen organisiert sind, liefert einen wichtigen Schlüssel zur Erklärung unterschiedlicher Folgen von Transitionen und ihrer Auswirkungen auf das Medienhandeln. In dieser Arbeit steht das partnerschaftliche Beziehungsgeflecht besonders im Fokus.
5.2.2 Kompensation von Verlusten und Wiedergewinnung von bereits Erreichtem Dieses Merkmal stellt die Verlusterfahrung der Übergänger ins Zentrum. Bei den von Welzer interviewten Menschen, die von der DDR in die BRD ausgewandert waren, zeigte sich dies zum Beispiel in Form des Verlusts der beruflichen Qualifikation sowie in einer geringeren Selbstständigkeit, da die Auswanderer häufig übergangsweise bei Bekannten wohnten. Wichtig war zunächst, diese Verluste zu kompensieren, also zum Beispiel eine eigene Wohnung zu finden und ein geregeltes Einkommen zu erwirtschaften. Mit der Kompensation von Verlusten kann keineswegs gemeint sein, dass der ‚alte‘ Zustand wiederhergestellt werden muss, aber das Handeln ist immer auch geprägt von der Differenz der neuen Lebenssituation im Kontrast zur vergangenen. Dabei ist die Bewertung und Einordnung der neuen Lebenssituation ebenfalls von dem Vergleich mit der vorherigen Lebenssituation geprägt. Die Berücksichtigung der Verlusterfahrung macht noch einmal deutlich, dass der Verlauf einer Transition nicht ausschließlich von einer zentralen Aufgabe geprägt ist, die in einem neuen Lebensabschnitt bewältigt werden muss, wie es beispielsweise das Konzept der Entwicklungsaufgaben nahelegt. Der Transitionsverlauf hat vielmehr immer auch einen Rückbezug zur Vergangenheit (vgl. Welzer 1993a, S. 287–288). Für die Handlungsorientierung in der neuen Lebenssituation ist es demnach bedeutsam, „wieviele Verluste im Rückblick zu bilanzieren sind und vor allem: in welchem Licht sie in der neuen Gegenwart erscheinen.“ (Welzer 1993a, S. 287)
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5 Alltagsumbrüche als Transitionsprozesse
5.2.3 Transitionen überlagern und beeinflussen sich wechselseitig Eine Transition zieht eine Vielzahl an Veränderungen in unterschiedlichen Lebensbereichen nach sich, die sich wechselseitig beeinflussen. Welzer spricht diesbezüglich von multiplen und interdependenten Partialpassagen, wie er in seinen Einzelfallanalysen anschaulich aufzeigt: „Der parallele Wechsel des sozialen, geographischen und beruflichen Umfelds etwa fällt zusammen mit der Loslösung vom Elternhaus und dem Verlust von Partnerbeziehungen – und es ist evident, daß [sic!] etwa die Chance, ökonomisch erfolgreich zu sein, auf subtile Weise mit dem Wunsch konkurriert, wieder in bekannte und stabile Sozialbeziehungen einzumünden.“ (Welzer 1993a, S. 288)
Eine Transition vollzieht sich also nicht von einem festen Ausgangspunkt hin zu einem festen Endpunkt, sondern Übergänge müssen vielmehr als ineinander übergehende und sich überblendende Bewegungssequenzen gedacht werden (Welzer 1993a, S. 37). Ein Transitionsverlauf lässt sich demnach nur nachvollziehen, wenn die unterschiedlichen Passagen und ihre wechselseitigen Einflussnahmen identifiziert werden, die Lebenssituation also in ihrer Gesamtheit betrachtet wird, wie es das in Kapitel 4 beschriebene Konzept der alltäglichen Lebensführung gewährleistet. Wenn sich verschiedene Alltagsumbrüche überblenden, gilt es, dies bei der Analyse der Veränderungen des Medienhandelns zu berücksichtigen. Um Dissonanz aufgrund der unterschiedlichen und teilweise auch widersprüchlichen Anforderungen abzubauen, sei es laut Welzer zentral, dass die Übergänger Prioritäten setzen (vgl. Welzer 1993a, S. 289).
5.2.4 Einbettung individueller Transitionen in gesellschaftliche Umbruchphasen In Welzers Studie wird die Auswanderung von der DDR in die BRD gerahmt von der Wiedervereinigung, sodass die individuelle Transition der Probanden in einen transitorischen Kontext eingebettet war. Dieser gesellschaftliche Wandel hatte einen Einfluss auf die individuelle Transition, indem z. B. die „Übersiedlerwelle“ nach dem Mauerfall die Vorurteile und Bedrohungsgefühle zwischen Neu- und Altbundesbürgern verschärfte (vgl. Welzer 1993a, S. 291–292). Individuelle Transitionsprozesse können also nicht losgelöst vom gesellschaftlichen Wandel betrachtet werden, denn dieser verändert die Rahmenbedingungen
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für den Vollzug einer Transition. Die Transitionsforschung verbindet demnach eine subjektorientierte mit einer strukturellen Perspektive. Sie operiert „an einer Schnittstelle von individuellen Handlungspotentialen und Bewältigungsvermögen und von gesellschaftlichen Handlungsanforderungen und Rahmensetzungen für mögliche Bewältigungsprozesse.“ (Welzer 1993b, S. 137) Durch diese wechselseitige Perspektive zwischen Struktur und Handlung wird aufgezeigt, dass beispielsweise der Übergang in den Beruf während einer Wirtschaftskrise andere Anforderungen an das Individuum stellt, als in einer wirtschaftlichen Blütezeit. In Beziehung zum Medienhandeln muss auch berücksichtigt werden, dass sich Medien in einem stetigen Veränderungsprozess befinden und sich daher das Verhältnis von Alltagshandeln und Medienhandeln durch die fortschreitende Mediatisierung (vgl. Krotz 2007) im Wandel befindet. Je nach historischem Zeitpunkt sind Medien – wie bereits in Kapitel 2 diskutiert – mehr oder weniger intensiv mit dem Alltag verwoben. Transitionsprozesse im 21. Jahrhundert stoßen demnach andere Veränderungen der Mediennutzung an, als Transitionsprozesse im 20. Jahrhundert, weil die Übergangsphasen in äußerst unterschiedlichen Medienumgebungen vollzogen werden.
5.2.5 Situationsdeutungen sind entscheidend verlaufsrelevant Dieses Merkmal legt noch einmal einen besonderen Fokus auf den individuellen Umgang mit den jeweiligen Anforderungen einer Transition. Je nachdem, welche Ziele gesetzt werden, wie die neue Lebenssituation erlebt und bewertet wird, können Transitionsverläufe unterschiedlich ausfallen. So haben beispielsweise zwei der Interviewten erhebliche Probleme, soziale Beziehungen aufzubauen. Während der eine seinen Fokus auf seine berufliche Karriere legt und auf diese Weise das Problem gewissermaßen überspielt, leidet der andere so sehr darunter, dass er seine Rückkehr nach Ostdeutschland vorbereitet (vgl. Welzer 1993a, S. 294–295). Die jeweilige Wahrnehmung ist auch besonders relevant für die Veränderung der Mediennutzung. Es ist beispielsweise naheliegend, dass Medien nach einer Trennung anders genutzt werden, wenn diese als emotionale Krise oder als Neuanfang erlebt wird. Während in dem einen Fall Medien Ablenkung verschaffen können, sind sie in dem anderen Fall möglicherweise wichtiger, um soziale Kontakte zu intensivieren. Darüber hinaus ist es auch maßgeblich für die Mediennutzung, ob eine Person nach einer Trennung das Ziel verfolgt, eine neue Beziehung einzugehen oder nicht.
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5.2.6 Korrekturen von Relevanzlinien und Entstehung neuer Daseinsthematiken Im Zuge einer Transition, so Welzer, können sich die Relevanzlinien des Übergängers verändern, weil in der neuen Lebenssituation für ihn neue Orientierungsschemata relevant werden können oder weil er Wissensbestände anders selektiert und einordnet (vgl. Welzer 1993a, S. 296–298). In Beziehung zum Medienhandeln ist beispielsweise vorstellbar, dass nach der Geburt eines Kindes medienpädagogische Diskurse im Medienhandeln Relevanz entfalten, weil sich nun an Empfehlungen zur Mediennutzung im Beisein des Babys orientiert wird. Kulturelle Leitbilder sind im Allgemeinen aber nicht so klar formuliert und strukturiert, wie viele Konzepte es annehmen. Inwiefern sie Relevanz entfalten, lässt sich erst im Handeln beobachten. Zudem entstehen durch Transitionen neue Daseinsthematiken. Dieser Begriff geht auf Hans Thomae zurück und beschreibt, dass die Entwicklung der Persönlichkeit „eine Folge von »Themen« [ist], die durch Veränderungen in der Bedürfnisstruktur des Individuums, aber auch durch solche der Umwelt bestimmt sind.“ (Thomae 1988, S. 53)7
5.3 Zwischenfazit: Einsichten aus dem Transitionskonzept Auf Basis der obigen Beschreibungen lassen sich im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit vier wesentliche Einsichten generieren. Erstens lässt sich der Lebensverlauf nicht mehr universalistisch in eine lineare Abfolge von Lebensereignissen, die an das Alter gebunden sind, strukturieren. Die Lebensplanung wird vielmehr reflexiv von den Menschen selbst gestaltet und ist durch zahlreiche Brüche gekennzeichnet. Zur Analyse des Wandels müssen zweitens die Transitionsprozesse im Lebensverlauf fokussiert werden, denn in den Übergangsphasen wird der Wandel der Alltagsstruktur (und der Mediennutzung) vollzogen. Übergänge weisen dabei immer auch einen Bezug zur Vergangenheit in Form einer Verlusterfahrung zur vorherigen Lebenssituation auf und können zur Korrektur von Relevanzlinien und zur Entstehung von neuen Daseinsthematiken
7Daseinsthematiken
müssen den Menschen keineswegs bewusst sein. Die „eigentliche Thematik [kann] dem Subjekt nicht bekannt und damit formulierbar“ sein, aber dem Beobachter „als propulsiver Drang, Gestimmtheit oder diffuse Gerichtetheit“ deutlich werden (Thomae 1951, S. 163).
5.3 Zwischenfazit: Einsichten aus dem Transitionskonzept
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führen. Drittens müssen die Mikropolitiken des Alltags (insbesondere die sozialen Beziehungen) und die subjektiven Wahrnehmungsprozesse mit in die Analyse einbezogen werden, denn Übergangsphasen weisen zum Teil widersprüchliche Anforderungen in unterschiedlichen Lebensbereichen auf und sind daher als komplexe Veränderungsprozesse zu verstehen, die sich durch ein hohes Maß an Reflexivität auszeichnen und unterschiedlich erlebt und bewertet werden und demnach verschiedene Entwicklungsverläufe nehmen können. Transitionsprozesse verlaufen daher weder linear noch kausal und beinhalten auch keinen Zielzustand im Sinne eines erfolgreich abgeschlossenen Übergangs. Schließlich vollziehen sich diese Übergänge viertens in einem Spannungsfeld zwischen individuellem Handeln und gesellschaftlichen Strukturen. Diese Einsichten machen ergänzend deutlich, worauf zu achten ist, um die Veränderungen des Medienhandelns durch Transitionsprozesse nachzuvollziehen. So lassen sich mit Hilfe der Strukturmerkmale von Transitionen wichtige Fragen aufwerfen, um die Veränderung des Medienhandelns zu ergründen: Welchen Einfluss hat die Veränderung des sozialen Kontexts? Welche Rolle spielt die Verlusterfahrung in der neuen Lebenssituation? Was bedeutet es, wenn sich verschiedene Übergangserfahrungen überblenden? Wie werden die Alltagsveränderungen von den Individuen selbst gedeutet und welche neuen Daseinsthematiken entstehen im Zuge des Übergangs? Relativ unpräzise bleibt im Transitionskonzept allerdings, wie genau eine systematische Analyse erfolgen soll. Wie lässt sich beispielsweise der Wandel des sozialen Beziehungsgeflechts greifen oder wie können Verlusterfahrungen systematisch identifiziert werden? Diese Lücke eines einheitlichen Begriffsinstrumentariums lässt sich durch die in Kapitel 4 erläuterte interdimensionale Perspektive auf die Lebensführung schließen. Dies soll im Folgenden in der Zusammenführung der vier theoretischen Perspektiven gezeigt werden.
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Zusammenführung: Alltagsveränderungen als Antriebsfaktoren für Dynamik im Medienrepertoire – Prinzipien für die empirische Analyse Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit zielt auf die Verwobenheit von Alltagsund Medienhandeln, die im Zuge von Alltagsumbrüchen wie Elternschaft, Trennung oder Renteneintritt untersucht werden soll. Ein Alltagsumbruch wird als Transitionsprozess verstanden, der unter dem spezifischen Blickwinkel des Wandels der alltäglichen Lebensführung analysiert wird. In diesem Verständnis wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit vorwiegend der Begriff Alltagsumbruch verwendet. Es wird davon ausgegangen, dass Alltagsveränderungen zu einem Wandel der Mediennutzung führen, weil die Sinnhaftigkeit der Mediennutzung unter den veränderten Alltagsbedingungen neu ausgehandelt wird. Für die empirische Analyse lassen sich aus dem Mediatisierungs- und Domestizierungsansatz sowie dem Konzept der alltäglichen Lebensführung und dem Transitionskonzept (siehe Kapitel 2 bis 5) fünf handlungsleitende Prinzipien extrahieren. Diese eröffnen eine Perspektive für eine alltagskontextualisierte Medienforschung, in der die Veränderungen des Alltags im Zuge von Alltagsumbrüchen systematisch und präzise mit Veränderungen des Medienhandelns in Beziehung gesetzt werden können. Es handelt sich dabei um die folgenden fünf Prinzipien: 1. Ganzheitlichkeit: Damit ist gemeint, dass sowohl die alltägliche Lebensführung als auch das darin eingelagerte Medienhandeln aus einer holistischen Perspektive fokussiert werden müssen. Nur wenn sämtliche Tätigkeiten innerhalb der für eine Person relevanten Lebensbereiche abgedeckt sind und nur wenn das gesamte Medienrepertoire Berücksichtigung findet, lässt sich der Wandel des Medienhandelns im Zuge von Alltagsumbrüchen schlüssig und vollständig erfassen. Andernfalls bleiben relevante Zusammenhänge zwischen Alltagsveränderung und Dynamik im Medienrepertoire unentdeckt. Medien werden
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dabei in Anlehnung an den Domestizierungs- und Mediatisierungsansatz einerseits als technische Objekte und andererseits als Träger symbolischer Inhalte verstanden. 2. Kontextorientierung: Mit dem Prinzip der Ganzheitlichkeit ist auch schon das zweite Prinzip angesprochen, denn im Kontrast zu medienzentrierten Perspektiven wird berücksichtigt, dass Medienrezeption stets in Alltagssituationen eingebettet ist. Medien werden immer vor dem Hintergrund der spezifischen Lebenssituation angeeignet und entfalten ihre Bedeutung und ihre Sinnhaftigkeit erst in Beziehung zu den Tätigkeiten innerhalb der verschiedenen Lebensbereiche. Die Lebensführung eines Menschen ist somit ein zentraler und bedeutungsvoller Kontext der Nutzung von Medien. Im Zuge eines Alltagsumbruchs verändert sich die Lebensführung auf vielschichtige Weise und stößt – so die These dieser Arbeit – Dynamik im Medienrepertoire an. Der Wandel der Lebensführung wird dabei interdimensional erfasst, d. h. die Alltagsveränderungen werden in die Dimensionen zeitlich, räumlich, inhaltlich, sozial, sinnhaft, materiell, emotional und körperlich systematisiert, wobei weitere Dimensionen als die hier genannten relevant sein können. Auf diese Weise können Alltagsveränderungen präzise mit der Dynamik im Medienrepertoire in Beziehung gesetzt werden. Inwiefern verändert sich beispielsweise das Medienhandeln, wenn mit einer Schwangerschaft eine neue Daseinsthematik entsteht (inhaltlich) oder welche Folgen ergeben sich aus einer Auflösung der Arbeitsteilung im Zuge einer Trennung (sozial)? Ein weiterer Vorteil ist, dass so die methodische Herausforderung gelöst werden kann, dass sich verschiedene Umbrüche zeitgleich überblenden und sich gegenseitig beeinflussen, wenn beispielsweise der Berufsbeginn mit einem Umzug und einer Trennung einhergeht. Denn die Alltagsveränderungen im Zuge der verschiedenen Umbrüche lassen sich so systematisch interdimensional nachzeichnen. In Anlehnung an die Strukturdimensionen lässt sich ein Alltagsumbruch konkretisieren als ein vielschichtiges Ereignis, das unmittelbar in mehreren Dimensionen der alltäglichen Lebensführung tiefgreifende Umstrukturierungen erforderlich macht. Dazu zählen Ereignisse wie eine neue Partnerschaft, die Geburt eines Kindes oder auch der Beginn der Rente. Relevant ist ein Alltagsumbruch, wenn er mit einer Dynamisierung des Medienhandelns in Zusammenhang steht. In diesem Fall kann von einem medienrelevanten Alltagsumbruch gesprochen werden. 3. Prozessorientierung: Dem Erkenntnisinteresse dieser Arbeit ist eine Prozessperspektive inhärent, weil sich die Veränderung des Medienhandelns im Zuge von Alltagsumbrüchen nur im zeitlichen Verlauf untersuchen lässt.
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In der empirischen Analyse muss demnach Wandel erfasst werden. Dieser konstituiert sich als Zusammenspiel von Dynamik und Beharrung, weil Wandel einerseits schubhafte Veränderungen im Medienrepertoire umfasst sowie andererseits das Festhalten an bewährten Medienpraktiken beinhaltet. Im Fokus dieser Arbeit stehen die dynamischen Prozesse und damit die Veränderung des Medienhandelns nach einem Alltagsumbruch. In der empirischen Analyse gilt es, die Prozessorientierung in zwei Schritten umzusetzen: Erstens muss erfasst werden, inwiefern sich die Alltagsstruktur verändert. Zweitens muss untersucht werden, wie und warum das Medienhandeln an die veränderte Alltagsstruktur angepasst wird. 4. Offenheit der Entwicklungsrichtung: Alltagsumbrüche dürfen weder als lineare Phasen begriffen werden noch darf von einem Determinismus zwischen Alltagsveränderung und einer spezifischen Dynamik im Medienrepertoire ausgegangen werden, denn es gibt nicht den Alltagsumbruch mit dem Effekt auf das Medienhandeln. Menschen gehen mit ähnlichen Alltagsveränderungen eigensinnig um und wägen in diesem Zusammenhang auch immer ab, welche Handlungsoptionen sie wahrnehmen wollen und welche Medien sie für ihre Alltagsgestaltung als sinnvoll empfinden. So kann eine Person, die in eine ‚unbekannte‘ Gegend gezogen ist, beispielsweise jeden Abend zum Zeitvertreib Fernsehen schauen oder aber aktiv mittels sozialer Medien nach neuen Kontakten suchen. Das Konzept betont also gerade die Offenheit der Entwicklungsrichtung, denn es gibt keinen linearen und deterministischen Kausalzusammenhang wie ‚die Geburt eines Kindes führt automatisch zu dieser und jener Veränderung der Mediennutzung‘; vielmehr wird die eigensinnige und sinnhafte Aneignung betont. Gleichwohl lassen sich mögliche Antriebsfaktoren ausmachen, die die Entwicklungsrichtung maßgeblich prägen. Dazu gehören die Bedürfnisse, Daseinsthematiken, Entfaltungschancen und Zwänge, die sich im Verlauf der Übergangsphase herauskristallisieren. Relevant ist zudem, dass die Veränderungen des Alltags immer vor dem Hintergrund der vorherigen Lebenssituation erlebt werden, d. h. die Verlusterfahrung beeinflusst in erheblichem Maße das Erleben des Umbruchs und die damit zusammenhängende Anpassung des Medienhandelns an die neue Lebenssituation. 5. Nutzerzentrierung: Da der Umgang mit den Alltagsveränderungen und die Anpassung des Medienhandelns an die neue Lebenssituation eine eigensinnige und aktive Konstruktionsleistung der Person ist, erschließt sich der Sinn vollends nur aus einer Nutzerperspektive. Daher gilt es, das methodische Vorgehen so anzulegen, dass die im Medienrepertoire ausgelöste Dynamik aus Sicht der Nutzer*innen nachvollzogen werden kann.
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Eine Analyse, die diese fünf Prinzipien berücksichtigt, liefert tiefgehende Einsichten zur Verwobenheit von Alltagshandeln und Medienhandeln. Über die Analyse der Alltagsveränderungen im Sinne von Antriebsfaktoren für Dynamik erhält man Aufschluss über die Hintergründe des Wandels der Mediennutzung im Laufe des Lebens. Es ist somit möglich, Muster empirisch herauszuarbeiten, ob und warum Medien vor dem Hintergrund sich verändernder Kontextbedingungen sinnvoll bleiben, ihre Sinnhaftigkeit verändern bzw. verlieren oder ob bisher nicht genutzte Medien(angebote) sinnvoll werden. Modellhaft lässt sich das Erkenntnisinteresse dieser Acrstellen (siehe Abb. 6.1):
Abb. 6.1 Analysemodell: Dynamik im Medienrepertoire im Zuge von Alltagsumbrüchen. (Quelle: Eigene Darstellung)
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Forschungsstand
In diesem Kapitel wird der Forschungsstand aufgearbeitet. Studien, die explizit den Zusammenhang zwischen Alltagsveränderung und Dynamik im Medienrepertoire im Kontext von Alltagsumbrüchen erforscht haben, gibt es in der Kommunikationswissenschaft kaum. Zu nennen sind hier lediglich Augustin (2015), Berger und Schönberger (2016), Gauntlett und Hill (1999), Karnowski (2003), Manceron et al. (2001) sowie van Eimeren et al. (2017). Diese Studien sind besonders dicht am Erkenntnisinteresse dieser Arbeit und liefern somit wichtige Einsichten. Sie werden in Abschnitt 7.1 diskutiert. Neben diesen Studien, die explizit Alltagsumbrüche fokussieren, lassen sich auch Einsichten aus alltagsbezogenen und biografischen Medienstudien entwickeln. Diese interessieren sich zwar nicht ausdrücklich für die Beziehung zwischen tiefgreifenden Alltagsveränderungen und dem damit zusammenhängenden Wandel des Medienhandelns, aber die Bedeutung von Alltagsumbrüchen wird implizit in den Befunden dieser Studien sichtbar, weil der Wandel der Mediennutzung im Kontext lebensweltlicher Veränderungen oder biografischer Verläufe stets auch mit Übergängen im Leben eines Menschen in Zusammenhang steht. Die impliziten Befunde aus den alltagsbezogenen und biografischen Medienstudien werden in Abschnitt 7.2 diskutiert. Es hat sich aufgrund der Varianz der Studien (Fokussierung unterschiedlicher Alltagsumbrüche und Medien sowie verschiedene theoretische und methodische Vorgehensweisen) als vorteilhaft erwiesen, die Studien einzeln vorzustellen und nicht etwa den Versuch zu unternehmen, die Einsichten nach Alltagsumbrüchen wie dem Renteneintritt oder der Geburt eines Kindes zu systematisieren. Gleichwohl werden die konkreten Befunde zu den einzelnen Alltagsumbrüchen später im Befunde-Kapitel dieser
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7 Forschungsstand
Arbeit mit den eigenen Einsichten zu den jeweiligen Alltagsumbrüchen in Beziehung gesetzt. Grundsätzlich zielt die Aufarbeitung des Forschungsstandes in diesem Kapitel darauf ab, übergreifende Einsichten zur Erforschung von Alltagsumbrüchen und der Veränderung des Medienhandelns zu analysieren. Diese Einsichten werden in Abschnitt 7.3 diskutiert.
7.1 Studien zum Zusammenhang von Alltagsumbrüchen und Medienhandeln In diesem Kapitel werden die Studien besprochen, die explizit die Veränderung der Mediennutzung nach einem Alltagsumbruch erforscht haben. Während Augustin (2015), van Eimeren et al. (2017) sowie Berger und Schönberger (2016) jeweils einen spezifischen Alltagsumbruch fokussiert haben, wurden bei Gauntlett und Hill (1999) sowie bei Karnowski (2003) verschiedene Alltagsumbrüche untersucht. Die Studien variieren in ihrem methodischen Vorgehen und sind damit mehr oder weniger bedeutsam für diese Arbeit, die sich aus einer Prozessperspektive besonders für die Hintergründe von Dynamik im gesamten Medienrepertoire aus Nutzerperspektive interessiert (siehe Kapitel 6). Einige Studien untersuchen beispielsweise ‚nur‘ einzelne Medien(dienste) und somit nicht das gesamte Medienrepertoire und wiederum andere analysieren ‚nur‘ Nutzungsdaten und liefern somit keine Befunde zu den Hintergründen des Wandels aus Nutzerperspektive. Gleichwohl ist die Analyse sämtlicher Studien aufschlussreich. Eine besonders wichtige und aufschlussreiche Publikation für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit ist die Studie von Gauntlett und Hill (1999) zum Wandel der Fernsehnutzung. In ihrer qualitativen Panel-Studie TV Living haben sie die Fernsehnutzung im Alltag untersucht. Dazu ließen sie von 1991 bis 1996 etwa 500 Personen wiederholt Medientagebücher ausfüllen.1 Ein wichtiges Erkenntnisinteresse bezog sich dabei auf die Veränderung der Fernsehnutzung im Lebensverlauf („life course“). Im Kapitel „Transitions and change“ beschreiben sie eindrücklich – wenn auch wenig systematisch –, wie die Studienteilnehmer*innen ihre Fernsehnutzungsmuster im Zuge einschneidender Lebensveränderungen („life changes“) wie Arbeitslosigkeit, Umzügen, Trennungen oder Scheidungen veränderten. In den Medientagebüchern bringen sie dafür verschiedene Gründe zum Ausdruck.
1Von
den 509 Studienteilnehmer*innen zu Beginn des Projekts nahmen bis zum Schluss 427 teil. Insgesamt füllten diese jeweils 15 Medientagebücher aus.
7.1 Studien zum Zusammenhang von Alltagsumbrüchen …
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Die Verknappung ihrer Zeitressourcen mit Beginn der Berufstätigkeit oder mit einer gestiegenen Belastung im Beruf führte bei einigen Personen zu einer geringeren Fernsehnutzung und damit zusammenhängend auch zu einer gezielteren Programmauswahl. Im Kontrast zur Verringerung der Fernsehrezeption gab es aber auch eine Person, die nach ihrem Berufsbeginn mehr Fernsehen schaute. Im Medientagebuch bringt sie dies vor allem mit ihrem dafür notwendigen Umzug in Zusammenhang, sodass ihr Familien- und Freundeskreis von nun an weit von ihrem Wohnort entfernt war. „TV became a major part of my life – in fact my days revolved around it. I started my new job and career in October. I spend most evenings now with the TV on and watch a lot more than I did when I was at Uni. Most of my friends and my boyfriends all live miles away and I only see them at the weekends so my evenings are my own to veg out, eat and watch TV.“ (Gauntlett und Hill 1999, S. 94)
Um die fehlenden Kontakte im sozialen Nahbereich auszugleichen, war Fernsehen von nun an also eine willkommene Freizeitgestaltung am Abend. In gewisser Hinsicht gab der Befragten das Fernsehen somit Stabilität in ihrem von tiefgreifenden Alltagsveränderungen durchzogenen Leben. Die Veränderung des häuslichen Umfelds nach dem Auszug aus dem Elternhaus führte bei einer anderen Person dazu, dass sie nun den Fernseher als Hintergrundgeräusch konstant einschaltete, damit sie sich nicht so alleine fühlte. Zuvor hatte sie zuhause gewöhnlich Musik auf ihrem Zimmer gehört, auch um sich von ihren Eltern abzugrenzen (vgl. Gauntlett und Hill 1999, S. 95). Bei einigen Studienteilnehmer*innen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, entwickelte der Fernseher eine hohe Bedeutung für die Alltagsgestaltung, weil sie nun über wenig Geld, aber viel Zeit verfügten: „For the unemployed, television often had a special importance as a relatively cheap source of entertainment, as well as being valued for new and information, and – for some – a sense of connection to the outside world.“ (Gauntlett und Hill 1999, S. 97) Es gab aber auch Personen, bei denen der Verlust der Berufstätigkeit nicht zu einem Anstieg der Fernsehrezeption führte. Dass die Beziehungskonstellation einen wichtigen Einfluss auf die Fernsehnutzung haben kann, zeigt sich bei einem arbeitslosen Paar, das in der Zeit der Arbeitslosigkeit intensiv Fernsehen schaute. Nachdem der Mann wieder ins Berufsleben einstieg, veränderte sich das Rezeptionserleben der Frau: „Ironically, once her husband had started working again, this diarist felt more guilty about daytime viewing, and, if she switch it on, would feel compelled to ‚dust or tidy up‘ at the same time.“ (Gauntlett und Hill 1999, S. 100) Des Weiteren kann der Beginn einer neuen Beziehung, so zeigen die Medientagebücher, zu partnerschaftlichen Aushandlungsprozessen über die Programmwahl führen, sodass die
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7 Forschungsstand
neuen Partner mit neuen Inhalten in Kontakt kommen, während bisherige Lieblingsprogramme an Bedeutung verlieren. Solche Aushandlungsprozesse können durchaus konfliktbehaftet sein (vgl. Gauntlett und Hill 1999, S. 101–103). In emotionalen Krisen wie nach einer Trennung kann eine intensive Fernsehrezeption zudem die Funktion übernehmen, sich von der Krise abzulenken: „Life after divorce or separation is not always easy […]. During this period TV can became a ‚visual anti-depressant‘, and a primary source of companionship.“ (Gauntlett und Hill 1999, S. 108) Insgesamt zeigen sich in dieser Studie also zahlreiche Anknüpfungspunkte, um die Verwobenheit von Alltagshandeln und Medienhandeln im Kontext von Alltagsumbrüchen zu untersuchen. Mit ihrer Publikation BlogLife hat Augustin (2015) ebenfalls eine sehr informative Studie veröffentlicht. Sie befasst sich mit der Bedeutung von Weblogs im Kontext von Auslandsaufenthalten von Studierenden. Das Führen eines Weblogs begreift sie dabei als Bewältigungsstrategie dieses aus ihrer Sicht kritischen Lebensereignisses. Konkret hat sie von 2009 bis 2011 mit 17 Studierenden verschiedener Studienrichtungen (acht Frauen und neun Männer), die während ihres Auslandssemesters ein Weblog betrieben haben, Leitfadeninterviews geführt. Die Interviews führte sie nach dem Auslandsaufenthalt und somit retrospektiv. Die Durchführung der Studie war dabei angelehnt an die Grounded Theory nach Strauss und Corbin (1966). Als zentralen Befund identifizierte sie drei Schlüsselkategorien, die die Sinnhaftigkeit eines Weblogs im Rahmen eines Auslandssemesters beschreiben: Öffentlichkeit herstellen, Beziehungen gestalten sowie Schreiben und Bewältigen (vgl. Augustin 2015, S. 176–181). Insgesamt zeigt die Studie eindrucksvoll die Potentiale eines Weblogs bei der Bewältigung eines Auslandsaufenthalts auf. So kann das Weblog zum einen dabei helfen, räumliche Distanzen zum sozialen Nahbereich zu überbrücken. Zum anderen kann es das Einleben in ein neues unbekanntes Umfeld erleichtern. „Die Interviewpartnerlnnen berichten vielfach von Angst vor sozialer Isolation und dem Ungewissen sowie von Gefühlen der Langeweile in der ersten Zeit des Auslandsaufenthalts. Sprachliche Barrieren und mangelndes Orientierungswissen in einem anderen kulturellen Umfeld irritieren und verunsichern. Das Weblog wird in der Anfangszeit des Auslandsaufenthalts von den Studierenden verstärkt genutzt. Es dient als Mittel zur Überbrückung von Langeweile und in einer Phase der Orientierung als virtuelle Brücke nach Hause, um in Kontakt mit dem sozialen Umfeld zu bleiben, was den Interviewpartnerlnnen ein Gefühl der Sicherheit vermittelt.“ (Augustin 2015, S. 135)
In der Studie wird auch deutlich, wie sich die Bedeutung des Weblogs im Laufe des Auslandsaufenthaltes verschiebt. Ist es zu Beginn besonders wichtig, so
7.1 Studien zum Zusammenhang von Alltagsumbrüchen …
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verliert es bei den Interviewten im Verlauf des Aufenthalts an Bedeutung, weil „sie zunehmend sozial integriert sind und neues Orientierungswissen aufgebaut haben“ (Augustin 2015, S. 170–171). Spätestens nach der Rückkehr ins Heimatland wird das Weblog zumeist bedeutungslos, weil es dann nicht mehr als sinnvoller Mediendienst empfunden wird. Interessant ist zudem, dass der Auslandsaufenthalt die Nutzung eines digitalen Medienangebots und damit zusammenhängend die Aneignung von Medienkompetenz anstößt, weil in ihrer Lebenssituation das Weblog neue und sinnvolle Handlungsoptionen eröffnet. Van Eimeren et al. (2017) haben in ihrer Studie Gruppendiskussionen mit 33 Berufseinsteigern im Alter zwischen 20 und 29 Jahren geführt. Dabei untersuchten sie „welchen Einfluss der Einstieg ins Berufsleben auf die persönlichen Mediennutzungsroutinen hat.“ (van Eimeren et al. 2017, S. 16) Insgesamt führten sie zwei Gruppendiskussionen mit Personen, die zuvor eine Ausbildung absolvierten sowie zwei Gruppendiskussionen mit Personen, die zuvor studiert hatten. Voraussetzung für die Teilnahme war, dass die Personen seit mindestens acht und höchstens 24 Monaten im Beruf tätig sind. Methodisch relevant ist, dass sie den Wandel der Mediennutzung vor und nach dem Berufseinstieg (wie Augustin) retrospektiv erfasst haben, d. h. die Studienteilnehmer*innen mussten in der Gruppendiskussion selbst einschätzen, inwiefern sich ihre Mediennutzung verändert hat. Die Autor*innen der Studie reflektieren selbst, dass ein solches Vorgehen nicht unproblematisch ist, weil „Erinnerung immer selektiv und durch spätere Erfahrungen und Deutungsmuster verzerrt sein kann.“ (van Eimeren et al. 2017, S. 21) Gleichwohl konnten sich die Teilnehmer*innen ihrem Eindruck nach „differenziert erinnern und spezifische Veränderungen an der eigenen Mediennutzung wahrnehmen und begründen“, sodass sie letztlich „klare Muster“ identifiziert haben (van Eimeren et al. 2017, S. 21). Die Befunde sind aus Sicht des Erkenntnisinteresses dieser Arbeit an einigen Stellen weniger relevant, weil nur selten die Alltagsveränderungen durch den Berufseinstieg konkret mit einer veränderten Mediennutzung in Beziehung gesetzt werden. Häufig wird nur allgemein das Nutzungsverhalten von jungen Erwachsenen im Beruf beschrieben. Die Passagen, die konkret auf den Wandel abheben, sind aber durchaus aufschlussreich. Grundsätzlich erlebten die Studienteilnehmer*innen den Berufseinstieg ambivalent: „Einerseits genießen sie den Zugewinn an persönlicher Freiheit, finanziellem ökonomischem Spielraum und persönlicher Verantwortung […]. Andererseits leiden viele Berufseinsteiger unter der stärkeren Fremdbestimmtheit, Strukturiertheit des Alltags und dem Stress im Job.“ (van Eimeren et al. 2017, S. 21)
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7 Forschungsstand
Mit Bezug auf das Medienhandeln ist gut herausgearbeitet, dass der Wandel des Tagesrhythmus durch den Berufseinstieg Dynamik im Medienrepertoire ausgelöst hat. So schauen die Studienteilnehmer*innen im Vergleich zur Ausbildungs- bzw. Studienzeit seit dem Berufsbeginn Fernsehen zu anderen Zeiten. Teils wird das Fernsehprogramm auch gezielter und bewusster rezipiert und teils hat sich das Rezeptionsmotiv verändert, weil beispielsweise früher aus Langeweile Fernsehen geschaut wurde, nun aber nur noch zum Abschalten oder als Einschlafhilfe. Bei einem Großteil sind kostenpflichtige Video-on-Demand-Angebote wichtiger geworden, auch weil die Befragten einen größeren finanziellen Spielraum besitzen und sich diese Angebote und entsprechende Geräte nun leisten können. Vor allem besitzen On-Demand-Angebote für die Berufstätigen eine hohe Bedeutung, weil es durch den Berufsalltag schwierig(er) ist, sich an die Zeitvorgaben der Fernsehsender zu halten, denn Streamingdienste bieten den Vorteil, dass die Inhalte beliebig oft unterbrochen und jederzeit weiter angeschaut werden können. Zudem steht dort eine größere Auswahl zur Verfügung. Gleichwohl ist lineares Fernsehen weiterhin für sie wichtig, beispielsweise um sich von der anstrengenden und erschöpfenden Berufsarbeit zu erholen oder um abzuschalten. So ordnet beispielsweise eine Studienteilnehmer*innen ein: „Oft bin ich abends einfach so kaputt, dass ich nur noch Trash-TV schaue, weil ich zu etwas Anspruchsvollerem gar nicht mehr in der Lage bin.“ (vgl. van Eimeren et al. 2017, S. 22) Zudem ist lineares Fernsehen bei Live-Events wie Sportereignisse wichtig und oft ist es in die Routinen des Alltags eingebunden, die auch nach dem Berufseintritt sinnvoll bleiben, wie das Schauen des Tatorts mit der gesamten Familie (vgl. van Eimeren et al. 2017, S. 22–23). Im Kontrast zu den drei bereits vorgestellten qualitativ orientierten Studien wählte Karnowski (2003) in ihrer Studie Von den Simpsons zur Rundschau einen quantitativen Zugang. Auf Basis des Datenmaterials des AGF/GfK-Fernsehpanels untersuchte sie, wie sich die Fernsehnutzung im Laufe des Lebens verändert. Ein wichtiges Erkenntnisinteresse der Studie lag dabei auf dem Wandel der Fernsehnutzung nach Wendepunkten2. Karnowski wertete dazu Daten von 849 Personen des jeweils 1. Quartals von 1994 bis 2001 aus. Mittels hierarchischer Regressionsanalyse konnte sie zeigen, dass sich die Fernsehnutzung nach einigen
2Mit Hilfe des jährlich abgefragten Strukturfragebogens ermittelte sie insgesamt zehn verschiedene Wendepunkte: Aufnahme einer Berufstätigkeit, Beginn einer ‚Wilden Ehe‘, Heirat, Geburt des ersten Kindes, Wechsel von einem Teilzeit- zu einem Vollzeitarbeitsverhältnis, beruflicher Aufstieg, letztes Kind verlässt die Schule, letztes Kind verlässt den Haushalt, Verrentung, Scheidung oder Tod des Ehepartners (vgl. Karnowski 2003, S. 68–69).
7.1 Studien zum Zusammenhang von Alltagsumbrüchen …
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Wendepunkten signifikant änderte: So stellte sie zum Beispiel fest, dass nach der Aufnahme einer Berufstätigkeit die Fernsehnutzungsdauer bei den Studienteilnehmer*innen insgesamt zurückging, obwohl die Fernsehnutzung am Wochenende anstieg. Nach der Geburt eines Kindes verschob sich die Nutzungszeit von 18–20 Uhr auf 20–23 Uhr. Ein Anstieg der Fernsehnutzung war nach dem Auszug des letzten Kindes aus dem Haushalt zu verzeichnen und die Verrentung ging mit einer generellen Zunahme der Fernsehnutzung einher, die sich aus der erhöhten Nutzung an Werktagen ergab, weil am Wochenende die Nutzung der Rentner*innen nachließ. Untermauert wird in den Befunden aber auch die Beharrungskraft der Fernsehnutzungsmuster, die sich laut der Daten bei einigen Wendepunkten nicht drastisch veränderte (vgl. Karnowski 2003, S. 76–122). Allgemein wird an dieser Studie offensichtlich, dass das quantifizierende Vorgehen gut geeignet ist, um übergreifende Tendenzen zu erfassen. Allerdings gehen damit auch Ungenauigkeiten einher: Erstens gehen Unterschiede zwischen den Fällen bei der Regressionsanalyse verloren, zweitens werden sehr grobe Zeiträume untersucht, sodass Feinheiten der Veränderung des Medienhandelns nicht analysiert werden können, und drittens können die Hintergründe für die Veränderung der Mediennutzung nicht aus Nutzerperspektive erläutert werden. Dies wird insbesondere dann deutlich, wenn es um die Interpretation der Befunde geht, denn diese können ausschließlich anhand der statistischen Signifikanzen erklärt werden. An vielen Stellen lassen sich daher nur Vermutungen darüber aufstellen, warum die Menschen ihre Fernsehnutzung verändert haben. Sehr gelungen ist allerdings die Nutzung von Panel-Daten, die es ermöglichen, die konkrete Veränderung der Mediennutzung der Studienteilnehmer*innen nachzuzeichnen. Berger und Schönberger (2016) interessierten sich in ihrer Studie für den Wandel der Mediennutzung im Zuge des Renteneintritts. Sie fragen sich, welche Medien die Neu-Rentner*innen zur Bewältigung der Pensionierung nutzen und inwiefern dies zu Veränderungen im Medienrepertoire führt. Zur Beantwortung ihres Erkenntnisinteresses führten sie sechs Leitfadeninterviews mit Rentner*innen aus unterschiedlichen Berufsfeldern, die seit mindestens einem halben Jahr und höchstens fünf Jahren pensioniert sind. Sie erhoben den Wandel demnach ebenfalls retrospektiv (Berger und Schönberger 2016, S. 2–8). Auch in dieser Publikation wird in einem Großteil der Befunde eher allgemein das Nutzungsverhalten der Rentner*innen beschrieben und nicht – im Sinne des Erkenntnisinteresses dieser Arbeit – auf den Wandel abgehoben. Gleichwohl gibt es eine kurze Passage, die Aufschluss über die Beziehung zwischen Alltagsveränderung und Dynamik im Medienrepertoire geben soll. Die Autorinnen stellen allerdings fest, dass die Interviewten „im Wesentlichen […] dieselben Medien“ wie zur Zeit ihrer Berufstätigkeit nutzen (Berger und Schönberger 2016, S. 15). Teils änderten sich die
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7 Forschungsstand
Tätigkeiten mit dem Internet, weil berufsbezogene Anwendungen oder technische Zugänge wegfielen. Eine Interviewte, die ihre private Onlinenutzung zuvor immer am Firmen-PC erledigte hatte, kaufte sich beispielsweise nach dem Renteneintritt einen Laptop, um zuhause online gehen zu können. Auch zusätzliche Zeitressourcen, die sich aus dem Renteneintritt ergeben haben, stehen teils mit einer Veränderung der Mediennutzung in Zusammenhang, wie etwa einer längeren morgendlichen Zeitungsrezeption. Allerdings werden diese „nur zum Teil auf die Mediennutzung verwendet […]. Der Großteil der nun zusätzlich zur Verfügung stehenden Zeit entfällt auf Freizeitaktivitäten, wie dem Nachgehen der eigenen Hobbys.“ (Berger und Schönberger 2016, S. 15) Allgemein deutet sich in dieser Studie besonders deutlich an, wie es schwierig sein kann, Veränderungen durch einen subjektiven Rückblick zu erfassen, weil die Interviewten nicht ohne weiteres bewusst reflektieren können, wie sich ihre Mediennutzung verändert hat. So ist es durchaus wahrscheinlich, dass sich bei den Interviewten weitere Veränderungen ergeben haben, die ihnen nicht bewusst sind und die sie somit nicht artikulieren können. Manceron et al. (2001) untersuchten die Telefonnutzung nach der Geburt des ersten Kindes. Dazu führten sie jeweils mit 16 jungen Eltern ein Interview, die ein 0–3, 9–12 bzw. 12–18 Monate altes Kind hatten. Zudem befragten sie die Studienteilnehmer*innen schriftlich. In ihren Befunden zeigt sich ein deutlicher Wandel der Telefonnutzung der jungen Eltern, der insbesondere mit einem Wandel des Tagesrhythmus zusammenhängt, der seit der Geburt vorwiegend vom Kind diktiert wurde. Drei Monate vor der Geburt äußerten die Studienteilnehmer*innen einen deutlichen Anstieg ihrer Telefonnutzung. 12 Wochen nach der Geburt hatte sich diese wieder auf das vorherige Niveau reduziert. Danach nahm ihre Telefonnutzung stetig weiter ab. Während der Kontakt zum Freundeskreis insgesamt deutlich reduziert wurde und sich insbesondere auf die Personen beschränkte, die ebenfalls Kinder hatten oder Rücksicht auf die neuen Umstände nahmen, kontaktierten die jungen Eltern ihre Familie nun häufiger als noch vor der Geburt. Oft ging es dabei um organisatorische Absprachen zur Betreuung des Kindes (Manceron et al. 2001 zit. n. Haddon 2004, S. 125–126).
7.2 Alltagsbezogene und biografische Medienstudien: Implizite Befunde Neben den Studien, die explizit Alltagsumbrüche erforscht haben, lassen sich – wie bereits einleitend ins Kapitel erläutert – auch Einsichten zum Erkenntnisinteresse dieser Arbeit aus alltagsbezogenen und biografischen Medienstudien entwickeln.
7.2 Alltagsbezogene und biografische Medienstudien: Implizite Befunde
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Alltagsbezogene oder auch lebensweltbezogene Medienforschung lässt sich charakterisieren als Analyseperspektive, die „medienbezogenes kommunikatives Handeln […] stets in der Lebenswelt der Handelnden verortet und […] kommunikatives Handeln, ob medial vermittelt oder nicht, stets im Kontext“ untersucht (Paus-Hasebrink/Trültzsch-Wijnen/Hasebrink o. J.) Der medienbiografische Ansatz interessiert sich vorwiegend dafür, wie Medien biografische Verläufe prägen, aber er stellt sich auch „die Frage, […] wie sich Muster der Mediennutzung und Medienaneignung biografisch ausbilden und verändern.“ (Vollbrecht 2015, S. 12) In beiden Perspektiven – der alltagsbezogenen und der biografischen Medienforschung – werden implizit auch Alltagsumbrüche untersucht, auch wenn dabei die konkreten Prozesse der Alltagsveränderung nicht systematisch mit dem Wandel der Mediennutzung in Beziehung gesetzt werden. Im Folgenden werden sieben Studien skizziert, die sich diesen Analyseperspektiven zuordnen lassen. Anhand ihrer Befunde lassen sich wichtige Einsichten für diese Arbeit herausarbeiten. Mit ihrem Buch Fernseh-Zeit hat Neverla 1992 eine interessante, wenn auch ältere Studie veröffentlicht. Sie untersuchte die Mediennutzung explizit unter zeittheoretischen Aspekten und kann eindrucksvoll die enge Verbindung zwischen Alltag und Mediennutzung veranschaulichen. Zur Analyse führte sie zu drei Erhebungszeitpunkten mit 37 Personen qualitative Leitfadeninterviews und ließ von diesen zudem standardisierte Fragebögen und Tagebuchprotokolle ausfüllen.3 Sie zeigt, dass „die befragten Menschen jeweils bestimmte Zeitmuster und Zeitstrategien bei der Bewältigung ihres Alltags und ihrer Biografie einsetzen.“ (Neverla 2007, S. 48) In ihren Befunden unterscheidet sie vier Grundformen von Zeitgestaltungs- bzw. Fernsehnutzungsmustern: Fernsehen als Beschäftigung, Fernsehen als Marginale, Fernsehen als Ritual und Fernsehen als Interim. Jedes dieser Nutzungsmuster ist in einer spezifischen Lebenssituation typisch. Die individuelle Temporalstruktur in der spezifischen Lebenssituation – oder anders ausgedrückt: das Zeiterleben im Alltag – korrespondiert demnach mit einem bestimmten Fernsehnutzungsmuster, wobei die Temporalstruktur in der spezifischen Lebenssituation die Fernsehnutzung nicht determiniert, aber eine Art Grundgerüst bereit stellt, vor deren Hintergrund die Fernsehnutzung ausgestaltet wird (siehe Abb. 7.1).
3Nicht
alle 37 Personen nahmen an allen drei Erhebungszeitpunkten teil. Zur genauen Beschreibung der Stichprobe vgl. Neverla 1992, S. 124–129.
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7 Forschungsstand
Abb. 7.1 Verwobenheit von Lebenssituation, Zeiterleben und Fernsehnutzung. (Quelle: Eigene Darstellung basierend auf den Befunden von Neverla 1992, S. 166–207)
So erschien älteren, alleinlebenden Menschen, aber auch jüngeren Menschen in Phasen der Arbeitslosigkeit oder in psychischen Krisen der Isolation die Alltagszeit oft leer und unausgefüllt. In dieser Lebenssituation war bei den Studienteilnehmer*innen eine intensive Nutzung des Fernsehers als Beschäftigung typisch, um die leere Zeit auszufüllen. Im Kontrast dazu erlebten im Sample insbesondere berufstätige Frauen mit Kindern Zeitknappheit im Alltag. Sie nutzten das Fernsehen typischerweise unter zeitökonomischen Aspekten als Marginale und griffen in besonderem Maße auf Strategien zurück, um Zeit zu verdichten (z. B. durch Parallelnutzung von Medien) oder um Zeit zu dehnen (z. B. durch zeitversetztes Schauen mit Hilfe eines Videorekorders oder durch Vorspulen der Werbung). Auf diese Weise mussten sie trotz der Zeitknappheit nicht auf fernsehen verzichten. Fernsehen als Ritual war hingegen typisch bei Menschen, deren Tagesablauf eine klare Struktur aufwies, beispielsweise in Form von festen Arbeitszeiten und überschaubaren Reproduktionsverpflichtungen. Im Sample betraf dies insbesondere ältere Ehepaare ohne Kinder und mit beschränkter Berufstätigkeit. In diesen wohlstrukturierten Tagesabläufen hatte die Fernsehnutzung einen festen Platz und oftmals den Charakter eines Rituals. Das Schauen der Tagesschau war beispielsweise ein zur Zeit der Untersuchung weit v erbreitetes Ritual, das den Beginn des
7.2 Alltagsbezogene und biografische Medienstudien: Implizite Befunde
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Feierabends symbolisierte. Freiberufliche, Studierende, Tele- oder Schichtarbeiter erlebten ihren Alltag hingegen oftmals als unstrukturiert, zum Beispiel aufgrund wechselnder Arbeitszeitrhythmen. Für sie war die Fernsehnutzung als Interim typisch, da sie im Rahmen ihrer wechselhaften Tagesabläufe den Fernseher – um freie Zeiten im Alltag auszufüllen und um einen Raum für Erholung zu schaffen – flexibel nutzten. Ihr Nutzungsmuster war also vor allem durch die Variation gekennzeichnet. In besonderen, n icht-alltäglichen Phasen wie bei Urlaubsreisen kam es in der Studie zudem häufig vor, dass das Fernsehen überhaupt nicht genutzt wurde (vgl. Neverla 1992, S. 166–207). Auch wenn die Befunde vor dem Hintergrund der Medienentwicklung seit den 1990er Jahren neu beurteilt werden müssten, so machen sie doch deutlich, wie eng die Mediennutzung mit der spezifischen Lebenssituation – hier im Speziellen mit dem Zeiterleben im Alltag – korrespondiert. Diese Einsichten stellen noch einmal die Relevanz des Erkenntnisinteresses dieser Arbeit heraus, denn Alltagsumbrüche wie Arbeitslosigkeit oder die Geburt eines Kindes verändern die wahrgenommene Verfügbarkeit von Zeit und diese Temporalstruktur setzt einen wichtigen Eckpfeiler für die Mediennutzung. So kann die Aufnahme einer Berufstätigkeit nach einer Phase der Arbeitslosigkeit mit einem Wechsel des Zeiterlebens von leerer Zeit zu wohlstrukturierter Zeit einhergehen und damit auch mit einem Wechsel der Fernsehnutzung als Beschäftigung zur Fernsehnutzung als Marginale. Gonser (2010) konnte in ihrer Studie Rundfunkbiographien mittels medienbiografischer Interviews zur Nutzung von Radio und Fernsehen im Lebensverlauf älterer Menschen zeigen, dass die körperliche Konstitution einen entscheidenden Einfluss auf die Mediennutzung hat. Einige der interviewten älteren Menschen wurden aufgrund von gesundheitlichen Einschränkungen häuslicher und nutzten seitdem häufiger Medien als Freizeitbeschäftigung. Des Weiteren erläuterten einige Studienteilnehmer*innen, dass sie, seitdem sie nur noch eingeschränkt Hören konnten, seltener das Radio einschalteten. Als Ersatz schauten sie nun vermehrt Fernsehen. Bei zwei Interviewten waren die Einschränkungen des Hörvermögens sogar so drastisch, dass auch ihre Fernsehnutzung rückläufig war (vgl. Gonser 2010, S. 207–211; 218–220). Müller 2010 führte in ihrer Studie Frauenzeitschriften aus der Sicht ihrer Leserinnen insgesamt 19 qualitative Tiefeninterviews mit Leserinnen der Zeitschrift Brigitte. Bei einigen Interviewten stand der Beginn der Frauenzeitschriftenrezeption in Zusammenhang mit Alltagsumbrüchen und bei anderen veränderte sich die Rezeption nach einschneidenden Alltagsveränderungen. So begann ein Großteil zwischen dem 18. und dem 25. Lebensjahr damit, Frauenzeitschriften zu lesen. Aus Sicht der Nutzerinnen spielt dabei ihre finanzielle
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7 Forschungsstand
Unabhängigkeit eine wichtige Rolle, aber auch der Wunsch, sich nach der Arbeit zu erholen und sich gleichzeitig geschlechtsgebundenes Orientierungswissen für den Übergang zur erwachsenen Frau anzueignen. Auch die Familiengründung initiierte bei drei Frauen einen regelmäßigen Kauf. „Aufgrund der Geburt ihrer Kinder verbrachten sie mehr Zeit zu Hause, sodass die Zeitschrift eine Brücke zur Außenwelt darstellte und dazu diente, sich in ihrem häuslichen Alltag Freiräume zu schaffen. Sie nutzen die Zeitschriften abends, um sich nach der Versorgung der Kinder zu entspannen.“ (Müller 2010, S. 172)
Zudem konnten sie sich in der Zeitschrift über Erziehungsthemen informieren und sich so mit ihrer Elternrolle auseinandersetzen. Eine weitere Leserin intensivierte nach dem Auszug ihrer Kinder ihre Rezeption, weil sie nun über mehr Freiraum verfügte. Auch der Verzicht der Frauenzeitschriftenrezeption stand oftmals mit Alltagsumbrüchen in Verbindung. So begründeten acht Leserinnen das Einstellen ihrer Rezeption mit fehlender Zeit aufgrund von Berufstätigkeit, der Familiengründung, dem Beginn eines Studiums oder dem Hausbau (vgl. Müller 2010, S. 194). Gleichwohl war der Wandel der Frauenzeitschriftenrezeption nach biografischen Brüchen weniger einschneidend als von der Autorin erwartet. Dies liegt möglicherweise auch daran, weil „Brigitte durch ihr breites Querschnittsangebot an Themen diverse Nischen für unterschiedliche Lebensentwürfe und Lebensphasen anbietet“ (Müller 2010, S. 176). In einer separaten Auswertung der medienbiografischen Interview-Daten ihrer Dissertation Kinobesuch im Lebenslauf zeigt Prommer (2009), dass das Ende der kinointensiven Zeit überwiegend mit Alltagsumbrüchen zusammenhängt. Ein Großteil der Studienteilnehmer*innen gab als zentralen Grund für den drastischen Rückgang ihrer Kinobesuche fehlende Zeit an, sei es wegen ihrer Familiengründung (40 %) oder aufgrund beruflicher Veränderungen (25 %). Lediglich 12 % begründeten den Rückgang mit anderen Interessen wie Theaterbesuchen. Auch Hackl (2001) zeigt in ihrer Studie Fernsehen im Lebenslauf, dass Alltagsumbrüche mit der Fernsehnutzung zusammenhängen können. Sie führte insgesamt 96 medienbiografische Leitfadeninterviews zum Wandel der Fernsehnutzungsmuster im Zuge verschiedener Lebensphasen. In den Feinanalysen der Befunde hat sie Porträts von 31 interviewten Personen erstellt, in denen sich die Relevanz von Alltagsumbrüchen andeutet. Eine intensive eskapistische Fernsehnutzung wurde beispielsweise durch den Auszug der Kinder oder durch eine Trennung ausgelöst. Einige der betroffenen Interviewten „flohen zwar kurzzeitig in Medienwelten, beendeten diese Phase aber schnell wieder“, andere hingegen
7.2 Alltagsbezogene und biografische Medienstudien: Implizite Befunde
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flohen „über einen sehr langen Zeitraum in Traumwelten.“ (Hackl 2001, S. 279) Sobald sie allerdings „ihr Leben wieder in den Griff bekamen, ging auch der Fernsehkonsum wieder zurück.“ (Hackl 2001, S. 288) Eine Studienteilnehmerin schaute beispielsweise nach ihrer Trennung intensiv Fernsehen, stellte dies aber mit Beginn einer neuen Partnerschaft wieder ein, weil sie nun mit ihrem neuen Partner gemeinsam viel unternahm (vgl. Hackl 2001, S. 241). Mit Beginn der Rente entwickelte sich der Fernseher für zwei Frauen zu einer Art „Bezugsperson“ (Hackl 2001, S. 324). Sie lebten alleine und verbrachten einen Großteil ihrer neuen Freizeit mit Fernsehen. Bei zwei Männern hingegen, die zuvor im Berufsleben sehr aktiv waren und die auch nach der Rente ein ausgefülltes Familienleben hatten, nahm die Bedeutung des Fernsehers nicht wesentlich zu. Raumer-Mandel (1990) interessierte sich für die Medien-Lebensläufe von Hausfrauen. Sie führte mit insgesamt 10 Frauen im Alter von 55 bis 69 Jahren biografische Leitfadeninterviews und ergänzte die Befunde durch einen standardisierten Fragebogen. Auf diese Weise konnte sie unter anderem typische Entwicklungslinien der Medienbiographien herausarbeiten, die teils auch mit Alltagsumbrüchen in Verbindung stehen. So konstatiert sie zum Beispiel, dass der überwiegende Teil dieser Frauen mit Beginn der Ehe mit der Zeitungsrezeption begann, möglicherweise weil nun ein Tageszeitungsabonnement verfügbar war. Theater und Kino wurden, obwohl das Bedürfnis danach noch vorhanden war, seit der Geburt ihrer Kinder nur noch äußerst selten besucht. Der Fernsehkonsum stieg hingegen mit Eintritt des Partners in die Rente in den meisten Fällen an. Huber (2010) führte eine qualitative Studie zur Mediennutzung von Frauen in Führungspositionen durch. Um die Mediennutzungsmuster und -motive von weiblichen Führungskräften zu untersuchen, wertete sie 16 Leitfadeninterviews von Frauen aus, die in ihrem Beruf über Dispositions- bzw. Entscheidungsbefugnis verfügen. Obwohl alle interviewten Führungskräfte vom Druck berichten, umfassend informiert zu sein, zeigen sich grob zwei sehr unterschiedliche Umgangsweisen mit dem Druck. Huber unterteilt daher die 16 Interviewten in ‚pflichtbewusste Medienvielnutzerinnen‘ sowie in ‚souveräne Medienwenignutzerinnen‘. „Für die pflichtbewussten Medienvielnutzerinnen ist ein Tag ohne Medien nicht vorstellbar. Im Medienmenü dominieren überregionale Abonnementzeitungen, öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten und Nachrichtensender, Polittalks, Nachrichtenmagazine und Special-Interest-Zeitschriften. […] Die souveränen Medienwenignutzerinnen […] nutzen die Medien insgesamt weniger und in diesem Rahmen stärker unterhaltungsorientiert.“ (Huber 2010, S. 292–293)
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7 Forschungsstand
Interessant ist nun, dass sich unter den souveränen Medienwenignutzerinnen – neben älteren Frauen, die mit ihrer beruflichen Position zufrieden sind – einige jüngere Frauen mit Kindern befinden, bei denen „im Laufe ihrer Karriere eine Prioritätenverschiebung zugunsten der Familie stattgefunden hat.“ (Huber 2010, S. 293) Während die pflichtbewussten Medienvielnutzerinnen ihre Mediennutzung am beruflichen Aufstieg ausrichten, hat bei den souveränen Medienwenignutzerinnen die Geburt der Kinder offensichtlich zu einem deutlichen Wandel ihrer Mediennutzung beigetragen. Durch das neue Aufgabenfeld der Kinderbetreuung ist ihre Mediennutzung weniger auf den Beruf fokussiert und mehr auf die Familie ausgerichtet.
7.3 Diskussion und Zusammenfassung Grundsätzlich lässt sich der Zusammenhang zwischen Alltagsumbrüchen und der so angestoßenen Dynamik im Medienrepertoire als ein Desiderat der kommunikationswissenschaftlichen Forschung beschreiben, denn es gibt nur wenige Studien, die explizit diese Beziehung erforscht haben. Gleichwohl zeigen sowohl die wenigen Studien zu Alltagsumbrüchen als auch die alltagsbezogenen und biografischen Medienstudien, wie eng Medienhandeln mit dem Alltag verwoben ist. Wenn Alltagsumbrüche eine so hohe Wirkmacht auf die Art und Weise der Nutzung von Medien besitzen – wie es die Studien größtenteils nahelegen –, dann ist ihre Analyse für die Kommunikationswissenschaft hochgradig relevant, denn sie bietet das Potential, Antriebsfaktoren für Veränderungsprozesse im Medienhandeln zu identifizieren und so die Hintergründe für den Wandel besser zu verstehen. Erst in der Analyse von Alltagsumbrüchen wird umfassend sichtbar, warum Menschen ihre Mediennutzung verändern. Aus den diskutierten Studien lassen sich vier Einsichten zum thematischen und methodischen Vorgehen entwickeln. Erstens wird am Forschungsstand sichtbar, dass es vielfältige alltagsspezifische Antriebsfaktoren gibt, die das Medienhandeln dynamisieren können. Zu den wichtigsten Treibern zählen zeitliche Veränderungen, wenn sich beispielsweise im Zuge des Berufsbeginns, der Geburt eines Kindes, dem Beginn der Arbeitslosigkeit oder dem Renteneintritt die Tagesrhythmen und damit zusammenhängend auch die Mediennutzung verändert. Ebenfalls wichtig sind räumliche Veränderungen, wie die Distanz zum Freundes- und Bekanntenkreis nach einem Umzug oder während eines Auslandsaufenthalts. Auch soziale Veränderungen wie partnerschaftliche Aushandlungsprozesse mit Beginn einer neuen Beziehung haben einen bedeutenden Einfluss
7.3 Diskussion und Zusammenfassung
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auf die Mediennutzung. Relevant sind zudem emotionale Krisen, die sich z. B. aus einer Trennung oder dem Auszug der Kinder ergeben können sowie körperliche Einschnitte wie der Verlust der Hörfähigkeit. Veränderungen der finanziellen Ressourcen mit Beginn der Berufstätigkeit sowie Veränderungen der inhaltlichen Tätigkeiten nach einem Renteneintritt, der Geburt eines Kindes oder dem Berufsbeginn können ebenfalls Dynamik im Medienrepertoire auslösen. Es deutete sich zudem an, dass das Ausmaß der Veränderung nach Alltagsumbrüchen variiert, denn teils haben die Studienteilnehmer*innen ihre Mediennutzung umfassend verändert, teils wirkte sich der Alltagsumbruch eher geringfügig auf die Mediennutzung aus, weil z. B. nach einem Renteneintritt ein Großteil der neu zur Verfügung stehenden Zeit nicht mit Medien gefüllt wurde. Der Wandel der Mediennutzung muss dabei keineswegs von Dauer sein, vielmehr verändert sich das Medienhandeln wieder, wenn die neue Form der Mediennutzung ihren Sinn verliert, z. B. nach überstandener emotionaler Krise oder nach Rückkehr vom Auslandsaufenthalt. Zweitens ist auch deutlich geworden, dass Alltagsumbrüche einen Einfluss auf die Nutzung verschiedener Medien besitzen können, sei es die Nutzung des Telefons, des Radios, des Fernsehers, der Zeitung, des Internets oder des Kinos. Dies unterstreicht nochmals die Notwendigkeit, das gesamte Medienrepertoire in die Analyse einzubeziehen. Drittens lässt sich aus der Darstellung der Befunde einiger Studien ableiten, dass die Alltagsveränderungen konkret mit dem Wandel des Medienhandelns in Beziehung gesetzt werden müssen. Nur so lässt sich dem Erkenntnisinteresse dieser Arbeit gerecht werden und nur so können erhellende Einsichten zur Verwobenheit von Alltags- und Medienhandeln entwickelt werden. Viertens lassen sich in den Studien, die explizit Alltagsumbrüche fokussieren, – jenseits von qualitativen und quantitativen Verfahren – grundsätzlich zwei unterschiedliche methodische Vorgehensweisen unterscheiden: Als idealtypische Variante kann Dynamik im Medienrepertoire im Kontext von Alltagsumbrüchen mit einem Paneldesign erforscht werden, indem mindestens vor und nach einem Alltagsumbruch Daten von den gleichen Studienteilnehmer*innen erhoben werden. Aber auch ein retrospektives Vorgehen ist möglich, indem die Studienteilnehmer*innen subjektiv deuten, inwiefern sich ihr Medienhandeln verändert hat und wie dies in Zusammenhang mit den erlebten Alltagsveränderungen steht. Im Kontrast zum Paneldesign besteht hier aber eine größere Gefahr von Verzerrungen und Ungenauigkeiten, weil die Prozesse schlecht erinnert werden können und oftmals unreflektiert ablaufen.
Teil II Empirische Studie
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Methodisches Vorgehen
In diesem Kapitel wird das methodische Vorgehen in dieser Arbeit konkretisiert. Zunächst wird die empirische Grundlage dieser Arbeit inklusive der methodologischen Eckpunkte erläutert (siehe Abschnitt 8.1). Diese Arbeit stützt sich auf das Datenmaterial der DFG-geförderten Panelstudie „Das mediatisierte Zuhause“, die unter Leitung von Jutta Röser durchgeführt wurde. Diese Studie ist eines verschiedener Forschungsprojekte des Schwerpunktprogramms 1505 „Mediatisierte Welten“, das von der DFG eingerichtet und für sechs Jahre bis 2016 finanziert wurde. Angeschlossen an die Ausführungen zur empirischen Grundlage folgen die Differenzierung der Forschungsfragen (siehe Abschnitt 8.2), die Beschreibung des Samples (siehe Abschnitt 8.3) und der Datenerhebung (siehe Abschnitt 8.4) sowie Erläuterungen zum Auswertungsverfahren (siehe Abschnitt 8.5).
8.1 Zur empirischen Grundlage und zum Hintergrund dieser Studie: Das Projekt „Das mediatisierte Zuhause“ Die Analyse von Alltagsumbrüchen war ein wichtiger Teilaspekt der Gesamtstudie „Das mediatisierte Zuhause“.1 In dem Gesamtprojekt wurden zu vier Erhebungszeitpunkten (2008, 2011, 2013 und 2016) insgesamt 25 Paarhaushalte
1Das
methodische Vorgehen des Gesamtprojekts „Das mediatisierte Zuhause im Wandel“ wurde in Kapitel 3 in Röser et al. 2019 ausführlich beschrieben. Da es sich bei dieser Arbeit um einen Teilaspekt der Gesamtstudie handelt, sind in diesem Buch einige Ausführungen zum methodischen Vorgehen an diese Publikation angelehnt, weil sie zum
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Niemand, Alltagsumbrüche und Medienhandeln, Medien • Kultur • Kommunikation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30738-7_8
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8 Methodisches Vorgehen
qualitativ und ethnografisch-orientiert erforscht. Das Interesse lag allgemein auf den komplexen Prozessen der Domestizierung des Internets und ihren Folgen für den (Medien)Alltag der Paare. Während im ersten Teilprojekt 2008 vorwiegend der Anschaffungsprozess des Internets im Rückblick zwischen 1997 und 2007 rekonstruiert wurde, zielten die drei weiteren Teilprojekte eher darauf ab, spezifischer den Wandel des Medienrepertoires im Zusammenhang mit Veränderungen des häuslichen Alltags und der häuslichen Kommunikationskulturen zu analysieren (vgl. zur näheren Beschreibung der einzelnen Teilprojekte Röser et al. 2019, S. 2, 37–39). Da es sich bei der Domestizierung des Internets um einen komplexen Prozess handelt, der mit vielschichtigen und non-linearen Entwicklungsverläufen verknüpft ist, war eine Fokussierung auf Teilaspekte in Form einzelner Analysefelder unumgänglich. Konkret erwiesen sich über den gesamten Erhebungszeitraum sechs Analysefelder als zentral für die Gesamtstudie (vgl. Röser et al. 2019, S. 42–44): 1. Einzug des Internets in die häusliche Sphäre: Rückblick auf die Anschaffungsprozesse zwischen 1997 und 2007 2. Räumliche Arrangements und häusliche Kommunikationskulturen 3. Das Internet im Medienrepertoire: Koexistenz alter und neuer Medien 4. Alltagsumbrüche als Dynamisierung der häuslichen Mediennutzung 5. Häusliche Geschlechterkonstellationen mit dem Internet im Wandel 6. Häusliche Berufsarbeit mit dem Internet im Zeitverlauf Inwiefern Alltagsumbrüche einen Wandel des Medienhandelns anstoßen stellt also eines unter mehreren spezifischen Analysefeldern des Gesamtprojekts dar. Dieses stand allerdings keineswegs gleich zu Beginn des ersten Teilprojekts im Fokus, vielmehr entwickelte sich diese Fragestellung erst im Verlauf der Gesamtstudie zu einem wichtigen Erkenntnisinteresse des Gesamtprojekts. Denn erst die Auswertung des Materials der ersten Erhebungswelle 2008 förderte die Einsicht zutage, dass mit Alltagsumbrüchen oftmals tiefgreifende Veränderungen des Medienhandelns einhergehen. Diese Einsicht stach heraus, weil die Veränderungen im Medienrepertoire, die wir im Zuge der Aneignung des Internets
Grundverständnis der Datengrundlage dieser Arbeit unerlässlich sind. Die hier erläuterten Ausführungen grenzen sich davon ab, indem sie einerseits auf die für das Analysefeld Alltagsumbrüche relevanten Aspekte beschränkt sind sowie andererseits das methodische Vorgehen im Analysefeld Alltagsumbrüche vertiefend beschreiben und somit konkretisieren.
8.1 Zur empirischen Grundlage und zum Hintergrund dieser Studie …
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vermuteten, eher gering ausfielen. Dies spiegelt sich auch in der Koexistenz alter und neuer Medien im Medienrepertoire der Interviewten wider (vgl. Röser et al. 2019, Kapitel 6). Im Kontrast zu diesen Beharrungsmomenten äußerten die Interviewten, dass sich ihre Mediennutzung beispielsweise im Zuge der Geburt ihrer Kinder oder im Kontext beruflicher Veränderungen tiefgreifend veränderte. Ausgehend von dieser Einsicht weiteten wir daher unser Erkenntnisinteresse auf die Frage nach der Veränderung des Medienhandelns im Zuge von Alltagsumbrüchen aus. Die methodologischen Eckpfeiler der Gesamtstudie „Das mediatisierte Zuhause“ lassen sich auf drei wesentliche Aspekte zuspitzen: Der erste Aspekt ist die medienethnografische Herangehensweise, die besonders gut geeignet ist, um Medienhandeln aus einer alltagskontextualisierten Perspektive zu erforschen. Zweitens wurde insbesondere die Paarkonstellation als relevanter Kontext des Medienhandelns berücksichtigt und schließlich wurde drittens – und dies ist für die Fragestellung dieser Arbeit besonders relevant – eine Wandel-Perspektive eingenommen, um Veränderungsprozesse des Medienhandelns zu analysieren. In dem Projekt wurde also medienethnografisch-orientiert mit Paaren im Längsschnitt geforscht. Diese drei Eckpfeiler sollen im Folgenden knapp erläutert werden (vgl. ausführlich dazu Röser et al. 2019, S. 39–42). Medienethnografische Forschung verfolgt grundsätzlich einen verstehenden Zugang und versucht, Medienhandeln am tatsächlichen Ort der Nutzung zu untersuchen, um so möglichst „dicht an ‚echte‘ Nutzungsweisen in Alltagskontexten heranzukommen.“ (Röser 2016, S. 492) Kennzeichnend ist dabei ein Methodenmix, mit dessen Hilfe aus Sicht der Subjekte ein ganzheitliches Verständnis über den Forschungsgegenstand entwickelt werden soll (vgl. Bachmann und Wittel 2006, S. 186). Für die konkrete Ausgestaltung der Studie erwiesen sich „akkumulierte ethnografische Miniaturen“ (Bachmann und Wittel 2006, S. 191) als idealer Zugang zum Feld. Diese beinhalten mehrere Kurzaufenthalte in der Lebenswelt der erforschten Menschen. Für uns waren sie aus drei Gründen vorteilhaft: „Erstens wurde es über die Kurzaufenthalte überhaupt erst möglich, die Interviews im Zuhause der Befragten zu führen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sich Befragte zu einem umfassenderen Feldaufenthalt des Forschenden im Häuslichen bereit erklären, der ein temporäres Zusammenleben nötig gemacht hätte. Zudem erlaubten die Kurzaufenthalte aufgrund ihrer zeitlichen Begrenztheit und des damit leichter zu kalkulierenden Arbeitsaufwands zweitens, mehr Haushalte mit in die Analyse einzubeziehen. Drittens war es auf diese Weise möglich, die Haushalte zu verschiedenen Zeitpunkten zu untersuchen und so den Wandel des Medienhandelns zu erfassen.“ (Röser et al. 2019, S. 40)
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8 Methodisches Vorgehen
Eine besondere Bedeutung haben wir bei der Analyse – und dies ist der zweite Eckpfeiler – der Paarkonstellation beigemessen. Als Erhebungsinstrument verwendeten wir das Paarinterview, das uns erlaubte, die Interaktionsdynamiken des Paares zu erfassen und als relevanten Kontext des Medienhandelns zu berücksichtigen. Entgegen einer individuenzentrierten Datenerhebung haben wir also die Paarbeziehung als spezifische Form der Lebensführung (vgl. Jürgens 2001) untersucht. Mit dem dritten Eckpfeiler war der Anspruch verbunden, Medienhandeln prozessorientiert zu analysieren, weil wir es „in Bezug auf das häusliche Medienhandeln mit Transformationsprozessen zu tun haben, die sich langfristig und nicht unbedingt linear entwickeln.“ (Röser et al. 2019, S. 42) Um diesem Anspruch gerecht zu werden, erwies sich eine qualitative Panelstudie als passgenaues und vielversprechendes Vorgehen. Mit Blick auf das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit ist dies ein ausgesprochen wichtiger Aspekt, weil sich durch die Langzeiterhebung der Wandel des Medienhandelns im Kontext der Alltagsumbrüche genau erfassen ließ. Ein besonderer Fokus lag dabei auf den Dynamiken im Paarverlauf, weil sich Alltagsumbrüche „wie die Geburt eines Kindes, der Übergang in den Ruhestand, berufliche Wechsel etc. in der Regel mehr oder weniger deutlich auf die jeweiligen Paararrangements aus[wirken]“ (Wimbauer und Motakef 2017, S. 113) und damit auch auf das Medienhandeln der Paare.
8.2 Differenzierung der Forschungsfragen Grundsätzlich verfolgt diese Arbeit das Ziel, die Verwobenheit von Alltags- und Medienhandeln aufzuzeigen. Dies wird anhand von Alltagsumbrüchen umgesetzt, weil auf diese Weise Veränderungen in der Alltagsstrukturierung systematisch mit Veränderungen der Mediennutzung in Beziehung gesetzt werden können. Das Kerninteresse hebt also auf Wandel ab. Im Zentrum der Arbeit steht daher die übergeordnete Forschungsfrage: Inwiefern dynamisieren Alltagsumbrüche das häusliche Medienhandeln und welche Aussagen können anhand dieser Analysen zur Beziehung zwischen alltäglicher Lebensführung und Medienhandeln getroffen werden? Weiter ausdifferenziert stehen vier Forschungsfragen im Zentrum des Erkenntnisinteresses dieser Arbeit:
8.2 Differenzierung der Forschungsfragen
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FF 1: Welche Ereignisse werden als Alltagsumbrüche (Transitionen) wahrgenommen? Anstatt Alltagsumbrüche a priori festzulegen, soll in der Analyse aus Sicht der Interviewten erfasst werden, welche Ereignisse diese als Alltagsumbrüche wahrnehmen und an welchen Aspekten sie dies festmachen. Die Befunde zu dieser Fragestellung und die Verteilung der Alltagsumbrüche im Sample werden in Abschnitt 9.1 erläutert. FF 2: Inwiefern dynamisieren die einzelnen Alltagsumbrüche (Transitionen) das häusliche Medienhandeln der Interviewten und welche transitionsspezifischen Antriebsfaktoren lassen sich für diese Dynamik ausmachen? Diese Forschungsfrage fokussiert die einzelnen Alltagsumbrüche und zielt darauf ab, die transitionsspezifischen Prozesse herauszuarbeiten, die Dynamik im Medienrepertoire anstoßen. Für jeden Alltagsumbruch (z. B. Trennung, Elternschaft oder Umzug) wird entlang der Dimensionen der alltäglichen Lebensführung (z. B. zeitlich, räumlich, sozial) analysiert, inwiefern sich erstens die Alltagsstrukturierung verändert (z. B. indem andere Zeitsouveränitäten oder neue Aufgabenfelder entstehen) und wie zweitens in diesem Zusammenhang die Mediennutzung an die veränderte Alltagsstruktur angepasst wird. So wird ersichtlich wie und warum das Medienhandeln im Zuge eines Alltagsumbruchs verändert wird. Die Befunde zu dieser Fragestellung werden in Abschnitt 9.2–9.6 erläutert.2 FF 3: Welche Antriebsfaktoren für Dynamik im häuslichen Medienrepertoire lassen sich übergreifend über die einzelnen Alltagsumbrüche (Transitionen) identifizieren? Diese Forschungsfrage zielt darauf ab, die alltagsspezifischen Antriebsfaktoren, die Dynamik im Medienrepertoire auslösen, jenseits des einzelnen Alltagsumbruchs zu erfassen. Indem die Einsichten aus der Analyse der spezifischen Alltagsumbrüche (siehe FF 2) systematisch und transitionsübergreifend gebündelt
2Angemerkt
sei an dieser Stelle noch einmal, dass der Fokus in dieser Arbeit auf den dynamischen Prozessen und somit der Veränderung des Medienhandelns liegt, wenngleich auch eine spannende Fragestellung ist, warum bestimmte Mediennutzungsmuster trotz tiefgreifender Alltagsumbrüche stabil bleiben. Die Frage nach solchen Beharrungstendenzen kann in dieser Arbeit aber nur beiläufig thematisiert werden.
94
8 Methodisches Vorgehen
werden, können unabhängig vom spezifischen Transitionserleben alltagsspezifische Prozesse identifiziert werden, die das Medienhandeln dynamisieren, so zum Beispiel Umstrukturierungen des Tagesrhythmus oder veränderte Aufgabenfelder. Diese Antriebsfaktoren bzw. Prozesse können entlang der Dimensionen der alltäglichen Lebensführung (z. B. zeitlich, räumlich, sozial) beschrieben werden. Die Analyse ermöglicht somit umfassende Einsichten in die vielschichtigen Prozesse des Wandels der Mediennutzung, die durch Alltagsveränderungen angestoßen werden. Die Befunde zu dieser Fragestellung werden in Kapitel 10 thematisiert. FF 4: Wie lässt sich – im Sinne eines Theorieertrags – alltagskontextualisierte Medienforschung im Zuge von Alltagsumbrüchen (Transitionen) konzeptualisieren und welchen Mehrwert liefert eine solche Analyseperspektive für die kommunikationswissenschaftliche Rezeptionsforschung? Letztlich zielt diese Arbeit darauf ab, die Verwobenheit von Alltag und Mediennutzung zu theoretisieren und somit ein Konzept bereitzustellen, inwiefern die Beziehung zwischen Veränderungen der alltäglichen Lebensführung und dem Wandel des Medienhandelns systematisch analysiert werden kann. Eine solche alltagskontextualisierte Medienforschung im Kontext von Alltagsumbrüchen erlaubt – so die These – ein tieferes Verständnis über die komplexen und vielschichtigen Hintergründe, warum sich die Mediennutzung im Laufe eines Lebens ändert oder eben auch nicht. Das in dieser Arbeit entwickelte Konzept wird in Kapitel 12 erörtert und im Kontext zu seiner Bedeutung für die kommunikationswissenschaftliche Rezeptionsforschung diskutiert.
8.3 Sample: Paarhaushalte aus der breiten Mittelschicht Untersucht wurden diese Forschungsfragen mit einem Sample, das 25 heterosexuelle Paarhaushalte umfasst, die systematisch in drei Alters- und zwei Schulbildungsgruppen quotiert wurden (siehe Abb. 8.1).3
3Das
Paar wurde nach den soziodemografischen Merkmalen des Erstkontakts eingeordnet.
8.3 Sample: Paarhaushalte aus der breiten Mittelschicht
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Abb. 8.1 Das Sample nach soziodemografischen Merkmalen: Panel Stand 2008. (Quelle: Röser et al. 2019, S. 46)
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8 Methodisches Vorgehen
Die beiden Schulbildungsgruppen sind in Haupt-, Realschulabschluss und weiterführende Schule einerseits sowie (Fach-)Abitur andererseits aufgeteilt. Die drei Altersgruppen des Samples reichten 2008 von 25–35 Jahre (jüngere Paare) über 36–50 Jahre (mittelalte Paare) bis zu 51–63 Jahre (ältere Paare). Zusätzlich wurde bei der Zusammenstellung des Samples auf eine Streuung weiterer Merkmale geachtet, um vielfältige lebensweltliche Kontext abzubilden, die (potenziell) für das Medienhandeln relevant sind. So variieren zum Beispiel die Anzahl der Kinder im Haushalt sowie der berufliche Hintergrund. Das Spektrum der Berufe reicht vom Abfallwerker über die Erzieherin und Pharmareferentin bis zum Lehrer und Rechtsanwalt. Das Sample repräsentiert letztlich die breite Mittelschicht im Erwachsenenalter.4 Durch das Design als Panelstudie konnte beobachtet werden, wie sich die Mediennutzung der gleichen Personen im Zuge von Alltagsumbrüchen verändert. Die Hintergründe dazu konnten aus Nutzersicht erfasst werden. Die durchmischte Altersstruktur bot den Vorteil, dass die Wahrscheinlichkeit hoch war, dass sich im Sample über den Erhebungszeitraum verschiedene normative Transitionsprozesse ereignen. Gemeint sind damit Ereignisse, deren Eintritt in einem bestimmten Alter als normal gelten, wie die Geburt eines Kindes oder der Renteneintritt. Gleichzeitig war auch von Interesse, welche weiteren nicht-normativen Transitionsprozesse in den Haushalten auftreten. Allgemein war zu erwarten, dass durch die Auswahl der Paare im Sample aus unterschiedlichen Milieus und aus verschiedenen Alterskohorten eine Vielzahl unterschiedlicher Alltagsumbrüche abgedeckt wird. Mit dem Paneldesgin war aber auch eine methodische Besonderheit verbunden: Die Haushalte im Sample veränderten sich in mehrfacher Hinsicht im Laufe der Erhebung. Zum einen alterten die Paare im Verlauf der Untersuchung, sodass sich die Altersspanne der Interviewten von 25–63 Jahre zum ersten Erhebungszeitpunkt 2008 auf 33–71 Jahre zum letzten Erhebungszeitpunkt 2016 erhöhte.5 Zum anderen schwankte die Anzahl der untersuchten Haushalte leicht, weil sich fünf Paare im Verlauf der Studie trennten. In diesen Fällen haben wir das Paar weiterhin interviewt, jedoch Partner und Partnerin getrennt, sodass sich die Anzahl der Haushalte von 25 Haushalten 2008 auf 30 Haushalte im Jahr 2016
4Die
Rekrutierung des Samples erfolgte per Schneeballverfahren über einen schriftlichen Fragebogen (vgl. zur näheren Vorgehensweise Röser et al. 2019, S. 45). 5Da ein zentrales Ziel der Untersuchung darin bestand, die Entwicklungsverläufe innerhalb der Haushalte nachzuvollziehen, entschieden wir uns explizit gegen eine Nachrekrutierung einer jüngeren Altersgruppe.
8.4 Datenerhebung: Medienethnografische Miniaturen im Paneldesign
97
vergrößerte.6 Zudem konnten wir bei der schriftlichen Befragung zum letzten Erhebungszeitpunkt 2016 vier Haushalte nicht mehr erreichen, sodass zu diesem Erhebungszeitpunkt unser Sample nicht mehr vollständig war. Gleichwohl ist ein besonderes Qualitätsmerkmal dieser Panelstudie, dass das Sample über den gesamten Erhebungszeitraum nahezu vollständig erhalten geblieben ist und wir somit kaum eine Panelmortalität zu verzeichnen hatten. Damit dies möglich wurde, haben wir das Panel intensiv gepflegt. So blieben wir auch jenseits der einzelnen Erhebungsphasen mit den Befragten Kontakt, indem wir beispielsweise Weihnachtskarten verschickten (vgl. Röser et al. 2019, S. 47–48).
8.4 Datenerhebung: Medienethnografische Miniaturen im Paneldesign In diesem Unterkapitel wird zunächst das Forschungssetting des Gesamtprojekts skizziert, um daran angeschlossen die Aspekte zu vertiefen, die für die Erhebung der Daten im Analysefeld Alltagsumbrüche besonders relevant waren. Forschungssetting des Gesamtprojekts Das methodische Vorgehen des Gesamtprojekts wurde in Form von Haushaltsstudien umgesetzt. „Damit meinen wir, dass wir die Erhebung im Sinne medienethnografischer Forschung zuhause bei den Paaren durchgeführt haben und den häuslichen Alltag als bedeutungsvollen Kontext für das Medienhandeln berücksichtigt haben.“ (Röser et al. 2019, S. 48) Im Sinne medienethnografischer Miniaturen (siehe Abschnitt 8.1) wurden die Paare zu mehreren Zeitpunkten (2008, 2011, 2013 und 2016) untersucht. Konkret realisierten wir die medienethnografische Ausrichtung der Studie, indem „wir (a) die Interviews zuhause bei den Befragten durchführten. Zudem verbanden wir (b) jeden Besuch mit einer Wohnungsbegehung. Dabei konnten wir die räumlichen Medienarrangements anschauen und mit Fotos dokumentieren. Häufig gaben uns die Interviewten in der konkreten Nutzungsumgebung zusätzliche wichtige Informationen, weil sie vor Ort die Art und Weise ihrer Mediennutzung besonders anschaulich beschreiben konnten. Wir erhielten also konkrete Einblicke in die Lebenswelt und in die räumlichen Arrangements, innerhalb derer die Befragten Medien nutzen. Und schließlich (c) war das alltägliche (Medien-)Handeln der Paare zentrales Thema der Interviews.“ (Röser et al. 2019, S. 41)
6Neue
Partner*innen nahmen nicht am Interview teil.
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8 Methodisches Vorgehen
Bei der Erhebung setzten wir einen Methodenmix ein. Abb. 8.2 gibt einen Überblick über die verwendeten Methoden im Verlauf der einzelnen Erhebungsphasen.
Abb. 8.2 Methodeneinsatz in den einzelnen Erhebungsphasen. (Quelle: Eigene Darstellung)
Das Herzstück der Untersuchung bildeten die ethnografisch-orientierten Leitfadeninterviews. Diese wurden in den ersten drei Erhebungsphasen (2008, 2011 und 2013) zuhause bei den Paaren durchgeführt. Wir interviewten die Paare stets gemeinsam, „weil unser erstrangiges Interesse nicht dem Individuum galt, sondern den sozialen Konstellationen, gemeinschaftlichen Kommunikationspraktiken und geschlechtsgebundenen Arrangements, die auch den Alltag der Paare prägen.“ (Röser et al. 2019, S. 49) Die Themengruppen des Leitfadens entsprachen den Fragestellungen der Analysefelder des Gesamtprojekts, die in Abschnitt 8.2 skizziert wurden. Abb. 8.3 gibt einen Einblick in die Struktur der Interviewleitfäden von 2008 und 2013.
8.4 Datenerhebung: Medienethnografische Miniaturen im Paneldesign
99
Abb. 8.3 Dimensionen der Leitfäden der Panelstudie von 2008 und 2013. (Quelle: Röser et al. 2019, S. 50)
Für jedes dieser Themenfelder formulierten wir offene Fragen. Die Gliederung des Leitfadens verlieh dem Interview eine gewisse Struktur und gewährleistete, dass stets alle für das Erkenntnisinteresse relevanten Fragen erörtert wurden. Wir konnten so eine Vergleichbarkeit über alle Fälle hinweg ermöglichen. Gleichwohl reagierten die Interviewer flexibel auf die Themen der Interviewten, auch um einen möglichst natürlichen Gesprächsverlauf zuzulassen und um den Interviewten ausreichend Raum zu geben, um die aus ihrer Sicht relevanten Aspekte zur Sprache bringen zu können. Aus der obigen Abbildung wird ersichtlich: Wir verfolgten das Ziel, die Themenfelder in den Interviewleitfäden möglichst konstant zu halten und nur leicht zu variieren. Teils fielen im Verlauf der Erhebung aber auch Themenfelder weg und andere Themenfelder kamen neu hinzu. So spielte die Rekonstruktion der Integration des Internets ins Zuhause,
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8 Methodisches Vorgehen
die bei der Erhebung 2008 den Schwerpunkt ausmachte, beim Haushaltsbesuch 2011 keine Rolle mehr. Neu hinzu kam hingegen ab 2011 (wie in Abschnitt 8.2 bereits beschrieben) die Veränderung der Mediennutzung im Zuge von Alltagsumbrüchen und somit das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit. Zudem verfolgten wir ab 2011 tiefergehend das Verhältnis der einzelnen Medien zueinander, indem wir differenziert die Mediennutzung von Radio, Fernsehen, Internet sowie Zeitung und Zeitschriften erhoben. Die leichte Variation der Themenfelder machte für jede Erhebungsphase die Entwicklung eines neuen Interviewleitfadens notwendig. Dabei standen wir stets vor der Herausforderung, technologische Veränderungen zu berücksichtigen und neue interessante Aspekte zu verfolgen, ohne die Vergleichbarkeit der Daten zu gefährden. Im Sinne der ethnografischen Ausrichtung des Projekts verbanden wir die Interviews jeweils mit einer Wohnungsbegehung inklusive einer Fotodokumentation der Mediennutzungsorte. Diese gab auch Anlass, um mit den Paaren über ihr Medienhandeln zu sprechen. Im Anschluss an den Haushaltsbesuch hielten wir unsere Eindrücke immer in einem Memo fest, „darin z. B. Informationen zur Gesprächsatmosphäre, zur Offenheit der Interviewpartner*innen und zu Störungen sowie zu Beobachtungen aus den Haushaltsbegehungen und zur Paarbeziehung.“ (Röser et al. 2019, S. 51) Ergänzt wurden die Leitfadeninterviews mit weiteren methodischen Elementen, die teils von Erhebungsphase zu Erhebungsphase variierten. Wir verfolgten damit das Ziel, ein möglichst ganzheitliches Bild unseres Forschungsgegenstands zu entwickeln. „Diese zusätzlichen Erhebungsinstrumente waren einerseits Gesprächsanreiz, um die subjektive Bedeutungsproduktion zum alltäglichen Stellenwert einzelner Medien zu ergründen, andererseits unterstützten sie eine systematische Analyse der Medienrezeption.“ (Röser et al. 2019, S. 51) So kam 2008 neben einem schriftlichen Fragebogen zu soziodemografischen Merkmalen und zur Medienausstattung eine Zeitleiste mit computer- und internetbezogenen Innovationen zum Einsatz, um die Erinnerung der Interviewten zu unterstützen. Zudem erhoben wir mittels einer Liste die genutzten O fflineund Onlineanwendungen. In der zweiten Erhebungsphase 2011 ließen wir die Interviewten während des Interviews Wohnungsskizzen ihrer räumlichen Medienarrangements zeichnen (vgl. Morley 2007, S. 83) und erfassten die Onlinekommunikation mittels einer Tabelle. In der dritten Erhebungsphase 2013 führten wir vorbereitend auf den Haushaltsbesuch eine ausführliche schriftliche Befragung zur Medienausstattung und -nutzung durch und verwendeten im Interview eine Kartensortierungstechnik, um die Praktiken mit den einzelnen Medien
8.4 Datenerhebung: Medienethnografische Miniaturen im Paneldesign
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und ihr relationales Verhältnis systematisch zu erfassen. Zudem erfassten wir mittels eines Extrabogens detailliert die Tätigkeiten, für die die Paare das Internet zuhause verwendeten (z. B. Alltagsaufgaben erledigen, Spiele spielen oder berufliche Aufgaben erledigen). In der letzten Erhebungsphase 2016 erweiterten wir die Daten durch eine umfassende schriftliche Befragung der Haushalte. Diese war zwecks Vergleichbarkeit an die Befragung von 2013 angelehnt. Es handelt sich insgesamt also um ein vielschichtiges Forschungssetting, das im Sinne Bausingers (1983) darauf abzielt, den Medienalltag ‚sprechbar‘ zu machen. Denn bei der Erhebung alltäglichen (Medien)Handelns stellt sich die Herausforderung, dass der Alltag „so selbstverständlich und unmittelbar ist, daß [sic!] er (vielleicht genau deswegen) den Betreffenden selber meist nicht ohne weiteres zugänglich ist […]. ‚Alltag‘ ist das, was fraglos real und wichtig ist, aber deswegen oft unhinterfragbar und unwichtig erscheint, jedoch zu spannenden Fragen einlädt.“ (Voß 2000, S. 36)
Vertiefung: Datenerhebung im Analysefeld Alltagsumbrüche Nachdem nun das Forschungssetting des Gesamtprojekts skizziert wurde, soll im Folgenden konkreter auf die Datenerhebung im Analysefeld Alltagsumbrüche eingegangen werden. Vorab sei aber noch darauf verwiesen, dass grundsätzlich alle erhobenen Daten für die Auswertung im Analysefeld Alltagsumbrüche relevant sind, weil beispielsweise in den Interviewpassagen, die eher auf andere Analysefelder ausgerichtet waren, ebenfalls Aspekte zur Sprache kamen, die Einsichten zum Wandel des Medienhandelns nach Alltagsumbrüchen ermöglichten. So wurden zum Beispiel im Analysefeld „Häusliche Geschlechterkonstellationen mit dem Internet im Wandel“ wichtige Aspekte thematisiert, um nachvollziehen zu können, warum sich die Mediennutzung nach einer Trennung verändert. Einsichten im Analysefeld „Räumliche Arrangements und häusliche Kommunikationskulturen“ gaben beispielsweise Aufschluss zum Wandel nach einem Umzug oder nach der Geburt eines Kindes. Wie wurden nun gezielt Daten zu den Veränderungen des Medienhandelns im Kontext der Alltagsumbrüche erhoben? Wie in Abschnitt 8.2 erläutert, ergab die Auswertung der Daten von 2008, dass sich im Zuge von Alltagsumbrüchen die Mediennutzung oftmals tiefgreifend veränderte. Daher begannen wir ab der Erhebungswelle 2011 damit, Umbrüche im Alltag eingehend in den Interviews zu thematisieren. Zu Beginn des Interviews stellten wir beispielsweise folgende Fragen:
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8 Methodisches Vorgehen
„Zunächst einmal würden wir gern von Ihnen wissen, ob sich seit unserem letzten Besuch bei Ihnen persönlich etwas Grundlegendes verändert hat – z. B. in der Familie, beim Wohnen oder auch im Hinblick auf die Größe Ihres Haushalts. Ist z. B. jemand ein- bzw. ausgezogen, seitdem wir das letzte Mal bei Ihnen waren?“ „Und wie sieht es in Ihrem Berufsleben aus: Gab es innerhalb der letzten drei Jahre bei einem/r von Ihnen berufliche Veränderungen, zum Beispiel hinsichtlich des Arbeitsplatzes oder des Umfangs der Arbeitszeit?“ (Auszug aus dem Interviewleitfaden von 2011)
Von hier an erfragten wir weitergehend, inwiefern sich in diesem Zusammenhang die Mediennutzung der Paare veränderte und warum. Durch die anschließende vergleichende Analyse der Mediennutzung zwischen 2008 und 2011 könnten wir auf diese Weise erstmals strukturierte Befunde zu diesem Analysefeld generieren. Diese Einsichten nutzten wir, um den Zusammenhang in der dritten Erhebungswelle 2013 besonders umfassend zu untersuchen. Zur Vorbereitung auf den dritten Haushaltsbesuch haben wir vorab in einer schriftlichen Befragung ermittelt, welche Alltagsumbrüche sich bei den Paaren seit 2011 ereignet haben. So konnten wir die Interviewleitfäden gezielt an die Lebenssituation der Interviewten anpassen, um z. B. spezifische Fragen zur Trennung oder zum Umzug zu stellen. In separaten Abschnitten und über das gesamte Leitfadeninterview verteilt wurden gezielt Fragen zur Relevanz dieser Alltagsumbrüche gestellt. Zu Beginn des Interviews sensibilisierten wir die Interviewten nochmals für unser Erkenntnisinteresse, indem wir wie 2011 darauf hinwiesen, dass uns die Veränderung der Mediennutzung in Zusammenhang mit diesen Ereignissen interessiert: „Wir hätten gerne, dass Sie uns davon erzählen, wenn Sie merken, dass sich durch [das Baby, die Trennung, den Tod, die neue Beziehung, den Umzug, den Berufswechsel, die Rente] die Mediennutzung geändert hat. Sagen Sie das bitte dazu, falls es Ihnen auffällt, auch wenn wir nicht direkt danach fragen.“ (Auszug aus dem Interview 2013)
Je nachdem, welche Alltagsumbrüche sich in dem Haushalt ereigneten, stellten wir im Verlauf des Interviews konkrete Fragen dazu (siehe zu den jeweiligen Subdimensionen Abb. 8.4). Einerseits thematisierten wir in der dritten Erhebungswelle 2013 die Bedeutung der neuen Umbrüche seit 2011, andererseits vertieften wir unsere Einsichten zu den Umbrüchen, die zwischen 2008 und 2011 stattgefunden hatten. Mit den 2016 mittels standardisierter Befragung erhobenen Daten konnten wir zudem weitere Entwicklungen im Kontext der Alltagsveränderungen nachverfolgen, zum Beispiel wie sich Zeiten und Orte der Mediennutzung oder auch die genutzten Inhalte veränderten. Auf diese Weise konnten wir umfassende Befunde zu diesem Analysefeld generieren.
8.4 Datenerhebung: Medienethnografische Miniaturen im Paneldesign
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Abb. 8.4 Subdimensionen im Leitfaden 2013 zum Analysefeld Alltagsumbrüche. (Quelle: Eigene Darstellung)
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8 Methodisches Vorgehen
8.5 Auswertungsverfahren: Das medienethnografisch-orientierte Porträt Die Auswertung des Materials erfolgte in drei Schritten: Zunächst wurden erstens die Alltagsumbrüche im Sample identifiziert, bevor zweitens die Fälle in Form von Haushaltssporträts verdichtet und diese drittens einer vergleichenden Analyse unterzogen wurden. Die Einzelfälle wurden also ganzheitlich und tiefgehend analysiert, bevor eine Zusammenschau der Fälle erfolgte. 1. Identifikation der Alltagsumbrüche im Sample In einem ersten Schritt wurden die Alltagsumbrüche identifiziert, die sich in den Haushalten im Erhebungszeitraum ereigneten. Dabei konnten nur die Erhebungsphasen berücksichtigt werden, in denen ethnografisch-orientierte Haushaltsbesuche mit Leitfadeninterviews stattgefunden haben und somit die Zeiträume zwischen 2008 und 2011 sowie zwischen 2011 und 2013. Alltagsumbrüche zwischen 2013 und 2016 konnten nicht mit in die Analyse einbezogen werden. Der Hintergrund: 2016 wurden die Paare ausschließlich schriftlich befragt. Diese Daten ermöglichten es aber nicht, komplexe und vielschichtige Fallanalysen zu erarbeiten. Besonders die fehlenden Erläuterungen aus Nutzersicht zu den Hintergründen der Veränderung des Medienhandelns verhinderten es, valide Einsichten entwickeln zu können. Gerade in der aktuellen explorativen Phase dieser Analyseperspektive sind solche komplexen Fallanalysen aber nötig, um die Zusammenhänge zwischen Alltagsveränderung und Dynamik im Medienrepertoire präzise beschreiben und theoretisieren zu können. Die Analysen fokussieren daher überwiegend die zwischen 2008 und 2013 erhobenen Daten. Für die Haushalte, in denen sich im Zeitraum zwischen 2008 und 2013 Alltagsumbrüche ereigneten, wurden die Daten von 2016 ebenfalls ausgewertet, um die weitere Entwicklungsverläufe zu verfolgen. Welche Ereignisse als Alltagsumbrüche identifiziert wurden, überließen wir überwiegend den Einschätzungen der Paare, indem wir sie in den Interviews und in den schriftlichen Befragungen nach einschneidenden Alltagsveränderungen fragten. Dies ist sinnvoller als eine deduktive Vorgehensweise, bei der im Vorfeld festgelegt wird, welche Alltagsumbrüche untersucht werden, weil die Interviewten „in der Regel deutlicher bestimmen können, ob ihr Alltag im Prinzip stabil ist, sich in einer Umbruchsituation befindet oder eine neue Struktur bekommen hat.“ (Voß 1991, S. 356) Da die Intensität des Erlebens eines Alltagsumbruchs aus Sicht der Paare deutlich variierte, unterschieden wir in der Analyse tiefgreifende Alltagsumbrüche sowie weitere Alltagsumbrüche. Bei Letzteren wurde die Veränderung der Alltagsstruktur als eher gering wahrgenommen. Gleichwohl waren damit trotzdem Dynamiken im Medienrepertoire verbunden.
8.5 Auswertungsverfahren: Das medienethnografisch-orientierte Porträt
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2. Fallanalysen in Form von ethnografisch-orientierten Haushaltsporträts Die Paare, bei denen sich ein Alltagsumbruch ereignete, wurden in Form von medienethnografischen Porträts ausgewertet. „Beim medienethnografischen Porträt handelt es sich um eine strukturierte, umfassende Beschreibung des Falls, die mit prägnanten Interviewzitaten angereichert wird und erste Interpretationen unter Rückbezug auf den theoretischen Hintergrund enthält.“ (vgl. Röser et al. 2018, S. 198)
Das Verfassen der Porträts stellt somit – im Sinne eines ethnografischen Vorgehens – den Schritt des ›coming home‹ dar, um die Erlebnisse und Erfahrungen zu reflektieren und um „seine Ergebnisse auszuarbeiten, endgültig zu ordnen und angemessen aufzuschreiben.“ (Krotz 2005, S. 279) Das Verfahren der Auswertung in Form von Porträts haben wir eigens für die Analyse der Daten der Panelstudie entwickelt (vgl. Röser et al. 2018). Ausgangspunkt dafür war unsere Einschätzung, dass andere Verfahren wie die qualitative Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 2008), die Auswertungsinstrumente der Grounded Theory (vgl. Strauss und Corbin 1996) oder die Fallanalyse (vgl. Lamnek 2010) Schwächen aufweisen, wenn es darum geht, ethnografisch-orientiertes Datenmaterial gegenstandsangemessen zu analysieren. Die Auswertung in Form der Haushaltsporträts bietet hingegen fünf zentrale Vorteile: 1. Die Daten werden nicht mittels eines Kategoriensystems in einzelne Sinneinheiten zergliedert, sondern es wird gerade das Zusammenspiel verschiedener Faktoren ausgewertet. In dieser Arbeit beispielsweise die Interaktion zwischen Alltagsstrukturen und Medienhandeln. Eine solche kontextualisierende Analyse ermöglicht im Sinne der Medienethnografie eine „dichte Beschreibung“ (Geertz 2002) der Fälle, die auf eine ganzheitliche Perspektive und einen verstehenden Zugang abzielt. 2. In der Auswertung wird der Fokus nicht auf das Individuum gelegt, sondern auf den Haushalt. So bleibt die Beziehung des Paares als soziale Konstellation gewahrt, anstatt die Mediennutzung der einzelnen Partner getrennt voneinander auszuwerten. 3. Die Form des Porträts erlaubt die Integration vielfältigen Datenmaterials, sei es Text, Fotos, Zeichnungen, Zahlen, Statistiken oder Tabellen, welches bei ethnografischen Erhebungen typischerweise generiert wird (vgl. Bachmann und Wittel 2006, S. 186). 4. Die Entwicklung des Aufbaus der Haushaltsporträts kombiniert theoriegeleitete Schlussfolgerungen mit einem induktiven Vorgehen. Diese Herangehensweise gewährleistet, dass die Porträts einerseits auf das Erkenntnisinteresse (inkl. der Vorüberlegungen) abgestimmt sind, dass aber andererseits keine Aspekte ausgespart bleiben, die sich im empirischen Material als relevant erwiesen haben.
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8 Methodisches Vorgehen
5. Die Auswertung der Fälle anhand eines einheitlichen Themen- und Leitfragenkatalogs (s. u.) ermöglicht eine tiefgehende und differenzierte Analyse der einzelnen Fälle und gewährleistet zugleich – aufgrund des gleichbleibenden Aufbaus der Porträts – einen systematischen Fallvergleich. Ein solcher Fallvergleich, der prinzipiell eine theoretische Sättigung zum Ziel hat, lässt verallgemeinerungsfähige Aussagen zu, wie hier über die Bedeutung von Alltagsumbrüchen für den Wandel des Medienhandelns. Grundlage für die Erstellung der Porträts sind vorrangig die Interview-Transkripte. Diese werden entlang eines Themen- und Leitfragenkatalogs systematisch ausgewertet. Ergänzt werden die Falldarstellungen um Daten, die mit weiteren Methodenelementen erhoben wurden (siehe Abschnitt 8.4). Auf Basis welcher Arbeitsschritte die Haushaltsporträts erstellt wurden, wird im Folgenden präzise beschrieben. Zunächst wurde die thematische Struktur der Porträts entwickelt. Diese Struktur basiert auf einem Themen- und Leitfragenkatalog, der das Herzstück der Analyse darstellt, weil er die Auswertung der Daten systematisch anleitet. „Der Themen- und Leitfragenkatalog setzt sich aus übergeordneten Dimensionen zusammen, die jeweils verschiedene Subdimensionen beinhalten. Für jede dieser Subdimensionen werden offen Leitfragen entwickelt, die anhand des Datenmaterials im jeweiligen Abschnitt des Porträts beantwortet werden.“ (Röser et al. 2018, S. 198)
In dieser Arbeit musste für jeden Alltagsumbruch ein separater Themen- und Leitfragenkatalog entwickelt werden. Dies war nötig, weil jeder Alltagsumbruch andere Veränderungen der Alltagsstruktur mit sich brachte, die es mit dem Wandel des Medienhandelns gezielt in Beziehung zu setzen galt. Entwickelt wurden die Themenund Leitfragenkataloge in einem Prozess. Als Ausgangspunkt fungierten dabei die Forschungsfragen der Studie. Die konkreten Dimensionen, Subdimensionen und Leitfragen kristallisierten sich aber erst in intensiver Auseinandersetzung mit dem Material heraus. Dazu wurden alle Interviews, die zu einem spezifischen Alltagsumbruch gehören, solange durchforstet, bis im jeweiligen Themen- und Leitfragenkatalog „keine für das Forschungsinteresse relevanten Aspekte“ (Röser et al. 2018, S. 200) offengeblieben sind. Erst daran angeschlossen entstand die Endfassung, anhand derer das gesamte Material systematisch ausgewertet wurde. Die Entwicklung kombiniert somit theoriegeleitete Schlussfolgerungen mit einem induktiven Vorgehen. Die Struktur eines Themen- und Leitfragenkatalogs lässt sich exemplarisch am Aufbau des Alltagsumbruchs Trennung veranschaulichen (siehe Abb. 8.5).7 7Die jeweiligen Themen- und Leitfragenkataloge sind in Kapitel 9 vor den Fallbeispielen eines jeden Alltagsumbruchs zu finden.
8.5 Auswertungsverfahren: Das medienethnografisch-orientierte Porträt
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Abb. 8.5 Themen- und Leitfragenkatalog der Porträts zum Alltagsumbruch Trennung. (Quelle: Eigene Darstellung)
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8 Methodisches Vorgehen
Eingeleitet wurden die Porträts zu den getrennten Paaren mit einer plastischen Kurzdarstellung der Charakteristika des Paares sowie mit einem Überblick über die erlebten Alltagsumbrüche. Dies zielte darauf ab, den Fall „‚zum Leben zu erwecken‘ und einen Ausgangspunkt für ein verstehendes Gesamtbild des Haushalts bereitzustellen.“ (Röser et al. 2018, S. 200) Daran angeschlossen wurden in der zweiten Dimension ausführlich die Medienausstattung im Haushalt, das Medienhandeln des Paares sowie die Aufgabenteilung von mediatisierten Tätigkeiten und mögliche Konflikte in der Beziehung vor der Trennung thematisiert. Diese Beschreibungen lieferten gewissermaßen die Kontrastfolie, um Veränderungen des Medienhandelns im Verlauf des Alltagsumbruchs nachvollziehen zu können. Die dynamischen Prozesse im Medienrepertoire im Zuge der Trennung wurden in der dritten Dimension erörtert. Hier haben sich sechs Subdimensionen als zentral erwiesen: Konflikte in der Krisen- und Auflösungsphase, die Aufteilung der Medienausstattung, eine emotionale Krise direkt im Anschluss an die Trennung, eine Reflexionsphase inklusive eines möglichen Lebenswandels nach emotionaler Stabilisierung, die Auflösung der Arbeitsteilung des Paares sowie der Autonomiegewinn, der sich durch die Trennung ergeben hat. Schließlich wurden im Fazit – der vierten Dimension – zentrale Entwicklungen zusammengefasst, erste Interpretationen zum theoretischen Hintergrund vorgenommen sowie weiterzuverfolgende Aspekte festgehalten. Alle Porträts eines jeweiligen Alltagsumbruchs wurden auf Basis der entsprechenden Themen- und Leitfragenkataloge verschriftlicht. Dabei wurden die jeweiligen Leitfragen der einzelnen Subdimensionen in jedem Porträt beantwortet, sodass eine systematische Vergleichbarkeit gewährleistet werden konnte. Letztlich – so lässt sich mit Röser et al. 2018 konstatieren – erfüllt der Themen- und Leitfragenkatalog drei zentrale Aufgaben innerhalb des Auswertungsprozesses: „Der Themen- und Leitfragenkatalog erfüllt […] erstens die Funktion, erkenntnisleitend für die Auswertung des Forschungsmaterials zu sein. Zweitens dient er dazu, den Aufbau der umfassenden Beschreibung des Falls zu strukturieren und die konkreten Inhalte des Porträts vorzugeben, da jede dort festgehaltene Frage in der Fallbeschreibung Berücksichtigung findet (einschließlich möglicher Leerstellen, die dadurch ebenfalls in den Blick rücken).“ (Röser et al. 2018, S. 200)
Schließlich gewährleistet er drittens die Vergleichbarkeit der Fälle, denn nach Erstellung der Porträts wurden alle Fälle eines jeweiligen Alltagsumbruchs einer vergleichenden Analyse unterzogen.
8.5 Auswertungsverfahren: Das medienethnografisch-orientierte Porträt
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3. Vergleichende Analyse der Haushaltsporträts „Bei der vergleichenden Analyse werden die Porträts gesichtet und miteinander in Beziehung gesetzt, um so Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten.“ (Röser et al. 2018, S. 204) Zentrales Ziel ist es, Muster und Entwicklungsverläufe zu systematisieren und gegebenenfalls Fälle oder einzelne Aspekte zu gruppieren oder zu typologisieren. Dabei sollen möglichst verallgemeinerbare Aussagen über das Erkenntnisinteresse generiert werden. Eine vergleichende Analyse lässt sich auf Basis der Porträts besonders gut realisieren, weil die vorherige Erstellung der Porträts „regelgeleitet, transparent und intersubjektiv nachvollziehbar abläuft.“ (Röser et al. 2018, S. 201) Besonders die deckungsgleiche Textstruktur entlang der Leitfragen gewährleistet, dass die Fälle – anders als bei heterogenen Falldarstellungen – systematisch miteinander verglichen werden können. Die fallvergleichende Auswertung erfolgte in zwei Schritten. Im ersten Schritt erfolgte ein transitionsspezifischer Fallvergleich, d. h. es wurden zunächst die Fälle mit dem ‚gleichen‘ Alltagsumbruch miteinander in Beziehung gesetzt, so zum Beispiel die Paare, die sich getrennt haben, oder die Paare, die gemeinsam ein Kind bekamen (siehe Kapitel 9). Dazu wurden die Einsichten zu den einzelnen Leitfragen innerhalb der Dimension ‚Dynamik im Medienrepertoire nach dem Alltagsumbruch‘ Fall für Fall miteinander verglichen. Im Fall der Trennung (siehe Themen- und Leitfragenkatalog oben) wurde also zunächst für alle Fälle erarbeitet, inwiefern sich die Konflikte in der Krisen- und Auflösungsphase sowie die emotionale Entfremdung des Paares auf ihre Mediennutzung ausgewirkt haben (Subdimension ‚Krisen- und Auflösungsphase‘). Anschließend wurde für alle Fälle untersucht, wie die Medienausstattung aufgeteilt wurde und welche Folgen dies für das Medienhandeln hatte (Subdimension ‚Aufteilung der Medienausstattung‘). Dieses Vorgehen wurde solange fortgesetzt, bis alle Subdimensionen miteinander verglichen wurden. Auf diese Weise konnten prozessorientiert für jeden Alltagsumbruch Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet werden, inwiefern die betroffenen Paare eine Veränderung ihrer Alltagsstruktur (zeitlich, räumlich usw.) erlebten und welche Dynamiken aufgrund dessen im Medienhandeln angestoßen wurden.8
8Eine
Typologisierung der einzelnen Fälle bot sich nicht an, weil dazu die Fallzahlen zu gering waren und weil der Fokus auf den vielschichtigen Prozessen zwischen Alltags- und Medienhandeln lag, die mittels einer Typologie nicht sinnvoll hätten abgebildet werden können.
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8 Methodisches Vorgehen
Im zweiten Schritt erfolgte ein transitionsübergreifender Fallvergleich, d. h. es wurde – jenseits des einzelnen Alltagsumbruchs – entlang der Dimensionen der alltäglichen Lebensführung untersucht, inwiefern alltagsspezifische Prozesse wie Umstrukturierungen des Tagesrhythmus (zeitlich), Veränderungen in der Arbeitsteilung (sozial) oder ein Wandel der Interessen (inhaltlich) Dynamik im Medienrepertoire angestoßen haben. Auf diese Weise lässt sich die Vielfalt der Alltagsveränderungen aufzeigen, die als Antriebsfaktoren für eine Veränderung des Medienhandelns fungierten (siehe Kapitel 10).
9
Alltagsumbrüche und ihr Einfluss auf das häusliche Medienhandeln
In diesem Kapitel werden die Befunde der Panelstudie zur Veränderung des häuslichen Medienhandelns im Zuge von Alltagsumbrüchen präsentiert.1 Im Zentrum steht dabei die Fragestellung, inwiefern und warum die Paare ihre Mediennutzung im Verlauf des Umbruchs verändern. In Abschnitt 9.1 wird zunächst dargestellt, welche Umbrüche sich im Erhebungszeitraum ereigneten und wie sich diese im Sample verteilen. Dieses Kapitel widmet sich der ersten Forschungsfrage, welche Ereignisse als Alltagsumbrüche (Transitionen) wahrgenommen werden und wie sich diese im Sample verteilen. Daran angeschlossen wird spezifisch für jeden Umbruch der Wandel der Mediennutzung aufgezeigt, um auf diese Weise die Dynamik im Medienrepertoire in Zusammenhang mit den Alltagsveränderungen zu identifizieren (siehe Abschnitt 9.2 bis 9.6). Diese Kapitel liefern somit Einsichten zur zweiten Forschungsfrage, inwiefern diese Alltagsumbrüche (Transitionen) das Medienhandeln der Interviewten dynamisieren und welche transitionsspezifischen Antriebsfaktoren sich für diese Dynamik ausmachen lassen. Die Darstellung der Befunde folgt dabei einer einheitlichen Systematik: In einem ersten Schritt wird literaturgestützt beschrieben, welche Folgen der jeweilige Umbruch im Allgemeinen für die Alltagsgestaltung besitzt und wie diese typischerweise erlebt wird. Dies zielt darauf ab, den Alltagsumbruch allgemein zu charakterisieren. Anschließend wird zweitens anhand eines exemplarischen Falls der Wandel des Medienhandelns in Folge der Alltagsveränderung dargelegt. Die Fälle wurden dabei so ausgewählt, dass sie
1Teilbereiche
der Befunde wurden bereits in anderen Publikationen veröffentlicht; spezifisch zur Veränderung der Onlinenutzung im Zuge von Transitionsprozessen in Röser et al. 2019 in Kapitel 7 und knapp zur Elternschaft in Röser et al. 2017, S. 151–154.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Niemand, Alltagsumbrüche und Medienhandeln, Medien • Kultur • Kommunikation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30738-7_9
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9 Alltagsumbrüche und ihr Einfluss auf das häusliche Medienhandeln
möglichst viele maßgebliche Aspekte des Wandels der Mediennutzung im Zuge der jeweiligen Übergangsphase veranschaulichen, also nicht zu speziell sind. Die Falldarstellungen zielen auch darauf ab, den Zusammenhang zwischen Alltagsveränderung und Dynamik im Medienrepertoire lebendig und nachvollziehbar darzustellen, um so den dritten und letzten Schritt vorzubereiten: die fallvergleichende Darstellung der Befunde. Hier werden auf einem höheren Abstraktionsniveau Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Fällen des gleichen Umbruchs präsentiert. Dies erfolgt entlang der Strukturdimensionen der alltäglichen Lebensführung (zeitlich, räumlich, inhaltlich usw.). So wird aufgezeigt, inwiefern die Paare ihre Mediennutzung an die Veränderung des Alltags innerhalb der jeweiligen Dimension angepasst haben. Es wird zum Beispiel in der räumlichen Dimension beschrieben, dass sich die Paare nach der Geburt des Kindes zunehmend auf den häuslichen Lebensbereich fokussieren und dass diese Immobilität häufig eine erhöhte Nutzung von Onlineshopping zur Folge hat. In dieser Vorgehensweise wird der Impuls für den Wandel der Mediennutzung also einer zentralen Alltagsveränderung innerhalb einer Strukturdimension zugewiesen; im Beispiel der räumlichen Dimension. Es sei an dieser Stelle aber noch einmal angemerkt, dass es sich bei den Strukturdimensionen um eine rein analytische Differenzierung der Lebensführung handelt, weil die Dimensionen in der Handlung selbst miteinander verwoben und nicht mehr strikt zu trennen sind. Folgt man der Argumentation in dem Beispiel, so liegt die zentrale Alltagsveränderung zwar in der räumlichen Dimension, die vermehrte Nutzung von Onlineshopping hängt aber ebenfalls mit der inhaltlichen Dimension (neue Konsumbedürfnisse) oder mit der zeitlichen Dimension (weniger Zeit zum Einkaufen) zusammen. Der Wandel der Mediennutzung steht also immer mit mehreren Dimensionen der Alltagsveränderung in Verbindung, kann aber – so wird hier argumentiert und soll gezeigt werden – in den meisten Fällen mit einer zentralen Veränderung innerhalb einer Dimension in Zusammenhang gebracht werden. In einigen Fällen sind Veränderungen innerhalb von zwei Dimensionen aber so eng miteinander verflochten, dass diese gemeinsam als zentrale Rahmenbedingungen für den Wandel der Mediennutzung beschrieben werden. So lässt sich beispielsweise die intensive Mediennutzung zu entwicklungspsychologischen Themen und zur Schwangerschaft in der Zeit des Mutterschutzes nur vor dem Hintergrund der veränderten Alltagsstruktur in der zeitlichen und inhaltlichen Dimension erklären. Denn einerseits verfügen die werdenden Mütter durch
9.1 Übersicht über die Verteilung der Alltagsumbrüche im Sample
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den Eintritt in den Mutterschutz über höhere Zeitsouveränität und damit auch über mehr Zeitressourcen (zeitlich), andererseits ist durch die Schwangerschaft ein neues Wissensbedürfnis entstanden (inhaltlich). Bei der empirischen Analyse erwiesen sich die Strukturdimensionen heuristisch also als besonders wertvoll. Abschließend sei noch einmal betont, dass mit dieser Vorgehensweise kein Kausalzusammenhang wie ‚diese Alltagsveränderung führt zu jener Nutzung‘ aufgezeigt werden soll. Vielmehr wird demonstriert, dass die Alltagsveränderung zwar eine zentrale Rahmenbedingung für die sinnhafte Neugestaltung des Medienrepertoires darstellt, inwiefern die Interviewten ihr Medienhandeln vor dem Hintergrund der Alltagsveränderung anpassen, kann aber von Person zu Person unterschiedlich sein.
9.1 Übersicht über die Verteilung der Alltagsumbrüche im Sample Von den 25 (bzw. im Jahr 2013 insgesamt 28 nach drei Trennungen) Paarhaushalten der Gesamtstudie des mediatisierten Zuhauses waren im Erhebungszeitraum von 2008 bis 2013 insgesamt 22 Haushalte von Alltagsumbrüchen betroffen. Da sich drei Paare getrennt haben und sie anschließend unabhängig voneinander einen eigenen Haushalt führen, wurden letztlich 25 Haushalte untersucht. Abb. 9.1 gibt einen Überblick über die Verteilung der Alltagsumbrüche. Im Untersuchungszeitraum waren im Sample insgesamt fünf Formen tiefgreifender Alltagsumbrüche mehrfach vertreten: Elternschaft, Auszug eines Kindes, Umzug, Trennung sowie Beginn einer neuen Partnerschaft. Ein weiterer Alltagsumbruch war im Sample singulär (Tod des Ehepartners in einem Haushalt). Darüber hinaus gab es noch weitere Alltagsumbrüche (Renteneintritt, berufliche Veränderungen sowie gesundheitliche Beeinträchtigungen). Diese wurden von den Interviewten zwar nicht als tiefgreifender Einschnitt empfunden, weil z. B. vor dem Renteneintritt eine geringfügige Beschäftigung ausgeübt wurde oder weil nach dem Wechsel des Arbeitgebers die berufliche Kerntätigkeit erhalten blieb, führten aber gleichwohl zu Veränderungen im Medienhandeln der Paare.
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9 Alltagsumbrüche und ihr Einfluss auf das häusliche Medienhandeln
Abb. 9.1 Alltagsumbrüche im Sample zwischen 2008 und 2013: Übersicht. (Erstveröffentlichung: Röser et. al. 2019, S. 158)
Betrachtet man die Verteilung der Alltagsumbrüche in den einzelnen Haushalten anhand der Darstellung, in der das Sample nach Alter und Schulbildung quotiert ist, lassen sich drei zentrale Einsichten ableiten (siehe Abb. 9.2). Erstens variiert die Intensität der Bewältigungsanforderung mit denen sich die Paare konfrontiert sehen. Während einige Paare ‚nur‘ einen Umbruch zu bewältigen hatten, sahen sich andere Paare mit multiplen Umbrüchen konfrontiert. Die Analyse der Interviewten mit multiplen Umbrüchen ist dabei besonders komplex, da sich hier verschiedene Prozesse der Alltagsveränderung überlagern. Aus einer
9.1 Übersicht über die Verteilung der Alltagsumbrüche im Sample
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Trennung in Verbindung mit einem Umzug ergeben sich beispielsweise andere Rahmenbedingungen für die Neugestaltung des Medienhandelns, als wenn eine Person nach einer Trennung im gewohnten Umfeld verbleibt. Gerade in den Fällen mit multiplen Übergangsphasen gilt es, die Besonderheiten der Alltagsveränderung gezielt herauszuarbeiten, um diese mit dem Wandel des Medienhandelns in Beziehung zu setzen. Zudem ist zweitens – im Gegensatz zu den älteren Paaren – besonders der Lebensverlauf der jüngeren und mittelalten Paare von Umbruchsphasen geprägt. Insgesamt haben wir im Untersuchungszeitraum 58 Alltagsumbrüche erfasst. Während sich in acht von acht Haushalten der jüngeren Paaren insgesamt 22 Umbrüche ereigneten und in neun von neun mittelalten Haushalten insgesamt 29, hatten nur fünf der acht Haushalte der älteren Paare insgesamt sieben Umbrüche zu bewältigen. Gerade die jüngeren und mittelalten Paare mussten dabei auch häufiger tiefgreifende und multiple Umbrüche bewältigen. Drittens können prinzipiell individuelle und paarspezifische Alltagsumbrüche unterschieden werden. So lassen sich der Renteneintritt und berufliche Veränderungen als individuelle Alltagsumbrüche klassifizieren, weil sie eher eine einzelne Person betreffen. Elternschaft, Auszug eines Kindes, Trennung eines Paares, Beginn einer neuen Partnerschaft und Umzug gehören hingegen zu den paarspezifischen Alltagsumbrüchen, weil in diese eher beide Partner involviert sind.2 Der Verlust des Partners ist dabei ein Sonderfall, der sich je nach Argumentation in beide Kategorien einordnen lässt. Unabhängig von dieser Klassifizierung haben individuelle Umbrüche allerdings immer auch einen Einfluss auf die Lebensführung des Paares und von paarspezifischen Umbrüchen können die jeweiligen Partner in unterschiedlicher Weise und Intensität betroffen sein, z. B. wenn nach der Geburt eines Kindes ein Partner in Elternzeit geht, während der andere seinen Beruf wie gehabt ausübt. Für die Auswirkung der Alltagsumbrüche auf das Medienhandeln ist also zentral, inwiefern die Partner den Umbruch tatsächlich erleben und wie sie letztlich diese Übergangsphase als Paar gestalten. Dies wird in den folgenden Analysen detailliert aufgezeigt.
2Bei
den getrennten Paaren wurden in der Übersicht der Beginn einer neuen Partnerschaft, ein Umzug oder der Auszug eines Kindes allerdings als individueller Alltagsumbruch dargestellt, da die neuen Partner*innen nicht mit in die Analyse einbezogen wurden.
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9 Alltagsumbrüche und ihr Einfluss auf das häusliche Medienhandeln
Abb. 9.2 Verteilung der Alltagsumbrüche im Sample nach Alter und Bildung. (Quelle: Eigene Darstellung)
9.2 Elternschaft und Veränderung des Medienhandelns
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9.2 Elternschaft und Veränderung des Medienhandelns In unserem Sample bekamen die Paare Bunk und Trautwein ein Kind sowie die Paare Maier, Sarholz und Olsen zwei Kinder. In der Phase vor und nach der Geburt haben unsere Paare – und insbesondere die Mütter – ihre Mediennutzung auf vielschichtige Weise verändert. Besonders prägende Alltagsveränderungen waren dabei zeitliche Einschränkungen und neue Informationsbedürfnisse, aber auch weitere Faktoren waren von Bedeutung. Im Folgenden wird zunächst der Alltagsumbruch Elternschaft in seinen charakteristischen Besonderheiten skizziert. Anschließend wird anhand eines Fallbeispiels sowie anhand einer vergleichenden Auswertung der Wandel der Mediennutzung im Zuge der Elternschaft beschrieben.
9.2.1 Charakteristika von Elternschaft Mit der Geburt eines Kindes kommt es für die Eltern zu einem „Bruch mit dem vorher etablierten Tagesablauf“ (Lenz 2014, S. 124), denn durch die Elternschaft werden zahlreiche Aushandlungsprozesse über die Ausgestaltung der familiären Lebensführung notwendig (vgl. Peukert 2015). Elternschaft gehört daher zu den „einschneidendsten [sic!] Veränderungen im Lebenslauf junger Erwachsener“ (du Bois-Reymond 2013, S. 311). Neben der tiefgreifenden Veränderung der Alltagsgestaltung ist die Elternschaft für Paare auch aus einem anderen Grund von erheblicher Bedeutung: Im Gegensatz zu vielen anderen Lebensentscheidungen kann die Geburt eines Kindes nicht mehr rückgängig gemacht werden. Vor diesem Hintergrund vollziehen viele Paare den Übergang in die Elternschaft deutlich später als frühere Generationen. Lag der Altersdurchschnitt der Mütter bei der Geburt des ersten Kindes im Jahre 1965 (in Westdeutschland) noch bei 24,9 Jahren (vgl. BMFSFJ 2012, S. 9), so sind die Mütter 2017 durchschnittlich 29,8 Jahre alt (vgl. Statistisches Bundesamt o. J.). Der Zeitpunkt und die Form der Elternschaft hat sich
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9 Alltagsumbrüche und ihr Einfluss auf das häusliche Medienhandeln
in der europäischen Gegenwartsgesellschaft vor allem aus zwei Gründen gewandelt: erstens aufgrund einer (durchschnittlich) deutlich längeren Ausbildungszeit und zweitens aufgrund des Wandels der Geschlechterverhältnisse (vgl. du Bois-Reymond 2013, S. 311–315). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Berufseintritt nach einer vergleichsweise frühen und kurzen Ausbildungszeit eng verknüpft mit dem Zeitpunkt, Kinder zu bekommen. Dem Mann war es dann üblicherweise vorbehalten die Rolle als Familienernährer einzunehmen, während die Frau in erster Linie Reproduktionsaufgaben im Haushalt übernehmen sollte. Diese Konstellation hat sich bis heute sichtbar verändert. Heutzutage entscheiden Paare abhängig von ihren (individuellen) Zielen und Wünschen – selbstbestimmter als je zuvor – wann sie Eltern werden möchten und wie sie die Rollenaufteilung als Eltern gestalten. Von besonderer Bedeutung ist dabei der Wunsch, den größeren Freiraum vor der Familiengründung länger auszuleben sowie – und dies gilt insbesondere für junge Frauen – die Berufskarriere in gesicherte Bahnen zu lenken. Wird der Übergang in die Elternschaft schließlich vollzogen, geht es für die Eltern insbesondere darum, einen neuen und in erster Linie vom Kind diktierten Tagesrhythmus zu finden, sich die nötigen Kompetenzen für die Fürsorge und Erziehung anzueignen sowie als Paar eine neue Form der Arbeitsteilung zu entwickeln (vgl. u. a. du Bois-Reymond 2013; Gloger-Tippelt 2007). Dies bleibt nicht folgenlos für die Mediennutzung.
9.2.2 Fallbeispiel Elternschaft: Das Paar Trautwein Anhand des folgenden Fallbeispiels werden die Veränderungen der Mediennutzung im Zuge der Elternschaft illustriert. Das Paar Trautwein ist dafür besonders gut geeignet, weil es typische Momente von Dynamik (und auch Beharrung) in sich vereint. Die Erstellung der Porträts zur Elternschaft basiert auf folgendem Themen- und Leitfragenkatalog (siehe Abb. 9.3):
9.2 Elternschaft und Veränderung des Medienhandelns
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Abb. 9.3 Themen- und Leitfragenkatalog der Porträts zum Alltagsumbruch Elternschaft. (Quelle: Eigene Darstellung)
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9 Alltagsumbrüche und ihr Einfluss auf das häusliche Medienhandeln
Das Paar Trautwein Das Paar Trautwein lebt gemeinsam in einer 3,5 Zimmer-Wohnung in einem nicht traditionellen Beziehungsverhältnis. Während Frau Trautwein (Jg. 1973) in Vollzeit als Grundschullehrerin arbeitet und damit die Hauptverdienerin in der Beziehung ist, arbeitet Herr Trautwein (Jg. 1966) halbtags bei einem Lieferdienst und darüber hinaus als selbstständiger Musiker. Frau Trautwein ist in der Beziehung die kompetentere Internetnutzerin. Ein entscheidender Faktor für diese Konstellation ist, dass sie im beruflichen Kontext das Internet benötigt. Sie verwendet es zur Unterrichtsvorbereitung und vermittelt Medienkompetenz in der Schule. Im Sommer 2012 bekommt das Paar sein erstes gemeinsames Kind. Das erste Jahr geht Frau Trautwein in Elternzeit, sodass sich bei ihr – im Vergleich zu Herrn Trautwein – eine tiefgreifendere Veränderung des Alltags und der Mediennutzung zeigt. Bereits mit Beginn der Schwangerschaft nutzt sie das Internet, um sich über die Schwangerschaft und Themen rund um die Elternschaft zu informieren. Besonders intensiv praktiziert sie dies im Mutterschutz, weil sie in dieser Phase über viel Zeit verfügt. Auch nach der Geburt bleibt das Internet ein wichtiger Ratgeber, um die Erziehungsaufgaben zu bewältigen und um neuen Situationen gewachsen zu sein: „Weiß nicht, wenn ein Zahn kommt, was kann man machen. Also da muss man ja nicht immer sofort zum Arzt rennen.“ (Frau Trautwein, 2013) Da nach der Geburt die kindlichen Bedürfnisse den Freiraum für die eigene Mediennutzung bestimmen, sind Trautweins hinsichtlich ihrer freizeitorientierten Mediennutzung deutlich eingeschränkt. Während sie vor der Geburt ihres Sohnes etwa zwei Mal die Woche gemeinsam Zeit vor dem Fernseher verbrachten, haben sie nun so gut wie gar keinen gemeinsamen Fernsehabend mehr: „Wir gucken gar kein Fernsehen mehr abends zusammen. […] Seit seiner Geburt haben wir es vielleicht zweimal gemacht […] Ich mache den Haushalt und [Herr Trautwein] guckt dann ruhig Fernsehen. (lacht) Das ist dann schon so. Kannst du ruhig zugeben.“ (Frau Trautwein, 2013). Die Veränderung der Mediennutzung wird hier also ungleich erlebt, da Frau Trautwein mehr mit Reproduktionsaufgaben belastet ist: „Ich schaffe es tagsüber nicht. Hätte ich auch nicht gedacht. Ich so: ‚Ach mein Gott, so ein Kind, so mal nebenher.‘ Aber es ist echt so ein Mittelpunkt hier […] Hauptsache er ist zufrieden irgendwie. Wenn er Hunger hat, da muss auch wirklich was zu essen gemacht werden und dann bleibt alles andere liegen. Und abends räume ich die Küche auf, dann Spülmaschine ein- und ausräumen, dann lege ich Wäsche zusammen, also dann mache ich echt eher Haushalt. Und dann falle ich irgendwann ins Bett. Und manchmal, weil wir da einen Fernseher haben, schalte ich irgendwas ein, aber schlafe meistens dabei ein.“ (Frau Trautwein, 2013)
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Auch ihre Internetnutzung konzentriert sich neben kindsbezogenen Anwendungen nur noch auf für sie zentrale Onlinedienste: „Ich mache wirklich nur noch E-Mails und Bankgeschäfte. […] Ich schaffe wirklich nichts mehr. (lacht)“ Durch eine Besonderheit ihres räumlichen Arrangements ist auch Herr Trautwein stark eingeschränkt, denn das Baby schläft in dem Zimmer, wo auch der stationäre PC – und damit der einzige Internetzugang – steht. Entgegen seiner früheren Gewohnheit, geht er abends nun nicht mehr online: „Jetzt, wo mein Sohn dort schläft, bleibt das Ding natürlich aus.“ (Herr Trautwein, 2013) Um den zeitlichen Einschränkungen durch die Geburt des Kindes etwas entgegenzuwirken, erweist sich für Frau Trautwein das Smartphone als hilfreich, um Fürsorgepraktiken (beispielsweise beim Stillen des Kindes) mit ihren subjektiven Bedürfnissen zu verbinden, „weil es einfach schneller geht, als mal eben den Computer hochzufahren“ (Frau Trautwein, 2013). Eine weitere Veränderung zeigt sich bei der Telefonnutzung von Frau Trautwein, da Telefonieren mit einem unruhigen Kleinkind, das permanent Aufmerksamkeit fordert, nur erschwert möglich ist: „Ich finde es manchmal anstrengend so lange zu telefonieren. Früher hatte man keine Probleme. Vier Stunden habe ich mal telefoniert mit meiner Freundin. Und dann am Schluss ‚Bis gleich‘. (lacht)“ (Frau Trautwein, 2013). Nun nutzt Frau Trautwein vermehrt zeitsouveräne Kommunikationsdienste wie E-Mail, SMS oder WhatsApp, die sich mit der Betreuung des Kindes besser vereinbaren lassen. Mit der Geburt entstehen auch neue Konsumbedürfnisse. Da Einkaufen wegen der Betreuung des Babys äußerst umständlich ist, greift insbesondere Frau Trautwein nun intensiver auf die Möglichkeit von Onlineshopping zurück, um Gegenstände wie Kleidung für das Baby oder Spielzeug bequem von zu Hause zu recherchieren und zu kaufen. Die Anschaffung eines Handys für Herrn Trautwein hängt ebenfalls mit dem Übergang in die Elternschaft zusammen. Hatte er sich gegen den Besitz eines Handys „ganz lange verweigert“ (Herr Trautwein, 2013), konnte er nun nicht mehr gegen die Anschaffung argumentieren. Denn Frau Trautwein ist seine Erreichbarkeit in Notfällen oder zwecks Absprachen, wenn er allein mit dem Kind unterwegs ist, zu wichtig: „Er hat es eine Woche vor der Geburt gekriegt. […] Ich habe gesagt: ‚Jetzt brauchst du eins, jetzt möchte ich, dass du eins hast.‘“ (Frau Trautwein, 2013) Die Möglichkeit zur Teilhabe an der Elternschaft für andere Personen durch das Veröffentlichen von Baby-Fotos auf Social Media ist für Frau Trautwein keine Option: „Ich würde auch kein Foto von meinem Sohn reinstellen. […] Wenn ich ein Foto von ihm reinstellen würde, dann wäre es für immer irgendwie im Internet. Das will ich nicht.“ (Frau Trautwein, 2013)
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9.2.3 Fallvergleichende Analyse Das Beispiel Trautwein zeigt, inwiefern der Übergang in die Elternschaft einen Wandel des Medienhandelns anstößt. Viele dieser Prozesse zeigen sich auch bei den anderen Paaren. Auch wenn die Alltagsveränderungen im Zuge der Elternschaft teils leicht unterschiedlich erlebt werden und die Paare ihr Medienhandeln in gewissem Maße auf andere Art und Weise verändern, so lassen sich über alle Fälle hinweg neun zentrale Prozesse identifizieren, die einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Alltagsveränderung und dem Wandel der Mediennutzung aufzeigen. Diese Prozesse werden im Folgenden vertiefend beschrieben. 1. Leere Zeit im Mutterschutz und neues Wissensbedürfnis: intensive Mediennutzung zur Schwangerschaft und zu entwicklungspsychologischen Themen In der Zeit vor der Geburt verfügen die werdenden Mütter durch den Eintritt in den Mutterschutz über hohe Zeitressourcen. Der Wegfall der Berufstätigkeit – wie in allen Fällen unserer Interviewten – ermöglicht es, Zeit auf neue Tätigkeiten zu verteilen. Da mit der Schwangerschaft ein neues Wissensbedürfnis entsteht, ist eine wichtige Tätigkeit um die leere Zeit zu füllen, die Recherche über die Schwangerschaft selbst und über entwicklungspsychologische Themen. Alle werdenden Mütter in unserem Sample nutzen daher in der Phase des Mutterschutzes Medien intensiv, um sich vor der Geburt über ihre neuen Interessen im Kontext der Elternschaft zu informieren, insbesondere verwenden sie das Internet in Form von Foren, Ratgeberseiten und Apps. Für die jungen Mütter sind Medien also eine wichtige Quelle, um in der neuen Lebenssituation Antworten auf neue Fragestellungen zu erhalten: „Als ich zum Beispiel Wehen bekommen hab, hab ich echt so eingegeben: 30-sekündige Wehen im Abstand von 10 Minuten. Und das erste Ergebnis war: Das sind Eröffnungswehen. Und ich so meinen Mann angerufen: ‚Ich glaub ich hab Eröffnungswehen.‘“ (Frau Bunk, 2013) Besonders zu Onlineforen, in denen andere Eltern ihre Erfahrungen schildern, zeigt sich aber ein ambivalentes Verhältnis. Einerseits finden sie dort hilfreiches Orientierungswissen, das andererseits aber auch verunsichern kann: „Teilweise in der Schwangerschaft war es so, dass man mal irgendwas geguckt hat, wenn irgendwas gezwickt hat oder so. Dann hat man geguckt und dann macht man sich verrückt, weil man in irgendwelchen Foren ist und man nur noch Horrorgeschichten irgendwie liest.“ (Frau Olsen, 2011)
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2. Hineinwachsen in die Elternrolle: Intensive Nutzung (neuer) Medienangebote zur Aneignung neuen Wissens und neuer Kompetenzen Das oben beschriebene Wissensbedürfnis verstärkt sich nochmals nach der Geburt des Kindes, denn nun haben die jungen Eltern mit der Betreuung und Versorgung eine neue Aufgabe. Neben neuem Wissen müssen sie sich nun auch neue Kompetenzen aneignen, damit sie ihrer neuen Rollen gerecht werden (können). Auch hier sind Medien und insbesondere das Internet wichtige und intensiv genutzte Rechercheinstrumente, wie zum Beispiel für das Paar Bunk: „Gerade am Anfang, als wir noch so unsicher waren mit ihr und als es noch so viele Probleme gab. ‚Sie atmet jetzt auf einmal total komisch. Ah, sie hat da einen riesigen Popel hängen. Wie holt man den denn jetzt raus‘ Solche Themen googelt man dann. Oder ‚Ist es normal, dass das Kind zwei Tage nicht scheißt? Wie oft darf ich stillen? Wie oft darf ich nicht stillen?‘ Solche Sachen haben wir auf jeden Fall extrem genutzt.“ (Frau Bunk, 2013)
Als Rechercheinstrument und Informationsquelle erleichtert vor allem das Internet den Eltern ein Hineinwachsen in die Rolle als Eltern. Die Aneignung neuen Wissens bleibt aber keineswegs auf das Internet beschränkt. So haben drei Paare (Sarholz, Olsen, Maier) die nido abonniert, eine Zeitschrift, die sich an junge Eltern richtet. Neben der thematischen Ausrichtung wird sie von unseren Paaren – und besonders von den Müttern – gern genutzt, weil sich die Zeitschriftenlektüre gut in ihren Alltag integrieren lässt (vgl. auch Müller 2012, S. 269–270): „Buch lesen ist absoluter Luxus, das ist Urlaub. Zeitschrift lesen ist eben leichter, weil man es zwischendurch mal machen kann. Und natürlich die Themen auch. […] Meine Eltern haben mir das Abo zum Geburtstag geschenkt. […] Ich hatte auch kurz überlegt, ob ich vielleicht lieber den Spiegel oder den Stern nehme, aber da dachte ich, ‚Vergiss es.‘ Es wird nicht klappen, dass ich mich hinsetze und politische Themen lese. Meine Konzentration, wenn ich dafür Zeit habe, reicht nicht aus. “ (Frau Sarholz, 2013)
Frau Maier schätzt zudem den haptischen Vorteil: „Natürlich könnte ich das auch im Internet lesen, aber ich sammle mir dort auch Sachen raus. Ich habe letztens erst wieder ein paar alte durchsortiert. Das was mich interessiert, reiße ich raus und hefte das ab. Weil es eben eine Babyzeitung ist.“ (Frau Maier, 2013) Über die Wissensaneignung hinaus nutzen die Paare auch spezifische Medienangebote, um die Versorgung und Betreuung des Kindes zu unterstützen und so die Ausübung der Elternrolle zu erleichtern. So nutzt Frau Bunk zum Beispiel eine Still-App, in die sie einträgt, wann sie gestillt hat und mit welcher Brust.
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3. Ausrichtung des Alltags auf die Bedürfnisse des Kindes: kaum Zeit für freizeitorientierte Mediennutzung und Entwicklung von Gegenstrategien mittels digitaler Medien Die Betreuung und Versorgung des Babys erfordert Zeit. Im Kontrast zu der Zeit im Mutterschutz schildern daher alle Eltern knapp gewordene Zeitressourcen nach der Geburt. Da Zeit nicht einfach verschwindet, sondern lediglich auf andere Tätigkeiten verteilt wird, bringt die Wahrnehmung knapper Zeitressourcen zum Ausdruck, dass die Paare Zeitsouveränität – insbesondere in der Freizeitgestaltung – verloren haben, weil neue Tätigkeiten hinzugekommen sind. Denn der Tagesablauf wird nach der Geburt überwiegend von den kindlichen Bedürfnissen diktiert. Die Eltern haben daher deutlich weniger Spielraum, um ihre Freizeit nach ihren Vorstellungen und Interessen zu gestalten. Sie können nicht frei entscheiden, ob sie sich um die Betreuung des Kindes kümmern wollen oder nicht. Zwangsläufig müssen andere Tätigkeiten eingeschränkt werden. Diese Verlusterfahrung an Zeitsouveränität spiegelt sich besonders in einer deutlich reduzierten freizeitorientieren Mediennutzung wider. Je nach individuellen Medienvorlieben wirkt sich dies beispielsweise auf die Fernseh- oder Radionutzung, die Nutzung von PC-Spielen, die Internetnutzung oder aber auch das Lesen der Tageszeitung aus. So schildert zum Beispiel Herr Olsen: „Wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, dann ist erst mal Familie angesagt. […] Also, durch die Kinder ist [die Mediennutzung] definitiv weniger geworden. […] Wir machen eigentlich nichts an, wenn wir mit den Kindern irgendwie zu tun haben.“ (Herr Olsen, 2011) Er bedauert besonders, dass er in seiner Facebook-Nutzung stark eingeschränkt ist: „Hab’ ich eine Zeit lang intensiver gemacht so, aber jetzt ist es wirklich weniger geworden. Seit zwei Kinder da sind, ist das ziemlich eingeschlafen. Das nervt mich auch zunehmend, muss ich ehrlich sagen.“ (Herr Olsen, 2011) Frau Sarholz verzichtet auf die Radionutzung im Bad, „weil wenn ich jetzt im Bad bin, hab’ ich ein halbes Ohr immer bei meinen beiden Töchtern.“ (Frau Sarholz, 2011) Für Herrn Sarholz war vor der Geburt das Lesen der Tageszeitung ein wichtiger Bestandteil seiner Alltagsgestaltung, auch um sich einen Rückzugsort zu schaffen, „weil das noch mal so was ist, wo du wirklich für dich bist.“ (Herr Sarholz, 2008) Seit der Geburt der Kinder bleibt die Tageszeitung allerdings häufig ungenutzt, sodass das Paar ihr Abonnement gekündigt hat: „Die Tageszeitung haben wir komplett abbestellt. […] Das hat schon unmittelbar mit den Kindern zu tun, weil wir einfach keine Zeit mehr haben. Die haben wir ständig mehrfach ungelesen weggeschmissen und dann haben wir einfach gesagt, dass wir uns das Geld sparen können.“ (Frau Sarholz, 2013)
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Herr Sarholz ist zudem erheblich in der Rezeption von Onlinespielen eingeschränkt. Vor der Geburt hatte seine intensive Nutzung gelegentlich zu Konflikten in der Partnerschaft geführt, die nun nicht mehr aufkommen. Besonders Frau Sarholz empfindet dies als sehr positiv: „Also ich hatte so das Gefühl, er hängt immer vorm Rechner […] Das ist jetzt natürlich dadurch, dass unsere Tochter da ist, schöner geworden. […] Gerade am Wochenende fand ich es früher blöd. Jetzt ist es eben wirklich ganz anders geworden.“ (Frau Sarholz, 2008) Unter dem Verlust an Zeitsouveränität leidet in besonderem Maße der Fernsehabend des Paares. Hatten die Paare vor der Geburt ihren Einstieg in den Fernsehabend noch überwiegend an der Programmgestaltung der Fernsehsender ausgerichtet, so markiert nun die Schlafenszeit der Kinder den Einstiegszeitpunkt: „Ich hatte mir mal eine TV-Movie-App runtergeladen, aber durch das Baby hat man auch gar keine Zeit mehr sich an solche Timetables zu richten.“ (Frau Bunk, 2013) Als Reaktion auf diesen eher unerwünschten Entwicklungsverlauf, entwickeln unsere Paare Gegenstrategien, um die eigenen Medienbedürfnisse an die Anforderungen der Betreuung des Kindes anzupassen. Als gelungene Lösung erweist sich beispielsweise die Nutzung von nicht-linearem Fernsehen. Mit Hilfe von Mediatheken, zeitversetztem Fernsehen oder Streaming-Anbietern wie Netflix können die Paare flexibel in den Fernsehabend einsteigen, nachdem das Baby im Bett schläft. Auch können die Paare so den Fernsehabend beliebig unterbrechen, falls das Baby wieder wach wird. Das Paar Sarholz nutzt zum Beispiel die Aufnahmefunktion des Fernsehers, um nicht auf ihr gemeinsames Fernsehritual verzichten zu müssen: „Das machen wir auch beim Tatort oft, wenn einer noch mit den Kindern beschäftigt ist. Weil viertel nach acht eben sehr selten zu schaffen ist. […] Dann nehmen wir den oft auf. Dann räumen wir noch auf und sagen, ‚Wollen wir jetzt mal gucken?‘ – ‚Ja, o.k.‘ Dann setzen wir uns wirklich hin, lassen den abspielen.“ (Frau Sarholz, 2013)
Das Schauen von Filmen, die über 90 Minuten zuzüglich (möglicher) Werbung andauern, ist bei den jungen Eltern allerdings selten geworden. Der spätere Beginn des Fernsehabends und weniger Schlaf führen dazu, dass längere Filme nicht mehr in die Alltagsgestaltung passen. Vielmehr schätzen die Paare in ihrer neuen Lebenssituation Serien, die sich aufgrund der kürzeren Sehdauer besser in den Alltag integrieren lassen:
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„Genau. Wir gucken keine Filme mehr, sondern wir gucken Serien. Zunächst haben wir eine Serie geguckt, die eine dreiviertel Stunde oder 50 Minuten ging und jetzt gucken wir gerade eine, die nur 25 Minuten geht. Dann essen wir genau parallel dazu, bringen dann die Teller weg, sind dann fertig und das war dann die Abendzeremonie.“ (Frau Bunk, 2013)
Hier deutet sich bereits an, dass Tätigkeiten im Kontext knapp gewordener Zeitressourcen nun vermehrt parallel ausgeübt werden, um auf diese Weise Zeit zu „verdichten“ (Neverla 2007, S. 46). Dazu gehört insbesondere Second-Screening, wie es beispielsweise Herr Olsen betreibt: „Ich hab’ abends eigentlich immer einen Rechner irgendwie auf dem Schoß. […] Dann gucken wir halt Fernsehen und ich surf’ nebenbei ein bisschen.“ (Herr Olsen, 2011) Auf diese Weise wird es möglich, dass beide Partner ihren inhaltlichen Interessen nachgehen, ohne räumlich voneinander getrennt zu sein. Für das Paar ist es also eine gelungene Praxis, um trotz symbolischer Trennung gemeinsam Zeit miteinander zu verbringen (vgl. auch Müller und Röser 2017). Auch das Verbinden von Fürsorgepraktiken mit der Smartphone-Nutzung ist für junge Eltern eine wichtige Form der Parallelnutzung. Neben der Möglichkeit Zeit zu verdichten, ist hierbei ein wichtiges Motiv, die Betreuungssituation, die von den Paaren teils auch als langweilig empfunden wird, zu bereichern. Frau Maier schaut zum Beispiel nebenbei mit dem Smartphone Serien auf YouTube: „Weil ich ja, wie schon gesagt, mit Emma dann hier häufig auch auf dem Sofa festhänge.“ (Frau Maier, 2013) Und Frau Olsen liest die App der ZEIT, während sie ihre (bereits älteren) Kinder ins Bett bringt: „Die schlafen eigentlich schon allein ein und ich muss nur im Raum sitzen und dann will ich auch nicht mit einer großen Zeitung rascheln. So finde ich die App eigentlich praktischer.“ (Frau Olsen, 2013) Allerdings sind sich die Paare unsicher, ob die Smartphone-Nutzung im Beisein des Kindes mit der Ausübung ihrer Elternrolle konform ist (siehe zu näheren Ausführungen unten). Ohnehin scheint dies schwieriger zu werden, wenn die Babys älter werden: „Am Anfang ging es, aber später gar nicht. Der hat sich ja durch alles ablenken lassen. Der hat sofort geguckt.“ (Frau Trautwein, 2013) Diese medialen Gegenstrategien zielen also vor allem darauf ab, Zeitsouveränität zurückzugewinnen, Einschränkungen abzumildern und den Alltag aufzuwerten. Aufgrund des höheren Gestaltungsspielraums sind besonders digitale Medien in dieser unflexiblen und von zahlreichen Zwängen umgebenden Lebenssituation dazu geeignet, den Medienalltag bestmöglich nach den eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen zu gestalten. Dies reflektieren auch die Paare, sodass diese im Zuge der Elternschaft gezielt digitale Medien angeschafft haben. So hat sich zum Beispiel Frau Sarholz ein Smartphone gekauft, um beim Stillen
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und während der Betreuung im Internet surfen zu können. Ebenfalls hat Frau Bunk ein Tablet von ihrem Mann geschenkt bekommen. Gerade direkt nach der Geburt war dieses für sie besonders wichtig, weil sie durch die Nutzung des Tablets im Sinne einer „social lifeline“ (vgl. Haddon 2004) dem Gefühl der (häuslichen) Isolation entgegenwirken konnte: „Das war sozusagen mein Retter durch die ersten drei Monate der Stillzeit. Ich konnte das super mit einer Hand halten. […] Ich habe Online-TV geguckt, ich habe gemailt, ich habe Facebook genutzt, ich war dadurch verbunden mit der Außenwelt.“ (Frau Bunk, 2013) 4. Immobilität und Fokussierung auf den häuslichen Lebensbereich: Mehr Fernsehabende bei zuvor außerhäuslich aktiven Paaren und Bedeutungsgewinn von Onlineshopping Mit der Betreuung des Kindes ist auch eine räumliche Immobilität verbunden, sodass sich der Lebensraum nun eher auf den häuslichen Bereich fokussiert. Paare wie Sarholz, die vor der Geburt viele außerhäusliche Unternehmungen hatten, haben aufgrund der räumlichen Immobilität nun häufiger einen gemeinsamen Fernsehabend: „Wir gucken schon, seitdem wir die Kinder haben, viel mehr Fernsehen. Früher sind wir ja abends erst um halb zehn nach Hause gekommen vom Sport oder so […]. Jetzt sind wir […] an 29 Tagen oder sagen wir mal […] fast immer zuhause.“ (Frau Sarholz, 2013) Für besonders aktive Paare wird durch diese Entwicklung die Reduktion der freizeitorientierten Mediennutzung (s. o.) – zumindest hinsichtlich des gemeinsamen Fernsehabends – relativiert. Dass das Paar Sarholz den regelmäßigen Fernsehabend aber gelegentlich als eintönig und nicht als ‚quality time‘ empfindet, zeigt ihr Kauf einer Xbox, mit der sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten Abwechslung in den fest routinierten Ablauf des Abends bringen wollten: „Wir wollten irgendwas haben, dass wir nicht abends immer nur vor […] der Glotze sitzen, sondern dass wir was gemeinsam machen und es ist ja nicht so, dass man mit Kind mal so eben weggehen kann.“ (Frau Sarholz, 2011) In Verbindung mit der räumlichen Immobilität zeigt sich zudem eine weitere Veränderung. Alle Paare berichten, dass sie nun viel häufiger per Onlineshopping einkaufen: „Weil man mit Kind eben auch nicht mal mehr so locker-flockig in die Stadt geht. Es ist sehr viel praktischer von zu Hause aus Dinge zu kaufen oder auch einfach nachzugucken, bevor man ewig da rumrennt. […] Also, wirklich Haushaltssachen, Techniksachen, Kindersachen, Spielzeug, Kindermöbel, was weiß ich.“ (Frau Sarholz, 2013)
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Hier spielt auch eine Rolle, dass durch die Elternschaft neue Konsumbedürfnisse entstehen. Gerade Paare, die eher in ländlicher Umgebung mit gering ausgebauter gewerblicher Infrastruktur leben, nutzen Onlineshopping besonders intensiv, um Zeit zu ‚sparen‘ und sich so die Alltagsgestaltung zu erleichtern. 5. Hoher Aufmerksamkeitsbedarf des Kindes: Zeitsouveräne Kommunikationsdienste ersetzen teils die Telefonnutzung Eine Besonderheit zeigt sich auch bei den medienvermittelnden Kommunikationsangeboten. Aufgrund des hohen Aufmerksamkeitsbedarfs des Babys und der häufig lauten Geräuschkulisse wird längeres Telefonieren im Beisein des Kindes zur Seltenheit. „Telefonieren ist echt schwierig, […] wenn sie, so wie jetzt, so laut ist […] Und ich mache halt wirklich fast alles per E-Mail. Aus diesem Grund auch, weil da habe ich keine Probleme. Also, die Laute werden nicht mit transportiert. Und für mich ist halt E-Mail wirklich das Hauptkommunikationsmedium.“ (Frau Sarholz, 2008)
Während 2008 noch E-Mails und SMS die wichtigsten Kommunikationsdienste für die jungen Eltern waren, sind es 2016 vor allem WhatsApp, Facebook und weiterhin E-Mails. „Meine Freundin in München hat zum Beispiel auch ein kleines Baby und dann ist es hektisch so zusammen zu finden, wo mal kein Gekreische im Hintergrund ist […]. Deswegen ist Facebook da echt praktisch.“ (Frau Bunk, 2013) In ihrer neuen Lebenssituation steigen die Paare also vermehrt auf zeitsouveräne Kommunikationsdienste um, weil diese ihnen die Möglichkeit bieten, den Kontakt mit anderen flexibel zu gestalten (vgl. bezogen auf die E-Mail-Nutzung Manceron et al. 2001 zit. n. Haddon 2004, S. 126). 6. Intensiver Kontakt zur Herkunftsfamilie und zu anderen Eltern: Nutzung von Kommunikationsdiensten zur Organisation und Teilhabe sowie zum Austausch über Familienthemen Nach der Geburt des Kindes suchen die jungen Eltern vermehrt Kontakt über verschiedene Kommunikationswege zu ihrer Familie. Neben organisatorischen Absprachen zur Unterstützung der Kinderbetreuung wollen sie vor allem die Familie an der Elternschaft teilhaben lassen. „Mit meinen Eltern, mit seiner Mutter, mit meiner Schwester telefoniere ich über das Festnetz. Ich verschicke auch E-Mails mit Fotos von unserem Baby an die Familie. Das ist noch ganz klassisch, weil die Eltern kein WhatsApp oder Facebook nutzen.“ (Frau Bunk, 2013) In der Familie von Frau Sarholz wird hingegen ganz selbstverständlich
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WhatsApp genutzt: „Wenn unsere Tochter dann wie vorgestern Laufrad fahren gelernt hat, dann wird mal kurz das Video gedreht und zack per WhatsApp rüber geschickt. Das find ich super. Meine Eltern sind 800 km weg und freuen sich einen Ast, sonst wüssten sie es gar nicht.“ (Frau Sarholz, 2013) Zudem intensivieren die Paare ihren kommunikativen Austausch mit anderen Eltern, während sie Freunde ohne Kinder eher vernachlässigen (vgl. bezogen auf die Telefonnutzung Manceron et al. 2001 zit. n. Haddon 2004, S. 126). Die Nähe zu Paaren mit Kindern suchen sie vermehrt, weil diese – im Kontrast zu kinderlosen Paaren – ähnliche Tagesabläufe haben und eher Verständnis für die Bedürfnisse und Bedarfe der jungen Eltern aufbringen. Zudem können sie sich mit anderen Eltern über geteilte Erfahrungen und über ähnliche Lebensthemen auszutauschen. So konstatiert beispielsweise Frau Sarholz: „Ich unterhalte mich hauptsächlich mit Freundinnen, die in der gleichen Lebenssituation sind. Die, sag ich mal, zu 90 Prozent genauso wie ich auch noch zuhause sind, also nicht im Büro sitzen. Dementsprechend haben sie die Zeit, mal eine WhatsApp zu schreiben. […] Inhaltlich geht es vornehmlich über das, was die Kinder machen, das hat sich ganz stark intensiviert.“ (Frau Sarholz, 2013)
7. Umbaumaßnahmen für das Kind(erzimmer): Wandel der räumlichen Medienarrangements Mit der Geburt des Kindes wird die Einrichtung eines Kinderzimmers nötig. Besonders wenn wenig Platz zur Verfügung steht, hat dies auch Auswirkungen auf die räumlichen Medienarrangements und die damit verbundenen häuslichen Kommunikationskulturen. So hat das Paar Sarholz den stationären PC aus dem Schlafzimmer im Esszimmer platziert, um im Schlafzimmer Platz für eine Wickelkommode zu schaffen. Das neue Raumarrangement empfinden beide als positiv, weil sie nun bei getrennter Fernseh- und PC-Nutzung nicht mehr räumlich voneinander getrennt sind und sich miteinander unterhalten können. Zwei andere Paare haben ihr Arbeitszimmer zugunsten eines Kinderzimmers aufgelöst und den PC ebenfalls im Wohnzimmer platziert. Im Kontrast zum Paar Sarholz wird diese Konstellation besonders von den Männern bedauert, weil ihnen nun ein Rückzugsort fehlt. Herr Trautwein hat hingegen (wie oben beschrieben) nur noch eingeschränkt Zugriff auf seinen PC, weil dieser in dem Zimmer steht, wo das Baby schläft. Inwieweit die zunehmende Mobilisierung der Onlinenutzung die Rahmenbedingungen für den Wandel der Mediennutzung im Zuge der Umbaumaßnahmen für das Kind verändern wird, ist eine spannende Fragestellung für zukünftige Forschungsperspektiven.
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8. Orientierung an medienpädagogischen Diskursen: Neue Mediennutzungsregeln und Konflikte Im Rahmen der neuen Rolle als Eltern müssen die Paare auch aushandeln, inwiefern sie ihre Mediennutzung nach der Geburt ausgestalten und reglementieren wollen. Darf im Beisein des Kindes gestreamt werden? Ist es in Ordnung, beim Stillen des Kindes das Smartphone zu benutzen? Sollen Babyund Familienfotos über soziale Medien geteilt werden? Das sind Fragen, bei denen auch medienpädagogische Diskurse ins Häusliche hineinwirken und an denen sich die Eltern orientieren. In unserem Sample zeigt sich zum Beispiel eine kollektiv geteilte Vorstellung darüber, dass im Beisein des Babys kein Fernsehen – sei es klassisch oder online – geschaut werden soll: „Und dann war mir so wichtig, weil es ja dann hieß, Babys und Fernseher und Input von Fernseher auf Babys. […] Da habe ich gesagt: ‚Nee, geht nicht mehr.‘ Und dann haben wir ihn eben, oder ich ihn, am Tag auch viel aus gehabt.“ (Frau Maier, 2013) Auch wenn sich die Paare nicht immer strikt an diese Überzeugung halten, so haben sie sich in ihrer Fernsehnutzung doch deutlich eingeschränkt, wie auch Frau Bunk, die auf ihren intensiven Serienkonsum verzichtet: „Jetzt gibt es ja die ganzen Vox Now, RTL Now und so weiter und da gucke ich dann echt… oder habe ich gemacht. Jetzt ist sie da […] und dann finde ich es auch blöd nebenbei Fernsehen zu gucken. SMS schreiben ist o.k., aber Fernsehen gucken noch nicht.“ (Frau Bunk, 2013) Auffallend ist in unserem Sample, dass die Mütter die Führungsrolle bei der Erstellung neuer Medienregeln eingenommen haben. Dies bleibt nicht immer konfliktfrei. Weil Frau Olsen die intensive Internetnutzung ihres Mannes als störend empfindet, versucht sie bereits vor der Elternschaft die Essenszeiten mit ihrem Partner medienfrei zu gestalten – ohne Erfolg. Seitdem das Baby da ist, bekommt ihr Wunsch nach Medienregeln aber mehr Legitimität. So sollen von nun an – mit Ausnahme von Telefon und Handy – keine Medien mehr im Beisein des Babys genutzt werden: „Es gibt kein Fernsehen oder so was.“ (Frau Olsen, 2011) […] „Und ich darf auch nicht auf den Rechner gucken.“ (Herr Olsen, 2011) Weil dies für Herrn Olsen einen bedeutenden Einschnitt in seine Nutzungsroutinen bedeutet, ist er äußerst unzufrieden mit dieser Regelung, widersetzt sich ihr aber nicht. Sobald die Kinder etwas älter sind, dürfen sie auch Fernsehen schauen. Dies bleibt natürlich nicht folgenlos für die Fernsehrezeption der Eltern: „Wir gucken Heidi, Bibi und Tina und Bibi Blocksberg.“ (Frau Sarholz, 2013) Die Fernsehnutzung
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der Kinder ist für sie aber auch eine gelungene Möglichkeit, um sich selbst Freiraum zu verschaffen: „Samstagsvormittags ist seit, ich sage mal, vielleicht einem halben Jahr so gut wie geblockt durch Fernsehen, wenn wir zuhause sind. Denn da kommen diese besagten Sendungen hintereinander, was eigentlich völlig unpädagogisch ist, weil es viel zu lang ist. Für uns ist es sehr praktisch, weil man dann mal ein bisschen Freiraum hat, sozusagen.“ (Frau Sarholz, 2013)
Beim Paar Sarholz zeigt sich auch der Vorteil digitaler Medien, denn sie verwenden die Aufnahmefunktion, um familiäre Rituale zu wahren: „Das ist super! Gerade mit Kindern ist es so perfekt. Die macht ein Riesenhype, wenn sie ihre Sendung nicht sehen kann und ich mache einen Riesenhype, weil wir essen wollen. Es gibt keinen Streit, weil wir sagen können, ‚Pause. Guck – danach geht es weiter.‘ So, das ist toll.“ (Herr Sarholz, 2013)
Konflikte können auf diese Weise vermieden werden. Recht penibel achten unsere Paare auch darauf, dass ihre Kinder nicht mit Inhalten in Kontakt kommen, die gemäß der Vorstellung der Eltern nicht für sie geeignet sind. So machen beispielsweise Sarholz den Tatort sofort aus, wenn ihre Tochter noch einmal wach wird und ins Wohnzimmer kommt, und Herr Olsen schaltet das WLAN ab, wenn die Kinder das Tablet bekommen. Weitaus weniger ausgeprägt als beim Fernsehen ist die Vorstellung darüber, ob Fürsorgepraktiken mit der Smartphone-Nutzung verbunden werden dürfen. Da das Smartphone zum Zeitpunkt der Interviews noch relativ neu war, hatten sich diesbezüglich noch keine sozialen Konventionen bzw. kulturellen Leitbilder herausgebildet. Die Kampagne ‚Medien-Familie-Verantwortung‘ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bringt exemplarisch zum Ausdruck, dass es momentan eine Suchbewegung darüber gibt, inwiefern Nutzungsweisen mit mobilen Medien in Betreuungssituationen gesellschaftlich anerkannt werden. So soll beispielsweise mit dem Plakat ‚Heute schon mit ihrem Kind gesprochen?‘ davor gewarnt werden, dass Kindern zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, weil z. B. beim Kinderwagenschieben nur auf das Smartphone geschaut wird.
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Auch unsere Paare sind sich unsicher, ob die Nutzung des Smartphones beim Stillen oder auf dem Spielplatz sozial akzeptiert ist: „Und gerade jetzt so, wenn ich den Kinderwagen schiebe, gibt es ja diese Internet-Mums, so heißt es ja irgendwie, wo man mit beschimpft wird, glaube ich, wenn man den Kinderwagen schiebt und sich nicht sein süßes Baby anguckt, sondern leider mit seinen Freundinnen über WhatsApp in Verbindung bleibt. Und ich komme mir schon schlecht vor, wenn ich einhändig den Kinderwagen schiebe und in der anderen Hand mein iPhone habe.“ (Frau Bunk, 2013)
Aufgrund der bislang unklaren sozialen Konventionen sind die Eltern gefordert, durch ihr Handeln eine Art Modellverhalten als kulturelle Praktik zu entwickeln, die eine angemessene Nutzung des Smartphones im Zuge des Übergangs darstellt. Besonders relevant scheint in dem Zusammenhang die Frage, ob die jungen Eltern ihre Rolle als Mutter oder Vater trotz Parallelnutzung ‚gut‘ ausfüllen können oder nicht und wie dies von ‚Außen‘ bewertet wird. Eine weitere Frage, der sich die Eltern stellen müssen, ist, ob sie Babyfotos auf Social Media veröffentlichen wollen. Diese Praxis wird mit dem Begriff Sharenting gefasst, einer Wortkombination aus dem englischen ‚share‘ (‚teilen‘) und ‚parenting‘ (‚Elternschaft‘).3 Ähnlich wie das Paar Trautwein sind auch die meisten anderen Eltern in unserem Sample dem Sharenting gegenüber eher vorsichtig und kritisch eingestellt. So stellen die Paare Sarholz und Bunk keine Bilder von ihren Kindern ins Netz. Frau Sarholz ist vielmehr überrascht von den Verhaltensweisen in ihrem Bekanntenkreis: „Ich bin eher so geschockt, was Freundinnen von mir da mit ihren Kindern machen. Die haben ihr Profilbild mit Kind auf dem Arm und so. Da bin ich halt super skeptisch. Das würde ich nicht machen.“ (Frau Sarholz, 2013) Lediglich die Paare Olsen und Maier sind dem Sharenting etwas weniger ablehnend gegenüber eingestellt, sodass sie gelegentlich Babyfotos in (teil-)öffentlichen Netzwerken posten und dies als gelungene Möglichkeit empfinden, Freunde und Familie an ihrer Elternschaft teilhaben zu lassen. „Ich bin auch nicht so, dass ich jetzt alle Naselang irgendwelche Fotos von meinen Kindern da bei Facebook reinstellen muss. Na gut, wenn jetzt mal ein extrem lustiges Foto dabei ist. […] So was vielleicht, aber sonst.“ (Frau Maier,
3Vergleiche
2017.
zur Visualisierung von Kindheit und Familie im Social Web auch Autenrieth
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2013) Allerdings hat sich im Verlauf der Studie auch bei diesen beiden Paaren eine distanziertere Einstellung gegenüber dem Onlinestellen von Kinderfotos entwickelt. Möglicherweise spiegeln sich in ihrer Einstellungsänderung die Diskussionen um Datenschutz im Internet wider. Auffallend ist insgesamt, dass die Entscheidung über das Veröffentlichen von Babyfotos im Internet prinzipiell in der Hoheit der Mütter liegt. 9. Retraditionalisierung der geschlechtsgebundenen Arbeitsteilung: Stärkere Auswirkung auf die Mediennutzung der Mütter Durch den Übergang in die Elternschaft müssen die Paare ihre Arbeitsteilung neu organisieren und damit auch ihre Beziehung neu definieren. Im Zentrum steht dabei die Frage, inwiefern sie Beruf und Familie miteinander vereinbaren wollen. Diese Aushandlungsprozesse wirken sich auch auf das Medienhandeln aus. Dabei zeigt sich in unserem Sample, dass die Mütter ihre Mediennutzung stärker verändert haben als die Väter. Das Beispiel der Elternschaft macht daher auch deutlich, auf welche Weise gesellschaftliche Strukturen ins Häusliche hineinwirken: War die Beziehungskonstellation unserer Paare vor der Geburt eher durch eine egalitäre und ausbalancierte Aufgabenteilung geprägt, so entwickelt sich diese im Zuge der Elternschaft in Richtung einer traditionelleren Arbeitsteilung. Damit ist nicht gemeint, dass sich die Väter vollständig aus der Betreuung heraushalten – auch weil dies die Frauen aktiv einfordern. Aber es sind überwiegend die Mütter, die sich Wissen über die Kindererziehung aneignen, Babyartikel online kaufen oder deren freizeitorientierte Mediennutzung sich deutlich reduziert, weil sie mit der Betreuung und Versorgung des Kindes beschäftigt sind. Bei unseren Paaren hat sich also eine traditionellere geschlechtsgebundene Arbeitsteilung als vorteilhaft durchgesetzt, die mit der Mediennutzung interagiert. Dieser Wandel wird in der Soziologie unter dem Begriff der Retraditonalisierung der Geschlechterverhältnisse diskutiert (vgl. u. a. du Bois-Reymond 2013; Grunow 2013; Müller und Zillien 2016). Für den Übergang in die Elternschaft sind solche Retraditionalisierungsprozesse gut belegt4:
4Schulz
und Blossfeld (2006, S. 44) haben beispielsweise in einer quantitativen Langzeitstudie mit 1528 (zunächst kinderlosen) Paaren eindrücklich veranschaulicht, dass der Anteil der partnerschaftlich organisierten Paare zu Beginn der Eheschließung sich innerhalb von 14 Jahren von 42,6 % auf 13,7 % reduziert. Gleichzeitig stieg der Anteil der stark traditional organisierten Paare von 25,5 % auf 60,2 % an. Sie zeigen auf, dass die Geburt des ersten Kindes diese Entwicklung in erheblichem Maße beeinflusst.
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„Während in der kinderlosen Phase die Partner sich die Haushaltsaufgaben solidarisch teilten, näherten sich die männlichen Partner den Standpunkten ihrer Partnerinnen, die auf tätige Mithilfe in der Haushaltsführung und Kinderversorgung nach der Geburt rechneten, zwar an, waren aber insgesamt weniger geneigt bzw. imstande, ihre Berufslaufbahn an die neuen Familienbedingungen und Anforderungen anzupassen.“ (du Bois-Reymond 2013, S. 322)
Im Allgemeinen lässt sich die Retraditionalisierung auf ein komplexes Bündel verschiedener Ursachen zurückführen. Eine zentrale Rolle nehmen dabei soziokulturelle Hintergründe wie das Gender-Pay-Gap oder Leitbilder der Geschlechter ein, die zum Beispiel prägen, wer sich für welche Tätigkeiten zuständig fühlt und inwiefern sich Lebensentwürfe von Frauen und Männern unterscheiden. So scheinen junge Männer – so auch unsere Väter im Sample – dazu zu neigen, „länger an der geschlechtsspezifischen Normalbiografie festzuhalten. Sie haben in der Regel einen Vollzeitberuf, wie ihre Väter, und gehen davon aus, dass ihre Partnerin sie für Familien- und Kinderaufgaben entlastet.“ (du Bois-Reymond 2013, S. 316) Zudem berichten die Mütter in unserem Sample, dass sie die Betreuungsaufgaben größtenteils gerne übernehmen und teilweise den Männern nur ungerne überlassen wollen: „Ich glaube einfach, zumindest war es bei uns so, dass ich die Verantwortung auch schlecht abgeben konnte und ich darin auch so aufgegangen bin.“ (Frau Sarholz, 2011) Insgesamt lässt sich für den Übergang in die Elternschaft – auch im Hinblick auf den Wandel der Mediennutzung – aus Geschlechterperspektive ein ambivalentes Bild zeichnen. Zum einen wird durch die Vereinbarkeitsproblematik von Beruf und Familie und den damit verbundenen Aushandlungsprozessen das Rollenverständnis zwischen Mann und Frau zur Diskussion gestellt, wie beispielsweise beim Paar Bunk: „Früher, als sie noch kleiner war, […] haben wir uns echt um die Freizeit, die man hat, geprügelt. […] Diese klassischen Rollenthemen kommen dann wirklich oft, obwohl man früher oft darüber gelacht hat. Aber es ist tatsächlich so.“ (Frau Bunk, 2013) Andererseits zeigt sich eine Tendenz zu einer traditionelleren Aufgabenteilung, die sich auch im Medienhandeln ausdrückt: „Mein Mann sagt dann immer: ‚Dann müssen WIR uns mal darum kümmern.‘ Was heißt: ‚Kümmere du dich darum‘. […] Ich würde es gut finden, wenn du […] auch mal etwas online bestellen würdest. Aber andererseits finde ich es auch ganz gut wenn ich alleine die Fäden in der Hand halte.“ (Frau Bunk, 2013)
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Es ist also keineswegs so, dass die Männer die Entscheidung zu einer traditionelleren Arbeitsteilung allein fällen. Vielmehr scheinen zwei Herzen in der Brust der Mütter zu schlagen: Sie wollen einerseits entlastet werden und ihre beruflichen Karriereperspektiven verfolgen, andererseits siedeln sie selbst die Erziehung in ihrem Hoheitsbereich an und können die Betreuung des Kindes nur schwer abgeben; auch weil sie sich mehr Wissen in diesem Bereich angeeignet haben. Ein ähnliches Phänomen hat Kaufmann (1992) mit dem Begriff der „Falle“ beschrieben. In seiner qualitativen Längsschnittstudie „Schmutzige Wäsche“ hat er die Zuständigkeiten für das Wäschewaschen untersucht. Er beschreibt mit diesem Begriff, dass – obwohl ein Großteil der Paare eine gleichberechtigte Zuständigkeit anstrebt – die Frauen mehr Zeit für das Waschen der Wäsche aufbringen, weil sie es einerseits besser können und andererseits auch einen höheren Anspruch daran haben: „Der Begriff der Falle verweist […] auf jenen internen Funktionsmechanismus, der darin besteht, daß [sic!] die Frau selbst ein System von Praktiken verstärkt, welches sie im übrigen kritisiert, daß [sic!] sie mit einem Teil ihrer Person das Gegenteil von dem tut, was der andere Teil denkt, und daß [sic!] das Leben aufgrund dieser inneren Inkohärenz schwer erträglich wird. […] Sie beruht auf Verhaltensungleichheiten in der Beziehung, die dazu drängen, bestimmte Dinge gegen den eigenen Willen zu tun.“ (Kaufmann 1992, S. 257)
Zudem sinke die Motivation bei den Männern, weil sie im Sinne eines „schlechten Schülers“ (Kaufmann 1992, S. 283) wiederholt negatives Feedback erhalten. Die Aspekte Expertise und Anspruch scheinen also sowohl beim Wäschewaschen als auch bei der Kinderbetreuung die Entwicklung zu einer traditionellen Arbeitsteilung zu begünstigen. Das obige Fallbeispiel des Paares Trautweins bietet aber auch ein Indiz für den Wandel soziokultureller Hintergründe, denn nach der Elternzeit ist Frau Trautwein – vermutlich da sie die Hauptverdienerin ist – wieder in ihren Beruf eingestiegen und Herr Trautwein hat zuhause die Betreuung des Kindes übernommen. Dass diese Konstellation allerdings (noch) mit Schwierigkeiten verbunden sein kann, wird am Paar Sarholz deutlich. Bei ihrem ersten Kind ging Herr Sarholz in Elternzeit, während Frau Sarholz weiterhin voll berufstätig war. Beide erklären diese Aufteilung im Rückblick allerdings für gescheitert, weil Herr Sarholz sich wie in „Isolationshaft“ (Herr Sarholz, 2011) fühlte und weil
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Frau Sarholz mit der Doppelrolle als Hauptberufstätige und Mutter überfordert war: „Sobald ich zur Haustür reinkam, war ich wieder 100 Prozent Mama. […] Also, ich hab’ trotzdem noch die Sachen für unsere Tochter im Internet bestellt. […] Es hat mich sehr an den Rand gebracht und auch irgendwie war das nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe. Also, ich bin halt auch gerne Mutter und ich möchte auch gerne arbeiten, aber halt nicht so. […] Immer hin und her gerissen sein.“ (Frau Sarholz, 2011)
Bei den (medienbezogenen) Tätigkeiten im Kontext der Kinderversorgung hat Frau Sarholz demzufolge wenig Entlastung bekommen, weil diese auch mit geschlechtsgebundenen Interessensbereichen korrespondieren: „Das ist, glaub’ ich, so geblieben, wir haben da unsere Bereiche. Also, ich würde nach wie vor gerne für Elektronik gucken oder für Sport, solche Sachen, aber für Kinder, also, wenn es ums Babyphone geht oder wenn es dann um die Puschen geht, dann nee, danke. Das interessiert mich weniger.“ (Herr Sarholz, 2011)
Deswegen war für das Paar Sarholz klar, dass sie beim zweiten Kind diesen „Rollentausch“ (Frau Sarholz, 2011) wieder rückgängig machen. Ihre Bewertung dieser Konstellation als ‚Rollentausch‘ verdeutlicht zudem noch einmal, dass das Leitbild beziehungsweise die Normalvorstellung der Rollenaufteilung bei den Paaren in unserem Sample traditionell ausgeprägt ist, obwohl sie als Ideal eine egalitäre Aufteilung anstreben.
9.2.4 Zusammenfassung Mit der Geburt des Kindes ergibt sich für die jungen Eltern in unserem Sample eine neue Lebenssituation. In dieser veränderten Lebenssituation gestalten sie ihr Medienrepertoire neu. Ausschlaggebend dafür sind neun zentrale Momente der Alltagsveränderung, die einen Wandel ihrer Mediennutzung anstoßen (siehe Abb. 9.4).
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Abb. 9.4 Dynamik im Medienrepertoire durch Elternschaft: Übersicht. (Quelle: Eigene Darstellung)
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Erstens entsteht mit Beginn der Schwangerschaft ein neues Wissensbedürfnis (inhaltlich). Vor allem die Mütter in unserem Sample informieren sich in dieser Zeit ausgiebig über Erziehung, Gesundheit, Geburt und Schwangerschaft in und mit Medien; besonders intensiv in der Zeit des Mutterschutzes, weil sie in dieser Phase durch den Wegfall der Berufstätigkeit über viel Zeit verfügen (zeitlich). Dabei greifen sie auch auf Onlineforen zurück, zu denen sie ein ambivalentes Verhältnis entwickeln. Einerseits erhalten sie dort einen authentischen Einblick zu Fragen und Problemen, die sie beschäftigen. Andererseits ruft die Rezeption Ängste und Sorgen hervor, weil die Onlineforen – so der Eindruck der Interviewten – vornehmlich Negativberichte beinhalten. Die Eltern reflektieren also durchaus die Vertrauenswürdigkeit ihrer Quellen; teils mündet dies darin, dass sie auf Onlineforen verzichten und sich gezielt auf die Suche nach vertrauenswürdigen Quellen begeben. Nach der Geburt entsteht zweitens der Bedarf, Wissen und Kompetenzen weiter auszubauen, um für die Versorgung und Betreuung des Kindes gewappnet zu sein (inhaltlich). Insbesondere das Internet und Elternzeitschriften fungieren nun als wichtige Rechercheinstrumente. Zudem verwenden die jungen Eltern digitale Medien wie Still-Apps als Hilfstechnologien für die Alltagsorganisation. Insgesamt wird in dieser Phase eindrücklich sichtbar, inwiefern Medien das Hineinwachsen in die Elternrolle unterstützen. Drittens richten die Eltern ihren Alltag nun auf die Bedürfnisse des Kindes aus, womit zwangsläufig ein Verlust an Zeitsouveränität einhergeht (zeitlich). Damit verbunden ist ein deutlicher Rückgang ihrer freizeitorientierten Mediennutzung. Je nach individuellen Medienvorlieben wirkt sich dies auf unterschiedliche Mediennutzungsweisen aus, wie Fernsehen, PC-Spielen oder Lesen der Tageszeitung. Zudem steigen die Paare später in den (gemeinsamen) Fernsehabend ein. Dieser beginnt erst, wenn die Kinder im Bett sind. Als Reaktion auf die zeitlichen Einschränkungen entwickeln sie aber auch Gegenstrategien: Mittels digitaler Technologien gestalten sie ihre Mediennutzung nun zeitlich flexibler und verdichten zudem Zeit, indem sie Medien parallel zu anderen (Medien-)Tätigkeiten nutzen. Zu diesen Strategien gehört die neue bzw. vermehrte Nutzung von Second Screen, nicht-linearem Fernsehen und mobilen Medien. Darüber hinaus verbinden sie Fürsorgepraktiken wie das Stillen des Babys mit der Nutzung digitaler Medien wie dem Smartphone. All dies zielt darauf ab, ihren Alltag aufzuwerten. Zudem schaffen sie sich mit dem Ziel, Zeitsouveränität zurückgewinnen, neue digitale Medien an und schauen neuerdings bzw. häufiger als zuvor Serien, weil diese sich aufgrund der kürzeren Sehdauer besser in den Alltag integrieren lassen.
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Viertens fokussiert sich der Lebensraum der jungen Eltern wegen des Babys in höherem Maße auf den häuslichen Lebensbereich (räumlich); sie sind nun wesentlich immobiler. In diesem Zusammenhang nimmt die Bedeutung von Onlineshopping zu, denn durch das Kaufen im Internet lässt sich die Alltagsorganisation besonders gut vereinfachen. Zuvor außerhäuslich aktive Paare verbringen zudem den Abend häufiger als noch vor der Geburt gemeinsam zuhause vor dem Fernseher. Die Geburt des Kindes ist fünftens mit Umbaumaßnahmen im Zuhause und bei einigen Paaren auch mit einem Wandel der räumlichen Medienarrangements verbunden (räumlich). Mediennutzungsweisen und auch die damit zusammenhängenden häuslichen Kommunikationskulturen können sich in diesem Zuge wandeln, weil z. B. der PC vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer umgestellt wird und das Paar nun bei getrennter Mediennutzung (Fernsehen und PC) nicht mehr räumlich voneinander getrennt ist und sich nebenbei unterhalten kann. Sechstens telefonieren die Paare aufgrund des hohen Aufmerksamkeitsbedarf des Babys und der häufig lauten Geräuschkulisse viel seltener (sozial). Stattdessen empfinden sie zeitsouveräne Kommunikationsdienste wie E-Mail oder WhatsApp als ideal, die sie nun auch vermehrt nutzen. Dabei haben sie siebtens besonders häufig mediatisierten Kontakt zu ihrer Familie und zu anderen Eltern aus dem Freundes- und Bekanntenkreis (sozial), um Absprachen zur Betreuung zu organisieren, sich über Familienthemen auszutauschen oder um sie an der Elternschaft teilhaben zu lassen. Der Kontakt zu Freunden ohne Kinder lässt hingegen sichtbar nach. Die jungen Eltern orientieren sich zudem achtens an medienpädagogischen Diskursen (sinnhaft), denn im Kontext der Elternschaft gilt es, eine eigene Vorstellung über die Mediennutzung im Beisein des Kindes oder mit Bezug zum Kind zu entwickeln. Diese Aushandlungsprozesse münden teils auch in selbst auferlegten Regeln wie beispielsweise in einem Fernsehverbot in Gegenwart des Kindes. Unterschiedliche Vorstellungen über Mediennutzungsweisen im Kontext der Elternschaft können auch zu Konflikten innerhalb des Paares führen Dabei setzt sich scheinbar – zumindest vorerst –die Person durch, die aus medienpädagogischer Sicht die überzeugenderen Argumente zum (vermeintlichen) Wohle des Kindes besitzt, auch wenn dies mit persönlichen Einschränkungen verbunden ist. Spätestens bei älteren Kindern werden die medienpädagogischen Überzeugungen einer idealtypischen Medienerziehung teilweise auch vernachlässigt. So dürfen einige Kinder z. B. über einen längeren Zeitraum Fernsehen schauen, weil sich die Eltern auf diese Weise etwas Freiraum verschaffen können.
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Zu guter Letzt zeigt sich im Zuge der Elternschaft neuntens eine Tendenz zu einer traditionelleren Arbeitsteilung zwischen den Paaren (sozial). Die Geburt des Kindes erfordert es, die Paarbeziehung (und damit auch die Arbeitsteilung) neu zu organisieren und neu zu definieren. Diese Aushandlungsprozesse wirken sich auch auf das Medienhandeln aus. Dabei zeigt sich in unserem Sample eine Retraditionalisierung der geschlechtsgebundenen Aufgabenteilung, weil die Mütter insgesamt mehr Verantwortung für Erziehung und Fürsorge übernehmen und damit zusammenhängend auch stärker als die Väter ihre Mediennutzung verändern.
9.3 Auszug der Kinder und Veränderung des Medienhandelns Den Auszug der Kinder erlebten in unserer Panelstudie die Paare Weinert, Brinkmann und Meckel. Da bei allen drei Paaren im Untersuchungszeitraum alle Kinder ausgezogen sind, leben die Paare in ihrem Haushalt wieder zu zweit. Für die Eltern spielen Medien nach dem Auszug der Kinder insbesondere eine wichtige Rolle, um den Kontakt zu den Kindern trotz der räumlichen Distanz aufrechtzuerhalten und um neu gewonnene Freiheiten auszufüllen. Im Folgenden wird zunächst der Auszug des Kindes in seinen charakteristischen Besonderheiten skizziert. Anschließend wird anhand eines Fallbeispiels sowie anhand der vergleichenden Auswertung der Wandel der Mediennutzung nach dem Auszug der Kinder beschrieben.
9.3.1 Charakteristika vom Auszug der Kinder Der Auszug aus dem Elternhaus stellt einen schwerwiegenden Einschnitt in der familiären Entwicklung dar (vgl. Holdsworth und Morgan 2005; Papastefanou 2000). Er ist ein wichtiger Schritt der Loslösung der Kinder von den Eltern und mündet in einer Umgestaltung der Eltern-Kind-Beziehung. Für den Auszug kann es verschiedene Gründe geben. So kann er selbstbestimmt erfolgen oder aber bedingt durch äußere Umstände wie den Beginn eines Studiums oder den Berufseinstieg. In der Regel ist der Zeitpunkt des Auszugs gut vorhersehbar, sodass sich sowohl Eltern als auch Kinder emotional und organisatorisch darauf vorbereiten können. Wie der Auszug letztlich empfunden und erlebt wird, hängt aber maßgeblich von der Intensität der Eltern-Kind-Beziehung und dem Motiv
9.3 Auszug der Kinder und Veränderung des Medienhandelns
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des Auszugs ab (vgl. Dierks 2005, S. 392). So gibt es zum Beispiel in der entwicklungspsychologischen Forschung die These, dass Eltern – und besonders Mütter – auf den Auszug mit stark negativen Gefühlen reagieren, sofern der Schwerpunkt ihres Lebensinhalts auf der Ausübung der Elternrolle liegt (vgl. kritisch zum empty-nest-Syndrom Papastefanou 2000, S. 380). Prinzipiell, so zeigt die Forschung allerdings, wird der Auszug sowohl von den Kindern als auch von den Eltern positiv bewertet und gut bewältigt, sodass er den „allgemein in der Familie herrschenden emotionalen Grundtenor nicht [berührt]“ (Kracke 2007, S. 508). Häufig steigt nach dem Auszug sogar die gegenseitige Wertschätzung, was zu einer positiven Eltern-Kind-Beziehung beiträgt, auch weil Konflikte abnehmen, mit denen man im Alltag zuvor konfrontiert war. Trotzdem ist die raum-zeitliche Distanz zwischen Eltern und Kindern für den familiären Zusammenhalt eine besondere Herausforderung. Darüber hinaus ist der Auszug sowohl für die Eltern als auch für die Kinder mit mehr Freiräumen verbunden. Während die Eltern mehr Handlungsfreiheit durch den Wegfall elterlicher Pflichten erhalten, gewinnen die Kinder an Autonomie, weil sie unabhängiger von der elterlichen Kontrolle und Unterstützungsleistung werden (vgl. Holdsworth und Morgan 2005, S. 152). Gleichzeitig geht damit auch die Herausforderung einher, diesen zusätzlichen Freiraum auszugestalten.5 All diese Aspekte haben auch Auswirkungen auf die Mediennutzung.
9.3.2 Fallbeispiel Auszug der Kinder: Das Paar Weinert Anhand des folgenden Fallbeispiels werden die Veränderungen der Mediennutzung im Zuge des Auszugs der Kinder illustriert. Das Paar Weinert ist dafür besonders gut geeignet, weil es typische Momente von Dynamik (und auch Beharrung) in sich vereint. Die Erstellung der Porträts zum Auszug der Kinder basiert auf folgendem Themen- und Leitfragenkatalog (siehe Abb. 9.5):
5Im
Vergleich zu den Eltern ist der Auszug für die Kinder im Allgemeinen mit einem tieferen Umbruch der Alltagsgestaltung verbunden, denn ihr Auszug wird zumeist von weiteren Transitionsprozessen (wie den Einstieg in den Beruf) flankiert (vgl. Konietzka und Tatjes 2016). Darüber hinaus erfordert der Umzug – im Kontrast zu den Eltern – eine Neuorientierung am Wohnort, eine selbstständige Haushaltsorganisation und Finanzplanung sowie oftmals den Aufbau neuer sozialer Kontakte (vgl. Bernier et al. 2005; Höblich und Meuth 2013). Da in dieser Studie die Auswirkung des Auszugs der Kinder auf den Medienalltag der Eltern erforscht wird, werden diese Veränderungen (und ihre Folgen für das Medienhandeln) nicht näher ausgeführt.
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9 Alltagsumbrüche und ihr Einfluss auf das häusliche Medienhandeln
Abb. 9.5 Themen- und Leitfragenkatalog der Porträts zum Alltagsumbruch Auszug der Kinder. (Quelle: Eigene Darstellung)
Das Paar Weinert Frau Weinert (Jg. 1965) und Herr Weinert (Jg. 1964) leben gemeinsam in einem 170 m2 großen Haus. Herr Weinert arbeitet als selbstständiger Tischlermeister im eigenen Betrieb. Frau Weinert ist als Sekretärin an einer Grundschule in Teilzeit tätig. Vor der zweiten Erhebungsphase 2011 ziehen ihr ältester
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Sohn (November 2009) und ihre Tochter (Oktober 2010) aus. Vor der dritten Erhebungswelle verlässt auch ihr jüngster Sohn das Haus. Bereits 2011 bemerkt Frau Weinert, dass es „still geworden ist“ (Frau Weinert, 2011). Aufgrund der geringeren Betreuungsaufgaben hat das Paar nun mehr Zeit für persönliche oder gemeinsame Freizeitaktivitäten: „Man kann wieder mehr miteinander machen. Man muss es nur selbst erst wiederentdecken, weil die Kinder immer so viel Platz eingenommen haben.“ (Herr Weinert, 2011) Den größeren Freiraum nutzt Frau Weinert insbesondere, um ihren Kontakt zu verschiedenen Frauengruppen zu intensivieren. Sie ist deshalb häufiger im Internet, denn der Kontakt verläuft per E-Mail und zwecks Terminabsprache via Doodle. Herr Weinert nutzt die zusätzlichen Zeitressourcen für ein neues Hobby, dem Filmen und Schneiden von Amateurfußball: „Dabei kann ich entspannen, das ist eine schöne Sache. […] Darauf bin ich über den Ältesten gekommen, weil der Fußball spielt. Der Kleine auch, die filme ich auch.“ (Herr Weinert, 2011) Da seine Söhne nach dem Auszug weiterhin im Heimatverein Fußball spielen, ist dies eine gelungene Möglichkeit, um seinen Freizeitinteressen nachzugehen und gleichzeitig mit den Kindern verbunden zu bleiben. Die zusammengeschnittenen Spielberichte stellt er bei YouTube online: „Und das finden die auch ganz toll, auch der Verein. Die freuen sich immer total, wenn sie das nachher sehen können.“ (Herr Weinert, 2013) Zudem verfolgt er neuerdings online den Regionalsport in verschiedenen Tageszeitungen, informiert sich über digitale Filmbearbeitung im Netz und schaut, wie andere bei YouTube Spielberichte aufbereiten, um sich davon inspirieren zu lassen. Wenn die neuen Spielberichte online sind, informiert er darüber die lokalen Zeitungsredaktionen und die gegnerischen Vereine per E-Mail. Aufgrund seines neuen Hobbys hat sich seine Internetnutzung also erheblich intensiviert. Neuerdings geht er auch gelegentlich parallel zum Fernsehen online: „Ich habe manchmal den Laptop auf den Beinen und gucke da mal den Sport nach oder so was. Das mache ich dann schon.“ (Herr Weinert, 2013) Das Internet nimmt für das Paar also einen wichtigen Platz ein, um die dazugewonnene zeitliche Flexibilität mit ihren Interessen und Hobbys auszugestalten. Außerdem hat es einen zentralen Stellenwert, um den familiären Zusammenhalt nach dem Auszug über die raum-zeitliche Distanz zu gewährleisten. Den direkten Kontakt per WhatsApp empfindet Frau Weinert beispielsweise als „toll. […] Da schreiben wir schon viel.“ (Frau Weinert, 2013) Zudem informieren sich die Weinerts über das Internet auch über die lebensweltliche Situation ihrer Kinder. So hält sich beispielsweise Herr Weinert über die Ergebnisse in der Liga der Fußballmannschaften seiner Söhne auf dem Laufenden. Darüber hinaus zeigt sich bei den Weinerts, dass Medienkompetenzunterschiede zwischen den Generationen – aus Sicht der Eltern – Anknüpfungspunkte bieten, um auch über
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9 Alltagsumbrüche und ihr Einfluss auf das häusliche Medienhandeln
die raum-zeitliche Distanz den familiären Zusammenhalt zu stärken. So haben die Kinder nach ihrem Auszug die Nutzung zahlreicher Onlineanwendungen angestoßen und unterstützen ihre Eltern bei Problemen und Fragen: „Das ist für mich Familie. […] Da kann man alles Blöde fragen, auch wenn das noch so dumm ist. […] Das ist anders, als wenn man das irgendeinen fragt, den man vielleicht dafür bezahlt oder so.“ (Herr Weinert, 2013) Auch das Smartphone hat sich Frau Weinert nicht eigeninitiativ angeschafft, sondern die Kinder haben dafür den entscheidenden Anstoß gegeben, auch um per WhatsApp besser den Kontakt halten zu können. Von Facebook hat sich das Paar aber nicht überzeugen lassen. Obwohl die Tochter nach ihrem Auszug ihre Eltern bei Facebook angemeldet hat, um aus ihrer Perspektive einfach und zeitgemäß miteinander kommunizieren zu können, nutzt das Paar Facebook nicht. Während sie WhatsApp, im Kontrast zu Facebook, dynamisch in den Alltag integriert haben, beharren sie ebenfalls auf der gewohnten Telefonnutzung. Als 2011 nur noch ein Kind zuhause wohnt, verändert sich zudem kurzzeitig ihre Fernsehnutzung. In dieser Zeit sucht der im Haus verbliebene Sohn vermehrt die Nähe zu seinen Eltern, weil ihm nach dem Auszug der beiden Geschwister wichtige Bezugspersonen fehlen: „Das ist übrigens auch eine super Veränderung: Seit er allein ist, sucht er viel mehr Kontakt mit uns. […] Unter anderem auch beim Fernsehen gucken. Dann ist er abends häufig auch bei uns hier. Das war vorher eigentlich gar nicht so, als die anderen noch da waren.“ (Herr Weinert, 2011) Die Veränderung der sozialen Konstellation im Haushalt hat demzufolge zu einem Wandel des Settings ihrer Fernsehrezeption und zu einer engeren Bindung mit ihrem Sohn geführt. 2008 hatten sie noch bedauert, dass die Kinder – über das gemeinsame Essen hinaus – nur noch selten Zeit mit Ihnen verbringen: „Früher sind die Kinder gekommen und haben gesagt, ‚Oh, wollen wir nicht mal was spielen?‘ Und heute sagen wir, ‚Wollen wir nicht mal was spielen?‘“ (Frau Weinert, 2008) Um das jeweilige Gemeinschaftsbedürfnis zu befriedigen, hat sich der gemeinsame Fernsehabend als ideale Lösung ergeben. Trotz des durch den Auszug der Kinder zusätzlich zur Verfügung stehenden Wohnraums, haben die Weinerts ihre räumlichen Medienarrangements (noch) nicht geändert. Sie planen lediglich, einen Fernseher im ehemaligen Zimmer der Tochter zu platzieren, damit dort eine Art „Ruheraum“ zur Verfügung steht: „Wenn mal hier Besuch ist. Also die Kartenspieler-Frauen sind hier. Was soll ich da? Dann bin ich hier über und dafür wollen wir so einen Raum haben, wo man sich mal zurückziehen kann, aber nicht gleich ins Bett geht oder so was.“ (Herr Weinert, 2013)
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9.3.3 Fallvergleichende Analyse Das Paar Weinert verdeutlicht, inwiefern Veränderungen der Mediennutzung durch den Auszug der Kinder angestoßen werden. Im Rahmen der fallvergleichenden Auswertung konnten insgesamt drei zentrale Prozesse identifiziert werden, in denen der Wandel der Mediennutzung mit veränderten Alltagskontexten nach dem Auszug in Verbindung steht. Ausgangspunkte für eine neue Form der Mediennutzung sind erstens zusätzliche Zeitressourcen, zweitens die Distanz zu den Kindern sowie drittens mehr Wohnraum. Diese Prozesse werden im Folgenden tiefgreifend beschrieben: 1. Mehr Zeitsouveränität: vermehrte Mediennutzung im Kontext von (neuen) Interessen Der Auszug der Kinder gewährt den Eltern mehr Freiraum6, weil „sich nach einer langen Phase von Pflichten und Verantwortung eine Entlastung ergibt und neue Projekte angegangen werden können.“ (Kracke 2007, S. 508) Wie das Paar Weinert schildern daher auch die beiden anderen Paare eine ungewohnte Ruhe im Haus: „Es ist sehr ruhig, sehr anders. […] Im Moment [ist es] noch sehr komisch. […] Es ruft keiner mehr an: ‚Wann kommst du nach Hause? Kochst du heute noch oder nicht?‘“ (Frau Meckel, 2011) Die gestiegene Zeitsouveränität nutzen die Paare, um sich – alleine oder als Paar – neue Betätigungsfelder zu suchen oder um alten mehr Zeit zu widmen. Dabei kommen auch Medien und insbesondere das Internet zum Einsatz, auch wenn nur ein Teil der zeitlichen Freiräume für die Mediennutzung verwendet wird. Hier lassen sich grundsätzlich zwei Unterscheidungen treffen: Betätigungsfelder, die direkt an die Mediennutzung gekoppelt sind, wie im Fall von Herrn Weinert die Filmbearbeitung, und Betätigungsfelder, deren Ausübung nur medial unterstützt wird, wie im Fall von Frau Weinert die mediale Organisation ihres Frauennetzwerks. Letzteres trifft auch auf das Paar Meckel zu. Sie widmen nach dem Auszug ihrem Hobby, dem Besuch von Mittelalterfesten, mehr Zeit.7 In diesen Zusammenhang steigt ihre Onlinenutzung, weil sie sich über Tourpläne informieren, sich durch Newsletter
6Auch
für die Kinder ist der Auszug mit mehr Freiheiten verbunden, weil sie ihre Haushaltsführung und ihren Alltag nun unabhängiger und selbstständiger gestalten können und auch müssen. Dies ist an dieser Stelle aber nicht relevant, weil unsere Forschung auf Paare und damit auf die Eltern ausgerichtet ist.
7„Das
ist dann halt einfach mal, wo man so ein Wochenende Sack und Pack einpackt und dann abtaucht in diese alte Zeit. Das können wir jetzt etwas unbeschwerter machen, weil wir uns jetzt nicht so um die Kinder kümmern müssen.“ (Herr Meckel, 2011)
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auf dem Laufenden halten oder den Kontakt mit anderen Teilnehmern per E-Mail pflegen. Die Teilnahme an den Mittelalterfesten selbst findet allerdings ohne Medien statt. Bei den Meckels, die nun (außerhäuslich) sehr aktiv sind, geht der zusätzliche Freiraum zur Verwirklichung ihres Hobbys und weiterer Interessen auch mit einem Bedeutungsverlust des Fernsehers einher: „Fernsehen hat längst nicht mehr die Wichtigkeit, die es früher einmal hatte. […] Da waren wir einfach mehr zuhause, auch der Kinder wegen.“ (Frau Meckel, 2013) Kontrastierend zu den eher familienzentrierten Paaren Meckel und Weinert, die ihren Alltag vor dem Auszug stärker auf die Kinder ausgerichtet hatten, zeigt sich beim Paar Brinkmann kaum eine Veränderung der Mediennutzung. Im Gegensatz zu den beiden anderen Paaren haben sie ihre Interessen bereits vor dem Auszug ihrer sehr selbstbeständigen Kinder recht uneingeschränkt verfolgt. Je nach Schwerpunkt der Lebensführung (z. B. familienzentriert oder nicht) sowie Nutzung der Zeitressourcen (an Medien gekoppelte oder medial unterstützte Bestätigungsfelder) ist der Auszug also mit unterschiedlichen Folgen für das Medienhandeln verbunden. 2. Raum-zeitliche Distanz zu den Kindern: Vermehrte Mediennutzung zur Stärkung des familiären Zusammenhalts In der neueren Familienforschung wird das Konstrukt Familie als Praxis verstanden, die – im Sinne von doing family – durch die alltäglichen Praktiken der Familienmitglieder immer wieder aufs Neue reproduziert werden muss. Familie oder familiärer Zusammenhalt ist also nicht etwas Selbstverständliches, das naturwüchsig vorhanden ist und für immer Bestand hat. Familiärer Zusammenhalt muss vielmehr stetig durch das Handeln neu hergestellt werden. Damit wird Familie als Herstellungsleistung verstanden, bei der die Fürsorge für andere Familienmitglieder die zentrale Klammer darstellt (vgl. Jurczyk et al. 2014). Nach dem Auszug der Kinder ist der familiäre Zusammenhalt durch die räumliche Trennung besonders gefährdet, denn die Familienmitglieder können nicht mehr entlang der gewohnten Abläufe Zeit miteinander verbringen. In dieser Konstellation sind Medien von zentraler Bedeutung, um die emotionale Bindung zwischen den Familienmitgliedern aufrechtzuerhalten. Dabei lassen sich in unseren Analysen zwei Formen medialer Fürsorge unterscheiden, die darauf abzielen, den familiären Zusammenhalt trotz der raum-zeitlichen Distanz zu wahren: Einerseits nutzen unsere Paare Medien – wenn auch unterschiedlich intensiv – medienvermittelt und andererseits medienbezogen.8 Die medienvermittelte Fürsorge beschreibt die interpersonale Kommunikation mit den Kindern über Medien, insbesondere über Telefon und Onlinedienste wie
8Diese
Differenzierung geht auf eine analytische Systematisierung von Krotz zurück, der konstatiert, dass Mediatisierung zunehmend „medienvermittelt und medienbezogen stattfindet“ (Krotz 2017b, S. 27).
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WhatsApp oder Skype. Diese Kommunikationsdienste sind wichtig, um emotionale Nähe herzustellen, den anderen am Alltag teilhaben zu lassen und um den familiären Zusammenhalt zu stärken. In dieser Phase werden auch gezielt neue Formen des Kontakthaltens gesucht. So bleibt telefonieren zwar grundsätzlich die wichtigste Form der medienvermittelten Fürsorge, aber in dieser besonderen Situation werden – häufig auf Initiative der Kinder – auch neue Mediendienste ausprobiert: „Zum Beispiel mit WhatsApp. Wir wären nie auf die Idee gekommen, uns das auch so schnell zuzulegen, wenn das nicht von den Kindern gekommen wäre.“ (Frau Brinkmann, 2013) Dabei laufen Initiativen der Kinder auch schon einmal ins Leere, wie zum Beispiel bei der Familie Weinert. Nach dem Auszug wollte die Tochter ihre Eltern von Facebook als sinnvollem Kommunikationsmedium überzeugen: „Unsere Tochter […] sagte: ‚Wir müssen uns doch unterhalten und dann müsst ihr mir mal was schreiben.‘ Uah, ‚was schreiben‘ – wir können doch anrufen. ‚Nee, ihr müsst da auch bei Facebook mitmachen.‘ Na gut, bitte schön, dann melde uns da an. Jetzt haben wir leider die Passwörter verlegt. Eigentlich haben wir nie was geschrieben. Das ist nicht mein Ding. Ich rufe einfach an, das finde ich besser.“ (Frau Weinert, 2011)
Hier zeigen sich Gewohnheiten und Grundüberzeugungen als Beharrungskraft gegenüber neuen Medientechnologien. Skype ist hingegen eine Form des Kontakthaltens, die nach dem Auszug von all unseren Paaren praktiziert wird. Zwar verwenden zwei Paare Skype nur gelegentlich, aber gerade bei weiten Entfernungen zu den Kindern, wenn Besuche nur selten möglich sind, wird die Möglichkeit der Visualisierung via Skype sehr geschätzt. „Da sieht man sich nicht so oft und da nutzen wir dann das Internet.“ (lacht) […] Und Skype ist eben auch für die Kinder schön. Da kann man sich dann auch mal sehen. Das ist ganz gut.“ (Frau Meckel, 2011) Insgesamt ist in unserem Sample auffällig, dass besonders die Mütter die medienvermittelte Fürsorge betreiben, die je nach Nähebedürfnis mehr oder weniger intensiv ausfällt. Die medienbezogene Fürsorge beschreibt hingegen die gezielte Mediennutzung, um sich über die lebensweltliche Situation der Kinder zu informieren, ohne direkten Kontakt zu den Kindern. Dabei kann es sich beispielsweise um Recherchen zum Wohnort, zum Studium oder zu den Hobbys der Kinder handeln. Auf diese Weise wird es für die Eltern möglich, emotional mit den Kindern verbunden zu bleiben. Das wird an Herrn Weinert deutlich, der sich über die Ergebnisse in der Fußballliga der Kinder auf dem Laufenden hält, oder an Frau Meckel, die Informationen zur Reichweite und Stärke eines Erdbebens in der Nähe des Wohnortes ihrer Tochter recherchiert: „Auch als jetzt das Erdbeben in N ordrhein-Westfalen war, da habe ich zum Beispiel schon mal [im Internet] geguckt, wie weit ist das gegangen, weil, unser Kind lebt da unten. […] Dann guckt man schon mal intensiver. Das hätte ich natürlich in der Zeitung nicht.“ (Frau Meckel, 2011) Das Bedürfnis nach F ürsorge
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über räumliche Grenzen hinweg ist für die Eltern ein zentraler Antrieb, um das Internet zu nutzen. Denn der Wunsch, die Elternrolle entsprechend der eigenen Vorstellungen angemessen auszuüben, bleibt auch nach dem Auszug erhalten und das Internet eröffnet die Möglichkeit, diesem Bedürfnis nachzugehen. Darüber hinaus bietet die Mediennutzung im Sinne der medienbezogenen Fürsorge Inhalte für Anschlusskommunikation, weil die Eltern ihr Wissen in das Gespräch mit den Kindern einbringen können. Ein weiterer Bezugspunkt für den kommunikativen Austausch ergibt sich auch aus Medienkompetenzunterschieden zwischen den „Mediengenerationen“ (Hepp et al. 2017), wenn beispielsweise die Eltern ihren Kindern Fragen zur Onlinenutzung stellen oder wenn die Kinder den Eltern die Anschaffung neuer Medientechnologien empfehlen. Die Kinder fungieren in diesem Zusammenhang als Technikexpert*innen. Durch diese Konstellation wird eine „innerfamiliale Lernkultur“ (Schmidt-Wenzel 2008) geschaffen, in der Medienkompetenzunterschiede als Anlass dienen, um den familiären Zusammenhalt zu stärken: „Es gibt schon manchmal so Programme, die ich anwenden möchte, wo ich dann nicht genau weiß. Dann frage ich schon meinen Sohn.“ (Frau Meckel, 2013) 3. Mehr Wohnraum: Marginaler Wandel der räumlichen Medienarrangements Seit dem Auszug der Kinder verfügen die Eltern über zusätzlichen Wohnraum. Hinsichtlich der räumlichen Medienarrangements zeigt sich bei allen Paaren allerdings etwas überraschend wenig Veränderung, auch weil alle drei Paare in ihren Häusern bereits vor dem Auszug über viel Wohnraum verfügten und die räumlichen Medienarrangements überwiegend nach ihren Vorstellungen gestalten konnten. Neben der Einrichtung eines Fernsehzimmers als Rückzugsort bei den Weinerts, haben sich lediglich Meckels nach dem Auszug des letzten Kindes eine Kombination aus Ankleide- und Computerzimmer eingerichtet. Vielmehr sind die Kinderzimmer als Rückzugsort für Besuche der Kinder erhalten geblieben oder werden nun als Gästezimmer umfunktioniert. Als Beharrungskraft für die geringen Veränderungen der räumlichen Medienarrangements erweist sich – neben nicht vorhandenen räumlichen Engpässen – die Kommunikationskultur des Paares. So ist es den Paaren zum Beispiel wichtiger, den Fernsehabend gemeinschaftlich zu verbringen, als aufgrund inhaltlicher Interessensunterschiede Medien getrennt voneinander zu nutzen, was nun prinzipiell möglich wäre. Mit einer räumlich getrennten Mediennutzung wäre aber zwangsläufig eine Fragmentierung des Paares verbunden, die in unseren Fällen nicht erwünscht ist. Außerdem spielt der ‚Wohlfühlfaktor‘ eine wichtige Rolle, der für die Eltern zum Zeitpunkt der Interviews in den Kinderzimmern nicht gegeben ist. Zwar steht Frau Brinkmann im ehemaligen Zimmer ihrer Tochter ein Computer zur Verfügung, diesen nutzt sie aber nicht, denn „so gemütlich ist es da eben auch nicht“ (Frau Brinkmann, 2013).
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Auch Meckels weichen von ihrem 2008 geäußerten Plan ab, ein Arbeitszimmer im ehemaligen Kinderzimmer in der ersten Etage einzurichten, denn sämtliche von ihnen genutzten Räume befinden sich im Erdgeschoss: „Nein, das haben wir nicht getan, weil wir gesagt haben, nach oben hin geht gar nicht.“ (Frau Meckel, 2011)
9.3.4 Zusammenfassung Mit dem Auszug der Kinder ergibt sich für die Eltern in unserem Sample eine neue Lebenssituation. In dieser veränderten Lebenssituation gestalten sie ihr Medienrepertoire neu. Ausschlaggebend dafür sind drei zentrale Momente der Alltagsveränderung, die einen Wandel ihrer Mediennutzung anstoßen (siehe Abb. 9.6).
Abb. 9.6 Dynamik im Medienrepertoire nach dem Auszug der Kinder: Übersicht. (Quelle: Eigene Darstellung)
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Erstens verfügen die Eltern über mehr Zeitsouveränität (zeitlich), weil sie durch den Auszug von elterlichen Pflichten und familiären Tätigkeiten entlastet werden und ihren Alltag nun selbstbestimmter gestalten können (inhaltlich). Um diesen Freiraum auszufüllen, können auch Medien wichtig sein, denn die Eltern suchen sich neue Interessen oder widmen bestehenden Interessen mehr Zeit und verwenden in diesem Kontext auch vermehrt Medien und insbesondere das Internet. Je nachdem, ob die neuen Betätigungsfelder direkt an die Mediennutzung gekoppelt sind (z. B. Videoschnitt) oder nur medial unterstützt werden (z. B. Recherchen zum Besuch von Mittelalterfesten) wirkt sich der Autonomiegewinn mehr oder weniger intensiv auf ihre Mediennutzung aus. Einschneidend ist zweitens die räumliche Distanz zu den Kindern (räumlich), denn der Alltag wird kaum noch miteinander geteilt. Daher ist der familiäre Zusammenhalt potenziell gefährdet; Nähe und Distanz müssen neu gestaltet werden (sozial). In dieser Konstellation entsteht bei den Eltern ein besonderes Bedürfnis nach Fürsorge und Teilhabe am Leben der Kinder. Die Ausübung der Elternrolle endet demzufolge nicht mit dem Auszug, vielmehr findet sie unter neuen Bedingungen statt. Um auch über raum-zeitliche Distanz die Bindung zwischen den Familienmitgliedern aufrechtzuhalten, nehmen Medien und insbesondere das Internet eine zentrale Rolle ein. Dabei lassen sich zwei Formen unterscheiden: Zum einen können die Eltern mittels Kommunikationsdiensten wie Telefon, WhatsApp oder selten auch Skype Nähe zu den Kindern herstellen und so ihre Elternrolle medienvermittelt wahrnehmen. Zum anderen informieren sich die Eltern via Medien – insbesondere online – über die Lebenswelt der Kinder, um auf diese Weise mit ihnen emotional verbunden zu bleiben. Diese medienbezogene Fürsorgepraktik eröffnet gleichzeitig Themen für Anschlusskommunikation mit den Kindern. Darüber hinaus fungieren Medienkompetenzunterschiede häufig als Bezugspunkt, weil die Kinder als Technikexpert*innen um Rat gefragt werden. Grundsätzlich müssen in dieser Phase Nähe und Distanz zwischen Kindern und Eltern neu organisiert werden. Je nach Vorstellung der Eltern und Wunsch der Kinder variiert auch die Intensität der medienvermittelten und medienbezogenen Fürsorge. Zweifelsohne sind die Nutzungsmuster der medienvermittelten und medienbezogenen Fürsorge sowie die Funktion der Kinder als technische Expert*innen nicht exklusiv Eltern mit ausgezogenen Kindern vorbehalten. Diese haben in der neuen Lebenssituation aber eine besondere Bedeutung, weil sie aufgrund der selten gewordenen Ko-Präsenz zentral sind, um die familiäre Beziehung zu stärken. Entgegen kulturpessimistischer Diagnosen zeigen unsere Befunde demnach, dass Mediatisierung zu einer Stärkung der Familiengemeinschaft führen kann (vgl. auch Greschke 2015).
9.4 Trennung, neue Partnerschaft und Veränderung …
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Drittens steht den Eltern nach dem Auszug mehr Wohnraum zur Verfügung (räumlich). Allerdings bleiben die Kinderzimmer überwiegend als Rückzugsort für Besuche der Kinder erhalten oder werden als Gästezimmer umfunktioniert, sodass sich kaum ein Wandel der räumlichen Medienarrangements ergibt. Die Beharrungskraft speist sich hier aus zuvor nicht vorhandenen räumlichen Engpässen und der eingespielten Kommunikationskultur des Paares.
9.4 Trennung, neue Partnerschaft und Veränderung des Medienhandelns In unserem Sample trennten sich die Paare Flick, Mahlmann und Olsen. Obwohl es sich bei einer Trennung und dem Beginn einer neuen Beziehung um zwei unterschiedliche Alltagsumbrüche handelt, werden sie in diesem Unterkapitel gemeinsam beschrieben. Dies ist sinnvoll, da der Wandel des Medienhandelns mit dem Beginn der neuen Beziehung erst nachvollziehbar wird, wenn man ihn mit der Mediennutzung in der vorherigen Partnerschaft in Beziehung setzt. Im Folgenden werden zunächst die charakteristischen Merkmale einer Trennung und einer neuen Partnerschaft skizziert.9 Anschließend wird anhand eines Fallbeispiels sowie anhand der vergleichenden Auswertung der Wandel der Mediennutzung beschrieben.
9.4.1 Charakteristika von Trennung und neuer Partnerschaft In der wissenschaftlichen Forschung werden Partnerschaftsauflösungen häufig anhand von Scheidungen untersucht. So lässt sich entlang der Scheidungsstatistik zum Beispiel ein Trend zu einer „dynamischeren Partnerschaftswelt“ (Sackmann 2007, S. 168) ablesen, denn in den letzten 150 Jahren ist die Scheidungshäufigkeit relativ kontinuierlich angestiegen. Während in Deutschland im Jahr 1960 rechnerisch auf 10 Eheschließungen nur eine Scheidung kam, hat sich das Verhältnis im Jahr 2017 auf 4 Scheidungen je 10 Eheschließungen erhöht. Anfang der 2000er Jahre lag die Scheidungsquote gar bei über 50 %
9Die
Reihenfolge folgt dabei den biografischen Erfahrungen unserer Interviewten seit dem Erhebungsbeginn; sie trennten sich zunächst, um anschließend eine neue Beziehung einzugehen.
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(vgl. Statistisches Bundesamt 2019). Welche Ursachen lassen sich für diesen Anstieg ausmachen? Die Forschung zeigt, dass sich Paare mit Kindern seltener trennen als Paare ohne Kinder, erwerbstätige Frauen häufiger eine Scheidung wagen als n icht-erwerbstätige Frauen und grundsätzlich Scheidungen häufiger in Ländern mit einem hohen Säkularisierungsgrad vorkommen. Daher begünstigen nach Sackmann (2007, S. 168) gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland die Bereitschaft, sich scheiden zu lassen: „Mit der gestiegenen Zahl kinderloser Ehen und steigenden Frauenerwerbszahlen sinkt die Notwendigkeit an unbefriedigenden Partnerschaften festzuhalten, während gleichzeitig reduzierte religiöse Bindungen den Grad der Selbstverpflichtung in Ehen verringern.“ Zudem liegt ein wichtiger Grund in der veränderten Erwartungshaltung an die Ehe und an Beziehungen allgemein: „Anstelle von familialen und wirtschaftlichen Interessen ist für viele das Recht auf das persönliche Glück ins Zentrum gerückt“ (Perrig-Chiello und Knöpfli 2019, S. 493). Ist ein Partner unzufrieden in der Ehe, dann ist eine Trennung trotz finanzieller Nachteile ein legitimes Mittel einen neuen Weg einzuschlagen. Denn in der mehrheitlichen Vorstellung gelten Scheidungen nicht mehr als „Ausdruck von Versagen und moralischer Schwäche, sondern [als] sinnvolle Konsequenz der Entwicklung und gleichzeitig [als] Chance für einen Neubeginn.“ (Burkart 2018, S. 173) Obwohl Scheidungen (und Trennungen) also mehr und mehr zur Normalität gehören, bleiben sie für das Paar ein krisenhaftes Ereignis (vgl. Amato 2010). Eine Trennung lässt sich zwar auf einen präzisen Zeitpunkt datieren, aber die ausschlaggebenden Gründe dafür entwickeln sich bereits in der Zeit davor. Dies wird anhand des Verlaufsmodells von Paarbeziehungen nach Lenz (2009, S. 68–69) deutlich. So unterscheidet Lenz zur Analyse von Partnerschaften vier Beziehungsphasen: die Aufbauphase, die Bestandsphase, die Krisenphase und die Auflösungsphase (vgl. Abb. 9.7).
Abb. 9.7 Beziehungsphasen in Paarkonstellationen. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Lenz 2009, S. 68–69)
9.4 Trennung, neue Partnerschaft und Veränderung …
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Der Übergang von der Bestandsphase in die Krisenphase bildet den Ausgangspunkt für eine Trennung.10 In dieser Zeit verändert sich die Beziehung auf verschiedenen Ebenen. So berichten Paare in einer Krisenphase häufig davon, dass sie von den Routinen und Gewohnheiten des Alltags eingeholt werden, dass sie sich ‚auseinandergelebt‘ haben und dass sie zahlreiche Konflikte austragen. Zumeist ist dafür ein komplexes Ursachenbündel verantwortlich, denn „die ‚Ursache‘ für eine Beziehungskrise wird man meist vergeblich suchen.“ (Lenz 2009, S. 138) Konfliktthemen in Partnerschaften verteilen sich auf verschiedene Felder der Beziehungs- und Alltagsgestaltung. Sie betreffen die häusliche Arbeitsteilung, die Kindererziehung, den Umgang mit Geld, die Balance zwischen Arbeit und Freizeitgestaltung sowie die Sexualität, Eifersucht und den partnerschaftlichen Umgang (vgl. Weiß und Wagner 2008). Im Allgemeinen ist die Krisenphase durch eine Erosion der emotionalen Bindung zwischen den Partnern gekennzeichnet. Diese Erosion wird zumeist auch als körperliche Entfremdung erlebt. Andauernde Streitigkeiten äußern sich beispielsweise in Form fehlender Zärtlichkeit, Sprachlosigkeit, der ausbleibenden Entwicklung gemeinsamer Ziele oder einer getrennten Alltagsgestaltung (vgl. Burkart 2018, S. 194–195). Können solche Konflikte nicht gelöst werden, zeichnet sich der Übergang in die Auflösungsphase ab. Diese beginnt, wenn „eine/r der Beteiligten die Trennung als reale Option in Betracht zieht.“ (Lenz 2009, S. 161; Herv. i. O.)11 Zumeist wird das Ende der Beziehung von einem Partner initiiert, denn nur selten wünschen sich beide Partner eine Trennung. Es ist leicht nachvollziehbar, dass die verlassene Person das Beziehungsende anders erlebt als die sich-trennende Person; auch wenn auf beiden Seiten ähnliche Emotionen vorkommen können. So ist beispielsweise die verlassene Person eher mit Trennungsschmerz, Gefühlen der Zurückweisung, Kontrollverlust und Selbstzweifeln belastet, während die sich trennende Person eher das Gefühl eines Neuanfangs, aber auch Schuldgefühle verspürt
10Eine Krisenphase muss allerdings nicht zwangsläufig mit einer zunehmenden Verschlechterung der Beziehung einhergehen, die unvermeidlich in einer Trennung mündet. Die Bewältigung einer Krise kann im Gegenteil auch zu einer Verbesserung der Beziehung führen, weil zum Beispiel Kompromisse für Konfliktthemen gefunden werden und sich so eine tiefere Verbundenheit zwischen den Partnern entwickelt. Die Beziehungsphasen verlaufen also nicht zwangsläufig konsekutiv, denn auch eine Rückkehr von einer Krisen- oder Auflösungsphase in die Bestandsphase ist möglich (vgl. Lenz 2009, S. 138–139). 11Ein einzelner kritischer Zwischenfall wie ein ‚Seitensprung‘ steht eher selten am Anfang einer Auflösungsphase. Vielmehr wird Untreue in der therapeutischen Literatur als Ausdruck der Beziehungsprobleme und nicht als Ursache gedeutet.
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(vgl. Lenz 2009, S. 180–181). Ist eine Trennung erst einmal vollzogen, dann müssen in den meisten Fällen weitere Reorganisationsleistungen mit dem Partner abgestimmt werden. Dabei kann es sich um die Betreuung der gemeinsamen Kinder oder um finanzielle Absprachen handeln. Auch den Umgang mit sich überschneidenden Freundeskreisen müssen die beiden Partner miteinander abstimmen. Insgesamt zeigen die Ausführungen, dass sich trennende Paare mit ähnlichen Erfahrungen und Herausforderungen konfrontiert werden, auch wenn das Beziehungsende je nach Trennungsgründen, Beziehungsdauer und -qualität sowie Trennungsverlauf unterschiedlich erlebt wird. Um eine Trennung gut bewältigen zu können, so scheint es, ist der Beginn einer neuen Beziehung ein wichtiger Schritt (vgl. Coleman et al. 2006; Kulik und Heine-Cohen 2011). Dieser kann aus unterschiedlichen Konstellationen entstehen, z. B. aus einem Freundschaftsverhältnis, durch eine zufällige Bekanntschaft oder über Partnerbörsen (vgl. Lenz 2009, S. 89–95). Eines hat aber jeder Beziehungsbeginn gemein: Er startet mit der Aufbauphase, einem zeitlich strukturierten sozialen Prozess. In dieser Zeit entscheidet sich, ob und inwiefern eine Beziehung zustande kommt. Der Aufbau einer neuen Partnerschaft entwickelt sich zu einem Großteil über den (nonverbalen) kommunikativen Austausch. Dabei geben die angehenden Partner bestimmte Informationen und Verhaltensweisen von sich preis und erhalten Zuschreibungen durch die jeweils andere Person. Zwar kann diese Phase unterschiedliche Verläufe annehmen, angehende Partner müssen aber grundsätzlich ähnliche Themenfelder interaktiv bearbeiten (vgl. Davies 1973 zit. n. Lenz 2009, S. 84–85). So müssen sie sich beispielsweise während des Kennenlernens (‚Pickup‘) über ihr Interesse an der anderen Person klar werden und die Fortsetzung weiterer Treffen vorbereiten. Soll nach dem Kennenlernen eine Beziehung entstehen, sind regelmäßige Treffen nötig (‚Let’s get together‘). Dabei müssen sie Informationen übereinander austauschen sowie Vertrauen und eine emotionale Bindung aufbauen (‚Getting to know you‘). Zu gegebener Zeit wird es nötig, sich über die Form ihrer Beziehung zu verständigen und diese auch anderen anzuzeigen (‚Tell me you love me‘). Bereits in der Aufbauphase entwickeln sich wechselseitige Abhängigkeiten und Unterstützungsleistungen, die auch Aussagen über die Machtverhältnisse in der Beziehung zulassen (‚Do me a favour‘). Zudem bilden sich Regeln, Gewohnheiten und Routinen heraus, die zu einem festen Bestandteil der Paarkonstellation werden. Darüber hinaus gilt es für die Partner eine Paaridentität zu entwickeln,
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die auch einen Bezugsrahmen für das individuelle Handeln bildet (‚Couples‘). Im Zuge der alltäglichen Interaktionen erschaffen die Partner ein Bild über die Art ihrer Beziehung, über ihre Einstellungen und Überzeugungen als Paar sowie über das Bild, was sie von sich selbst und von ihrem Partner haben (vgl. Berger und Kellner 1965; siehe ausführlich zur Wirklichkeitskonstruktion des Paares Lenz 2009, S. 187–261). Diese Paar-Identität steht immer in einer gewissen Spannung zur Individualität eines jeden Partners und bietet auch Raum für Konflikte. Der Zeitpunkt des Übergangs von der Aufbau- in die Bestandsphase ist nicht leicht zu bestimmen. Sehr überzeugend schlägt Lenz allerdings vor, die Selbstzuschreibung ‚Wir sind jetzt ein Paar‘ als Stichtag für den Eintritt in die Bestandsphase heranzuziehen (vgl. Lenz 2009, S. 103–105). Es ist zwar möglich, dass die Partner dafür kein einheitliches Datum benennen, allerdings weicht dies in diesen Fällen zumeist nur geringfügig voneinander ab. Ohnehin besitzen die meisten Paare eine identische Vorstellung davon, ab wann sie sich in einer festen Beziehung befinden und ab wann noch nicht.12 Die Bestandsphase – so könnte man fälschlicherweise annehmen – stellt keineswegs einen statischen Zustand dar. Sie ist vielmehr geprägt von Kontinuität und Wandel bzw. von Dynamik und Beharrung. So wird zum Beispiel in dieser Arbeit eindrücklich aufgezeigt, inwiefern Alltagsumbrüche wie Elternschaft, Umzüge oder berufliche Einschnitte wesentliche Veränderungen des partnerschaftlichen Zusammenlebens innerhalb der Bestandsphase anstoßen und vom Paar Anpassungsleistungen verlangen. Die Beziehungsstabilität kann durch solche Transitionsprozesse gefährdet werden, muss es aber nicht, denn „einerseits wird nicht jede Veränderung als eine Belastung empfunden und andererseits kann die gemeinsame erfolgreiche Bewältigung von Belastungen die Stabilität von Paarbeziehungen fördern.“ (Métrailler 2018, S. 82) Sowohl eine Trennung als auch eine neue Partnerschaft werden gewöhnlich von weiteren Transitionsprozessen flankiert. So ist eine Trennung im Allgemeinen mindestens für eine Person mit einem Umzug verbunden und unter
12Weniger
gut geeignet sind aus meiner Sicht andere Vorschläge wie die Berücksichtigung von Schwellenereignisse wie etwa das Zusammenziehen oder die Beobachtung, wann sich in der Partnerschaft erste Ritualisierungen zeigen und wann erste Konflikte überstanden wurden (vgl. z. B. Burkart 2018, S. 111–112). Diese Momente können von Paar zu Paar eine andere Bedeutung haben und sind damit weniger präzise, um den Zeitpunkt des Beziehungsbeginns zu bestimmen.
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gewissen Umständen auch mit einer veränderten Arbeitssituation. Häufig verschlechtert sich durch die doppelte Haushaltsführung die Wohnsituation; besonders alleinerziehende Mütter sind hiervon betroffen. Teilweise versuchen die Getrennten auch, die finanziellen Einschränkungen durch Mehrarbeit aufzufangen. Für Paare mit Kindern ergibt sich aus dem Umzug eine Veränderung der Eltern-Kind-Beziehung und – für zumindest ein Elternteil – eine Verringerung des Kontakts zu den Kindern. Eine neue und länger andauernde Beziehung ist ebenfalls zumeist mit einem Umzug verbunden, weil ein gemeinsamer Haushalt gegründet wird. Auf diese Weise führt die Partnerschaft zu einer verbesserten finanziellen Situation. Da jeder der Partner auch sein bisheriges soziales Umfeld mit in die Beziehung hineinträgt, erweitert sich im Allgemeinen auch der Freundeskreis der beiden Partner. Die hier beschriebenen Entwicklungen bleiben nicht folgenlos für das Medienhandeln.
9.4.2 Fallbeispiel Trennung und neue Partnerschaft: Das Paar Flick Anhand des folgenden Fallbeispiels werden die Veränderungen der Mediennutzung im Zuge einer Trennung und dem Beginn einer neuen Partnerschaft illustriert. Das Paar Flick ist dafür besonders gut geeignet, weil es typische Momente von Dynamik (und auch Beharrung) in sich vereint. Das Fallbeispiel macht auch deutlich, dass der Wandel der Mediennutzung im Verlauf der beiden Übergangsphasen ein komplexes Phänomen darstellt, weil die Veränderungen maßgeblich davon abhängen, wie der Medienalltag des Paares vor der Trennung arrangiert war, inwiefern sich die Lebensführung für die jeweiligen Partner danach konkret verändert und wie die Mediennutzung in der neuen Beziehung arrangiert wird. Die Erstellung der Porträts zur Trennung und dem Beginn einer neuen Partnerschaft basiert auf folgendem Themen- und Leitfragenkatalog (siehe Abb. 9.8):
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Abb. 9.8 Themen- und Leitfragenkatalog der Porträts zum Alltagsumbruch Trennung. (Quelle: Eigene Darstellung)
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Das Paar Flick Vor ihrer Trennung lebt das Ehepaar mit ihren beiden Kindern in einem 120 m2 großen Einfamilienhaus. Während Frau Flick (1967) halbtags als Physiotherapeutin arbeitet, ist Herr Flick (1965) als selbstständiger Kommunikationscoach (größtenteils im Home Office) tätig. Ihre traditionelle Paarkonstellation13 spiegelt sich auch in ihrem Internethandeln und ihrer Aufgabenteilung rund um technische Tätigkeiten wider: Herr Flick ist ein begeisterter Technikexperte und kompetenter Onlinenutzer, der sich über medientechnologische Entwicklungen auf dem Laufenden hält. Für ihn ist das Internet ein zentraler Bestandteil seiner täglichen Arbeit im Home Office und wie selbstverständlich erledigt er Aufgaben wie Softwareupdates oder technische Neuanschaffungen. Im Kontrast dazu kennt sich Frau Flick kaum mit PC und Internet aus und geht nur selten und unregelmäßig ins Netz. Aus den stark unterschiedlichen Kompetenzniveaus ergibt sich ein Abhängigkeitsverhältnis, da Frau Flick für ihre (beruflich notwendige) PC- und Onlinenutzung regelmäßig auf die Unterstützung ihres Mannes angewiesen ist. Dies führt häufig zu Konflikten: Frau Flick: „(lacht) Es kommt immer drauf an. Mal finde ich es nicht so schlimm zu fragen, wenn Du Zeit hast. Aber manchmal ist es doch etwas anstrengend.“ Herr Flick: „Ja, manchmal nervt es, weil sie ständig das Gleiche fragt.“ Frau Flick: „Ja. (lacht)“ Herr Flick: „Du erklärst es dreimal oder viermal. Und beim fünften Mal immer noch nicht. Beim zehnten Mal auch noch nicht. Beim fünfzehnten Mal immer noch nicht. (lacht liebevoll)“ (Paar Flick, 2008)
Das Zitat verdeutlicht die ungleiche Machtbeziehung zu Lasten von Frau Flick, denn Herrn Flick fehlt sichtbar die Akzeptanz und Geduld seine Frau zu unterstützen, um so das Kompetenzdifferential abzubauen. Aus dieser Konstellation heraus entwickelt sie eine emotionale Distanz gegenüber dem Medium, wie sie selbst rückblickend einordnet: „Mein Ex-Mann […] hat mich eigentlich total verunsichert. […] Wenn ich dann mal einen Fehler gemacht habe und es noch nicht einmal nachvollziehen konnte, dann […] wurde ich halt immer ziemlich runtergemacht.“ (Frau Flick, 2013) Die Abhängigkeit von ihrem Mann, die geschlechtsgebundene Aufgabenteilung, ihr fehlendes Zutrauen in ihre eigenen Fähigkeiten
13Frau
Flick kümmert sich trotz ihres Teilzeitjobs überwiegend um die Kinder und den Haushalt, nur Alltagstätigkeiten mit dem Internet wie Onlinebanking oder Onlinerecherchen, die die Kinder betreffen, übernimmt ihr Mann.
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sowie die Unsicherheit etwas falsch zu machen, verhindern daher eine vermehrte Teilhabe am Onlinemedium. Ganz offensichtlich belastet dieser Konflikt auch die Beziehung. Die Auseinandersetzungen aufgrund der unterschiedlichen Kompetenzniveaus sind daher nicht nur ein Ausdruck der Beziehungsprobleme, sondern sie sind selbst ein relevanter Faktor für die Trennung. Zudem spitzt sich der Konflikt kreislaufartig zu: Weil Herr Flick das Internet intensiv nutzt, um den Alltagsproblemen mit seiner Partnerin zu entfliehen, verstärkt sich ihre Abneigung gegenüber dem Medium. Besonders störend empfindet sie es, wenn er – anders als von ihm gerahmt – das Internet nicht für berufliche Zwecke nutzt und damit die eskapistische Funktion offenkundig wird: „Wenn ich dann sehe, dass du nach Golfschlägern guckst. […] Wenn es ganz offensichtlich keine Arbeit ist, dann werde ich schon auch mal sauer.“ (Frau Flick, 2008) In dieser konfliktbehafteten Phase nutzt insbesondere Herr Flick Medien, um sich im Alltag räumlich zu distanzieren. Arbeitet Frau Flick am stationären Mac im Arbeitszimmer, nutzt er gelegentlich das Macbook, um mobil auf der Terrasse oder im Wohnzimmer zu arbeiten. So versucht er, auch kritische Äußerungen seiner Frau über seine intensive Onlinenutzung zu umgehen und nicht direkt ansprechbar für ihren Unterstützungsbedarf zu sein. Den Abend verbringen sie zunächst noch regelmäßig in gewohnter Manier gemeinsam vor dem Fernseher, auch wenn Herr Flick teils parallel am Macbook im Internet surft. Im weiteren Verlauf der Beziehungskrise kommt es allerdings immer häufiger vor, dass sie abends räumlich voneinander getrennt sind. Während Frau Flick im Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzt, ist er im Arbeitszimmer im Internet oder schaut über einen DVB-T Empfänger Fernsehen, erinnert sich Frau Flick: „Er war zu der Zeit entweder weg oder er war dann häufig vor dem Computer […] Da hatte er irgendwie so Antennen gekauft und da konnte man über den Computer, glaube ich, Fernsehen gucken. […] Ich habe dann halt Fernsehen im Wohnzimmer geguckt, das war wirklich häufig so.“ (Frau Flick, 2013)
Und auch Herr Flick bestätigt retrospektiv: „Am Ende der Beziehung ist man sowieso schon auseinander, da ist sowieso schon alles getrennt. […] Ich habe da auch gar keinen Bock gehabt. Dann ist sie eh immer eingeschlafen. Da habe ich dann lieber was anderes gemacht. […] Internetspiele gespielt. […] Ich habe manchmal bis nachts um drei mit irgendwem gechattet, das ist nicht so, dass ich fremdgegangen bin. Aber klar, man beschäftigt sich mit anderen Menschen, mit denen man sich austauschen kann, und nicht mit Menschen, die schlafen. (lacht)“ (Herr Flick, 2013)
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Die getrennte Mediennutzung beförderte somit eine zunehmende Entfremdung. Im August 2008 trennt sich das Paar. Herr Flick zieht – nachdem er eine kurze Phase bei einem Freund gewohnt hat – innerhalb der Stadt in eine 3-Zimmer-Wohnung um und Frau Flick bleibt bis 2011 mit ihren Kindern in dem Haus wohnen. Die Mediengeräte werden schnell und konfliktfrei aufgeteilt. Er nimmt lediglich sein Macbook mit. Alle anderen Mediengeräte bleiben bei ihr im Haus. Die fehlenden Geräte kauft Herr Flick zügig neu. Sowohl Frau Flick als auch Herr Flick erleben die erste Zeit nach der Trennung als gefühlsbetonte Krise, in der eine intensive Fernsehnutzung Ablenkung versprach: „Am Anfang brauchte ich […] einen Fernseher. Da habe ich dann hier gesessen und dann war ich traurig und dann habe ich Fernsehen geguckt. […] Es hat mich halt abgelenkt von all den Gedanken, die so im Kopf rumschwirren. […] Meistens bin ich auch davor eingepennt.“ (Herr Flick, 2013)
Im Anschluss an diese Krisenphase und die Zeit der intensiven Fernsehnutzung entwickeln – ebenfalls beide – ein erhöhtes Bedürfnis, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Dieses Bedürfnis befriedigen sie mit verschiedenen Mediendiensten wie Facebook, E-Mail, dem Telefon oder Onlinepartnerbörsen (sowie Herr Flick auch via Twitter): „Vor allen Dingen diese Partnerbörsen. […] Das war dann natürlich ganz interessant und reizvoll. Und dann habe ich […] auch angefangen, mit Leuten, die ich kannte, häufiger E-Mails zu schreiben. Man ist ja dann alleine und hat so irgendwie Kontakt zur Außenwelt. […] Das habe ich da dann auch relativ häufig gemacht, immer wenn die Kinder im Bett waren.“ (Frau Flick, 2013)
Insbesondere das Internet ist für beide in dieser Zeit wichtig, um neue soziale Kontakte aufzubauen und bereits bestehende zu intensivieren. Allerdings besitzen sie dazu ungleiche Rahmenbedingungen. Aufgrund der Betreuung der Kinder ist Frau Flick überwiegend von zuhause aus kommunikativ tätig. Herr Flick hat dagegen mehr Freiheiten und geht vermehrt auch außerhäuslichen sozialen Aktivitäten nach. Parallel dazu nimmt bei beiden die Bedeutung des Fernsehers – auch im Vergleich zu der Zeit vor der Trennung – sichtbar ab. Während Frau Flick aufgrund der vielfältigen Aufgaben als alleinerziehende Mutter in ihrem Alltag nur selten Zeit dafür findet („Das ist halt, wenn man zusammenlebt und Kinder hat, ein bisschen einfacher.“ Frau Flick, 2011), ist der Bedeutungsverlust bei
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Herrn Flick nach einer Reflexionsphase mit einer bewussten Abkehr vom Fernseher verbunden: „Ich brauche den auch nicht. Ich nehme mir lieber ein Buch oder bin abends sowieso unterwegs. […] Also, die ganzen Abende, die ich habe, sind ja frei, sozusagen. Ich kann mich mit Leuten unterhalten, mit Leuten treffen oder auch eben einfach lesen […] Und das finde ich angenehmer.“ (Herr Flick, 2011)
In seiner Zeit als Single schaut er lediglich mit seinen Kindern am Wochenende noch gelegentlich fernsehen. Zudem hat das neue Arbeitszimmer nach der Trennung und dem Umzug in die neue Wohnung seine zentrale Raumfunktion verloren. Daran wird sichtbar, wie die soziale Konstellation mit den räumlichen Medienarrangements interagiert. Hatte das Arbeitszimmer in der Ehekrise noch eine wichtige Bedeutung als Rückzugsort, wird es nun nur noch selten von Herrn Flick genutzt, weil er keinen ‚geschützten‘ Raum mehr benötigt: „Ich gehe da kaum noch rüber. […] Das Arbeitszimmer verwaist so langsam so ein bisschen. […] Mein Laptop ist nun mein Arbeitsplatz.“ (Herr Flick, 2011). Der Funktionsverlust des Arbeitszimmers als Rückzugsort befördert auch eine mobilere Nutzung in der gesamten Wohnung. Zudem schaut er kein Fernsehen mehr via DVB-T-Antenne, weil er sich nicht mehr zurückziehen muss, um seinen Medieninteressen nachzugehen. Mit dem Beginn der jeweils neuen Beziehung verändert sich im weiteren Verlauf die Mediennutzung des getrennten Paares in unterschiedlicher Art und Weise. Herr Flick ist seit 2012 wieder in einer festen Beziehung. Seine neue Freundin hat er über eine Onlinepartnerbörse kennengelernt und 2013 gemeinsam mit ihr ein Haus gekauft. Frau Flick ist seit 2009 wieder in einer neuen Beziehung, die sie mit ihrem 350 km entfernt wohnenden Partner zunächst als Fernbeziehung führt, bevor sie in seine Stadt zieht.14 Ihn hat sie über ihren bereits bestehenden Bekanntenkreis kennengelernt.15 Interessanterweise kam der Kontakt zustande, weil sie Hilfe bei der PC- und Onlinenutzung benötigte. Ihr neuer (bzw. zunächst
14Der
Umzug erfordert auch einen Wechsel ihres Arbeitsplatzes. 2013 zieht sie zudem nochmals innerhalb der Stadt um, nachdem ihr Sohn zu Herrn Flick gezogen ist und die Wohnung zu groß und zu teuer wurde. 15Ihre Erfahrungen mit Onlinepartnerbörsen waren insgesamt weniger erfolgreich: „Es war auch ein bisschen anstrengend und ein bisschen merkwürdig. […] Ich habe einen Typen kennengelernt, mit dem ich mich ein paar Mal getroffen habe. Das war auch ganz interessant und ganz nett. Aber ich glaube, das war auch der einzige. Bei den anderen hat man dann ganz schnell ganz komische Sachen mitbekommen.“ (Frau Flick, 2013)
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angehender) Partner hat also die Rolle des technischen Experten übernommen, den sie durch die Trennung verloren hatte. Von ihrem neuen Partner übernimmt sie sein altes Macbook, sodass sie nun mobil an verschiedenen Orten in ihrer Wohnung online geht. Ihrer Einschätzung nach nutzt sie deswegen das Internet auch länger und häufiger. Viel wichtiger für die Ausweitung ihrer Onlinenutzung sind aber zwei andere Gründe.16 Erstens ist sie durch die nun fehlende Möglichkeit, Aufgaben mit dem Internet an ihren Partner zu delegieren unter Zugzwang, das Internet zu nutzen: „Wenn irgendwas war – so, wie ich mich jetzt um Kinder und so […] alleine kümmere – […] dann hat er [Herr Flick] halt im Internet nachgeguckt und ich hab’ mich damit überhaupt nicht beschäftigt. Musste ich auch nicht. […] Da habe ich es auch abgegeben, weil halt auch immer so ein bisschen die Angst dabei war.“ (Frau Flick, 2011) 17
So muss sie nun zum Beispiel Onlinebanking nutzen, Fahrkarten online buchen (v. a. für ihre Kinder, wenn sie ihren Vater besuchen) oder Informationen für ihre Kinder recherchieren (z. B. zum örtlichen Karateverein oder wegen des Schulwechsels). Sie selbst beschreibt diese Entwicklung als „ziemlich große Umstellung“ (Frau Flick, 2013). Zweitens hat ihr neuer Partner mehr Geduld bei der Kompetenzvermittlung, sodass sie ihre Scheu und Unsicherheit kontinuierlich abgebaut hat. Besonders schätzt sie an ihm die Bereitschaft, ihre Fragen geduldig zu beantworten: „Den kann ich auch Sachen fünf Mal fragen, […] brauche keine Angst zu haben. Und dann hat er mir auch so Anfängersachen erklärt. […] Und dann kam auch ein bisschen mehr Selbstvertrauen […]. Und seitdem nutze ich deutlich mehr. Auf jeden Fall.“ (Frau Flick, 2011) Das gestiegene Selbstvertrauen macht sich auch darin bemerkbar, dass sie mittlerweile versucht, technische Probleme selbst zu lösen. Während Frau Flick das Internet also tiefer in ihren Alltag integriert hat, versucht Herr Flick seine Onlinenutzung zunehmend zu begrenzen. Denn
16Im
Vergleich zu 2008 nutzt Frau Flick 2011 das Internet „viel viel mehr.“ (Frau Flick, 2011). 2016 verfügt sie über ein deutlich erweitertes Anwendungsspektrum, sodass sich das Internet für sie – neben dem Radio – zum wichtigsten Medium entwickelt hat. 17In der neuen Partnerschaft ist es zu ihrem Bedauern nicht zu einer erneuten Aufgabenteilung gekommen. Der Grund: Die beiden führen eine (räumlich) distanzierte Beziehung: „Nein, ich mache jetzt so Onlinebanking und so Reisen und so alles jetzt alleine. Manchmal fände ich es ganz schön, wenn mir da was abgenommen werden würde. Aber nein.“ (Frau Flick, 2013)
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mit seiner neuen Partnerin handelt er, insbesondere mit dem Ziel, eine bessere Work-Life-Balance als Paar zu realisieren, kontinuierlich die Bedeutung des Internets für die Alltagsgestaltung aus. Dazu gehört auch, die berufliche Onlinenutzung zuhause zu begrenzen. Für beide ist dies besonders relevant, weil sie als Selbstständige die Grenzen zwischen Berufstätigkeit und Privatsphäre selbstbestimmt ziehen müssen. Durch seine Erfahrung mit der Trennung scheint er dafür besonders sensibilisiert zu sein: „Wir haben jetzt eine Verabredung […], dass ab 19 Uhr abends Schluss ist. […] Dass wir ein Gefühl dafür kriegen, was uns im Leben wichtig ist und was nicht. Natürlich kann man sagen, dass das toll ist, wenn man arbeitet und Geld verdient. Das ist alles schön. Aber es bringt natürlich nichts, wenn man sich auseinanderlebt.“ (Herr Flick, 2013)
Im Kontrast zu früher nimmt er in der neuen Beziehung das Handy auch nicht mehr mit ins Schlafzimmer. Da seine neue Partnerin eine kompetente Internetnutzerin ist, profitiert Herr Flick im Vergleich zu seiner vorherigen Beziehung von der Aufgabenteilung mit dem Internet. So kümmert sich seine Freundin zum Beispiel um die Urlaubsplanung und das Buchen von Flügen. Mit dieser Konstellation auf Augenhöhe ist Herr Flick sichtbar zufrieden: „Das hat was damit zu tun, dass man hier auch gleiche Gesprächsthemen hat. Dass man den gleichen Stand hat und sich darüber auch einfach mal unterhält. […] Sie ist einfach fit in dem Bereich.“ (Herr Flick, 2013) Konflikte wie in seiner Ehe gab es in der neuen Partnerschaft daher auch nicht. Insgesamt handeln die beiden in der Aufbauphase der Beziehung auch ihre grundsätzliche Vorstellung über die Nutzung der anderen Medien aus, wie sich am Zitat von Herrn Flick exemplarisch aufzeigen lässt: „Naja, meine Freundin macht ab und zu mal das Radio an, aber ich mache das dann wieder aus. (lacht)“ (Herr Flick, 2013) Zum Zeitpunkt des Interviews 2013 ist Herr Flick etwa ein Jahr mit seiner neuen Partnerin zusammen. Insgesamt äußerte er sich in der frühen Phase der Beziehung euphorisch über die Partnerschaft, zeigt sich sehr verliebt und legt viel Wert auf gemeinsame Aktivitäten. Ein gemeinsamer Fernsehabend spielt in dieser Zeit nur eine unbedeutende Rolle, viel mehr stehen Aktivitäten im Vordergrund, die das gegenseitige Kennenlernen als Paar ermöglichen: „Wir sitzen abends manchmal auch nur draußen und erzählen uns was bei einem Glas Wein. […] Meine Freundin ist natürlich auch interessiert an den Themen, die ich mache. […] Was witzigerweise dazugekommen ist, ist, dass wir uns Bücher über das iPad herunterladen und dann lesen wir uns vor, draußen dann, mit einem netten
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Glas Wein. So etwas machen wir. […] Das ist viel schöner, als wenn ich irgendwie da vor dem Tatort sitze.“ (Herr Flick, 2013)
Einen Fernsehabend haben sie in dieser Zeit seltener als einmal pro Woche; wenn wird dieser vorausschauend geplant und als Paarzeit gerahmt. Dabei wählen sie die Filme besonders sorgfältig aus, indem sie sich beispielsweise DVDs bestellen. Damit unterscheidet sich die Bedeutung des Fernsehabends deutlich zu der Zeit, in der er mit seiner Ex-Frau, noch eine glückliche Ehe führte. Dort verbrachte er etwa vier Mal pro Woche den Abend gemeinsam mit seiner damaligen Frau vor dem Fernseher. Allerdings vermisst er diese Zeit nicht, weil er rückblickend daran scheinbar keine besondere Freude hatte: „Ich denke mal, das war früher Langeweile oder Einsamkeit, dann setzt man sich dazu und dann guckt man einfach, weil man auch irgendwie keinen Bock hat, irgendwas anders zu machen.“ (Herr Flick, 2013) 2016 hatte sich die geringe Bedeutung des Fernsehabends aber wieder relativiert, denn er schaut nun mit seiner neuen Partnerin 3–4 Mal pro Woche gemeinsam abends Fernsehen, vorwiegend das klassische Programm der TV-Sender. Bei Frau Flick spielt der Fernsehabend in der neuen Beziehung auch 2016 nur eine untergeordnete Rolle, dies allerdings zu ihrem Bedauern. Zwar ist ihr Partner etwa drei Mal pro Woche bei ihr, aufgrund unterschiedlicher Interessen können sie sich aber nicht auf ein Programm einigen:18 „Das ist immer so ein bisschen schwierig. Er hat einen völlig anderen Geschmack, was Fernsehen gucken angeht als ich. […] Das ist wirklich so. Was haben wir denn mal zusammen geguckt? […] Es gab mal ein Konzert […] auf arte, das ist aber auch schon wieder zwei Jahre her. […] Dann hat er auch immer kurz mal mitgeguckt und dann aber auch zwischendurch wieder was anderes gemacht. Da hat er dann eben auch kein Sitzfleisch.“ (Frau Flick, 2013)
Im Gegensatz zu vielen anderen Paaren ist der Fernseher somit ein fragmentierendes Medium und nicht eines, dass die Partner zusammenbringt: „Entweder gucke ich was und er daddelt rum und macht Sudoku oder er guckt was und ich gehe raus und mache was anderes.“ (Frau Flick, 2013) Diese Situation empfindet sie als sehr störend und vermisst grundsätzlich den Fernsehabend ihrer früheren Beziehung: „Ich hätte schon Lust, mal mit ihm zusammen einen Film zu gucken und mich darüber zu unterhalten.“ (Frau Flick, 2013) Selten
18Insgesamt
beschreibt sie die Partnerschaft als eine „eher […] distanzierte Beziehung.“ (Frau Flick, 2013)
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entstehen daraus auch Konflikte, in denen es darum geht, wie der gemeinsame Abend gestaltet werden soll. Eine ähnliche Vorstellung über die Mediennutzung scheint demzufolge ein wichtiger Faktor für eine glückliche Beziehung zu sein.
9.4.3 Fallvergleichende Analyse Das Paar Flick veranschaulicht wesentliche Aspekte, inwiefern eine Trennung und der Beginn einer neuen Partnerschaft einen Wandel des Medienhandelns anstoßen. Auch wenn die Alltagsveränderungen im Zuge von Trennung und Beziehungsbeginn von den Paaren im Sample teils leicht unterschiedlich erlebt wurden und diese ihr Medienhandeln in gewissem Maße auf andere Art und Weise veränderten, so lassen sich über alle Fälle hinweg sechs (Trennung) beziehungsweise fünf (neue Partnerschaft) zentrale Prozesse identifizieren, die einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Alltagsveränderung und einem Wandel des Medienhandelns aufzeigen. Diese Prozesse werden im Folgenden dezidiert beschrieben. Dynamik nach der Trennung 1. Beziehungskonflikte und emotionale Entfremdung: distanzierende und eskapistische Mediennutzung Innerhalb der Krisen- und Auflösungsphase kommt es zwischen den Paaren in unserem Sample zu Beziehungskonflikten und einer emotionalen Entfremdung. Medien verwenden sie in dieser Zeit intensiv, um den Beziehungsproblemen zu entfliehen. Sie erfüllen somit eine eskapistische Funktion und erleichtern es dem Paar, sich räumlich und symbolisch voneinander zu distanzieren. Diese Befunde decken sich auch mit Einsichten aus der Studie zur Fernsehnutzung von Gauntlett und Hill (1999, S. 108): „During times of emotional upheaval, some people turn to TV to avoid confrontation, and to avoid interaction with their spouse.“ Die Paare Mahlmann und Flick wählen in den meisten Fällen den Weg der räumlichen Distanzierung, indem sie Medien getrennt voneinander in verschiedenen Räumen nutzen. Das Paar Olsen praktiziert hingegen eine symbolische Trennung bei gleichzeitiger räumlicher Ko-Präsenz. Dabei sitzt das Paar gemeinsam im Wohnzimmer auf der Couch und während sich Frau Olsen mit dem Fernsehprogramm beschäftigt, surft Herr Olsen im Internet. Auf den ersten Blick mögen beide Konstellationen (räumliche und symbolische Distanzierung mittels Medien) nicht ungewöhnlich erscheinen und auch von Paaren in der Bestandsphase fernab von jeglichen Problemen praktiziert werden. Der Unterschied liegt allerdings
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in der Idealvorstellung des Paares, in welcher Art und Weise die (gemeinsame) Mediennutzung innerhalb der Beziehung gestaltet werden soll. Die entscheidende Frage ist demnach, ob beide Partner mit diesem Nutzungsmuster zufrieden sind oder nicht und welches Motiv sie dabei verfolgen. Während für einige Paare eine räumlich und symbolisch getrennte Mediennutzung eine gelungene Möglichkeit darstellt, um ihren persönlichen Medieninteressen nachzugehen, kann sie in anderen Beziehungen ein Ausdruck von Beziehungskonflikten sein und mit Streitigkeiten einhergehen, weil diese Form der Mediennutzung unerwünscht ist. Letztlich ist damit das Verhältnis von Nähe und Distanz innerhalb einer Beziehung angesprochen, über das es in Partnerschaften unterschiedliche Vorstellungen gibt und das auch über die Mediennutzung verhandelt wird. Bei den Paaren, die sich im Verlauf der Studie getrennt haben, ist die räumlich und symbolisch getrennte Mediennutzung ganz offensichtlich Ausdruck ihrer Beziehungskrise und eine einfache Möglichkeit, um den Kontakt zum Partner zu vermeiden und Konflikten aus dem Weg zu gehen. Dies bringen die Interviewten rückblickend selbst zur Sprache, wie beispielsweise Herr Olsen: „Also zu der Zeit, das hat auch mit der Trennung zu tun, ist es auch ein bisschen Flucht gewesen. Flucht vor Auseinandersetzung, also ‚Ich mache mein Ding‘.“ (Herr Olsen, 2013) Beim Paar Olsen, das als einziges Paar in der Krisenphase nicht vorrangig Medien in unterschiedlichen Räumen genutzt hat, ist die symbolisch getrennte Mediennutzung zugleich mit einer körperlichen Distanz verbunden: „Da hat man so weit wie möglich auf dem Sofa auseinander gelegen.“ (Herr Olsen, 2013) Insgesamt finden zu dieser Zeit bei allen Paaren kaum noch Gespräche über Medieninhalte oder (tiefergehende) Alltagsgespräche statt. Die Paarkommunikation so gering zu halten wird leichter möglich, indem die ganze Aufmerksamkeit den individuell genutzten Medien – und somit nicht dem Partner – gewidmet wird. Es ist aber keineswegs so, dass diese Form der Distanzierung beidseitig akzeptiert wird und unhinterfragt bleibt. Bei zwei der drei Paare wurde dies mehrmals offen angesprochen. In beiden Fällen handelt es sich um die Frau, die die eskapistische Mediennutzung ihres Partners kritisiert, so auch Frau Olsen: „Mich hat seine Internetnutzung […] gestört, weil er immer sehr viel im Internet war. […] Man will eigentlich was zusammen machen, aber er klinkt sich aus. […] Ich habe das oft kritisiert. Aber letztendlich haben ja diese ganzen Sachen nicht so richtig Früchte getragen.“ (Frau Olsen, 2013)
Gerade zu Beginn äußern die Frauen Kritik an der (neuartigen) intensiven Medienrezeption ihres Partners, die sich so zu einem Bestandteil der Beziehungskrise entwickelt: Weil sich die kritisierten Partner als Reaktion auf die
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Kontroverse weiter mittels Medien distanzieren und sich somit den Streitthemen entziehen, spitzt sich der Konflikt kreislaufartig zu und führt zu einer weiteren Entfremdung des Paares. Für den Erhalt der Beziehung ist die distanzierende und eskapistische Medienrezeption in mehrfacher Hinsicht dysfunktional. Erstens bleiben durch die Flucht die Ursachen der Beziehungskrise unausgesprochen und ungelöst. Zweitens entsteht durch diese Form der Mediennutzung selbst ein neuer Konflikt, weil sie als Besorgnis erregend empfunden wird. Im Streit darüber geraten die (wahrgenommenen) Unterschiede zwischen den Partnern besonders ins Blickfeld. So empfinden die Partner ungleiche Kompetenzen plötzlich als störend und würdigen diese herab. Unterschiedliche Medienvorlieben, die zuvor als unproblematisch wahrgenommen wurden, nehmen sie nun als nervig wahr und der zuvor freiwillige Verzicht auf bestimmte Nutzungsweisen aus Rücksichtnahme und Liebe zum Partner, wird nun als Einschränkung gesehen. Drittens werden die Beziehungsprobleme durch die Flucht via Medien für das Paar prinzipiell zwar sichtbar, aber der Fokus wird eben nicht auf die zentralen Ursachen der Krise gerichtet, sondern auf die als problematisch wahrgenommene Mediennutzung und damit auf das Offensichtliche. Es entsteht eine Art ‚Nebenkriegsschauplatz‘, der vermutlich leichter zu thematisieren ist, aber weiter vom Kern der Beziehungsprobleme ablenkt. Aus paartherapeutischer Sicht wäre es zielführender, die zentralen Ursachen der Beziehungskrise anzugehen, aus der sich – so hier der zentrale Befund – die eskapistische und distanzierende Mediennutzung erst speist. Sie ist somit ein typisches Merkmal eines stark konfliktbehafteten Paaralltags und steht gewissermaßen symbolisch für die Beziehungskrise.19 2. Aufteilen der Medien(geräte) und Abonnements: Größtenteils Neuanschaffung und teils Verzicht Mit der Trennung und dem Auszug (zumindest) eines Partners wird es notwendig, die Medienausstattung und die gemeinsamen Abonnements aufzuteilen. Dies verläuft bei den drei Paaren auch bei den nicht personalisierten Geräten größtenteils konfliktfrei, da der Besitz der Ausstattung häufig einer Person zugeordnet werden konnte. Die nun fehlende Ausstattung schaffen sich die getrennten
19Eine
weitere Besonderheit der Mediennutzung kurz vor der Trennung ergab sich bei zwei Personen, die innerhalb der Auflösungsphase bereits eine Affäre eingegangen sind. Zeitlich flexibel einsetzbare Kommunikationsmedien wie Facebook, SMS und E-Mail spielten hier eine entscheidende Rolle, um die Affäre zu verheimlichen. Eine Person legte dazu extra einen zweiten Account bei Facebook an, über den er ausschließlich mit seiner Affäre Kontakt hielt.
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Partner zumeist neu an. Damit geht auch eine Modernisierung der Medienausstattung einher, die teils neue Nutzungsweisen hervorbringt. So hat Herr Mahlmann beispielsweise WLAN, das er zuvor nicht zur Verfügung hatte, in seiner neuen Wohnung installiert. Das Internet nutzt er nun intensiver und mobil in verschiedenen Räumen: „Man hat die Möglichkeit das immer zu nutzen, finde ich schon positiv. […] Wenn ich dann manchmal irgendwie eine Frage habe und dann lieg’ ich im Bett und dann nehm’ ich das Laptop und guck’ mal so nach. […] Es verleitet schon, das mehr in Anspruch zu nehmen.“ (Herr Mahlmann, 2011) Teils verzichten die Paare aber auch auf die Neuanschaffung, woraus sich zwangsläufig eine Veränderung gewohnter Mediennutzungsmuster ergibt. Dabei spielen häufig auch finanzielle Überlegungen eine Rolle, weil mit der alleinigen Haushaltsführung eine finanzielle Mehrbelastung verbunden ist. Herr Olsen verzichtet beispielsweise auf die Anschaffung von T-Entertain, denn dies ist ihm „zu teuer“ und die Satellitenschüssel „kostet nichts“ (Herr Olsen, 2013). Er vermisst nun aber die Möglichkeit, Fernsehsendungen aufzunehmen. Herr Mahlmann verzichtet hingegen auf das Abonnement der für ihn sehr wichtigen Tageszeitung. Zudem hat er sich keinen neuen Fernseher gekauft, sondern eine DVB-T Antenne, mit der er an seinem Laptop Fernsehen schauen kann. Damit zusammenhängend hat sich auch seine Fernsehnutzung mobilisiert, sodass er nun zum Beispiel in der Küche während des Essens Nachrichten schaut. Zugleich vermisst er gelegentlich einen größeren Bildschirm: „Bei so bestimmten Filmen, da hätte man dann doch gerne das große Kino.“ (Herr Mahlmann, 2013) Insgesamt führt die Trennung in Teilen zu einem Wandel der Medienausstattung, mit dem gelegentlich auch neue Nutzungsmuster verbunden sind. Der tiefgreifende Wandel der Mediennutzungspraktiken bei Herrn Mahlmann im Zuge der Veränderung der Medienausstattung stellt in unserem Sample aber die Ausnahme dar. Häufiger macht sich der Wandel der Ausstattung nur über den Kauf neuer Geräte bemerkbar, nicht aber im Medienhandeln der getrennten Paare. 3. Emotionale Krise im Anschluss an die Trennung: intensive eskapistische Mediennutzung Alle sechs Interviewten berichten direkt im Anschluss an die Trennung von einer emotionalen Krise, auch wenn diese je nach Trennungsinitiative und -ursache unterschiedlich intensiv erlebt wird.20 In dieser Zeit nutzen fünf Personen
20Herr
Olsen, der noch vor der Trennung eine Affäre eingegangen ist und somit einen nahtlosen Übergang in eine neue Beziehung hatte, hat die Trennung beispielsweise weniger krisenhaft erlebt. Auch wenn die ablenkende Funktion des Fernsehers bei ihm nicht ganz so wichtig war, sitzt er in dieser Phase trotzdem, wenn er alleine ist, jeden Abend vor dem Fernseher. Parallel dazu schreibt er häufig mit seiner neuen Freundin über WhatsApp.
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Medien (insbesondere den Fernseher) intensiv, um sich von ihren Gefühlen und Gedanken abzulenken. So hätte sich beispielsweise Frau Olsen diese Phase ohne Fernsehen „nicht vorstellen können.“ (Frau Olsen, 2013) In diesem Zusammenhang schreiben Gauntlett und Hill (1999, S. 93) dem Fernsehen die Funktion eines „visual anti-depressant“ sowie einer „emotional crutch“ zu, denn eine ausgiebige Fernsehnutzung scheint in der Krisenphase eine gute Bewältigungsstrategie zu sein, um die stressigen und belastenden Erlebnisse zu verarbeiten, beziehungsweise um Kräfte für eine Aufarbeitung zu sammeln. Die Fernsehnutzung ermöglicht es zudem, sich nicht so allein zu fühlen, obwohl der Kontakt zu anderen Menschen in dieser Zeit eher nicht erwünscht ist. Denn mit ihren verschiedenen Gefühlen wie Trauer, Kontrollverlust oder Niedergeschlagenheit sind die getrennten Partner lieber für sich. Im Zuge der Ausweitung der „medialen Internetnutzung“ (Koch und Frees 2017, S. 439) ist es naheliegend, dass immer mehr Menschen nicht nur den Fernseher, sondern ebenfalls audiovisuelle Anwendungen im Internet, wie Mediatheken und Videoplattformen, zur Ablenkung und zur Überwindung von emotionalen Krisen verwenden. Lediglich bei Frau Mahlmann zeigt sich dieses Nutzungsmuster nicht. Bei ihr ist die erste Phase nach der Trennung mit einer nahezu vollständigen Abkehr von ihrer freizeitorientierten Mediennutzung verbunden. Auf ihr festes Feierabendritual, abends zur Entspannung fernzusehen, verzichtet sie ebenso wie auf ihre Zeitschriftenrezeption. Dafür lassen sich zwei Gründe ausmachen: Zum einen ist sie – zusätzlich zu ihrer Berufstätigkeit – mit der alleinigen Betreuung des Kindes und den Erledigungen im Haushalt erheblich belastet: „In der Phase nach der Trennung war ich immer unter Druck. […] Mein Ex-Mann hat hier schon eine ganze Menge gemacht. […] Also, ich war mit meinem Leben komplett überfordert […] Ich hatte keinen Feierabend.“ (Frau Mahlmann, 2013) Zum anderen plagen sie erhebliche Schuldgefühle, weil sie in der Ehe eine Affäre eingegangen ist, die von Herrn Mahlmann aufgedeckt wurde. Medien versprechen ihr in dieser Zeit weder Freude noch Ablenkung. Es hat den Anschein, als verweigere sie sich selbst jeglicher Lebensfreude. Dies gilt auch für ihre Mediennutzung: „Ich hatte das Gefühl, wenn ich zum Einkaufen fahre, dann gucken mich alle an und sagen, die hat sich von ihrem Mann getrennt. […] Ich kam mir vor wie abgeschnitten wie aussätzig und vor allem schuldig. […] Ich konnte mich am BlaBla im Fernsehen gar nicht erfreuen. […] Ich war völlig neben der Rolle. Da hatte ich gar nicht damit gerechnet, dass das so schrecklich ist.“ (Frau Mahlmann, 2013)
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Diese Phase dauert etwa neun Monate an. Erst nach Reorganisation der Alltagsbelastung und emotionaler Stabilisierung entwickelt sie wieder Interesse an einer freizeitorientierten Medienrezeption – interessanterweise gleicht ihre Mediennutzung danach ihren vorherigen Mustern. 4. Reflexionsphase nach emotionaler Stabilisierung: vermehrte Nutzung von (neuen) Kommunikationsangeboten Die Phase der emotionalen Krise und der Isolation dauert nicht unbegrenzt an. Spätestens nach emotionaler Stabilisierung setzt bei allen Interviewten eine Reflexionsphase ein, in der sie sich neue Ziele setzen und über die Art und Weise ihrer Alltagsgestaltung intensiv nachdenken. Dabei entwickeln die getrennten Partner einen neuen Lebensstil. Sie haben nun ein gestiegenes Interesse an sozialen und außerhäuslichen Aktivitäten und empfinden den zusätzlichen Freiraum durch die Trennung als Entfaltungschance. Dies zeigt sich in Form eines erhöhten Kommunikationsbedürfnisses. Onlinedienste wie WhatsApp oder E-Mail werden in dieser Zeit deutlich intensiver genutzt als zuvor und es können neue Anwendungen wie Onlinepartnerbörsen oder Facebook hinzukommen. Zentraler Treiber hierfür ist der Wunsch nach einer neuen Partnerschaft21 sowie das Bedürfnis, mehr Kontakt zu anderen Menschen zu haben. So auch bei Frau Olsen, die neuerdings etwa jeden zweiten Abend Facebook und Onlinepartnerbörsen nutzt: „Ja, ich nutze das Internet häufiger, um in Kontakt mit anderen zu treten. Das auf jeden Fall. […] Ich habe mir einen Facebook-Account eingerichtet. Einfach mal ein bisschen die Fühler ausstrecken. Das hat sich tatsächlich geändert.“ (Frau Olsen, 2013) Ihren neuen Partner lernt sie über eine Onlinepartnerbörse kennen. Diese empfindet sie als besonders praktisch, „weil man ja als Mutter mit zwei Kindern auch keine Möglichkeiten hat, großartig auszugehen.“ (Frau Olsen, 2013) Häufig ist mit dem neuen Lebensstil eine bewusste Reduzierung des Fernsehkonsums und teils auch der beruflichen Arbeit zuhause verbunden. Die Interviewten richten ihren Alltag vermehrt danach aus, möglichst viel Zeit mit – aus ihrer Sicht – lebenswerten Tätigkeiten zu verbringen. Dies ist eng verknüpft mit dem Wunsch nach mehr sozialen Kontakten, wie beispielsweise bei Herrn Mahlmann. Er legt großen Wert darauf, seine Work-Life-Balance zu verbessern und weniger zuhause zu arbeiten: „Ich will mich da […] mehr abgrenzen. […] Bewusstseinswandel will ich nicht sagen, aber so zumindest ein Versuch die Lebenszeit nicht nur auf den Beruf zu verwenden, sondern auch zu gucken, ob
21Zumindest
waren.
bei 4 der 6 getrennten Partner, die nicht unmittelbar in einer neuen Beziehung
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es im Privaten auch noch andere Dinge gibt als das Arbeiten.“ (Herr Mahlmann, 2011) In diesem Zusammenhang hat er auch seinen Fernsehkonsum reduziert: „Hat natürlich auch was mit der Trennung zu tun, zu gucken, was man mit seiner Lebenszeit anders machen kann und dann habe ich gesagt, also, Fernsehen nicht mehr so, weil manchmal erwischte ich mich, wenn ich nach Hause kam, Glotze an zum Entspannen und das wollte ich halt abstellen.“ (Herr Mahlmann, 2011)
Fernsehen empfindet er zumeist als „lästigen Zeitvertreib“ und als „nervend“, da man sich besser „anderen Dingen zuwenden“ könne (Herr Mahlmann, 2013). Andere Dinge sind in diesem Fall insbesondere Partnerbörsen und Facebook. Gleichzeitig berichtet Herr Mahlmann, dass die Reduktion seiner Fernsehnutzung nicht immer einfach ist und er weiterhin die Verlockung verspürt „hängen zu bleiben“. Dies verweist auf die Beharrungskraft von gewohnten Nutzungsmustern. Zwar verzichtet er nicht vollständig auf Fernsehen, insgesamt hat sich seine TV-Nutzung aber – wie auch bei den anderen Interviewten in dieser Lebensphase – deutlich verringert. Gauntlett und Hill (1999, S. 108) bringen diese Entwicklung mit der intensiven Fernsehnutzung während der vorherigen Trennungsphase in Verbindung. Ihrer Ansicht nach meiden die Befragten in ihrem Sample den Fernseher, weil er negative Gefühle und Erinnerungen an die bedrückende Zeit hervorrufe: „It is no wonder that some people turn away from TV after the break-up of a relationship, as it can serve to remind them of an unhappy period in their lives.“ (Gauntlett und Hill 1999, S. 108) Diese Interpretation können wir nicht vollends bestätigen. In unseren Befunden zeigt sich vielmehr, dass die Abkehr vom Fernseher weniger mit negativen Erinnerungen zu tun hat, sondern mit dem Bedürfnis eine neue Beziehung einzugehen. Die Fernsehnutzung steht diesem Ziel – aus Sicht unserer Interviewten – im Weg und wird nun eher als ‚Zeitverschwendung‘ empfunden. Über einen längeren Zeitraum betrachtet zeigt sich allerdings, dass die Interviewten teils wieder zu alten Mediennutzungsmustern zurückkehren. Besonders auffällig ist, dass der Fernsehabend nach einer gewissen Zeit in der neuen Partnerschaft wieder an Bedeutung gewinnt; schließlich ist eine neue Beziehung nun gefunden und der Fernseher erhält wieder seine paarspezifische weitverbreitete Bedeutung als Treffpunkt für das Paar im Alltag (s. unten). 5. Auflösung der Arbeitsteilung: Unterschiedliche Folgen für das Medienhandeln je nach Beziehungskonstellation und Arbeitsteilung Durch die Trennung kommt es zu einer Auflösung der Arbeitsteilung. Aufgaben, die in der Partnerschaft arbeitsteilig organisiert waren, müssen nun prinzipiell von
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jedem Partner selbst erledigt werden. Als besonders bedeutsam für den Wandel des Medienhandelns erweist sich die geschlechtsgebundene Arbeitsteilung mit dem Internet. Zwei der drei Paare leben vor der Trennung eine eher traditionelle Beziehungskonstellation, die sich auch in ihrem Internethandeln widerspiegelt. Ähnlich wie beim Paar Flick im oben beschriebenen Fallbeispiel, ist auch beim Paar Olsen das Expertentum mit dem Internet ungleich verteilt: „Mit Rechner und so hat sie überhaupt keine Ahnung. Das habe immer alles ich gemacht. Von A bis Z eigentlich […] Alles was Bank-Gedöns angeht, habe ich gemacht, Recherchen nach irgendwelchen Dingen oder so. Also da hat sie nicht die Affinität zu gehabt.“ (Herr Olsen, 2013) Weil die Frauen in der Beziehung Tätigkeiten wie die Wartung der Software oder Alltagsaufgaben mit dem Internet an ihren Mann abgeben, erleben sie den Wegfall der Arbeitsteilung als besonders einschneidend. Genau wie für Frau Flick ergibt sich auch für Frau Olsen die Notwendigkeit, nach der Trennung mehr Aufgaben online zu erledigen. Für Frau Olsen ist dies „schon ein großer Unterschied“; das Erledigen von Onlinebanking erfordert beispielsweise „am Anfang schon ein bisschen Mühe, um sich da einzufuchsen“ (Frau Olsen, 2013). Entgegen der Zuschreibung von Herrn Olsen, seine Frau habe nicht die Affinität, um das Internet kompetent zu nutzen, steigert sie (wie Frau Flick) im Zuge dieser Entwicklung ihre O nline-Expertise sichtbar. Sie verfügt 2016 über ein deutlich erweitertes Anwendungsspektrum und tritt, im Kontrast zu der Zeit in der Beziehung, als kompetente Internetnutzerin in Erscheinung. Lediglich bei der Wartung von Software wie Anti-Viren-Programmen holt sie sich zunächst Unterstützung von Bekannten oder Familienmitgliedern und später von ihrem neuen Partner. Diese administrativen Tätigkeiten scheinen über die Zeit relativ stabil als technisch gerahmt und auf diese Weise mit Männlichkeit verknüpft zu sein (vgl. Roth und Röser 2019) Die Männer übernehmen diese Aufgaben auch gerne, weil sie diese ihrem Interessensbereich zuordnen. Bei dem dritten Paar, das vor der Trennung eher ein egalitäres Beziehungskonzept lebt, zeigt sich eine solche Entwicklung nicht. Beide sind bereits vor der Trennung – auch aufgrund beruflicher Anwendungsgebiete – kompetente Onlinenutzer und haben keine geschlechtsgebundene Arbeitsteilung entwickelt. Lediglich im Internethandeln von Herrn Mahlmann macht sich die Auflösung der Arbeitsteilung in einem anderen Bereich bemerkbar. Da er nun immer selber kochen muss – zuvor hat dies meistens, aber nicht immer seine Frau übernommen – hat er Rezeptseiten wie chefkoch und küchengötter für sich entdeckt: „Dadurch, dass ich jetzt alleine wohne und häufig für mich koche oder für meine Tochter und für meine Freundin, denke ich, muss ich ja mal gucken, was es so gibt. Und dann fand ich das sehr praktisch.“ (Herr Mahlmann, 2011)
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6. Autonomiegewinn durch die Trennung: ungehindertes Verfolgen der eigenen Medieninteressen Die Paare erleben die Trennung auch als Autonomiegewinn, weil sich bei ihrer Alltagsgestaltung und ihrer Mediennutzung neue Freiräume und Handlungsmöglichkeiten ergeben. Denn gewisse Entscheidungen müssen nicht mehr mit dem Partner abgestimmt werden und partnerschaftliche Rituale und Absprachen lösen sich auf. Den neuen Freiraum erlebt in unserem Sample Herr Mahlmann als besonders einschneidend für seine Internetnutzung. Aufgrund einer technischen Beschränkung ist in der Zeit vor der Trennung eine zeitgleiche Internetnutzung nicht möglich, sodass sich das Paar über die Nutzungszeiten absprechen muss. Aufgrund der beruflichen Relevanz lässt Herr Mahlmann seiner Frau in der Regel den Vortritt. Erst, wenn Frau Mahlmann spät abends ihren Feierabend vor dem Fernseher einläutete, kann er ins Internet. Durch die Trennung werden solche Absprachen obsolet. In diesem Zusammenhang steigt seine Onlinenutzung stark an. Auch wenn sich dieses Problem auch technisch hätte lösen lassen, veranschaulicht diese Entwicklung, inwiefern der Autonomiegewinn eine Veränderung der Mediennutzung antreiben kann. Im Kontrast dazu verzichtet Frau Mahlmann nun auf die Radionutzung, die ihrem Mann zuvor sehr wichtig war. Der Autonomiegewinn macht sich bei allen drei Paaren zudem bei der Gestaltung des Fernsehabends bemerkbar, denn auf inhaltlich unterschiedliche Interessen müssen sie nun keine Rücksicht mehr nehmen, sondern können das Programm auswählen, das ihrem Interessensgebiet entspricht. So schildert beispielsweise Herr Olsen: „Horror-Gedöns. […] Das ging mit meiner Ex-Frau gar nicht, da hatte sie überhaupt nichts für übrig. Also das war schon sehr unterschiedlich.“ (Herr Olsen, 2013) Insgesamt ist es den Interviewten aber sichtbar schwergefallen, einen Zusammenhang zwischen ihrem Autonomiegewinn und der Veränderung ihrer Mediennutzung herzustellen. Für weitere Analysen scheint der Aspekt aber vielversprechend. Dynamik mit Beginn der neuen Partnerschaft 1. Beziehungsaufbau: intensiver kommunikativer Austausch sowie Rückgang der freizeitorientierten Mediennutzung Alle unseren Interviewten sind wieder eine neue Beziehung eingegangen. Ihre Freizeitgestaltung konzentriert sich zu Beginn der Partnerschaft in erheblichem Maße auf den neuen Partner. Kommunikationsdienste werden in diesem Zusammenhang speziell zum Aufbau der Beziehung genutzt. So wird mit dem neuen Partner intensiv „hin- und hergeschrieben“ (Herr Olsen, 2013). Der intensive Austausch via WhatsApp, Telefon & Co. zielt im Besonderen darauf, den Partner kennenzulernen und eine emotionale Bindung zu ihm aufzubauen. In kommunikativen Austausch geht es daher auch vorwiegend darum, seine Liebe
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zum Ausdruck zu bringen, am Leben des Partners teilzuhaben und Informationen von sich preiszugeben und vom Partner zu erfahren. Während der gemeinsam verbrachten Zeit wird das Smartphone zudem bewusst weggelegt oder lautlos gestellt, damit die Konzentration auf der Paarkommunikation liegt. Auf diese Weise drücken die Partner ihre gegenseitige Wertschätzung aus und vermitteln dem neuen Lebensgefährten: ‚Du bist mir besonders wichtig und alles Weitere ist jetzt erst einmal unbedeutend‘. Gleichzeitig nimmt der (mediatisierte) Kontakt zum Freundes- und Bekanntenkreis sowie der Drang nach neuen Bekanntschaften, der in der Single-Phase entstanden ist, sichtbar ab. Im Allgemeinen zeigt sich in dieser Phase ebenfalls ein Rückgang der freizeitorientierten Mediennutzung, da für das Paar jetzt Aktivitäten im Vordergrund stehen, die für den Beziehungsaufbau förderlich sind. Fernsehen o. ä. gehört da erst einmal nicht zu: „Es war auch nicht so mit der neuen Beziehung, dass man sich zum Fernsehgucken verabredet hat, weil es ja auch eine neue Beziehung war. Da stehen eben noch andere Dinge an, wie das gemeinsame Erleben.“ (Herr Mahlmann, 2013) Wenn man als Paar einen Fernsehabend miteinander verbringt – was bei den meisten Paaren zunächst äußerst selten vorkommt –, dann wird dieser als quality time gerahmt. Die Partner kuscheln miteinander, stellen körperliche Nähe her und widmen die ganze Aufmerksamkeit dem Film. Parallelnutzung ist dann keine Option: „Ich meine, wenn man so selten guckt, dann macht man das auch richtig.“ (Frau Olsen, 2013) Der Rückgang der freizeitorientierten Medienrezeption ist zudem mit der eskapistischen und distanzierenden Mediennutzung während der Krisen- und Auflösungsphase in der vorherigen Beziehung verbunden. In der neuen Beziehung wollen die Partner dies gezielt anders gestalten; um ein Auseinanderleben zu vermeiden, widmen sie ihrem Partner mehr Aufmerksamkeit. Es ist daher auch nicht überraschend, dass sich Frau Olsen mit ihrem neuen Mann dazu entschließt, in der gemeinsamen Wohnung keinen Fernseher aufzustellen: „Wir haben jetzt hier keinen aufgebaut und gucken ganz selten mal was über das Internet. […] Früher habe ich eigentlich jeden Abend Fernsehen geguckt. […] Wir wollten das nicht, dass das so präsent ist, weil es ja doch sehr verleitet, dann vielleicht täglich zu gucken.“ (Frau Olsen, 2013) Alle Interviewten betonen auch, dass ihnen der geringere Medienkonsum in dieser Phase leicht gefallen ist, weil sie es genießen, mit ihrem neuen Partner Zeit zu verbringen und sich – im Gegensatz zur Zeit vor einer Trennung – intensiv mit ihm auszutauschen. Damit weist die Mediennutzung während der Aufbauphase einer Beziehung einen bedeutenden Unterschied zur Mediennutzung innerhalb einer Krisen- und Auflösungsphase auf, denn „was sich total unterscheidet, ist das Sich-Austauschen. […] Heute muss ich nicht mehr flüchten.“ (Herr Olsen, 2013)
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2. Bestandsphase: Fernsehabend als wichtigster Bezugspunkt für das Paar Während in der Aufbauphase die freizeitorientierte Fernsehrezeption deutlich reduziert wird, entwickelt sich bei unseren Paaren in der Bestandsphase der Fernsehabend (sei es mit klassischen oder online-distribuierten Medieninhalten) zu einem wichtigen Bezugspunkt, um als Paar gemeinsam Zeit zu verbringen. „Das ist nichts, wo man stolz drauf sein muss, aber es ist mir auch nicht peinlich. Wir gucken schon ganz gern Fernsehen. Also abends […] gucken wir gern zusammen Fernsehen.“ (Herr Olsen, 2013) Unabhängig davon, ob die Paare zusammenwohnen oder nicht, verbringen fünf der sechs (neuen) Paare regelmäßig den Abend mit ihrem Partner gemeinsam vor dem Fernseher. Lediglich Frau Flick hat mit ihrem neuen Partner aufgrund gravierender Interessensunterschiede keinen gemeinsamen Fernsehabend, was sie auch sehr bedauert (s. Fallbeispiel oben). Aber wieso hat der Fernsehabend für Paare so eine herausragende Stellung? Auf Basis aller Paarinterviews der Gesamtstudie zum mediatisierten Zuhause lassen sich drei zentrale Gründe ausmachen (vgl. Hepp und Röser 2014, S. 177–178). Erstens fungiert der Fernsehabend im flexibilisierten und fragmentierten (Medien-) Alltag als eine Art Ankerpunkt für das Paar und sichert so die Gemeinschaft im häuslichen Zusammenleben. Ohne aufwendige Synchronisationsleistung kommen die Partner zu gewohnten Zeiten am gewohnten Ort vor dem Fernseher zusammen, stellen körperliche Nähe her und tauschen sich über verschiedene Themen aus. Zweitens erfüllt der Fernsehabend, so Hepp und Röser, eine wichtige Funktion für die Reproduktion und Erholung von Berufs-, H aushalts- und Familienarbeit im anstrengungslosen Medienkonsum. Die Fernsehrezeption ermöglicht zudem drittens das Gefühl der Teilhabe an öffentlicher Kommunikation. Dieser Punkt zielt auf das Bewusstsein, dass die Fernsehrezeption mit Millionen anderen Menschen geteilt wird und somit als Teilhabe an Inhalten von öffentlicher Relevanz erlebt wird. Dies trifft insbesondere auf Live-Ereignisse und Wahlkampfberichterstattung zu. Besonders der erste Aspekt scheint für die neuen Partner eine hohe Bedeutung zu besitzen, so konstatiert beispielsweise Herr Olsen: „Wir kuscheln dann halt zusammen. Das ist schon schön. […] Aber wir unterhalten uns auch nebenbei.“ (Herr Olsen, 2013). Der Fernsehabend gewinnt also insbesondere durch das Gefühl der Geselligkeit und des Zusammenseins an Bedeutung, das oftmals wichtiger ist als das eigentliche Fernsehprogramm. 3. Zusammenführen der Medien(geräte) und Abonnements: Erweiterung der (technischen) Ausstattung und Wandel der Nutzungsmuster Veränderungen der Mediennutzung können sich zudem aus der Erweiterung der (technischen) Ausstattung ergeben. Während nach einer Trennung gemeinschaftlich genutzte Medientechnologien aufgeteilt werden müssen, können in einer neuen Beziehung neue hinzukommen. So profitieren beispielsweise Frau Olsen
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und Herr Mahlmann davon, dass ihre neuen Partner eine Tageszeitung abonniert haben: „Wenn ich morgens aufstehe und mir das Frühstück mache, renn’ ich runter zum Briefkasten, hol’ mir die Zeitung und renn’ wieder hoch, um sie am Frühstückstisch zu lesen.“ (Herr Mahlmann, 2011) Ohne ihren Partner hätten sie diese Möglichkeit nicht: „Wenn ich das immer selber bezahlen müsste, dann würde ich es wahrscheinlich nicht machen, weil ich im Moment ja auch nicht so viel Geld habe.“ (Frau Olsen, 2013) Da Frau Olsen auch das Tablet von ihrem Partner nutzt, hat sich ihre Mediennutzung innerhalb der Wohnung mobilisiert. Herr Mahlmann, der über keinen Fernseher verfügt und nur über den Laptop fernsehen schaut, ist zudem froh darüber, Filme wieder auf einem großen Bildschirm schauen zu können. Zuvor hat er dies sehr vermisst: „Aber dadurch, dass meine Freundin jetzt auch einen hat, ist das nicht mehr so schlimm.“ (Herr Mahlmann, 2013) Das Zusammenführen der Medien(geräte) kann also auf unterschiedlichen Ebenen einen Wandel der Mediennutzungsmuster antreiben. 4. Autonomieverlust und Aushandlungsprozesse: Gestalten des paarspezifischen Medienalltags Analog zum Autonomiegewinn nach einer Trennung geben die Partner in einer neuen Beziehung wieder ein Stück weit Autonomie auf. Mit dem Auftakt der Partnerschaft und insbesondere nach der Haushaltsgründung „sind die Paare in wachsendem Maße gezwungen, […] gemeinsame Lösungen für die anstehenden Aufgaben ihrer Alltagsorganisation zu finden.“ (Lenz 2009, S. 113) Dazu gehört auch die Organisation des Medienalltags, denn jeder Partner bringt in eine neue Beziehung seine persönliche Vorstellung über die Nutzung von Medien mit ein. Dies umfasst beispielsweise inhaltliche Interessen, Vorlieben für bestimmte Mediengeräte oder zu welchen Zeiten und in welchem Umfang Medien genutzt werden sollen. Diese Erwartungshaltungen müssen aufeinander abgestimmt werden, sodass beide Partner ihre Mediennutzung nun weniger frei gestalten können. In diesem Zuge haben unsere Interviewten auch neue Mediengewohnheiten entwickelt, wie beispielsweise Frau Mahlmann, die neuerdings mit ihrem Partner DVDs schaut: „Das ist neu. Das habe ich mit meinem alten Mann nicht gemacht. Wir gucken viele DVDs […] und suchen dann auch ganz spezielle Filme aus, die ich mir alleine nicht anschauen würde, weil sie mir zu spannend sind oder zu unheimlich.“ (Frau Mahlmann, 2013) Dieses Verhalten von Frau Mahlmann ist typisch. Gerade zu Beginn einer neuen Partnerschaft werden häufig Medieninhalte rezipiert, die zwar den persönlichen Interessen nicht entsprechen, die aber trotzdem genutzt werden, weil die gemeinschaftsstiftende Funktion wichtiger ist als individuelle Vorlieben: „Gemeinsam Fernsehen, das finde ich total schön. […] Wenn man einen Partner hat, der bestimmte Sachen gern guckt und man das dann gemeinsam machen kann, finde ich das super.“ (Frau Mahlmann, 2013)
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Für den Umgang mit ihren differierenden inhaltlichen Interessen besitzen die Paare unterschiedliche Strategien. Ein Paar sucht bei der Auswahl der Fernsehinhalte speziell das verbindende Interesse. Bei einem anderen Paar orientiert sich die Frau überwiegend an den Interessen des Mannes und wiederum ein anderes Paar kann sich nicht auf gemeinsame Fernsehinhalte einigen, sodass sie keinen gemeinsamen Fernsehabend verbringen. Die drei anderen Paare wechseln sich hingegen bei der Entscheidungshoheit ab. Dabei orientieren sie sich beispielsweise daran, wem der jeweilige Inhalt wichtiger ist. Die Befunde unserer Langzeitstudie zeigen aber auch auf, dass sich im Laufe der Beziehung die persönlichen Interessensgebiete verändern können. So kann eine Person durch ihren Partner einen neuen Interessensbereich entdecken, der ohne den Beziehungsbeginn für sie unbedeutend geblieben wäre. Dies lässt sich eindrücklich anhand der Beziehung des Paares Mahlmann aufzeigen. Herr Mahlmann ist ein passionierter Zeitungsleser. Als er mit Frau Mahlmann zusammenkommt, besteht er darauf, samstags morgens die Zeitung im Bett zu lesen. Da Frau Mahlmann dies als Abgrenzung empfindet, hat sie es zu Beginn der Beziehung noch „gehasst“. Im Laufe der Zeit entwickelt sie aber Freude daran und es wird zu einem gemeinsamen Medienritual: „Wir lesen nämlich immer zusammen Zeitung samstags. Das lieben wir beide.“ (Frau Mahlmann, 2008) Nun schätzt sie besonders daran, dass sie Zeit mit ihrem Partner verbringen kann und die Möglichkeit hat, sich über die Inhalte mit ihm auszutauschen. Dass sich die Zeitungsrezeption zu einem persönlichen Interesse von Frau Mahlmann entwickelt hat, wird besonders daran deutlich, dass sie nach der Trennung von Herrn Mahlmann die Zeitungsnutzung beibehält. Mit Beginn ihrer neuen Beziehung haben sich die Verhältnisse praktisch umgekehrt, denn ihren neuen Partner, „der das auch gar nicht kennt, Zeitungslesen am Morgen“, muss sie erst noch davon überzeugen (Frau Mahlmann, 2013). Grundsätzlich verlaufen viele solcher Aushandlungsprozesse eher beiläufig und subtil und werden von den Interviewten nicht als Aushandlung wahrgenommen, so resümiert beispielsweise Herr Olsen: „Da gab es auch kein explizites Gespräch, wie man Medien nutzt oder so.“ (Herr Olsen, 2013) Ohnehin ist auffällig, dass es in den neuen Beziehungen ähnliche Vorstellungen über die Mediennutzung gibt und damit auch wenig Konfliktpotential, insbesondere im Vergleich zu ihren vorherigen Partnern. Möglicherweise geraten Konfliktthemen aber auch noch nicht ins Blickfeld des Paares, weil in der ‚Verliebtheitsphase‘ Medien sehr reduziert genutzt werden (s. oben) und prinzipiell eine hohe Kompromissbereitschaft vorhanden ist, um den Partner nicht zu verärgern. Lediglich ihre Vorstellungen über die Smartphonenutzung gleichen einige Paare aktiv ab, indem sie ihren Lebensgefährten zum Beispiel auffordern, es während des Fernsehens wegzulegen, um den Moment als Paar bewusst miteinander
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erleben zu können. Diese Aushandlungsprozesse können so weit gehen, dass sich die Paare selbst Medienregeln auferlegen, wie zum Beispiel ein Nutzungsverbot für das Smartphone im Schlafzimmer. 5. Neue Arbeitsteilung: Geschlechtsgebundene Aufgabenteilung mit Medien Im Verlauf der neuen Beziehung wird es wieder möglich, eine paarspezifische Aufgabenteilung zu entwickeln. Auch Tätigkeiten, die die Mediennutzung betreffen, können nun arbeitsteilig organisiert werden. Das Internet eignet sich im Besonderen für eine mediale Aufgabenteilung, denn viele Alltagsaufgaben lassen sich online erledigen. Analog zur Auflösung der Arbeitsteilung nach einer Trennung ist bei den neuen Paaren im Sample auffällig: Die getrennten Frauen geben in der neuen Beziehung administrative Onlinetätigkeiten wie Sicherheitsupdates oder Software-Installationen an ihre neuen Männer ab und die getrennten Männer übernehmen diese Tätigkeiten gerne von ihren neuen Frauen. So auch Herr Olsen: „Meine neue Partnerin würde jetzt auch nicht irgendwelche Updates installieren oder so. Also für dieses Administrative, das ist ganz klar, dass das meine Aufgabe ist. Da kenne ich mich einfach auch besser aus als sie und sie hat da nicht das Interesse dran. Mir macht das dann auch Spaß.“ (Herr Olsen, 2013)
Im Kontrast dazu gibt Frau Olsen, wie in ihrer vorherigen Beziehung, diese Tätigkeiten gerne an ihren neuen Mann ab: „Das habe ich immer aus der Hand gegeben. (lacht) Ja, das hat auch immer mein Ex-Mann gemacht und jetzt macht das mein derzeitiger Freund. (lacht) Irgendwie interessiere ich mich da nicht so richtig für. Hauptsache, es läuft.“ (Frau Olsen, 2013) Inwieweit eine solche geschlechtsgebundene Arbeitsteilung mit dem Internet den ‚Normalfall‘ darstellt, lässt sich aus unseren Daten nicht nachvollziehen. Besonders muss berücksichtigt werden, dass es sich bei den getrennten Paaren eher um technikinteressierte Männer und eher weniger um technikinteressierte Frauen handelt. Wie aber bereits oben erwähnt, scheinen solche administrativen Tätigkeiten oftmals mit Technik und Männlichkeit konnotiert zu sein. Auffällig ist zudem, dass die Paare die Zuständigkeiten ihrer Arbeitsteilung gemäß Interesse und Expertentum aufteilen, um so von dem jeweiligen Wissen des Partners profitieren zu können, denn „wenn sich Partner spezialisieren, werden sie bessere Arbeitsleistungen erzielen“ (Sackmann 2007, S. 176). Darüber hinaus haben die Paare – soweit dies aus den Interviews ersichtlich wird – zu diesem Zeitpunkt der Beziehung aber kaum mediale Tätigkeiten aufgeteilt. Lediglich auf die gemeinsame Urlaubsplanung trifft dies noch zu, weil bei einigen Paaren dazu eine Person online recherchiert und die Ergebnisse anschließend mit dem Partner bespricht. Die Verantwortlichkeiten für Medienrecherchen o. ä. für die Kinder werden hingegen, dies ist besonders auffällig, nicht aufgeteilt.
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9.4.4 Zusammenfassung Mit der Trennung und dem anschließenden Beginn einer neuen Partnerschaft ergibt sich für die Interviewten in unserem Sample eine neue Lebenssituation. In dieser veränderten Lebenssituation gestalten sie ihr Medienrepertoire neu. Im Zuge der Trennung sind für den Wandel der Mediennutzung sechs zentrale Momente der Alltagsveränderung ausschlaggebend (siehe Abb. 9.9).
Abb. 9.9 Dynamik im Medienrepertoire nach einer Trennung: Übersicht. (Quelle: Eigene Darstellung)
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Erstens ist die Konflikt- und Auflösungsphase geprägt von sozialen Auseinandersetzungen und einer emotionalen und körperlichen Entfremdung (sozial und emotional). Medien machen es in dieser Zeit möglich, den Beziehungskonflikten zu entfliehen. Eine getrennte und eskapistische Mediennutzung ist daher typisch für Paare während einer Beziehungskrise, weil die Partner sich mehr oder weniger unausgesprochen räumlich und symbolisch voneinander distanzieren können. Umgekehrt muss die getrennte Mediennutzung aber kein Indiz für eine Krise sein, weil es durchaus Paare gibt, die mit diesem Medienarrangement eine glückliche Beziehung führen. Wenn die Paare aber mit einem solchen Medienarrangement unzufrieden sind, ist dies ein klares Anzeichen für eine eskapistische Mediennutzung im Rahmen eines konfliktbehafteten Alltags. Wird die distanzierende Mediennutzung zwischen den Partnern offen kritisiert und nicht gelöst, kann sich die eskapistische Mediennutzung selbst zu einem Bestandteil der Beziehungskrise entwickeln und eine weitere Entfremdung vorantreiben. Zweitens müssen im Zuge der Trennung und dem damit verbundenen Umzug (zumindest eines Partners) die gemeinsam genutzten Medien(geräte) wie Fernseher oder Zeitungsabonnements aufgeteilt werden (materiell). Dies mündet größtenteils in der Neuanschaffung der nun fehlenden Geräte und Abonnements, sodass einige Interviewten ihre technische Ausstattung im Zuge der Trennung modernisiert haben. Wenige Interviewte verzichteten auch auf eine Neuanschaffung. Ausschlaggebend sind hier zumeist finanzielle Überlegungen, weil die Trennung aufgrund der getrennten Haushaltsführung mit finanziellen Einbußen verbunden ist. Aus einem veränderten Medienensemble können sich auch veränderte Nutzungsmuster ergeben. Drittens ist die Zeit unmittelbar nach der Trennung mit einer emotionalen Krise verbunden, die von der verlassenen Person prinzipiell anders erlebt wird, als von der Person, die die Trennung initiiert hat (emotional). Im Kontext der emotionalen Krise äußern alle Interviewten, dass sie Medien und insbesondere den Fernseher intensiv genutzt haben, um sich in dieser Phase Ablenkung zu verschaffen und etwas Abstand von den Ereignissen zu gewinnen. Die intensive Mediennutzung ist damit auch eine Art Bewältigungsstrategie der als krisenhaft erlebten Trennung. Spätestens nach emotionaler Stabilisierung (emotional) setzt viertens eine Reflexionsphase ein, in der neue Ziele formuliert werden und in der über die Art und Weise der Alltagsgestaltung ausführlich nachgedacht wird (sinnhaft). Dabei macht sich deutlich bemerkbar, dass vorher (zumeist) viel Zeit mit dem Partner verbracht wurde und nun neue Formen der Zeitgestaltung gefunden werden müssen (zeitlich), denn „sehr viele Routinen und Selbstverständlichkeiten, die nicht geplant werden mussten, die sich automatisch ergeben haben, müssen jetzt durch neue Abläufe ersetzt werden.“ (Lenz 2009, S. 181) Bei der Ausgestaltung des zusätzlichen Freiraums wird der Wunsch nach einer neuen Partnerschaft
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und der Drang, alte Freundeskreise wieder zu aktivieren oder neue Kontakte zu knüpfen, zum Leitmotiv. Dies zeigt sich in Form eines erhöhten Kommunikationsbedürfnisses. Onlinedienste wie WhatsApp oder E-Mail werden in dieser Phase deutlich intensiver genutzt als zuvor und es können neue Anwendungen wie Onlinepartnerbörsen oder Facebook hinzukommen. Gleichzeitig lässt die Fernsehnutzung deutlich nach, weil diese einer als sinnvoll empfundenen Alltagsgestaltung im Weg steht und nun eher als ‚Zeitverschwendung‘ empfunden wird. Fünftens ergeben sich aus der Auflösung der Arbeitsteilung je nach Beziehungskonstellation unterschiedliche Folgen für das Medienhandeln (sozial). Während bei einer egalitär ausgerichteten Beziehung die Mediennutzung kaum tangiert wird, kommt es bei den Frauen mit einer zuvor traditionell geführten Beziehung zu einem deutlichen Anstieg ihrer Internetnutzung, weil sie nun Alltagsaufgaben selbst online erledigen (müssen). Zudem zeigt sich bei einem Mann ein mediatisierter Zugang zum Kochen, was zuvor überwiegend seine Frau übernommen hatte. Mit dem Beziehungsende und dem Wegfall der Arbeitsteilung kann also eine höhere Belastung im Alltag verbunden sein sowie die Notwendigkeit, sich bestimmte Fähigkeiten und bestimmtes Wissen zur Erledigung dieser medialen Tätigkeiten (neu) aneignen zu müssen. Im Umkehrschluss bedeutet dies auch, dass die Paarkonstellation als spezifische Form der Lebensführung hinderlich für die Entwicklung von OnlineKompetenz sein kann. Denn offensichtlich geben – besonders in traditionell gelebten Beziehungskonzepten – viele Frauen technisch konnotierte Medientätigkeiten gerne an ihre Männer ab und offensichtlich übernehmen die Männer diese auch gerne. Zweifelsohne gibt es auch Beziehungen, in denen die Aufgabenteilung mit Medien(technologien) und speziell dem Internet egalitär organisiert ist oder die Frau das Expertentum innehat. In der Tendenz scheinen technisch konnotierte Medientätigkeiten allerdings äußert stabil mit Männlichkeit verknüpft zu sein. Sechstens ist mit dem Ende der Beziehung und dem Übergang von der Lebensführung des Paares hin zu einer individualisierten Lebensführung ein Autonomiegewinn verbunden, weil gewisse Entscheidungen nicht mehr abgestimmt werden müssen (sozial). Daher ergeben sich neue Freiräume und Handlungsmöglichkeiten, die auch das Medienhandeln betreffen, weil den eigenen Medieninteressen ungehindert nachgegangen werden kann. Je nach Absprachen und Gewohnheiten der paarspezifischen Mediennutzung hat der Autonomiegewinn einen mehr oder weniger starken Einfluss.22 22In unserer Studie nicht in den Blick geraten ist der Wandel des Kommunikationsverhaltens aufgrund der Veränderung der Freundeskreise durch die Trennung, beispielsweise weil der Kontakt zu gemeinsamen Freunden gemieden wird. Dies erscheint aber durchaus auch für die Mediennutzung als relevant.
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9 Alltagsumbrüche und ihr Einfluss auf das häusliche Medienhandeln
Beim Beginn einer neuen Partnerschaft sind fünf zentrale Momente der Alltagsveränderung ausschlaggebend für einen Wandel der Mediennutzung unserer Interviewten (siehe Abb. 9.10).
Abb. 9.10 Dynamik im Medienrepertoire mit neuer Partnerschaft: Übersicht. (Quelle: Eigene Darstellung)
Erstens verbringen die neuen Partner in der Anfangsphase viel Zeit miteinander, weshalb andere Lebensbereiche und die dazugehörigen Mediennutzungsmuster teils an Bedeutung verlieren (zeitlich). Im Kern geht es um den Aufbau von Vertrauen und einer emotionalen Bindung, um so die Beziehung zu festigen (sozial). In diese Zeit fällt auch die ‚Verliebtheitsphase‘, die von starken Glücksgefühlen geprägt ist. Mehr über den Partner erfahren und sich ausgiebig übereinander austauschen sowie Zuneigung und Wertschätzung kommunizieren sind dabei zentrale Anliegen. In diesem Sinne wird auch die Medienkommunikation via WhatsApp, Telefon & Co intensiv für den Aufbau der Beziehung genutzt, während der (mediatisierte) Kontakt zum Freundes- und Bekanntenkreis sowie der Drang nach
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neuen Bekanntschaften sichtbar abnimmt. Darüber hinaus verzichten die Partner in erheblichem Maße auf ihre zuvor gewohnte freizeitorientierte Mediennutzung, weil nun andere Aktivitäten mit dem Partner im Vordergrund stehen. Während der physisch gemeinsam verbrachten Zeit werden Medien zudem bewusst gemieden, da sie beim Beziehungsaufbau eher als Störfaktor und damit als hinderlich wahrgenommen werden. In Erinnerung an die intensive und distanzierende Mediennutzung während der Krisen- und Auflösungsphase in der vorherigen Beziehung wollen die Interviewten dem Partner nun mehr Aufmerksamkeit widmen, auch um so einem möglichen Auseinanderleben vorzubeugen. In der Bestandsphase hingegen entwickelt sich zweitens der gemeinsame Fernsehabend als Bezugspunkt für das Paar (zeitlich und sozial). Fernsehen wird in dieser Phase insbesondere als sinnvoll empfunden, weil es einen ‚Ort‘ darstellt, an dem das Paar habitualisiert zusammenkommt, sich über verschiedene Themen austauschen kann und körperliche Nähe herstellt. Oftmals ist dabei das Gefühl des Zusammenseins wichtiger als das eigentliche Fernsehprogramm. Obwohl bei unseren Paaren das lineare Programm am häufigsten genutzt wird, deutet sich an, dass non-lineare Formen der Bewegtbildnutzung an Bedeutung gewinnen. Lediglich bei einem Paar, das sich nicht auf ein gemeinsames Programm einigen konnte, blieb der gemeinsame Fernsehabend – zum Bedauern der Frau – unbedeutend. Drittens werden spätestens mit der Gründung eines gemeinsamen Haushalts auch die Mediengeräte und Medienabonnements zusammengeführt (materiell). Aus der veränderten Medienausstattung können sich wiederum neue Nutzungsformen entwickeln, weil nun z. B. die vom Partner abonnierte Tageszeitung gelesen werden kann oder weil das vom Partner mitgenutzte Tablet die eigene Mediennutzung mobilisiert. Viertens geht mit der neuen Beziehung ein Autonomieverlust einher, der zwangsläufig in zahlreiche Aushandlungsprozesse mündet (sozial). Vorstellungen und Erwartungen an den paarspezifischen Medienalltag müssen aufeinander abgestimmt werden, sodass beide Partner ihre Mediennutzung weniger frei gestalten können. Im Zuge dieser Aushandlungsprozesse – die aus Sicht der Interviewten überwiegend beiläufig und subtil ablaufen – entwickeln die Partner neue Mediennutzungsmuster, die sich von der Mediennutzung als Single unterscheiden. So müssen sie beispielsweise bei der Auswahl der gemeinsam rezipierten Medien Kompromisse eingehen oder sie können Medien nicht mehr so ungehindert wie zuvor nutzen. Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang, dass sich die Partner mit ihren Interessen und Einstellungen gegenseitig beeinflussen. So kann eine Person durch ihren Partner ein neues Medieninteresse – wie die morgendliche Zeitungslektüre – entdecken, welches
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9 Alltagsumbrüche und ihr Einfluss auf das häusliche Medienhandeln
ohne die Partnerschaft unbedeutend geblieben wäre. Insofern ist mit Fortdauer der Beziehung schwierig zu beurteilen, wer sich im Alltag an den Medieninteressen des Anderen orientiert, weil sich die persönlichen Interessen im Lauf der Partnerschaft wandeln und auch angleichen. Insgesamt scheint eine für beide Seiten zufriedenstellende Mediennutzung – als wichtiger Bestandteil der Alltagsgestaltung – eine hohe Bedeutung für die Stabilität der Beziehung zu besitzen. Fünftens entwickeln die Paare im Verlauf ihrer Beziehung eine paarspezifische Aufgabenteilung (sozial) (vgl. Schulz und Blossfeld 2006). So wird es möglich, einige Tätigkeiten, die bislang allein erledigt wurden, arbeitsteilig zu organisieren und an den Partner abzugeben. Besonders auffällig ist, dass die getrennten Frauen administrative Onlinetätigkeiten an ihre neuen Männer abgeben und die getrennten Männer diese von ihren neuen Frauen übernehmen. Dabei orientieren sich die Paare an ihren Interessen und ihrer Expertise, um so von dem jeweiligen Wissen des Partners profitieren zu können. Leitbilder der Geschlechter sowie unterschiedliche Kompetenzen und Interessen erweisen sich hier also als handlungsleitend für die Aufgabenteilung. Insgesamt zeigt der Wandel der Mediennutzung im Zuge einer Trennung und dem Beginn einer neuen Partnerschaft eindrücklich, dass Medienangebote in verschiedenen Beziehungsphasen unterschiedliche Funktionen übernehmen und auf unterschiedliche Art und Weise genutzt werden.
9.5 Umzug und Veränderung des Medienhandelns In unserem Sample wechselten im Untersuchungszeitraum die Paare Bindseil, Markuse, Sarholz und Maier sowie vier getrennte Partner*innen (Hr. Mahlmann, Hr. Olsen, Hr. Flick und Fr. Flick) mindestens einmal ihren Wohnort. Neben einer temporären Ausweitung der Onlinenutzung in der Phase der Wohnungssuche bzw. des Hausbaus zeigten sich danach weitere Veränderungen der Mediennutzung, die u. a. auf Veränderungen der technischen Infrastruktur und des sozialen Nahbereichs sowie auf neuen räumlichen Arrangements basieren. Im Folgenden wird zunächst der Alltagsumbruch Umzug in seinen charakteristischen Besonderheiten
9.5 Umzug und Veränderung des Medienhandelns
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skizziert. Anschließend wird anhand eines Fallbeispiels sowie anhand der vergleichenden Auswertung der Wandel der Mediennutzung in Zusammenhang mit einem Wohnortwechsel beschrieben.
9.5.1 Charakteristika von Umzügen Ein Wechsel des Wohnorts kann vielschichtige Auswirkungen auf die alltägliche Lebensführung haben: „Mit dem Umzug wechselt nicht nur die sozialräumliche Kategorie. […] Umzüge sortieren Nähe und Ferne neu und verändern Optionen und Restriktionen der Lebensführung in einem Maß, das oft unterschätzt wird.“ (Richter 2013, S. 11) Florida zählt die Wahl des Wohnortes neben der Partnerwahl und dem beruflichen Karriereweg sogar zu einer der drei wichtigsten Entscheidungen in der Biografie eines Menschen (vgl. Florida 2008, S. 4 ff. zit. n. Richter 2013, S. 11). Auch wenn Umzüge ins Ausland im Allgemeinen als besonders einschneidend erlebt werden, so berühren auch Umzüge innerhalb eines Landes verschiedene Momente und Rahmenbedingungen der alltäglichen Lebensführung: Inwiefern verändert sich die geografische Entfernung zum sozialen Nahbereich, wie wird Nähe und Distanz zu diesem gestaltet und welche neuen sozialen Beziehungen werden eingegangen? Welche ortsbezogenen Ressourcen wie Infrastruktur, kulturelle Angebote oder Berufschancen gibt es (nicht) am neuen Wohnort und welche Rolle spielen diese Aspekte für die Alltagsgestaltung (im Kontrast zur vorherigen Wohnsituation)? Wie verändern sich die Tagesroutinen, die erst einmal wieder aufeinander abgestimmt werden müssen? Zahlreiche Momente des Alltagslebens müssen einerseits neu organisiert werden, andererseits bieten sich neue Entfaltungschancen. Jedes Jahr wechseln in Deutschland etwa 3,5 bis 4 Millionen Menschen ihren Wohnsitz über die Gemeindegrenzen hinweg, d. h. durchschnittlich zieht in jedem Jahr fast eine von 20 Personen um. Im Laufe ihres Lebens wechseln Deutsche fast fünf Mal ihren Gemeindewohnsitz (vgl. BiB 2018). Differenziert man die Umzugshäufigkeit nach dem Lebensalter, so fällt auf, dass die 20–40-Jährigen besonders mobil sind (siehe Abb. 9.11).
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Wandernde je 1.000 Einwohner im jeweiligen Alter 180 Weiblich 150
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Datenquelle: Statistisches Bundesamt, Berechnungen: BiB
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© BiB 2018
Abb. 9.11 Wanderungshäufigkeit über Gemeindegrenzen nach Alter und Geschlecht in Deutschland, 2016
Besonders in den (frühen) 20er-Jahren – die Arnett (2000) mit Fokus auf die 18–25-jährigen als Phase der „Emerging Adulthood“ bezeichnet – vollziehen sich zahlreiche Veränderungen in verschiedenen Lebensbereichen, die auch die Mobilität vorantreiben. Denn mit Bildungs- und Karrierewegen sowie mit neuen Partnerschaften geht häufig auch ein Wohnortswechsel einher. Mobilität wird damit insbesondere für junge Menschen zu einer wichtigen „Strategie zur Erreichung von Entwicklungszielen“ (Zimmermann und Neyer 2019, S. 444). Im Erwachsenenalter befördert oftmals der Wunsch nach einer eigenen Immobilie
9.5 Umzug und Veränderung des Medienhandelns
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und/oder der Wunsch nach Vergrößerung im Zuge der Familiengründung einen Umzug. So lässt sich auch die vergleichsweise hohe Mobilitätsrate von etwa 3-jährigen Kindern erklären. Aber auch Trennungen und neue Partnerschaften können einen Umzug erforderlich machen. Umzüge sind also häufig mit weiteren Transitionsprozessen wie dem Berufsbeginn, einer Trennung oder Elternschaft verwoben. Insgesamt zeigt sich, dass – neben beruflichen Plänen – soziale Beziehungen eine herausragende Bedeutung für Mobilitätsentscheidungen besitzen. So verringert sich beispielsweise die Umzugswahrscheinlichkeit durch ortsansässige Familienmitglieder (vgl. Dawkins 2006) oder beste Freunde (vgl. Belot und Ermisch 2009) und verheiratete Personen ziehen seltener um als ledige (vgl. Geist und McManus 2008). Im Allgemeinen bewegen sich Mobilitätsentscheidungen häufig im Spannungsfeld zwischen Familie, Beruf und Freundeskreis. Häufig zielen Wohnortswechsel daher auch darauf ab, die verschiedenen Lebensbereiche in Einklang zu bringen. Je nach Tragweite der Veränderung im Vergleich zum vorherigen Wohnort kann ein Umzug sehr unterschiedlich erlebt werden. Dabei mag auch eine Rolle spielen, ob der Umzug selbst gewählt oder mehr oder weniger erzwungen wurde oder ob er von Dauer oder zeitlich befristet ist. Folgen für das Medienhandeln, die aus einem Umzug entstehen, müssen demnach sehr differenziert betrachtet werden.
9.5.2 Fallbeispiel Umzug: Das Paar Markuse Anhand des folgenden Fallbeispiels werden die Veränderungen der Mediennutzung in Zusammenhang mit einem Wohnortswechsel illustriert. Das Paar Markuse ist dafür besonders gut geeignet, weil es typische Momente von Dynamik (und auch Beharrung) in sich vereint. Die Erstellung der Porträts zum Umzug basiert auf folgendem Themen- und Leitfragenkatalog (siehe Abb. 9.12):
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9 Alltagsumbrüche und ihr Einfluss auf das häusliche Medienhandeln
Abb. 9.12 Themen- und Leitfragenkatalog der Porträts zum Alltagsumbruch Umzug. (Quelle: Eigene Darstellung)
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Das Paar Markuse Frau Markuse (Jg. 1975) arbeitet als Krankenschwester in Vollzeit. Herr Markuse (Jg. 1975) ist über eine Zeitarbeitsfirma beschäftigt und arbeitet ebenfalls ganztags als Lagerist. Medien besitzen im Alltag der Markuses einen großen Stellenwert, insbesondere als Mittel zur Freizeitbeschäftigung.23 Vor dem Umzug wohnt das Paar in einer 70 m2 großen 3,5-Zimmer-Wohnung im Vorort einer Großstadt. In dieser Zeit nutzen sie neben dem Fernseher insbesondere Onlinespiele und Videoplattformen wie YouTube sowie heruntergeladene Filme und Musik. Seitdem sie den Entschluss gefasst haben, ein Haus zu kaufen, recherchieren sie zudem intensiv nach möglichen Kaufobjekten im Internet. Im Sommer 2010 haben sie schließlich ein Haus mit einem kleinen Vorgarten in einer ländlichen und damit wesentlich ruhigeren und grüneren Gegend erworben. Am neuen Wohnort ist allerdings – im Vergleich zu ihrem alten – die Internetverbindung deutlich langsamer. Daraus haben sich besonders einschneidende Folgen für ihre häusliche Onlinenutzung ergeben. Zuvor war die Webseite „innerhalb von allerhöchstens zwei Sekunden da. Hier kann das schon mal bis zu einer Minute dauern.“ (Herr Markuse, 2011) Aus diesem Grund hat ihr Interesse am Internet spürbar nachgelassen. Downloads von Musik- oder Filmdateien bzw. die Nutzung von Plattformen wie YouTube spielen nun fast keine Rolle mehr. Ihre freizeitorientierte Mediennutzung konzentriert sich jetzt mehr auf das Fernsehen. Herr Markuse: „Am vorherigen Wohnort war teilweise der Rechner wichtiger als die Glotze.“ Frau Markuse.: „Jetzt ist der Fernseher aufgrund dieser Schnelligkeit [wichtiger], du kannst ja nicht mal […] einen Film laden, weil dann brauchst du manchmal 24 Stunden für so einen Film.“ (Paar Markuse, 2011)
Zudem haben sie sich einen Hund neu angeschafft, der nun größere Teile ihrer Freizeit beansprucht und mit dem sie gerne in der nun grüneren Wohngegend spazieren gehen. Ihre vorherige Wohnung lag direkt an einer Hauptstraße, weshalb Frau Markuse lieber Zeit im Internet verbrachte, als draußen zu sein: „Ich
23So
war selbst der Abwasch bei Herrn Markuse mit Medien verknüpft: „Wenn ich mal am Abwaschen bin, dann wird entweder Fernsehen geguckt oder vor den Computer gesetzt. Dann vergeht schon mal eine Stunde, dann wird abgetrocknet. Dann das gleiche Spielchen wieder. Und dann wird weggestellt. So ein Abwasch kann bei mir gut bis zu fünf Stunden dauern.“ (Herr Markuse, 2011)
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bin so jemand, der gern in den Wald läuft. […] Wenn Du hier an der Hauptstraße wohnst, das schreckt mich, muss ich sagen, echt ein bisschen ab. Und da gehe ich lieber ins Internet.“ (Frau Markuse, 2008) Neben ihrer Internetnutzung hat sich aufgrund der vermehrten Spaziergänge am neuen Wohnort auch die Fernsehnutzung des Paares reduziert, sodass ihre Medienrezeption im Allgemeinen etwas nachgelassen hat: „Naja, weniger [Fernsehen] durch den Hund. […] Also, wenn es uns in den Kopf geht, gehen wir auch eine Stunde oder eineinhalb mit dem Hund raus.“ (Frau Markuse, 2011) Trotz der langsamen Internetverbindung hat das Paar aber auch einen neuen Onlinedienst in seinen Alltag integriert. Bankgeschäfte erledigen sie nun vollständig von zu Hause über das Internet: „Wir haben einen Weg von 100 km zur Bank, also, das wäre ein bisschen schwachsinnig.“ (Herr Markuse, 2011). Am alten Wohnort war besonders Frau Markuse Onlinebanking aufgrund von Sicherheitsbedenken noch sehr ablehnend gegenüber eingestellt: „Onlinebanking möchten wir gar nicht. […] Ich meine, man hört so viel.“ (Frau Markuse, 2008) Der praktische Vorteil nach dem Umzug hat sie aber überzeugt, sodass sie ihre ablehnende Haltung aufgab. Im Vergleich zu ihrem alten Wohnort haben Markuses nach ihrem Umzug keine Veränderungen der bisherigen Medienarrangements unternommen. Die Medien behielten ihren Platz, sodass die damit verbundene Kommunikationskultur auch im neuen Haus erhalten blieb. Genau wie in der vorherigen Wohnung steht der PC im Esszimmer, das durch einen offenen Zugang direkt mit dem Wohnzimmer verbunden ist, obwohl sie in der ersten Etage über einen freien Raum verfügen, der auch als Computerzimmer hätte eingerichtet werden können: „Erst wollten wir dieses Internet nach oben in ein Gästezimmer verlegen. Aber dann […] wären wir immer getrennt.“ (Frau Markuse, 2013) Ihr integrierendes Raumarrangement (vgl. Röser et. al 2019, Kap. 5) ermöglicht den Markuses, ihren individuellen Medieninteressen nachzugehen, ohne räumlich voneinander getrennt zu sein. Da keiner der beiden in Ruhe am PC arbeiten muss, hat sich dieses Raumarrangement für das Paar als ideal erwiesen: „Wenn einer am Computer sitzt, ist man auch nicht so alleine. Dann quakt man mal rum. […] Ich finde es schon gut.“ (Frau Markuse, 2011) Trotz des Wunsches einen Laptop anzuschaffen, haben die Markuses aufgrund der finanziellen Belastung durch den Hauskauf zunächst auf diese Neuanschaffung verzichtet: „Hast du ein Haus, haste kein Geld. […] Immer das
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Finanzielle, weil, ich sag’ mal, ein Laptop muss nicht sein.“ (Frau Markuse, 2011)24 Auch ihr Sky-Abonnement haben sie – trotz hoher Bedeutung und mit einigem Bedauern – aus finanziellen Gründen abgeschafft, denn es wurde ihnen „zu teuer […] War zwar blöd wegen unserem Sport, weil wir haben regelmäßig Fußball und Formel 1 bei Sky geguckt. Aber nur wegen denen das Abo halten, nee.“ (Herr Markuse, 2013)
9.5.3 Fallvergleichende Analyse Das Paar Markuse veranschaulicht wesentliche Aspekte, inwiefern ein Umzug eine Veränderung des Medienhandelns anstoßen kann. Allerdings können die Alltagsveränderungen im Zuge eines Wohnortwechsels sehr unterschiedlich ausfallen und dementsprechend das Medienhandeln mehr oder weniger dynamisieren. So macht es beispielsweise einen Unterschied, ob von der Stadt aufs Land gezogen wird (oder umgekehrt), ob am neuen Wohnort keine bzw. kaum soziale Kontakte vorhanden sind oder ob anstelle eines Umzugs von Wohnung zu Wohnung ein Haus gebaut wird.25 Es lassen sich aber sieben zentrale Prozesse identifizieren, die einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Alltagsveränderung und dem Wandel der Mediennutzung nach einem Umzug aufzeigen. Während diese Prozesse für einige Personen von entscheidender Bedeutung sind, spielen sie für andere keine oder kaum eine Rolle. Im Folgenden werden diese Prozesse tiefgreifend beschrieben. 1. Vorbereitung des Wohnortwechsels: Intensive Onlinerecherchen Für alle Interviewten ist die Vorbereitung des Wohnortwechsels mit einer intensiven Nutzungsphase des Internets verbunden, weil sie in dieser Zeit häufig Immobilienbörsen zur Recherche verwenden: „Also da haben wir beide praktisch im Internet geguckt und uns dann immer so Links zugeschickt.“ (Frau Flick, 2011) Ist der Umzug abgeschlossen, spielt dieses Nutzungsmotiv nachvollziehbarerweise keine Rolle mehr, weshalb die Nutzungsintensität des Internets wieder sinkt oder anderen Tätigkeiten online nachgegangen werden kann. 24Nachdem
ihr stationärer PC allerdings defekt war, schafften sie sich einen Laptop an. Dabei war es ihnen wichtig, ein günstiges Angebot wahrzunehmen: „Also wenn ich da so ein Gerät von Asus sehe, von 1400 auf 400 runter gesetzt, dann mache ich doch die lange Hand und sage: ‚Meins.’ Gerade von Asus die Dinger.“ (Herr Markuse, 2013) 25Auch der Umzug nach einer Trennung weist einige Besonderheiten wie das Aufteilen der Mediengeräte auf. Diese Besonderheit sind in Abschnitt 9.4 beschrieben.
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2. Zeitknappheit in der (Um)Bauphase: Reduktion der freizeitorientierten Mediennutzung und Mediennutzung mit Bezug zum Bau Drei Paare haben ein Haus gebaut beziehungsweise ihr gekauftes Haus ausgebaut. Im Kontrast zu den anderen Interviewten, die ihren Wohnort gewechselt haben, erleben sie im Zeitraum der Baumaßnahmen eine längere Phase der Zeitknappheit. Je nach Belastung wird die freizeitorientierte Medienrezeption nahezu vollständig eingestellt: „Erst mal muss man ja sagen, durch die Bauerei, man […] setzt natürlich erst mal andere Prioritäten.“ (Herr Maier, 2013) In dieser Zeit verliert die Fernsehnutzung bei den Paaren nahezu vollständig ihren Stellenwert: „Wir gehen um elf oder um zwölf ins Bett, da bin ich fertig, da bin ich tot. Da bin ich froh, dass ich irgendwie liegen kann. Da habe ich keine Lust, hier noch eine Gurkenserie zu gucken oder irgendwie so.“ (Herr Flick, 2013) Auch die freizeitorientierte Onlinenutzung spielt so gut wie keine Rolle: „Das Internet war uns dann sowas von egal. […] Dann war ich hier den ganzen Tag, nach dem Feierabend aufm Bau und dann abends nach Hause. Und dann ging mir das Internet sozusagen am Arsch vorbei, wollt ich nur ins Bett.“ (Herr Bindseil, 2011) Das Internet dient in dieser Phase hauptsächlich dazu, um mit Handwerkern, Bauingenieuren und Architekten per E-Mail zu kommunizieren sowie um sich über Themen zum (Aus)Bau zu informieren. So nutzt beispielsweise Herr Flick, der sein Haus überwiegend selbstständig saniert hat, während der Umbauphase intensiv Do-It-Youself-Videos auf YouTube: „YouTube war ein ganz großes Thema, als ich das Haus hier ausgebaut habe. […] Ich habe keine Ahnung gehabt, ich konnte gerade einmal tapezieren. Und wir haben ja fast alles selber gemacht an dem Haus […]. Und da habe ich wahnsinnig viel bei YouTube nachgeguckt. Wie man eine Rigipswand aufzieht, wie man putzt, […] wie man Dächer flickt, wie man dämmt usw. […] Das hat geholfen! Das ist super! Das ist Hammer!“ (Herr Flick, 2013)
Das Internet ermöglicht ihm, sich notwendiges Wissen für den Ausbau anzueignen. Im Anschluss an die Bauphase hat seine YouTube-Nutzung wieder vollständig nachgelassen. Herr Bindseil hat zudem während der Bauphase intensiv ebay genutzt, um dort nicht mehr gebrauchte Gegenstände zu verkaufen: „Zeitweilig hatte ich da täglich [Auktionen] drin, aber ich habe jetzt im Moment nicht so viel mehr zu verkaufen. Ist alles weg. Ich habe den Keller [der alten Wohnung] ausgemistet […] und alles verkauft.“ (Herr Bindseil, 2011) 3. Wandel der technischen Infrastruktur: Bedeutungsverlust/-gewinn des Internets Nach dem Umzug aufs Land hatten vier Paare sowie ein Interviewter, der sich getrennt hat, im Vergleich zu ihrer vorherigen Wohnsituation eine deutlich
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langsamere Internetverbindung. Dies hat insbesondere Auswirkungen auf die – überwiegend von den Männern praktizierte – datenintensive Onlinenutzung. Ähnlich wie bei Markuses (s. Fallbeispiel oben) verlieren am neuen Wohnort zuvor habitualisierte Nutzungsmuster wie das Herunterladen oder Streamen von Videos, Filmen und Musik erheblich an Bedeutung. Herr Maier ärgert sich beispielsweise über die „Modem-Geschwindigkeit“ (Herr Maier, 2011), die es für ihn sehr umständlich macht, wie gewohnt Filme herunterzuladen. Als Konsequenz verzichtet er nahezu vollständig darauf. Da dem Paar die gezielte Rezeption von Filmen aber weiterhin sehr wichtig ist, haben sie Sky abonniert und sie leihen sich Filme über die Videothek aus „und meistens ist es dann die Option Videothek.“ (Frau Maier, 2011) Dieser Bedeutungsgewinn der Videothek ist etwas überraschend, denn 2008 war es Herr Maier aufgrund der Downloads bereits „leid, dauernd in eine Videothek zu rennen. Ich habe einen schnellen Internetanschluss. […] Normalerweise kann ich meine Videothekkarte zerschneiden.“ (Herr Maier, 2008) Der Bedeutungsgewinn alternativer Verbreitungswege der Film- und Fernsehrezeption resultiert demzufolge aus der schlechten Internetverbindung. Nachdem die Maiers ein zweites Mal in eine urbanere Gegend umgezogen sind, steigt ihre Download-Nutzung wieder an: Frau Maier: „Wir haben hier besseres Internet […] Man kann wieder Filme runterladen. (lacht)“ Herr Maier: „Vorher hat es ja nicht mal Spaß gemacht, einfach so im Internet zu surfen. […] Ich habe jetzt angefangen, mir viele Serien aus dem Netz zu holen.“ (Paar Maier, 2013)
Umgekehrt zum Bedeutungsverlust des Internets nach dem Umzug aufs Land erhöht sich mit einer schnelleren Internetverbindung die datenintensive Onlinenutzung. Dies trifft auch auf Herrn Mahlmann zu, der seine Internetnutzung nach seinem Umzug in die Stadt deutlich intensiviert hat. 4. Neu zu gestaltender Wohnraum: teils Wandel räumlicher Medienarrangements und Kommunikationskulturen sowie teils Modernisierung der (technischen) Ausstattung Durch den Wohnortwechsel können und müssen die Paare ihren Wohnraum neu gestalten. Dabei müssen sie auch die Frage beantworten, ob ihre Medien wie am alten Wohnort platziert werden können und sollen. Bei unseren Paaren zeichnet sich hinsichtlich der Veränderung der räumlichen Medienarrangements ein differenziertes Bild. Einige unserer Interviewten behalten ihr vorheriges Medienarrangement bei, weil es – wie beim Paar Markuse (s. Fallbeispiel oben) – am besten zu ihrer als sinnvoll empfundenen häuslichen Alltagsinteraktion passt.
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Andere hingegen nutzen den zusätzlich zur Verfügung stehenden Platz, um ihr Raumarrangement zu verändern. Ein Wandel der Medienarrangements impliziert dabei immer auch einen Wandel der Kommunikationskultur des Paares, da beides eng miteinander verwoben ist (vgl. Röser et. al. 2019, S. 95–117). Dies lässt sich eindrücklich am Paar Maier zeigen, das sich äußerst zufrieden mit der Veränderung zeigt. Seit dem Umzug verfügt das Paar über zwei zusätzliche Zimmer. Im Gegensatz zur vorherigen Wohnsituation – wo aus Platzmangel der PC im Wohnzimmer stand – haben sie den PC separat im Arbeitszimmer platziert. Durch den zusätzlichen Wohnraum haben sie den Räumen nach ihren ästhetischen und funktionalen Vorstellungen die entsprechenden Medien zuweisen können, denn für sie gehört der Fernseher ins Wohnzimmer, der PC hingegen ins Arbeitszimmer. Allerdings können sie Fernsehen und PC nun nicht mehr zeitgleich gemeinsam in einem Raum nutzen, weshalb sie häufiger räumlich voneinander getrennt sind. Die Fragmentierung wird allerdings vom Paar begrüßt, weil so jeder in Ruhe seinen Medieninteressen nachgehen kann:26 Frau Maier: „Das ist für mich kein Nachteil. So kann ich in Ruhe das gucken, was ich will und er sitzt dann halt vor dem Computer und macht sein Spiel […]. Deshalb hat sich beziehungsmäßig nichts verschlechtert.“ Herr Maier: „Nervt nicht. […] Es ist ja nicht so, dass ich mich jetzt da drin […] vergrabe. Die Tür ist ja immer offen und wenn sie jetzt was Interessantes im Fernsehen sieht und sie ruft mich, dann bleibe ich ja nicht vor dem Computer sitzen, sondern dann komm’ ich auch ins Wohnzimmer.“ (Paar Maier, 2011)
Das fragmentierende Raumarrangement ist für die beiden womöglich besonders gelungen, weil sie durch den Beginn der Elternzeit von Frau Maier über weniger persönlichen Freiraum verfügen, der sich zuvor aus ihrer Schichtarbeit ergab. Das neue Raumarrangement macht es einfacher, sich den gewohnten Freiraum zu verschaffen. Im Sinne einer Bilanzierung der medientechnischen Ausstattung beinhaltet der Umzug einen weiteren Aspekt hinsichtlich des Wandels der räumlichen Medienarrangements. Angeregt durch die Vorbereitung des Wohnortwechsels reflektieren die Paare, ob sie mit ihrer medientechnischen Ausstattung zufrieden sind oder ob sie Neuanschaffungswünsche haben. Daraus ergibt sich teils eine Modernisierung der (technischen) Ausstattung. So nehmen zum Beispiel einige Paare den
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von der praktizierten Raumtrennung verbringen beide aber nach wie vor häufig gemeinsam Zeit vor dem Fernseher.
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ohnortwechsel zum Anlass, um am neuen Wohnort WLAN zu installieren und W so auch ihre Onlinenutzung zu mobilisieren. Wiederum andere haben sich einen neuen Flachbildschirm gekauft, der auch den Zugang zum Internet ermöglicht. Darüber hinaus ist mit neuen Konsumbedürfnissen im Zuge des Wohnortwechsels eine intensivere Nutzung von Onlineshopping verbunden. 5. Finanzielle Belastung: teils Kündigung von Abonnements und Anstieg der Berufsarbeit mit dem Internet Bei den drei Paaren, die ein Haus gekauft oder gebaut haben, macht sich die finanzielle Belastung teils auch im Medienhandeln bemerkbar. Besonders sichtbar ist dies beim Paar Bindseil (s. a. Markuse im Fallbeispiel oben). So hat das Paar, um Geld einzusparen, sein Tageszeitungabonnement gekündigt und auf den Kabelanschluss im neuen Haus verzichtet. Viel ausschlaggebender für die Mediennutzung und die Kommunikationskultur des Paares ist aber der Anstieg der häuslichen Berufsarbeit mit dem Internet von Frau Bindseil, der in Zusammenhang mit der finanziellen Belastung durch den Hausbau steht. Im Vergleich zu 2008 ist ihre nebenberufliche Tätigkeit in der Steuerberatung enorm angestiegen (von etwa 6 Stunden auf über 20 Stunden wöchentlich). Da sie für ihre berufliche Tätigkeit, die konzentriertes Arbeiten erfordert, das Internet nutzt, ist sie nun, zulasten der gemeinsamen Paarzeit, deutlich länger online. 2008 verbrachte das Paar noch viel Zeit zu zweit, entweder bei der gemeinsamen Fernsehrezeption oder zumindest gemeinsam im Wohnzimmer, wenn sie vor dem Fernseher saß und er am Laptop spielte: „Auch wenn sie Fernsehen guckt, bin ich hier [im Wohnzimmer] am Zocken. […] Hauptsache, wir sind in einem Raum. […] Ich bin hier schon gerne in Gesellschaft. Dann kann man sich nebenbei auch ein kleines bisschen unterhalten.“ (Herr Bindseil, 2008) Dieses Medienarrangement – symbolische Trennung bei gleichzeitiger räumlicher Gemeinschaft – praktizieren sie seit dem Umzug nur noch äußerst selten. Vielmehr ist Herr Bindseil nun häufig allein im Wohnzimmer, während Frau Bindseil im Arbeitszimmer am PC arbeitet. Die Fragmentierung des Paares wird insbesondere von Herrn Bindseil bedauert. 2011 versuchte er noch, sich mit dieser Konstellation zu arrangieren und darin das Positive zu sehen – vermutlich in der Hoffnung, dass diese Konstellation nicht von Dauer sein wird: „Ja, manchmal ist es schon schade, natürlich, aber wir haben im Grunde ja abends sowieso nicht dieselben Interessen.“ (Herr Bindseil, 2011) 2013 wird allerdings offenkundig, dass sich die Fragmentierung zu einem ungelösten Konflikt für das Paar entwickelt hat: Herr Bindseil: „Sie rennt ja nach der Arbeit hier gleich zum PC und ich suche die Couch […] Sie […] sitzt dann bis tief in die Nacht noch bei ihrem Steuerkram. […] Mir ist es manchmal wichtig, dass ich auch mal fünf Minuten mit ihr am Tag verbringe. […] Da gab es auch schon mal ein bisschen Streit, weil sie zu viel Zeit drüben an ihrem Laptop verbringt. […] So eine richtige Lösung haben wir da immer
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noch nicht gefunden. […] Ich bin immer noch manchmal am Meckern. Ja, aber das ignoriert sie anscheinend.“ Frau Bindseil: „Anscheinend.“ (lacht) Interviewerin: „Wird dir das auch manchmal zu viel mit dem arbeiten oder ist das für dich in Ordnung so?“ Frau Bindseil: „Nee, das ist eigentlich o.k.“ Herr Bindseil: „Ja? So soll dein Leben bleiben? Immer nur arbeiten?“ Frau Bindseil: „Nein, aber…“ Herr Bindseil: „Ach, guck an.“ (Paar Bindseil, 2013)
Hier deutet sich bereits an, dass sich das Paar in einer Krisenphase befindet, die letztlich auch in der Auflösung der Beziehung mündete. Welche weiteren Ursachen – neben der zunehmenden Fragmentierung – eine Rolle für die Trennung spielten und ob es sich bei dem Anstieg ihrer Berufsarbeit auch um eine distanzierende und eskapistische Form der Mediennutzung gehandelt hat, wie sie für Paare vor einer Trennung üblich ist (siehe Abschnitt 9.4), wird aus dem Interview nicht deutlich, ist allerdings naheliegend. 6. Orientierungsbedürfnis am neuen Wohnort: Onlinerecherchen und Nutzung lokaler Medienangebote sowie Knüpfen neuer Kontakte Nach einem Umzug kann das Bedürfnis nach Orientierung am neuen Wohnort entstehen, insbesondere in einer neuen und noch unbekannten Wohngegend. Onlinerecherchen zu alltagspraktischen Informationen sind dann besonders wichtig, um sich dort zu organisieren: „Dann erschließt man sich ja alles über das Internet, auch Ärzte usw. […] Allein, um zu gucken, wenn ich irgendwo hin muss. Gerade […] Kitaplatzsuche, das wäre [ohne Internet] eigentlich ein Unding.“ (Frau Olsen, 2013) Frau Flick, die in eine etwa 400 km entfernte Stadt mit wenigen sozialen Kontakten gezogen ist, hat zudem eine Tageszeitung abonniert. Vor ihrem Umzug las sie noch keine Zeitung, aber für sie war es nun eine gute Möglichkeit, um sich über lokale Geschehnisse und Veranstaltungen zu informieren und um sich in das Stadtleben zu integrieren: „Dieses Lokale, genau, ja. […] Weil ich hier nicht so viele Kontakte hatte, wo ich dann genau wusste, was los ist, was hier aktuell ist. Ich bin ja praktisch hierhergekommen und kannte nur meinen Freund. Und deswegen habe ich dann gedacht, ein paar mehr Informationen fände ich ganz schön, deswegen. […] Hier gibt es immer so ganz nette Freizeittipps über Wanderungen in der Region, so etwas finde ich super. Oder dann so Veranstaltungen einmal über die ganze Woche, […] das find ich super.“ (Frau Flick, 2013)
Mit der lokalen Kompetenz scheint die Tageszeitung eine Nische zu behalten, die das Internet bisher in der Form noch nicht bedient. Zudem hat sich Facebook für
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Frau Flick zu einem wichtigen Medienangebot entwickelt, um den Wandel ihres sozialen Nahbereichs aufzufangen, neue Bekanntschaften zu schließen und sich mit den Freunden ihres neuen Partners bekanntzumachen: „Es ist ganz gut, um so Kontakt zu anderen zu knüpfen.“ (Frau Flick, 2011) 7. Räumliche Distanz zum sozialen Nahbereich: Bedeutungsgewinn von Kommu nikationsmedien sowie Gewinn oder Verlust eines unterstützenden Technikexperten Mit einem Umzug kann die Nähe und Distanz zum Freundes- und Bekanntenkreis neu definiert werden. Für Frau Flick, die nach ihrem Wohnortwechsel von ihrem sozialen Nahbereich weit entfernt wohnt, sind Kommunikationsangebote wie WhatsApp, E-Mail und Telefon besonders wichtig, um den Kontakt aufrecht zu erhalten. Besonders ihre Telefonnutzung ist seit ihrem Umzug deutlich angestiegen: „Oh ja, deutlich mehr. Deutlich mehr […] Gerade jetzt, wo ich hier hingezogen bin, telefoniere ich deutlich mehr. […] Das ist schon super wichtig, ja.“ (Frau Flick, 2013) Vor ihrem Umzug war zudem Skype wichtig, um während ihrer Fernbeziehung Nähe zu ihrem neuen Partner herzustellen. Ein anderer Aspekt des Umzugs mit Bedeutung für das Medienhandeln ist der Gewinn oder Verlust eines Experten im Umfeld, der bei technischen Problemen unterstützt. Während das Paar Bunk durch ihren Umzug ihren ‚warm expert‘ aufgrund der Entfernung nicht mehr um Rat fragen kann, hat das Paar Bindseil nun einen Technikexperten in unmittelbarer Nähe: „Und wenn die Frau nicht klarkommt, […] dann wird der Schwager [gerufen]. Der ist ja da so ein Spezialist und kommt uns manchmal besuchen und dann wird er gleich an die PCs gesetzt.“ (Herr Bindseil, 2013) Vor dem Umzug musste das Paar bei technischen Problemen noch auf Servicedienste zurückgreifen.
9.5.4 Zusammenfassung Mit dem Wohnortswechsel ergibt sich für die Paare in unserem Sample eine neue Lebenssituation. In dieser veränderten Lebenssituation gestalten sie ihr Medienrepertoire neu. Ausschlaggebend dafür sind sieben zentrale Momente der Alltagsveränderung, die einen Wandel ihrer Mediennutzung anstoßen (siehe Abb. 9.13). Diese Momente werden teils unterschiedlich erlebt, weil sich die Lebensführung durch den Umzug im Vergleich zur vorherigen Wohnsituation bei einigen Paaren mehr und bei anderen Paaren weniger einschneidend verändert. Im Zuge dessen erfährt auch das Medienhandeln eine mehr oder weniger tiefgreifende Dynamik. In der Analyse wird aber sichtbar, aus welchen Gründen und Motiven es nach einem Umzug zu einem Wandel der Mediennutzung kommen kann.
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Abb. 9.13 Dynamik im Medienrepertoire nach einem Umzug: Übersicht. (Quelle: Eigene Darstellung)
Erstens entsteht durch den Wunsch und die Vorbereitung des Wohnortwechsels ein neues zeitlich befristetes Tätigkeitsfeld (inhaltlich). In diesem Zusammenhang erfährt die Onlinenutzung bei allen Paaren einen dynamischen Schub, weil sie in dieser Zeit intensiv Immobilienbörsen zur Recherche verwenden. Paare, die ein Haus bauen bzw. selbstständig sanieren, erleben zweitens in der (Um)Bauphase Zeitknappheit, weil sie einen Großteil der frei verfügbaren Zeitressourcen mit dem Bau beschäftigt sind (zeitlich und inhaltlich). In dieser Phase
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verliert ihre freizeitorientierte Mediennutzung nahezu vollkommen an Bedeutung. Das Internet ist nun allerdings wichtig, um sich über Themen zum (Um)Bau zu informieren, z. B. in Form von Do-It-Youself-Videos. Auch die Kommunikation mit den am Bau beteiligten Akteuren verläuft zu großen Teilen online per E-Mail. Drittens verschlechtert sich für einige Paare mit dem Umzug in eine ländlichere Region die technische Infrastruktur (materiell). Damit verbunden ist ein deutlicher Rückgang ihrer datenintensiven Onlinenutzung. Da das Herunterladen oder Streamen von Videos, Filmen und Musik zuvor überwiegend von den Männern praktiziert wurde, erweist sich für sie der Wandel der Infrastruktur als besonders einschneidend. Indirekt sind aber auch die Frauen betroffen, denn meistens haben sie die heruntergeladenen Filme mitgesehen. Als Ausgleich gewinnt in dieser Situation die Fernsehrezeption wieder an Bedeutung. Unsere Paare dokumentieren daher mit ihren Nutzungseinschränkungen die Auswirkungen struktureller Mängel und verweisen auf die Notwendigkeit des Breitbandausbaus auch in ländlichen Regionen, um Ungleichheit abzubauen. Kontrastierend zeigt sich nach einem Umzug in eine urbanere Region eine deutliche Intensivierung der Onlinenutzung. Viertens können und müssen die Paare nach ihrem Umzug den Wohnraum neu gestalten (räumlich), wobei sich hinsichtlich der Veränderung der räumlichen Medienarrangements ein differenziertes Bild zeigt. Während einige ihr Medienarrangement beibehalten, nutzen andere den zusätzlichen Platz, um ihr Raumarrangement und damit zusammenhängend auch die häusliche Kommunikationskultur zu verändern. Wichtig scheint hier die Erwartungshaltung an die Funktion eines Raumes sowie die Idealvorstellung zur häuslichen Interaktion des Paares zu sein. Im Sinne einer Bilanzierung der medientechnischen Ausstattung (materiell) haben einige den Umzug auch als Anlass genommen, um ihre Ausstattung zu modernisieren. Daraus kann sich auch eine intensivere und mobilere Onlinenutzung ergeben. Der Kauf einer Immobilie kann fünftens mit einer erheblichen finanziellen Belastung einhergehen (materiell). In diesem Zusammenhang werden medientechnische Anschaffungen zurückgehalten oder Medienabonnements kritisch geprüft und auch gekündigt, um Kosten zu sparen. Eine andere Möglichkeit bietet der Anstieg der häuslichen Berufsarbeit (mit dem Internet), um die Einnahmeseite zu erhöhen. In unserem Fall geht der Anstieg der Berufsarbeit zu Lasten der freizeitorientierten Mediennutzung mit dem Partner und die Fragmentierung des Paares mündet in einer schweren Krise. Sechstens kann nach einem Umzug in eine unbekannte Gegend ohne bzw. mit wenigen sozialen Kontakten das Bedürfnis nach Orientierung am neuen Wohnort entstehen (räumlich und sozial). In diesem Fall gewinnen Onlinerecherchen
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zu alltagspraktischen Informationen an Bedeutung und Medienangebote wie Facebook werden genutzt, um neue soziale Kontakte aufzubauen. Zudem sind in dieser Situation lokale Medienangebote wie die Lokalzeitung interessant, um sich über lokale Geschehnisse und Veranstaltungen zu informieren und sich so in das Stadtleben zu integrieren. Siebtens wird es nach einem Umzug in eine entferntere Gegend notwendig, Nähe und Distanz zum Freundes- und Bekanntenkreis neu zu gestalten (räumlich und sozial). Kommunikationsangebote wie WhatsApp, E-Mail und Telefon sind dann besonders wichtig, um den Kontakt aufrecht zu erhalten. Zudem kann mit dem Wohnortswechsel ein Gewinn oder Verlust eines Experten im Umfeld verbunden sein, der bei technischen Problemen unterstützt.
9.6 Weitere Alltagsumbrüche im Sample Neben den bereits dargestellten Alltagsumbrüchen und der damit zusammenhängenden Veränderung der Mediennutzung, gab es noch weitere Alltagsumbrüche in unserem Sample. Dabei handelte es sich um Alltagsumbrüche, die entweder im Untersuchungszeitraum nur ein einziges Mal vorkamen (Tod des Ehepartners), sodass sich dazu nur fallspezifische Zusammenhänge aufzeigen lassen, oder um Alltagsumbrüche, die von den Interviewten nicht als tiefgreifende Veränderung der Alltagsstruktur erlebt wurden (Berufliche Veränderungen und gesundheitliche Beeinträchtigungen). Nichtsdestotrotz lösten sie ebenfalls Veränderungen innerhalb der Mediennutzung aus. Im Folgenden wird der Wandel des Medienhandelns im Zuge weiterer relevanter Alltagsumbrüche skizziert.
9.6.1 Verlust des Partners und Veränderung des Medienhandelns Es ist unstrittig, dass der Tod des Partners für den oder die Hinterbliebene*n ein sehr schmerzhaftes Ereignis ist und zu einer massiven Umstrukturierung der alltäglichen Lebensführung führt. „Beide sind meist über viele Jahrzehnte miteinander emotional verbunden, haben in dieser Zeit ein Lebensgefüge gewoben, ihre Rollen aufeinander abgestimmt und eine gemeinsame eheliche Identität entwickelt, die beim Tod des Partners das Gefühl entstehen lässt, als wäre ein Teil von einem selbst gestorben.“ (Peters 2004, S. 200)
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Neben der emotionalen Belastung, den Tod des Partners verarbeiten zu müssen, ist die Veränderung in sozialer Hinsicht besonders einschneidend. Sie lässt sich treffend mit dem Leitgedanken von der Zweisamkeit zum Alleinsein beschreiben. In unserem Sample war vom Tod des Ehepartners Frau Steffen betroffen. Besonders belastend ist für sie die Einsamkeit, die sich insbesondere bei vorherigen gemeinschaftlichen Alltagsroutinen bemerkbar macht: „Abends ist es schon ganz schön hart, wenn man alleine ist. […] Und am Wochenende auch. […] Vieles ist anders geworden. […] Aber das werden wir ja dann auch gleich [im Interview] sehen, was ich nicht mehr habe. […] Oder was ich vielleicht zusätzlich auch noch wieder neu reingebracht habe, was ich vorher nicht hatte. Was mein Mann nur gemacht hat.“ (Frau Steffen, 2013)
Das Zitat verweist bereits auf die Verlusterfahrung und die neuen Aufgaben, die sich aus dem Tod des Partners ergeben haben und nicht folgenlos für die Mediennutzung sind. Da es in dem Interview schwerfiel, trauerspezifische Veränderungen der Mediennutzung zu thematisieren, konnten wir hierzu keine validen Einsichten generieren. Inwiefern Medien bei der emotionalen Verarbeitung des Todes eine Rolle spielen, bleibt daher im Dunkeln. Insbesondere Veränderungen innerhalb der sozialen Dimension haben bei Frau Steffen aber zu einem tiefgreifenden Wandel ihrer Mediennutzung geführt. Zentral ist hier die Auflösung der zuvor praktizierten Arbeitsteilung, denn häusliche Aufgaben, die mit dem Internet erledigt werden, lassen sich nun nicht mehr aufteilen. Gleichzeitig fallen gemeinsame Medienroutinen weg und Absprachen zum Medienhandeln lösen sich auf, sodass Medien selbstbestimmter genutzt werden können. Da es sich bei dem Verlust des Partners in unserem Sample um einen Einzelfall handelt, ist keine fallvergleichende Auswertung möglich. Gleichwohl liefert das Fallbeispiel interessante Evidenzen hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Alltagsveränderung und Wandel der Mediennutzung. Bevor ihr Ehemann im Jahr 2012 verstorben ist, führt das Paar Steffen – trotz beidseitiger Berufstätigkeit – eine traditionell geprägte Beziehung. Sie wohnen in einem großen Einfamilienhaus und haben zwei erwachsene Kinder, die bereits ausgezogen sind. Frau Steffen (1950) arbeitet in Teilzeit (vier Tage pro Woche) als Buchhalterin und ist zudem für den Großteil der häuslichen Reproduktionsarbeit wie Kochen, Wäschewaschen oder den Hausputz verantwortlich. Herr Steffen (1951) ist vor seinem Tod in Vollzeit als Informatiker in einer IT-Abteilung tätig. Die traditionell geführte Beziehungskonstellation spiegelt sich auch in ihrem Medienhandeln wider. So ist Herr Steffen der Technikexperte im
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Haushalt und für sämtliche Onlinetätigkeiten wie Onlinebanking oder Urlaubsrecherchen zuständig. Frau Steffen nutzt das Internet zuhause hingegen „eigentlich gar nicht.“ (Frau Steffen, 2011) Wenn sie Probleme bei der Onlinenutzung hat, bittet sie ihn darum, diese zu lösen – auch aus der Befürchtung heraus, sie könne den Ansprüchen ihres Mannes nicht gerecht werden. Diese Konstellation hindert sie daran, sich eigene Onlinekompetenzen anzueignen.27 Zudem gibt es für sie klare Regeln hinsichtlich des Zugangs zu PC und Laptop: Den Laptop ihres Mannes darf sie gar nicht und den stationären PC auf dem Dachboden nur in Ausnahmenfällen nutzen. Sie hat daher nur Zugang zu einem stationären PC im Erdgeschoss, der häufig schlechten WLAN-Empfang hat. Zum Medienalltag des Paares gehört es, abends gemeinsam im Wohnzimmer fernzusehen: „Minimum zwei Stunden.“ (Herr Steffen, 2011) Obwohl sie zum Teil sehr unterschiedliche inhaltliche Interessen haben, schauen sie stets gemeinsam fern. Sie besitzen im Obergeschoss zwar einen zweiten Fernseher, aber die Gemeinschaft ist ihnen wichtiger als das Fernsehprogramm. Dabei ist Herr Steffen die Person, die über das Programm entscheidet: „Die Fernbedienung habe ich, ja.“ (Herr Steffen, 2011) Dies empfindet Frau Steffen aber nicht als problematisch, da für sie das Fernsehprogramm einen nicht so hohen Stellenwert hat und sie bei Desinteresse einfach nebenbei liest: „Dann gehe ich nicht nach oben. […] Wenn ich etwas nicht gucken will, dann nehme ich mir eine Zeitung und lese.“ (Frau Steffen, 2011) Im Laufe der Fernsehrezeption unterhalten sie sich auch regelmäßig und ausgiebig: „Dann kriegen wir meistens die Sendung nicht mit.“ (Herr Steffen, 2011) Die Vorlieben für Radio und Musik ist bei den Partnern sehr unterschiedlich ausgeprägt. Während für Frau Steffen Radio und Musik eine hohe Bedeutung haben, hört Herr Steffen beides ungerne. Aus Rücksichtnahme verzichtet sie deshalb darauf, wenn ihr Mann zu Hause ist: „Also Radio benutze ich – sage ich immer – wenn ich darf. (lacht) […] Ich würde das auch sonnabends öfter laufen lassen, aber du [Herr Steffen] willst das ja immer nicht. […] Wenn ich allein zu Hause bin, läuft das immer.“ (Frau Steffen, 2011)
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reflektiert sie rückblickend, dass sie einerseits desinteressiert daran war, sich mehr Onlinekompetenz anzueignen und dass sich andererseits diese Lernprozesse innerhalb der Beziehung schwierig gestalteten: „Ja, mein Mann wollte mir immer ganz viel erklären. (Alle lachen) Aber ich habe das dann immer nicht wahrgenommen. […] Er war da ein bisschen ungeduldig. Er hat das gesagt und ich sollte das dann auch gleich alles wissen.“ (Frau Steffen, 2013)
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Insgesamt zeigen sich bei dem Paar deutliche Unterschiede hinsichtlich der Onlinekompetenz sowie eine stark ausgeprägte Arbeitsteilung mit dem Internet. Zudem ist Frau Steffen, weil sie auf die Fernseh- und Radiointeressen ihres Mannes besonders Rücksicht nimmt, erheblich in ihrer Mediennutzung eingeschränkt. Diese Konstellation führt dazu, dass sich nach dem Tod ihres Mannes tiefgreifende Veränderungen in ihrer Mediennutzung zeigen. Zunächst hat sich aus dem Verlust des Partners eine Art technischer Neuanschaffung ergeben. Neben dem PC im Obergeschoss nutzt sie nun auch den Laptop. Zuvor hatte sie zu beiden Geräten keinen Zugang. Die mit der Laptopnutzung verbundene Flexibilität und Mobilisierung empfindet sie als sehr praktisch: „Den kann ich auch hier mal auf die Terrasse mitnehmen. […] Also, das ist schon eine tolle Sache. Das habe ich vorher nicht gehabt. Das ist praktisch etwas Neues für mich.“ (Frau Steffen, 2013) Sie schätzt, dass dies zu einer intensiveren Onlinenutzung beigetragen hat: „Ich gehe häufiger rein […] Das ist das Bequemere hier, wenn das hier unten steht, dann gehe ich schneller mal ran. (lacht)“ (Frau Steffen, 2013) Während sie 2011 das Internet zuhause sehr selten nutzte, ist sie 2013 nahezu täglich für mindestens eine halbe Stunde online. Der deutliche Anstieg ihrer häuslichen Onlinenutzung fußt vor allem auf der Auflösung der Arbeitsteilung einerseits sowie auf der Umstrukturierung des Tagesrhythmus andererseits, denn die freigewordenen Zeitressourcen durch den Wegfall gemeinsamer (Medien) Routinen müssen sinnstiftend gefüllt werden. So erfordert die fehlende Möglichkeit zur Arbeitsteilung mit dem Internet, dass Frau Steffen Onlinetätigkeiten, die zuvor ihr Mann übernommen hat, nun selbstständig erledigt. Gleichzeitig hat sie ein neues Selbstbewusstsein entwickelt, sich das Internet anzueignen: „Das hat ja alles mein Mann gemacht. […] Ich habe eben auch Angst gehabt, da irgendwo reinzugehen. Heute probiere ich natürlich viel mehr aus. Das hat sich dann schon geändert. […] Die Scheu ist schon weniger geworden, das ist klar.“ (Frau Steffen, 2013)
Um frei gewordene Zeitressourcen sinnvoll zu gestalten, spielen sportliche Aktivitäten wie Tennis und neuerdings Bewegung im Fitnessstudio eine wichtigere Rolle in ihrer Lebensführung. In diesem Zusammenhang hat sie neue Internetanwendungen in ihren Alltag integriert: „Ich bin ja im Calory Coach. […] Das ist so ein Fitnessstudio nur für Frauen, mit Ernährungsberatung usw. Da bin ich auch online angemeldet. […] Da kann ich mir Rezepte runterladen, kann meine Daten sehen, mein Gewicht und was weiß ich, meine ganzen Werte, die die da aufschreiben. Das ist schon ganz interessant.“ (Frau Steffen, 2013)
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Zudem schaut sie regelmäßig die Ergebnisse ihres Tennisvereins nach oder recherchiert Informationen zu Gesundheitsthemen, zur Gartenarbeit oder zu Rezepten. Sie zeigt ein erhöhtes Interesse an der lokalen Berichterstattung, weshalb sie nun zwei Lokalzeitungen online rezipiert – möglicherweise auch, um sich über lokale Veranstaltungen zu informieren mit dem Ziel, den Freiraum in ihrer Freizeit auszufüllen. Darüber hinaus plant sie, ihr Anwendungsspektrum weiter auszubauen: „Ich könnte mir jetzt vorstellen, dass ich demnächst mehr über Reisen oder über Hotels oder vielleicht auch mal einen Kurztrip oder so über das Internet buche. […] Das habe ich noch nicht gemacht, weil das damals auch immer mein Mann gemacht hatte, aber das könnte ich mir schon vorstellen. […] Und auch mal eben eine Fahrkarte oder Bahnverbindungen raussuchen oder sowas. Das habe ich früher auch nicht gemacht. (Frau Steffen, 2013)
Da mit dem Tod ihres Mannes auch ein Technikexperte im Haus fehlt, fragt Frau Steffen bei technischen Problemen, die sie nicht selbst lösen kann, ihre Kinder um Rat. Da sich ihre Kinder nicht in unmittelbarer Umgebung befinden, steht darüber hinaus ihr Nachbar als Ansprechpartner bereit. Einen weiteren bedeutenden Einfluss hatte der Tod ihres Mannes auf ihre Radio- und Musiknutzung. Diese wurde zuvor durch einen Kompromiss in der Paarbeziehung limitiert: „Mein Mann wollte das eben nicht, weil der ja mehr Fernsehen geguckt hatte. Dann habe ich ja gar nicht so die Möglichkeit gehabt. Dann hätte ich wieder in ein anderes Zimmer gehen müssen.“ (Frau Steffen, 2013) Aufgrund der nicht mehr vorhandenen Einschränkung, ist nun beides deutlich intensiver in ihren Alltag integriert: „Wenn ich morgens aufstehe, dann mache ich gleich Radio an und dann läuft das eigentlich solange ich zuhause bin. Im Hintergrund läuft es dann eigentlich immer, auch wenn ich lese. […] Ich höre jetzt auch schon mehr Musik, so CDs und sowas.“ (Frau Steffen, 2013)
Die ständige Geräuschkulisse trägt möglicherweise auch dazu bei, dass sie sich nicht so allein fühlt. Hinsichtlich ihrer Fernsehnutzung zeigen sich ebenfalls tiefgreifende Veränderungen. Im Allgemeinen schaut sie nun seltener fernsehen. Als Hintergrund für die reduzierte Fernsehrezeption lassen sich drei Entwicklungen ausmachen: Erstens – und dies ist wohl der zentrale Aspekt – hat der Fernseher die für sie primäre Bedeutung, Gemeinschaft herzustellen, verloren. Ihr Mann war in der Regel die Person, die den Fernseher eingeschaltet hat und sie gesellte sich
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nach getaner Hausarbeit dazu. Zweitens hat sich ihre Arbeitsbelastung sowohl im Beruf28 als auch zu Hause erhöht, sodass sie weniger Zeit für die Fernsehrezeption hat. Und drittens hat sich ihre Fokussierung auf das häusliche Umfeld gewandelt, denn in ihrer Freizeit unternimmt sie nun häufiger außerhäusliche Aktivitäten. So ist sie seit Anfang 2013 beispielsweise drei Mal pro Woche beim Sport. Ein weiterer Faktor könnte die vermehrte Radio- und Onlinenutzung sein. Auch wenn die Nutzungsdauer insgesamt nun kürzer ist, so wird ihre Einschätzung des geringeren Fernsehkonsums etwas relativiert, denn sie sieht „eigentlich jeden Abend“ (Frau Steffen, 2013) fern. Offensichtlich hat der Fernseher primär die Funktion übernommen, das Alleinsein zu bewältigen, wenn Lücken im häuslichen Alltag entstehen. Da sie die Programmwahl nun selbstbestimmt an ihren Interessen ausrichten kann, schaut sie teils andere Inhalte als zuvor: „Mein Mann hat sehr viel Sport geguckt. […] Er hat auch gerne Tiersendungen geguckt. […] Wenn ich jetzt alleine bin, schalte ich dann eben was anderes an. Ich gucke mir lieber so Kochsendungen an oder so Quizsendungen und sowas. Und gute Filme. Aber nicht diese Actionfilme, lieber Liebesfilme. (lacht)“
In diesem Zusammenhang verzichtet sie nahezu vollständig auf die zuvor praktizierte Parallelnutzung, wenn ihr Mann Sendungen sah, an denen sie kein Interesse hatte. Lediglich wenn sie Tennis sieht, liest sie gelegentlich noch in der Zeitung. Während der Fernsehrezeption fehlen ihr besonders die Gespräche über Alltägliches sowie Anschlusskommunikation über das Programm: „Das vermisse ich schon. Dass man darüber redet oder gerade auch über Nachrichten und so weiter. Da haben wir hinterher viel darüber geredet. […] Das muss ich jetzt immer mit mir alleine bereden.“ (Frau Steffen, 2013) Insgesamt zeigen sich bei Frau Steffen zahlreiche Veränderungen ihrer Mediennutzung, die mit dem Tod ihres Partners in Verbindung stehen. Auch wenn es sich hierbei um einen Einzelfall handelt, lassen sich daraus fünf verallgemeinerungsfähige Schlussfolgerungen zum Zusammenhang dieser Alltagsveränderung und dem Wandel der Mediennutzung ziehen. Erstens löst sich mit dem Tod die paarspezifische Gerätehoheit auf, weil die technische Ausstattung des Partners in den Besitz des*r Hinterbliebenen übergeht (materiell). Daraus kann sich auch ein Wandel der Mediennutzungsmuster ergeben, wie im Fall von Frau Steffen beispielsweise eine mobilere Onlinenutzung.
28Möglicherweise
arbeitet sie nun länger, weil ihr die Zweisamkeit zuhause fehlt.
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Zweitens stehen Raumfunktionen und -arrangements zur Disposition, weil der Raum, der zuvor von zwei Personen genutzt wurde, nun vollständig einer Person zur Verfügung steht (räumlich). In diesem Zusammenhang können sich Nutzungsorte und räumliche Medienarrangements, die zuvor an der Kommunikationskultur des Paares ausgerichtet waren, verändern. Im Zuge der Auflösung der geschlechtsgebundenen Arbeitsteilung (sozial) kann sich drittens – ähnlich wie bei Frau Flick nach der Trennung (siehe Abschnitt 9.4) – ein zentraler Antrieb für die tiefere Alltagsintegration und die Ausweitung der Internetnutzung ergeben. Im Fall von Frau Steffen war die Aufgabenteilung mit dem Internet so arrangiert, dass die Nutzung des Internets für Frau Steffen vor dem Tod ihres Partners nicht notwendig und auch nicht gewünscht war. Erst nach Auflösung dieses augenscheinlich selbstgewählten und beide Partner zufriedenstellenden Arrangements, entstanden bei ihr das Bedürfnis und der Bedarf einer selbstständigen Onlinenutzung. Zum Wegfall der Arbeitsteilung durch den Todesfall gehört auch der Verlust des technischen Experten im Haushalt, was Frau Steffen dazu motiviert hat, technische Probleme selbstständig(er) zu lösen und sich so neue Kompetenzen anzueignen. Darüber hinaus hat sie sich in Person ihrer Kinder und des Nachbarn neue Technikexperten gesucht. Die ungleichen Technik- und Onlinekompetenzen des Paares Steffen, die mit ihrer traditionellen Paarkonstellation in Verbindung stehen, implizieren auch, dass sich im umgekehrten Todesfall die Onlinenutzung von Herrn Steffen voraussichtlich weniger tiefgreifend verändert hätte – zumindest nicht basierend auf dem Wegfall der Arbeitsteilung. In anderen Worten: Der Wandel der Onlinenutzung nach dem Tod des Partners variiert je nach Art und Weise der vorherigen Arbeitsteilung. Viertens geht mit dem Verlust des Partners ein Wandel der Tagesrhythmen einher, weil gemeinsame (Medien)Routinen wegfallen und die so freigewordenen Zeitressourcen sinnstiftend gefüllt werden müssen (zeitlich und inhaltlich). Im Fall von Frau Steffen steht dies in Verbindung mit einer Zunahme sportlicher Aktivitäten und damit zusammenhängend einer Ausweitung ihrer online genutzten Anwendungen. Das Internet wird hier zu einem wichtigen Hilfsmittel der interessengeleiteten Selbstverwirklichung. Darüber hinaus steht diese Veränderung des Alltags mit einem Wandel ihrer Fernsehrezeption in Zusammenhang. Mit dem Tod des Partners verlor der Fernseher die für sie zentrale Bedeutung, dem Herstellen von Gemeinschaft. Aus diesem Grund hat sich ihre Fernsehrezeption nach eigener Aussage deutlich reduziert. Gleichwohl ist der Fernseher für sie nicht bedeutungslos; möglicherweise auch, weil er ihr Ablenkung vom Alleinsein verspricht. Während der Fernsehrezeption bedauert sie aber besonders den fehlenden Austausch mit ihrem Partner. Bemerkenswert
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ist hier, dass die Verlusterfahrung der gemeinschaftlichen Fernsehrezeption und des kommunikativen Austauschs den Tod des Partners besonders ins Bewusstsein rückt. Fünftens lösen sich durch den Todesfall Medienregeln und -absprachen zwischen den Partnern auf (sozial). Für Frau Steffen ist dieser Autonomiegewinn mit einer erheblichen Ausweitung ihrer Musik- und Radionutzung verbunden, denn diese Medien kann sie nun ohne Einschränkung verwenden. Zuvor hatte sie aus Rücksichtnahme in Gegenwart ihres Mannes darauf verzichtet. Zudem kann sie nun das Fernsehprogramm selbstbestimmter als zuvor entlang ihrer Interessen auswählen, wohingegen vorher ihr Mann darüber entschieden hatte. Aus diesem Grund ist die zuvor praktizierte Parallelnutzung nun grundsätzlich überflüssig, da sie den Fernseher nur anschaltet, wenn sie am Programm interessiert ist und somit nicht mehr auf die Zeitung oder Bücher ausweichen muss. Lediglich während sie Tennis schaut liest sie gelegentlich noch parallel zum Fernsehen.
9.6.2 Renteneintritt und Veränderung des Medienhandelns Durch den Eintritt in den Ruhestand bricht ein wichtiger Lebensbereich, die Erwerbsarbeit, aus der Alltagsstruktur heraus. Der Zeitpunkt des Renteneintritts ist weitestgehend durch die Gesetzeslage vorgegeben und damit gut vorhersehbar. Momentan liegt das gesetzliche Renteneintrittsalter für alle ab 1964 geborenen Personen bei 67 Jahren, allerdings gibt es hierbei einen gewissen Handlungsspielraum.29 Um den optimalen Zeitpunkt zu bestimmen, können zahlreiche Gründe eine Rolle spielen: „So die Bindung an einen Beruf, die man empfindet; der Anreiz eines frei gewählten Alltagszeitraums; das Gefühl, sein Lebenswerk getan zu haben; das Einkommen vor und nach Eintritt in den Ruhestand; der gesundheitliche Zustand während der Erwerbstätigkeit und seine Prognose für die Zeit danach; das betriebliche Umfeld, das einen Verbleib wünscht oder Belohnungen/Zwang für einen frühen Ausstieg setzt, sowie die Abstimmung von Verrentungsgeschehen zwischen Ehepaaren und Freunden.“ (Sackmann 2007, S. 148)
29Neben
dem Rentenbeginn aus Altersgründen wird zudem noch der Renteneintritt aus gesundheitlichen Gründen aufgrund verminderter Erwerbsfähigkeit unterschieden.
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Beginnt der Ruhestand, dann erfolgen tiefgreifende Umstrukturierungen der Lebensführung. So ist es unumgänglich einen neuen Zeitrhythmus zu finden, denn durch den Wegfall der beruflichen Tätigkeit werden Zeitressourcen frei, über die die Neurentner*innen unabhängiger verfügen können (vgl. Burkart 1992, S. 145). Gleichzeitig geht mit dem Berufsaustritt der routinemäßige Kontakt zu den Arbeitskolleg*innen verloren. Im Zuge des Renteneintritts können allerdings auch neue soziale Kontakte entstehen und/oder bestehende intensiviert werden (vgl. Buchebner-Ferstl 2004, S. 67). Um die zusätzlichen Zeitressourcen sinnstiftend auszufüllen, können die Rentner*innen neue Interessen verfolgen oder auch bestehende intensivieren. Die Aufnahme eines ehrenamtlichen Engagements kann zum Beispiel dabei helfen, den Statusverlust, der mit dem Berufsaustritt prinzipiell verbunden ist, abzumildern (vgl. Gehring et al. 2013). Durch den Wegfall der Berufsarbeit kann der Ruhestand zudem als Befreiung von Stress erlebt werden; allerdings kann dieser selbst auch einen Stressfaktor darstellen, wenn zum Beispiel der Statusverlust nicht durch neue sinnstiftende Tätigkeiten kompensiert werden kann oder eindringlicher als zuvor ins Bewusstsein rückt, dass der letzte Lebensabschnitt begonnen hat (vgl. Buchebner-Ferstl 2004). Darüber hinaus bleibt der Renteneintritt auch in ökonomischer Hinsicht nicht folgenlos. 2018 lag das Bruttorentenniveau bei etwa 46 Prozent vom Durchschnittsverdienst, sodass Rentner*innen jeden Monat grundsätzlich deutlich weniger Geld zur Verfügung haben. Diese Veränderungen, die mit dem Renteneintritt einhergehen, berühren nachvollziehbarerweise auch den Alltag des Partners bzw. der Partnerin, sodass zahlreiche Aushandlungsprozesse notwendig werden, die im Kern die Neukonstitution von Nähe und Distanz innerhalb der Partnerschaft betreffen. Seit den 2000er Jahren ist die Anzahl der jährlichen Renteneintritte relativ stabil und bewegt sich zumeist zwischen 1,2 und 1,4 Millionen (vgl. Deutsche Rentenversicherung 2018, S. 6). In unserem Sample haben drei Frauen im Untersuchungszeitraum ihre Rente begonnen: Frau Frings, Frau Frey und Frau Sommer. Zwei Frauen beendeten eine geringfügige Beschäftigung und eine Frau eine Teilzeitstelle. Aufgrund der geringeren Arbeitszeit erlebten sie den Beginn des Ruhestandes weniger tiefgreifend als Vollzeitbeschäftigte. Insgesamt fällt daher der Wandel ihres Medienhandelns weniger dynamisch aus als bei Vollzeitberufstätigen. Gleichwohl zeigen sich auch bei den Frauen (und ihren Partnern) Veränderungen in der Mediennutzung, die mit dem Rentenbeginn in Verbindung stehen – und zwar insbesondere in ihrer Onlinenutzung. Im Allgemeinen lassen sich aus unseren Befunden zwei verallgemeinerungsfähige Schlussfolgerungen zum Zusammenhang dieser Alltagsveränderung und dem Wandel der Mediennutzung ziehen.
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Erstens kann die dazugewonnene Zeitsouveränität und der damit verbundene Wandel der Tagesstrukturierung (zeitlich) mit einer intensiveren Onlinenutzung in Verbindung stehen. So haben sich bei Frau Frey Reisen, die sie seit dem Rentenbeginn mit ihrem Mann häufig unternimmt, als treibender Faktor für die Ausweitung ihrer Onlinenutzung erwiesen. Zur Vorbereitung der Reisen recherchiert sie gerne und häufig im Internet: „Meine Frau liest die ganzen Bewertungen vom Hotel, ob das auch wirklich gut ist. […] Mich interessiert das gar nicht. Sie sagt mir eher, das ist gut, und dann buchen wir das (lacht).“ (Herr Frey, 2011) Zudem ist die vermehrte Betreuung der Enkelkinder ein wichtiger Bezugspunkt für ihre Onlinenutzung, auch um die ‚neue leere‘ Zeit zu füllen: „Und ich gucke ab und zu bei frag-mutti.de, aber das ist auch oftmals, wenn man wirklich Langeweile hat und denkt ‚Was kannst du denn noch mal gucken‘.“ (Frau Frey, 2011) Auch Frau Sommer nutzt das Internet seit ihrem Renteneintritt vermehrt über den Tag verteilt und greift neuerdings auch auf Mediatheken zurück. Vor allem nutzt sie aber die zusätzlichen Zeitressourcen zum Lesen auf einem neu angeschafften E-Book-Reader: „Also, ich lese wie ein Weltmeister.“ (Frau Sommer, 2013) Im Kontrast zur Intensivierung der Onlinenutzung kann zweitens der Wegfall beruflicher Aufgabenfelder und berufsbezogener Onlineanwendungen (inhaltlich) zu einem Bedeutungsverlust des Internets führen. So ist Frau Frings froh darüber, das Internet zuhause nicht mehr beruflich zur Vorbereitung der vorschulischen Unterrichtsgestaltung nutzen zu müssen: „Als ich noch im Beruf war, musst’ ich ja was tun da oben [am PC].“ (Frau Frings, 2011) Nun geht sie fast gar nicht mehr online und nutzt die zusätzlichen Zeitressourcen lieber für ihre vier Enkelkinder, die sie und ihr Mann mehrmals die Woche betreuen: „Also, wenn Internet, dann höchstens, dass ich mal irgendwelche Sachen bestelle. […] Nicht mal einmal die Woche. […] Nee. Weniger. […] Es hat sich so ergeben, muss ich sagen. Weil ich es nicht so direkt brauche. Und ich bin nicht so ein Technik-Freak.“ (Frau Frings, 2011)
Es deutet sich hier bereits an, dass das Internet eine bedeutende Rolle einnehmen kann, um nach dem Renteneintritt neuen sinnstiftenden Tätigkeiten nachzugehen und die zusätzlichen Zeitressourcen sinnvoll zu gestalten. Durch den Wegfall der beruflichen Relevanz kann das Internet aber auch (vollständig) an Bedeutung verlieren. Weitere Veränderungen der Mediennutzung konnten im Rahmen der Interviews nicht explizit mit dem Wandel der Lebensführung im Zuge des Renteneintritts in Verbindung gebracht werden; dies ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass die Interviewten den Renteneintritt aufgrund der zuvor geringen Arbeitszeiten nicht als tiefgreifenden Einschnitt erlebten. Von
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zentraler Bedeutung dürfte hier aber auch sein, dass die Prozesse der Alltagsumstrukturierung oftmals unbewusst ablaufen. Es ist somit häufig schwierig für die Interviewten, die Veränderungen zu benennen und mit dem Ruhestand in Beziehung zu setzen, wie der folgende Auszug aus dem Interview mit dem Paar Sommer zeigt. Interviewerin: „Dann haben wir noch ein paar Nachfragen zur Rentenumstellung […]. Ich würde gerne nochmal fragen, ob Sie jetzt mehr oder weniger Medien nutzen?“ Frau Sommer: „Ne, ich nutze nicht mehr. Es ist gleich geblieben bis jetzt. […]“ Interviewerin: „Gibt es vielleicht auch neue Interessen, die Sie jetzt im Internet vertiefen, seit Sie nicht mehr arbeiten?“ Frau Sommer: „Bisher noch nicht.“ (Frau Sommer, 2013)
Erst im Zuge weiterer Interviewtechniken wie der Kartensortierungsmethode zur Bedeutung der Einzelmedien wird deutlich, dass Frau Sommer – wie oben skizziert – das Internet tiefer in ihren Alltag integriert hat, zu anderen Tageszeiten nutzt, Anwendungen wie Mediatheken hinzugekommen sind und dass sie neuerdings sehr intensiv auf ihrem E-Book-Reader liest. Grundsätzlich erscheint es sinnvoll, eine weiterführende Analyse der Folgen für das Medienhandeln im Zuge des Alltagsumbruchs Renteneintritt (im Anschluss an eine Vollzeitbeschäftigung) durchzuführen, denn dieser steht grundsätzlich mit weiteren Veränderungen der Lebensführung in Zusammenhang. So ist interessant, welche Rolle Medien einnehmen, um den gewohnten, nun aber fehlenden Kontakt zu Arbeitskolleg*innen zu kompensieren, ob Kommunikationsangebote vermehrt genutzt werden, um den Kontakt zum bestehenden sozialen Umfeld zu intensivieren oder inwiefern diese beim Aufbau neuer sozialer Kontakte behilflich sind. Sind Medien des Weiteren von Bedeutung, um den Verlust einer sinnstiftenden beruflichen Tätigkeit und in diesem Zuge auch von Anerkennung aufzufangen oder werden berufsbezogene Tätigkeiten mit Hilfe von Medien fortgeführt? Werden in diesem Zusammenhang neue Lebensziele entwickelt, für die spezifische Medienangebote Orientierung bieten? Welche Relevanz für die Mediennutzung besitzt zudem die Bewusstwerdung, dass der ‚letzte‘ Lebensabschnitt begonnen hat? Ferner sollte genauer in den Blick genommen werden, wie der Renteneintritt des Partners die Lebensführung des Paares verändert: Wie handeln die Paare nach dem Renteneintritt mit Hilfe von Medien Nähe und Distanz neu aus? Entwickeln sie eine neue Arbeitsteilung, die auch das Medienhandeln betrifft? Welche Rolle spielt darüber hinaus die Veränderung der ökonomischen Situation? Werden beispielsweise
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a ufgrund der schlechteren Einkommenssituation Medienabonnements gekündigt oder werden medientechnologische Anschaffungen zurückgehalten und entsteht somit auch eine Differenz zu jüngeren Mediengenerationen? All dies sind Fragestellungen, die in einer weiteren Analyse erkenntnisreiche Einblicke zum Verhältnis von Medienhandeln und Alltagswandel versprechen, weil so die hinter dem Wandel der Mediennutzung stehenden Prozesse besser nachvollzogen werden können.
9.6.3 Berufliche Veränderungen und Wandel des Medienhandelns Auch berufliche Veränderungen wie der Wechsel des Arbeitgebers, eine Beförderung oder die Umstellung auf Schichtbetrieb können sich im Medienhandeln niederschlagen. Da dies in unseren Interviews zwar thematisiert, aber nicht explizit verfolgt wurde, lässt sich an dieser Stelle keine umfassende Systematik dazu entwickeln. Anhand einiger Schlaglichter wird aber deutlich, welche Alltagsveränderungen im Zuge beruflicher Umgestaltungen das Medienhandeln der Paare dynamisieren können. Wenig überraschend sind im Rahmen der Arbeitsplatzsuche temporär Jobbörsen sowie Recherchen zur Bewerbung und zu möglichen Arbeitgebern intensiv genutzte Onlinetätigkeiten, so zum Beispiel bei Herrn Markuse („Immer wenn ich arbeitslos war, war Internet stundenlang an.“ Herr Markuse, 2013) oder bei Frau Sarholz: „Meine Jobsuche ging jetzt ungefähr ein Jahr. Und das läuft alles zum Glück nur noch über das Internet. Also, ich kriege am Tag ungefähr vier, fünf Job-Newsletter. Die gucke ich durch, dann den Link angucken, auf die Internetseite weitergeleitet werden. Entweder gibt es dort ein Jobportal, wo man seine Daten einträgt oder man schickt eben eine Bewerbung, die man zwar offline erstellt, aber dann per E-Mail eben doch online verschickt. […] Ich habe vielleicht so 20 Bewerbungen gemacht und es war keine einzige Papierbewerbung mehr dabei.“ (Frau Sarholz, 2013)
Darüber hinaus gibt es weitere interessante Zusammenhänge. Einen wichtigen Aspekt hinsichtlich des Wandels der Mediennutzung stellen die Veränderungen beruflicher Aufgabenfelder dar (inhaltlich), die zum Beispiel mit einem Wechsel des Arbeitgebers, einer Beförderung oder einem internen Abteilungswechsel einhergehen können. So hat Frau Bunk die Leitung im Bereich Marketing und Kommunikation bei einem neuen Arbeitgeber übernommen. In diesem Zusammenhang hat sich E-Mail-Kommunikation zu einem zentralen
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9 Alltagsumbrüche und ihr Einfluss auf das häusliche Medienhandeln
ätigkeitsfeld entwickelt: „Eigentlich bin ich den ganzen Tag online. […] T Wenn Outlook mal platt ist, dann kann ich nicht arbeiten. Ich habe ganz oft das Gefühl, dass ich wirklich immer nur auf Mails reagiere, die reinkommen und Mails abarbeite und anderen Leuten Mails schicke.“ (Frau Bunk, 2011) Kontrastierend zu Frau Bunk hat sich die berufsbezogene Onlinenutzung von Frau Brinkmann durch ihren Aufstieg zur stellvertretenden Geschäftsführerin bei einem Wohlfahrtsverband insgesamt reduziert, und dass obwohl ihre E-MailNutzung ebenfalls angestiegen ist: „Weil jetzt viel unsere Sekretärin macht und so Rechercheaufgaben, die ich vorher schon mal selber gemacht habe, gebe ich eher ab. […] Aber natürlich die E-Mail-Flut ist noch größer geworden.“ (Frau Brinkmann, 2011) Im Zuge ihrer neuen Aufgabengebiete haben sich bei beiden zudem neue Wissensbedürfnisse und -bedarfe (inhaltlich) entwickelt. Bei Frau Bunk betrifft dies eher berufliches Spezialwissen wie der Einsatz von Social Media für die Unternehmenskommunikation sowie Wissen zur Suchmaschinenoptimierung: „Also, ich will es schon gerne verstehen, weil ich auch das Gefühl hab’, dass ich dann mit den Kollegen besser diskutieren kann und die mich halt auch nicht irgendwie verarschen können.“ (Frau Bunk, 2011) Bei Frau Brinkmann tangiert dies eher allgemeinbildende Themen und das (lokal) politische Geschehen, die ihre Zeitungsrezeption befördern: „Die Zeitung ist mir ziemlich wichtig. […] Ich möchte jeden Morgen Zeitung lesen. Einfach, weil ich dienstlich informiert sein will. […] Ich muss einfach wissen, was [in der Stadt] passiert ist an dem Tag oder an dem Tag davor.“ (Frau Brinkmann, 2011) Berufliche Tätigkeitsfelder liefern also wichtige Impulse, auf welche Art und Weise Medien genutzt werden. Mit neuen inhaltlichen Aufgaben geht zumeist auch ein Wandel der Tagesstrukturierung einher (zeitlich), weil die Berufsarbeit innerhalb der Lebensführung nun einen anderen und – beispielsweise bei Beförderungen – dominanteren Platz einnimmt. So muss Frau Brinkmann neuerdings auch Termine am Abend oder am Wochenende wahrnehmen und arbeitet zuhause mit dem extra für diesen Zweck angeschafften Netbook. Bei Frau Bunk sind mit der Leitungsposition ebenfalls berufliche Tätigkeiten in das Zuhause eingesickert, wie sie 2013 rückblickend nach ihrem Eintritt in Elternzeit selbst reflektiert: „Ich habe das Blackberry mit nach Hause gebracht und da war immer Arbeit da […]. In meinem Job habe ich eh die ganze Zeit immer nur E-Mails beantwortet und geschrieben. Und das auch am Wochenende, im Urlaub und an Werktagen abends.“ (Frau Bunk, 2013) Neben einer reduzierten freizeitorientierten Mediennutzung geht bei Frau Bunk die zusätzliche Arbeitsbelastung und der gestiegene Stress auch auf Kosten ihres Kontakts zum sozialen Umfeld. In diesem
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Zusammenhang stellt Facebook für sie eine gelungene Möglichkeit dar, um die Bindung zu ihrem Freundeskreis nicht zu verlieren: „Ich hab’ nach der Arbeit einfach keinen Bock mehr jemanden anzurufen und eine halbe Stunde mit dem zu telefonieren. Ich möchte aber trotzdem wissen, was meine Freunde machen […]. Auf Treffen habe ich meistens nach der Arbeit wirklich auch keine Lust, so schade das auch ist, aber irgendwie bin ich da echt fertig und kann mich nicht mehr gut aufraffen […] und da finde ich Facebook echt ideal. Man weiß, o.k., der ist gerade im Urlaub, da kann man mal einen schönen Urlaub wünschen, der andere ist gerade zum Sport gegangen […], man ist einfach so noch mit im Leben drin und das ist einfach nett und das […] ist der gravierende Unterschied, warum ich jetzt auch so viel noch online bin.“ (Frau Bunk, 2011)
Die Nutzung von Social Media bei Frau Bunk stellt demnach eine Gegenstrategien dar, um der ausufernden Alltagsrelevanz der Berufsarbeit entgegenzuwirken und um so – im Kontext knapper Zeitressourcen – die verschiedenen Lebensbereiche besser in Balance halten zu können. Im Gegensatz dazu kann leere Zeit im Berufsalltag zu einem Einsickern von privaten und freizeitorientierten Medientätigkeiten am Arbeitsplatz führen. So zum Beispiel bei Herrn Olsen, der nach seiner Kündigung noch mehrere Wochen bei seinem Arbeitgeber tätig ist, dabei aber kaum Aufgaben zu erledigen hat. Aus diesem Grund nutzt er am Arbeitsplatz intensiv Facebook oder streamt Serien: „Bei der Arbeit habe ich eigentlich immer ein Fenster auf. […] Das ist echt so suchtbildend, dass man immer guckt. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass bei der Arbeit echt einfach verdammt wenig los ist. […] Und ich habe ganz viel Zeit und eher Langeweile. Alle Onlinezeitungen hat man in der ersten Stunde des Tages durchgelesen. […] Heute bei der Arbeit hatte ich auch wieder so viel Freiraum, da habe ich mir Das perfekte Dinner noch mal angeguckt, die letzte Folge.“ (Herr Olsen, 2013)
Einen weiteren Aspekt betrifft das Bedürfnis nach Nähe und Distanz innerhalb der Partnerschaft (sozial), das auch durch die berufliche Konstellation der Partner beeinflusst wird. So zeigt sich beim Paar Brandt nach einer beruflichen Veränderung eine interessante Entwicklung in ihrer Mediennutzung. Als das Paar 2008 gemeinsam im gleichen Friseursalon arbeitet, begrüßen es beide, die Abende regelmäßig unabhängig voneinander zu verbringen. Daran haben sie auch ihr räumliches Medienarrangement ausgerichtet, denn der PC steht nicht im Wohnzimmer, sondern in einem separaten Raum. „Wenn der eine spielen will und der andere Fernsehen gucken will, […] hat auch jeder seinen Rückzugspunkt.“
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(Frau Brandt, 2008) Während Frau Brandt in dieser Zeit abends in der Regel vor dem Fernseher sitzt, spielt Herr Brandt Onlinespiele im Büro: „Dadurch, dass wir zusammen arbeiten und zusammen leben, gehe ich dann halt an den Computer, ziehe mich dahin zurück, und sie bleibt dann hier und guckt ein bisschen fern. […] Das Einzige, was ich gucke, sind nachts die Nachrichten. […] Weil ich auch nicht der Fernsehgucker bin.“ (Herr Brandt, 2008)
Seitdem das Paar einen zweiten Friseursalon eröffnet hat, arbeiten sie nicht mehr zusammen. In dieser neuen Situation verlieren Medien ihre Bedeutung, um zuhause Distanz zwischen den Partnern herzustellen. Vielmehr sitzt das Paar abends nun häufig gemeinschaftlich vor dem Fernseher und stellt so Nähe zueinander her. Für Herrn Brandt resultiert daraus ein Bedeutungsgewinn des Fernsehers, während er kaum noch Onlinespiele spielt: „Insgesamt ist mein Spielverhalten wesentlich geschrumpft, definitiv. […] Den Fernseher nutzen wir ungefähr gleich stark. […] Meistens gucken wir zusammen oder der eine legt sich einfach zu dem anderen und nur einer guckt und der andere schläft so halbwegs dabei.“ (Herr Brandt, 2011)
Auch Frau Brandt findet dieses Medienarrangement „ganz angenehm, weil man einfach mehr Zeit zusammen verbringen kann und die Zeiten intensiver sind. Ich find’s einfach schöner. […] Das ist sonst so viel geklaute Zeit, die so verloren geht.“ (Frau Brandt, 2011) Auch wenn das Paar Brandt einen Sonderfall darstellt, weil nur die wenigsten Paare beruflich zusammenarbeiten, so zeigt dieser Fall, dass die beruflichen Rahmenbedingungen mit beeinflussen, inwiefern zuhause Nähe und Distanz – auch über die Mediennutzung – hergestellt wird. Berufliche Veränderungen wie Arbeitszeiten können sich somit auch auf die häusliche Mediennutzung auswirken, wenn das Verhältnis von Nähe und Distanz als gestört wahrgenommen wird. Insgesamt sollte die Verschränkung von beruflichen Umbrüchen und Veränderungen der Mediennutzung deutlich geworden sein, denn die Berufssphäre hat einen großen Einfluss darauf, auf welche Art und Weise Medien im Alltag genutzt werden. Veränderungen im Beruf und damit zusammenhängend der beruflichen Mediennutzung bleiben ebenfalls nicht folgenlos für die Mediennutzung in anderen Lebensbereichen. Um das Verhältnis zwischen Alltag und Medienhandeln besser zu verstehen, gilt es folglich auch berufliche Veränderungen zu analysieren.
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9.6.4 Gesundheitliche Veränderungen und Wandel des Medienhandelns Gesundheitliche Beeinträchtigungen wurden in unseren Interviews nicht explizit thematisiert. Die Interviewten deuteten aber an, dass ihr Gesundheitszustand einen erkennbaren Einfluss auf ihre Mediennutzung hat. Im Zuge (temporärer) Krankheiten recherchieren sie beispielsweise zu Symptomen und (alternativen) Behandlungsmethoden im Internet. So holen sich Herr und auch Frau Steffen Informationen „über Krankheiten […] immer nur aus dem Internet.“ (Frau Steffen, 2011) Aufgrund der eingeschränkten Mobilität nach ihrem Kreuzbandriss plant Frau Steffen zudem, sich Onlinebanking anzueignen oder vermehrt Onlineshopping zu nutzen. Auch Frau Meckel hat im Zuge einer Krankheit intensiv online recherchiert, allerdings mit ambivalenten Gefühlen: „Das ist ganz gruselig. Ich habe also alle meine Symptome eingegeben und habe gedacht, ‚Uh! Das lies’ lieber alles gar nicht.‘ […] Was ich natürlich gemacht habe, dass ich viel geguckt habe nach Homöopathie und nach Naturmedizin.“ (Frau Meckel, 2013) Zudem hat die Krankheit bei ihr einen Reflexionsprozess über die Gestaltung ihrer Lebensführung ausgelöst, der letztlich darin mündete, das Internet seltener zu nutzen: „Ich habe einfach meinen Fokus anders gesetzt und auch ganz bewusst, ‚Nein, heute nicht.‘ […] Ich nutze das bewusster […] und dadurch eben nicht mehr so häufig. […] Ich denke, ich bin nicht mehr bereit, mich da so drängen zu lassen. […] Ich habe nicht das Gefühl, dass ich jeden Tag meine E-Mails lesen muss oder so. Das hat sich alles verschoben. Diese Wichtigkeit ist für mich nicht mehr da. Das reicht auch, wenn ich alle drei Tage mal ins Internet gehe. […] Ich habe früher auch ganz viel gechattet und so, das mache ich nicht mehr. (Frau Meckel, 2013)
Im Sinne der hier beschriebenen Forschungsperspektive erscheint es daher interessant zu erforschen, inwiefern sich die Mediennutzung verändert, wenn der Alltag durch schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigungen neu gestaltet werden muss. Wie verändert sich z. B. das Medienrepertoire, wenn sich motorische (z. B. Bedienung der Maus) oder sensorische (z. B. Sehen oder Hören) Fähigkeiten verschlechtern? Inwiefern wirken sich Depressionen, schwerwiegenden Krankheiten oder durch Unfälle entstandene körperliche Einschränkungen auf die Mediennutzung aus? Auch das sind Fragen, die in Form von alltagsumbruchbezogener Forschung untersucht werden sollten.
Transitionsübergreifende Auswertung: Eine mehrdimensionale Analyse alltagsspezifischer Antriebsfaktoren für Dynamik im Medienrepertoire
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Diese Kapitel widmet sich der dritten Forschungsfrage, welche Antriebsfaktoren für Dynamik im Medienrepertoire sich übergreifend über die einzelnen Alltagsumbrüche (Transitionen) identifizieren lassen. Zur systematischen Analyse dieser Fragestellung wurde die Lebensführung in verschiedene Dimensionen differenziert (u. a. zeitlich, inhaltlich, räumlich, sozial), sodass es möglich war, Veränderungen der Alltagsstruktur analytisch präzise herauszuarbeiten und mit dem Wandel der Mediennutzung in Beziehung zu setzen. Dies konnte in der zusammenfassenden Auswertung eines jeden Alltagsumbruchs bereits eindrücklich gezeigt werden (siehe Kapitel 9). Analysiert man diese Befunde transitionsübergreifend, so können entlang der Dimensionen unabhängig vom spezifischen Transitionserleben alltagsspezifische Antriebsfaktoren von Übergängen identifiziert werden, die das Medienhandeln dynamisieren, so zum Beispiel Umstrukturierungen des Tagesrhythmus, Veränderungen der geschlechtsgebundenen Arbeitsteilung oder Wandel der inhaltlichen Interessen.1 Im Allgemeinen können die transitionsübergreifenden Antriebsfaktoren einerseits zu einer tieferen Alltagsintegration eines bestimmten Mediums führen sowie andererseits zu einem Bedeutungsverlust. Abb. 10.1 gibt einen Überblick über diese Prozesse und zeigt jeweils auf, bei welchen Alltagsumbrüchen diese aufgetreten sind. Entlang der Alltagsdimensionen werden diese Prozesse im Folgenden näher beschrieben.
1An
dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass es sich bei der dimensionalen Unterteilung der alltäglichen Lebensführung um eine analytische Trennung handelt, denn in der sozialen Situation selbst sind die Praktiken der Lebensführung gleichzeitig in jeder Dimension verortet. Es lässt sich aber (fast) immer eine zentrale Dimension ausmachen, in der die Alltagsveränderung ‚ursprünglich‘ und ‚dominant‘ ist und somit den Wandel der Mediennutzung anstößt.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Niemand, Alltagsumbrüche und Medienhandeln, Medien • Kultur • Kommunikation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30738-7_10
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10 Transitionsübergreifende Auswertung: Eine mehrdimensionale …
Abb. 10.1 Antriebsfaktoren für Dynamik: Transitionsübergreifende Auswertung. (Quelle: Eigene Darstellung)
10.2 Inhaltliche Tätigkeiten und Dynamik im Medienrepertoire
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10.1 Zeit und Dynamik im Medienrepertoire Eine zentrale Ressource des Medienhandelns ist Zeit. Als Antriebsfaktoren für einen Wandel der Mediennutzung lassen sich in der zeitlichen Dimension zusätzliche Zeitressourcen bzw. eine höhere Zeitsouveränität ausmachen, die durch den Wegfall von Betreuungsaufgaben (Auszug der Kinder) oder durch den Wegfall von beruflichen Verpflichtungen (Eintritt in die Rente oder in den Mutterschutz) entstehen können. Da die meisten unserer Interviewten einen Teil dieser ‚dazugewonnenen‘ Zeit mit Medien verbringen, hat bei ihnen die Bedeutung von Medien und speziell des Internets für die Freizeitgestaltung zugenommen. Die Mediennutzung stellt für sie eine gute Möglichkeit dar, um die Zeit sinnvoll zu gestalten – zum Beispiel im Kontext von bestehenden Hobbys oder um neuen Interessen mehr Zeit zu widmen. Auch Zeitknappheit bzw. eine geringere Zeitsouveränität durch neue Betreuungsaufgaben (Elternschaft), Baumaßnahmen (Umzug) oder eine zusätzliche Arbeitsbelastung (berufliche Veränderungen) kann neue Formen der Mediennutzung zutage fördern und insbesondere zur Reduktion der freizeitorientierten Mediennutzung führen. Gegenstrategien wie Second Screen, non-lineares Fernsehen oder das Verbinden von Fürsorgepraktiken mit mobilen Medien können dabei helfen, der Zeitknappheit entgegenzuwirken und so Zeit zu verdichten und den Alltag aufzuwerten. Die zusätzliche Arbeitsbelastung im Beruf oder nach der Geburt eines Kindes kann zudem dazu führen, dass Treffen mit dem sozialen Umfeld seltener werden. Dann kann eine intensivere Nutzung sozialer Medien eine zeitsparende Möglichkeit darstellen, um – im Kontext knapper Zeitressourcen – mit dem Freundes- und Bekanntenkreis in Verbindung zu bleiben und um die verschiedenen Lebensbereiche besser in Balance zu halten.
10.2 Inhaltliche Tätigkeiten und Dynamik im Medienrepertoire Neue inhaltliche Interessen, Aufgaben und Wissensbedürfnisse lassen sich in dieser Dimension als dynamisierende Faktoren für die Mediennutzung ausmachen. So verfolgen einige Paare seit dem Renteneintritt, dem Auszug der Kinder oder dem Tod des Ehepartners mit Hilfe von Medien ihre (neuen) Interessen. Andere Paare nutzen im Zuge neuer beruflicher Tätigkeiten andere Onlineanwendungen als zuvor, eignen sich mittels Onlinerecherche oder über die Zeitungsrezeption neues beruflich relevantes Wissen an oder verrichten zuhause vermehrt Berufsarbeit. Die Paare in unserem Sample, die ein Kind bekommen haben, informieren sich seit der Schwangerschaft intensiv im Internet oder in Zeitschriften über Erziehungsund Gesundheitsthemen (Elternschaft) und die Paare, die ein Haus (um)gebaut
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haben, nutzen das Internet in dieser Zeit, um sich Wissen über die Baumaßnahmen anzueignen. Temporär sind im Kontext der Arbeitsplatzsuche (berufliche Veränderungen) Jobbörsen sowie in Vorbereitung eines Wohnortwechsels (Umzug) Immobilienbörsen intensiv genutzte Onlineanwendungen. Der Wegfall von Interessen und Aufgabenfeldern kann ebenfalls einen Wandel der Mediennutzung anstoßen, wenn zum Beispiel nach einem Renteneintritt die Notwendigkeit fehlt, für berufliche Zwecke online zu gehen und so das Internet an Bedeutung verliert.
10.3 Raum und Dynamik im Medienrepertoire In der Dimension Raum kann die räumliche Distanz zu den Kindern (Auszug der Kinder und Trennung), zum Freundes- oder Bekanntenkreis (Umzug) oder zum neuen Partner bei einer Fernbeziehung (neue Partnerschaft) das Medienhandeln dynamisieren. Kommunikationsmedien wie Skype, WhatsApp oder das Telefon sind dann besonders wichtig, um den Kontakt aufrecht zu erhalten; sie stellen eine Art Brücke zum sozialen Nahbereich her. Teils eigenen sich unsere Paare diese Medienangebote explizit zu diesem Zweck an. Zudem kann die räumliche Immobilität durch ein Baby (Elternschaft) zur verstärkten Nutzung von Onlineshopping oder bei zuvor außerhäuslich aktiven Paaren zur vermehrten Fernsehrezeption am Abend führen. Das Bedürfnis nach Orientierung am neuen Wohnort nach einem Ortswechsel (Umzug) kann durch Onlinerecherchen zu alltagspraktischen Informationen sowie durch eine intensivere Nutzung von sozialen Medien oder von lokalen Medienangeboten befriedigt werden. Mit der Geburt eines Kindes, sowie nach einem Umzug, dem Tod des Ehepartners oder dem Auszug der Kinder kann es zudem zu Umstrukturierungen der räumlichen Medienarrangements kommen, denn die Raumfunktionen stehen im Zuge dieser Übergangsphase prinzipiell zur Disposition. Erfolgt ein Wandel der Raumarrangements, können sich damit zusammenhängend auch die Mediennutzungsmuster sowie die häuslichen Kommunikationskulturen verändern.
10.4 Soziale Beziehungen und Dynamik im Medienrepertoire In der Dimension Soziales erweist sich die Beziehungskonstellation als Paar als wichtiger Faktor für die Ausgestaltung des Medienhandelns. Über das Medienhandeln zeigen und steuern die Paare, wie viel Zeit sie miteinander verbringen wollen, welche Themenfelder sie interessieren, wie sie als Partner zueinander
10.4 Soziale Beziehungen und Dynamik im Medienrepertoire
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stehen. So kann sich aus dem Wegfall der geschlechtsgebundenen Arbeitsteilung (Trennung und Tod des Partners) die Notwendigkeit ergeben, Tätigkeiten mit dem Internet selbst erledigen zu müssen, was zu einer intensiveren Onlinenutzung führt. In unserem Sample betrifft dies insbesondere Frauen in zuvor traditionell geführten Beziehungen, weil Alltagsaufgaben mit dem Internet und administrative PC- und Onlinetätigkeiten zuvor überwiegend von ihren Männern übernommen wurden. Das bedeutet: der Wandel der Onlinenutzung variiert je nach Art und Weise der vorherigen Arbeitsteilung. Die Entwicklung einer neuen Arbeitsteilung stößt ebenfalls einen Wandel der Mediennutzung an, wenn zum Beispiel die getrennten Männer die Pflege von Hard- und Software von ihren neuen Partnerinnen übernehmen (neue Partnerschaft) oder wenn im Zuge der Geburt eines Kindes zwischen den Partnern eine Retraditionalisierung der geschlechtsgebundenen Aufgabenteilung mit dem Internet stattfindet (Elternschaft). Zu diesem Aspekt gehört auch der häufigere Kontakt zur Familie nach der Geburt eines Kindes, um Absprachen zur Betreuung zu organisieren. Aus dem Wegfall von Medienregeln, -absprachen und Gewohnheiten zwischen den Partnern (Trennung und Tod des Partners) ergibt sich ein Autonomiegewinn, sodass Medien selbstbestimmter als zuvor entlang der eigenen Interessen genutzt werden können. Damit kann eine tiefere Alltagsintegration bestimmter Medien(angebote) einhergehen, auf die zuvor – zum Beispiel aus Rücksichtnahme auf den Partner – verzichtet wurde. Gleichzeitig können Medien an Bedeutung verlieren, weil paarspezifische Mediengewohnheiten wie der gemeinsame Fernsehabend in der neuen Lebenssituation nicht mehr als sinnvoll empfunden werden. Je nach Reglementierung, Absprachen und Gewohnheiten der Mediennutzung des Paares haben die neuen Entfaltungschancen einen mehr oder weniger starken Einfluss auf den Wandel der Mediennutzung. Auch neue Medienregeln, -absprachen und Gewohnheiten zwischen den Partnern können zu einer Veränderung der Mediennutzung führen, weil z. B. im Beisein des Kindes keine Serien gestreamt werden sollen (Elternschaft) oder weil der neue Partner mehr Zeit für die gemeinsame Freizeitgestaltung einfordert und somit Computerspiele nur noch eingeschränkt gespielt werden können (neue Partnerschaft). Hier geht Autonomie hinsichtlich der Entscheidungsfreiheit über die Mediennutzung verloren. Ein weiterer Aspekt ist das Bedürfnis nach Nähe und Distanz innerhalb der Partnerschaft. Wenn im Zuge beruflicher Veränderungen das Verhältnis von Nähe und Distanz als gestört wahrgenommen wird, kann dies über die gemeinsame häusliche Mediennutzung reguliert werden, zum Beispiel indem das Paar häufiger einen gemeinsamen Fernsehabend verbringt. Wenn zudem mit Beginn einer neuen Partnerschaft der Aufbau einer emotionalen Bindung und damit andere Aktivitäten als die Nutzung von Medien im Vordergrund stehen, verlieren individuelle Mediennutzungsmuster
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an Bedeutung. Die mediale Kommunikation mit dem Partner nimmt hingegen – ganz im Zeichen des Beziehungsaufbaus – deutlich zu. Später, in der Bestandsphase einer Beziehung, entwickelt sich der Fernsehabend häufig zu einem Bezugspunkt für das Paar, um habitualisiert Nähe herzustellen. Im Kontrast dazu spiegeln sich Konflikte zwischen den Partnern während der Auflösungsphase (Trennung) in einer zunehmend distanzierten und zumeist räumlich getrennten Mediennutzung wider. Darüber hinaus kann sich die Mediennutzung durch ein erhöhtes Kommunikationsbedürfnis dynamisieren, z. B. wenn Babyfotos mit Freunden und Familie geteilt werden (Elternschaft) oder wenn soziale Medien und Online-Partnerbörsen genutzt werden, um neue Bekanntschaften zu schließen oder um alte zu intensivieren (Trennung).
10.5 Emotionen und Dynamik im Medienrepertoire In dieser Dimension zeigen sich emotionale Krisen als Antriebsfaktor für Dynamik im Medienrepertoire. So kann nach einer Trennung eine intensive Fernsehrezeption dabei helfen, sich von dem Ereignis abzulenken. Eine eskapistische Mediennutzung stellt somit auch eine Art Bewältigungsstrategie der als krisenhaft erlebten Trennung dar.
10.6 Sinnhafte Orientierung und Dynamik im Medienrepertoire In der sinnhaften Dimension kann die Orientierung an gesellschaftlichen Leitbildern und Diskursen einen Wandel des Medienhandelns anstoßen. Insbesondere zeigt sich dies bei den jungen Eltern in unserem Sample, die ihre Mediennutzung nach der Geburt des Kindes auch an medienpädagogischen Diskursen ausrichten (Elternschaft). In diesem Zusammenhang schränken sie sich selbst in ihrer Mediennutzung ein, zum Beispiel weil sie im Beisein des Kindes kein Fernsehen schauen möchten. Zudem können Reflexionsprozesse über die persönlichen Lebensentwürfe und -ziele zu einem Wandel der Mediennutzung führen. So ist mit einer Trennung der Lebensentwurf ‚Partnerschaft (und Familie)‘ vorerst gescheitert. Dieses Missverhältnis reflektierend, richten die getrennten Personen ihre Lebensführung und auch ihre Mediennutzung (z. B. in Form einer intensiven Nutzung von Onlinepartnerbörsen oder sozialen Medien) wieder darauf aus, eine
10.7 Materielle Ressourcen und Dynamik im Medienrepertoire
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neue Beziehung eingehen zu können. Bis dahin überbrücken sie gewissermaßen das Missverhältnis zwischen Lebensentwurf und Lebensführung, indem sie den Kontakt zu alten Freundes- und Bekanntenkreisen wieder aktivieren; dies zeigt sich auch in Form einer intensiveren Nutzung von Kommunikationsdiensten. Gleichzeitig lässt die Fernsehnutzung deutlich nach, weil sie diese nun eher als Zeitverschwendung empfinden. Angemerkt sei aber, dass in unseren Fällen alle Interviewten wieder eine neue Beziehung eingehen wollten und dementsprechend ihre mediale Lebensführung ausrichtete. Zweifelsohne können nach einer Trennung – wenn in diesem Zusammenhang die Lebensführung im Hinblick auf Partnerschaft, Familie, Beruf und Freizeit hinterfragt wird – auch andere Lebensentwürfe verfolgt und andere Ziele gesetzt werden; dies wäre wieder mit anderen Folgen für das Medienhandeln verbunden.
10.7 Materielle Ressourcen und Dynamik im Medienrepertoire In der materiellen Dimension wird Dynamik im Medienrepertoire einerseits durch eine defizitäre technische Infrastruktur in ländlichen Regionen (Umzug) angestoßen. Paare, die zuvor über eine schnellere Internetverbindung verfügten, gehen nun viel seltener online. Insbesondere die datenintensive Onlinenutzung wie das Herunterladen oder Streamen von Videos, Filmen und Musik verliert erheblich an Bedeutung. Gleichzeitig nimmt die Fernsehrezeption wieder zu. Nach einem Umzug in eine urbanere Region und der damit verbundenen modernen technischen Infrastruktur wird das Internet hingegen deutlich intensiver genutzt als zuvor. Finanzielle Einschränkungen (Umzug nach Hauskauf oder Trennung) können den Ausschlag geben, das Abonnement einer Tageszeitung abzuschaffen, sich vermehrt online zu informieren, geplante Investitionen in digitale Medien zurückzuhalten oder die häusliche Berufsarbeit zu erhöhen. Auch neue Medientechnologien und -abonnements ermöglichen neue Nutzungsformen, wenn beispielsweise der neue Partner ein Tablet oder ein Abonnement eines Streaminganbieters mit in die Beziehung bringt (neue Partnerschaft), wenn der Umzug zum Anlass genommen wird, die medientechnische Ausstattung zu modernisieren oder wenn nach dem Tod des Partners dessen Mediengeräte genutzt werden können. Nach einer Trennung kann sich die Mediennutzung auch verändern, weil die gemeinsamen Medientechnologien und -abonnements aufgeteilt werden müssen. Mediengeräte werden dann größtenteils neu gekauft, sodass die Medienausstattung modernisiert wird.
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10.8 Körper und Dynamik im Medienrepertoire In dieser Dimension zeigen sich (temporäre) Krankheiten sowie die Verschlechterung sensorischer oder motorischer Fähigkeiten als Antriebsfaktor für Dynamik im Medienrepertoire. Dies wurden in den Interviews zwar nicht tiefgehend thematisiert, wurde aber von einigen Interviewten andeutungsweise berichtet. So kann sich in diesem Zusammenhang die Onlinenutzung erhöhen, weil zu Symptomen und (alternativen) Behandlungsmethoden recherchiert wird. Mit Krankheiten kann aber auch eine Abkehr von bestimmten Medien verbunden sein, weil die dafür nötigen sensorischen oder motorischen Fähigkeiten eingeschränkt sind oder weil die Krankheit im Sinne von digitalem Stress mit der Nutzung von Medien in Verbindung gebracht wird. Krankheiten können auch zu einer Reduzierung von Medien führen, weil die Zeit nun sinnvoller genutzt werden soll.
Teil III Resümee
Reflexion des methodischen Vorgehens: Ansprüche und Umsetzung der empirischen Studie
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In Kapitel 6 wurden zusammenfassend aus den theoretischen Grundbausteinen fünf handlungsleitende Prinzipien extrahiert, die bei einer empirischen Analyse von Alltagsumbrüchen und dem Wandel des Medienhandelns Berücksichtigung finden sollten: • Ganzheitlichkeit • Kontextorientierung • Prozessorientierung • Offenheit der Entwicklungsrichtung • Nutzerzentrierung Das methodische Setting dieser Studie wurde diesen fünf Prinzipien im Allgemeinen gerecht, gleichwohl lassen sich auch Limitationen und Potenziale ausmachen, inwiefern die alltagskontextualisierte Medienforschung im Zuge von Alltagsumbrüchen optimiert werden kann. Dem Prinzip der Ganzheitlichkeit wird die Studie gerecht, weil die (häusliche) Nutzung des gesamten Medienrepertoires (Internet, Fernsehen, Radio, Print) im Zusammenhang mit der (häuslichen) Lebensführung der Paare im Rahmen der ethnografisch-orientierten Haushaltsbesuche erfasst wurde. Auf diese Weise konnte die Relevanz von Alltagsumbrüchen angemessen analysiert werden. Die Erforschung des Medienrepertoires – im Kontrast zur Einzelmedienforschung – war dabei besonders wichtig, denn eine Veränderung der Alltagsstruktur (wie z. B. die Veränderung der Zeitsouveränität) kann sich je nach Vorliebe einer Person auf die Nutzung unterschiedlicher Medien auswirken: bei einer Person beispielsweise auf die Internetnutzung und bei einer anderen auf die Zeitungsrezeption. Einzelmedienforschung mit dem Interesse an der Verwobenheit von © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Niemand, Alltagsumbrüche und Medienhandeln, Medien • Kultur • Kommunikation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30738-7_11
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11 Reflexion des methodischen Vorgehens …
Alltags- und Medienhandeln ist demnach verkürzend und produziert blinde Flecken, weil bestimmte Dynamiken unentdeckt bleiben. Das Prinzip der Kontextorientierung knüpft eng an das Prinzip der Ganzheitlichkeit an, weil in einer alltagskontextualisierten Forschungsperspektive die Lebensführung als zentraler Kontext des Medienhandelns angesehen wird. Diesem Prinzip wird die Studie gerecht, weil die häusliche Lebensführung in der Analyse als bedeutungsstiftender Kontext berücksichtigt wurde, indem die Tagesrhythmen, Orte, sozialen Konstellationen, inhaltlichen Aufgabenfelder, emotionalen Befindlichkeiten, sinnhaften Bedeutungszuschreibungen und materiellen Ressourcen der Mediennutzung bei der Datenerhebung nach Möglichkeit erfasst wurden. Darauf aufbauend konnte in der Auswertung der Wandel der Lebensführung interdimensional systematisiert und präzise mit dynamischen Prozessen im Medienrepertoire in Beziehung gesetzt werden, d. h. es wurde herausgearbeitet, inwiefern zeitliche, räumliche, inhaltliche usw. Alltagsveränderungen (= Kontext) eine Veränderung des Medienhandelns angestoßen haben. Diese Prozesse wären in einer medienzentrierten und kontextarmen Perspektive nicht in den Blick geraten. Gewissermaßen sorgte die Alltagskontextualisierung des Medienhandelns in der Gesamtstudie „Das mediatisierte Zuhause“ überhaupt erst dafür, dass das Forschungsinteresse in den Blick geriet, weil die Paare in der ersten Erhebungsphase 2008 davon berichteten, wie stark ihre Mediennutzung durch Alltagsumbrüche beeinflusst wurde (siehe Abschnitt 8.1). Kritisch reflektieren in Bezug auf die Prinzipien Ganzheitlichkeit und Kontextorientierung lässt sich allerdings, dass durch die Fokussierung auf das Zuhause nicht sämtliche (mediatisierten) Tätigkeiten innerhalb der für eine Person relevanten Lebensbereiche abgedeckt wurden.1 Ein besonderes Potenzial besitzt daher die Ausweitung der Datenerhebung auf die gesamte Lebensführung und auch auf das außerhäusliche Medienhandeln. Zudem gilt es in zukünftigen Studien aufgrund konvergierender Mediennutzungsmuster einen Weg zu finden, wie Medienhandeln adäquat jenseits einer Zuordnung ‚MedientechnologieMedieninhalt‘ im Sinne von Radio, Fernsehen, Print und Internet untersucht werden kann (vgl. Peil und Sparviero 2017). Denn während sich zu Beginn der Panelstudie 2008 die Operationalisierung über die Einzelmedien und ihre Technologien noch als gegenstandsangemessen und tragfähig erwies, zeichnete sich ab 2011 ab, dass analoge Einzelmedien und ihre Inhalte teils in digitale Geräte
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wurden in der Studie allerdings auch mediatisierte Tätigkeiten in wichtigen außerhäuslichen Lebensbereichen wie dem Beruf erfasst.
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konvergierten und sich damit die klare Zuordnung aufzulösen begann (vgl. auch Röser et al. 2019, S. 69–70). Darüber hinaus wäre zu überlegen, welche weiteren Methoden sinnvoll sind, um jenseits rekonstruktiver Erhebungsmethoden Daten der Mediennutzung zu generieren. Ein hilfreiches Tool könnte dabei zum Beispiel die Tagebuchsoftware MedTag sein, die am ZeMKI in Bremen entwickelt wird (vgl. Universität Bremen o. J.), aber auch Tracking-Daten oder Log-Files könnten in Zukunft interessante Möglichkeiten bieten. Gleichwohl ist die Validität der Daten dieser Studie als sehr hoch anzusehen, weil wir durch die detailreiche Erhebung des häuslichen Medienhandelns mittels Paarinterviews und ergänzender Methoden sehr nah an das tatsächliche Medienhandeln der Paare in Verbindung mit ihrer häuslichen Lebensführung herangekommen sind, so zumindest unsere Überzeugung. Hier hat sich das Paarinterview als besonders wertvolle Methode bewährt. Sozial erwünschtes Antwortverhalten konnte durch das Paarinterview reduziert werden. So fungierten die Partner*innen teils als Korrektiv, indem Aussagen ergänzt, richtiggestellt oder kommentiert wurden. Auf diese Weise kamen auch Aspekte zur Sprache, die die befragte Person sonst möglicherweise vergessen, verschwiegen oder relativiert hätte. Zugleich erwies sich das Paarinterview als vorteilhaft, weil sich die Paare bei der Rekonstruktion des Medienhandelns unterstützten. Schwierigkeiten durch Erinnerungslücken konnten so abgemildert werden. Zugleich gewährten die Interaktionen während des Interviews Einblicke in die alltägliche Kommunikation des Paares. Auf diese Weise ließ sich die Beziehungskonstellation der Partner*innen untereinander besser einschätzen, die für die Analyse des häuslichen Medienhandelns eine wichtige Rolle spielt (vgl. weiterführend zu den Potenzialen und Limitationen des Paarinterviews auch Röser et al. 2019, S. 67–68). Dem Prinzip der Prozessorientierung wird die Studie gerecht, weil das Paneldesign in Form von ethnografisch-orientierten Haushaltsbesuchen es möglich machte, Entwicklungsverläufe nachzuvollziehen und Hintergründe für Wandel zu erfassen. Panelstudien sind ohnehin selten und gerade nichtstandardisierte PaarPanels sind besonders rar (vgl. Wimbauer/Motakef 2017, S. 113). Besonders wertvoll war die Durchführung als Panelstudie, weil so ein Vorher-Nachher-Vergleich möglich war, durch den Schwächen einer rekonstruktiven Datenerhebung – wie beispielsweise Verzerrungen durch Erinnerungslücken der Interviewten – abgemildert werden konnten. Konkret erlaubte das Studiendesign das Medienhandeln der gleichen Personen zu unterschiedlichen Zeitpunkten miteinander zu vergleichen und die dynamischen Prozessen der Veränderungen aus Sicht der Interviewten mit tiefgreifenden Alltagsveränderungen nach Alltagsumbrüchen in Beziehung zu setzen (diese Prozesse wurden in dieser Arbeit als alltagsspezifische Antriebfaktoren für Dynamik im Medienrepertoire bezeichnet).
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11 Reflexion des methodischen Vorgehens …
Als weiterer Vorteil der Langzeitstudie erwies sich, dass die Paare im Laufe der Erhebung – so war zumindest unser Eindruck – zunehmend Vertrauen zu uns aufbauten. Dies zeigte sich z. B. in den sehr offenen und authentischen Einblicken, die uns die Paare während der Interviews zu teils sehr persönlichen Themen wie Trennung oder Tod des Ehepartners gewährten. Möglicherweise ist diese große Offenheit auch darauf zurückzuführen, dass wir die sehr sensiblen Bereiche immer in Zusammenhang mit dem Medienhandeln thematisierten und es den Interviewten so leichter fiel, darüber zu sprechen. Eine besondere Stärke ist zudem, dass durch das Paneldesign unterschiedliche Alltagsumbrüche analysiert werden konnten, weil sich in den Haushalten im Zeitverlauf verschiedene Umbrüche ereigneten. Nur so konnten vielschichtige Einsichten zur Veränderung des Medienhandelns hinsichtlich differenter Alltagsumbrüche entwickelt werden. Diese Vielfalt der Befunde kann kaum genug Wertschätzung erfahren. Allerdings ist diese Stärke zugleich auch mit Einschränkungen verbunden. Im Kontrast zur Erforschung eines einzelnen Alltagsumbruchs, was als Paneldesign prinzipiell nur mit vorsehbaren Alltagsumbrüchen möglich wäre, weisen die Alltagsumbrüche in dieser Arbeit eher kleinere Fallzahlen auf oder wurden teils nicht als tiefgreifende Veränderung erlebt (so zum Beispiel der Renteneintritt). Auch wenn in diesem Zusammenhang die Befunde noch keine theoretische Sättigung aufweisen können (dies war aber auch kein Ziel dieser Arbeit), so zeigten sich in der fallvergleichenden Auswertung deutlich wiederkehrende Muster, die auch verallgemeinerungsfähige Aussagen zuließen. Zudem wäre ohne die Vielfalt der Alltagsumbrüche keine transitionsübergreifende Auswertung möglich gewesen. Eine Fokussierung hätte es unmöglich gemacht, Einsichten zu alltagsspezifischen Hintergründen für Dynamik im Medienrepertoire jenseits der einzelnen Umbrüche herauszuarbeiten (siehe Kapitel 10). Eine interessante Fragestellung, die in Studien mit höheren Fallzahlen verfolgt werden könnte, ist allerdings, ob die Alltagsumbrüche und die dazugehörigen medialen Anpassungsprozesse sich entlang soziodemografischer Merkmale beziehungsweise in unterschiedlichen soziokulturellen Milieus unterscheiden; eine solche Analyse war aufgrund der geringen Fallzahlen in dieser Arbeit nicht möglich. Die Vielfalt der Alltagsumbrüche brachte allerdings eine weitere Herausforderung mit sich, denn es wurde notwendig, sich mit den Eigenheiten der einzelnen Alltagsumbrüche intensiv auseinanderzusetzen und sich literaturgestützt in diese einzuarbeiten. Ferner musste im Auswertungsprozess für jeden Alltagsumbruch ein separater Themen- und Leitfragenkatalog und damit jeweils eine separate thematische Struktur der Porträts entwickelt werden, was einen hohen Aufwand bedeutete. Generell lässt sich konstatieren, dass das Verfassen der
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Porträts aufgrund ihrer Komplexität, des hohen Textumfangs sowie der Materialfülle, die sich im Verlauf der Panelstudie ansammelte, einen äußerst aufwändigen Auswertungsschritt darstellte.2 Von Bedeutung für die aufwendige Analyse war auch, dass die Gesamtstudie „Das mediatisierte Zuhause“ vielschichtige Erkenntnisinteressen verfolgte, von denen die Frage nach der Bedeutung von Alltagsumbrüchen für den Wandel des Medienhandelns ein spezifisches Analysefeld ausmachte, d. h. teils musste Datenmaterial mit untersucht werden, das für diese Arbeit nicht von zentraler Bedeutung war (vgl. zu den Potenzialen und Hürden bei der Erhebung komplexen Datenmaterials sowie zu den Herausforderungen der Langzeiterhebungen in Panelstudien auch Röser et al. 2019, S. 68–70). Anzumerken bleibt noch, dass die untersuchten Zeiträume in dieser Studie (2008, 2011, 2013 und 2016) relativ große Abstände aufweisen. Es ist durchaus denkbar, die Datenerhebung in kürzeren Abständen durchzuführen, um die Dynamiken im Zuge der Alltagsumbrüche noch präziser beziehungsweise kleinteiliger zu analysieren. Dem Prinzip der Offenheit der Entwicklungsrichtung wird diese Studie vollumfänglich gerecht. Dabei sind zwei Aspekte relevant: Erstens wurde die Veränderung des Medienhandelns nicht entlang linearer Phasen (wie zum Beispiel anhand von abstrakten und vermeintlich irgendwann abgeschlossenen Entwicklungsphasen wie Kindheit, Jugend usw.) analysiert. Auch wurde nicht davon ausgegangen, dass ein Alltagsumbruch (als wäre es ein objektiv erfassbares Ereignis) von sämtlichen Personen identisch oder ähnlich erlebt wird. Vielmehr wurden in der Studie die konkreten Alltagsveränderungen erfasst und mit dem Wandel des Medienhandelns in Beziehung gesetzt. Damit wurde der Feststellung Rechnung getragen, dass sich Personen in ein und derselben Entwicklungsphase beziehungsweise nach einem vermeintlich identischen Alltagsumbruch in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen befinden können. In diesen unterschiedlichen Lebenssituationen können dann auch ganz unterschiedliche Mediennutzungsmuster sinnvoll sein (obwohl sich ja objektiv alle Personen zum Beispiel in der Jugendphase befinden oder den Renteneintritt vollzogen haben). Zweitens wurde nicht von einem Determinismus zwischen Alltagsveränderung und einer spezifischen Dynamik im Medienrepertoire ausgegangen. Vielmehr wurde offen in den Interviews erfragt und im weiteren Auswertungsprozess analysiert, wie die Paare ihr Medienhandeln im Zuge der Alltagsumbrüche verändert haben.
2Das Material der Gesamtstudie umfasste ca. 4.750 Seiten Interviewtranskript, ca. 234 schriftliche Fragebögen sowie 200 Fotografien und weitere Tabellen, Wohnungsskizzen und diverse Zusatzmaterialien (vgl. Röser et al. 2019, S. 70).
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11 Reflexion des methodischen Vorgehens …
Damit ist auch bereits das letzte Prinzip angesprochen: die Nutzerzentrierung. Dieses Vorgehen, die Hintergründe für Dynamik im Medienrepertoire aus Nutzersicht zu erfassen, war wichtig und notwendig, weil Menschen mit Alltagsveränderungen eigensinnig umgehen und in diesem Zusammenhang auch immer abwägen, welche Handlungsoptionen sie wahrnehmen wollen und welche Medien sie für ihre Alltagsgestaltung als sinnvoll empfinden. Der Sinn für diese Anpassungsprozesse ließ sich also vollends nur aus einer Nutzerperspektive erschließen, wie es das qualitative Forschungssetting gewährleistete. Dieser detailreiche Blick, der in der Studie entlang der fünf Prinzipien eingenommen wurde, machte es möglich, ein tieferes Verständnis zur Verwobenheit von Alltags- und Medienhandeln zu erlangen.
Diskussion der Befunde und theoretischer Ertrag
12
In diesem Kapitel wird zunächst das Vorgehen in dieser Arbeit zusammenfassend beschrieben und somit die zentrale Leistung der Studie herausgestellt (siehe Abschnitt 12.1). Daran angeschlossen wird entgegen eines „phänomenologischen Forschungsstil[s] […], der erst irgendwann in der Zukunft zur Konzept- und Theoriebildung führen soll“ (Welzer 1993a, S. 14), über die bloße Beschreibung von zusammenhanglosen Einzelphänomenen hinausgegangen, indem die Einsichten aus Theorie und Empirie im theoretischen Konzept zur Verwobenheit von Alltagsumbrüchen und Medienhandeln zusammengeführt werden (siehe Abschnitt 12.2). Damit wird der Anspruch verfolgt, auf einer abstrakteren Ebene ein heuristisches Handwerkszeug bereitzustellen, mit dem die Verwobenheit von Lebensführung und Medienhandeln systematisch erfasst werden kann und mit dem die von verschiedenen Alltagsumbrüchen angestoßenen Prozesse erklär- und interpretierbar werden.
12.1 Vorgehen in dieser Arbeit und zentrale Leistung Neverla (1992) zeigt in ihrer Studie eindrucksvoll, wie das Zeiterleben im Alltag mit spezifischen Fernsehnutzungsmustern korrespondiert (siehe Abschnitt 7.1). Sie widmet sich damit einer spezifischen Dimension der alltäglichen Lebensführung (Zeit) und einem spezifischen Medium (Fernsehen), das (auch heute noch) seine Bedeutung vor allem innerhalb eines spezifischen Lebensbereichs (Freizeit) entfaltet.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Niemand, Alltagsumbrüche und Medienhandeln, Medien • Kultur • Kommunikation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30738-7_12
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12 Diskussion der Befunde und theoretischer Ertrag
Die Verwobenheit von Alltags- und Medienhandeln, die in dieser Arbeit adressiert wird, ist ungleich komplexer: 1. Der häusliche Alltag beziehungsweise die alltägliche Lebensführung wird in ihrer Gesamtheit fokussiert und analytisch in verschiedene Dimensionen (zeitlich, räumlich, sozial, inhaltlich, sinnhaft, emotional, materiell und körperlich) systematisiert. 2. Im Kontrast zur Einzelmedienforschung wird das gesamte Medienrepertoire in den Blick genommen. Medien werden dabei als symbolische und technologische Bedeutungsträger verstanden, die ihre Sinnhaftigkeit im Rahmen der alltäglichen Lebensführung entfalten. Damit ist die zentrale Leistung dieser Arbeit bereits angesprochen: Die Verwobenheit von Alltags- und Medienhandeln wird aus einer holistischen (und somit nicht selektiven) Perspektive betrachtet und durch Systematisierung der (sonst oftmals diffus verwendeten) Begriffe Alltag beziehungsweise Lebensführung einer empirischen Analyse zugänglich gemacht. Auf diese Weise gelingt es, die vielschichtigen Zusammenhänge zwischen Medienhandeln und Lebensführung sichtbar zu machen. Die Operationalisierung erfolgte – und das ist der eigentliche Clou dieser Arbeit – mittels der Analyse von Alltagsumbrüchen wie Elternschaft, Renteneintritt oder Trennung. Bislang hat sich die kommunikationswissenschaftliche Rezeptionsforschung kaum für Alltagsumbrüche interessiert. Es kann somit von einem Desiderat dieser Forschungsperspektive gesprochen werden. Dabei lässt sich anhand der wenigen kommunikationswissenschaftlichen Studien, die Alltagsumbrüche explizit erforscht haben (siehe Abschnitt 7.1), sowie anhand der impliziten Befunden von alltagsbezogenen und biografischen Medienstudien (siehe Abschnitt 7.2) eindeutig aufzeigen, dass Umbrüche (weitreichende) Veränderungen des Medienhandelns anstoßen. Der Forschungsstand deutet also bereits an, wenn auch ohne tiefergehende Systematik, wie eng Medienhandeln und Lebensführung miteinander verwoben sind. Die Prozesse, die durch den Alltagsumbruch in Gang gesetzt werden, wurden im Laufe der empirischen Studie dieser Arbeit als alltagsspezifische Antriebsfaktoren für Dynamik im Medienrepertoire definiert und entlang der Dimensionen der alltäglichen Lebensführung systematisiert.
12.1 Vorgehen in dieser Arbeit und zentrale Leistung
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Grundsätzlich eignen sich Alltagsumbrüche deshalb so gut zur Analyse des Zusammenhangs von Medienhandeln und Lebensführung, weil diese Übergangsphasen die „wirklichen Veränderungsabschnitte“ (Welzer 1988, S. 197) im Leben eines Menschen sind. Damit ist gemeint, dass in dieser Umbruchphase der Wandel der Lebensführung und des darin eingelagerten Medienhandelns vollzogen wird. Indem nun die Veränderung der Alltagsstruktur systematisch mit der Veränderung des Medienhandelns in Beziehung gesetzt wird, lassen sich die alltagsspezifischen Antriebsfaktoren identifizieren, die Dynamik im Medienrepertoire anstoßen. Gemeint sind damit Prozesse wie die Veränderung von Zeitsouveränität, die Auflösung einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung oder der Wandel der Infrastruktur. Diese ersten Ausführungen zur zentralen Leistung dieser Arbeit verweisen noch einmal auf die übergeordnete Fragestellung: Inwiefern dynamisieren Alltagsumbrüche das häusliche Medienhandeln und welche Aussagen können anhand dieser Analysen zur Beziehung zwischen alltäglicher Lebensführung und Medienhandeln getroffen werden? Zur Beantwortung dieser übergeordneten Fragestellung sowie der weiter ausdifferenzierten Forschungsfragen (siehe Abschnitt 8.2) kristallisierte sich als besondere Problemstellung heraus, dass es bislang kein theoretisches Konzept für die Analyse von Alltagsumbrüchen und Medienhandeln gibt. Daher galt es, sich dem Zusammenhang zwischen Alltagsumbrüchen und Medienhandeln aus verschiedenen theoretischen Perspektiven anzunähern. Als besonders instruktiv haben sich dafür die Ansätze Mediatisierung (siehe Kapitel 2) und Domestizierung (siehe Kapitel 3) sowie die Konzepte alltägliche Lebensführung (siehe Kapitel 4) und Transitionsprozesse (siehe Kapitel 5) erwiesen. Aufbauend auf der theoretischen Auseinandersetzung konnte die Beziehung zwischen Alltagsumbrüchen und dynamischen Prozessen der Veränderung des Medienhandelns modellhaft dargestellt werden. Darüber hinaus wurden fünf handlungsleitende Prinzipien extrahiert, die bei einer empirischen Analyse von Alltagsumbrüchen und dem Wandel des Medienhandelns berücksichtigt werden sollten (siehe Kapitel 6 sowie zur Reflexion dieser Prinzipien Kapitel 11). Die Umsetzung der empirischen Studie war an diese Prinzipien angelehnt und erfolgte in Form einer qualitativen Panelstudie mit 25 ungleichgeschlechtlichen Paarhaushalten. Diese wurden in Form von medienethnografischen Miniaturen zu mehreren Zeitpunkten (2008, 2011, 2013 und 2016) mit einem vielschichtigen
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12 Diskussion der Befunde und theoretischer Ertrag
Methodensetting befragt (siehe zur Datenerhebung Abschnitt 8.4).1 Das Sample wurde systematisch in drei Alters- und zwei Schulbildungsgruppen quotiert und repräsentiert die breite Mittelschicht im Erwachsenenalter. Bei der Zusammenstellung wurde zudem auf eine Streuung weiterer Merkmale geachtet, wie die Anzahl der Kinder im Haushalt oder die Berufswahl, um vielfältige lebensweltliche Kontexte zu berücksichtigen, die (potenziell) für das Medienhandeln von Bedeutung sind. Zu beachten ist, dass die Merkmale Alter und Bildung nicht relational die Bevölkerung abbilden, sondern gleichgewichtig im Sample vertreten sind (siehe Abschnitt 8.3). Die Auswertung des Materials erfolgte in drei Schritten. Zunächst wurden erstens die Alltagsumbrüche im Sample identifiziert, bevor zweitens die Fälle in Form von Haushaltsporträts unter dem Aspekt des Wandels verdichtet und diese drittens einer vergleichenden Analyse unterzogen wurden (siehe Abschnitt 8.5). Insgesamt ereigneten sich im Analysezeitraum fünf Formen tiefgreifender Alltagsumbrüche mehrfach: Elternschaft, Auszug der Kinder, Trennung, neue Partnerschaft sowie Umzug. Darüber hinaus gab es noch weitere Alltagsumbrüche im Sample. Dabei handelte es sich um Alltagsumbrüche, die entweder im Untersuchungszeitraum nur ein einziges Mal vorkamen (Tod des Ehepartners), oder um Alltagsumbrüche, die von den Interviewten nicht als tiefgreifende Veränderung der Alltagsstruktur erlebt wurden (Renteneintritt, berufliche Veränderungen und gesundheitliche Beeinträchtigungen) (siehe Abschnitt 9.1). Im Allgemeinen zeigen die Befunde eindrücklich, wie eng das Medienhandeln eines Menschen mit seiner Lebensführung verwoben ist. Technikdeterministische Annahmen, in denen die Technologie als alleinige Ursache für Wandel angesehen wird, greifen demnach zu kurz, denn die Veränderungen des Medienhandelns der Paare ist vorwiegend auf Veränderungen in ihrer Lebensführung zurückzuführen. Übergreifend über die Alltagsumbrüche ließ sich eine Vielzahl alltagsspezifischer Antriebsfaktoren für Dynamik im Medienrepertoire identifizieren, die den Alltagsdimensionen zugeordnet wurden (siehe Abb. 12.1 und ausführlicher dazu Kapitel 10). Es hat sich gezeigt, dass aus jeder Dimension der alltäglichen Lebensführung Dynamik entstehen kann.
1Die
Analyse von Alltagsumbrüchen machte einen wichtigen Teilaspekt der DFGgeförderten Gesamtstudie „Das mediatisierte Zuhause“ aus, auf dessen Datenmaterial sich diese Arbeit stützt (siehe ausführlicher dazu Abschnitt 8.1).
12.1 Vorgehen in dieser Arbeit und zentrale Leistung
237
Abb. 12.1 Antriebsfaktoren für Dynamik im Medienrepertoire: Gesamtübersicht (Quelle: Eigene Darstellung)
Diese transitionsübergreifenden Antriebsfaktoren machen die Prozesse und Beziehungsmuster zwischen alltäglicher Lebensführung und Medienhandeln sichtbar. Im Allgemeinen können die Antriebsfaktoren einerseits eine tiefere Alltagsintegration und somit einen Bedeutungsgewinn eines bestimmten Mediums anstoßen sowie andererseits zu einem Bedeutungsverlust führen. Der Bedeutungswandel eines Mediums findet dabei auf unterschiedlichen Ebenen statt. So können die Antriebsfaktoren die folgenden Ebenen des Medienhandelns dynamisieren:
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• • • • • • •
12 Diskussion der Befunde und theoretischer Ertrag
die Nutzungszeitpunkte und die Nutzungsdauer die räumlichen Medienarrangements die sozialen Kontexte des Medienhandelns die inhaltliche Nutzung das emotionale Rezeptionserleben die sinnhafte Bedeutung bzw. das Nutzungsmotiv die Medienausstattung
Besonders umfassende Folgen für die Mediennutzung ergaben sich aus einer Trennung, aus dem Tod eines Partners sowie aus der Geburt eines Kindes. Aber auch durch einen Umzug, berufliche Veränderungen, den Renteneintritt, gesundheitliche Einschränkungen oder den Auszug der Kinder entwickelten sich vielfältige und teils überraschende Folgen für das Medienhandeln. Welche Antriebsfaktoren bei den einzelnen Alltagsumbrüchen vorkommen und inwiefern diese das Medienhandeln dynamisieren, wurde in Abschnitt 9.2 bis 9.6 detailliert beschrieben und jeweils in der Zusammenfassung tabellarisch übersichtlich dargestellt. Pointiert lässt sich formulieren, dass ein Alltagsumbruch eine bedeutsame und dynamische Phase ist, in der über das Ob und Wie der Nutzung von neuen und alten Medien entschieden wird. Auffällig ist, dass in Umbruchphasen die Potenziale von Medien für die Bewältigung des Übergangs und das Zurechtfinden in der neuen Lebenssituation reflexiv und aktiv geprüft werden. Nicht selten eigneten sich die Paare daher im Zuge eines Alltagsumbruchs neue digitale Nutzungsweisen an, weil die technischen Potenzialen der Medienangebote in der neuen Lebenssituation neue sinnvolle Handlungsmöglichkeiten bereitstellten. Die Nutzung von Onlinepartnerbörsen nach einer Trennung, um eine neue Beziehung aufzunehmen, das Einkaufen per Onlineshopping nach der Geburt des Kindes aufgrund der räumlichen Immobilität oder die Verwendung von Skype nach dem Auszug der Kinder, um den Kontakt über raumzeitliche Distanzen zu wahren, veranschaulichen diesen Prozess eindrücklich. Aber auch weniger offensichtliche Prozesse wie der Verlust der geschlechtsgebundenen Arbeitsteilung nach dem Tod des Ehepartners oder eine gestiegene ökonomische Belastung nach einem Hauskauf können die Aneignung digitaler Medien forcieren. In diesem Sinne fungieren Alltagsumbrüche als Treiber von Mediatisierung, weil die tiefgreifenden Alltagsveränderungen die Aneignung digitaler Medienangebote vorantreiben (vgl. speziell zu diesem Aspekt Röser et al. 2019, Kapitel 7). Wie aber lässt sich die Art und Weise, wie die Bedeutung von Medien im Zuge des Alltagsumbruchs neu ausgehandelt wird, auf einer abstrakten Ebene beschreiben? Die Analysen zeigen, dass das Herauslösen aus etablierten Alltagsstrukturen und damit die Veränderung des Alltagskontextes neue Entfaltungschancen, aber auch neue Zwänge und Erwartungen eröffnet und damit neue Bedürfnisse und Daseinsthematiken zutage fördern kann, die auch die Mediennutzung beeinflussen (siehe Abb. 12.2).
12.1 Vorgehen in dieser Arbeit und zentrale Leistung
239
Abb. 12.2 Analyseraster: Konstitution der Sinnhaftigkeit des Medienhandelns im Zuge eines Alltagsumbruchs. (Quelle: Eigene Darstellung)
Der Begriff Entfaltungschancen hebt auf das „Ressourcenpotential“ (Voß 1991, S. 263) ab, das spezifische Lebensbereiche zur Gestaltung der (mediatisierten) Lebensführung bereitstellen. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: Der Einstieg in einen Beruf mit Gleitzeit oder mit der Option im Home Office arbeiten zu können, bietet andere Möglichkeiten die Tagesstruktur zu gestalten, als Berufe, in denen dies nicht möglich ist und die somit weniger Entfaltungschancen gewähren. Die Begriffe Erwartungshaltung und Zwänge beschreiben die „lebenspraktische Begrenzung der existenziell möglichen Vielfalt“ (Voß 1991, S. 260). Dabei kann es sich zum Beispiel um Rollenanforderungen oder um gesellschaftliche Leitbilder handeln, die mehr oder weniger abstrakt nahelegen, wie man sich als Eltern, Berufstätiger, Nachbarin, Partner, Frau, Mann usw. in spezifischen Situationen verhalten soll und die somit im (Medien)Handeln wirksam werden können. Der Begriff der Bedürfnisse lässt sich prinzipiell als Zustand des Mangels verstehen, nach dessen Ausgleich gestrebt wird (vgl. Bergius 2009, S. 114). Bedürfnisse sind teils bewusst und teils unbewusst und können prägend für die Auswahl eines Mediums und die Art und Weise der Nutzung sein. Mit dem Begriff der Bedürfnisse finden also die Überlegungen des Uses-and-Gratification-Ansatzes in dem Analyseraster Berücksichtigung, ohne diese aber als alleinigen Erklärungsfaktor für die Zuwendung zu Medien anzusehen. Daseinsthematiken lassen sich hingegen als ‚Basisthemen‘ verstehen, die in einer bestimmten Lebenssituation relevant werden und die als (geäußerte oder beobachtbare) „Gedanken, Wünsche, Befürchtungen, Hoffnungen und Konflikte“ (Thomae 1988, S. 53) sichtbar werden. Der Begriff der Daseinsthematik weist somit eine konzeptionelle Nähe zum
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12 Diskussion der Befunde und theoretischer Ertrag
Konzept der Entwicklungsaufgaben (Havighurst 1972) auf, die sich als ‚Themen‘ verstehen lassen, die Menschen in einer bestimmten Lebenssituation mehr oder weniger vereinnahmen. In Beziehung zur kommunikationswissenschaftlichen Forschung ähnelt der Begriff der Daseinsthematik dem Begriff des handlungsleitenden Themas (beziehungsweise der thematischen Voreingenommenheit), der von der strukturanalytischen Rezeptionsforschung geprägt wurde (vgl. Charlton und Neumann 1992; Neumann-Braun 2005). Damit sind besondere persönliche Themen (z. B. Hobbys oder situative Interessen) oder allgemeine gesellschaftlich vorgegebene Themen (z. B. Entwicklungsaufgaben) gemeint, die die Medienrezeption maßgeblich beeinflussen (vgl. Neumann-Braun 2000). In diesem Spannungsfeld zwischen Entfaltungschancen, Zwängen und Erwartungen sowie Bedürfnissen und Daseinsthematiken wird die Sinnhaftigkeit des Medienhandelns in der veränderten Lebenssituation neu ausgehandelt. Dies soll exemplarisch an einigen Einsichten aus der empirischen Studie veranschaulicht werden: • Die Paare, die in eine ländlichere Region umgezogen sind, reduzierten aufgrund einer spürbaren Verschlechterung der Internetverbindung ihre Onlinenutzung drastisch. Obwohl die Interviewten das Bedürfnis hatten, ihre zuvor etablierte Internetnutzung auch in der neuen Wohngegend aufrechtzuerhalten, konnten sie dies aufgrund der eingeschränkten Entfaltungschancen durch die defizitäre technische Infrastruktur nicht umsetzen. Unter diesen Umständen wurde das zuvor vernachlässigte Fernsehen wieder sinnvoll, um alternativ zum Internet die Bedürfnisse der Interviewten zu befriedigen. Aus einer kritischen Perspektive zeigen sich hier Ungleichheiten entlang der Differenzlinie Stadt-Land. • Die Interviewte, deren Partner verstarb, sah sich vor dem Tod ihres Mannes mit der Erwartungshaltung konfrontiert, im Beisein ihres Mannes kein Radio und keine Musik zu hören – obwohl sie das Bedürfnis danach hatte. Die Auflösung dieser Reglementierung durch den Tod – so makaber dies auch klingen mag – bedeutete für sie neue Entfaltungschancen, weil sie nun selbstbestimmter Radio und Musik hören konnte (was sie auch ausgiebig tat). Das Radio wurde unter den veränderten Rahmenbedingungen für sie also sinnhaft. • Die Paare, die Eltern wurden, sahen sich dem Zwang ausgesetzt, den Tagesrhythmus vorwiegend an den Bedürfnissen des Kindes auszurichten. Zudem wurden medienpädagogische Diskurse (wie keine Fernsehnutzung im Beisein des Kindes) als Erwartungshaltung an die Elternrolle im Medienhandeln der Paare wirksam. Beides stand in Zusammenhang mit einer Reduzierung der freizeitorientierten Mediennutzung – obwohl das Bedürfnis danach prinzipiell
12.2 Ausblick und theoretisches Konzept …
241
noch vorhanden war. Unter den veränderten Rahmenbedingungen verloren freizeitorientierte Medien also ihre Sinnhaftigkeit. Gleichzeitig entwickelte sich mit der Geburt des Kindes eine neue Daseinsthematik, die zum Beispiel in Form von neuen Wissens- und Kompetenzbedürfnissen zur Fürsorge des Kindes die Mediennutzung prägte. Insgesamt zeigen die Analysen zur Elternschaft, dass sich das Medienhandeln der Mütter stärker als das der Väter veränderte, weil die Mütter mehr Verantwortung für Erziehung und Fürsorge übernahmen. In Zusammenhang mit solchen Retraditionalisierungstendenzen, die durch die Analyse der Medienpraktiken im Zuge eines Alltagsumbruchs sichtbar werden, lassen sich auch kritische Fragen zu den Geschlechterverhältnissen stellen. Die Befunde der empirischen Studie ließen sich entlang dieses Analyserasters weiter gewinnbringend erörtern, aber das heuristische Prinzip sollte deutlich geworden sein. Zudem konnte bereits mit Blick auf die Geschlechterverhältnisse oder hinsichtlich der Ungleichheiten zwischen Stadt und Land angedeutet werden, dass sich dieses Raster auch zur Analyse von Machtkonstellationen eignet. Es ist in vielfacher Hinsicht anschlussfähig für kritische Perspektiven und erlaubt anhand der konkreten Praktiken der Menschen Rückschlüsse auf gesellschaftliche Verhältnisse.
12.2 Ausblick und theoretisches Konzept: Zur Verwobenheit von Alltagsumbrüchen und Medienhandeln Die Einsichten aus der Auseinandersetzung mit den theoretischen Perspektiven Mediatisierung, Domestizierung, alltägliche Lebensführung und Transitionsprozesse sowie die Befunde der empirischen Analyse lassen sich im Konzept zur Verwobenheit von Alltagsumbrüchen und Medienhandeln zusammenführen. Dieses Konzept wird im Folgenden vorgestellt und im Kontext seiner Bedeutung für die kommunikationswissenschaftliche Rezeptionsforschung diskutiert. Damit wird abschließend die vierte Forschungsfrage beantwortet: Wie lässt sich – im Sinne eines Theorieertrags – alltagskontextualisierte Medienforschung im Zuge von Alltagsumbrüchen (Transitionen) konzeptualisieren und welchen Mehrwert bietet eine solche Analyseperspektive für die kommunikationswissenschaftliche Rezeptionsforschung?
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12 Diskussion der Befunde und theoretischer Ertrag
Das Konzept zur Verwobenheit von Alltagsumbrüchen und Medienhandeln fokussiert die Sinnhaftigkeit von Medienangeboten für die Alltagsgestaltung. Es zielt darauf ab, die Verwobenheit von Lebensführung und Medienhandeln entlang von Alltagsumbrüchen aufzuzeigen, indem die Alltagsveränderungen mit den Dynamiken, die diese im Medienrepertoire anstoßen, systematisch und präzise in Beziehung gesetzt werden. Das Konzept theoretisiert also den Prozess der Veränderung der Lebensführung und des darin eingelagerten Medienhandelns und bietet so ein heuristisches Handwerkszeug für empirische Analysen. Es schließt somit eine theoretische Lücke zur Beziehung zwischen Alltagsumbrüchen und Medienhandeln. Vorweg sei noch gesagt: Die Kernideen des Konzepts werden an dieser Stelle eher abstrakt erläutert. Auf diese Weise soll unnötige Redundanz in der Arbeit vermieden werden. Trotzdem sind die Kernideen im Lichte der theoretischen Herleitung und der konkreten Befunde bestenfalls gut zugänglich, obwohl es sich hierbei zweifelsohne um einen komplexen Zusammenhang handelt. Die Kernideen des Konzepts lassen sich entlang von sechs Prämissen skizzieren. 1. Medienaneignung erfolgt sinnhaft und in Rückbezug zur spezifischen Lebenssituation Eine zentrale Prämisse dieses Konzepts ist, dass die Medienrezeption stets situativ stattfindet und somit in konkrete Alltagskontexte eingebettet ist. Mit dem Begriff der mediatisierten Lebensführung lässt sich – vielleicht sogar besser als mit dem in dieser Arbeit verwendeten Begriff Medienhandeln – sprachlich zum Ausdruck bringen, dass die Nutzung von Medien immer in Rückbezug zur spezifischen Lebenssituation erfolgt und immer sinnhaft in die konkrete Lebensführung eingebettet ist.2 Medien werden beispielsweise genutzt, um berufliche Anforderungen zu erfüllen, eine angenehme Zeit mit dem Partner zu verbringen oder um Hobbies zu verfolgen. Als mediatisierte Lebensführung werden dementsprechend sämtliche Alltagstätigkeiten bezeichnet, die mit Medien ausgeführt werden. Da die Nutzung von Medien als alltagsgebundene Praxis verstanden wird, lässt sich die Veränderung des Medienhandelns der Menschen nur verstehen, wenn ihre Lebensführung fokussiert und mit in die Analyse einbezogen wird. Es gilt also zu ergründen, inwiefern der Wandel der Mediennutzung mit neuen beruflichen Tätigkeiten, einem anderen Beziehungsstatus usw. zusammenhängt. Medien werden dabei in Anlehnung an das Konzept der doppelten
2Die
Begriffe Medienhandeln und mediatisierte Lebensführung können aber synonym zueinander verwendet werden.
12.2 Ausblick und theoretisches Konzept …
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Artikulation des Domestizierungsansatzes sowohl als symbolische als auch als technologische Bedeutungsträger verstanden. Sowohl die alltägliche Lebensführung als auch das darin eingelagerte Medienhandeln sind eigensinnige und aktive Konstruktionsleistungen, d. h. die Medienumgebungen, Lebensbedingungen und gesellschaftlichen Verhältnisse fungieren zwar als Rahmenbedingungen, die Entscheidung, wie das Leben geführt werden soll und welche Bedeutung dabei Medien entfalten, ist in letzter Instanz aber immer eine individuelle Leistung. Soziale Anforderungen sind also Bedingungen des individuellen (Medien)Handelns, determinieren es aber nicht.3 (Mediatisierte) Lebensführung wird somit als sozialkonstruktivistisches Konzept in einer vermittelnden Position zwischen Struktur (sozial-objektivistische Konzepte) und Handlung ( subjektiv-interpretative Ansätze) verortet.4 2. Die Lebensführung umfasst die Breite des Lebens und lässt sich analytisch in verschiedene Dimensionen differenzieren Lebensführung wird gemäß des Konzepts der alltäglichen Lebensführung als Breite des Lebens definiert und analytisch in verschiedene Dimensionen differenziert. Die oftmals diffus verwendete Kategorie Alltag wird so konkretisiert und einer systematischen Analyse zugänglich gemacht. Lebensführung umfasst in diesem Verständnis sämtliche Alltagstätigkeiten in den für eine Person relevanten Lebensbereichen. Mit jedem dieser Lebensbereiche (wie der Familie, den Freunden, dem Betrieb usw.) bildet eine Person ein Arrangement, wie darin
3Hier
wird den Überlegungen von Voß gefolgt: „Es ist eben nicht eindeutig aus den Faktoren abzuleiten, was diese «bewirken» und es ist schon gar nicht damit zu erklären, warum sie so wirken. […] Das heißt, etwas zugespitzt ausgedrückt, daß [sic!] soziale Ähnlichkeiten (bzw. Unterschiede) von Lebensführungen faktisch von den Personen selber hergestellt sind. Es sind die Personen, die die Wirkung ihrer sozialen Lage auf ihr Leben konstituieren, indem sie diese in ihrem alltäglichen Handeln faktisch wirksam werden lassen und so reproduzieren. Wenn in der Lebensführung zum Beispiel Normalitätsfolien wirksam werden, dann sind es die Personen selber, die – aus einleuchtenden Gründen – diese zur Wirksamkeit bringen. […] Die Aufmerksamkeit gilt dann nicht primär der Ähnlichkeit der Faktoren, sondern der Ähnlichkeit in der Verarbeitung dieser Faktoren durch die Lebensführung.“ (Voß 1991, S. 320) 4Auch wenn in dieser Perspektive keineswegs Ungleichheiten oder Machtkonstellationen ausgeblendet werden sollen, so sind es demnach letztlich die Nutzer*innen, die über den Erfolg oder Misserfolg sowie über die Bedeutung neuer Medientechnologien entscheiden. Die kulturelle Bedeutung eines Mediums entfaltet sich somit erst im Zuge der eigensinnigen Aneignung und der sinnhaften Einbettung in die Lebensführung.
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12 Diskussion der Befunde und theoretischer Ertrag
gehandelt werden kann oder soll. Die verschiedenen Lebensbereiche stehen auf einer übergeordneten Ebene in einem komplexen Wechselverhältnis zueinander, weil in jedem Lebensbereich unterschiedliche Erwartungshaltungen an einen Menschen herangetragen werden, die es sinnvoll zu einem Gesamtarrangement zu koordinieren gilt. So muss die Lebensführung so arrangiert werden, dass die Erwartungen und Anforderungen aus dem Beruf, der Partnerschaft, dem Freundes- und Bekanntenkreis usw. möglichst zufriedenstellend miteinander in Einklang gebracht werden. Dieses Gesamtarrangement bildet einen übergreifenden Handlungsrahmen und bietet so Orientierung für sämtliche Einzelhandlungen; Abweichungen davon können schnell zu Irritationen oder auch Konflikten führen. Grundsätzlich gewährt eine eingespielte Lebensführung Handlungssicherheit und Handlungsentlastung im Alltag, weil ein Mensch in wiederkehrenden Situationen nicht ständig neu entscheiden muss, wie er sich (angemessen) verhalten kann oder soll. Aufgrund des komplexen Geflechts der Arrangements ist eine eingelebte Lebensführung relativ stabil. Sie kann aber durch Veränderungen innerhalb der einzelnen Lebensbereiche, wie in Form von Alltagsumbrüchen, einem Wandel unterliegen. Im Sinne einer forschungsleitenden Heuristik lässt sich die Lebensführung analytisch in verschiedene Strukturdimensionen aufspannen. Dazu zählen insbesondere zeitlich, räumlich, inhaltlich, sozial, sinnhaft, materiell, emotional und körperlich. Auf diese Weise können einzelne Aspekte der Lebensführung wie Tagesrhythmen (zeitlich), soziale Beziehungen (sozial) oder Tätigkeitsfelder (inhaltlich) differenziert untersucht werden. 3. Der Wandel der mediatisierten Lebensführung zielt auf das gesamte Medienrepertoire Fragt man, wie in diesem Konzept, nach den Veränderungen des Medienhandelns im Zuge von Alltagsumbrüchen, so ist eine ganzheitliche Perspektive auf das Medienrepertoire unerlässlich. Denn unterschiedliche Medien können in ähnlicher Art und Weise sinnhaft für die Alltagsgestaltung sein, weshalb eine spezifische Alltagsveränderung je nach Person die Nutzung unterschiedlicher Medien beeinflussen kann. So kann sich beispielsweise – im Kontext von Zeitknappheit nach der Geburt eines Kindes – die freizeitorientierte Medienrezeption reduzieren. Während dies für eine Person bedeuten kann, seltener Zeitung zu lesen, kann die Zeitknappheit für eine andere Person mit dem Verzicht der Fernsehrezeption verbunden sein. Einzelmedienforschung würde demnach blinde Flecken produzieren und ein tieferes Verständnis zur Verwobenheit von Medienhandeln und Lebensführung verhindern. Die dritte Prämisse beinhaltet demnach,
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dass nur durch eine ganzheitliche Perspektive auf das Medienrepertoire gewährleistet werden kann, dass Einflüsse auf das Medienhandeln im Zuge der Alltagsveränderungen umfassend erfasst und nachempfunden werden können. 4. Die Beziehung zwischen Lebensführung und Medienhandeln befindet sich stets im Wandel Wichtig zu reflektieren ist: Analysen zur Dynamik im Medienrepertoire im Zuge von Alltagsumbrüchen hätten vor 20, 50 oder 100 Jahren andere Befunde zutage gefördert, als die gegenwärtige Studie.5 Denn je nach historischem Zeitpunkt stehen Menschen unterschiedliche Medien für ihre Alltagsgestaltung zur Verfügung. Darauf verweist der Begriff der Medienumgebung, der insbesondere im Kontext des Mediatisierungsansatzes verwendet wird. In der Tendenz – so lässt sich aus einer historischen Perspektive argumentieren – findet im Zuge von Mediatisierungsprozessen die alltägliche Lebensführung zunehmend mediatisiert statt, denn es zeigen sich eindeutige Evidenzen für eine intensivere Durchdringung des Alltags mit Medien. Die Verwobenheit zwischen Lebensführung und Medienhandeln befindet sich demnach stets im Wandel. Dieser Wandel lässt sich auf Mikroebene und damit aus Nutzerperspektive als ein Zusammenspiel von Dynamik und Beharrung beschreiben. Während Dynamik die Veränderung des Medienrepertoires umfasst, hebt Beharrung darauf ab, dass Menschen trotz (neuer) technologischer Potenziale an Medienpraktiken festhalten, die für sie im Alltag sinnhaft sind.6 5. Alltagsumbrüche sind non-lineare, verlaufsoffene und reflexiv gestaltete Übergangsphasen, die Dynamik im Medienrepertoire auslösen Im Allgemeinen lässt sich konstatieren, dass die Lebensverläufe der Menschen gegenwärtig von zahlreichen Brüchen gekennzeichnet sind und sich nicht (mehr) universalistisch in eine lineare Abfolge von Lebensereignissen, die an das Alter gebunden sind, strukturieren lassen. Eng verknüpft ist diese Feststellung mit Prozessen, die unter den Schlagworten wie Enttraditionalisierung,
5Befunde
in dieser Analyseperspektive geben damit immer auch Aufschluss über den Grad der Mediatisierung der Lebensführung oder einzelner Lebensbereiche. 6Zentraler Antriebsfaktor für eine tiefere Mediatisierung und damit für den Wandel der Verwobenheit von Lebensführung und Medien ist nicht die Technologie allein, vielmehr basieren diese Prozesse auf den Bedürfnissen der Menschen, die diese an die Technologie herantragen.
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Individualisierung oder Pluralisierung der Lebensformen diskutiert werden. Umbrüche wie eine neue Partnerschaft, die Geburt eines Kindes oder auch der Beginn der Rente definieren wie ein Mensch in der Gesellschaft positioniert ist, welche Daseinsthematiken er zu bewältigen hat, in welchen Sozialwelten er sich bewegt, welche Lebensziele zu verfolgen sind, über welche Ressourcen er verfügt, in welcher Beziehung er zu anderen Menschen steht usw. Kurzum: Sie sind die zentrale Phase, in der über die Art und Weise der Lebensgestaltung entschieden wird. Dies bleibt nicht folgenlos für das Medienhandeln. Alltagsumbrüche lassen sich – so die fünfte Prämisse, die mit Bezug zum Transitionskonzept formuliert wird – als non-lineare, verlaufsoffene und reflexiv gestaltete Übergangsphasen fassen, die auf vielschichtige Weise Dynamik im Medienrepertoire auslösen. Konkret ist damit gemeint, dass es nicht den Alltagsumbruch mit dem Effekt auf das Medienhandeln gibt. Vielmehr können vermeintlich identische Alltagsumbrüche unterschiedlich erlebt und wahrgenommen werden. Darüber hinaus gehen Menschen eigensinnig mit tiefgreifenden Alltagsveränderungen um und können dementsprechend ihr Medienhandeln nach einem ähnlichen Alltagsumbruch auf unterschiedliche Art und Weise anpassen. Alltagsumbrüche können demnach unterschiedliche Entwicklungsverläufe nehmen, weil die Lebensführung und das darin eingelagerte Medienhandeln aktiv und größtenteils reflexiv von den Menschen gestaltet wird – ganz im Sinne von Gauntlett und Hill (1999, S. 283): „Everyone is a bit different, everything is very complex.“ Im Allgemeinen sind Alltagsumbrüche Phasen, die sich durch eine auffallend hohe Reflexivität auszeichnen, denn in dieser Zeit wird besonders aufmerksam geprüft, welche Handlungsoptionen ein Mensch wahrnehmen will und welche Medien für seine Alltagsgestaltung als sinnvoll empfunden werden. Auf Basis der Dimensionen der Lebensführung lassen sich – und dies ist die zentrale Stärke der Analyse von Alltagsumbrüchen – die Alltagsveränderungen systematisch und präzise mit dem Wandel des Medienhandelns in Beziehung setzen. Die Systematisierung in Strukturdimensionen bietet zudem einen weiteren Vorteil: Häufig überschneiden sich verschiedene Alltagsumbrüche, weil beispielsweise der Berufsbeginn mit einem Umzug und der Trennung von der Freundin einhergeht. Auch bei sich zeitlich überblendenden Übergangsphasen kann mithilfe der Dimensionen eindeutig herausgearbeitet werden, inwiefern sich die Alltagsstruktur konkret verändert und warum in diesem Zusammenhang das Medienhandeln verändert wird. Die Dimensionierung der Lebensführung ist somit das Herzstück des Konzepts. Zur Beziehung zwischen Alltagsumbruch und Dynamik im Medienrepertoire lassen sich entlang der Dimensionen differenzierte Fragestellungen formulieren:
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Inwiefern steht ein Wandel des Medienhandelns in Zusammenhang mit… • …veränderten Zeitsouveränitäten oder einem Wandel der Tagesrhythmen? (zeitlich) • …einem Wandel der räumlichen Distanzen und der Raumarrangements? (räumlich) • …veränderten Aufgabenfeldern? (inhaltlich) • …einem Wandel der (geschlechtsgebundenen) Arbeitsteilung oder neuen (partnerschaftlichen) Abstimmungsprozessen? (sozial) • …veränderten Lebensentwürfen, Orientierungsmustern und Leitbildern? (sinnhaft) • …einem Wandel der Ressourcen? (materiell) • …einer veränderten Gefühlslage oder emotionalen Belastung? (emotional) • …einer einschneidenden Änderung des Gesundheitszustands? (körperlich) Diese (sowie möglicherweise weitere relevante Fragestellungen) müssen in Auseinandersetzung mit dem empirischen Material zu den jeweiligen Alltagsumbrüchen konkretisiert werden. Die Einsichten zu diesen Fragestellungen geben Aufschluss über die alltagsspezifischen Antriebsfaktoren, die das Medienhandeln dynamisieren. Dabei kann es sich zum Beispiel um veränderte Zeitsouveränitäten, um emotionale Krisen oder und einen Wandel der Arbeitsteilung handeln. Grundsätzlich kann Wandel aus jeder Dimension der Lebensführung angestoßen werden. Durch Identifikation der Antriebsfaktoren können erhellende Einsichten zur Verwobenheit von Lebensführung und Medienhandeln herausgearbeitet werden. Zusammenfassend lässt sich ein Alltagsumbruch in Anlehnung an die Strukturdimensionen definieren als ein vielschichtiges Ereignis, das unmittelbar in mehreren Dimensionen der alltäglichen Lebensführung tiefgreifende Umstrukturierungen erforderlich macht. Relevant ist ein Alltagsumbruch in der Analyseperspektive dieses Konzepts, wenn er mit einer Dynamisierung des Medienhandelns in Zusammenhang steht. In diesem Fall kann von einem medienrelevanten Alltagsumbruch gesprochen werden. Analytisch lassen sich Alltagsumbrüche weiter in vorhersehbare und unvorhersehbare Ereignisse differenzieren. Während die Bewältigungsanforderungen bei vorhersehbaren Alltagsumbrüchen vorbereitet werden können, ist dies bei unvorhersehbaren nicht der Fall.7
7Angemerkt
sei zumindest, dass – neben den hier fokussierten Alltagsumbrüchen – Dynamik im Medienrepertoire auch angestoßen werden kann durch medientechnologische Entwicklungen, gesetzliche Veränderungen oder auch sozioökonomische Institutionen (vgl. Krotz 2015b, S. 122–124).
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6. Die Neukonstitution der Sinnhaftigkeit des Medienhandelns erfolgt im Spannungsfeld zwischen Entfaltungschancen, Zwängen und Erwartungen sowie Bedürfnissen und Daseinsthematiken Während es durchaus Phasen geben kann, in denen Medien eine relativ stabile Bedeutung für die Alltagsgestaltung besitzen und habitualisiert sowie routiniert genutzt werden, stößt ein Alltagsumbruch eine veränderungsintensive Phase des Medienhandelns an. Die veränderten Alltagsstrukturen fungieren dabei gewissermaßen als Rahmenbedingungen und somit als alltagsspezifische Antriebsfaktoren für Dynamik. Zweifelsohne können etablierte Mediennutzungsmuster im Sinne von Beharrungsmomenten auch nach einem Alltagsumbruch stabil und bedeutsam bleiben, in einigen Fällen erweist sich in der neuen Lebenssituation die Nutzung bestimmter Medien aber als nicht mehr passend. Ob und warum Medien vor dem Hintergrund sich verändernder Kontextbedingungen sinnvoll bleiben, ihre Sinnhaftigkeit verändern bzw. verlieren oder bisher nicht genutzte Medien(angebote) sinnvoll werden, ist Ergebnis eines komplexen Aushandlungsprozesses. Konkret erfolgt die Neukonstitution der Sinnhaftigkeit des Medienhandelns im Spannungsfeld zwischen Entfaltungschancen, Zwängen und Erwartungen sowie Bedürfnissen und Daseinsthematiken (siehe zu näheren Ausführungen auch Abschnitt 12.1). Diese Differenzierung erweist sich als instruktives Analyseraster, weil so sichtbar wird, dass ein Mensch in Übergangsphasen teils mit widersprüchlichen Anforderungen in unterschiedlichen Lebensbereichen konfrontiert ist, die auch die Sinnhaftigkeit des Medienhandelns betreffen. Der Begriff der Sinnhaftigkeit ist damit tiefgründiger angelegt als die eher kontextlose Beschreibung von Nutzungsmotiven, wie sie in der klassischen Mediennutzungsforschung erfasst werden. Mit der Berücksichtigung von Zwängen und Erwartungen wird beispielsweise auch fokussiert, warum Medien nicht genutzt werden, obwohl das Bedürfnis danach prinzipiell vorhanden ist (z. B. aus Rücksicht auf den Partner) oder warum Medien genutzt werden, obwohl dies nicht der Bedürfnisstruktur der Person entspricht (z. B. aufgrund beruflicher Anforderungen). Aus diesem Grund kann sich auch ein ambivalentes Gefühl zum Medienhandeln entwickeln. Relevant ist zudem, dass die Veränderungen des Alltags immer vor dem Hintergrund der vorherigen Lebenssituation erlebt werden, d. h. die Verlusterfahrung beeinflusst in erheblichem Maße das Erleben des Alltagsumbruchs und die damit zusammenhängende Anpassung des Medienhandelns an die neue Lebenssituation. Eine Person, deren Medienhandeln in der Beziehung durch Absprachen mit dem Partner stark eingeschränkt ist, wird eine Trennung sehr viel mehr als Autonomiegewinn wahrnehmen als eine Person, die Medien in der Beziehung ohnehin selbstbestimmt und ohne Einschränkung nutzen konnte. Das handlungsleitende Prinzip bei der
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Neukonstitution der Sinnhaftigkeit des Medienhandelns ist die zufriedenstellende und sinnvolle Einbettung der Medien in die gesamte Lebensführung. Grundsätzlich gibt es – und das sollte nun deutlich geworden sein – keinen linearen und deterministischen Kausalzusammenhang wie ‚dieser Alltagsumbruch führt automatisch zu jener Veränderung des Medienhandelns‘. Gleichwohl sind diese Prozesse nicht willkürlich und es ist zu erwarten, dass sich auch in Bezug auf das Medienhandeln kulturell ähnliche Umgangsformen in ähnlichen Übergangsphasen herausgebildet haben, beziehungsweise – sofern bei neuen digitalen Medien(angeboten) noch nicht geschehen – herausbilden werden. Solche kollektiv geteilten (Medien)Praktiken im Umgang mit Alltagsumbrüchen geben damit auch immer Rückschlüsse auf gesellschaftliche Verhältnisse, wie beispielsweise auf Geschlechterordnungen oder milieuspezifische Ungleichheiten. In diesem Sinn ist das Konzept zur Verwobenheit von Alltagsumbrüchen und Medienhandeln anschlussfähig für vielfältige kritische Perspektiven und Fragestellungen zu Machtkonstellationen und Ungleichheit. Mehrwert des Konzepts zur Verwobenheit von Alltagsumbrüchen und Medienhandeln für die kommunikationswissenschaftliche Rezeptionsforschung Der wichtigste Beitrag dieser Arbeit liegt darin, Alltagsumbrüche als bedeutungsvolle und einflussreiche Kategorie ins Sichtfeld der kommunikationswissenschaftlichen Forschung zu Medienaneignungsprozessen zu rücken. Alltagsumbrüche – so konnte hier eindrücklich aufgezeigt werden – stoßen auf vielschichtige Weise Dynamik im Medienrepertoire an. Sie bieten einen vielversprechenden Zugang, um ein tieferes Verständnis zur Verwobenheit von Lebensführung und Medienhandeln zu entwickeln. Besonders hervorheben lassen sich die folgenden drei Aspekte: 1. Die Analyse von Alltagsumbrüchen entlang der Strukturdimensionen der alltäglichen Lebensführung erlaubt einen präzisen Blick auf die Verwobenheit von Lebensführung und Medienhandeln. Erstens geben Alltagsveränderungen im Sinne alltagsspezifischer Antriebsfaktoren Aufschluss über die ‚wirklichen‘ Hintergründe für den Wandel des Medienhandelns im Laufe des Lebens. Zweitens zeigt die dimensionale Differenzierung dabei auf, dass dieser Wandel auf vielschichtige Weise durch unterschiedliche Kontextfaktoren angestoßen werden kann. Somit kommt es nicht zu einer verkürzenden Analyse, indem beispielsweise ausschließlich zeitliche, emotionale oder technische Kontextfaktoren berücksichtigt werden. Drittens wird in dieser Analyseperspektive die Gleichzeitigkeit vielfältiger Veränderungsprozesse und deren Zusammenwirken berücksichtigt, weil eben nicht davon ausgegangen
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wird, dass einzelne Umbrüche oder Entwicklungsaufgaben nach und nach bewältigt werden. Durch den präzisen Blick auf die Alltagsveränderungen können zudem homogenisierenden Beschreibungen der Mediennutzung von einzelnen sozialen Gruppen (wie die Migranten), Milieus (wie die Hedonisten) oder einzelnen Lebensphasen (wie in der Kindheit) vermieden werden. Vielmehr lässt sich ein tieferes Verständnis entwickeln, warum welche Medien in spezifischen Lebenssituationen bedeutsam sind. Die Mediennutzung ändert sich eben nicht, weil ein Mensch ‚Migrant‘ oder ‚Hedonist‘ wird oder weil ein Mensch von der ‚Lebensphase Jugend‘ in die ‚Lebensphase Adoleszenz‘ eingetreten ist, sondern weil spezifische Anforderungen, Zwänge usw. innerhalb der einzelnen Lebensbereiche neu an den Menschen herangetragen werden. Dies leitet bereits zum nächsten Aspekt über: dem heuristischen Modell zur Analyse der Sinnhaftigkeit des Medienhandelns. 2. Das Analyseraster der „Konstitution der Sinnhaftigkeit des Medienhandelns“ bietet ein heuristisches Werkzeug, um Medienaneignungsprozesse differenziert analysieren zu können. Während beispielsweise der Uses-and-Gratification-Approach die Zuwendung zu Medien mittels situationsübergreifender und individueller Nutzungsmotive erklären möchte (vgl. u. a. zur Kritik daran Schweiger 2007, S. 66–73), erlaubt dieses Analyseraster eine komplexere Betrachtungsweise. Medienzuwendung wird hier im Spannungsfeld zwischen Entfaltungschancen, Zwängen und Erwartungen sowie Bedürfnissen und Daseinsthematiken analysierbar, die sich im Zuge von Alltagsumbrüchen verändern. Das hat gleich mehrere Vorteile: Erstens geraten so auch Einschränkungen und Hinderungsgründe in den Blick. Zweitens erfolgt stets eine Rückbindung des Medienhandelns an die konkrete Lebensführung, sodass die Genese der Motive der (Nicht-)Nutzung nachvollziehbar wird. Drittens wird so angemessen berücksichtigt, dass die Nutzung von Medien stets in spezifische Alltagskontexte eingebettet und keine davon unabhängige Handlung ist, die lediglich auf individuellen Bedürfnissen basiert (wo auch immer diese herkommen mögen). In gewisser Hinsicht knüpft das Analyseraster damit an die strukturanalytische Rezeptionsforschung an, die fordert, den „Vermittlungszusammenhang von persönlicher Lebenswelt und Biografie, soziokulturellen Rahmenbedingungen und Medienhandeln“ (Neumann 2000, S. 188) zu berücksichtigen. 3. Durch das Konzept zur Verwobenheit von Alltagsumbrüchen und Medienhandeln lassen sich technikdeterministische Annahmen eindeutig zurückweisen. Entgegen vieler Medien- und Wissenschaftsdiskurse, die die medientechnologischen Potenziale als zentrale Ursache für den Wandel der Mediennutzung ausmachen (vgl. kritisch dazu Hepp und Röser 2014), lässt sich in dieser Perspektive ein starker Zusammenhang zwischen Alltagsveränderungen und dem Wandel
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des Medienhandelns aufzeigen. Zweifelsohne setzen auch technologische Innovationen Dynamiken im Medienrepertoire in Gang – und das ebenfalls in Phasen stabiler Lebensverhältnisse –, allerdings werden diese neuen Medientechnologien immer vor dem Hintergrund der spezifischen Lebenssituation angeeignet. Dies lässt sich in der hier beschriebenen Analyseperspektive und mit den aufgezeigten Befunden deutlich herausarbeiten. Somit wird auch sichtbar, dass kausale Wirkungszusammenhänge im Sinne eines Technikdeterminismus zu unterkomplex sind und mit den vielfältigen Medienaneignungsprozessen wenig gemein haben. Die technologischen Eigenschaften legen nicht im Vorfeld fest, auf welche Art und Weise ein Medium genutzt wird. Vielmehr lässt sich durch den Zusammenhang zwischen Alltagsumbrüchen und Medienhandeln zeigen, dass die Medienaneignung von einem komplexen Zusammenspiel aus lebenssituationsspezifischen Entfaltungschancen, Zwängen und Erwartungen sowie Bedürfnissen und Daseinsthematiken einerseits und den technischen Affordanzen eines Mediums andererseits geprägt ist. Angeschlossen an diese Ausführungen lassen sich als Ausblick zwei Aspekte ausmachen, an eine weitergehende Forschung im Kontext zur Verwobenheit von Alltagsumbrüchen und Medienhandeln fruchtbar anknüpfen kann: 1. Der Wandel des Medienhandelns im Zuge von Alltagsumbrüchen wurde in dieser Arbeit als Zusammenspiel zwischen Dynamik und Beharrung beschrieben. Der Fokus lag in der empirischen Studie aber auf den dynamischen Prozessen. Gleichwohl scheint es eine spannende Frage zu sein, welche Mediennutzungsmuster aus Nutzerperspektive trotz Alltagsumbrüchen weiterhin sinnhaft bleiben und somit Beharrungstendenzen aufweisen. Dabei kann an zwei Beobachtungen aus der Studie angeknüpft werden: Zum einen zeichnete sich in der Analyse ab, dass thematische Interessen, die eher der Freizeitbeschäftigung zugeordnet werden können, über Alltagsumbrüche hinweg eine recht hohe Beständigkeit aufweisen. Dazu zählt beispielsweise das Interesse an Sport, volkstümlichem Tanz oder Vogelkunde. Zum anderen deutete sich an, dass gerade das Festhalten an etablierten Mediennutzungsmustern in Umbruchphasen auch Stabilität und Rückhalt bieten kann. 2. Medien werden immer vor dem Hintergrund der spezifischen Lebenssituation angeeignet und entfalten ihre Bedeutung und ihre Sinnhaftigkeit erst in Beziehung zu den Tätigkeiten innerhalb der verschiedenen Lebensbereiche. Noch systematischer als in dieser Arbeit ließe sich aus Nutzersicht erfassen, welche Lebensbereiche im Rahmen der Lebensführung relevant sind und inwiefern Medien für die Tätigkeiten innerhalb dieser Lebensbereiche sinnvoll
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sind. So ließen sich möglicherweise verschiedene Formen der mediatisierten Lebensführung differenzieren, die jeweils mit spezifischen Mediennutzungsmustern korrespondieren, so zum Beispiel eine eher familienorientierte oder eine eher berufsbezogene mediatisierte Lebensführung, oder eine mediatisierte Lebensführung, die multifunktional zentriert ist, weil einzelne Lebensbereiche wie der Beruf, die Familie und die kulturelle Teilhabe gleichermaßen wichtig sind. In einer solchen Perspektive ließe sich der Wandel der mediatisierten Lebensführung noch besser abbilden, da dann sichtbar wird, wie sich Alltagsumbrüche auf die mediatisierte Lebensführung in den einzelnen Lebensbereichen auswirken. Für die methodische Umsetzung bieten hier qualitative Netzwerkanalysen einen vielversprechenden Zugang (vgl. Hepp 2016). Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der Mediatisierungsgrad der einzelnen Lebensbereiche gewissermaßen verschiedene Formen des Medienhandelns nahelegt. So ergibt sich beispielsweise aus dem beruflichen Alltag von Digicom-Arbeiter*innen, dass ihre Lebensführung hochgradig mediatisiert ist (vgl. Roth-Ebner 2015). Umgekehrt prägt ein Mensch über sein Handeln im Rahmen der Lebensführung aktiv, inwiefern Mediatisierungsprozesse in den einzelnen Lebensbereichen verlaufen. Es kann also von einem wechselseitigen Zusammenhang zwischen dem Mediatisierungsgrad der einzelnen Lebensbereiche einerseits und der Lebensführung der Menschen andererseits ausgegangen werden. Alltagsumbrüche sind in diesem Kontext relevant, da sie definieren in welchen Lebensbereichen sich ein Mensch im Rahmen seiner Lebensführung bewegt und damit auch, welche Bedeutung Medien im Alltag entfalten.
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